The Project Gutenberg eBook of Sämmtliche Werke 6: Arabesken, Prosaschriften, Rom

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Title : Sämmtliche Werke 6: Arabesken, Prosaschriften, Rom

Author : Nikolai Vasilevich Gogol

Editor : Otto Buek

Translator : Charlotte König

Release date : November 3, 2017 [eBook #55881]

Language : German

Credits : Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was
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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 6: ARABESKEN, PROSASCHRIFTEN, ROM ***

  

Nikolaus Gogol
Arabesken

Nikolaus Gogol
Sämmtliche Werke
In 8 Bänden

Herausgegeben
von
Otto Buek

Band 6

München und Leipzig
bei Georg Müller
1912

Nikolaus Gogol

Arabesken, Prosaschriften, Rom

Herausgegeben
von
Otto Buek

München und Leipzig
bei Georg Müller
1912

Inhalt des sechsten Bandes

Arabesken (Erster Teil) 1
Vorwort 3
Skulptur, Malerei und Musik 5
Über das Mittelalter 15
Ein Kapitel aus einem historischen Roman 37
Über den Unterricht in der Weltgeschichte 57
Ein Überblick über das Werden Kleinrußlands 83
Einige Worte über Puschkin 103
Über die Architektur unserer Zeit 115
Al-Mamun 151
Arabesken (Zweiter Teil) 163
Das Leben 165
Schlözer, Müller und Herder 173
Der Newsky-Prospekt 183
Über die kleinrussischen Lieder 243
Gedanken über Geographie 259
Der letzte Tag von Pompeji 275
Der Gefangene 289
Über die Völkerwanderung am Ende des V. Jahrhunderts 301
Memoiren eines Wahnsinnigen 349
Aufsätze aus Puschkins „Zeitgenossen“ 387
Über die Strömungen in der Zeitschriftenliteratur der Jahre 1834-1835 289
Petersburger Skizzen 427
Italienische Sommernächte 453
Rom 459
Anhang 533

Arabesken
I
1835
Erster Teil

Deutsch von Charlotte Lolly Koenig

D iese Sammlung enthält eine Reihe von Schriften, die zu sehr verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Epochen meines Lebens entstanden sind. Sie sind nicht auf Bestellung geschrieben. Sie waren ein Ausdruck meiner Seelenstimmung, und ich wählte mir nur solche Gegenstände, die einen starken Eindruck auf mich machten. In diesen Stücken werden die Leser sicherlich viel Jugendliches finden. Ich gestehe, daß ich einige von diesen Schriften vielleicht garnicht in diese Sammlung aufgenommen hätte, wenn ich sie ein Jahr früher herausgegeben hätte, als ich mich noch viel strenger gegen meine älteren Arbeiten verhielt. Aber statt gar zu streng mit seiner Vergangenheit ins Gericht zu gehen, ist es weit besser, unerbittlich gegen seine gegenwärtigen Leistungen zu sein. Das, was man früher einmal geschrieben hat, zu vernichten, scheint mir ebenso ungerecht, wie die vergangenen Tage seiner Jugend zu vergessen. Und außerdem: wenn ein Werk zwei oder drei noch nicht ausgesprochene Wahrheiten enthält, so hat der Verfasser schon nicht mehr das Recht, sie dem Leser vorzuenthalten, und um zweier oder dreier richtiger Gedanken willen, kann man wohl schon die Unvollkommenheit des Ganzen verzeihen.

Sodann muß ich noch einiges über diese Ausgabe selbst sagen: als ich die gedruckten Bogen las, erschrak ich selbst an vielen Stellen über die Unkorrektheit des Stils, über vieles Überflüssige und Unzureichende, das eine Folge meiner Unvorsichtigkeit war. Aber der Mangel an Muße und andre nicht immer freundliche Lebensumstände erlaubten es mir nicht, meine Manuskripte ruhig und aufmerksam durchzusehen, und so wage ich denn zu hoffen, daß mich der Leser großmütig entschuldigen wird.

I
Skulptur, Malerei und Musik

D ank sei dem Schöpfer der Welten für seine Güte und sein Mitleid mit den Menschen! Drei hehre Schwestern hat er entsandt, die Welt zu verschönen und zu erquicken; ohne sie wäre die Welt eine Wüste, die klanglos ihre Kreise zöge. Laßt uns unsere Wünsche enger, inniger zusammenschließen und unsern ersten Becher der Skulptur weihn. Sie, die schöne Sinnenkunst war es, die zuerst in diese Welt trat. Sie ist ein völlig ursprüngliches Gebilde, die Spur jenes Volkes, das sich ganz, mit seiner ganzen Seele, seinem ganzen Leben in ihr verkörpert hat. Sie ist das klare Abbild jener leuchtenden, griechischen Welt, die vor uns im tiefen Abgrund der Jahrhunderte entschwunden, schon vom Nebel verhüllt wird und nur noch von dem Gedanken des Dichters erreicht werden kann: jene von Weinranken und Olivenzweigen, harmonischen Träumen und prunkendem Heidentum geschmückte Welt. Jene Welt, die sich beim Klang der Zimbeln im gemessenen Tanz wiegte oder in bacchantischem Wirbel dahinraste, wo das Gefühl des Schönen alles durchdrang: die Hütte des Bettlers, die Zweige der Platane, den Marmor der Säulenhallen, den von lebhaften, eigenwilligen Menschen bevölkerten Platz, das Relief, das den festlichen Becher zierte, und die sich lange schlingende Reihe anmutiger mythologischer Gestalten verbildlichte: wo schamhaft die Göttin der Schönheit dem Schaum der Wellen entsteigt, Tritonen dahinjagen und in die Hände klatschen und Poseidon silberklar aus der Tiefe seines herrlichen Elements emportaucht. Jene Welt, in der die Religion nichts war — als Schönheit, als die menschliche Schönheit und die göttergleiche Schönheit des Weibes — jene ganze Welt ward festgehalten von der holden Skulptur; nichts außer ihr konnte das leuchtende Dasein dieser Welt so lebendig zum Ausdruck bringen. Weiß wie Milch, Schönheit, Zartheit und Wollust atmend, bannte die Skulptur eine Idee und einen Gedanken — die Schönheit, die stolze Schönheit des Menschen in den durchsichtigen Marmor. Selbst in der Glut der Leidenschaft und im stärksten Affekt — stets bleibt bei ihr der Mensch stolz und schön und fordert unsere Bewunderung heraus durch seine freie athletische Pose. Hier fließt alles in sinnlicher Schönheit zusammen; nie lassen wir beim Anblick einer schmerzerfüllten Gruppe die bittere Klage unseres Herzens mit ihrer Klage zusammenklingen; ja, man könnte fast sagen, wir genießen den Anblick ihrer Qualen, so sehr wird der Drang unserer Seele durch die plastische, ruhige Schönheit überwältigt. Die Skulptur drückt nie ein anhaltendes, tiefes Gefühl aus, sie gibt nur schnelle spontane Empfindungen wieder: den wilden Zorn, einen rasenden Schmerzensschrei, das furchtbare Grauen, einen plötzlichen Schreck, Tränen, Stolz, Verachtung und endlich die in sich selbst versunkene Schönheit. Sie wandelt alle Gefühle des Beschauers in Genuß, den ruhigen Genuß, der stets mit der Wonne und der Selbstzufriedenheit der heidnischen Welt verbunden ist. Ihr fehlen jene geheimen, schrankenlosen Gefühle, die endlose Träume mit sich führen. In ihr suchen wir umsonst nach dem langen, von Umwälzungen und Erschütterungen erfüllten Leben. Ihre Schönheit hat etwas Momentanes, wie die einer schönen Frau, die einen Blick in den Spiegel wirft, ihrem Bilde freundlich zulächelt und frohlockend weiter eilt, triumphierend eine Schar stolzer Jünglinge nach sich ziehend. Sie ist bezaubernd wie das Leben, wie die Welt, wie die Sinnenschönheit, der sie als Altar dient. Sie wurde zugleich mit der scharf umrissenen und klar gestalteten heidnischen Welt geboren, sie stellte sie dar und ist mit ihr gestorben. Vergeblich versuchte man es, mit ihrer Hilfe die hohen Gestalten des Christentums zu verkörpern, sie stand ihnen so fern, wie der heidnische Glaube.

Nie konnten die erhabenen stürmenden Gedanken des Christentums auf der wollüstigen Außenseite des Marmors Platz finden. Sie wurden ganz von seiner Sinnlichkeit aufgesogen.

Nicht so ihre beiden andern Schwestern, die Malerei und die Musik, die das Christentum aus ihrer Niedrigkeit erhob und ins Gigantische steigerte. Durch seine mächtige Triebkraft blühten sie erst recht empor und sprengten die Fesseln der sinnlichen Welt. Wehmütig gedenke ich meiner herrlichen, wolkenhaften, marmornen Skulptur! Doch ... erklinge heller, mein Becher, kling’ heller in meiner bescheidenen Zelle — und es lebe die Malerei. Erhaben und herrlich wie der Herbst, der reich geschmückt durch das weinlaubumrankte Fenster blickt, fromm und gewaltig wie das Weltall — ja du bist schön, du herrliche Musik der Augen. Nie hat die Skulptur es gewagt, deine himmlischen Offenbarungen darzustellen. Nie hat sie uns jene feinen geheimnisvollen irdischen Züge sehen lassen, bei deren Anblick wir das Gefühl haben, als erfülle der Himmel unsere Seele, und bei denen wir das Unaussprechliche zu empfinden meinen. Wie aus wolkigem Nebel treten die langen Reihen der Bilder hervor, und aus altertümlichen, vergoldeten Rahmen blickst du lebendig, wenngleich die unbarmherzige Zeit deine Leuchtkraft verdunkelte, und wortlos und stumm steht mit gefalteten Händen vor dir der Beschauer. Doch es ist nicht Sinnenglück, was aus seinen Augen strahlt, nein, sein Antlitz ist von einer überirdischen Lust verklärt. Du warst nie der Ausdruck einer bestimmten Nation und ihres Lebens, nein, dazu standest du zu hoch, du warst der Ausdruck alles dessen, was die christliche Welt an erhabenen Geheimnissen in sich birgt. Blickt hin auf das nachdenklich auf die Hand gestützte Haupt; wie begeistert und tief bohrend ist ihr Blick! Sie ergreift nicht nur einen kurzen Augenblick wie der Marmor, sie zieht diesen Augenblick in die Länge, sie setzt das Leben fort bis über die Grenzen des Sinnlichen, sie entreißt einer andern unendlichen Welt Erscheinungen, für die es uns an Worten und Namen fehlt. All jenes Unbestimmbare, was kein vom wuchtigen Meißel des Bildhauers durchfurchter Marmorblock auszudrücken vermag, gewinnt Gestalt unter dem begeisterten Pinsel des Malers. Gewiß weiß auch sie die allen verständlichen Leidenschaften auszudrücken, allein die Sinnlichkeit pulsiert nicht mehr so gewaltig in ihnen, und ein geistiges Element scheint alles zu durchdringen. Das Leiden findet in ihr einen unmittelbareren lebendigeren Ausdruck und ruft nur Mitleid hervor — sie appelliert an unsere Sympathie und nicht an unsere Genußfähigkeit. Sie nimmt sich auch nicht den Menschen allein zum Vorwurf — ihre Grenzen sind weiter: sie umfaßt das ganze Weltall, alles Herrliche, was den Menschen umgibt, ist ihrer Macht erreichbar. Die geheimnisvolle Harmonie, das wunderbare Band zwischen Mensch und Natur — in ihr allein ist sie zu finden. Sie bindet das Sinnliche an das Geistige.

Aber schäume noch feuriger, mein dritter Pokal! Noch heller funkle und perle über den goldenen Rand, du schäumendes Blut! — Du funkelst zum Preis der Musik! Denn sie ist noch weit feueriger und stürmischer als ihre beiden Schwestern. Sie ist ganz Leidenschaft! sie entreißt den Menschen plötzlich und wie mit einem Schlage der Erde, betäubt ihn durch den Donner ihrer gewaltigen Töne und versenkt ihn ganz in ihre Welt. Wie in die Saiten des Instrumentes, so greift sie herrisch an seine Nerven, an sein gesamtes Sein und läßt sein ganzes Wesen erbeben. Er genießt schon nicht mehr, er fühlt keine Teilnahme, nein, er selbst wird ganz Leiden; seine Seele betrachtet keine unfaßbare Erscheinung, sie lebt , lebt ihr eigenes Leben, gewaltsam, leidenschaftlich zerstörend. Unsichtbar hat sie auf ihren süßen Klängen die ganze Welt durchdrungen, strömt sie breit dahin und atmet und lebt in tausend verschiedenen Gestalten. Qualvoll und rebellisch ist sie — am mächtigsten und herrlichsten wirkt sie jedoch in den unendlichen Kuppelgewölben eines dunklen Domes, wo sie tausend kniende Gläubige zu einer harmonischen Empfindung verschmilzt und mit sich fortreißt, ihre tiefsten Herzensregungen bloßlegt, ihre Sinne betört und sich mit ihnen in unabsehbare Höhen emporschwingt — ein langes Schweigen und einen lang nachzitternden Ton hinter sich lassend, der in den Tiefen des hohen, spitzen Turmes verklingt. Wie könnte man euch miteinander vergleichen, ihr herrlichen Königinnen der Welt! Der sinnliche Zauber der Skulptur erfüllt uns mit hohem Genuß, die Malerei — mit stiller Begeisterung und Träumereien — die Musik mit Leidenschaft und innerer Unruhe. Wenn wir ein plastisches Kunstwerk aus Marmor betrachten, gerät unser Geist unwillkürlich in Entzücken, vor einem Gebilde der Malerei versinkt er in Betrachtung — beim Klange der Musik — macht er sich Luft in einem Schmerzenslaut — als sei die Seele von einem einzigen Wunsch ergriffen — sich vom Körper loszureißen. Sie — ist unser! Sie ist das Eigentum der neuen Welt! Sie blieb uns, als die Skulptur, die Malerei und die Baukunst uns verlassen hatten. Nie dürsteten wir so nach Begeisterung, die die Seele erhebt, wie in der heutigen Zeit, wo alle die zahllosen kleinen Launen und Genüsse, an deren Erfindung unser XIX. Jahrhundert sich den Kopf zerbricht, uns überwältigen und erdrücken. Alles verschwört sich gegen uns; diese ganze verführerische Kette raffinierter Erfindungen des Luxus sucht unsere Sinne immer mehr und mehr zu betäuben und einzuschläfern. Wir lechzen darnach, unsere arme Seele zu retten, diesen furchtbaren Versuchern zu entfliehen und — so stürzen wir uns in die Musik. O sei unser Schutzengel, unser Heiland, Musik, verlaß uns nicht! rüttle unsere kleinliche habgierige Seele immer häufiger auf! greife mit deinen Tönen kräftiger in unsere schlummernden Gefühle! Rege, wühle sie auf und verscheuche, wenn auch nur für Augenblicke, diesen fürchterlichen kalten Egoismus, der mit aller Gewalt unsere Welt erobern will. O laß bei dem machtvollen Strich deines Bogens die verwirrte Seele des Räubers, wenn auch nur für kurze Momente, von Gewissensbissen gemartert werden, laß den Spekulanten seine Rechnungen vergessen und die Frechheit und Schamlosigkeit vor den Schöpfungen des Genies eine ungewollte Träne vergießen. O verlasse uns nicht, du, die du unsere Gottheit bist. Der große Baumeister der Welt hat uns in seiner unergründlichen Weisheit in stummes Schweigen gebannt, aber dem wilden unentwickelten Menschen pflanzte er den Gedanken der Baukunst ein. Mit einfachen Mitteln, ohne Hilfe des Mechanismus richtet er Berge von Granit auf, türmt sie steil zum Himmel empor und sinkt vor ihrer formlosen Größe in die Knie. Der alten heiteren Sinnenwelt sandte er die herrliche Skulptur, die uns die reine keusche Schönheit brachte, und die ganze antike Welt ward zu einem Loblied auf die Schönheit. Das ästhetische Schönheitsgefühl einte sie zu einem harmonischen Ganzen und hielt sie fern von rohen Gelüsten! Den finsteren, unruhigen Jahrhunderten, wo oft nur die Lüge und die rohe Kraft triumphierten, und wo der Dämon des Aberglaubens und der Unduldsamkeit alle Lebensfreude verscheuchte, schenkte er die begeisternde Malerei, die die Welt die überirdischen Erscheinungen und die himmlischen Genüsse der Heiligen sehen ließ. Aber unserem jungen und zugleich altersschwachen Jahrhundert sandte er die gewaltige Musik — um uns im Sturme zu ihm zu führen. Doch wenn uns auch die Musik noch verläßt, was soll dann aus unsrer Welt werden!?

1831.

II
Über das Mittelalter

N iemals haben die Ereignisse der Weltgeschichte eine solche Gewichtigkeit und Bedeutsamkeit angenommen, nie hat sie eine so große Zahl von individuellen Erscheinungen gezeitigt, wie im Mittelalter. Alle Weltbegebenheiten strömen, je näher sie diesen Jahrhunderten liegen, nach langer Unbeweglichkeit mit gesteigerter Geschwindigkeit wie in einen Strudel, in einen wildbrodelnden Wirbel zusammen, um, nachdem sie von diesem in Umschwung gebracht, sich untereinander vermischt haben, neugeboren in frischen Wellen wieder emporzutauchen. In diesen Jahrhunderten fand eine große Umwandlung der ganzen Welt statt. Sie sind der Knoten, in dem die alte und die neue Welt zusammentreffen. Man kann dem Mittelalter in der Geschichte der Menschheit dieselbe Bedeutung anweisen, wie sie das Herz im menschlichen Körperbau einnimmt, in das alle Adern einmünden und von dem sie alle ausgehen. Wie ging diese vollständige Umwandlung vor sich? Welches sind die ursprünglichen Elemente, die sich in ihr erhielten? Was kam Neues hinzu? In welcher Weise vermengte sich Altes und Neues? Was entstand aus dieser Vermengung? Wie bildete sich das majestätische, stolze Gebäude der Neuzeit? Dies sind so schwerwiegende Fragen, wie es wohl in der ganzen Geschichte kaum wichtigere gibt. Alles, was wir besitzen, dessen wir uns bedienen, was wir vor den früheren Jahrhunderten voraushaben, der ganze Bau und die kunstvolle Zusammensetzung unserer Administration, die Beziehungen der verschiedenen Stände untereinander, ja diese Stände selbst, unsere Religion, unsere Rechte und Privilegien, unsere Sitten und Gebräuche, selbst unser ganzes Wissen, das sich in so schnellem Fortschritt vorwärts bewegt — dies alles hat entweder seinen Keim und Ursprung in dem dunklen geheimnisvollen Mittelalter oder hat sich doch aus ihm entwickelt und herausdifferenziert. In ihm ruhen die ursprünglichen Elemente und das Fundament alles Neuen; ohne ein eingehendes, aufmerksames Studium dieser Epoche bleibt die neue Geschichte unzulänglich und unklar, der Forscher, der von ihr ausgeht, gleicht dem Besucher einer Fabrik, der sich über die schnelle Herstellung der Produkte wundert, da sie beinahe vor seinen Augen entstehen, und dabei vergißt, in das finstre Erdgeschoß hinabzusehen, wo die großen mächtigen Schwungräder verborgen sind, die den Anstoß zum Ganzen geben; solch eine Geschichte gleicht der Statue eines Künstlers, der keine Anatomie studiert hat.

Warum aber hat man sich trotz der großen Bedeutung dieser merkwürdigen Epoche immer so ungern mit ihrer Erforschung beschäftigt? Warum beeilt man sich, wenn man zum Mittelalter kommt, stets, es so schnell wie möglich durchzunehmen und abzutun? Und warum haben sich nur wenige, sehr wenige Menschen, ergriffen von der Größe des Gegenstandes, die Mühe genommen, einige von den angeführten Fragen zu beantworten? Mir scheint, es liegt daran, weil man dem Mittelalter stets den letzten Platz angewiesen hat. Man hielt diese Epoche eben für gar zu barbarisch und unkultiviert, und infolgedessen blieb sie in der Tat immer dunkel und unerforscht und wurde nie richtig in ihrem Werte erkannt und in ihrer genialen Größe dargestellt. Barbarisch kann man nur ihren Anfang nennen, aber selbst diese finstre Zeit birgt schon mancherlei, was unsere Neugierde zu reizen geeignet wäre. Schon der Prozeß der Vereinigung zweier Welten, der antiken und der neuen, der grelle Widerspruch in ihren Formen und ihren Eigentümlichkeiten, diese altersschwachen, absterbenden Elemente der Antike, die sich durch die neue Umgebung hindurchziehen, wie Flüsse, die ins Meer strömen, aber noch lange ihr süßes Wasser nicht mit den salzigen Wellen vermengen, sind interessanter — diese rohen, mächtigen Kräfte der neuen Zeit, die hartnäckig allen fremden Einflüssen widerstehen, um sie endlich doch unfreiwillig in sich aufzunehmen, die mühevolle Anstrengung, mit der diese europäischen Wilden die römische Kultur für sich zurechtschneiden, diese Bruchstücke, oder besser gesagt Fetzen römischer Formen und Gesetze inmitten der neuen noch unbestimmten, denen es noch an Gestalt, Grenze und Ordnung fehlt, dieses ganze Chaos, in denen die Elemente der furchtbaren Majestät des heutigen Europas und seiner tausendfältigen Kraft ungegliedert durcheinanderbrodeln: dies alles ist fesselnder für uns und regt unsere Neugierde mehr an, als die starre Zeit des römischen Weltreiches unter der Herrschaft kraftloser Imperatoren.

Ein zweiter Grund, warum man sich so ungern mit der Geschichte des Mittelalters beschäftigt, ist — die angebliche Trockenheit, die man mit ihr zu verbinden geneigt ist. Man betrachtet sie wie eine Menge verschiedener ungeordneter Ereignisse, wie einen Haufen unzusammenhängender und sinnloser Begebenheiten, die kein gemeinsames Band umschließt, das sie alle zu einem Ganzen vereinigt. In der Tat, ihre schreckliche und ungewöhnliche Kompliziertheit muß im ersten Augenblick chaotisch erscheinen; aber wenn man nur aufmerksamer und tiefer hineinblickt, so findet man bald Zusammenhang, Zweck und Richtung darin. Übrigens leugne ich nicht, daß man den Instinkt und das Verständnis haben muß, das nur wenigen Historikern verliehen ist, um dies alles zu entdecken. Einigen freilich ward die beneidenswerte Gabe zuteil, alles in bewunderungswürdiger Klarheit und Folgerichtigkeit zu sehen und darzustellen. Von ihrem Zauberstab berührt, beleben sich die Ereignisse und bekommen ihr eigenes Gepräge und Interesse; ohne sie dagegen erscheinen sie einem jeden noch lange trocken und sinnlos. Abgesehen etwa von einem stumpfsinnigen Dahinvegetieren der Völker ist alles, was immer geschehen mag, interessant, sofern es nur in wahrheitsgemäßen Chroniken aufgezeichnet ist. Überall gibt es einen durchgehenden Faden, wie jedes Gewebe seine Struktur hat, obwohl diese häufig vollständig in dem Einschlag verschwindet; und wie ein jeder Edelstein eine unsichtbare Lichtquelle enthält, die erstrahlt, wenn er der Sonne zugewendet wird so verliert sich dieser Faden nur da, wo die Überlieferung aufhört. So zieht sich auch in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters durch die Masse der Ereignisse das unaufhörliche Erstarken der päpstlichen Macht und die Entwicklung des Feudalismus wie ein unsichtbarer Faden hindurch. Fast könnte es scheinen, als kämen die Tatsachen ganz unabhängig voneinander zustande und drängten mit ihrem Glanz den einsamen, noch unbedeutenden römischen Erzbischof in den Schatten; ein mächtiger Herrscher oder sein Vasall tut sich hervor, scheint nur in eigenem Interesse zu handeln, und doch strömten alle wesentlichen Vorteile daraus unbemerkt nach Rom. Alles, was geschah, schien absichtlich und zum Vorteil des Papstes zu geschehen. Hildebrandt hat den Vorhang ein wenig gelüftet und uns die Macht gezeigt, die die Päpste schon frühzeitig errungen hatten. Die Geschichte des Mittelalters verdient am wenigsten den Vorwurf der Langenweile. Nirgends finden wir so viel Buntheit, so viel Handlung und Leben, solch krasse Gegensätze, so viel grelles Licht, wie in diesen Jahrhunderten: man könnte es mit einem gewaltigen Gebäude vergleichen, dessen Fundament aus festem, für die Ewigkeit gefügtem jungem Granit, und dessen dicke Mauern aus allerhand neuem und altem Material zusammengesetzt sind, so daß der eine Ziegelstein gotische Runen, der andere eine römische Vergoldung trägt; arabisches Schnitzwerk, griechische Karniese, gotische Fenster — alles ist hier vereinigt zu einem Turm von außergewöhnlicher Buntheit und Mannigfaltigkeit. Aber man kann wohl sagen, diese Grellheit sei nur ein äußeres Kennzeichen der mittelalterlichen Vorgänge; ihre innere Bedeutung besteht in ihren ungeheuren, gigantischen Dimensionen, in ihrer geradezu unerhörten Kühnheit, wie sie wohl nur der Jugend eigen ist, und ihrer Originalität, die sie zu einer einzigartigen Erscheinung macht; in der Tat treffen wir weder in der alten noch in der neuen Geschichte etwas an, was ihnen gleich oder auch nur ähnlich wäre.

Werfen wir einen Blick auf die Ereignisse, die einen so mächtigen Einfluß ausübten. Das wichtigste Thema der mittelalterlichen Geschichte ist der Papst. Er ist der mächtige Beherrscher dieser frühen Jahrhunderte, er bewegt alle ihre Kräfte und lenkt, wie der Donnergott, mit einem Wink seiner Hand ihre Schicksale. Mit einem Wort, die ganze Geschichte des Mittelalters ist die Geschichte der Päpste. Ihre unüberwindliche Herrschsucht, ihre nie versagenden Mittel voller Scharfsinn und Weisheit — Folgen ihres hohen Alters — ihr Despotismus und der Despotismus der zahllosen Legionen einer mächtigen Geistlichkeit — dieser eifrigen Untertanen des geistlichen Oberhaupts, die alle Enden der Welt, wo das Zeichen des Kreuzes eingedrungen war, mit stählernen Fesseln an sich banden — das ist eine so ungeheure Erscheinung, die einzig in ihrer Art ist und die sich niemals wiederholt hat. Ich will nicht von den Mißbräuchen und der unerträglichen Schwere dieser Fesseln des geistlichen Despoten sprechen. Wenn wir tiefer in diese großartige Erscheinung eindringen, werden wir in ihr die wunderbare Weisheit der Vorsehung erkennen, hätte diese allbezwingende Macht nicht alles in ihre Hände gebracht, hätte sie die Völker nicht nach ihrem Willen gelenkt und angetrieben, so wäre Europa zerbröckelt, und das gemeinsame Band hätte gefehlt; wahrscheinlich wären einzelne Staaten zu Macht und Ansehen gelangt und dann plötzlich wieder in Verfall geraten und zugrunde gegangen, andere hätten ihre Unkultur zum Schaden ihrer Nachbarn nicht aufgegeben, die Bildung und die Entwickelung der Volksseele hätte sich ungleichmäßig vollzogen; an einem Ende hätten Kultur und Sitte Fuß gefaßt, während am anderen barbarische Finsternis ihr Wesen getrieben hätte. Europa hätte sich nicht in sich festigen, und nie in ein Gleichgewicht kommen können, durch das es sich heute so wunderbar erhält. Es wäre weit länger in einem chaotischen Zustande verblieben und hätte sich nie durch die stählerne Macht des Enthusiasmus zu einem gewaltigen Bollwerk erhoben, das den Eroberern aus dem Osten durch seine Festigkeit standzuhalten vermochte; ohne diese großartige Erscheinung hätte Europa vielleicht ihrem Ansturm nachgegeben, und statt des Kreuzes wäre der mohammedanische Halbmond auf seinen Zinnen aufgepflanzt worden. Wenn wir die wunderbaren Wege der Vorsehung betrachten, so beugen wir unwillkürlich unsere Knie. Es ist, als sei den Päpsten die Macht eigens dazu gegeben worden, damit sich die jungen Staaten während dieser Zeit kräftigen und befestigen könnten; damit sie erst lernen sollten, sich selbst unterzuordnen, um dann später, als sie das notwendige Alter erreicht hatten, auch andere zu beherrschen, und damit sie ihre Energie entwickeln konnten, ohne die das Leben der Völker farblos und kraftlos ist. Kaum waren die Völker imstande, sich selbst zu regieren, da begann auch die Macht des Papstes plötzlich zu schwanken und zu zerfallen, als hätte sie ihre Mission erfüllt und wäre überflüssig geworden, ungeachtet aller Anstrengung und des heißen Wunsches, die sinkende Macht festzuhalten. In dieser Beziehung war die päpstliche Macht dem Gerüst, den Tragbalken eines Gebäudes vergleichbar; anfänglich sind sie höher und erscheinen wichtiger als der Bau selbst, aber sobald dieser eine gewisse Höhe erreicht hat, werden sie als überflüssig abgetragen.

Der Gedanke an das Mittelalter verbindet sich unwillkürlich mit dem an die Kreuzzüge — diese außerordentliche Erscheinung, die sich wie etwas Gigantisches von den anderen wunderbaren und ungewöhnlichen Begebenheiten abhebt. Wo und in welcher Zeit finden wir etwas, was ihnen an Originalität und Größe gleichkäme? Das ist kein Krieg um ein geraubtes Weib, kein Erzeugnis des Hasses zweier unversöhnlicher Nationen, nicht der blutige Kampf zwischen zwei habsüchtigen Herrschern, zwei unersättlichen Eroberern um eine Krone oder einen Fetzen Landes, ja nicht einmal ein Krieg für die Freiheit und Unabhängigkeit eines Volkes — o nein — keine Leidenschaft, kein egoistischer Wunsch, kein persönlicher Vorteil ist die Triebfeder dieser Kämpfe; alles ist nur von dem einzigen Gedanken erfüllt: das Grab des göttlichen Heilandes zu befreien. Von allen Enden Europas strömen die Völker, Kreuze vor sich hertragend, zusammen, Könige und Grafen in schlichten Bußgewändern stellen sich an die Spitze, bewaffnete Mönche treten in die Reihen der Krieger, Erzbischöfe und Einsiedler befehligen, das Kreuz in Händen, zahllose Truppenmengen — und alle stürmen sie fort zum Kampf für ihren Glauben. Die Macht einer Idee umfaßt alle Völker. Liegt nicht etwas ganz Großes in diesem Gedanken? Mit Unrecht nennt man die Kreuzzüge ein sinnloses Unternehmen. Wäre es nicht merkwürdig, wenn der Jüngling schon gleich die Sprache des reifen Mannes spräche? Sie waren das Produkt der damaligen Zeit, und des damaligen Zeitgeistes. Dies Unternehmen war die Tat eines Jünglings — aber eines Jünglings, der ein geborenes Genie war. Was für unzählige, wunderbare, unvorhergesehene Folgen haben die Kreuzzüge gezeitigt! Die ganze Masse mußte erzogen und gebildet werden, sie mußte die Welt kennen lernen, die ihr zum Teil verborgen blieb, weil die Geistlichkeit davor stand, und die ganze Masse stürzt sich in einen andern Weltteil, dorthin, wo die erlöschende arabische Kultur danach strebt, ihr ihre Flamme zu übergeben: ganz Europa streift in Asien herum. Sind wir nicht berechtigt, uns zu wundern! Gewöhnlich ist es irgendein Fremder, der aus einem kultivierten Lande kommt und die Aufklärung und die ersten Kenntnisse in ein unbekanntes Land trägt, er bringt den Wilden allmählich eine gewisse Bildung bei — doch dieser Prozeß vollzieht sich langsam und ungleichmäßig. Hier dagegen sehen wir das Gegenteil; hier kommt das Volk als ganze Masse, um sich die Bildung zu holen, und obgleich es lange im fremden Lande verweilt, verschmilzt es nicht mit seinen Lehrern, nimmt weder deren Luxus noch deren Laster an, bewahrt seine Ursprünglichkeit und kehrt auch nach Aneignung vieler asiatischer Gebräuche nicht als Asiate sondern als Europäer nach Europa zurück. Ich will mich gar nicht einmal über die anderen Folgen, wie z. B. die Veränderungen in der feudalen Verwaltung und Regierung auslassen, die ohne andauernde Entfernung vieler kräftiger Männer aus dem Lande nicht möglich gewesen wären.

Aber werfen wir einen Blick auf die anderen Ereignisse, die die mittelalterliche Geschichte ausfüllen. Wenn sie auch im Vergleich mit den Kreuzzügen nur Erscheinungen zweiten Ranges sind, so sind sie doch nichtsdestoweniger von wunderbarem Reiz und verleihen dem Mittelalter einen gewissen phantastischen Glanz — sie sind ein Produkt einer herrlichen Jugend, die noch von ganz großen und starken Hoffnungen erfüllt ist, einer unvernünftigen Jugend vielleicht, die aber auch in ihrer Unvernunft etwas Bezauberndes hat. Wir wollen die Begebenheiten in chronologischer Reihenfolge betrachten.

Beginnen wir mit jener glanzvollen Zeit, als die Araber — diese Zierde der morgenländischen Völker — auf dem Schauplatz erschienen. Sie verdanken ihre ganze glorreiche Existenz einem einzigen Menschen und der von ihm gestifteten Religion, einer Religion, so reich wie die Nächte und Abende des Orients, so üppig wie die Natur an den Ufern des Indischen Ozeans, so erhaben und grüblerisch, wie nur die gewaltigen Wüsten Asiens sie hervorbringen konnte. Mit unerhörter Schnelligkeit errichten diese braunen Turbanträger ihre Kalifate an drei verschiedenen Enden des Mittelländischen Meeres. Ihre Phantasie, ihr Geist und alle ihre Fähigkeiten, mit denen die Natur die Araber so reichlich beschenkte, entwickeln sich vor den Augen des erstaunten Okzidents und prägen sich in verschwenderischer Fülle in ihren Palästen, Moscheen, Gärten, und Fontänen aus, und zwar ebenso plötzlich wie in ihren Märchen, die nur so von Perlen und Edelsteinen orientalischer Poesie strotzen. Noch ein Jahrhundert, und schon ist es verschwunden, dieses außergewöhnliche Volk, so daß wir uns staunend fragen: hat es wirklich gelebt und existiert oder war es nur eine Schöpfung unserer Phantasie?

Wie wunderbar und voll von Widersprüchen ist ferner das Erscheinen der Normannen, dieses Volkes, das der zürnende Norden wütend aus seinen Eisfeldern hervorschleuderte! Eine Handvoll kühner Männer, denen der düstre Odin und die Schneeberge Skandinaviens auf den Fersen zu folgen scheinen, breiten panischen Schrecken über ganze gewaltige Staaten und Reiche aus. Geführt von ihren Königen, kommen ihre beweglichen Königreiche auf dem nördlichen Eismeer dahergeschwommen und alles sinkt nieder vor diesen wenigen, im Strom, im Wellengang, in der furchtbaren Armut Skandinaviens und ihrer wilden Religion gestählten Fremdlingen.

Auch die gewaltigen Eroberungszüge und die weite Verbreitung der mongolischen Völker war beinah etwas Übernatürliches. Die inneren grenzenlosen Gefilde Asiens, bis dahin den Augen aller Völker verborgen, leuchteten plötzlich in schrecklicher Majestät auf, diese endlosen Steppen, Seen und ungeheuren Wüsten, wo sich alles in einer unermeßlichen Breite und in unendlichen Ebenen verläuft, wo der gewaltige Flächenraum durch das vereinzelte Auftreten von Menschen nur noch riesenhafter und elementarer wirkt. Diese Steppen, die von baumhohem Gras oder flutenden Kornfeldern bedeckt sind, die keines Menschen Hand je gesäet und geschnitten hat, diese Steppen, wo Rinder und Roßherden weiden, die von Urzeiten her noch niemand gezählt hatte und deren wahre Anzahl selbst ihren Besitzern unbekannt blieb, diese Steppen erblickten eines Tags einen Tschingis-Chan, der angesichts seiner kleinen, schlitzäugigen, plattnasigen und breitschulterigen Mongolen das Gelübde ablegte: die Welt zu erobern — und das menschenreiche Peking wird im Lauf eines Monats ein Raub der Flammen, ein Millionenvolk wird von mongolischen Pfeilen niedergestreckt, und der König der Tungusen geht mit Hunderttausenden seiner Untertanen auf einem festgefrorenen See zugrunde, die Rinderherden werden bis an die Grenzen Indiens getrieben, und ganze Scharen von Roßherden irren an den Ufern der Wolga herum. Mit einem Worte: es ist, als ob sich in diesen Eroberungszügen die ganze ungeheure Größe Asiens spiegelte. Eine so rapide Überflutung hat weder die alte noch die neue Geschichte je gesehen.

Ich will hier nicht von dem bedeutenden Handelszentrum Venedig reden, diesem kleinen Fleckchen Erde, das von einer einzigen Stadt eingenommen wurde; eine Stadt, eine einzige Stadt, die keinem Reich angehörte, preßte der ganzen Welt ihr Gold aus, und ihre königlichen Kaufleute übertrafen mit ihren Schiffen, die stolz alle Meere durchkreuzten, mit ihren Palästen am Adriatischen Meere den Ruhm so manches Monarchen. Diese Erscheinung halte ich nicht für außergewöhnlich und einzig dastehend. Sie wiederholt sich häufig in der Geschichte, wenn auch mit Abweichungen und in mancherlei anderer Form. Unvergleichlich viel origineller ist das Leben in Europa während der Kreuzzüge und nach ihnen, in jener Zeit, wo die Grenzen der Staaten noch unklar und unbestimmt waren; wo der Königstitel noch ein Name ohne viel Bedeutung war und wo es noch Millionen von Grundbesitzern gab, die in ihren Ländern wie kleine Selbstherrscher regierten, wo ganz Europa von uneinnehmbaren Schlössern mit Türmen und Zinnen und von trotzigen Festungen übersäet war, wo sich die Kraft der Ritter durch den beständigen Kampf und die ewigen Fehden ins Übermenschliche, Löwenhafte steigerte, als sie sich vom Kopf bis zu den Füßen in Eisen hüllten, dessen Last trugen, die vordem kein Mensch hätte heben können, und wo Stolz und Trotz sich zu einem rohen Unabhängigkeitsgefühl entwickelte. Man sollte glauben, dieser rohe Mut hätte die Seele abhärten und erstarren lassen und sie ebenso gefühllos machen müssen, wie ihre undurchdringlichen Panzer. Aber wunderbarerweise wurden diese wilden Männer gezähmt und gebändigt durch eine Erscheinung, die in schroffstem Widerspruch zu ihren Sitten stand: durch die allgemeine und grenzenlose Verehrung der Frauen. Die Frau wird im Mittelalter zur Gottheit; ihr zuliebe werden Turniere veranstaltet und Lanzen zerbrochen, ihr rotes oder blaues Band flattert am Helm oder Panzer und flößt übernatürliche Kräfte ein; um ihretwillen bezwingt auch der wildeste Ritter seine Leidenschaften und bändigt sie machtvoll wie seinen arabischen Hengst; ihr zuliebe legt er sich wundersame Gelübde auf, die an Strenge und Härte gegen sich selbst nicht ihresgleichen haben, und dies alles nur um der hohen Würde teilhaftig zu werden, vor seiner Gottheit in die Knie sinken zu dürfen. Noch bewunderungswürdiger aber als diese begeisterte Liebe ist ihre Wirkung auf die Sitten. Die Vornehmheit der europäischen Gesinnung ist die Folge dieser Liebe. Das Wanderleben, das jedem einzelnen Tausende von Erfahrungen und Abenteuern eintrug und ganz Europa in eine bewegte auf und ab wogende Hauptstadt verwandelte, hat später in den Europäern den Durst nach Entdeckung neuer Welten rege gemacht. Die immerwährenden Fehden und Kriege, die ständige Unsicherheit der Lebensverhältnisse, haben nicht etwa wie das gewöhnlich in den Geschichtsperioden zu geschehen pflegt, in denen der Luxus die Wunden sittlicher Gebreste der Völker zerfrißt, wo die Unersättlichkeit des persönlichen Vorteils, Gemeinheit, Schmeichelei und die Sucht nach verfeinerten Lastern hervorruft, den allgemeinen Geisteszustand und die Spannkraft der Europäer geschwächt, nein, sie haben sie noch gestählt und entwickelt.

Die Laster der kultivierten Völker wagten es nicht, den europäischen Ritterstand anzutasten. Fast scheint es, als hätte die Vorsehung ununterbrochen über ihn gewacht und ihn mit der Sorgfalt eines treuen Erziehers unablässig behütet und geschützt. Zugleich mit dem Aufkommen des neuen Luxus und Lebenskomforts, der durch Venedig und die Hansa in Europa eingeführt wurde und die Ritter immer mehr ihren Gelübden und ihrem strengen Leben entfremdete, ihre Genußsucht schürte und ihren religiösen Enthusiasmus schwächte, begannen sich merkwürdige Verbände, wie man sie nie vorher gekannt hatte, zu bilden, die als strenge Richter, als unerbittliches Gewissen über die Völker Europas wachten. Nie weiß die Geschichte von Gesellschaften zu berichten, die untereinander mit so unlösbaren Banden verknüpft waren, wie diese geistlichen Ritterorden. Jede Tätigkeit um des eigenen Vorteils oder der eigenen Existenz willen, die doch sonst immer der Zweck aller Verbände ist, lag ihnen fern. Allem entsagen, was dem einzelnen wünschenswert ist, und nur für die ganze Menschheit leben; — als strenge Hüter der Welt leben, allein zum Schutz des christlichen Glaubens — sich ihm allein widmen, ihm alles zum Opfer bringen und alles von sich werfen, was im entferntesten dem eigenen Vorteile dient — ist das nicht eine wunderbare Erscheinung! Nur aus dem Mittelalter konnte solch eine Kraft und solche Energie entspringen. Kaum aber fingen die Ritterorden an, von ihren ursprünglichen Zielen abzuweichen und ihre Augen auf andere Zwecke zu lenken, angelockt durch die Habsucht und die Beutegier, da ließen sie Üppigkeit und Luxus immer mehr Gefallen am persönlichen Leben finden, und so wurden sie denen immer ähnlicher, deren Überwachung sie sich selbst zur Aufgabe gemacht hatten, und es entstehen die furchtbaren unerbittlichen Femgerichte, die unabwendbar waren, wie die göttlichen Anordnungen, und nicht mehr die Züge des Gewissens gegenüber der leichtsinnigen Welt trugen, sondern eine furchtbare und grausige Darstellung des Todes und des Gerichtes bildeten. Keine Macht, kein Landbesitz, ja, selbst nicht die Krone auf dem Haupt konnte ihre Urteilsprüche abwenden oder mildern. Unbekannt und unsichtbar wie das Schicksal, irgendwo im Waldesdickicht, in tiefen, feuchten unterirdischen Gewölben wogen und prüften diese Richter das ganze Leben und das Vergehen dessen, der inmitten seiner unermeßlichen Ländereien, im Kreise seiner nach Hunderten zählenden ergebenen Vasallen sich’s nicht einmal träumen ließ, daß es auf der Welt eine höhere Macht geben könnte als die seine. Wenn diese unterirdischen Richter einmal den Urteilsspruch gefällt hatten, — dann war alles verloren. Vergebens versuchten es die Herrscher mit ihrer drohenden Macht, die Annäherung an ihre Person zu erschweren, umsonst schloß ihr Gold die Lippen und zwang alle, ihr Lob zu singen — der unerbittliche Dolch erreichte sie am Ende der Welt, stahl sich durch die glänzende Schar ihrer Höflinge und traf sie hinterrücks an der Seite ihrer Freunde. Mutet es uns nicht wie ein fast märchenhaftes Wunder an! Nur da sind die Handlungen eines Menschen so unabwendlich, so übernatürlich, so ungewöhnlich, wo er außerhalb der Gesellschaft steht, jedes Schutzes einer gesetzlichen Macht entbehrt und nicht weiß, was das Wort „Unmöglichkeit“ bedeutet.

Auch die ganze Art der Tätigkeit, wie sie in der Mitte und am Ende des Mittelalters herrschte — dieses allgemeine Streben nach der geheimnisvollen Wissenschaft, dieser Wunsch nach Erkenntnis und Erforschung der rätselhaften Naturkräfte, diese Unersättlichkeit, mit der sich alle der Zauberei und der Magie hingeben, in alledem gärt und brodelt jene europäische Neugierde, ohne die die Wissenschaft sich nie so entwickelt und die jetzige Vollkommenheit erreicht hätte. Selbst der naive Geisterglaube und die Beschuldigung des Umgangs mit Geistern haben für uns ein ganz besonderes Interesse. Die Beschäftigung mit der Alchimie, der Krone mittelalterlicher Gelehrsamkeit, der Schlüssel alles Wissens, entsprang dem kindlichen Wunsch, das vollkommene Metall zu entdecken, das dem Menschen die Macht über alles verleihen sollte. Man stelle sich nur ein kleines deutsches Städtchen im Mittelalter vor: diese schmalen, unregelmäßigen Straßen, diese hohen, bunten, gotischen Bauten und dazwischen ein uraltes baufälliges Häuschen, das allgemein für unbewohnt gilt und auf dessen von Rissen durchzogenen Mauern Moos und Alter ihre Wohnstätte aufgeschlagen haben; diese zugenagelten Fenster — das ist die Behausung des Alchemisten. Nichts läßt auf die Gegenwart eines lebenden Wesens schließen — aber in dunkler Nacht steigt ein bläulicher Rauch aus dem Schornstein auf und verrät das unermüdliche Wachen des Greises, der über seinem Problem grau ward, aber die Hoffnung noch immer nicht sinken lassen will — scheu schleicht der fromme, mittelalterliche Handwerker an dieser Stätte vorbei, wo seiner Meinung nach Geister ihr Heim aufgeschlagen haben, in Wahrheit aber wirkt dort an Stelle der Geister der ewige Wunsch und der unüberwindliche Wissensdrang, der nur von sich selbst lebt, sich stets von neuem an sich selbst entzündet und selbst durch Mißerfolge noch mächtiger angefacht wird — dieses Urelement des ganzen europäischen Geistes — das von der Inquisition, die bis in die tiefsten Gründe der menschlichen Gedanken eindrang, vergeblich verfolgt wird; aber er reißt sich immer wieder los und er gibt sich trotz Furcht und Schrecken nur noch mit größerem Genuß seinem Studium hin.

Und die Inquisition! Welch düstere, furchtbare Erscheinung! Diese grausige, blinde Inquisition, die über unzählige Gewölbe und unterirdische Klöster gebot, die an nichts anderes glaubte als an ihre furchtbaren Folterwerkzeuge, in deren Erfindung der Mensch einen geradezu höllischen Scharfsinn an den Tag legte. Diese Inquisition, die unter der Mönchskutte ihre eisernen Krallen hervorstreckte und alle ohne Unterschied ergriff, die einer seltsamen oder ungewöhnlichen Beschäftigung nachgingen, sie liefert wieder einen Beweis für die große Wahrheit, daß, wenn auch die physische Natur des Menschen durch Qualen dazu gezwungen wird, die Stimme der Seele zum Schweigen zu bringen, doch in der großen Masse der ganzen Menschheit der Geist noch immer über den Körper triumphiert hat.

Sind das nicht alles ganz einzigartige Erscheinungen? Geben sie uns nicht das Recht, das Mittelalter eine wunderbare Epoche zu nennen? Das Wunderbare bricht sich hier bei jedem Schritte Bahn und gewinnt während dieser jugendlichen zehn Jahrhunderte die Herrschaft über alles! Ich nenne sie jugendlich, weil in ihnen alles Junge lebendig ist: alles, was Mut, Leidenschaft, Begeisterung atmet, was nicht an die Folgen denkt, nie die kalte Berechnung zur Hilfe ruft und noch keine Vergangenheit besitzt, auf die es zurückblicken könnte. Alles am Mittelalter — ist Poesie und Willkür! Man merkt sofort den Umschwung, wenn man das Gebiet der neuen Geschichte betritt. Der Unterschied ist zu auffallend; und unser Seelenzustand gleicht dann den Meereswellen, die sich anfänglich in Bergen und Tälern aufbäumen und senken, um gleich darauf wieder als unendliche Fläche still und ruhig dahinzufließen. Im Mittelalter erscheinen die einzelnen Handlungen und Taten der Menschen ganz unüberlegt, die wichtigsten Ereignisse widersprechen einander in jeder Beziehung und bilden große Kontraste. Fassen wir sie jedoch alle zu einem Ganzen zusammen — so erkennen wir die bewunderungswürdige Weisheit, die darin waltet! Wenn man das Leben des einzelnen Menschen mit dem Leben der Menschheit vergleichen könnte, so müßte man das Mittelalter die Schulzeit des Menschen nennen. Da flossen seine Tage fast unbemerkt von der Welt dahin, seine Taten sind noch nicht so kraftvoll und reif, wie dies für die Welt erforderlich ist, und niemand erfährt etwas von ihnen. Dafür aber entspringen alle seine Handlungen einer triebartigen Leidenschaft und enthüllen mit einem Schlage alle inneren Regungen der Menschen; ohne sie wäre auch seine spätere Wirksamkeit in der Gesellschaft unmöglich.

Sehen wir ferner zu, welch ungeheure Ereignisse das Mittelalter umrahmen: das große Kaiserreich, das die ganze Welt beherrschte, eine zwölf Jahrhundert alte Nation, geht an Erschöpfung und Gebrechlichkeit zugrunde, und mit ihr versinkt die halbe Welt, stürzt das ganze Altertum mit seiner halbheidnischen Denkungsart, seinen geschmacklosen Schriftstellern, seinen Gladiatoren, Statuen, seinem überladenen Luxus und seinen raffinierten Lastern zusammen. Dies ist der Anfang des Mittelalters, und sein Abschluß wird durch ein ungeheures Ereignis gekennzeichnet, eine allgemeine Explosion, die alles in die Luft sprengte und alle jene furchtbaren Gewalten, die bis dahin die Welt so despotisch umklammerten, vernichtete. Die Macht der Päpste wird erschüttert und fällt zusammen, und ebenso geht es mit der Unwissenheit und Unkultur. Die Schätze und der Welthandel Venedigs werden unterminiert, und wenn das allgemeine Chaos nach dieser großen Umwälzung sich klärt und entwirrt, erscheint folgendes Bild vor den erstaunten Augen der Nachwelt: Könige, die ihr Zepter mit kräftiger Hand festhalten; Schiffe, die mit mächtig geblähten Segeln das Mittelmeer durchschneiden und die Wogen des unendlichen Ozeans befahren; statt des ohnmächtigen Schwerts hält der Europäer die Feuerwaffe in den Händen; gedruckte Bogen fliegen von einem Ende der Welt zum andern: und das alles ist ein Ergebnis des Mittelalters. Der ungeheure Druck der Mächtigen und die unerträgliche Knechtung des Volks waren scheinbar nur dazu da, um den allgemeinen Ausbruch hervorzurufen. Nur indem die menschliche Vernunft all ihre Kräfte zusammennahm, konnte sie die harte Rinde, die sie umgab, durchbrechen. Vielleicht hat auch nur daher kein Jahrhundert so viele riesengroße Erfindungen aufzuweisen, wie das fünfzehnte, das das Mittelalter in so glänzender Weise beschließt: diese gewaltige Zeit, die an einen mächtigen, majestätischen gotischen Dom erinnert, finster und dunkel wie die sich durchkreuzenden Gewölbe, bunt wie seine vielfarbigen Fenster und die Menge des ihn schmückenden Zierates, und erhaben und voller Leidenschaft, wie die zum Himmel strebenden Mauern und Türme, die in eine in den Wolken verschwindende Spitze auslaufen.

III
Ein Kapitel aus einem historischen Roman [1]

U nterdessen überschritt unser Abgesandter die Grenze, die heute den Pirjatinsker Kreis von dem Lublinschen Kreise trennt. Damals gab es in Kleinrußland noch keine allgemeine Landstraßen, dafür aber kannte ein jeder irgendeinen kleinen Weg, der nach seiner Meinung der allerkürzeste war. Diese Wege waren meistens recht uneben, liefen zwischen Gräben dahin oder an einer Böschung entlang, überschritten eine Schlucht, und nur die von den Pferdehufen hinterlassenen Spuren bezeichneten ihre Richtung. Man brauchte nur eine Reise anzutreten, um sogleich mit jedem Nachtlager vorliebnehmen zu müssen. Die größte Unbequemlichkeit für den Reisenden, der mit der Gegend unbekannt war, bestand aber darin, daß er sich im Umkreise von 25 bis 30 Schußweiten bei den Bewohnern nach dem Wege erkundigen mußte und daß die Aussagen sich fast immer widersprachen.

Unser Reiter ritt in Gedanken versunken dahin, hielt die Zügel nur schlaff in Händen und ließ den Kopf hängen, bisweilen nur stolperte das feurige Roß, sein treuer Kamerad, über Erdhügel und Baumstümpfe und riß ihn aus seinen Träumereien, die sich aber bald wieder wie eine Perlenschnur um sein Haupt schlangen. Zum erstenmal hatte er solch einen Auftrag auszuführen. Er war hinausgesandt in die weiten Steppen der Ukraine! Gott allein nur wußte, wohin ihn der Weg führen würde! Wer war nur dieser Gletschik? ... Und was hatte Kasimir mit dem Anführer einer Bande, der sich Oberst des Mirgorodschen Regiments nannte, zu tun ? ... Man hatte ihm keine genügenden Erklärungen gegeben, weder über seinen Charakter, noch seine Stärke, noch darüber, was für Beziehungen er hatte, noch auch zu wem ... Wozu also diese Vorsicht, die man im Gespräch mit ihm beobachten sollte? Warum sollte er so weit reiten — nur um ihm Nachricht von den Ereignissen zu bringen, die Warschau so beunruhigten? Welchen Nutzen hätte auch ein so weit entfernter Verbündeter bringen können? Er schalt innerlich auf sich selbst, weil er Brigitte nicht genauer nach allem ausgefragt hatte; ihr waren sicherlich die Gründe für diese merkwürdige Botschaft mehr oder weniger bekannt.

Die Sonne nahm langsam Abschied von der Erde. Malerische Wolken, deren Ränder von feurigen Strahlen vergoldet wurden, zogen, fortwährend ihre Gestalt ändernd und sich wieder auflösend, am Himmel hin. Die Dämmerung breitete mürrisch einen grauen Nebel über alles und schloß die Läden vor den Fenstern, aus denen noch soeben ein Licht auf Gottes Welt gefallen war. Nach einem langen Ritt durch die Steppe gelangte unser Reisender in einen Wald. Die vom Herbst unbarmherzig ihres grünen Laubes beraubten Bäume erinnerten an ein großes Sieb und schienen in der nächtlichen Kühle zu zittern. Gelbe Blätter lagen unordentlich am Boden wie Speisereste und zerbrochene Scherben nach einem Gelage, und nur ihr Rascheln unter den Hufen des Rosses ließ die Gegenwart unseres Reiters erkennen. Zwischen den kahlen Wipfeln der Bäume lugte der dunkle Himmel hervor. Ein scharfer Wind erhob sich im Felde und entsandte trübselige Seufzer bis in das Waldesdickicht.

Unwillkürlich stutzte der Reiter und hemmte unschlüssig sein Roß; was sollte er beginnen, der Weg war vollkommen verschwunden, und vor ihm lag nichts wie dichter Wald und das Ungewisse; da drang plötzlich ein lautes „Zop, zop“ an sein Ohr, ein schwer beladener Wagen kam knarrend dahergefahren, und ein paar Stiere tauchten hinter den Bäumen auf. Man muß sich in die Lage unseres Reisenden hineinversetzen, um seine Freude über eine solche Begegnung zu verstehen. In diesem Augenblick erschien auch der Mond am Himmel. Ein silbernes Licht, von furchtsamen Schatten der Bäume durchkreuzt, fiel wie ein Gitter auf die Erde, erleuchtete weithin die Umgegend, und Laptschinsky sah einen kräftigen ältlichen Bauer vor sich. Der graue herabhängende Schnurrbart saß ihm stolz in dem gebräunten, scharf geschnittenen, muskulösen Gesicht, und ein Zug asiatischer Sorglosigkeit lag gutmütig darüber. Durch die schwarzen Brauen zog sich schon manch silbernes Fädchen hindurch; die kleinen braunen Augen sprühten Feuer, und zuweilen leuchtete etwas wie Schlauheit oder Treuherzigkeit daraus hervor. Er hatte eine schwarze Kosakenmütze mit einem blauen Dach auf dem Kopfe. Ein kurzer Pelz ohne Tuchüberzug diente ihm als undurchdringlicher Schutz gegen die Kälte und wurde von einem hellen, farbigen Gürtel festgehalten. Zum Überfluß hatte er sich noch einen gewöhnlichen Mantel aus dickem, schmutziggrauem Stoff übergeworfen, wie ihn noch heute die kleinrussischen Bauern tragen. Im Gürtel staken eine Flinte und ein krummer tatarischer Säbel, — denn in jenen unruhigen Zeiten hielt jeder Kosak — ob Krieger oder Bauer, es für unumgänglich notwendig, immer eine Waffe bei sich zu tragen.

„Gott helf!“ sagte er, hielt seine Stiere an und entblößte zum Zeichen der Hochachtung, die die einfachen Bauern zu jener Zeit noch den Kriegern zu erweisen pflegten, seinen Kopf, der nur noch ganz oben mit einem Haarbüschel geschmückt war. Hier müssen wir uns erinnern, daß Laptschinsky gezwungen gewesen war, sein schmuckes Kostüm mit der bescheidenen Kleidung eines Kosakenführers zu vertauschen, um allen Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen, die er sich seitens der Einwohner zugezogen hätte, weil diese alles haßten, was den Namen Pole trug oder auch nur zu ihnen gehörte.

Unser Reiter dankte mit einem leichten Nicken des Kopfes für den Gruß.

„Weißt du nicht, Landsmann, ob es von hier noch weit bis zur Ramodanowschen Landstraße ist?“ fragte er mit freundlicher Miene.

„Das kann ich nicht so ohne weiteres sagen, Euer Gnaden, warten Sie mal!“ Und er begann zu rechnen, was man aus den mechanisch zusammengedrückten Fingern entnehmen konnte. „Bis zur Ramodanowstraße? ... Wie soll ich Euch sagen? ... sie ist nicht gerade sehr nahe. Ich muß gestehen, daß unsere Kosaken ein wenig Angst gekriegt haben: jemand hat das Gerücht verbreitet, daß die ganze polnische Schlachta uns an der Ssula einen Besuch abstatten wolle. In ihrem blinden Eifer haben sie alle Brücken zerstört, da werden Euer Gnaden vielleicht einen großen Umweg machen müssen. Übrigens, der Himmel mag’s wissen, ich wiederhole nur, was die anderen sagen ... es kann ja auch sein, daß Ihr einen kürzeren Weg findet ... aber Sie wissen, jetzt ist es Herbst ... da kann es auch recht weit werden ... Aber wenn man recht bedenkt, so scheint es doch wieder viel näher. Ja, es wäre eine andere Sache, wenn es Wegweiser gäbe, wie Euer Gnaden sie gewiß auf den Straßen in Polen gefunden haben, wenn Sie dort gewesen sind.“

Man muß sich nicht über die Widersprüche, die den Monolog unsers Landmanns auszeichneten, wundern. Abgesehen von der tatsächlichen Unkenntnis, liebten es die Kleinrussen stets, auch an den allerbekanntesten Dingen zu zweifeln. Ein Kleinrusse wird euch auch noch heutzutage nie eine kurze, klare Antwort geben, er wird sich erst zehnmal verbessern und manchesmal seinen Partner mit Absicht so in Verwirrung bringen, daß jener zu seinem Staunen erfahren wird, daß es bis zu einem bestimmten Ort sehr weit und zugleich sehr nahe ist.

„In welcher Richtung muß ich denn nun aber weiterreiten?“ fragte unser Reisender und blickte prüfend auf seinen Lehrmeister.

Unser Bauer sah sich den Mann von Kopf bis zu Fuße an.

„Euer Gnaden wollen jetzt gleich weiterreiten?“

„Und warum nicht?“

„Gott bewahre! jetzt würde sogar unsereiner, d. h. ein Hiesiger, sich’s sehr überlegen, ehe er weiterreiten würde. Weißt du, Mosjpane, wir brauchen ja nur noch eine kleine Weile zu fahren, — nicht länger als ein tüchtiger Bauer dazu braucht, eine halbe Fuhre Getreide zu zermahlen, dann hören wir schon die Hunde auf meinem Hofe bellen. Es ist immer besser, in einer warmen Hütte zu schlafen — morgen magst du dann mit Gott weiterreiten.“

Diesen Vorschlag konnte unser Reisender nicht von der Hand weisen, ja es schien fast, als ob er ihn erwartet hätte.

„Und wohin führt Sie der Weg, Mosjpane?“ fragte der Bauer unterwegs seinen zukünftigen Gast.

„Ich reise weit, bis an das andere Ufer der Worskla zu dem Mirgoroder Oberst, Gletschik. Hör’ mal, Landsmann, kennst du ihn vielleicht?“

„Wie sollte ich diesen alten Hund nicht kennen! Und woher kommt ihr?“

„Aus dem großen Lager bei Lochwitza.“

„Wie kommt denn das, Euer Gnaden; wir haben doch gar nicht gehört, daß bei Lochwitza ein Lager aufgeschlagen ist.“

Hierbei durchbohrte er den Fremden mit seinen Augen, als wolle er ihn auf Herz und Nieren prüfen. „Ja, natürlich, wie soll ein Bauer etwas von Kriegssachen verstehen; es sind noch keine Gerüchte bis in unsere Einöde gedrungen.“

Unser Gesandter stutzte und überlegte sich’s, daß man auch im Gespräch mit einem simplen Bauer die Vorsicht nicht außer acht lassen dürfe, dachte eine Weile nach und fuhr dann fort: „Sieh mal Landsmann, mit Bestimmtheit kann ich es dir freilich nicht sagen. Ich selbst bin nicht im Lager gewesen, aber der Saporoger Hauptmann, Schljaiko, dem ich bei Lochwitza begegnet bin, hat mir einen Brief an den Mirgoroder Oberst mitgegeben, als er vernahm, daß ich nach jener Gegend reite. Er jagte dahin wie ein Verrückter, trotz aller Fragen konnte ich nichts Zuverlässiges erfahren ... Ich war erst vor kurzem aus Warschau zurückgekehrt ... Sieh mal, möglicherweise hatte er Grund, mir zu mißtrauen ... d. h. ... er ... nun ich glaube, du verstehst mich.“

„Was reden Euer Gnaden, kann denn ein Bauer verstehn, was die Herren untereinander sprechen! Bei Gott, nein, wie soll unsereiner das verstehen. Unsere Schädel sind ja ganz anders gebaut als die Köpfe der Herrn ... weiß der Teufel, was das ist! ... sie haben mehr Ähnlichkeit mit einem Kohlkopf als mit einem Menschenkopf ...“

„Oh, du bist mir ein Schlauer!“ dachte Laptschinsky und nahm sich vor, seine Worte so bedächtig wie möglich zu setzen.

Er ritt die ganze Zeit im Schritt und paßte den leichten Gang seines stolzen Rosses den langsamen Schritten der schwerfälligen Stiere an, denen der Bauer mit phlegmatischer Würde, den Stock schwenkend und seine Pfeife rauchend, voranschritt. Der Rauch hüllte sein braunes Gesicht wie in eine Wolke ein; zuweilen, wenn es von der aufflackernden Flamme beleuchtet wurde, erinnerte es an einen Vampir, der hie und da aus dem undurchdringlichen Sumpfnebel auftauchte und von dem ein wundersamer Funkenstrom ausging. Dies veranlaßte Laptschinsky, ihm immer wieder in die Augen zu sehen, um sich zu vergewissern, ob es wirklich noch derselbe Mann sei, den er soeben getroffen hatte.

Aber unser Bauer verscheuchte selbst alle Zweifel und ließ seinem Gast keinen Augenblick Zeit zum Grübeln.

„Haben Euer Gnaden schon von solch einem Wunder gehört?“ fragte er, ohne die Pfeife aus dem Munde zu nehmen; „siehst du dort im Dunkeln weit vor uns die Tanne?“

Zu seinem großen Erstaunen sah der Reisende wirklich eine Tanne. Wie hatte die ihren Weg hierher gefunden? denn hier zu Lande, d. h. in Kleinrußland, hätte das Auge wohl selbst im Umkreise von hundert Werst keine dieser Bewohnerinnen des Nordens entdecken können. Unwillkürlich starrte er sie an: sie allein schien sich inmitten dieser kahlen Bäume etwas wie Leben erhalten zu haben. Aber konnte man das Leben nennen? Es war eine Mumie, die man nur mit Verwunderung unter nackten Skeletten entdeckt, und die allein der Verwesung Trotz geboten hatte. Man gewahrt an ihr dieselben Züge und dieselbe herrliche menschliche Form, aber, Gott, in welchem Zustande! Ein unbeschreibliches, unbegreifliches Gefühl von Wehmut und Grauen erfaßt die Seele beim Anblick dieses elenden Betruges, durch den die geschäftige Kunst etwas dem Leben Ähnliches zu ergreifen und festzuhalten versucht.

„Das ist noch kein großes Wunder, daß da eine Tanne steht. Wunderbar ist nur dieses: Jetzt wo wir miteinander plaudern, sind es wohl fünfzig Jahre her, daß hier, wohl gar an diesem selben Platze, in prächtigen Gemächern ein großer, vornehmer Herr hauste. Ob er nun ein Woiwode, ein Hauptmann oder ein einfacher Gutsbesitzer gewesen ist, weiß ich Euch nicht zu sagen; ich weiß nur, daß er Pole war und nicht unserer Religion angehörte. Er lebte, wie alle die unsaubern polnischen Herren leben; sein Haus war von früh bis zum Abend von Wein und Gesang erfüllt, ein Zittern überlief jeden ehrlichen Christenmenschen, wenn er die Schreie vernahm, die aus dem Walde drangen. Die Gutsknechte ritten alle Gehöfte ab und plünderten deren arme Bewohner. Aber mehr noch. Sie fingen bald an, auch noch die heiligen Kirchen zu plündern und zu bestehlen, und trieben es so schlimm, ... hol’ sie der Teufel, ich mag gar nicht sagen, was sie alles verübten. Man hätte sie alle erschlagen sollen ... Euer Gnaden ... Aber das ging nicht, denn es waren ihrer vielleicht hundertfünfzig Knechte, und jeder war mit einer Hellebarde, einem Luntengewehr und einer ganzen Kriegsrüstung bewaffnet. Da erbot sich ein Kirchensänger, — wie er hieß und aus welchem Kirchspiel er stammte, das weiß ich bei Gott nicht, Euer Gnaden, — der also erbot sich, in den Wald zu gehen. Wenn es jetzt nicht Nacht und der Boden nicht mit Blättern bedeckt wäre, könnte ich Ihnen vielleicht noch die Reste von diesem Teufelsnest zeigen. Um diese Zeit, — offenbar hatte Gott es schon so bestimmt — feierten sie gerade irgendeinen ihrer verfluchten Feiertage. Der Kirchensänger war aufs Schlimmste gefaßt und sagte zu sich: ‚Gott, steh mir bei!‘ und schob sich mutig durch das Tor, das von dem sich drängenden Volk versperrt wurde. Zimbeln und Trommeln erschallten und dröhnten wie bei einer Hochzeit, und die betrunkenen Herren und ihre Knappen tanzten einen wilden Krakowiak. Als sie nun den Kirchensänger erblickten, Euer Gnaden, da riefen sie alle: ‚Was will der Pope hier!‘ Der Herr aber sprach: ‚He, ihr Knappen, schenkt dem Popen etwas Schnaps ein! mag er doch mit uns braven Christen einen Krakowiak tanzen, und helft ihm ordentlich mit dem Stock auf die Beine!‘ Der Sänger fing nun, offenbar des Heiligen Geistes voll, an, den Ketzern ihre Sünden und ihr gottloses Leben vorzuhalten, ihnen die Qualen des Jenseits zu schildern und ihnen klarzumachen, wie sie einmal in der Hölle tanzen würden, dann aber nicht mehr freiwillig, sondern angetrieben von den glühenden Gabeln der Teufel! ‚Ah, du willst uns hier auch noch was vorpredigen? He, Knappen! bringt den Popen auf den Chor und legt ihm eine Binde um den Hals, damit er sich nicht erkältet!‘ Da packten die Knechte den unglücklichen Sänger und schleppten ihn mit unmenschlichem Gelächter und Gejohle zu der Tanne, an der uns unser Weg vorbeiführt. Seht, Euer Gnaden, das war nun eben die Sache. Die Tanne stand gerade vor dem Hause und wie mit Absicht unmittelbar vor dem Fenster des herrschaftlichen Schlafzimmers. Als nun die Nacht alle verscheucht und der eine auf seiner Latte, der andere darunter lag, kam es unserem Herrn plötzlich so vor, als ob etwas Kaltes auf ihn heruntertropfe. ‚Hol’s der Teufel,‘ dachte der Herr, ‚was tropft denn da herunter?‘ Er erhob sich von seinem Lager und sah plötzlich, wie die stachlichten Tannenzweige die Mauer durchdrangen und sich — als wären sie lebendig, — immer weiter und weiter ausstreckten, bis sie ihn erreicht hatten. Unser Pan bekreuzigte sich vielleicht zum erstenmal in seinem Leben, als er sah, daß Menschenblut von den Zweigen herabtropfte. Erst war es kalt wie Eis, dann aber verbrannte es ihn so heftig, daß er aufsprang und zum Fenster lief. Seine Beine drohten ihm den Dienst zu versagen, als er hinausging. Die Tanne war ganz blau wie eine Leiche und sie nickte ihm fürchterlich mit ihrem schwarzen, sich hochaufbäumenden Barte zu. Anfänglich glaubte unser Herr, daß ihm der Wein in den Kopf gestiegen wäre; in der folgenden Nacht aber war es ebenso und das ganze Hausgesinde wußte wie aus einem Munde zu erzählen, wie der ganze Wald widerhallte von Grabesliedern, die schreckliche Stimmen zu Ehren der Toten sängen, so daß einem ein Schauder über den Rücken laufe und die Haare zu Berge stünden. Was taten sie nicht alles? Sie begruben den Leib des Sängers mit allen Ehren, dann wollten sie die Tanne umhaun, aber die Axt konnte ihr nichts anhaben. Bei jedem Schlag, den das Beil tat, wurde es schartig, der Baum aber stöhnte wie ein ungetauftes Kind. Endlich entschlossen sie sich, diesen verfluchten Ort zu verlassen. Tag für Tag versammelte sich das Gesinde, sattelte die Pferde, lud alles Hausgerät auf und brach frühmorgens auf, eh noch die Teufel sich den Sand aus den Augen gerieben hatten, sie ritten und ritten bis zum späten Abend; man könnte meinen, sie müßten weiß Gott wie weit gekommen sein — doch nun schlagen sie ihr Nachtlager auf, und blicken um sich; was sie sehen, sind lauter bekannte Dinge: derselbe finstre Wald, dasselbe Haus, die verfluchte Tanne; sie streckt ihre Äste aus, wie ein Paar Arme, ergreift den Pan, übergießt ihn mit Blut und der schwarze zerwühlte Bart nickt ihm unheimlich zu, wie ehemals.“

Hier warf der Erzähler seinem Zuhörer einen herausfordernden Blick zu, seine funkelnden Augen blitzten in der dunklen Nacht noch heller, und er stellte mit Wohlgefallen den Eindruck fest, den seine Erzählung auf jenen gemacht hatte. In der Tat, unser Reisender konnte ein gewisses Gefühl des Schreckens nicht loswerden, das sich heimlich in seine Seele schlich, und er sah sich unruhig um.

Indessen kamen sie an der Tanne vorüber. Der silberne Mondschein fiel gerade auf ihre traurigen Äste, ihre langen Schatten, die sich fast wie eine Fortsetzung der Zweige ausnahmen, brachen sich an denen der anderen Bäume und legten sich wie eine unendliche Leiter auf den Erdboden. Nachdem der Reiter vorübergeritten war, wandte er seinen Kopf noch einmal um. Sanft schaukelte der Wind die Wipfel der Tanne, da aber schien es ihm, daß ein böser Geist von schrecklicher majestätischer Gestalt ihm langsam folgte, traurig mit dem schaurigen Bart nickte und seine dunkelgrünen Arme ausstreckte, um ihn zu ergreifen.

„Nun, und was geschah weiter?“ fragte er den Mann, der plötzlich stumm geworden war, und er versuchte es, sich die Angst nicht merken zu lassen, die ihn unwillkürlich erfaßt hatte.

„Was? Nun dem Herrn erging es schlecht; er entließ sein ganzes Gesinde und wurde ein Einsiedler; erst nachdem er zweiund fünfzig Seelenmessen für den verstorbenen Kirchensänger gelesen hatte, verschwand der Spuk. Was dann weiter aus dem Einsiedler geworden ist, das wird Ihnen wohl niemand sagen können. Drei Tage vor Johannisnacht aber tropft Tag und Nacht ein feuchter Tau von diesem Baume herab. Ja, man behauptet sogar, daß eine verlorene Seele hier im Walde umherirrt. Meine Schwiegermutter erzählte mir noch vor vier Jahren, als sie noch bei Verstande war, daß sie dem Teufel einmal im Walde begegnet sei; und er hätte eine rote Jacke getragen, gerade so wie der verstorbene Pan es zu tun pflegte. Zop, zop, zop! Hüh! Na, da wären wir, Euer Gnaden.“

Laptschinsky erblickte tatsächlich eine kleine Pforte, die aus wenigen quer übereinanderliegenden Brettern zusammengefügt war, wie man sie auch jetzt noch bei allen kleinrussischen Bauern finden kann. Hundegebell erfüllte den Wald, und ein altes Weib, das sich schnell einen Pelz übergeworfen hatte, trat heraus, um das Tor zu öffnen. Unser Reiter sah einen kleinen Hof vor sich, den ein Zaun aus Schilfrohr einfaßte, im Hintergrunde sah man ein paar Scheunen und Ställe, die gleichfalls mit Dächern aus Schilfrohr gedeckt waren und eine gewöhnliche kleinrussische Hütte.

Auf dem Hof lagen eine Menge Bienenkörbe herum, viele von ihnen hingen auch an den Bäumen, die ihre eigentümlich geformten Zweige von allen Seiten in den Hof herabhängen ließen, als könnte diesen Riesen das einfache, bukolische Leben ein anziehendes Schauspiel darbieten. Hinter dem Hof zog sich noch ein Gebäude hin, das man in der Dunkelheit nicht recht erkennen konnte. All dieses ließ darauf schließen, daß das Gut einem recht wohlhabenden Kosaken gehörte; denn zu jener Zeit konnte man nicht bei jedem soviel Pracht und Überfluß finden.

Während der Hausherr mit dem Abladen seiner Säcke beschäftigt war, hatte Laptschinsky vollauf Zeit, das Innere seiner Behausung zu betrachten. Es war fast alles genau so, wie man es heute noch bei den kleinrussischen Bauern findet: der Tür gegenüber befanden sich einige Fenster und vor ihnen stand ein Tisch, auf dem er ein Roggenbrot und etwas Salz bemerkte; dieses wird nie fortgenommen zum Zeichen, daß hier jeder Gast stets einer freundlichen Aufnahme gewärtig sein kann. Um die ganze Stube zogen sich breitere und schmälere Bänke aus Lindenholz hin; neben der Tür stand ein mächtiger Ofen, der unten eine große Öffnung hatte; diese war von einem dichten Gitter umschlossen, hinter dem Hühner, Gänse, Truthähne und Hauskaninchen hervorguckten. Jeder von diesen der Sprache beraubten Hausgenossen machte sich auf seine Art bemerkbar, piepte, gackerte, schnatterte und gab zu verstehen, daß er durchaus keines von den Geringsten unter Gottes Geschöpfen sei. Auf dem Fußboden saß ein vierjähriger Knabe und schlug mit dem mächtigen Stengel einer Sonnenblume auf einen umgestülpten Topf; während ein anderer, der ein Jahr älter sein mochte, einen Kater an der Kehle hielt und ein Lied dazu sang, das sich ihm wohl, weil er es so oft von seiner Mutter gehört, für sein ganzes Leben eingeprägt hatte. Vor einer großen eisenbeschlagenen Kiste saß ein elfjähriges Mädchen, sie hielt einen Säugling auf dem Schoß, der aus vollem Halse schrie, obgleich sie zu seiner Unterhaltung mit einem großen Hängeschloß klapperte und das Kind mit dem neuen Ankömmling schreckte. An der Wand hingen: eine Sichel, ein Säbel, eine Flinte, deren Hahn abgeschraubt war und in der Nähe auf einem Regal lag, wohin man ihn wahrscheinlich gelegt hatte, weil er reparaturbedürftig war, ferner ein Beil, eine türkische Pistole, noch eine Flinte, eine Sense ohne Stiel und eine kurze Nagaika — alles Waffen, die seit undenklichen Zeiten miteinander im Streite liegen und die der unbegreifliche Mensch zwingt, trotz ihres so unverträglichen Charakters miteinander in Frieden zu leben.

„Bitte nehmt mirs nicht übel, daß ich Euch etwas warten ließ, Euer Gnaden!“ sagte der eintretende Hausherr, „der verfluchte Jahrmarkt hat mir so sehr den Kopf verwirrt, daß er mir noch immer brummt. Ein wahres Glück, daß meine Alte nicht zu Hause ist, sonst hätte sie ihn mir tüchtig gewaschen. Nur meine Schwiegermutter und ich sind zu Hause.“

Bei diesen Worten trat dieselbe Alte herein, die ihnen vorhin das Tor geöffnet hatte. Der Reisende betrachtete sie mit einem eigentümlich wehmütigen Gefühl. Es war ihm so, als sähe er ein dem Grabe verfallenes Wesen vor sich, in dem eine starke Natur noch einen Rest von Leben festzuhalten suchte, um dem Menschen die ganze Nichtigkeit eines langen Lebens, nach dem er so gierig strebt, vor Augen zu führen. Auf ihren von Runzeln durchfurchten Zügen lag die Gleichgültigkeit des Todes. Kein Funken von Leben oder Interesse war in ihren Augen zu entdecken; nur hie und da richteten sie einen ihrer trüben Blicke auf ihn; doch der hätte sich sehr geirrt, der irgend etwas wie Neugierde in ihnen zu lesen geglaubt hätte. Sie blieben an keinem Gegenstande haften, und alles erschien ihnen in Nebel gehüllt, wie einem Menschen, der sich den Schlaf noch nicht ganz aus den Augen gerieben hat.

Während Laptschinsky solchen Gedanken nachhing, kletterte die Alte auf den Ofen; dies war ihr gewöhnlicher Aufenthalt, ihre ganz Welt, die ihr ebenso geräumig und belebt schien, wie die anderer Menschen; der Hausherr wandte sich seinen Kindern zu. „Sieh mal an, Fedot!“ sagte er und hob den Jungen mit der Sonnenblume mit einem Griff bis an die Decke, „wo hast du diesen fürchterlichen Stengel her? Damit kannst du ja einen Menschen totschlagen! Was machst du da, Karpo? Du erwürgst ja den Kater ! Ich habe dir was Süßes mitgebracht! Komm doch her, du Hundesohn, was stehst du da und hältst Maulaffen feil? Seht, Euer Gnaden, so geht’s, hundertmal habe ich ihm schon gesagt, daß ich sein Vater bin, aber er will’s immer nicht glauben, der Taugenichts! Und du Schreihals, wirst du noch lange brüllen? Reich’ mir mal den Stock, ich will’s ihm schon zeigen. Reich’ ihn nur mal her, Marjusja; ich werf’ ihn gleich aus dem Fenster, da können ihn die Wölfe fressen, oder die Polen ...“

„Gott hat dich reich mit Kindern gesegnet, Landsmann!“ sagte unser Gast zum Hausherrn.

„Ja, ’s sind ihrer nicht wenige, Mosjpane, ich habe ihrer sieben. Zwei sind in der Fremde, die sind schon verheiratet, aber der Teufel mag wissen, was die für eine Mitgift bekommen haben: je ein paar Fuß Land, wo nichts außer Steppengras und Beifuß wächst. Nun Fedot, sagst du nicht, danke? Der Herr gibt dir einen Pfefferkuchen, und du verbeugst dich nicht einmal? Bitte küssen Sie ihn nicht, seine ganze Fratze ist ja voller Asche. Als er hörte, daß ich zum Jahrmarkt fahre, da gab es ein Geschrei! Nimm mich mit, Vater! — Ja, was soll ich denn mit dir? Wie soll ich dich mitnehmen, man wird dich dort totdrücken! — Nein, man wird mich schon nicht totdrücken! Nimm mich mit, nimm mich mit! — Ja, aber es gibt doch so viele Zigeuner, die stehlen dich mir noch am Ende weg, — dann heißt’s auf Nimmerwiedersehn! — Nein, nimm mich mit, so ging’s in einem fort weiter. Was sollte man da machen? Er fing so an zu heulen, daß Gott erbarm’. Endlich gelang es mir, ihn zu beruhigen, ich versprach ihm, ein Lebkuchenpferd mit einem goldenen Kopf mitzubringen. Nun, Marjusja, auf die Mutter wollen wir nicht warten, bring’ uns das Abendbrot. Großmutter schläft sicher schon. Also Euer Gnaden,“ fuhr er fort und wandte sich plötzlich, sich am Tisch niederlassend, an den Gast „zu wem sagtest du, willst du reiten? Jetzt wo ich alt bin, da gleicht mein Kopf einem Sieb, man mag noch so viel reingießen, er ist immer leer; sprich so klug, wie du willst, ich vergesse doch alles.“

„Wie Landsmann? ich sagte dir doch — zu Gletschik,“ antwortete der Gast, etwas erstaunt über diese merkwürdige Vergeßlichkeit.

„Zum Mirgoroder Oberst? Da hast du gar nicht nötig, weit zu reiten; kein anderer als er selbst in eigener Person sitzt vor dir, Mosjpane!“

Wenn in diesem Augenblick eine Flintenkugel an Laptschinskys Ohr vorbeigesaust wäre, er hätte nicht mehr erstaunt sein können. Ihm so plötzlich und unerwartet, so unvorbereitet zu begegnen, wo seine Gedanken ganz anderswo umherschweiften — wo er — doch nein — es konnte nicht sein, sicherlich hatte er falsch verstanden. Und seine Augen richteten sich starr auf seinen Wirt, als wollte er sich vergewissern, daß sein Gehör ihn betrogen hätte.

1830.

IV
Über den Unterricht in der Weltgeschichte

I

D ie Weltgeschichte in ihrer wahren Bedeutung ist nicht die besondere Geschichte der einzelnen Völker und Reiche, ohne allen Zusammenhang, ohne allgemeinen Plan und allgemeinen Zweck, sie ist keine Reihe von Begebenheiten ohne alle Ordnung, in lebloser, trockener Form vorgetragen, wie man sie sehr häufig darzustellen pflegt: ihr Gegenstand ist etwas ganz Großes: sie soll die ganze Menschheit umfassen und zwar mit einem Blick und in einem vollständigen Bilde, sie soll zeigen, wie sie sich aus ihrer ursprünglichen armseligen Kindheit entwickelt hat, sich allmählich in verschiedenen Richtungen vervollkommnete und endlich die Epoche der Jetztzeit erreichte. Diesen ganzen gewaltigen Prozeß, den der freie Menschengeist durchgemacht hat, der von seiner Wiege an mit ungeheurer Anstrengung und mit blutigen Mitteln gegen die Roheit, die Natur und gegen furchtbare Hindernisse aller Art ankämpfen mußte, darzustellen — das ist der Zweck der Weltgeschichte. Sie soll alle Völker der Erde, die durch Zeit, Zufall, Gebirge oder Meere getrennt sind, sammeln, in ein geordnetes Ganzes vereinigen und ein großartiges, vollkommenes Epos daraus formen; Ereignisse, die keinen Einfluß auf die Welt ausgeübt haben, gehören nicht in sie hinein. Alle Weltereignisse müssen so fest ineinandergefügt sein, so eng ineinander eingreifen, wie die Glieder einer Kette; wenn nur ein Glied springt, zerreißt die ganze Kette. Dieses Band muß man natürlich nicht in buchstäblichem Sinne verstehen: das ist kein sichtbares, greifbares Band, durch das man oft Geschehnisse oder Systeme, wie sie häufig ganz unabhängig von den Tatsachen in den Köpfen zustande kommen, und die man nachträglich mit den Weltereignissen künstlich verbindet, gewaltsam zusammenfügt. Dieses Band darf nur in einer allgemeinen Idee in dem ununterbrochenen Entwicklungsgang der Menschheit bestehen, im Verhältnis, zu dem die Reiche und die Ereignisse nur temporäre Formen und Gleichnisse sind. Die Welt muß in ihrer ungeheueren Majestät dargestellt werden, in der sie sich uns darbietet, durchdrungen von den geheimnisvollen Wegen der Vorsehung, die sich in ihr in so wunderbarer unbegreiflicher Weise kundgeben. Das Interesse muß durchaus und zwar in so hohem Maße angeregt werden, daß die Zuhörer vom Wunsche gequält werden, immer mehr zu erfahren, sie müssen unfähig sein, sich den Vortrag nicht bis zum Schluß anzuhören oder das Buch zu schließen; — und wenn sie das doch tun, so nur zu dem Zweck, um wieder von vorn anzufangen; es muß ihnen klar werden, wie das eine Ereignis ein anderes gebiert und wie ohne das Vorhergehende auch das Folgende nicht da wäre. Nur so kann eine Weltgeschichte geschaffen werden.

II

Alles, was in der Geschichte vorkommt: die Völker und die Ereignisse müssen lebendig dargestellt werden, und sozusagen den Zuhörern oder Lesern vor Augen stehen; jedes Volk, jedes Reich muß seine eigene Welt, seine eigene Farbe bewahren, jedes Volk muß sich mit all seinen Taten, seinem Einfluß auf die Welt und so, wie es war, gleichsam in dem Kostüm, in dem es ehemals auf Erden wandelte, klar und deutlich von den übrigen Völkern abheben. Allein um das zu erreichen, muß man nur ganz wenige Züge zusammenfügen — aber es müssen die eigenartigsten Züge sein, die ein Volk vor allen anderen auszeichnen. Um die charakteristischen Züge ausfindig zu machen, dazu gehört ein klarer Verstand, der imstande ist, alle unauffälligen Nuancen, die dem gewöhnlichen Auge entgehen, zu entdecken, und dazu eine große Geduld, die notwendig ist, um eine Menge häufig ganz uninteressanter Bücher zu durchstöbern. Allein was einer entdeckt hat, kann er andern leicht mitteilen, und so können die Zuhörer es erfahren, ohne selbst die Archive zu durchforschen.

III

Der Lehrer muß auch die Geographie zu Hilfe nehmen, aber nicht in jener kläglichen Gestalt, wie das häufig geschieht, d. h. indem man nur den Ort, wo etwas vorgefallen ist, auf der Karte aufweist. Nein, die Geographie soll uns so manches erklären, was uns ohne sie unbegreiflich erscheinen würde. Sie soll uns lehren, wie die Bodenbeschaffenheit und Lage eines Landes ihren Einfluß auf das Leben ganzer Nationen ausübte; wie sie ihnen einen besonderen Charakter aufdrückte; wie häufig Gebirge, die ewigen von der Natur selbst aufgerichteten Grenzen, den Ereignissen eine gewisse Richtung gaben und das Weltbild veränderten, indem sie die weitere Ausbreitung eines Volkes, das verwüstend durch die Länder zog, aufhielten, oder ein kleines Volk wie in einer uneinnehmbaren Festung einschlossen; wie diese starke Position, die Tatkraft eines Volkes zu wunderbarer Entfaltung brachte, während sie ein anderes zur Starrheit verdammte; die Geographie kann uns Aufschluß geben über den Einfluß der Lage eines Landes auf dessen Sitten, Gebräuche, seine Verwaltung und seine Gesetze; hierbei kann der Schüler erfahren, wie die Staaten entstehen, und daß es nicht allein die Menschen sind, die sie errichten, sondern daß die geographische Lage des Landes die Staatsform unmerklich herbeiführt und entwickelt; daß daher die Staatsformen etwas Heiliges sind und daß ihre Abschaffung unfehlbar das Unglück eines Volkes zur Folge haben muß.

IV

Die großen, universalen Ereignisse müssen in ein klares Licht gestellt und mit all ihren weltumwälzenden Folgen in den Vordergrund gerückt werden, nicht so wie das viele Lehrer tun, die sich damit begnügen zu erklären, dies oder jenes sei ein bedeutendes Ereignis, und nur die nächsten Folgen anführen, wie wenn sie abgehackte Äste aufschichteten, statt die Vorgänge in ihrer ganzen Breite zu entwickeln, alle geheimen Ursachen einer bedeutsamen Erscheinung ans Tageslicht zu ziehen um zu zeigen, wie ihre Folgen gleich gewaltigen Zweigen in die folgenden Jahrhunderte hineinragen, sich immer mehr verästeln, um endlich ganz zu verschwinden, oder aber kaum merklich bis in unsere Zeit fortwirken und verklingen, wie ein mächtiger Ton in der Felsschlucht, der gleich nach seiner Geburt wieder erstirbt aber noch lange in seinem Echo widerhallt. Solche Ereignisse müssen in dieser Weise dargestellt werden, damit jeder klar erkennt, daß sie die mächtigen Leuchttürme der Weltgeschichte sind, daß diese auf ihnen ruht, wie die Erde auf dem ursprünglichen Granitgestein oder wie das Tier auf seinem Knochengerüst.

V

Jetzt noch ein Wort über die Art und Weise des Vortrags. Der Vortrag des Professors muß hinreißend und feurig sein. Er muß die Aufmerksamkeit der Zuhörer im höchsten Grade fesseln. Wenn auch nur einer von ihnen imstande wäre, seine Gedanken während der Vorlesung umherschweifen zu lassen, fällt die ganze Schuld auf den Professor: er hat es dann eben nicht verstanden, interessant zu sein und den Willen wie die Gedanken seiner Zuhörer zu meistern. Es ist schwer, sich es vorzustellen, wenn man es nicht an sich selbst erprobt hat, was für einen schlechten Einfluß es hat, wenn der Vortrag eines Professors matt und trocken ist und wenn ihm die Lebhaftigkeit fehlt, die es dem Hörer unmöglich macht, seine Gedanken, und sei es auch nur für einen Augenblick, auf andre Dinge zu richten. Dann wird ihm auch die größte Gelehrsamkeit nichts helfen, man wird ihn nicht anhören, ja, selbst die größten Wahrheiten werden, von ihm vorgetragen, ohne jeden Einfluß auf die Hörerschaft bleiben, denn ihr Alter ist das Alter der Begeisterung und der starken seelischen Erschütterungen; dann kann es häufig geschehen, daß die unwahrsten Gedanken, die ihnen anderswo in glänzender und anmutiger Form dargeboten werden, sie augenblicklich begeistern und ihrer Entwickelung eine ganz falsche Richtung geben. Was aber geschieht erst, wenn der Professor noch dazu an der alten Schulmethode mit ihren toten scholastischen Regeln festhält, ohne doch selbst die dazu nötige geistige Überzeugungskraft zu besitzen; wenn den jugendlichen, noch in Entwickelung begriffenen Geistern dieser Mangel klar wird und sie sich darüber erheben, so fangen die Zuhörer an, ihren Lehrer zu verachten. Dann reizen sie sogar die richtigen Bemerkungen, die er zuweilen macht, zum Lachen, und in den jungen Seelen regt sich in Denken und Handeln der Widerspruch gegen den Lehrer. In seinem Munde erhalten die allerheiligsten Worte: wie Anhänglichkeit an die Religion, Vaterlandsliebe und Kaisertreue für sie etwas Banales. Leider können wir gar nicht selten beobachten, was das für furchtbare Folgen hat, und daher sollte man nie außer acht lassen, daß das Alter der Hörer das Alter der starken Eindrücke ist; man muß einen hinreißenden Schwung und eine begeisternde Kraft besitzen, um diesen Enthusiasmus auf das Schöne und Gute zu richten; und daher muß der Vortrag des Professors selbst von Enthusiasmus durchdrungen sein. Seine Überzeugungen müssen so fest, so natürlich sein und so sehr aus seinem tiefsten Wesen hervorquellen, daß die Zuhörer die Wahrheit schon erkennen lernen, noch ehe er sie ganz vor ihren Augen enthüllt hat. Der Vortrag des Professors muß sich zeitweise ins Erhabene steigern, er muß hohe Gedanken enthalten und erwecken, dabei aber muß er doch einfach und für jeden verständlich bleiben: wahrhafte Größe erscheint stets in erhabener Schlichtheit; denn wo Größe ist — da ist auch Einfachheit! Der Professor darf sich nicht damit begnügen, nur von einzelnen verstanden zu werden, nein, alle sollen ihn verstehen. Um sich leicht verständlich zu machen, muß er nicht mit Gleichnissen geizen. Wie oft wird das Klare durch ein Gleichnis noch weit klarer.

Diese Gleichnisse muß er stets einem Gebiet entnehmen, das seinen Zuhörern gut bekannt ist. Dann wird sowohl das Ideale wie das Abstrakte verständlich. Er muß nicht zuviel reden; dadurch ermüdet er die Aufmerksamkeit seiner Hörer, denn eine allzu große Kompliziertheit der Gegenstände, ihr Übermaß erschwert es dem Zuhörer, alles in seinem Gedächtnis festzuhalten. Jede Vorlesung eines Professors muß unbedingt ein Ganzes bilden und den Eindruck des Abgeschlossenen machen, sie muß sich dem Geist des Zuhörers als eine wohlgeordnete Dichtung darstellen, und sie müssen von vornherein erkennen, was dies Ganze enthalten soll und was es tatsächlich enthält; dann werden auch sie bei der Wiedererzählung immer das Ziel und das Ganze im Auge behalten. Dies ist besonders notwendig in der Geschichte, wo kein Ereignis ziel- und planlos eintritt.

VI

Auf Grund vieler Beobachtungen und einer langen Prüfung meiner selbst wie meiner Zuhörer halte ich folgenden Lehrplan für den besten:

Vor allem halte ich es für unbedingt notwendig, den Hörern eine vollständige Skizze von der Geschichte der Menschheit zu geben, und zwar in wenigen, aber starken Worten und in ununterbrochener Reihenfolge, damit sie das Ganze dessen, wovon die Vorlesungen handeln sollen, mit einem Blick überschauen; sonst werden sie den ganzen Mechanismus der Geschichte nicht so klar und nicht so schnell erfassen, wie es ja auch unmöglich ist, eine Stadt vollständig kennen zu lernen, indem man nur durch all ihre Straßen hindurchgeht, dazu muß man einen erhöhten Standpunkt einnehmen, von dem aus die Stadt wie auf der Handfläche vor einem liegt. Ich will hier einen Entwurf dieser Skizze geben, um zu zeigen, in welcher Art und in welchem Zusammenhang die Geschichte dargestellt werden muß.

Vor allem muß ich darlegen, wie die Menschheit im Orient ihren Ursprung nimmt. Ich muß zuerst den Orient mit seinen alten patriarchalischen Staaten, mit seinen in ein tiefes Geheimnis gehüllten und dem einfachen Volke noch unverständlichen Religionen schildern; die hebräische Religion bildet hierin eine Ausnahme, denn in ihr hat sich die reine und ursprüngliche Kunde von dem wahrhaftigen Gott erhalten. Ich würde schildern, wie diese alten Reiche durch Intoleranz und chinesische Ängstlichkeit, gleich unübersteiglichen Mauern, voneinander getrennt waren, wie nur das Volk der Phönizier, dieses erste Seevolk der Alten Welt, diese starren Reiche durch seinen Handel und seine Industrie unfreiwillig miteinander in Berührung brachte, und wie der erste Welteroberer Cyrus mit seinem frischen, starken Perservolk den ganzen Osten seiner Macht unterwarf und so viele verschieden geartete Völker gewaltsam zusammenschweißte; doch blieben die Sitten, die Religionen und die Staatsformen in all diesen Reichen unverändert; die Könige verwandelten sich nur in Satrapen, und der ganze Orient beugte sich unter eine höchste Gewalt, den König der Könige, den Beherrscher Persiens. Ich würde darstellen, wie diese Völker durch den gemeinschaftlichen Verkehr allmählich ihre Besonderheiten und ihre Nationalität verloren und zusammen mit dem König der Könige, der, fast wie ein Gott verehrt, dem Volke unsichtbar blieb, dem asiatischen Luxus verfielen. — Hier mache ich halt und wende mich dem anderen Teil der Alten Welt, d. h. Europa zu. Ich muß nun schildern, wie sich hier das griechische Volk, diese höchste Blüte der Antike entfaltete; sein lebhafter Verstand, seine Wißbegierde, sein republikanischer Geist, seine so anders gearteten Staatsformen, seine poetische Religion, seine klaren, lebendigen Ideen widersprachen in jeder Beziehung dem gewichtigen, geheimnisvollen Wesen des Orients; ich würde nun schildern, wie die Kultur Griechenlands sich zu ungewöhnlichem Glanz entwickelte, wie endlich ein ehrgeiziger Grieche das ganze Land der monarchischen Gewalt unterwarf, und wie dieser große Mann den gigantischen Plan faßte, den Orient mit Europa zu vereinigen und die griechische Kultur überall hinzutragen. Um nun die drei Weltteile fester miteinander zu verbinden, wird die Stadt Alexandrien gegründet, der Held stirbt und mit ihm stürzt auch das Weltreich in Trümmer. Aber seine Taten bleiben lebendig, und ihre Früchte reifen; das berühmte alexandrinische Zeitalter bricht an, die ganze Alte Welt drängt sich in den Häfen Alexandriens, die griechischen Gelehrten weilen in allen Städten, die Nationalitäten verschwinden aufs neue, und die Völker schmelzen wieder zusammen. Unterdessen aber reift in Italien fast unbemerkt die eherne Gewalt der Römer heran.

Ich würde nun schildern, wie dieses wilde kriegerische Volk sich ein Reich nach dem anderen unterwirft, sich an den zusammengeraubten Gütern bereichert und den ganzen Orient verschlingt. Seine Legionen dringen selbst bis in die Länder Europas, deren Besitz den Menschen nichts mehr zu bieten vermag. Schon Cäsar setzt seinen Fuß auf Britanniens Boden, und der römische Adler weht über den Felsen von Albion ... Während dessen speien die unbekannten Steppen Mittelasiens ganze Massen fremder Völker aus, die andere Stämme verdrängen und vor sich herjagen und sie nach Europa treiben, sie folgen ihnen auf den Fersen durch die Wälder Germaniens, und durch unpassierbare Sümpfe gegen die Römer gedeckt, machen sie erst im Norden halt, drohend wie ein furchtbares Ungetüm, das des ihm verfallenen Opfers harrt. Allmählich haben alle Reiche ihre Unabhängigkeit verloren. Die ganze Welt ist in römische Provinzen eingeteilt. Die Römer eignen sich alles von den unterworfenen Völkern an — erst ihre Laster, dann auch die Kultur — wieder mischt sich alles durcheinander. Alle Menschen werden Römer — und doch gibt es keinen wahren Römer mehr. Und während lasterhafte Imperatoren, Prätorianerheere, freigelassene Sklaven und Veranstalter grausiger Schauspiele die Welt tyrannisieren, findet in ihrem Schoße unbemerkt ein gewaltiges Ereignis statt: inmitten der Alten Welt wird eine neue geboren. Von niemand erkannt, vollzieht sich die Fleischwerdung des göttlichen Heilandes — und das ewige Wort ertönt, unverstanden von den Großen der Welt, in den Gefängnissen und Wüsten und erwartet geheimnisvoll die neuen Völker. Endlich senkt sich ein rätselhafter lethargischer Schlaf auf die ganze antike Welt, jene schreckliche Starrheit und jenes furchtbare Absterben des Lebens, während dessen die Kultur weder vorschreitet noch sich zurückentwickelt, Kraft und Charakter verschwinden, und sich alles in eine elende, armselige Etikette und in jämmerliche, lasterhafte Charakterlosigkeit verwandelt. Unterdessen erfolgt in Asien ein neuer Stoß, der wie ein elektrischer Funke die ganze Kette durchläuft: ein Volk drängt und jagt das andere vor sich her, dieses treibt das dritte vorwärts, und die am meisten vorgeschobenen Nationen erscheinen schon an den Grenzen des römischen Reiches, während die armseligen Welteroberer ihre letzten Kräfte zusammenraffen, um sich zu retten; erst versuchen sie sich mit Gold loszukaufen, dann dingen sie ein Heer von Verteidigern; sie treten den Eindringlingen eine Provinz nach der anderen ab, bis auf die letzte und endlich auch Rom, alle Gebildeten, die sich noch eine Spur von Kenntnissen bewahrt haben, fliehen nach Osten, und der Rest, die Ungebildeten und Schwachen, geht in der Masse des neuen Volkes unter.

Ich würde schildern, wie in Europa ein neues Leben beginnt, wie barbarische Reiche innerhalb der ihnen von der Natur gezogenen Grenzen entstehen und das Christentum annehmen. Ich würde die feudalen Rechte, die Vasallenstaaten schildern, und darstellen, wie der mächtige Papst, der ursprünglich nur römischer Bischof war, zu einem gewaltigen Herrscher wird und seiner großen geistlichen Macht allmählich auch die weltliche hinzufügt. Unterdessen wird im Osten der Rest der Römer von einem neuen starken Volk bedrängt und unterworfen, das ganz plötzlich und in beinahe phantastischer Weise auf der steinigen arabischen Halbinsel geboren, von dem halb wahnsinnigen Enthusiasmus Muhammeds und seiner echt orientalischen Religion fast bis zur Raserei getrieben wird. Ich würde schildern, wie dieses Volk mit dem krummen asiatischen Säbel in der Hand durch den Islam die Überbleibsel früherer griechischer Kultur verdrängt, und wie überraschend schnell diese herrliche Nation aus einem Eroberer zu einem Kulturträger wird, sich zu vollem Glanz entfaltet, und wie dieses Volk mit seiner herrlichen Phantasie, seinen tiefen Gedanken und seiner lebendigen Poesie plötzlich erlischt und von den Nomaden, die vom Kaspischen Meere herkommen, verdunkelt wird, indem es ihnen den Islam als Erbe hinterläßt. Fast um dieselbe Zeit tauchten in Europa die Normannen, diese Korsaren der nördlichen Meere, auf: mit unerhörter Kühnheit kommen sie, trotz ihrer geringen Zahl, plündernd dahergezogen, erobern ganze Reiche, vertauschen ihre barbarische Religion gegen das Christentum und führen Europa ihre Kraft und ihre Sitten zu.

Indessen wird der Papst allmählich der unumschränkte Beherrscher Europas, und selbst der von allen Völkern geachtete deutsche Kaiser wagt es nicht, sich wider ihn zu erheben; auf seinen Wink verlassen ganze Völker, Vasallen und Könige ihr Land und ihre Besitztümer, nähen das rote Kreuz auf ihre Achseln und ziehen begeistert nach Palästina. Ich würde erzählen, wie ganz Europa sich aufmacht und nach Asien zieht — wie der Osten und der Westen und die beiden großen Mächte Islam und Christentum aufeinandertreffen und wie dieses Ereignis das Rittertum erzeugt, das in ganz Europa zur Herrschaft gelangt; es entstehen die Ritterorden, die ihre Mitglieder zu einem ehelosen Leben in der Einsamkeit verdammen, nur um dem einen Ziel zu dienen, und so beginnt das tiefreligiöse christliche Zeitalter. Ich würde darlegen, wie dann die religiöse Begeisterung die Grenzen, die ihr die Hand des göttlichen Heilands gezogen hatte, überschreitet und wie um dieselbe Zeit, ganz ohne daß Europa es bemerkt, eine große, weltgeschichtliche Episode anbricht. Um diese Zeit entsteht das nach seiner Größe unermeßliche Reich des Dschingis-Chan und verschlingt alle Länder Asiens, die den Europäern unbekannt waren. In Europa besaßen nur die Klöster eigenes Land und feste Wohnsitze; alles verwandelt sich in fahrendes Rittertum, alles nomadisiert, alles irrt unruhig hin und her; jeder ist zugleich Krieger und Befehlshaber, Vasall und Herrscher, jeder gehorcht und gebietet zugleich — es ist das Jahrhundert der größten Zersplitterung und zugleich der größten Einheit. — Jeder unterwirft sich nur dem eigenen Willen, und doch sind alle in einem Ziel, in einem Gedanken verbunden. Nachdem die armen Landleute viel Ungemach erlitten, beschließen sie, sich von ihren Unterdrückern unabhängig zu machen und in Städten zu vereinigen. Es bildet sich der Mittelstand, die Städte fangen an, reich zu werden, und im Norden Europas entsteht die Hansa, als Schutzwall gegen die Raubritter, diese verbindet bald durch ihren Handel allmählich alle nordeuropäischen Staaten. Im Süden aber erblüht als Frucht der Kreuzzüge das durch seine Handelsgewalt so imponierende Venedig, diese Königin des Meeres, diese herrliche Republik, mit ihrer außerordentlich komplizierten und merkwürdigen Verfassung. Alle Reichtümer Europas und Asiens gehen unmerklich in ihre Hände über. So wie der Papst Europa durch seine religiöse Macht beherrscht, ebenso beherrscht es Venedig durch seinen unermeßlichen Reichtum. Der geistliche Despot ließ kein Mittel unversucht, den venezianischen Handel zu zerstören, aber alles war vergeblich, bis endlich ein Bürger Genuas durch seine Entdeckung der Neuen Welt ihn vernichtete. Schließlich müßte ich schildern, wie sich der Aktionskreis der Geschichte plötzlich erweitert und der Handel des Mittelmeers zurückgeht. Die Europäer eilen habgierig nach Amerika und führen von dort Berge von Gold ein. Der Atlantische und der Große Ozean sind in ihrer Macht, um dieselbe Zeit dringen die päpstlichen Missionare bis in das nordöstliche Asien und Afrika vor, und die Welt tut sich fast plötzlich in ihrer unendlichen Größe auf. Jetzt aber beginnt man in Europa allmählich, an der Rechtmäßigkeit der päpstlichen Gewalt zu zweifeln, und wie ehemals ein armer Genueser den Handel Venedigs vernichtete, so erschütterte jetzt ein Augustinermönch, Luther, die Macht des Papstes. Ich würde erzählen, wie dieser Gedanke in dem Kopf des bescheidenen Mönches entstand, und wie er seine Thesen kraftvoll und trotzig verteidigte; wie dann der Papst bei seinem Sturz noch furchtbarer und erfinderischer wurde, wie er die schreckliche Inquisition und den, durch seine unsichtbare Macht Schrecken verbreitenden Jesuitenorden schuf, wie letzterer sich über die ganze Welt verbreitete, überall eindrang und einschlich und geheime Verbindungswege mit allen Enden der Welt herstellte.

Aber je härter der Papst wurde, um so eifriger arbeiteten die Druckerpressen. Ganz Europa teilte sich in zwei Parteien, und diese feindlichen Lager griffen endlich zu den Waffen, ein langer, harter Krieg innerhalb und außerhalb der Staaten entbrannte plötzlich in ganz Europa. Jetzt wurde nicht mehr mit Pfeil und Bogen gekämpft, sondern mit Kanonen und Kugeln, mit Donner und Blitz; dieser furchtbare Streit wurde mit Hilfe der schrecklichen und unheilvollen Erfindung eines Mönchs und Alchimisten ausgefochten. Die geistliche Macht sinkt immer mehr, und die weltlichen Herrscher erstarken. Dann müßte man darstellen, wie sich Europa nach diesen Kriegen veränderte. Die einzelnen Staaten und Völker schließen sich immer inniger zu unteilbaren Massen zusammen. Die frühere Teilung der Gewalten, die im Mittelalter vorherrschte, hat aufgehört. Die ganze Macht konzentriert sich nunmehr in einer Person. Hierdurch kommen die starken Charaktere mehr zur Geltung, der Wirkungskreis der Herrscher, ihrer Minister und Feldherrn erweitert sich. Ganz von selbst entsteht in Europa ein Völkerbund, der mit Waffengewalt die Unantastbarkeit eines jeden Reiches verteidigen will. Unterdessen ergreifen unermüdliche holländische Kaufleute, die ihr Land mit Gewalt dem Meere abgerungen, Besitz von den Inseln des Indischen Ozeans und verdienen Millionen durch die Kultur der kostbaren, exotischen Gewächse, sie reißen, wie einstmals Venedig, den Handel der ganzen Welt an sich, bis ein hervorragender Fürst, die Unantastbarkeit der Staaten mißachtend, auch diesen Handel wieder vernichtet. Ich würde das glänzende Zeitalter schildern, das dieser König (Ludwig XIV.) herbeiführte; Frankreich strotzte förmlich von Erzeugnissen des Luxus, die französischen Fabriken, die französischen Gelehrten taten sich überall hervor, Paris wurde die Hauptstadt der Welt, wo sich ganz Europa ein Rendezvous gab, und französische Sprache, französische Sitten und französische Etikette verbreitete sich über die europäische Welt. Aber indem dieser ehrgeizige König die Unantastbarkeit fremden Besitzes mißachtete und den holländischen Handel zugrunde richtete, zerstörte er auch seinen eigenen Staat und vernichtete seine eigene Größe. Schnell macht sich das britische Inselvolk, das bis dahin sein Ziel langsam aber sicher verfolgt hatte, diesen Umstand zunutze und steht plötzlich als Beherrscher des ganzen Welthandels da, bald setzt es in Indien Millionen um, besteuert Amerika, und wo es ein Meer gibt, da weht die britische Flagge. Ihr tritt Napoleon, dieser Riese des XIX. Jahrhunderts, in den Weg, und er bedient sich dabei einer anderen Waffe — eines absoluten militärischen Despotismus; mit seinen stürmischen Bewegungen bringt er ganz Europa außer Fassung und legt ihm sein eisernes Protektorat auf. Umsonst wettert Pitt im englischen Parlament gegen ihn, umsonst bringt er seine schrecklichen Bündnisse zustande. Niemand hat den Mut, Napoleon zu widerstehen, bis er selbst sich ins Verderben stürzt, indem er einen Vorstoß nach Rußland macht, wo ihn ein unbekanntes Land, die Härte des Klimas und ein durch eine rauhe Taktik gestähltes Heer zugrunde richten. Rußland, das diesen Riesen an seiner uneinnehmbaren Feste zerschellen ließ, hält nun im weiten Nordosten in drohender Majestät die Wacht; die befreiten Staaten nehmen wieder ihr früheres Aussehen und ihre alten Formen an und schließen von neuem einen Bund zum Schutz ihres Besitzes. Die Bildung und die Kultur, die sich durch nichts hemmen läßt, beginnt, sich allmählich auch in den unteren Klassen zu verbreiten, die Dampfmaschinen lassen die Industrie eine bewunderungswürdige Vollkommenheit erreichen, leisten den Menschen, gleich unsichtbaren Geistern, Hilfe und lassen seine Kraft immer schrecklicher, zugleich aber auch wohltätiger werden: mit heiligem Schaudern erkennt er, wie das Wort aus Nazareth endlich sich über die ganze Welt ergießt.

Wenn die Weltgeschichte in eine so kurze aber vollständige Skizze gefaßt wird, und alle Ereignisse in dieser Weise untereinander verbunden werden, dann wird nichts dem Gedächtnis der Zuhörer entschwinden, und in ihren Köpfen wird sich unwillkürlich ein Ganzes bilden. Und schließlich wird diese Skizze sich nach allen Seiten hin erweitern und eine vollständige Geschichte der Menschheit darstellen.

VII

Nach der Darstellung der ganzen Menschheitsgeschichte würde ich die Geschichte der einzelnen Staaten und Völker, die den großen Mechanismus der Weltgeschichte bilden, behandeln. Natürlich muß auch hier bei der Betrachtung jedes Einzelnen die Fülle und Abgeschlossenheit gewahrt werden. Ich muß die Geschichte jedes Staates mit einem Blick von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende umfassen, muß zeigen, wie ein Reich gegründet wurde, wann es seine höchste Macht und seinen höchsten Glanz erreichte, wann und warum es unterging (wenn es überhaupt unterging) und wie es die Gestalt annahm, die es noch heutzutage besitzt; wenn ein Volk vom Angesicht der Erde verschwunden ist, dann müßte man aufzeigen, wie ein neues an seine Stelle trat und was dies letztere von dem früheren übernommen hat.

VIII

Damit das Vorgetragene sich dem Gedächtnis noch tiefer einprägt, ist nach Beendigung des Kursus noch eine wiederholende Übersicht notwendig. Damit aber diese Wiederholungen ihren Zweck besser erfüllen, muß man sich bemühen, ihnen das Interesse und die Anziehungskraft der Neuheit zu geben. Nach der Geschichte der Welt im allgemeinen und der eines jeden Landes und Volkes im besonderen ist es ratsam, eine Übersicht über alle Erdteile zu geben und hierbei auf ihre Verschiedenheiten und die Besonderheiten der sie bewohnenden Völker hinzuweisen, damit die Zuhörer selbst ihre Schlüsse daraus ziehen können.

Zuerst müßte man mit Asien anfangen, dieser großen Wiege der jungen Menschheit, des Kontinents der ungeheuren Umwälzungen, wo plötzlich ganze Völker von furchtbarer Größe auftauchen und ebenso plötzlich wieder von anderen verschlungen werden; wo so viele Nationen eine nach der anderen für immer verschwinden, während die Regierungsformen und der Geist der Völker dieselben bleiben; noch heute ist der Asiat immer gleich hochmütig und stolz, schnell begeistert und von Leidenschaft ergriffen; und ebenso schnell verfällt er wieder der Trägheit und dem tatenlosen Genußleben; zugleich ist dieser Erdteil der Schauplatz der großen Widersprüche und einer gewaltigen Unordnung; noch immer wandert ein Volk von unübersehbarer Menschenzahl mit unzähligen Roßherden sorglos von Ort zu Ort, während am anderen Ende, irgendwo in der Wüste, ein rasender Fanatiker, ganz blaß und abgemagert vom beständigen Fasten, über einer neuen Religion brütet, die einmal ganz Asien erfassen, das ganze Volk in eine leidenschaftliche Begeisterung versetzen, gleichsam in einen undurchdringlichen Panzer hüllen und es seinem Verderben entgegenführen soll; zugleich aber ist es möglich, daß dicht daneben ein anderes Volk lebt, das, von Luxus umgeben und angefressen von asiatischer Übersättigung, schon alle diese Phasen und Krisen längst hinter sich hat. Nur hier können diese merkwürdigen Gegensätze existieren, die wir an den Bäumen des Südens beobachten, wo sich an demselben Zweige eine Blüte entfaltet, eine andre schon eine Frucht ansetzt, eine dritte reift und zugleich eine vierte überreif zu Boden fällt.

Dann muß man zu Europa übergehen, dessen Geschichte einen ganz entgegengesetzten Charakter hat, wo das Leben der Völker im Gegensatz zu Asien viel länger und viel großartiger ist und alles Ordnung und Regelmäßigkeit atmet; hier bewegen sich die Völker Schritt für Schritt und in gemessenem Takte wie reguläre europäische Truppen; fast alle Staaten wachsen und entwickeln sich hier zu gleicher Zeit. Trotz aller Verschiedenheiten der einzelnen Nationen beobachtet man hier eine allgemeine Einheitlichkeit, sie sind alle so wunderbar miteinander verflochten, daß sie nur im Zusammenhang mit dem ganzen Europa verstanden werden können, und so erscheint Europa selbst fast wie ein einziger geeinigter Staat. In diesem kleinen Teil der Welt kam ein alter Prozeß zum Austrag: der Mensch erhob sich über die Natur, und die Natur ward zur Kunst; ja ihre Armut und ihre Sprödigkeit brachte erst die unendliche Welt ans Licht, die im Menschen verborgen lag, ließ ihn fühlen, wie hoch er über allem Irdischen stand, und ließ das Sein der Welt als ein ewiges Leben des Geistes erscheinen. Nur in diesem Erdteil entfaltete sich der hohe Genius des Christentums ganz, und schwebt der unermeßliche Gedanke, beschattet vom himmlischen Zeichen des Kreuzes über ihm, wie über seiner Heimat.

Dann folgt Afrika, das im Gegensatz zu Europa den geistigen Tod darstellt, wo die Natur stets despotisch über den Menschen herrscht, wo sie ihn in ihrer königlichen Majestät immer wieder in seinen Urzustand, das sinnliche Leben, zurückstieß; wo kein einziges einheimisches, eingeborenes Volk sich zu vollem Leben entwickelte, und einen hellen Lichtstrahl in die Welt sandte, und wo selbst die Kolonisten aus andern Ländern vergeblich den Kampf mit der glühenden, afrikanischen Natur aufnahmen, denn je tiefer sie in das Innere Afrikas eindrangen, desto mehr verfielen sie den sinnlichen Trieben.

Und endlich — Amerika, — diese Weltkolonie, dieses Babel aller möglichen Nationen, wo sich drei verschiedene Erdteile trafen, sich miteinander mischten, aber noch zu keinem Ganzen verschmolzen und daher auch bis heute noch keine Einheit, nicht einmal die der Religion erreicht haben. Trotzdem es in seinen Teilen so manches Charakteristische an sich hat, hat es doch noch keinen allgemeinen Charakter ausgebildet; noch immer besteht es trotz der großen Massen, die es umfaßt, noch aus unorganisierten Urkräften und Urelementen und gleicht, obwohl es aus lauter unabhängigen Staaten besteht, noch immer einer Kolonie.

Ein flüchtiger Überblick über die Geschichte eines jeden Erdteils in seinen am stärksten ausgeprägten Charakterzügen, die Darstellung der tiefsten Ergebnisse der Jahrhunderte und der sich in ihnen abspielenden Begebenheiten, nicht etwa nur ihrer oberflächlichen Resultate, sind darum eine Notwendigkeit, weil sie die Zuhörer zum Nachdenken veranlassen und Gedanken bei ihnen auslösen. Ihr Geist arbeitet schneller, wenn er sich Fragen von echter und poesievoller Größe gegenübersieht. Solch ein Überblick ist schon deshalb so notwendig, weil er dieselben Objekte häufig in einem andern Lichte zeigt. Denn um einen Gegenstand ganz zu verstehen, muß er von allen Seiten beleuchtet werden, oder, wie Schlözer einmal sagt, man kennt die Geschichte nur dann gut, wenn man sie von vorn bis hinten, von rechts nach links und in allen Richtungen kennt.

IX

Daher ist es gut, nach Beendigung des Kursus die ganze Weltgeschichte noch einmal nach einzelnen Jahrhunderten gleichsam in Form eines Epilogs zu überblicken. Dann wird die Weltgeschichte wie eine Stufenfolge der Jahrhunderte vor uns stehen. Dabei muß man unbedingt darauf hinweisen, wodurch der Anfang, die Mitte und das Ende eines jeden Jahrhunderts gekennzeichnet sind, und ferner — seinen Geist und seine hervorstechenden Züge darstellen. Um jedes Jahrhundert genauer zu charakterisieren und eine gewisse Monotonie der Jahreszahlen zu vermeiden, würde ich es nach dem Namen des Volkes oder des Mannes bezeichnen, die sich in dem betreffenden Zeitraum weit über die andern emporschwangen und sich am intensivsten auf der Weltenbühne betätigten. Eine solche Stufenleiter der Jahrhunderte ist das beste Mittel, dem Gedächtnis der Zuhörer den Synchronismus der Ereignisse, der Erscheinungen und der Personen einzuprägen.

X

Mir scheint, daß solch eine Art des Unterrichts natürlicher wäre und der Wahrheit mehr entsprechen würde. Jedenfalls wird der, der die Erhabenheit der Geschichte im Tiefsten erfaßt hat, einsehen, daß sie nicht das Erzeugnis einer plötzlichen Eingebung, sondern die Frucht einer sorgfältigen Überlegung und Erfahrung ist; daß hierbei kein Epitheton, und kein einziges Wort nur aus Stilrücksichten oder eitler Schönrednerei verloren wurde, sondern daß es das Resultat eines langen Studiums der Weltchroniken ist; daß selbst der Entwurf einer allgemeinen und vollständigen Skizze der allgemeinen Weltgeschichte, der selbst, wenn er so kurz ist, wie das hier geschildert wurde, nicht anders möglich ist, als indem man die allerfeinsten und verwickeltsten Fäden der Geschichte aufgespürt und entwirrt hat, und daß nur die Liebe zur Wissenschaft, die einem zum Genuß ward, einen dazu bewegen konnte, seine Gedanken darzustellen, daß unser Zweck dabei die Herzensbildung der jungen Zuhörer durch jene gründliche Erfahrung ist, wie sie uns durch die Geschichte vermittelt wird, sofern wir sie nur in ihrer wahren Größe erkennen.

Sie sollen erkennen, daß wir nur einen Zweck im Auge haben, in unseren Zuhörern feste und männliche Grundsätze zu entwickeln, die fortan kein leichtsinniger Fanatiker und keine vorübergehende Erregung zu erschüttern vermögen — sie zu bescheidenen, demütigen, vornehmen Charakteren und zu nützlichen und notwendigen Mitarbeitern des großen Königs zu machen, auf daß sie weder im Glück noch im Unglück ihre Pflicht, ihren Glauben, ihre unantastbare Ehre und ihr Gelübde, treue Diener des Vaterlandes und des Kaisers zu sein, verletzen.

1832.

V
Ein Überblick über das Werden Kleinrußlands [2]

I

W elch furchtbar armselige Rolle spielt doch das XIII. Jahrhundert in der Geschichte Rußlands. Hundert kleine Staaten, die einer Rasse entstammen, einen Glauben bekennen, eine Sprache sprechen, gemeinsame Charaktereigentümlichkeiten haben und — fast möchte es scheinen, gegen ihren Willen, durch Blutsverwandtschaft untereinander verbunden sind — alle diese kleinen Reiche waren so miteinander verfeindet, wie dies selbst unter verschiedengearteten Völkern nur selten vorkommt. Nicht Haß (denn einer wirklich starken Leidenschaft waren sie nicht fähig), auch nicht eine stetige Politik als Folge eines unbeugsamen Sinnes oder reifer Lebenserkenntnis waren es, die sie trennten: es war ein Chaos von Kämpfen um vorübergehender, momentaner Vorteile willen, und diese Streitigkeiten waren um so verderblicher, weil sie den Volkscharakter, der unter den starken normannischen Fürsten angefangen hatte, eine eigenartige Physiognomie anzunehmen, allmählich zersetzten. Die Religion, die die Völker mehr denn alles andere miteinander verbindet und erzieht, hatte nur wenig Einfluß auf sie; denn sie war damals noch nicht mit den Gesetzen und mit dem Leben verwachsen. Die Mönche, die Lehrer, ja sogar die Metropoliten waren Einsiedler, die sich in ihre Zellen zurückzogen und ihre Augen vor der Welt verschlossen; sie beteten zwar für alle Menschen, aber verstanden es nicht, mit Hilfe ihrer gewaltigen Waffe: des Glaubens — Macht über das Volk zu erringen und mit diesem Glauben die kleine Flamme des Glaubenseifers bis zum Enthusiasmus zu schüren, der doch allein imstande ist, junge Völker zu verbinden und sie für große Taten zu begeistern. Das war der große Unterschied gegenüber dem Westen, wo der allmächtige Papst ganz Europa mit seiner geistlichen Macht umspann, wie mit einem unsichtbaren Spinngewebe, wo sein allmächtiges Wort Streitigkeiten schlichtete oder entfachte, und wo die Bedrohung mit seinem furchtbaren Fluch die Leidenschaften und die noch halbwilden Völker bändigte. Hier waren die Klöster noch Zufluchtsstätten für die Menschen, die sich durch ihre Sanftmut und Güte von dem allgemeinen Charakter des Jahrhunderts abhoben. Nicht selten redeten die Geistlichen von ihren Höhlen und Klöstern aus den Teilfürsten ins Gewissen; aber ihre Ermahnungen blieben erfolglos, die Fürsten verstanden es nur, zu fasten und Kirchen zu bauen, damit glaubten sie, den Anforderungen des Christentums Genüge geleistet zu haben: es als ein Gesetz zu achten und sich seinen Geboten zu fügen, verstanden sie nicht. Die geringfügigsten Ursachen hatten endlose Kriege zur Folge. Das waren keine Kriege zwischen dem König und seinen Lehnsmännern oder der Vasallen untereinander — nein — das waren Zwistigkeiten zwischen Blutsverwandten, zwischen leiblichen Brüdern, Vätern und Kindern. Nicht Haß oder starke Leidenschaft fachten sie an — nein — der Bruder erschlug seinen Bruder um eines Stückes Land willen, oder auch nur um Mut und Kühnheit an den Tag zu legen. Welch schreckliches Beispiel für das Volk! Blutsverwandtschaft galt für nichts, denn die Bewohner zweier benachbarter Teile, die alle untereinander verwandt waren, waren jeden Augenblick bereit, mit der Wut von Wölfen übereinander herzufallen. Es war nicht ererbte Zwietracht, die sie antrieb, denn der Freund von heute wurde zum Feinde von morgen und umgekehrt. Das Volk hatte eine kaltblütige Bestialität angenommen: es mordete, ohne recht zu wissen warum. Kein starkes Gefühl, weder Fanatismus, noch Aberglaube, ja nicht einmal ein Vorurteil konnten es begeistern, und es schien, als seien alle starken und hohen menschlichen Leidenschaften in ihm erloschen; wenn zu jener Zeit ein Genie erschienen wäre, das den Wunsch gehabt hätte, mit diesem Volk etwas Großes zu vollbringen, es hätte keine Saite gefunden, bei der er es hätte fassen können, um diesen gefühllosen Körper aufzurütteln; es sei denn etwa die eiserne physische Kraft. Damals schien die „Geschichte“ gleichsam erstarrt zu sein und sich in „Geographie“ verwandelt zu haben: das einförmige Leben, das sich in den einzelnen Teilen regte, aber als Ganzes starr und unbeweglich dalag, konnte als geographisches Zubehör des Landes gelten.

II

Da nun trat ein wunderbares Ereignis ein. In Asien, im Herzen dieses Erdteils Asien, in diesen Steppen, die schon so viele Völker über Europa ausgegossen hatten, erhob sich jetzt das furchtbarste und zahlreichste von allen, dessen Eroberungszüge eine Ausdehnung annahmen, wie nie vorher. Die fürchterlichen Mongolen, mit ihren zahllosen Roßherden und Zeltwagen, wie sie in Europa noch nie gesehen worden waren, überfluteten Rußland, und mit echt asiatisch-barbarischer Freude bezeichneten sie ihren Weg durch flammende Rauchsäulen und Feuersbrünste. Diese Invasion unterwarf Rußland einer zweihundertjährigen Sklaverei und entzog es den Blicken Europas. War dies nun eine Rettung, indem es Rußland seine Selbständigkeit wahrte, da doch die Teilfürsten seine Integrität gegenüber den litauischen Eroberern kaum aufrecht erhalten hätten, oder war es eine Strafe für die fortwährenden Streitigkeiten — genug, dieses furchtbare Ereignis zog gewaltige Folgen nach sich: es erlegte den Fürstentümern Nord- und Mittelrußlands ein schweres Joch auf, schuf aber zugleich im Süden ein neues slawisches Geschlecht, ein Geschlecht dessen ganzes Leben in einem beständigen Kampf bestand und dessen Geschichte ich hier schildern will.

III

Am meisten hatte Südrußland unter den Tataren zu leiden gehabt. Niedergebrannte Städte und Felder, verkohlte Wälder, das alte Kiew in Trümmern, menschenleere Wüsten — das war der Anblick den dies unglückliche Land darbot. Die erschrockenen Einwohner flohen nach Polen oder nach Litauen; zahlreiche Edelleute und Fürsten wanderten nach dem Norden Rußlands aus. Schon früher war die Zahl der Bevölkerung in dieser Gegend sichtlich zurückgegangen. Kiew war längst nicht mehr die Hauptstadt, und die bedeutenderen Fürstentümer hatten sich nach Norden hinaufgezogen. Es schien, als hätte das Volk seine eigene Nichtigkeit erkannt, denn es verließ die Plätze, wo die bunte Natur ihre Erfindungskraft zu entfalten beginnt; herrliche, unübersehbare Steppen breiten sich hier aus und die verschiedenartigsten Gräser von gigantischer Höhe bedecken sie; hie und da steigen unvermittelt ganz mit wilden Kirschbäumen und Edelkirschen übersäte Hügel auf, oder es tut sich ein blumengeschmückter Abgrund vor uns auf, viele rauschende Flüsse schlängeln sich durch das Land und bilden entzückende Landschaftsbilder, gewaltig gleitet der Dnjepr wie ein leuchtendes Band mit seinen unersättlichen Stromschnellen zwischen großartigen, steilabstürzenden Ufern und durch unübersehbare Wiesen dahin — und dies alles erwärmt der milde Odem des Südens. — Das Volk verließ diese Gegenden und drängte sich nach den Teilen Rußlands, wo die Oberfläche der Erde einförmig glatt und eben, fast immer sumpfig ist, und wo ein paar elende Kiefern und Fichten aus dem Boden ragen; hier gibt es kein frischpulsierendes Leben voller Bewegung, sondern nur ein dumpfes Vegetieren, das wie ein schwerer Druck auf dem Geiste lastet. Es ist, als wäre damit die Wahrheit des Satzes bewiesen, daß nur ein starkes, lebens- und charaktervolles Volk Gegenden von großartiger Naturbeschaffenheit aufsucht, oder daß nur gewaltige und großartige Naturszenerien ein kühnes, leidenschaftliches, charaktervolles Volk hervorbringen können.

IV

Als der erste Schreck vorüber war, begannen allmählich Auswanderer aus Polen, Litauen und Rußland sich in diesem Lande, der eigentlichen Heimat der Slawen, niederzulassen; hier war die Wiege der alten Poljanen und Ssewerjanen, dieser rein slawischen Stämme, die sich in Großrußland schon mit finnischen Völkerschaften zu vermischen begannen, aber sich hier in ihrer Reinheit erhielten, mit all ihren heidnischen Glaubenslehren, ihren kindlichen Vorurteilen, ihren Sagen und Gesängen und ihrer slawischen Mythologie, die bei ihnen so naiv mit dem Christentum verschmolz. Den in ihre alte Heimat zurückkehrenden Einwohnern folgten auch Auswanderer aus anderen Ländern auf den Fersen, mit denen sie sich durch längeres Beisammenleben allmählich vermischt hatten. Diese Einwanderung vollzog sich furchtsam und zaghaft, weil das schreckenverbreitende Wandervolk nicht weit entfernt war: sie waren nur durch die Steppe voneinander getrennt, oder besser gesagt, miteinander verbunden. Trotz der bunten Bevölkerung fehlte es hier an jenen Zwistigkeiten, die im Innern Rußlands nie aufhörten. Die von allen Seiten drohende Gefahr ließ den Menschen keine Zeit zum Streit. Das von den furchtbaren Herdenbesitzern übel zugerichtete Kiew, die altehrwürdige Mutter der russischen Städte, blieb noch lange verarmt und konnte sich kaum mit so mancher unbedeutenden Stadt des nördlichen Rußlands messen. Alle Menschen hatten es verlassen, selbst die Mönche und Chronisten, die es immer wie ein Heiligtum verehrt hatten, zogen fort. Die Kunde von Kiew hört plötzlich auf, und obwohl dort eine Linie des russischen Fürstengeschlechts zurückblieb, geriet es für ein halbes Jahrhundert vollständig in Vergessenheit. Nur hin und wieder sprechen noch die Chronisten wie im Traum von Kiew, sie erzählen, daß es in der schrecklichsten Weise zerstört wurde, und daß die Beamten der Chane dort residierten — dann aber ist’s als hätte sich ein undurchdringlicher Vorhang darüber gebreitet.

V

Während so Rußland durch die Tataren zur Untätigkeit und Erstarrung verurteilt war, führte der große Heide Gedimin ein neues Volk auf den Schauplatz der Geschichte herauf — ein armes Volk, arm an Kultur und arm an Lebensmitteln —, es bewohnte die wilden Fichtenwälder im heutigen Weißrußland, hüllte sich in Tierfelle statt in Kleider, betete den Gott Perun an und beugte sein Knie in noch nie von der Axt berührten Hainen vor dem altehrwürdigen Feuer; dies Volk, das unter dem Namen der Litauer bekannt war, hatte ehemals den russischen Fürsten Tribut gezahlt. Nun aber wurde es unter seinem Fürsten Gedimin zu der bedeutendsten Macht in dem gewaltigen Nordosten Europas! Damals glichen die Städte, die Fürstentümer und die Völker des westlichen Rußland noch Stücken und Fetzen, die jenseits der Grenze des Tatarenjoches lagen. Sie bildeten kein Ganzes, und daher konnte auch der litauische Eroberer fast durch einen einzigen Angriff seines von ihm selbst geschaffenen heidnischen Heeres den ganzen Flächenraum zwischen Polen und dem tatarischen Rußland seiner Macht unterwerfen. Dann führte er sein Heer nach Süden in das Gebiet der wolhynischen Fürsten. Es ist nur natürlich, daß der Erfolg ihn überall begleitete. In Luzk stellte sich ihm der Fürst Leo entgegen und leistete ihm harten Widerstand, war aber doch nicht imstande, ihn zurückzuschlagen und sein Land zu behaupten. Gedimin setzte Gouverneure und Gemeindeälteste ein und zog weiter nach Süden, mitten ins Herz des südlichen Rußlands, nach Kiew. Dem Fürsten Leo von Luzk gelang es auf der Flucht, den Fürsten von Kiew, Stanislaus, zu überreden, dem furchtbaren Eroberer mit seiner wenig zahlreichen Streitmacht entgegenzutreten. Seine Truppen wurden noch durch verbündete Tataren verstärkt; aber alle ergriffen die Flucht vor dem mächtigen Litauer. Nachdem Gedimin den Feinden am Flusse Irpenj eine furchtbare Niederlage bereitet, zog er im Triumph in Kiew ein, das noch unter dem frischen Eindruck eines Einfalls der Tataren stand, und setzte dort den Fürsten Mindow Oljschansky, der eben den griechischen Glauben angenommen hatte, als Regenten ein. So entriß der litauische Eroberer den Tataren ein Stück Land, das fast vor ihren Augen gelegen war. Man sollte glauben, dies hätte einen Kampf zwischen den beiden Völkern zur Folge haben müssen, aber Gedimin war ein klarer und politischer Kopf, trotz seiner scheinbaren Wildheit und trotz des barbarischen Zeitalters. Er verstand es, sich die Freundschaft der Tataren zu erhalten, obwohl er über Länder herrschte, die er ihnen entrissen hatte, ohne ihnen Tribut zu zahlen. Dieser urwüchsige Politiker, der weder schreiben noch lesen konnte und einen heidnischen Gott anbetete, rührte nicht an die Sitten und die alten Regierungsformen der unterworfenen Völker, alles blieb beim alten, er bestätigte alle Privilegien und befahl seinen Gemeindevorstehern, die Landesgebräuche streng zu achten, und hinterließ bei seinem Zuge durchs Land nirgends Spuren der Verwüstung. Die absolute Bedeutungslosigkeit der herumliegenden Völker und seiner Zeitgenossen lassen seine Gestalt zu ungeheuren Dimensionen emporwachsen. Er starb im Jahre 1340, seine Leiche wurde auf ein Pferd gesetzt, und er wurde nach der heidnischen Sitte der Litauer mitsamt seinem Waffenträger, seinen Jagdhunden und Falken verbrannt. Ihm folgten Oljgerd und Jagello auf dem Thron, zwei ebenso starke Charaktere, die noch weiter zum Aufschwung Litauens beitrugen, indem sie den angegliederten Ländern gegenüber dieselbe Politik verfolgten wie er.

VI

So trennte sich das südliche Rußland unter dem mächtigen Schutz der litauischen Fürsten ganz von dem Norden. Jede Verbindung zwischen ihnen hörte auf; es bildeten sich zwei Reiche, die einen und denselben Namen Rußland führten, das eine unter dem Joch der Tataren — das andere unter demselben Zepter wie Litauen. Aber alle näheren Beziehungen zwischen ihnen hörten auf; andere Gesetze, andere Sitten, andere Ziele, andere Verhältnisse und andere Taten schufen mit der Zeit ganz verschiedene Charaktere. Zu ergründen, in welcher Weise dies geschah, bildet den Zweck unserer Geschichte. Aber vor allem müssen wir einen Blick auf die geographische Lage dieses Landes werfen, damit müssen wir durchaus beginnen, denn von der Beschaffenheit des Bodens hängt die Lebensweise, ja sogar der Charakter eines Volkes ab. Gar vieles in der Geschichte läßt sich durch die Geographie erklären.

Dieses Land, das später den Namen der „Ukraine“ erhielt, erstreckt sich im Norden bis zum fünfzigsten Grad nördlicher Breite und ist eher flach als gebirgig. Hier begegnen wir häufig kleinen Hügeln, aber keiner zusammenhängenden Gebirgskette. In dem nördlichen Teil gibt es zahlreiche Wälder, die ehemals ganze Herden von Bären und Wildschweinen beherbergten. Der südliche Teil liegt ganz offen da und stellt ein weites Steppenland von üppiger Fruchtbarkeit dar, das aber nur hie und da mit Getreide bestellt ist. Dieser herrliche, jungfräuliche Boden bringt aus sich selbst eine verschwenderische Fülle der mannigfaltigsten, verschiedenartigsten Gräser hervor. Hier trieben sich ganze Scharen von Steppenantilopen, Hirschen und wilden Pferden herum. Vom Norden nach Süden zieht sich der mächtige Dnjepr durch das Land, umsponnen von einem ganzen Netze kleinerer Nebenflüsse, die in ihn münden. Sein rechtes Ufer ist gebirgig und bietet anmutige und zugleich wilde Landschaftsbilder dar; das linke besteht ganz aus Wiesen, die mit kleinen Wäldern bedeckt sind und meist unter Wasser stehen. Unweit der Mündung des Dnjepr ins Meer bilden schroff aus dem Flußbett aufsteigende Felsen zwölf Stromschnellen, sie unterbrechen die Strömung und machen die Schiffahrt sehr gefährlich. In ihrer Nähe gab es viele sogenannte Sugaken, wilde Ziegen mit weißlich-glänzenden Hörnern und atlasweichem Fell. Früher war der Wasserstand des Dnjepr höher, sein Flußbett breiter, und er überschwemmte die Wiesen an seinem Ufer auf größere Strecken hin. Wenn das Wasser sinkt, ist das Bild überraschend schön: alle Bodenerhöhungen treten hervor und bilden unzählige, grüne Inseln inmitten der unabsehbaren Gewässer des Ozeans. Nur ein einziger schiffbarer Fluß, die Desna, mündet in den Dnjepr, sie fließt durch die nördliche Ukraine, mit ihren bewaldeten Ufern, die fast immer überschwemmt sind; aber auch dieser Fluß ist nur stellenweise befahrbar. Außerdem gibt’s im Norden noch den Oster und einen Teil des Sseim, im Süden die Ssula, den Psjoll mit einer Reihe schöner Landschaftsbilder, den Chorol und andere; aber keiner von all diesen Flüssen ist schiffbar. Verkehrswege gibt es nicht; die Produkte konnten nicht ausgetauscht werden, und daher konnte sich hier auch kein handeltreibendes Volk ansiedeln. Alle Flüsse verzweigen sich in der Mitte; keiner von ihnen bildete durch seinen Lauf eine natürliche Grenze zwischen den benachbarten Völkern. Im Norden lag Rußland, im Osten hausten die Kiptschatskischen, im Süden die Krimschen Tataren, im Westen lag Polen und überall offenes Land — die Grenzen wurden durch Steppen und weite Ebenen gebildet. Hätte es auch nur von einer Seite eine natürliche Grenze in Form eines Gebirges oder eines Meeres gegeben, so hätte das hier wohnhafte Volk sich sicherlich sein politisches Wesen bewahrt und ein selbständiges Reich gebildet. Aber das offene, unbeschützte Land wurde die beständige Beute von Überfällen und Verwüstungen, — es wurde ein Platz, auf dem drei feindliche Nationen aufeinanderstießen, den Boden mit Knochen düngten und mit Blut tränkten. Ein Überfall der Tataren zerstörte die ganze Arbeit des Landmanns; die Wiesen und Felder wurden von den Hufen der Rosse zerstampft oder niedergebrannt, die leichtgebauten Hütten bis auf den Grund niedergerissen und die Einwohner vertrieben oder mitsamt ihrem Vieh in die Gefangenschaft geführt. Das war ein Land des Schreckens; und daher konnte hier nur ein kriegerisches, durch Zusammenschluß starkes Volk erstehen — ein tollkühnes Volk, dessen ganzes Leben von Kriegen erfüllt, und das in Krieg und Schlachten gesäugt und aufgezogen war. Freiwillige und unfreiwillige Auswanderer, heimatlose Wanderer, die nichts zu verlieren hatten, Menschen, deren Leben keinen Heller wert war, deren zügelloser Wille sich keiner Macht und keinem Gesetz fügen wollte, und denen überall der Galgen drohte, zogen in dies Land und wählten diesen äußerst gefährlichen Ort, in unmittelbarer Nähe der asiatischen Eroberer der Tataren und Türken, zu ihrem Aufenthalt. Diese zusammengewürfelte Menschenmenge wuchs immer mehr an, vermehrte sich und bildete schließlich ein ganzes Volk, das seinen Charakter, ja, ich möchte sagen, sein Kolorit der ganzen Ukraine mitteilte — es vollzog sich ein Wunder — die friedlichen slawischen Stämme verwandelten sich unter seinem Einfluß in ein kriegerisches Volk, das unter dem Namen Kosaken bekannt ist und eine der merkwürdigsten Erscheinungen in der Geschichte Europas bildet; vielleicht war nur dies Volk imstande, die verheerende Überschwemmung durch die beiden mohammedanischen Stämme, die Europa zu verschlingen drohte, zurückzudämmen.

VII

Das erste Auftauchen der Kosaken fällt, wenn nicht ins Ende des XIII., so doch in den Anfang des XIV. Jahrhunderts, in das Jahrhundert, wo der starke Glaubenseifer in Europa noch nicht erloschen war, und wo sich plötzlich fast an allen Orten Brüderschaften und Ritterorden bildeten, ganz im Widerspruch zu der damaligen allgemeinen Zersplitterung; diese Genossenschaften legten sich mit bewunderungswürdiger Selbstverleugnung alle möglichen Opfer auf, entsagten den gewöhnlichen Lebensgewohnheiten der Ehe und wurden zu unbeugsamen Hütern der geistigen Güter der Welt, und zu ehernen Beschützern des christlichen Glaubens. Je schwächer der Zusammenhang der damaligen Staaten untereinander war, desto mächtiger wuchs die furchtbare Macht dieser Verbindungen an. Die Verbreitung des Islam und das Erstarken der jungen, mächtigen mohammedanischen Völker, die schon in Europa eingedrungen waren, trugen auch zu ihrem Wachstum bei. Der Geist dieser Brüderschaften drang überallhin — er faßte nicht nur unter den Rittern Fuß — aber allerdings waren ihre Ziele und Zwecke nicht immer dieselben. Um diese Zeit entstand in der Nähe der Stromschnellen ein Städtchen, oder eine Ansiedlung mit Namen Tscherkassy, die von kühnen Einwanderern gegründet war; ihr Name erinnert an Bewohner des Kaukasus, denen auch von vielen die Gründung des Städtchens zugeschrieben wird, denn dies war der Hauptsammelplatz und Aufenthaltsort der Kosaken. Anfänglich zwangen die häufigen Einfälle der Tataren in den nördlichen Teil der Ukraine die Bewohner, sich durch die Flucht zu retten, sich den Kosaken anzuschließen und ihre Zahl zu vergrößern. Das war ein bunter Haufen der allerverwegensten Vertreter der angrenzenden Nationen. Wilde Bergbewohner, verarmte Russen, polnische Leibeigene, die sich dem Despotismus ihrer Herren entzogen hatten, ja sogar abtrünnige Mohammedaner oder Tataren haben vielleicht den ersten Grund zu dieser merkwürdigen Gesellschaft am anderen Ufer des Dnjepr gelegt, die sich später, gleich den Ordensrittern, den beständigen Kampf mit den Ungläubigen zum Ziel setzte. Dieser Menschenhaufen besaß keine Befestigungen und keine einzige Burg. Erdhütten, Höhlen und allerhand Schlupfwinkel zwischen den Felswänden des Dnjepr, die häufig unter dem Wasser, oder auf den Inseln, oder im dichten Steppengras gelegen waren, dienten ihnen zum Versteck für sich selbst und die zusammengeraubten Schätze. Die Nester dieser Räuber waren unsichtbar; sie kamen plötzlich herangeflogen, bemächtigten sich ihrer Beute und verschwanden dann wieder. Sie bekämpften die Tataren mit deren eigenen Waffen, das heißt, sie wandten dabei die Kriegsführung der Asiaten an und führten Überfälle auf sie aus. Da ihr Leben unter dem beständigen Druck der Angst stand, wollten auch sie ihrerseits ein Schreckbild für ihre Nachbarn sein. Die Tataren und Türken mußten jeden Augenblick eines Überfalls seitens dieser unerbittlichen Bewohner der Stromschnellen gewärtig sein. Die mohammedanischen Nachbarn wußten nicht, welchen Namen sie diesem verhaßten Volk geben sollten. Wenn einer dem anderen seine tiefste Verachtung ausdrücken wollte, so nannte er ihn einen Kosaken.

VIII

Ein großer Teil dieser Gesellschaft bestand aus den ursprünglichen autochthonen Bewohnern des südlichen Rußland. Ein Beweis dafür ist ihre Sprache, die, obwohl sie viele tatarische und polnische Worte in sich aufgenommen, immer ihren reinen südslawischen Charakter bewahrt hat, der dem damaligen russischen sehr ähnlich war, und ein fernerer Beweis ist ihr Glaube, der immer der griechisch-katholische blieb. Jeder hatte freien Zutritt zu dieser Gemeinschaft, nur mußte er unbedingt den griechischen Glauben annehmen. Diese Gesellschaft trug alle Merkmale, die einer Räuberbande eigen sind, an sich; aber wenn wir näher zusehen, so finden wir hier Keime eines politischen Organismus und eines charaktervollen Volkes, das sich gleich zu Anfang seiner Existenz ein wichtiges Ziel gesetzt hatte, — den Kampf mit den Ungläubigen und die Reinerhaltung der eigenen Religion. Das waren jedoch keine strengen katholischen Ritter, sie erlegten sich weder Gelübde noch Fasten auf; sie kasteiten sich nicht durch Enthaltsamkeit und Abtötung des Fleisches; sie waren unbändig wie die Stromschnellen ihres Dnjepr und vergaßen die ganze Welt bei ihren wilden Gelagen und wüsten Festen. Die enge Verbrüderung, die unter den Mitgliedern einer Räuberbande herrscht, verband auch sie miteinander. Alles war Gemeingut — der Wein, das Geld und ihre Wohnstätten. Die ewige Angst, die ewige Gefahr flößte ihnen eine eigentümliche Lebensverachtung ein. Der Kosak kümmerte sich mehr um sein volles Maß Wein, als um sein Schicksal. Aber bei ihren Überfällen bewiesen sie Gewandtheit, Schärfe des Geistes und eine große Geschicklichkeit, aus jedem Umstande Nutzen zu ziehen. Man mußte diesen Bewohner der Stromschnellen in seiner halb tatarischen und halb polnischen Tracht, die so recht den Grenzbewohner verrieten, sehen, wenn er mit asiatischer Gewandtheit auf seinem Roß dahinsprengte, im dichten Steppengras verschwand, dann wieder mit der Schnelligkeit eines Tigers aus seinem unsichtbaren Schlupfwinkel hervorstürzte oder ganz in Schlingpflanzen und Schlamm gehüllt als Schreckgespenst aus dem Sumpf oder Fluß vor dem fliehenden Tataren auftauchte. Nach solch einem Überfall bummelte und zechte derselbe Kosak mit seinen Kameraden herum, vergeudete und verschleuderte die erbeuteten Schätze, war sinnlos betrunken und lebte sorglos dahin, bis zu einem neuen Kriegszug, wenn nicht die Tataren ihn überrumpelten, die Sorglosen im betrunkenen Zustand auseinandertrieben und ihre Ansiedlung bis auf den Grund zerstörten. Doch bald entstand, wie durch ein Wunder, die Ansiedlung aufs neue, und ein verheerender, furchtbarer Ausfall gegen die Tataren rächte die erlittene Schmach. Und wieder begann das alte sorglose und zügellose Leben.

IX

Es schien fast, als sollte die Existenz dieses Volkes ewig sein. Es verminderte sich nie, die Ausscheidenden, die Erschlagenen und Ertrunkenen wurden immer wieder ersetzt. Dieses fröhliche Leben übte seine Anziehungskraft auf jedermann aus. Das war ja noch jene poetische Zeit, wo man mit dem Säbel in der Hand alles erreichen konnte, und wo jeder einzelne nicht Zuschauer, sondern handelnde Person sein wollte. Die Kolonie nahm allmählich einen ganz eigenartigen, allgemeinen Charakter an, aus ihr bildete sich eine eigene Nationalität heraus, und je näher das XV. Jahrhundert herankam, desto mehr vergrößerte sie sich durch neuen Zuzug. Allmählich entstanden ganze Flecken und Dörfer mit Häusern, die von Familien bewohnt wurden, und sich in der Nähe dieses trotzigen Bollwerks ansiedelten, um unter der Bedingung gewisser Verpflichtungen ihren Schutz zu genießen. So geschah es, daß das Land um Kiew herum verödete, und sich dagegen am jenseitigen Ufer des Dnjepr immer mehr und mehr bevölkerte. Durch die Berührung und den Verkehr mit den Kosaken wurden auch die verheirateten Männer, die Familienväter, allmählich immer kriegerischer gesinnt. Der Säbel und der Pflug schlossen Freundschaft untereinander und fanden sich bei jedem Landmann zusammen. Verwegene Hagestolze fingen an, nicht nur Gold, Geld und Rosse, sondern auch Tatarenfrauen und -töchter zu rauben, die sie nachher heirateten. Durch diese Vermischung erhielten die Gesichter, die ehemals einen recht verschiedenartigen Völkertypus aufwiesen, eine mehr gleichartige asiatische Physiognomie. Und so entstand ein Volk, das seinem Glauben und seinem Wohnort nach zu Europa gehörte, aber nach seinen Sitten, nach seiner Tracht und Lebensweise vollkommen asiatisch war, ein Volk, in dem zwei verschiedene Weltteile zusammentrafen, und zwei völlig anders geartete Elemente sich untereinander mischten: europäische Vorsicht und asiatische Sorglosigkeit, Treuherzigkeit und Verschlagenheit, kräftige Aktivität und grenzenlose Trägheit und Verzärtelung, das Streben nach Fortschritt und Vervollkommnung — und zugleich der Wunsch sich den Anschein zu geben, als verachte man jeglichen Fortschritt und jede Vervollkommnung.

1832.

VI
Einige Worte über Puschkin

B ei dem Namen Puschkin steigt sofort der Gedanke an Rußlands nationalen Dichter auf. Und in der Tat — es gibt keinen unter unseren Dichtern, der höher stände, keiner kann mit mehr Recht national genannt werden, als er. Daher gebührt dieser Titel vor allem ihm , wie keinem andern. In ihm ist, wie in einem Wörterbuch, der ganze Reichtum, die ganze Kraft und Geschmeidigkeit unserer Sprache niedergelegt. Er hat mehr, denn je ein anderer, ihre Grenzen erweitert und uns ihre gewaltigen Dimensionen offenbart. Puschkin ist eine ganz außerordentliche Erscheinung, ja vielleicht die erste und einzige, die der russische Geist hervorgebracht hat, das ist der russische Mensch in seiner höchsten und letzten Ausprägung, wie er sich uns vielleicht erst in zwei Jahrhunderten darstellen wird. In ihm spiegelt sich die russische Natur, die russische Seele, die russische Sprache und der russische Charakter in einer solch reinen sublimen Schönheit, wie eine Landschaft auf der konvexen Oberfläche eines optischen Glases.

Schon sein Leben war echt russisch. Die freie Ungebundenheit und Fülle, nach der es den Russen verlangt, wenn er sich für einen Augenblick selbst vergißt, und die eine so starke Anziehungskraft auf die frische russische Jugend besitzt, sind auch für die ersten Jahre charakteristisch, während der er die große Welt betritt. — Wie mit Absicht führte ihn das Schicksal gerade dorthin, wo die Grenzen Rußlands durch Schroffheit und charaktervolle Majestät der Natur bezeichnet werden, wo die grenzenlose russische Ebene vom Südwind umfächelt und von steil in die Wolken ragenden Bergen unterbrochen wird. Der gigantische, mit ewigem Schnee bedeckte Kaukasus, der mitten aus der heißen südlichen Ebene emporsteigt, machte einen tiefen Eindruck auf ihn, man kann sagen, er erweckte die Kräfte seiner Seele und sprengte die letzten Ketten, die den freien Gedanken noch beschwerten. Das poesievolle, zügellose Leben der verwegenen Bergbewohner, ihre ständigen Zusammenstöße und ihre plötzlichen unwiderstehlichen Überfälle entzückten ihn. Und seit jener Zeit erhielt sein Pinsel jenen wunderbaren Schwung und jene Kühnheit, die das ganze Rußland, das erst eben zu lesen begonnen hatte, so tief ergriff. Wenn er den Kampf eines Tschetschenzen mit einem Kosaken schildert, dann sind seine Worte wie Blitze; sie funkeln wie eine blanke Säbelklinge und stürmen schneller dahin, als die Wogen der Schlacht. Nur er versteht es, den Kaukasus zu besingen; er ist mit seiner ganzen Seele, mit allen seinen Sinnen in ihn verliebt; er ist ganz erfüllt, ganz durchdrungen von der Schönheit seiner Landschaft, vom südlichen Himmel, von den herrlichen, Grusischen Ebenen, von den berauschenden Nächten und Gärten der Krim. Das macht wohl, daß er in all seinen Werken da am wärmsten und feurigsten ist, wo seine Seele vom Hauch des Südens getroffen wird. Unwillkürlich setzt er hier seine ganze Kraft ein, und daher übten auch seine Schöpfungen, die, vom Kaukasus handelnd, vom freien Leben der Tscherkessen und den Nächten der Krim erfüllt sind, jenen herrlichen magischen Zauber aus; selbst die, denen es an Geschmack fehlte, und deren geistige Fähigkeiten nicht ausreichten, um ihn zu verstehen, waren von ihnen entzückt. Das Kühne ist am leichtesten verständlich, es weitet die Seele mächtig und gewaltig aus, vor allem die der Jugend, die es immer nach Ungewöhnlichem dürstet. Kein einziger Poet in ganz Rußland hatte ein so beneidenswertes Schicksal wie Puschkin. Der Ruhm keines einzigen hat sich so schnell verbreitet, wie der seine. Alle fühlten sich verpflichtet, bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit einige von den herrlichen, glänzenden Stellen aus seinen Werken zu zitieren, oder doch wenigstens zu verballhornisieren. Schon sein Name allein hatte etwas Elektrisierendes; ein müßiger Tintenkleckser brauchte ihn nur in einer seiner Arbeiten zu erwähnen, und sie wurde überall gelesen [3] .

Schon bei seinem ersten Auftreten war er durch und durch national; denn die wahre Nationalität besteht ja nicht in der Beschreibung eines russischen Sarafans, sondern in dem Geist eines Volkes. Ein Dichter kann auch dann noch national bleiben, wenn er ganz fremde Welten darstellt, nur muß er sie mit seinen Augen durch sein nationales Element hindurch, mit den Augen seines Volkes anschauen, er muß so reden und fühlen, daß seine Landsleute meinen, sie seien es selbst, die so fühlten und redeten. Wenn man von den Eigenschaften sprechen will, die die Vorzüge Puschkins im Vergleich mit anderen Schriftstellern bilden, so muß man sagen, daß sie in der außergewöhnlichen Kürze seiner Schilderungen und in der seltenen Kunst liegen, einen Gegenstand mit ein paar Strichen zu zeichnen. Seine Epitheta sind so kühn und treffend, daß sie oft eine lange Umschreibung ersetzen, sein Pinsel stürmt förmlich dahin. Ein kleines Werk von ihm ist stets ebensoviel wert, wie eine ganze große Dichtung. Man kann kaum von einem anderen Dichter sagen, daß bei ihm in einem kleinen Stücke so viel Größe, Schlichtheit und Kraft enthalten sei, wie bei Puschkin. Aber seine letzten Werke, die er in der Zeit verfaßte, als der Kaukasus mit seiner schroffen Majestät, mit seinen mächtigen in die Wolken ragenden Gipfeln seinen Blicken entschwunden war, als er sich ins Herz Rußlands zurückzog und sich tiefer in die schlichte Ebene, in das Studium des Lebens und der Sitten seiner Landsleute versenkte, als er ein echt nationaler Dichter sein wollte — diese seine letzten Dichtungen überraschten nicht mehr durch die Farbenpracht und die blendende Kühnheit, die all seine Werke erfüllte, wenn er vom Elbrus, von den Bergvölkern des Kaukasus, von der Krim und Grusien erzählte.

Ich glaube, diese Erscheinung ist nicht schwer zu erklären. Alle Leser, die gebildeten und ungebildeten waren von seiner kühnen Pinselführung und dem Zauber seiner Bilder entzückt und verlangten stürmisch, er solle volkstümliche und historische Themata zum Gegenstand seiner Poesie machen, sie vergaßen, daß man doch unmöglich das ruhige und weniger von Leidenschaften erfüllte russische Leben mit denselben Farben malen konnte, wie die Berge des Kaukasus und seine freien Bewohner. Die Masse des Publikums, die sozusagen die Nation ausmacht, ist sehr seltsam in ihren Anforderungen und Wünschen; sie schreit: „Schildere uns, so wie wir sind, völlig wahrheitsgetreu, stelle die Taten unserer Ahnen dar, und zwar so, wie sie sich wirklich vollzogen haben.“ Aber, wenn es der Dichter dann versucht, ihrem Ruf Folge zu leisten, und alles wahrheitsgetreu, d. h. ganz so wie es sich abspielte, zu schildern, dann heißt es gleich: „Das ist matt, das ist schwach, das ist schlecht, es entspricht durchaus nicht der Wahrheit.“ Die Masse des Volkes gleicht in dieser Hinsicht einer Dame, die bei einem Maler ein Porträt bestellt, und den Wunsch äußert, er solle es so ähnlich wie möglich machen; aber weh ihm, wenn er es nicht versteht, alle ihre Fehler zu verhüllen! Die russische Geschichte nimmt erst in ihrer letzten Epoche unter den Zaren eine große Lebhaftigkeit an; bis dahin war der Charakter des Volkes meist recht farblos, die verschiedenen Abstufungen der Leidenschaften waren ihm unbekannt. Den Poeten trifft keine Schuld; aber auch dem Volk kann man sein Gefühl nicht übelnehmen, das es verleitet, den Taten seiner Vorfahren größeren Wert beizulegen. Daher hat der Poet zwei Möglichkeiten: entweder sein Pathos höher emporzuschrauben, dem Schwächlichen größere Kraft einzuflößen, mit Feuer von Dingen zu reden, die in sich selbst keine starke innere Wärme haben, dann ist die Masse seiner Verehrer, die Masse des Volks auf seiner Seite und zugleich mit ihr das Geld; oder er muß der Wahrheit treu bleiben, groß sein, wo auch das Thema groß ist, kühn und schroff sein, wo wahrhafte Kühnheit und Schroffheit sich zeigt, ruhig und still bleiben, wo auch die Ereignisse nicht sieden und brodeln. Dann aber kann er der Masse „Lebewohl“ sagen. Sie wird ihm nicht zujubeln, es sei denn, daß der Gegenstand, den er darstellt, schon an und für sich so groß und gewaltig ist, daß er einen allgemeinen Enthusiasmus entfachen muß. Der Dichter vermied den ersten Weg, eben weil er Dichter bleiben wollte, und weil ein jeder, der nur einen Funken des heiligen Berufes in sich fühlt, ein so feines Empfinden hat, das es ihm nicht erlaubt, sein Talent durch solche Mittel zu offenbaren. Niemand wird leugnen, daß ein wilder Bergbewohner mit seiner kriegerischen Tracht, der so frei wie die Freiheit selbst, der sein eigener Herr und Richter ist, einen viel stärkeren Eindruck macht, als irgendein Assessor; und obgleich der erstere seinen Feind getötet, nachdem er ihm in einer Felsspalte auflauerte, oder ein ganzes Dorf niedergebrannt hat, so erscheint er uns doch viel bedeutender und interessanter und erweckt immer in weit höherem Grade Mitleid, als unser Beisitzer in seinem fadenscheinigen, mit Tabakflecken beschmutzten Frack, der, ohne es zu wollen, nur auf dem Wege von allerhand Nachforschungen und Nachprüfungen eine Reihe von allen möglichen Leibeigenen und Freien ins Elend gebracht hat.

Aber der eine wie der andere sind beides Erscheinungen, die unserer Welt angehören; sie haben beide ein Anrecht auf unsere Aufmerksamkeit, obwohl aus einem ganz natürlichen Grunde das, was wir seltener sehen, unsere Phantasie weit stärker erregt, und so ist der Umstand, daß der Dichter das Gewöhnliche dem Ungewöhnlichen vorzieht, nichts anderes als eine falsche Rechnung des Dichters — eine falsche Rechnung gegenüber seinem zahlreichen Publikum — aber freilich nicht gegenüber sich selbst. Dadurch verliert er nicht, nein, er gewinnt vielleicht sogar noch an Wert, allerdings wohl nur in den Augen einiger weniger Sachkundiger. Bei dieser Gelegenheit fällt mir eine Geschichte aus meiner Kindheit ein. Ich hatte immer eine gewisse Leidenschaft für die Malerei. Ich interessierte mich besonders für eine Landschaft, die ich gemalt hatte, und in deren Vordergrunde sich ein verdorrter Baum erhob. Ich lebte damals auf dem Lande, die Kunstkenner und die Richter, die über mich zu urteilen hatten, waren meine Nachbarn. Einer von ihnen warf einen prüfenden Blick auf das Bild, schüttelte den Kopf und sagte: — „Ein guter Künstler wählt sich immer einen schönen, schlanken Baum mit jungen, frischen Blättern und nicht einen vertrockneten.“ In meiner Kindheit verdroß es mich, solche Urteile zu hören, aber später habe ich daraus eine Lehre gezogen: man muß wissen, was der Masse gefällt und was ihr nicht gefällt. Die Werke Puschkins, die aus der russischen Natur herauswachsen, sind ebenso still und leidenschaftslos, wie die russische Natur. Nur der kann sie ganz verstehen, dessen Seele wahrhaft russische Elemente in sich trägt, der Rußland seine Heimat nennt, dessen Geist so zart organisiert ist und dessen Gefühl so fein zu empfinden gelernt hat, daß er die scheinbar unbedeutenden russischen Lieder und den russischen Geist nachempfinden kann; denn je alltäglicher der Gegenstand ist, desto höher muß der Dichter stehn, um aus ihm das Ungewöhnliche an die Oberfläche zu ziehen, und zwar so, daß dieses Ungewöhnliche zugleich die lauterste Wahrheit darstellt. In der Tat: sind Puschkins letzte Werke auch in ihrem ganzen Werte erkannt worden? Hat auch nur einer den Boris Godunow richtig verstanden und seine Bedeutung begriffen, dieses große und tiefe Werk, voll innerer, unnahbarer Poesie, das jeden groben, bunten Schmuck verschmäht, der der Masse ins Auge sticht. Jedenfalls ist nie ein richtiges Urteil über diese Werke gedruckt worden, und sie sind bis heute so gut wie unbeachtet geblieben.

In seinen kleinen Schriften, dieser herrlichen Anthologie ist Puschkin außerordentlich vielseitig, hier erscheint er noch umfassender und bedeutender als in seinen Dichtungen. Einzelne von diesen kleinen Werken haben etwas so Packendes und Blendendes, daß sie ein jeder verstehen kann, aber der weitaus größte Teil unter ihnen, und zwar die allerschönsten erscheinen der großen Masse unbedeutend und gewöhnlich. Um sie zu verstehen, muß man einen ganz besonderen Spürsinn und einen viel feineren Geschmack haben, als ihn ein Mensch besitzt, auf den nur die allergrößten und hervorstechendsten Züge wirken. Hierzu muß man der groben, schweren Speisen längst überdrüssig, man muß in gewissem Maße Sybarit sein, dem nur kleine Vögel von der Größe eines Fingerhuts oder solche Gerichte Genuß gewähren, deren Geschmack dem fade, seltsam und unangenehm erscheinen muß, der an die Gerichte seines Kochs, eines Leibeigenen vom Lande, gewöhnt ist. Diese Sammlung seiner kleinen Gedichte stellt eine Reihe blendender Bilder dar. Es ist jene klare Welt, erfüllt von jenen Zügen, die nur den Alten bekannt waren, jene Welt, in der die Natur so lebendig zu uns spricht und sich so hell wiederspiegelt, wie in der silbernen Flut eines Flusses, aus dem plötzlich ein blendendweißer Nacken, schneeweiße Hände und ein Alabasterhals, umschattet von nachtschwarzen Locken — oder kristallene Trauben, Myrten und schattige Haine leuchtend emportauchen, als wären sie für das Leben geschaffen. Hier ist alles beisammen: Genuß, Einfalt und ein plötzlicher Höhenflug des Gedankens, der die begeisterte Seele des Lesers plötzlich mit heiligem Schaudern umfängt.

Das sind keine Kaskaden einer Rhetorik, die nur durch Wortreichtum gefällt und in denen ein jeder Satz nur deshalb so wuchtig wirkt, weil er sich mit andern verbindet und durch das Getön der ganzen Masse betäubt, aber einzeln betrachtet, schwach und inhaltsleer erscheint. Hier fehlt jede Beredsamkeit, hier gibt es nur Poesie. Es fehlt jeder äußere Glanz, alles ist einfach, anständig, von nur innerer Klarheit erfüllt, die sich jedoch nicht sofort offenbart. Hier ist alles lakonisch, wie die wahre Poesie es immer ist. Es sind immer nur wenige Worte, aber sie sind so treffend, daß sie alles sagen. In jedem Worte liegt ein ganzer unendlicher Abgrund beschlossen, jedes Wort ist so unerschöpflich wie der Dichter selbst. So kommt es, daß man diese kleinen Werke immer wieder liest, während dieser hohe Vorzug einem Werke fehlt, in dem der Grundgedanke allzu klar hervorleuchtet. Es war mir immer merkwürdig, Urteile von Männern, die den Ruf von Kunstkennern und Literaten hatten, über diese Werke zu hören; hatte ich ehemals doch viel auf sie gegeben, ehe ich ihre Ansichten über diesen Gegenstand kennen gelernt hatte. Man kann diese kleinen Werke einen Prüfstein nennen, an dem man den Geschmack und das ästhetische Gefühl des Kritikers messen kann. Aber seltsam! Man sollte meinen, diese Gedichte müßten jedem verständlich sein! Sie sind so schlicht und zugleich erhaben, so glühend und leuchtend, so sinnlich und zugleich doch wieder so kindlich rein. Wie könnte man sie nicht verstehen? Aber ach, es ist eine unerschütterliche Wahrheit: je mehr ein Poet ein wahrer Dichter ist, je mehr er nur die Gefühle darstellt, die nur ein Dichter kennt und empfindet, um so handgreiflich kleiner wird der Kreis der ihn umgebenden Menge, ja er wird schließlich so eng, daß man zuletzt die Zahl seiner wahren Bewunderer an den Fingern abzählen kann.

1832.

VII
Über die Architektur unserer Zeit

I ch werde immer traurig, wenn ich die neuen Bauten sehe, die unaufhörlich vor unseren Augen entstehen, für die Millionen verschleudert werden und von denen nur die allerwenigsten den erstaunten Blick durch Größe des Entwurfs, Eigenart und Kühnheit der Phantasie, oder auch nur durch die Pracht und die blendende Buntheit der Ornamente fesseln. Und unwillkürlich drängt sich einem der Gedanke auf: sollte die große Epoche der Architektur wirklich endgültig dahin sein? sollten wirklich Genialität und Größe nie wieder bei uns einkehren? oder sind das Vorzüge, die nur jungen von Energie und Enthusiasmus erfüllten Völkern eigen sind, die noch nichts wissen von der langweiligen und leidenschaftslosen Bildung? Warum erheben sich aber dann jene Völker, auf die wir in unserer Selbstzufriedenheit so geringschätzig herabsehen und denen wir kaum einen Platz in der Weltgeschichte einräumen wollen, durch die Schöpfungen ihres finsteren und durch keinen Funken von Wissen erleuchteten Verstandes so hoch über uns? Warum sind denn dann die kolossalen Statuen der Inder so ungeheuer und grandios, warum sind die Baudenkmäler der Araber so herrlich und prächtig? Und wie konnten in Europa während des Mittelalters so viele Bauten von so wunderbarer Größe entstehen? Wie ungern unterwirft man sich der Überzeugungskraft dieser Überlegung, aber alles spricht dafür, daß sie wahr ist. Sie sind vorüber — diese Jahrhunderte, als noch der Glaube, der heiße inbrünstige Glaube alle Gedanken, alle Geister und alles Tun und Trachten auf ein Ziel hinlenkte, als noch der Künstler beständig danach strebte, seine Schöpfungen dem himmlischen Ideal immer mehr anzunähern; zu ihm allein trieb es ihn und schon wenn er seiner ansichtig wurde, erhob er fromm die zum Gebet gefalteten Hände. Seine Gebäude strebten zum Himmel empor, die schmalen Fenster, die Säulen und Pfeiler und die hohen Gewölbe streckten sich in die Höhe, durchbrochen und durchsichtig wie ein Spitzengewebe, schwebte gleich einer Rauchsäule der spitze Turm darüber, und der majestätische Dom erschien gegenüber den Wohnhäusern der Menschen so gewaltig und erhaben, wie das Streben unserer Seele gegenüber den Trieben unseres Leibes.

Es gab einst eine wunderbare christlich-europäisch-nationale Architektur — wir aber haben sie verlassen, aufgegeben und vergessen wie etwas Fremdes und sie geringschätzig behandelt wie etwas Plumpes und Barbarisches. Ist es da ein Wunder, daß sich Europa schon nach drei Jahrhunderten eifrig auf alles mögliche stürzte, gierig alles Fremde annahm, die herrliche antike römische und byzantinische Bauart bewunderte und sie in seiner Weise verunstaltete; Europa wußte nicht, daß es mitten in seinem Herzen Wunderdinge gab, mit denen verglichen alles, was es bisher gesehen hatte, gering erscheint, es wußte nicht, daß es einen Mailänder und Kölner Dom in sich beherbergte, und daß noch heute die Steine des unvollendeten Turms vom Straßburger Münster verwittern.

Die gotische Architektur, jener gotische Stil, der sich am Ende des Mittelalters herausbildete, ist eine Schöpfung, wie sie der Geschmack des Menschen und seine Phantasie noch niemals hervorgebracht hat. Mit Unrecht will man sie von dem arabischen herleiten. Die Grundzüge dieser beiden Stile gehen weit auseinander; von der arabischen Architektur entnahm die gotische nur die Kunst, der schweren Masse eines Baus eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen und sie mit wunderbaren Ornamenten zu schmücken, aber selbst der reiche Schmuck nahm bei ihr ganz andere Formen an. — Sie ist erhaben und umfassend wie das Christentum! Hier finden wir alles vereinigt: einen Wald von schlanken, hoch über unsere Häupter hinaufstrebenden Pfeilern, gewaltige, schmale Fenster in den verschiedenartigsten Variationen und mannigfachen Rahmen und dazu diese ungeheure, kolossale Masse, die durch eine bunte Menge kleiner Ornamente belebt wird; diese leichten Spinngewebe des Schnitzwerks, das das Ganze in sein Netz einhüllt, es von der Basis bis zur Turmspitze umspinnt und mit ihm gen Himmel zu fliegen scheint: Majestät und Schönheit, Pracht und Schlichtheit, Schwere und Leichtigkeit — das sind Vorzüge, die nur die Architektur der damaligen Zeit zu vereinigen verstanden hat. Wenn man ins heilige Dunkel eines solchen Domes eintritt, wo das Licht phantastisch durch bunt gemalte Scheiben bricht, und seine Augen dorthin emporhebt, wo die mächtigen Pfeiler sich begegnen, kreuzen und schließlich ganz zu verlieren scheinen, daß man ihr Ende nicht absieht, dann ist es nur natürlich, daß man in seiner Seele unwillkürlich etwas von dem Schauer der Gegenwart des Heiligen verspürt, an das selbst der kühne Verstand nicht zu rühren wagt.

Doch — sie ist verschwunden, diese herrliche Architektur! Als der Enthusiasmus des Mittelalters erloschen war, als die Gedanken der Menschen sich immer mehr zersplitterten und sich auf eine Menge anderer Ziele richteten, als die Einheit und Ganzheit des einen Zieles verschwand, da verschwand zugleich mit ihnen auch Größe und Erhabenheit. Die Kräfte zersplitterten sich und wurden immer schwächer. Man begann plötzlich auf allen Gebieten eine Menge der wunderbarsten Dinge zu produzieren, aber etwas wahrhaft Großes, etwas Gigantisches gab es nicht mehr. Eine Anzahl von Bewohnern des byzantinischen Reiches waren aus ihrer, von den Muselmännern besetzten, lasterhaften Hauptstadt entflohen und verdarben nun den Geschmack der Europäer und ihre kolossale Architektur. Die Byzantiner hatten damals schon längst ihren klassischen alten attischen Geschmack verloren, ja, sie hatten sich nicht einmal den alten byzantinischen erhalten und brachten nur noch elende Reste ihres degenerierten Stiles nach Europa mit. Sie versuchten es, die runden, heidnischen, zauberischen, wollüstigen Formen ihrer Kuppeln und Säulen dem Christentum anzupassen, aber sie machten das ebenso ungeschickt, wie sie das Christentum ihrem heidnischen, altersschwachen und jeder Spannkraft entbehrenden Leben angepaßt hatten. Die Kuppel streckte sich empor und nahm eine fast eckige Gestalt an. Die schlanken Linien der Giebel erschienen merkwürdig gebrochen und führten zu nichtssagenden Formen. Die in dieser Weise verunstaltete byzantische Architektur gelangte nach Europa, wo sie ihrerseits noch weiter verändert wurde, weil die Europäer noch die ursprüngliche gotische Idee und Vorstellung in ihrer Seele trugen, die der schwächlichen Vielseitigkeit der Griechen so sehr widersprach. Damals entstanden jene massiven Paläste mit ihren sinnlosen Säulen und Halbsäulen; das alles war zaghaft und kleinlich, das war keine Pracht, sondern nur eine mißgestalte Schlichtheit. Eine Menge mythologischer Köpfe und sinnloser Verzierungen, die an der schweren Masse klebten, verliehen ihr darum doch keine Leichtigkeit, milderten keineswegs ihre schroffen Linien durch einen Zusatz von Zartheit und drückten keinen Gedanken aus. Das Streben nach oben, das den schwersten Massen Leichtigkeit und Erhabenheit verliehen hatte, war verschwunden. Statt dessen wuchsen sie jetzt in die Breite.

Aber die Kirchen, die im XVII. und im Anfang des XVIII. Jahrhunderts gebaut wurden, lassen die Idee ihrer Bestimmung noch weniger erkennen. Bei ihrem Anblick hat man, wie es scheint, dasselbe Gefühl, wie wenn ein roher Mensch sich die Allüren eines feinen Weltmannes zu geben sucht. In ihnen vereinigte sich die gerade Linie in geschmackloser Weise mit der geschwungenen und krummen. Trotz der halbgotischen Form ihrer ganzen Masse haben sie den gotischen Charakter ganz eingebüßt. Die Fenster sind klein und stehen dicht gedrängt nebeneinander oder sie sind ohne jede Harmonie auf eine große Fläche verteilt. Die Pilaster ziehen sich nicht mehr durch die ganze Länge des Baues hin, sondern sind entweder oben unter der Kuppel oder aber in der Mitte der Mauer angeklebt, sie sind kurz, plump und tragen häufig noch ein zweites Stockwerk ebensolcher kleiner und häßlicher Säulenreihen. Die Linie des Daches ist gleichfalls gebrochen; dabei hält man häufig noch an dem gotischen Turm fest, aber es ist nicht mehr der leichte, durchbrochene, durchsichtige Turm, der unter der Hand der mittelalterlichen Künstler eine so ästhetische Gestalt annahm. Jetzt ist er massiv, schwerfällig und strebt auch gar nicht mehr zum Himmel empor. Alles, was an das längliche, aufstrebende gotische Detail erinnerte, wurde nunmehr als geschmacklos verworfen.

Obgleich der Geschmack im Laufe des XVIII. Jahrhunderts etwas besser wurde, haben wir darum noch nichts gewonnen; denn diese Besserung vollzog sich innerhalb der Fesseln fremder Formen. Die gotische Schwere wurde mit Recht verpönt, in ihrer Mischung mit der griechischen Form war sie häßlich bis zur Unmöglichkeit. Jetzt begann man mit noch größerem Eifer die Antike zu studieren. Aber man tat es, wie es ängstliche Schüler tun, die die kleinsten Einzelheiten des Originals mit peinlicher Sorgfalt kopieren und darüber die Idee des Ganzen vergessen. Man nahm einzelne Teile heraus und klebte sie an die ungeheure Masse und überlud diese mit ihnen, die dadurch einen bis dahin geradezu unerhörten Mangel an Einheitlichkeit und Harmonie aufzuweisen begann. Die Säulen und Kuppeln, die uns ehedem am meisten entzückt hatten, wurden bei jedem Gebäude ganz ziel- und zwecklos und an jeder nur möglichen Stelle angebracht. Sie bildeten nicht mehr den Grundgedanken des Bauwerks, sondern nur noch seine Teile oder — besser gesagt — seinen Schmuck. Wir vergrößerten die Dimensionen des Gebäudes immer mehr, während wir die Kuppel im Verhältnis zum Ganzen immer kleiner werden ließen. Wir betrachteten das Gebäude, das wir zum Modell gewählt hatten, nicht aus einer gewissen Entfernung und durch das Vergrößerungsglas, sondern wir sahen es aus der Nähe, und die Kuppel wurde ganz klein und verschwand vor dem Ganzen. Und da wir nun dieses einsame Thronen hoch über dem Gebäude als leer empfanden, so fügten wir schnell noch ein paar weitere hinzu, setzten dem Gebäude noch einige Türme auf, die über sie hinausragten, und die Kuppeln bekamen eine gewisse Ähnlichkeit mit Pilzen. Die Kuppel, dieses schönste und herrlichste Produkt des Geschmacks, wenn sie anmutig und leicht geschwungen das ganze Gebäude beherrscht und strahlend mit ihrer wolkigen Oberfläche auf der ganzen weißen Masse ruht, verschwand vollständig. Ich liebe die Kuppel, jene wundervolle, gewaltige, schwach gewölbte Kuppel, die der reiche Geschmack der Griechen im alexandrinischen Zeitalter und nach ihm im Jahrhundert der Genußsucht und des Egoismus wieder erstehen ließ. Dieses Jahrhundert einer raffinierten Lebenszerstückelung, das Jahrhundert der leichten, duftigen Wollust, der Trägheit und Üppigkeit atmenden Anthologie, wo ein jeder nur sich selbst angehörte, für sich selbst und nicht für die Gesellschaft lebte, und wo über den herrlichen, prächtigen öffentlichen Bädern sich überall diese Kuppel erhob, kühn geschwungen wie das Himmelsgewölbe. Nichts kann die Masse der Häuser so selig und so wundervoll krönen, wie eine solche Kuppel; aber sie darf nur über einem Gebäude ruhn, das sich unermeßlich in die Breite dehnt und einen möglichst großen Flächenraum umspannt. Sie muß auf seinem ganzen großen Grundriß ruhn, sie muß heller als das Gebäude selbst und womöglich ganz weiß sein. Dieses blendende Weiß verleiht ihrer leicht geschwungenen Form einen unbegreiflichen Zauber und eine herrliche Fülle, und sie rundet sich dann noch wunderbarer und luftiger im Himmelsblau. Noch heute haben die Städte von Syrien und Äthiopien einen ganz ungewöhnlichen Reiz, weil sich in ihnen noch einzelne Kuppeln dieser Art erhalten haben. Und auch gegenwärtig noch kann man im Orient eine ganze Menge von großartigen Exemplaren finden.

Der Portikus mit seinen Säulen, dieses leuchtende Erzeugnis des harmonischen, attischen Geschmacks, der keinerlei Überbau über sich duldete, ist uns gleichfalls verloren gegangen. Man kam nicht auf den Gedanken, ihn ins Kolossale zu steigern, ihn über die ganze Breite und Höhe des Gebäudes auszudehnen. Man hat ihn nicht in die Breite entwickelt und auch nicht vergrößert, sondern man wandte ihn in seiner gewöhnlichen Form an. Ist es da ein Wunder, daß Gebäude, die eines mächtigen Portikus bedurft hätten, leer erschienen, da nur über den Portalen einige auf Säulen ruhende Giebel angebracht wurden. Die in Kirchen und Palästen über ihm aufgebauten Massen und Türme, die seinem Charakter gar nicht entsprachen, erdrückten und vernichteten ihn vollends. So ist auch ein Dichter, der kein großes Genie besitzt, stets unzufrieden mit einem einfachen Sujet, und statt es neu zu entwickeln und ins Große zu steigern, verkoppelt er es mit einer ganzen Reihe anderer. Seine Dichtung wird durch die Buntheit der verschiedenen Gegenstände nur belastet, aber es fehlt ihr an einem beherrschenden Gedanken, und so bildet sie kein harmonisches Ganzes mehr.

Zu Beginn des XIX. Jahrhunderts begann sich plötzlich die Idee der attischen Schlichtheit zu verbreiten, sie wurde — wie das immer zu geschehen pflegt — zur Mode und legte ihren Stempel auf alles, selbst auf die Kleider der Frauen, die sich in leichte nachlässige Hetärengewänder verwandelten. Man hätte meinen können, die Zeit hätte sich noch weiter in das Studium der Antike vertiefen und ihren Geist noch umfassender ergründen müssen, und doch trug alles, was nach ihrem Vorbild erbaut wurde, den Stempel des Kleinlichen und Miniaturhaften. Man lernte wohl die Kunst, die Teile miteinander zu verbinden und zu harmonisieren, nicht aber die , dem Ganzen Größe zu verleihen und ihm die Proportion zu geben, die das Staunen und die Bewunderung des Beschauers erregen konnte. Diese neue Strömung gab sich fast ausschließlich in der Errichtung kleiner Lauben, Gartenpavillons und ähnlichen Spielereien aus. Diese Dinge hatten wohl mancherlei Attisches an sich, aber man mußte sie durch das Mikroskop betrachten. Bei großen öffentlichen Gebäuden dagegen hielt man es nicht für nötig, sich von diesem Stil leiten zu lassen; und so wurde dieser schließlich primitiv und einfach bis zur Plattheit. Eine überaus schädliche Richtung in der Architektur führte zu der Idee der Proportion, aber nicht zu der, die ein Gebäude in Beziehung auf sich selbst, sondern nur zu der, die es in Beziehung auf die es umgebenden Bauten haben muß. Das ist fast ebenso, wie wenn ein Genie sich von allem Originellen und Ungewöhnlichen fernhalten wollte, weil die gewöhnlichen Menschen sonst gar zu armselig und unbedeutend erscheinen würden. Diese Proportionalität bestand auch darin, daß ein Gebäude, so groß seine Dimensionen an sich auch sein mochten, unbedingt klein erscheinen mußte. Man isolierte es und suchte einen so gewaltigen und breiten Platz für es aus, daß es einen noch weit unbedeutenderen Eindruck machen mußte. Es war fast so, als gölte es vor allem, den Gedanken einzuprägen, daß das Große gar nicht groß sei, und als wollte man die Achtung und die Andacht vor dem Großen gewaltsam in der Seele ersticken und den Menschen gegen alles gleichgültig machen.

Man begann nun, allen städtischen Gebäuden eine ganz platte einfache Form zu geben. Die Häuser suchte man einander so ähnlich wie möglich zu machen, aber sie glichen mehr Scheunen und Kasernen, als heiteren Wohnstätten von Menschen. Ihre ganz glatte Form gewann durchaus nicht an Lebhaftigkeit durch die kleinen, regelmäßigen Fenster, die gegenüber dem ganzen Gebäude das Aussehen von zusammengekniffenen Augen annahmen. Und auf diese Architektur waren wir noch vor kurzem so stolz, hielten sie für die höchste Blüte des Geschmacks und erbauten ganze Städte in ihrem Stile. Wenn sich heutzutage jemand erkühnte, inmitten dieser glatten einförmigen Häusermassen einen Bau zu errichten, der den Stempel eines eigenartigen, scharf ausgeprägten Stiles trüge, oder unmittelbar neben ein Gebäude im attischen Geschmack ein anderes gotisches zu setzen — man würde ihn sicherlich für halb verrückt halten! Und darum haben ja auch die neuen Städte gar keine Physiognomie: sie sind alle so regelmäßig, so einförmig, so monoton; wenn man eine Straße kennen gelernt hat, fühlt man sich schon gelangweilt und verspürt durchaus keinen Wunsch, in eine zweite hineinzublicken. Das ist eine lange Reihe von Mauern und weiter nichts! Vergebens sucht das Auge nach einem Punkt, wo sich eine Mauer von der ununterbrochenen Reihe loslöst, in die Höhe schießt und in kühn geschwungener Wölbung nach den Wolken strebt oder in einen gewaltigen Turm ausmündet. Eine alte deutsche Stadt mit ihren engen Gassen, ihren bunten Häusern und ihren hohen Glockentürmen bietet ein Bild dar, das unserer Einbildungskraft weit mehr zu sagen hat; selbst die Ansicht einer morgenländischen Stadt mit ihren hohen schlanken Minaretts, ihren bunten orientalischen, ganz im Grün der Gärten ertrinkenden Kuppeln hat weit mehr Charakter und strömt mehr Poesie und Phantasie aus als unsere europäischen Städte mit ihrer modernen Architektur.

Große und kolossale Türme gehören unbedingt zu einer Stadt, ganz abgesehen von der großen Bedeutung, die sie für die christlichen Kirchen haben — sie bieten nicht nur einen schönen Anblick dar und dienen ihnen nicht nur zum Schmuck, sie sind auch darum so notwendig, weil sie einer Stadt ein scharfes charakteristisches Gepräge geben und die Rolle eines Leuchtturms spielen, der jedem den Weg weist und ihn davor bewahrt, sich zu verirren. Noch notwendiger sind sie für die Hauptstädte, da sie günstige Punkte darbieten, von denen aus man die Umgebung beobachten kann. Bei uns begnügt man sich gewöhnlich schon mit einer Höhe, die gerade ausreicht, das Stadtbild zu überblicken. Und doch wäre es für eine große Stadt von hervorragender Bedeutung, einen Überblick über eine Fläche von mindestens 150 Werst in allen Richtungen zu haben. Dazu würden wahrscheinlich schon ein oder zwei Stockwerke mehr genügen, und das Bild würde sich sofort ändern, denn bei der Erhöhung des Standortes nimmt die Peripherie des Horizontes in ungeheurer Progression zu. Die Hauptstadt gewinnt damit einen großen Vorteil, wenn ihr der Überblick über die Provinz gewährleistet wird und wenn sie die Dinge schneller vorauszusehen vermag; ein Gebäude, das das gewöhnliche Maß übersteigt, nimmt sogleich ein majestätisches Ansehen an. Auch der Architekt hat nur Vorteil davon, denn die Größe des Baues spornt seine Begeisterung zu höherem Fluge und regt seine Einbildungskraft lebhafter an.

Diese Richtung in der Architektur schien dagegen ihre Größe wie mit Absicht verbergen zu wollen, während sie doch gerade ihre Raumwirkung um so stärker hätte betonen sollen. Nein, das Gesetz der Größe ist ein anderes: ein Gebäude muß sich fast unmittelbar über dem Haupte des Beschauers bis ins Grenzenlose erheben, auf daß sich ein plötzliches Staunen seiner bemächtige, und er muß kaum imstande sein, die ganze Höhe mit den Augen auszumessen. Daher ist es immer besser, wenn ein Gebäude auf einem kleinen Platze steht. In diesen darf eine Straße münden, so daß man den Bau von ferne in perspektivischer Verkürzung übersehen kann; in der Nähe aber muß er eine überwältigende Größe haben. Es ist auch gut, wenn eine Straße an ihm vorbeiführt, wenn an seinem Eingangstor Wagen donnernd vorüberrollen, wenn sich Menschen um ihn drängen und durch ihre Kleinheit seine Größe noch gewaltiger erscheinen lassen. Gebt nur dem Menschen mehr Raum, und er wird höher und stolzer emporblicken auf die vor ihm liegenden Gegenstände. Alles wird ihm klein erscheinen. Wir sind so seltsam konstruiert; unsere Nerven sind so merkwürdig eingerichtet, daß nur das Plötzliche, das uns beim ersten Blick Betäubende uns erschüttert. Daher muß die Höhe eines Gebäudes im Verhältnis zum Platze, auf dem es steht, wachsen. Wenn es vom äußersten Ende des Platzes aus klein erscheint und der Beschauer nicht in Staunen und Verwunderung versetzt wird, sondern dazu erst näher herankommen muß, dann ist es nichts mit dem Gebäude, und zugleich damit sind die Mühen und die Kosten, die es verursacht hat, dahin.

Aber kehren wir zu der Schlichtheit des Stiles zurück, der unser XIX. Jahrhundert beeinflußt hat. Selbst die Griechen fühlten es, daß die ewigen geraden Linien und die vollkommene Schlichtheit bei einem Gebäude gar zu platt wirken müssen, besonders wenn eine größere Anzahl solcher Bauten nebeneinander stehen. Sie fühlten, daß die strenge Regelmäßigkeit und Einfachheit unbedingt in der nächsten Umgebung irgendeinen Gegensatz herausforderten, um originell zu wirken und aufzufallen. Und daher überwölbten sie ihre Häuser mit einem Laubdach. Und in der Tat, das blendende Weiß der geraden Wand oder des schlanken Giebels mit seinen Säulen hebt sich überaus schön von dem grünen Dunkel des Laubes ab. Denn es bildet einen Kontrast zu dem wolkigen Dickicht der Bäume, die ihre Zweige fast immer unregelmäßig, aber darum um so schöner darüber ausbreiten. Auch wenn ihre Gebäude von anderen Bauten umgeben waren und mitten in der Stadt standen, empfanden sie dies Übermaß an Schlichtheit und versuchten es daher, ihnen möglichst viel Abwechslung zu geben. Zunächst dachten sie an die Natur und an Bäume; aber in der Stadt ist der Baum ein teures Objekt, und so verfielen sie darauf, statt der glatten dorischen Säulen immer häufiger korinthische mit Kapitälen aus krausem Blattwerk zu verwenden; überhaupt kamen alle Völker instinktiv darauf, ihre Gebäude mit Blättern oder Weinranken und -trauben oder anderen Zieraten, die entfernt an Baumzweige erinnerten, zu schmücken. Sie folgten dabei blind und unwillkürlich einer dunkeln Eingehung ihres Geschmacks. In der gotischen Architektur spiegelt sich der Eindruck von einem dunklen Urwaldgestrüpp, wo seit unvordenklichen Zeiten nie der Schlag einer Axt ertönte, am deutlichsten wieder. Diese sich in unendlichen Linien verlierenden Ornamente, dieses Netz durchbrochenen Schnitzwerks ist nichts anderes als die ferne Erinnerung an den Baumstamm mit seinen Ästen, Zweigen und Blättern. Daher stelle man ruhig neben einen gotischen Bau eine griechische Architektur in ihrer schlichten Anmut. Sie wird zwischen ihnen dastehen wie in einer Umgebung von herrlichen, majestätischen Bäumen, und der griechische wie auch der gotische Bau werden dadurch noch an Reiz gewinnen. Die höchsten Effekte werden durch schroffe Gegensätze erzielt. Die Schönheit wirkt nie glänzender und auffälliger als im Kontrast; ein Kontrast wirkt nur dort häßlich, wo er das Produkt eines rohen Geschmacks oder richtiger des Mangels an jeglichem Geschmack ist; wo er dagegen unter der Herrschaft eines feinen und edlen Geschmackes steht, da ist er die Vorbedingung für alles andere und da wirkt er in gleichem Maße auf alle Menschen. Die einzelnen Teile stehen untereinander in einem harmonischen Verhältnis, nach demselben Gesetz, nach dem die hellgelbe Farbe mit der dunkelblauen, die weiße mit der hellblauen, die hellrote mit der grünen usw. harmonieren.

Alles hängt vom Geschmack und von der Kunst der Gruppierung ab, nur muß man es vermeiden, bei ein und demselben Gebäude verschiedene Geschmacksrichtungen und Stile miteinander zu vermischen. Man lasse ein jedes für sich ein Ganzes und Ursprüngliches bilden, dann darf der Gegensatz zwischen diesen eigenartigen Individuen und ihr Verhältnis zueinander schroff und kraftvoll sein. Je mehr Denkmäler der verschiedensten Baustile eine Stadt aufzuweisen hat, um so interessanter ist sie, um so häufiger wird sie die Aufmerksamkeit des Beschauers auf sich lenken und ihn dazu veranlassen, bei jedem Schritt stehenzubleiben und zu genießen. Wäre es denn etwa wünschenswert, daß der Spaziergänger in einem englischen Garten statt der langen Reihe überraschender Bilder immer nur denselben Weg wiederfände oder doch immer solche Alleen, die durch ihre Ausblicke so sehr an schon früher Gesehenes erinnern, daß sie einem längst bekannt vorkommen.

Wir bedürfen durchaus einer gewissen Toleranz; denn ohne sie ist in der Kunst nichts zu erreichen. Alle Stilarten sind schön, wenn sie in ihrer Art schön sind. Jeder Stil, der glatte und massive der Ägypter, der kolossale und bunte der Indier, der prächtige maurische Stil, der finstere durchgeistigte gotische, der anmutige griechische Stil — sie alle sind schön, wenn sie der Bestimmung des Baues entsprechen. Sie alle wirken majestätisch, wenn sie nur richtig verstanden werden.

Wenn man jedoch von mir verlangte, ich solle einem von diesen verschiedenen Baustilen einen entschiedenen Vorzug geben, so würde ich immer den gotischen wählen. Er ist rein europäisch, ein reines Erzeugnis des europäischen Geistes — und darum steht er uns auch am besten an. Seine wunderbare Erhabenheit und Schönheit übertrifft alle andern, aber ich flehe euch an, habt Mitleid mit ihm und verunstaltet und korrumpiert ihn nicht. Blickt häufiger hin auf den berühmten Kölner Dom, — da habt ihr ihn in seiner ganzen Vollkommenheit und Majestät. Weder die Antike noch die Moderne haben je ein herrlicheres Denkmal erschaffen. Ich ziehe die gotische Architektur auch noch darum vor, weil sie den Künstlern mehr Spielraum gewährt. Die Phantasie strebt lebendiger und feuriger in die Höhe als in die Breite; daher darf man den gotischen Stil auch nur bei Kirchen und solchen Bauten anwenden, die sich hoch zum Himmel emporrecken. Die Linien und die der Gesimse entbehrenden gotischen Pilaster müssen eng gedrängt das ganze Gebäude durchziehen. Keinesfalls dürfen sie zu weit voneinander abstehen, und niemals darf die Länge des Gebäudes seine Breite nicht mindestens um zwei- oder sogar dreimal überragen. Denn dann vernichtet es sich selbst. Richtet es auf, wie es dies verlangt, höher, immer höher, laßt seine Mauern emporstreben und dicht, wie von Pfeilen, Pappeln oder Föhren, von unzähligen Eckpfeilern umgeben sein. Nirgends darf es Horizontale und Ruhepunkte geben, nirgends Gesimse, die dem Ganzen eine andere Richtung verleihen und die Dimension des Gebäudes verringern. Alle Linien müssen vom Fundament bis zur Spitze ihre Richtung bewahren. Größere Fenster, von mannigfaltigster Form und kolossalen Verhältnissen! Eine leichte ätherische Spitze, und je mehr sich der Bau in die Höhe schwingt, um so durchsichtiger, schwebender muß er werden. Vor allem aber vergesse man die Hauptsache nicht: es darf kein Verhältnis zwischen der Höhe und der Breite bestehen. Das Wort „Breite“ muß völlig verschwinden. Hier gibt es nur eine gesetzgebende Idee: die Höhe.

Ich bin überzeugt, daß mancher einwenden wird, die Errichtung eines gar zu hohen Baues sei nutzlos: was wir brauchen, ist mehr Raum, die Höhe habe keinen Wert für uns und sei ein unproduktiver Aufwand von Material. Aber ich rate ja auch gar nicht dazu, diesen gotischen Stil bei Theatern, Börsen oder Vereinshäusern, wie überhaupt bei Bauten anzuwenden, die die Bestimmung haben, Sammelplätze für das Amüsement, für Händler und Arbeiter zu sein. Jeder wird mit mir einverstanden sein, daß es keinen erhabeneren, großartigeren und passenderen Stil für ein Wohnhaus des Christengottes gibt, als den gotischen. Wem aber würden wir dann entsagen? was aufgeben? Alles Erhabene, alles Gewaltige, bei dessen Anblick alle Gedanken sich auf ein Ziel richten und den Betenden von seiner niederen Hütte abziehen. Hier ist es vielleicht am Platze, sich der alten großen Wahrheit zu erinnern, daß das Volk nicht imstande ist, die Religion in derselben Reinheit und Körperlosigkeit zu erfassen, wie ein Mensch von höherer Bildung, daß auf den gemeinen Mann die sichtbaren Gegenstände den stärksten Eindruck machen und daß, je geringer diese Wirkung auf ihn, desto schwächer auch seine Begeisterung und sein einfältiger Glaube ist. Die Pracht versetzt den schlichten Mann in eine Art von Betäubung, und sie ist die einzige Feder, die den Wilden bewegt. Das Ungewöhnliche macht einen Eindruck auf jeden Menschen, aber nur dann, wenn es von schroffer Kühnheit ist und einem in die Augen sticht. Hier ist keine Sparsamkeit und kein Geiz am Platze, vielmehr würde die Sparsamkeit an dieser Stelle in ihr Gegenteil umschlagen, und der Vorteil, der sich aus ihr ergäbe, käme dem eines einzelnen Menschen gegenüber dem der ganzen Menschheit gleich.

Walter Scott war der erste, der den Staub von dem gotischen Stil entfernte und die Welt auf seine Vorzüge hinwies. Von da ab begann er sich rapide zu verbreiten. In England wurden alle neuen Kirchen im gotischen Stile gebaut. Sie sind sehr hübsch, sehr gefällig für das Auge, aber ach! es fehlt die wahre Größe, die uns in den großen Baudenkmälern der Vorzeit entgegentritt. Trotz der Spitzbögen über den Fenstern und trotz der Türme ist der wahrhaft gotische Charakter in ihnen nicht überall gewahrt, und oft entfernen sie sich zu weit von ihren Vorbildern. Einmal sind sie an und für sich schon nicht kolossal genug (ein großer Mangel bei einem gotischen Gebäude!) und ferner fehlt jener Wald vierkantiger, schlanker Pfeiler und Linien, die sich einträchtig durch den ganzen Bau hindurchziehen, oder er ist mit Bewußtsein beiseite gelassen worden, und die daher rührende Glätte verleiht ihnen unwillkürlich einen anderen Charakter.

Durch die machtvolle Sprache Walter Scotts begann der gotische Stil sich schnell überall zu verbreiten und überall einzudringen. Noch ehe er Zeit hatte, sich zu wahrer Größe zu erheben, wurde er kleinlich und spielerisch. Landhäuser, Schränke, Paravents, Tische, Stühle — alles wurde gotisch. Und die mächtigen und herrlichen Ornamente wurden zu allerhand Spielereien verwandt. Unser Jahrhundert ist so klein, unsere Wünsche und Neigungen sind so zersplittert, unsere Kenntnisse sind so enzyklopädisch, daß wir unsere Gedanken gar nicht auf einen einzigen Gegenstand zu konzentrieren vermögen. Und daher zerstückeln wir alles, was wir hervorbringen, indem wir lauter Nichtigkeiten und Nippes erzeugen. Wir besitzen die wunderbare Gabe, alles ins Kleinliche und Gewöhnliche herabzuziehen. Die ägyptische Architektur, deren ganze Wirkung auf ihren ungeheuren Dimensionen beruht, verwenden wir beim Bau von kleinen Brücken und Torbögen, deren Spitze ein vorüberfahrender Droschkenkutscher mit der Hand erreichen kann. Den gotischen Stil verwenden wir bei der Anfertigung von Ohrgehängen und Uhrgehäusen und den griechischen bei der Anlage von Gartenlauben. Dagegen bedienen wir uns bei großen öffentlichen Gebäuden einer Architektur, der man kaum einen eigenen Stil zuschreiben kann. Sie ist so sinnlos, stellt eine derartige unharmonische Verbindung von Teilen dar und verrät einen solchen Mangel an Phantasie, daß man sie unmöglich als einen eigenartigen charaktervollen Stil anerkennen kann.

Es gibt eine Goldader, von der man jedoch kaum weiß, daß sie existiert. Es gibt eine ganz eigene, besondere Welt, aus der Europa noch so gut wie gar nicht geschöpft hat. Das ist die orientalische Architektur, dieses Erzeugnis der reinen Phantasie, einer wunderbaren, glühenden orientalischen Einbildungskraft, die sich in Hyperbeln und Allegorien hüllt und das Leben und seine prosaischen Nöte flieht. Das Leben der Asiaten konnte sich nie so vielseitig entwickeln, wie das der Europäer, ihre Bedürfnisse waren nie so mannigfaltig und zahlreich wie die unsrigen, und daher ist es nur natürlich, daß ihre einfachen Wohnhäuser der Buntheit, Klarheit und Anmut entbehren. Sie stehen isoliert da, haben etwas Monotones und wirken ebenso langweilig durch den Mangel an jeglicher Idee, wie der Asiate selbst, während er ruht. Aber überall, wo die asiatische Prachtliebe, dieser herrliche, mächtige Prunk, der in ihren Märchen aufleuchtet, hingedrungen ist, überall, wo diese perlengeschmückte Tochter der orientalischen Phantasie hingelangte, da stehen auch heute noch wundersame, prächtige Paläste. Ihr Bau währte ganze Jahrhunderte. Ein ganzes Volk, eine ganze Nation arbeitete an ihrer Aufrichtung, und die Vorfahren glaubten an eine Vollendung durch die kommenden Generationen, wie an eine unausbleibliche Vorherbestimmung. Überall, wo diese allmächtige massive Prachtliebe oder der wilde Enthusiasmus ihrer ursprünglichen Religion Boden gewann, da türmten sich, durch ihre Riesendimensionen furchterzeugende Denkmäler auf, vor denen der Gedanke staunend verstummt, wenn man bedenkt, wie unbedeutend ihre Mittel und ihr Wissen und wie armselig ihre Maschinen waren, die sie zum Heben und Befestigen dieser schrecklichen Massen benutzten. Aber eine noch größere Bewunderung ergreift uns, wenn wir sehen, wie der halbwilde und noch ganz unkultivierte Mensch sich bei der Errichtung dieser gigantischen Bauten plötzlich entwickelt, von der Idee der Gottheit durchdrungen und begeistert wird, so daß er unwillkürlich seinen Geist aufleuchten läßt und der allmählichen jahrhundertlangen Bildungsarbeit vorauseilt.

Man werfe einen Blick auf diesen massiven, majestätischen Tempel von Tritschingur (Trichinopoli) der Indier, der seiner Größe nach wohl eins der bedeutendsten Gebäude darstellt. Diese pyramidenförmige Verjüngung der Masse nach oben, dieses allmähliche Kleinerwerden der Stockwerke, diese Unzahl indischer Säulengänge, die die Mauern umkleiden, diese übereinander getürmten Pilaster und Säulen, die den Eindruck machen, als klömmen sie aneinander hinauf, nur um so schnell wie möglich den Gipfel des ganzen Massivs zu erreichen — das alles ist das Erzeugnis eines ganz eigenartigen Geschmacks. Aber wenn der Tempel von Tritschingur (Trichinopoli) allzu schwerfällig ist und einen allzu heidnischen Charakter hat, so sehe man sich den wunderbaren Kutub-Minar an, dessen sich Dehli mit Recht rühmt. Ich kenne in der ganzen Welt keinen zweiten Turm, der bei einer fast attischen Schlichtheit so viel tiefe Schönheit ausströmte und in dem die Phantasie sich so rein und erhaben verkörperte. Wenn wir uns diesen Stil auch nicht vollkommen aneignen können, so könnten die Europäer doch mit Nutzen dieses pyramidale, kegelförmige Streben nach oben, diese charakteristische Eigentümlichkeit des indischen Stils bei ihren Bauten in Anwendung bringen.

Der orientalische Stil der Paläste ist ganz entgegengesetzter Art. Hier herrscht die asiatische Pracht vor. Das Gebäude dehnt sich stark in die Breite aus. Die gewaltige orientalische Kuppel ist entweder ganz rund oder sie wölbt sich wie eine wollüstige umgestülpte Vase; sie hat die Form einer Kugel oder sie beherrscht, reich beladen mit Schmuck und mit Schnitzwerk versehen, wie eine prunkvolle Mitra patriarchalisch das ganze Gebäude. Unten am Fuße friedigt ein ganzes Gehege von kleinen Kuppeln wie ein Reigen demütiger Sklaven die mächtigen Mauern ein. Auf allen Seiten erheben sich schmale Minarets, die durch ihre leichte, heitere Haltung einen wunderbaren Kontrast zu der gewichtigen majestätischen Form des ganzen Gebäudes bilden. So ruht der Mohammedaner in seinem weiten gold- und edelsteingeschmückten Gewande inmitten schlanker nackter Huris mit ihren blendend weißen Leibern.

Nirgends hat die Baukunst so verschiedene Formen angenommen wie im Orient. Man kann wohl sagen, daß hier jedes Gebäude ohne Rücksicht auf schon vorhandene Stilformen seine eigene Architektur ausbildete, oder richtiger, es entsprang aus ganz neuen Voraussetzungen, aus der Ahnung eines eigenen Stilgefühls, das mit den früheren nur eine entfernte Ähnlichkeit hatte und stets auf religiösen und nationalen Prinzipien beruhte. Ganz Indien ist mit herrlichen Bauten übersät; jeder Bau hat eine scharf ausgeprägte Eigenart, er trägt in so hohem Grade den Stempel seines eigenen Wesens, daß man ihn nie in einer gemeinsamen Kategorie mit den anderen unterbringen kann. Diese Unzahl mannigfaltigster Kuppelformen, die einander nie gleichen, diese Ornamente und Zieraten, die immer neu und immer voneinander verschieden sind — alles spricht von einer wunderbaren Phantasie, die sich niemals durch irgendwelche Regeln in Fessel schlagen ließ. Übrigens lag der Grund dieser Mannigfaltigkeit vielleicht in den zahllosen Sekten, die Indien erfüllten und eine ewige Opposition, eine beständige Reizsamkeit der Einbildungskraft zur Folge hatten. Aber von noch herrlicherer Pracht erfüllt, wie sie nur die orientalische Natur ausströmt, sind die Gebäude, die durch den arabischen Stil beeinflußt wurden. In Asien fand während jener verheerenden Zusammenstöße alter und neuer Völker, besonders aber derer, die den Islam bekannten, eine außerordentlich starke Vermischung der Stilarten statt, die besonders kühne Abweichungen zur Folge hatte. Aber niemals und nirgends hat sich die Kühnheit mit einer so wundersamen Pracht verbunden wie bei den Arabern; sie entnahmen der Natur alles, was sie an edelster Schönheit in sich birgt. Ihre Architektur hat nichts von dem Charakter undurchdringlicher Wälder; sie besteht ganz aus Blumen; sie ist mit Blumen geschmückt, sie ertrinkt in einem Meer von herrlichen üppigen Blüten, wie sie das zarte anmutige Tal Kaschmirs übersäen. Ihre geschnitzten Säulen sind mit Tulpen umwunden, ihr Schnitzwerk stellt Vergißmeinnicht, vierblätterige Blüten oder sich entfaltende Rosen dar. Ihre Galerien gleichen Palmenhainen, deren Wipfel sich zu Hallen wölben; alles verrät ihre außerordentliche Prachtliebe und ihren blühenden Geschmack. Diese Architektur scheint wie geschaffen für ein Leben, das dem Genuß geweiht ist, und für heitere, helle Wohnstätten der Menschen. Alles Finstere und Düstere ist hier restlos ausgestoßen. Jeder Baum ist so wunderbar und von einem zauberischen Reiz wie eine orientalische Schöne mit ihren schwarzen Augen, die wie Blitze funkeln, mit ihrem bunten Gewande, und ihrem kostbaren Halsgeschmeide.

Die orientalische Architektur weist etwas auf, was die Europäer noch niemals angewendet haben; das sind ihre Säulen, die nicht glatt, sondern vom Sockel bis zum Kapitäl mit bunten Zieraten versehen sind. Mitunter sind diese Säulen ganz durchbrochen und filigranartig: das Schnitzwerk durchdringt sie vollständig. Es ist dies die wundersamste Erfindung des orientalischen Geschmacks. Ein solcher Bau mag noch so massiv sein, die Säulen lassen ihn trotzdem beinah ätherisch erscheinen. Man könnte sich fragen, warum sollen wir diesen Stil nicht auch auf unsern Boden verpflanzen? Aber der Geist und der Geschmack des Menschen ist ein seltsames Ding: ehe er die Wahrheit erreicht, macht er so viele Umwege, begeht er so viel Torheiten, Verkehrtheiten und Sinnlosigkeiten, daß er sich nachher selbst über seinen Unverstand wundert. Europa hat sich um all diese Baudenkmäler nicht einmal gekümmert. Nur der Stil der Chinesen, den man wohl als den allerarmseligsten und kleinlichsten unter den Stilgattungen der orientalischen Völker bezeichnen kann, wurde gegen Ende des XVIII. Jahrhunderts durch einen seltsamen Zufall zu uns herübergetragen. Es war noch gut, daß die Europäer ihn nach ihrer Gewohnheit sogleich beim Bau von kleinen Brücken, bei Pavillons, Vasen und Kaminen nachahmten, und daß es ihnen nicht in den Sinn kam, ihn bei großen Bauten anzuwenden. In der Tat hatte dieser Stil manche Vorzüge bei kleinen Nippessachen, weil die Europäer ihn sofort in ihrem Geiste vervollkommneten und ihm eine Anmut verliehen, die er an und für sich gar nicht besitzt. Fehlt es doch auch dem Volk, das ihn hervorbrachte, trotz seiner hohen Bildung, völlig an Energie.

Es gibt noch eine Stilart, die sich grundsätzlich von allen bisher erwähnten unterscheidet; es ist dies die Architektur der indischen und ägyptischen Katakomben, bei denen diese zwei Völker in so wundersamer Weise zusammentrafen und so Anlaß dazu gaben, eine ursprüngliche Verwandtschaft zwischen beiden anzunehmen. Ihr Hauptmerkmal ist ihre Schwere; hier vereinigt sich alles zu einer plumpen Masse, zu einem Klumpen. Das Gebäude ruht gewichtig, wie auf Elefantenfüßen, auf kurzen schweren Säulen, deren Dicke fast ebenso bedeutend ist, wie ihre Höhe. Hier kommt die Breite und die Masse zur absoluten Herrschaft. Es ist, als ob das ganze Gewicht der Erde in ihr zur Darstellung käme, der Erde in deren Innerem sich ihre plumpe Majestät versteckt. Das, was bei andern Stilarten ein Fehler ist, wird hier zu einem Vorzug. Diese unterirdische Architektur hat auch etwas Erhabenes, obwohl sie ganz andere Gedanken anregt. Hier wirkt das Gewicht nicht häßlich, sondern großartig, weil es die Grundidee des ganzen Gebäudes darstellt. Wenn sich ein Künstler die Aufgabe stellt, etwas Massives und Schweres zu schaffen, und wenn es ihm gelingt, so ist sein Werk sicherlich gut. Aber wenn er die Absicht hatte, etwas Schwerfälliges hervorzubringen, und etwas produziert, was gar nicht schwerfällig wirkt, oder umgekehrt, wenn er etwas Leichtes hervorbringen will, und statt dessen etwas erzeugt, was schwerfällig wirkt, so ist das auf jeden Fall vom Übel. Nachdem man die Erde von diesen unterirdischen Bauten entfernt hatte, und diese nun im Lichte der Sonne dastanden, boten sie immer einen seltsamen und zugleich furchterregenden Anblick dar. Es schien fast, als ließe die Erde plötzlich ihr tiefstes Innere sehn, und als läge die Finsternis plötzlich von grellem Lichte beleuchtet da — diese Finsternis, die nur vom Lichte erhellt, nicht aber von ihm vertrieben wird, wie eine ägyptische Urne oder der Kopf eines Toten auf einer festlich geschmückten Tafel. Mir scheint, man tat unrecht, diese Architektur unter die Erde zu verbannen: wenn wir sie plötzlich inmitten heiterer, leichtgebauter Häuser erblicken, kann sie ihren Eindruck auf uns nicht verfehlen, ja, sie wird sicherlich einen starken Effekt hervorbringen. Ein einziges solches Gebäude inmitten einer stark bevölkerten Stadt würde sicherlich wundervoll wirken, aber nur eins und nicht mehr. Bei Bauten dieser Art bestehen die Teile aus schweren Massen, aber bei alledem sind ihre Verhältnisse von einer inneren, wenn auch beinahe schrecklichen Harmonie erfüllt. Und etwas Vollendetes in diesem Stile zu leisten, ist sicherlich nicht ganz leicht.

Die sich über dem Erdboden erhebenden Bauten der Ägypter weisen einen ganz anderen Charakter auf; sie sind gleichfalls massiv, zugleich aber sind höchste Anmut und Schlichtheit zwei Züge, die man nie an ihnen vermissen wird. Ihren Grundcharakter aber bilden ihre kolossalen Dimensionen. Je glatter, je weniger gegliedert und mit auffallenden Verzierungen versehen sie sind, um so besser. Aber man wende sie nur nicht bei kleinen Brücken an, ohne ihre ungeheuren Dimensionen ist diese Architektur weniger als gar nichts. Ich wiederhole noch einmal: jeder Stil ist schön, wenn all seine Voraussetzungen erfüllt und wenn er in strengem Einklang mit seiner Bestimmung gewählt und durchgeführt ist. Ohne diese wohlmeinende und unparteiische Toleranz kann es keine wahrhaften Talente noch auch wirklich großartige Werke geben. Fort mit dieser Scholastik, die jedem Gebäude das gleiche Maß vorschreibt und verlangt, daß alles in demselben Geschmack gebaut werde! Eine Stadt muß aus den verschiedensten Massen bestehen, wenn wir verlangen, daß sie unseren Augen eine Freude sein soll. Mögen sich in ihr die verschiedensten Stilarten vereinigen. Mag sich doch in derselben Straße ein finsteres gotisches Gebäude, ein mit üppigem Zierat geschmückter orientalischer Palast, ein kolossaler ägyptischer Bau und ein von anmutiger Harmonie erfülltes griechisches Haus erheben! Da mögen die leicht gewölbte milchfarbene Kuppel, die andächtige, ins Grenzenlose ragende Turmspitze, die orientalische Mitra, das abgeplattete italienische und das hohe, mit Figuren geschmückte flämische Dach, die vierkantige Pyramide, die runde Säule und der eckige Obelisk uns entgegentreten. Die Häuser dürfen so wenig wie möglich zu einer kompakten einförmigen Mauer verschmelzen, sondern sich bald hoch emporrecken und bald wieder tiefer herabsinken. Türme von verschiedenstem Stil sollen das Straßenbild beleben. Sollte es wirklich jemand geben, der den Mut, oder besser gesagt, die Schwäche hätte, zu behaupten, eine flache Ebene in der Natur ließe sich mit einer Gegend voller sich übereinander türmender Schluchten, Felsblöcke und Hügel vergleichen?

Ein Architekt, der wirklich schöpferische Kraft besitzt, muß eine gründliche Kenntnis aller Baustile besitzen; am wenigsten sollte er den Geschmack der Völker verachten, auf die wir wegen ihrer künstlerischen Rückständigkeit gewöhnlich herabzusehen pflegen. Er muß sie alle umfassen, studieren und all ihre unendlichen Variationen in sich aufnehmen. Was aber die Hauptsache ist, er muß in ihre Idee eindringen und sich nicht nur ihre kleinen äußeren Formen und Teile aneignen. Um jedoch ihr Wesen zu ergreifen, dazu muß er ein Genie und ein Poet sein.

Aber wenden wir uns nun zu der Architektur der Städte. Eine Stadt sollte so gebaut werden, daß jeder ihrer Teile, jede einzelne Häusermasse ein lebendiges Bild darbietet. Jede Häusergruppe muß belebt werden, so daß sie — wenn ich mich so ausdrücken darf — immer neue charakteristische Züge hervorzubringen scheint, damit sie sich unserem Gedächtnisse einpräge und unserer Einbildungskraft keine Ruhe lasse. Es gibt Bilder, die man sein Leben lang nicht vergißt, und es gibt solche, die man trotz aller Anstrengungen nicht im Gedächtnis festhalten kann. Die Baukunst ist gröber, zugleich aber großartiger als alle anderen Künste, wie die Malerei, die Skulptur und die Musik. Und daher liegt ihre Wirkung in dem Effekt, den sie ausübt. Ein Stadtbild hat den Vorzug, daß man es mit einem Schlage verändern und nach eigenem Ermessen umgestalten kann. Häufig braucht man nur ein einziges Gebäude zu den schon bestehenden hinzuzufügen, und es verändert gänzlich seine Form und erhält einen völlig andern Charakter, so wie die Zeichnung eines Schülers plötzlich unter dem Pinsel oder dem Stift des Lehrers Leben gewinnt. Er verstärkt an der einen Stelle die Linie, retuschiert etwas an einer andern, er berührt die dritte kaum, und alles wird anders. Außerdem führen uns häufig die Fehler selbst auf die Idee, wie wir sie vermeiden können. Das Charakterlose bringt uns das Charaktervolle, das Kleinliche und Platte seine Gegensätze, das Kühne und Ungewöhnliche zum Bewußtsein. Eine Vertiefung nach unten erweckt die Idee einer Erhöhung nach oben und umgekehrt. Das Genie ist ein Besitzer unendlicher Reichtümer, vor dem die ganze Welt mit allen ihren Schätzen verblaßt.

Bei der Anlage einer Stadt muß man auch auf die Bodenbeschaffenheit achten. Städte werden entweder auf Anhöhen, auf Hügeln oder in der Ebene erbaut. Eine hochgelegene Stadt erfordert weniger Kunst, weil da die Natur schon selbst bei ihrem Bau mithilft. Sie erhebt die Häuser bald auf ihre majestätischen Hügel und läßt sie mitten unter ihren Nachbarn wie Riesen erscheinen, bald wieder läßt sie sie in die Tiefe herabsinken, um die umstehenden Häuser zur Geltung zu bringen. In solchen Städten ist es nicht notwendig, für eine große Abwechslung zu sorgen. Hier kann man glatte und einförmige Fronten verwerten, weil schon das ungleichmäßige Terrain eine gewisse Abwechslung hineinbringt, indem es ihnen verschiedene Standpunkte anweist. Man muß darauf achten, daß die Höhe der einzelnen hintereinander stehenden Häuser so zur Geltung komme, daß der Beschauer am Fuße eines Hügels den Eindruck gewinnt, als erhebe sich vor ihm eine zwanzigstöckige Masse. Dort bedarf es keiner großen Kunst, wo die Natur noch gewaltiger ist als die Kunst, und da dient die letztere nur dazu, die erstere zu schmücken. Da dagegen, wo das Terrain eben und einförmig ist, wo die Natur schlummert, da muß die Kunst mit voller Kraft einsetzen. Sie muß Farbe und Kolorit in die Landschaft hineinbringen, muß — wenn ich mich so ausdrücken darf — den Boden aufwühlen, die Ebene verschwinden lassen und die tote, flache Wüste beleben. Hier wären Schlichtheit und Einförmigkeit Sünde. Hier muß die Architektur so eigenartig wie nur möglich sein: sie muß bald ein düsteres Äußeres annehmen, bald wieder einen fröhlichen Ausdruck, bald muß sie einen altertümlichen Eindruck machen, bald wieder durch ihre Neuheit verblüffen. Sie muß uns mit Schrecken erfüllen, durch ihre Schönheit blenden, bald düster blicken wie ein von Gewitterwolken verfinsterter Tag, und bald wieder heiter wie ein strahlender Morgen voller Sonnenglanz. Die Architektur ist in ihrer Art auch eine Weltchronik, sie spricht noch zu uns, wenn die Sagen und Gesänge längst verstummt sind und wenn uns nichts mehr von einem untergegangenen Volke berichtet. So mag sie denn, wenn auch nur teilweise, sich mitten in unseren Städten erheben, wie sie einst zu Lebzeiten eines zugrunde gegangenen Volkes existierte, auf daß bei ihrem Anblick uns immer der Gedanke an sein vergangenes Dasein aufsteige, daß wir uns in sein Leben und in seine Sitten und Gewohnheiten, in seinen Bildungsgrad versetzen und mit Dankbarkeit an dies Volk zurückdenken, dessen Auftreten selbst eine Sprosse an der Leiter unseres eigenen Aufstiegs bedeutet [4] .

Sollte es wirklich ganz unmöglich sein, sei es auch nur um der Originalität willen, eine völlig neue und eigenartige Architektur zu erschaffen, die allen Einflüssen der älteren entzogen ist! Wenn der wilde, noch wenig entwickelte Mensch, dem nur die Natur, die er selbst noch so schlecht versteht, als Lehrmeisterin und Anregerin dient, ein Werk voller Schönheit, voll unbewußten instinktiven Stilgefühls schafft, woher können denn wir mit unseren so stark entwickelten Fähigkeiten und die wir die Natur in all ihrem geheimen Wirken soviel besser verstehen, — woher können denn wir nichts schaffen, was von dem ganzen Reichtum unseres Wissens durchdrungen ist. Die Idee der Baukunst ward ja aus der Natur selbst geschöpft, aber zu einer Zeit, als der Mensch ihren Einfluß noch lebhaft empfand. Jetzt aber hat er die Kunst noch über die Natur erhoben — könnte er da seine Gedanken nicht aus der Kunst selbst oder richtiger aus der harmonischen Verschmelzung von Natur und Kunst schöpfen! Man sehe nur, welche ungeheure Erfindungskraft er bei der Herstellung all der kleinen Mittel eines verfeinerten Luxus an den Tag legt. Man blicke hin auf all diese modernen Spielereien, die täglich emportauchen und wieder verschwinden. Man betrachte sie meinetwegen durch das Mikroskop, wenn sie anders unsere Aufmerksamkeit nicht fesseln — welch feiner Geschmack spricht aus ihnen, was für herrlichen nie dagewesenen Formen begegnen wir da! Hier finden wir einen Stil, wie er früher noch nie existiert hat. Das Schnitzwerk und die Arbeit sind so originell, so neu und dabei so schön, daß wir uns häufig nicht satt sehen können. Aber ach! wir fühlen nicht das geringste Mitleid, wenn wir bemerken, wie der Geschmack des Menschen sich in der Produktion von Nichtigem und Vergänglichem verbraucht, statt sich in Ewigem und Unwandelbarem zu objektivieren. Könnten wir denn dieses in Stückwerk sich zersplitternde Kunstvermögen nicht auf große Gegenstände richten, muß denn alles, dem wir in der Natur begegnen, durchaus eine Säule, eine Kuppel oder ein Bogen sein? Wieviel Formen gibt es, die noch ganz unberührt daliegen. In wie tausendfältiger Weise kann die gerade Linie sich in die gebrochene wandeln und ihre Richtung ändern! Wie unendlich mannigfaltig kann sich die Krumme wölben und ausweichen, wieviel neue Ornamente und Verzierungen lassen sich einführen, die noch nie ein Architekt in seinen Kodex eintrug! — In unserem Jahrhundert gibt es solche Errungenschaften und soviele ganz neue, nur ihm eigene Elemente, aus denen man das Material zu einer Unzahl neuer noch nie dagewesener Bauten schöpfen könnte! — Nehmen wir z. B. jene herabhängenden Verzierungen, wie sie erst vor kurzem gebräuchlich wurden. Bisher wurde diese hängende Architektur nur bei Theaterlogen, Balkonen und kleinen Brücken angewandt. Aber wenn erst ganze Stockwerke schweben und durch kühne Bogen miteinander verbunden sein werden, wenn ganze Massen statt auf schweren Säulen auf durchbrochenen Stützen von Gußeisen ruhen, wenn zahllose Balkone ein Haus von unten bis oben mit verschlungenem gußeisernem Gitterwerk schmücken und tausenderlei herabhängende gußeiserne Verzierungen es mit einem leichten Netz umgeben werden, so daß es durch sie hindurchschimmert wie durch einen durchsichtigen Schleier, wenn diese diaphanen Verzierungen sich um einen herrlichen runden Turm schlingen und zusammen mit ihm zum Himmel emporfliegen würden, — welch eine Leichtigkeit und ätherische Schönheit würden dann unsere Häuser annehmen. Welch eine Menge von Anregungen finden wir überall verstreut, die im Kopfe eines Architekten ganz unerhörte, lebendige Ideen erzeugen können; aber freilich müßte dieser Architekt ein schöpferisches Genie und ein Dichter sein.

1831.

[Dieser Aufsatz ist vor langer Zeit geschrieben. In den letzten Jahren ist der Geschmack in Europa und besonders in unserem geliebten Rußland besser geworden. Es gibt schon viele Architekten, die unserem Lande Ehre machen. Unter diesen möchte ich Brjulow nennen, dessen Bauten von wahrhaftem Geschmack und echter Originalität erfüllt sind.]

VIII
Al-Mamun
Eine historische Charakteristik

N ie ist ein Fürst während einer solchen Blütezeit seines Reiches zur Herrschaft gelangt, wie Al-Mamun. Das furchterregende Kalifat erhob sich mächtig auf dem klassischen Boden der Alten Welt. Im Osten umfaßte es den ganzen blühenden Südwesten Asiens, Indien mit eingeschlossen; im Westen zog es sich längs den Ufern Afrikas bis nach Gibraltar hin. Seine mächtige Flotte beherrschte das Mittelmeer. Bagdad, die Hauptstadt dieser neuen, wunderbaren Welt, sandte seine Befehle bis in die entlegensten Grenzen seiner Provinzen. Das neu bekehrte Asien strömte in die ausgezeichneten Schulen von Bassor, Nippur und Kufa und reifte nun zu höherer Kultur. Damaskus konnte alle Lüstlinge in seine kostbaren Stoffe hüllen und ganz Europa mit Stahlklingen versorgen; schon dachte der Araber, Mohammeds Paradies auf der Erde zu errichten: er schuf Wasserleitungen, Paläste und ganze Palmenwälder, wo Springbrunnen anmutig spielten und die Wohlgerüche des Orients zum Himmel stiegen. Und doch hatte bei all dem Luxus noch keine der moralischen Krankheiten einer politischen Gesellschaft Zeit gehabt, hier Wurzel zu fassen. Alle Teile dieses großmächtigen Reiches, dieser mohammedanischen Welt, waren eng untereinander verbunden und dieser Zusammenhang wurde durch den Willen des merkwürdigen Harun immer mehr und mehr gefestigt, denn dieser hatte die vielseitigen Fähigkeiten seines Volkes erkannt. Er war weder nur Philosoph auf dem Thron, noch allein Politiker, noch bloß Krieger oder Literat im Kaisermantel. Er vereinigte alles in sich, erstreckte seine Tätigkeit gleichmäßig auf alles und ließ keinen Teil über den andern Oberhand gewinnen. Er impfte seiner Nation nur gerade so viel von der fremdländischen Kultur ein, wie nötig war, um ihre eigene Entwicklung zu fördern. Damals hatten die Araber die Epoche des Fanatismus und der Eroberungen schon hinter sich, waren aber noch immer von Enthusiasmus erfüllt, und die feuersprühenden Seiten des Koran wurden noch mit derselben Begeisterung gelesen und seine Gebote noch ebenso sklavisch befolgt. Harun verstand es, den Gang der Administration und die Regierungsgeschäfte zu beschleunigen und durch die Furcht vor seiner Allgegenwart seinen Befehlen überall Geltung zu verschaffen. Die Statthalter und Emire, die sonst immer darnach strebten, Selbstherrscher und Despoten zu sein, fürchteten sich, dem Blicke des verkleideten Kalifen, dem nichts entging, zu begegnen — und so ging die Regierung ohne Gesetze fest und bestimmt ihren Weg. Unter solchen Umständen trat Al-Mamun die Herrschaft an. Byzanz nannte ihn den hochherzigen Beschützer der Wissenschaft, die Geschichte reihte seinen Namen unter die Wohltäter der Menschheit ein. Dieser Herrscher wollte sein politisches Reich in ein Reich der Musen verwandeln. Er besaß die Lebhaftigkeit und alle Fähigkeiten, die für ein ernstes Studium notwendig waren. Sein Charakter war von einer edlen Vornehmheit, das Streben nach Wahrheit seine Devise. Er war verliebt in die Wissenschaft, und zwar ganz selbstlos, er liebte sie um ihrer selbst willen, ohne an ihren Zweck und ihre Anwendung zu denken. Er gab sich ihr mit einer einseitigen Leidenschaft hin. Damals hatten die Araber erst eben den Aristoteles entdeckt. Ihrer allzu stürmischen, ungeheuren orientalischen Phantasie mußte der allumfassende, scharf denkende, griechische Philosoph fremd bleiben, aber die arabischen Gelehrten, die schon seit langer Zeit an mühsame Arbeit und schon an die Exaktheit und das formale Denken gewöhnt waren, gaben sich mit einem wissenschaftlichen Feuereifer dem Studium hin. Diese endlosen Schlüsse, diese die Ordnung dessen, was sie in ihren Seelen früher nur teilweise und wie durch ein Aufleuchten empfunden hatten, seine Erhebung zur Evidenz, das alles mußte die damaligen Gelehrten bezaubern. Al-Mamun, der unter ihrem Einfluß erzogen wurde, war von einem wahren Hunger nach Kultur erfüllt und gab sich alle erdenkliche Mühe, diese bis dahin unbekannte griechische Welt in sein Reich einzuführen. Bagdad breitete seine Arme freundschaftlich der ganzen gelehrten Welt seiner Zeit entgegen. Die Gnade des Kalifen stand jedem offen, der irgendeinem Beruf angehörte, er mochte die Religion bekennen, die er wollte, und von noch so entgegengesetzten Prinzipien erfüllt sein. Es war nur natürlich, daß vor allem die Männer ihr Wissen nach Bagdad trugen, die in ihren Seelen noch das Bild des in christliche Formen gekleideten Polytheismus trugen, die bereit waren, mit ihrem Herzblut Ammonius Saccas, Plotin und die anderen Bekenner des Neuplatonismus zu verteidigen und die in dem nur zu sehr mit dem Streit um die verschiedenen christlichen Dogmen beschäftigten Byzanz kein Feld für ihre gelehrten Turniere fanden. Bagdad verwandelte sich in eine Republik der mannigfaltigsten Fakultäten, Wissenschaften und Meinungen. Der königliche Araber versenkte sich aufmerksam in die betäubende Musik dieser gelehrten Disputationen und Spitzfindigkeiten. Die höheren Staatsbeamten konnten sich dem Beispiel ihres Herrschers nicht entziehen, und alle höheren Schichten des Reiches wurden von einer Art literarischer Monomanie ergriffen. Die Wesire und Emire versuchten ihrerseits, allerhand gelehrte Fremde an ihren Hof zu ziehen. Es ist selbstverständlich, daß die Administration damit in den Hintergrund gerückt wurde, daß die Würdenträger vieles, was zur Regierung gehörte, dem Gutdünken ihrer Sekretäre oder Günstlinge überließen, daß diese Günstlinge häufig ganz ungebildet waren und ihre Stellung oft nur durch Intrigen erklommen, und daß dies alles nicht ohne Einfluß auf das Volk bleiben und mit der Zeit auf die Regierenden selbst zurückfallen mußte. Die große Zahl theoretischer Philosophen und Dichter, die hohe Regierungsposten einnahmen, ließ im Lande keine starke Regierung aufkommen. Ihre Sphäre liegt ganz wo anders; sie erfreuen sich des allerhöchsten Schutzes und gehen ruhig ihren Weg. Nur die wenigen großen Dichter machen hierin eine Ausnahme, wenn sie den Philosophen, den Poeten und den Historiker in sich vereinigen, sie, die die Natur und den Menschen ergründen, in die Vergangenheit dringen und die Zukunft voraussehen, und deren Worten das ganze Volk lauscht. Sie sind Hohepriester. Kluge Herrscher ehren sie durch ihren Verkehr, behüten ihr kostbares Leben und fürchten sich, dieses Leben durch Beteiligung an der so vielseitigen Tätigkeit des Regierens zu unterdrücken. Sie werden nur bei äußerst wichtigen Ministerräten hinzugezogen, da sie bis in die Tiefe des menschlichen Herzens dringen.

Der edle Al-Mamun hatte den aufrichtigen Wunsch, seine Untertanen glücklich zu machen. Er wußte, daß die Wissenschaften, die die Entwicklung der Menschen fördern, das beste Mittel, der treuste Führer zum Ziel seien. Mit aller Gewalt zwang er seine Untertanen, die von ihm eingeführte Kultur anzunehmen. Aber die Aufklärung, die Al-Mamun zu verbreiten bestrebt war, entsprach am wenigsten dem angebotenen Charakter und der angeborenen Phantasie der Araber. Die wenig kraftvollen Prinzipien des Polytheismus, die sich in ein bloßes Wortspiel verwandelt hatten, die frechen Verstümmelungen christlicher Ideen, die ein so seltsames Licht auf die Wissenschaft jener Zeit warfen, die sich nicht mit dieser verschmolzen, und man kann wohl sagen, sie durch ihr Übergewicht vernichteten, bildeten einen krassen Kontrast zu der feurigen Natur der Araber, deren Phantasie die nüchternen Schlüsse des kalten Verstandes nur allzusehr unterdrückte. Dieses Volk ging nicht, nein, es flog förmlich seinem Entwicklungsziele entgegen. Sein Genius offenbarte sich plötzlich und gleichzeitig im Kriege, im Handel, in den Künsten, in der Manufaktur und in der üppigen Poesie des Orients. Seine reichen Gaben, wie ähnliche in der Geschichte der Menschheit noch niemals dagewesen waren, entfalteten sich reich, strahlend, eigenartig und in höchster Orginalität. Es schien fast, als sollte dieses Volk sich zu einer Nation von höchster Vollkommenheit entwickeln. Aber Al-Mamun verstand es nicht! Er beachtete die große Wahrheit nicht, daß die Bildung aus dem Volke selbst kommen muß, daß eine aufgepfropfte Kultur nur insoweit angeeignet werden darf, als sie die eigene Entwicklung fördert, daß aber die Entwicklung eines Volkes nur aus den eigenen nationalen Elementen hervorgehen kann. Für die Araber aber wurde ihr Betätigungsfeld durch diese unfruchtbare fremdländische Kultur nur versperrt. Der Kosmopolitismus Al-Mamuns, der allen Gelehrten aller Parteien den Eintritt in sein Reich gestattete, ging fast gar zu weit. Die Privilegien, die den Christen im Reiche zuteil wurden, mußten notwendig den Haß der eigenen Untertanen erwecken und hatten selbst die Verachtung nützlicher Einrichtungen zur Folge, — ja, das Volk verlor sogar allmählich die Liebe zu seinem Herrscher. In seinen Regierungsmaßregeln war Al-Mamun mehr theoretischer als praktischer Philosoph, der doch ein Herrscher vor allem sein müßte. Er kannte das Leben seines Volkes aus Beschreibungen und Erzählungen anderer und nicht aus eigener Anschauung wie der große Harun, der es persönlich studiert hatte. Bei den asiatischen Regierungsformen, die keine bestimmten Gesetze kennen, liegt die ganze Verwaltung auf den Schultern des Monarchen selbst, und daher muß seine Tätigkeit eine außergewöhnlich intensive, muß seine Aufmerksamkeit beständig gespannt sein; er darf niemand vertrauen, und sein Auge muß die Vielseitigkeit eines Argus haben; es braucht nur einen Augenblick einzuschlafen, und die mit seinen Vollmachten ausgestatteten Statthalter lehnen sich auf, und das Reich ist von einer Million Despoten erfüllt.

Al-Mamun aber lebte in seinem Bagdad wie in einem Musenreich, das er sich selbst geschaffen hatte und das ganz von der politischen Welt getrennt war. Die Christen, die allmählich auch anfingen, sich in die Verwaltung einzumengen, konnten den Volksgeist und die Landessitten nicht kennen lernen. Außerdem war der fremde Glaube den Arabern, die noch an ihrem Enthusiasmus und ihrer Unduldsamkeit festhielten, unerträglich. Und während der Name Al-Mamuns auf den Lippen aller damaliger Gelehrten schwebte und seine Gastfreundschaft buntbeflaggte Schiffe an die syrische Küste lockte, wurde seine Macht im Innern des Reiches immer schwächer und schwächer. Die Bewohner der Provinzen, die ihren Kalifen nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatten, schätzten seinen Namen nur wenig. Die militärischen Kräfte nahmen immer mehr ab. Die Kultur, die ihren Ausgangspunkt gewöhnlich von Bagdad, dem Zentrum des Reiches, nahm, verringerte sich und erlosch immer mehr, je mehr sie sich den fernen Grenzen näherte. In den Grenzländern hatte sich der Kulturzustand der Araber noch auf dem Niveau seiner ersten Periode erhalten, hier standen noch von Fanatismus erfüllte Truppen, die jederzeit bereit waren, den Glauben Mohammeds mit Feuer und Schwert zu verbreiten. Die mächtigen Emire, die bald die unzureichende Verbindung mit Bagdad erkannten, träumten von der Unabhängigkeit, und Al-Mamun mußte noch während seiner Regierung den Abfall Persiens, Indiens und der entlegenen Provinzen Afrikas erleben. Aber vielleicht wäre diese falsche Richtung der Verwaltung noch ein Übel gewesen, das wieder gutzumachen war, wenn Al-Mamun seine Wahrheitsliebe nicht zu weit getrieben hätte. Er wollte der religiöse Reformator seiner Nation werden. Er besaß einen rein theoretischen Verstand, war über jeglichen Aberglauben und alle Vorurteile erhaben, auch war er genauer über einige christliche Dogmen unterrichtet, als seine Vorgänger, und so konnte er seine Augen nicht gegen die zahllosen Widersprüche und den blühenden Unsinn, die in den Verordnungen des fanatischen Schöpfers des Korans überall zum Ausdrucke kommen, verschließen. Er entschloß sich, das heilige Buch Mohammeds zu reinigen und zu reformieren, und das in einer Zeit, als noch alle niederen Regierungsbeamten sowie der ganze Pöbel davon überzeugt waren, daß das Buch vom Himmel stamme, und wo der Zweifel an dem allergeringsten Gebote schon für das größte Verbrechen galt. Der halbgriechischen Denkungsweise Al-Mamuns war der völlig blinde Enthusiasmus seiner Untertanen ganz fremd. Die Unterdrückung des Fanatismus hielt er für den ersten Schritt zur Kultur seines Volkes — und doch bildete dieser Fanatismus das ganze Sein des arabischen Volkes; diesen Fanatismus, dem er seine ganze Entwicklung und seine glänzende Epoche verdankte, zu zerstören, hieß den politischen Bestand des ganzen Reiches untergraben. Al-Mamun erschien das Paradies Mohammeds, in das der Araber sein ganzes sinnliches Leben, dieses nur für den Genuß und für die Wollust bestimmte Leben, hineintrug, als der Gipfel der Torheit. Aber er ließ dabei außer acht, daß diese Gebote ein Produkt des glühenden, arabischen Klimas, des feurigen Temperaments des Arabers waren, daß dies Paradies für den Mohammedaner die große Oase inmitten der Wüste seines Lebens war, daß nur die Hoffnung auf dies Paradies es dem so sinnenfrohen Araber ermöglichte, alle Armut und Unterdrückung zu ertragen und, beim Anblick des in Luxus förmlich versinkenden Sybariten den Neid in seiner Seele zu bekämpfen. Der Gedanke, daß auch er einmal von Huris umringt, in einem Luxus schwelgen werde, der die Pracht aller irdischen Machthaber weit übertrifft, war wohl nur einer Sinnlichkeit und einer blühenden Phantasie faßbar, wie sie die Natur den Arabern verliehen hatte. Und vielleicht hätte sich der Glaube dieses Volkes erst im Verlauf der ferneren Entwicklung ohne allzu empfindliche Störungen reinigen lassen; Al-Mamun aber hatte kein Verständnis für die asiatische Natur seiner Untertanen.

Man kann sich den Grad der Empörung in den zahllosen Schichten des Volkes vorstellen, als das Gerücht von den Neuerungen des Kalifen sich verbreitete. Wie mußte sich das Volk zu ihnen stellen, das dem Kalifen schon allein wegen der Förderung der christlichen Religion und seiner Vorliebe für die Fremden offen des Modalismus oder der Ketzerei anklagte? Die rohe Masse der alten strenggläubigen Bekenner des Koran zwangen den Kalifen durch ihren harten Widerstand endlich, zu den Waffen zu greifen. Und der edle, hochherzige Al-Mamun, der von wahrer Menschenliebe durchdrungen war, wurde zum Verfolger seiner eigenen Untertanen. Durch diese Verfolgungen weckte er von neuem den wilden Fanatismus der Araber, aber schon nicht mehr jenen Fanatismus, der die früheren Nomadenvölker Arabiens zu einer Masse verschmolzen hatte — sondern einen oppositionellen Fanatismus, — einen Fanatismus, der die Massen auseinanderriß, der Zank und Streit bis in die innersten Gründe des Reiches trug, der die rohen Leidenschaften der Araber aufrührte, der den Dolch und das Gift des Hasses in die Hand der fanatischen Bekenner des Islams drückte, und der eine Unzahl verblendeter Sekten erstehen ließ, unter ihnen die schrecklichste, die der Karmaten, die noch lange, zur Zeit der Kreuzzüge, unter dem Namen der syrischen Assassinen ihr Wesen trieben. Mitten in den Unruhen, die an den verschiedenen Enden des Reiches ausbrachen, inmitten der Empörung und des Parteienzwists starb der edle Al-Mamun, der mit einer Hand zahllose Wohltaten und reiche Mittel für Schulen, Werkstätten und für die Kunst ausgestreut und mit der anderen seine unbotmäßigen, fanatischen Untertanen gezüchtigt hatte — er starb, ohne sein Volk verstanden zu haben und selbst unverstanden von seinem Volk. In jedem Fall aber hat er uns ein lehrreiches Beispiel gegeben. Er hat der Welt das Bild eines Herrschers geboten, der trotz allen Willens zum Guten, trotz aller Sanftmut des Herzens und bei aller Aufopferungsfähigkeit und seiner außergewöhnlichen Liebe zu den Wissenschaften, doch eine der wichtigsten, wenn auch unbewußten Ursachen wurde, die den Fall seines Reiches beschleunigten.

Arabesken
Zweiter Teil

I
Das Leben

E in armer Wüstensohn hatte einen Traum: Still liegt das große Mittelländische Meer und breitet sich aus in unendliche Fernen, und von drei verschiedenen Seiten blicken nach ihm hin die glühenden Küsten Afrikas mit ihren schlanken Palmen, die nackten syrischen Wüsten und die vom Meer zerklüfteten, dichtbevölkerten Küsten Europas.

In einer Bucht an dem unbeweglichen Meer erhebt sich das alte Ägypten. Eine Pyramide steht neben der andern; granitene Sphinxe blicken aus grauen Augen; zahllose Stufen führen zu ihnen hinauf. Genährt von dem großen Nil, geschmückt mit geheimnisvollen Zeichen und heiligen Tieren, thront majestätisch das alte Ägypten unbeweglich und wie verzaubert, gleich einer Mumie, die der Verwesung Trotz bietet.

Zahllose unabhängige Kolonien hat das heitere Griechenland um sich herum gegründet. Das Mittelmeer ist mit Inseln übersät, die in grünen Wäldern ertrinken; Oliven, Weinreben und Feigenbäume schaukeln sich mit ihren honiggetränkten Zweigen im Winde; Säulen, weiß wie die Brüste einer Jungfrau, runden sich im üppigen Dunkel der Bäume; der von wundersamem Meißel erweckte Marmor atmet wollüstig und freut sich schamhaft seiner herrlichen Nacktheit; mit Weintrauben geschmückt, Pokale und Thyrsosstäbe in Händen, hält das Volk im geräuschvollen Tanz inne; schlanke, junge Priesterinnen mit wallenden Locken werfen flammende Blicke aus nachtschwarzen Augen. Efeubekränzte Schalmeien, Zimbeln und andere musische Instrumente erklingen. Wie Fliegen schwirren Schiffe um Rhodus und Korkyra und bieten ihre selig geschwellten Fahnen dem Winde dar. Und alles atmet starr und unbeweglich in seiner steinernen Majestät.

Stolz und unermeßlich dehnt sich das eiserne Rom, ein Wald von Lanzen starrt gen Himmel, und in drohendem Glanze leuchten die stählernen Schwerter. Sein gieriges Auge scheint alles verschlingen zu wollen, und weit ausgestreckt ist seine sehnige Rechte. Aber auch Rom liegt unbeweglich da, wie alles rings umher und rührt seine löwenstarken Glieder nicht.

Die Luft des himmlischen Ozeans lastete dumpf und erstickend auf allem. Kein Wellenschlag bewegte das große Mittelmeer, und es war, als wäre das Jüngste Gericht gekommen für die drei Reiche — vor dem Ende der Welt. Da sprach Ägypten, und die schlanken Palmen, die Bewohner seiner Ebenen, schwankten im Winde, und die Obelisken streckten ihre feinen Nadeln noch höher empor: „Hört mich, ihr Völker! Ich allein drang ein in das Geheimnis des Lebens und in das Rätsel des Menschen. Alles ist vergänglich. Gemein ist alle Kunst, armselig jeder Genuß und noch armseliger die Worte und Taten. Der Tod, der Tod herrscht über die Welt und über den Menschen! Der Tod verschlingt alles, und alles lebt für den Tod. Fern, fern ist die Auferstehung! Gibt es denn überhaupt eine Auferstehung? Fort mit den Wünschen, den Genüssen. Armer Mensch! Errichte immer höhere Pyramiden, um dein elendes Dasein wenigstens etwas zu verlängern.“

Und es sprach das heitere Griechenland, das so klar ist wie der Himmel, wie der Morgen und wie die Jugend, und es war, als vernähme man keine Worte sondern Töne einer Schalmei: „Das Leben ward für das Leben geschaffen. Erweitere und bereichere dein Leben, erweitere mit ihm deine Genüsse. Ihm bringe alles zum Opfer dar. Sieh, wie ist alles so plastisch und schön in der Natur, wie ist alles in Eintracht verbunden. In der Welt ist alles enthalten. Alles, auch alles, worüber die Götter gebieten, enthält sie; lern’ es nur finden. Göttlicher, stolzer Gebieter dieser Erde, bekränze dein herrliches Haupt mit Eichenlaub und Lorbeer und genieße dein Leben; fliege hin auf deinem Wagen bei den rauschenden Spielen und lenke kunstvoll die feurigen Rosse. Fern sei deiner freien, stolzen Seele die Habgier und der Neid! Meißel, Palette und Flöte sind geschaffen, die Welt zu beherrschen, sie aber soll sich der Schönheit beugen. Mit Efeu und Weinlaub umwinde deine duftende Stirn und das liebliche Haupt deiner schamhaften Freundin! Das Leben ward für das Leben und für den Genuß geschaffen — lern’ des Genusses würdig sein.“

Und das in Eisen gehüllte Rom klirrte mit dem leuchtenden Walde seiner Lanzen und sprach: „Ich habe des Geheimnis des Menschenlebens ergründet. Die Ruhe ist des Menschen unwürdig, sie richtet ihn zugrunde in seinem eigentlichen Wesen. Kunst und Genuß sind zu gering für seine Seele. Der wahre Genuß liegt in dem gigantischen Wunsche. Verächtlich ist das Leben der Völker und des Einzelnen ohne ruhmreiche Heldentaten. Dürste nach Ruhm, dürste nach Ruhm, o Mensch! Beim betäubenden Lärme der Waffen im Rausch unbeschreiblicher Lust laß auf die Schilde der lanzentragenden Legionen dich heben! Hörst du, wie sich zu deinen Füßen die ganze Welt, wie sich Millionen versammelten und, die Speere schwenkend, in einen einzigen Ruf ausbrechen? Hörst du’s, wie dein Name furchtverbreitend auf den Lippen der fernsten Völker bebt, die am Ende der Welt wohnen? Alles, was dein Blick umfassen kann, erfülle alles mit dem Klang deines Namens! Strebe unablässig weiter, es gibt keine Grenzen weder der Welt noch deiner Wünsche. Furchtbar und streng schreite vorwärts und erweitere deine Weltherrschaft, dann wirst du zuletzt auch den Himmel erobern.“

Und Rom schwieg und heftete seinen Adlerblick auf den Osten. Auch Griechenland wandte seine herrlichen, vom Genuß feuchten Augen nach Osten, und auch Ägypten wandte seine trüben, farblosen Augen dem Orient zu.

Ein steiniges Land; ein verachtetes Volk; ein paar einsame Hütten stehen an nackte Hügel gelehnt, und hie und da nur fällt der spärliche Schatten eines dürren Feigenbaumes auf sie. Hinter einem niedrigen baufälligen Zaun steht eine Eselin. In der Holzkrippe liegt ein Knäblein; die jungfräuliche Mutter steht über es gebeugt und schaut es mit tränenfeuchten Augen an; hoch über der Krippe aber steht ein Stern, und ein herrliches Leuchten erfüllt die Welt.

Die Pyramiden des hieroglyphengeschmückten Ägyptens senkten sich immer tiefer, und Ägypten versank in Träume; unruhig blickte das herrliche Griechenland, Rom senkte die Augen und schaute auf seine eisernen Lanzen; das große Asien mit seinen zahllosen Hirtenvölkern lauschte gespannt, und der Ararat, der Urvater der Erde, beugte seinen Nacken.

1831.

II
Schlözer, Müller und Herder

S chlözer, Müller und Herder sind die großen Baumeister der Weltgeschichte. Der Gedanke an diese war ihr Lieblingsgedanke und verließ sie keinen Augenblick während der ganzen Zeit ihres so verschiedenartigen Lebenslaufes. Man kann sagen, daß Schlözer der erste war, der von der Idee eines einigen großen Ganzen, einer Einheit durchdrungen war, zu der alle Zeiten und alle Völker zusammengefaßt und zusammengeschmolzen werden müssen. Er wollte die ganze Welt und alles Lebendige mit einem Blick umspannen. Es schien, als wünschte er hundert Argusaugen zu besitzen, um mit einem Blick alle Geschehnisse in den entlegensten Teilen der Welt zu übersehen. Sein Stil ist ein Blitz, der fast plötzlich bald hier, bald dort zündet und die Gegenstände momentan, aber mit blendender Klarheit, beleuchtet. Ich weiß nicht, ob er selbst das hätte leisten können, was er den anderen so scharf vorgezeichnet hat; jedenfalls aber war niemand so stark von seinem Objekt ergriffen wie er. Er hatte die Gabe, alles in einem kleinen Brennpunkt zu konzentrieren und oft mit zwei, drei scharfen Strichen, ja zuweilen durch ein einziges Epitheton, ein bestimmtes Ereignis oder ein ganzes Volk zu charakterisieren. Seine Epitheta sind wunderbar, temperamentvoll und kühn und erscheinen als die Frucht eines glücklichen Augenblicks, einer momentanen Eingebung; sie sind von so scharfer verblüffender Wahrheit, daß selbst eine tiefe und dauernd in ihrer Richtung beharrende Forschung sie nicht entdeckt hätte, es sei denn, daß sie von Schlözer selbst ausgeführt worden wäre. Er war nicht eigentlich Historiker, und ich glaube sogar, daß er gar nicht Historiker hätte sein können. Seine Gedanken sind zu sprunghaft, zu leidenschaftlich, um sich zu einer harmonisch und gemächlich dahinfließenden Erzählung zu formen. Er analysierte die Welt und alle verschwundenen und noch lebenden Völker, aber er beschrieb sie nicht; er sezierte die ganze Welt mit dem Messer des Anatomen, zerschnitt und zerlegte sie in massive Teile, er gruppierte und klassifizierte die Völker wie ein Botaniker die verschiedenen Pflanzen nach bestimmten Merkmalen ordnet. Und daher sollte man glauben, daß durch diese Art der Behandlung seine geschichtlichen Aufzeichnungen etwas Skelettartiges und Trockenes erhalten hätten; aber merkwürdigerweise leuchtet alles bei ihm in so grellen Farben, der machtvolle Blitz seines Auges hat etwas so Sicheres, daß man beim Lesen seiner gedrängten Weltskizze erstaunt bemerkt, wie unsere Phantasie sich entzündet, erweitert und alles nach demselben Gesetze ergänzt, das Schlözer mit einen gewaltigem Wort gekennzeichnet hat; zuweilen aber eilt unsere Einbildungskraft die kühn vorgezeichneten Wege noch weiter. Da er einer der ersten war, der von der Größe und dem wahren Ziel der Weltgeschichte beunruhigt wurde, mußte er unbedingt ein oppositionelles Genie werden. Diese seine Stellung gab ihm die große Energie, das Feuer und sogar den Ärger über die Kurzsichtigkeit seiner Vorgänger, die sehr häufig in seinen Schriften zum Ausbruch kommen. Mit einem Donnerwort vernichtet er sie und in diesem einen Wort verbindet sich der Genuß und ein sardonisches Lächeln über den Besiegten mit einer sieghaften Wahrheit. Man könnte ihn mit mehr Recht noch als Kant den Alleszermalmer nennen. Fast immer lassen sich die Männer der Opposition zu sehr von ihrer Stellung hinreißen, indem sie sich in ihrem enthusiastischen Übereifer nur an eine Regel halten — allem Vorangegangenen zu widersprechen. Doch dieser Vorwurf trifft Schlözer nicht: sein germanischer Geist beharrt unerschütterlich auf seinem Standpunkt. Er ist ein strenger, allwissender Richter; seine Urteile sind scharf, kurz und gerecht. Vielleicht werden einige sich darüber wundern, daß ich von Schlözer wie von einem großen Baumeister der Weltgeschichte rede, während doch die Gedanken und Werke, die er diesem Gegenstande gewidmet hat, in einem kleinen Leitfaden für Studenten bestehn; aber dieses kleine Büchlein gehört zur Zahl der Werke, nach deren Lektüre man glaubt, ganze Bände gelesen zu haben; ich möchte es mit einem kleinen Fenster vergleichen, durch das man, wenn man sein Auge nur nahe genug heranbringt, die ganze Welt erblicken kann. Er wirft ein helles Licht auf die Gegenstände, lehrt sie uns begreifen, und schließlich gelangt man dazu, alles mit eigenen Augen zu sehen.

Müller ist ein Historiker ganz anderen Schlages. Still, ruhig und bedächtig, ist er das volle Gegenteil von Schlözer. Mit einer eigenartigen, bezaubernden Liebe gibt er sich seinem Gegenstande hin. Sein Vortrag glänzt nicht durch eine scharf ausgeprägte Eigenart wie der Stil Schlözers; er kennt weder die leidenschaftlichen Ausbrüche, noch den prägnanten Lakonismus, der den Vortrag Schlözers auszeichnet. Er umfaßt nicht alles so momentan, so mit einem Blicke wie jener, umspannt es nicht mit gewaltiger Hand, er erforscht alles, was die Welt erfüllt, ruhig, in bestimmter Reihenfolge, ohne jene Überstürzung und Hast, mit der ein Autor sich ausspricht, der sich fürchtet, jemand könnte ihm seine Gedanken entwenden und ihm zuvorkommen. Das Wort „Untersuchung“ paßt so recht zu seinem Stil; seine Darstellungen sind wahrhafte Untersuchungen. Als Staatsmann beschäftigt er sich vorzüglich mit der Erörterung der Staatsformen und mit den Gesetzen der gegenwärtigen und der untergegangenen Reiche; aber er betont diese Seite nicht in dem Maße, um darüber andre Seiten ganz im Schatten zu lassen, ein Fehler, dessen nur einseitige Historiker fähig sind und in den auch Heeren mitunter verfallen ist; im Gegenteil, er wendet seine Aufmerksamkeit auch allen Grenzgebieten zu. Alles, was in der Geschichte nicht ganz klar ist, was noch wenig erforscht ist, das alles unterwirft er einer Untersuchung. Man fühlt sogar, daß er sich mit Vorliebe mit der Urgeschichte und überhaupt mit den Epochen beschäftigt, wo das Volk noch nicht von der Kultur und ihren Lastern berührt ist und noch seine einfachen Sitten und seine Unabhängigkeit bewahrt. Diese Perioden schildert er mit einer leuchtenden Ausführlichkeit, mit einer sanften Wärme, wie wenn er sich selbst dabei vergäße und sich mitten unter seinen braven Schweizern zu befinden wähnte. Das wichtigste Resultat, das er aus seiner Geschichtsdarstellung zieht, ist dieses, daß ein Volk nur dann glücklich ist, wenn es die alten Sitten des Landes treu befolgt und seine einfache Lebensweise und Unabhängigkeit beibehält. Überall schimmert seine reife Weisheit und seine kindliche Seelenklarheit durch. Der Adel seiner Gedanken und die Freiheitsliebe durchdringen all seine Werke. Nicht der Gedanke an die Einheit und an ein unzertrennliches Ganzes ist das Ziel, nach dem seine Darstellung bewußt hinstrebt; er spricht eigentlich nie darüber, aber sein ganzes Werk läßt uns diese Einheit fühlen, obgleich er über der Betrachtung eines Volkes die Sache der ganzen Welt zu vergessen scheint. Seine Geschichte ist keine ununterbrochene, bewegliche Kette von Begebenheiten; hier gibt es keine dramatischen Effekte; aus allem spricht die bedächtige Weisheit des Autors. Er gibt seinen Gedanken keine scharfen prägnanten Formulierungen: sie scheinen sich bescheiden und häufig wie in einem unbeachteten Winkel zu verbergen, so daß man sie nur entdeckt, wenn man sie sucht; aber dafür sind sie so erhaben und zugleich so tief, daß nach einem Ausdruck Wagners im „Faust“ der ganze Himmel zu dem glücklichen Finder niedersteigt. Dieser bescheidene, prunklose Vortrag und der Mangel an blendenden Lichtern weckt unwillkürlich unser Mitleid; sie sind der Grund, warum Müller so wenig bekannt oder besser gesagt nicht so bekannt ist, wie er es verdient. Nur solche Menschen, die tief durchdrungen von der Idee der Geschichte und einer edleren Bildung fähig sind, können ihn ganz verstehen; den übrigen erscheint er unbedeutend und oberflächlich.

Herder vertritt eine ganz andere Art der Geschichtsauffassung. Er betrachtet alles mit geistigen Augen. Bei ihm verschlingt die Macht der Idee völlig die greifbare Form. Stets sieht er einen Menschen als Vertreter der ganzen Menschheit an. Er forscht tief und begeistert gleich einem Brahmanen der Natur — wie man ihn in Deutschland zu nennen pflegt. Bei ihm werden die Ereignisse bedeutender durch ihre Gruppierung, all seine Gedanken sind erhaben, tiefsinnig und weltumspannend. Sie erscheinen bei ihm nur selten in Beziehung zu der sichtbaren Natur und steigen gleichsam unmittelbar aus ihrem reinen Feuer empor. Daher fehlt es ihnen auch an historischer Greifbarkeit und Plastik. Wenn ein Ereignis riesengroß ist und eine Idee einschließt — dann entfaltet es sich bei ihm mit all seinen geheimsten Nebenwirkungen; aber wenn es zu nah mit dem Leben und der Praxis in Berührung kommt, dann mangelt es ihm am bestimmten Kolorit. Wenn er sich herabläßt, einzelne Persönlichkeiten oder die Lenker der Geschichte zu schildern, dann erscheinen sie bei ihm lange nicht so deutlich wie die allgemeinen Gruppen und sie nehmen eine zu allgemeine Physiognomie an; sie sind entweder ganz gut oder ganz böse; alle die zahllosen Schattierungen der Charaktere, alle Verquickung und Mannigfaltigkeit der Eigenschaften, deren Erkenntnis nur einem Forscher zuteil wird, der die Menschen mit Mißtrauen betrachtet, alle diese Abstufungen verschwinden völlig bei ihm. Er ist unendlich weise in der Erforschung des idealen Menschen und der Menschheit, aber ein Kind in der Erkenntnis des wirklichen Menschen, und dies ist nur natürlich —, da ein Weiser immer groß ist in seinen Gedanken und unwissend in den Kleinigkeiten, die das Leben ausfüllen. Als Dichter steht er weit höher als Schlözer und Müller. Aber gerade weil er Poet ist, so erschafft und erarbeitet er alles in seinem Innern in seinem einsamen Arbeitszimmer; ganz ergriffen von einer höheren Offenbarung, wählte er stets nur das Schöne und Große, weil das nun einmal der Natur seiner erhabenen, reinen Seele entspricht. Aber das Hohe und Schöne reißt sich manches Mal von dem niedren und verachteten Leben los oder wird durch den Druck jener zahllosen und verschiedenartigen Erscheinungen, die soviel Buntheit in das menschliche Leben hineinbringen und deren Erkenntnis nur selten dem weltabgewandten Weisen zufällt, hervorgerufen. Sein Stil zeichnet sich vor dem der anderen durch Bilderreichtum und breite Pinselführung aus, er ist eben Dichter und hebt sich daher deutlich von dem ewig ruhigen und bedächtigen Müller, diesem Philosophen und Gesetzgeber, sowie von dem fast immer schroffen und unzufriedenen kritischen Philosophen Schlözer ab.

Mir scheint, wenn man Herders tiefe Schlüsse, die bis in die fernsten Anfänge der Menschheit reichen, mit dem schnellen, feurigen Blick Schlözers und der erfinderischen, weltgewandten Weisheit Müllers vereinigen könnte, dann hätten wir erst einen Historiker, der da fähig wäre, eine Weltgeschichte zu schreiben. Und doch würde ihm noch manches dazu fehlen; es würde ihm noch an jener dramatischen Kraft mangeln, die wir weder bei Schlözer, noch bei Müller, noch auch bei Herder finden. Ich verstehe unter dem Wort „dramatische Kraft“ nicht die Kunst, die darin besteht, einen guten Dialog zu führen, sondern die Fähigkeit, einem ganzen Werke jenen mitreißenden Schwung und jenes dramatische Interesse mitzuteilen, das manche von Schillers historischen Fragmenten, besonders die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, ausströmen und das fast jedes einfache Geschehnis auszeichnet. Doch zu allem Genannten möchte ich noch gern das Anziehende der Erzählergabe eines Walter Scott und seinen starken Sinn für alle feinen Nuancen hinzufügen. Nehmen wir dann noch Shakespeares Talent für die Entwicklung großer Charaktereigenschaften in den engsten Grenzen hinzu, dann, will es mir scheinen, hätten wir einen Historiker, wie er für eine Darstellung der Weltgeschichte erforderlich ist. Bis dahin aber werden Müller, Schlözer und Herder noch lange unsere großen Wegweiser bleiben. Sie haben viel, sehr viel Licht in die Weltgeschichte gebracht. Und wenn wir heute schon ein paar beachtenswerte geschichtliche Werke besitzen, so verdanken wir diese ihnen allein.

1832.

III
Der Newsky-Prospekt

E s gibt in Petersburg nichts Schöneres als den Newsky-Prospekt; für Petersburg wenigstens bedeutet er alles! Gibt es einen Vorzug, der dieser Schönen unter den Straßen, dieser Zierde unserer Hauptstadt, fehlte! Ich bin überzeugt, daß kein einziger von den blassen Beamten, die ihre Einwohnerschaft bilden, den Newsky-Prospekt — auch nicht für alle Herrlichkeiten der Welt — eintauschen würde. Sie alle sind ganz begeistert für den Newsky-Prospekt; nicht nur die Fünfundzwanzigjährigen, die prachtvolle Schnurrbärte und einen wundervoll sitzenden Rock tragen, nein, auch jene, denen schon weiße Haare ums Kinn sprießen, und deren Köpfe glatt sind wie silberne Schüsseln. Und erst die Damen! Oh! die Damen schwärmen noch viel mehr für den Newsky-Prospekt. Wem kann er denn auch nicht gefallen! Sobald man nur auf die Straße heraustritt, so erfaßt einen schon eine Feiertagsstimmung. Selbst wenn man etwas sehr Wichtiges vorhat, so vergißt man sicherlich sein Geschäft, sobald man den Newsky betritt. Dies ist der einzige Ort, wo die Menschen erscheinen, nicht, weil sie dort sein müssen, und wo sie weder die Notwendigkeit noch das Geschäftsinteresse hintreiben, die doch sonst ganz Petersburg gefangen halten. Es kommt einem so vor, als sei der Mensch, der einem auf dem Newsky begegnet, weniger egoistisch als der auf der Morskaja, der Gorochowaja, Liteinji, Meschtschanskaja und den anderen Straßen, wo der Geiz, die Habsucht und Geschäftigkeit auf allen Gesichtern ausgeprägt ist, die man vorbeikommen oder in Wagen und Droschken einherjagen sieht. Der Newsky ist der wichtigste Verkehrspunkt Petersburgs, wo alles sich begegnet. Der Bewohner der Petersburger oder der Wiborger Seite, der seinen Freund auf Peski oder am Moskauer Tor schon seit vielen Jahren nicht mehr besucht hat, kann ganz sicher sein, ihn hier zu treffen. Kein Adreßbuch und keine Auskunftsstelle kann einem so zuverlässige Nachrichten vermitteln, wie der Newsky-Prospekt. Der Newsky-Prospekt ist allmächtig. Er bildet die einzige Zerstreuung für das an Spaziergängen so arme Petersburg. Wie ist sein Trottoir so rein gefegt und, o Gott! wie viele Füße haben ihre Spuren auf ihm hinterlassen! Der plumpe, schmutzige Stiefel des verabschiedeten Soldaten, unter dessen Wucht scheinbar jeder Granitblock bersten müßte, der kleine, an Leichtigkeit einer Rauchwolke vergleichbare Schuh der jungen Dame, die ihr zierliches Köpfchen nach den glänzenden Ladenfenstern hinwendet, wie die Sonnenblume ihr Antlitz der Sonne zukehrt, und der rasselnde Säbel des hoffnungsvollen Leutnants, der eine tiefe Furche in das Pflaster gräbt — hier tritt alles zutage: die Gewalt der Kraft, wie die Macht der Schwäche. Welch schnelles phantastisches Spiel rollt sich im Lauf eines einzigen Tages hier ab! Wie viele Veränderungen erlebt er im Lauf von vierundzwanzig Stunden! Fangen wir mit dem frühen Morgen an, wenn ganz Petersburg nach heißem, frischgebackenem Brot riecht, und von alten Weibern in zerlumpten Kleidern und Mänteln angefüllt ist, die ihre Streifzüge durch die Kirchen beginnen und die weichherzigen Fußgänger überfallen. Ein wenig später ist der Newsky wieder ganz leer: noch liegen die wohlgenährten Ladenbesitzer und Kommis in ihren holländischen Hemden da und schlafen oder sie seifen ihre ehrwürdigen Backen ein und trinken ihren Kaffee; vor den Türen der Zuckerbäcker versammeln sich Bettler, und der schlaftrunkene Ganymed, der gestern noch gleich einer Fliege mit seiner Schokolade herumschwirrte, kriecht ohne Halsbinde und mit einem Besen in der Hand hervor und wirft ihnen altgebackene Kuchen und Brotreste zu. Auf der Straße trabt arbeitendes Volk einher, manches Mal überschreitet ein Haufen russischer Bauern, die zur Arbeit eilen, den Newsky; ihre Stiefel sind ganz mit Kalk beschmiert, und selbst der Katharinenkanal, der wegen seiner Sauberkeit bekannt ist, wäre nicht imstande, sie rein zu waschen. Um diese Zeit würde ich keiner Dame raten, dort spazierenzugehen, da das russische Volk sich solcher Ausdrücke zu bedienen pflegt, die sie wahrscheinlich nicht einmal im Theater zu hören bekäme. Manches Mal begegnet man auch einem schläfrigen Beamten mit einem Portefeuille unter dem Arm, wenn ihn der Weg nach dem Departement zufällig über den Newsky führt. Man kann wohl sagen, daß um diese Zeit d. h. bis 12 Uhr der Newsky für alle nur ein Mittel und nicht das eigentliche Ziel ist; er füllt sich allmählich mit Leuten, die sich durchaus nicht um ihn kümmern und nur an ihre Beschäftigung, ihre Sorgen und ihren Verdruß denken. Ein russischer Bauer läßt sich über ein Zehnkopekenstück oder gar über eine Kupfermünze im Werte von sieben Kopeken aus, Männer und alte Weiber gestikulieren mit den Händen oder halten Selbstgespräche, wobei sie mitunter recht bezeichnende Gesten machen, aber niemand hört auf sie oder lacht über sie, abgesehen etwa von ein Paar Jungen in buntgestreiften Kitteln mit leeren Flaschen oder neuen Stiefeln in den Händen, die wie ein Blitz auf dem Newsky hin und her schwirren. Um diese Zeit wird niemand darauf achten, wie Sie angezogen sind, selbst wenn Sie statt eines Hutes eine Mütze auf dem Kopfe hätten oder wenn Ihr Kragen aus ihrer Halsbinde hervorkröche.

Um 12 Uhr machen die Gouverneure und Erzieher aller Nationalitäten mit ihren Zöglingen, die Batistkragen tragen, ihren obligaten Spaziergang. Die englischen Johns und die französischen Hähne gehen Arm in Arm mit den ihrer väterlichen Obhut anvertrauten Zöglingen auf und ab und erklären ihnen voller Anstand und Würde, die Schilder seien deshalb über den Kaufläden angebracht, damit man von ihnen ablesen könne, was in einem jeden Laden zu haben sei. Zahlreiche Gouvernanten, blasse Misses und rosige Mademoiselles gehen wichtig hinter leichtfüßigen, koketten Fräuleins einher und schärfen ihnen ein, die linke Schulter höher zu ziehen und sich einer besseren Haltung zu befleißigen, kurz gesagt: um diese Zeit trägt der Newsky-Prospekt einen pädagogischen Charakter.

Doch je mehr der Zeiger gegen 2 Uhr vorrückt, um so mehr verringert sich die Zahl der Pädagogen, Gouvernanten und Kinder und schließlich werden sie ganz von ihren zärtlichen Vätern verdrängt, die ihre buntgekleideten, nervenschwachen Gefährtinnen am Arme führen. Allmählich gesellen sich auch noch die zu ihnen, die ihre so wichtigen häuslichen Angelegenheiten erledigt haben: sie mußten mit ihrem Arzt über das Wetter sprechen, ihm einen kleinen Pickel zeigen, der sich auf der Nase gebildet hatte, mußten sich nach dem Befinden ihrer Kinder und Pferde erkundigen, welch erstere übrigens eine große Begabung an den Tag legten; dann mußten sie einen Theaterzettel und einen wichtigen Zeitungsartikel über die neu angekommenen und abgereisten Personen lesen und endlich mußten sie noch ihren Kaffee trinken; ferner gesellen sich auch noch die zu ihnen, denen ein beneidenswertes Schicksal den segensreichen Beruf eines Beamten für besondere Aufträge bescherte; auch die schließen sich ihnen an, die in den ausländischen Ämtern dienen und sich durch die Vornehmheit ihrer Beschäftigung und ihrer Manieren auszeichnen. Mein Gott! was gibt es doch für herrliche Ämter und Berufe, wie erheben und erquicken sie unser Herz! Aber ach! ich selbst stehe nicht im Staatsdienst und habe nicht das Vergnügen, die feinen Umgangsformen eines Vorgesetzten an mir zu erproben. Alles, was man auf dem Newsky sieht, strotzt förmlich von Würde und Wohlanständigkeit; die Herren in ihren langen Röcken mit den Händen in den Taschen und die Damen in ihren rosa, weißen oder hellblauen Atlasjacken und ihren koketten Hütchen! hier kann man ganz ungewöhnlichen Backenbärten begegnen, die mit einer besonderen, geradezu staunenerregenden Geschicklichkeit hinter die Halsbinde gesteckt sind [5] , herrlichen sammetweichen Backenbärten, die wie Atlas glänzen, und schwarz sind wie der feinste Zobel oder ein Stück Kohle; aber ach! leider gehören diese immer nur Ausländern an. Denen, die in den andern Departements dienen, hat die Vorsehung die schwarzen Bärte versagt, und sie müssen zu ihrem großen Leidwesen rote tragen. Ferner trifft man hier so herrliche Schnurrbärte, daß keine Feder und kein Pinsel imstande wären, sie abzuschildern; Schnurrbärte, deren Pflege weitaus die größere Hälfte des Lebens gewidmet wird, die der Gegenstand einer dauernden Sorge bei Nacht und bei Tage sind; Schnurrbärte, die mit den herrlichsten Parfüms und Düften getränkt und mit den kostbarsten und seltensten Pomaden bestrichen sind; die des Nachts in das feinste Velinpapier gewickelt werden, die sich der rührendsten Anhänglichkeit ihrer Besitzer erfreuen und die den Neid aller Vorübergehenden erwecken. Hier wird jedermann geblendet durch die tausend verschiedenen Arten von Hüten, Kleidern und durch all die bunten und leichten Tücher, denen ihre Besitzerinnen häufig ganze zwei Tage lang die Treue bewahren. Es ist, als hätte sich ein ganzes Meer von Faltern von den zarten Blumenblüten erhoben und schwebe nun als leuchtende Wolke über den schwarzen Käfern, die durch das männliche Geschlecht repräsentiert werden. Hier begegnet man solchen Taillen, wie man sie nicht einmal im Traum zu sehen bekommt: feinen, schmalen Taillen, nicht dicker wie ein Flaschenhals, so daß man bei einer Begegnung mit ihren Besitzerinnen ehrerbietig zur Seite tritt, um nur nicht in unvorsichtiger Weise mit seinen unhöflichen Ellbogen gegen sie anzustoßen; es übermannt einen eine Schüchternheit und eine wahre Angst, daß man am Ende gar durch einen unvorsichtigen Atemzug dieses herrliche Gebilde der Natur und der Kunst zerstören könnte. Und was für Frauenärmel man auf dem Newsky antrifft! Nein, welch eine Pracht! Sie haben eine gewisse Ähnlichkeit mit zwei Luftballons, daß man meint, die Dame müßte sich plötzlich in den Äther emporschwingen, wenn der Herr sie nicht festhielte; denn es ist ebenso angenehm und leicht, eine Dame in die Höhe zu heben, wie ein volles Champagnerglas an die Lippen zu setzen. Nirgends begrüßt man sich so würdevoll und so ungezwungen wie auf dem Newsky-Prospekt. Hier kann man einem Lächeln begegnen, einem Lächeln, das einzig in seiner Art und über alle Kunst erhaben ist; man möchte mitunter dahinschmelzen vor Vergnügen über solch ein Lächeln; aber es gibt auch ein Lächeln, vor dem man ganz klein wird und zusammenknickt wie ein Grashalm, so daß man das Haupt senkt, und dann gibt es wieder eines, bei dem man sich höher fühlt als der Admiralitätsturm, und das uns wieder hoch emporhebt. Hier hört man mit außergewöhnlichem Anstand und einem hohen Gefühl der eigenen Würde von Konzerten und vom Wetter reden. Hier begegnet man einer Unzahl unergründlicher Charaktere und Erscheinungen. Gott im Himmel! was für sonderbaren Charakteren begegnet man nicht auf dem Newsky! Es gibt eine Menge von Menschen, die uns bei einer Begegnung stets auf die Füße sehen, und wenn wir vorübergegangen sind, sich umkehren und unsere Frackschöße betrachten. Ich kann bis jetzt nicht begreifen, was das zu bedeuten hat. Anfänglich meinte ich, es seien Schuhmacher, aber keine Spur davon! Gewöhnlich dienen sie in irgendeinem Departement, und viele von ihnen schreiben ausgezeichnete Berichte, die von einer Behörde an die andere gesandt werden, oder es sind Leute, die sich mit Spazierengehen oder in verschiedenen Konditoreien mit dem Lesen von Journalen beschäftigen, mit einem Wort, es sind meist sehr achtbare Menschen. Um diese gesegnete Zeit zwischen 2 und 3 Uhr nachmittags könnte man den Newsky-Prospekt die auf und ab wogende Hauptstadt nennen. Dann gleicht er einer Ausstellung der allerschönsten Erzeugnisse der Menschheit. Der eine läßt seinen feinen Rock mit dem schönsten Biberkragen sehen, ein anderer eine wundervolle griechische Nase, ein dritter einen herrlichen Backenbart, eine vierte ein Paar wunderbare Augen und ein reizendes Hütchen, ein fünfter einen Ring mit einem Talisman, den er am wohlgepflegten Daumen trägt, eine sechste einen Fuß in einem entzückenden Stiefelchen, ein siebenter eine staunenerregende Halsbinde, ein achter einen verblüffenden Schnurrbart, ... aber die Uhr schlägt drei — die Menschen verlaufen sich, und die Ausstellung verödet.

Um 3 Uhr findet ein neuer Dekorationswechsel statt! Auf dem Newsky wird es plötzlich Frühling! er füllt sich ganz mit Beamten in grünen Amtsfräcken. Hungrige Titulär-, Hof- und andre „Räte“ suchen aus allen Kräften ihre Schritte zu beschleunigen. Junge Kollegienregistratoren, Gouvernements- und Kollegiensekretäre beeilen sich noch schnell, ihre freie Zeit auszunutzen und sich auf dem Newsky zu zeigen, und kommen mit einem Anstand einhergegangen, als hätten sie bei Leibe keine sechs Stunden im Bureau gesessen. Dagegen kommen die alten Kollegiensekretäre, Titulär- und Hofräte schnell und mit gesenktem Kopfe vorbeigeschritten, sie haben keine Zeit, sich die Spaziergänger anzuschauen und haben sich noch nicht völlig von ihren Sorgen losgerissen; in ihren Köpfen summt und brummt es, da steckt ein ganzes Archiv von angefangenen und noch nicht abgeschlossenen Arbeiten, und statt der Kaufläden sehen sie nichts wie Konvolute von Akten und das runde Gesicht ihres Bureauchefs.

Von 4 Uhr an ist der Newsky leer, dann trifft man dort kaum noch einen Beamten. Höchstens eine Näherin, die mit einem Karton in der Hand über die Straße läuft oder das arme Opfer eines menschenfreundlichen Tischvorstehers in einem Friesmantel, einen zugereisten Sonderling, dem alle Stunden des Tages gleich viel bedeuten, eine lange, steife Engländerin mit einem Pompadour und einem Buch in der Hand, einen Bureaudiener, einen Russen mit einem dürftigen Bart, in einem baumwollenen Rock, dessen Taille beinahe oben am Halse sitzt, einen Menschen, dem man sofort die ganze Haltlosigkeit seiner Existenz ansieht, und bei dem sich alles bewegt, der Rücken, die Hände, die Füße und der Kopf, wenn er behutsam auf dem Trottoir einhergeht; oder man begegnet etwa noch einem kleinen Handelsmann — sonst trifft man um diese Zeit niemand auf dem Newsky-Prospekt.

Sobald sich jedoch die Dämmerung auf die Häuser und Straßen hinabsenkt und ein in eine Bastmatte gewickelter Nachtwächter langsam die Leiter besteigt, um die Laternen anzuzünden, sobald aus den niedrigen Fenstern der Kaufläden die Kupferstiche hervorgucken, die sich im Laufe des Tages nicht sehen lassen durften, dann belebt der Newsky sich wieder, dann kommt wieder Leben und Bewegung in ihn. Jetzt bricht jene geheimnisvolle Zeit an, wo die Lampen allen Dingen einen so verlockenden, wunderbaren Schimmer verleihen. Um diese Zeit begegnet man vielen jungen Leuten, meistenteils Hagestolzen in warmen Röcken und Mänteln. Um diese Zeit fühlt man, daß dieses alles einen Zweck, ein Ziel oder besser gesagt etwas Ähnliches wie ein Ziel bekommt, etwas ganz Besonderes und Unbestimmtes; jetzt beschleunigen alle ihre Schritte und bleiben dann wieder stehn, es kommt etwas Ungleichmäßiges, Unruhiges in ihre Bewegungen. Lange Schatten huschen über die Mauern und über das Pflaster hin und reichen mit ihren Köpfen fast bis zur Polizeibrücke. Junge Kollegienregistratoren, Gouvernements- und Kollegiensekretäre promenieren lange hin und her, während die alten Kollegienregistratoren, Titulär- und Hofräte größtenteils zu Hause sitzen, entweder weil sie verheiratet sind oder weil ihre deutschen Köchinnen so gut kochen. Jetzt trifft man wieder die alten, ehrwürdigen Herren, die mit so viel Würde und einem erstaunlichen Anstand um 2 Uhr auf dem Newsky spazierengingen. Allein, jetzt sieht man sie ebenso laufen wie die jungen Kollegienregistratoren, um einer von Ferne herannahenden Dame unter den Hut zu gucken. Die vollen, mit dicker roter Schminke bedeckten Lippen und Wangen gefallen nämlich vielen Spaziergängern, hauptsächlich jedoch den Handlungskommis, den Bureaudienern und den Kaufleuten, die lange deutsche Röcke tragen und Arm in Arm scharenweise daherkommen.

„Halt!“ rief um diese Zeit der Leutnant Piragow und hielt einen befrackten und in einen Mantel gehüllten jungen Mann, der neben ihm daherging, am Arme fest, „hast du gesehn?“

„Gewiß habe ich sie gesehn: eine echt peruginische Bianka!“

„Ja, von welcher sprichst du eigentlich?“

„Von ihr, von der da mit den dunklen Haaren; was für Augen, Gott! was für Augen! diese Figur, diese Züge, dies Oval des Gesichts — ein wahres Wunder!“

„Ach was, ich spreche von der Blonden, die hinter ihr nach jener Seite ging. Nun, warum gehst du denn der Brünetten nicht nach, wenn sie dir so gefällt?“

„Ich bitte dich, wo denkst du hin!“ rief tief errötend der junge Mann im Frack. „Als ob sie zu denen gehört, die des Abends auf dem Newsky herumspazieren; das ist gewiß eine feine Dame“ — fuhr er seufzend fort — „ihr Mantel allein kostet sicherlich 80 Rubel.“

„Du Grünschnabel!“ rief Piragow und stieß ihn mit Gewalt nach jener Richtung, wo ihr leuchtender Mantel wehte. „Geh, Einfaltspinsel, sonst entwischt sie dir! ich gehe der Blonden nach!“ Und beide Freunde trennten sich.

„Wir kennen euch!“ dachte Piragow mit einem selbstzufriedenen und selbstbewußten Lächeln; er war davon überzeugt, daß es keine Schöne gab, die ihm widerstehen könnte.

Der junge Mann im Frack und im Mantel ging schüchtern und ängstlichen Schritts nach jener Seite, wo fern von ihm der bunte Mantel flatterte; wenn das Licht der Laterne auf ihn fiel, so leuchteten seine Farben grell auf, um dann wieder fern im Dunkel zu verschwinden. Das Herz des jungen Mannes schlug heftig, und er beschleunigte unwillkürlich seine Schritte. Er wagte gar nicht daran zu denken, daß er die Aufmerksamkeit der sich entfernenden Schönen auf sich ziehen könnte, und noch viel weniger konnte er einen so schwarzen Gedanken zulassen, wie Piragow ihn angedeutet hatte; aber er wollte gern das Haus sehen und sich die Wohnung dieses herrlichen Geschöpfs merken, das direkt vom Himmel auf den Newsky herabgeflogen zu sein schien und wahrscheinlich wieder, Gott weiß wohin, entschwinden würde; und er rannte so schnell vorwärts, daß er in einem fort allerhand solide Herren mit ergrauten Backenbärten vom Trottoir herunterstieß.

Dieser junge Mann gehörte einer Klasse von Menschen an, die bei uns eine recht merkwürdige Erscheinung bilden und ebensowenig unter die Einwohner Petersburgs gehören wie unsere Traumbilder in die reale Welt. Man begegnet diesem außerordentlichen Typus nur ganz selten in einer Stadt, wo fast alle Bewohner Beamte, Kaufleute oder deutsche Handwerker sind. Das war ein Künstler! Nicht wahr, das ist doch eine merkwürdige Erscheinung? Ein Petersburger Künstler! Ein Künstler im Lande des Schnees! im Lande der Finnen, wo alles naß, eben, glatt, blaß, grau und neblig ist! Diese Künstler haben durchaus keine Ähnlichkeit mit den italienischen Künstlern, die stolz und leidenschaftlich sind wie das italienische Land und der italienische Himmel, im Gegenteil, die Petersburger Künstler sind meistens ein braves, schlichtes Völkchen, sie sind schüchtern und sorglos, lieben im stillen ihre Kunst, trinken im kleinen Stübchen ihren Tee mit zwei guten Kameraden, reden bescheiden von ihrem Lieblingsthema und träumen nicht einmal von Luxus oder Überfluß. Stets laden sie irgendein altes Bettelweib zu sich ein und lassen es sechs Stunden bei sich sitzen, um ihr jämmerliches, stumpfes Gesicht auf die Leinwand zu werfen. Sie malen die Perspektive ihres Zimmers, in dem sich allerhand malerischer Plunder herumtreibt: Gipshände und -füße, die mit der Zeit durch den Staub eine kaffeebraune Farbe angenommen haben, zerbrochene Staffeleien, eine hingeworfene Palette, ein Freund, der Guitarre spielt, Wände, die mit Farbenklecksen beschmiert sind, oder ein offenes Fenster, durch das man in der Ferne die blasse Newa und ein paar arme Fischer in roten Hemden sieht. Die Arbeiten dieser Künstler haben fast immer ein graues, trübes Kolorit — diesen unauslöschlichen Stempel des Nordens. Trotz alledem sind sie stets mit wahrhaftem Genuß bei der Arbeit. Häufig lebt in ihnen ein echtes Talent, und wenn nur die frische Luft Italiens sie umwehte, so würde es sich sicherlich ebenso frei, ungehemmt und herrlich entwickeln, wie eine Pflanze, die man aus dem Zimmer in die frische, reine Luft trägt. Diese Künstler sind sehr schüchtern; ein Stern oder eine dicke Epaulette bringen sie schon in solch eine Verwirrung, daß sie sofort mit dem Preis für ihre Werke herabgehen. Manches Mal lieben sie es, sich zu putzen und schön zu machen, aber ihre Eleganz wirkt immer herausfordernd und macht den Eindruck eines Flickens auf einem alten Kleidungsstück. Zuweilen sieht man sie in einem ausgezeichneten Frack und einem schmutzigen Mantel oder in einer teuren Sammtweste und einem ganz befleckten Rock daherkommen. Dann erinnern sie an eine ihrer unvollendeten Landschaften, auf der man häufig eine auf dem Kopf stehende Nymphe entdecken kann, da der Künstler die Landschaft einfach auf eine schon bemalte Leinwand, ein altes Bild, das er einstmals mit Begeisterung begonnen, hingemalt hat, weil er gerade keine andere Leinwand zur Verfügung hatte. Solch ein Künstler sieht niemand gerade ins Auge; wenn er einen ansieht, so ist sein Blick trübe und unbestimmt; er durchbohrt Euch nicht mit dem Habichtauge des Forschers oder mit dem Falkenblick eines Kavallerieleutnants. Dies kommt daher, weil er stets Ihre Züge und zugleich die irgendeines Herkules aus Gips beobachtet, der bei ihm im Zimmer steht, oder weil ihm das Bild vorschwebt, das er demnächst malen will. Daher gibt er Euch auch oft falsche und unzusammenhängende Antworten, und die Gedanken, die in seinem Hirn durcheinanderschwirren, vergrößern noch seine Schüchternheit.

Zu dieser Art von Leuten gehörte auch der oben erwähnte junge Mann — der Künstler Piskarjow; er war sehr schüchtern und bescheiden, aber in seiner Seele lebte doch ein Funke von Gefühl, der im gegebenen Moment zur Flamme werden konnte. Mit einem geheimen Bangen eilte er dem Gegenstande seiner Bewunderung nach, der einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte, und er schien sich selbst über seine Dreistigkeit zu wundern. Die Unbekannte, die seine Augen, seine Gefühle und seine Gedanken so ganz gefangengenommen hatte, wendete plötzlich ihr Köpfchen und sah ihn an! Gott! welch göttliche Züge! Die herrliche, blendend weiße Stirn war von wundervollen Haaren eingerahmt, die schwarz waren wie Achat; sie kräuselten sich in prachtvollen Locken, ein Teil fiel unter dem Hut hervor und berührte die von der abendlichen Kälte leicht getöteten Wangen. Um ihre fest geschlossenen Lippen spielte ein Schwarm von entzückenden Träumen. Alles, was uns von den Erinnerungen unserer Kindheit übrigbleibt — alles, was beim Schein des Lämpchens vor dem Heiligenbilde unsere Schwärmerei und stille Begeisterung weckt — alles dies schien sich auf diesen Lippen voll wundersamer Harmonie zu vereinigen, ineinanderzufließen und widerzuspiegeln. Sie sah Piskarjow an, und sein Herz erzitterte bei diesem Blick, sie sah ihn voller Strenge an, und ein Gefühl der Empörung über diese freche Verfolgung sprach aus ihren Zügen; aber auf diesem herrlichen Antlitz hatte selbst der Zorn etwas Bezauberndes. Von Scham und Schüchternheit übermannt, blieb er stehen und schlug die Augen nieder; aber wie konnte er nur diese Gottheit aus den Augen verlieren, ohne das Heiligtum kennen gelernt zu haben, in dem sie sich niedergelassen hatte. Solche Gedanken schossen unserem jungen Schwärmer durch den Kopf, als er sich entschloß, ihr zu folgen. Damit dies jedoch nicht bemerkt würde, folgte er ihr aus weiter Ferne, blickte sich sorglos nach allen Seiten um und sah sich die Schilder an den Häusern an, ließ aber dabei die Unbekannte keinen Moment aus den Augen. Die Zahl der Spaziergänger wurde geringer, und auf der Straße wurde es stiller, da sah sich die Schöne um, und es schien ihm, als kräusele ein leichtes Lächeln ihre Lippen. Ein Zittern lief ihm durch alle Glieder: er wollte seinen Augen nicht trauen. Nein, es war wohl nur die Laterne, die ihm mit ihrem trügerischen Licht dies Lächeln vorgegaukelt hatte. Allein, der Atem stockte in seiner Brust, alles in ihm erzitterte, alle seine Sinne erglühten, und ein seltsamer Nebel hüllte alles vor ihm ein. Das Trottoir bewegte sich unter seinen Füßen, die Wagen und die vorüberjagenden Pferde schienen stillzustehn, die Brücke dehnte sich immer mehr in die Länge und barst über ihrem Bogen auseinander, die Häuser standen auf dem Kopfe, ein Wächterhäuschen stürzte auf ihn zu, und die Hellebarde des Wächters, die goldenen Buchstaben der Schilder mit der darauf gemalten Schere: alles leuchtete und blitzte unmittelbar vor seinen Augenwimpern auf. Und dies alles hatte der einzige Blick, die eine Wendung des schönen Köpfchens hervorgerufen. Taub, blind und gedankenlos folgte er den zarten Spuren der niedlichen Füßchen und versuchte die Hast seiner Schritte, die nach dem Takt seines Herzschlages dahinstürmten, zu mäßigen. Manches Mal packte ihn der Zweifel: war wirklich der Ausdruck ihres Gesichtes so freundlich gewesen? — und er blieb einen Augenblick stehn, aber das Pochen seines Herzens, eine unüberwindliche Gewalt, die Erregung all seiner Sinne trieb ihn immer wieder vorwärts. Er merkte gar nicht, wie sich auf einmal ein vierstöckiges Haus vor ihm erhob, das mit seinen vier erleuchteten Fensterreihen auf ihn herabsah, und wie er plötzlich gegen das eiserne Geländer vor der Einfahrt stieß. Er sah, wie die Unbekannte die Treppe hinaufflog; dann aber drehte sie sich um, legte den Finger auf die Lippen und gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Seine Knie zitterten ihm, seine Gefühle und Gedanken glühten, ein wunderbares Glücksgefühl traf wie ein Blitz mit schneidender Schärfe sein Herz. Nein, das war doch kein Traum! Gott! so viel Glück in einem einzigen Augenblick! welch herrliches Leben in diesen kurzen zwei Minuten.

Aber war es auch wirklich kein Traum? War sie, für deren himmlischen Blick er bereit war, sein ganzes Leben zu opfern, deren Wohnstätte nahe zu sein, er schon für ein unaussprechliches Glück hielt — war sie denn wirklich jetzt eben so freundlich und so aufmerksam gegen ihn gewesen? Er flog die Treppen hinauf. Er war keines irdischen Gedankens fähig, und keine irdische Leidenschaft loderte mehr in ihm. Nein, in diesem Augenblick war er rein und makellos wie ein reiner, keuscher Jüngling, den nur ein unbestimmtes, geistiges Liebesbedürfnis erfüllte. Und was in einem lasterhaften Menschen kühne und häßliche Wünsche geweckt hätte, das läuterte seine Gefühle nur noch mehr. Das Vertrauen, das ihm das herrliche schwache Geschöpf entgegenbrachte, dies Vertrauen verpflichtete ihn zu dem Gelübde, mit ritterlicher Strenge und sklavischer Unterwerfung all ihre Befehle zu erfüllen. Er wünschte nur, daß die Aufgaben, die sie ihm stellen würde, so schwer als möglich, ja, geradezu unausführbar wären, damit er mit voller Anspannung aller seiner Kräfte hinfliegen könnte, sie zu überwinden. Er zweifelte nicht daran, daß irgendein geheimnisvolles und wichtiges Ereignis die Unbekannte bewogen hätte, sich ihm anzuvertrauen, daß sicherlich bedeutende Dienstleistungen von ihm gefordert werden würden, und er fühlte schon die Kraft und die Entschlossenheit in sich, die ihn zu allem fähig machte.

Die Treppe wand sich immer mehr hinauf, und mit ihr drehten sich seine Träume und Gedanken im Kreise herum. „Steigen Sie vorsichtiger hinauf,“ erklang eine Stimme gleich einer Harfe und ließ all seine Sinne von neuem erbeben. Auf dem dunklen Treppenabsatz des vierten Stockwerkes klopfte die Unbekannte an die Tür; sie öffnete sich, und sie traten zusammen ein. Eine hübsche Frau kam ihnen mit einem Licht entgegen; allein, sie sah Piskarjow so eigentümlich und frech an, daß er unwillkürlich die Augen senkte. Sie traten ins Zimmer. Er erblickte in drei verschiedenen Ecken drei weibliche Figuren. Die eine legte Karten, die zweite saß vor einem Klavier und spielte mit zwei Fingern etwas wie eine elende Melodie einer altmodischen Polonäse, die dritte saß vor dem Spiegel und kämmte ihr langes Haar mit einem Kamm, und es fiel ihr nicht ein, beim Eintritt des Fremden ihre Beschäftigung zu unterbrechen. Überall herrschte eine peinliche Unordnung, wie man sie sonst nur im Zimmer eines sorglosen Hagestolzen antrifft. Die noch ziemlich gut erhaltenen Möbel waren mit Staub bedeckt, ein Spinngewebe überzog die Stuckarbeit des Gesimses, durch die halbgeöffnete Tür des benachbarten Zimmers sah man einen mit einem Sporn versehenen Stiefel und den roten Aufschlag eines Uniformrockes, und den Eintretenden drang ganz ungeniert eine laute männliche Stimme und das Gelächter einer Frau entgegen.

Mein Gott, wo war er hineingeraten! Anfangs traute er kaum seinen Augen und fing an, sich die Gegenstände im Zimmer genauer anzusehen; aber die nackten Wände, die Fenster, die durch kleine Vorhänge verhängt waren, deuteten durchaus nicht auf die Gegenwart einer sorgsamen Hausfrau; die schlaffen gealterten Züge dieser elenden Geschöpfe, von denen das eine sich gerade vor seine Nase hingesetzt hatte und ihn ebenso ruhig betrachtete, wie einen Fleck auf einem fremden Kleide, alles überzeugte ihn davon, daß er in eins jener häßlichen Asyle geraten sei, wo das gemeine Laster, das von einer falschen Überkultur und der großen Übervölkerung der Hauptstadt erzeugt wird, sich eine Wohnstätte gegründet hatte — eins jener Asyle, wo der Mensch alles Reine und Heilige, das unser Leben verschönt, schändet und erstickt, wo das Weib, dies schönste Wunderwerk dieser Welt, die Krone der Schöpfung, sich in ein merkwürdiges, zweideutiges Wesen verwandelt hat, wo es mit dem Verlust seiner Seelenreinheit auch alle Weiblichkeit verliert, sich in widerwärtiger Weise die Manieren und das freche Wesen der Männer aneignet, und wo es aufhört, das herrliche, schwache Geschöpf zu sein, das sich seiner ganzen Natur nach so sehr von uns unterscheidet. Piskarjow maß sie vom Kopf bis zu den Füßen mit seinen Blicken, als wolle er sich noch einmal davon überzeugen, ob sie auch wirklich dasselbe Wesen sei, das ihn auf dem Newsky so bestrickt und so weit mit sich fortgeführt hatte. Aber auch jetzt war sie, wie sie da vor ihm stand, noch immer so schön wie vorhin; ihr Haar war noch ebenso herrlich, und ihre Augen erschienen ihm noch immer wahrhaft göttlich. Sie war jung und frisch, kaum 17 Jahre alt — man sah es ihr an, daß das furchtbare Laster sie erst vor kurzem ergriffen hatte! Es hatte sich noch nicht an ihre Wangen herangewagt, sie waren noch frisch, zart und rosig; mit einem Wort, sie war wunderbar schön.

Ganz in ihren Anblick versunken stand er da, und schon wollte er sich in seiner schlichten Weise, wie früher seinen Träumereien hingeben. Aber dieses lange Schweigen langweilte die Schöne; sie lächelte bedeutungsvoll und sah ihm gerade in die Augen. Allein dieses Lächeln hatte etwas Gemeines und Freches, war so sonderbar und paßte so schlecht zu ihrem Gesichte, wie etwa der Ausdruck der Frömmigkeit zu der Fratze eines bestechlichen Beamten oder ein Kontobuch zu einem Poeten. Piskarjow erbebte. Sie öffnete ihre reizenden Lippen und fing an zu reden, aber was sie sagte, war alles so dumm und abgeschmackt ... wie wenn zugleich mit der Tugend auch der Verstand den Menschen verließe! Er wollte nichts mehr hören ... und machte einen furchtbar komischen und einfältigen Eindruck wie ein Kind! Statt ihr Entgegenkommen auszunutzen, statt sich über solch einen Zufall zu freuen — über den sich jeder andere an seiner Stelle ohne Zweifel gefreut hätte — stürmte er, so schnell ihn seine Füße trugen, wie ein Reh auf die Straße.

Gesenkten Hauptes und die Hände in den Schoß gelegt, saß er in seinem Zimmer wie ein armer Bettler, der am Meeresufer eine kostbare Perle gefunden hat und sie wieder ins Wasser fallen ließ. „So eine Schönheit! Solch göttliche Züge! Doch wo mußte ich sie finden? an welchem Ort! ...“ das war alles, was er sagen konnte.

Wahrlich, nie werden wir mächtiger vom Mitleid erfaßt, als beim Anblick der Schönheit, die der verderbliche Odem des Lasters gestreift hat. Ja, wenn sich noch das Häßliche mit ihm verbände, aber die Schönheit, die zarte Schönheit! ... Nur mit der Tugend und mit der Reinheit vereint sie sich in unseren Gedanken. Das schöne Mädchen, das den armen Piskarjow so bestrickt hatte, war wirklich eine wundersame und ungewöhnliche Erscheinung. Aber ihre Anwesenheit in diesem verächtlichen Kreise erschien um so unerklärlicher. Ihre Züge waren so herrlich geformt, der Ausdruck des schönen Gesichts war so edel, daß man durchaus nicht glauben konnte, das Laster habe schon seine Krallen in sie hineingeschlagen. Für einen leidenschaftlichen Gatten wäre sie eine Perle, für die kein Preis zu hoch, seine ganze Welt, sein Paradies, sein ganzer Reichtum gewesen; in einem bescheidenen Familienkreise hätte sie wie ein herrlicher, stiller Stern geleuchtet und mit einer Bewegung ihres wunderschönen Mundes ihre süßen Befehle erteilt. In einem von Menschen erfüllten Saale auf blankem Parkett, bei Kerzenglanz wäre sie eine Gottheit gewesen; eine Schar von Verehrern hätte in wortloser Anbetung zu ihren Füßen gelegen. Aber ach, der furchtbare, teuflische Wille des bösen Geistes, der darnach lechzt, die Harmonie dieses Lebens zu zerstören, hatte sie mit Hohngelächter in diesen schrecklichen Abgrund gestürzt.

Völlig hingenommen von herzzerreißendem Mitleid, saß Piskarjow vor der zusammengeschmolzenen Kerze. Die Mitternacht war längst vorüber, die Turmuhr schlug halb eins, aber er saß noch immer unbeweglich, schlaflos und gedankenlos vor sich hindämmernd da. Schon wollte der Schlummer seine Unbeweglichkeit benützend, ihn leise überwältigen, das Zimmer fing an, vor seinen Blicken zu versinken, und der Kerzenschimmer blinkte noch leise durch die ihn gefangen haltenden Träume, als plötzlich ein Klopfen, das an der Türe ertönte, ihn aufschreckte und wieder ermunterte. Die Tür öffnete sich, und ein Diener in einer eleganten Livree trat ein. Noch nie hatte eine so reiche Livree sein einsames Zimmer aufgesucht. Und noch dazu zu dieser ungewöhnlichen Stunde ... er begriff nichts und starrte mit ungeduldiger Neugierde auf den eintretenden Diener.

„Die Dame,“ sagte der Diener, sich höflich verneigend, „bei der Sie die Güte hatten, vor ein paar Stunden vorzusprechen, bittet Sie, zu ihr zu kommen, und hat den Wagen nach Ihnen geschickt.“

Piskarjow stand in sprachloser Verwundrung da, ein Wagen und ein Livreediener! ... Nein, hier lag sicher ein Mißverständnis vor ...

„Hören Sie, mein Lieber,“ sagte er schüchtern, „Sie haben sich gewiß in der Tür geirrt. Wahrscheinlich hat Ihre Herrin Sie zu einem anderen Herrn geschickt und nicht zu mir.“

„Nein, mein Herr, ich irre mich nicht. Sie haben doch die Dame zu Fuß nach Hause begleitet: bis in ihr im vierten Stock gelegenes Zimmer in der Liteinaja?“

„Ja, das habe ich getan.“

„Nun, dann kommen Sie bitte schnell mit mir, meine Herrin will Sie durchaus sehen und bittet Sie, zu ihr ins Haus zu kommen.“

Piskarjow lief die Treppe hinab. Auf dem Hofe stand wirklich ein Wagen. Er setzte sich hinein, die Tür schlug zu, die Pflastersteine erdröhnten unter den Rädern und Hufen der Pferde, und die erleuchteten Fassaden der Häuser mit den grellen Schildern und Laternen flogen an den Wagenfenstern vorüber. Während der Fahrt zerbrach sich Piskarjow den Kopf, er wußte nicht, wie er sich dies Abenteuer erklären sollte. Ein eigenes Haus, der Wagen, der Livreediener ... dies alles stimmte durchaus nicht zu dem Zimmer im vierten Stock, zu den staubigen Fenstern und dem verstimmten Klavier. Der Wagen hielt vor einer hell erleuchteten Einfahrt, und zu seinem Erstaunen erblickte Piskarjow eine Reihe Equipagen und hell erleuchtete Fenster, er vernahm die Unterhaltung der Kutscher, Musik usw. ... Ein vornehmer Livreediener hob ihn aus dem Wagen und führte ihn ehrfurchtsvoll in ein mit Marmorsäulen verziertes Vorhaus; der goldstrotzende Portier und die umherliegenden Mäntel und Pelze, alles war von dem grellen Lichte einer Lampe erleuchtet. Eine luftige Treppe, mit einem blitzenden Geländer, führte, umfächelt von aromatischen Düften, nach oben. Ohne recht zu wissen wie, hatte er sie erstiegen und nun trat er in den ersten Saal, aber schon beim ersten Schritt fuhr er erschreckt durch die vielen Menschen zurück.

Die ungewöhnliche Buntheit der anwesenden Gäste brachte ihn vollends in Verwirrung; es schien ihm, daß irgendein Dämon die ganze Welt in eine Menge winziger Stücke zerbröckelt und dann diese Stücke ohne Sinn und Verstand durcheinandergewirbelt hätte. Blendende Frauenschultern, schwarze Fräcke, Kronleuchter und Lampen, duftige, fliegende Gazeschleier, ätherische Bänder und ein dicker Konterbaß, der über dem Geländer des wundervollen Chors hervorlugte, dies alles glänzte und glitzerte vor seinen Augen. Plötzlich sah er so viele ehrwürdige Greise und ältere Männer mit Sternen auf den Fräcken, und Damen, die so leicht, stolz und graziös über das Parkett schwebten oder in langen Reihen nebeneinander saßen, er hörte so viele französische und englische Wörter, und die jungen Leute in den schwarzen Fräcken trugen einen so edlen Anstand zur Schau, sprachen oder schwiegen mit so viel Würde, verstanden es so vorzüglich, nur das Allernotwendigste zu sagen, scherzten so herablassend, lächelten so höflich, hatten solch herrliche Backenbärte und wußten so geschickt ihre schönen Hände zu zeigen, indem sie ihre Halsbinde zurecht rückten; die Damen waren so duftig, so ganz hingenommen von einer absoluten Selbstzufriedenheit und Wonne, sie senkten so entzückend die Augen, — daß ... Aber schon das völlig verschüchterte Wesen Piskarjows, der sich ängstlich an eine Säule drückte, ließ seine vollständige Verwirrung erkennen. Währenddessen hatte die Gesellschaft einen Kreis um eine tanzende Gruppe gebildet. Die Tänzerinnen schwangen sich in durchsichtige Schöpfungen der Pariser Modekunst, in Stoffe gehüllt, die ganz aus Luft gewebt schienen, im Kreise herum; sie berührten das Parkett nur ganz oberflächlich mit ihren funkelnden Füßchen und erschienen dadurch noch ätherischer, als wenn sie es überhaupt nicht berührt hätten. Eine von ihnen war noch schöner, kostbarer und glänzender gekleidet als die andern. Ihr ganzes Kostüm zeugte von einer wundersamen Harmonie und einem erlesenen Geschmack, und dabei hatte es den Anschein, als kümmerte sie sich gar nicht darum und als hätte sich diese Harmonie von selbst über sie ergossen. Sie schien die sie umgebende Schar der Zuschauer wohl zu bemerken und bemerkte sie auch wieder nicht, die schönen, langen Wimpern waren gleichgültig gesenkt, und ihre blendendweiße Gesichtsfarbe fiel noch mehr in die Augen, wenn bei einer leichten Senkung des Köpfchens ein schwacher Schatten auf ihre entzückende Stirn fiel.

Piskarjow strengte alle seine Kräfte an, um sich einen Weg durch die Masse der Zuschauer zu bahnen, um sie besser sehen zu können, aber zu seinem größten Verdruß verdeckte ein ungeheurer Kopf mit schwarzem Lockenhaar in einem fort die Tänzerin; dabei sah er sich bald so von der Menge eingezwängt, daß er weder vorwärts noch rückwärts zu gehen wagte, aus Furcht, mit irgendeinem Geheimrat zusammenzustoßen. Endlich jedoch war es ihm auf irgendeine Art gelungen, sich bis nach vorne vorzudrängen und er warf einen Blick auf seine Kleider, um sie ein wenig in Ordnung zu bringen. Aber allmächtiger Gott: Was war das? Er hatte seinen alten Rock an, der voller Farbenflecken war; in der Eile des Aufbruchs hatte er es nämlich ganz vergessen, sich in einen anständigen Anzug zu werfen. Er wurde rot bis über die Ohren, ließ den Kopf hängen und wollte in die Erde versinken, aber es war wirklich keine Versenkung da, in der er hätte verschwinden können: hinter ihm stand eine ganze Mauer von eleganten Kammerjunkern in hochfeinen Uniformröcken. Er wünschte sich so weit fort als nur möglich von der Schönen mit der herrlichen Stirn und den entzückenden Wimpern. Voller Angst hob er die Augen, um zu sehen, ob sie ihn wohl gar anblickte. O Gott, sie stand ja vor ihm! Aber was war das? Was war das? — „Sie ist es!“ schrie er fast mit Aufgebot all seiner Kräfte. Es war wirklich dieselbe Schöne, die er auf dem Newsky-Prospekt getroffen und die er dann nach Hause begleitet hatte.

Unterdessen aber hatte sie die Wimpern erhoben und sah alle mit ihrem klaren Blick an. „O Gott, wie schön ist sie! ...“ das war alles, was er stockenden Atems sagen konnte. Sie suchte den ganzen Kreis mit ihren Augen ab; alle lechzten förmlich darnach, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, aber sie blickte nur mit einer gewissen Ermüdung und Gleichgültigkeit wieder weg, und ihre Augen begegneten denen Piskarjows. Welch ein Himmel! Welch ein Paradies lag in diesem Blick! Allmächtiger Gott! Woher wollte er die Kraft nehmen, ihn zu ertragen, sein Herz vermochte ihn nicht auszuhalten, es mußte zerreißen und die Seele mit sich entführen! Sie gab ihm ein Zeichen, aber nicht mit der Hand, noch durch eine Neigung des Kopfes, nein — dieses Zeichen lag in dem Blick ihrer verführerischen Augen, in einem so feinen, unmerklichen Ausdruck, daß niemand ihn bemerken konnte; — er aber bemerkte — er verstand ihn. Der Tanz dauerte lange, die müde Musik schien ersterben und erlöschen zu wollen, aber sie raffte sich wieder auf und tönte kreischend und laut schmetternd durch den Saal; da endlich — war der Tanz zu Ende! Die schöne Frau setzte sich nieder, ihr Busen hob und senkte sich unter den zarten Wolken des Gazestoffes; ihre Hand (Gott, was war das doch für eine wundervolle Hand!) sank auf ihre Knie, und fiel schwer auf das durchsichtige Kleid; dem Kleide schien unter dieser Berührung Musik zu entströmen, und die zarte Fliederfarbe ließ das blendende Weiß der schönen Hand noch deutlicher hervortreten. Nur einmal diese Hände berühren — und dann nichts mehr! Keinen anderen Wunsch mehr — jeder andere wäre zu kühn gewesen ... Er stand hinter ihrem Stuhl und wagte es nicht, etwas zu sagen oder Atem zu holen — „Sie haben sich wohl gelangweilt?“ fragte sie, „ich habe mich auch gelangweilt. Ich merke es wohl, daß Sie mich hassen,“ fügte sie hinzu und senkte ihre langen Wimpern.

„Sie hassen? ich? ..“ wollte der völlig fassungslose Piskarjow ausrufen und er hätte gewiß noch eine ganze Menge unzusammenhängender Worte hervorgebracht, aber in diesem Augenblick trat ein Kammerherr mit einem sehr schönen, gelockten Toupet hinzu und machte ein paar witzige und angenehme Bemerkungen. Er lächelte freundlich, ließ hierbei eine Reihe schöner Zähne sehen und schien mit jedem Witz einen Nagel in Piskarjows Herz zu treiben. Zum Glück wandte sich endlich einer von den Anwesenden mit einer Frage an den Kammerherrn.

„Wie unerträglich ist das!“ sagte sie und hob ihre himmlischen Augen zu ihm empor. — „Ich will mich am andern Ende des Saales hinsetzen, kommen Sie zu mir!“ Sie glitt durch die Menge und entschwand seinen Blicken. Halb wahnsinnig machte er sich zwischen den Leuten hindurch Bahn und war gleich darauf an ihrer Seite.

„Ja, das war sie!“ Sie saß da wie eine Königin, schöner und herrlicher als alle andern, und suchte ihn mit den Augen.

„Sie sind hier?“ sagte sie leise. „Ich will aufrichtig gegen Sie sein: die Art unserer Begegnung ist Ihnen gewiß sonderbar erschienen. Konnten Sie wirklich glauben, daß ich zu jener verächtlichen Menschenklasse gehöre, in deren Mitte Sie mich trafen? Mein Betragen scheint Ihnen merkwürdig, aber ich will Ihnen ein Geheimnis anvertrauen. Sind Sie auch imstande,“ sagte sie und sah ihm forschend in die Augen — „es nie jemand zu verraten?“

„O gewiß, ich schwöre Ihnen ...“

Aber in diesem Augenblick trat ein ältlicher Herr an sie heran, fing an, in einer Sprache, die Piskarjow unverständlich blieb, mit ihr zu reden, und reichte ihr den Arm. Sie warf Piskarjow einen flehenden Blick zu und gab ihm ein Zeichen, er solle auf seinem Platz bleiben und ihre Rückkehr abwarten, aber in seiner Ungeduld fühlte er sich außerstande, irgendeinen Befehl, und wäre es selbst der ihrige gewesen, zu empfangen. Er wollte ihr folgen, doch im Gedränge wurden sie voneinander getrennt. Er konnte das fliederfarbige Kleid nicht mehr entdecken, in höchster Unruhe eilte er aus einem Zimmer ins andere und stieß alle, die ihm entgegenkamen, unbarmherzig zur Seite. Allein in den Zimmern saßen nur vornehme und reiche Herren beim Whist und hüllten sich in ein stumpfes Schweigen. In einem Winkel stritten ein paar ältere Leute über die Vorzüge des Militärdienstes gegenüber denen des Zivildienstes, und in einer anderen Ecke machten einige junge Leute in eleganten Fräcken flüchtige Bemerkungen über das mehrbändige Werk eines ernsten Poeten. Piskarjow fühlte, wie ein ältlicher Herr von ehrwürdigem Äußeren ihn bei einem Knopf seiner Rocks ergriff und ihm eine sehr richtige Antwort auf eine Bemerkung von ihm erteilte, aber er stieß ihn grob von sich, ohne zu bemerken, daß der Herr einen recht hohen Orden um den Hals trug. Piskarjow lief in ein anderes Zimmer, sie war nicht da, dann in ein drittes — auch da war sie nicht zu finden. „Wo ist sie nur? Führt mich zu ihr! Oh! ich kann nicht ohne ihren Anblick leben! ich will wissen, was sie mir zu sagen hatte!“ Aber all sein Suchen war umsonst. Müde und ängstlich drückte er sich in eine Ecke, und blickte in die Menge vor ihm, doch seine müden Augen stellten ihm alles in unbestimmten Formen und Konturen dar. Endlich fing er an, die Wände seines eigenen Zimmers zu erkennen. Er blickte auf: vor ihm stand ein Leuchter, die Kerze war fast ganz heruntergebrannt und war im Begriff, zu verlöschen, das Licht war dahingeschmolzen, und der Talg hatte sich über den alten Tisch ergossen.

Er hatte also nur geschlafen. Gott, welch ein schöner Traum! warum mußte er nur wieder erwachen?! warum hatte er nicht noch eine Minute warten können! Gewiß wäre sie zurückgekommen! Das aufdringliche Morgengrauen, das ihn mit seinem trüben Lichte peinigte, blickte durchs Fenster hinein. Das Zimmer lag grau und trübe da: überall herrschte Unordnung ... Oh, diese abscheuliche Wirklichkeit, was war sie im Vergleich mit dem Traume? Er kleidete sich schnell aus, legte sich ins Bett und hüllte sich in die Decke ein, ganz von dem einen Wunsche erfüllt, das entflohene Traumbild wieder zurückzurufen. Der Traum zögerte auch nicht, sich einzustellen, aber er ließ ihn nicht sehen, was er sehen wollte: bald erschien der Leutnant Piragow mit einer Pfeife im Munde, bald der Diener aus der Akademie, bald ein Wirklicher Staatsrat, dann wieder der Kopf einer Finnländerin, die er einst gemalt hatte, und ähnlicher Unsinn.

Bis zum Nachmittag lag er im Bett, weil er wieder einschlafen wollte — aber die Schöne wollte nicht erscheinen. Wenn sie doch nur für einen Augenblick ihre wundervollen Züge vor ihm enthüllt, wenn er doch nur für einen Augenblick ihren leichten Schritt vernommen hätte, wenn ihr entblößter Arm nur für einen Moment, wie eine schneeweiße Wolke an seinen Blicken vorübergeschwebt wäre!

Er hatte alles von sich geworfen und alles vergessen und saß nun mit einer trost- und hoffnungslosen Miene da, ganz in sein Traumgesicht versunken. Er dachte nicht mehr daran, etwas zu unternehmen; teilnahmslos und leblos starrten seine Augen durchs Fenster auf den Hof, wo ein schmutziger Wasserträger Wasser ausgoß, das in der Luft gefror, und wo ein Verkäufer mit meckernder Stimme seine Ware feilbot: „ alte Kleider zu verkaufen .“ Alles Wirkliche und Alltägliche berührte sein Ohr fremd und seltsam. So saß er bis zum Abend da, dann warf er sich leidenschaftlich ins Bett. Lange kämpfte er mit der Schlaflosigkeit, aber endlich besiegte er sie. Wieder fing er an zu träumen, aber diesmal war es ein fader, häßlicher Traum. „Gott, erbarme Dich! Oh, laß mich sie sehen, wenn auch nur für einen Augenblick, für einen einzigen Augenblick!“ Er wartete wieder auf den Abend, schlief wieder ein und träumte von einem Beamten, der ein Beamter und zu gleicher Zeit ein Fagott war. „Oh! das ist unerträglich!“ rief er da. Endlich erschien sie ihm, ihr Köpfchen, ihre Locken ... sie sah ihn an ... aber ach, nur ganz kurze Zeit! Wieder senkte sich ein Nebel herab, ... und abermals versank er in einen dummen Traum.

Allmählich bildeten seine Träume den ganzen Inhalt seines Lebens, und von dieser Zeit ab nahm sein Leben eine merkwürdige Richtung an: man konnte sagen, er schlief — wenn er wach war, und er war wach — wenn er träumte. Wenn ihn jemand gesehen hätte, wie er ganz stumm vor seinem leeren Tisch saß, oder wie er auf der Straße einherging, er hätte ihn für einen Nachtwandler oder einen durch Alkohol vergifteten Narren gehalten; sein Blick war völlig ausdruckslos, seine angeborene Zerstreutheit entwickelte sich bis ins Maßlose und verjagte herrisch alle Bewegung und Empfindung aus seinem Gesicht, nur beim Anbruch der Nacht belebten sich seine starren Züge wieder.

Dieser Zustand zerrüttete seinen Organismus, aber die größte Qual brach erst für ihn an, als der Schlaf endlich anfing, ihn ganz zu fliehen. Vom Wunsche verzehrt, diesen seinen einzigen Schatz zu retten, wandte er alle Mittel an, um ihn wiederzuerlangen. Er erfuhr, daß es ein Mittel gäbe, das einem den Schlaf wiederbringt, dazu brauche man nur Opium zu nehmen. Aber wo sollte er sich dies Opium verschaffen! Piskarjow erinnerte sich eines Persers, der Ladenbesitzer war, mit persischen Schals handelte und ihn bei jeder Begegnung gebeten hatte, ihm doch ein schönes Frauenbildnis zu malen. In der Überzeugung, daß der Perser Opium besäße, entschloß er sich, zu ihm zu gehen.

Der Perser empfing ihn, mit verschränkten Beinen auf dem Diwan sitzend: „Wozu brauchst du Opium?“ fragte er ihn.

Piskarjow erzählte ihm von seiner Schlaflosigkeit.

„Gut, ich will dir Opium geben — aber male mir ein schönes Frauenbildnis dafür. Es muß jedoch wirklich schön sein! Sie muß schwarze Brauen und große Sammetaugen haben, und ich selbst will neben ihr liegen und meine Pfeife rauchen! Hörst du, aber schön muß sie sein, wunderschön, hörst du?“

Piskarjow versprach ihm alles. Der Perser ging auf einen Augenblick hinaus und kehrte dann mit einem Fläschchen, das mit einer schwarzen Flüssigkeit angefüllt war, zurück; vorsichtig goß er einen Teil davon in ein anderes Fläschchen und gab es Piskarjow mit der Weisung, nicht mehr als sieben Tropfen in Wasser zu nehmen. Piskarjow griff nach dem kostbaren Fläschchen, das er für keinen Goldklumpen wieder hergegeben hätte und lief Hals über Kopf nach Hause.

Kaum war er zu Hause angekommen, so goß er sich einige Tropfen in ein Glas Wasser, trank es hastig aus und warf sich auf sein Lager.

Mein Gott! welche Wonne war dies! Da war sie! Da war sie wieder, aber jetzt erschien sie ihm in einer ganz anderen Welt. Oh, wie reizend war das! da saß sie am Fenster eines hellen Landhäuschens; ihre Kleidung war von einer Schlichtheit, wie nur ein Poet sie ersinnen konnte. Ihre Haartracht ... Heiliger Gott, wie einfach war sie, und doch wie kleidsam! Der kurze Zopf fiel ihr auf ihren schlanken Nacken herab, alles an ihr war bescheiden, geheimnisvoll und deutete auf einen wunderbar edlen, feinen Geschmack. Wie graziös war ihr Gang, wie harmonisch der Takt ihrer Schritte und das Rauschen ihres schlichten Kleides! wie schön ihr Arm mit dem aus Haaren geflochtenen Armband! Mit Tränen in den Augen sagte sie zu ihm: „Verachten Sie mich nicht, ich bin nicht das, wofür Sie mich halten! Sehen Sie mich an! Blicken Sie mich aufmerksam an und sagen Sie dann: sollte ich denn wirklich dessen fähig sein — woran Sie denken? — O nein, nein, der solches zu denken wagte ... soll ...“

Er wachte gerührt, ja erschüttert, mit Tränen in den Augen auf. „Es wäre besser, du existiertest überhaupt nicht, sondern wärest die Schöpfung eines begeisterten Künstlers, ich würde nicht von der Leinwand weichen, oh, ich würde dich ewig anschauen und dich unaufhörlich küssen. Du wärest mein Leben, mein ganzes Sein die herrlichste Phantasie, und ich wäre glücklich. Ich hätte keinen Wunsch außer nach dir! Wie meinen Schutzengel würde ich dich anrufen, im Schlafe und wenn ich wach wäre, und wenn ich etwas Göttliches und Heiliges darstellen müßte, so würde ich auf dich warten, daß du mir erscheinest. Doch nun, was für ein entsetzliches Leben! Sie lebt — aber was nützt es mir! Ist denn das Leben eines Wahnsinnigen eine Freude für seine Angehörigen und seine Freunde, die ihn einstmals liebten?! Mein Gott, was ist unser Leben! Ein ewiger Streit zwischen Illusion und Wirklichkeit!“ — Solche und ähnliche Gedanken beschäftigten ihn unaufhörlich. Andere Interessen hatte er nicht, er dachte an nichts und aß fast gar nichts; voller Ungeduld und mit der Leidenschaft eines Liebhabers wartete er auf den Abend und die ersehnte Erscheinung. Diese beständige Richtung seiner Gedanken auf ein Ziel gewann schließlich solch eine Gewalt über sein ganzes Sein und seine Einbildungskraft, daß das ersehnte Bild fast täglich vor seinem inneren Auge erschien, aber immer in einer Umgebung, die der Wirklichkeit geradezu widersprach, denn seine Gedanken waren rein wie die Gedanken eines Kindes. Der Gegenstand seiner Liebe wurde durch seine Träume verwandelt und veredelt.

Der Gebrauch des Opiums erhitzte seine Gedanken immer mehr; wenn es einmal einen bis zum höchsten Grade des Wahnsinns ungestümen, qualvoll und verzehrend Verliebten gegeben hat, so war es dieser Unglückliche.

Der schönste von allen seinen Träumen war dieser: Er fand sich in seinem Atelier wieder, war froh gestimmt und saß selig mit der Palette in der Hand da. Auch sie war zugegen und war seine Frau. Sie saß neben ihm, stützte sich mit ihrem zierlichen Ellenbogen auf die Lehne seines Stuhles und sah zu, wie er arbeitete. In ihren dunklen, müden Augen lag eine lastende Fülle des Glücks, alles im Zimmer war durchtränkt von Seligkeit, überall herrschte Helligkeit, Ordnung und Sauberkeit. Himmlischer Gott! sie lehnte ihr herrliches Köpfchen an seine Brust ... Einen schöneren Traum hatte Piskarjow noch nie gehabt und er fühlte sich frischer und weniger zerstreut als vorher. Wundersame Gedanken regten sich in seinem Hirn: „Vielleicht,“ so dachte er, „vielleicht ist sie durch irgendeinen unverschuldeten, schrecklichen Zufall dem Laster verfallen, vielleicht sehnt sich ihre Seele nach Buße, vielleicht verlangt sie selbst danach, sich aus ihrer entsetzlichen Lage zu befreien. Darf man denn gleichgültig zusehen, wie sie zugrunde geht? wo es sich vielleicht nur darum handelt, ihr die Hand entgegenzustrecken und sie vor dem Ertrinken zu retten!“ Und seine Gedanken eilten immer weiter: „Mich kennt niemand,“ sagte er zu sich selbst, „wer kümmert sich um mich, und um wen brauche ich mich zu kümmern?! Wenn sie aufrichtig bereut und ihren Lebenswandel ändert, so — will ich sie heiraten. Ja, ich muß sie heiraten, ich werde verständig handeln! Wieviel Menschen gibt es, die ihre Wirtschafterinnen und manches Mal sogar ganz verwerfliche Geschöpfe heiraten; meine Tat wird uneigennützig und vielleicht sogar groß sein. Ich werde der Welt eine ihrer schönsten Zierden wiedergeben!“

Während er solch leichtsinnige Pläne schmiedete, fühlte er die Röte in seine Wangen steigen; er trat vor den Spiegel und erschrak über seine eingefallenen Züge und die Blässe seines Gesichts. Diesmal kleidete er sich sorgfältig an, wusch sich, kämmte sein Haar, warf sich in seinen neuen Frack und zog eine feine Weste an, legte den Mantel um und ging auf die Straße. Gierig sog er die frische Luft ein und fühlte ein Wohlbehagen in seinem Innern wie ein Genesender, der sich nach einer langwierigen Krankheit zum erstenmal entschlossen hat, an die Luft zu gehn. Als er sich der Straße näherte, die er seit der verhängnisvollen Begegnung nicht mehr betreten hatte, fing sein Herz heftiger an, zu pochen.

Lange suchte er nach dem Hause; es schien, das Gedächtnis versagte ihm den Dienst. Zweimal ging er die Straße auf und ab und wußte nicht, wo er stehnbleiben sollte. Endlich glaubte er das Haus gefunden zu haben. Schnell lief er die Treppe hinauf und klopfte an die Tür: die Tür öffnete sich, — und wer trat ihm entgegen? Sein Ideal! sein geheimnisvolles Traumbild, das Original seiner Phantasien — sie, die sein Alles, sein Leben, sein ganzes furchtbares, qualvolles und doch so süßes Leben ausmachte — sie stand vor ihm. Er erbebte; ganz überwältigt von der Freude, konnte er sich vor Schwäche kaum auf den Füßen halten. Sie stand vor ihm, noch ebenso schön wie ehemals; obgleich ihre Augen etwas trübe waren und eine leichte Blässe auf ihren nicht mehr ganz so frischen Zügen lag, war sie doch immer noch wunderschön.

„Oh,“ rief sie aus, als sie Piskarjow erblickte, und rieb sich die Augen. Es war schon 2 Uhr nachmittag. „Warum sind Sie damals weggelaufen?“

Piskarjow ließ sich ganz erschöpft auf einem Stuhle nieder und blickte sie an.

„Ich bin erst eben aufgewacht; man hat mich um 7 Uhr nach Hause gebracht. Ich war ganz betrunken!“ fügte sie mit einem Lächeln hinzu.

„Oh! wärest du doch stumm, wärest du der Sprache beraubt, statt solche Reden zu führen!“ Wie in einem Panorama, so hatte sie ihm in diesem Augenblick ihr ganzes Leben aufgerollt. Trotz alledem aber nahm er all seine Kraft zusammen: er wollte den Versuch machen, ob seine Ermahnungen keinen Eindruck auf sie ausüben würden. Nachdem er sich ermannt hatte, fing er mit zitternder Stimme an, ihr in glühenden Farben die Schrecken ihrer Lage zu schildern. Sie hörte ihn mit Aufmerksamkeit und mit dem Gefühl des Staunens an, wie wir es wohl beim Anblick von etwas völlig Unerwartetem und Merkwürdigem zu äußern pflegen. Mit einem kaum merklichen Lächeln blickte sie auf ihre Freundin, die in der Ecke saß, in ihrer Arbeit — sie reinigte gerade einen Kamm — innehielt und dem neuen Propheten gleichfalls aufmerksam zuhörte.

„Es ist wahr, ich bin arm!“ schloß Piskarjow nach einer langen und erbaulichen Ermahnung, „aber wir werden arbeiten, wir werden uns beide, einer wie der andere, um die Wette bemühen, unsere Lage zu verbessern. Es gibt nichts Schöneres, als alles seiner eigenen Kraft zu verdanken. Ich werde Bilder malen, du wirst mit einer Arbeit beschäftigt neben mir sitzen und mich zum Schaffen begeistern; es soll uns an nichts fehlen.“

„Wie wäre das möglich!“ unterbrach sie ihn in seiner Rede mit dem Ausdruck tiefer Verachtung. „Ich bin doch keine Wäscherin oder Näherin, daß ich arbeiten sollte!“

Mein Gott! in diesen Worten kam die ganze Häßlichkeit dieses verächtlichen Lebens zum Ausdruck, eines Lebens voller Eitelkeit und Müßiggangs, dieser treuen Gefährten des Lasters.

Hier fiel die Freundin, die bis jetzt still in der Ecke gesessen hatte, frech ein: „Heiraten sie mich! Wenn ich verheiratet bin, werde ich immer so dasitzen.“ Hierbei verzog sie ihr erbärmliches Gesicht zu einer dummen Grimasse, und dies amüsierte die Schöne aufs höchste und brachte sie zum Lachen.

Oh! das war zuviel! das war unerträglich! Er stürzte hinaus, wie von Sinnen und als ob er den Verstand verloren hätte. Seine Gedanken verwirrten sich; ohne Sinn und Ziel, blind, taub und gefühllos, so trieb er sich den ganzen Tag über herum. Niemand wußte, ob er irgendwo geschlafen hatte oder nicht, erst am nächsten Tage kehrte er, von einem törichten Instinkt getrieben, in seine Wohnung zurück, er war in einem schrecklichen Zustande, sein Gesicht war bleich, die Haare waren verwühlt, und in seinen Zügen machten sich Anzeichen von Wahnsinn bemerkbar. Er schloß sich in seinem Zimmer ein, ließ niemand zu sich herein und nahm nichts zu sich. Es vergingen vier Tage, ohne daß sich sein verschlossenes Zimmer auch nur einmal geöffnet hätte, es verging eine Woche, und das Zimmer blieb noch immer verschlossen. Man rüttelte an der Tür, man rief nach ihm, aber es erfolgte keine Antwort; endlich brach man die Tür auf und fand einen leblosen Körper mit einer durchschnittenen Kehle. Das blutige Rasiermesser lag am Boden. Aus den krampfhaft verrenkten Armen und den furchtbar verzerrten Gesichtszügen konnte man schließen, daß seine Hand gezittert und daß der Selbstmörder sich noch lange gequält hatte, bevor seine sündige Seele sich von ihrer Hülle befreit hatte. So starb der arme, stille, bescheidene, schüchterne, kindlich-schlichte Piskarjow, ein Opfer der wahnsinnigen Leidenschaft: er der den Funken eines Talentes in sich getragen, das sich vielleicht zu einer hohen, hellen Flamme hätte entwickeln können! Niemand weinte um ihn, niemand warf einen Blick auf seinen leblosen Körper als der Polizeikommissar und der Stadtarzt, diese gewohnten Gestalten mit ihren gleichgültigen Mienen. Man trug seinen Sarg ganz still ohne jede religiöse Zeremonie nach Ochta, ein einziger Wächter begleitete ihn — aber auch der weinte nur, weil er ein Glas Schnaps über den Durst getrunken hatte. Selbst der Leutnant Piragow, der ihm bei Lebzeiten seine hohe Protektion erwiesen hatte, erschien nicht, um dem Leichnam des Unglücklichen einen letzten Blick zu weihn. Er hatte übrigens ganz andere Dinge im Kopfe: er war mit einem außerordentlichen Erlebnis beschäftigt. Aber wenden wir uns lieber ihm zu: ich liebe die Toten nicht, und es ist mir immer unangenehm, wenn ein Begräbniszug mit dem alten Invaliden, der wie ein Kapuziner gekleidet ist und seinen Tabak mit der linken Hand schnupft, weil er in der rechten eine Fackel trägt, meinen Weg kreuzt. Ich spüre immer etwas wie Verdruß, wenn ich einem kostbaren Katafalk und einem mit Sammet bezogenen Sarg begegne; aber mein Verdruß mischt sich mit Wehmut, wenn ich einen Lastfuhrmann sehe, der einen kahlen, toten Sarg eines Armen mit sich führt, begleitet von einer Bettlerin, die zufällig des Weges daherkam und dem Sarge folgte, da sie gerade nichts anderes zu tun hatte.

Ich glaube, wir haben den Leutnant Piragow verlassen, als er sich gerade von dem armen Maler Piskarjow trennte und der schönen Blondine nacheilte. Diese Blondine war ein leichtsinniges und interessantes Geschöpf. Sie blieb vor jedem Kaufladen stehn und betrachtete die in den Schaufenstern ausgelegten Gürtel, Halstücher, Ohrringe, Handschuhe und sonstigen Kleinigkeiten, drehte sich hin und her, blickte nach allen Seiten und sah sich fortwährend um. „Mein Täubchen!“ sagte Piragow selbstbewußt, setzte seine Verfolgung fort und verbarg sein Gesicht, um nicht von seinen Bekannten erkannt zu werden, in dem Kragen. Doch es ist vielleicht Zeit, den Leser etwas näher mit Piragow bekannt zu machen.

Aber bevor wir erzählen, wer Piragow eigentlich war, ist es am Platze, etwas über die Kreise zu sagen, zu denen Piragow gehörte. Es gibt in Petersburg Offiziere, die gewissermaßen eine Mittelklasse bilden. In Gesellschaften, bei Diners von Staatsräten oder Wirklichen Staatsräten, die sich diesen Titel durch vierzigjährigen Dienst erworben haben, kann man immer den einen oder den anderen Offizier dieser Kategorie treffen. Ein paar höhere Töchter, so bleich und farblos wie Petersburg selbst, von denen einzelne schon recht verblüht aussehen, ein Teetisch, ein Klavier, ein häuslicher Tanz — dies alles ist nicht denkbar ohne die blitzenden Epauletten, die man beim Lampenschein zwischen den sittsamen Blondinen und den schwarzen Fracks der Brüder und Hausfreunde glänzen sieht. Es ist sehr schwer, diese kaltblütigen Jungfrauen aufzumuntern und sie zum Lachen zu bringen, dazu gehört eine große Kunst, oder besser gesagt, dazu bedarf es gar keiner Kunst. Man muß nicht allzu klug und auch nicht allzu komisch reden, und in allem muß jene Hohlheit und Nichtigkeit liegen, die das weibliche Geschlecht so liebt. Doch in dieser Hinsicht muß man den Herren Gerechtigkeit widerfahren lassen, sie verstehen es ausgezeichnet, sich bei diesen faden Jungfrauen Gehör zu verschaffen und sie zum Lachen zu reizen. Rufe, die von Gelächter erstickt werden, wie: „Bitte, hören Sie auf! Schämen Sie sich doch, einen so zum Lachen zu bringen!“ sind häufig die schönste Belohnung für diese Art Leute. In der besseren Gesellschaft begegnet man ihnen nur selten, oder richtiger gesagt, nie. Hier werden sie ganz von den Leuten verdrängt, die man in diesen Kreisen die Aristokratie nennt. Übrigens aber hält man sie für gelehrte und wohlerzogene junge Leute. Sie lieben es, sich über Literatur zu unterhalten, loben Bulgarin, Puschkin und Gretsch, und sprechen mit Verachtung und geistreichen Sticheleien über A. A. Orlow. Auch versäumen sie keinen öffentlichen Vortrag, ob in ihm nun von der Buchhaltung oder vom Forstwesen die Rede ist. Stets ist der eine oder der andere von ihnen im Theater zu finden, ganz gleichgültig, was für ein Stück gerade aufgeführt wird, es müßte denn eine ganz dumme Posse sein, die ihrem anspruchsvollen Geschmack nicht genügt; sonst aber sind sie immer im Theater. Für die Theaterdirektionen ist das das beste Publikum. In den Stücken sind es hauptsächlich schöne Verse, die sie schätzen; auch rufen sie stets die Schauspieler mit lautem Beifall vor die Rampe; viele von ihnen unterrichten in staatlichen Lehranstalten oder sie bereiten die Zöglinge für diese Anstalten vor, und schließlich schaffen sie sich ein paar Pferde und ein Kabriolett an. Dann wird ihr Wirkungskreis noch ausgedehnter; zum Schluß führen sie eine Kaufmannstochter, die Klavier spielt und etwa 100000 Rubel in bar und einen Haufen bärtiger Verwandter mitbringt, zum Altar. Dieser Ehre werden sie jedoch nie früher teilhaftig, als bis sie wenigstens zum Oberst avanciert sind; denn obgleich die russischen Bartträger [6] immer noch etwas nach Kraut riechen, wollen sie doch ihre Töchter mindestens als Generalsfrauen oder doch als Oberstinnen sehen. Dies sind die wichtigsten Charakterzüge dieser Art junger Leute. Jedoch der Leutnant Piragow hatte noch eine Menge anderer Talente, die nur ihm persönlich eigen waren. Er verstand es ausgezeichnet, Verse aus „Dimitri-Donskoj“ und „Wehe dem Gescheiten“ zu deklamieren, und wußte vortrefflich Rauchringe aus der Pfeife aufsteigen zu lassen, manches Mal konnte er ein ganzes Dutzend nebeneinander aufreihen! Er konnte vorzüglich davon erzählen, daß „die Kanone etwas an und für sich und daß das Einhorn auch etwas an und für sich“ sei ... Übrigens ist es außerordentlich schwer, alle Talente aufzuzählen, mit denen das Schicksal den Leutnant Piragow ausgestattet hatte. Er sprach gern über eine Schauspielerin oder eine Tänzerin, aber nicht mit der Schärfe, wie sich gewöhnlich Leutnants über solche Gegenstände auszulassen pflegen. Mit seinem Leutnantsrang, zu dem er erst vor kurzem avanciert war, war er sehr zufrieden, obgleich er häufig sagte, während er sich aufs Sofa streckte: „ach ja, alles ist eitel, was hat denn das zu bedeuten, daß ich Leutnant bin“; aber in seinem Innern fühlte er sich doch sehr durch die neue Würde gehoben, und in der Unterhaltung bemühte er sich häufig darauf anzuspielen; ja als ihm einmal auf der Straße ein Schreiber begegnete, der ihm unhöflich zu sein schien, hielt er ihn sofort an und gab ihm in kurzen aber scharfen Worten zu verstehen, daß vor ihm ein Leutnant und nicht ein xbeliebiger Offizier stehe — und da in diesem Moment zwei allerliebste Damen vorübergingen — bemühte er sich, sich besonders hübsch auszudrücken. Piragow trug überhaupt eine Leidenschaft für alles Schöne zur Schau und daher protegierte er auch den Künstler Piskarjow: vielleicht kam es übrigens auch nur daher, weil er es so sehr wünschte, sein männliches Gesicht auf der Leinwand zu sehen. Aber nun sei es genug von den Tugenden Piragows. Der Mensch ist ein so erstaunliches Wesen, daß es unmöglich ist, alle seine Vorzüge mit einemmal aufzuzählen, je länger man ihn anschaut, desto mehr neue Eigentümlichkeiten kommen zum Vorschein, und man fände nie ein Ende, wenn man sie alle herzählen wollte.

Piragow fuhr also fort, die Unbekannte zu verfolgen; von Zeit zu Zeit unterhielt er sie mit Fragen, auf die sie kurz und scharf oder mit unverständlichen Lauten antwortete. Sie gingen durch das dunkle Kasansche Tor und bogen in die Meschtschanskaja, diese von kleinen Tabak- und Kramlädenbesitzern, deutschen Handwerkern und finnischen Nymphen bevölkerte Straße, ein. Die Blondine beschleunigte ihre Schritte sichtlich und schlüpfte in die Pforte eines ziemlich schmutzigen Hauses. Piragow folgte ihr. Sie lief eine schmale, dunkle Treppe hinauf, öffnete eine Tür und trat ein, während ihr Piragow mutig folgte. Plötzlich befand er sich in einem großen Zimmer mit schwarzen Wänden und einem verräucherten Plafond. Ein ganzer Haufen von eisernen Schrauben, Schlosserwerkzeugen, Instrumenten, glänzenden Kaffeekannen und Leuchtern lag auf dem Tisch, und der Boden war mit eisernen und kupfernen Sägespänen bestreut. Piragow begriff sofort, daß dies die Werkstätte eines Handwerkers war. Die Unbekannte verschwand weiter durch eine Seitentür. Piragow besann sich einen Augenblick, dann aber folgte er der russischen Maxime und entschloß sich, „vorwärts“ zu eilen. Er trat in ein andres Zimmer, das dem ersten durchaus nicht ähnlich sah: es war sehr sauber und ordentlich, und man erkannte sofort, daß der Wirt ein Deutscher war. Ein überaus merkwürdiges Bild setzte Piragow aufs höchste in Erstaunen: vor ihm saß Schiller — nicht jener Schiller, der den Wilhelm Tell und die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges geschrieben hat, sondern der bekannte Schiller, ein Schlossermeister aus der Meschtschanskistraße. Neben Schiller stand Hoffmann , aber wiederum nicht der Dichter Hoffmann, sondern ein tüchtiger Schuhmachermeister dieses Namens aus der Offizierstraße und ein großer Freund Schillers. Schiller war betrunken, saß auf einem Stuhl, stampfte mit dem Fuß und sprach mit großem Eifer auf den andern ein. Dies alles hatte Piragow noch nicht in Erstaunen gesetzt; was seine Verwunderung erregte, war die höchst merkwürdige Stellung dieser beiden Gestalten. Schiller saß da, hielt den Kopf in die Höhe und streckte seine ziemlich dicke Nase vor; Hoffmann aber hatte diese Nase mit zwei Fingern gefaßt und fuhr mit der Schneide eines Schustermessers über ihre Oberfläche hin und her. Beide sprachen Deutsch, und daher konnte Leutnant Piragow, der außer „guten Morgen“ kein Wort Deutsch konnte, nichts von der ganzen Sache verstehen. Im übrigen aber hatten Schillers Reden folgenden Inhalt: „Ich will sie nicht, ich brauche keine Nase!“ sagte er und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. „Allein für diese Nase verbrauche ich 3 Pfund Tabak monatlich. Und ich zahle in einem elenden russischen Laden — weil die deutschen Läden keinen russischen Tabak haben — ich zahle in einem elenden russischen Laden 40 Kopeken pro Pfund: das macht also 1 Rubel 20 Kopeken — und zwölfmal 1 Rubel 20 Kopeken, das macht wiederum 14 Rubel 40 Kopeken. — Hörst du’s, mein Freund Hoffmann, allein für die Nase 14 Rubel und 40 Kopeken. An Feiertagen schnupfe ich Rapé — denn an einem Feiertage will ich doch keinen scheußlichen russischen Tabak schnupfen. Das Jahr über schnupfe ich 2 Pfund Rapé zu 2 Rubel das Pfund — 4 Rubel und 14 Rubel das macht im ganzen 18 Rubel 40 Kopeken allein für Tabak. Das ist mein Ruin! Freund Hoffmann, ich frage dich, habe ich nicht recht?“ Hoffmann, der auch angetrunken war, gab seine Zustimmung. „20 Rubel 40 Kopeken. Ich bin ein Schwabe, ich habe einen König in Deutschland! Ich will keine Nase mehr haben! schneide sie mir ab, da, da ist meine Nase!“

Und wenn nicht das unerwartete Eintreten des Leutnants Piragow dazwischengekommen wäre, dann hätte Hoffmann sicherlich ohne viele Umstände Schillers Nase abgeschnitten, denn er hatte ja schon das Messer in der Hand, wie wenn er eine Schuhsohle zuschneiden wollte.

Schiller war sehr verdrießlich, daß plötzlich ein unbekannter, ungebetener Fremdling ihn im ungelegensten Moment störte. Obgleich er sich ganz im Banne des Bier- und Weinrausches befand, fühlte er doch, daß sein Zustand und die Beschäftigung, bei der er angetroffen wurde, in Gegenwart eines fremden Zeugen etwas Unschickliches haben mochte. Piragow verbeugte sich leicht und sagte mit der ihm eigenen Zuvorkommenheit: „Sie entschuldigen doch!“

„Machen Sie, daß Sie fortkommen!“ sagte Schiller gedehnt.

Diese Antwort verblüffte den Leutnant Piragow. Solch eine Behandlung war ihm ganz neu. Das Lächeln, das eben auf seinen Zügen gespielt hatte, verschwand plötzlich. Im Gefühl seiner gekränkten Würde sagte er: „Ich muß mich sehr wundern, mein Herr ... wahrscheinlich haben Sie nicht bemerkt ... daß ich Offizier bin ...“

„Was ... Offizier? Ich bin ein Schwabe! Ich (und hierbei schlug Schiller mit der Faust auf den Tisch) werde bald selbst Offizier sein, anderthalb Jahre Junker, zwei Jahre Leutnant, und gleich morgen bin ich Offizier! So mach’ ich’s mit einem Offizier! Aber ich will nicht dienen, pfff ....“

Hierbei hielt er sich die Hand vors Gesicht und blies drauf.

Der Leutnant Piragow sah ein, daß ihm nichts andres übrigblieb, als sich zu entfernen; aber diese unziemliche Behandlung seines Standes war ihm doch sehr unangenehm. Ein paarmal blieb er auf der Treppe stehn, wie wenn er Mut fassen wollte und darüber nachdächte, wie er Schiller seine Frechheit büßen lassen könnte. Endlich kam er zu dem Schluß, daß Schiller zu entschuldigen sei, da sein Hirn mit Bier und Wein angefüllt wäre, auch fiel ihm die reizende Blondine wieder ein, und so entschloß er sich, das alles zu vergessen. Am folgenden Tage betrat der Leutnant Piragow frühmorgens die Werkstatt des Schmiedes. Im ersten Zimmer kam ihm die hübsche Blondine entgegen und fragte ihn mit recht unfreundlicher Stimme, die ihr sehr gut zu Gesicht stand: „Was wünschen Sie?“

„Ah, guten Tag, meine Schöne! Sie erkennen mich wohl nicht? Sie kleiner Schelm! was für schöne Augen Sie haben!“

Hierbei wollte ihr der Leutnant Piragow in liebenswürdiger Weise einen Finger unters Kinn legen und es emporheben, aber die Blondine stieß einen erschrockenen Laut aus und fragte ihn ebenso unfreundlich: „Was wünschen Sie?“

„Nur Sie zu sehen, sonst wünsche ich nichts!“ erwiderte der Leutnant Piragow freundlich lächelnd und trat näher, aber als er merkte, daß die ängstliche Blondine nach der Tür strebte, setzte er hinzu: „Ich möchte ein Paar Sporen bestellen, meine Liebe, können Sie mir ein Paar Sporen machen? Um Sie liebzuhaben, brauche ich allerdings keine Sporen, im Gegenteil, eher noch Zügel! Was für reizende Händchen!“

Der Leutnant Piragow war bei solcher Art Liebeserklärungen immer sehr höflich.

„Ich werde gleich meinen Mann rufen!“ rief ihm die Deutsche laut zu, ging hinaus und einige Minuten darauf erblickte Piragow Schiller, der noch ganz verschlafen und kaum von seinem gestrigen Rausch ernüchtert ins Zimmer trat. Als er den Offizier erkannte, stieg die gestrige Szene wie ein Traum vor ihm auf. Eine klare Erinnerung hatte er in diesem Zustande nicht, aber er fühlte, daß er irgendeine Dummheit begangen hatte, und empfing daher den Offizier mit recht verdrießlicher Miene.

„Weniger als 15 Rubel kann ich für die Sporen nicht nehmen!“ sagte er, um Piragow so schnell wie möglich loszuwerden, denn es war ihm, dem ehrlichen Deutschen, sehr peinlich, dem Manne gegenüberzustehn, der ihn in solch einer peinlichen Situation gesehen hatte. Schiller liebte es, nur mit zwei, drei guten Freunden und ohne Zeugen zu zechen, daher schloß er sich für diese Zeit ein und verbarg sich selbst vor seinen Arbeitern.

„Warum sind Sie denn so teuer?“ sagte Piragow freundlich.

„Es ist doch deutsche Arbeit!“ erwiderte Schiller kaltblütig und strich sich das Kinn. — „Ein Russe wird sie Ihnen für 2 Rubel anfertigen.“

„Schön, um Ihnen zu beweisen, daß ich Sie liebe und Ihre Bekanntschaft zu machen wünsche, will ich Ihnen 15 Rubel bezahlen!“

Schiller besann sich einen Augenblick: als ehrlicher Deutscher schämte er sich ein wenig. Von dem Wunsche getrieben, Piragow seine Absicht auszureden, sagte er, daß er die Sporen frühestens in zwei Wochen herstellen könne. Aber Piragow erklärte sich ohne jedweden Widerspruch mit allem einverstanden.

Der Deutsche dachte ein wenig nach und grübelte hin und her, ob er wohl seine Arbeit so ausgezeichnet ausführen könnte, daß sie wirklich 15 Rubel wert würde.

In diesem Augenblick trat die Blondine in die Werkstatt und machte sich etwas am Tisch, der mit Kaffeekannen besetzt war, zu schaffen. Piragow benutzte Schillers Nachdenklichkeit, trat dicht an sie heran und drückte ihren Arm, der bis zur Schulter entblößt war.

Dies mißfiel Schiller sehr: „Meine Frau!“ schrie er ihn an.

„Was wollen Sie denn?“ entgegnete die Blondine.

„Geh in die Küche!“ Die Blondine entfernte sich.

„Also in zwei Wochen?“ sagte Piragow.

„Ja, in zwei Wochen,“ sagte Schiller nachdenklich, „ich habe jetzt viel Arbeit!“

„Auf Wiedersehn, ich komme wieder vor!“

„Auf Wiedersehn!“ sagte Schiller und schloß die Tür hinter ihm.

Der Leutnant war fest entschlossen, seine Werbung nicht aufzugeben, obgleich die Blondine ihm sichtlich Widerstand entgegensetzte. Er konnte es nicht fassen, daß man ihm widerstehen könnte, um so weniger, als seine Liebenswürdigkeit und sein illustrer Rang ihm alles Recht auf Entgegenkommen gab. Man muß noch hinzufügen, daß Frau Schiller bei all ihrem Liebreiz sehr beschränkt war. Übrigens bildet ja bei einer hübschen Frau die Dummheit noch einen besonderen Reiz. Wenigstens habe ich viele Männer gekannt, die von der Dummheit ihrer Frauen begeistert waren und in ihr ein Symptom kindlicher Unschuld sahen. Die Schönheit bringt geradezu Wunder hervor. Alle geistigen Mängel wirken bei einer schönen Frau, anstatt abzustoßen, nur noch besonders anziehend; selbst das Laster erhält einen gewissen Anschein von Lieblichkeit. Aber wo die Schönheit fehlt, da muß eine Frau mindestens zwanzigmal so klug sein wie ein Mann, um Achtung oder gar Liebe einzuflößen. Doch trotz ihrer Beschränktheit war Frau Schiller stets ihrer Pflicht treu geblieben, daher wurde es Piragow sehr schwer, sein kühnes Unternehmen erfolgreich zu Ende zu führen. Allein die Überwindung von Hindernissen ist stets mit Genuß verbunden, und so wurde unsere Blondine ihm nur noch interessanter. Er fing an, sich sehr oft nach den Sporen zu erkundigen, so daß Schiller dies zuletzt lästig wurde. Er gab sich alle Mühe, die begonnene Arbeit schnell zu beendigen, und endlich waren die Sporen fertig.

„Ach, welch eine herrliche Arbeit!“ rief der Leutnant Piragow beim Anblick der Sporen. „Mein Gott, wie vortrefflich sind sie gemacht. Selbst unser General nennt solche nicht sein eigen!“

Ein Gefühl der Selbstzufriedenheit erfüllte Schillers Seele. Seine Augen nahmen einen vergnügten Ausdruck an, und er war innerlich bereit, sich völlig mit Piragow auszusöhnen. „Dieser russische Offizier ist ein kluger Mann!“ dachte er bei sich.

„Nicht wahr, Sie können doch auch Einfassungen für Dolche und andere Waffen anfertigen?“

„Oh, gewiß kann ich das,“ sagte Schiller lächelnd.

„So machen Sie mir also eine Fassung für meinen Dolch. Ich werde ihn Ihnen bringen; ich habe einen sehr schönen türkischen Dolch, aber ich möchte ihn anders fassen lassen!“

Schiller traf dieser Vorschlag wie eine Bombe. Er runzelte die Stirn. „Da haben wir’s!“ dachte er bei sich, und schalt sich innerlich, daß er selbst Anlaß zu einer neuen Bestellung gegeben hatte. Es jetzt noch abzulehnen, schien ihm unehrenhaft, auch hatte ja der russische Offizier seine Arbeit gelobt. — Kopfschüttelnd erklärte er seine Bereitwilligkeit, aber der Kuß, den Piragow der zierlichen Blondine beim Fortgehen dreist auf die Lippen drückte, brachte ihn vollends aus der Fassung.

Ich halte es nicht für überflüssig, den Leser etwas näher mit Schiller bekannt zu machen. Schiller war ein echter Deutscher in vollstem Sinn des Wortes. Schon als zwanzigjähriger Jüngling, in jener glücklichen Zeit, wo ein Russe noch sorglos in den Tag hinein lebt, hatte sich Schiller bereits sein Leben zurechtgelegt und wich nie und in keinem Fall von seinem Ziel ab. Er hatte bei sich beschlossen, immer um 7 Uhr aufzustehn, um 2 Uhr zu Mittag zu essen, in allem gewissenhaft zu sein und sich Sonntags zu betrinken. Er hatte sich vorgenommen, im Laufe von zehn Jahren ein Kapital von 50000 Rubeln zurückzulegen, und schon dieser Entschluß genügte, um die Erfüllung seines Planes so sicher und unumstößlich zu machen wie das Schicksal; denn eher vergißt es ein Beamter, in das Vorzimmer seines Chefs hineinzublicken, als daß ein Deutscher sich entschließt, sein Wort zu brechen. Niemals gab er mehr aus, als er sich vorgenommen hatte, und wenn die Kartoffelpreise über das gewöhnliche Maß stiegen, legte er doch nie eine Kopeke zu, sondern verminderte lieber das Quantum; wenn er auch manches Mal nicht ganz satt wurde, so gewöhnte er sich doch daran. Seine Ordnungsliebe ging so weit, daß er bei sich beschlossen hatte, seine Frau nicht häufiger als zweimal am Tage zu küssen und, um ihr nur ja keinen überzähligen Kuß auf die Lippen zu drücken, tat er nie mehr als einen Kaffeelöffel voll Pfeffer in die Suppe; übrigens wurde diese Regel am Sonntag nicht so streng eingehalten, da Schiller an diesem Tage stets zwei Flaschen Bier und eine Flasche Kümmel trank, auf den er freilich immer schimpfte. Er pflegte jedoch nicht so zu trinken wie die Engländer, die sich gleich nach dem Mittag einschließen und sich ganz allein und still für sich berauschen. Er als Deutscher bedurfte beim Zechen stets der Anregung und Begeisterung und trank daher immer in Gesellschaft, entweder mit dem Schuster Hoffmann oder mit dem Tischler Kunz, der ebenfalls ein Deutscher und dazu ein großer Säufer war. Dies war der Charakter unseres ehrenwerten Schiller, der nunmehr in eine sehr schwierige Lage geraten war. Obgleich er ein Phlegmatiker und ein Deutscher war, so erregte doch das Betragen Piragows so etwas wie Eifersucht in ihm. Er zerbrach sich den Kopf, es wollte ihm aber durchaus nichts einfallen, auf welche Art und Weise er den russischen Offizier abschütteln könnte.

Unterdessen spielte Piragow, wenn er sich im Kreise seiner Kameraden befand und gemütlich die Pfeife rauchte, — die Vorsehung hat es nun einmal so eingerichtet, daß, wo Offiziere beisammen weilen, auch die Pfeife nicht fehlen darf — häufig auf das Techtelmechtel mit der reizenden Blondine an; mit einem bedeutungsvollen und angenehmen Lächeln rühmte er sich bereits einer großen Intimität mit ihr; in Wirklichkeit aber begann er bereits, die Hoffnung zu verlieren, daß er sie jemals würde erobern können.

Eines Tages machte er einen Spaziergang auf der Meschtschanskaja und blickte immer auf das Haus, an dem das Schild Schillers mit den Kaffeekannen und Teemaschinen prangte; zu seiner großen Freude entdeckte er plötzlich das Köpfchen der Blondine, die sich aus dem Fenster beugte und die Vorübergehenden betrachtete. Er blieb stehn, warf ihr einen Handkuß zu und rief: „Guten Morgen!“ Die Blondine erwiderte seinen Gruß wie den eines alten Bekannten.

„Ist Ihr Mann zu Hause?“

„Ja,“ sagte die Blonde.

„Und wann ist er nicht zu Hause?“

„Sonntags ist er gewöhnlich nicht zu Hause!“ sagte die dumme Gans.

„Das ist nicht übel,“ dachte Piragow bei sich, „das könnte man ausnutzen.“ — Und schon am nächsten Sonntag schneite er der Blondine ins Haus hinein. Schiller war wirklich nicht anwesend. Die hübsche Hausfrau war aufs höchste erschrocken; aber diesmal war Piragow vorsichtig, betrug sich sehr ehrerbietig, verbeugte sich in verbindlicher Form und ließ dabei die ganze Schönheit seiner biegsamen, straffen Gestalt zur Geltung kommen. Er scherzte sehr nett und höflich, aber das deutsche Schäfchen gab auf alles nur ganz einsilbige Antworten. Endlich, nachdem er schon über alles mögliche geredet hatte und nun bemerkte, daß sie nichts interessierte, schlug er ihr vor, etwas zu tanzen. Die Deutsche ging darauf ein, denn die deutschen Frauen pflegen bekanntlich sehr gern zu tanzen. Dieses gab Piragow Anlaß zu den kühnsten Hoffnungen: erstens machte ihr dieses Spaß, zweitens konnte er hierbei seine Gewandtheit und seine elegante Taille sehen lassen, drittens kann man sich einer Dame beim Tanzen noch mehr nähern als sonst, er konnte die hübsche Deutsche umarmen und damit den Grund zu allem weiteren legen, kurz, er hoffte auf einen vollständigen Triumph. Er begann eine Gavotte vor sich hin zu summen, weil er wußte, daß die Deutschen einer allmählichen Steigerung bedürfen. Die niedliche Blondine trat in die Mitte des Zimmers und hob ihren reizenden Fuß empor. Diese Stellung versetzte Piragow derart in Begeisterung, daß er ihr einen Kuß auf den Fuß drücken wollte. Die Deutsche fing an zu schreien, wodurch sie ihren Reiz in den Augen Piragows noch mehr erhöhte. Er überschüttete sie mit Küssen. Da ging plötzlich die Tür auf, und Schiller, Hoffmann und der Tischler Kunz traten ein. Alle drei ehrenwerten Handwerker waren betrunken wie die Schlosser.

Ich überlasse es dem Leser, sich den Ärger und den Zorn Schillers vorzustellen.

„Frechling!“ schrie er in höchster Wut, „wie wagst du es, meine Frau zu küssen! Du bist ein Lump und kein russischer Offizier! Hol dich der Teufel, nicht wahr, Freund Hoffmann, ich bin ein Deutscher und kein russisches Schwein! (Hoffmann bejahte dies.) Zum Donnerwetter, ich will doch keine Hörner tragen! Pack’ ihn am Kragen, Freund Hoffmann! ich will nicht —“ fuhr er fort und fuchtelte gewaltig mit den Händen in der Luft herum, wobei sein Gesicht so rot wurde wie seine Weste. — „Ich lebe schon acht Jahre in Petersburg, ich habe eine Mutter in Schwaben und einen Onkel in Nürnberg, ich bin ein Deutscher und kein Hornvieh! — Reiß ihm die Kleider vom Leibe, Freund Hoffmann! halt ihn an den Händen und Füßen fest, Kamerad Kunz!“

Und die Deutschen packten Piragow an Händen und Füßen.

Vergeblich versuchte er, sich freizumachen; diese drei Handwerker waren die kräftigsten unter allen Petersburger Deutschen und verfuhren so grob und unhöflich mit ihm, daß ich, wie ich gestehen muß, keine Worte finde, diese traurige Szene zu schildern.

Ich bin überzeugt, daß Schiller den nächsten Tag wie im Fieber war und zitterte wie das Espenlaub, da er jeden Augenblick auf das Erscheinen der Polizei gefaßt war; er hätte, weiß Gott, wieviel dafür gegeben, wenn das gestrige Ereignis nur ein Traum gewesen wäre. Ader das Geschehene läßt sich nun einmal nicht mehr ungeschehen machen. In der Tat ließ sich nichts mit der Wut und der Empörung Piragows vergleichen. Schon der Gedanke an die fürchterliche Beleidigung brachte ihn dem Wahnsinn nahe. Die Verbannung nach Sibirien oder Spießrutenlaufen erschienen ihm als die geringsten Strafen, die Schiller verdient hatte. Er flog nach Hause, um sich umzuziehen und von dort direkt zum General zu fahren; ihm wollte er die Unverschämtheit der deutschen Handwerker in den glühendsten Farben schildern. Zu gleicher Zeit wollte er auch eine schriftliche Klage beim Generalstab einreichen: falls aber die angesetzte Strafe nicht genügend streng ausfallen sollte, wollte er die Sache vor alle Instanzen bringen.

Allein dies alles fand einen ganz merkwürdigen Abschluß: unterwegs trat er in eine Konditorei, aß zwei Kuchen aus Blätterteig, warf einen Blick in die Zeitschrift „Die Nordische Biene“ und verließ das Lokal schon weniger wütend und aufgebracht. Der recht angenehm frische Abend lud ihn dazu ein, etwas auf dem Newsky auf und ab zu gehen; gegen neun Uhr hatte er sich so weit beruhigt, daß er fand, am Sonntag ginge es nicht gut, den General zu belästigen, auch würde er ihn wohl schwerlich zu Hause treffen, daher begab sich Piragow zu einer Soiree bei dem Chef der Kontrollbehörde, wo sich ein sehr netter Kreis von Beamten und Offizieren seines Regiments zusammenfand. Er verbrachte den Abend sehr angenehm und zeichnete sich bei der Mazurka so aus, daß nicht nur die Damen, sondern auch die Herren ganz begeistert waren.

Als ich vorgestern auf dem Newsky einherschlenderte und mich dieser beiden Ereignisse erinnerte, dachte ich so bei mir: „Wie herrlich eingerichtet ist doch unsere Welt! Wie merkwürdig, wie unbegreiflich spielt doch das Schicksal mit uns; erreichen wir je, was wir wünschen? erlangen wir je, was die Bestimmung unserer Kräfte und Fähigkeiten zu sein scheint? es kommt immer anders, als man glaubt. Dem einen beschert das Schicksal die herrlichsten Pferde, er aber fährt gleichgültig spazieren, ohne ihre Schönheit zu bemerken, während ein anderer, dessen Herz vor Leidenschaft für Pferde glüht, zu Fuß geht und sich damit begnügen muß, mit der Zunge zu schnalzen, wenn ein schöner Rappe an ihm vorüberjagt. Ein dritter hat einen ausgezeichneten Koch, aber leider einen so kleinen Mund, daß er nicht mehr als zwei Stückchen hineinstopfen kann, sein Freund dagegen hat ein Maul von der Größe des Generalstabstors und muß sich, ach! mit einem simpeln deutschen Kartoffelgericht begnügen. Wie sonderbar spielt doch das Schicksal mit uns!“

Aber am seltsamsten ist doch das, was auf dem Newsky zu geschehen pflegt. Oh! traut ihm nicht, diesem Newsky-Prospekt! Ich hülle mich immer fester in meinen Mantel, wenn ich über diese Straße gehe und gebe mir die größte Mühe, mich um keins der Dinge zu kümmern, die mir dort begegnen. Dort ist alles Trug, alles ist nur ein Traum, und nichts ist das, als was es erscheint. Sie glauben vielleicht, dieser Herr, der dort in einem feinen Rock daherkommt, sei sehr reich: keineswegs; der ganze Kerl besteht aus nichts anderem, als aus diesem Rock. Sie bilden sich ein, daß diese beiden Dickwänste, die dort vor der im Bau begriffenen Kirche stehen, über ihren Stil reden — kein Gedanke. Sie sprechen darüber, welch seltsame Pose zwei Krähen einnehmen, die auf ihrem Giebel einander gegenübersitzen. Sie glauben wohl, daß jener Enthusiast, der mit den Händen gestikuliert, davon spricht, wie seine Frau einem ihm ganz unbekannten Offizier durch das Fenster eine Papierkugel an den Kopf geworfen hat — durchaus nicht, er redet über Lafayette. Sie meinen wirklich, daß diese Damen ... ach, den Damen sollten Sie überhaupt nicht trauen! Blicken Sie auch weniger in die Schaufenster hinein: die dort ausliegenden Nichtigkeiten sind vielleicht sehr schön, aber sie schmecken mächtig nach einigen Hundertrubelscheinen. Vor allem aber möge Gott Sie davor bewahren, den Damen unter die Hüte zu gucken! Wie verlockend auch abends der Mantel einer Schönen im Winde flattert, auf keinen Fall würde ich ihr aus Neugierde nachgehen. Halten Sie sich fern, um Gottes willen, halten Sie sich möglichst fern von der Laterne und gehen Sie schnell, so schnell wie möglich, vorüber! Sie können noch von Glück sagen, wenn Ihnen nur ein häßlicher Fettfleck auf Ihren eleganten Rock tropft. Aber auch abgesehen von der Laterne, überall lauert der Betrug auf Sie. Der Newsky-Prospekt ist immer voller Lug und Trug, am meisten jedoch dann, wenn die Nacht wie ein dichtes Gewölk auf ihn niedersinkt und die weißen und hellgelben Mauern der Häuser hervortreten läßt, wenn die ganze Stadt in Lichterglanz erstrahlt und gleichsam vom Donner erdröhnt, wenn Myriaden von Equipagen über die Brücken rollen, die Vorreiter schreiend auf den Pferden vorbeigaloppieren, und wenn Satan eigenhändig die Lampen anzündet, nur um alles in einem übernatürlichen Licht erscheinen zu lassen.

IV
Über die kleinrussischen Lieder

E rst in den letzten Jahren, in der Zeit, wo das Streben nach Originalität und nach einer eigenartigen nationalen Poesie erwacht ist, haben die kleinrussischen Lieder, die der gebildeten Welt bis dahin ganz unbekannt und nur im Volke lebendig waren, die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Bis dahin war nur ihre bezaubernde Musik dann und wann in die höheren Kreise gedrungen, die Worte aber waren ganz unbeachtet geblieben und hatten niemandes Neugierde geweckt. Ja, selbst die Melodien wurden niemals in vollständiger Fassung mitgeteilt. Irgendein talentloser Komponist zerstückelte sie mitleidlos und fügte sie in seine eigenen gefühllosen, plumpen Schöpfungen ein. [7] Aber die allerschönsten Stimmen und Lieder haben nur die Steppen der Ukraine vernommen: nur hier erklingen sie unter dem Dache niedriger Lehmhütten, die von Maulbeer- und Kirschbäumen umstanden sind, im Glanze der Morgensonne mittags und abends, während die zitronengelben Garben des Weizens unter der Sichel der Schnitter hinsinken, und nur hin und wieder wird der Gesang unterbrochen durch den Schrei der Steppenmöwe, durch das Lied zahlloser Scharen von Lerchen und den ängstlichen Schlag der Golddrossel.

Ich will mich nicht über die Bedeutung der Volkslieder auslassen. Sie sind die lebendige, leuchtende, farbige Geschichte des Volks, die Wahrheit, die das ganze Leben einer Nation bloßlegt. Wenn dies Leben tatkräftig, wechselvoll, frei und eigenartig und von Poesie erfüllt war, und wenn dies Volk trotz seiner Vielseitigkeit keine höhere Zivilisation erreicht hat, dann lebt sich all sein Feuer, all seine herrliche, jugendliche Kraft in den Volksliedern aus. Sie sind ein Grabdenkmal seiner Vergangenheit — ja mehr als ein Grabdenkmal: ein mit einem beredten Relief geschmückter und mit einer historischen Aufschrift versehener Stein ist nichts im Vergleich mit dieser lebenden, redenden und von der Vergangenheit kündenden Chronik. In dieser Beziehung bedeuten die Volkslieder für Kleinrußland alles: seine Poesie, seine Geschichte und das Grab seiner Väter. Wer nicht in die Tiefen dieser Lieder gedrungen ist, der wird nichts von der Vergangenheit dieses blühenden Stückes Rußland erfahren. Der Historiker darf in ihnen nicht Hinweise auf Tage und Daten von Schlachten, genaue Ortsbeschreibungen oder wahrheitsgetreue Berichte suchen; in dieser Beziehung werden ihn nur die wenigsten Lieder weiterbringen. Wenn er aber das wahre Wesen, die Elemente des Charakters, alle Schwankungen und Nuancen des Gefühls und alles dessen, was ein bestimmtes Volk bewegt, seiner Leiden und Freuden ergründen, wenn er den Geist vergangener Zeitalter, den allgemeinen Charakter des Ganzen und jedes einzelnen Teiles erforschen will, dann wird er in jeder Beziehung befriedigt sein; die Geschichte des Volks wird sich ihm in einer leuchtenden Größe offenbaren.

Die kleinrussischen Lieder können mit vollem Recht historisch genannt werden, weil sie sich nicht einen Augenblick vom Leben entfernen und stets den historischen Moment und den geschichtlichen Zustand treu widerspiegeln. Sie alle sind von der schrankenlosen Freiheit des Kosakenlebens durchdrungen und durchflutet. Aus allem redet die Kraft, der Frohsinn, die Seelenstärke, mit der der Kosak den sorglosen Frieden des Familienlebens aufgibt, um sich in die Poesie der Schlachten, in Gefahren und zügellose Gelage mit den Kameraden zu stürzen. Weder die dunkelbrauige Freundin mit ihrer strahlenden Frische, ihren braunen Augen, dem blendenden Glanz ihrer Zähne, die in hingebender Liebe dem Roß in die Zügel fällt, noch die Tränenbäche vergießende alte Mutter, deren ganzes Dasein in dem einen Gefühl der Mutterliebe aufgeht, — nichts hat die Macht, ihn zurückzuhalten. Eigensinnig und unerschütterlich eilt er in die Steppe und ins Lager der Kameraden hinaus. Die Gesellschaft seiner Kumpane, der lebenslustigen Raubritter, ersetzt ihm alles — Weib, Mutter, Schwestern und Brüder. Die Bande dieser Brüderschaft gehen ihm über alles und sind noch stärker als die Liebe. Das Schwarze Meer leuchtet, die herrliche unermeßliche Steppe vom Taman bis zur Donau — dieser wilde Ozean von Blüten wogt unter dem Hauch des Windes. In der unendlichen Tiefe des Himmels verschwinden Schwäne und Kraniche. Der sterbende Kosak liegt mitten in der Kühle dieser jungfräulichen Natur hingestreckt da, er nimmt seine letzte Kraft zusammen, um nicht zu sterben, ohne noch einmal seinen Kameraden einen Blick nachgesandt zu haben.

Denn wohl wußte es das Kosakenhaupt,

Daß es nicht fern vom Kosakenheer sterben würde.

Als er sie erblickt, ist er befriedigt, und stirbt. Ob nun das Kosakenheer still und gehorsam in den Krieg zieht, ob Pulverdampf und Kugelregen sich aus den Gewehren entlädt, ob der Metkrug oder der Weinbecher kreist, ob von der furchtbaren Hinrichtung des Hetmans berichtet wird, daß einem die Haare dabei zu Berge stehn, von der Rache des Kosaken oder von einem erschlagenen Helden, der mit weit ausgestreckten Armen und wirrem Schopf auf dem Rasen liegt, oder vom Geschrei der in den Wolken schwebenden Adler, die um das Recht streiten, dem Kosaken die Augen auszuhacken — alles dies lebt in den Liedern und ist in ihnen mit kühnen Farben geschildert.

Ein anderer Teil der Lieder stellt die andere Seite des Volkslebens dar: hier finden wir zahllose Züge aus dem Familienleben des Kosaken, und hier herrscht der absolute Gegensatz. Dort hören wir nur von Kosaken, vom Kriege und vom wilden Lagerleben; hier dagegen ersteht vor uns die Frauenwelt, diese wehmütige, zärtliche Liebe atmende Welt; die zwei Geschlechter verkehren nur kurze Zeit miteinander und trennen sich dann für ganze Jahre. Diese Jahre schwinden für die Frau in banger Erwartung und Sehnsucht nach ihren Männern und ihren Liebsten dahin, die einst wie ein Traum, ein Phantasiegebilde in ihrem herrlichen Kriegsschmuck an ihnen vorüberzogen. Daher ist auch ihre Liebe von einer unendlichen Poesie durchwebt. Das frische, unschuldige, einem Täubchen vergleichbare junge Weib hat plötzlich die höchste Seligkeit, das Paradies des Weibes, das nur für die Liebe geschaffen ist, kennen gelernt. Ihr erster Lebensfrühling, den sie mit dem starken, freien Sohn des Krieges verlebt hat, hat ihr ganzes Lebensglück in einen flüchtigen Augenblick zusammengedrängt; mit ihm verglichen hat das ganze Leben keinen Wert; sie lebt nur in der Erinnerung an diesen Moment. Sehnsüchtig erwartet sie vom Morgen bis zum Abend die Rückkehr ihres Gatten mit den schwarzen Brauen.

O ihr schwarzen Augenbrauen,

Wie schwer macht ihr mir das Leben,

Keine Nacht wollt ihr

Alleine schlafen.

Sie lebt ausschließlich von Erinnerungen. Alles, was sie zusammen gesehen, wo sie miteinander geweilt, was sie miteinander geredet, alles ruft sie sich in die Erinnerung zurück, ohne auch das Geringste außer acht zu lassen. Sie wendet sich an alles, was sie in der Natur entdeckt, an alles, was Leben ausströmt, selbst an die leblosen Gegenstände, klagt ihnen ihr Leid und spricht mit ihnen. Und wie einfach, wie poetisch schlicht sind ihre seelenvollen Worte. Alles bringt sie in Beziehung zu ihrem Gefühl und wird nicht müde zu reden, denn der Mensch hat immer viele Worte, wenn der Schmerz eine geheime Süße in sich birgt. Endlich spricht sie in stiller, hoffnungsloser Verzweiflung:

Ach, jetzt kann ich nicht mehr wandeln,

Wo ich mit dem Liebsten ging.

Ach, jetzt kann ich nicht mehr lieben,

Den ich einst so sehr geliebt.

Ach, jetzt kann ich nicht mehr wandeln

Vor dem Schlosse in der Früh.

Ach, ich kann mich nicht mehr lehnen

An den Arm des Heißgeliebten.

Ach, jetzt kann ich nicht mehr wandeln

In dem Wald und Nüsse suchen.

Ach, vorüber, längst vorüber

Ist die heitre Mädchenzeit.

Um denen, die die kleinrussische Sprache nicht beherrschen, die Tiefe des Empfindens, die sich in diesen Liedern offenbart, so verständlich wie möglich zu machen, will ich hier eines dieser Lieder in der Übertragung anführen.

Mein Liebster zürnt mir und grollt mir. Er sattelt seinen Rappen und zieht in die Ferne, weit, weit fort von mir.

„Wohin ziehst du, mein Geliebter, du mein graues Täubchen, wohin entfliehst du? Wem überlässest du mich schutzloses, junges Wesen?“

„Ich lasse dich in Gottes Obhut, Geliebte! Warte auf mich, bis ich von der weiten Reise zurückkehre.“

Oh, wenn ich wüßte, wenn ich es doch sehen könnte, wohin mein Liebster trabt, so wollte ich ihm auf dem ganzen Wege Brücken aus grünem Schilf bauen und ihn immerfort bei mir erwarten.

Allmächtiger Gott, ebne die Berge und Täler, auf daß die Wege überall glatt seien, und daß er bequem von seinem Ziele bis vors Haus reiten kann.

Ah! die Wiesen singen, die Ufer klingen, das Gras auf den Wegen fängt an zu grünen; da ist er, mein Geliebter kommt geritten!

Ah! die Wiesen singen, die Ufer klingen, der Wacholder erblüht — gewiß plaudert mein Geliebter, mein graues Täubchen irgendwo mit einer andern.

Warum kamst du nicht geflogen, wie ich dich bat! Hattest du kein Roß, kanntest du den Weg nicht mehr, oder hat’s dir deine Mutter verboten?

„Ich habe ein Pferd; auch kenne ich den Weg, und die Mutter hat mir schon gestern abend geboten, mein Roß zu satteln.

Aber kaum sitz’ ich auf dem Pferde, kaum reit’ ich zum Tore hinaus, da läuft schon die andere mir nach und stöhnt und weint so bitterlich, da greift mir ihr Kummer ans Herz.“

Man könnte tausende von ähnlichen Liedern anführen und vielleicht noch weit schönere. Alle sind sie wohlklingend, duftig und außerordentlich mannigfaltig. Überall gibt es neue Farben, eine große Schlichtheit und eine unbeschreibliche Zartheit des Gefühls. Wo aber die Gedanken das Religiöse streifen, sind sie ganz besonders poetisch. Sie bewundern nicht die gewaltigen Werke des ewigen Schöpfers; eine solche Bewunderung gehört schon einer höheren Entwicklungs- und Erkenntnisstufe an; ihr Glaube ist so unschuldig, so rührend und so rein wie die unbefleckte Seele des Kindes. Sie wenden sich an Gott, wie Kinder an ihren Vater. Sie führen ihn häufig mit so unschuldiger Einfalt in ihr Alltagsleben ein, daß seine kunstlose Darstellung in ihnen gerade durch ihre Einfachheit etwas Erhabenes an sich hat. Dadurch erhalten in den Liedern der Kleinrussen auch die gewöhnlichsten Gegenstände etwas unbeschreiblich Poetisches, wozu auch die Überreste verschiedener aus der altslawischen Mythologie herstammenden Sitten, die sie dem Christentum angepaßt haben, sehr viel beitragen. Oftmals fleht ein trauerndes Mädchen Gott an, er möge eine Wachskerze am Himmel entzünden, bis der Liebste über die Donau gesetzt ist. Auf allem liegt der Stempel reinster, ursprünglichster Kindheit und folglich hoher Poesie. Die Form ihrer Lieder, der Mädchenlieder sowohl wie der Kosakenlieder, ist fast immer dramatisch — ein Zeichen für die Entwicklung des Volksgeistes und des tätigen, unruhigen Lebens, das dies Volk so lange geführt hat. Fast niemals haben ihre Lieder eine beschreibende Form und sie gefallen sich nicht in ausführlichen Darstellungen der Natur. Nur hie und da scheint die Natur in der einen oder der andern Strophe hindurch, aber nichtsdestoweniger sind ihre Züge so neu, so fein, so bezeichnend und gut, daß sie den ganzen Gegenstand vor die Seele zaubern. Übrigens nimmt man zu ihnen nur darum seine Zuflucht, um die Gefühle der Seele kräftiger zum Ausdruck zu bringen. Und daher unterwerfen sich die Naturerscheinungen gefügig den Gefühlsregungen. Derselbe Gegenstand spiegelt sich immer gleichzeitig in der inneren und äußeren Welt, oft ist statt der ganzen äußeren Umgebung nur ein einziger markanter Zug oder ein Teil dieser Umgebung berührt. Nirgends findet sich ein Satz wie etwa der folgende: „es war Abend;“ statt dessen ist immer die Rede von gewissen Vorgängen, die abends zu geschehen pflegen, z. B.:

Die Kühe kamen vom Acker, die Schäfchen von der Wiese;

Das Mädchen stand beim Burschen und weinte sich die braunen Augen rot.

Daher haben sehr viele, ohne dies recht zu verstehen, solche und ähnliche Wendungen für unsinnig erklärt. Ein Gefühl findet immer einen starken, plötzlichen, schroffen Ausdruck und wird nie durch lange Perioden abgeschwächt. In einigen Liedern gibt es keine fortlaufende Idee, sie gleichen einer Reihe von Strophen, von denen jede einen besonderen Gedanken in sich schließt. Oft erscheinen sie ganz unbedeutend, weil sie spontan entstanden sind, und da der Blick des Volkes sehr lebhaft ist, so werden gewöhnlich die Gegenstände, die zuerst in die Augen fallen, gleich im Anfang des Liedes erwähnt; dafür aber treten in diesem bunten Durcheinander Strophen hervor, die uns durch die bezaubernde Ursprünglichkeit ihrer Poesie entzücken. Hier vereinigen sich eine leuchtende, treue Malerei und eine wohlklingende Wortmusik. Ein solches Lied wird nicht mit der Feder in der Hand, nicht auf dem Papier, auf Grund strenger Überlegung komponiert, nein, es entsteht im Taumel der Selbstvergessenheit, wenn die Seele singt und klingt und alle Glieder ihre gewöhnliche gleichgültige Lage verlassen und sich freier zu rühren beginnen, wenn die Arme sich in die Höhe strecken und die stürmischen Wellen der Lust den Menschen über alles hinwegtragen. Dies spürt man sogar in den traurigen und wehmütigen Liedern, deren herzzerreißende Klänge schmerzvoll an unsere Seele greifen. Nie konnten solche Töne unter gewöhnlichen Verhältnissen und bei einer nüchternen Betrachtung des Gegenstandes der Seele eines Menschen entquellen. Nur dann, wenn der Wein den prosaischen Gedanken verwirrt und zerstört, wenn die Gedanken seltsam und unbegreiflich in ihrer Disharmonie doch innerlich zusammenklingen — in solch mehr feierlicher als heiterer Ekstase beginnt die Seele sich rätselvoll in unerträglich schmerzlichen Klängen auszuströmen. Hier gibt es keinen Gedanken, keine Überlegung! Der ganze geheimnisvolle Organismus verlangt nach Tönen und nur nach Tönen. Daher ist die Poesie dieser Lieder so unbegreiflich, zauberhaft und graziös wie Musik. Die Gedankenpoesie ist für jedermann weit verständlicher als die Poesie der Töne oder besser gesagt die Poesie der Poesie. Nur ein auserwählter, wahrhafter Dichter, ein Mann, der seinem innersten Wesen nach Poet ist, kann sie verstehen, und daher kommt es, daß oft das allerschönste Lied unbemerkt vorüberrauscht, während ein minderwertiges durch seinen Inhalt gewinnt.

Der kleinrussische Versbau eignet sich sehr für das Lied; in ihm finden sich Versmaß, Tonfall und Rhythmus vereinigt. Ihr Rhythmus ist schnell und rapid, daher ist die einzelne Zeile fast nie zu lang, aber selbst wenn dieses mitunter vorkommt, so wird er in der Mitte durch eine Zäsur mit einem klangvollen Reim durchschnitten. Reine, langgedehnte Jamben kommen selten vor; meistenteils sind es schnelle Trochäen, Daktylen, Amphibrachen, die schnell dahinfliegen, sich einer mit dem anderen frei und launenhaft verbinden und so zu neuen Versmaßen führen, die sie in mannigfaltigster Weise variieren. Die Rhythmen tönen und klingen zusammen wie die silbernen Hufeisen der Tanzenden. Ein sicheres Gehör und musikalisches Gefühl ist ihnen allen gemeinsam. Oft klingt eine Zeile mit einer anderen harmonisch zusammen, trotzdem beide sich nicht einmal miteinander reimen. Die Häufigkeit des Reims ist erstaunlich. Häufig enthält eine Zeile zwei Zäsuren und reimt sich zweimal vor dem Schlußreim, der außerdem in der zweiten Zeile, die gleichfalls in der Mitte doppelt gereimt ist, einen Gegenreim findet. Manches Mal begegnen wir einem solchen Reim, den man eigentlich keinen Reim nennen kann, der aber in seiner Tonfärbung so wohlklingend ist, daß er uns mehr gefällt als ein Reim, und der nie einem Dichter in den Sinn gekommen wäre, während er die Feder in der Hand hält.

Den Charakter der Musik kann man nicht mit einem Wort bezeichnen: sie ist außerordentlich mannigfaltig. In vielen Liedern ist sie leicht, graziös, berührt nur leicht die Erde, und es scheint, als spiele sie neckisch mit den Tönen. Zuweilen nimmt die Melodie eine männliche Physiognomie an und wird kraftvoll, stark und mächtig; schwer stampfen die Füße die Erde, und es scheint, als könne man nur den schwerfälligen Hopak nach dieser Musik tanzen. Ein anderes Mal aber werden die Töne ungewöhnlich frei, breit, schwingen sich gigantisch empor, suchen unendliche Räume zu umfassen, und bei ihren Klängen fühlt der Tänzer sich selbst als Riese: seine Seele, sein ganzes Sein erweitert sich und dehnt sich bis ins Unendliche. Er löst sich plötzlich von der Erde, dann trifft er sie noch kräftiger mit seinen glänzenden Hufeisen, um im nächsten Augenblick wieder in die Luft zu fliegen. Was aber die traurige Musik anbelangt, so kann man sie hier so hören, wie nirgends sonst. Ob es nun der Schmerz um die geknickte Jugend ist, der es nicht vergönnt war, sich auszuleben, oder die Klage über die traurige Lage des damaligen Kleinrußland ... diese Töne leben, brennen und zerreißen unsere Seele. Die melancholische russische Musik drückt, wie M. Maksimowitsch richtig bemerkt hat, ein Gefühl aus, das das Leben vergessen will; sie strebt danach, sich vom Leben zu entfernen und die alltäglichen Nöte und Sorgen zu übertäuben; aber in den kleinrussischen Liedern verschmilzt dies Gefühl mit dem Lebensgefühl: ihre Töne sind so lebendig, man glaubt, daß sie nicht nur zu klingen, sondern auch zu sprechen scheinen — sie reden in Worten, sie sprechen in ganzen Sätzen, und jedes Wort dieser feurigen Reden dringt in die Seele. Ihr Aufschluchzen gleicht manchmal so sehr einem Herzensschrei, daß das Herz des Lauschers plötzlich zusammenzuckt, als hätte ein scharfer Stahl es berührt. Häufig klingt eine so starke, trostlose und gleichgültige Verzweiflung hindurch, daß wir uns beim Hören selbst vergessen und das Gefühl haben, als sei die Hoffnung für immer aus der Welt entflohen. An anderen Stellen hören wir ein kurzes Aufstöhnen und so lebhafte, heftige Seufzer, daß wir uns zitternd fragen: sind das noch Töne? Das ist der unerträgliche Jammer einer Mutter, der eine grausame Gewalt ihr Kind entreißt, um es mit bestialischem Lachen an einem Stein zu zerschmettern. Nichts kann gewaltiger sein, als die Volksmusik, wenn das Volk nur poetische Begabung hat und ein wechselvolles, tatenreiches Leben führt, wenn der Druck der Gewalt und ewiger unüberwindlicher Hindernisse es ihm nicht gestatteten, für einen Moment einzuschlummern, ihm Klagen abnötigen, und wenn diese Klagen niemals und nirgends anders zum Ausdruck kommen konnten, als in seinen Liedern. In solch einer Lage befand sich Kleinrußland zu der Zeit, als sich die Union raubgierig auf das schutzlose Land stürzte. Aus ihnen, aus diesen Tönen kann man sich ein ebenso deutliches Bild von diesen vergangenen Leiden machen, wie von einem Sturm mit Hagelschauern und einem Wolkenbruch, wenn man die diamantenen Tränen erblickt, die die erfrischten Bäume von unten bis oben bedecken, wenn die Sonne ihre abendlichen Strahlen aussendet, wenn die Luft dünn und rein ist, wenn aus der Ferne das Brüllen der Herden zu uns herüberzittert und wenn der bläuliche Rauch, dieser Vorbote des ländlichen Nachtmahls und der Feierstunde, in leuchtenden Ringen gen Himmel steigt und der Abend, der stille, klare Abend die beruhigte Erde umfängt.

1833.

V
Gedanken über Geographie
für die unteren Klassen

G roß und erstaunlich ist das Gebiet der Geographie. Länder, wo der südliche Himmel glüht und wo jedes Geschöpf sich einer doppelten Lebensenergie erfreut, und Gegenden, wo wir in den entstellten Zügen der Natur Grauen und Entsetzen lesen, wo das ganze Land sich in einen starren Leichnam verwandelt; Bergriesen, die in den Himmel ragen, nachlässig hingeworfene Landschaften, die von der ganzen Kraft und Fruchtbarkeit einer üppigen und reichen Vegetation überquellen, und wiederum glühende Wüsten und Steppen, ein losgerissenes Stück Erde inmitten eines grenzenlosen Meers, die Menschen, die Kunst und die Grenze alles Lebens! — wo wollte man Gegenstände finden, die stärker zu unserer Einbildung sprächen, gibt es eine herrlichere Wissenschaft für die Kinder, gibt es eine, die die Poesie ihrer jugendlichen Seele lebhafter beflügeln könnte? Und ist es nicht traurig, wenn man ihnen anstatt all dieser Dinge ein lebloses, trockenes Skelett vorführt und kalt hinzufügt: „Das ist die Erde, auf der wir wohnen; da ist die schöne Welt, die uns der unbegreifliche Baumeister geschenkt hat!“ — Aber mehr noch! Man verbirgt Ihn vor den Kindern und läßt sie statt dessen einen politischen Körper benagen, der die Welt ihrer Begriffe übersteigt und sogar für einen Verstand, der im Besitze höherer Ideen ist, viel Ungereimtes enthält. — Unwillkürlich kommt einem da der Gedanke: sollten wirklich der große Humboldt und jene anderen kühnen Forscher, die so viel Licht in das Gebiet der Wissenschaften hineingetragen, und die uns die wunderbaren Hieroglyphen, mit denen unsere Welt bedeckt ist, entziffert haben, nur einigen wenigen Gelehrten zugänglich sein, sollte die Altersstufe, die mehr denn jede andere das Bedürfnis nach Klarheit und Bestimmtheit hat, auf nichts als unverständliche Darstellungen angewiesen sein?


Die Kindheit ist zunächst nichts wie ein großes Dürsten, ein instinktives Streben nach Erkenntnis. Sie verlangt nach allem und möchte alles wissen. Am meisten interessiert sie sich für ferne Länder: „Wie ist es dort? was geht dort vor? was gibt es da für Menschen? wie leben sie?“ Diese Fragen drängen sich ihr in reicher Fülle auf, sie alle beziehen sich auf die physische Geographie, und daher muß die gewaltige, reiche, furchtbare und zauberische Welt in ihrem physischen Zustande sie in höherem Maße und in umfassenderer Weise beschäftigen.


In vielen von unseren Lehranstalten trägt man die Geographie in zwei, manches Mal sogar in drei Klassen vor, weil die Zöglinge nicht imstande sind, das ganze Gebiet in einem Jahre durchzunehmen. Und das ist gut, denn die Geographie verdient es, daß man sich nicht nur ein Jahr lang mit ihr beschäftigt; aber die Lehrer verfallen in einen sehr großen Fehler; sie teilen den Erdball in zwei, oder je nach den Klassen, in drei Teile, und dabei fällt der untersten Klasse Europa zu, das gewöhnlich nur nach seiner politischen Seite mit den ausführlichsten Details durchgenommen wird, während die höheren Klassen durch die Steppen und den afrikanischen Sand irren und sich mit den Wilden unterhalten müssen. Abgesehen von der Unvernunft und von der merkwürdigen Form solch einer Lehrmethode gehört noch ein ungeheures Gedächtnis dazu, um diese ganze ungeordnete Masse festzuhalten. Aber selbst wenn man die Möglichkeit solch phänomenaler Begabungen in der Natur zugibt, so wird doch sogar in dem Kopfe eines solchen Phänomens nie ein schönes Ganzes zurückbleiben. — Es werden höchstens sorgfältig bearbeitete, aber völlig getrennte Stücke sein, die von keinem kräftigen Leben beseelt sind, das mit rhythmischem Pulsschlag durch alle Adern rinnt. Es ist wie bei einem Volke, das für eine monarchische Regierung prädestiniert ist und sie im Sturme politischer Erschütterung verloren hat.

Es ist viel besser, wenn der Zögling die Geographie auf zwei verschiedenen Altersstufen durchnimmt. Auf der ersten Stufe sollte er nur einen großen Überblick über die ganze Welt erhalten, aber einen solchen, der seine ganze Aufmerksamkeit anregt und ihm die ganze Weite und ungeheure Größe der geographischen Welt vor Augen führt. Zu diesem Kursus müßten auch die Naturgeschichte, die Physik, die Statistik und alles, was mit der Welt zusammenhängt, ihren Teil beisteuern, damit die Welt den Eindruck einer einzigen, leuchtenden, bunten Dichtung mache und der Schüler nach Möglichkeit mit all ihren Teilen bekannt und vertraut werde. Gar keine Einzelheiten, nur die großen markanten Züge! aber so, daß er ahnt, wo Eiseskälte und wo eine starke Vegetation vorherrscht, wo die Manufaktur und wo die Bildung höher steht, wo die Unwissenheit größer, wo die Erde tiefer ist, und wo die Berge sich mächtiger emportürmen. — In der zweiten Periode des Kindesalters müssen die Grenzen dieser Welt auseinandergerückt werden. Jetzt soll er die Gegenstände, die er früher mit bloßem Auge gesehen, durchs Mikroskop betrachten. Dann wird er auch alle Ausnahmen und Übergänge, und weniger die starken, als die feinen Abweichungen kennen lernen.


Der Schüler soll überhaupt kein Buch bei sich haben. Ein Buch, es mag sein wie es will, wird seine Einbildungskraft stets einengen und abtöten. Er soll nur die Karte vor sich haben. Man soll ihm keine geographische Erscheinung erklären, ohne sie auf der Stelle zu fixieren; selbst wenn es sich nur um eine lebendige, schöne Beschreibung handelt, muß der Schüler beim Zuhören seine Augen auf einen Punkt der Karte richten, und dieser kleine Punkt muß sich vor ihm immer mehr und mehr ausbreiten, und alle Karten, die er während der Rede des Lehrers vor sich sieht, in sich aufnehmen. Dann kann man sicher sein, daß die Erscheinungen sich seinem Gedächtnis für immer einprägen werden, und daß er, während seine Augen das nackte Weltgerippe betrachten, es sofort mit leuchtenden Farben ausfüllen wird.


Vor allem muß er die Gestalt der Erde in seinem Gedächtnis festhalten. Das Kartenzeichnen, mit dem man die Schüler so sehr quält, bringt wenig Nutzen. Die vielen kleinen Details, die vielen einzelnen Staaten und Reiche können sich in seinem Kopfe nur gegenseitig vernichten. Viel besser ist es, man gibt den Kindern vor allem eine scharfe und lebendige Idee von der Gestalt der Erde: ich möchte dazu raten, zu diesem Zwecke das Wasser weiß und die ganze Erde schwarz darzustellen, damit sie sich unwillkürlich dem Gedanken ganz deutlich und durch ihre scharfen Konturen aufdrängen und die Schüler unaufhörlich mit ihrer unregelmäßigen Figur verfolgen. Jetzt wird es ihnen schon viel leichter fallen, die Gestalt der Erde nachzuzeichnen, nur sollte man ihnen nie gestatten, sich in Einzelheiten zu ergehen, d. h. alle kleinen Vorgebirge und Ausbuchtungen der Ufer zu vermerken. Es ist sogar besser, wenn sie diese anfänglich nicht kennen, dafür aber die allgemeine Gestalt der Erde festhalten.


Es ist weit besser, am Anfang die ganze Welt auf einmal zu behandeln, alle Weltteile auf einmal zu überblicken, denn auf diese Weise treten die Gegensätze um so stärker hervor. Wenn man sie in ihrer Gesamtheit kennen gelernt hat, kann man hierauf gründlicher auf jeden Erdteil eingehen. Was nun die Reihenfolge anbelangt, in der die Weltteile durchgegangen werden sollten, so würde ich dazu raten, sich durch die allmählige Entwicklung des Menschen und damit durch die allmählige Entdeckung der Erdteile leiten zu lassen: Man beginne mit Asien, der Wiege der Menschheit, mit ihrer Kindheit, gehe dann zu Afrika, zu ihrer feurigen und zugleich wilden Jugend über, wende sich sodann Europa, ihrer schnellen Klärung und dem Reifen der Vernunft zu, schreite dann mit dieser nach Amerika fort, wo der gereifte, mächtige Mensch wieder mit dem ursprünglichen und sinnlichen Menschen zusammenstößt, und schließe die Darstellung endlich mit den im grenzenlosen Ozean verstreuten Inseln.

Eine solche Einteilung scheint mir weit natürlicher. Vor allem muß der Schüler sich einen allgemeinen und charakteristischen Begriff von jedem einzelnen Erdteil machen. Zuerst von Asien, wo alles groß und weit ist, wo die Menschen äußerlich so würdevoll und kalt sind und doch plötzlich von unbezwinglicher Leidenschaft ergriffen, aufwallen können; in ihrem kindlichen Begriffsvermögen kommen sie sich klüger vor als alle anderen; hier gibt es nur Überhebung und sklavische Unterwerfung; alles ist frei und leicht gekleidet, leicht bewaffnet, und jedermann ist ein guter Reiter; hier kann der Türke sein ganzes Leben lang mit untergeschlagenen Beinen dasitzen und seinen Nargileh rauchen, hier rast der Beduine wie ein Sturmwind durch die Wüste, hier wird der Glaube zum Fanatismus, dies ganze Land ist das Land der Glaubensbekenntnisse, die sich von hier aus über die ganze Welt verbreiten. Dann gehe man zu Afrika über, wo die Sonne so heiß brennt und Ozeane von Sandwüsten sich über unermeßliche Flächen dehnen; dies ist das Land der Löwen, Tiger, der Palmen und der Kokospalmen und der Menschen, die sich in ihrem Äußeren und ihren sinnlichen Neigungen nur wenig von Affen unterscheiden, deren zahlreiche Scharen das Land durchziehen usw.


Nachdem der Schüler das Bild eines Erdteils aufgezeichnet hat, verzeichne er alle Höhen und Tiefen auf ihm und stellte dar, wie die Berge sich verzweigen und in langen, formlosen Ketten durch das Land ziehen. Bei dieser Gelegenheit kann man sich der Reliefdarstellung Europas von Ritter bedienen, obwohl sie sich wegen ihrer unklaren Grenzen zwischen Licht und Schatten nicht ganz für Kinder eignet. Daher wäre es am besten, man stellte zu diesem Zwecke ein richtiges Basrelief aus festem Ton oder Metall her. Dann brauchte der Schüler es sich nur aufmerksam anzusehen, und die Höhen und Tiefen würden sich seinem Gedächtnis für immer einprägen.


Da die Berge der Erde ihre Form gegeben haben, so muß ihre Kenntnis sozusagen den Anfang des ganzen Geographieunterrichts bilden. Nachdem wir ihre Verzweigungen auf der Oberfläche der Erde aufgewiesen haben, müssen wir auf ihr Äußeres, auf ihre Form, auf ihre Zusammensetzung, auf ihre Entstehung und endlich auf ihren Charakter und ihre Eigenart hinweisen, durch die sie sich von anderen Bergketten unterscheiden — doch dies darf nicht in trockner Weise mit einer gelehrten Ausführlichkeit geschehen, sondern so, daß der Schüler erkennt, daß diese oder jene Gebirgskette aus dunklem oder hartem Granit bestehe, daß das Innere einer anderen weiß, kalkartig oder lehmig, locker, gelb, dunkel, rot oder endlich aus Erden und Gesteinen von leuchtenden Farben zusammengesetzt sei. Man kann sogar erzählen, daß die Gebirge häufig von Metallagern und Erzadern durchzogen sind, kann ihre Lage darstellen und zwar kann man dies interessant und unterhaltend tun. Was aber ihre Oberfläche anbetrifft, so versteht es sich von selbst, daß man alle höchsten Punkte angeben muß: alle bemerkenswerten Erscheinungen auf ihnen sowie die Höhen, bis zu denen die Menschen emporgestiegen sind.


Es könnte nicht schaden, auch die unterirdische Geographie kurz zu berühren. Mir scheint, es gibt keinen poetischeren Gegenstand als diese, obwohl sie nur für die höheren Altersstufen ganz verständlich sein kann. Hier haben alle Tatsachen und Erscheinungen etwas Gigantisches und Kolossales an sich. Hier begegnen wir ganzen ungeheuren Massen. Hier trägt alles den Stempel der gewaltigen Erdumwälzungen, hier wird die Seele mächtiger als sonst von den großen Werken des Schöpfers erschüttert. Hier liegen ganze Lager von unterirdischen Wäldern begraben. Hier ruht in tiefster Einsamkeit die Muschel eingebettet, schon im Begriff, sich in Marmor zu verwandeln. Hier lodern ewige Feuer, deren Ausbrüche die Oberfläche der Erde umgestalten. Ein großer Teil dieser Erscheinungen kann selbst bei einer oberflächlichen Darstellung den Eindruck auf die Einbildungskraft des jungen Zöglings nicht verfehlen.


Der Prozeß und die Ausbreitung der Vegetation auf der Erde muß auf der Karte an der Hand einer Stufenfolge der Wärmegrade aufgezeigt werden: wo eine südliche Pflanze heimisch ist, wohin sie als Gast verschlagen ward, unter welchem Grade sie zugrunde geht, wo die nördliche Vegetation beginnt, wo sich auch diese endlich verliert, wo alles Wachstum aufhört, wo die Natur in den Umarmungen des kalten Ozeans abstirbt und wo der wunderbare Pol sich in undurchdringliche und für den Menschen unzugängliche Eismassen einhüllt. Und in der gleichen Weise müßte auch die Ausbreitung der Tierwelt dargestellt werden. Doch der Boden verlangt eine andere Einteilung der Erde nach Zonen, von denen jede einzelne eine besondere Art umschließt.


Nur hie und da werden die Erzeugnisse der Kunst von den Geographen behandelt. Es gibt keinen Übergang von der Natur zu den Produkten des Menschen. Die letzteren sind wie durch eine Axt von ihrem Urquell abgespalten. Ich rede nicht einmal davon, daß bei ihnen jener Ehebund des Menschen mit der Natur, der die Manufaktur gebiert, gar nicht erwähnt wird. Bevor also der Schüler zur Betrachtung der Industrie und den Erzeugnissen menschlicher Handarbeit fortschreitet, muß er hierzu durch die Kenntnis der Bodenerzeugnisse vorbereitet werden, damit er selbst daraus schließen kann, welche Industrien sich in einem bestimmten Reiche vorfinden müssen; falls Ausnahmen in dieser Hinsicht vorkommen sollten, ist es unbedingt nötig, auf ihre Ursachen hinzuweisen: vielleicht liegen sie in dem sorglosen Charakter der Bevölkerung, in fremdartigen Nebenumständen, in dem übergroßen Reichtum der Nachbarn, in dem Mangel an Kommunikationsmitteln oder ähnlichen Verhältnissen. Wenn er erst über die Industrie orientiert ist, kann er auch zum Handel übergehen, der ja ohnedies nicht sehr interessant und nicht leicht verständlich ist.


Bei der Aufzählung der Völker muß der Lehrer durchaus auf die Physiognomie und die Eigentümlichkeiten hinweisen, die der Charakter eines Volks, sozusagen unter dem Einflusse geographischer Verhältnisse angenommen hat. Er muß alle Völker der Erde in große Familien einordnen, erst die gemeinschaftlichen Züge einer jeden Gruppe schildern und dann erst zu ihren unterscheidenden Merkmalen übergehen. Dann muß er ihre physische Geschichte, d. h. die Geschichte ihrer Charakteränderungen folgen lassen, damit es dem Schüler klar werde, warum z. B. die Teutonen in Deutschland durch einen festen, phlegmatischen Charakter ausgezeichnet sind, und warum derselbe Stamm nach Überschreitung der Alpen ein so munteres, leichtes Wesen annimmt.


Auch Karten, die die Ausbreitung der Bildung auf der Erdkugel darstellen, sind für Kinder von großem Nutzen. Dieser Nutzen wird zur Notwendigkeit, sobald man zu Europa übergeht. Da es jedoch bei uns solche Karten noch nicht gibt, muß der Lehrer sich der kleinen Mühe unterziehen und selbst eine solche anfertigen. Die Punkte, wo die Kultur einen hohen Grad erreicht hat, muß er durch leuchtende Farben hervorheben und dort leichte Schatten aufsetzen, wo sie tiefer steht. Diese Schatten werden immer dunkler, je tiefer wir herabsteigen, und verwandeln sich in völlige Finsternis in dem Maße als die Natur verwildert und der Mensch bis zum seelenlosen Eskimo hinabsinkt.

Die Größe der Erde und der einzelnen Staaten wird man sich nie durch Feststellung ihres Quadratinhalts einprägen. Man braucht nur einen Blick auf die Karte zu werfen, das ist das einzige Mittel, sie kennen zu lernen. Es wäre nicht unangebracht, jedes Reich besonders auszuschneiden, so daß es ein einzelnes Stück und durch Zusammenfügung mit den andern einen Weltteil bilde. So könnte man die Größe und Form eines jeden Reiches sichtbar machen.


Bei der Darstellung einer jeden Stadt muß man ihre Lage genau bestimmen: ob sie auf dem Berge liegt oder sich ins Tal hinabzieht, muß ihr Leben, ihre Bedeutung, ihre Einkunftsquellen schildern — und überhaupt mit einigen kräftigen Strichen ihren Charakter zeichnen. Der Lehrer muß aus dem reichhaltigen Material all das hervorziehen, was eine Eigentümlichkeit dieser Stadt ist, und wodurch sie sich von den vielen anderen unterscheidet. Der Schüler soll wissen, was Rom, was Paris, was Petersburg ist. Er darf die anderen europäischen Städte nicht etwa an dem eigenen Maßstabe, der sich beim Anblick von Petersburg in seinem Kopf gebildet hat, messen. Bei der Darstellung jeder einzelnen Stadt muß das, was allen Städten gemeinsam ist, ausgeschlossen werden. In vielen von unseren Geographiebüchern wird auch heute noch bei der Erwähnung einer Gouvernementsstadt erzählt, daß es dort ein Gymnasium, eine Kathedrale, und bei Zitierung einer Kreisstadt bemerkt, daß es in ihr eine Kreisschule gibt usw. Wozu soll das dienen? Es genügt, wenn man dem Schüler gleich am Anfang sagt, daß es bei uns in jeder Gouvernementstadt ein Gymnasium und eine Kirche gibt. In der ganzen Welt aber gibt es nur einen Kreml, einen Vatikan, ein Palais-Royal, eine Reiterstatue Peters des Großen von Falkonet, ein Petscherski-Kloster in Kiew, einen King Bench ! Über diese wird das Kind gewiß Genaueres erfahren wollen. Man darf sich nicht mit nichtigen Dingen, wie mit dem Aufzählen von Häusern und Kirchen, aufhalten, die den Schüler nur langweilen können, dies sollte nur in Ausnahmefällen gestattet sein, wenn etwas entweder durch seine Größe oder durch ein negatives Merkmal aus der Kategorie des Alltäglichen hervorragt. Statt dessen kann man über die Architektur einer Stadt sprechen — in welchem Stil sie erbaut ist, und ob die Gebäude durch Größe oder Schönheit auffallen. Bei der Darstellung einer sehr alten Stadt muß man darauf aufmerksam machen, wie majestätisch ihre, wenn auch seltsam anmutende altertümliche, in Jahrhunderten bewährte und in den Erschütterungen groß gewordene Architektur und wie leicht und elegant dagegen der Stil einer anderen Stadt ist, die nur ein Jahrhundert zu ihrer Entstehung brauchte. Beim Gedanken an irgendein deutsches Städtchen muß der Schüler sich sofort enge Gassen und kleine, schmale, hohe Häuschen, an denen alles so einfach, so lieb und so bukolisch ist, vorstellen, und daneben eckige Kirchen mit hoch in die Luft ragenden Turmspitzen. Mit dem Gedanken an Rom, diesem dumpfen Echo der ganzen antiken, in dem Wirbel der Jahrhunderte untergegangenen Welt, muß sich unweigerlich der Gedanke an mächtige, sich kühn vom Boden erhebende Gebäude verbinden, die, auf schlanke Hallen und gigantische Säulen gestützt, verfallen, gleich als sönnen sie über die verflossenen Tage ihrer großen, herrlichen Jugend nach. Zu diesem Zweck wäre es gut, den Schülern recht häufig die Fassaden der berühmtesten Bauten zu zeigen; dann würde sich ihre ungewöhnliche Gestalt dem Gedächtnis einprägen, und dies würde unwillkürlich und unmerklich zur Bildung ihres jungen Geschmacks beitragen.


Hin und wieder muß auch die Geschichte durch die Erinnerung an vergangene Ereignisse die geographische Welt beleuchten. Das Vergangene muß aber schon sehr augenfällig und von rein geographischen Ursachen bewirkt sein, um an sie zu erinnern. Wenn jedoch der Schüler zur selben Zeit Geschichte studiert, dann fließen Geographie und Geschichte miteinander zusammen, um ein organisches Ganzes zu bilden.


Der Vortrag des Lehrers muß fesselnd und bilderreich sein, alle eindrucksvollen Gegenden, alle großen Naturerscheinungen müssen mit leuchtenden Farben geschildert werden. Was stark auf die Phantasie wirkt, das geht dem Gedächtnis nicht leicht verloren. Der Vortrag muß dem Stil eines Reisenden gleichen. Die strenge analytische Systematik, besonders wenn sie sich auf Kleinigkeiten erstreckt, kann nicht lange im Kopf eines Jünglings haften. Das Kind behält nur dann ein System, wenn es es nicht mit Augen sieht und wenn es ihm verborgen bleibt. Sein System — ist das Interesse, der Faden, an dem sich die Ereignisse oder die Erzählungen aufreihen. Alles, was wahrhaft notwendig ist, alles, was mehr mit unserem Leben zusammenhängt, was wir später noch besser bei uns selbst anwenden können, — dies alles ist interessant. Übrigens: was ist in der Geographie uninteressant? Sie ist so tief wie das Meer, sie erweitert unsere eigensten Handlungen und unsern Wirkungskreis, und obgleich sie uns die Grenzen eines jeden Landes zeigt, verhüllt sie ihre eigenen so geschickt, daß sie selbst für Erwachsene ein philosophisch anziehender Gegenstand bleibt. Kurz gesagt, man muß versuchen, den Schüler so viel als möglich mit der Welt bekannt zu machen, mit all ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit, aber in einer Weise, daß sein Gedächtnis nicht überbürdet wird, sondern daß ihm dies alles wie ein mit helleuchtenden Farben gemaltes Bild erscheint. Hierfür bieten uns die Beschreibungen der Reisenden einen reichen Schatz dar; es gibt deren eine ganze Menge; wie mir scheint, hat man es jedoch noch nicht verstanden, in dieser Hinsicht, genügenden Nutzen aus ihnen zu ziehen.


An der Trägheit und Unaufmerksamkeit des Schülers hat meist der Lehrer schuld, sie sind nur Zeugnisse für seine eigne Nachlässigkeit; er hat es also nicht verstanden, die Aufmerksamkeit seiner jugendlichen Hörer zu fesseln, oder er hat es nicht gewollt; er hat sie gezwungen, seine bittern Pillen mit Widerwillen zu schlucken. Man darf nie einen vollständigen Mangel an Fähigkeiten bei einem Kinde voraussetzen. Ich bin oft Zeuge gewesen, wie ein Kind, das allgemein für ganz unbegabt und von der Natur als stiefmütterlich behandelt gehalten wurde, mit ungeteilter Aufmerksamkeit einer grauenerregenden Erzählung lauschte, und wie auf seinem fast seelenlosen, von keinem Gefühl der Teilnahme belebten Gesichte unruhige Spannung und Angst miteinander abwechselten. Sollte es wirklich nicht möglich sein, diese Aufmerksamkeit für die Wissenschaft nutzbar zu machen?

1829.

VI
Der letzte Tag von Pompeji
Ein Bild von Brylow

D ies Bild von Brylow ist eine der glänzendsten Erscheinungen des XIX. Jahrhunderts. Es ist der Auferstehungstag der Malerei, die lange Zeit in einer Art von lethargischem Schlafe verharrte. Ich will nicht von den Ursachen eines solch ungewöhnlichen Stillstandes reden, obgleich dieser einen sehr interessanten Gegenstand für die Forschung darbietet; ich will nur erwähnen, daß, wenn auch das Ende des XVIII. und der Anfang des XIX. Jahrhunderts uns in der Malerei nichts Vollendetes und Gewaltiges gebracht, sie doch in ihren einzelnen Teilen mancherlei Förderliches geleistet haben. Die Malerei zerfiel in unzählige Atome und Teilchen. Jedes dieser Atome ward unendlich viel tiefer erkannt und fortentwickelt wie in früheren Zeiten. Man entdeckte geheimnisvolle Erscheinungen, von denen man früher nicht einmal etwas ahnte: All das an der Natur, was der Mensch am häufigsten sieht, was ihn umgibt und ein Leben mit ihm lebt, diese sichtbare Natur mit all ihren kleinen Zügen, die von den großen Künstlern vernachlässigt wurden, erreichte eine bewunderungswürdige Wahrheit und Vollkommenheit der Darstellung. Alles wetteiferte miteinander, um das lebendige Kolorit, das die Natur ausströmt, zu erfassen. Alles Geheimnisvolle in ihrem Schoße, diese stumme Sprache der Landschaft ward entdeckt, oder richtiger, ward ihr geraubt, ward der Natur entrissen, obwohl ihr freilich nur Stücke entrissen wurden und obwohl alle Erzeugnisse dieses Jahrhunderts an Experimente oder, besser gesagt, an Notizen, Materialsammlungen und flüchtige Gedanken erinnern, die ein Reisender in aller Eile in sein Tagebuch einträgt, um sie nicht zu vergessen und um später ein Ganzes aus ihnen zu machen. Die Malerei zerfiel in ihre primitivsten, beschränktesten Zweige: die Stecherkunst, die Lithographie, und eine Unzahl unbedeutender Erscheinungen wurde mit großem Eifer bis in ihre einzelnen Teile bearbeitet. Dies verdanken wir dem XIX. Jahrhundert. Das Kolorit, das im XIX. Jahrhundert verwendet wird, bedeutet einen großen Fortschritt in der Erkenntnis der Natur. Man sehe sich nur einmal diese immer wieder erscheinenden Fragmente, Perspektiven und Landschaften an, die im XIX. Jahrhundert das Zusammenfließen des Menschen mit der ihn umgebenden Natur zum Ausdruck bringen: wie differenziert sich hier die von Licht umflutete Häuserflucht, indem sie aus der Finsternis hervortritt! wie durchsichtig ist das vom Licht getroffene Wasser, wie flutet es im Schattendunkel der Zweige! wie schwül und strahlend verliert sich der leuchtende Himmel in der Ferne! wie nah rückt er dem Beschauer die einzelnen Gegenstände: welch kühne, welch unerhörte Verwerfung der Schatten dort, wo man sie früher nicht einmal ahnte, und zugleich bei aller Schärfe welch wundervolle Zartheit, welch eine geheime Musik selbst in den gewöhnlichsten leblosen Gegenständen! Aber worin es unsere Zeit am weitesten gebracht hat, das ist die Beleuchtung. Die Beleuchtung verleiht all unseren Schöpfungen solch eine Kraft, ja, man kann sagen, solch eine Einheitlichkeit, daß sie, obwohl sie keine tiefere Bedeutung in sich tragen, die auf etwas Geniales schließen läßt, doch unserm Auge unendlich angenehm sind. Sie können uns durch ihren Gesamtausdruck zwar nicht fesseln, trotzdem aber entdeckt man bei genauerer Beobachtung in ihrem Schöpfer häufig eine, wenn auch beschränkte Kunsterfahrung.

Man betrachte einmal all diese unaufhörlich erscheinenden Gravüren, diese Produkte eines starken Talents, in denen die Natur so lebendig pulsiert, daß man meinen sollte, sie wären in Farbe getaucht. Die Morgenröte leuchtet in ihnen so zart am Himmel, daß wir beim längeren Hinsehen den purpurnen Widerschein des Abends zu erkennen glauben; die von Sonnenlicht überfluteten Bäume scheinen gleichsam wie mit einer dünnen Staubschicht bedeckt; aus dem tiefsten Dunkel der Schatten blitzt ein leuchtendes, blühendes Weiß sinnberückend hervor. Wenn man sie anblickt, so fürchtet man sich, sie mit dem Atem zu streifen. Dieser Effekt, der sich überall in der Natur findet, und durch den Kampf von Licht und Schatten entsteht, dieser Effekt ist das Ziel und Streben all unserer Künstler geworden. Man kann sagen, das XIX. Jahrhundert sei das Jahrhundert der Effekte. Jedermann vom Ersten bis zum Letzten hascht nach Effekt, vom Poeten bis zum Konditor, so daß diese Effekte uns wahrlich schon zu langweilen beginnen, und es ist möglich, daß das XIX. Jahrhundert infolge einer seltsamen Laune sich endlich wieder dem Schlichten zuwenden wird. Übrigens kann man sagen, daß die Effekte sich am meisten für die Malerei eignen, wie überhaupt für alles, was wir mit den Augen genießen: hier fällt, wenn sie an unrechter Stelle angebracht und wenn sie falsch sind, ihre Falschheit und Zweckwidrigkeit sofort einem jeden auf. Ganz anders ist es bei Erzeugnissen, die sich nur dem inneren Auge erschließen: hier wirken falsche Effekte schädlich, weil sie die Lüge verbreiten, denn die einfältige Menge stürzt sich kritiklos auf alles, was glänzt. In den Händen eines echten, wahren Talentes dagegen sind sie stets wahrhaftig und steigern den Menschen ins Riesenhafte; wo sie jedoch in die Hand eines unechten Talentes geraten, da werden sie dem wahren Kunstkenner ein Greuel, da wirken sie so widerwärtig wie ein Zwerg in dem Gewande eines Riesen, oder ein gemeiner Mensch, der sich mit einer unverdienten, nur dem Verdienst gebührenden Auszeichnung schmückt. Aber alles dieses gehört nicht eigentlich zum gegenwärtigen Thema. Man muß zugeben, daß im allgemeinen das Streben nach Effekt eher nützt als schadet; es treibt uns eher vorwärts als rückwärts und hat sogar in der allerletzten Zeit viel zur Vervollkommnung beigetragen. Von dem Wunsch getrieben, einen Effekt hervorzubringen, haben viele ihr Objekt genauer studiert und ihre geistigen Fähigkeiten viel lebhafter angespannt. Und wenn der wahre Effekt sich größtenteils nur in kleinen Vorwürfen offenbarte, so lag die Schuld mehr an dem Mangel an großen Genies, als in der ungeheuren Zersplitterung des Lebens und der Kenntnisse, der man sie gewöhnlich zuschreibt. Außerdem hat das Streben nach Effekt dazu beigetragen, daß die Details mit großer Gründlichkeit herausgearbeitet und daß sie durch ihr starkes Insaugefallen allen zugänglich gemacht werden. Ich erinnere mich nicht, wer es ausgesprochen hat, im XIX. Jahrhundert sei die Erscheinung eines universalen Genies, das das ganze Leben des XIX. Jahrhunderts in sich aufnehmen könnte, ein Ding der Unmöglichkeit. Das ist durchaus unrichtig, das ist ein Gedanke, den nur die Hoffnungslosigkeit eingeben kann und der von einem gewissen Kleinmut zeugt. Im Gegenteil, nie wird der Flug der Seele eines Genius so strahlend sein, wie in unserer Zeit; noch nie war das notwendige Material so gut für ihn vorbereitet wie im XIX. Jahrhundert. Und sein Schritt wird sicherlich der eines Riesen und jedem, vom Kleinsten bis zum Größten, sichtbar sein.

Das Bild von Brylow kann eine vollwertige, universale Schöpfung genannt werden. In ihr ist alles enthalten. Wenigstens hat es eine so gewaltige Mannigfaltigkeit in sein Bereich gezogen, wie vor ihm nie ein anderes Bild. Das Thema entspricht ganz dem Geschmack unseres Jahrhunderts, das aus dem Gefühl seiner ungeheuren Zersplitterung heraus darnach strebt, alle Erscheinungen zu ganzen Gruppen zusammenzuschließen, und das daher die großen Krisen, die von der ganzen Masse empfunden werden, bevorzugt. Jeder kennt jene herrlichen Werke, zu denen die „Vision des Balthasar“, die „Zerstörung Ninives“ und noch einige andere gehören; hier sind die gewaltigen Katastrophen in ihrer ganzen schrecklichen Größe dargestellt, in einer vollkommenen Beleuchtung; in furchtbarer Macht lassen ungeheure Blitze die schreckliche Finsternis aufleuchten und zucken über den Köpfen des betenden Volks. Der Gesamteindruck dieser Bilder ist erschütternd und von seltener Einheitlichkeit; doch aber bilden sie nur den Ausdruck für eine Seite dieses Gedankens. Sie erinnern an eine ferne Landschaft und liefern nur einen einzigen allgemeinen Eindruck. Wir haben nur ein Gefühl für die furchtbare Lage der ganzen Volksmasse, erkennen aber keinen einzelnen Menschen, der den ganzen Schrecken der sich vor seinen Augen vollziehenden Zerstörung zum Ausdruck bringt. Diesen Gedanken, den wir nur in starker perspektivischer Verkürzung gesehen, stellt uns Brylow plötzlich unmittelbar vor Augen, und dieser Gedanke wächst ins Riesenhafte und scheint auch uns in seinen Bannkreis zu ziehen. Die Darstellung, die Komposition seiner Idee ist mit außerordentlicher Kühnheit ausgeführt: er hat den Blitzstrahl ergriffen und läßt ihn stürmend auf sein Bild niederfallen. Der Blitz hat alles mit seinem Licht übergossen und überflutet, wie um alles sichtbar zu machen, so daß kein Gegenstand dem Beschauer verborgen bleibt. Daher liegt auch auf allem eine ungeheuere Lichtfülle. Die Figuren sind mit kraftvoller Hand hingeworfen, wie nur ein gewaltiger Genius es vermag. Diese ganze Gruppe, die im Augenblick, wo der Blitz niederfällt, wie erstarrt stehengeblieben ist, und in der sich tausend verschiedene Gefühle spiegeln, dieser stolze Athlet, der einen Schreckensschrei ausstößt, in dem Kraft, Hochmut und Ohnmacht liegen, und der sich mit seinem Mantel gegen den Wirbelwind von Steinen deckt, dieses Weib, das zu Boden gestürzt ist und ihren herrlichen Arm von einer nie dagewesenen Schönheit ausstreckt, dieses Kind, das den Beschauer mit seinem Blick zu durchbohren scheint, dieser vom Blitzschlag betäubte Greis, der von seinen Kindern getragen wird, dessen schrecklicher Körper schon einen Grabeshauch auszuströmen und dessen Hand mit den weit ausgespreizten Fingern in der Luft erstarrt zu sein scheint, diese Mutter, die die Flucht aufgibt und trotz der Bitten ihres Sohnes, dessen angsterfülltes Flehen der Beschauer zu vernehmen meint, unbeugsam bei ihrem Entschluß verharrt, diese Menge, die entsetzt von den Mauern zurückweicht oder voller Schrecken und doch wieder ihren Schreck plötzlich vergessend, wild auf die Erscheinung hinstarrt, die das Ende der Welt ankündigt, dieser Priester im weißen Gewande, der in hoffnungsloser Wut seinen Blick auf die ganze Welt richtet — dies alles ist so gewaltig, so kühn, so harmonisch ineinandergefügt, wie es nur im Kopfe eines universalen Genius möglich war.

Ich will hier nicht den Inhalt des Bildes analysieren, noch die dargestellten Vorgänge erläutern und erklären. Hierfür hat jeder sein eigenes Auge und sein eigenes Gefühlsmaß; außerdem ist dies alles so augenfällig und steht in so naher Beziehung zu dem menschlichen Leben und zu der Natur, die der Mensch vor sich sieht und begreift, weil beide jedem, dem Kleinsten wie dem Größten, verständlich sind: ich will nur die Vorzüge und die scharf hervorstehenden Eigentümlichkeiten des Brylowschen Stils hervorheben, um so mehr, da sie wohl den meisten entgangen sein werden. Brylow ist der erste Maler, bei dem die Plastik bis zur höchsten Vollkommenheit gediehen ist. Seine Gestalten sind trotz des furchtbaren Ereignisses und trotz der Lage, in der sie sich befinden, doch nicht von jenem wilden Entsetzen erfaßt, von dem die herben Schöpfungen Michelangelos erfüllt sind, bei deren Anblick wir erbeben. Auch finden wir bei Brylow nicht jene Vorherrschaft der himmlischen, unerreichbaren und zarten Gefühle, von denen Raffaels Bilder überquellen. Seine Gestalten sind schön, trotz all der Schrecken ihrer Situation. Sie überwinden das Entsetzen durch ihre Schönheit. Er ist hier nicht so, wie bei Michelangelo, bei dem der Körper nur dazu dient, um die Kraft der Seele, ihre Leiden, ihre Seufzer und ihre furchtbaren Erschütterungen sehen zu lassen, bei dem die Plastik unterging und die Kontur des Menschen riesenhafte Dimensionen annahm, weil sie nur dem Gedanken zum Symbol dient, und bei dem nicht der Mensch, sondern allein seine Leidenschaften vor uns erscheinen. Bei Brylow erscheint der Mensch nur dazu, um seine ganze Schönheit und die hohe Anmut seiner Natur zu offenbaren. Die Leidenschaften und die wahrhaften, flammenden Gefühle treten uns in so wunderbaren Formen, in so herrlichen Menschengestalten entgegen, daß ein Rausch des Entzückens uns erfaßt. Als ich das Bild zum dritten- und viertenmal ansah, schien es mir, als sei die Skulptur — jene Skulptur, die in der Antike solch eine plastische Vollkommenheit erreicht hat, als sei die Skulptur endlich in die Malerei übergegangen und hätte sich überdies mit einer geheimnisvollen Musik erfüllt. Brylows Menschen haben stolze und schöne Bewegungen; seine Frauengestalten haben etwas Strahlendes, aber es sind nicht die Frauen Raffaels mit ihren feinen, kaum erkennbaren Engelszügen — das sind leidenschaftliche, wilde, südliche Italienerinnen, in der ganzen reinen Schönheit des Mittags stark, kraftvoll, glühend in der Fülle ihrer Leidenschaften und in der Macht ihrer Schönheit und herrlich in ihrer Weiblichkeit. Brylow hat keine Gestalt geschaffen, die nicht Schönheit atmete; all seine Menschen sind schön. Die Gesamtbewegungen seiner Gruppen sind von gewaltigem Rhythmus und sind in ihrer Gesamtwirkung schon etwas Schönes. Bei ihrer Erschaffung hat Brylow seine Phantasie ebenso stark gezügelt und kraftvoll gelenkt, wie der Bewohner der Wüste einen arabischen Hengst. Daher ist das ganze Bild so voller Spannkraft und Pracht.

Im allgemeinen entdecken wir in dem Bilde einen gewissen Mangel an Idealität, d. h. einer abstrakten Idealität; darin besteht sein stärkster Vorzug. Wenn diese Idealität, dieses Übergewicht der Idee hinzugekommen wäre, dann hätte das Bild einen ganz anderen Ausdruck erhalten und nicht den Eindruck hervorgerufen, den es jetzt macht. Das Mitleid und jene furchtbare innere Ergriffenheit hätten sich nicht so der Seelen der Beschauer bemächtigt, und der wunderbare, von Liebe zur Schönheit und Wahrheit erfüllte Gedanke wäre ganz verloren gegangen. Was uns schreckt, sind nicht die Zerstörung, nicht der Tod, im Gegenteil, in diesem Augenblick liegt etwas Poetisches, ein wie im Wirbelwind dahinstürmender, geistiger Genuß; wir trauern um unser süßes Sinnenglück, um unsere herrliche Erde. Brylow hat diesen Gedanken in seiner ganzen Kraft erfaßt. Er hat den Menschen in seiner höchsten Schönheit dargestellt, sein Weib ist der Inbegriff aller Herrlichkeit der Welt. Seine Augen strahlen hell wie die Sterne, seine Kraft und Wollust atmende Brust verspricht die Wonnen der Seligkeit. Und dieses wundersame Weib, diese Krone der Schöpfung, dieses Ideal unserer Erde muß zugrunde gehen in dem allgemeinen Untergang wie das letzte verächtlichste Geschöpf, das es nicht wert ist, zu ihren Füßen dahinzukriechen. Ihre Tränen selbst, Ihre Angst und ihr Schluchzen — alles ist schön.

Die äußere ins Auge fallende Eigenart oder die Manier Brylows bildet auch einen völlig originellen und einen besonderen Fortschritt. Auf seinen Bildern liegt ein Meer von Licht. Das ist sein Charakter. Seine Schatten sind kräftig und scharf, gehen aber in der Gesamtmasse unter, verschwinden im Licht. Wie in der Natur, so sind sie auch bei Brylow kaum bemerkbar. Man könnte seinen Pinsel glänzend und durchsichtig nennen. Die Rundung eines schönen Körpers hat etwas Durchscheinendes und erinnert an Porzellan; das Licht, das ihn mit seinem Glanze überflutet, scheint zu gleicher Zeit in ihn einzudringen. Und dieses Licht ist wiederum so zart, daß es zu phosphoreszieren scheint. Selbst der Schatten erscheint bei ihm durchsichtig und strömt bei aller Kraft und Stärke eine reine, weiche Zartheit und Poesie aus. Seine Pinselführung prägt sich einem für alle Zeiten ein. Ich hatte zuerst nur ein Bild von ihm gesehen — das Porträt der Familie Witgenstein. Es prägte sich sofort und mit einem Schlage meiner Phantasie ein und lebt dort für immer in seinem leuchtenden Glanze. Als ich auf dem Wege war, mir das Bild „Die Zerstörung von Pompeji“ anzusehen, war das erste ganz aus meinem Gedächtnis geschwunden. Ich näherte mich mit einer größeren Menge von Menschen dem Saal, wo das Bild hing, und ich hatte, wie das in solchen Fällen zu geschehen pflegt, für einen Augenblick ganz vergessen, daß ich gekommen war, um mir ein Werk Brylows anzusehen; ich hatte sogar vergessen, ob überhaupt ein Brylow auf der Welt existiert. Aber als mein Blick auf das Bild fiel, als es vor mir aufstrahlte, da durchzuckte mich wie ein Blitz der Gedanke an jenes Porträt, und ich glaubte das Wort „Brylow“ zu hören. Ich hatte ihn wiedererkannt. Sein Pinsel hat etwas von jener Poesie, die man nur empfinden kann und die man stets wiedererkennt: unsere Sinne erkennen und fühlen stets die spezifischen Eigentümlichkeiten, obwohl wir sie mit Worten nie auszudrücken vermögen. Sein Kolorit hat eine Leuchtkraft, wie man sie früher fast nie gekannt hat; seine Farben glühen und treffen sprühend unsere Augen. Bei einem Künstler, der nur eine kleine Stufe tiefer stände als Brylow, wären sie unerträglich, bei ihm aber sind sie von jener Harmonie belebt und von jener inneren Musik durchdrungen, die die lebendigen Geschöpfe der Natur erfüllt.

Aber die stärkste Eigenart und das, was das Größte an Brylow ist, das ist die ungeheure Vielseitigkeit und der ungeheure Umfang seines Talents. Er läßt nichts außer acht, bei ihm ist alles von der Grundidee und den Hauptgestalten bis zum letzten Pflasterstein frisch und lebendig. Er bemüht sich, alle Gegenstände zu umfassen und ihnen allen den machtvollen Stempel seines Talents aufzudrücken. Gewöhnlich pflegten sich die Künstler früherer Zeiten nur eine einzelne Seite eines Gegenstands vorzunehmen und auf diese ihr ganzes Talent zu konzentrieren, das sich daher auch zu einer ungewöhnlichen, man möchte sagen, abstrakten Größe entwickelte. Raffael malte gewöhnlich nur Gesichter und stellte das Erwachen himmlischer Leidenschaften und Neigungen auf ihnen dar; alles übrige, selbst die Gewänder, ließ er seine Schüler vollenden. Auch alle übrigen großen Künstler vernachlässigten, ergriffen von der Erhabenheit der Religion oder der Erhabenheit der Leidenschaften, alles Beiwerk und alles Sekundäre auf ihren Gemälden. Bei ihnen hat der Himmel immer eine dunkelbraune Farbe; ihre Wolken erinnern mehr an Heubündel oder an Granitmassen; die Bäume bilden entweder in ihrer Regelmäßigkeit etwas Kindlich-Einförmiges oder in ihrer willkürlichen Form etwas Unharmonisch-Häßliches. Für Brylow dagegen sind alle Gegenstände vom größten bis zum kleinsten wertvoll. Er sucht die Natur mit seinen Riesenarmen zu umfassen und drückt sie mit der Leidenschaft eines Liebhabers an sein Herz. Vielleicht ist ihm dabei die detaillierte Durcharbeitung der Teile, mit der ihm das XIX. Jahrhundert vorangegangen ist, von Nutzen gewesen. Vielleicht hätte Brylow, wenn er früher zur Welt gekommen wäre, nicht dieses vielseitige aufs Ganze und Kolossale gerichtete Streben besessen, und vielleicht gehören daher seine Werke zu den ersten, die durch ihre Lebendigkeit und als reine Spiegel der Natur einem jeden verständlich sind. Seine Werke gehören zu den ersten, die sowohl der Künstler, der einen hochentwickelten Kunstgeschmack hat, wie der Laie, der nicht einmal weiß, was Kunst ist (wenn auch nicht in gleicher Weise), begreifen kann. Es sind die ersten Werke, denen das beneidenswerte Los zuteil ward, sich einen Weltruf zu erobern, und das hervorragendste unter ihnen ist bis heute das Gemälde „Der letzte Tag von Pompeji“, das sich durch seine ungewöhnliche Größe und die Vereinigung aller höchsten Schönheiten nur mit einer Oper vergleichen läßt, wenn die Oper wirklich eine Vereinigung der dreieinigen Welt der Künste, der Malerei, der Poesie und der Musik darstellt.

1834. Im August.

VII
Der Gefangene
Ein Kapitel aus einem historischen Roman

I m Jahre 1543, zu Beginn des Frühjahrs, wurde nachts die Ruhe des kleinen Städtchens Lukoma durch eine Abteilung der ordentlichen königlichen Truppen gestört. Der abnehmende Mond, der mit seiner leuchtenden Sichel durch die Wolken brach, die sich immerfort um ihn zusammenballten, erhellte für einen Augenblick den Boden der Schlucht, auf deren Grunde sich das kleine Städtchen angesiedelt hatte. Zum Erstaunen der wenig zahlreichen Stadtbewohner, die erwacht waren, zog die Abteilung, deren bloßes Erscheinen sonst der Vorbote von allerhand Unruhen und Plünderungen war, mit einer schauerlichen Ruhe durch die Gassen. Man merkte, daß die ganze Kraft ihrer stark gespannten Aufmerksamkeit sich auf den Gefangenen konzentrierte, der in ihrer Mitte einherritt; er hatte wohl das seltsamste Kostüm an, das einem Menschen je gewaltsam aufgezwungen wurde. Sein Körper war von unten bis oben mit Gewehren bedeckt, die an ihm festgebunden waren, wahrscheinlich, um ihm eine gewisse Bewegungslosigkeit zu verleihen. Ein Kanonengestell war auf seinem Rücken befestigt. Sein Roß konnte sich kaum fortbewegen, und der unglückliche Gefangene wäre längst herabgefallen, wenn er nicht mit einem dicken Seil an den Sattel gebunden gewesen wäre. Hätte ein Mondstrahl auch nur für einen Augenblick sein Gesicht gestreift, er hätte sich in den blutigen Schweißtropfen gebrochen, die ihm über die Wangen rannen. Aber der Mond konnte das Gesicht des Gefangenen nicht sehen, da es hinter einer eisernen Maske verborgen war. Die neugierigen Bewohner versuchten hin und wieder mit offenem Munde näher an den Gefangenen heranzutreten, wenn sie aber die drohend geballte Faust oder den Säbel eines der Begleiter erblickten, schraken sie zurück, liefen eilig in ihre elenden Hütten und wickelten sich, in der Kühle der Nachtluft fröstelnd, fester in die um die Schulter geworfenen tatarischen Pelze.

Die Abteilung hatte die Stadt passiert und näherte sich einem einsamen Kloster. Dieses Gebäude, das aus zwei völlig verschiedenen Teilen bestand, lag ganz am Ende der Stadt auf einem steilen Abhang. Der untere Teil der Kirche war aus Stein und bestand sozusagen ganz aus Spalten und Rissen; er war von Feuerrauch und Pulverdampf geschwärzt, stellenweise war er ganz grün, mit Nesseln, Hopfen und wilden Glockenblumen bedeckt, und bildete eine lebendige Chronik des Landes, das unter so viel blutigen Ernten zu leiden gehabt hatte. Der obere Teil mit seinen fünf geschwungenen, hölzernen Kuppeln, die eine entartete byzantinische Architektur geschaffen und die von barbarischen Nachahmern noch mehr verunstaltet waren, bestand ganz aus Holz. Die neuen Bretter, die zwischen den alten rauchgeschwärzten hervorschimmerten, verliehen der Kirche eine gewisse Buntheit und ließen erkennen, daß fromme Pilger sie vor nicht gar zu langer Zeit ausgebessert hatten. Ein blasser Strahl der Mondsichel stahl sich durch die krausen Zweige der Apfelbäume, die mit ihrem dichten Laubwerk einen Teil des Gebäudes verdeckten, und fiel auf die niedrige Tür und das über ihr angebrachte zackige Gesims, das mit kleinen, eigensinnig wuchernden gelben Blumen bedeckt war; sie leuchteten auf und glichen einer feurigen oder goldenen Aufschrift auf dem natürlichen Gesims. Einer aus der Menge, ein Mann mit einem nicht enden wollenden Schnurrbart, wie man noch nie einen ähnlichen gesehen hatte, — er war noch länger als seine Arme — ein Mensch, den man nach seinem Benehmen und seinem frechen, gebieterischen Blick wohl für den Führer der Abteilung halten konnte, schlug mit dem Flintenlauf an das Tor. Die morschen Klostermauern dröhnten und gaben einen Ton von sich, der wie die Stimme eines Sterbenden klang und in der Luft verhallte. Darnach trat wieder tiefe Stille ein. Ein wildes Fluchen in den verschiedensten Mundarten donnerte unter dem gewaltigen Schnurrbart des Abteilungschefs hervor: „Macht auf! verfluchtes Popenvolk! Sonst weiß ich schon, wie ich euch wecken will!“ Ein Pistolenschuß ertönte, die Kugel drang durch das Tor und schlug ins Kirchenfenster ein, so daß innen die Scheiben klirrend zu Boden fielen. Dies verursachte eine große Verwirrung in den Zellen, die an die Kirche grenzten; man sah Lichter aufblitzen; ein Schlüsselbund erklirrte; das Tor öffnete sich knarrend, und vier Mönche mit dem Prior an der Spitze traten bleich mit einem Kreuz in der Hand heraus.

„Hebt euch weg! unreine Geister, Bewohner der Hölle!“ sagte kaum hörbar mit zitternder Stimme der Prior. „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, hebe dich weg von hier, Satan!“

Allez! Das kläfft noch! Verfluchter Kerl!“ brüllte der Führer in einer Sprache, der kein Mensch hätte einen Namen geben können — aus so verschiedenartigen Elementen war sie zusammengebraut — „Was kläffst du Strolch und sagst, wir seien Teufel; wir Teufel? Wir sind von den Königlichen!“

„Was seid ihr für Leute? Ich kenne euch nicht! Was seid ihr gekommen, die Ruhe der rechtgläubigen Kirche zu stören?“

„Ich werde dir die Augen mit Pulver auswaschen, alte Hündin! Gib mir die Schlüssel zu den Klosterkellern.“

„Wozu braucht ihr die Schlüssel zu unseren Kellern?“

„Ich werde nicht erst viel mit dir reden, dummer Pope. Aber wenn du willst, Baßamasenjata, sprich mit meinem Gaul.“

„Bring’ diesem Antichristen die Schlüssel, Bruder Kasjan,“ seufzte der Prior und wandte sich an den einen Mönch. „Aber ich habe keinen Wein, so wahr Gott heilig ist, ich habe keinen! nicht ein einziges Faß, auch kein Fäßchen, ich habe nichts, was ihr brauchen könntet.“

„Was geht mich das an! Meine Jungens wollen trinken. Ich sage dir, wenn du dummer Pope keinen Stall, kein Heu und keinen Weizen für meine Pferde hergibst, dann führe ich sie in eure Kirche und versetze dir einen Fußtritt ins Gesicht.“

Der Prior sagte keine Wort, er blickte die Ankömmlinge mit seinen bleiernen Augen an, die, wie es schien, schon längst nicht mehr dieser Welt gehörten, denn sie ließen keine Andeutung von einer Leidenschaft erkennen, und sein Blick traf mit dem des Jesuiten zusammen, der seine Augen haßerfüllt auf ihn gerichtet hatte. Der Prior wandte sich ab, und sein Auge fiel auf den seltsamen Gefangenen mit dem Eisenvisier. Es schien, daß dieser Anblick den Greis, der gegen alles, was nicht die Kirche anging, teilnahmslos war, überraschte.

„Warum habt ihr diesen Menschen gefangen? Gott! strafe sie mit Deiner dreifaltigen Macht! Gewiß wieder ein Märtyrer, der für seinen Glauben an Christus leidet.“

Der Gefangene ließ nur ein schwaches Stöhnen vernehmen.

Die Schlüssel wurden gebracht, und beim Schein eines schläfrig brennenden Lämpchens näherte sich die ganze Bande dem Eingang einer Höhle, die sich hinter der Kirche befand. Kaum waren sie alle in das unterirdische, häßliche Gewölbe hinabgestiegen, als Grabesfeuchtigkeit sie umfing. Stumm schritt der Führer voran, und die flackernde Flamme der Lampe mit ihrem nebligen Strahlenkranz warf ihm einen fahlen, gespenstigen Lichtschimmer ins Gesicht, während der Schatten seines endlosen Schnurrbarts sich emporbäumte und alle mit zwei langen, dunklen Streifen bedeckte. Nur die beiden Enden des Kopfes mit ihrer plumpen Rundung waren hell und scharf beleuchtet und ließen den unsäglich gefühllosen Ausdruck erkennen, der darauf hindeutete, daß jede weichere Regung in dieser Seele längst erstorben und erstarrt, daß Tod und Leben ihm innerlich gleichgültig waren, daß sein größter Genuß in Tabak und Branntwein bestand und daß er sich nur dort ganz selig fühlte, wo alles lärmt und klirrt und trunken zu Boden sinkt. Er war ein Sprosse der Grenzvölker, in dem zahlreiche Nationen sich gemischt hatten. Von Geburt ein Serbe, der alles Menschliche in den wüsten Raubzügen und Trinkgelagen Ungarns in sich ertötet hatte, seiner Kleidung und auch zum Teil seiner Sprache nach ein Pole, seiner Geldgier nach ein Jude, seiner Verschwendungssucht nach ein Kosak und in seinem ehernen Gleichmut ein Teufel. Er schien die ganze Zeit über ganz ruhig zu sein und nur dann und wann murmelte er einen gewöhnlichen Fluch zwischen den Zähnen hindurch, besonders wenn er auf dem unebenen Boden stolperte, der sich immer tiefer und tiefer hinabsenkte.

Mit großer Sorgfalt betrachtete er alle Löcher in den Erdwänden, die jetzt ganz verschüttet waren, und einst als Zellen und einzige Zufluchtsstätte im Lande gedient hatten, wo selten ein Jahr verging, ohne daß die Zerstörung durch Steppen und Felder raste, und wo niemand massivere Gebäude und Schlösser errichtete, weil jedermann wußte, wie geringe Dauer ihnen beschieden war. Endlich erreichten sie eine hölzerne ganz mit Moos und Schimmel bedeckte Tür, die mit Balken und Steinen verrammelt war.

Der Führer blieb vor ihr stehen und betrachtete sie argwöhnisch von oben bis unten. „Nun!“ sagte er, wies mit den Augen nach der Tür hin, und es war, als ginge ein Windstoß von seiner struppigen Braue aus. Sofort machten sich einige von seinen Leuten an die Arbeit; nur mit Mühe gelang es ihnen, die Balken zu entfernen.

Die Tür öffnete sich! Gott! welch ein grauenerregender Anblick bot sich den Augen der Anwesenden dar! Schweigend blickten sie einander an, ehe sie wagten, dort einzutreten. Es liegt etwas von den Schrecken des Grabes in solch einem unterirdischen Gang. Dort herrscht der Tod in seiner starren Majestät, er reckt seine knöchernen Gliedmaßen unter all den blühenden Städten und Dörfern, unter der heiteren, lebensfrohen Welt. Aber wenn dieses Todesgrauen atmende Innere der Erde noch von lebenden Wesen, von jenen Höllengeistern bevölkert wird, deren Anblick uns schon allein erzittern läßt, dann erscheint es noch furchtbarer. Der Modergeruch war so stark, daß anfänglich allen der Atem stockte. Eine riesengroße Kröte hockte da und glotzte die Eindringlinge, die sie in ihrer Ruhe gestört hatten, mit ihren gräßlichen hervorquellenden Augen an. Die viereckige Höhle hatte nur einen einzigen Eingang; große Stücke von Spinngeweben hingen in langen Fetzen von dem Erdgewölbe herab, das die Decke der Höhle bildete. Große Haufen von Erde, die von der Decke herabgestürzt waren, lagen am Boden. Auf einem dieser Haufen lagen Menschenknochen, und blitzschnell huschten schnellfüßige Eidechsen zwischen ihnen hindurch. Eine Eule oder eine Fledermaus hätte in dieser Umgebung noch schön gewirkt.

„Warum ist das keine Stube! ’s ist eine schöne Stube!“ schrie der Führer. „ Allez , hinein! Du, Hund, du wirst hier gut schlafen! Leg’ dich mal auf den Erdklumpen und nimm dir die Kröte zum Kopfkissen, oder besser, nimm sie dir für die Nacht zur Frau!“

Einer von den Königlichen lachte über diesen Scherz, aber sein Gelächter fand in diesen feuchten Hallen ein so schreckliches, tonloses Echo, daß er selbst erschrak. Der Gefangene, der bis dahin stillgestanden war, wurde in die Mitte der Höhle gestoßen und hörte nur noch, wie hinter ihm die Tür knarrte und die Balken krachten, die den Eingang versperrten. Das Licht erlosch, und Finsternis umfing das Innere der Höhle.

Der Unglückliche erbebte. Es schien ihm, als hätte man den Sargdeckel über ihm zugeschlagen, und das Krachen der Balken, die den Eingang versperrten, schien ihm dem Klirren des Spatens zu gleichen, wenn die Erde mit schrecklichem Laute auf die letzten Überreste eines Menschen fällt und die Menge gleichgültig wie das Grab und wie im Traume flüstert: „Er ist nicht mehr — aber einst lebte er.“ Nach dem ersten Schrecken verfiel der Gefangene in eine sinnlose Spannung, in einen seelenlosen Zustand, der gewöhnlich einzutreten pflegt, wenn ein Schlag einen so furchtbar trifft, daß der Mensch nicht einmal den Mut hat, an ihn zu denken, sondern seine Augen auf irgendeinen unbedeutenden Gegenstand heftet und ihn aufmerksam betrachtet. In solchen Augenblicken gehört er einer anderen Welt an und hat keinen Teil mehr an dem, was die Menschen bewegt: er sieht gedankenlos vor sich hin, er fühlt, ohne zu empfinden, und ist von einem seltsamen Leben erfüllt. Zuerst heftete er seine Aufmerksamkeit auf die ihn umgebende Finsternis. Für eine Spanne Zeit war alles vergessen — ihr Schrecken und der Gedanke daran, daß er lebendig begraben war. Mit all seinen Sinnen suchte er sich mit der Finsternis vertraut zu machen, und vor ihm tat sich eine ganz neue seltsame Welt auf: plötzlich sah er helle Streifen die Dunkelheit durchziehen — eine letzte Erinnerung an das Licht. Diese Streifen nahmen alle möglichen Farben an und bildeten die seltsamsten Figuren. Es gibt keine absolute Finsternis für das Auge. Man mag es zudrücken, soviel man will, es malt und zaubert uns Farben vor, die es früher einmal gesehen hat. Diese bunten Arabesken nahmen entweder die Form eines bunten Schals oder eines reich geäderten Marmors oder endlich jene seltsame Gestalt an, die uns so wunderbar fremdartig anmutet, wenn wir ein Stück eines Flügels oder das Beinchen eines Insekts unter dem Mikroskop betrachten. Zuweilen sah er einen schlanken Fensterrahmen, den es doch in seiner Höhle nicht gab, vor seinem Blick auftauchen. Ein phantastisches Azurblau leuchtete in dem schwarzen Rahmen auf, verwandelte sich dann in ein Kaffeebraun, verschwand ganz und ging dann in ein dunkles Schwarz über, das mit Pünktchen von gelber, blauer oder unbestimmter Farbe besät war.

Bald aber verschwand diese ganze Welt, und des Gefangenen bemächtigte sich eine andere Empfindung. Anfänglich konnte er sich von diesem Gefühle keine Rechenschaft geben, dann aber gewann es immer mehr an Bestimmtheit. Er hatte ein Gefühl der Kälte auf seiner Hand, und seine Finger glitten unwillkürlich über etwas Schlüpfriges hin. Plötzlich fuhr ihm der Gedanke an die Kröte durch den Kopf! ... Er schrie auf und fühlte sich augenblicklich in die Wirklichkeit versetzt! Seine Gedanken tauchten plötzlich tief unter in den Schrecken der Gegenwart. Hierzu kam noch die gänzliche Erschöpfung seiner Kräfte und die furchtbare Stickluft: dies alles hatte zur Folge, daß er in eine tiefe Ohnmacht versank.

Unterdessen machten sich’s die königlichen Truppen in den Klosterzellen bequem, als ob sie zu Hause wären; sie schickten die Mönche fort, um die Ställe zu reinigen, und fingen fröhlich an zu zechen, voller Freude, daß sie sich endlich des Menschen, dessen sie bedurften, bemächtigt hatten.

1830.

VIII
Über die Völkerwanderung am Ende des V. Jahrhunderts

D ie große Völkerwanderung, aus der die heutige Bevölkerung Europas hervorgegangen ist, reicht mit ihrem Anfang bis in das ferne Altertum. Sie beginnt vielleicht gleichzeitig mit der Gründung Roms, ja vielleicht sogar schon früher. Während noch das Mittelmeer die neu entstandenen Staaten umspülte, die ersten Schritte eines aufkeimenden Handels beobachten konnte und der Geist der Völker, die die Blüte der antiken Welt bilden, sich immer mehr und mehr entwickelte — verbarg sich in den Tiefen Asiens eine andre unbekannte Welt, die dazu bestimmt war, die ganze antike Herrlichkeit, den Geist der Antike und seine alten Formen zu vernichten und sie durch einen neuen Geist zu ersetzen. Mittelasien bildet einen schroffen Gegensatz zum Süden und zu dem Südwesten dieses Kontinents, sowie zu den afrikanischen und europäischen Küsten des Mittelmeers, wo die blühende Vielgestaltigkeit der Natur, des Bodens, der Erzeugnisse, der Wechsel von Festland und Wasser, und die unzähligen Inselgruppen, die Vorgebirge und Meerbusen geradezu wie geschaffen sind, um die Tatkraft und den Geist des Menschen zu einer rapiden Entwicklung zu bringen. Die Natur Mittelasiens ist von ganz anderer Art: sie ist einförmig und unermeßlich. Seine Steppen gehen ins Uferlose, sie bilden ungeheure Flächen und scheinen einem wüsten Ozean zu gleichen, der nirgends durch eine Insel unterbrochen wird. Die stillen, regungslosen Seen inmitten dieser endlosen Ebenen konnten unmöglich zur Tatkraft anspornen. Es schien, als hätte die Natur selbst dieses Land für Hirtenvölker bestimmt, damit wir uns nach diesen eine Vorstellung von der primitiven Lebensweise der Urvölker bilden könnten. Die Unermeßlichkeit dieser Ebenen konnte im Menschen nie den Gedanken an einen dauernden Wohnsitz aufkommen lassen, ein Gedanke, der gewöhnlich nur beim Anblick von schroffen Felsen, Meeresufern, Inseln und überhaupt in Gegenden entsteht, wo man festen Fuß fassen kann. Wo dagegen die Natur in regungslosem Schlummer liegt, da wird auch der Mensch sorglos und kümmert sich nur um das Allernotwendigste. Die patriarchalischen Bewohner der Steppen nährten sich nur von Milch und Käse, die ihnen ihre halbwilden Haustiere lieferten, und nur selten aßen sie Fleisch. Daher vermehrten sich auch ihre Herden in ganz ungewöhnlichem Maße; ihre Besitzer mußten immer häufiger von einem Ort zum andern ziehen, mit jedem Jahr wurde der Bedarf an Wiesen größer und größer — und so kam es, daß das Land, das uns noch heutzutage durch seine unermeßliche Größe erschreckt, daß das Land, das doppelt so groß war wie die ganze zivilisierte Welt jener Zeit und mit dem sämtliche Bauern der Welt nichts anzufangen wüßten — daß dies Land zu eng für seine Bewohner wurde. Die mächtigeren Fürsten mußten die schwächeren verdrängen. Ein Hirtenvolk, das kein immobiles Eigentum hat, dessen Besitz sich auf ein durch die Zeit erworbenes und befestigtes Recht stützt, gibt leicht dem ersten Ansturm nach und zieht selbst mit seinen Herden weiter. So wurde Asien ein Menschen ausspeiender Vulkan. Jedes Jahr warf es neue Menschenscharen und Herden aus seinem Inneren aus, die ihrerseits die schon früher Ausgespienen aus ihren Niederlassungen verjagten. Diese überschritten die Berge und drangen in Europa ein. Man kann wohl sagen, diese Völker schritten nicht in einer bestimmten Richtung vorwärts, sondern eins verdrängte das andere mechanisch von seinem Platz. Das waren keine Eroberer, sondern eine Art Sklaven, die unter dem Druck einer angedrohten Strafe handelten. So zog sich eine Kette von Völkern von Osten und Nordosten durch ganz Europa bis nach Süden hin. Im Süden stieß sie auf das erste Hindernis, sie bekam die gewaltige Macht der Römer zu spüren und traf mit der antiken Welt zusammen. Unterdessen fuhr Asien weiter fort, neue Scharen von Menschen auszuwerfen. Der Anstoß, der von jedem neuen Ausbruch dieses Vulkans ausging, pflanzte sich durch die ganze Kette fort: die neuen Scharen drängten die vorderen Reihen weiter, jene die vor ihnen marschierenden und so fort. Die Wucht dieser Völkerwanderung wurde bald außerordentlich stark, dafür aber wurde auch der Gegendruck seitens der Römer sehr kräftig, so daß sich an der Grenze des römischen Reiches eine ungeheuere Menge von Völkern zu stauen begann. Bei jedem neuen Ausbruch wurde diese Menge immer größer und stärker, und es wurde den Römern immer schwerer, sich ihrer zu erwehren. Endlich gaben die Römer nach, und die Horden stürmten mit gewaltigem Ungestüm nach dem Süden Europas. Hätte Europa im Süden nicht das Mittelländische Meer zur Grenze gehabt, oder hätten diese Völker irgendein Verständnis für die Schiffahrt besessen, so hätte die Völkerwanderung noch lange fortgedauert — denn Asien hörte nicht auf, neue Menschenscharen auszuwerfen — die Völker wären nach Afrika übergesetzt, Europa wäre noch viele Jahre lang nicht zur Ruhe gekommen, das Chaos hätte noch lange fortbestanden, viele Reiche wären erst viel später gegründet und der Fortschritt der Zivilisation wäre überhaupt um viele Jahrhunderte zurückgeworfen worden. Aber als die Völker den Süden Europas erobert hatten, und als sie das Meer und die Unmöglichkeit, weiter vorwärtszuschreiten, vor sich sahen, da entschlossen sie sich, mit aller Gewalt gegen die nachdrängenden Feinde vorzugehen. Als die letzteren auf solch unerwarteten Widerstand stießen, beschlossen sie auch, ihre Feinde zurückzudrängen, die nun ihrerseits wieder dasselbe mit ihren Gegnern taten, und so geschah es, daß der Anstoß die entgegengesetzte Richtung erhielt, und die Bewegung kam plötzlich zum Stehen. Die Folgen dieser Erscheinung machten sich sogar in Asien fühlbar, und einige Hirtenvölker wurden hierdurch gezwungen, zum Ackerbau überzugehen.

Diese Völkerwanderung hätte sich viel schneller vollzogen, wenn auch Europa aus solch flachen, offen daliegenden Ebenen bestanden hätte, wie sie Asien bedecken. Hier dagegen hatte die Natur auf einer verhältnismäßig kleinen Fläche eine ungeheuere Unregelmäßigkeit und Mannigfaltigkeit hervorgebracht: überall ist das Festland vom Meere durchfurcht, seine Ufer bestehen aus zahllosen Halbinseln und Vorgebirgen, und auch im Innern gibt es nur sehr wenig ebene Flächen; der Boden steigt und senkt sich in einem fort, erhebt sich und bildet ungeheure Gebirge, oder er fällt jäh herab und bildet tiefe Täler, die wie durch einen Erdsturz zwischen diesen entstanden zu sein scheinen. Dazu kam, daß Europa zu jener Zeit noch mit undurchdringlichen Urwäldern bedeckt und von sumpfigen Mooren durchzogen war. Und daher vollzog sich die Völkerwanderung, je tiefer sie bis ins Innere Europas drang, immer langsamer und langsamer: die Menschen mußten sich durch Wälder hindurchschlagen, Berge übersteigen und Sümpfe umgehen. Ihre Niederlassungen bildeten sozusagen Oasen, und die einzelnen Völker wurden durch Urwälder und unerforschte Gegenden voneinander getrennt, so daß sie häufig lange gegen jegliche Überfälle geschützt waren. Und wenn dann eine neue Springflut von gewaltigen Völkermassen, befehligt von einem unternehmenden Führer, herankam und Europa mit wundersamen Fanalen illuminierte, indem sie die alten Urwälder in Brand setzte und der Vernichtung preisgab, dann bot sich den erstaunten Blicken der Ankömmlinge ein Volk dar, von dessen Existenz sie keine Ahnung gehabt hatten, und das in seinen Sitten und Gebräuchen sich zwar weit von ihnen entfernt, dennoch aber eine gewisse Ähnlichkeit mit ihnen bewahrt hatte. Man kann sagen, ganz Europa bestand damals aus lauter Fetzen und Bruchstücken, die die Natur selbst voneinander getrennt hatte; daher war die Unterwerfung dieses Erdteils und seine Vereinigung unter der Gewalt eines Herrschers ein Ding der Unmöglichkeit, und so entstanden die zahlreichen europäischen Nationen, die sich ohne allen Zweifel zu einer Nation verschmolzen und einen einheitlichen Charakter angenommen hätten, wenn Europa eine einzige offene Ebene gewesen wäre. Das war eine neue nie gesehene Welt, von der die antiken zivilisierten Völker nichts wußten, und die sich, wie man wohl sagen darf, auch selbst kaum kannte.

Den Kern dieser Völker bildeten die zahlreichen Stämme germanischer Nation, die sich über den ganzen Westen ausbreiteten. Die Ufer der Nordsee, des Rheins, der Donau und ganz Mitteleuropa bis zur Ostsee waren von ihnen besetzt. Als die Römer zum erstenmal mit ihnen zusammenstießen, bewies der Kulturzustand dieser Völker, daß sie schon lange in Europa ansässig waren, und daß ihre Übersiedelung nach Europa schon im grauesten Altertum stattgefunden haben mußte. Daß sie jedoch aus Asien stammten, dafür konnte man den Beweis in der seltsamen Ähnlichkeit einiger deutscher Stammwörter mit der persischen Sprache finden. Ob nun Asien in grauer Urzeit zugleich die Stämme ausgeworfen hat, die später im Süden inmitten der Berge das persische [8] Volk und in den nordischen Wäldern Europas das Volk der Germanen gebildet haben, oder ob vielleicht später der gewichtige Einfluß der Parther, die aus Mittelasien hervorbrachen, eine Reihe von Wörtern in die persische Sprache eingeführt hat, die man bis dahin nur in den unermeßlichen asiatischen Steppen vernommen, und die sich bereits in Europa verbreitet hatten [9] — wie dem auch sei — jedenfalls stammen die Germanen ursprünglich aus Asien und hat sich ihre Einwanderung in Europa schon in grauer Urzeit vollzogen.

Diese Völker bildeten einen vollkommenen Gegensatz zu den Römern und gewissermaßen eine Welt für sich. Ihre physische und geistige Natur trug den ausgesprochenen Stempel echter Ursprünglichkeit und Eigenart. Ihre physische Organisation widersprach durchaus der der Völker der Alten Welt. Die schwarzen glänzenden Augen, das dunkle Haar, das ausdrucksvolle Gesicht des Südländers, in dem sich die Begierde nach Üppigkeit und übermäßigen Genüssen zu spiegeln schien — dieser gemeinsame Typus der bereits erstarrten antiken Welt — traf hier auf sein vollkommenes Gegenteil: die blauäugigen, blonden, großen und starken Germanen mit dem einseitig wilden, kriegerischen Ausdruck im Gesicht repräsentierten einen völlig neuen Typus der menschlichen Natur, der den Beginn der Neuen Welt kennzeichnete.

Ihre Religion, ihre Lebensweise, ihr Temperament, die Grundelemente ihres Charakters unterschieden sich in jeder Beziehung von den zivilisierten Völkern jener Zeit. Die Religion der Germanen zeichnete sich durch eine besondere Eigenart aus. Ihre Gottheit, der Gegenstand ihrer Anbetung, war die Erde. Es war, als hätte der düstere Anblick des damaligen Europa ihnen die Idee zu dieser Religion eingegeben. Nur selten von Sonnenlicht umflossen, immer nur im Schatten hundertjähriger Eichen lebend, und Höhlen als erste Wohnstätten oder Verstecke für ihre Schätze grabend, sahen sie nichts wie die Erde, deren gewaltige Kraft auf ihrer Oberfläche Pflanzen wachsen ließ, die ihnen als armselige Nahrung dienten, und herrliche, hohe Bäume, die über ihren Köpfen rauschten — und so konnten sie die Erde für die Erzeugerin aller Dinge halten. Von ihr leiteten sie ihren Gott Tuisto-Teut ab, der einen Sohn Mannus hatte und von diesem wiederum die verschiedenen Stämme der germanischen Völker, die sie für die ältesten Bewohner der Welt hielten. Es könnte scheinen, als ob dieser Begriff von der Religion sie ganz wesentlich von Asien unterscheidet, aber wir müssen nicht vergessen, welch gewaltigen Einfluß die Natur und die Bodenverhältnisse stets gehabt haben. Die Natur übt eine despotische Herrschaft über den Urmenschen aus. Je mehr der Mensch sich entwickelt, je mehr sein Geist heranreift, um so mehr Macht bekommt er über die Natur, und dann schreibt er ihr die Gesetze vor, aber im wilden Urzustande muß er sich ihren Gesetzen fügen, ist er ihr Sklave. In Mittelasien liegt der Himmel immer offen vor dem Auge da; dort ist er unübersehbar und von einer gewaltigen Ausdehnung; im Vergleich mit ihm erscheint die Erde armselig und klein. Keine einzige hochgewachsene Pflanze, kein spitzer, kantiger, hoher und schmaler Fels fesselt das Auge; das auf den unabsehbaren Flächen sprießende Gras erscheint hier noch niedriger als sonst. Aber hier strahlt die Sonne in ihrer ganzen Herrlichkeit und überflutet alles mit ihrem Licht: leuchtende Sterne übersäen dicht das Himmelsgewölbe, und sie allein dienen den Menschen zum Halt und Wegweiser. Daher war in Asien überall die Anbetung der Sonne und der Himmelsgestirne vorherrschend. Je mehr dagegen die Völker nach Europa vordrangen, desto seltener sahen sie die Sonne. Das dichte, majestätische Dunkel der europäischen Wälder machte einen tieferen Eindruck auf ihre ungebildete Phantasie. Die Nebel und die aus den Sümpfen aufsteigenden Ausdünstungen verbargen den Himmel vor ihnen, und die Notwendigkeit, sich zeitweise mit dem Ackerbau zu beschäftigen, brachte es mit sich, daß sie sich enger an die Erde anschlossen. Daher war auch bei den germanischen Völkern die Anbetung der Gestirne nur sehr wenig verbreitet, und nur bei ganz wenigen Völkern hat sich eine Erinnerung daran erhalten. Tief im Waldesdickicht, das nie von einem Sonnenstrahl durchdrungen wurde, brachten sie ihrer Göttin, der Mutter Hertha, ihre Opfer dar. Es scheint so, als ob ihnen die Finsternis für heilig galt, darin war ihre Religion schon von Anbeginn allen anderen Religionen unähnlich. Sie glaubten an die Unsterblichkeit. Aber ihr Himmel war ein finsterer Himmel. In ihrer Walhalla sahen sie nur die Fortsetzung ihres kriegerischen Lebens: dorthin versetzten sie ihre germanischen Eichen, ihre flammenden Lagerfeuer und das Getöse ihrer Waffen; bleifarbene Wolken verhüllten ihren Himmel, den sie mit den dunklen Schatten ihrer großen im Kriege gefallenen Helden bevölkerten. Die Anbetung Herthas verbreitete sich fast bei allen germanischen Stämmen. Zu den Gegenständen ihrer Verehrung gehörten auch die Schatten ihrer verstorbenen Helden, die sie sich in übernatürlicher, ins Riesenhafte gesteigerter Größe vorstellten. Auch ihre treuen Gefährten, die Kriegsrosse, genossen dieselbe Verehrung, unter denen die weißen nach Tacitus für besonders heilig galten und in den heiligen Hainen untergebracht wurden. Man spannte sie vor den heiligen Wagen, dem der König und die Priester folgten, und aus dem Schnauben der Rosse deutete man die Zukunft.

Die germanischen Völker blieben lange Zeit ihrer ursprünglichen Lebensweise treu. Sie lebten nur für den Krieg, er bildete ihre ganze Freude. Beim Kriegslärm erbebten sie wie junge, kampfmütige Tiger. Sie dachten nur daran, ihre Kräfte zu messen und sich an der Schlacht zu vergnügen. Habgier und Beutelust spielte nur eine geringe Rolle: als Hauptsache galt ihnen nur, sich in der Schlacht hervorzutun, damit ihre Heldentaten später im Liede besungen würden. Alle Vorteile und ihr ganzes Lebensglück hing mit dem Namen dessen zusammen, der sich mit Kriegsruhm bedeckt hatte. Er wurde zum Führer gewählt; ihn bewunderten und verehrten alle Völker. Er war der Vermittler und Richter in allen Streitfragen, und er verteilte im Kriege nach eigenem Ermessen die ganze Beute; sogar fremde und weit entlegene Stämme sandten ihm Pferdegeschirr zum Geschenk; die verwandten und untergebenen Stämme brachten ihm freiwillig die Erzeugnisse ihrer Felder, Früchte, Rinder und Rosse als Gabe dar. Mut und Tapferkeit galten als etwas Göttliches; alles strömte um die Wette der Fahne des Führers zu, und jedermann kämpfte nicht um der Beute willen, sondern um sich vor ihm auszuzeichnen und ein Wort der Anerkennung von ihm zu hören. Sein Name lebte noch lange in den Heldengesängen fort, nach seinem Tode wurden ihm zu Ehren große Festgelage veranstaltet, und noch lange rühmte sich sein Stamm seiner Heldentaten; seinem Schatten wurden allmählich göttliche Ehren zuteil, und er wurde ein Gegenstand der Anbetung. Solch ein Schicksal war beneidenswert, denn auch im unentwickelten Menschen glüht ja schon die Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Alle ohne Unterschied eiferten danach, ruhmvolle Taten zu vollbringen; die Schlachten häuften sich, und die Germanen waren stets bereit, auf den ersten Ruf mit ihren wilden Kriegshorden heranzubrausen.

Sie kämpften fast nackt, indem sie ihre athletische Kraft in aller Schlichtheit an den Tag legten. Ein Mantel, der statt von einer Schnalle, von einem Dorn zusammengehalten wurde, ein Raubtierfell über der Schulter — das war ihre ganze Rüstung. Sie stellten sich in dichten Haufen in keilförmiger Schlachtordnung auf und kämpften von nahem und von ferne mit kurzen Lanzen, die Framen genannt wurden; mit der Löwenkraft ihrer Muskeln schleuderten sie sie so weit, wie es nötig war, um den Feind zu erreichen; nur ihre Schilde waren etwas schöner und prächtiger und waren mit grellen Farben bemalt; Scharen von Frauen und Kindern folgten ihnen in die Schlacht, begleiteten sie mit ihrem Geschrei und spornten sie immer wieder zu neuem Mut an: sie dachten nicht an Flucht, der Gedanke an die Sklaverei, die ihre Frauen und Kinder erwartete, verdoppelte nur die wilde Kraft ihres Ansturms, und der Feind war gezwungen, nachzugeben. Die Frauen sogen ihren Männern mitten im Getümmel der Schlacht die Wunden aus, verbanden sie, ja sie trugen die Verwundeten auf ihren Schultern hinweg. Der Tod des Führers wirkte nicht etwa lähmend auf sie, im Gegenteil, er kettete alle durch das stählerne Band der Rache zusammen und machte sie unüberwindlich. Es galt als größte Schande, seinen Schild wegzuwerfen; der Unglückliche, dem dies passierte, wurde ein Opfer der allgemeinen Verachtung und nahm sich selbst das Leben. Nur auf Grund der allgemeinen Achtung herrschte der Führer, ohne daß ihm sonst irgendwelche Machtmittel zu Gebote standen, unumschränkt über die Stämme, und die Krieger befolgten mit bewunderungswürdigem Gehorsam seine Befehle. Doch nicht nur im Kriege hatte er den Oberbefehl, er behielt zuweilen seine Macht auch während des Friedens bei und nannte sich dann Heerführer [10] .

Die Germanen waren sehr freiheitsliebend und wollten keine Gewalt über sich anerkennen. Eine eigentliche Regierung gab es nicht. Sie versammelten sich und veranstalteten Volksversammlungen, die jeden Monat bei Neumond und Vollmond, bei außerordentlichen Anlässen jedoch zu jeder beliebigen Zeit abgehalten wurden. Sie erschienen träge und langsam zu diesen Versammlungen, wie um anzudeuten, daß sie aus freien Stücken kämen; es vergingen einige Tage, bis die nötige Zahl beisammen war und die Beratung beginnen konnte. Sie saßen in voller Rüstung da; nur die Priester hatten das Recht, Schweigen zu gebieten; die Familienältesten präsidierten, die sogenannten Grauhaarigen ( grawion ), die später diesen Namen in den der Grafen veränderten, die Fürsten und die, die sich während der Schlachten ausgezeichnet hatten, führten das Wort; ihre Rede war schlicht und von jenem kräftigen, gedrängten Lakonismus erfüllt, durch den sich die treuherzige Beredsamkeit junger Völker auszeichnet.

Sie waren schlicht und offenherzig; ihre Verbrechen waren nur die Folgen ihrer Unwissenheit und nicht ihrer Lasterhaftigkeit. Nur Ehrlosigkeit und eine niedrige Gesinnung galten als Verbrechen; Überläufer und Verräter wurden gehängt und einem qualvollen Tode überantwortet; für ein gemeines und ehrloses Vergehen wurde der Schuldige in einen Sumpf versenkt, und es wurde Schlamm und Reisig auf ihn geworfen, wie um etwas zu verbergen, was nie ans Tageslicht kommen sollte. Die untreue Frau war ganz in der Gewalt ihres Mannes: er durfte ihr das Haupthaar abschneiden, ihr ihre Kleider wegnehmen und sie nackt und schmachbedeckt mit Ruten durch Dörfer und Siedelungen jagen; niemand wagte es, auch wenn sie noch so schön war, ihr sein Mitleid zu bezeigen. Aber diese Fälle waren nur selten, denn die Germanen hatten einen wilden und rauhen Charakter, und bei ihnen herrschten nur Bräuche und Sitten, die gewöhnlich viel stärker sind als Gesetze.

In ihrem häuslichen Leben waren sie ganz im Gegensatz zu ihrem unruhigen kriegerischen Wesen sehr sorglos und träge. Sie waren stumpf und sehr faul und lagen in ihren Hütten herum, ohne sich vom Fleck zu rühren. Je mutiger ein Mann zu sein glaubte, um so mehr hielt er es für unter seiner Würde, sich mit irgendeiner Arbeit abzugeben; die Äcker wurden von alten Leuten, von den Schwachen, Minderjährigen und Knechten bebaut; letztere genossen volle Freiheit und mußten nur eine kleine Naturalabgabe von ihren Feldern zahlen. Alle häuslichen Arbeiten lagen auf den Schultern der Frauen. Die Frau brachte ihrem Manne keine Mitgift in die Ehe mit, im Gegenteil, er mußte ihr am Vorabend der Hochzeit einen Ochsen im Joch, ein voll ausgerüstetes Pferd und eine Lanze darbringen, wie um damit auszudrücken, daß sie von nun an an all seinen Beschäftigungen teilnehmen müsse.

Die Kleidung der Germanen war ganz anders, als dies in der römischen Welt und bei allen südlichen Völkern üblich war, die eine gewisse Liebhaberei für leichte, weite Gewänder hatten; sie trugen enge Kleider, die sich fest an den Körper anschmiegten, und die Tierfelle, in die sie sich mit Vorliebe hüllten, verliehen ihnen ein wildes, tierisches Aussehen. Die Kleidung der Frauen unterschied sich nur wenig von der der Männer; einzelne trugen hochrote Leinwandröcke, die nur bis zum Gürtel reichten, so daß der Hals, der Busen und die Arme offen blieben. Die Kinder waren sich ganz allein überlassen und wuchsen in der Gesellschaft der Haustiere auf. Erst wenn sie volljährig wurden, durften sie Waffen tragen und an den Versammlungen teilnehmen. Die Gastfreundschaft, die allen wilden Völkern von primitiven Sitten eigen ist, war auch den Germanen eigentümlich; der Gast wurde reichlich beschenkt, und wenn jemand nicht in der Lage war, einen Gast zu bewirten, führte er ihn selbst zu einem seiner Genossen.

Am häufigsten jedoch konnte man die alten Germanen bei ihren Festgelagen antreffen, wo manches Mal mehrere Nächte hindurch gezecht wurde, dann war der Wald prachtvoll erleuchtet von lohenden Eichen, und ein Getränk aus gegorenem Gerstensaft, wahrscheinlich der Urahne des heutigen Biers, das in Deutschland so viel getrunken wird, ließ ihren Gedanken, Reden und Entschlüssen freien Lauf. Bei diesen Gelagen kamen alle ihre Unternehmungen zur Reife. Hier faßten sie die Pläne zu ihren kühnen, gewagten Angriffen, die während einer gemächlichen Volksversammlung wohl nicht jedem und auch nicht immer in den Sinn gekommen wären. Sie waren stürmisch, waghalsig, und wenn sie einmal wach, erschüttert und aus ihrer kaltblütigen Indolenz aufgerüttelt waren, kannte ihre Leidenschaft keine Grenzen. Ihre Verwegenheit kam ganz besonders beim Würfelspiel zum Ausdruck, da konnte der wilde Germane so leidenschaftlich werden, daß er sein Haus, seine Waffen, sein Weib, seine Kinder und zuletzt sich selbst verspielte und in die Sklaverei verkaufte — ein Zustand, der ihn schlimmer dünken mußte als der Tod! Vielleicht war dieses wilde Temperament die Quelle jener starken, kühnen Leidenschaften, die den Europäer erfüllen.

So geartet waren die germanischen Völker — diese wilden Elemente, aus denen das neue Europa hervorgegangen ist. Sie zerfielen in unzählige Stämme und überzogen das nördliche Europa ebenso dicht wie die dichten europäischen Wälder. Um einen klaren Überblick über sie zu gewinnen, wollen wir mit den Gegenden beginnen, wo die Alte Welt diese ersten Begründer der Neuen Welt zuerst erblickte, d. h. mit der Donau, die den Römern als Grenze diente. Hier wohnten Stämme, die zwar noch frei aber doch nicht mehr ganz wild waren, und die schon Beziehungen mit dem antiken, zivilisierten Rom angeknüpft hatten, als da sind: die Hermunduren, die Narisker, die Markomannen und die Quaden. Ferner lag eine große Kette von germanischen Stämmen an den Ufern des Rheins von seiner Quelle bis tief herab zu der Stelle, wo er ins Meer fällt. Das waren die Vangionen, Triboker, Nemeter, Matiaken, Ubier; auf sie folgten die Tenkterer, die besten Reiter, deren Reiterei auch bei den Römern berühmt war, und deren ganzer Besitz aus ihren Rossen bestand und immer dem Tapfersten hinterlassen wurde; dann folgten die Usipier und hart an der Mündung des Rheins, wo er ins Meer strömt — die mächtigen Bataver.

Das mittlere Deutschland war ganz mit Wäldern bedeckt und barg die wildesten und mächtigsten Stämme in sich. Von Westen nach Osten fortschreitend, treffen wir zuerst auf die Chatten, die Ahnen der heutigen Hessen; sie bewohnten die aus zahllosen Hügeln bestehenden Ufer des Main. Dieses Volk verbreitete Schrecken um sich durch sein Fußvolk, durch dessen vortreffliche Aufstellung und Organisation, durch seine umsichtige Angriffstaktik und den wilden Ausdruck seiner Gesichter. Die Sitten und Gebräuche der Chatten setzten einen durch ihre Eigenart unwillkürlich in Erstaunen. Kein Jüngling durfte sich das Haar schneiden, ehe er nicht seine Hände in Feindesblut gewaschen hatte, während der Schlacht mußten sie in den vorderen Reihen kämpfen, und dann jagten sie den Feinden mit ihren struppigen, behaarten Gesichtern Angst und Schrecken ein. Jeder Chatte trug einen eisernen Ring am Arm, was sonst für schmachvoll galt, weil der Ring an eine Kette erinnerte, doch durfte er ihn nicht früher ablegen, als bis er mit eigener Hand einen Feind getötet hatte. Südlich von den Chatten wohnten die Cherusker, die Bewohner des Harzes, weiter folgten die Fosen, die Sigambrer, die Brukterer, die Angrivarier, die Chasuarier und endlich die Harier, die sich durch eine ganz eigene Angriffsweise auszeichneten. Sie führten ihre Überfälle in dunklen finsteren Nächten aus, färbten sich, um Schrecken und Furcht einzuflößen, ihren Leib, trugen schwarz angestrichene Schilde und boten sich dem erstaunten Blicke der Feinde, die diesen Anblick nicht zu ertragen vermochten, wie ein Leichenzug dar. Östlich von ihnen in etwas freieren, offener daliegenden Gegenden wohnten die Sueven. Diese bestanden aus einer Menge verschiedener Stämme und führten noch lange Zeit ein Hirtenleben, obwohl sich der Boden wegen seiner vielen Sümpfe nur wenig dazu eignete.

Überhaupt kann man sagen, je mehr man sich dem Süden oder dem Südwesten näherte, um so mehr Ackerbau treibende Stämme traf man an; oder Ackerbau und Viehzucht traten zusammen auf; je mehr man sich dagegen dem Osten, Ungarn, Dacien und Polen näherte, um so mehr überwog das Hirtenleben, und je tiefer man endlich in die Wälder des Harzes eindrang, um so finsterer und kräftiger wurden die germanischen Stämme. Aber die allergefährlichsten unter ihnen, die selbst die Römer fast gar nicht kannten, und die dennoch die eigentlichen Zerstörer ihrer Herrschaft wurden — das waren alle die Stämme, die die Küsten des Meeres und die an der Ostsee gelegenen Länder bevölkerten. Bis hierher waren die Römer nie vorgedrungen. Hier wohnten Seeräuber, die unternehmungslustigsten unter den Germanen, die schon die Lage des Landes und des Meeres dazu zwang, sich in die kühnsten Unternehmungen zu stürzen.

So ein Leben führten die Friesen und Chauken am Ufer der Nordsee, dann ein wenig weiter die gewaltigsten unter den Korsaren des Nordens, die Sachsen, ferner in Holstein die Cimbern, an der Ostsee die Goten, die Wariner, die Rugier und Burgunder und in Preußen die Longobarden, die Vandalen und die Heruler. Außerdem gab es in Mitteldeutschland noch eine ganze Reihe von Abkömmlingen dieser Stämme, die ganz verborgen in Wäldern und Sümpfen lebten; während der häufigen Schlachten und Kämpfe zwischen den einzelnen Stämmen wurden sie aus ihren Verstecken hinausgedrängt und sahen sich nun gezwungen, Plätze aufzusuchen, bis zu denen kein Mensch vordringen konnte. Auch die Berge der Alpen und der Karpathen bargen eine Menge von Fetzen oder Überresten verschiedener Stämme in sich: gallische, germanische und wendische Völker, die in dem wilden Europa herumvagabundierten. Der Nordwesten des Erdteils konnte infolge seiner ungeheuren Unfruchtbarkeit und Armut und seiner langen, öden und ungeheueren Strecken keine starken Völker hervorbringen und großziehen. In seinen weit verstreuten, obdachlosen, verwaisten Bewohnern — den Finnen, und den Abkömmlingen estnischer Stämme erstarb alles Leben, ebenso wie in der Natur jener Gegenden.

Dies war jene besondere Welt in dem wilden Europa! Das waren die Völker, deren gewaltige Kraft die Römer vor allem an sich erfahren sollten. Und wenn das Weltreich nicht schon viel früher zusammenbrach, so liegt der Grund nur in der ungeheuren Zersplitterung der germanischen Völker, in der Bodenbeschaffenheit Europas, die sie hinderte, zu einem Ganzen zu verschmelzen, in der Einfachheit ihrer Sitten, die sie veranlaßten, sich mit den rohen Erzeugnissen ihres Landes zu begnügen, in dem für diese nur auf die Zerstörung ausgehenden Wilden so bezeichnenden Mangel an Habgier, in ihrem seßhaften Leben und in ihrer Liebe zur Freiheit, die sie immer wieder zwang, sich in die Tiefe der Wälder zurückzuziehen. Die Römer waren sich der Gefahr voll bewußt, die ihnen von der frischen Kraft dieser europäischen Völker her drohte. Und daher waren sie darauf bedacht, keine Grenze des Reiches, weder die asiatische im Osten, noch die afrikanische im Süden, so zu schützen und zu befestigen, wie die europäische im Norden. Hier, kann man wohl sagen, konzentrierte sich ihre ganze militärische Schutzmacht. Und man muß zugeben, daß die Verteidigungsmaßregeln, die während der damaligen Lage des an Erschöpfung zugrunde gehenden Reiches aufgeboten wurden, sehr vernünftig waren. Das römische Reich überließ seine gefährdeten Grenzen den frischen, kriegerischen Völkern, die sie am besten verteidigen konnten und sich anfänglich mit wenigem begnügten. Aber es muß zur Ehre der germanischen Völker gesagt werden, daß nur die äußerste Not sie zwang, dieses Geschenk Roms anzunehmen. Diese Abhängigkeit erschien ihnen wie Sklaverei, und sie eilten wieder in die Tiefe ihrer Wälder zurück — um dort ein Versteck für ihre Freiheit zu suchen. Die Anschläge der Römer zwangen sie, starke Bündnisse miteinander zu schließen, aber diese Bündnisse waren nie offensiver Natur, ihr Zweck bestand immer nur darin, die Freiheit, die den Germanen teurer als alles war, vor Gefahren zu schützen. Eins von diesen Bündnissen, das unter dem Namen des fränkischen Bundes bekannt wurde, wuchs und erstarkte dank der günstigen Lage des Landes und dem immer heftiger werdenden Ansturm seitens aller andern Stämme. Die verschiedenen Völker, die ihm beitraten, hatten einen Teil von Westfalen und Hessen besetzt und sich so eng miteinander verschmolzen, daß sie schließlich nur eine Nation unter dem Namen der Franken bildeten. Doch dieses Bündnis wäre den Römern nie so gefährlich geworden, und ganz Deutschland hätte sich auch weiter nicht geregt, wenn nicht eine fremde Kraft, d. h. Völker, die aus Asien kamen, einen Druck auf die Germanen ausgeübt hätte. Der östliche Teil Europas war äußerst gefährlich wegen seiner weiten Ebenen. Das war ein weitgeöffnetes Tor nach Westeuropa, der große Weg, auf dem die so verschieden gearteten Völker eines nach dem andern herangezogen kamen, hier waren auch die Wälder bedeutend häufiger niedergebrannt, wie in anderen Gegenden; auch die Sümpfe waren hier am frühesten ausgetrocknet und mit jedem Jahrhundert wurde dieser Weg freier und bequemer für die großen Völkerzüge. Die weiten offenen Flächen gaben den Völkern und Stämmen die Möglichkeit, sich zu großen Massen zu vereinigen, und eigneten sich ungemein für ein Nomadenleben, das seinerseits günstige Gelegenheiten zu Angriffen in großem Maßstabe bietet. Ein ganzes Volk konnte plötzlich seine fliegenden Wohnsitze verlassen und mit seiner ganzen Masse einen furchtbaren, unwiderstehlichen Überfall auf ein andres ausführen.

Eins von den germanischen Völkern ward früher denn alle übrigen dazu bestimmt, eine allgemeine Völkerbewegung hervorzurufen. Dieses Volk waren die Goten [11] , ein Volk, auf dem ein furchtbarer Fluch zu lasten schien, der es zu ewigem Wanderleben verurteilte. Die Goten mußten lange herumirren, bald erschienen sie in Skandinavien, bald an den beiden Küsten der Ostsee und endlich im weiten Osten Europas. Nach dem Zeugnis des Geschichtsforschers Jornandes saßen sie ursprünglich in Skandinavien. Es ist sogar möglich, daß dies eins der Urvölker Europas war. Nachdem sie ihre schneebedeckte Heimat verlassen hatten, drangen sie bis an die Küsten Preußens und riefen eine große allgemeine Umwälzung hervor. Sie verdrängten die Vandalen, die Longobarden, die Heruler, die Burgunder und Sachsen aus jenen Landstrichen und zwangen sie gegen ihren eigenen Willen, sich am eifrigsten an der Zerstörung des weströmischen Reiches zu beteiligen. Die allgemeine Erschütterung machte sich in ganz Europa bemerkbar: diese ganze Kette der mächtigen baltischen Stämme näherte sich den Grenzen Roms, drängte viele Stämme ins Gebirge und in die Sümpfe zurück, konzentrierte ihre Kräfte noch mehr und machte so die Römer mit neuen Völkern bekannt. Von nun an konnte man Herulern, Vandalen und Longobarden in ihren Armeen begegnen.

Unterdessen hatten die Goten, nachdem sie vor sich her einen Weg gebahnt hatten, die am Ufer der Donau lebenden Völker, die Markomannen und die Quaden, teils vertrieben, teils unterworfen; nun vereinigten sie sich in großen Massen in den südlichen Ebenen Daciens und zogen zusammen mit den unterjochten Stämmen dem Schwarzen Meere entgegen. Je mehr sie nach Süden vordrangen, desto besser wurde der Weg, und um so schneller vollzog sich ihre Wanderung. Endlich erschienen sie mitten in Griechenland und in Kleinasien und brannten die Küsten des Schwarzen Meeres nieder. Chalcedon und Ephesus wurden eingeäschert. Athen wurde in furchtbarer Weise und schonungslos zerstört. Kaiser Decius erkannte die Gefahr, die den östlichen Grenzen seines gewaltigen Reiches drohte; er führte selbst seine Truppen gen Osten und fiel in der Schlacht mit der Waffe in der Hand, während sein Heer im Westen gegen die Vandalen, Heruler und Sueven kämpfte, die von den Goten aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. Mit Beute beladen kehrten die Goten zurück, besetzten das heutige Rußland, erhielten auf Grund eines Vertrages mit den Römern ganz Dacien und setzten sich hier fest. Sie rissen die Herrschaft über die Völker, die an den Ufern der Donau wohnten, an sich und beunruhigten das sorglose Kaiserreich durch ihre Gegenwart. Als die Imperatoren, diese mächtigen Beherrscher der Welt, durch eigene schmerzliche Erfahrung den wilden Mut der Goten kennen gelernt hatten, beschlossen sie, sie in ihre Armee aufzunehmen und diesem unüberwindlichen Volk von Barbaren Sold zu bezahlen. Dadurch gewannen sie sich kräftige Verteidiger, zugleich aber zogen sie sich mächtige Feinde heran, denn sie enthüllten ihnen die Geheimnisse einer wohlausgebildeten Taktik, die ihnen später ein noch größeres Übergewicht verleihen mußte. Übrigens aber war die Strategie der Goten auch schon ohnedies unüberwindlich. Sie vereinigten in sich die Taktik der leichtbeweglichen Wandervölker und die der ansässigen bodenständigen Stämme. Sie formierten sich in gewaltigen, dichtgedrängten Massen und zeigten die gleiche Standhaftigkeit im Ansturm des ersten Angriffs, wie während des Höhepunktes der Schlacht oder bei ihrem Ausgang, wo ihre Kraft allmählich erlischt. Eine Schlacht mochte sich noch so lange hinziehen, es war unmöglich, die Reihen der Goten ins Wanken zu bringen. Sie begleiteten ihren Angriff, gleich anderen germanischen Stämmen, mit Gesängen. In ihren Liedern verherrlichten sie die Namen ihrer alten Helden: Fridigern, Vidicula Ethespamar und anderer. Die geistliche Obergewalt lag in den Händen eines einzelnen, dieser war zugleich König, Heerführer und Oberpriester; trotz alledem aber hing er von dem Rate der Tapferen ab.

Bei den Goten herrschte von Urzeiten an das königliche Geschlecht der Balten, und nur aus diesem Geschlecht durfte ihr König gewählt werden. Sie beteten Wotan an, der im grauen Altertum zusammen mit Odin, diesem nordischen Ulyß [12] , ihr Heerführer gewesen war. Von allen germanischen Stämmen waren die Goten am meisten zur Assimilation der Kultur befähigt. Bis zur Mitte des IV. Jahrhunderts wurde die Macht der Goten von den Völkern, die an der Donau sowie von denen, die im Westen und Osten des heutigen Rußland saßen, anerkannt. Der Name ihres Königs Hermanrich stand in hohen Ehren an den Ufern des Schwarzen Meeres sowohl als auch in Livland. Allein die gotische Herrschaft wurde durch den großen Völkerzug der Hunnen, die aus Asien hereinbrachen, erschüttert.

Die Hunnen oder Hjongnu waren nach de Guignes ein mächtiger Volksstamm, der die großen Steppen der Tatarei und der Mandschurei bewohnte und China in Unruhe versetzte; da sie jedoch der verschlagenen chinesischen Politik nicht gewachsen waren, wurden sie allmählich den chinesischen Kaisern tributpflichtig. Allein ein großer Teil der Hunnen erhob sich mit seinen Wagen und Roßherden und zog nach Westen, besetzte die Länder jenseits des Kaspischen Meeres und entzog sich so den Blicken Chinas. Ihre Ansiedelung an den Ufern des Kaspischen Meeres verlegen die römischen Historiker in die Zeit Domitians. Es ist hier vielleicht am Platz, darauf hinzuweisen, daß die gebildete griechisch-römische Welt jener Zeit bis zur Regierungszeit des Kaisers Valens gar nicht einmal wußte, daß dieses Volk existiert, bis plötzlich die aus den Gebirgen Asiens hervorbrechenden Hunnen und mit ihnen die Avaren, Unnuguren, Usenguren (Uturguren, Cuturguren) und alle die anderen Völker vor ihnen auftauchten, deren Namen für das feine und zugleich korrumpierte Gehör der Griechen und Römer einen so rohen Klang hatten. Der verheerende, unabwendbare Andrang dieser Bewohner Asiens, ihre Gewohnheit, rohes Fleisch zu essen, die Schädel der Feinde als Becher zu benutzen und die ersten besten unter ihren Gefangenen den Schatten ihrer Ahnen auf blutigen Scheiterhaufen zum Opfer zu bringen, ihre kalmückischen Züge, die flachen, plumpen, braunen Gesichter, die einem schon durch ihren wilden Ausdruck Angst einjagen konnten, ihre kleine Gestalt, die nur aus Muskeln zu bestehen schien — dies alles versetzte die asiatisch-römischen Provinzen in solchen Schrecken, daß deren Bewohner daran zweifelten, ob sie sie wirklich zur menschlichen Gattung rechnen sollten. Sie waren der Ansicht, die Magier und Zauberer, die in den ungeheuren Wüsten am Kaspischen Meer hausten, wären in unreinen Verkehr mit Teufeln getreten, und diesem Bunde seien die Hunnen entsprossen.

War es nur ein seltsamer Instinkt, der die Hunnen zurücktrieb, oder erschreckten sie die allzu bunten mit Gärten und Städten übersäten Flächen des römischen Asiens, die die Nomadenvölker für Gefängnisse halten und daher fliehen, oder fanden sie keine öden, freien Steppen, deren sie für ihre zahllosen Herden unbedingt bedurften — genug, sie zogen, statt die Richtung nach Süden einzuschlagen, — nach Nordwesten, berührten auf ihrem Wege den Kaukasus, scheuchten ein paar Volksstämme, die an seinem Fuße wohnten, auf und nahmen sie auf ihrer Wanderung mit sich, und diese große Masse von Nomaden ergoß sich über Europa. Auf dem vorgeschobensten Posten Europas standen damals, wie wir gesehen haben, die Goten. Ihre zahlreichen Stämme und die von ihnen unterjochten Völker waren die ersten Wachtposten Europas und standen in dichten Scharen vor seinem mächtigen Tore, ein Tor, das leider viel zu gewaltig für den kleinen Erdteil — Europa — war. Und die Goten, dieselben Goten, die bis dahin für das unüberwindliche Bollwerk Europas und für eine unbesiegbare Macht gegolten hatten, wichen vor den Hunnen zurück. Es konnte auch gar nicht anders kommen. Die geheimnisvolle Kraft eines solchen Ansturms seitens solcher asiatischer Völkermassen war den Goten vollkommen unbekannt. Wenn die Goten gewußt hätten, daß ein solcher Einfall asiatischer Stämme nur durch den ersten gewaltigen Anprall gefährlich ist, und daß nur die Fähigkeit, ihnen einen dauernden Widerstand entgegenzusetzen und die Schlacht in die Länge zu ziehen, den Sieg entscheiden kann — wenn die Goten dies gewußt hätten, dann hätten sich die Hunnen wieder in den Kaukasus zurückgezogen, und Europa hätte nichts von der großen Erschütterung verspürt, die sein ganzes Äußere umwandeln sollte. Aber dies Geheimnis blieb den Goten unbekannt. Übrigens muß man auch anerkennen, daß es einer schier übermenschlichen Tapferkeit und Geistesgegenwart bedurfte, um dem ersten Ansturm der Hunnen zu widerstehen. Sie begleiteten ihren Angriff mit so entsetzlichem Geschrei, ihre ungeheuren Massen kamen so dichtgedrängt herangeflogen, ihre beinahe wilden Rosse kamen so wütend angerast, als stürzten sie einen steilen Abhang hinunter und als könnten die Reiter selbst ihren Sturmschritt nicht hemmen; ihr schmales, zwischen den dicken Backen fast verschwindendes Auge war so scharf und sicher, sie gaben der Schlacht jeden Augenblick eine so rasche Wendung, sie konnten sich so schnell in alle Winde zerstreuen und verschwinden, sich so plötzlich wieder in einem Haufen vereinigen, sie schleuderten mit so großer Treffsicherheit einen ganzen Wald von Lanzen gegen ihren Feind, selbst wenn sie die Flucht ergriffen, wußten sie sich so vorzüglich durch ihre Geschosse zu decken und sie begleiteten dies alles mit einem so wilden, betäubenden Geschrei, daß sich schwerlich ein Heerführer finden konnte, dessen Auge nicht unsicher, dessen Kopf nicht schwindlig geworden wäre im Kampfe mit den Hunnen.

Nachdem sie die Goten vertrieben hatten, nahmen die Hunnen den westlichen Teil der polnischen Provinzen des heutigen Rußland, den Norden und die Donauländer ein — wieder nahm die Geographie Europas ein andres Ansehen an. Dadurch, daß die Hunnen einen so großen Flächenraum besetzten, mußten sie notwendigerweise eine starke Erschütterung und eine mächtige Verschiebung in den Wohnsitzen der einzelnen Völker hervorrufen. Die zurückgedrängten Goten zogen, obwohl ihnen dies nicht leicht wurde, nach Westen und Süden weiter; die Vandalen und Sueven, mit denen sich die Römer, oder besser gesagt, die römischen Germanen an den Grenzen schon vielfach gemessen hatten, zogen durch Frankreich über die Alpen und drangen in Spanien ein. Und hier in Spanien stießen plötzlich Völker aus den verschiedensten Himmelsgegenden zur allgemeinen Verwunderung miteinander zusammen: die Sueven von den Küsten der Ostsee und aus dem schneebedeckten Skandinavien und die Alanen, die die Hunnen auf ihrem Zuge vom Fuße des Kaukasus verscheucht und hierher getrieben hatten.

Fünfzig Jahre lang irrten die Hunnen in den Steppen Rußlands herum, zogen mit ihren Zeltwagen von Ort zu Ort und trieben ihre Roßherden von einem Platz zum andern, ohne weitere Eroberungen zu machen; denn auch diesmal wurde Westeuropa durch seine Urwälder und seine hügelige Bodenbeschaffenheit gerettet, auch fehlte es den Hunnen an einem unternehmenden Anführer. Sie begnügten sich damit, ihre nächsten Nachbarn zu überfallen, raubten meist ihre Frauen und Kinder und trieben ihre Herden mit sich fort. Unter diesen Raubzügen hatten die Goten, da sie ihnen am nächsten wohnten, am meisten zu leiden. Die Goten teilten sich um diese Zeit in zwei große Stämme: in die Westgoten, die sich ihre Könige aus der älteren herrschenden Linie der Balten, und in die Ostgoten, die ihre Könige aus dem neuen Herrschergeschlecht der Amaler wählten. Immer mehr von den Hunnen zurückgedrängt, drangen sie bis zum Süden der jetzigen Ukraine und der Moldau vor. Ein Teil der Westgoten, die sich nirgends sicher fühlten, wandte sich, geführt von Fridigern, Alatheus und Saphrax, mit der Bitte an den römischen Kaiser, er möge es ihnen erlauben, die Donau zu überschreiten, sich am südlichen Ufer des Flusses anzusiedeln und die römischen Provinzen gegen Überfälle der immer mächtiger werdenden Barbaren zu verteidigen. Der Kaiser Valentinian, der das Reich gemeinschaftlich mit seinem Bruder Valens regierte, nahm diese unerwartete Hilfe mit Freuden an — und die Westgoten überschritten die Donau. Unterdessen hatten die Ostgoten und ein Teil der Westgoten, die im Südosten wohnten, häufig unter Hungersnöten zu leiden, und da sie sahen, daß die Not immer stärker wurde, baten sie den Kaiser Valens, der die östlichen Provinzen verwaltete und in Konstantinopel residierte, sie mit allerhand Waren zu versorgen und ihnen zu gestatten, mit den Bewohnern des Landes Handel zu treiben.

Der Kaiser befahl den Regenten von Thracien, Lupicinus und Maximus, die Bitten der Goten in allen Punkten zu erfüllen; beide waren typische Griechen aus der byzantinischen Zeit — hinterlistig und immer bereit, auch ohne dringende Veranlassung ein Verbrechen zu begehen, den Barbaren gegenüber aber hielten sie jede Missetat für erlaubt. Sie ließen sich mit den Goten nicht erst in Handelsgeschäfte ein, sondern raubten sie ganz einfach aus und trieben sie bis zum Äußersten, so daß diese genötigt waren, ihre eigenen Frauen und Kinder zu verkaufen; endlich luden sie die heldenmütigsten Goten unter freundschaftlichen Vorwänden zu sich ein und beschlossen, sie heimlich umzubringen. Dies rief die Rachsucht dieses wilden Volkes, das sich jedoch noch ein ursprünglich menschliches Gefühl bewahrt hatte, wach. Ungeheure Scharen von Goten fielen in Thracien ein, drangen bis Konstantinopel vor, brannten alles nieder und plünderten und äscherten alle Städte und ihre Umgegenden ein, die sie auf ihrem Wege antrafen. Der Kaiser Valens befand sich in einer sehr mißlichen Lage. Er war ein eifriger Arianer und verfolgte unbarmherzig alle Gegner dieser Sekte. Infolgedessen hatte er viele Feinde, und selbst sein Bruder Valentinian, der Kaiser von Rom war, verweigerte ihm seine Hilfe. Überdies war der Kaiser Valens auch sehr grausam und mißtrauisch; man hatte ihm geweissagt, ein Mann, dessen Name mit den Buchstaben Theo... beginnt, würde seinen Untergang herbeiführen — und so ließ er denn sämtliche Theoderiche, Theodate und Theodosiusse, die irgendein bedeutenderes Amt bekleideten, erdolchen oder erwürgen. Es versteht sich von selbst, daß diese Taten in seinen Untertanen keinen allzu großen Eifer und keine Neigung, ihren Monarchen zu verteidigen, wachriefen, und außerdem waren diese Untertanen ein erbärmliches und charakterloses Volk; die Soldaten waren jederzeit bereit, zu meutern und beim ersten Anlaß die Flucht zu ergreifen; die Staatsgelder wanderten in die Hände von Eunuchen, Günstlingen, Konkubinen und schlauen Priestern, und so erhielt Valens schließlich die Strafe für sein früheres Leben. Verlassen von den fliehenden Soldaten, suchte er Schutz in einer armseligen Hütte und wurde zusammen mit dieser von den rachsüchtigen Goten verbrannt. Nur der Unkenntnis der Goten, die sich nicht auf die Belagerung einer Stadt verstanden, verdankte Konstantinopel seine Rettung. Triumphierend und mit Beute beladen kehrten die Goten zu ihren Wohnsitzen zurück, bei den Römern eine schauerliche Erinnerung an ihren Besuch hinterlassend.

Bald darauf erfolgte die endgültige Teilung des römischen Reichs. Der Kaiser Theodosius hoffte, es noch durch diese Säkularisierung zu retten, er glaubte, die Schwäche des Reiches sei die Folge seiner unermeßlichen Größe und der Unmöglichkeit seiner Beherrschung durch einen einzelnen. Die östliche Hälfte, die von nun an mit Recht die griechische genannt wurde — noch treffender hätte man sie das Reich der Eunuchen, Komödianten, Günstlinge, Rennbahnen, der Verschwörer, der gemeinen Mörder und der disputierenden Mönche nennen können — erhielt Arcadius, der ganz unter dem Einfluß seines verschmitzten Vormunds Rufinus stand; die westliche Hälfte, die mit Unrecht die römische genannt wurde, weil hier alle beliebigen Ämter der Verwaltung von Emporkömmlingen besetzt waren, die von Goten, Vandalen oder anderen germanischen Völkern abstammten und nur mit einem dünnen äußerlichen Firniß römischer Bildung überzogen waren: diese westliche Hälfte, die mitten im eigenen Herzen gewaltsam eindringende Feinde beherbergte, und die wie ein lebendiger Leichnam die Lebenskraft in sich schwinden sah und fühlte, dies weströmische Reich fiel dem minderjährigen Honorius zu, der sich völlig von Stilicho leiten ließ; letzterer war von Geburt ein Vandale, der unter Theodosius ein treuer und tapferer Vasall gewesen war, aber unter dessen unbedeutendem Sohn ein gemeiner Schwächling wurde. Die Vormünder, die die entgegengesetzten Enden Europas regierten, haßten einander. Das erste Geschenk, das Rufinus, der schlau war wie ein byzantinischer Grieche, seinem Feinde Stilicho übersandte, war das mächtige Heer der Westgoten, die er überredet hatte, Italien zu erobern, während er ihnen versprach, seinerseits Rom jede Hilfe zu verweigern. Und die Westgoten verließen insgesamt ihre Wohnsitze in Dacien und an den Ufern der Donau und drangen in Italien ein. Aber für Stilicho hatte diese Invasion gar keine Schrecken, im Gegenteil, er freute sich im geheimen über sie und knüpfte eine Menge von Plänen an sie. Vor allem hoffte er, mit Hilfe dieser zahlreichen Menge junger, kräftiger Barbaren viele andere Barbaren, die schon ins Innere des römischen Reichs eingedrungen waren, zu vernichten. Damals gehörte Gallien zu Rom und es gehörte doch auch wieder nicht dazu. Der starke Frankenbund stand mit den unter seiner Hegemonie vereinigten Stämmen an der Grenze dieses Landes; im Osten und Süden, d. h. im Herzen Frankreichs, hatten sich’s die Alemannen und Burgunder bequem gemacht. In Spanien hielten die Sueven, die Alanen und Vandalen die besten Teile des Landes, d. h. den Süden, besetzt, und die römischen Präfekten und Befehlshaber spielten unter ihnen eine recht traurige Rolle: sie bekleideten eine Würde, ohne die geringste Macht zu besitzen. Es schien fast, als läge über der halben Welt statt des römischen Reichs nur sein langer, mächtiger Schatten. Dieses Reich glich einer tausendjährigen Eiche, die einen durch ihren ungeheuren Umfang in Erstaunen setzt, aber deren Inneres schon längst verfault und vermodert ist. Stilicho wußte geschickt Alarich von seiner Absicht, sich in Italien niederzulassen, abzubringen, indem er ihm das reiche blühende Spanien anbot. Er hatte sogar den Plan, diese Barbaren gegen seinen Feind Rufinus aufzuhetzen; ja er träumte schon davon, sich, wenn der Plan gelingen sollte, an Stelle des schwachen Honorius zum Kaiser ausrufen zu lassen, aber die Sache war zu fein gesponnen, und statt dessen sank sein eigener Kopf vom Rumpfe. Der schwache, unbedeutende Honorius, der auch nicht einen von Stilichos Plänen erfaßt hatte, befahl einem seiner Feldherrn, der ebenso unverständig war wie er, den Goten, die sich schon nach Spanien gewandt hatten, um sie zu schädigen, in den Rücken zu fallen. Da aber kehrte Alarich mit einem Male um und stand nun plötzlich vor den Toren Roms. Wie gewöhnlich floh Honorius; der Senat, der seine Ohnmacht einsah, flehte den mächtigen Goten an, er möge doch abziehen, versprach ihm, Tribut zu bezahlen, und folgte ihm sofort einen Teil aus; der Sieger entschloß sich, auf den anderen Teil zu warten, und zog sich von Rom zurück. Kaum aber hörte Honorius, daß die Gefahr vorüber sei, als er nach Rom zurückkehrte, doch er dachte nicht daran, den versprochenen Tribut zu bezahlen. Da jedoch erschien Alarich in heller Empörung vor den Mauern Roms, und drohte, die ewige Stadt in einen Haufen Asche zu verwandeln.

Am 23. August 409 nahmen die Mauern der Weltresidenz den Anführer der Goten in sich auf. Die herrlichen Häuser und Paläste wurden geplündert, aber der fürchterliche Alarich verbot die Brandstiftung und das Blutvergießen. Hieraus kann man ermessen, wie groß seine Willenskraft und die Macht war, die er über seine wilden Heerscharen besaß, konnte er sie doch davon abhalten, wovon selbst ein Befehlshaber gebildeter Truppen seine Soldaten nicht immer abzuhalten imstande ist. Von Honorius war in der Stadt keine Spur zu entdecken, er hatte längst Zeit gefunden, sich davonzumachen. Dafür aber machte der Eroberer kein Hehl aus seiner tiefen Verachtung der Römer; er ernannte ihren Präfekten Attalus zum Kaiser und ließ ihn auf den Knien vor der Tür seines Zeltes vorbeirutschen. Nachdem er seinen Rachedurst gestillt hatte, verließ er Rom und zog nach dem Süden Italiens. Hier schmiedete er große Pläne; er erbaute eine Flotte und wollte schon seine siegreichen Fahnen nach der afrikanischen Küste tragen, da gebot der Tod seinem Siegeszuge Halt. Um ihm ein Grab zu bereiten, leiteten die Westgoten das Bett des Busentostromes ab, gruben auf seinem Grunde ein tiefes Grab, in das sie den Leichnam hinabsenkten, schütteten es zu und lenkten den Strom in sein früheres Bett zurück, damit niemand das Grab des großen Goten schänden oder ihm Schimpf antun könnte. Nach Alarichs Tode ward Athaulf zum König gewählt und dieser führte die Goten endlich nach Spanien, wo sie sich sehr bald festsetzten und ein mächtiges gotisches Königreich gründeten, nachdem sie die unbedeutenden römischen Befehlshaber von dort vertrieben hatten.

Die Einwanderung der Westgoten machte sich an allen Enden Spaniens lebhaft bemerkbar. Die Alanen und Sueven wurden stark bedrängt und sahen sich gezwungen, die Herrschaft der Goten anzuerkennen. Selbst die Vandalen, die bis dahin in Spanien die stärkste Vormacht gebildet hatten, wurden energisch zurückgedrängt und gegen die Küste des Mittelmeers zurückgeworfen. Schon dachte der König Geiserich daran, nach Afrika überzusetzen. Da trat ein Ereignis ein, das die Verwirklichung seines Planes, wie absichtlich, noch beschleunigte. Um diese Zeit herrschte in Rom für den minderjährigen Valentinian und seine Mutter der berühmte Aëtius; er war sehr unternehmend, ehrgeizig, schlau und nicht wählerisch in den Mitteln, wenn es galt, zu erringen, was er wünschte. Aëtius hatte einen mächtigen Feind in Bonifacius, dem Statthalter in Afrika, und daher war er entschlossen, ihn zugrunde zu richten. Zu diesem Zweck ließ er ihn im Auftrag des Kaisers nach Rom rufen. Bonifacius aber hatte den Plan durchschaut, und daher war er entschlossen, in Afrika zu bleiben und Geiserich um Hilfe anzugehen. 427 landete Geiserich mit seinen Vandalen und einem Teil der Alanen an der afrikanischen Küste und bezeichnete seinen Weg durch Brandstiftungen und Verwüstungen. Zu spät sah Bonifacius ein, welchen Fehler er begangen hatte, sich einen solchen Gast einzuladen. Er hatte sich bereits mit seinem Kaiser ausgesöhnt und wollte nun seinem unruhigen Verbündeten Einhalt gebieten. Aber es war nicht so leicht, mit Geiserich fertig zu werden, und Bonifacius ward geschlagen. Geiserich steckte Karthago in Flammen, plünderte die Häuser, metzelte die Einwohner nieder und riß alle Reichtümer an sich, die er nur finden konnte.

Die schnellen Erfolge entfachten seinen wilden Ehrgeiz noch mehr. Bald war die ganze Küste Nordafrikas der Herrschaft der Vandalen unterworfen. Mit Feuer und Schwert bekehrte er die Bevölkerung zum arianischen Glauben und gründete eins der mächtigsten Reiche dieser wilden und finsteren Epoche. Nun aber wurde Geiserich übermütig. Seine fürchterliche Flotte zerstreute sich über das Mittelmeer und machte durch ihre Raubzüge jegliche Schiffahrt unmöglich. Jedes Jahr erschien dieser numidische Löwe an sämtlichen Küsten des Mittelmeers, von Griechenland und Illyrien bis Gibraltar, und raubte, als sammele er die Ernte von den eigenen Feldern ein, alles, was diese blühenden und bevölkerten Gegenden erzeugten. Spanien, Sizilien, Sardinien, Dalmatien hatten abwechselnd die fürchterliche und zerstörende Hand dieses gekrönten Piraten zu fühlen, der hier so schnell das erste Reich christlicher Corsaren gegründet hatte. Endlich aber erfaßte ihn inmitten aller Größe und der Pracht der zusammengeraubten Reichtümer jener Geisteszustand, jene schreckliche Melancholie, die den Geist verdorren läßt und quält und stets der Vorbote der Tyrannei, dieser furchtbaren Seelenkrankheit der Herrscher, ist. Er begann mißtrauisch zu werden gegen alle, die ihn umgaben, und sein Argwohn erstreckte sich zuletzt sogar auf seine Gemahlin, die Tochter eines Königs der Westgoten: er bildete sich ein, sie habe die Absicht, ihn zu vergiften. Ganz hingenommen von diesem Gedanken, befahl er, ihr Nase und Ohren abzuschneiden, und schickte sie so verunstaltet zu ihrem Vater. Weil er aber die Rache der Goten fürchtete, machte er dem Hunnenführer Attila den Vorschlag, von Norden aus in Spanien und Italien einzubrechen.

Attila residierte in Dacien; hier hatte er, unweit der Donau, sein Standlager aus rohen, hölzernen Hütten aufgeschlagen, in deren Mitte sich sein plumper Palast erhob. Attila war der Führer, der den Hunnen bis dahin gefehlt hatte. Er hatte gezeigt, welch furchtbare Gewalt die vorwärtsstürmende Kraft der Asiaten annehmen kann. Der ganze Nordosten Europas erkannte seine Herrschaft an. Die lange Kette der Völker, die dem schier unüberwindlichen Hunnenkönige Tribut zahlten, begann mit dem Kaukasus und endete am Rhein. Die Goten, die Gepiden, die Alanen, die Heruler, die Akatirer, die Thüringer und die Slawen, sie alle wurden von den Grenzen seines schnell wachsenden Nomadenreichs umschlossen. Der griechische Kaiser, der seine Verachtung kennen gelernt hatte, sandte ihm demütig seinen Tribut und lag im Staube vor seiner Macht und Größe. Attila war ein Mensch von kleiner Gestalt, fast ein Zwerg, mit einem ungeheuren Kopf und kleinen Kalmückenaugen, und sein Blick war so schnell, daß keiner seiner Untertanen ihn ertragen konnte, ohne unwillkürlich zu zittern. Mit diesem Blick allein beherrschte er alle seine Stämme, die trotz ihrer zerstreuten Wohnsitze und trotz der Verschiedenheit ihrer Lebensweise, ihrer Sitten und Gebräuche durch sein Wort zu einem einzigen Wesen zusammenschmolzen. Mitten unter seinen Höflingen, die mit geraubtem Golde prunkten, ging dieser merkwürdige Mensch in einem groben, weiten Gewand umher, lag auf einem gewöhnlichen Lager von Filz und trank fast nur Wasser aus einem Holzeimer; weder sein Roß, noch sein Sattel waren je mit Edelsteinen geschmückt, und er nannte sich selbst die Geißel Gottes, die gesandt ward, um die Welt zu züchtigen. Seine Macht über die Truppen war grenzenlos: sie glaubten, daß er ein verzaubertes Schwert besäße, mit dem er die ganze Welt erobern müsse. Die unterworfenen Völker beugten sich mit bewunderungswürdigem Gehorsam unter seine Herrschaft. Übrigens war auch jeder Gedanke an eine Empörung völlig ausgeschlossen, denn Attila hätte leicht vor seinem Zelt eine Pyramide von Schädeln errichten können, bei deren Anblick wohl einem jeden die Lust zu solchen Unternehmungen vergangen wäre. Er ließ sich nicht gern ohne Grund in einen Krieg ein, besonders wenn der Friede für ihn dieselben Vorteile hatte. Er war ein furchtbarer Richter. Er konnte auch großmütig sein, aber nur gegen Sklaven, die zu seinen Füßen lagen. Aber Attilas Rache .... jedoch niemand hätte den Mut gehabt, seine Rache heraufzubeschwören.

Anscheinend hatte Geiserichs Vorschlag ihn in seinen eigenen Plänen befestigt. Auf sein Gebot sammelten sich all seine zahllosen Stämme, und er zog mit ihnen gen Westen. Das römische Reich merkte bald, welch große Gefahr ihm drohte. Alle Nationen, die das Westeuropa jener Zeit bevölkerten, wurden von einer gewaltigen Aufregung ergriffen. Und nun geschah etwas Außerordentliches: Das ganze barbarische Westeuropa vereinigte sich zu einem einzigen Bündnis, die Römer schlossen sich den Zerstörern ihres Reichs, den Westgoten, Alanen und Franken an. Nomaden- und Hirtenvölker stürzten sich auf seßhafte und zum Teil schon ackerbauende Völker, das ungestüme despotische Asien auf das gefestigte, freie Europa. Hier müssen wir bemerken, daß die germanischen Völker um so freiheitsliebender waren, je weiter gen Westen sie lebten. Die Alpen waren von alters her eine Schutzwehr der europäischen Freiheit und im weiten Umkreise um sie herum haben sich die Stämme auch heute noch einen gewissen Unabhängigkeitszug bewahrt. Die Marneebene in Frankreich sollte der Schauplatz dieser in der Geschichte einzig dastehenden Schlacht werden. Das freie Westeuropa, die Römer, die Westgoten, die Aremoriker, die Breonen, die Burgunder, die Sachsen, die Alanen und die Franken unter Führung ihrer Könige und Feldherrn und unter der Oberleitung des gewandten Aëtius und das nomadisierende Osteuropa: die Ostgoten, Alanen, Gepiden, Markomannen, Veneter, Longobarden, Heruler, Akatirer, Avaren, Thüringer, Roktolanen sowie einige slawische Stämme unter der Führung ihrer Fürsten, Könige und Prinzen, geleitet von dem einen allmächtigen Willen Attilas, sollten eine Entscheidung über so manches herbeiführen, was für die Nachwelt von höchster Bedeutung ward. Das freie Europa hielt stand. Die unüberwindliche verderbenbringende Reiterei Attilas und die verbündeten Völker wurden zurückgeworfen, und der unbezwingliche Hunne, der seine ganze ihm zu Gebote stehende Willenskraft eingesetzt hatte, kehrte mit seinen Roßherden und Völkern in die Ebenen Ungarns und Pannoniens zurück. Aëtius, der nicht den Wunsch hatte, daß die Westgoten, die sich in dieser blutigen Schlacht mehr denn alle übrigen ausgezeichnet hatten, ein zu großes Übergewicht gewönnen, erleichterte Attila den Rückzug. Die große Völkerliga zerfiel, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hatte, und alles kehrte, da man annahm, die Gefahr sei vorüber, in seinen Anfangszustand zurück.

Aber der fürchterliche Hunnenführer raufte sich zornig seinen edlen Haarschopf und fiel nach einem Jahr, nachdem er die Reihen seiner Truppen durch neue ergänzt hatte, in Italien ein, wo der sorglose Kaiser Valentinian und sogar Aëtius selbst nichts von Gefahr ahnten. Die erste Stadt, die Attilas schwere Hand zu spüren bekam, war Aquileja. Er äscherte sie vollkommen ein und wurde so die Veranlassung, daß ein Häuflein überlebender Einwohner am Adriatischen Meere die Stadt Venedig gründeten. Von hier zog er wie eine feurige Geißel durch ganz Italien. Die Städte Concordia, Brescia, Vicenza, Padua, Verona, Mantua, Mailand, Modena, Parma ließen nichts wie niedergebrannte Mauern sehen. „Ich schwöre es,“ rief der wilde Hunne, „da soll kein Gras mehr wachsen, wo der Huf meines Rosses den Boden berührt hat!“ Endlich sah auch Rom Attila vor seinen Mauern. Der erschrockene Papst trat in vollem Ornat und begleitet von einer ganzen Prozession dem unerbittlichen Hunnen entgegen und, — war es nun die Pracht des christlichen Ritus oder der unter den wilden, ja selbst unter den heidnischen Völkern vielfach verbreitete Gedanke, daß Rom etwas Heiliges in seinen Mauern berge — genug, Attila begnügte sich damit, einen großen Tribut zu erheben, zog sich zurück und verließ Italien.

Schon sollte die vereinigte Liga der westlichen Völker seine Macht und Rache kennen lernen, aber sein plötzlicher Tod rettete sie. Attila fand einen seltsamen Tod. Er, der so düster und zurückhaltend gewesen war, der es nicht einmal geduldet hatte, daß der Griff seines Säbels und sein Filzsattel mit goldenem Zierat oder Edelsteinen geschmückt werde, veränderte von einem Tage zum andern seine Lebensweise. Nachdem er die Tochter des Kaisers von Baktrien, ein Mädchen von wunderbarer Schönheit, geheiratet hatte, gab er sich, ganz berauscht von Wein und Gelagen, mit einer so wilden Leidenschaft der Sinnenlust hin, daß er seine ganze stählerne Lebenskraft wie in einem Zuge ausströmen ließ. Ein Blutstrom rann ihm aus Ohren, Mund und Nase, und er erstickte.

In einer unbekannten Wüste, in stockfinstrer Nacht grub man Attila das Grab und begleitete diese Arbeit mit Gesängen, in denen seine Heldentaten gepriesen wurden. Sein Leichnam wurde in einen dreiwändigen Sarg gelegt — die eine Wand war von Gold, die andre von Silber und die letzte von Kupfer; seine Waffen und das Geschirr seiner Rosse wurde mit ihm ins Grab gesenkt. Alle Knechte und Sklaven, die die Grube gegraben, wurden am Grabe erstochen, damit kein Lebender je die Stelle fände, wo die Gebeine des großen Mannes ruhten [13] .

Nach dem Tode Attilas stoben die Hunnen plötzlich auseinander und zerstreuten sich wie alle asiatischen Völker, die nur durch den mächtigen Willen eines Führers zusammengehalten werden. Nunmehr breiteten sich die europäischen Völker weiter und freier aus, sie wurden selbständiger, und im Osten traten slawische Stämme mehr in den Vordergrund, die sich allmählich vermehrten und in sechzig verschiedene Stämme teilten; sie zogen bis nach Tirol, machten nach dem Abzug der Ostgoten an den Grenzen des griechischen Kaiserreichs von sich reden, drangen immer mehr in die weiten Ebenen ein und verwandelten sich allmählich in seßhafte Völker.

Über Italien lagen nach den Verwüstungen Attilas noch lange Rauchwolken, aber selbst in den halbzerstörten Ruinen nisteten noch immer allerhand Tücken und Ränke, und in diesem völlig erschöpften Reiche gab es immer noch elende Ehrgeizlinge. Dem Senator Maximus war es gelungen, Aëtius, die einzige Stütze des schwankenden Thrones, vor dem ohnmächtigen Kaiser Valentinian zu verdächtigen, und der undankbare Valentinian erschlug ihn mit eigener Hand. Nun aber, als er dieser Stütze verlustig gegangen war, fiel er selbst von der Hand des Maximus, dieser setzte sich die Kaiserkrone auf sein von kindischem Ehrgeiz erfülltes Haupt und heiratete die Witwe Eudoxia. Die Witwe aber dürstete nach Rache, sie war empört über den gemeinen Mord an ihrem Gemahl, Italiens Schicksal beunruhigte sie wenig, und so forderte sie Geiserich im geheimen auf, nach Rom zu kommen, um den Tod des Kaisers, seines Verbündeten und Freundes, zu rächen.

Geiserich ließ nicht gern lange auf sich warten; sofort verließ er mit seinen Vandalen die afrikanische Küste, schiffte sich auf seinen Piratenschiffen ein und landete in Italien. Und alles, was vom Schwert Attilas verschont geblieben war, das vernichtete Geiserich in gewohnter Weise. Er untersuchte nicht lange, wer recht und wer unrecht hatte, oder wem er Hilfe leisten sollte. Alle traf dasselbe Schicksal. Geiserich verstand sich besonders gut auf das Plündern; nach ihm fand niemand etwas, woran er sich hätte bereichern können. Rom, das bis dahin selbst von den Heiden verschont geblieben war, wurde von diesem christlichen König ganz erbarmungslos geplündert; alles, was überhaupt mitgenommen werden konnte, wurde mitgenommen. Er füllte seine Schiffe mit einer Unzahl von Gefangenen, mit denen er selbst nichts anzufangen wußte; er nahm eine Menge von Schauspielern und Künstlern mit, selbst die Frau des Kaisers samt ihren Töchtern, denen er doch zu Hilfe geeilt war, zuletzt holte er auch die goldene Kuppel vom Kapitol herunter und schleppte sie zugleich mit anderen Schätzen nach Afrika.

Nach all diesen Ereignissen erinnerte Italien kaum noch an den Schatten seines ehemaligen Ruhms. Einst in herrlicher Blüte prangend, der Glanzpunkt der europäischen Natur, bot es jetzt den wilden Anblick eines verwüsteten, zerstörten Landes dar. Der Name des Kaisers war in den verlassenen Städten kaum noch zu hören. Der römische Imperator hatte gar keine Einkünfte mehr. Er war nicht mehr imstande, seinem eigenen Heer, das aus Herulern, Rugiern und Turcilingern bestand, seinen Sold zu bezahlen. Und so setzte denn ihr Anführer Odoaker den Kaiser ab und wurde selbst ein unbeschränkter und völlig unabhängiger Herrscher; allein, er wollte die kaiserliche Würde gar nicht mehr annehmen, sondern nannte sich ganz einfach König der Heruler. Ein anderer Teil des römischen Heeres befand sich in Gallien, es war durch die Alpen gewissermaßen von der Heimat abgeschnitten, und sein Anführer Syagrius, der von den Ereignissen in Italien gar keine Kunde hatte, verteidigte hier das gar nicht mehr existierende Reich gegen den vereinigten Frankenbund, der um diese Zeit bereits übermächtig zu werden begann, weil ein unternehmender König und Feldherr, Chlodwig, an seiner Spitze stand. Syagrius, der von seinem Reich abgeschnitten war und gar keine Verstärkungen erhielt, fiel es schwer, diesen frischen Kräften Widerstand zu leisten: er gab nach, und Gallien wurde von fränkischen Stämmen überschwemmt. Bald darnach brachen die Ostgoten unter der Führung von Theoderich von den nördlichen Grenzen des oströmischen Reiches auf, nahmen Italien ein und brachten die dort lebenden Völker unter ihre Herrschaft. Kurze Zeit nachher setzten die Angelsachsen auf ihren plumpen, kühnen Schiffen über das Meer, unterwarfen England — und damit fand die große Völkerwanderung, soweit sie sich in großen Massen vollzog, endgültig ihren Abschluß, aber in engeren Grenzen und in kleinerem Umfange nahm sie auch noch weiter ihren Fortgang. Die vielen wilden Jäger, die dieses allgemeine Herüber- und Hinüberwandern und dieser beständige Wechsel der Wohnsitze herangezogen hatten, waren von einer starken Leidenschaft für allerhand Abenteuer und Wandern ergriffen, und obgleich ganz Europa jetzt scheinbar unbeweglich dalag, rührte es sich und wogte es dort hin und her wie auf einem ungeheuren Marktplatz. Alle Nationen waren so durcheinandergemengt, daß es vergeblich gewesen wäre, eine reine und unberührte entdecken zu wollen, und erst mit der Zeit drückten bestimmte stabile Regierungsformen oder Beschäftigungen den bedeutendsten unter ihnen eine besondere Eigenart und bestimmte unterscheidende Merkmale auf. Damals gab es vier große Völkergruppen oder -massen, die die anderen an Bedeutung überragten, gleichsam vier Hauptpunkte, in denen sich die Macht Europas konzentrierte. In Spanien — die Westgoten, die mit einem Teil der von ihnen unterjochten Völker dort eingefallen waren, sich daselbst, d. h. in Spanien mit den Alanen, Sueven, Vandalen und einigen anderen von diesen abhängenden Stämmen vereinigt und in dem Gebirge von Asturien eine Menge feindlicher Banditenbanden wider sich aufgeregt hatten. Ferner in Gallien die Franken, die bereits aus den früheren Nachbarn der Römer, den Germanen von der Donau und vom Rhein, den Usipiern, Sigambern, Cheruskern, Chatten, Brukteren, Angrivariern, Chasuariern und anderen eine Nation gebildet, sich mit den einheimischen römischen Galliern vereinigt, mit den unterworfenen Aremorikern, Bretonen, Alemannen, Burgundern und zum Teil auch mit den Bajuwaren und Friesen verbunden, ohne sich doch mit ihnen zu verschmelzen, und die das Gebiet ihrer Herrschaft bis über die Alpen über den Rhein hinaus ausgedehnt hatten.

Das war eine der mächtigsten Völkergruppen. Im nördlichen Deutschland saßen die Sachsen, die durch ihre Wildheit und ihr Korsarentum Schrecken erregten und sich nur wenig mit anderen Stämmen vermischt hatten, und in Italien die Ostgoten, in deren Masse sich viele Abkömmlinge von Völkern befanden, die in Osteuropa herumwanderten — Sueven, Alanen, Avaren, Slawen, Gepiden — und die unter der geschickten und festen Regierung Theoderichs eine Zeitlang das Übergewicht in Europa erlangten. Außerdem übten diese großen Völkermassen noch eine Schutzherrschaft über eine Menge weit abseits wohnender Stämme aus.

Die Grenzen zwischen ihnen verloren sich oft in unbekannte Räume; in dem von den Grenzen eingeschlossenen Lande erhielten sich häufig viele Völker, die hier ganz unabhängig durch- und nebeneinander lebten. So in Mitteldeutschland — die Longobarden, dann ein Teil der Bajuwaren, die sich in Italien ausgezeichnet, und alle Völker, die einst in den ehemals unermeßlichen Wäldern des Harzes und des felsigen Vorgebirges der Alpen gelebt hatten. Der Osten Europas war von den völlig zerstreuten slawischen Stämmen besetzt, die unter dem ewigen Druck aller aus Asien nach Europa strömenden Völker noch nicht Zeit gefunden hatten, tätig in die Weltgeschichte einzugreifen. Jenseits des so bezeichneten Kreises im Norden und Osten wohnten verschiedene Völker, die noch in dunkler Tatenlosigkeit dahinlebten.

Dies war die Lage Europas am Ende des V. Jahrhunderts, dessen Ausgang so laut und unruhig war, als durch den unbeschreiblichen Ratschluß der Vorsehung das gewaltige Chaos, das die dunklen Elemente zu einer neuen Welt in sich trug, sich auf Europa niedersenkte, als sich Völker in ungeheuren Massen verheerend auf andere Völker stürzten, zu jener Zeit, als noch gewaltige, finstere Taten geschahen, als die Namen eines Alarich, Geiserich und Attila gleich unruhigen Kometen durch die Welt schwirrten, während die Alte Welt im Osten langsam vermoderte, als die römische Kultur sich zaghaft an die Küsten Syriens, Alexandriens und Konstantinopels drängte und die ketzerischen Lehren eines Nestor und Eutiches an ihren gebrechlichen altersschwachen Kräften nagten.

IX
Memoiren eines Wahnsinnigen

Den 3. Oktober.

H eute hat sich etwas Außerordentliches ereignet. Ich stand diesen Morgen ziemlich spät auf, und als Mawra mir meine frisch geputzten Stiefel hereinbrachte, fragte ich sie, wieviel die Uhr sei. Als ich hörte, daß es längst zehn geschlagen hätte, beeilte ich mich mit dem Ankleiden. Ich muß gestehn, am liebsten wäre ich gar nicht in die Kanzlei gegangen, da ich im voraus wußte, was für eine saure Miene unser Abteilungschef machen würde. Schon seit geraumer Zeit pflegt er mich immer wieder zu fragen: „Sag’ mal, Freundchen, was geht eigentlich in deinem Oberstübchen vor, du läufst hin und her wie ein Irrsinniger und wirfst alles so durcheinander, daß sich selbst der Teufel nicht mehr auskennt, du schreibst die Titel mit kleinem Anfangsbuchstaben und datierst und numerierst die Akten nicht.“ So ein verdammter Kerl! Sicherlich plagt ihn der Neid, weil ich im Arbeitszimmer des Direktors sitze und die Federn für Seine Exzellenz schneide. Mit einem Wort: ich wäre gar nicht in die Kanzlei gegangen, wenn ich nicht die Hoffnung gehabt hätte, den Kassierer zu sehn, und von diesem Juden wenigstens einen kleinen Vorschuß auf mein Gehalt herauszukriegen. Das ist auch so eine Kreatur. Gerechter Gott, eher bricht das Jüngste Gericht herein, als daß er einem das Gehalt für einen Monat vorausbezahlt! Bitte ihn, soviel du willst, geh meinetwegen zugrunde, sei in der größten Klemme — der alte Satan rückt nicht mit Geld heraus. Dafür muß er sich von seiner Köchin zu Hause ohrfeigen lassen. Das ist ja weltbekannt. Ich sehe auch nicht ein, was es für Vorteile hat, im Departement zu dienen. Man hat da doch gar keine Einnahmen! In den Gouvernementsverwaltungen, in den Zivil- und Staatsbehörden dagegen, das ist eine ganz andere Sache! Da sitzt einer ganz in die Ecke gedrückt da und kritzelt irgend etwas — sein Frack ist ganz fadenscheinig — er hat eine Fratze, daß man ausspucken möchte. Aber seht mal hin, was er sich für eine Villa leistet! Man darf es gar nicht erst wagen, ihm eine schön vergoldete Porzellantasse anzubieten. „Das,“ sagt er, „solch ein Geschenk, das ist was für ’nen Doktor.“ Er dagegen muß gleich ein paar Pferde, eine Equipage oder einen Biberkragen für 300 Rubel haben. Äußerlich ist er so bescheiden und spricht so zart: „Wollen Sie mir nicht für einen Augenblick Ihr Messerchen leihen, um meine Feder zu schneiden!“ und dabei rupft er einen derartig, daß er einem kaum das Hemd am Leibe übrigläßt. Das muß man allerdings zugeben, unser Dienst hat etwas Vornehmes, überall herrscht eine solche Reinlichkeit, wie sie sich in keiner Gouvernementskanzlei finden dürfte, alle Tische sind aus Mahagoni, und die Vorgesetzten sagen „Sie“ zu einem. Ja, ich muß gestehn, ich hätte längst die Kanzlei verlassen, wenn nicht dieser vornehme Ton bei uns herrschte.

Ich legte meinen alten Mantel an und nahm einen Regenschirm in die Hand, denn es regnete heftig. Die Straßen waren leer; nur ein paar alte Weiber, die sich mit ihren über den Kopf geschlagenen Röcken vor dem Regen schützten, einige russische Kaufleute unter riesigen Schirmen und ein paar Droschken kamen mir entgegen. Von den besseren Leuten begegnete ich nur einigen von unseren Beamten. Bei einer Straßenkreuzung erblickte ich einen von ihnen. Als ich ihn bemerkte, dachte ich mir sofort: „He, Freundchen, du gehst mir nicht in die Kanzlei, du eilst jener Schönen nach, die vor dir herläuft, und spähst nach ihren Füßchen. Solche Teufelskerle, diese Beamten! Bei Gott! Die geben selbst einem Offizier nichts nach! Da braucht nur irgendein Mädel in einem netten Hütchen vorüberzugehn, sofort hat er sie schon gekapert.“ Als mir dies durch den Sinn ging, fiel mein Blick auf einen Wagen, der gerade vor einem Laden hielt, an dem ich vorüberkam. Ich erkannte ihn sofort: es war der Wagen unseres Direktors. Ich überlegte: „Er hat in diesem Laden nichts zu tun — gewiß ist es seine Tochter!“ Ich drückte mich dicht an die Wand. Der Bediente öffnete den Schlag, und sie hüpfte heraus wie ein Vögelchen. Sie wandte ihr Köpfchen nach rechts und nach links, wie reizend zuckte sie mit den Brauen und wie blitzten ihre Augen! ..... Gott! mein Gott, ich bin verloren, ganz verloren! ... Warum mußte sie aber auch bei solch einem Wetter ausfahren! Da soll noch jemand behaupten, daß die Frauen keine Leidenschaft für allerhand Putz und Flitterwerk haben. Sie hatte mich nicht erkannt, ich hatte ja absichtlich versucht, mich ganz hinter meinem Kragen zu verkriechen, weil ich einen ganz alten, fleckigen Mantel von altmodischem Schnitt umgelegt hatte. Jetzt trägt man Mäntel mit einem langen Kragen, und der meine hat mehrere kurze übereinander; obendrein war das Tuch nicht einmal decatiert. Ihr Hündchen, das nicht Zeit gehabt hatte, in die Ladentür zu schlüpfen, blieb auf der Straße. Ich kenne dieses Hündchen, es heißt Maggie; ich hatte keine Minute auf der Straße gestanden, da hörte ich plötzlich ein feines Stimmchen: „Guten Tag, Maggie!“ Was ist denn das, wer spricht denn da?! Ich schaute mich nach allen Seiten um und sah zwei Damen unter einem Regenschirm daherkommen: die eine war schon recht alt, die andere noch jung; sie gingen an mir vorüber, da erklang es aufs neue: „Schäm’ dich, Maggie!“ Hol’s der Teufel! Ich sah, daß Maggie einen Hund beschnüffelte, der hinter den Damen einherlief. „Aha!“ sagte ich zu mir; „wie wird mir, sollte ich am Ende betrunken sein? Aber das passiert mir ja nur höchst selten!“ „Nein, Fidel, du irrst dich!“ Jetzt sah ich’s deutlich: die, die dies sagte, war Maggie selbst: „Ich war, wau, wau, ich war, wau, wau, wau, sehr krank!“ „Sieh einer das Hündchen an!“ Ich muß gestehn, ich war sehr erstaunt, als ich hörte, daß es geradeso sprach wie ein Mensch. Aber als ich später alles ordentlich überlegte, hörte ich auf, mich zu wundern. Wahrhaftig, so etwas ist auf Erden schon häufiger vorgekommen! Man erzählt sich, daß in England einmal ein Fisch ans Land geschwommen sei, der zwei Worte in einer so merkwürdigen Sprache gesprochen hätte, daß sich die Gelehrten schon drei Jahre darüber den Kopf zerbrechen und doch nicht herauskriegen können, was das für eine Sprache war. Ich habe auch in der Zeitung von zwei Kühen gelesen, die in einen Laden gekommen seien und ein Pfund Tee verlangt hätten. Aber ich muß sagen, ich wunderte mich doch noch mehr, als ich Maggie sagen hörte: „Ich habe dir geschrieben, Fidel; gewiß hat Polkan dir meinen Brief nicht überbracht.“ Teufel auch, ich habe noch nie im Leben gehört, daß ein Hund schreiben kann. Richtig schreiben kann doch nur ein Edelmann ... Natürlich, es kommt wohl auch einmal vor, daß irgendein Kaufmann, ein Bureaumensch oder sogar ein Leibeigner etwas hinkritzelt! Aber das ist doch immer nur ein mechanisches Geschreibsel! Ohne Punkte, ohne Komma und ohne alles Stilgefühl! ...

Das setzte mich in Erstaunen. Ich muß gestehn, seit einiger Zeit fange ich an, Dinge zu sehen und zu hören, die bis jetzt noch kein Mensch gesehen und gehört hat. „Ich will mal diesem Hündchen folgen“, sagte ich zu mir, „und erfahren, wie und was es denkt.“ Ich spannte meinen Schirm auf und ging hinter den Damen her. Wir bogen in die Erbsenstraße, dann in die Meschtschanskaja, nachher in die Storljarnaja und endlich zur Kokuschkin-Brücke ein und blieben vor einem großen Hause stehn. „Dieses Haus kenne ich!“ sagte ich zu mir, „es gehört Swerkow.“ So ein Kasten! Was leben da nicht alles für Leute! Wie viele Köchinnen und wie viel Zugereiste gibt es da! Auch von uns Beamten gibt es da eine ganze Menge! Die sitzen wie Hunde einer auf dem andern und hetzen noch einen dritten auf ihn. Hier wohnt auch einer meiner Freunde, der sehr gut Piston bläst. Die Damen stiegen in den fünften Stock hinauf. „Schön,“ sagte ich zu mir „jetzt will ich nicht mitgehen, ich will mir die Gegend merken und nicht versäumen, mir die erste Gelegenheit zunutze zu machen.“

Den 4. Oktober.

Heute ist Mittwoch und daher habe ich meinen Chef in seinem Arbeitszimmer aufgesucht. Ich kam absichtlich etwas früher, setzte mich hin und spitzte noch einmal alle Federn an. Unser Direktor muß ein sehr kluger Mensch sein. Sein ganzes Kabinett ist mit Bücherschränken angefüllt. Ich las die Titel einiger Bücher. Lauter gelehrtes Zeug, so gelehrt, daß unsereiner sich gar nicht dranwagen kann — alles französische oder deutsche Bücher. Und wenn man ihm erst ins Gesicht sieht — uff — welche Würde leuchtet einem aus seinen Augen entgegen. Ich habe noch nie gehört, daß er ein unnützes Wort gesagt hätte. Wenn man ihm ein Papier reicht, bemerkt er höchstens: „Wie ist es heute draußen?“ „Feucht, Euere Exzellenz!“ Ja, das ist keine Gesellschaft für unsereinen. Er ist ein Staatsmann! Dennoch aber merke ich, daß er mich besonders gern hat. Ach, wenn doch auch seine Tochter ... so eine verfluchte Geschichte! ... Doch still davon! Kein Wort mehr! Ich las heute in der „Biene“. Die Franzosen sind doch ein dummes Volk! Was wollen sie eigentlich? Bei Gott, ich möchte sie alle übers Knie legen und auspeitschen. Ich las auch eine sehr nette Beschreibung eines Balles, die ein Gutsbesitzer aus Kursk verfaßt hatte. Diese Kursker Gutsbesitzer schreiben doch sehr gut. Da bemerkte ich, daß die Uhr halb eins schlug, und dennoch wollte „unser Chef“ noch immer nicht aus seinem Schlafzimmer herauskommen. Aber keine Feder ist imstande, das zu beschreiben, was sich um halb zwei Uhr abspielte. Die Tür wurde geöffnet, ich glaubte schon, es sei der Direktor, und sprang, mit den Papieren in der Hand, vom Stuhl auf: aber es war sie, sie selbst! Alle Heiligen! wie herrlich war sie angezogen! Ihr Kleid war schneeweiß wie das Gefieder eines Schwanes — ein wundervolles Kleid. Und wie sie mich anblickte — glich sie der Sonne — bei Gott — der Sonne! Sie grüßte und sagte: „Ist Papa nicht hier gewesen?“ Herr Gott! was für eine Stimme! — der reinste Kanarienvogel, wahrhaftig, der reinste Kanarienvogel! „Euere Exzellenz!“ wollte ich sagen, „vernichten Sie mich nicht, aber wenn Sie mich schon durchaus vernichten wollen, so tun Sie es mit Ihrem hochgeborenen Händchen!“ Aber hol’s der Teufel, die Zunge versagte mir ihren Dienst, und ich sagte nur: „Durchaus nicht!“ Sie sah erst mich an, dann die Bücher und ließ dabei ihr Taschentuch fallen; ich sprang eilig hinzu, glitt aber auf dem verfluchten Parkett aus und hätte mir fast die Nase zerschlagen, doch hielt sie mich noch im letzten Moment aufrecht und hob das Tuch auf! Alle Heiligen! Welch ein Tuch! der allerfeinste Batist — Ambrosia — das reine Ambrosia! Man glaubte ihm förmlich die Vornehmheit seiner Besitzerin anzumerken. Sie bedankte sich und lächelte flüchtig, so daß sich ihre zuckersüßen Lippen kaum merklich kräuselten, dann ging sie. Ich blieb noch eine Stunde lang sitzen, als plötzlich der Diener hereintrat und sagte: „Aksentjij Iwanowitsch, gehen Sie nach Hause, der Herr ist schon fortgefahren.“ Ich kann dieses Bedientenvolk nicht leiden; immer rekeln sie sich im Vorzimmer herum, und unsereins zu grüßen, das fällt ihnen gar nicht ein. Aber das ist noch nicht das Ärgste; einmal kam ein solcher Hund sogar auf den Gedanken, mir eine Prise anzubieten, ohne vom Stuhl aufzustehen. Ja, weißt du denn nicht, du dummer Sklave, daß ich ein Beamter und ein Edelmann bin?! Indessen nahm ich meinen Hut, legte mir allein meinen Mantel um, denn diesen hohen Herrn fällt es doch nicht ein, unsereinem hineinzuhelfen, und ging meiner Wege. Zu Hause lag ich meistens auf dem Bett. Dann schrieb ich ein paar schöne Verse ab:

„Da mein Lieb ein Stündchen nicht zu sehn ist —

’s muß ein Jahr schon her sein, dacht’ ich;

Weil mein Leben mir so arg verhaßt ist,

Kann ich da noch leben? — sagt’ ich.“

Wahrscheinlich ist es ein Gedicht von Puschkin. Abends wickelte ich mich fest in meinen Mantel und ging vor das Haustor Seiner Exzellenz, ich wartete ziemlich lange, ob sie nicht vielleicht heraustreten und in den Wagen steigen würde, ich hoffte, sie noch einmal zu sehn; aber sie kam nicht. —

Den 6. November.

Der Abteilungschef ist ganz aus dem Häuschen! Als ich in die Kanzlei kam, ließ er mich sofort rufen und sprach: „Sag’ mir bitte, was tust du eigentlich?“ „Wie? ich tue gar nichts,“ antwortete ich. „Höre mal, denk’ doch mal darüber nach, du bist doch schon über 40 Jahre alt — es wäre bald Zeit, daß du vernünftig wirst. Was bildest du dir eigentlich ein? Du glaubst wohl, ich sei nicht hinter all deine Schliche gekommen? Du läufst ja der Tochter unseres Direktors nach! Sieh dich doch nur mal an und mach’ dir mal klar, wer du eigentlich bist! Du bist doch eine Null — und weiter nichts. Du hast ja keinen Heller im Kasten. Wirf doch einen Blick in den Spiegel — wie kannst du nur an so etwas denken!“ Hol’ ihn der Teufel! weil sein Gesicht an eine Medizinflasche erinnert und weil er nur noch ein paar Haare auf dem Kopf hat, die er künstlich zu einem Schopf zusammendreht, den er mit allerhand duftenden Pomaden salbt, und weil er die Nase hoch trägt, bildet er sich ein, daß ihm allein alles erlaubt sei. Ich verstehe, ich verstehe sehr gut, warum er so wütend auf mich ist. Er beneidet mich, vielleicht weiß er, daß ich bevorzugt werde, vielleicht hat er die Zeichen des Wohlwollens bemerkt, die mir zuteil geworden sind. Ach was! Ich spucke auf ihn! Auch was Großes! Ein — Hofrat! trägt ’ne goldene Uhrkette und läßt sich Stiefel zu 30 Rubel das Paar machen. Ach! hol ihn doch der Teufel! Bin ich etwa aus niederem Stande? Bin ich etwa ein Schneider oder der Sohn eines Unteroffiziers! Ich bin ein Edelmann! Ich kann mich doch auch heraufdienen. Ich bin erst 42 Jahre alt —, und da beginnt doch eigentlich der Dienst erst richtig. Warte nur, Freundchen! wir werden auch noch einmal Oberst sein, ja, vielleicht, so Gott will, auch noch ein bissel mehr! Dann schaffe ich mir eine schöne Wohnung an, vielleicht noch eine bessere als deine. Du bildest dir wohl ein, daß es außer dir keine anständigen Menschen gibt? Dann schaffe ich mir einen Frack nach der neuesten Mode an und binde mir eine ebensolche Krawatte um wie du — dann reichst du überhaupt nicht an mich heran. Ich habe bloß kein Geld — das ist das Pech.

Den 8. November.

Heute war ich im Theater. Man gab „Filatka, den russischen Narren“. Ich habe sehr gelacht. Dann folgte noch eine Posse mit allerhand komischen Couplets, in denen es über die Gerichtsbeamten herging, besonders wurde ein Kollegienregistrator aufs Korn genommen; diese Couplets waren sehr kräftig, und ich habe mich gewundert, daß die Zensur sie nicht beanstandet hat. Von den Kaufleuten hieß es geradezu, daß sie das Volk betrügen, daß ihre Söhne verschwenderisch leben und nach dem Adelsstand streben. Dann gab’s auch ein sehr amüsantes Couplet über die Journalisten: der Autor bat das Publikum um Schutz vor ihnen, da sie immer alles herunterreißen. Die heutigen Schriftsteller schreiben sehr interessante Stücke. Ich gehe sehr gern ins Theater. Sobald ich nur ein paar Groschen in der Tasche habe, kann ich der Versuchung nicht widerstehn und geh’ hinein. Es gibt unter den Beamten solche Schweine, die durchaus nicht ins Theater gehen wollen — richtige Bauern — es sei denn, daß man ihnen ein Freibillett schenkt. Da war auch eine Sängerin. Sie sang wunderschön — sie erinnerte mich an jene .... ach! so ’ne Gemeinheit. Doch still, still ... kein Wort mehr davon.

Den 9. November.

Um 8 Uhr begab ich mich in die Kanzlei. Der Abteilungschef tat so, als bemerke er mein Eintreten gar nicht. Ich meinerseits tat auch so, als hätten wir nichts miteinander vorgehabt. Ich sah einige Akten durch und verglich sie miteinander. Um 4 Uhr ging ich wieder fort. Ich kam an der Wohnung des Direktors vorbei, aber es war niemand zu sehn. Nach Tisch lag ich meist wieder auf dem Bett.

Den 11. November.

Heute saß ich im Arbeitszimmer unseres Direktors, schnitt dreiundzwanzig Federn für ihn und für Ihre, oh, oh, oh, und für Ihre Exzellenz vier Federn. Er hat es gern, wenn recht viele Federn auf seinem Tisch bereit liegen. Oh, das muß ein Kopf sein! Er schweigt beständig, aber in diesem Kopf — glaub’ ich — erwägt er alles. Ich möchte gern wissen, worüber er am meisten nachdenkt, und was er für Pläne schmiedet. Ich möchte das Leben dieser Herrn gern so aus der Nähe beobachten, alle diese Equivoquen und Hofintrigen; wie sie sich bewegen, und was sie in ihrem Kreise tun und treiben: das würde ich gern erfahren! — Schon häufig hatte ich Lust, mich mit Seiner Exzellenz in ein Gespräch einzulassen, aber weiß der Teufel, die Zunge versagt mir ihren Dienst. Schließlich sagt man nur, daß es draußen kalt oder warm ist, und mehr bringt man bei dem besten Willen nicht heraus. Wie gern würde ich einen Blick ins Gastzimmer werfen, aber die Tür steht nur selten offen; von dem Gastzimmer aus sieht man in ein zweites Zimmer! Gott, was für eine noble Einrichtung! Was für Spiegel! Welch ein Porzellan! Ich würde auch gerne mal in den Teil des Hauses hineinblicken, wo Ihre Exz.... ja, da möchte ich gern einmal rein: in ihrem Boudoir, was stehen da wohl für Fläschchen und Büchsen, was für herrlich duftende Blumen, die man kaum anzuhauchen wagt, da liegt vielleicht auch ihr Kleid, das sie eben abgelegt hat, und das mehr einem Lufthauch als einem Kleidungsstück gleicht. Wie gern würde ich auch einen Blick ins Schlafzimmer werfen. Das muß ein Wunderland ... das muß ein Paradies sein, wie es, glaube ich, selbst im Himmel kein ähnliches gibt. Ich möchte das Bänkchen sehn, auf das sie des Morgens beim Aufstehn ihr Füßchen setzt, ich möchte sehn, wie sie sich die schneeweißen Strümpfe anzieht ... O Gott! o Gott! Doch still! still! Kein Wort mehr! Heute fiel’s mir plötzlich wie Schuppen von den Augen: ich erinnerte mich des Gesprächs der beiden Hunde, das ich auf dem Newsky-Prospekt belauscht hatte. „Gut,“ dachte ich bei mir, „ich werde jetzt alles erfahren! Ich müßte nur den Briefwechsel dieser beiden elenden Hunde auffangen. Daraus werde ich gewiß so manches erfahren.“ Ich muß hier anmerken: einmal habe ich Maggie sogar zu mir herangelockt und ihr gesagt: „Hör’ einmal, Maggie, wir sind jetzt allein, wenn du willst, werde ich sogar die Tür schließen, so daß uns niemand sehen kann — erzähle mir alles, was du von dem Fräulein weißt: was treibt sie und wie ist sie, ich schwöre dir, niemand soll etwas davon erfahren.“ Aber das listige Hündchen kniff nur den Schwanz ein, duckte sich ganz zusammen und schlich leise zur Tür hinaus, als hätte es nichts gehört. Ich vermute schon lange, daß die Hunde viel klüger sind als die Menschen; ich bin sogar überzeugt, daß sie sprechen können, nur sind sie sehr eigensinnig. Ein Hund ist ein großer Politiker: er bemerkt alles und beobachtet jeden Schritt, den der Mensch macht. Nein, es mag biegen oder brechen, morgen gehe ich zu Swerkow, frage Fidel aus und nehme, wenn es glückt, alle Briefe, die Maggie ihr geschrieben, an mich.

Den 12. November.

Um 2 Uhr machte ich mich auf, denn ich wollte Fidel durchaus sehen und aushorchen. Ich kann den Kohlgeruch, der aus allen Krämerläden in der Meschtschanskaja aufsteigt, auf den Tod nicht leiden, dazu dringt noch ein solcher Gestank aus allen Pforten, daß ich mir die Nase zuhielt und mich, so schnell ich nur konnte, aus dem Staub machte. Und dann verpesteten einem die gräßlichen Handwerker noch derartig die Luft mit dem Ruß und dem Rauch, der aus ihren Werkstätten aufsteigt, daß es für einen anständigen Menschen tatsächlich unmöglich ist, hier spazierenzugehen. Als ich zum sechsten Stock emporgestiegen war und die Glocke gezogen hatte, trat ein Mädchen heraus, das nicht übel aussah, und dessen Gesicht mit kleinen Sommersprossen bedeckt war. Ich erkannte sie. Es war dieselbe, die die alte Frau begleitet hatte. Sie errötete ein wenig, und ich begriff sie sogleich. — Die Kleine sehnte sich nach einem Schatz. „Was wünschen Sie?“ fragte sie. „Ich muß mit Ihrem Hündchen sprechen.“ Das Mädchen war offenbar sehr dumm! Ich merkte sofort, daß sie dumm war! In diesem Moment kam der Hund bellend herangesprungen: ich wollte ihn fassen, aber das Scheusal hätte mich mit seinen Zähnen beinahe an der Nase gepackt. Plötzlich erblickte ich in der Ecke sein Lager. Ach, das ist ja, was ich brauche! Ich trat näher, wühlte das Stroh im Holzkasten durcheinander und holte zu meiner großen Freude ein kleines Papierbündel hervor. Als das garstige Tier das sah, biß es mich erst in die Wade, dann aber merkte es, daß ich die Papiere eingesteckt hatte, und fing an zu winseln und zu schmeicheln, ich aber sagte: „Nein, mein Schatz, lebe wohl!“ und lief davon. Ich glaube, das Mädchen hielt mich für einen Wahnsinnigen, denn sie erschrak furchtbar. Als ich nach Hause kam, wollte ich mich sofort an die Arbeit machen und die Briefe entziffern — denn bei Licht sehe ich nicht gut. Aber Mawra war gerade dabei, den Fußboden zu waschen. Diese dummen Finnländerinnen sind besonders immer dann reinlich, wenn man es nicht brauchen kann. So ging ich denn hinaus, um einen Spaziergang zu machen und das Geschehene zu überdenken. Endlich werde ich alles erfahren! Alle ihre Pläne und Intrigen, alle geheimen Triebfedern und werde alles ergründen. Diese Briefe werden mir alles enthüllen. Die Hunde sind ein kluges Volk, sie kennen die politischen Verhältnisse, und daher werde ich dort alles Wissenswerte über unsern Chef finden, das Porträt und die Machinationen dieses Mannes. Sicherlich wird auch einiges über sie darin enthalten sein, das ... doch still, kein Wort mehr. Gegen Abend kam ich nach Hause und lag die meiste Zeit über auf dem Bett.

Den 13. November.

Nun wollen wir mal sehn! Der Brief ist ziemlich leserlich geschrieben. Doch aber liegt etwas Hündisches in der Handschrift. Wir wollen mal sehn:

„Liebe Fidel! Ich kann mich noch immer nicht recht an deinen plebejischen Namen gewöhnen. Konnte man dir wirklich keinen besseren geben? Fidel, Rose — wie vulgär das klingt! Aber lassen wir das jetzt beiseite, es freut mich sehr, daß wir beschlossen haben, einander zu schreiben.“

Der Brief ist recht orthographisch geschrieben. Die Interpunktionszeichen sind immer auf ihrem richtigen Platze, und die Buchstaben sind nirgends verwechselt. Ja, ich glaube, daß selbst unser Abteilungschef nicht so korrekt schreiben kann, obgleich er behauptet, daß er die Universität besucht habe. Sehen wir weiter!

„Mir scheint, eine der größten Freuden des Lebens ist, seine Gedanken, Gefühle und Eindrücke mit einem Freunde zu teilen.“

Hm ... diesen Gedanken hat sie aus einem deutschen Aufsatz, der in russischer Sprache erschienen ist. Ich kann mich nicht auf den Titel besinnen.

„Ich spreche aus Erfahrung, obgleich ich nicht weiter in der Welt herumgekommen bin, als bis vor unsere Haustür. Ist mein Leben nicht von Wohlstand umgeben? Mein Fräulein, das der Papa Sophie nennt, liebt mich grenzenlos.“

O Gott, o Gott! Doch still, still! Kein Wort mehr!

„Papa liebkost mich auch häufig. Ich trinke Tee und Kaffee mit Sahne. Ach, ma chère , ich muß Dir sagen, daß ich gar keine Freude an großen abgenagten Knochen habe, wie sie unser Polkan in der Küche zu fressen kriegt. Nur Wildpretknochen schmecken gut, und auch die nur, wenn das Mark noch darin ist. Es schmeckt auch sehr gut, wenn man mehrere verschiedene Saucen durcheinandermischt, nur dürfen keine Kapern und keine Gemüse darin sein; aber ich kenne nichts Schlimmeres, als die Gewohnheit, Hunden Brotkügelchen vorzusetzen. Da fängt irgendein Herr, der bei Tisch sitzt, und der schon allerhand Schund in seinen Händen gehalten hat, plötzlich an, mit diesen selben Händen Brot zu kneten, ruft Dich herbei und steckt Dir so eine Brotkugel zwischen die Zähne. Refüsieren darf man nicht — so frißt man es denn, obwohl es einen ekelt, aber man frißt es doch!“

Weiß der Teufel, was das ist! So ein Blödsinn! Als ob es kein besseres Thema gäbe, über das man schreiben könnte. Wir wollen mal sehn, ob wir auf der anderen Seite nichts Vernünftigeres finden.

„.... Ich bin gern bereit, Dich von allen Ereignissen zu unterrichten, die sich bei uns abspielen. Ich habe Dir schon einiges von der Hauptperson erzählt, die Sophie Papa nennt. Das ist ein sehr merkwürdiger Mensch ...“

Endlich! Ich wußte es ja, sie haben einen politischen Blick für alle Dinge. Laß uns ’n mal sehn — was der Papa tut:

„... merkwürdiger Mensch. Er schweigt fast immer und spricht nur selten; aber vor einer Woche sprach er in einem fort vor sich hin: ‚Werde ich ihn bekommen oder werde ich ihn nicht bekommen?‘ Einmal wandte er sich sogar mit der Frage an mich: ‚Wie denkst du, Maggie, werde ich ihn bekommen, oder werde ich ihn nicht bekommen?‘ Ich konnte rein gar nichts verstehen, beschnüffelte seine Stiefel und schlich mich fort. Dann aber — es ist jetzt eine Woche — erschien Papa plötzlich hocherfreut, ma chère . Den ganzen Morgen lang gingen bei ihm uniformierte Herren ein und aus, die ihm alle zu etwas gratulierten. Bei Tisch war er so vergnügt, wie ich ihn nie zuvor gesehn, und er erzählte in einem fort Anekdoten.

Nach dem Essen hob er mich zu sich empor, deutete auf seinen Hals und sagte: ‚Sieh mal, Maggie, was ist das?‘ Ich sah ein kleines Bändchen auf seiner Brust, roch daran, fand aber gar nicht, daß es gut duftete, schließlich leckte ich noch einmal daran: es schmeckte etwas salzig.“

Hm, dieses Hündchen erlaubt sich, wie mir scheint, ein bißchen viel. Es soll sich in acht nehmen, daß es keine Prügel kriegt! ... So, er ist also ehrgeizig, das muß man sich merken!

„Leb’ wohl, ma chère . Ich eile usw., usw. Morgen will ich meinen Brief beenden.“ —

„Guten Tag, jetzt bin ich wieder bei Dir. Heute war mein Fräulein Sophie ...“

Ah, nun wollen wir mal sehn, was mit Sophie los ist! Ach, so ’ne Gemeinheit ... Doch still, still! ... fahren wir fort.

„..... mein Fräulein Sophie in großer Aufregung. Sie rüstete sich zu einem Ball, und ich war sehr erfreut, daß ich Dir in ihrer Abwesenheit schreiben konnte. Meine Sophie ist immer sehr froh, wenn sie einen Ball besuchen kann, obgleich sie sich beim Ankleiden fast immer ärgert. Wozu sich die Menschen eigentlich anziehn und warum laufen sie nicht so herum wie wir zum Beispiel? Es ist doch viel bequemer und angenehmer. Ich kann auch nicht verstehen, was das für ein Vergnügen ist, einen Ball zu besuchen. Sophie kommt von den Bällen stets erst gegen 6 Uhr morgens nach Hause, und ich glaube immer aus ihrem bleichen, elenden Aussehen zu erkennen, daß die Ärmste nicht genug zu essen bekommen hat. Ich muß gestehn, ich könnte nicht so leben. Wenn ich keine Sauce mit Rebhuhn und keine gebratenen Hühnerflügel bekäme, so wüßte ich nicht, was mit mir geschähe. Auch Sauce mit Brei schmeckt sehr gut. Dagegen Karotten, Rüben oder Artischocken, die schmecken nie gut.“

Ein sehr ungleichmäßiger Stil. Man sieht doch gleich, daß dies kein Mensch geschrieben hat. Er fängt an, wie es sich gehört, und schließt wie ein Hund. Ich will mir doch noch einen weiteren Brief ansehen. Er ist zwar ein bißchen lang, und auch das Datum fehlt.

„Ach, meine Liebe, wie fühlbar macht sich doch das Herannahen des Frühlings! Mein Herz klopft, als erwarte es etwas! In meinen Ohren klingt es unaufhörlich, so daß ich häufig minutenlang mit erhobenem Bein lauschend an der Tür stehe! Ich will Dir gestehn, daß ich viele Verehrer habe. Häufig betrachte ich sie, während ich gemächlich am Fenster sitze. Ach, wenn Du wüßtest, was es für Mißgeburten unter ihnen gibt! Der eine, ein plumper Köter, ist furchtbar dumm, die Borniertheit spricht ihm aus dem Gesicht, er stolziert wichtig auf der Straße einher und bildet sich ein, eine höchst bedeutende Persönlichkeit zu sein; er denkt wohl, daß sich alle so ohne weiteres in ihn verlieben werden. Aber keine Spur davon. Ich habe ihn gar nicht beachtet und tat so, als hätte ich ihn nie gesehn. Und was für eine fürchterliche Dogge da zuweilen vor meinem Fenster stehnbleibt! Wenn sie sich auf die Hinterbeine stellte, was das plumpe Tier sicherlich gar nicht kann, würde sie Sophies Papa, der doch auch ziemlich groß und dick ist, um Kopfeslänge überragen. Dieser Affe ist sicherlich ein schrecklicher Frechling. Ich knurrte ihn an, aber er kümmerte sich absolut nicht drum und verzog keine Miene, streckte nur seine Zunge heraus, wackelte mit seinen mächtigen Ohren und schaute in mein Fenster hinein! — solch ein Bauer! Aber glaubst Du wirklich, ma chère , daß mein Herz unempfindlich ist für all dies Werben?! Ach, nein ..... Wenn Du nur den einen Kavalier gesehen hättest, der mitunter über den Zaun unseres Nachbars klettert — er heißt Tresor — oh, ma chère — was der für ein Schnäuzchen hat!! ....“

Pfui Teufel! .... Was für ein Blödsinn! .... Wie kann man nur ganze Seiten mit solchen Dummheiten anfüllen. Einen Menschen! Ich will einen Menschen sehn; mich verlangt nach geistiger Nahrung, die meine Seele speist und labt: und statt dessen diese Dummheiten ..... Doch ich will eine Seite überschlagen, vielleicht wird’s besser!

„... Sophie saß am Tisch und nähte etwas. Ich blickte zum Fenster hinaus, weil ich mir gern die Spaziergänger anschaue, als plötzlich der Diener hereintrat und Herrn Teplow meldete. ‚Ich lasse bitten!‘ rief Sophie und umarmte mich stürmisch. ‚Ach, Maggie, Maggie! wenn Du wüßtest, wer das ist: ein brünetter Kammerjunker! und Augen hat er! schwarz und klar wie Achat!‘ und Sophie lief in ihr Zimmer. Einen Augenblick später trat ein junger Kammerjunker mit einem schwarzen Backenbart herein; er näherte sich dem Spiegel, ordnete sein Haar und sah sich im Zimmer um. Ich knurrte und ging auf meinen Platz zurück. Sophie kam bald zurück und beantwortete seinen Kratzfuß mit einem fröhlichen Knicks; ich tat, als bemerke ich nichts und schaute ruhig aus dem Fenster, beugte aber meinen Kopf etwas zur Seite und versuchte zu hören, was sie sprachen. Ach, ma chère , was das für Banalitäten waren! Sie redeten davon, wie eine Dame beim Tanz anstatt des einen Pas einen anderen gemacht hätte, ferner, daß ein gewisser Robow mit seinem Jabot einem Storche außerordentlich ähnlich gesehen hätte und beinahe auf dem Parkett ausgeglitten und gefallen wäre. Schließlich erzählten sie noch, daß eine gewisse Lidina sich einbilde, sie habe blaue Augen, während sie in Wirklichkeit grün seien usw. Ich dachte mir, wie kann man nur diesen Kammerjunker mit Tresor vergleichen! Himmel! welch ein Unterschied! Erstens hat der Kammerjunker ein vollkommen glattes Gesicht, das von einem Backenbart eingerahmt ist, was so aussieht, als ob er sich ein schwarzes Tuch um den Kopf gebunden hat. Wie anders Tresor! Er hat ein ganz feines Schnäuzchen und mitten auf der Stirn einen kleinen weißen Fleck. Auch Tresors Taille ist unvergleichlich, viel schöner als die des Kammerjunkers. Auch seine Augen, seine Manieren und seine Bewegungen sind ganz anders. Welch ein Unterschied! Ich verstehe nicht, meine Liebe, was sie an ihrem Teplow gefunden hat, und warum sie so entzückt von ihm ist?! ...“

Mir scheint auch, hier muß etwas nicht richtig sein. Es ist unmöglich, daß dieser Teplow sie so bezaubert hat. Ich will mal weiter sehn:

„Mir scheint, wenn ihr schon dieser Kammerjunker so gefällt, wird sie bald auch an jenem Beamten Gefallen finden, der in Papas Zimmer sitzt. Ach, ma chère , wenn Du wüßtest, was das für ein Scheusal ist. Die reine Schildkröte, die man in einen Sack gesteckt hat ...“

Was kann das wohl für ein Beamter sein?

„Sein Familienname ist höchst seltsam. Er sitzt immer da und schneidet Federn. Die Haare auf seinem Kopf erinnern stark an einen Büschel Heu. Papa benutzt ihn mitunter statt des Dieners zu Botendiensten ...“

Mir scheint, dieses garstige Hündchen spielt auf mich an! Habe ich denn Haare wie ein Heubüschel!

„Sophie kann sich nur mit Mühe des Lachens enthalten, wenn sie ihn ansieht.“

Du lügst, verfluchter Hund! Welche boshafte Zunge! Als ob ich nicht wüßte, daß dies alles vom Neid eingegeben ist, als ob ich nicht weiß, wer hier dahintersteckt. Das ist doch eine Intrige des Abteilungschefs! Dieser Mensch hat mir doch ewigen Haß geschworen — nun schadet er mir bei jedem Schritt, den ich tue. Übrigens will ich mir noch einen Brief ansehn. Vielleicht klärt sich dann die Sache von selbst auf.

Ma chère Fidel, verzeih’, daß ich so lange nicht geschrieben habe. Ich war in einem Wonnerausch! Der Dichter hat wirklich recht, der gesagt hat, daß die Liebe das zweite Leben ist. Außerdem gehen große Veränderungen in unserem Hause vor. Der Kammerjunker besucht uns jetzt täglich. Sophie ist wahnsinnig in ihn verliebt. Papa ist sehr vergnügt. Ich habe sogar von unserem Grigorij gehört, — der bei uns den Fußboden fegt und immer Selbstgespräche führt — daß die Hochzeit bald stattfinden wird, denn Papa will durchaus, daß Sophie einen General oder einen Kammerjunker oder einen Militäroberst heiratet ...“

Hol’s der Teufel! ich kann nicht mehr lesen ... Immer irgendein Kammerjunker oder General. Alles Schöne, was es auf der Welt gibt — fällt immer den Kammerjunkern oder Generälen zu. Du findest irgendein elendes Ding, das dich glücklich machen könnte, und willst schon mit der Hand darnach greifen, da wird es dir von einem Kammerjunker oder einem General entrissen. Hol’s der Teufel! ... Ich wünschte, ich würde selbst General; nicht um ihre Hand zu gewinnen usw. — nein, ich wünschte nur deshalb, ich wäre General, um zu sehn, wie sie vor mir scharwenzeln und alle diese höfischen Verbeugungen und Equivoquen machen würden, und um ihnen dann sagen zu können, daß ich auf sie beide speie. Hol’s der Teufel — es ist aber doch ärgerlich! Ich habe die Briefe dieses dummen Hündchens in Stücke gerissen.

Den 3. Dezember.

Es kann nicht sein. Das sind Lügengespinste, die Hochzeit wird niemals stattfinden! Was liegt denn daran, wenn er auch Kammerjunker ist! Das ist doch nichts weiter als ein Titel und kein sichtbarer Gegenstand, den man in die Hand nehmen könnte. Weil er Kammerjunker ist, bekommt er doch kein drittes Auge auf der Stirn. Seine Nase ist doch auch nicht von Gold, sondern aus demselben Stoff wie die meine und die anderer Menschen! Er riecht doch und ißt nicht etwa mit ihr, und er niest und hustet nicht mit ihr. Ich wollte schon immer ergründen, woher diese Unterschiede stammen. Warum bin ich z. B. Titularrat und wozu bin ich Titularrat? Vielleicht bin ich gar nicht Titularrat! Vielleicht bin ich ein Graf oder ein General und scheine nur Titularrat zu sein. Vielleicht weiß ich noch selbst nicht, wer ich bin. Es gibt doch in der Geschichte genug Beispiele dafür: irgendein ganz gewöhnlicher Mensch, der nicht einmal Edelmann, sondern ein simpler Bürger oder Bauer ist — entpuppt sich plötzlich als hoher Würdenträger, Baron oder ... na, wie sagt man doch gleich? Wenn also schon ein Bauer so emporsteigen kann, was kann dann nicht erst aus einem Edelmann werden? Wie wär’s z. B., wenn ich plötzlich in Generalsuniform erschiene: auf der rechten Schulter eine Epaulette und auf der linken Schulter eine Epaulette, und ein blaues Band über der Achsel — was wohl meine Schöne da für Augen machen würde? Und was würde wohl erst unser Papa, unser Direktor dazu sagen? Oh — er ist ein großer Streber! Er ist ein Freimaurer, unbedingt ein Freimaurer; wenn er sich auch verstellt, als sei er dieses und jenes, ich habe es doch gleich bemerkt, daß er Freimaurer ist. Wenn er einem die Hand reicht, streckt er einem nur zwei Finger entgegen. Ja — warum sollte ich denn nicht jeden Augenblick zum Generalgouverneur, zum Intendanten oder zu so etwas Ähnlichem ernannt werden! Ich möchte wirklich gern wissen, warum gerade ich Titularrat bin? Warum gerade Titularrat?

Den 5. Dezember.

Heute habe ich den ganzen Tag über Zeitungen gelesen. Was für merkwürdige Dinge doch in Spanien vorgehen! Es war mir nicht einmal leicht, zu verstehen, was da vorgeht! Man schreibt, daß der Thron erledigt sei, und daß sich die Stände wegen der Wahl des Nachfolgers in einer sehr schwierigen Lage befinden, und daß deswegen sogar Unruhen ausgebrochen seien! Das scheint mit doch sehr sonderbar! Wie ist es nur möglich, daß ein Thron erledigt wird! Man sagt: eine Donna solle den Thron besteigen. Aber eine Donna kann doch keinen Thron besteigen. Das geht doch nicht! Auf dem Throne muß doch ein König sitzen. Ja aber, wendet man ein, es ist doch kein König da! Das kann aber doch nicht sein, daß kein König da ist! Ein Land kann nicht ohne König existieren. Ein König ist sicherlich da, aber er hält sich irgendwo verborgen. Es ist sehr möglich, daß er im Lande weilt, aber irgendwelche Familienverhältnisse oder Befürchtungen seitens der benachbarten Mächte, wie Frankreich und anderer, veranlassen ihn, sich zu verbergen — oder gibt es vielleicht noch andere Gründe?

Den 8. Dezember.

Ich war schon im Begriff, in die Kanzlei zu gehn, aber verschiedene Gründe und Bedenken hielten mich zurück. Die spanischen Angelegenheiten wollen mir nicht aus dem Kopf. Wie ist es nur möglich, daß eine Donna König wird. Das wird man gar nicht zulassen! England wird zuerst dagegen Einspruch erheben! Auch die politische Lage Europas, der Kaiser von Österreich und unser Kaiser ... Ich muß sagen, diese Ereignisse haben mich dermaßen erschüttert und niedergeschmettert, daß ich den ganzen Tag zu nichts fähig war. Mawra machte mir gegenüber die Bemerkung, daß ich beim Essen sehr zerstreut gewesen sei. Sie hat ganz recht: ich habe in meiner Zerstreutheit sogar zwei Teller fallen lassen, daß sie zerbrachen. Nach Tisch ging ich spazieren, aber ich konnte nichts Interessantes entdecken. Ich lag meistens auf dem Bett und dachte über die spanischen Angelegenheiten nach.

Im Jahre 2000, den 43. April.

Der heutige Tag ist ein großer Jubeltag! Spanien hat wieder einen König! Er ist gefunden! Dieser König bin ich! Erst heute habe ich es erfahren. Ich muß gestehn, es erleuchtete mich wie ein Blitzstrahl. Ich begreife nicht, wie ich denken, wie ich mir einbilden konnte, ich sei ein Titularrat! Wie konnte sich dieser wahnsinnige, dieser aberwitzige Gedanke in meinem Hirn festsetzen! Nur gut, daß es damals niemand eingefallen ist, mich ins Narrenhaus zu sperren. Jetzt ist mir alles klar. Es liegt alles vor mir wie auf der flachen Hand. Früher dagegen — ich versteh’ es nicht — früher lag alles wie im Nebel vor mir. Ich denke, dies alles kommt daher, weil die Menschen glauben, daß das Gehirn des Menschen sich im Kopf befinde; dies ist gar nicht der Fall; in Wirklichkeit trägt es der Wind vom Kaspischen Meer her. Zuerst eröffnete ich Mawra, wer ich bin. Als sie vernahm, daß der spanische König vor ihr steht, schlug sie die Hände über dem Kopfe zusammen und starb fast vor Schreck. Die Dumme, sie hat noch nie einen spanischen König gesehn. Ich versuchte, sie zu beruhigen und ihr mit gnädigen Worten mein Wohlwollen auszudrücken, indem ich ihr erklärte, ich sei gar nicht böse auf sie, weil sie mir mitunter meine Stiefel so schlecht geputzt habe. Das sind doch einfache Leute. Mit ihnen kann man doch nicht über höhere Dinge reden. Sie war darum so erschrocken, weil sie in dem Glauben lebt, daß alle spanischen Könige Philipp II. ähnlich seien. Aber ich setzte ihr auseinander, daß Philipp und ich nichts Gemeinsames miteinander hätten, und daß ich keine Kapuziner bei mir habe. Ich ging heute nicht ins Departement. Hol’ es der Teufel! Nein, meine Herren, jetzt kriegt ihr mich nicht mehr dahinein; ich denke nicht mehr daran, eure garstigen Papiere abzuschreiben!

Den 86. Oktember zwischen Tag und Nacht.

Heute erschien unser Exekutor, um mich aufzufordern, in die Kanzlei zu kommen; es ist schon bald drei Wochen, daß ich nicht in der Kanzlei war.

Aber die Menschen sind ungerecht. Sie rechnen mit Wochen. Das haben die Juden eingeführt, weil sich ihr Rabbiner um diese Zeit wäscht! ... Ich ging aber zum Spaß ins Bureau. Der Abteilungschef dachte, ich würde ihn begrüßen und würde mich entschuldigen, aber ich sah ihn nur gleichgültig an, nicht zu böse, aber auch nicht zu freundlich, und ließ mich auf meinem Platz nieder, als bemerke ich niemand. Ich sah mir die ganze Kanzleisippe an und dachte bei mir: wie, wenn ihr wüßtet, wer mitten unter euch sitzt ... Gerechter Gott, was hätte sich da für ein Tumult erhoben! Ja, selbst der Abteilungschef würde sich dann so tief vor mir verbeugen, wie er es jetzt vor dem Direktor tut. Man legte ein paar Akten vor mich hin; ich sollte einen Exzerpt daraus machen. Doch ich rührte keinen Finger. Ein paar Augenblicke später entstand eine allgemeine Unruhe. Man rief: der Direktor kommt. Mehrere Beamten stürmten um die Wette hinaus, um sich ihm bemerkbar zu machen. Ich aber rührte mich nicht vom Flecke. Als er durch unsere Abteilung hindurchging, knöpften alle ihre Fräcke zu; aber ich tat nichts dergleichen. Was ist denn ein Direktor? Sollte ich etwa vor dem aufstehen? — niemals! Was ist er auch für ein Direktor! Ein Stöpsel ist er, aber kein Direktor. Ein ganz gewöhnlicher Stöpsel — ein simpler Stöpsel, und weiter nichts — so einer, mit dem man Flaschen zukorkt. Am meisten Spaß machte es mir, als man mir ein Papier zur Unterschrift vorlegte. Sie glaubten sicherlich, ich würde ganz unten in einem Eckchen eine Unterschrift hinsetzen — Tischvorsteher Soundso — fiel mir ja gar nicht ein! Statt dessen signierte ich in der Mitte des Blattes, wo gewöhnlich der Namenszug des Departementdirektors prangt, mit kräftigen Zügen: „Ferdinand VIII.“ Man hätte sehen müssen, was für ein ehrfürchtiges Schweigen entstand! Aber ich winkte nur mit der Hand und sagte: „Ich bedarf keiner Zeichen der Untertänigkeit“ und ging hinaus. Von dort ging ich sofort in die Wohnung des Direktors. Er war nicht zu Hause. Der Bediente wollte mich nicht einlassen, aber ich herrschte ihn derartig an, daß er die Hände sinken ließ. Von dort schritt ich geradaus in ihr Ankleidezimmer. Sie saß vor dem Spiegel, sprang auf und tat einen Schritt zurück. Ich sagte ihr aber nicht, daß ich der König von Spanien bin. Ich sagte ihr nur, daß ihr ein so großes Glück bevorstehe, wie sie es sich wohl nicht träumen lasse, und daß wir trotz aller Intrigen unserer Feinde vereinigt bleiben würden. Mehr wollte ich auch nicht sagen und daher ging ich hinaus. Oh! welch ein heimtückisches Geschöpf ist doch das Weib! Erst jetzt habe ich begriffen, was das Weib ist! Bisher wußte noch niemand, in wen sie verliebt ist: ich bin der erste, der es entdeckt hat. Das Weib ist in den Teufel verliebt. Jawohl, ich scherze nicht. Die Physiker reden lauter Dummheiten, wenn sie sagen, sie sei dies und jenes. Sie liebt nur den Teufel. Schaun Sie nur hin: da sitzt sie in einer Loge im ersten Rang und hält sich die Lorgnette vor die Augen. Sie glauben, sie betrachtet jenen dicken Herrn mit dem Stern. Keineswegs! sie schaut nach dem Teufel, der hinter seinem Rücken steht. So — jetzt hat er sich in seinen Frack verkrochen und winkt ihr von dort aus mit dem Finger. Sie wird ihn sicherlich heiraten — ganz sicher. Und all diese Beamten und hohen Herren, ihre Väter, die überall herumscharwenzeln, sich an den Hof drängen und laut erklären, sie seien Patrioten und dies und jenes: sie wollen eine Leibrente haben, diese Herren Patrioten! Ihre Mutter, ihren Vater, ja selbst ihren Gott werden sie verkaufen, diese Judasse und Streber! Das macht alles der Ehrgeiz, und dieser Ehrgeiz kommt nämlich daher, weil sich unter der Zunge ein kleines Bläschen befindet; in ihm sitzt ein kleines Würmchen, so groß wie ein Stecknadelkopf, und das alles rührt von einem Bader her, der in der Erbsenstraße wohnt. Sein Name ist mir entfallen; aber es steht völlig fest, daß er gemeinsam mit einer Hebamme in der ganzen Welt den Islam verbreiten will, und daher soll in Frankreich, wie man sagt, schon ein großer Teil der Bevölkerung den mohammedanischen Glauben bekennen.

Kein Datum, der Tag hatte kein Datum.

Ich ging inkognito auf dem Newsky spazieren, da kam der Kaiser vorbeigefahren. Alles zog den Hut und ich auch; ich ließ mir’s jedoch nicht merken, daß ich der König von Spanien bin. Ich hielt es nicht für angemessen, mich hier, vor dem Publikum, zu erkennen zu geben; vor allem muß ich mich bei Hofe vorstellen. Ich habe damit gezögert, weil ich bis jetzt noch kein spanisches Nationalkostüm habe. Ich müßte mir wenigstens einen spanischen Mantel verschaffen. Ich wollte mir schon beim Schneider einen bestellen — aber diese Kerls sind ja die reinen Esel, und dazu kommt noch, daß sie sich gar nicht für ihre Arbeit interessieren, sie wollen nur Geschäfte machen, ihre Haupttätigkeit ist, die Straßen zu pflastern. Ich habe beschlossen, mir den Mantel aus meinem neuen Uniformrock, den ich erst zweimal getragen habe, machen zu lassen. Aber damit ihn mir diese Lumpen nicht ruinieren, habe ich mich dahin entschieden, ihn mir selbst zu nähen, und zwar hinter verschlossenen Türen, damit es niemand sieht. Ich habe ihn ganz aufgetrennt und mit einer Schere zerschnitten — weil der Schnitt ja ganz anders sein muß.

Des Datums erinnere ich mich nicht,
der Monat war auch ausgeblieben,
weiß der Teufel, was da los war.

Der Mantel ist vollständig fertig. Mawra schrie auf, als ich ihn umlegte. Dennoch kann ich mich noch nicht entschließen, mich bei Hofe vorzustellen. Bis jetzt ist die Deputation aus Spanien noch nicht angekommen. Ohne Deputation aber geht es wohl nicht. Auch würde mein hoher Rang so nicht zur Geltung kommen. Ich erwarte die Deputation von Stunde zu Stunde.

Den Ersten.

Ich bin ob der Saumseligkeit der Deputierten aufs höchste erstaunt! Was für Gründe mögen sie aufgehalten haben! Doch nicht am Ende Frankreich? Ja, das ist die unfreundlichste unter allen Mächten. Ich ging auf die Post und fragte, ob die spanischen Deputierten noch nicht eingetroffen wären; aber der Postmeister ist furchtbar dumm — er weiß von nichts: „Nein,“ sagt er, „hier sind keine spanischen Deputierten; wenn Sie aber einen Brief absenden wollen, so werden wir ihn gern zu der festgesetzten Taxe befördern.“ Hol’ ihn der Teufel! Was soll ich mit einem Brief! Ein Brief! So ein Unsinn — Briefe schreiben nur Apotheker ..... Und auch das nur, nachdem sie ihre Zunge in Essig getunkt haben. Denn ohne dies wäre ihr ganzes Gesicht mit Flechten bedeckt.

Madrid , den 30. Februarius.

Da bin ich nun in Spanien! es ging so schnell, daß ich gar keine Zeit hatte, zu mir zu kommen. Heute früh erschienen die spanischen Deputierten bei mir, und wir stiegen alle zusammen in den Wagen. Ich wunderte mich sehr über die ungewöhnliche Geschwindigkeit. Wir fuhren so schnell, daß wir schon in einer halben Stunde die spanische Grenze erreicht hatten. Übrigens gibt es jetzt in ganz Europa Eisenschienen, und die Dampfer fahren sehr schnell. Spanien ist doch ein sonderbares Land. Als ich das erste Zimmer betrat, erblickte ich eine Menge Menschen, die alle rasierte Köpfe hatten. Ich erriet sofort, daß das Granden oder Soldaten waren, denn die pflegen dort ihre Köpfe zu rasieren. Das Benehmen des Reichskanzlers, der mich an der Hand führte, erschien mir jedoch sehr merkwürdig: er stieß mich in eine kleine Stube und sagte: „Bleib hier sitzen und wenn du noch einmal Lust verspüren solltest, dich König Ferdinand zu nennen, werde ich dir diese Späße schon ausprügeln.“ Aber da ich wußte, daß er mich nur auf die Probe stellen wollte, gab ich eine verneinende Antwort, worauf mich der Kanzler zweimal auf den Rücken schlug, daß ich vor Schmerz beinah laut aufgeschrien hätte, aber ich nahm mich zusammen, da ich mich erinnerte, daß dies der Ritterschlag war, den man bei der Übernahme einer hohen Würde erhält — in Spanien haben sich nämlich die alten Rittersitten noch erhalten. Als ich allein geblieben war, beschloß ich, an die Staatsgeschäfte zu gehen. Ich entdeckte, daß China und Spanien ein und dasselbe Land sind und nur aus Unwissenheit für zwei verschiedene Staaten gehalten werden. Ich rate daher jedem, Spanien auf ein Blatt Papier zu schreiben, wenn er China lesen will. Allein, das Ereignis, das morgen stattfinden soll, erfüllt mich mit Sorge. Morgen um 7 Uhr wird sich etwas Außerordentliches begeben: die Erde wird sich auf den Mond setzen. Auch der berühmte englische Chemiker Wellington schreibt hierüber. Ich muß gestehn, beim Gedanken an die außerordentliche Zartheit und Zerbrechlichkeit des Mondes fühlte ich eine große Unruhe in meinem Herzen. Der Mond wird doch gewöhnlich in Hamburg gemacht, und man muß sagen, er wird sehr schlecht gemacht. Ich wundre mich, daß sich England nicht darum kümmert. Er wird von einem lahmen Böttcher hergestellt, und man merkt gleich, daß der Kerl keine Ahnung vom Monde hat. Er benutzt dabei ein geteertes Seil und etwas Baumöl; daher auch dieser schreckliche Gestank, der sich überall auf der Erde verbreitet, daß man sich die Nase zuhalten möchte. Daher ist der Mond auch eine so zarte Kugel, daß keine Menschen auf ihm leben können und daß er nur noch von Nasen bewohnt wird. Darum können wir ja auch unsere Nasen nicht sehen, denn sie sind alle auf dem Monde. Als ich mir vorstellte, daß die Erde, diese schwere Masse, sich auf den Mond setzen und all unsere Nasen zu Mehl zermahlen könnte, ergriff mich solch eine Unruhe, daß ich schnell Schuhe und Strümpfe anzog und in den Saal des Reichsrats lief, um der Polizei Order zu geben, sie solle die Erde daran hindern, sich auf den Mond zu setzen. Die rasierten Granden, die ich in großer Zahl im Saale des Reichsrats versammelt fand, sind eine sehr intelligente Gesellschaft; als ich sagte: „Meine Herren! wir müssen den Mond retten, die Erde will sich auf ihn setzen!“ da erhoben sich alle und stürzten alle fort, um meinen königlichen Willen auszuführen, ja, viele kletterten auf die Wand, um den Mond zu holen; aber in diesem Augenblick trat der große Kanzler herein. Als sie ihn erblickten liefen alle davon. Ich, der König, blieb allein da. Aber zu meinem größten Erstaunen schlug mich der Kanzler mit seinem Stock über den Rücken und trieb mich in mein Zimmer. So groß ist die Macht der spanischen Volkssitten.

Im Januar desselben Jahres,
der auf den Februar folgte.

Ich kann noch immer nicht verstehn, was Spanien für ein merkwürdiges Land ist. Die Volkssitten und die Hofetikette sind hier ganz ungewöhnlich. Ich verstehe sie nicht, nein wirklich — ich verstehe nichts mehr! Heute hat man mir den Kopf geschoren, obgleich ich aus Leibeskräften schrie und rief, ich wolle kein Mönch werden. Aber was dann mit mir geschah, als sie mir kaltes Wasser auf den Kopf tropfen ließen, das weiß ich nicht mehr. Solch eine Höllenpein habe ich noch nie gefühlt. Ich wäre fast rasend geworden, so daß sie mich nur mit Mühe bändigen konnten. Ich kann den Sinn dieser sonderbaren Sitte gar nicht verstehen. Das ist eine ganz dumme und sinnlose Sitte. Die Unvernunft der Könige, die diese Sitte noch immer nicht abgeschafft haben, ist mir unbegreiflich. Aller Wahrscheinlichkeit nach bin ich in die Hände der Inquisition gefallen, und ich fange an zu glauben, daß der, den ich für den Kanzler hielt, der Großinquisitor in eigener Person ist. Aber ich kann’s nicht begreifen, daß der König der Inquisition verfallen konnte. Es ist zwar möglich, daß Frankreich, und besonders Polignac dahinter steckt. Oh, dieser Hund, dieser Polignac! Er hat geschworen, mir bis zu meinem Tode zu schaden. Und nun hetzt und hetzt er mich; aber ich weiß wohl, Freundchen, du wirst von England aufgereizt. Die Engländer sind große Politiker. Sie machen immer Kniffe und Winkelzüge. Das ist doch weltbekannt, wenn England eine Prise nimmt — muß Frankreich niesen.

Den 25.

Heute kam der Großinquisitor wieder in mein Zimmer; aber als ich ihn aus der Ferne herankommen hörte, verkroch ich mich unter einen Stuhl. Wie er nun das Zimmer leer fand, fing er an zu schreien. Erst rief er: „Poprischtschin!“ Ich gab keinen Laut von mir; hierauf rief er: „Aksentij Iwanow! Herr Titularrat und Edelmann!“ Ich schwieg noch immer. „Ferdinand VIII., König von Spanien!“ Ich wollte meinen Kopf vorstecken, dachte mir aber: „Nein, mein Lieber, du betrügst mich nicht, ich kenne dich jetzt, du wirst mir wieder kaltes Wasser auf den Kopf gießen.“ Allein er erblickte mich und jagte mich mit dem Stock unter dem Stuhl hervor. Dieser verfluchte Stock tut doch verdammt weh! Übrigens hat mich eine Entdeckung, die ich heute gemacht habe, für alles entschädigt: ich habe nämlich bemerkt, daß es bei jedem Hahn ein Spanien gibt: es befindet sich unter den Federn, und zwar in der Nähe der Schwanzfedern. Der Großinquisitor verließ mich übrigens in sehr übler Laune und drohte mir irgendeine Strafe an. Aber ich achte nicht auf seinen ohnmächtigen Zorn, da ich weiß, daß er doch nur eine Maschine und zwar ein Instrument in Händen Englands ist.

D-34-en sten. Mon. des Jah. im Februar 349.

Nein, ich kann’s nicht länger ertragen! Mein Gott, was fangen sie mit mir an! Sie gießen mir kaltes Wasser auf den Kopf! Sie achten meiner nicht, sie sehen und hören nicht auf mich! Was habe ich ihnen getan? Warum quälen sie mich so? Was wollen sie von mir Armem? Was könnte ich ihnen geben? Ich habe ja selbst nichts! Ich habe keine Kraft mehr, ich kann diese Qualen nicht ertragen, mit denen sie mich quälen, mein Kopf brennt mir, und alles dreht sich vor meinen Augen! Oh! rettet mich! Bringt mich fort von hier! gebt mir ein Dreigespann schnellfüßiger Rosse, die dahinstürmen wie ein Wirbelwind! steig ein, mein Wagenlenker! läute, läute, mein Glöcklein, stürmt vorwärts, ihr meine Rosse, und tragt mich fort aus dieser Welt! Weiter, immer weiter, damit ich nichts von alledem, nichts, gar nichts mehr sehe. Sieh! da ballt der Himmel sich vor mir zusammen, ein Sternchen funkelt in der Ferne. Der Wald mit seinen dunkeln Bäumen zieht mondbestrahlt an mir vorüber. Grauer Nebel breitet sich zu meinen Füßen, und eine Saite tönt in ihm. Rechts das Meer und links Italien. Sieh, da tauchen Rußlands Hütten vor mir auf! Ist das mein Vaterhaus, dort in der blauen Ferne? Sitzt nicht dort mein Mütterchen am Fenster? O Mutter, Mutter, rette deinen armen Sohn! Lass eine Träne auf seinen kranken Kopf fallen! blick’ hin, wie sie ihn quälen! drück’ ihn ans Herz, den armen Verwaisten! es ist kein Platz für ihn auf dieser Welt! man hetzt, man verfolgt ihn. Mutter erbarme dich deines kranken Kindes ... Aber wissen Sie eigentlich schon, daß der Bei von Algier eine Warze unter der Nase hat?

Aufsätze aus Puschkins „Zeitgenossen“ („ Sowremennik “)

I
Über die Strömungen in der Zeitschriftenliteratur
der Jahre 1834-1835

D ie Zeitschriftenliteratur, diese lebendige, frische, geschwätzige, feinfühlige Literaturgattung, ist ebenso notwendig für die Wissenschaft und die Kunst, wie die Verkehrsmittel für einen Staat, und wie die Messen und die Börsen für den Handel und die Kaufmannschaft. Sie leitet und lenkt den Geschmack der Menge, setzt alles in Umlauf und bringt alles in Verkehr, was sich in der Bücherwelt ans Licht wagt und was ohne sie in der einen wie in der anderen Beziehung nur totes Kapital wäre. Sie stellt den schnellen, eigenwilligen Austausch aller Anschauungen, das lebendige Wechselgespräch alles dessen dar, was unter der Buchdruckerpresse hervorkommt; ihre Stimme ist die wahre Repräsentantin der Ansichten einer ganzen Epoche und eines Jahrhunderts, solcher Ansichten, die ohne sie ungehört verhallen würden. Sie ergreift und zieht mit Absicht oder selbst, ohne es zu wollen, neun Zehntel alles dessen in ihr Bereich, was Eigentum der Literatur wird. Wie viele Leute gibt es nicht, die nur deshalb reden, kritisieren und Urteile fällen, weil alle diese Urteile ihnen schon beinahe fertig zugetragen werden, und die von sich aus nie eine Ansicht geäußert, über etwas geredet oder etwas kritisiert hätten! Und daher hat die Zeitschriftenliteratur jedenfalls ein Recht auf unsere größte Aufmerksamkeit.

Vielleicht hat sich der Mangel einer journalistischen Betätigung und einer lebendigen modernen Bewegung bei uns seit langem nicht so deutlich bemerkbar gemacht, wie in den zwei letzten Jahren. Der größte Teil unserer Zeitschriften zeichnete sich durch eine große Farblosigkeit aus. Viele von den alten Journalen waren eingegangen, andere vegetierten matt und langsam weiter, neue erschienen nicht, außer etwa der „Lesebibliothek“ und dem neueren „Moskauer Beobachter“, obgleich sich gerade um diese Zeit ein allgemeines Bedürfnis nach geistiger Nahrung fühlbar machte, und die Zahl der Leser um ein bedeutendes zugenommen hatte. So arm diese Epoche auch war, sie hat dasselbe Anrecht auf unsere Aufmerksamkeit, wie vielleicht eine solche voller Leben und Bewegung, denn sie gehört in gleicher Weise unserer Literaturgeschichte an. Die Leser hatten völlig recht, wenn sie sich über die Dürftigkeit und Armut unserer Zeitschriften beklagten: „Der Telegraph“ hatte schon längst den scharfen Ton nicht mehr, der durch seine feindliche Stellung gegenüber den Petersburger Journalen bedingt war. „Das Teleskop“ war mit Aufsätzen angefüllt, denen es an jeder Frische und lebendigen Aktualität fehlte. Um diese Zeit entschloß sich der Buchhändler Smirdin, der sich schon längst durch seine Regsamkeit und Gewissenhaftigkeit bekannt gemacht hatte, all seine kurzsichtigen Kollegen durch seine Unternehmungslust beschämte und durch seine Wirksamkeit eine gewisse Bewegung in den Buchhandel gebracht hatte, zu der Herausgabe einer großen allumfassenden Zeitschrift; dazu wollte er sämtliche Literaten, die es in Rußland gab, gewinnen und sie veranlassen, sich an seinem Unternehmen zu beteiligen. Der Prospekt umfaßte nahezu alle Namen unserer russischen Schriftsteller. Der Professor der arabischen Literatur, Herr Ssenkowski, erklärte sich bereit, die Leitung der Zeitschrift zu übernehmen. Herr Gretsch, der bereits seit langem als Herausgeber zweier Journale, der „Nordischen Biene“ und des „Sohnes des Vaterlandes“ bekannt war, wurde ihm als Redakteur zur Seite gestellt. Wir wissen nicht, ob sie sich dieser Sache freiwillig annahmen, oder ob Herr Smirdin sie durch sein Bitten dazu bewogen hatte; wie dem auch sei, jedenfalls war man im allgemeinen darüber einig, daß der Buchhändler ein wenig unvorsichtig vorgegangen sei. Da er eine so große Anzahl von Literaten für seine Zeitschrift gewonnen hatte, hätte er die Wahl eines Redakteurs ihrem Gutachten überlassen müssen. Überdies ließen alle Beteiligten eine sehr wichtige Frage außer acht: sollte die Zeitschrift auf einen bestimmten Ton abgestimmt sein, sollte sie eine bestimmte, im voraus festgelegte Richtung vertreten oder sollte sie ein Sammelplatz aller möglichen Anschauungen und Meinungen werden? Die Antwort, die die Zeitschrift auf diese Frage gab, war sehr zweifelhaft; wie gewöhnlich erklärte sie, die Kritik werde sehr wohlwollend und unparteiisch sein und sich jeder persönlichen Invektiven und unvornehmer Allüren enthalten; ein Versprechen, das jeder Journalist abzugeben pflegt. Aber schon mit dem Erscheinen des ersten Heftes überzeugte sich das Publikum sofort, daß die Zeitschrift durch den Ton, die Meinung und die Gedanken „eines einzelnen“ beherrscht wurde, und daß die Namen der Schriftsteller, deren glänzende Reihen eine halbe Seite des Titelblatts einnahmen, nur leihweise ausgeborgt worden waren, um eine größere Zahl von Abonnenten anzulocken.

Der Buchhändler Smirdin tat seinerseits alles, was das Publikum von ihm zu erwarten berechtigt war. Die Ehrlichkeit, die ihn immer ausgezeichnet hatte, bewies er auch wieder bei der Herausgabe der Zeitschrift. Die Zeitschrift erschien mit ungewöhnlicher Pünktlichkeit: am Ersten jedes Monats erhielten die Abonnenten einen so dicken Band zugesandt, wie ihn ehedem keine von unseren Druckereien in zwei Monaten hätte herstellen können. Statt der angekündigten achtzehn Bogen gab er manchen Monat doppelt so viele. Sehen wir nun aber zu, ob auch die Männer, denen er die innere Organisation der Zeitschrift anvertraut hatte, ihre Pflicht erfüllten. Die Hauptperson, der Spiritus rector der ganzen Zeitschrift war Herr Ssenkowski. Der Name des Herrn Gretsch war nur pro forma mit herangezogen; jedenfalls war nichts davon zu merken, daß er an der Sache beteiligt war. Herr Gretsch ist schon seit langem der unvermeidliche Ehrenredakteur jeder neubegründeten Zeitschrift: wie man gewöhnlich einen würdigen, älteren Herrn auffordert, bei allen Hochzeiten den Brautvater zu spielen. Aber was für ein Ziel hatte die Redaktion dieser Zeitschrift im Auge, welches Problem beabsichtigte sie zu lösen? Hier werden wir unwillkürlich nachdenklich, und ebenso wird es wohl auch dem Leser ergehen. Herr Ssenkowski hat im Programm nichts davon gesagt, was er sich für ein Ziel gesteckt habe und welche Richtung er einzuhalten gedenke; nur das eine war für alle klar ersichtlich, daß er sich sozusagen unbemerkt in die erste Nummer einschlich, um sich am Ende des Bandes ganz als Herr im Hause zu gebärden.

Übrigens darf man sich hierüber nicht beklagen: vielleicht ist ein gewisser scharfer Ton, und sogar eine gewisse Frechheit für den Journalisten unentbehrlich, was wir freilich keineswegs billigen, obgleich es uns bekannt ist, daß ein Journalist durch derartige Eigenschaften im Urteil der Menge immer nur gewinnt. Worauf aber richtete dieser neue Herr seine besondere Aufmerksamkeit? welch ein Gedanke beherrschte bei ihm alle anderen? wofür hatte er eine besondere Vorliebe? war etwas zu merken von jenen unverrückbaren Grundsätzen, ohne die ein Mensch charakterlos wird, die ihm eine gewisse Originalität verleihen und die seine Physiognomie bestimmen?

Wenn man alles, was er in dieser Zeitschrift veröffentlicht hat, durchliest, wenn man allen Worten, die er sagt, tiefer nachgeht, so kann man sich unwillkürlich einer gewissen Verwunderung nicht erwehren: was hat das zu bedeuten? was veranlaßt diesen Mann zum Schreiben? Wir sehen einen Menschen vor uns, der sich sein Geld keineswegs ohne Gegenleistung erwirbt, der im Schweiße seines Angesichts arbeitet, der sich nicht nur um seine eigenen Aufsätze kümmert, sondern auch die fremden korrigiert und verbessert — mit einem Wort: einen Menschen, der unermüdlich tätig ist. Wozu dient nun diese ganze Tätigkeit? Sehen wir uns einmal den Leiter der Zeitschrift, wie er sich uns in den verschiedenen Gattungen seiner literarischen Werke darstellt, näher an, und sagen wir dann einige Worte über die Haupteigenschaften seiner Aufsätze, denn das ist durchaus und in jeder Beziehung eine Notwendigkeit.

Herr Ssenkowski tritt in seiner Zeitschrift auf als Kritiker, als Erzähler, als Gelehrter, als Satiriker, als Verkünder der neuesten Ereignisse usw. usw., und zwar unter den Namen Brambeus, Morosow, Tjutjundschu Oglu, A. Belkin und endlich in eigner Person. Als Gelehrter hat Herr Ssenkowski einen recht umfangreichen Aufsatz über die Sagen verfaßt — einen Aufsatz, der voller Hypothesen ist, und zwar nicht seiner eigenen, sondern solcher, die er auf gut Glück bei der flüchtigen Lektüre einiger Bücher aufgelesen hat; diese Hypothesen gehören nicht der russischen Geschichte an. Diese Sagen, die der scharfsinnige Schlözer, der bis jetzt in bezug auf die Strenge und die Tiefe seines kritischen Blicks nicht seinesgleichen gesunden, für Märchen erklärt hat, die keine Beachtung verdienen, diese Sagen macht Herr Ssenkowski zum Ecksteine der russischen Geschichte, ohne auch nur einen Beweis dafür anzuführen, der der Kritik standhält; es fällt ihm nicht ein, ihren einzigartigen, wahren Wert festzustellen. Die Sagen sind poetische Erzeugnisse eines Volkes, das eine große Rolle in der Geschichte gespielt hat. Dieser Aufsatz, der voll theoretischer Figuren ist, hat vielen braven, aber ein wenig beschränkten Leuten gefallen, und Herr Bulgarin hat sogar eine Rezension über ihn geschrieben, in der er Herrn Ssenkowski noch über Schlözer, Humboldt und alle Gelehrten stellt, die jemals existiert haben. Ein anderer Gegenstand, auf den Herr Ssenkowski sich sehr viel einbildet, und der sein eigentliches Steckenpferd ist, ist der Orient. Hier hat er schon von jeher seine Stimme erhoben, und sobald irgendein Artikel über den Orient erschien, oder dieser irgendwo erwähnt wurde, und sei es auch nur in einem Gedicht, wurde er zornig und behauptete, der Autor könne kein Urteil über den Orient haben, er dürfe nicht über ihn urteilen, denn er kenne den Orient gar nicht. Man verzeiht einem Menschen, der in seinen Gegenstand verliebt ist und der erkennt, wie wenig die anderen ihn verstehen, gern ein Wort der Empörung; aber dieser Mensch muß doch wenigstens eine anerkannte Autorität sein. Herr Ssenkowski hätte tatsächlich etwas über den Orient veröffentlichen sollen. Einem Menschen, der noch nichts geleistet hat, glaubt man nicht so leicht aufs Wort, besonders wenn seine Urteile so leichtfertig und vom Geist der Unduldsamkeit erfüllt sind; übrigens findet man in seinen kleinen Aufsätzen über den Orient dieselben Fehler, die er beständig bei anderen tadelt. In diesen Aufsätzen sagt er tatsächlich nichts Neues über den Orient — da findet man auch nicht einen kräftigen Zug, keinen großen Gedanken, ja nicht einmal eine geniale Vermutung! Es läßt sich nicht leugnen, daß Herr Ssenkowski ein großes Wissen hat; im Gegenteil, man merkt sofort, daß er viel gelesen hat; aber man spürt nirgends etwas von jener bewegenden, alles beherrschenden Kraft, die ihn auf ein bestimmtes Ziel hin dirigiert. Dieses ganze Wissen ist in einer Art Gärung begriffen, eins widerspricht dem andern und verträgt sich nicht mit dem andern. Untersuchen wir einmal seine Ansicht über die moderne schöne Literatur. In seinen Kritiken läßt Herr Ssenkowski einen vollständigen Mangel an einer festen Anschauung erkennen, so daß keiner seiner Leser mit Bestimmtheit zu sagen vermöchte, was dem Rezensenten am besten gefällt, wovon seine Seele ergriffen ward, woran er Geschmack findet: er verrät in seinen Rezensionen weder einen positiven noch einen negativen Geschmack — sondern gar keinen . Das, was ihm heute gefällt, wird morgen zur Zielscheibe seines Spotts. Er war der erste, der Herrn Kukolnik neben Goethe gestellt hat, um dann zu erklären, er hätte dies nur aus einer gewissen Laune heraus getan. Folglich sind seine Rezensionen nicht die Frucht seiner Überzeugung oder seines Gefühls, sondern nur das Produkt von Stimmungen und Verhältnissen. Walter Scott, dieses große Genie, dessen unsterbliche Werke ein so umfassendes und vollendetes Bild des Lebens geben, Walter Scott wurde von ihm ein Charlatan genannt. Und das mußte Rußland lesen — das wurde zu Leuten gesagt, die bereits eine gewisse Bildung besaßen und die Walter Scott gelesen hatten. Man darf überzeugt sein, daß Herr Ssenkowski das unabsichtlich und nur aus Übereilung gesagt hat, denn er hat sich noch nie viel darum gekümmert, was er sagt, und er weiß im folgenden Artikel schon nicht mehr, was er im vorhergehenden geschrieben hat.

In seinen Analysen und Kritiken sprach Herr Ssenkowski auch niemals von dem inneren Charakter des Werkes, das er gerade untersuchte; nie gab er eine genaue und präzise Bestimmung seines wahren Wertes: seine Kritik bestand entweder in einem bedingungslosen Lob, in dem der Rezensent sich von Herzen an seinen eigenen Phrasen berauschte, oder in einem Tadel, aus dem eine seltsame Bitterkeit sprach. Sie drehte sich um lauter Kleinigkeiten und beschränkte sich darauf, zwei oder drei Sätze zu zitieren und sie dem Spott und Hohn preiszugeben. Nie wurde etwas davon erwähnt, was sich der Schriftsteller in seinem Werke für eine Aufgabe gestellt, wie er sie ausgeführt, und wenn er sie nicht ausgeführt hatte, wie er sie hätte ausführen sollen. Vor allem aber beschäftigte sich Herr Ssenkowski mit allerhand literarischem Unrat und einer großen Menge aller möglichen seichten Bücher — über sie machte er sich lustig, ergoß er seinen Spott und ließ bei dieser Gelegenheit jenem Witz freien Lauf, der einigen Lesern so wohl gefällt. Schließlich erhob er sogar ein großes Geschrei wegen der zwei Fürwörter „dieser“ und „jener“, die ihm aus einem unbekannten Grunde mit dem Geiste der russischen Sprache unvereinbar schienen. — Über diese zwei Fürwörter schrieb er ganze Traktate, und alle Aufsätze, die er über irgendein Thema verfaßte, schlossen immer damit, daß die Fürwörter „dieser“ und „jener“ durchaus zu verwerfen wären. Dies erinnerte an den alten Prozeß Tredjakowskis gegen den Buchstaben y ( is hiza ) und das i (den zehnten Buchstaben des russischen Alphabets), eine Sache, die erst vor kurzem von einem Professor von neuem aufgenommen wurde. Ein Buch, in dem Herr Ssenkowski diesen beiden Wörtlein begegnete, wurde feierlich als schlecht geschrieben abgelehnt.

Seine eigenen Werke, seine Erzählungen und dergleichen erschienen unter der Firma Brambeus. Diese Erzählungen und Aufsätze in Form von Erzählungen fielen allgemein auf durch ihre sklavische und übertriebene Nachahmung moderner französischer Autoren, besonders weil Herr Ssenkowski die ganze zeitgenössische französische Literatur schlecht zu machen suchte. Es ist unbegreiflich, wie wenig Scharfsinn er in diesem Fall entwickelte und für wie einfältig er seine Leser hielt. Außerdem ist es ganz unverständlich, weshalb er einigen seiner Aufsätze das Prädikat „phantastisch“ verlieh. Ein absoluter Mangel an Wahrheit, Natur und Wahrscheinlichkeit genügt noch nicht, um das Prädikat „phantastisch“ zu rechtfertigen. Die phantastischen Werke des Barons Brambeus erinnern an jene Bücher, die einige Zeit lang in großer Menge erschienen, wie etwa das folgende: „Wenn’s dir nicht paßt, so hör’ nicht zu, doch stör’ mich nicht im Lügen“ und ähnliche. Hier finden wir dieselbe Leichtfertigkeit, ja, der Autor macht nicht einmal den Versuch, seine Gedanken zu rechtfertigen. Erfahrene Leser wollen oft eine ganze Reihe von Entlehnungen entdeckt haben, die sich der Autor in der Eile und in der Hast, mit der er weiterstürmte, gestattete; er kümmerte sich nur wenig um ihren Zusammenhang, und so verlor das, was im Original noch einen Sinn hatte, in der Kopie jegliche Bedeutung.

Dies waren die Tätigkeit und die Leistungen des Leiters der „Lesebibliothek“. Wir hielten es für nötig, etwas ausführlicher auf sie einzugehen, da er in der „Lesebibliothek“ Alleinherrscher war, und weil seine Ansichten sich mit großer Geschwindigkeit zugleich mit den viertausend Exemplaren des Journals über das ganze Rußland verbreiteten.

Eine Zeitschrift, die mit den vom Buchhändler Smirdin zur Verfügung gestellten Mitteln herausgegeben wurde, konnte unmöglich ganz schlecht sein. Sie hatte schon den großen Vorzug, daß jede Nummer einen großen Umfang hatte und als dicker Band erschien. Das war eine angenehme Neuerung für die Abonnenten, besonders für die Bewohner unserer Städte und die Gutsbesitzer auf dem Lande. Die „Bibliothek“ brachte mitunter interessante Aufsätze aus ausländischen Zeitschriften, und in dem lyrischen Teile begegnete man den Namen der Leuchten unseres russischen Parnasses. Am besten aber war stets die Rubrik „Vermischtes“, die eine bunte Menge der neuesten Neuigkeiten enthielt. Dieser Teil hatte etwas Lebendiges und echt Journalistisches. Die schöne Prosaliteratur, sowohl die Originale wie die Übersetzungen, die Erzählungen usw. ließen auf wenig Geschmack und wenig Verständnis bei der Auswahl schließen. In der „Lesebibliothek“ pflegte auch etwas vorzukommen, was bis dahin in Rußland unerhört war. Der Leiter korrigierte und arbeitete fast alle Aufsätze um, die in ihr zum Abdruck kamen, und merkwürdigerweise gestand er das ganz kühn und offen ein: „Bei uns in der ‚Lesebibliothek‘ herrscht ein anderes Prinzip als bei anderen Zeitschriften,“ erklärte er einmal, „wir behalten keine Erzählung in ihrer ursprünglichen Form bei, alle werden umgearbeitet, zuweilen ziehen wir zwei, zuweilen auch drei zu einer zusammen, und die Aufsätze gewinnen außerordentlich durch unsere Umarbeitungen.“ Solch eine seltsame Bevormundung war bisher in Rußland nicht üblich.

Viele Schriftsteller fingen an zu fürchten, das Publikum könne Aufsätze, die häufig ganz ohne Unterschrift erschienen, oder mit fingierten Namen gezeichnet waren, für Arbeiten von ihnen halten, und zogen sich deshalb von der Mitarbeit an dieser Zeitschrift zurück. Die Zahl der Teilnehmer schmolz so zusammen, daß die Herausgeber bereits im zweiten Jahre keine lange Liste von Namen aufstellen konnten, sondern nur dunkel andeuteten, daß sie die besten Schriftsteller zu ihren Mitarbeitern zählten, ohne sie jedoch zu nennen. Und obgleich die Zeitschrift weder ihr Format noch auch ihr Wesen änderte, wurden doch die Aufsätze merklich schlechter: ein gewisser Mangel an Sorgfalt machte sich fühlbar. Schon wurde die „Bibliothek“ in den Hauptstädten weniger gelesen, in der Provinz dagegen fand sie noch denselben Absatz, und die in ihr vertretenen Anschauungen verbreiteten sich ebenso rasch. Wenden wir uns jetzt zu den anderen Zeitschriften.

„Die Nordische Biene“ brachte alle offiziellen Nachrichten und erfüllte in dieser Beziehung ihre Aufgabe. Sie enthielt politische Mitteilungen und die neuesten Nachrichten des Aus- und Inlands. Ihr Redakteur, Herr Gretsch, erreichte bei ihrer Leitung eine hohe Stufe der Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit, sie erschien immer zur rechten Zeit; in literarischer Hinsicht aber fehlte es ihr an jeder festen und bestimmten Note und sie ließ keine starke Hand erkennen, die den in ihr vertretenen Anschauungen eine bestimmte Richtung gab. Das war eine Art Korb, in den ein jeder hineinwarf, was ihm gerade in den Sinn kam. Die Bücherrezensionen, die fast immer wohlwollend waren, wurden von den Freunden und mitunter von den Schriftstellern selbst geschrieben. In der „Nordischen Biene“ erprobten mancherlei anonyme Autoren, die sich hinter verschiedenen Buchstaben versteckten, die Schärfe ihrer Federn — ohne Zweifel noch recht junge Leute, denn in ihren Aufsätzen machte sich ein erhebliches Maß von Keckheit bemerkbar. Meist richteten sie ihre Angriffe auf Leute, die sich gar nicht verteidigen konnten, und auf arme hilflose Waisen. Auch las man da allerhand geistreiche Bosheiten, die sich übrigens alle ziemlich ähnlich sahen und gegen allerhand unsaubere Publikationen richteten. Das Wesen dieser Rezensionen bestand gewöhnlich darin, daß man das Buch nach allen Richtungen lobte und dann zum Schluß alle Verantwortung mit den Worten ablehnte: „Übrigens wäre es wünschenswert, daß der verehrte Herr Autor einige kleine stilistische und sprachliche Fehler verbessere“ oder „Ein gutes Buch verlangt auch eine gute Ausstattung“ und dergleichen, woraufhin sich der Verfasser des rezensierten Buches gewöhnlich gekränkt fühlte und sich über die Parteilichkeit des Kritikers beklagte. Die Bücher wurden häufig von denselben Rezensenten besprochen, die Berichte über die Eröffnung einer neuen Tabaksfabrik in der Hauptstadt, über Pomoden usw. schrieben; diese Berichte waren mitunter sehr geistreich, und die darin enthaltenen Witze ließen auf wohlerzogene Leute schließen, die ohne allen Zweifel gute Gründe hatten, mit den Fabrikbesitzern zufrieden zu sein. Übrigens konnte man von der „Nordischen Biene“ auch nicht mehr verlangen; dies war eine stets pünktlich erscheinende, alljährliche Affiche, ihre Aufgabe bestand darin, das Publikum einzuladen, das Urteil aber überließ sie dem Leser selbst.

Die Zeitschrift, die den Titel der „Sohn des Vaterlandes“ und das „Nördliche Archiv“ trug, blühte die ganze Zeit über im Verborgenen. Niemand sprach von ihr, niemand berief sich auf sie, trotzdem aber erschien sie regelmäßig einmal die Woche und war auf ihrer Rückseite ein so ungeheures Programm abgedruckt, wie man es schwerlich noch irgendwoanders finden wird. Der „Sohn des Vaterlandes“ (so versprach das Programm) würde Aufsätze über Archäologie, Medizin, Jurisprudenz, Statistik, russische Geschichte, allgemeine Geschichte, russische Literatur, ausländische Literatur und endlich noch über Literatur überhaupt, über Geographie, Ethnographie usw., eine historische Galerie usw. bringen. Manch ein Leser wird die Hände zusammenschlagen, wenn er ein solch fürchterliches Programm liest, und meinen, dies wäre die gewaltigste Enzyklopädie gewesen, die es je in der Welt gegeben hat. Aber keine Spur davon: statt dessen erschien ein mageres, dünnes Büchlein im Umfang von drei Bogen, das meist mit einem Aufsatz über irgendeine Krankheit begann, der nicht einmal von Medizinern gelesen wurde. Kritische Aufsätze und gar solche von lebendigem aktuellem Inhalt gehörten keineswegs zu den gewöhnlichen Erscheinungen. Die politischen Nachrichten dieser Zeitschrift bestanden in denselben trockenen Fakten aus der „Nordischen Biene“ und waren infolgedessen schon alle bekannt. Dazwischen kamen auch recht merkwürdige Originalerzählungen zum Abdruck; sie waren ungeheuer kurz und völlig farblos. Und selbst wenn dann einmal etwas Bemerkenswertes darunter vorkam, so blieb es doch gänzlich unbeachtet. Die Namen der Redakteure, der Herren Bulgarin und Gretsch, prangten nur auf dem Titelblatt, und es gab nichts, was darauf hindeutete, daß sie wirklich an der Herausgabe mit beteiligt waren. Trotzdem aber existierte das Journal nun einmal, also mußte es doch Leser und Abonnenten haben. Diese Leser und Abonnenten bestanden aus allerhand ehrenwerten, alten Herren, die in der Provinz lebten und die ebensosehr das Bedürfnis hatten, etwas zu lesen, wie nach dem Mittagessen ein Stündchen zu schlafen und sich zweimal wöchentlich rasieren zu lassen.

Während dieser ganzen Zeit erschien in Petersburg noch eine rein literarische Zeitung, die sich gegen das Eindringen wissenschaftlicher Interessen und anderer ernster Beiträge zu schützen wußte; sie war weder politisch noch statistisch noch enzyklopädisch, sie trat für die alten Überlieferungen ein, hatte aber bei alledem einen besonderen Charakter. Diese Zeitung trug den Titel: „Literarische Beilage zum Invaliden“. In ihr erschienen kleine Erzählungen und Unterhaltungen ländlicher Gutsbesitzer über Literatur, diese waren häufig recht trivial, enthielten jedoch mitunter auch allerhand Bosheiten, die der Wahrheit sehr nahe kamen: der Leser bemerkte zu seiner Verwunderung, daß die Gutsbesitzer sich gegen Ende der Artikel in richtige Literaten verwandelten, die sich das Schicksal der modernen Literatur sehr zu Herzen nahmen und ihre Urteile mit ätzendem Spotte würzten. Diese Zeitschrift bekämpfte alle erfolgreichen Literaten, obwohl ihre ganze Taktik darin bestand, irgendeinen Passus zu zitieren, der auf eine gewisse Voreiligkeit, wie sie den Journalisten eigen ist, schließen läßt, und dann von sich aus eine recht boshafte Bemerkung hinzuzufügen, die nicht länger als eine Zeile und mit einem Ausrufungszeichen versehen war. Herr Wojeikow war ein eifriger Jäger; er saß wie ein Fischer mit seiner Angel am Ufer, ohne je die Geduld zu verlieren, obwohl meist nur kleine Fische auf seinen Köder anbissen, während sich die großen wieder losrissen und ins Wasser zurückschwammen. Man fühlte deutlich, daß der Redakteur eine wahrhafte literarische Ader besaß; sein Blick war stets mit nie erlahmender Aufmerksamkeit auf das journalistische Getriebe gerichtet. Ich weiß nicht, ob seine Zeitung viele Leser hatte, jedenfalls aber verdiente sie es, daß man hin und wieder einen Blick in sie warf.

In Moskau erschien nur eine Zeitschrift: „Das Teleskop“ mit einer kleinen Beilage von einigen Seiten, unter dem Namen „Fama“; diese Zeitschrift, die zu Anfang sehr lebhaft einsetzte, flaute jedoch sehr schnell ab und bildete ein buntes Gemisch von allerhand Artikeln ohne jede literarische Bedeutung. Es war augenfällig, daß die Herausgeber sich nicht die geringste Mühe gaben und die einzelnen Nummern auf gut Glück und ohne jede Sorgfalt erscheinen ließen.

Das Monopol, das die „Lesebibliothek“ an sich gerissen hatte, mußte alle übrigen Zeitschriften an ihrer empfindlichen Stelle treffen. Aber die „Nordische Biene“ wurde von demselben Herrn Gretsch herausgegeben, dessen Name eine Zeitlang auf dem Titelblatt der „Bibliothek“ stand, deren Chefredakteur er angeblich war, obgleich dies Amt, wie wir schon gesehen haben, nur ein Ehrentitel war; es war daher nur natürlich, daß die „Nordische Biene“ alles, was in der „Bibliothek“ erschien, loben und ihren wahren Spiritus rector , der unter einer Reihe von Decknamen schrieb, einen russischen Humboldt nennen konnte. Aber auch ohne dies wäre diese Zeitschrift wohl kaum als kräftige Gegnerin in Betracht gekommen, da sie von keinem einheitlichen Willen geleitet wurde; die verschiedenen Literaten blickten dort nur hin und wieder, wenn sie es gerade nötig hatten, hinein. Auch der „Sohn des Vaterlandes“ mußte nachsprechen, was die „Biene“ sagte. Und so konnten nur zwei Zeitschriften gegen seine Anschauungen Front machen. Herr Wojeikow nahm in der „Literarischen Beilage“ einen Anlauf zur Opposition; aber diese Opposition bestand lediglich in kleinen Bemerkungen über allerhand journalistische Schnitzer und in ein paar glücklichen Witzen, die sich in wenigen kurzen Worten und in einem Spott äußerten, der von einzelnen Literaten sehr gut verstanden, von den Uneingeweihten aber kaum bemerkt wurde. Niemals ließ er eine ausführliche und gründliche Kritik erscheinen, die die Richtung der neuen Zeitschrift in irgendeiner Weise kennzeichnete. „Das Teleskop“ arbeitete in Gemeinschaft mit der „Fama“, und zwar gegen die „Lesebibliothek“, aber es tat dies ohne jede Energie, Ausdauer und ohne die dazu notwendige Geduld und Kaltblütigkeit. Seine kritischen Aufsätze waren oft von Ärger über einen glücklichen Neuling erfüllt; es spottete über den Barontitel des Herrn Ssenkowski, machte einige richtige Bemerkungen über sein seltsames Kopieren der französischen Schriftsteller, traf aber nicht den Kern der Sache. In der „Fama“ wiederholten sich dieselben Anspielungen auf Herrn Brambeus, und zwar oft in der Analyse völlig belangloser Werke. Außerdem schadete sich „Das Teleskop“ außerordentlich durch das verspätete Erscheinen der Nummern und die mangelnde Sorgfalt, mit der es redigiert wurde; und so kam es, daß seine kritischen Artikel noch weniger verbreitet waren.

Es ist klar, daß die Kräfte und Mittel dieser Zeitschriften gegenüber der „Lesebibliothek“ kaum in Betracht kamen, die unter ihnen wie ein Elefant unter winzigen Vierfüßlern erschien. Der Kampf war zu ungleich, und, wie es scheint, zog man nicht in Erwägung, daß die „Lesebibliothek“ gegen fünftausend Abonnenten hatte, daß die von ihr vertretenen Anschauungen selbst in solche Gesellschaftskreise drangen, wo man noch nie etwas von der Existenz des „Teleskops“ und der „Literarischen Beilage“ gehört hatte, und daß die Ideen und die in der „Lesebibliothek“ erscheinenden Aufsätze von den Herausgebern derselben „Lesebibliothek“, die sich hinter verschiedenen Namen versteckten, aufs höchste gelobt und herausgestrichen wurden, und zwar mit einem Enthusiasmus, der seine Wirkung auf einen großen Teil des Publikums nie verfehlte; denn was dem Gebildeten lächerlich scheint, das nimmt der beschränkte Leser in all seiner Einfalt für bare Münze, und man konnte annehmen, daß bei der Abonnentenzahl der Bibliothek die Anzahl der letzteren weit größer war; dazu kommt, daß die meisten Abonnenten der „Lesebibliothek“ Neulinge waren, d. h. solche, die früher noch keine Journale gelesen hatten und infolgedessen alles für die lauterste Wahrheit hielten, und daß endlich die „Lesebibliothek“ eine starke Stütze in den viertausend Exemplaren der „Nordischen Biene“ fand.

Die Entrüstung über dies unerhörte Monopol wurde schließlich sehr stark. Endlich entschlossen sich einige Literaten in Moskau dazu, ihre eigene Zeitschrift herauszugeben. Diese neue Zeitschrift war eine Notwendigkeit nicht sowohl für das Publikum, d. h. für die größte Zahl der Leser, als vielmehr für die Literaten, die in verschiedenem Maße unter der „Bibliothek“ zu leiden hatten. Sie war eine Notwendigkeit erstens für die, die einer Freistatt bedurften, in der sie ihre Anschauungen äußern konnten, denn die „Lesebibliothek“ nahm keine kritischen Aufsätze auf, wenn sie nicht dem Geschmack des Chefredakteurs entsprachen, und zweitens für die, die zu ihrem Erstaunen erfahren mußten, wie der Redakteur die Hand an ihre eigenen Werke legte; denn Herr Ssenkowski war bereits so weit gelangt, daß er alle der Bibliothek eingesandten Artikel ohne Ansehen der Person ihrer Autoren einer Bearbeitung unterzog. Er korrigierte Aufsätze militärischen, historischen, literarischen, nationalökonomischen Inhaltes usw., und das tat er alles ohne jede böse Absicht, ohne sich weiter Rechenschaft abzugeben, oder sich dabei von einem Gefühl der Notwendigkeit und des Anstandes leiten zu lassen, ja, er dichtete sogar zu einer Komödie von Von-Wisin einen eigenen Schluß hinzu, ohne zu berücksichtigen, daß diese ja schon ohnedies einen Schluß hatte.

Dies alles war für die Schriftsteller sehr peinlich, die kein einziges Organ hatten, in dem sie ihre Klagen vor der Welt und den Lesern vorbringen konnten.

Aber schon allein das Gerücht von der Gründung eines neuen Journals rief die Empörung der „Lesebibliothek“ wach und veranlaßte sie zu einem völlig unerwarteten Schritt: sie versicherte ihren Abonnenten und Lesern mit ungewöhnlichem Eifer, daß die neue Zeitschrift keineswegs gut gesinnt sei und einen streitsüchtigen Charakter haben würde. Ein Artikel, der bei dieser Gelegenheit in der „Nordischen Biene“ erschien, war anscheinend von einem Menschen geschrieben, der voller Verzweiflung seinen vollständigen Zusammenbruch vor Augen sieht. In ihm wurde dem Publikum mitgeteilt, das neue Journal wolle die „Lesebibliothek“ zugrunde richten, und dies nur deshalb, weil die Herausgeber erklärt hätten, sie würden eine gleiche Anzahl von Bogen erscheinen lassen wie die „Lesebibliothek“. Nicht wahr, ein sehr unvorsichtiges Vorgehen? In solch einem Falle muß man seine selbstischen Gefühle kunstvoll zu verbergen suchen und den richtigen Moment abwarten, um erst dann dem Gegner einen wohlgezielten Schlag zu versetzen. Weil ich eine Zeitschrift herausgebe, soll etwa darum ein anderer keine herausgeben dürfen? Und wie könnte ich zürnen, wenn mir jemand erklärt, er wolle mich zum Vorbild nehmen? Sollte ich ihm nicht vielmehr dankbar sein? Beweist er nicht gerade damit den hohen Grad von Achtung, den ich mir bei dem Publikum erworben habe? Je mehr Wetteifer, desto mehr Gewinn für die Leser und die Literaten.

Aber sehen wir zu, in welchem Maße der „Moskauer Beobachter“ die Erwartungen des nach Neuem lüsternen Publikums, die Hoffnungen der gebildeten Leser, die Erwartungen der Literaten und die Befürchtungen der „Lesebibliothek“ rechtfertigte.

Die neue Zeitschrift hatte, trotz aller ihrer eifrigen Bemühungen, sich überall bekannt zu machen, doch nicht die Mittel, ihr Erscheinen an allen Ecken und Enden Rußlands anzukündigen, da die einzigen Herolde und Verbreiter neuer Nachrichten seine Gegner, die „Nordische Biene“ und die „Lesebibliothek“ waren, die natürlich nie eine in wohlwollendem Ton gehaltene Anzeige über die neue Zeitschrift gebracht hätten. Sie begann auch erst spät zu erscheinen, nicht zu Beginn des neuen Jahres, also nicht zu der Zeit, wo gewöhnlich die Abonnements beginnen, und sie versäumte es, für ein regelmäßiges Erscheinen der Bände und ihre pünktliche Zustellung zu sorgen. Aber der Hauptgrund für den Mißerfolg lag doch im Charakter der Zeitschrift selbst. Schon aus den ersten Bänden, die zur Ausgabe gelangten, konnte man erkennen, daß die Gründung der Zeitschrift nur die Folge einer leidenschaftlichen Wallung war. Auch dem „Moskauer Beobachter“ fehlte es an einer starken Triebfeder, die die ganze Zeitschrift im Gange hielt. Der Redakteur ließ sich nur auf dem Titelblatt sehen. Sein Name war fast völlig unbekannt. Bis dahin hatte er nur einige wertvolle statistische Aufsätze geschrieben, die indessen das rein literarisch gebildete Publikum gar nicht kannte. Seine literarische Richtung war unbekannt. Das war ein großer Fehler der Herausgeber des „Moskauer Beobachters“. Sie hatten vergessen, daß der Redakteur immer eine hervorragende Persönlichkeit sein muß. Das ganze Ansehen einer Zeitschrift ruht auf ihm, auf der Originalität seiner Anschauungen, der Lebhaftigkeit seines Stils, auf seiner Sprache, die allgemeinverständlich und immer unterhaltend sein muß, sowie auf der Frische einer unermüdlichen Wirksamkeit. Aber Herr Androssow trat im „Moskauer Beobachter“ kaum merkbar hervor. Wenn die Herausgeber die Absicht hatten, einen Redakteur an die Spitze des Blattes zu stellen, der nur seinen Namen dazu hergab, wie das bei der allgemeinen Trägheit, die bei uns in Rußland herrscht, üblich geworden ist, dann hätten sie die redaktionelle Arbeit unter sich verteilen müssen. Aber sie überließen dem Redakteur die ganze Verantwortung, und der „Moskauer Beobachter“ glich bald einem jener gelehrten Vereine, deren Mitglieder überhaupt gar nichts tun, ja nicht einmal zu den Sitzungen erscheinen, während sich der Präsident jeden Tag einfindet, in seinem Lehnstuhl Platz nimmt und das Protokoll dieser spärlich besuchten Sitzung abfassen läßt. Immerhin enthielt die Zeitschrift ein paar recht gute Aufsätze und Gedichte von Jasikow und Baratinski; diese Juwelen unserer russischen Literatur gereichten ihr zur höchsten Zierde, dennoch aber spürt man in der Zeitschrift nichts von dem Puls des modernen Lebens oder von einer regen und bewegten Tätigkeit; auch fehlte es ihr an jener Mannigfaltigkeit, an der es einem periodisch erscheinenden Blatte nicht fehlen darf. Die wertvollen Aufsätze, die in dieser Zeitschrift erschienen, glichen wenigen grünen Oasen, die aus einem ganzen Meer sandiger Steppen auftauchten. Auch schienen die Herausgeber nur geringe Kenntnis davon zu haben, was dem Publikum gefällt und was nicht. Oftmals verfielen auch gute Aufsätze der Langenweile, nur weil sie sich durch mehrere Nummern hinzogen und stets mit der Unterschrift versehen waren: „Fortsetzung folgt“. Dies war die Zeitschrift, die die Aufgabe hatte, den Kampf mit der „Lesebibliothek“ aufzunehmen.

Der „Beobachter“ begann mit einem oppositionellen Aufsatz von Schewyrew über die Handelsgeschäfte, wie sie in unserer Literatur aufgekommen waren. Der Autor zog gegen den Handelsgeist in unserer Gelehrtenwelt zu Felde, d. h. gegen das allgemeine Bestreben, sich aus der literarischen Arbeit eine Erwerbsquelle zu schaffen. Der Hauptfehler dieses Aufsatzes lag darin, daß der Autor seine Aufmerksamkeit nicht auf den Kernpunkt richtete. Sodann donnerte er gegen alle, die für Geld schreiben, ohne jedoch die Anschauungen des Publikums über den inneren Wert der Ware zu widerlegen. Dieser Artikel war nur den Literaten verständlich, bereitete der „Lesebibliothek“ ein Ärgernis, bot jedoch dem Publikum keinerlei Belehrung, das nicht einmal begriff, um was es sich handelte. Außerdem war dieser Ausfall sogar völlig unberechtigt, da er sich gegen ein unverbrüchliches Gesetz jeglicher Tätigkeit richtete. Die Literatur mußte sich in ein Handelsunternehmen verwandeln, weil die Zahl der Leser und das Bedürfnis nach Lektüre gewachsen war. Es ist nur natürlich, daß in solch einem Fall die unternehmungslustigen Menschen, ohne viel Talent, stets im Vorteil sind, wie bei jedem Handelsgeschäfte; wo ein gewandter und geriebener Kaufmann einem einfältigen Käufer gegenübersteht, trägt der erstere den Gewinn davon. Man mußte darauf hinweisen, worin der Betrug besteht, und nicht die Höhe der Gewinne abschätzen. Es ist noch kein Unglück, daß ein Literat sich ein einträgliches Haus oder ein paar Pferde anschafft; das Schlimme ist nur, daß dem armen Volk schlechte Ware geliefert wurde, und daß es sich noch etwas auf diese Ware zugute tut. Herr Schewyrew hätte die Aufmerksamkeit auf die armen Käufer und nicht auf die Händler lenken müssen. Die Händler sind meist zugereiste Leute; heute sind sie hier und morgen sind sie weiß Gott wo. Bei dieser Gelegenheit bekam auch der Buchhändler Smirdin einen sehr ungerechten Vorwurf zu hören: dieser hatte sich nichts zuschulden kommen lassen und hätte für seinen Unternehmungsgeist und sein redliches Wirken nichts als Dankbarkeit verdient. Kein Zweifel, er hat manchen Leuten zuviel Freiheit gelassen, die sich lieber mit Handelsgeschäften als mit der Literatur hätten beschäftigen sollen. Das Talent kriecht nicht und schmeichelt nicht, wohl aber die Habgier. Sich hierüber zu beklagen, wäre ebenso komisch und seltsam, wie wenn man sich über die Regierung beklagen wollte, wenn man einmal einem kurzsichtigen Beamten begegnet. Für das Talent ist die Nachwelt da, dieser unbestechliche Juwelier, der nur reinen Brillanten eine Fassung gibt. Herr Schewyrew bewies in seinem Aufsatz zwar einen edlen Zorn gegen die prosaische und unwürdige Richtung in unserer Literatur, aber auf die Mehrzahl des Publikums machte dieser Artikel nicht den geringsten Eindruck. Die „Bibliothek“ antwortete nur kurz und ganz nach der Art ihrer gewöhnlichen Taktik; sie wandte sich an die Zuschauer, d. h. an ihre Abonnenten, und sagte: „Seht, was für eine unvornehme Gesinnung Herr Schewyrew an den Tag gelegt hat, welchen Mangel an Anstand und an vornehmen Gefühlen, indem er uns beschuldigte, daß wir nur für Geld arbeiten, während wir doch ...“ usw. Das ist die allgemeine Taktik unserer Petersburger Zeitschriften und Tagesblätter, sowie ihnen irgend jemand ihre Habgier und ihre Untätigkeit zum Vorwurf macht, beklagen sie sich sofort bei dem Publikum über die unanständige Ausdrucksweise und den unvornehmen Charakter ihrer Gegner und sie erklären, der betreffende Aufsatz sei nur geschrieben worden, um das Publikum zu reizen und ihm das Geld aus der Tasche zu locken. Und daher hielten sie es ihrerseits für ihre heilige Pflicht, das Publikum zu warnen.

Und so kam es denn, daß der Ausfall des „Moskauer Beobachters“ an der „Lesebibliothek“ abprallte wie eine Flintenkugel am dicken Fell eines Nashorns, wobei der plumpe Vierfüßler nicht einmal nieste. Nachdem der „Moskauer Beobachter“ seine Kugel abgeschossen hatte, hüllte er sich in Schweigen — ein Beweis dafür, daß er noch gar keinen wohlüberlegten Aktionsplan entworfen hatte und absolut nicht wußte, wie und womit er anfangen solle. Man hätte entweder gar nicht anfangen sollen, oder, wenn man einmal begonnen hatte, nicht so bald wieder aufhören dürfen. Nur durch eine unablässige Tätigkeit hätte der „Beobachter“ durchdringen und seinen Namen im Publikum bekannt machen können, wie das einstmals dem „Telegraph“ gelungen war, der in der gleichen Weise und unter beinahe gleichen Verhältnissen gewirkt hatte. Der „Beobachter“ ließ bald darauf noch einige Nummern erscheinen, ohne jedoch auch nur in einer etwas zur Verteidigung und zur Begründung seiner Anschauungen zu sagen. Endlich, nachdem schon mehrere Nummern erschienen waren, druckte er einen Aufsatz, der sich gegen Brambeus richtete und sich auf einen vor längerer Zeit in der „Bibliothek“ abgedruckten Artikel bezog. Dieser Aufsatz hatte den Namen „Brambeus und die junge Literatur“ getragen, und Brambeus hatte sich in ihr als Gesetzgeber und Schöpfer einer neuen Schule und als Führer einer neuen Epoche — der russischen Literatur bezeichnet.

Dies war allerdings sehr merkwürdig. Es ist ja schon vorgekommen, daß Literaten sich selbst gelobt haben, indem sie sich entweder den Namen ihrer Freunde beilegten, oder auch in ihrem eigenen Namen; aber wenn sie es taten, so geschah es immerhin mit einer gewissen Schamhaftigkeit, worauf sie es später selbst versuchten, die ganze Sache eigenhändig wieder zu vertuschen, da sie fühlten, daß sie sich etwas vergeben hatten. Noch nie aber hat ein Autor sich selbst so frei, so ungeniert gelobt, wie der Baron Brambeus. Dieser originelle Artikel war allzu aufsehenerregend, als daß er unbemerkt bleiben konnte. Das „Teleskop“ nahm ihn sich vor und spottete recht kurzweilig aber freilich nur ganz flüchtig über ihn. Auch Herr Wojeikow wies mit seiner gewöhnlichen Schlauheit auf ihn hin, und schließlich hatte der Aufsatz auch einen Artikel im „Moskauer Beobachter“ zur Folge. Der Zweck dieses Artikels war, den Beweis zu führen, aus welchen Quellen das Talent und die Berühmtheit des Barons Brambeus herstammen, welche Werke fremder Autoren er benutzt, als ob sie sein eigenes Eigentum wären, kurz, aus was für Lappen sich Baron Brambeus seinen Schlafrock zusammengeflickt hätte. Einige anonyme Bücher, die bald danach erschienen, brachten den „Moskauer Beobachter“ in gänzliche Vergessenheit. Selbst die „Lesebibliothek“ hörte schließlich auf, ihn noch weiter zu erwähnen, ein so ohnmächtiger Gegner war er geworden; sie fuhr nach wie vor fort, über Wichtiges und Unwichtiges zu scherzen, und schrieb über alles, was ihr gerade unter die Feder kam.

Dies waren die Taten unserer Zeitschriften. Nachdem wir diese dargestellt, wollen wir zusehen, ob sie in diesen zwei Jahren etwas geleistet haben, was in der Geschichte der Literatur niedergelegt zu werden verdient oder ihr einen eigenartigen Zug aufzuprägen geeignet wäre, zu was für Anschauungen, was für Meinungsäußerungen sie den Grund gelegt, was sie festgestellt und welchem Gedanken sie Bürgerrecht verschafft haben. Ein langes Programm, das Aufsätze über Statistik, Medizin, Literatur usw. verspricht, hat gar keine Bedeutung. Die Ankündigung, daß die Kritik wohlwollend, frei von persönlicher Gehässigkeit und unparteiisch sein werde, bestimmt auch noch kein festes Ziel. Und doch sollte ein solches Ziel die notwendige Voraussetzung einer jeden Zeitschrift sein. Selbst die große Zahl der in ihr erscheinenden Aufsätze hat noch keine Bedeutung, wenn die Zeitschrift keine eigene Meinung hat, und wenn in ihr keine, und sei es nur eine einzige Richtung, zum Ausdruck kommt, die auf ein bestimmtes Ziel hinweist. Die Herausgabe des „Telegraph“ hatte doch offenbar den Zweck, alle möglichen veralteten eingewurzelten, fast mechanisch gewordenen Gedanken unserer derzeitigen Verfechter des Alten und der Klassiker zu stürzen. Der „Moskauer Beobachter“, eine der besten Zeitschriften, obwohl in ihm nicht viel von einer modernen Bewegung zu spüren war, hätte die Aufgabe gehabt, das Publikum mit den hervorragendsten Schöpfungen Europas bekannt zu machen, den Kreis unserer Literatur zu erweitern und uns neue Vorstellungen über die Schriftsteller aller Zeiten und Völker zu vermitteln. Hier ist nicht der Platz, davon zu reden, inwieweit diese beiden Zeitschriften ihren Zweck erfüllt haben; zum mindesten konnten die Leser in ihnen ein solches Streben bemerken. Aber man sehe sich einmal die Zeitschriften, die in den zwei letzten Jahren erschienen sind, aufmerksam an; man versuche es, den Grundgedanken einer jeden festzustellen. Man wird vergeblich nach einem solchen Grundgedanken suchen. Wenn man einen der Bände aufschlägt, ist man erstaunt über die Armseligkeit und Belanglosigkeit der Gegenstände, die dort behandelt werden. Darnach könnte man meinen, in der literarischen Welt habe auch nicht ein einziges wichtiges Ereignis stattgefunden. Und dennoch ist

1. der berühmte Schotte gestorben, der große Künder des Herzens, der Natur und des Lebens, dieser reichste, mannigfaltigste Genius des XIX. Jahrhunderts;

2. hat in der gesamten europäischen Literatur eine neue Geschmacksrichtung voller Unruhe, Erregung und Bewegung die Oberhand gewonnen. Es erschien eine Reihe unreifer, zusammenhangsloser jugendlicher Werke, die jedoch eine starke Begeisterung und eine mächtige Glut ausströmten: eine Folge der politischen Gärungen des Landes, in dem sie entstanden. Diese seltsame Literatur, unruhig wie ein Komet und ebenso unorganisch wie er, hat Europa lebhaft erregt und sich schnell bis an alle Enden der literarischen Welt verbreitet. Und wenngleich diese Erscheinungen einen universellen europäischen Charakter tragen, so haben sie doch auch auf Rußland einen Einfluß ausgeübt; aber fassen wir einmal die rein russischen literarischen Ereignisse ins Auge;

3. hat sich hier in hohem Maße die Lektüre von Romanen und trockenen, langweiligen Erzählungen verbreitet; zugleich machte sich eine allgemeine Gleichgültigkeit gegen die Poesie geltend;

4. erschienen neue Auflagen der Werke von Derschawin und Karamsin, die laut nach einer literarischen Kennzeichnung und nach einer wahrhaften, richtigen Bewertung verlangten, wie die aller übrigen älteren Schriftsteller; denn in der literarischen Welt gibt es keinen Tod, und die Toten greifen ebenso in unser Leben ein und handeln und wirken mit uns wie die Lebenden. Sie verlangten nach einer Rückerstattung dessen, was ihnen wirklich gebührt; sie forderten die Zurücknahme ungerechter Anklagen und falscher Wertschätzungen, die ganze Jahre hindurch und auch heute noch gedankenlos wiederholt werden.

Aber haben denn unsere Zeitschriften auch — auf Grund strenger Überlegung — ausgesprochen, wer Walter Scott war, worin seine Wirkung bestanden hat, was die moderne französische Literatur bedeutet, unter welchen Bedingungen sie entstanden ist, woher sie stammt, was die Ursachen der falschen Geschmacksrichtung waren und worin ihr Wesen bestand; warum die Poesie von Prosawerken abgelöst wurde; auf welcher Bildungsstufe das russische Publikum steht, wer dieses russische Publikum ist, und was die Originalität und Eigenart unserer Schriftsteller ausmacht?

Vergebens wird der Leser in dieser Richtung nach neuen Gedanken oder auch nur nach Spuren eines tiefen, gewissenhaften Studiums suchen.

Auf Walter Scott hat man bei uns nur ein wenig geschimpft. Die französische Literatur wurde von den einen mit einem kindlichen Enthusiasmus aufgenommen; sie erklärten, die modernen Schriftsteller wären bis in die tiefsten Geheimnisse des menschlichen Herzens eingedrungen, die selbst einem Cervantes und Shakespeare verborgen geblieben wären; andere wieder schmähten sie, ohne selbst zu wissen warum, während sie selbst Werke im Geschmack dieser Schule schrieben, nur mit dem Unterschied, daß diese noch mehr Unsinn und mehr Torheiten enthielten. Die Frage: warum bei uns fade Romane und Erzählungen einen solchen Erfolg haben, hat keinen von ihnen beschäftigt, statt dessen brachten sie zu den schon existierenden noch ihre eigenen auf den Markt. Über unser Publikum sagten sie nur, es sei ein hochachtbares Publikum und es müsse sich auf alle Zeitschriften und alle möglichen Blätter abonnieren, denn diese könne ein jeder lesen: der Familienvater wie der Kaufmann, der Militär wie der Literat; über Derschawin, Karamsin und Krylow hatten sie gar nichts zu sagen, oder sie wiederholten einfach dasselbe, was ein Kreisschullehrer seinen Schülern erzählt, und halfen sich mit einem paar banalen Phrasen.

Worüber schrieben also unsere Journalisten? Sie sprachen von den beliebtesten und nächstliegendsten Dingen, sie redeten von sich selbst, lobten in ihren Zeitschriften ihre eigenen Aufsätze, waren ausschließlich mit sich selbst beschäftigt und schenkten allen anderen Gegenständen höchstens eine kühle, leidenschaftslose Beachtung. Alles Große und Außerordentliche schien unsichtbar geworden zu sein. Ihre gleichgültige Kritik richtete sich auf Gegenstände, die kaum der Rede wert waren.

Worin bestand nun der eigentliche Charakter dieser Kritik? Was in ihr am deutlichsten zum Ausdruck kam, war folgendes:

1. Eine starke Mißachtung der eigenen Meinung. Fast nie hatte man den Eindruck, daß der Kritiker seine Tätigkeit für etwas Wichtiges hielt, mit einem Gefühl der Ehrfurcht, und nachdem er sich die Sache zuvor überlegt hatte, an sie heranging; daß er, während er seine Feder führte, an die kleine Zahl seiner Zeitgenossen gedacht hätte, die eine höhere, edlere Bildung besaßen und vor denen er für jedes seiner Worte Rechenschaft ablegen mußte. Die Kritik in unseren Zeitschriften war meist eine Art Possenreißerei. Was tat man, wenn man das Buch eines Schriftstellers lobte, den man protegieren wollte? Man sagte nicht etwa einfach: „dieses Buch ist gut,“ oder „es verdient in dieser und jener Hinsicht Anerkennung,“ o nein: die Rezensenten erklärten, „dieses Buch ist wundervoll, ganz außergewöhnlich, es ist unerhört genial, es ist das beste russische Buch; es kostet fünfzehn Rubel, der Autor steht hoch über Walter Scott, Humboldt, Goethe und Byron. Kaufen Sie dies Buch, lassen Sie es sich einbinden und stellen Sie es in Ihre Bibliothek, kaufen Sie auch die zweite Auflage und stellen Sie sie gleichfalls in Ihre Bibliothek, es kann nie schaden, wenn man zwei Exemplare von einem guten Werk besitzt.“ Der größte Teil der Bücher wurde ohne jede Überlegung und ganz kritiklos verherrlicht. Wenn man alle Bücher zusammenzählen wollte, die als erstklassig angepriesen wurden, so könnte wohl jemand glauben, es gäbe in der ganzen Welt keine reichere Literatur als die russische; wenn ihn nicht — freilich erst nach einiger Zeit — die widersprechenden Urteile derselben Rezensenten über dieselben Werke nachdenklich und stutzig machen müßten. Und dieselbe Maßlosigkeit trat in den abfälligen Urteilen über Werke von Autoren hervor, die sich den Haß oder die Abneigung des Kritikers zugezogen hatten. Und so ergoß sich sein Zorn ebenso rückhaltslos, indem er einem momentanen Gefühl nachgab.

2. Der literarische Unglaube und die literarische Unbildung. Diese beiden Eigentümlichkeiten haben sich in der letzten Zeit in unserer Literatur besonders verbreitet. Nie findet man den Namen von Schriftstellern erwähnt, die ihre Laufbahn bereits vollendet haben, und die, von der Sonne des Ruhmes umstrahlt, von ihrer Höhe auf uns herabblicken. Kein Rezensent hat seine Augen ehrfürchtig zu ihnen erhoben und ihnen Beachtung geschenkt. Fast nie begegnet man den Namen eines Derschawin, Lomonossow, Von-Wisin, Bogdanowitsch, Batjuschkow usw. auf den Seiten unserer Zeitschriften. Nie hört man was über ihren Einfluß, der auch heute noch fortdauert und sich heute noch bemerkbar macht. Nie werden sie zur Vergleichung mit der heutigen Epoche herangezogen. Es ist, als wäre unserem Zeitalter die Wurzel abgeschnitten, als gäbe es keinen Ursprung, von dem wir herstammten, und als gäbe es für uns keine Geschichte unserer Vergangenheit. Diese literarische Unbildung verbreitet sich hauptsächlich unter den jüngeren Rezensenten, so daß unsere zeitgenössische, kritische Literatur wie etwas Fremdes, Angeschwemmtes erscheint. Ein, zwei Jahre vergehen, und die Reden, die anfänglich ziemlich laut und rege waren, verstummten und verhallten wie ein Ton ohne Resonanz oder wie eine Phrase, die auf dem gestrigen Ball fiel. Die Namen der Schriftsteller, die ihren Ruhm längst fest begründet, und die Namen derer, die erst nach einem solchen streben, sind zu einem bloßen Spielzeug geworden. Der eine Rezensent richtet die wieder auf, die sein Gegner fallen gelassen hat, und das alles geschieht ohne jede Kritik ganz gedanken- und ideenlos. Häufig verdankt ein Name seinen Ruhm dem Streit zweier Rezensenten. Von den Schriftstellern unseres Vaterlandes wird nicht geredet, dafür beginnt jeder Rezensent, selbst wenn er über ein ganz unbedeutendes, belangloses Buch schreibt, unbedingt mit Shakespeare, den er nie gelesen hat. Es ist heutzutage eben Mode, von Shakespeare zu reden — also her mit dem Shakespeare! Er erklärt: „Wir wollen das vorliegende Buch von folgendem Gesichtspunkt aus betrachten. Sehen wir zu, inwieweit unser Autor mit Shakespeare übereinstimmt,“ und dabei ist das Buch, das analysiert werden soll, — ein barer Unsinn, der ohne jegliche Absicht, mit Shakespeare zu rivalisieren, geschrieben ist, und höchstens mit dem Geist und der Ausdrucksweise des Rezensenten selbst Ähnlichkeit hat.

3. Der Mangel an einer rein ästhetischen Genußfähigkeit und an Geschmack. In den Moskauer Journalen findet man noch hin und wieder einen gewissen Geschmack oder eine Art Liebe zur Kunst, die Kritik der Petersburger Zeitschriften, besonders die der sogenannten „anständigen“ dagegen ist außerordentlich dürftig. Die besprochenen Werke werden hoch über die Byrons, Goethes usf. erhoben. Aber nirgends gewinnt der Leser den Eindruck, daß dies der Ausfluß eines Gefühls, ein Zeichen des Verständnisses ist, daß es aus der Tiefe einer dankerfüllten, tiefergriffenen Seele hervorquillt. Ihr Stil ist trotz seiner äußeren oft verschnörkelten, glänzenden Prunkhaftigkeit von einer ertötenden Kälte. Nur dann merkt man ihm eine gewisse Lebhaftigkeit und einen leidenschaftlichen Schwung an, wenn sich der Rezensent an einer wunden Stelle getroffen, wenn er sich in seiner persönlichen Würde getroffen fühlt. Die Gerechtigkeit verlangt, daß wir hier die Kritiken von Schewyrjow erwähnen, die eine lobenswerte Ausnahme bilden. Er teilt uns seine Eindrücke in der Form mit, wie seine Seele sie aufnimmt. Aus seinen Aufsätzen spricht stets ein Mensch, der nachdenkt, ja, der sich mitunter vom ersten Eindruck fortreißen läßt.

4. Die Kleinheit der Gedanken und ein kleinliches Prahlen. Wir haben schon gesehen, daß die Kritik sich nie mit bedeutenden Fragen beschäftigte. Die Aufmerksamkeit der Rezensenten war stets auf eine ganze Reihe inhaltsloser Bücher gerichtet, nicht etwa deshalb, um sie zu analysieren, sondern um die Liebenswürdigkeit des Kritikers zu beweisen und die Leser zum Lachen zu bringen. In wie hohem Maße die Kritik mit allerhand Torheiten und albernen Streitereien beschäftigt war, konnten die Leser bereits aus dem berühmten Prozeß gegen die beiden armen Fürwörter „ dieser und jener “ ersehen. So weit also ist es allmählich mit der russischen Kritik gekommen!

Wer aber waren denn die, die bei uns über die Literatur redeten? Während dieser Zeit ließen weder Schukowski, noch Krylow, noch Fürst Wjasemski ihre Meinung hören, auch die, die noch vor kurzer Zeit eine Zeitschrift herausgegeben hatten, die in mancherlei Aufsätzen ihre eigene Stimme erhoben und einen eigenen Geschmack und wirkliche Kenntnisse an den Tag gelegt hatten, waren verstummt: kann man sich da noch über solche Zustände in unserer Literatur wundern?

Warum schwiegen denn die Schriftsteller, die in ihren Werken ein echtes ästhetisches Gefühl offenbart hatten? Hielten sie es für unter ihrer Würde, in die Sphäre der Tagesliteratur hinabzusteigen, wo gewöhnlich allerhand Kämpfer laut miteinander im Streite liegen ? Wir haben kein Recht, hierüber zu entscheiden. Wir wollen hier nur bemerken, daß eine Kritik, die von echtem Geschmack und einem tiefen Verstand geleitet wird, daß die Kritik eines hochbegabten Talentes gleichwertig ist mit jeder originalen Schöpfung: aus ihr lernen wir den Schriftsteller, den sie analysiert, und in noch höherem Maße den Kritiker selbst kennen. Die Kritik eines Talentes überlebt das ephemere Dasein einer Zeitschrift. Für die Geschichte der Literatur ist sie geradezu unschätzbar. Unsere Literaturgeschichte ist noch jung. Sie hat nur wenige Koryphäen hervorgebracht; aber für die Kritik eines Denkers bietet sie ein reiches Feld dar und Arbeit für viele Jahre. Unsere Schriftsteller haben sich eine völlig eigenartige Form geschaffen; trotz des gemeinsamen Zuges unserer Literatur, der Neigung zur Nachahmung, enthalten sie doch rein russische Elemente, ja selbst die Art, wie wir nachahmen, hat einen ganz besonderen nordischen Charakter an sich und stellt auch in der europäischen Literatur eine beachtenswerte Erscheinung dar. Aber genug davon. Wir wollen diese Ausführungen mit dem aufrichtigen Wunsch schließen, daß sich bei uns im kommenden Jahr eine lebhaftere Tätigkeit entwickeln, und bei einer größeren Anzahl von Zeitschriften die Abhängigkeit vom Monopol immer mehr verschwinden möge, auf daß dadurch bei allen ein lebhafterer Wetteifer entbrenne, ihre Bestimmung zu erfüllen. Zum mindesten macht sich schon heute darin ein tröstliches Streben bemerkbar, daß einzelne Zeitschriften versprechen, im kommenden Jahre der Herausgabe ihrer Bände mehr Sorgfalt zuzuwenden als früher. Die Verleger des „Sohnes des Vaterlandes“ und des „Teleskop“ haben von Verbesserungen gesprochen. Man kann kaum daran zweifeln, daß bei größerer Mühewaltung mehr geleistet werden kann. Jedenfalls begleiten wir unseren Wunsch mit herzlicher Aufrichtigkeit und der heißen Fürbitte: Möge das Streben aller und eines jeden einzelnen tausendfältige Frucht tragen; je uneigennütziger und gewissenhafter seine Tätigkeit sein wird, um so mehr wohlverdiente Anerkennung und Dankbarkeit möge ihm zuteil werden.

II
Petersburger Skizzen
1836

I

S eltsam — wohin nur die Residenz Rußlands verschlagen ward —: Bis ans Ende der Welt. Ein merkwürdiges Volk, diese Russen. Einst besaßen sie in Kiew eine Hauptstadt, da war es zu heiß, da war es nicht kalt genug; und so siedelte denn die russische Residenz nach Moskau über — doch nein, auch hier war’s noch nicht kalt genug. Herrgott! Also her mit Petersburg! Aber wie wildfremd sind sich dafür auch Mutter und Sohn! Was für eine Landschaft! Was für eine Natur! Die Luft ist mit Nebel erfüllt, die blasse, graugrüne Erde ist mit verkohlten Baumstümpfen, Tannen, Kiefern und kleinen Erdhügeln bedeckt ... Noch gut, daß einen die blitzschnell vorüberfliegenden, schnurgeraden Chausseen und die russische Troika mit Sang und Klang wie im Sturmwind an ihnen vorbeitragen. Und welch ein Unterschied — welch ein Unterschied zwischen den beiden. Moskau ist noch bis heute ein langbärtiger russischer Bauer — Petersburg dagegen ist schon ein gewandter Europäer. Wie sich das alte Moskau weit ausgedehnt, wie es in die Breite gewachsen ist! Und wie hat sich dagegen das stutzerhafte Petersburg zusammengezogen und in die Länge gestreckt! Von allen Seiten ist es von Spiegeln umstellt, hier die Newa, dort der Finnische Meerbusen! Wahrhaftig, es fehlt ihm nicht an Gelegenheit, sich selbst anzuschauen, sich zu bespiegeln! Bemerkt es nur das kleinste Stäubchen oder Flöckchen auf seinem Kleide, so wird’s sofort entfernt. Moskau ist ein altes Hausmütterchen, es bäckt seine Pfannkuchen, sitzt daheim, sieht sich die Dinge von ferne an und läßt sich, ohne sich vom Sessel zu erheben, erzählen, wie es in der Welt hergeht. Petersburg dagegen ist ein flotter Bursche, der nie zu Hause sitzt, der immer gut angezogen ist, sich für Europa schön macht und den Ausländern zunickt. In Petersburg ist alles in steter Bewegung, vom Keller bis hinauf zur Dachkammer; um Mitternacht fängt man an, französische Brötchen zu backen, die am nächsten Morgen allesamt von der aus den verschiedensten Volksstämmen zusammengesetzten Bevölkerung verzehrt werden; während der Nacht leuchtet bald eins seiner Augen, bald das andre. Während der Nacht liegt ganz Moskau in tiefem Schlaf, am Morgen aber schlägt es ein Kreuz, verneigt sich nach allen vier Himmelsrichtungen und fährt dann mit seinen Kalatschi [14] auf den Markt. Moskau ist weiblichen [15] , Petersburg männlichen Geschlechts. In Moskau gibt es lauter Bräute, in Petersburg lauter Freier. Petersburg gibt mehr acht auf seine Kleidung, hat die grellen Farben nicht gern, ebensowenig wie alle kühnen Abweichungen von der Mode, Moskau dagegen verlangt, daß, wenn’s schon eine Mode geben soll, diese auch nach allen Regeln durchgeführt werde; trägt man lange Taillen — dann müssen sie noch viel länger werden; werden große Frackaufschläge getragen, dann sind sie hier so groß wie das Tor einer Scheune. Petersburg — ist ein Mensch von peinlicher Akkuratesse — ein echter Deutscher, es erwägt alles und rechnet alles nach, und ehe es eine Abendgesellschaft gibt, tut es einen Blick in die Tasche; Moskau — ist ein russischer Edelmann, wenn er sich einmal amüsiert, dann amüsiert er sich so, daß er hinfällt, und kümmert sich nicht darum, ob er mehr ausgibt, als er in der Tasche hat. Moskau liebt die goldene Mittelstraße nicht. Alle Moskauer Zeitschriften bringen am Schluß jeder Nummer, sie mögen einen noch so gelehrten Inhalt haben, immer ein Modebild; die Petersburger Zeitschriften bringen nur selten Illustrationen als Beilage, aber wenn sie einmal eine beifügen, dann kriegt ein Leser, der das nicht gewöhnt ist, einen Schreck. Die Moskauer Zeitschriften reden von Kant, Schelling usf. usf., in den Petersburger Journalen wird nur vom Publikum und über die gute Gesinnung geschrieben ... In Moskau halten die Zeitschriften Schritt mit dem Jahrhundert, verspäten sich aber bei Zustellung ihrer Nummern; in Petersburg halten die Journale nicht Schritt mit dem Jahrhundert, dafür erscheinen sie mit großer Pünktlichkeit zur festgesetzten Zeit. In Moskau bringen die Literaten ihr Geld durch, in Petersburg verdienen sie welches. In Moskau fährt alle Welt in dichte Bärenpelze eingehüllt — und meist zu einem Diner; in Petersburg läuft alles in Friesröcken herum, die Hände tief in die Taschen vergraben, und fliegt in höchster Eile zur Börse oder ins Bureau. Moskau amüsiert sich bis 4 Uhr morgens und verläßt am nächsten Tage das Bett nicht vor 2 Uhr. Petersburg amüsiert sich auch bis 4 Uhr morgens, und doch eilt es am andern Tage, als ob nichts passiert wäre, schon um 9 Uhr in seinem Friesrock in die Kanzlei. Nach Moskau kommt Rußland mit vollen Taschen und kehrt erleichtert wieder zurück. Nach Petersburg kommen die Leute mit leerem Beutel und fahren mit einem hübschen Kapital nach allen Himmelsgegenden auseinander. Nach Moskau kommt Rußland in Winterschlitten auf holperigen Winterwegen gefahren, um zu kaufen und zu verkaufen: in Petersburg läuft das russische Volk im Sommer zu Fuß, um bei einem Bau Beschäftigung zu finden und um zu arbeiten. Moskau — ist die große Vorratskammer, hier türmt sich Ballen über Ballen, und den kleinen Händler beachtet es kaum. Petersburg ist ganz in kleine Stücke zersplittert, hat sich in lauter Läden und Kaufhäuser aufgelöst und macht Jagd auf die ärmeren Käufer. Moskau sagt: „Wenn der Käufer mich braucht — wird er mich schon finden!“ Petersburg fährt Ihnen mit seinen Aushängeschildern direkt unter die Nase, verkriecht sich mit seinem „Weinausschank“ bis unter den Fußboden Ihrer Wohnung und bringt seine Droschkenhaltestellen geradewegs in Ihrem Haustor unter. Moskau sieht über seine eigenen Einwohner hinweg und sendet seine Waren nach ganz Rußland; Petersburg verkauft seine Krawatten und seine Handschuhe an seine eigenen Beamten. Moskau ist eine große Markthalle; Petersburg — ein heller Kaufladen. Moskau ist für Rußland eine Notwendigkeit. Rußland ist eine Notwendigkeit für Petersburg. In Moskau begegnet man nur selten einem Frack mit Uniformknöpfen, in Petersburg hat jeder Frack solche Knöpfe. Petersburg macht sich gern über die Unbeholfenheit und Geschmacklosigkeit Moskaus lustig. Moskau spottet über Petersburg, weil hier nicht gut russisch gesprochen wird. In Petersburg spazieren um 2 Uhr auf dem Newsky-Prospekt Leute, von denen man meinen könnte, sie seien aus den Modebeilagen der Journale, die in den Schaufenstern ausliegen, entsprungen; sogar ganz alte Damen haben hier so dünne Taillen, daß man lachen muß; in Moskau trifft man stets inmitten der Masse modern gekleideter Spaziergänger eine alte Frau mit einem Kopftuch, die keine Spur von Taille hat. Ich könnte noch mancherlei sagen, allein es ist —

„Ein Abstand von ganz ungeheurer Größe! ...“

II

Es ist schwer, die allgemeine Physiognomie von Petersburg zu schildern. Es hat etwas, das an eine amerikanische Kolonie in Europa erinnert: ebensowenig ursprüngliche Nationalität und ebensoviel fremdländische Mischlinge, die sich noch nicht zu einer festen Masse zusammengefügt haben. Soviel verschiedene Nationen sich hier zusammen finden, ebensoviel Gesellschaftsschichten gibt es hier. Diese Kreise sind streng voneinander geschieden: Aristokraten, Beamte im Dienste, Handwerker, Engländer, Deutsche, Kaufleute, sie alle bilden Kreise, die sich nur ganz selten miteinander vereinigen, gewöhnlich aber für sich leben und sich unterhalten, ohne daß einer von dem andern etwas weiß.

Jeder von diesen Kreisen besteht, wenn man genauer zusieht, wieder aus einer Menge kleiner Kreise, die gleichfalls nicht miteinander zusammenhängen. Nehmen wir z. B. die Beamten. Die jungen Gehilfen der Tischvorsteher bilden ihren eigenen Kreis, und nie wird der Abteilungschef zu ihnen herabsteigen. In Gegenwart eines Kanzleibeamten hebt wiederum der Tischvorsteher seinen Kopf um ein paar Zoll höher. Die deutschen Handwerker und die deutschen Beamten bilden auch ihren besonderen Kreis. Die Lehrer bilden einen Kreis, die Schauspieler einen, ja sogar die Literaten, die noch immer recht zweideutige und zweifelhafte Persönlichkeiten darstellen, stehen abseits für sich da. Mit einem Wort, es ist fast so, wie wenn eine riesengroße Postkutsche bei einem Gasthause vorgefahren wäre, in der alle Gäste während der Fahrt in ihre Mäntel gehüllt dagesessen hätten, und nur darum zusammen in den allgemeinen Saal träten, weil eben kein anderer Raum vorhanden ist. Der Versuch, öffentliche Vereine zu gründen, hat bis jetzt keinen Erfolg gehabt. Der Petersburger besucht auch den Klub nur, um dort Mittag zu essen, und nicht, um seine Zeit dort zu verbringen. Daß Petersburg noch nicht zu einem Gasthaus geworden ist, das liegt allein an einer inneren Naturanlage des Russen, der, trotzdem er sich beständig an den Fremden abschleift, sich immer noch eine gewisse Originalität bewahrt hat. Um von jedem dieser einzelnen Kreise erzählen zu können, um ihr Leben, das in Genüssen und Vergnügen, Hoffnungen und Schmerzen dahinfließt, zu studieren, müßte man zu den Leuten gehören, die gar nicht schreiben, weil diese Leute — dies ist der Lohn für ihre Tätigkeit — absolut keine Zeit haben. Also lassen wir die Bälle und Soireen beiseite. Ich will mich den Vergnügungen zuwenden, die eine längere Erinnerung an sich zurücklassen und die von allen Gesellschaftsklassen mitgemacht werden. Die Theater und Konzerte — das sind die Punkte, wo alle Klassen der Petersburger Gesellschaft zusammenstoßen, wo sie genug Muße haben, sich aneinander sattzusehen. Das Ballett und die Oper — sind der König und die Königin der Petersburger Theater. Sie waren noch prächtiger, rauschender, hinreißender als in den früheren Jahren, und die entzückten Zuschauer hatten völlig vergessen, daß es auch noch eine gewaltige Tragödie gibt, die den gleichgestimmten Herzen der stumm lauschenden Menge unwillkürlich die erhabensten Gefühle einhaucht, daß es eine Komödie gibt, die das getreue Abbild der sich vor uns hin und her bewegenden Gesellschaft ist: eine tief durchdachte Komödie, die durch die Tiefe ihrer Ironie uns zum Lachen reizt; nicht zu jenem Lachen, das durch einen oberflächlichen Eindruck, durch einen flüchtigen Witz oder durch einen Kalauer hervorgerufen wird, auch nicht zu jenem Lachen, das die rohe Menge in unserer Gesellschaft bewegt, die nach Verrenkungen und fratzenhaften Verzerrungen der Natur verlangt, sondern zu jenem elektrisierenden, belebenden Lachen, das, durch den blendenden Gedankenblitz erschüttert, unwillkürlich, frei, ungewollt, unmittelbar aus der Seele hervorströmt, das aus dem ruhigen Genuß geboren wird und nur durch einen hohen Verstand hervorgerufen werden kann. Die Zuschauer hatten recht, wenn sie von dem Ballett und der Oper entzückt waren ... Auf der dramatischen Bühne gab es Melodramen und Possen und zugereiste Gäste, die sich auf der französischen Bühne zu Hause fühlten, aber auf der russischen eine recht merkwürdige Rolle spielten. Es ist ja eine längst anerkannte Tatsache, daß die russischen Schauspieler sich recht seltsam ausnehmen, wenn sie Marquis, Vicomtes und Barone spielen, ebenso wie die französischen Schauspieler wahrscheinlich recht komisch wären, wenn sie versuchen wollten, russische Bauern darzustellen. Und wie machen sich Bälle, Abendgesellschaften und moderne Routs, die in den russischen Stücken vorkommen, auf der Bühne? Und die Possen? Die Posse hat sich schon längst die russische Bühne erobert und bildet die Unterhaltung der Mittelklassen, denn diese Leute wollen eben lachen. Wer hätte gedacht, daß wir nicht nur Übersetzungen, sondern auch Originalpossen auf der russischen Bühne zu sehen bekommen würden? Eine russische Posse! Es ist wirklich sehr merkwürdig, und zwar deshalb, weil dieses leichte, farblose Spiel nur bei den Franzosen entstehen konnte, bei einer Nation, deren Charakter keine tiefen, unwandelbaren Züge besitzt; aber wenn man den immer noch etwas schwerfälligen und rauhen russischen Charakter zwingt, sich als „ petit maître “ zu bewegen, dann kommt es mir immer so vor, wie wenn einer von unseren wohlbeleibten, pfiffigen und langbärtigen Kaufleuten, der bis dahin nichts anderes als schwere Stulpenstiefel getragen hat, statt dieser den einen Fuß mit einem schmalen Schuh und Strümpfen à jour bekleiden wollte, während der andere noch im Stiefel steckt, und dann in diesem Aufzuge im ersten Paar der Française erscheinen wollte.

Es sind schon fünf Jahre, seit sich das Melodrama und die Posse alle Theater der Welt erobert haben. Welch eine Nachäfferei! Sogar die Deutschen .... wer hätte das gedacht, daß selbst die Deutschen, dieses gediegene, zu tiefen, ästhetischen Genüssen geneigte Volk, daß die Deutschen jetzt Possen schreiben und spielen und geschwollene, kalte Melodramen zusammenkleistern und für die Bühne bearbeiten. Ja, wenn dieses Miasma noch auf den Wink eines mächtigen Genies hergetragen worden wäre! Als alle Welt der Leier Byrons nachahmte, war dies keineswegs lächerlich; im Gegenteil, in diesem Streben lag etwas Tröstliches. Aber daß Dumas, Dulange und andere — universale Gesetzgeber werden konnten! ... Ich möchte schwören, das XIX. Jahrhundert wird sich dieser fünf Jahre schämen! O Molière! großer Molière! du, der du deine Charaktere so großzügig ausstattetest, mit einer solchen Vollkommenheit entwickeltest, der du ihre Schatten so eingehend studiert hast, und du strenger, umsichtiger Lessing, und du edel glühender Schiller, der du die Menschenwürde in so poetisch verklärtem Lichte dargestellt hast! schaut hin, was jetzt nach euch auf eurer Bühne geschieht, seht, was für ein seltsames Ungeheuer sich unter dem Namen des Melodramas unter uns eingeschlichen hat! Wo ist denn unser Leben? wo bleiben wir mit all unseren heutigen Leidenschaften und Seltsamkeiten? Wenn wir doch nur einen schwachen Widerschein davon in unseren Melodramen erblicken könnten! Aber unser Melodrama lügt in der schamlosesten Weise ....

Welch unbegreifliche Erscheinung: nur das große, tiefe, ungewöhnliche Talent bemerkt und entdeckt das, was uns alltäglich umgibt, was unzertrennlich mit uns verwachsen ist, das Gewöhnliche; das dagegen, was nur selten geschieht, was eine Ausnahme bildet, was uns durch seine Häßlichkeit, durch seine Unförmlichkeit inmitten der Ordnung in Erstaunen setzt, ist gerade das, wonach die Mittelmäßigkeit mit beiden Händen greift. Und so fließt das Leben eines großen Talents wie ein großer breiter Strom in voller Regelmäßigkeit, rein wie ein Spiegel, dahin und reflektiert mit derselben Klarheit die dunklen und die hellen Wolken: bei der Mittelmäßigkeit dagegen fließt es hin wie eine trübe und schmutzige Welle und spiegelt weder die Helligkeit noch die Finsternis.

Das Seltsame ist der Gegenstand des heutigen Dramas geworden. Es kommt vor allem darauf an, eine Begebenheit darzustellen, die unbedingt neu, unbedingt merkwürdig, noch nie dagewesen und ganz unerhört sein muß: ein Mord, eine Feuersbrunst, die allerwildesten Leidenschaften, an die man in der modernen Gesellschaft gar nicht einmal denkt! Wie wenn die Söhne des glühenden Afrika europäische Fräcke angezogen hätten; Henker und Gift — nichts als Effekt, dieser ewige unvermeidliche Effekt, und doch weckt keine Gestalt unsere Teilnahme. Noch nie hat ein Zuschauer das Theater gerührt und tränenden Auges verlassen, im Gegenteil, er setzt sich eilig und in einer seltsamen Erregung in den Wagen, und es dauert lange, bis er seine Gedanken sammeln und sich klar über sie werden kann. Solch ein Schauspiel bietet man unserer verfeinerten, gebildeten Gesellschaft! Unwillkürlich steigen die blutigen Wettkämpfe, zu denen ganz Rom während der Epoche höchster Macht und stumpfer Übersättigung zusammenströmte, vor einem auf. Aber, Gott sei Dank, wir sind noch keine Römer und stehen nicht vor dem Untergang unseres Daseins, sondern im Morgenrot des Lebens! Wenn man alle Melodramen, die in unserer Zeit gegeben worden sind, zusammennimmt, so könnte man glauben, in ein Museum geraten zu sein, in dem absichtlich alle Mißgeburten und Auswüchse der Natur vereinigt sind, oder besser gesagt — man glaubt einen Kalender vor sich zu haben, in dem mit kalendermäßiger Kaltblütigkeit alle merkwürdigen Ereignisse eingetragen sind, und wo unter jedem Datum zu lesen steht: heute geschah an dem und dem Orte folgender Spitzbubenstreich; heute wurde der Räuber und Brandstifter Soundso geköpft; dann und dann hat der Handwerker X. seine Frau umgebracht .... und dergleichen mehr. Ich kann mir das Staunen eines unserer Nachkommen vorstellen, der das Leben unserer Gesellschaft aus unseren Melodramen studieren wollte.

Da ist es denn nicht zu verwundern, daß das Ballett und die Oper noch eine erfreuliche Erscheinung sind und einem eine gewisse Erholung bieten: hier findet man doch noch einen ruhigen Genuß. Die Oper wird bei uns mit einem gierigen Enthusiasmus aufgenommen. Bis heute noch ist die Begeisterung nicht vorüber, mit der sich ganz Petersburg auf die lebendige, feurige Musik der „Fenella“ und die wilde, von höllischen Genüssen erfüllte Musik „Robert des Teufels“ stürzte. — „Semiramis“, die noch vor fünf Jahren vom Publikum sehr kühl aufgenommen wurde, versetzt heute, wo die Musik Rossinis fast einen Anachronismus bildet, dasselbe Publikum in Verzückung. Über den Enthusiasmus, den die Oper „Das Leben für den Zaren“ hervorgerufen hat, will ich gar nicht erst reden: er ist begreiflich und ganz Rußland bekannt. Über diese Oper müßte man entweder sehr viel oder gar nichts sagen.

Ich rede jedoch nicht gern über die Musik oder über den Gesang. Mir scheint, alle musikalischen Traktate und Rezensionen müssen die Musiker von Fach langweilen; in der Musik ist das allermeiste unaussprechlich und beruht auf einer unbewußten Wirkung. Die Leidenschaften der Musiker — sind keine irdischen Leidenschaften; die Musik ist nur hin und wieder der Ausdruck unserer Leidenschaften oder besser gesagt: sie ahmt ihre Stimme nach, um auf sie gestützt, sich wie ein perlender, singender Springquell gänzlich anderer Leidenschaften in eine andere Sphäre emporzuschwingen. Ich will nur noch bemerken, daß sich die Melomanie immer mehr verbreitet. Leute, denen man gar keine musikalische Denkart zutrauen würde, sitzen beständig in dem „Leben für den Zaren“, im „Robert“, in der „Norma“, in „Fenella“ und in „Semiramis“. Beinahe zweimal in jeder Woche wird eine Oper aufgeführt; jede von ihnen erlebt unzählige Aufführungen, und trotzdem ist es häufig schwer, ein Billett zu bekommen. Ist das nicht eine Folge unserer slawischen zum Gesang neigenden Natur? Und ist es nicht eine Rückkehr zu unserer alten Zeit, nach einer Reise durch das fremde Land der europäischen Kultur, wo alles um uns herum eine fremde Sprache sprach und wo sich lauter fremde Menschen um uns drängten — eine Rückfahrt in einem russischen Dreigespann mit seinen klingenden Glocken — ist es nicht so, als erhöben wir uns von unserem Sitz, und als riefen wir, unsere Mützen schwenkend, aus: „In der Fremde ist es schön — aber zu Hause ist’s doch noch besser.“

Was für eine herrliche Oper könnte man nach unseren nationalen Motiven komponieren! Zeigt mir ein Volk, das mehr Lieder hätte! Unsere Ukraine hallt wider von Liedern. Auf der Wolga, von ihrer Quelle bis zum Meere, ertönen — die ganze Reihe der dahintreibenden Barken entlang — die Lieder der Schiffsknechte. Unter Gesang werden in ganz Rußland aus Balken von Fichtenholz die Hütten gezimmert. Mit Gesang fliegen die Ziegel von Hand zu Hand und wachsen Städte wie Pilze empor. Alte Frauen singen, wenn der kleine Russe in Windeln gewickelt wird, wenn er sich verheiratet und wenn er begraben wird. Alles, was reist, Adlige und Bürgerliche, fliegen beim Gesang des Kutschers dahin. Am Schwarzen Meer singt der bartlose braune Kosak mit dem pechschwarzen Schnurrbart, während er seine Flinte ladet, ein altes Lied; und dort am anderen Ende Rußlands erlegt der russische Händler rittlings auf einer Eisscholle sitzend, den Walfisch mit seiner Harpune und singt ein Lied dazu. Und da sollte es uns an Stoff zu einer nationalen Oper fehlen! Die Oper Glinkas ist nur ein schöner Anfang. Er hat es mit viel Glück verstanden, in seinem Werk zwei slawische Tonsprachen zu vereinigen; man hört es deutlich, wo der Russe und wo der Pole spricht; aus dem Gesang des einen hört man die freie, weite Melodie des russischen Liedes heraus, aus dem des anderen den kecken, schnellen Rhythmus der polnischen Mazurka.

Das Petersburger Ballett ist hervorragend. Bei dieser Gelegenheit muß ich ein paar Worte über das Ballett überhaupt sagen. Die Ballettaufführungen in Paris, Petersburg und Berlin haben eine hohe Vollendung erreicht; aber man muß gestehen, daß der Fortschritt nur in der wachsenden Pracht der Kostüme und der Dekorationen besteht, das eigentliche Wesen des Balletts, jedoch, die Erfindung hält nicht Schritt mit der Ausstattung, die Ballettschreiber bringen nur wenig Neues in den Tänzen. Bisher fehlt es noch an dem eigentlich Charakteristischen. Sehen wir einmal zu: an allen Enden der Welt gibt es überall Nationaltänze; der Spanier tanzt ganz anders als der Schweizer, der Schotte wiederum anders als der Deutsche (bei Teniers), der Russe anders als der Franzose und der Asiate. Selbst in den verschiedenen Provinzen desselben Staates wechseln die Tänze. Der Russe des Nordens tanzt nicht so wie der Kleinrusse, wie der Südslawe, der Pole oder Finne; der Tanz des einen ist ausdrucksvoll, der des andern gefühllos, der eine ist wild und rasend, der andere ruhig, der eine gewaltsam und schwerfällig, der andere leicht und ätherisch. Woher stammt diese Mannigfaltigkeit der Tänze? Sie stammt aus dem Charakter der Völker, aus ihrer Lebensweise und der Art ihrer Beschäftigung. Ein Volk, das ein stolzes, kriegerisches Leben führt, bringt diesen Stolz auch in seinem Tanz zum Ausdruck; bei einem sorglosen, freien Volk spiegelt sich auch in den Tänzen eine grenzenlose Freiheit und eine poetische Selbstvergessenheit; ein Volk, das in einem heißen Klima lebt, läßt auch in seinen Nationaltänzen Glut, Leidenschaft und Eifersucht spüren. Der Schöpfer eines Balletts kann zur Charakterisierung seiner tanzenden Helden, wenn er sich nur von einem feinen Geschmack leiten läßt, aus diesem reichen Stoffe wählen, soviel er will. Es versteht sich von selbst, daß er, wenn er erst einmal den Grundcharakter erfaßt hat, ihn noch weiter entwickeln und sich weit über sein Original emporschwingen kann, so wie ein musikalisches Genie aus einem einfachen Liede, das es auf der Straße hört, ein ganzes Gedicht macht. Wenigstens wird der Tanz erst dann einen tieferen Sinn erhalten, und so kann diese leichte, luftige und feurige Sprache, die bis jetzt immer noch etwas beengt und beschränkt erscheint, sich zu höherer Form und Plastik entwickeln.

Die Petersburger sind große Freunde des Theaters. Wenn Sie einmal an einem frischen, kalten Morgen, während der rosig goldene Himmel von durchsichtigen Rauchwolken, die aus den Schornsteinen aufsteigen, durchzogen wird, auf dem Newsky-Prospekt spazieren sollten, dann treten Sie um diese Zeit ins Foyer des Alexandra-Theaters: Sie werden erstaunt sein über die hartnäckige Geduld, mit der die hier versammelte Volksmenge in dichten Haufen den Billettverkäufer belagert, der seine Hand aus dem Kassenfenster herausstreckt. Wie viel Lakaien aller Art drängen sich hier, der eine im grauen Mantel mit einer bunten seidenen Krawatte, aber ohne Mütze, und ein anderer, bei dem der dreistöckige Kragen der Livree einem bunten Tintenwisch aus Tuch in Gestalt eines Schmetterlings gleicht. Hier drängen sich auch jene Beamten, die sich die Stiefel von ihren Köchinnen putzen lassen, und die niemand haben, den sie nach einem Theaterbillett schicken können. Hier können Sie auch sehen, wie ein echtrussischer Held plötzlich die Geduld verliert, auf den Schultern der ganzen Menge bis zur Kasse vordringt und sein Billett empfängt. Dann erst wird Ihnen klar werden, wie sich bei uns die Liebe zum Theater bemerkbar macht. Und was wird auf unseren Bühnen gegeben? — Melodramen und Vaudevilles! ... Ich hasse diese Melodramen und Vaudevilles.

Die Lage der russischen Schauspieler ist sehr traurig. Vor ihnen zittert und brodelt ein aufnahmefähiges Publikum, und sie müssen Leute darstellen, die sie noch nie gesehen haben. Was sollen sie mit diesen seltsamen Helden anfangen, die weder Franzosen noch Deutsche sind, sondern halbverrückte Leute, die weder eine bestimmte Leidenschaft noch eine charakteristische Physiognomie haben? Wie soll man da zeigen, was man kann, wie sollen sich unter solchen Verhältnissen Talente entwickeln ? Gebt uns um Gottes willen wahrhaft russische Charaktere, gebt uns uns selber, unsere Gauner und unsere Querköpfe! herauf mit ihnen auf die Bühne und gebt sie dem Gelächter aller preis! Das Lachen — ist etwas wahrhaft Großes, es raubt uns weder das Leben, noch unser Eigentum, und doch steht der Schuldige da wie ein Hase, dem man die Beine zusammengebunden hat. Wir haben uns so sehr an die farblosen französischen Stücke gewöhnt, daß wir uns beinahe fürchten, unsere eigenen zu sehen. Wenn man uns einen lebendigen Charakter vorführt, so glauben wir gleich, das sei eine persönliche Anspielung, weil die dargestellte Person weder einem Paysan , einem Theater-Tyrannen, einem Reimschmied, einem Richter oder dergleichen verbrauchten Typen gleicht, die von zahnlosen Autoren förmlich in ihre Stücke geschleppt werden, so wie man etwa einen jener unvermeidlichen Figuranten auf die Bühne schleppt, die vor dem Publikum mit dem gleichen stereotypen Lächeln ihre im Laufe von vierzig Jahren bis zur Virtuosität einstudierten „Pas“ herunterholzen. Wenn man z. B. sagt, daß es in einer Stadt einen nicht ganz nüchternen Hofrat gibt, so fühlen sich gleich alle Hofräte beleidigt, und manch ein anderer „Rat“ sagt wohl gar: „Wie ist das nur möglich, ich habe einen Verwandten, der ist Hofrat: ein vortrefflicher Mensch! wie kann man denn sagen, daß es einen betrunkenen Hofrat gibt!“ Als ob ein einziger einen ganzen Stand um seine Ehre bringen könnte! Und solch eine Empfindlichkeit ist bei uns tatsächlich in allen Gesellschaftsklassen verbreitet. Braucht es etwa noch der Beispiele? Man denke nur an den „Revisor“.

Es ist wirklich peinlich. Es wäre doch wirklich höchste Zeit, einzusehen, daß nur eine getreue Darstellung von Charakteren — nicht in ihren längst bekannten immer aufs neue wiederholten allgemeinen Zügen — sondern in einer Form von wahrhaft nationalem Gepräge, die uns durch ihre Lebendigkeit überrascht, so daß wir ausrufen: „Ja aber, mir scheint, das ist doch ein Bekannter von mir!“ — daß nur solch eine Darstellung einen wesentlichen Nutzen bringt. Wir haben aus dem Theater ein Spielzeug in der Art jener Rasselchen gemacht, womit man Kinder herbeilockt, wir haben vergessen, daß das Theater ein Katheder ist, von dem aus man einer ganzen großen Menge eine lebendige Lehre vorträgt, auf ein Beispiel hinweist, wo uns beim festlichen Lichterglanz, beim Lärm der Musik, unter einstimmigem Gelächter, ein weitbekanntes, verstecktes Laster gezeigt wird, und wo, begleitet von der geheimen Stimme der allgemeinen Teilnahme, ein allbekanntes, sich ängstlich verbergendes, edles Gefühl ans Licht gezogen wird.

Aber genug vom Theater. Ich habe schon zuviel davon geredet. Der Winterkarneval schließt mit einer lauten und lärmenden Woche ab; dann fliegt die eine Hälfte der Petersburger auf Schaukeln durch die Luft oder saust wie der Wirbelwind die Rodelbahn hinunter, während sich die andere Hälfte in eine lange Kette von Wagen verwandelt, die sich kaum vorwärtsbewegt, immer wieder aufgehalten von dem für Ordnung sorgenden Gendarmen; da gibt’s den ganzen Tag über und am Abend alle möglichen Vorstellungen, und der ganze Admiralitätsplatz ist mit Nußschalen bedeckt ....

Still und finster ist die Zeit der großen Fasten. Es ist einem, als vernehme man eine Stimme, die einem zuruft: „Halt ein, Christenmensch: sieh zu, wie du lebst.“ Die Straßen sind leer. Man sieht keine Wagen. Ein sinnender Zug liegt auf den Gesichtern der Vorübergehenden. Ich liebe dich, du Zeit der Nachdenklichkeit und des Gebets! Freier und mit mehr Überlegung werden meine Gedanken dahinfließen, und diese ganze seichte, eitle Gesellschaft wird sicherlich müde und verschlafen daliegen und vergessen, zu mir zu kommen und mich mit ihrem trivialen Gerede über Whist, Literatur, Auszeichnungen und Theater zu plagen.

Die Fastenzeit in Petersburg ist das Fest der Musik. Um diese Zeit kommen hier Musiker aus allen Teilen Europas zusammen. Das Monstre-Konzert zum Besten der Invaliden hat immer etwas Gewaltiges; vierhundert Musiker! das macht einen mächtigen Eindruck! Wenn der harmonische Zusammenklang von vierhundert Tönen unter dem dröhnenden Gewölbe emporhallt, dann muß, wie mir scheint, auch die Seele jedes Zuhörers, und wäre sie noch so armselig, von einer ganz ungewöhnlichen Erschütterung durchzittert werden.

Während der Fastenzeit fällt dann und wann ein Sonnenstrahl in die Petersburger Atmosphäre. Der westliche Teil, der dem Meere zugewandt ist, wird heller. Der Norden blickt von der Wiborger Seite weniger finster herüber. Immer häufiger halten die Wagen auf der Straße, und die Insassen steigen aus, um auf dem Trottoir spazierenzugehen. Seit dem Jahre 1836 ist der Newsky-Prospekt, dieser laute, ewig bewegte, emsige, vorwärtsdrängende Newsky-Prospekt ganz heruntergekommen: der Treffpunkt der vornehmen Welt ist an den Englischen Kai verlegt worden. Der verstorbene Kaiser liebte den Englischen Kai. Er ist auch wirklich wundervoll. Aber jetzt, wo der Korso dahin verlegt worden ist, habe ich erst bemerkt, daß der Kai etwas zu kurz ist. Die Spaziergänger sind trotzdem noch im Vorteil, denn die Hälfte des Newsky-Prospekts war immer von Handwerkern und Beamten besetzt, und man hatte hier die Aussicht, dreimal soviel Püffe zu bekommen, wie an irgendeinem anderen Ort.

Warum eilt nur unsere Zeit, die durch nichts zu ersetzen ist, so schnell dahin? Wer ruft sie zu sich? Was bilden doch die großen Fasten für einen ruhigen, stillen Zeitabschnitt! Was kann man in diesen sieben Wochen nicht alles vollbringen? Jetzt will ich mich endlich ernstlich an meine Arbeit machen. Jetzt werde ich endlich vollenden, was mich der Lärm und die allgemeine Unruhe nicht vollenden ließen. Aber ach, die erste Woche geht schon zu Ende! Ich habe noch nicht angefangen und schon kommt die zweite hinter ihr hergejagt, schon ist die erste Hälfte der dritten vorüber, schon kommt die vierte heran, schon beginnt der große Jahrmarkt im Gostinnij Dwor [16] , und eine ganze Galerie von jungen Weidenruten mit wächsernen Früchten und Blumen blüht unter den dunklen Hallen auf. Als ich an dieser bunten Allee, in deren Dunkel eine Menge von roh geschnitztem Kinderspielzeug aufgetürmt war, vorüberging, wurde mir recht peinlich zumute. Ich ärgerte mich über die rotwangigen Kinderfrauen, die sich hier in ganzen Trupps herumtrieben, über die Kinder, die ganz glücklich vor diesem Haufen eines ihnen so viel Vergnügen bereitenden Plunders stehenblieben, und über den schwarzen untersetzten Griechen mit dem großen Schnurrbart, der sich moldauischer Konditor titulierte und allerhand zweifelhafte und undefinierbare Leckereien feilbot. Die auf den Tisch ausgebreiteten Stiefelbürsten, bleiernen Äffchen, Gabeln und Messer, Honigkuchen und kleinen Spiegel widerten mich an. Die bunte Menge aber drängt sich und schiebt sich immerfort weiter, überall begegnet man demselben Ausdruck in den Zügen; mit derselben Neugierde wie im vorigen Jahr, wie vor zwei und drei und mehr Jahren, blickt man auf all die Dinge; ich aber und jeder einzelne Mensch von diesem Volk sind schon nicht mehr dieselben, es sind andere Gefühle, die es heute bewegen, nicht die, die es im vergangenen Jahr bewegten, die Gedanken sind finsterer geworden, von den Lippen strahlt uns kein so heiteres Seelenlächeln entgegen wie ehedem, und jeden Tag verliert es etwas von seiner früheren Lebhaftigkeit!

Auf der Newa gab es früh Eisgang. Ohne von den Winden beunruhigt zu werden, taute das Eis noch beinahe vor dem eigentlichen Eisgang auf und war so locker, daß es sich, während es von der Strömung fortgetragen wurde, von selbst auflöste. Bei nahezu gleicher Zeit sandte auch der Ladoga-See seine Eismassen hinunter. Die Hauptstadt war plötzlich wie verwandelt. Die Spitze des Glockenturms der Peter-Pauls-Kirche, die Festung, die Wilhelmsinsel, die Wiborger Seite und der englische Kai — alles nahm ein malerisches Aussehen an. Rauchwolken ausstoßend, kam der erste Dampfer herangeflogen! Von Wassilij Ostrow und nach ihm hin fuhren die ersten, mit Beamten, Soldaten, alten Kinderfrauen und englischen Kanzleibeamten besetzten Kähne über die Newa. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir in jüngster Zeit so ein stilles, heiteres Wetter gehabt haben. Es war am Abend vor Ostersonntag, als ich den Boulevard der Admiralität betrat und auf ihm bis zum Landungsplatz der Dampfer schritt, von dem einem zwei Jaspis-Vasen entgegenleuchten; da lag mit einem Male die Newa offen vor mir, auf der Wiborger Seite schimmerte das helle Rot des Himmels durch einen blauen Nebel hindurch, die Häuser der Petersburger Seite waren in ein beinahe violettes Licht getaucht, das ihr unschönes Äußere verhüllte, die Kirchen, über deren gewölbte Flächen der Nebel seine monotone Decke breitete, schienen wie auf einen Hintergrund von hellrosa Stoff gemalt oder aufgeklebt, und in dieser violetten und hellblauen Finsternis blitzte allein die Turmspitze der Peter-Pauls-Kirche auf und spiegelte sich im unendlichen Wasserspiegel der Newa — da schien mir’s, als sei ich gar nicht in Petersburg, sondern als wäre ich in eine andere Stadt versetzt, in der ich schon einmal gewesen war, wo ich alles kenne und wo es das gibt, was Petersburg nicht hat ... Da war auch der bekannte Ruderknecht, den ich schon mehr als ein halbes Jahr nicht gesehen hatte, er machte sich am Ufer mit seinem Kahn zu schaffen, vertraute Reden klangen an mein Ohr; und dann das Wasser und der Sommer, die es in Petersburg nicht gab.

Ich liebe den Frühling außerordentlich. Sogar hier in diesem rauhen Norden ist er meine liebste Jahreszeit. Mir scheint, kein Mensch in der ganzen Welt liebt ihn so wie ich. Mit ihm kehrt meine Jugend zu mir zurück; im Frühling ist meine Vergangenheit mehr als eine bloße Erinnerung — sie liegt vor meinem Blick und treibt mir Tränen in die Augen. Ich war durch die hellen, klaren Tage des Ostersonntags so berauscht, daß ich den großen Jahrmarkt auf dem Admiralitätsplatz gar nicht bemerkte. Nur ganz von ferne sah ich, wie eine Schaukel einen jungen Burschen, Arm in Arm mit einer Dame in elegantem Hut, hoch in die Luft trug, und an einer Ecke streifte mein Auge das große Schild einer Schaubude, auf dem ein ungeheurer roter Teufel mit einer Axt in der Hand abgebildet war. Sonst habe ich nichts mehr gesehen.

Es ist fast, als ob das Leben der Residenz mit dem Ostersonntag seinen Abschluß findet, und es scheint, als mache sich hierauf alles, was wir auf der Straße sehen, auf die Reise. Die Vorstellungen und die Bälle nach Ostern sind nichts als die Reste von denen, die vor der Fastenzeit stattfanden, oder besser gesagt — sie sind die letzten Gäste, die später aufbrechen als die anderen, am Kamin noch einige Worte wechseln, und die Hand vor den Mund legen, um ihr Gähnen zu verbergen. Die Stadt trocknet ganz aus, auch die Trottoirs sind trocken. Die Petersburger Gentlemen spazieren im bloßen Rock, jeder mit einem andern Spazierstock herum; statt der schweren Kutschen sieht man halbgedeckte Droschken und Kabrioletts über das glatte Straßenpflaster rollen. Jetzt werden auch viel weniger Bücher gelesen. Schon sieht man in den Schaufenstern statt der wollenen Strümpfe Sommermützen und Reitpeitschen ausliegen. Mit einem Wort, während des ganzen Monats April scheint ganz Petersburg im Aufbruch begriffen. Es ist so angenehm, die sitzende, seßhafte Lebensweise aufzugeben und von einem weiten Weg unter einen andern Himmel nach den grünen Hainen des Südens, nach Ländern, in denen eine neue Luft weht, zu träumen. Der hat es gut, dem am Ende einer Petersburger Straße die in die Wolken ragenden Berge des Kaukasus, die Seen der Schweiz, das mit Lorbeeren und Anemonen geschmückte Italien oder das trotz seiner Öde noch herrliche Griechenland winkt .... Aber halt ein, mein Gedanke: noch türmen sich zu meinen beiden Seiten die Häuser Petersburgs empor ....

III
Italienische Sommernächte

Erste Nacht.

S ie waren so süß und so qualvoll, diese schlaflosen Nächte. Er saß krank in seinem Lehnstuhl. Ich war bei ihm. Der Schlaf wagte es nicht, meine Lider zu berühren. Stumm und gehorsam schien er das Heiligtum unseres nächtlichen Wachseins zu achten. Es war mir so süß, neben ihm zu sitzen und ihn anzuschaun. Schon seit zwei Nächten sagten wir uns du . Wie viel näher war er mir seitdem gerückt. Er saß immer gleich sanft, still und ergeben da. Gott! wie freudig, mit welcher Heiterkeit hätte ich seine Krankheit auf mich genommen! Und wenn mein Tod ihm seine Gesundheit hätte zurückgeben können, wie bereitwillig hätte ich mich ihm in die Arme geworfen!


Heute nacht war ich nicht bei ihm. Ich hatte mich endlich entschlossen, wieder einmal zu Hause zu schlafen. Oh! wie häßlich, wie trivial war diese Nacht und mein verächtlicher Schlaf! Ich schlief schlecht, obgleich ich alle Nächte in der vergangenen Woche schlaflos verbracht hatte. Der Gedanke an ihn peinigte mich. Ich sah ihn vor mir, wie er mich flehend und vorwurfsvoll anblickte. Ich sah ihn mit den Augen der Seele. Wie ein Verbrecher eilte ich am nächsten Morgen in aller Frühe zu ihm. Er erblickte mich von seinem Bett aus und lächelte mit jenem Engelslächeln, das ihm jetzt eigen war. Er reichte mir die Hand und drückte sie liebevoll. „Verräter!“ sagte er. „Du bist mir untreu geworden.“ — „Mein Engel,“ rief ich aus, „verzeihe mir. Ich habe gefühlt, wie du gelitten. Ich habe mich die ganze Nacht gequält. Meine Ruhe war keine Ruhe. Verzeihe mir.“ Er war so gütig. Mild drückte er meine Hand. Wie war ich da für die Qualen meiner so sinnlos verbrachten Nacht belohnt! — „Mein Kopf ist mir so schwer,“ sagte er. Ich fächelte ihm mit einem Lorbeerzweig Kühlung zu. „Oh, wie kühl, wie schön das ist!“ sagte er. Seine Worte waren ... ach, wie waren diese Worte ...! Was hätte ich damals nicht dafür gegeben — auf welche irdischen Güter, diese verächtlichen, gemeinen, häßlichen Güter hätte ich damals nicht verzichtet ... nein ... oh, sprechen wir nicht davon! O du, in dessen Hände diese formlosen, schwachen Zeilen, dieser matte Ausdruck meiner Gefühle, kommen — wenn sie überhaupt in deine Hände kommen — du wirst mich verstehn. Sonst wirst du sie nie zu sehen bekommen. Du wirst verstehn, wie häßlich dieser ganze Haufen von Schätzen und Ehren, dieser tönenden Lockungen der Holzpuppen ist, die man Menschen nennt. Oh! mit welcher Freude, mit welcher Wut wollte ich alles zerstampfen und zertreten, was das mächtige Zepter des Kaisers des Nordens zu verschenken hat, wenn ich nur wüßte, daß ich damit ein Lächeln auf seinem Antlitz erkaufen könnte, das mir eine kleine Erleichterung ankündigt.

„Warum hast du mir einen so schlimmen Mai gebracht?“ sagte er, als er erwachte; er saß im Lehnstuhl, er hörte den Wind, der hinter den Fensterscheiben brauste, die süßen Wohlgerüche wilder Jasminblüten und weißer Akazien mit sich führte und sie mit den Rosenblättern durch die Luft trug.


Um 10 Uhr ging ich zu ihm hinunter. Ich hatte ihn vor drei Stunden verlassen, um selbst etwas auszuruhn und etwas zurechtzumachen, um ihm eine kleine Abwechslung zu verschaffen, damit mein Erscheinen ihm später mehr Freude bereite. Ich kam um 10 Uhr zu ihm hinunter. Er saß schon über eine Stunde allein. Die Gäste, die bei ihm gewesen waren, hatten ihn längst verlassen. Er saß allein. Die Qual der Einsamkeit war auf seinem Gesicht zu lesen. Als er mich erblickte, winkte er leicht mit der Hand. „O du mein Retter,“ sagte er. Noch heute klingen mir diese Worte im Ohre. „O du mein Engel, du hast dich gelangweilt?“ „Oh! wie habe ich mich gelangweilt!“ antwortete er. Ich küßte ihn auf die Schulter. Er reichte mir seine Wange. Wir küßten uns; er drückte noch immer meine Hand.

Achte Nacht.

Er lag nicht gern im Bett und legte sich fast nie nieder. Er zog seinen Lehnstuhl und die sitzende Stellung vor. Aber in dieser Nacht sagte ihm der Arzt, er müsse sich ausruhn. Mißmutig stand er auf, stützte sich auf meine Schulter und ging zu seinem Bett. Mein liebes Herz! Sein müder Blick, sein bunter warmer Rock, sein langsamer Schritt, ich sehe das alles noch, es steht mir vor Augen. Er lehnte sich an meine Schulter und flüsterte mir ins Ohr, indem er einen Blick auf das Bett warf: „Jetzt bin ich verlassen.“ — „Wir wollen nur eine halbe Stunde im Bett bleiben,“ sagte ich ihm, „dann setzen wir uns wieder in deinen Stuhl!“ Ich blickte auf dich, du liebe, zarte Blüte! Die ganze Zeit, während du im Bett oder im Lehnstuhl schliefst oder nur schlummertest, folgte ich jeder deiner Bewegungen, bei jedem Blick aus deinen Augen wie durch eine unerklärliche Gewalt an dich gebannt.

Wie seltsam neu war mir damals mein Leben, und doch war mir’s, als sei das alles nur eine Wiederholung von etwas Fernem, längst Dagewesenem! Aber mir scheint, es ist schwer, eine Vorstellung davon zu geben, mir war’s, als kehre ein flüchtiger, neuer Abschnitt meiner Jugend zu mir zurück, einer Zeit, wo die junge Seele nach Freundschaft und Verbrüderung mit ihren jungen Altersgenossen dürstet, nach einer wahrhaft jugendlichen Freundschaft voller lieber, beinahe kindlicher Kleinigkeiten und gegenseitiger Beweise einer zärtlichen Anhänglichkeit; wo es so süß ist, einander Aug’ in Auge zu schauen, wo man häufig sogar zu dem überflüssigsten Opfer bereit ist. Alle diese süßen, jungen, frischen Gefühle — die, ach, nur die Bewohner einer unwiederbringlich verlorenen Welt sind — alle diese Gefühle kehrten zu mir zurück. Mein Gott, warum nur? Ich blickte auf dich, meine liebe, junge Blüte! Wehte mich darum dieser liebliche Duft der Jugend so plötzlich an, um mich dann mit einemmal in eine noch größere, tödliche Erstarrung der Gefühle zu stürzen, und um mich plötzlich um zehn Jahre älter zu machen, damit ich noch verzweifelter, noch hoffnungsloser auf mein dahinschwindendes Leben sehen sollte? So flammt ein ausgehendes Licht noch ein letztes Mal in der Luft auf und erleuchtet noch einmal zitternd die düstren Mauern, um dann für immer zu erlöschen.

Rom
Ein Fragment

Deutsch von Otto Buek

S ieh dir den Blitz an, wenn er durch kohlschwarze Wolken bricht und schier unerträglich aufleuchtet in einer wahren Flut von Licht: so sind die Augen der Albanerin Anunziata. An ihr erinnert alles an jene alten Zeiten, als der Marmor aufzuleben begann und der Meißel in der Hand des Bildhauers blitzte. Ein schwerer Zopf dichter, pechschwarzer Haare schlang sich in zwei Ringen hoch um das Haupt, um in vier langen Locken auf den Hals herabzufallen. Wem sie den leuchtenden Schnee ihres Antlitzes zuwenden mochte — ihr Bild prägte sich jedem tief ins Herz hinein. Wandte sie jemand ihr Profil zu — so strömte ein wunderbarer Adel von ihm aus, und der schöne Schwung der Linien übertraf alles, was je eines Malers Pinsel geschaffen hat. Oder drehte sie einem den Rücken und ließ sie ihm ihren Hinterkopf mit dem herrlichen, aufwärts gekämmten Haar, den leuchtenden Hals und die überirdische, nie gesehene Schönheit ihrer Schultern sehen — so wirkte sie auch da wie ein Wunder. Aber am herrlichsten war sie, wenn sie ihre Augen auf jemand richtete, ihn ansah und kalte Schauer in sein Herz goß. Hell wie Erz tönte ihre volle Stimme. Kein geschmeidiger Panther hätte es an Kraft, Stolz und Schnelligkeit der Bewegungen mit ihr aufnehmen können. In jedem Teile ihres herrlichen Körpers erschien sie wie die Krone der Schöpfung, von den Schultern bis hinab zu dem lebenatmenden Fuß von antiker Bildung — ja bis zur letzten Zehe dieses Fußes. Wohin sie gehen mochte — stets ließ sie ein Bild vor dem Auge erstehen: wenn sie abends mit der getriebenen Bronzevase auf dem Haupte zum Brunnen eilte, so schien sich die ganze Umwelt mit einer wunderbaren Harmonie zu erfüllen: die herrlichen Linien des Albanergebirges verloren sich sanfter in der Ferne, blauer als sonst erschien die Tiefe des römischen Himmels, schlanker strebte die Zypresse zur Höhe, und der schönste unter den Bäumen des Südens, die römische Pinie, hob sich mit ihrer schirmartigen, wie in der Luft schwebenden Spitze zarter und reiner vom Himmel ab. Und alles, der Brunnen, wo auf den Marmorstufen die Albanermädchen, eine größer und schlanker als die andre, in Haufen beieinander standen und mit ihren kräftigen, silbernen Stimmen durcheinanderschwatzten, während in klingendem, diamantenem Strahl das Wasser emporsprang und nacheinander die untergehaltenen kupfernen Krüge füllte, — der Brunnen, die Mädchengruppen, — alles schien allein um ihretwillen da zu sein, um ihre sieghafte Schönheit noch heller erstrahlen, um erkennen zu lassen, daß sie über alles herrscht und gebietet, wie eine Königin über ihr Hofgesinde. Oder, wenn an einem Feiertage die dunkle Baumgalerie, die von Albano nach Castel Gandolfo führt, voll festlich gekleideter Menschen ist, wenn unter ihrer dunklen Wölbung die Minenti stutzerhaft in Sammetkleidern mit leuchtenden Gürteln und einer goldfarbenen Blume an ihrem Kastorhut einherspazieren, wenn zahlreiche Esel mit halbgeschlossenen Augen schlanke, kräftige Albanerinnen und Frascatanerinnen in malerischer Haltung mit weithin schimmerndem, weißem Kopfputz im Schritt oder im Galopp vorübertragen, oder mühsam, fortwährend stolpernd und so gar nicht malerisch mit einem langen, unbeweglichen, in einen erbsgrauen, undurchdringlichen Mantel gehüllten Engländer vorüberziehen, der aus Furcht, seine Füße könnten die Erde berühren, mit spitzwinklig emporgezogenen Beinen dasitzt, oder mit einem Künstler in einer schlichten Bluse, einem an einem Riemen befestigten Holzkasten und einem kecken Van-Dyk-Bärtchen vorbeitraben, während Schatten und Sonnenlicht abwechselnd über die ganze Gruppe huschen — selbst dann, d. h. selbst an solch einem Feiertage ist es einem weit wohler zumute, wenn sie da ist, als wenn sie fehlt. Die Passage läßt sie strahlend und ganz in Licht gehüllt aus ihrer finstern, dunklen Tiefe heraustreten. Der Purpurstoff ihres albanischen Kleides flammt wie Gold, das ein Sonnenstrahl berührt hat. Eine wundersame Feiertagsstimmung leuchtet einem jeden von ihrem Anlitz entgegen, und wer ihr begegnet, bleibt wie angewurzelt stehen: der stutzerhafte Minenti mit der Blume am Hut stößt einen Schrei der Überraschung aus, das Gesicht des Engländers im erbsgrauen Mantel verwandelt sich in ein Fragezeichen, und der Künstler mit dem Van-Dyk-Bärtchen ...; doch dieser bleibt viel länger auf einem Flecke stehen, als alle andern, wie wenn er sich dächte: ja, das wäre ein herrliches Modell für eine Diana, eine stolze Juno, eine verführerische Grazie wie überhaupt für jede Frau, die jemals auf einer Leinwand dargestellt ward! Und er fügt wohl in Gedanken kühn hinzu: ja, das wäre ein Paradies, wenn ein solches Wunder mein bescheidenes Atelier für immer schmücken könnte.

Wer aber ist er , dessen Blick sich so viel leidenschaftlicher und wie gebannt an ihre Spuren heftet! Wer ist er, der jedes ihrer Worte, jede ihrer Bewegungen und Gedankenregungen so aufmerksam auf ihrem Gesichte verfolgt. Ein fünfundzwanzigjähriger Jüngling, ein römischer Fürst, der Nachkomme einer Familie, die einst die Ehre, den Stolz und die Schmach des Mittelalters bildete und die nun in einem wunderbaren alten Schloß auf ihr nahes Ende wartete. Dieses mit Fresken von Guercin und Caracci gezierte Schloß beherbergte eine Bildergalerie voll nachgedunkelter Gemälde, verblichener Stoffe, lazurblauer Tische und wurde von einem Maestro di casa verwaltet, der selbst grau wie ein Falke war.

Vor kurzem erst hatten ihn die römischen Straßen erblickt: diese schwarzen Augen, die hinter dem über die Schulter geworfenen Mantel Blitze hervorschleuderten, diese Nase von antiker Kontur, das Elfenbein seiner Stirn und die auf sie herabfallende wehende Locke seidenen Haares. Nach fünfzehnjähriger Abwesenheit war er wieder in Rom aufgetaucht; nun ein stolzer Jüngling, er, der noch vor kurzem ein Kind gewesen war.

Aber der Leser muß unbedingt erfahren, wie das alles geschah, und daher wollen wir schnell die Geschichte dieses jungen, aber an starken Eindrücken schon so reichen Lebens an uns vorüberziehen lassen. Seine frühste Jugend hatte der Fürst in Rom verlebt; er erhielt eine Erziehung, wie sie bei den hohen römischen Würdenträgern, deren Leben sich seinem Ende entgegenneigt, üblich ist. Ein Abbé vertrat bei ihm die Stelle des Lehrers, Aufsehers, Gouverneurs usw.; dieser war ein strenger Klassiker, ein Verehrer der Briefe Pietro Bembos, der Werke des Giovanni della Casa und einiger fünf oder sechs Gesänge Dantes, die er beim Lesen stets mit lebhaften Ausrufen wie: „ Dio che cosa divina! “ begleitete, um nach ein paar Zeilen gleich wieder hinzuzufügen: „ Diavolo che divina cosa! “ Darin bestand das ganze künstlerische Werturteil und die ganze Kritik der von ihm so bewunderten Werke — im übrigen aber sprach er nur über Broccoli und Artischocken, — dies war sein Lieblingsthema, und er wußte ganz genau, zu welcher Jahreszeit das Kalbfleisch am besten sei und in welchem Monat man damit beginnen könne, junges Ziegenfleisch zu essen; über all diese Gegenstände unterhielt er sich am liebsten auf der Straße, wo er gewöhnlich einen andern Abbé zu treffen pflegte; er trug schwarze seidene Strümpfe, in die er zuvor ein Paar wollene hineinstopfte, wodurch er seine dicken Waden geschickt zur Geltung zu bringen wußte, nahm regelmäßig einmal im Monat eine Portion Olio di ricino in einer Tasse Kaffee als Purgiermittel ein und wurde, wie alle Abbés, mit jedem Tag und jeder Stunde wohlbeleibter. Es ist begreiflich, daß sich der junge Fürst bei einer solchen Erziehung kein großes Wissen aneignete. Er erfuhr nur, daß die lateinische Sprache die Mutter der italienischen sei, daß es drei Arten von Monsignori gibt: solche in schwarzen Strümpfen, solche in violetten Strümpfen und endlich solche, die beinahe so viel bedeuten, wie ein Kardinal; er lernte einige Briefe Pietro Bembos — meist Glückwunschschreiben an die zu jener Zeit lebenden Kardinäle — kennen, machte nähere Bekanntschaft mit der Corsostraße, wo er häufig mit dem Abbé spazierenging, sowie ferner mit der Villa Borghese und mit zwei bis drei Läden, vor denen der Abbé haltzumachen pflegte, um sich Papier, Federn und Schnupftabak zu kaufen, und endlich noch mit der Apotheke, wo jener sein Olio di ricino bezog. Das war der ganze Horizont, der das Wissen des Zöglings umschloß. Von den anderen Ländern und Staaten hatte der Abbé nur in ganz unklaren und unsicheren Andeutungen gesprochen: er hatte erwähnt, daß es ein sehr reiches Land, Frankreich, gäbe, daß die Engländer gute Kaufleute seien und eine große Vorliebe für das Reisen hätten, daß die Deutschen — sehr viel tränken und daß im Norden ein barbarisches Land Moscovien liege, in dem eine furchtbare Kälte herrsche, bei der ein menschliches Gehirn leicht in die Brüche gehen könne. Wahrscheinlich hätte der Zögling bis zu seinem fünfundzwanzigsten Jahre kaum noch etwas über diese Tatsachen hinaus erfahren, wenn es dem alten Fürsten nicht plötzlich eingefallen wäre, die alte Erziehungsmethode fallen und dem Sohne eine europäische Bildung geben zu lassen, was wohl zum Teil dem Einfluß einer französischen Dame zuzuschreiben war, auf die der Fürst seit einiger Zeit überall — im Theater wie auf Spaziergängen — beständig seine Lorgnette richtete, wobei er alle Augenblicke sein Kinn in sein ungeheures weißes Jabot versenkte und sich eine schwarze Locke auf seiner Perücke zurechtstrich. So wurde denn der junge Fürst nach Lucca geschickt, um hier die Universität zu beziehen. Dort entfaltete sich während eines sechsjährigen Aufenthaltes seine lebhafte italienische Natur, die unter der langweiligen Aufsicht des Abbés nur geschlummert hatte: Es zeigte sich, daß der Jüngling eine nach erlesenen Genüssen dürstende Seele und eine starke Beobachtungsgabe besaß. Die italienische Universität, wo die Wissenschaft unter der harten Hülle trockener, scholastischer Formen dahinvegetierte, befriedigte die jüngere Generation nicht mehr, an deren Ohr schon die Kunde von dem lebendigen Geiste gedrungen war, die hie und da über die Alpen kam. Der Einfluß Frankreichs machte sich bereits in Oberitalien bemerkbar: er wurde zugleich mit allerhand neuen Moden, Vignetten, Vaudevilles und gekünstelten Produkten der zügellosen, ungeheuerlichen und leidenschaftlichen französischen Muse, die aber dennoch Spuren eines starken Talentes erkennen läßt, hierher getragen. Die starke politische Bewegung, die sich seit der Julirevolution in den Zeitschriften bemerkbar machte, fand auch hier ihr Echo. Man träumte von der Wiederherstellung der entschwundenen ruhmvollen italienischen Vergangenheit und blickte voller Empörung auf die verhaßte weiße Uniform der österreichischen Soldaten. Aber die zu ruhigen Genüssen reizende italienische Natur machte sich nicht Luft in einem Aufstand, zu dem sich der Franzose ohne lange Bedenken entschlossen hätte: all diese Gefühle strömten nur in dem einen unbestimmten Wunsch zusammen, das wahre Europa jenseits der Alpen kennen zu lernen. Die ewige Bewegung, die es durchflutete, und sein heller Glanz erschienen in lockender Ferne. Dort war alles neu, stand alles im Gegensatz zu dem ehrwürdigen Alter Italiens, dort hatte das XIX. Jahrhundert und das wahre europäische Leben begonnen. Ein heißes Sehnen riß die Seele des jungen Fürsten dorthin; er träumte von hellem Licht und Abenteuern, und jedesmal umwölkte ein drückendes Gefühl der Wehmut seinen Geist, wenn er der Unmöglichkeit inne wurde, seinen Wunsch erfüllt zu sehen: er kannte den unbeugsamen, despotischen Willen des alten Fürsten, und er fühlte sich außerstande, es mit ihm aufzunehmen — da erhielt er plötzlich einen Brief von dem Fürsten, in dem dieser ihm befahl, nach Paris zu reisen, seine Studien in der dortigen Universität zu beendigen und nur in Lucca die Ankunft eines Onkels abzuwarten, um sich mit diesem zusammen auf die Reise zu begeben. Der junge Fürst sprang vor Glück in die Höhe, küßte seine sämtlichen Freunde ab, gab ihnen in einer Osterie, die in der Umgegend der Stadt lag, ein Festmahl und war zwei Wochen später bereits unterwegs mit einem Herzen, das jedem Gegenstand mit frohem Pochen entgegenschlug. Als man den Simplon passiert hatte, leuchtete ein freudiger Gedanke in seinem Kopfe auf; er befand sich auf der andern Seite der Alpen: er war in Europa. Die wilde Unform der Schweizer Alpen, die sich ohne weite Perspektiven und ohne jene weich in der Ferne verlaufenden Tiefen in die Höhe türmten, erschreckte zunächst seinen an die hohe Ruhe und an die heitere wollüstige Schönheit der italienischen Natur gewöhnten Blick. Aber er erheiterte sich mit einem Schlage beim Anblick der europäischen Städte, der prachtvollen hellen Gasthöfe und des Komforts, der jeden Reisenden erwartete, so daß er sich’s bequem machen konnte, wie wenn er zu Hause wäre. Diese kokette Sauberkeit und dieser Glanz — das war ihm alles neu. In den deutschen Städten fühlte er sich ein wenig überrascht durch den etwas seltsamen Körperbau der Deutschen und den Mangel an Grazie, Harmonie und Schönheit, für die der Italiener ein angeborenes Gefühl im Busen trägt; auch die deutsche Sprache machte einen unangenehmen Eindruck auf sein musikalisches Ohr, aber nun lag die französische Grenze vor ihm, und sein Herz erbebte. Die leichten, hüpfenden Laute einer modernen europäischen Sprache trafen zärtlich kosend sein Ohr, und mit Wonne suchte er ihr sanft gleitendes Geräusch aufzufangen; schon in Italien waren ihm diese Laute als etwas Hohes erschienen, befreit von allen krampfhaften Bewegungen, wie sie den starken Sprachen aller Völker der gemäßigten Zone eigen sind, die sich noch nicht gewöhnt haben, sich in maßvollen Grenzen zu halten. Einen noch größeren Eindruck aber machten auf ihn die Frauen, diese seltsamen, leicht dahinschwebenden Geschöpfe. Er war überrascht über diese flüchtigen Wesen mit den kaum hervortretenden zarten Formen, den kleinen Füßen, dem feinen ätherischen Gliederbau, dem Feuer der Augen, das Hingabe und Sympathie ausströmte, und ihrem leichten, kaum über Andeutungen hinausgehenden Geplauder. Voller Ungeduld erwartete er die Ankunft in Paris, das er in seiner Einbildung mit Türmen und Palästen ausschmückte; er machte sich ein eigenes Phantasiebild von dieser Stadt, und mit pochendem Herzen gewahrte er endlich die ersten Anzeichen der Nähe der Hauptstadt: Plakate an den Mauern, Buchstaben von ungeheurer Größe, immer zahlreicher werdende Omnibusse und Diligencen, — und nun erschienen die ersten Häuser der Vorstadt. Doch jetzt war er in Paris und fühlte sich dunkel von der ungeheueren Außenseite der Stadt umfangen; Staunen erfaßte ihn, als er die Bewegung und all den Glanz in den Straßen erblickte, dies wirre Durcheinander der Dächer, den Wald der Schornsteine, die dichten stillosen Häusermassen mit den eng beieinanderstehenden bunten Läden, die häßlichen nackten, zusammenhangslosen Fassaden, diese zahllose bunte Menge goldener Buchstaben, die alle Wände bedeckten, bis auf die Dächer und sogar auf die Schornsteine emporkletterten, die hellen unteren Stockwerke, die aus lauter Spiegelgläsern bestanden, und in die man bequem hineinsehen konnte. Dies also war Paris, dieser ewig kochende Krater, dieser Springbrunnen, der eine wahre Funkengarbe von Neuigkeiten, von Aufklärung, Moden, erlesenem Geschmack und winzigen, aber mächtigen Gesetzen ausspie, denen sich selbst die Tadler nicht zu entziehen vermochten: diese große Ausstellung aller Erzeugnisse der Kunst, höchster Meisterschaft und aller Talente, die sich in den unbedeutendsten Winkeln Europas verbergen, die drängende Sehnsucht und der schönste Traum eines Zwanzigjährigen, diese Wechselstube und dieser Jahrmarkt Europas. Ganz betäubt und unfähig, sich zu sammeln, streifte er durch die Straßen, die von allerlei Volk wimmelten und von zahlreichen Rinnen, die die Räder vorüberrollender Omnibusse hinterließen, durchfurcht waren, bald gefesselt durch den Anblick eines Cafés und seiner wunderbaren, geradezu königlichen Ausstattung, bald wieder überrascht durch die berühmten gedeckten Passagen, wo ihn das dumpfe Geräusch von einigen tausend Fußgängern betäubte, meist jungen Leuten, die sich wie eine kompakte Masse vorwärts bewegten, und völlig geblendet von dem flimmernden Glanz der Kaufläden, die von oben her durch ein auf das Glasdach der Galerie fallendes Licht erleuchtet wurden. Zuweilen auch blieb er vor einem der vielen Plakate stehen, die in Millionen Exemplaren und dicht nebeneinanderhängend, das Auge durch ihre Buntheit beunruhigten: das waren laute Ankündigungen von etwa vierundzwanzig Vorstellungen, die hier täglich stattfanden, und einer schier unendlichen Anzahl aller möglichen Konzerte; und als nun endlich dies ganze märchenhafte Durcheinander gegen Abend bei der zauberischen Gasbeleuchtung aufflammte — als alle Häuser plötzlich gleichsam durchsichtig wurden und von unten herauf lebhaft zu leuchten begannen, da geriet er vollends in Verwirrung: die Fenster und die Gläser der Magazine schienen ganz verschwunden, ja überhaupt nicht mehr vorhanden zu sein, und das ganze Innere schien unbewacht unmittelbar an der Straße zu liegen, einen flimmernden Glanz um sich zu verbreiten und sich tief innen in den Gläsern zu spiegeln. Ma quest’ è una cosa divina! wiederholte der lebhafte Italiener fortwährend.

Sein Leben floß schnell dahin, wie das Leben vieler Pariser und das der zahlreichen jungen Ausländer, die nach Paris kommen. Bereits um neun Uhr befand er sich, kaum, daß er aus dem Bett gesprungen war, in einem prachtvollen Café mit modernen Fresken unter Glas und einer von Gold strotzenden Decke. Auf den Tischen lagen ganze Stöße von Zeitungen und Zeitschriften gewaltigen Formats, und ein Kellner von vornehmem Äußern schritt mit einer wundervollen Kaffeekanne in der Hand an den Gästen vorbei. Hier trank er mit der Genußsucht eines Sybariten aus einer ungeheuren Tasse den fetten Kaffee, lehnte sich wohlig in das weiche elastische Sofa zurück und dachte an die niedrigen, dunklen italienischen Cafés mit ihren unsauberen Bottegas und ihren schmutzigen, ungewaschenen Gläsern. Dann vertiefte er sich in die Lektüre der ungeheuren Zeitungen und gedachte der schwindsüchtigen kleinen Zeitschriften Italiens, des „Diario di Roma“, des „Il Pirato“ und ähnlicher, in denen nichts wie harmlose politische Nachrichten und womöglich Anekdoten über die Thermopylen und den Perserkönig Darius zu lesen waren. Hier dagegen spürte man überall die glühende Leidenschaft, die dem Schriftsteller die Feder geführt hatte. Hier überstürzten sich die Fragen förmlich, jede Erwiderung rief eine neue hervor — hier schien sich ein jeder nach Kräften durchzusetzen, sich recht breit zu machen und großzutun: irgendeiner drohte mit einer baldigen politischen Umwälzung und verkündigte einen Zusammenbruch des Staates, jede kaum merkliche Bewegung in der Kammer und im Ministerium, jede ihrer Aktionen wuchs sich zu einer gewaltigen, machtvollen Bewegung der hartnäckigen Parteien aus und hallte als lautes, wütendes Geschrei aus den Journalen wider. Ja, der Italiener verspürte etwas wie Furcht, wenn er dies las und daran dachte, daß vielleicht schon morgen die Revolution ausbrechen könnte; wie von einem Dunst umnebelt verließ er das Lesezimmer, und erst die Straßen von Paris vermochten es, den ganzen Ballast in einem Augenblick aus seinem Kopfe zu vertreiben. Dieser über alle Gegenstände dahinhüpfende Glanz, diese bunte Bewegung erschienen ihm nach der schweren Lektüre fast wie zarte Blumen, die sich an dem Rande eines Abgrundes angesiedelt hatten. Mit einem Schlage befand er sich wieder ganz auf der Straße und war bald gleich allen andern in jeder Hinsicht ein müßiger Flaneur. Er sah sich die fröhlichen, graziösen Verkäuferinnen an, die gleich kaum erblühten Knospen im ersten Lenz der Jugend prangten, und die alle Pariser Kaufläden anfüllten, als wenn die rauhe Gestalt des Mannes etwas Anstößiges an sich hätte und hinter den großen Fensterscheiben wie ein schwarzer Fleck erschienen wäre. Er sah, wie die bis zur Koketterie schmalen, mit den feinsten Seifen gewaschenen Händchen ihm lockend entgegenglänzten, wie sie damit beschäftigt waren, das Konfektpapier zu falten, während die Augen hell und unverwandt auf die Vorübergehenden gerichtet waren; er sah, wie sich an einer andern Stelle ein blondes, lieblich geneigtes Köpfchen, die langen Wimpern tief in die Seiten eines Moderomans versenkt, am Fenster abzeichnete, und wie die Schöne gar nicht bemerkte, daß bereits ein ganzer Haufen junger Leute vor ihr stand, ihren schneeweißen Hals, ja, jedes Härchen auf dem Kopfe betrachtete, und selbst das leise Wogen des Busens belauschte, das die Lektüre begleitete. Er blieb auch vor einem Bücherladen stehen, wo ihm seltsame Buchstaben gleich Hieroglyphen entgegenblickten, oder wo sich dunkle Vignetten gleich schwarzen Spinnen von dem dicken glänzenden Papier abhoben, Vignetten, die meist mit einem solchen Schwung und einer solchen Leidenschaft hingeworfen waren, daß es oft ganz unmöglich war, herauszubekommen, was sie eigentlich darstellten. Oder er sah sich eine Maschine an, die für sich allein einen ganzen Laden ausfüllte und die hinter der großen Spiegelscheibe in voller Tätigkeit war, indem sie eine ungeheure Walze, die Schokolade zerrieb, hin und her wälzte. Er blickte auch in die Läden hinein, vor denen die Pariser Krokodile, die Hände in den Taschen und mit offenem Munde, stundenlang herumstehen: da sah man wohl einen gewaltigen roten Hummer aus dem grünen Gemüse hervorgucken, oder eine getrüffelte Pute mit der lakonischen Überschrift „300 Frank“ thronen, oder gelbe und rote Fische mit goldigen Flossen und Schwänzen in Glasvasen herumschwimmen. Oder er schlenderte auf den breiten Boulevards herum, die das ganze enge winklige Paris majestätisch durchquerten; da sah man, wie sich mitten in der Stadt gewaltige Bäume bis zur Höhe eines sechsstöckigen Hauses emporreckten, und wie sich Scharen von Fremden und ein Haufen urwüchsiger Pariser Löwen und Tiger, die in den Novellen und Erzählungen nicht immer richtig dargestellt sind, auf dem Asphalttrottoir drängten. Und wenn er genug herumflaniert und des Schauens satt war, dann begab er sich in ein Restaurant, wo die mit Spiegelscheiben ausgeschlagenen Wände längst im Glanze des Gaslichts erstrahlten und unzählige Gruppen von Damen und Herren widerspiegelten, die hinter den kleinen im Saale verstreuten Tischen saßen und sich geräuschvoll unterhielten. Nach dem Diner eilte er sogleich ins Theater, wobei ihm nur die Wahl schwer wurde, für welches er sich entscheiden sollte: denn jedes hatte seine eigene Berühmtheit, jedes seinen hervorragenden Autor, jedes seine besonderen Schauspiele. Überall wurden Novitäten aufgeführt. Dort gab es ein glänzendes Vaudeville, lebensprühend, oberflächlich und jeden Tag neu, wie der Franzose selbst, ein Stück, das vielleicht in drei müßigen Minuten entstanden war, und beim Publikum, dank der unerschöpflichen Laune des Schauspielers, von Anfang bis zu Ende unaufhörliche Lachstürme entfesselte. Dort wieder gab man ein Drama voller Glut und Leidenschaft. — Und unwillkürlich verglich er die trockene, dürftige Schaubühne Italiens, wo der alte Goldoni, den schon alle auswendig konnten, unaufhörlich wiederholt, oder allerhand neue Komödien aufgeführt wurden, deren Harmlosigkeit und Naivität selbst ein Kind hätten langweilen müssen — unwillkürlich verglich er jene mageren Erzeugnisse mit dieser lebendigen, hastigen dramatischen Flut, wo das Eisen geschmiedet wurde, solange es noch heiß, und wo jedermann besorgt war, seine Novität könne vorzeitig kalt werden. Wenn er sich dann gründlich ausgelacht, aufgeregt und satt gesehen hatte, kehrte er müde und ganz überwältigt von all den Eindrücken nach Hause zurück und sank ins Bett, den einzigen Gegenstand, den der Franzose bekanntlich in seiner Stube nicht entbehren kann. Wenn er ein Arbeitszimmer, ein Mittagessen und des Abends einen beleuchteten Raum braucht, dann sucht er ein öffentliches Gebäude auf. Aber der Fürst unterließ es trotzdem nicht, mit diesem abwechslungsreichen Müßiggang auch die geistige Betätigung zu verbinden, nach der seine Seele voller Ungeduld dürstete. Er besuchte auch die Vorlesungen sämtlicher berühmter Professoren. Das lebendige, oftmals Begeisterung ausströmende Wort, die neuen Gesichtspunkte und die neuen Seiten, die der redegewandte Professor den Dingen abzugewinnen wußte, hatten für den jungen Italiener etwas Überraschendes. Er fühlte plötzlich, wie eine Hülle von seinen Augen sank, wie die Gegenstände, die er früher kaum bemerkt hatte, nun plötzlich in einem neuen, hellen Lichte erstrahlten, und wie der alte Plunder von allerhand Kenntnissen, die er sich bisher angeeignet hatte und die bei der übergroßen Zahl der jungen Leute gewöhnlich wieder spurlos in Vergessenheit geraten, da es ihnen an Gelegenheit zur Anwendung fehlt, plötzlich lebendig zu werden begann und nun, mit neuem Auge angesehen, sich für immer in seinem Gedächtnis befestigte. Er unterließ es auch nicht, sich alle berühmten Prediger, Publizisten und Redner, die Diskussionen in der Kammer und überhaupt alles anzuhören, was den Ruhm von Paris bildet und in Europa laut von sich reden macht. Und trotzdem es ihm häufig an den Mitteln fehlte, da er vom alten Fürsten nur einen geringen Wechsel erhielt, wie er wohl einem Studenten, aber keinem Fürsten angemessen ist, fand er dennoch Gelegenheit, sich alles anzusehen, sich Zutritt bei allen Zelebritäten zu verschaffen, deren Ruhm die europäischen Blätter beständig ausposaunen, indem eins das andre wiederholt, ja, er lernte sogar die Modeschriftsteller persönlich kennen, deren seltsame Schöpfungen, wie die vieler andrer, einen so starken Eindruck auf seine junge leidenschaftliche Seele gemacht hatten, und in denen alle Welt eine bisher noch nie angeschlagene Saite und bislang noch von niemand erfaßte Regungen der Leidenschaften zu vernehmen glaubte. Mit einem Wort, das Leben des jungen Italieners nahm eine große, vielgestaltige Wendung und ward von dem mächtigen Glanze europäischen Lebens umstrahlt. Welche Unzahl von Eindrücken an einem einzigen Tage: sorgloser Müßiggang und ein unruhiges Erwachen, eine leichte Beschäftigung der Augen und eine angestrengte Arbeit des Geistes, ein Vaudeville im Theater, eine Predigt in der Kirche, der politische Wirbel in den Zeitschriften und in der Kammer, das Händeklatschen in den Auditorien, der erschütternde Donner des Konservatoriumsorchesters, der ätherische Glanz der tanzenden Bühne, der laute Lärm auf den Straßen — welch ein mächtig flutendes Leben für einen fünfundzwanzigjährigen Jüngling! Es gibt keinen herrlicheren Punkt als Paris, und für nichts in der Welt hätte er ein solches Leben hingegeben. Wie angenehm und lustig ist’s doch, mitten im Herzen Europas zu leben, wo man immer höher emporsteigt, während man vorwärtsschreitet, wo man fühlt, daß man ein Glied der großen universellen Gemeinschaft ist. Ja mitunter kam ihm sogar der Gedanke, Italien gänzlich Valet zu sagen und sich für immer in Paris niederzulassen. Italien erschien ihm jetzt wie ein finsterer, mit Schimmel bedeckter Winkel Europas, wo alles Leben und jede Bewegung erstorben war.

So entflohen vier heiße Jahre seines Lebens — vier Jahre von ungeheurer Bedeutung für einen Jüngling — doch am Schluß dieses Abschnittes erschien ihm gar manches schon nicht in demselben Lichte wie ehemals. Von vielem fühlte er sich enttäuscht. Dasselbe Paris, das unaufhörlich neue Fremde anzog, diese nie erlöschende Leidenschaft der Pariser machte auf ihn längst nicht mehr den Eindruck wie früher. Er sah, wie diese große Vielseitigkeit und Bewegtheit des Lebens verging, ohne Folgen blieb und in der Seele keinen fruchtbaren Niederschlag hinterließ. In dem Wirbel dieser ewigen siedenden Bewegung und Tätigkeit entdeckte er nun eine furchtbare Untätigkeit und ein schreckliches Vorherrschen des Wortes über die Tat. Er sah, wie jeder Franzose scheinbar nur mit dem erhitzten Kopfe arbeitete, wie diese Lektüre der mächtigen Zeitungsblätter den ganzen Tag in Anspruch nahm und keine Stunde für das praktische Leben übrigließ, wie jeder Franzose in diesem seltsamen Strudel einer von Druckerschwärze beherrschten papierenen Politik erzogen wurde und ohne jede Kenntnis des Standes, dem er angehörte, ohne alle die ihm zukommenden Rechte und Lebensverhältnisse auch in der Praxis kennen gelernt zu haben, sich schon der einen oder andern Partei anschloß, sich all ihre Interessen feurig und leidenschaftlich zu Herzen nahm, und seinen Gegnern heftig entgegentrat, ohne seine Interessen, noch seine Gegner von Angesicht zu kennen — und das Wort Politik fing schließlich an, unserem Italiener lebhaften Ekel zu erregen.

In den Bewegungen des Geistes, des Handels ... überall und in allem glaubte er nur gewaltsame Anstrengungen und ein ewiges Streben nach neuen Sensationen zu entdecken. Der eine suchte aus allen Kräften dem andern, wenn auch nur für einen Moment, den Rang abzulaufen. Der Kaufmann verwandte sein ganzes Kapital auf die Ausstattung seines Ladens, um die Menge durch seinen Glanz und seine Pracht anzulocken. Der Buchhandel nahm seine Zuflucht zu allerhand Bildern und Illustrationen, mit denen die Bücher ausgestattet wurden, sowie zu einem luxuriösen Buchschmuck, um hierdurch die erkaltende Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken: In ihren Romanen und Novellen suchten die Schriftsteller den Leser durch die Seltsamkeit unerhörter Leidenschaften und durch Darstellung häßlicher Ausgeburten der menschlichen Natur zu fesseln. Alles schien sich einem frech und ohne Aufforderung von selbst anzubieten und aufzudrängen, wie eine Dirne, die die Männer nachts auf der Straße einzufangen sucht; alles streckte in wildem Wetteifer seine Hand möglichst weit aus, wie ein drängender Haufe zudringlicher Bettler. Selbst in der Wissenschaft und in den so durchgeistigten Vorlesungen, deren Wert er unbedingt anerkennen mußte, glaubte er die Absicht herauszufühlen, Vorzüge ans Licht zu stellen, mit ihnen zu prahlen und sich selbst in Szene zu setzen: überall gab es glänzende Episoden, aber dem Ganzen fehlte doch der mächtige, feierliche, erhabene Fluß. Überall das Bestreben, bisher unbeachtete Tatsachen aufzuspüren und ihnen eine ungeheure Bedeutung beizulegen, oft zum Nachteil der Einstimmigkeit und Harmonie des Ganzen, nur um sich den Ruhm einer Entdeckung zu sichern; und schließlich dieses fast durchgängige, dreiste Selbstbewußtsein, dieser völlige Mangel einer Erkenntnis unserer Unwissenheit — und unserem Italiener fiel ein Vers ein, in dem der italienische Dichter Alfieri in einer boshaften Laune den Franzosen den Vorwurf macht:

Tutto fanno, nulla sanno,

Tutto sanno, nulla fanno.

Gira volta son Francesi,

Piu gli pesi, men ti danno.

Eine trübselige Stimmung bemächtigte sich des jungen Fürsten. Vergebens versuchte er es, sich zu zerstreuen und Menschen aufzusuchen, die er achtete, aber seine italienische Natur wollte nicht mit der französischen zusammenstimmen. Er schloß zwar schnell Freundschaften, aber ein Tag genügte, um den Franzosen bis zur letzten Faser seines Wesens kennen zu lernen; am nächsten Tage gab es schon nichts mehr an ihm zu erforschen. Weiter als bis zu einer gewissen Tiefe konnte man keine Frage in seine Seele versenken, und die scharfe Klinge des Gedankens wollte nicht weiter eindringen, und doch hatte der Italiener ein viel zu tiefes Gefühl, um eine ihm völlig befriedigende Antwort bei einem leichtsinnig veranlagten Menschen finden zu können. So stieß er auf eine seltsame Leere, selbst in den Herzen derer, denen er seine Achtung nicht versagen konnte. Und er erkannte zuletzt, daß die ganze Nation, bei all ihren glänzenden Eigenschaften, ihrem edlen Streben, ihren ritterlichen Aufwallungen, dennoch blaß und unvollkommen blieb: ein leichtes Vaudeville, daß sie selbst geschaffen hatte. Über ihr ruhte keine erhabene Idee von hoher Würde. Überall gab es nur Andeutungen von Gedanken, aber die eigentlichen Gedanken fehlten: überall gab es nur halbe und keine ganzen Leidenschaften, alles blieb unvollendet, flüchtig hingeworfen, mit rascher Hand skizziert; die ganze Nation war eine glänzende Vignette, und nicht das Bild eines großen Meisters.

War es nur eine melancholische Stimmung, die ihn plötzlich überfallen hatte und ihn nun alles in einem solchen Lichte sehen ließ, oder lag der Grund dazu in dem wahrhaften, frischen, inneren Gefühl der Italiener — genug, dies Paris mit all seinem Lärm und Glanz wurde ihm bald eine drückende Wüste, und unwillkürlich flüchtete er sich bis an die ödesten und entlegensten Enden der Stadt. Nur die italienische Oper besuchte er noch; nur da allein schien seine Seele auszuruhen, und die Klänge der heimatlichen Sprache wuchsen jetzt für ihn bis zu ihrer ganzen Macht und Fülle empor. Immer häufiger sah er jetzt sein ihm fast gänzlich aus dem Gedächtnis entschwundenes Italien vor sich: dort irgendwo in weiter Ferne und in einem eigentümlichen, verlockenden Lichte; sein mahnender Ruf wurde mit jedem Tage deutlicher vernehmbar, und so entschloß er sich denn am Ende, an seinen Vater zu schreiben, er möge ihm erlauben, nach Rom zurückzukehren, da er kein Bedürfnis empfände, länger in Paris zu bleiben. Zwei Monate lang blieb jede Antwort, ja sogar der gewohnte Wechsel aus, den er schon längst zu erwarten hatte. Anfänglich wartete er geduldig, da er den launischen Charakter seines Vaters kannte, endlich aber bemächtigte sich seiner eine gewisse Unruhe. Er ging jede Woche mehrmals zu seinem Bankier und erhielt doch immer nur die gleiche Antwort, daß keinerlei Nachrichten aus Rom eingetroffen seien. Schon war seine Seele der Verzweiflung nahe. Die Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts waren schon seit langer Zeit erschöpft, schon hatte er mehrfach beim Bankier eine Anleihe machen müssen, doch auch dies Geld war bereits ausgegeben, und schon lange Zeit aß, frühstückte und lebte er auf Kredit; man begann ihn bereits schief und unfreundlich anzusehen, — aber nicht einmal seine Freunde wollten das geringste von sich hören lassen. Ein Gefühl tiefer Vereinsamung überfiel ihn. Voller Erwartung und Unruhe irrte er durch diese ihm tödliche Langeweile einflößende Stadt. Jetzt im Sommer erschien sie ihm noch weit unerträglicher; die große Menge der Reisenden hatte sich in die Bäder begeben, oder befand sich in den großen europäischen Gasthöfen und unterwegs. Eine gewisse Öde und Leere warf ihre Schatten auf alles. Die Gebäude und Straßen von Paris waren unerträglich; die Gärten verschmachteten elend inmitten der Häuser, auf die die Sonne heiß herniederbrannte. Halbtot blieb er an der Seine auf einer schweren, lastenden Brücke oder am schwülen Ufer stehen, und versuchte es, sich selbst zu vergessen, oder sich durch irgendeinen Anblick zu zerstreuen; eine unendliche Langeweile verzehrte ihn, und ein unbekannter Wurm nagte an seinem Herzen. Endlich erbarmte sich das Schicksal seiner — und eines Tages überreichte ihm sein Bankier einen Brief. Er stammte von seinem Onkel, der ihm mitteilte, daß der alte Fürst nicht mehr am Leben sei, und daß er nun kommen könne, um über die Erbschaft zu verfügen; dies erfordere seine persönliche Anwesenheit, weil die Vermögensverhältnisse sich in großer Unordnung befänden. Der Brief enthielt auch noch eine magere Banknote, die gerade dazu reichte, die Reise und den vierten Teil seiner Schulden zu bezahlen. Der junge Fürst wollte keinen Augenblick länger zögern, er wußte den Bankier, wenn auch nicht ohne Mühe, dazu zu bewegen, auf die Bezahlung der Schuld zu warten, und besorgte sich einen Platz im Postwagen. Eine schwere Last schien von seiner Seele genommen zu sein, als Paris in der Ferne vor ihm versank und die frische Luft der Felder ihn anwehte. Zwei Tage darauf war er schon in Marseille; er wollte jedoch nicht eine einzige Stunde ruhen und bestieg noch am selben Abend das Dampfschiff. Er fühlte sich durch das Mittelmeer heimatlich berührt; umspülte es doch die Küsten seines Vaterlandes, und schon beim Anblick seiner unendlichen Wogen fühlte er sich erfrischt. Es ist schwer, die Empfindung zu schildern, die ihn beschlich, als er die erste italienische Stadt — das prachtvolle Genua erblickte. Doppelt so schön erschienen ihm nun die mächtig emporstrebenden bunten Glockentürme, die gestreiften Kirchen aus weißem und schwarzem Marmor und das ganze Amphitheater mit den vielen Türmen, das ihn beim Einlaufen des Dampfers plötzlich von allen Seiten umgab. Nie zuvor hatte er Genua gesehen. Diese funkelnde Buntheit der Häuser, Kirchen und Paläste inmitten dieser feinen ätherischen Luft, die in einer fast unbegreiflichen Bläue erstrahlte, — war ganz unvergleichlich. Er stieg ans Ufer und befand sich sogleich in diesen dunklen, wunderbaren, engen, mit Fliesen ausgelegten Straßen, über denen oben nur ein ganz schmaler Spalt blauen Himmels sichtbar war. Dieses dichte Nebeneinander der hohen gewaltigen Häuser, dieser Mangel jeden Wagengerassels, diese kleinen dreieckigen Plätze und dazwischen die gewundenen Linien der Straßen, die wie kleine Korridore aussehen und unzählige Läden Genuesischer Gold- und Silberschmiede beherbergen, — das alles hatte für ihn etwas Überraschendes. Die malerischen Spitzenmäntel der Frauen, die kaum merklich von dem warmen Siroccowind hin und her bewegt wurden, ihr fester Tritt, der helle Klang der Stimmen auf den Straßen, die offenstehenden Tore der Kirchen, der Weihrauchduft, den sie ausströmten — dies alles wehte ihn an wie ein Hauch aus fernen, längst vergangenen Zeiten. Es fiel ihm ein, daß er schon seit vielen Jahren nicht mehr in der Kirche gewesen war, in der Kirche, die in jenen aufgeklärten Gegenden Europas, wo er geweilt hatte, ihre hohe, reine Bedeutung eingebüßt hatte. Vorsichtig trat er ein und sank stumm neben dem prachtvollen, marmornen Säulengang auf die Knie; er betete lange, ohne selbst zu wissen, um was er bat — er dankte Gott dafür, daß Italien ihn wieder in seinen Schoß aufgenommen, daß ihn wieder ein Bedürfnis nach dem Gebet überkommen hatte, daß seine Seele so feierlich gestimmt war ..., und das war sicherlich das schönste Gebet. Mit einem Wort, er ließ Genua wie eine wundervolle Station hinter sich zurück: hier hatte er den ersten Kuß Italiens empfangen. Und mit demselben heiteren Gefühl sah er Livorno, das öde Pisa und das von ihm bisher so wenig gekannte Florenz an sich vorüberziehen. Majestätisch grüßten ihn die schwere facettierte Kuppel des florentinischen Doms, die dunklen Paläste einer königlichen Architektur und die strenge Größe der kleinen Stadt. Dann ging’s weiter über den Apennin, auch hier begleitete ihn dieselbe heitere Seelenstimmung, und als dann endlich nach einer sechstägigen Reise in klarer Ferne auf blauem Himmelsgrunde eine sich herrlich rundende Kuppel aufleuchtete — oh! wie viel Gefühle drängten sich da plötzlich in seiner Brust! Nie hatte er ähnliche gekannt, und er hätte sie auch nicht aussprechen können. Aufmerksam betrachtete er jeden Hügel und jede Erhebung. Und nun waren endlich auch der Ponte Molle und das Stadttor da, jetzt nahm ihn der schönste aller Plätze auf, die Piazza del Popolo; der Monte Pincio mit seinen Terrassen, Treppen, Statuen und den sich oben ergehenden Menschen tauchte auf! Gott! wie fing da sein Herz an zu pochen! Der Vetturino jagte über die Corsostraße dahin, auf der der Fürst einst so unschuldig und treuherzig mit dem Abbé spazierengegangen war, als er noch nichts andres wußte, als daß die lateinische Sprache die Mutter der italienischen sei. Und nun zogen auch wieder alle Häuser an ihm vorbei, an denen er jede Einzelheit auswendig kannte: der Palazzo Ruspoli mit seinem ungeheueren Café, die Piazza Colonna, der Palazzo Sciarra, der Palazzo Doria, und endlich bogen die Reisenden in die engen Gassen ein, auf die die Ausländer so schimpfen; hier lärmte es nicht und wimmelte es nicht von Menschen, und nur selten begegnete man dem Laden eines Barbiers mit ein paar gemalten Lilien über der Tür, oder dem eines Hutmachers, der einen breitkrempigen Kardinalshut vor dem Eingang aufgehängt hatte, oder endlich einem Laden mit geflochtenen Stühlen, die gleich hier am Ort und mitten auf der Straße hergestellt wurden. Endlich machte der Wagen vor einem großartigen Palais im Stil Bramantes halt. In dem kahlen, noch nicht aufgeräumten Flur ließ sich niemand sehen. Auf der Treppe wurde der Ankömmling von dem alten gebrechlichen Maestro di casa begrüßt, weil der Portier wie gewöhnlich mit seinem Stab ins Café gegangen war, wo er die größte Zeit zu verbringen pflegte. Der Alte öffnete eilig die Läden, und allmählich wurde es hell in den gewaltigen, altertümlichen Sälen. Ein trauriges Gefühl bemächtigte sich des Fürsten — ein Gefühl, das ein jeder versteht, der nach einer Abwesenheit von mehreren Jahren nach Hause zurückkehrt, wo einem alles so viel älter und verödeter vorkommt, und wo jeder Gegenstand, den wir seit unserer Kindheit kennen, eine so trübselige Sprache redet. Und je heiterer die Erinnerungen sind, die sich an ihn knüpfen, um so drückender ist das Gefühl der Wehmut, das bei seinem Anblick unser Herz ergreift. Der Fürst durchschritt die lange Flucht der Säle, betrat flüchtig das Arbeitszimmer und das Schlafzimmer, wo vor noch gar nicht langer Zeit der alte Besitzer des Schlosses auf einem Bett einzuschlafen pflegte, über dem sich ein Baldachin mit Quasten und einem Wappen erhob, und aus dem er gewöhnlich in Pantoffeln und im Schlafrock ins Arbeitszimmer trat, um ein Glas Eselsmilch zu trinken, da er gern dick werden wollte. Dann besichtigte er das Ankleidezimmer, wo der Alte sich einst mit der peinlichsten Sorgfalt einer alten Kokette geputzt hatte; pflegte er sich doch von hier aus in seinem Wagen, begleitet von seinen Lakaien zum Corso nach der Villa Borghese zu begeben, wo er seine Lorgnette unaufhörlich auf eine Engländerin richtete, die gleichfalls hier ihre Spazierfahrt machte. Auf den Tischen und in den Schubladen konnte man noch die Reste von Schminke, Puder und aller möglichen Farben finden, mit deren Hilfe sich der Greis zu verjüngen suchte. Der Maestro di casa erzählte, er habe noch zwei Wochen vor seinem Tode den festen Entschluß gefaßt, zu heiraten, und hätte sogar ausdrücklich zu diesem Zwecke eine Konsultation mit ausländischen Doktoren abgehalten, um mit diesen zu beraten, wie man wohl con onore i doveri di marito erfüllen könne, aber eines schönen Tages sei er nach einem Besuche bei einigen Kardinälen und einem Prior ganz müde nach Hause zurückgekehrt, habe sich in seinen Lehnsessel gesetzt und sei den Tod der Gerechten gestorben, obwohl sein Tod noch seliger gewesen wäre, wenn es ihm nach den Worten des Maestro di casa ein paar Minuten früher eingefallen wäre, nach seinem Beichtvater il padre Benvenuto zu schicken. Der junge Fürst hörte sich das alles zerstreut an, ohne mit seinen Gedanken bei der Sache zu sein. Nachdem er sich von der Reise und den seltsamen Eindrücken erholt hatte, machte er sich daran, seine Angelegenheiten zu ordnen. Er war erschrocken über die Verwirrung, die hier herrschte. Alles, vom Kleinsten bis zum Größten, befand sich in einem geradezu unmöglichen Durcheinander. Vier nie enden wollende Prozesse wegen ein paar verfallener Schlösser und Güter in Ferrara und Neapel, alle Einnahmen schon auf drei Jahre im voraus völlig erschöpft; Schulden und tiefste Armut inmitten von höchstem Prunk und Luxus — das war das Bild, das sich den Augen des Fürsten darbot. Der alte Fürst war eine unbegreifliche Mischung von Geiz und Verschwendung gewesen. Er hielt sich ein großes Personal von Bedienten, die er nicht bezahlte, die nichts außer ihrer Livree erhielten und sich mit den Trinkgeldern der Ausländer begnügen mußten, die beim Fürsten erschienen, um sich die Galerie anzusehen. Der Fürst hatte Jäger, Offizianten, Lakaien , die hinter seinem Wagen herfuhren, und Lakaien , die nirgends hinfuhren und nur tagelang in einem nahegelegenen Café oder in einer benachbarten Osteria saßen und schwatzten. Der junge Fürst entließ sofort das ganze Gesindel, all diese Lakaien und Jäger, und behielt nur den alten Maestro di casa ; er hob fast den ganzen Marstall auf, verkaufte alle Pferde, die nie gebraucht worden waren, berief die Rechtsanwälte zu sich, um weitere Beschlüsse über die Prozesse zu fassen, und wußte es so einzurichten, daß von den vier Prozessen nur noch zwei übrigblieben; auf die übrigen Prozesse verzichtete er, da sie ja doch gänzlich aussichtslos waren. Er nahm sich vor, sich von nun ab in allem einzuschränken und in seinem Leben die strengste Ökonomie walten zu lassen. Das wurde ihm nicht sehr schwer, da er sich schon früh gewöhnt hatte, sich einzuschränken. Es wurde ihm auch nicht schwer, dem Verkehr mit seinen Standesgenossen zu entsagen; — übrigens bestand diese ganze Gesellschaft nur aus zwei oder drei aussterbenden Familien, deren Erziehung ganz auf ein paar dürftigen Brocken französischer Bildungselemente beruhte, ferner aus einem reichen Bankier, um den sich ein Kreis von Ausländern scharte, und in ein paar unnahbaren, zugeknöpften, unfreundlichen Kardinälen, die ihr Leben in größter Zurückgezogenheit beim Tresettspiel (einer Art Schafskopf) mit ihrem Kammerdiener oder Barbier verbrachten. Mit einem Wort, er sonderte sich gänzlich von allen Menschen ab, widmete sich ganz dem Studium Roms und erinnerte in dieser Beziehung sogar an die Ausländer, die zunächst durch die unbedeutende schmucklose Außenseite der Stadt mit ihren dunklen fleckigen Häusern überrascht sind und sich, von Gasse zu Gasse irrend, erstaunt fragen: wo ist denn das gewaltige, alte Rom? um es erst später wahrhaft kennen zu lernen, wenn das antike Rom allmählich aus den engen Gassen hervorzutreten beginnt: hier in Form einer dunklen Arke, dort in Form marmorner, in die Mauer eingelassener Karniese, einer verwitterten Porphyrsäule, eines Giebels inmitten eines übelriechenden Fischmarkts; oder als ein vollständiger Porticus vor einer neueren Kirche, oder endlich ganz abseits und dort in der Ferne, wo die bewohnte Stadt ein Ende nimmt; hier wächst es plötzlich aus tausendjährigem Efeulaub und Aloen mitten aus der offenen Ebene in seiner ganzen Größe hervor: als ungeheures Kolosseum, als Triumphpforte, als Ruinen der unübersehbaren Cäsarenpaläste, der kaiserlichen Bäder, der Tempel und Gräberhallen, die auf dem offenen Felde verstreut liegen; jetzt bemerkt der Fremde schon nichts mehr von den neuen engen Straßen und Gassen, ganz umfangen von der antiken Welt; in seiner Erinnerung erstehen die gewaltigen Gestalten der Cäsaren, und sein Ohr glaubt den Schrei und das Beifallsgeklatsch des römischen Volks zu vernehmen.

Aber es ging ihm doch auch wieder nicht so, wie dem Ausländer, der allein für seinen Titus Livius und Tacitus schwärmt, an allem vorübersieht und für nichts Sinn hat, außer für die Antike, und der in einer edeln und pedantischen Aufwallung gern die ganze neue Stadt niederreißen würde — nein, er fand alles gleich schön, die antike Welt, die sich unter dem dunklen Architrav regte, das gewaltige Mittelalter, das überall die Spuren gigantischer Künstler und einer wunderbaren Freigebigkeit der Päpste hinterlassen hatte, und endlich die an dieses sich anschließende neue Zeit mit ihren zahlreich sich drängenden neuen Völkern. Ihm gefiel diese wunderbare Verschmelzung zu einem Ganzen, dieser Charakter einer dicht bevölkerten Hauptstadt und dieser Charakter einer einsamen Wüste, die sich hier miteinander mischten, diese Paläste und Säulen, dieses Gras und das wilde Gebüsch, das sich an den Mauern dahinzog, der lärmende Markt inmitten dunkler, einsamer, unten verdeckter Massen, das helle Geschrei des Fischhändlers in der Säulenhalle, der Limonadenverkäufer vor dem Pantheon mit seiner fliegenden und mit grünem Laub geschmückten Bude; ihm gefiel selbst die Unscheinbarkeit dieser dunklen, unordentlichen Straßen, der Mangel aller hellen, gelben Farbe an den Häusern, dieses Idyll inmitten der Stadt, die Ziegenherde, die auf dem Straßenpflaster ausruhte, das Schreien der Kinder und diese reine feierliche Stille, die unsichtbar auf allen Dingen zu liegen schien, und die auch den Menschen umfing. Ihm gefielen diese unaufhörlichen Überraschungen, diese Plötzlichkeiten, die einem in Rom so auffallen. Wie ein Jäger, der am frühen Morgen auf die Jagd geht, oder wie ein alter Ritter, der auf Abenteuer auszieht, so machte er sich jeden Tag auf, um neue und immer neue Wunder aufzusuchen; er blieb unwillkürlich stehen, wenn sich plötzlich inmitten einer ärmlichen Gasse ein Palast vor ihm auftürmte, der eine finstere und strenge Größe atmete. Seine schweren unerschütterlichen Mauern waren aus dunklem Travertin errichtet, seine Spitze krönte eine prachtvolle, wunderbar ausgeschmückte, kolossale Karniese, die mächtige Tür war mit marmornen Tragbalken ausgelegt, und die Fenster mit ihrem herrlichen architektonischen Schmuck boten einen majestätischen Anblick dar. Oder es blickte ihm plötzlich auf einem kleinen Platz ein malerischer Brunnen entgegen, der sich selbst und seine vom Moos verunstalteten granitenen Stufen mit feuchtem Naß besprengte, oder eine finstere, schmutzige Straße endete plötzlich mit einer glänzenden architektonischen Dekoration eines Bernini, mit einem gen Himmel strebenden Obelisk, mit einer Kirche oder einer Klostermauer mit ihren kohlschwarzen Karniesen, die auf dem dunkelblauen Himmel im Glanze der Sonne aufflammten; je weiter sich die Straßen in die Tiefe verloren, um so häufiger wurden die Paläste und die architektonischen Schöpfungen eines Bramante, Borromini, Sangallo, della Porta, Vignola, Buonarotti, und es wurde ihm endlich klar, wie man nur hier in Italien das Gefühl hat, daß es eine Architektur gibt, und etwas von ihrer strengen künstlerischen Größe ahnt. Aber noch größer war der geistige Genuß, wenn er in das Innere der Kirchen und Paläste trat, wo sich Arken, flache Pfeiler und runde Säulen aus allen möglichen Marmorarten, unterbrochen von blauen Basaltkarniesen, von Porphyr, Gold und antiken Steinen, miteinander zu einer wundervollen Harmonie verbanden, sich einstimmig einem tief durchdachten Plane fügend, und wo sich hoch über dies alles die unsterbliche Schöpfung des Pinsels erhob. Sie waren von einer hohen Schönheit, diese tief durchdachten Ausschmückungen der Säle, voll von einer königlichen Größe und architektonischen Pracht, die sich in diesem fruchtbaren Zeitalter überall ehrfürchtig vor der Malerei zu beugen wußte, als der Künstler noch Architekt, Maler und sogar Bildhauer in einer Person war. Diese mächtigen Schöpfungen des Pinsels, wie sie heute schon nicht mehr vorkommen, erhoben sich finster vor ihm auf den dunklen Mauern, sie, die noch immer aller Nachahmung unerreichbaren, unbegreiflichen Vorbilder. Und wenn er nun in das Innere eines solchen Gebäudes eintrat und sich immer tiefer in dem Anblick versenkte, dann glaubte er zu fühlen, wie sich sein Geschmack, dessen Keim seine Seele schon immer barg, beinahe merklich entwickelte. Wie kleinlich und armselig erschien ihm gegenüber dieser majestätischen, wunderbaren Pracht aller Prunk des XIX. Jahrhunderts, der höchstens brauchbar war, Läden auszuschmücken, und der nichts als Möbeltischler, Tapezierer, Zimmerleute, Vergolder und einen ganzen Haufen von Handwerkern hervorgebracht, die Welt — der Raffaele, Tiziane und Michelangelos beraubt und die Kunst bis zum Handwerk herabgedrückt hatte! Wie elend erschien ihm jetzt all dieser Luxus, der einen nur beim ersten Blick verblüfft, und den man bald mit Gleichmut betrachtet, angesichts dieses erhabenen Einfalls, seine Mauern mit unsterblichen Gebilden des Pinsels auszuschmücken, dieser wunderbaren Idee der Besitzer jener Paläste — sich einen ewigen Gegenstand des Genusses zu verschaffen in Stunden, wo man ausruht von der Arbeit und von den lärmenden Sorgen des Lebens, sich in einen Winkel zurückzieht, weit abseits von allen Menschen, in ein altertümliches Sofa zurückgelehnt, seinen Blick stumm auf die Wand richtet und mit der Seele tief in die Geheimnisse des Pinsels eindringt, ganz in die Betrachtung der in der Schönheit webenden geistigen Ideen verloren! Denn unendlich erhebt die Kunst den Menschen, indem sie den Regungen unserer Seele eine wunderbare Schönheit und einen hohen Adel verleiht. Wie klein erschien ihm vor dieser unerschütterlichen, fruchtbaren Pracht, die den Menschen mit Gegenständen umgab, die seine Seele mit Bewegung erfüllten und veredelten, der heutige kleinliche Schmuck, wie er alljährlich von der unruhigen Mode ausgespien und wieder zerstört wird, diesem seltsamen, unbegreiflichen Produkt des XIX. Jahrhunderts, vor dem sich die Weisen stumm beugen, dieser verheerenden Vernichterin alles dessen, was ungeheuer, erhaben und heilig ist. Wenn er sich derartigen Überlegungen hingab, schoß ihm unwillkürlich der Gedanke durch den Kopf: „Rührt nicht vielleicht daher jene gleichgültige Kälte, die unser gegenwärtiges Zeitalter umfängt, jenes gemeine Geschäftsinteresse und diese vorzeitige Abstumpfung der Sinne, die noch nicht einmal Zeit hatten, zu erwachen und sich zu entwickeln? Man beraubte den Tempel seiner Heiligtümer, und der Tempel ist kein Tempel mehr. Fledermäuse und böse Geister haben ihre Wohnstätte in ihm aufgeschlagen.“

Je tiefer sein Blick in die Dinge eindrang, um so mehr überraschte ihn die ungewöhnliche Fruchtbarkeit jenes Zeitalters, und unwillkürlich mußte er ausrufen: „Wie und wann vermochten sie nur all dies zu erschaffen?“ Dieser wunderbare Charakter, der Rom auszeichnete, wuchs für ihn mit jedem Tag zu immer mächtigerer Größe empor. Eine Galerie neben der andern, und immer noch wollten sie kein Ende nehmen. Dort jene Kirche barg irgendein Wunderwerk des Pinsels, dort jene verwitternde Mauer entzückte den Blick durch eine Freske, deren Farben bereits zu erlöschen drohten, und dort auf den hoch emporgetürmten Marmorblöcken und Säulen, die aus alten heidnischen Tempeln hierher gebracht worden waren, leuchtete einem ein von einem unsterblichen Pinsel ausgeschmückter Plafond entgegen. Das alles glich einer tief verborgenen Goldader, die mit gewöhnlicher Erde bedeckt und nur dem Bergmann allein bekannt war. Wie voll war seine Seele jedesmal, wenn er nach Hause zurückkehrte, und wie verschieden war dieses von ruhiger, feierlicher Stille erfüllte Gefühl von jenen unruhigen Eindrücken, mit denen Paris seine Seele so sinnlos bestürmt hatte, wenn er müde und abgespannt nach Hause zurückkehrte und nur selten fähig war, sich über das Ergebnis dieser Empfindungen Rechenschaft abzulegen.

Jetzt erschien ihm die unscheinbare und dunkle Außenseite Roms, über die die Ausländer so sehr klagen, noch mehr zu diesen innern Schätzen der Stadt zu stimmen. Es wäre ihm geradezu peinlich gewesen, nach alledem auf eine moderne Straße mit ihren prunkvollen Läden, den stutzerhaft gekleideten Menschen und den eleganten Equipagen hinauszutreten: dies wäre ihm fast wie eine unheilige Zerstreuung, ja wie eine Tempelschändung vorgekommen. Diese bescheidene Stille, dieser eigentümliche Charakter der römischen Bevölkerung, dieser Schatten des XVIII. Jahrhunderts, der noch in Form eines schwarzen Abbés in einem Dreimaster mit schwarzen Strümpfen und Schuhen oder eines purpurnen altertümlichen Kardinalswagens mit seinen vergoldeten Achsen, Rädern, Karniesen und Wappen durch die Straßen huschte, gefiel ihm weit besser, denn dies alles stimmte so gut mit der Gravität und Würde Roms überein: dieses lebendige, nie hastende Volk, das ruhig und malerisch durch die Straßen schritt, den Mantel über den Arm geschlagen oder die Jacke über der Schulter, ohne jenen schwerfälligen Ausdruck in den Gesichtern, der ihm so seltsam bei den blauen Blusenträgern und überhaupt an der ganzen Bevölkerung von Paris aufgefallen war.

Hier erschien selbst die Armut in einem heiteren Lichte, sorglos und unbekannt mit Qualen und Tränen streckte sie unbefangen und schön ihre Hand aus; hier wirkte alles schön und heiter: die malerischen Regimenter von Mönchen, die in langen weißen und schwarzen Kleidern über die Straßen gingen, ein schmutziger rothaariger Kapuziner, der plötzlich in seinem hellen kamelfarbenen Kleide in der Sonne aufleuchtete, endlich dieses ganze Künstlervolk, das sich hier von allen Weltenden zusammenfand, die engen Fetzen europäischer Kleidung fortwarf und in freien, malerischen Kostümen einherging, ihre würdigen majestätischen Bärte, wie wir sie auf den Porträts Leonardo da Vincis und Tizians finden, und die so wenig Ähnlichkeit mit dem häßlichen, schmalen Bärtchen haben, das sich der Franzose zurecht schneidet und dann fünfmal im Monat stutzen lassen muß. Hier bekam der Künstler ein Gefühl für das lange wallende Haar, das er sich in dichten Locken herunterfallen ließ. Hier erhielt selbst der Deutsche mit seinen krummen Beinen und seinem ungegliederten Körperbau einen bedeutenden Ausdruck, ließ sich seine goldenen Locken über die Schultern fallen und kleidete sich in eine leicht gefaltete griechische Bluse oder einen Sammetrock, wie er unter dem Namen Cinquecento bekannt ist und wie ihn nur die Künstler in Rom tragen. Auf ihren Gesichtern lagen die Spuren einer strengen Ruhe und einer friedlichen Arbeit. Selbst die Gespräche und Meinungsäußerungen, die man auf den Straßen, in den Cafés, in den Osterien vernahm, hatten keine Ähnlichkeit mit denen, die der Fürst in den anderen Straßen Europas gehört hatte, ja sie waren ihnen geradezu entgegengesetzt. Hier hörte man nichts von gefallenen Fonds, von Kammerdebatten oder von der spanischen Frage. Hier sprach man nur von einer neuerdings entdeckten antiken Statue, von der Kraft des Pinsels der großen Meister, hier stritt man sich und diskutierte über das neu ausgestellte Werk eines modernen Künstlers, über Volksfeste, oder man hörte hier Reden, in denen der Mensch sein Inneres preisgab, und die in Europa durch langweilige Salongespräche und politische Unterhaltungen verdrängt sind, die selbst jeden beseelten Ausdruck aus den Gesichtern vertrieben haben.

Oft verließ er die Stadt, um sich in der Umgegend umzusehen, und dann setzten ihn neue Wunder in Erstaunen. Wie herrlich waren diese stummen Wüsten der römischen Felder, die mit Ruinen antiker Tempel übersät, sich mit unbeschreiblicher Ruhe ringsherum erstreckten. Bald ließ die dichte Decke gelber Blüten sie ganz wie in Gold getaucht erscheinen, bald wieder ließen die roten Blüten wilden Mohns sie aufglühen wie eine neuentfachte Kohle. Nach vier verschiedenen Seiten bot sich ein vierfacher wunderbarer Anblick dar. Auf der einen Seite flossen die Felder unmittelbar in einer scharfen ebenen Linie mit dem Horizont zusammen. Die Arken der Wasserleitungen schienen in der Luft zu schweben und gleichsam auf den glänzenden silbernen Himmel aufgeklebt zu sein. Auf der andern Seite sah man hinter den Feldern die Berge hindurchschimmern. Sie türmten sich nicht wild und jäh aus der Ebene empor, wie in Tirol oder in der Schweiz, sondern in harmonischen fließenden Linien, sich hebend und senkend und umstrahlt von der herrlichen Klarheit der Luft, schienen sie zum Himmel emporfliegen zu wollen. An ihrem Fuße zog sich eine lange Arkade von Wasserwerken gleich einem langgestreckten Fundament dahin, der Gipfel der Berge glich der luftigen Fortsetzung eines wunderbaren Gebäudes, und die Farbe des Himmels war hier schon nicht mehr silbern, sondern hatte jenen unbeschreiblichen Ton des jungen Flieders. In einer dritten Richtung wurden diese Felder gleichsam durch Berge begrenzt, aber hier traten sie näher an sie heran, türmten sich höher empor, traten mit ihren Vorderreihen noch stärker hervor und verschwanden in sanften Abstufungen in der Ferne. Die dünne blaue Luft ließ ihre Farben wunderbar abgetönt erscheinen, und durch diese blaue ätherische Hülle hindurch sah man kaum merklich die Häuser und Villen von Frascati durchschimmern, hier leise und sanft berührt von den Strahlen der Sonne, dort untertauchend in dem Helldunkel kaum erkennbarer Heine, die in der Ferne erglühten. Aber wenn man sich plötzlich umdrehte, dann lag mit einemmal ein neues Bild vor einem. Die Felder gingen unmittelbar in die Stadt Rom über. Die Ecken und die Linien der Häuser zeichneten sich scharf und klar ab, in scharfen Konturen rundeten sich die Kuppeln, die Statuen des lateranischen Johann und die majestätische Kuppel der Peterskirche, die immer höher und höher emporstrebte, je mehr man sich von ihr entfernte, und die endlich den ganzen Horizont einsam beherrschte, wenn die ganze Stadt bereits verschwunden war. Noch mehr aber liebte er es, diese Felder während eines Sonnenunterganges von der Terrasse einer der Villen von Frascati oder Albano zu betrachten. Dann erschienen sie wie ein unübersehbares Meer, das hinter dem dunklen Gitter der Terrasse erglänzte und aufstieg. Alle Unebenheiten und Linien verschwanden in dem sie umspielenden Lichte. Anfangs erschienen sie noch grünlich, und hie und da erkannte man noch die Arken und Grabmäler, die auf ihnen verstreut waren, dann aber spielten sie plötzlich in regenbogenfarbenem Lichte, in hellen, durchscheinenden, gelben Tönen, und kaum noch konnte man die Ruinen der antiken Baudenkmäler erkennen. Endlich aber färbten sie sich immer tiefer purpurrot, verschlangen selbst die unendliche Kuppel und flossen in ein tiefes Himbeerrot zusammen, und nur noch der in der Ferne glänzende goldene Streifen des Meeres trennte sie von dem Horizont, der ebenso purpurrot dalag, wie sie. Niemals aber hatte er gesehen, daß die Felder gleich dem Himmel wie in Flammen getaucht waren. Lange stand er, ganz erfüllt von einer unbeschreiblichen Wonne, in diesen Anblick versunken, da, und dann hatte er wieder alles vergessen, selbst sein Entzücken. Und wenn dann auch die Sonne untergegangen war, der Horizont schnell erlosch und sich noch schneller, ja beinahe plötzlich die Felder verdunkelten, wenn dann der Abend sein finsteres Antlitz zeigte, Leuchtkäfer in feurigen Fontänen über den Ruinen emporschwirrten und jenes plumpe geflügelte Insekt, das aufrecht herangeflogen kommt wie ein Mensch und unter dem Namen Teufel bekannt ist, ihm plötzlich sinnlos ins Auge flog, dann erst merkte er, daß die Kälte der südlichen Nächte bereits herabgesunken war und ihn ganz durchschüttelte, und er beeilte sich, in die Straßen der Stadt zu kommen, um nicht an dem Fieber, wie es hier im Süden verbreitet ist, zu erkranken.

So floß sein Leben in dem Genuß der Natur, der Künste und der Antike dahin. Bei dieser Lebensweise erfaßte ihn plötzlich stärker als je der Wunsch, sich tiefer in die Geschichte Italiens zu versenken, die er bisher nur fragmentarisch und in einzelnen Episoden kennen gelernt hatte. Ohne dies wäre ihm die Gegenwart unvollständig und unvollkommen erschienen, und so machte er sich gierig daran, die Archive, die Chroniken und Memoiren zu studieren. Er konnte sie jetzt nicht bloß so lesen wie irgendein Italiener, der ewig in der Stube hockt, sich mit Leib und Seele in die beschriebenen Vorgänge versenkt und über der großen Zahl der Personen und der Ereignisse, die sich um ihn drängen, die große Masse, das Ganze übersieht; — er konnte jetzt alles ruhig überschauen, wie aus einem Fenster des Vatikan. Sein Aufenthalt außerhalb Italiens inmitten des Lärms und der Bewegung tätiger Völker und Staaten diente ihm als strenge Prüfung und Probe bei allen Schlüssen und Folgerungen, und verlieh seinem Auge eine reiche Vielseitigkeit und einen allumfassenden Blick. Wenn er jetzt in den Geschichtsbüchern las, war er noch mehr und ohne alle Voreingenommenheit überrascht durch die Größe und den Glanz der italienischen Vergangenheit. Er war ganz erstaunt über die schnelle und vielseitige Entwicklung des Menschen auf einem so schmalen, engbegrenzten Fleckchen Erde, durch die mächtige und kraftvolle Regsamkeit aller Kräfte. Er sah, wie hier der Mensch in voller Tätigkeit war, wie jede Stadt ihre eigene Sprache sprach und ihre große Geschichte besaß, die ganze Bände ausfüllte, und wie hier mit einem Schlage alle Arten und Gestalten des bürgerlichen Lebens und der Regierungsformen entsprangen: — ewig bewegte Republiken voll starker unbotmäßiger Charaktere, und mitten unter ihnen — allmächtige Despoten, eine ganze Stadt voll königlicher Kaufleute, von geheimen Fäden der Regierung umsponnen unter der monarchischen Scheingewalt des einen Dogen; die Fremden, die herbeigerufen worden waren und nun inmitten der einheimischen Bewohner lebten, die starken Zusammenstöße und Abwehrmaßregeln im Schoße eines unbedeutenden Städtchens, der fast märchenhafte Glanz der Herzöge und Monarchen winziger Länder, alle die Mäzene, Protektoren und Inquisitoren, diese ganze Reihe großer Männer, die um ein und dieselbe Zeit zusammentrafen, die Lyra, der Zirkel, das Schwert und die Palette, diese Tempel, die mitten im Streit, im Kampf und während mächtiger Unruhen errichtet wurden, diese Feindschaften, die Blutrache, diese Züge des Großmuts und diese ganze Masse romantischer Ereignisse im bürgerlichen Leben, mitten im Wirbel des politischen, gesellschaftlichen Daseins, und das wundersame Band, das sich um dies alles schlang, eine so erstaunliche Entfaltung aller Seiten des politischen und bürgerlichen Lebens, ein solches Erwachen aller menschlichen Elemente in einem so engen Bezirk, die an andern Orten immer nur in Bruchstücken und auf großen Flächen zur Darstellung kamen! — Und das alles war plötzlich verschwunden, plötzlich dahin, alles war erloschen wie erkaltete Lava und von Europa selbst aus seinem Gedächtnis getilgt, wie ein alter unnützer Plunder.

Nirgends, nicht einmal in den Journalen läßt uns das arme Italien seine des Diadems beraubte Stirn sehen; mit seiner politischen Bedeutung hat es jeden Einfluß auf die Welt verloren.

„Wie aber,“ dachte er, „wird denn sein Ruhm nie wieder auferstehen? Gibt es denn gar kein Mittel, ihm seinen entschwundenen Glanz wiederzugeben ?“ Und er gedachte der Zeit, als er noch als Student der Universität, als er in Lucca von der Zurückführung der ruhmreichen Vergangenheit geträumt hatte; er erinnerte sich, wie dies der liebste Gedanke der italienischen Jugend gewesen war und wie sie gutmütig und treuherzig beim vollen Becher davon geschwärmt hatten. Und nun mußte er erkennen, wie kurzsichtig diese jungen Leute gewesen waren und wie kurzsichtig die Politiker sind, die dem Volke Trägheit und Sorglosigkeit vorwerfen. Und eine dunkle Ahnung des mächtigen Fingers, vor dem der Mensch verstummt und sich demütig beugt, des mächtigen Fingers, der den Weltereignissen ihr Ziel und ihren Gang vorschreibt, bemächtigte sich seiner und erfüllte sein Gemüt mit Staunen und Ehrfurcht. Aus dem Schoße Italiens hatte Er den armen von seinem eigenen Heimatlande verfolgten Genueser emporsteigen lassen, der allein sein ganzes Vaterland zugrunde richten sollte, indem er ein neues unbekanntes Land und neue weite Seewege entdeckte. Der Horizont der Welt erweiterte sich; das Leben Europas erhielt einen mächtigen Schwung und ward erfüllt von lebhafter Bewegung. Schiffe begannen die Welt zu umsegeln und machten die mächtigen Kräfte des Nordens frei. Das Mittelmeer verödete, und wie das versandende Bett eines Flusses, versandete Italien, das in dem Wettstreit zurückgeblieben war. Noch steht Venedig, noch spiegeln sich seine erloschenen Paläste in den Wellen des Adriatischen Meeres, und ein herzzerreißender Schmerz erfüllt die Seele des Fremden, wenn ihn der Gondelführer gebeugten Hauptes an den kahlen Mauern und zerstörten Brüstungen stummer marmorner Balkone vorüberrudert. Stumm liegt Ferrara da und schreckt uns mit dem drohend finstern Anblick seines herzoglichen Schlosses. Traurig und öde stehen in ganz Italien die gebeugten Türme und die architektonischen Wunder inmitten einer Generation, die gleichgültig zu ihnen emporsieht. Laut schallt das Echo durch die einst so lebhaften Straßen, und der ärmliche Vetturino hält vor einer schmutzigen Osteria, die sich in einem prunkvollen Schloß angesiedelt hat. Im härenen Bußkleid des Bettlers wandelt das heutige Italien einher, und wie staubige Lumpen hängen an ihm die Fetzen seines verblichenen Königsmantels.

In einer Aufwallung tiefen Seelenschmerzes hätte er mitunter sogar Tränen vergießen können. Aber dann bemächtigte sich seiner von selbst ein großer trostreicher Gedanke, und ein höheres Ahnungsvermögen gab ihm die Gewißheit, daß Italien noch nicht gestorben sei, daß die Spuren seiner ewigen unerschütterlichen Macht über die ganze Welt sich noch fühlbar machten, daß sein gewaltiger Genius ewig über dem Lande schwebt, er, der von Anbeginn das Schicksal Europas in seinen Busen gelegt hatte, der das Kreuz in die finsteren europäischen Wälder trug, der mit dem Schifferhaken der bürgerlichen Ordnung den an ihren fernen Grenzen hausenden halbwilden Menschen an sich zog, der die Glut des Verkehrs und des Welthandels entfachte, die Listen der Politik und das verwickelte Federwerk der bürgerlichen Verhältnisse spielen ließ, all seine geistigen Kräfte glanzvoll entfaltete, seine Stirn mit dem heiligen Kranze der Poesie umwand, und als der politische Einfluß Italiens bereits zu schwinden begann, die Welt mit herrlichen Wundern erfüllte: mit Kunstwerken, die den Menschen mit nie geahnten Genüssen und göttlichen Gefühlen beschenkten, wie sie bisher noch nie den Schächten seiner Seele entstiegen waren. Und als nun auch das Jahrhundert der Kunst zur Neige ging und die ganz von ihren Rechnungen und Geschäften in Anspruch genommenen Menschen für sie erkalteten, da schwebt er über der Welt und wird er getragen von den klagenden Seufzern der Musik, und an den Ufern der Seine, an der Newa, an der Themse, an der Moskwa, am Mittelmeer und am Schwarzen Meer, an den Küsten Algeriens und auf fernen, vor kurzem noch halbbarbarischen Inseln ertönt begeisterter Beifall zum Preise der unser Ohr mit Wohllaut erfüllenden Sänger. Und endlich beherrscht er selbst durch sein ehrwürdiges Alter und als Bild des Verfalls und der Verwesung drohend die Welt: diese erhabenen architektonischen Wunder blieben uns erhalten wie ein mahnender Schatten, als ein ewiger Vorwurf, um Europa seinen kleinlichen chinesischen Luxus und seine kindliche, spielerische, geistige Zersplitterung entgegenzuhalten. Dieser ganze Haufen untergegangener Welten und diese wunderbare Mischung mit der ewig blühenden Natur — das alles existiert nur zu dem Zweck, um die Welt aufzurütteln, um den Bewohner des Nordens zuweilen wie im Traum diesen Süden sehen zu lassen, es existiert nur, damit der Gedanke an ihn, ihn aus dem kalten Leben und all der Geschäftigkeit, die die Seele verhärtet und erstarren läßt, herausreiße und über sich emporhebe, indem sich plötzlich ein leuchtender, den Menschen weit mit sich forttragender Ausblick vor ihm auftut, ihm eine coliseische mondbeglänzte Nacht, das in Schönheit sterbende Venedig, ein unsichtbares Leuchten des Himmels und das warme Gekose der herrlichen Luft vorzaubert — auf daß er wenigstens einmal in seinem Leben ein schöner Mensch sei.

In einem solchen feierlichen Augenblick söhnte er sich mit dem Niedergang und Verfall seines Vaterlandes aus, und nun glaubte er, überall Keime des ewigen Lebens und einer besseren Zukunft zu erblicken, die uns der ewige Schöpfer der Welt unablässig bereitet. In solchen Augenblicken dachte er auch häufig über die Bedeutung des römischen Volkes für die Gegenwart nach; und es schien ihm, als ob hier noch ein ganz unverbrauchtes Material vorliege. In den Epochen des Glanzes hatte es auch nicht ein einziges Mal eine bedeutende Rolle gespielt; nur die Päpste und die adligen Familien hatten ihre Namen ins Buch der Geschichte eingezeichnet, das Volk aber war unbeachtet geblieben. Das Spiel der Interessen in ihm und um es herum hatte nicht in seinen Kreis eingegriffen und es nicht mit sich fortgerissen; noch war es unberührt von jeglicher Bildung geblieben, die wie ein Sturmwind die in ihm schlummernden Kräfte aufgerüttelt hätte. Etwas von kindlicher Güte und Vornehmheit lag in seiner Natur. Dieser Stolz auf den römischen Namen, der Grund weshalb ein großer Teil der Bürger, die sich für Nachkommen der alten Quiriten hielten, nie eine ehrliche Verbindung mit andern Bevölkerungsklassen einging; dieser aus Gutmütigkeit und Leidenschaft gemischte Charakter, ein Beweis für seine Schönheit und Reinheit (der Römer vergißt nie das Gute oder Böse, das ihm angetan wird; er ist entweder gut oder böse, verschwenderisch oder geizig, seine Laster und Tugenden ruhen noch in ihren ursprünglichen Schächten und haben sich noch nicht zu einem unbestimmten Ganzen vermischt wie beim Menschen unserer Zivilisation, der alle möglichen Leidenschaften, jedoch nur in ganz geringen Dosen besitzt und bei dem sie alle unter der Oberherrschaft des Egoismus stehen); diese Unmäßigkeit und diese Neigung, aus dem Vollen zu genießen — ein allgemein verbreiteter Zug bei allen starken Völkern — das alles wurde für ihn von großer Bedeutung. Und dann diese strahlende ungekünstelte Heiterkeit, wie wir sie heute kaum bei einem andern Volke finden, überall, wo der Fürst hingekommen war, hatte er den Eindruck gewonnen, als mache man mühsame Anstrengungen, das Volk zu zerstreuen und zu unterhalten; hier dagegen unterhielt es sich selbst, hier wollte es selbst mit teilnehmen; während des Karnevals war es kaum zu zügeln; alles, was es im Laufe eines Jahres zurückgelegt hatte, war es bereit, in diesen einundeinhalb Wochen wieder durchzubringen; für ein Kostüm konnte es sein ganzes Geld ausgeben; der einfache Mann verkleidet sich als Bajazzo, als Weib, als Poet, als Doktor oder Graf, schwatzt euch allerhand törichtes Zeug vor oder hält euch wohl gar eine Vorlesung, ob ihr nun zuhört oder nicht — und diese Fröhlichkeit ergreift alle miteinander wie ein Wirbel, vom vierzigjährigen Mann bis zum jüngsten Burschen, der letzte Bettler, der nichts hat, was er anziehen könnte, wendet seinen Kittel um, schwärzt sich sein Gesicht mit Kohle, schließt sich dem bunten Haufen an und läuft mit. Und diese Heiterkeit entspringt ganz einfach seiner Natur, sie ist kein Produkt des Rausches, denn dasselbe Volk pfeift einen Betrunkenen aus, wenn es ihm auf der Straße begegnet. Und dann — diese Züge eines angeborenen künstlerischen Instinkts und Gefühls! hatte doch einmal in Gegenwart des Fürsten eine einfache Frau einen Künstler auf einen Fehler in seinem Gemälde aufmerksam gemacht; er sah, wie dieses Gefühl sich in der malerischen Kleidung und in dem Schmuck der Kirchen ausprägte, sah wie das Volk in Gensano die Straßen mit Blumenteppichen bedeckte, wie die vielfarbigen Blumenblätter sich zu bunten Flecken und Schatten verwandelten und auf dem Pflaster zu allerhand Figuren gruppierten — zu dem Wappen eines Kardinals, zum Bilde des Papstes, zu einem Namenszug, zu Vögeln, Tieren und verschieden gestalteten Arabesken; er sah, wie die Eßwarenhändler, die Pizzicaruoli am Abend vor Ostersonntag ihre Läden ausschmückten: die Schinken, die Würste, die weißen Schweinsblasen, die Zitronen und allerhand Blätter ordneten sich zu einem bunten Mosaik zusammen, das einen Plafond darstellte. Die zylindrischen Parmesankäse und andere Käsesorten bildeten ganze Säulenreihen, indem sie sich übereinander türmten; Talgkerzen gruppierten sich zu dem mosaikartigen Gewebe eines Vorhanges, der die inneren Wände schmückte; da sah man ganze Statuen und historische Gruppen, die einen christlichen oder biblischen Stoff darstellten, aus schneeweißem Talg gegossen, den der erstaunte Beschauer für Alabaster halten mußte — der ganze Boden verwandelte sich in einen heiteren Tempel, in dem vergoldete Sterne erstrahlten, der von kunstvoll aufgehängten Ampeln erleuchtet wurde und in dessen Spiegelscheiben sich zahllose Haufen von Ostereiern spiegelten. Zu alledem ist ein gewisser Geschmack erforderlich, und der Pizzicaruolo machte das nicht, weil es ihm etwas einbrachte, sondern nur um andere und sich selbst an diesem Anblick zu erfreuen. Und endlich war dies ein Volk, das sich seiner eigenen Würde bewußt war: hier bildete es das Volk: il popolo , und nicht den gemeinen Pöbel; es war sich bewußt, die wahren Urelemente des ersten Quiritenzeitalters in sich zu tragen; nicht einmal die fremden Reisenden, diese Verführer, die die Korruption in die müßig dahinlebenden Völker tragen, — brachten es fertig, dies Volk zu verderben, obwohl sich freilich infolge der Überflutung mit fremden Gästen die Gasthäuser und die Landstraßen mit einer Klasse von verächtlichen Leuten bevölkern, nach denen sich der Reisende häufig ein Urteil über das ganze Volk bildet. Sogar die Torheit der Regierungsmaßnahmen, dieser zusammenhanglose Haufen aller möglichen Gesetze, die zu den verschiedensten Zeiten und unter ganz verschiedenartigen Verhältnissen entstanden waren, und noch bis heute nicht wieder aufgehoben sind, unter denen es sogar Edikte gibt, die aus der alten römischen Republik stammen, selbst sie haben es nicht vermocht, in diesem Volke das hohe Rechtsbewußtsein zu entwurzeln. Er verfolgt den unehrlichen Gläubiger mit seinem Tadel, begleitet den Leichenzug der Verstorbenen mit Pfeifen und spannt sich großmütig vor den Leichenwagen, der den Leib eines vom Volke geliebten Mannes mit sich führt. Selbst das Betragen der Geistlichkeit, das häufig Ärgernis erregen könnte und in andern Ländern Sittenlosigkeit und Korruption zur Folge haben würde, scheint keinen Eindruck auf das Volk zu machen: denn es versteht die Religion von ihren heuchlerischen Dienern zu unterscheiden und ist noch nicht angekränkelt von dem kalten Geist des Unglaubens. Und schließlich haben es selbst die Not und die Armut, diese unvermeidlichen Begleiterscheinungen eines stagnierenden Staates, nie zu finsteren Übeltaten verleitet: dieses Volk bleibt immer heiter, erträgt alles mit Ruhe, und nur in Romanen und Erzählungen lesen wir von Mordtaten und Messerstechereien auf den Straßen. Aus diesen Zügen ersah der Fürst, daß er es hier mit einem starken, noch unberührten Volke zu tun hatte, dem sich offenbar in der Zukunft noch ein großes Feld der Betätigung eröffnen mußte. Die europäische Bildung hatte es, wie es schien, mit Absicht übergangen und keine ihrer Vollkommenheiten in seinem Busen Wurzeln schlagen lassen. Selbst die geistliche Herrschaft, dieses seltene Schattengebilde, das sich aus einer vergangenen Zeit herübergerettet hatte, hatte sich gleichsam nur zu dem Zwecke erhalten, um die Nation vor fremden Einflüssen zu behüten, damit keiner der ehrgeizigen Nachbarn sich an ihm vergreife, und damit sein stolzes Volkstum in stiller Einsamkeit warte, bis seine Stunde kommen werde. Und dennoch hatte man hier in Rom nicht den Eindruck der Totenstarre; selbst diese Ruinen und die prunkvolle Armut strömten nichts von jener peinigenden, wühlenden Stimmung aus, die uns bei der Betrachtung der Überreste einer bei lebendigem Leibe verwesenden Nation befällt. Hier war man von dem entgegengesetzten Gefühl beherrscht: von einer heiteren, feierlichen Ruhe. Und jedesmal, wenn der Fürst an dies alles dachte, versank er unwillkürlich in Sinnen, und es schien ihm, als läge eine seltsame geheimnisvolle Bedeutung in dem Worte: „das ewige Rom“.

Die Folge davon war, daß er sich mit immer größerem Eifer dem Studium seines Volkes hingab. Er beobachtete es auf den Straßen und in den Cafés, von denen jedes sein eigenes Publikum hatte; in dem einen verkehrten die Antiquare, in einem andern die Jäger und die Schützen, in einem dritten die Bedienten der Kardinäle, in einem vierten die Künstler, in einem fünften die ganze römische Jugend und die römischen Dandys. Er beobachtete es in den Osterien, in den echten römischen Osterien, in die sich nie ein Fremder verirrt, wo sich ein römischer Nobile zuweilen neben einem Minente niederläßt, und wo an heißen Tagen alle Anwesenden ihre Röcke und Krawatten ablegen; oder er besuchte eine jener kleineren ärmlichen aber malerischen Vorstadtschenken mit ihren luftigen Fenstern ohne Glasscheiben, wo die Römer mit ihren Familien oder in zahlreicher Gesellschaft einkehrten, um dort zu Mittag zu essen, oder, wie sie sich ausdrückten, per far allegria . Er ließ sich neben ihnen am Tische nieder, speiste mit ihnen zu Mittag und beteiligte sich an ihren Unterhaltungen, immer wieder erstaunt über ihren schlichten, gesunden Menschenverstand und über die Lebhaftigkeit und Originalität, mit der diese ungebildeten Leute zu erzählen verstanden. Die beste Gelegenheit jedoch, sie kennen zu lernen, bot sich ihm während der Zeremonien und Festlichkeiten, wenn die ganze Bevölkerung Roms plötzlich an der Oberfläche erscheint und eine schier unendliche Menge holder Schönheiten vor einem auftauchen, von deren Existenz man bisher keine Ahnung hatte, und wie man ihnen nur noch auf den Basreliefs und in den Anthologien der Alten begegnet. Diese großen, tiefen Augen, diese Alabasterschultern, diese pechschwarzen Haare, die sich in tausendfältigen Formen ums Haupt schlingen oder auf die Schultern herabfallen, malerisch durchbohrt von einem goldenen Pfeil, diese Hände, dieser stolze Gang — dies alles erinnerte ihn an die ernste, klassische Schönheit, und hatte nichts gemein mit dem leichtsinnigen Reiz graziöser Frauen. Hier glichen die Frauen mehr den Bauten Italiens: sie glichen entweder Palästen oder ärmlichen Hütten, sie waren entweder vollendete Schönheiten oder ganz häßlich; die Mittelmäßigkeit war hier überhaupt nicht vertreten, hübsche Frauen gab es hier nicht. Und er genoß ihren Anblick, wie er die Verse einer herrlichen Dichtung genoß, deren Schönheit sich noch weit über die der andern erhebt, und die in der Seele einen kühlen, erfrischenden Schauer hervorrufen.

Allein, bald gesellte sich zu all diesen Genüssen ein Gefühl, das all den andern den Krieg erklärte — ein Gefühl, das die mächtigsten Leidenschaften aus ihrem geistigen Schlummer erweckte, Leidenschaften, die sich in demokratischer Rebellion gegen die hohe Seeleneinheit auflehnten: er erblickte Anunziata. Und so sind wir denn endlich bei dem hehren Bildnis angelangt, das sein helles Licht über den Anfang unserer Erzählung verbreitete.

Es war zur Zeit des Karnevals. „Heute gehe ich nicht zum Corso,“ sagte der Principe zu seinem Maestro di casa , während er aus dem Hause trat, „der Karneval fängt an, mich zu langweilen; ich finde die Gartenfeste und die Aufzüge, wie sie im Sommer stattfinden, viel schöner.“

„Ja ist denn das ein Karneval?“ versetzte der Alte. „Das ist ein Karneval für Kinder. Ich erinnere mich eines Karnevals! Da sah man auf dem ganzen Corso auch nicht einen Wagen, und auf den Straßen gab’s die ganze Nacht Musik; die Maler, die Architekten und Bildhauer stellten ganze Gruppen und veranstalteten große Aufführungen, und das Volk — der Herr Fürst verstehen doch — das ganze Volk, alle — alle Vergolder, Rahmenbauer, Mosaikleger, sämtliche schönen Frauen, die ganze Signoria und alle Nobili — sie alle, alle ... machten mit ... o quanta allegria ! Das war ein richtiger Karneval. Aber heutzutage, was ist denn das für ein Karneval! Ach! ...“ sagte der Alte, zuckte die Achseln, und dann sagte er noch einmal „Ach“, zuckte nochmals die Achseln und fügte schließlich hinzu: „ E una porcheria! “ — Der Maestro di casa unterstützte seinen Ausruf in einer lebhaften Aufwallung seines Temperaments mit einer äußerst kräftigen Geste, beruhigte sich aber sogleich wieder, als er bemerkte, daß der Fürst schon längst nicht mehr vor ihm stand, sondern sich schon lange auf der Straße befand. Da er keine Lust hatte, sich am Karneval zu beteiligen, hatte er weder eine Maske mitgenommen noch auch ein Drahtnetz vors Gesicht gelegt. Er hüllte sich tief in seinen Mantel und wollte sich über den Corso nach dem andern Stadtteil begeben. Aber das Menschengewühl war zu groß. Er drängte sich zwischen zwei Menschen hindurch, wobei ihm eine Ladung Mehl auf den Kopf geschüttet wurde; ein bunter Harlekin schlug ihm während er mit seiner Kolombine an ihm vorbeistürmte mit seiner Knarre auf die Schulter, von allen Seiten flogen ihm „ confetti “ und Blumensträuße ins Gesicht, von beiden Seiten flüsterte ihm jemand ins Ohr, von rechts ein Graf und von links ein Arzt, der ihm eine lange Vorlesung über den Inhalt seines Blinddarmes hielt. Es war völlig unmöglich zwischen all den Menschen hindurchzukommen, denn die Volksmenge wuchs immer mehr an, und die lange Kette der Wagen machte halt, da sie nicht mehr vorwärts kommen konnte. Jetzt richtete sich die Aufmerksamkeit der Menge auf einen mutigen Burschen, der auf Stelzen die Häuserreihen entlang schritt, obwohl ihm jeden Augenblick die Stelzen unter den Beinen weggeschlagen werden konnten und er Gefahr lief, sich auf dem Pflaster zu Tode zu fallen. Aber deswegen schien er sich keine Sorge zu machen. Er trug einen ausgestopften Riesen auf seiner Schulter, den er mit einer Hand festhielt, und in der andern Hand ein Stück Papier mit einem Sonett und einem darangehefteten Schwanz, wie man sie bei Papierdrachen findet, und schrie dazu aus voller Kehle: „ Ecco il gran poeta morto! Ecco il suo sonetto colla coda. “ (Da ist der verstorbene große Dichter! Das ist sein Sonett mit dem Schwanz [ coda ] [17] .) Der verwegene Bursche hatte eine so dichte Menschenmenge um sich geschart, daß der Fürst in dem Gedränge kaum noch zu atmen vermochte. Endlich setzte sich die ganze Menge hinter dem toten Poeten in Bewegung, auch die lange Wagenreihe, worüber der Fürst sehr erfreut war, obgleich ihm in dem Gedränge der Hut vom Kopfe geschlagen worden war, nach dem er jetzt eilig griff. Als er noch damit beschäftigt war, den Hut aufzuheben, schlug er die Augen auf und blieb wie angewurzelt stehen: vor ihm stand ein Mädchen von einer unbeschreiblichen Schönheit, sie hatte ein leuchtendes albanisches Kostüm an und kam in Gesellschaft von zwei andern gleichfalls schönen Frauen daher, die aber neben ihr verblaßten, wie die Nacht vor dem Tage. Das war ein herrliches Wunderbildnis. Alles mußte vor ihrem Glanze dahinschwinden. Wenn man sie ansah, wurde es einem klar, warum die italienischen Dichter schöne Frauen mit der Sonne verglichen. Ja, das war eine Sonne, das war die vollkommenste Schönheit! Aller Glanz, der uns zersplittert und auf die einzelnen Schönen dieser Welt verteilt entgegenstrahlt, war hier in einer einzigen vereinigt. Wenn man ihren Busen und ihre Büste ansah, erkannte man sogleich die Mängel des Busens und der Büste anderer schöner Frauen. Im Vergleich mit ihrem dichten glänzenden Haar mußte jedes andere Haar dünn und farblos erscheinen. Ihre Hände mußten jeden Menschen zum Künstler machen! denn wie ein Künstler hätte er sie ewig anschauen mögen und es nie gewagt, sie anzuhauchen. Im Vergleich mit ihren Füßen mußten die Füße aller Engländerinnen, aller Deutschen, aller Französinnen und der Frauen aller andern Nationen wie Holzspäne erscheinen, nur die antiken Bildhauer haben die hehre Idee ihrer Schönheit in ihren Statuen festgehalten. Ihre Schönheit war vollkommen und wie dazu geschaffen, jedermann in gleicher Weise zu blenden. Hierzu bedurfte es nicht eines besonderen Geschmacks; angesichts solcher Vollendung mußten alle Geschmacksrichtungen zusammentreffen; vor ihr mußten alle andächtig auf die Knie sinken, der Gläubige wie der Ungläubige wären vor ihr niedergefallen, wie vor einer plötzlichen Erscheinung der Gottheit. Der Fürst sah, wie die ganze Menge und alle Anwesenden, soviel ihrer da waren, sie anstarrten, wie sich ein unwillkürliches mit Entzücken gemischtes Staunen in den Zügen der Frauen malte, wie sie immer wieder ausriefen: „ O bella! “ wie alle ohne Ausnahme sich in Künstler verwandelt zu haben schienen und ganz im Anschauen des schönen Wesens verloren waren. Aber im Gesicht des Mädchens war nichts zu lesen, außer einem lebhaften Interesse für den Karneval: sie sah nur die Menge und die Masken, merkte nichts von den auf sie gerichteten Augen und hörte kaum auf die hinter ihr stehenden Herren in Sammetjacken, anscheinend ihre Verwandten, die sie wahrscheinlich hieher begleitet hatten. Der Fürst suchte von den Leuten, die neben ihm standen, zu erfahren, wer und woher wohl dies wunderschöne Mädchen sei, aber man antwortete ihm überall bloß mit einem Achselzucken und einer unbestimmten Geste und fügte vielleicht noch hinzu: „Ich weiß nicht, wahrscheinlich ist’s eine Fremde [18] .“ Unbeweglich und mit angehaltenem Atem schien er sie mit seinen Blicken verschlingen zu wollen. Endlich richtete auch das schöne Mädchen ihre tiefen Augen auf ihn, um sie jedoch sogleich verlegen von ihm abzuwenden. Ein Schrei weckte ihn aus seinen Träumereien: vor ihm stand ein mächtiger Wagen. Eine Anzahl Masken in roten Blusen rief ihn beim Namen, bestreute ihn mit Mehl und begleitete ihre Späße mit dem langgezogenen Rufe „hu ... hu ... hu!“ In einem Nu war er unter dem lauten Gelächter der Umstehenden von Kopf bis zu den Füßen mit Mehl überschüttet. Ganz weiß wie Schnee, ja selbst mit weißen Augenwimpern, eilte der Fürst nach Hause, um sich umzuziehen.

Als er zu Hause angekommen war und sich umgekleidet hatte, war soviel Zeit verstrichen, daß nur noch einundeinhalb Stunden bis zum Ave-Maria übrigblieben. Die Wagen kehrten bereits leer vom Corso zurück: die Insassen hatten sich auf die Balkons zurückgezogen, um sich das Volk anzusehen, das sich in Erwartung der Pferderennen noch immer durch die Straßen drängte. Als er in den Corso einbog, stieß er auf einen Wagen, der mit Männern und Frauen angefüllt war. Die Männer trugen Jacken, die Frauen hatten Blumenkränze auf dem Haupt und Zimbeln und Kastagnetten in den Händen. Die Insassen des Wagens schienen in heiterer Stimmung nach Hause zurückzukehren, er war an der Seite mit Girlanden geschmückt, und die Speichen und Reifen der Räder waren mit grünen Zweigen umwunden. Aber das Herz des Fürsten wurde kalt, als er sah, daß im Wagen, inmitten der Frauen, das schöne Mädchen saß, das einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Ein strahlendes Lächeln erleuchtete ihr Antlitz, und unter Schreien und Singen rollte der Wagen schnell an ihm vorbei. Sofort machte der Fürst sich auf und eilte ihm nach, aber ein langer Zug von Musikanten kam ihm in den Weg: eine Geige von schreckenerregender Größe kam auf einem sechsrädrigen Wagen dahergefahren. Ein Mann saß rittlings auf dem Gestell, und ein anderer, der ihr zur Seite ging, strich mit einem gewaltigen Fiedelbogen über vier dicke Stricke, die die Saiten darstellen sollten. Die Herstellung dieser Geige hatte wahrscheinlich viel Mühe und große Unkosten an Zeit und Geld verursacht. Voran schritt ein Mann mit einer ungeheueren Trommel. Eine große Menge Volks, junge Burschen und Knaben folgten in hellen Scharen dem Musikantenaufzug, und die ganze Prozession wurde beschlossen durch einen in Rom wegen seiner Leibesfülle bekannten Pizzicaruolo, der eine Klistierspritze von der Größe eines Kirchturms in der Hand trug. Als der Zug die Straße verlassen hatte, sah der Fürst, daß es schon zu spät war und daher keinen Sinn mehr hatte, hinter dem Wagen herzulaufen; zudem wußte er ja auch nicht, welchen Weg er eingeschlagen hatte. Dennoch aber konnte er den Gedanken nicht aufgeben, das schöne Mädchen wieder aufzufinden. Seine Einbildungskraft zauberte ihm immer wieder dieses strahlende Lachen und den offenen Mund mit der langen Reihe wundervoller Zähne vor. „Das ist ein Blitzstrahl und kein Weib!“ sagte er immer wieder zu sich selbst und fügte stolz hinzu: „Sie ist eine Römerin: ein solches Weib konnte nur in Rom geboren werden. Ich muß sie unbedingt wiedersehn; ich trage Verlangen nach ihrem Anblick, nicht um sie zu lieben — nein, ich möchte sie nur ansehen, ihre ganze Gestalt betrachten: ihre Augen, ihre Hände, ihre Finger, ihre glänzenden Haare. Ich will sie nicht küssen, ich möchte sie nur ansehen. Wie nur? So muß es doch auch sein, das liegt im Wesen der Natur; sie hat kein Recht, ihre Schönheit zu verbergen und mit sich fortzutragen. Die vollendete Schönheit ward der Welt ja darum geschenkt, damit jeder sie anschaue, und auf daß er ihr Bild ewig in seinem Herzen trage. Wenn sie nur schön , nur eine gewöhnliche Schönheit und kein Wesen von dieser höchsten Vollkommenheit wäre, dann hätte sie wohl das Recht, einem Einzelnen anzugehören, er könnte sie in eine Wüste forttragen und der Welt ihren Anblick vorenthalten. Aber die vollkommene Schönheit muß jedem sichtbar sein. Läßt denn ein Architekt einen prachtvollen Tempel in einer engen Gasse errichten? Nein, er stellt ihn auf einen offenen Platz hin, damit der Mensch ihn von allen Seiten betrachten und sich an ihm erfreuen könne. ‚Ward etwa deshalb das Licht angezündet,‘ sagt der göttliche Meister, ‚auf daß man es verberge und unter den Scheffel stelle. Nein das Licht ward angezündet, auf daß es auf dem Tische stehe, allen Helligkeit spende und auf daß sich alle im Lichte bewegen.‘ Nein, ich muß sie unbedingt sehen!“ So sprach der Fürst zu sich selbst, dachte dann lange nach und ging alle Mittel durch, die ihn zu seinem Ziele führen könnten; endlich schien er eins gefunden zu haben: sofort und ohne einen Augenblick zu zögern begab er sich in eine der entlegenen Gassen, deren es in Rom sehr viele gibt, wo es nicht einmal einen Kardinalspalast mit einem gemalten Wappen auf dem ovalen Holzschilde gibt, wo sich über jedem Fenster und jeder Tür der engen Häuschen eine Nummer befindet, wo sich das Pflaster bucklig emportürmt und wieder senkt, und wohin sich von Fremden höchstens ein geriebener deutscher Künstler mit seinem Feldstecher und seinem Farbenkasten verirrt, oder etwa noch ein Ziegenbock, der hinter der vorübergehenden Herde zurückgeblieben ist und stehenbleibt, um sich diese merkwürdige Straße anzuschauen, die er noch nie gesehen hat. Hier hört man die sonoren Stimmen der Römerinnen; in allen Fenstern ertönt Geplauder und lebhafte Wechselrede. Hier herrscht volle Aufrichtigkeit, und der Passant kann hier alle häuslichen Geheimnisse erfahren; selbst Mutter und Tochter sprechen hier nicht anders miteinander, als indem beide ihre Köpfe zum Fenster hinausstecken. Männer sieht man hier überhaupt nicht. Kaum erglänzt der erste Strahl der Morgensonne, und schon öffnet sich das Fenster, und siora Susanna blickt auf die Straße hinaus. In einem anderen Fenster erscheint siora Grazia, noch damit beschäftigt, sich den Rock anzuziehen, sodann öffnet siora Nanna das Fenster, auf sie folgt siora Lucia, die sich das Haar kämmt, und endlich streckt siora Cecilia ihre Hand aus dem Fenster, um sich die Wäsche zu holen, die auf einer Schnur vor dem Hause hängt und nun ihre Strafe dafür erhält, daß sie so widerspenstig war und sich so schwer erreichen ließ: denn Donna Cecilia drückt sie zornig zusammen und wirft sie mit den Worten: che bestia! auf den Boden. Hier lebt alles, hier ist alles in Bewegung, hier fliegt plötzlich ein Schuh aus dem Fenster, um einen unartigen Jungen oder einen Ziegenbock zu treffen, der mit einem einjährigen Kind an einem Korb steht, es beschnuppert und seinen Kopf vorbeugt, um ihm zu zeigen, was zwei Hörner sind. Hier blieb nichts unbekannt, hier wußte man alles. Die Signoras waren über alles unterrichtet, was auf der Welt passierte, sie wußten, was siora Giudita sich für ein Tuch gekauft hatte, bei wem es heut Fisch zum Mittagessen gab, wer Barbaruccias Geliebter und welcher Kapuziner der beste Beichtvater war. Nur selten flocht auch der Gatte ein Wort ein, der meist auf der Straße an die Mauer gelehnt dastand, eine kurze Pfeife in den Zähnen hielt, und es für seine Pflicht hielt, wenn er von einem Kapuziner reden hörte, ein paar Worte wie: „Das sind alles Gauner!“ hinzuzufügen, worauf er wieder fortfuhr, seine Nase in Rauchwolken einzuhüllen. Hier kam nie ein Wagen vorbeigefahren, außer etwa ein zweirädriger Rumpelkasten, der von einem Maultier gezogen wurde und Mehl für den Bäcker mitführte, gewöhnlich wurde er auch von einem schläfrigen Esel begleitet, der kaum dazu zu bewegen war, seinen Korb mit den Broccoli bis an seinen Bestimmungsort zu schleppen, trotz aller Hühs der Straßenjungen, die seine unempfindlichen Lenden mit Steinwürfen regalierten. Hier gibt es keine Magazine außer ein paar kleinen Läden, wo Brot, Bindfaden und Glasflaschen feilgeboten werden, und einem dunklen, engen Café, das sich in einer Straßenecke befindet, da konnte man stets den Anblick eines beständig auf die Straße herauslaufenden Bottegas genießen, der den Signoris in kleinen Blechkannen Kaffee oder eine in Ziegenmilch gekochte Schokolade, die unter dem Namen „Aurora“ bekannt ist, servierte. Alle Häuser gehörten hier zwei, drei, mitunter aber auch vier Hausbesitzern, von denen der eine nur den lebenslänglichen Nießbrauch, ein zweiter nur eine Etage besaß, deren Mietzins er jedoch nur zwei Jahre lang erheben durfte, wonach der Stock auf Grund eines Testaments auf zehn Jahre an den padre Vincenzo fiel, dessen rechtlicher Anspruch jedoch von einem Verwandten des ursprünglichen Besitzers, der in Frascati wohnte, und der schon rechtzeitig für die Einleitung eines Prozesses gesorgt hatte, angefochten wurde. Es gab auch solche Hausbesitzer, die nur ein einziges Fenster in einem bestimmten Hause und zwei andere in einem andern Hause besaßen, und die Einkünfte von dem Fenster, für das der unordentliche Mieter übrigens den Mietzins meist schuldig blieb, mit einem Bruder teilten, — mit einem Wort, hier gab es in Hülle und Fülle Material für unaufhörliche Prozesse und reichen Broterwerb für die Advokaten und Kuriale, die Rom überschwemmten. Alle Damen, von denen soeben gesprochen wurde, sowohl die vornehmsten, die stets mit ihrem vollen Namen genannt wurden, wie die geringeren Ranges, die nur mit Diminutiven beehrt wurden: alle Tettas, Tuttas, Nannas usw. hatten meistens gar nichts zu tun; das waren Gattinnen von Rechtsanwälten, kleinen Beamten, kleinen Kaufleuten, Trägern, Facchinos, gewöhnlich aber Frauen unbeschäftigter Bürger, deren ganzes Talent darin bestand, sich geschickt mit ihren nicht mehr ganz intakten Mänteln zu drapieren. Viele von den Signoras standen den Malern Modell. Hier gab es Modelle aller Arten. Wenn sie Geld hatten, verbrachten sie ihre Zeit mit ihren Männern oder in großer Gesellschaft in den Osterien, hatten sie kein Geld — so waren sie deshalb auch nicht betrübt, sondern saßen am Fenster und blickten auf die Straße hinaus. Heute war die Straße stiller als sonst, weil ein Teil der Bewohner mit der Volksmenge nach dem Corso gezogen waren. Der Fürst ging auf die alte verfallene Tür eines Häuschens zu, die zahlreiche Löcher aufwies, so daß selbst der Hauswirt lange mit dem Schlüssel nach dem Schlüsselloch suchen mußte. Er war eben im Begriff, nach dem Ring zu greifen, als er plötzlich die Worte vernahm: „Signor Principe will Peppe sehen?“ Er hob das Haupt und erblickte siora Tutta, die ihren Kopf aus dem dritten Stock hervorstreckte.

„So ein vorlautes Frauenzimmer!“ rief siora Susanna aus dem gegenüberliegenden Fenster. „Der Principe ist vielleicht gar nicht deswegen gekommen, um Peppe zu sehen!“

„Natürlich, um Peppe zu sehen! Nicht wahr, Herr Fürst? Doch nur um Peppe zu sprechen? Nicht wahr? Herr Fürst? Um Peppe zu sprechen?“

„Ach was, Peppe! Was für einen Peppe,“ fuhr siora Susanna, mit beiden Händen gestikulierend, fort. „Der Fürst hat gerade Zeit, jetzt an Peppe zu denken! Jetzt ist doch Karneval. Der Fürst will sicher mit seiner Cousine Marchesa Montelli, und mit seinen Freunden eine Wagenfahrt unternehmen und in die Stadt fahren, per far allegria . Peppe! Peppe!“

Der Fürst war höchst erstaunt, solche Details über die Art, wie er seine Zeit verbringen wollte, zu vernehmen, aber er hat keinen Anlaß, sich zu wundern, denn siora Susanna wußte alles.

„Nein, meine lieben signore ,“ sagte der Fürst, „ich muß in der Tat Peppe sprechen.“

Diesmal jedoch war es siora Grazia, die die Antwort erteilte; sie hatte schon längst ihren Kopf aus einem Fenster der zweiten Etage herausgestreckt und saß lauschend da. Sie schnalzte zur Antwort ein wenig mit der Zunge und machte eine bezeichnende Bewegung mit dem Finger — das gewöhnliche Zeichen der Verneinung bei den Römerinnen — und fügte dann hinzu: „Er ist nicht zu Hause.“

„Aber vielleicht wissen Sie, wo er ist, wohin er gegangen ist?“

„Eh, wohin wird er gegangen sein!“ versetzte siora Grazia, indem sie ihren Kopf ein wenig auf die Seite neigte, „vielleicht — in die Osteria, am Platz beim Brunnen; wahrscheinlich hat ihn jemand aufgefordert; er ist halt irgendwohin gegangen: chi lo sa (wer will es wissen).“

„Wenn der Principe ihm irgend etwas zu bestellen hat,“ fiel hier Signora Barbaruccia ein, die am gegenüberliegenden Fenster saß und im Begriff war, sich einen Ohrring ins Ohr zu hängen: „Sie brauchen es mir nur zu sagen, ich will es ihm ausrichten.“

„Nein, lieber nicht,“ dachte der Fürst und dankte für ein solches Entgegenkommen. In diesem Augenblick lugte aus einer Nebengasse eine mächtige schmutzige Nase hervor, die wie eine ungeheure Axt über den gleich darauf zum Vorschein kommenden Lippen und über dem ganzen Gesicht schwebte: das war Peppe in eigener Person.

„Da ist Peppe!“ rief siora Susanna. „Da kommt Peppe, sior Principe!“ rief Signora Grazia lebhaft aus ihrem Fenster.

„Er kommt, Peppe kommt!“ trompetete siora Cecilia aus einer Straßenecke.

„Principe, Principe! Das ist ja Peppe! Da ist Peppe! ( ecco Peppe, ecco Peppe!)“ schrien die Kinder auf der Straße.

„Ich seh, ich sehe,“ sagte der Fürst, ganz betäubt von dem lauten Geschrei.

„Da bin ich, eccellenza . Da bin ich!“ sagte Peppe, indem er die Mütze abnahm. Man merkte es ihm an, daß er schon etwas vom Karneval abgekriegt hatte. Er war auf einer Seite mit einer Ladung Mehl bedacht worden: der ganze Rücken und eine Seite waren ganz weiß, der Hut war eingekeilt und das ganze Gesicht mit weißen Tupfen bedeckt. Peppe war schon deswegen merkwürdig, weil er sein ganzes Leben lang den Diminutivnamen Peppe getragen hatte. Er hatte sich durchaus nicht bis zum Giuseppe aufschwingen können, obwohl er bereits grau zu werden begann. Er stammte sogar aus einer guten und wohlhabenden Kaufmannsfamilie, aber er hatte sein letztes Häuschen in einem Prozeß verloren. Schon sein Vater, ein Mensch von derselben Gattung wie Peppe, trotzdem er sior Giovanni genannt wurde, hatte sein ganzes Vermögen aufgezehrt, und nun fristete Peppe gleich vielen andern notdürftig sein Leben, so wie es gerade kam: bald nahm er Dienste bei einem Ausländer, bald spielte er den Boten bei einem Rechtsanwalt, bald brachte er einem Künstler das Atelier in Ordnung, bald wieder diente er als Wächter in einem Weinberg oder in einer Villa und je nach dem Amt, das er bekleidete, wechselte er auch beständig sein Kostüm. Mitunter begegnete man Peppe in einem weiten Rock und einem runden Hut auf der Straße, bald wieder in einem engen Kaftan, der an zwei drei Stellen geplatzt war, und so enge Ärmel hatte, daß Peppes lange Arme wie zwei Besenstiele aus ihnen hervorguckten, zuweilen aber erschien er in einem ganz undefinierbaren Kostüm, wobei er die einzelnen Kleidungsstücke noch nicht einmal richtig angezogen hatte: mitunter konnte man fast glauben, er habe die Jacke an Stelle der Hosen angezogen und sie hinten, so gut es eben ging, zugebunden. Er war stets zu allen möglichen Diensten bereit und übernahm allerlei Aufträge, häufig sogar, ohne daß dabei etwas für ihn abfiel. Er lief hin und verkaufte für die in seiner Straße wohnenden Damen allerhand alten Plunder: in Pergament gebundene Bücher eines verarmten Abbés oder Antiquars oder das Gemälde eines Künstlers; er ging morgens zu den Abbés und nahm ihre Hosen und Schuhe, um sie zu putzen, mit sich nach Hause, wobei er es dann meist vergaß, sie zur rechten Zeit wieder zurückzubringen, bloß aus dem übereifrigen Wunsch, sich irgendeinem Dritten gefällig zu erweisen, und die Abbés hatten dann den ganzen Tag über Zimmerarrest, da sie ja nicht ohne Hosen und Stiefel ausgehen konnten. Oft fiel ihm eine beträchtliche Geldsumme zu. Aber er verfügte über sie nach römischer Art, d. h. schon am folgenden Tage war fast nichts mehr davon übrig, und dies nicht etwa deshalb, weil er das Geld für sich verbrauchte oder verschwendete, sondern weil er alles in der Lotterie verspielte, für die er eine große Leidenschaft besaß. Es gab kaum eine Nummer, mit der er es nicht schon versucht hatte. Jede unbedeutende, ganz alltägliche Begebenheit erhielt für ihn eine große Bedeutung. Wenn es sich einmal ereignete, daß er irgendeinen Plunder auf der Straße fand, so sah er gleich in seinem Wahrsagebuch nach, unter welcher Nummer er dort verzeichnet stand, um sich sofort das entsprechende Lotteriebillett zu besorgen. Einmal träumte er, daß der Satan, — den er ohnedies aus einem unbekannten Grunde jedesmal zu Beginn des Frühlings im Traume sah — daß ihn der Satan bei der Nase gepackt hielt und über die Dächer sämtlicher Häuser schleifte, von der St. Ignatiuskirche, über den ganzen Corso durch die Tre Ladronigasse bis nach der Via della Stamperia, bis er endlich auf der Treppe der Trinita haltmachte und sagte: „Das hast du dafür, daß du zum heiligen Pankratius gebetet hast, Peppe! Deine Nummer wird nicht gewinnen.“ Dieser Traum machte in der ganzen Straße großes Aufsehen, und besonders siora Cecilia und siora Susanna regten sich sehr über ihn auf; aber Peppe deutete ihn in seiner Weise: er holte sofort sein Wahrsagebuch und fand hier, daß der Teufel 13, die Nase 24 und der heilige Pankratius 30 bedeutet, und kaufte sich noch am selbigen Morgen alle drei Nummern. Dann addierte er alle drei Zahlen zusammen, was 67 ergab und besorgte sich noch Nummer 67. Wie gewöhnlich waren alle vier Nummern Nieten. Ein anderes Mal geriet er in Streit mit einem Weinbauer, einem dicken Römer namens sior Raphael Tomacelli. Was der Anlaß zu diesem Streite war, das weiß Gott allein; es gab jedoch zwischen ihnen einen sehr lauten, von lebhaften Handbewegungen begleiteten Disput, und schließlich wurden beide kreidebleich — ein drohendes Zeichen, auf das hin gewöhnlich alle Frauen entsetzt ans Fenster eilen und der vorüberkommende Spaziergänger sich in Sicherheit zu bringen sucht — mit einem Wort, ein Zeichen dafür, daß beide Parteien gleich zum Messer greifen werden. Und in der Tat, der dicke Tomacelli hatte bereits seine Hand in den ledernen Stiefelschaft gesteckt, der seine dicke Wade eng umspannte, um sein Messer hervorzuholen, und rief: „Warte nur, ich krieg dich schon, du Kalbskopf!“ als sich Peppe plötzlich mit der Hand vor den Kopf schlug und eilig das Schlachtfeld verließ. Es war ihm eingefallen, daß er sich noch nie ein Lotteriebillett auf das Stichwort „Kalbskopf“ gekauft hatte. Er sah im Wahrsagebuch nach, unter welcher Nummer der „Kalbskopf“ verzeichnet stand, und lief schleunigst nach der Lotteriekollekte, so daß alle Straßenbewohner, die sich bereits auf ein blutiges Schauspiel gefaßt gemacht hatten, durch diese unerwartete Wendung aufs höchste überrascht wurden, ja selbst Raphael Tomacelli ließ sein Messer wieder in den Stiefelschaft gleiten, wußte lange nicht, was er nun beginnen sollte und sagte schließlich: „ Che uomo curioso! (Seltsamer Mensch!) Übrigens ließ sich Peppe dadurch, daß die Billette stets Nieten waren, und daß das Geld weggeworfen war, nicht im mindesten beirren. Er war fest überzeugt, daß er einmal reich werden würde, und wenn er an einem Laden vorüberging, unterließ er es nie, zu fragen, was ein jeder Gegenstand koste. Als er einmal erfuhr, daß ein großes Haus verkauft werden sollte, begab er sich zum Verkäufer, um sich bei diesem genauer danach zu erkundigen, und als seine Bekannten sich über ihn lustig machten, versetzte er treuherzig: „Was lacht ihr, warum lacht ihr? Ich will es doch nicht gleich kaufen, sondern später einmal, wenn ich Geld haben werde. Das ist doch gar nicht so seltsam ... Ein jeder sollte sich ein Vermögen erwerben, um seinen Kindern, den Armen, oder für einen Kirchenbau und andre schöne Dinge etwas zu hinterlassen ... Chi lo sa. “ Der Fürst kannte ihn schon lange, sein Vater hatte ihn sogar einmal als Bedienten engagiert, aber sehr bald wieder davongejagt, weil Peppe seine Livree bereits in einem Monat aufgetragen und die ganzen Toiletten des alten Fürsten durch einen unvorsichtigen Stoß mit dem Ellenbogen aus dem Fenster auf die Straße geworfen hatte. „Hör mal, Peppe!“ sagte der Fürst. „Was befehlen eccellenza ?“ versetzte Peppe, der barhaupt vor dem Fürsten stand, „der Herr Fürst braucht nur zu sagen, ‚Peppe!‘ und schon bin ich da! Daher brauchen der Herr Fürst nur zu sagen: ‚Hör mal, Peppe!‘ so erwidere ich schon: ecco me eccelenza !“

„Du mußt mir folgenden Dienst leisten, Peppe!“ ... Bei diesen Worten sah der Fürst sich um, und bemerkte, daß sich sämtliche siore Grazias, sämtliche Susannen, Barbarucci, Tettas und Tuttas, soviel ihrer da waren, neugierig aus dem Fenster lehnten; die arme siora Cecilia aber war beinahe im Begriff, auf die Straße herunterzufallen. „Hm, die Sache steht schlimm!“ dachte der Fürst, „komm Peppe, folge mir!“

Mit diesen Worten schritt er voran, während Peppe ihm gesenkten Hauptes folgte und vor sich hinmurmelte: „Eh! diese Weiber sind so neugierig, weil’s eben Weiber sind, weil sie eben neugierig sind.“

Lange schritten sie, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, aus einer Straße in die andere. Peppe dachte bei sich: „Der Fürst will mir wahrscheinlich einen wichtigen Auftrag geben, weil er nicht in Gegenwart der andern davon reden will; folglich habe ich ein schönes Geschenk oder gar Geld von ihm zu erwarten. Wenn mir der Fürst aber Geld gibt, was soll ich damit anfangen? Soll ich es dem Cafébesitzer sior Serviglio geben, dem ich schon lange was schuldig bin? Sior Serviglio wird in der ersten Fastenwoche sicherlich sein Geld von mir zurückfordern, denn er hat all sein Geld für den Bau der ungeheuren Geige verbraucht, an der er drei Monate lang eigenhändig gearbeitet hat, um während des Karnevals mit ihr durch alle Straßen zu ziehen, jetzt wird sior Serviglio wahrscheinlich noch lange statt Rostbraten nur Ziegenfleisch und in Wasser gekochte Broccoli essen, bis er sich wieder mit seinem Café genug Geld verdient hat. Oder soll ich sior Serviglio noch nicht bezahlen, sondern ihn bloß zum Mittagessen in eine Osteria auffordern? Denn sior Serviglio ist ein — vero Romano und wird mir um der ihm erwiesenen Ehre willen die Rückzahlungsfrist noch ein wenig verlängern; die Lotterie beginnt bestimmt in der zweiten Woche der Fasten. Wie soll ich nur bis dahin das Geld verwahren? Die kann ich es so verstecken, daß weder Giacomo noch Meister Petruccio, der Drechsler, etwas davon erfährt, die mich sicherlich bitten werden, ihnen etwas zu leihen? Giacomo hat nämlich all seine Kleider bei den Juden im Gettho versetzt, Meister Petruccio hat gleichfalls seine Kleider zum Juden ins Gettho getragen, und hat einen Unterrock und das letzte Tuch seiner Frau in Stücke gerissen, um sich als Weib zu verkleiden ... wie soll ich es nur anstellen, daß ich ihnen nichts leihen muß?“ Dies waren die Gedanken, die Peppe durch den Kopf gingen.

Der Fürst seinerseits aber dachte: „Peppe kann herauskriegen, wo das schöne Mädchen wohnt, wer sie ist und kann sie mir auffinden. Erstens kennt er alle Menschen und hat daher eher als alle andern Gelegenheit, in der Menge einem Freund zu begegnen, er kann von diesem etwas erfahren, kann in alle Cafés und Osterien hineinblicken und kann sogar jemand ansprechen, da er durch seine Figur bei niemand Verdacht erregt. Er schwatzt zwar mitunter zuviel und ist recht zerstreut, aber wenn man ihn bei seiner Römerehre faßt und ihm sein Ehrenwort abnimmt, so wird er das Geheimnis schon zu bewahren wissen.“

So dachte der Fürst, während er die Straßen durchschritt; endlich blieb er stehen, als er gewahrte, daß er die Brücke längst überschritten hatte und sich schon lange auf der Seite Roms befand, die jenseits des Tibers liegt, daß er bereits bergan ging und daß die Kirche S. Pietro in Montorio nicht mehr fern war. Um nicht auf dem Wege stehenzubleiben, betrat er den Platz, von dem aus man ganz Rom überblicken kann und sagte zu Peppe gewandt: „Hör mal, Peppe: ich muß dich um einen Dienst bitten.“

„Was wünschen eccellenza ?“ versetzte Peppe.

In diesem Augenblick aber sah der Fürst Rom vor sich liegen; wie ein herrliches, leuchtendes Panorama breitete sich die ewige Stadt vor ihm aus. Auf der ganzen hellen Masse der Häuser, Kirchen, Kuppeln und Turmspitzen lag der leuchtende Glanz der herabsinkenden Sonne. Einzeln und in ganzen Gruppen traten eines hinter dem andern die Häuser, die Dächer, die Statuen, die schwebenden Terrassen und die Galerien hervor; dort funkelten die dünnen Spitzen der Türme und Kuppeln einer Masse und spielten mit der kapriziösen Buntheit bemalter Laternen in tausend Farben, dort trat ein ganzer Palast hervor, dort die schön geschmückte Spitze der Antoninussäule mit dem Kapitäl und der Statue des Apostels Paulus; mehr rechts strebten die Gebäude des Kapitols mit ihren Rossen und Statuen in den Himmel, noch mehr rechts über der leuchtenden Masse der Häuser und Dächer erhob sich majestätisch und streng das finstere Massiv des coliseischen Kolosses, dort wieder funkelte eine Flucht von Mauern, Terrassen und Kuppeln, in blendendes Sonnenlicht getaucht. Und über der ganzen blitzenden Masse grüßten die Wipfel steinerner Eichen fern aus den Villen der Ludovisi und Medici mit ihrem dunklen Laub herüber, über ihnen ragte ein Wald von römischen Pinien empor, die ihre zarten Stämme mit den kuppelförmigen Wipfeln in die Luft streckten. Und dieses ganze Bild wurde seiner ganzen Länge nach begrenzt von dunkelblauen Bergen, die sich zart und durchsichtig wie die Luft am Horizont erhoben und von einem phosphoreszierenden Lichte umwoben wurden. Kein Wort und kein Pinsel hätte die wunderbare Harmonie und den einträchtigen Zusammenhang aller Züge dieses Bildes schildern können! Die Luft war so rein und durchsichtig, daß die zarteste Linie der fernen Gebäude klar hervortrat und daß alles so nahe erschien, wie wenn man es mit der Hand greifen konnte. Das letzte kleinste architektonische Ornament, der Arabeskenschmuck eines Gesimses — alles zeichnete sich mit einer unbeschreiblichen Deutlichkeit ab. In diesem Augenblick ertönte ein Kanonenschuß und ein ferner, in eins zusammenfließender Schrei der Volksmenge — das Zeichen, daß die reiterlosen Rosse schon vorbeigaloppiert waren und damit der Karnevalstag seinen Abschluß gefunden hatte. Die Sonne sank immer tiefer herab und näherte sich dem Erdrand; ihr Abglanz auf der Masse der Bauwerke wurde immer rosiger und glühender, die Stadt erschien jetzt noch belebter und näher, die Pinien noch dunkler, das Blau der Berge wurde noch tiefer, sie phosphoreszierten noch stärker, und der erlöschende Himmelsäther wurde noch wundersamer und feierlicher! ... O Gott, welch ein Anblick! Und ganz hingerissen von all der Herrlichkeit vergaß der Fürst sich selbst, die Schönheit Anunziatas, das rätselhafte Schicksal seines Volkes und alles, was es auf dieser Welt gab.

Anhang

I
Arabesken

Die Arabesken sind in der ersten Januarhälfte des Jahres 1835 erschienen; die Unterschrift des Zensors trägt das Datum „den 10. November 1834“.

Arabesken (Erster Teil)

I. Skulptur, Malerei und Musik. Der Entwurf zu diesem Aufsatz stammt aus dem Jahre 1831, die endgültige Bearbeitung für den Druck fällt in das Jahr 1834.

II. Über das Mittelalter. Dieser Aufsatz, Gogols Antrittsvorlesung, ist im August 1834 niedergeschrieben.

III. Ein Kapitel aus einem historischen Roman. Wurde zum erstenmal in dem Almanach „Nordische Blumen für das Jahr 1831“ („ Ssewernyje zwety na 1831 god “) abgedruckt. Die Unterschrift des Zensors trägt das Datum „den 18. Dezember 1830“.

IV. Über den Unterricht in der Weltgeschichte. Dieser Aufsatz ist im Dezember 1833 geschrieben. In der ersten Hälfte des Jahres 1834 wurde er noch einmal überarbeitet und erschien dann in der neuen Fassung im Februarheft der „Zeitschrift des Kultusministeriums“ („ Journal Ministerstwa Narodnawo prossweschtschenja “) Jahrgang 1834.

V. Ein Überblick über das Werden Kleinrußlands. Der erste Entwurf zu diesem Aufsatz stammt aus dem Jahre 1833; im März 1834 wurde er für den Druck neu bearbeitet und erschien zum erstenmal im Aprilheft der „Zeitschrift des Kultusministeriums“, Jahrgang 1834, unter dem Titel „Ein Abschnitt aus der Geschichte Kleinrußlands“, Band I, Buch I, Kapitel I.

VI. Einige Worte über Puschkin. Der erste Entwurf stammt aus dem Jahre 1832, die letzte Bearbeitung für den Druck aus dem Jahre 1834.

VII. Über die Architektur unserer Zeit. Dieser Aufsatz ist in der zweiten Hälfte des Jahres 1833 begonnen, 1834 wurde er vor der Drucklegung noch einmal überarbeitet.

VIII. Al-Mamun. Dieses Essay stammt aus dem Jahre 1834.

Arabesken (Zweiter Teil)

I. Das Leben. Der Entwurf zu dieser Skizze stammt aus dem Jahre 1832, die letzte Bearbeitung aus dem Jahre 1834.

II. Schlözer, Müller und Herder. Der erste Entwurf zu diesem Aufsatz stammt aus dem Jahre 1832, die letzte Fassung aus dem Jahre 1834.

III. Der Newsky-Prospekt. Diese Novelle wurde 1833 oder im Anfang des Jahres 1834 begonnen. Im Oktober 1834 wurde sie für den Druck fertiggestellt.

Bei der Umarbeitung erhielt folgende Stelle der ursprünglichen Handschrift eine neue Fassung: „Wenn Piragow seine Uniform angehabt hätte, so hätte wahrscheinlich die Achtung vor seinem Rang und seiner Würde die wilden Teutonen sicherlich von ihrem Unternehmen abstehen lassen; aber er war ja nur als Zivilist und als Privatperson erschienen — im Rock und ohne Epauletten. In rasender Wut rissen die Deutschen ihm den Rock vom Leibe; Hoffmann setzte sich ihm mit dem ganzen Gewicht seines Leibes auf die Beine, Kunz packte ihn am Kopfe und Schiller ergriff ein Rutenbündel, das bei ihm den Dienst eines Besens versah. Ich muß zu meinem großen Bedauern gestehen, daß der Leutnant Piragow äußerst schmerzhafte Prügel bezog.“ (Vergl. Seite 238 .)

IV. Über die kleinrussischen Lieder. Dieser Aufsatz ist im März des Jahres 1834 niedergeschrieben und im Aprilheft der „Zeitschrift des Kultusministeriums“, Jahrgang 1834, erschienen.

V. Gedanken über Geographie. Dieser Aufsatz erschien zum erstenmal in der ersten Nummer der „Literaturzeitung“ („ Literaturnaja Gaseta “) im Januarheft des Jahrgangs 1831 unter dem Titel „Einige Gedanken über die Art, wie man Kinder in der Geographie unterrichten soll“. Die neue Fassung, wie sie in den Arabesken vorliegt, stammt aus dem Jahre 1834.

VI. Der letzte Tag von Pompeji. Ist im August des Jahres 1834 geschrieben.

VII. Der Gefangene. Stammt aus dem Jahre 1830.

VIII. Über die Völkerwanderung am Ende des V. Jahrhunderts. Ist wahrscheinlich im September des Jahres 1834 geschrieben.

IX. Memoiren eines Wahnsinnigen. Stammt aus dem Jahre 1834.

II
Aufsätze aus Puschkins „Zeitgenossen“

I. Über die Strömungen in der Zeitschriftenliteratur der Jahre 1834-1835. Dieser Aufsatz wurde im Februar 1836 begonnen und erschien in neuer Bearbeitung im April des Jahres 1835 im ersten Bande des „Zeitgenossen“ („ Sowremennik “) von Puschkin.

II. Petersburger Skizzen 1836. Dieser Aufsatz besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil stammt aus dem Jahre 1835, der zweite aus dem April und Mai des Jahres 1836. Beide Teile wurden zum erstenmal im sechsten Bande von Puschkins „Zeitgenossen“ abgedruckt, der erst nach seinem Tode erschien und die vom 2. Mai 1837 datierte Unterschrift des Zensors trägt.

III. Italienische Sommernächte. Der Entwurf zu diesen Skizzen stammt aus dem Jahre 1839.

III
Rom
Ein Fragment

S. T. Aksakow, dem Gogol diese Erzählung 1839 selbst vorgelesen hat, nennt sie die „Italienische Novelle Anunziata“. Die Erzählung ist noch vor dem September desselben Jahres in Rom niedergeschrieben. Gegen Ende des Jahres 1841 wurde das Fragment vor der Drucklegung noch einmal überarbeitet. Es erschien in der dritten Nummer des „Moskwitjanin“ („der Moskauer“) vom Jahre 1842.


Diese Nachträge und Anmerkungen sind der russischen Ausgabe von Tichonrawow und Schenrock (Petersburg 1901) entnommen.

Der Herausgeber.

Druck von Mänicke und Jahn, Rudolstadt.

Fußnoten

[1] Dieser Abschnitt ist dem Roman „Der Hetman“ entnommen, dessen erster Teil vom Autor verbrannt wurde, weil er ihn nicht befriedigte. Wir bringen an dieser Stelle die zwei einzigen Kapitel, die überhaupt im Druck erschienen sind.

[2] Diese Skizze bildet die Einleitung zu einer Geschichte Kleinrußlands; da aber der ganze erste Teil dieser Geschichte vollständig umgearbeitet wurde, so lassen wir diesen Teil als besonderen Aufsatz hier folgen.

[3] Unter Puschkins Namen wurden auch eine Reihe abgeschmackter Verse verbreitet. Das ist das gewöhnliche Los des Talents, dessen Name bekannt und berühmt ist. — Anfangs lacht man darüber, aber später fängt man an, sich zu ärgern, wenn man über die erste Jugend hinaus ist und sieht, daß diese Torheiten kein Ende nehmen. Schließlich schrieb man Puschkin sogar Werke wie „Das Cholera-Mittel“, „Die erste Nacht“ und ähnliche zu.

[4] Mir kam früher häufig ein seltsamer Gedanke; ich war der Ansicht, es müßte doch schön sein, wenn eine jede Stadt eine Straße aufzuweisen hätte, die gewissermaßen eine ganze Chronik der Architektur darstellt: dazu müßte sie mit einem schweren, finsteren Tor beginnen; hätte der Beschauer dieses passiert, so sollte er zu beiden Seiten des Weges gewaltige, mächtige Gebäude in einem ursprünglichen, noch rohen Geschmack, wie er allen Urvölkern eigen ist, erblicken, auf diese sollten die verschiedenen Entwicklungsformen des Stiles folgen: Seine machtvolle Umgestaltung, zur ägyptischen Architektur, sodann zur Schönheit des griechischen Stils, ferner zur wollüstigen Pracht der alexandrinischen und byzantinischen Architektur mit ihren flachen Kuppeln, dann zum römischen Stil mit seinen vielreihigen Arkaden, und dann wieder der Niedergang, das Zurückfallen in die rohen Zeiten und das plötzliche Sichaufschwingen zu der ungewöhnlichen Pracht der arabischen Architektur; hierauf sollte der rohe gotische, dann der gotisch-arabische und dann der reingotische Stil, diese Krone der Kunst, wie wir sie in dem Kölner Dom vorfinden, folgen; hierauf die furchtbare Vermischung aller Stile unter dem Einfluß der byzantinischen Kunst, dann die Wiederkehr der alten griechischen Architektur in neuem Gewande, und endlich müßte die Straße in ein Tor ausmünden, das alle Elemente des neuen Geschmacks in sich zusammenfaßt. Diese Straße wäre dann in gewissem Sinne eine lebendige Entwicklungsgeschichte des Geschmacks, und wer zu faul wäre, dicke Folianten durchzublättern, der brauchte nur einmal durch diese Straße zu gehen, um ein vollkommenes Bild dieser Entwicklung zu erhalten.

[5] Zur Zeit Nikolaus I. waren die Bärte verboten.

[6] d. h. Kaufleute.

[7] Übrigens dürfen sich die Freunde der Musik und der Poesie beruhigen. Vor kurzem hat Maximowitsch eine vortreffliche Sammlung dieser Lieder herausgegeben, die von Aljabjew für Gesang gesetzt sind.

[8] Schlözer.

[9] Müller.

[10] Tacitus.

[11] Über die Goten siehe Prokop, Jornandes, Gibbon.

[12] Schlegel

[13] Über die Hunnen und Attila siehe Jornandes, De Guignes, Fischer.

[14] Eine Art Semmel.

[15] Moskau = russisch Moskwa ist weiblichen, Petersburg spr. Pitirburg — männlichen Geschlechts.

[16] Eine große Markthalle in Petersburg.

[17] In der italienischen Poetik gibt es eine besondere Form, die unter dem Namen Sonett mit dem Schwanz ( con la coda ) bekannt ist — sie wird dann angewandt, wenn das Gedicht den ganzen Gedanken nicht zu fassen vermag und daher ein Zusatz erforderlich wird, der oft größer ist als das eigentliche Sonett.

[18] Die Römer nennen alle, die nicht in Rom leben, Fremde ( forestieri ), auch wenn sie nur zehn Meilen außerhalb der Stadt wohnen.

Anmerkungen zur Transkription

Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Auch Variationen in der Transliteration der russischen Namen wurden nicht verändert.

Im Original ist in den »Memoiren eines Wahnsinnigen« im letzten Eintrag ( Seite 384 ) der Monatsname »Februar« um 180 Grad gedreht (kopfstehend) geschrieben. Um dies korrekt darzustellen, muß im CSS dieser HTML-Datei der Abschnitt »span.transform« aktiviert werden.

Die Reproduktion des Gemäldes »Der letzte Tag von Pompeji« ist in der Buchvorlage schwarz-weiß. Sie wurde hier durch eine farbige Abbildung des Originales ersetzt.

Offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):