Title : Deutsche Humoristen, 8. Band (von 8)
Editor : Max Goos
Author : Otto Julius Bierbaum
Gorch Fock
Rudolf Presber
Wilhelm Schäfer
Karl Schönherr
Ludwig Thoma
Illustrator : Theodor Herrmann
Release date : November 8, 2017 [eBook #55914]
Language : German
Credits
: Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
http://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der 1917 erstmalig erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und altertümliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; mundartliche Passagen können in ihrer Schreibweise stark variieren, daher wurden diese entsprechend aus dem Original ohne Korrektur übernommen.
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Hausbücherei
60
Hiervon erschien
das
1.-20. Tausend 1917
Für diese während des großen Krieges hergestellte Auflage mußte holzhaltiges Papier benutzt werden.
Hausbücherei
der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung
60. Band
Hamburg-Großborstel
Verlag der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung
Herausgegeben und eingeleitet
von Professor
Dr.
Max Goos
Mit 26 Bildern von Theodor Herrmann
Hamburg-Großborstel
Verlag der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung
Inhaltsverzeichnis
zu den übrigen Bänden der „Deutschen Humoristen“
Preis jedes dauerhaft gebundenen Bandes 1.20 Mark.
Band 1: Friedr. Theodor Vischer : Humorist. Gedicht. Peter Rosegger : Als ich das erste Mal auf dem Dampfwagen saß. Wie wir die Gürtelsprenge haben gehalten. Wilhelm Raabe : Der Marsch nach Hause. Fritz Reuter : Woans ick tau ’ne Fru kamm. Albert Roderich : Nemesis. 71.-90. Tausend.
Band 2: Clemens Brentano : Die mehreren Wehmüller oder ungarische Nationalgesichter. E. Th. A. Hoffmann : Die Königsbraut. Heinrich Zschokke : Die Nacht in Brczwezmcisl. 46.-55. Tausend.
Band 3: Hans Hoffmann : Eistrug. Otto Ernst : Die Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben. Max Eyth : Der blinde Passagier. Helene Böhlau : Die Ratsmädel gehen einem Spuk zu Leibe. 56–70. Tausend.
Band 4/5 (Doppelband): Humoristische Gedichte . Eine hervorragende Sammlung der schönsten heiteren Gedichte bis auf die neueste Zeit. 352 Seiten. 21.-30. Tausend.
Band 6: E. Th. A. Hoffmann : Aus „Klein Zaches genannt Zinnober“. Bettina von Arnim : Die Reise nach Darmstadt. Fr. Th. Vischer : Die Tücke des Objekts. Ad. Bayersdorfer : Die militärpflichtige Tante. Henry F. Urban : Der Eishund. Ludwig Thoma : Besserung. 31.-50. Tausend.
Band 7: Ottomar Enking : Das Kriegerfest in Wettorp. Rud. Greinz : Das Hennendiandl. Sophus Bonde : Jochen Appelbaums Galion. Wilh. Schussen : Pilgrime. Ludwig Thoma : Unser guater alter Herzog Karl is a Rindviech. Wilhelm Fischer : Die Rebenbäckerin. Anna Croissant-Rust : Der Herr Buchhalter. 11.-20. Tausend.
Seite | |
Bierbaum, Otto Julius : Der mutige Revierförster | 7– 26 |
Fock, Gorch : Schalotte | 27– 54 |
Presber, Rudolf : Die 74. Nacht | 55– 79 |
Schäfer, Wilhelm : Béarnaise | 81– 97 |
Schönherr, Karl : Die erste Beicht’ | 99–115 |
Thoma, Ludwig : Kabale und Liebe | 117–137 |
Vorbemerkungen
zum 8. Bande.
Für die Abdruckserlaubnis der Erzählungen dieses Bandes schulden wir den hier genannten Verlagsbuchhandlungen und nicht weniger den Herren Verfassern oder ihren Erben Dank. Die Erzählungen sind entnommen:
1. Otto Julius Bierbaum’s „Der mutige Revierförster“ seinem Buche „Sonderbare Geschichten“ (München, Verlag von Georg Müller).
2. Gorch Fock’s „Schalotte“ dem Bande „Hamborger Janmooten, een lustig Book“ (Hamburg, M. Glogau jr., Verlag).
3. Rudolf Presber’s „Die 74. Nacht“ seinem Buche „Von Torheit und Freude“ (Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt).
4. Wilhelm Schäfer’s „Die Béarnaise“ seinen „33 Anekdoten“ (Georg Müller, Verlag in München).
5. Karl Schönherr’s „Die erste Beicht’“ seinem Bande „Aus meinem Merkbuch“ (Leipzig, L. Staackmann, Verlag).
6. Ludwig Thoma’s „Kabale und Liebe“ seinem Buche „Kleinstadtgeschichten“ (München, Albert Langen, Verlag).
Otto Julius Bierbaum , geboren 1865 in Grünberg in Schlesien, gestorben 1910 in Dresden, war der vielseitige, rastlos fleißige Weggenosse von Otto Erich Hartleben. Nach behaglichen Studien auf breiter Grundlage gab er sich in München und anderen deutschen Kunststädten strengster Arbeit hin. Er war ein großer Anreger, dem wir den „ Pan “, die freie Bühne , den Goethe-Kalender und andere künstlerische Taten verdanken. Stets war er ein teilnehmender Freund junger Talente und neuer Zeitrichtungen. Aber auch rückwärts gewendet gehörte sein Interesse älteren Dichtern von Walther von der Vogelweide bis Liliencron, an die er sich in seiner Lyrik so gern anlehnte. Während er uns hier als formgewandter, freilich nicht immer ganz origineller Spielmann des Überbrettl entgegentritt, ist er in seinen Romanen wie Stilpe und Prinz Kuckuck ein strenger Beobachter und Darsteller seiner Zeit- und Weggenossen. Seine kraftstrotzenden, oft reichlich selbstbewußten Schöpfungen enthalten treffende Bildnisse und Umweltschilderungen aus der Bohème um die Jahrhundertwende. Sein Humor ist oft recht gallig und streift an die Stimmung moderner Witzblätter.
Diesem Gedankenkreise entstammt auch die meisterhafte kleine Erzählung vom mutigen Revierförster. In ihrem Mittelpunkt steht Serenissimus, ein Fürst von heiteren, freundlichen Sitten, mehr menschenfreundlich als geistreich, eingezwängt in das Zeremoniell seines Standes, das er mit Würde erträgt. Der harmlose Zusammenstoß in der kleinen Humoreske entsteht aus dem Gegensatz zwischen höfischem Zwange und freiem Naturburschentum. Über die fürstliche Hosenklappe stolpern die höchsten Würdenträger, der schlichte Förster löst den Knoten durch ein mutiges Manneswort.
M. G.
Der mutige Revierförster.
önig Leberecht, der schon in vorgerückten Jahren befindliche, aber immer noch recht rüstige Beherrscher eines angenehm im Gebiete der mittleren Zone gelegenen Landes, liebte es, die Büchse im Arm, auf hohe Berge zu steigen und dort all das Wild zu erlegen, das man mit viel Mühe und Kunst in die unmittelbare Nähe seines Feuerrohres brachte.
Auf diesen Jagdzügen begleitete ihn, der gerne Menschen um sich hatte, weil er wohl wußte, daß es für Fürsten nicht gut ist, allein zu sein, nicht nur eine Schar bevorzugter Männer des Hof- und Staatsdienstes, sondern auch eine wohlausgewählte [S. 11] Mustergarnitur [1] solcher Leute, die sich durch sachgemäße Überdeckung größerer Leinwandflächen mit Farbe oder durch andere Hantierungen von gewissermaßen künstlerischem Charakter in der Leute Mund gebracht und überdies durch die Annahme des Titels von Professoren bewiesen hatten, daß sie, obwohl keiner ernsthaften Beschäftigung obliegend, doch Sinn für das bürgerlich Reputierliche [2] besaßen.
Es war, und dessen war sich ein jeder in des Königs Jagdgefolge wohl bewußt, eine große Ehre, mit Seiner Majestät durch die Felder und die Auen zu streifen, sowie auf schmalen Pfaden die erhabenen Gipfel der Bergwelt zu erklimmen, die wie wenig anderes dazu angetan erscheint, dem Menschen einen Begriff davon zu geben, wie großartig die Welt ist. Indessen, wie die meisten Ehren, so war auch diese mit Anstrengungen und Unbequemlichkeiten verbunden. Schon das Klettern allein erschien den älteren Ministern, vortragenden Räten, Kammerherren und Kunstprofessoren als eine im Grunde nicht ganz erfreuliche Muskelübung.
Denn, abgesehen davon, daß der königliche Bergsteiger schon an und für sich in seiner Eigenschaft als Fürst jenen elastischen [3] und lebhaften Gang hatte, von dem wir immer in den Zeitungen lesen, wenn von einem in Bewegung befindlichen Landesvater die Rede ist, war König Leberecht auch noch besonders auf diesen Sport trainiert [4] , da er Zeit seines [S. 12] Lebens die meisten freien Stunden, die ihm die Regierungsgeschäfte ließen, hauptsächlich dazu verwandt hatte, sich in der ebenso gesunden wie vornehmen Kunst des Kletterns auszubilden. Er wäre, wenn ihm die Schicksalsgöttinnen statt einer Krone einen Gamsbarthut und statt des Zepters einen Bergstock in die Wiege gelegt hätten, zweifellos ein ebenso vortrefflicher Bergführer geworden, wie er nun in Wirklichkeit ein scharmanter [5] König geworden war.
Aber die böse Notwendigkeit, mit den untrainierten Beinen des Untertanen den trainierten Beinen des Souveräns [6] in gleichem Schritt und Tritt zu folgen, war noch nicht einmal die fatalste Begleiterscheinung jener ehrenvollen Jagdpartien. Das Unangenehmste waren die kalten Bäder, die die höchst badelustige Majestät auf luftigster Höhe im schneekühlen Gewässer munterer Gebirgsbäche zu nehmen liebte, und von denen sich keiner ihrer Begleiter ausschließen konnte, da sich der Wasserscheue sonst dem Verdachte ausgesetzt hätte, daß er nicht unter allen Umständen gesonnen sei, seinem höchsten Herrn überallhin zu folgen.
Wie viele ministerielle, geheimrätliche, kammerherrliche, kunstprofessorale Schnupfen die Erfüllung dieser harten Untertanenpflicht im Laufe der Jahre zur Folge hatte, darüber besteht keine Statistik, doch darf ruhig angenommen werden, daß ihrer viele und die meisten davon hartnäckiger Natur waren. [S. 14] Denn nicht jeder verträgt zehn Grad Reaumur im Wasser. Die Loyalität [7] ist willig, aber das Fleisch ist schwach.
Nach einem solchen Bade in der Höhe von 1500 Metern bei entsprechender Wassertemperatur begab es sich nun einmal, daß der König, dem von der genossenen Wasserkühle selber die Finger etwas klamm geworden waren, seine Toilette (mit gebotener Delikatesse zu sprechen) nicht ganz zu Ende führte. Anfangs bemerkte niemand diesen Umstand, da ein jeder nur von dem einen Wunsche beseelt war, die eigene gesunkene Blutwärme durch allseitig luftdichten Verschluß der Kleider wieder in die Höhe zu bringen. Als sich aber später die königliche Jagdgesellschaft auf einem angenehmen Wiesenplane zur Rast niedergelassen hatte, nahm man den kleinen, aber durch seine Örtlichkeit fatal [8] auffälligen Mangel wahr.
Nun ist eine solche Wahrnehmung selbst unter gewöhnlichen Menschen, wenn der eine nicht gerade die Frau des andern ist, mit einer gewissen Peinlichkeit verbunden. Denn es handelt sich hier, wenn man der Sache auf den Grund geht, um einen Umstand, der geeignet ist, das sittliche Gefühl zu verletzen, um einen dolus eventualis [9] auf dem besonders heiklen Gebiete der Erbsünde sozusagen. Indessen, schließlich gibt sich doch immer einer den gewissen [S. 15] Ruck, nimmt den betreffenden (in den meisten Fällen ist es ein alter Professor oder ein Dichter) beiseite und flüstert (wenn er das Wort „geradezu“ im Wappen führt): „Sie, Ihr Hosentürl ist offen“, oder (wenn er delikater ist) mit einem schnellen orientierenden [10] Blicke: „Es ist etwas bei Ihnen nicht in Ordnung.“ Ja, es gibt sogar Leute, die selbst bei so peinlichen Gelegenheiten zu frivolen [11] Scherzen aufgelegt sind und etwa die Bemerkung machen: „Sie, verlier’n S’ fei’ nix!“
Kann man aber so etwas einem Fürsten, einem Könige sagen? Nein: Man kann nicht ! Der höfische Stil versagt hier vollkommen. Es gibt durchaus keine Redewendung in der Phraseologie [12] des Umganges mit Majestäten, die es ermöglichte, derlei vor ein allerhöchstes Ohr zu bringen, als über welchem bei feierlichen Anlässen nur durch ein paar Zentimeter getrennt eine Krone zu sitzen kommt. Nicht einmal der mit allen Essenzen [13] höfischer Eleganz [14] und Wortbiegungskunst gewaschene Zeremonienmeister [15] Baron von Bemsl, der doch eine anerkannte Autorität [16] auf dem Gebiet höfischer Linguistik [17] ist und von dem man hoffte, er werde die schwierige Mission [18] übernehmen und so seinem dichten Lorbeerkranze als königlicher Hausdiplomat ein neues leuch [S. 16] tendes Blatt einverleiben, erklärte, dies überschreite seine Fähigkeiten: dieser Fall sei von einer Heiklichkeit, daß man seine Lösung nicht einer Menschenzunge, sondern der Vorsehung selber überlassen müsse, die übrigens, so fügte er mit anmutiger Zuversicht hinzu, noch immer bewiesen habe, daß sie über das königliche Haus mit besonderer Aufmerksamkeit wache. Sohin (er liebte dieses kuriale [19] Wort) werde ihr auch dieser Umstand nicht entgehen, und sie werde zweifellos Mittel und Wege finden, ihn zu beheben, ohne daß sich ein schwacher Mensch den Mund zu verbrennen brauche.
— „Das ist alles sehr schön und sehr gut, und ich bin schon von Ressorts [20] wegen der letzte, der an der Vorsehung zu zweifeln wagt,“ bemerkte der Kultusminister, dem es trotz eines kaum überstandenen Schüttelfrostes jetzt sehr heiß zumute wurde, „aber sie müßte äußerst schnell eingreifen. Bedenken Sie, lieber Baron, daß uns am Fuße dieses Berges eine Deputation [21] der ländlichen Bevölkerung erwartet, darunter vier weißgekleidete Jungfrauen, von denen die jüngste ein Huldigungsgedicht auswendig gelernt hat. Ich wette meinen Kopf, daß die Jungfrau aus dem Konzept [22] kommt, wenn ihr Blick zufällig auf die derangierte [23] Gegend fällt, und diese infamen Bauernlackel werden dem höchsten Herrn sämtlich, ich sage Ihnen: sämtlich nicht ins [S. 17] Gesicht sehen, sondern — ebendorthin. Mein Gott, mein Gott: die Situation [24] ist von einer märchenhaften Scheußlichkeit. Wir können uns, so gern wir sonst dazu bereit sind, hier nicht auf höhere Mächte verlassen; wir müssen selber handeln. Wozu sind Sie denn Zeremonienmeister, wenn Sie sofort versagen, wo es einmal gilt, die durch einen tückischen Zufall bedrohte Würde des Königtums zu retten! Hic Rhodus! Hic salta! [25] Walten Sie Ihres Amtes!“
Der Zeremonienmeister, der es bisher immer zu vermeiden gewußt hatte, in Anwesenheit des Königs Schweiß abzusondern, war nicht imstande, die plebejische Feuchtigkeit zurückzudrängen, die ihm angesichts dieser grauenerregenden Perspektive [26] auf die Stirne trat. Er fühlte die ganze furchtbare Verantwortung, die ihm diese entsetzliche Situation [27] aufbürdete: er sah das Ansehen des Hofes in Gefahr, die Regierung wanken, den Staat konvulsivischen [28] Zuckungen preisgegeben. Vor seinem inneren Auge jagten sich Feuer, Pulverdampf und blutigrote Wogen der Rebellion [29] . Vor allem aber bebte sein ganzes Gemüt und schoß molkig zusammen wie Milch, wenn’s wittert, bei dem Gedanken, daß seine Stellung auf dem Spiele stand. Denn in der Tat, dieser Toilettenmangel gehörte in sein Ressort [30] , da kein Kammerdiener zugegen war.
Sollte er vielleicht doch?... Sollte er nicht doch vielleicht mit dem Anstand, den er hatte, diskret [31] sich in den Hüften wiegend, an den König heran treten und mit delikatem [32] Augenniederschlag lispeln: „Majestät haben allerhöchst geruht, zu vergessen, sich die...“
Aber bei allen Heiligen und Nothelfern, das geht ja doch nicht! Niemals noch, so lange es Zeremonienmeister gibt, haben Zeremonienmeisterlippen derartiges zu einem König zu sagen sich erkühnt.
In seiner fassungslosen Verwirrung überfiel ihn die phantastische Idee [33] , zu den Mitteln der Mimik [34] zu greifen und, sich dicht vor Seine Majestät postierend, an sich selbst, gewissermaßen wie an einem Lehrphantom, scheinbar die Handlung vorzunehmen, die der König an seiner Kleidung tatsächlich unterlassen hatte.
Aber das war ja grotesk [35] , skurril [36] , Wahnsinn! Ebenso hätte er direkt hingehen und, an das respektive Kleidungsstück der allerhöchsten Person Hand anlegend, den Mangel brevi manu reparieren [37] können, — eine Vorstellung, bei der er fast in Tränen der Verzweiflung ausgebrochen wäre.
Aber Verzweiflung ist ein zu gelindes Wort, um auszudrücken, in welchem Zustande sich das zeremonienmeisterliche Gemüt befand. Er war der Auf [S. 19] lösung nahe. Schon konnte er kaum mehr seine Augen regieren, die immer nur den einen, sich zu einem ungeheuren Schlund und Abgrund klaffend erweiternden Punkt suchten, der die schauderhafte Quelle dieser unsäglich grausamen Prüfung für ihn war. Gewaltsam mußte er seine Blicke von dort wegwenden, um sie ziellos im Kreise herumirren zu lassen. —
Ob denn nicht doch irgendeiner der Anwesenden es wagen würde?
An die Staats- und Hoffunktionäre [38] sich zu wenden, war ganz aussichtslos; das fühlte er mit der Gewißheit des Erfahrenen. Aber vielleicht einer dieser Kunstprofessoren?! Unter ihnen, die ja auch sonst zu seinem Entsetzen oft genug gegen den höfischen Ton verstießen, mußte doch einer zu finden sein, der, wenn man ihm einen Orden oder einen Auftrag oder schließlich den persönlichen Adel versprach, das unerhörte, kaum auszudenkende Wagstück unternahm.
Er zog jeden einzelnen beiseite, bat, flehte, rang die Hände, versprach schließlich den gebührenfreien Freiherrntitel und die Erblichkeit der Professur in der Familie, eingeschlossen die weibliche Nachkommenschaft, — nichts half. Alle erklärten, lieber täglich eine Literflasche Mastixfirnis auf das Wohl des erhabenen Landesherrn leeren zu wollen.
Der Zeremonienmeister hatte das absolut sichere [S. 20] Gefühl, daß der jüngste Tag herangebrochen sei; in seinen Ohren dröhnten deutlich die Posaunen. Da fiel sein Blick auf den Revierförster Meier, der hinter einem Baum saß und mit Mißmut konstatierte [39] , daß sein Enzianschnaps zu Ende war.
Ein letzter Hoffnungsstrahl flackerte, aber nur ganz schwach, im Ingenium [40] des halbtoten Hofmanns auf. Der Meister des höfischen Parketts trat zum Meister des gebirgigen Forstes und entwickelte ihm, indem er sich bemühte, durch leise Dialektfärbung seiner Sprechweise etwas Volkstümliches zu verleihen, den ganzen Komplex [41] der verhängnisvollen Verlegenheit, hinzufügend, daß er, der biedere Mann aus dem Volke, allein befähigt und berufen sei, den Hof, die Regierung, den Staat zu retten, indem er den König auf jenen Punkt aufmerksam machte, auf jenen Punkt...
„Das Hosentürl? Wenn’s weiter nix is?!“ meinte Meier.
„Aber Sie dürfen natürlich nicht so geradezu, lieber Meier,“ flüsterte der Zeremonienmeister, dem doch etwas bange wurde bei dieser schnellen Entschlossenheit des offenbar ganz ungeleckten Bären... „Sie müssen durch die Blume gewissermaßen... von hinten herum sozusagen... abstrakt [42] ...“ Er fand durchaus nicht die populären Akzente [43] . Das lag zu weit weg von seinem Ressort.
„Versteh schon! Natürlich! Ich kenn’ mich aus. Von der Schleichseitn zuweripürschen [44] muß ich mich. Nicht gleich mit dem Hosentürl ins Haus fallen. Beileib! Beileib! Fein andrehn muß man so was. So, in der Art, daß der König meinen könnt’, es wär einem andern sein Hosentürl!... Schwer is schon. Aber ich hab’ schon andere Füchse gefangen.“
Nach diesen Worten überzeugte sich der Revierförster nochmals, daß seine Flasche vollkommen leer war, schob sie resigniert [45] in seinen Rucksack und stand mit der Miene eines Mannes auf, der heftig nachdenkt und zu allem entschlossen ist.
Der Zeremonienmeister sah ein, daß dieser Mann, wenn nicht vorher der Himmel einfiel, binnen zwei Minuten das Unglaubliche zum Ereignis machen werde. Ihm ward zumute, als ob plötzlich der feste Boden unter ihm zu wanken begänne; eine grauslich hohe Woge hob ihn, senkte ihn und führte ihn aufs hohe Meer hinaus, einem ungewissen Schicksal entgegen, das irgendwo den Rachen aufsperrte, ihn zu verschlingen. Wie er bemerkte, daß der Revierförster sich in Bewegung setzte, fühlte er alle Schrecken der Seekrankheit in seinen Eingeweiden. Nur wie durch einen Schleier, einen gelbgrauen Nebel sah und hörte er, was sich nun begab.
Der Revierförster Meier ging gerade auf den König zu, sah ihn aus seinen katzengrauen Augen zutraulich von unten an, nahm seinen bis ins Zeiserl [S. 22] farbene verschossenen, vor sehr langer Zeit einmal dunkelgrün gewesenen Hut ab und — machte eine Verbeugung. Sodann aber setzte er seinen Hut wieder auf und stand stramm.
Mit dem scharfen Blicke, der ihn stets auszeichnete, bemerkte König Leberecht, daß dieses durchaus reglementswidrige [46] Gebahren seinen Grund in etwas besonderem haben müsse, und er fragte mit dem huldvollen Tone, der das erste ist, was ein jeder richtige König sich anzueignen keine Mühe und Übung scheut:
„Na, Meier, was gibt’s?“
(In diesem Augenblicke gab es dem Zeremonienmeister einen schmerzlichen Ruck, und er sah sich direkt vis-à-vis [47] dem Rachen des Ungeheuers, das ihn verschlingen wollte. Sein Herzschlag setzte aus. Ein überlebensgroßer Knödel kroch in seiner Speiseröhre mit einer unangenehm schlickernden Abart des Rollens empor und versetzte ihm auch den Atem. Sein letzter Gedanke war der Orden vom heiligen Kajetan, von dem er schon lange träumte. Dann: Nacht und Vernichtung.)
Meier aber trat einen Schritt vor und sprach mit der markig festen Stimme des deutschen Mannes, der keine Menschenfurcht kennt: „Ich möchte bloß die hohen Herrschaften was fragen.“
Alles war starr. Keiner begriff. Auch König Leberecht nicht. Aber sein Ton war doch noch immer [S. 23] huldvollst, als er sagte: „Fragen Sie nur zu, Meier.“
Und Meier ließ seine Stimme fröhlich erschallen und sprach: „Wie wär’s denn, meine Herrschaften, wenn wir alle miteinander unsere Hosentürln zumachten?“
Eine Reflexbewegung [48] seiner Hände belehrte den König über den Sinn dieser rhetorischen [49] Frage. Er richtete, was zu richten war, und lachte dann so herzlich laut auf, daß seine Umgebung überzeugt sein konnte, es sei durchaus im Sinne der Etikette [50] gehandelt, wenn sie mitlachte. Und da es zugleich ein Lachen der Befreiung war, war es ein brausendes, dröhnendes, herzerfreuendes Lachen.
Selbst die Spechte, die die hohen Stämme der Fichten bepochten, hielten mit Hämmern inne und lachten mit.
Der Zeremonienmeister aber erwachte unter diesem Ensemblesatz [51] des Vergnügens zu neuem Leben und fand sogleich, daß es unschicklich sei, in der allerhöchsten Nähe zu wiehern, wie unerzogene Rösser. Wäre ihm nicht gleichzeitig jener fatale Knödel gottlob zergangen und verschwunden, so daß er wieder frei atmen und sich im Vollbesitze seiner Kontenanz [52] fühlen konnte, hätte er noch einen schlimmeren Vergleich gewählt.
König Leberecht aber sprach, indem er dem Revierförster eine Zigarre anbot (die dieser jetzt noch und [S. 24] mit der ausgesprochenen Absicht, daß sie bis ans Ende der Tage dort bleiben soll in seinem Glaskasten aufbewahrt): „Meier, Sie sind ein ganzer Kerl. Schade, daß ich Sie nicht in der Regierung verwenden kann. — Ja, meine Herren,“ und damit wandte er sich zu den übrigen: „das Volk, das Volk!... Es ist eine schöne Sache um das Volk!...“
Dann stieg er, langsamer, als es sonst seine Art war, in tiefes Sinnen versunken, den Berg hinab, an dessen Fuße ihn ein junges Mädchen in weißen, gestärkten Kleidern mit den Worten begrüßte:
Bei diesen Worten stellte sich bei Seiner Majestät eine Ideenassoziation [53] ein, die ein Lächeln des königlichen Mundes zur Folge hatte, woraus alle anwesenden Gemeindevorstände aufs neue die Überzeugung gewannen, daß der hohe Herr nach wie vor den Interessen des Nährstandes seine besondere Huld zuwendete.
Fußnoten:
[1] Musterauswahl
[2] für anständig Gehaltene
[3] federnden
[4] eingeübt
[5] liebenswürdiger
[6] Herrschers
[7] Treue gegen den Herrscher
[8] unangenehm
[9] beabsichtigte Erfolgsberechnung
[10] sich unterrichtenden
[11] schlüpfrigen
[12] Wortschatz
[13] Feinheiten
[14] Vornehmheit
[15] Vorsteher der Hoffestlichkeiten
[16] Persönlichkeit von Ansehen
[17] Sprachschatz
[18] Auftrag
[19] höfische
[20] von Amts wegen
[21] Abordnung
[22] aus der Fassung
[23] in Unordnung gebracht
[24] Lage
[25] Hier mußt du deine Geschicklichkeit auf der Stelle beweisen, wenn man dir glauben soll.
[26] Aussicht
[27] Lage
[28] krampfhaften
[29] Empörung
[30] Amtsbereich
[31] vorsichtig
[32] zartem
[33] überspannter Gedanke
[34] Gebärdenspiel
[35] possenhaft
[36] verrückt
[37] kurzerhand in Ordnung bringen
[38] Hofwürdenträger
[39] feststellte
[40] Geist
[41] Inbegriff
[42] begrifflich
[43] volkstümlichen Ausdrücke
[44] heranpürschen
[45] entsagend
[46] vorschriftswidrige
[47] gegenüber
[48] unwillkürliche Bewegung
[49] schönrednerischen
[50] höfische Form
[51] Gesamtwirkung
[52] Haltung
[53] Gedankenverbindung
Gorch Fock (Johann Kinau) — ist am 22. August 1880 auf dem hamburgischen Eiland Finkenwärder geboren, 1916 verschlang ihn die See auf S. M. S. Wiesbaden in der Skagerrak-Schlacht. Welchen Norddeutschen, welchen Hamburger ergreift nicht Stolz und Trauer zugleich, wenn er den Namen des Frühvollendeten hört! Ein zweiter Körner, zu hohen Hoffnungen berechtigend, mitten aus dem Leben und Schaffen gerissen auf dem Felde der Ehre, vom Meere verschlungen, dem er so manches gute Wort und Werk gewidmet hatte. Gorch Fock war ein Seemannskind, dem Meere blieb seine ganze Sehnsucht gewidmet, wenn ihn sein Kaufmannsberuf auch tief bis nach Mitteldeutschland verschlug und zeitlebens an den Kontorbock fesselte, bis ihn der Weltkrieg ins Heer rief. Tief verankert ist sein Dasein wie seine Dichtung in der deutschen Familie, wo Gott und Vaterland, Natur und Heimat keine leeren Begriffe sind.
So wurde er der Dichter der Heimat . Aber nicht in behaglichem Schaffen und im Fluge rascher Erfolge. Selten hat sich ein Dichter die Zeit für seine Werke so mühsam abringen müssen vom Frohndienst des Tages. Die Not hat ihm die [S. 29] Feder geführt, die Sorge um Eltern und Kinder, der drohende Untergang seiner geliebten Heimatinsel, deren idyllische Einsamkeit der Erweiterung des Hamburger Hafens zum Opfer fiel. Und endlich in seinen letzten Jahren ist es das gewaltige furchtbare Schicksal seines geliebten Vaterlandes gewesen, das er wie kaum einer mit allen Fasern durchlebte. Als Mensch eher einsam als gesellig, gießt er in seine niederdeutsche Dichtung den ganzen goldenen Humor seiner urgesunden norddeutschen Natur hinein. Mit Recht hat Aline Bußmann, seine feinsinnige Biographin, ihn einen lachenden Philosophen, einen wahren Lebenskünstler genannt, aber auch einen weltabgewandten durchglühten Schwärmer. Das ist die echte Mischung, aus der deutsche Humoristen entstehen. Auf Lebensbejahung ruht sein einziger, großer Roman: „ Seefahrt ist not “. Von Freude durchtränkt sind auch eine ganze Reihe von jenen prächtigen kleinen Geschichten aus dem Seemannsleben . Vielleicht lag es in der Rastlosigkeit seines Daseins begründet, daß ihm knappe, prächtig angeschaute Stimmungsbilder in Menge gelungen sind, während er größere Novellen selten schuf. Auch die vorliegende kleine Erzählung vom lebensfrohen Steuermann und seiner koketten alten Braut bietet rein stofflich kaum etwas Neues. Aber was hat Gorch Focks Meisterhand daraus zu machen gewußt!
M. G.
Schalotte [54] .
[55] rop bet no Brunshusen un de Swing rop bet no Stood slepen, wo he sien Balken un Breeder to löschen harr. As [S. 31] he sik oppen Kontor von den Holthändler mellen dä, geef de em een Breef ut Hamborg. Tees sien Froo schreef em, dat dat nu sowiet weur mit jemehr Deern [56] , wenn he afkomen kunn, denn sull he man herreisen, denn wullen se Hochtied fiern. Dübel ok: Hochtied fiern, dat weur wat for Tees Sanner un bi de Hochtied von sien lütte Schalotte wull he öberhaupt un op jeden Fall mit bi sien: he öbergeef dorum Schipp un Kru [57] un Holt un dat Löschen an sien Stürmann Odje [58] Klütenmeyer un reis no Hamborg rop, as he sä, op dree Dog [59] . De Stürmann sä ober, he sull sik bi de Botterkoken [60] un bi den Grog man ornlich plegen un sull den Brand [61] , wenn he een kriegen dä, wat jo doch licht moleurn [62] kunn, man geruhig utslopen un man gern acht Dog wegblieben: he wull mit dat Holt un mit de Lüd woll alleen klor warrn.
ees Sanner kem mit sien Dreemastschuner „Charlotte“ mit een Lodung Holt von Sweden, un as he dorch den Nordostseeknol dorch weur, nehm he sik een Damper an un leet sik de ElwUn den annern Morgen Klock soß [63] kreg Odje Klütenmeyer, de Stürmann, sien Lüd vortüg [64] , un de Lüd von Land keemen jem tor Hölp [65] , un se löschen jemehr Lodung. Alltogau [66] gung dat jo nich: Odje sä, Schippsarbeit weur keen Hosenjagd un sweeten [67] kunn een genog unner de Lien [68] , hier in uns Breetengroden [69] dä dat nich neutig [70] , — ober dat gung doch. Son grot Schipp as den Dreemastschuner schienen de Stooders [S. 32] noch gornich sehn to hebben: wenigstens keemen nomiddags een ganz Deel Schoolkinner mit jemehrn Lehrer un Borgerslüd an un bekeken sik den lütten Schuner, as wennt de Potosi [71] weur. Unner de Bäum bitten achterto stunn [72] een Bank un dor sett sik halber Nomiddag een ol Fräulein oder Witfroo op dol [73] un bleef dor bet obends op sitten un kek ümmer stief no dat Schipp hen. Un wenn Odje Klütenmeyer mol opkek, denn mok se ümmer een seuten [74] Mund un nick em to. Odje kreg dat bald rut: Junge, sull dat Kieken un Nicken em gellen? He kek nochmol stief röber: woraftig, de Olsch [75] lach wedder un nick. Wat geiht di dat Wiefstück [76] an, dach he, ober he streek [77] doch all mol ober sien strubbeligen Bort un feuhl [78] mol no, of sien Slips ok noch sitten dä. Un he kunn dat Röberkieken ok nich loten. De Olsch harr woll ehr fiefunveertig [79] Johr oppen Puckel, kunnen ok söbenunveertig [80] sien, ober se harr noch goden Schick [81] un weur ok ganz god optokelt [82] un denn harr se jo een Og [83] op em smeeten [84] , dat mok den besten Indruck op Odje, de all [85] seit dree Wochen keen anner Froo mehr sehn harr, as de dicke Olsch von een hollandsche Jalk [86] , de ehr tweehunnert Pund weug [87] un em nich reizen kunn.
„Du, Hannes, wat is dat dor forn Froo op de Bank?“ freug [88] he toletzt, as he dat nich mehr uthollen kunn, een von de Arbeitslüd, dä ober ganz gliekgüllig [89] , as wenn he blot mol een Word bi de Arbeit snacken [90] wull.
Hannes wisch sik den Sweet vorn Kopp weg un kek op. Denn lach he: „Dat is Schalotte.“
„Schalotte?“
„Jo, de heet jüst so as jon [91] Schipp. Dat is een Witfroo, hett een scheun [92] Hus buten [93] de Stadt mit Land un scheunen Gorn [94] un Geld hett se ok un verheiroten will se sik ok gern wedder, jo.“
Odje de Stürmann schul [95] gau nochmol innen Winkel von 45 Grod no de Bank röber. Mein Gott, de Froo harr doch allens, wat to een Froo geheurn [96] dä, meen he denn, of dor denn keen Rot [97] to weur, dat se noch wedder een Mann kriegen dä. Of se denn woll so krüsch [98] worden weur.
„Dat will ik nich seggen, dat se krüsch is,“ antwor Hannes, „ober erstmol is se bannig gebüldet, schrift sogor Gedichten un Geschichten for de Zeitung un all son Schiet [99] un denn hett se een Splien un drüttens will se bloß een Koptein ton Mann hebben. Ehr erst Mann is Stürmann west un se hett sik dat nu fast innen Kopp sett, dat se bloß noch een Koptein freen [100] kann.“
„So, so,“ sä de Stürmann un arger sik, dat he blot Stürmann weur.
„De Sook [101] hett bloß den Hoken, dat se keen Koptein kriegen kann,“ fung Hannes wedder an, „all de Kopteins, de hier mit jemehr Schep komt, sünd ümmer verheirot, un Schalotte, de bald jeden Dag dor op de Bank sitt, lurt [102] ümmer noch op een Koptein ohne Ring un verdreugt [103] dor woll so bi lütten bi.“
Dormit nehm Hannes sien Balken op un slep em no de Kai röber.
Odje ober fung dat Simuleern [104] an. Op een Koptein ohne Ring lur de rieke, scheune Froo dor un em nick se to. He kek no sien Hand: dor seet keen Ring op. Sull se em for den Koptein von dat Schipp hollen [105] un em dorum so tolachen? He kek nochmol röber: verdori, se lach wedder un wink sogor son bitten mit de Hand.
Junge, dat weur toveel for Odje Klütenmeyer. Wat Stürmann, wat Koptein, dach he, reep [106] gau: „Nu kiek doch mol, wat dor forn groten Fisch int Woter swemmt!“ — un as se olltosom öder de Reeling keken, do plier [107] he gau no Schalotte röber un lach un wink mit de Hand. Un se dank em mit Lachen.
Noher keemen poor annere Froonslüd an den Hoben [108] lang, de mit de Witfroo bekannt weurn. Se selten sik bi ehr [109] dol un snacken mit ehr, son [S. 35] unglücklich Gesicht se ok moken much. Un toletzt nehmen se ehr mit. Odje kek ehr no, as wennt een Afschied op ewig weur, un se dreih sik nochmol un nochmol no em um.
Obends no Fierobend sleug [110] Odje dat Hart doch son bitten, wenn he doran dach, dat se em for den Koptein hollen dä, ober he gung doch hen un koff sik een reinen Krogen un leet sik roseeren un de Hoor snieden.
De Nacht weur sternklor un scheun, blot een mol leep een Schatten öber dat Holt un de Lantüchte [111] von den Nachtwächter beschien de Wanten [112] von de Charlotte, denn weur wedder allens still.
Morgens stunn een Blomenstruß vor de Kojüt un twüschen de roten un blauen Blomen steek een rosa Breef. De Jung worr den Struß toerst gewohr, de so scheun in de Sünn stunn un von de Daudruppens blenkern [113] dä. He rok [114] mol an de Blomen rum mit sien smuttelige [115] Nees un sä: hm, hm, un denn trock he den Breef vorsichtig ut de Kornblomen rut un lees de Adreß.
Herrn Kapitän Tees Sanner
Segelschiff Charlotte
hier
stunn dor op. He schüttel den Kopp, sowat harr he noch nich beleeft [116] . Nu keemen de Matrosen ut [S. 36] den Roof [117] un bekeken de Bescheerung, beroken de Blomen un besnacken den Breef. „Markst Müs [118] ?“ sä de een. „Ne, ober Rotten [119] ,“ sä de anner, „du, dat hett een Deern schreeben, kiek mol de Schrift an. Sull de Ol hier een Liebe hebben in Stood?“
„Wat is hier forn Volksversammlung von wegen Liebe.“ Dormit keem Odje ut de Kajüt rut. „Mokt de Winsch [120] klor!“
He kek de Blomen an, sä [121] ober keen Word, denn fot [122] he den Putt [123] an un broch em no de Kojüt [S. 37] dol. Dor sett he em op den Disch. As he an to rüken fung, worr he den Breef gewohr. „Herrn Kapitän Tees Senner“ lees he: du, Stürmann, de is nich for di, dor blief von weg! Odje besunn [124] sik een Ogenblick von wegen dat Geweten [125] , denn mok he den Breef ober getrost open: he wuß to swor Bescheed, wo de herkeem. Un denn lees he.
„An meinen Freund!“
Dat is for mi, dach Odje, sowat ward den dreugen Tees Sanner keen Minsch schrieben! He lees wieder:
De hett würklich Poesie in de Knoken, dach Odje, un lees den Satz nochmol mit Smolt [126] un Andacht. Denn gungt wieder:
As wenn Schiller dat schrieben harr, dach Odje un mok een klok Neeslock [127] op de Backbordsiet.
Nu ist rut: se hollt mi for Tees Sanner, dach Odje un kek in den Spiegel: sull ik wirklich so as Tees Rugstoppel [128] utsehn? Denn lees he wieder:
Schalotte, is egentlich gor keen slechten Nom, dach Odje, wenn ik dorbi bloß nich ümmer an Zippeln [129] un Schalotten denken muß, de ik nich uteenanner kennen kann! Denn lees he wieder:
Odje kek den Breef nochmol dorch un dach, is jo allens heugste [130] Poesie un is jo woll allens god meent, de Blomen sünd jo rein een Stoot, ober ik mark doch gliek, dat ik hier oppen Lannen [131] bün: wo kummt de Froo dorto, mi gliek [132] mit Du antoreden? Mit de Bildung is dat doch woll nich so wiet her, as Hannes meent!
As he Kaffe drunken harr, gung he mit de Lud an de Arbeit, ober dor weur doch all son bitten Unnerscheed [133] gegen gestern to spören: he fot [134] all lang nich mehr so veel sülm [135] mit an un kummandeer all veel mehr mit de Lüd rum. Un de reine Krogen, den he um harr, de muß jo opfallen.
„Markst Rotten?“ freug de een Matros.
„Ne, Katten [136] ,“ sä de anner, „he will sik hier as Käppen opspelen, uns Stürmann, dor fall he sik ober fix bi innen Finger snieden.“
Eben no de Middagsstunn keem Charlotte G. richtig wedder an. Odje worr ganz rot, so rot, as en Jantje [137] warrn kann, as he seh, dat se all von wieten winken dä, ober he kunn doch nich anners, he muß wedder winken. De Matrosen harrn dat woll sehn un wenn Odje wegkek, denn steeken se een smeerigen Grientje [138] op.
„Markst Katten?“
„Ne, Hunnen [139] , dor spinnt sik wat an, Mandus! Un weest du wat? De Olsch meent, Odje is de Käppen!“
„Sall ik mol röber loopen un ehr seggen, dat he bloß de Stürmann is?“
„Ne, du, lot em man erstmol ornlich anbieten [140] , lot de Olsch man erstmol fein an Bord komen, denn verrot wi den ganzen Kuddelmuddel.“
„Junge, Junge, jo!“
Den ganzen Nomiddag gung dat mit drohtlose Telegrophie twüschen Odje un Schalotte, bald worr winkt un bald worr nickt un bald worr lacht.
Toletzt wink Schalotte so dull, dat Odje ganz schomvigolett [141] warrn dä, wiel ok Hannes all wat marken kunn. Do stunn he op un gung no de Bank hen un sä de Witfroo Goden Dag un bedank sik for de scheunen Blomen un dat herrliche Gedicht. He sä würklich herrlich. Un se snack so seut un hochdütsch mit em, as se man kunn, un Herr Kapitän vorn un Herr Kapitän achtern un Herr Kapitän in de Midd, so gung dat man ümmerto as bi son Pepermöhl [142] un ehr Odje ehr noch sien Nom seggt harr, do harr se em all ehr ganz Leben von der Wiege bis zur Bahre verklort [143] un em von ehr Eensomkeit dor buten de Stadt vertellt un as Odje wedder an Bord gung, do harr he ehr all versprooken, obends in de Schummeree [144] bi ehr to Beseuk [145] to komen.
Büst doch een slechten Kerl, Odje Klütenmeyer, sä he to sik sülm, leitst di as Koptein inloden un büst doch blot een Stürmann! Dat slok [146] he ober [S. 41] bald dol, fleut [147] : Pflücke die Rosen kühn, die dir am Wege blühn! — un kek von Bord wedder no sien Schalotte röber.
Obends no Fierobend mok he sik landfein, as wenn he een Hochtied mitmoken wull un boß [148] dor rum as unklok [149] .
„Markst Hunnen?“ freug de een Jantje.
„Ne, Ossen [150] ,“ sä de anner un lach, „ik gläuf [151] , he will Schalotte beseuken!“
Odje ober de stebel [152] los, koff sik unnerwegens een veddel [153] Pund Rosen un keem in de Schummeree bi Schalotte an. Dübel ok, wat wohn se dor fein innen Greunen [154] , wat seh dat Hus fein ut un wat lach de Gorn! Schalotte keem em in de Meut [155] , geef em beide Hannen un gung mit em in den Gorn rin, dor weur een Läuw [156] mit een Disch un een Bank un dor sett se sik mit em hen. Een lütte nüdliche Köksch [157] keem un hung twee Lanternen op un broch dat Obendbrot for jem.
„Itoljeensche Nacht,“ sä Odje un meen wunner, wat he seggt harr. Denn hau he erst mol ornlich in: son Eten [158] kreg he an Bord nich to sehn. Schalotte weur selig, dat se een Koptein bi sik harr. „Noch immer keinen Ring, mein Freund?“ freug se un ei [159] sien grote brune Hand ümmer wedder von frischen. „Ne,“ sä Odje: wat sull he ok wieder seggen? [S. 42] He muß ehr noher ober doch Geschichten von sien Seefohrt vertellen, un de he nich beleeft harr, de muß he sik utdenken. Un wenn dat so recht gefährlich weur, denn keem se so ganz dicht bi em ran un krop [160] meist mit de Nees in sien Rocktasch rin un sä: „Ich fürchte mich sonst so sehr, Teseus!“ „Teseus,“ sä Odje, „wer is dat denn?“ „Das sind Sie, Herr Kapitän! Ich weiß wohl aus meiner Zeitung, daß Sie Tees heißen, aber ik kann mir bei Tees nichts denken und habe Ihnen darum in meinen Gedanken einen antüken Namen gegeben: ‚Teseus.‘“
„Ik dank ok for de Ehr,“ sä Odje un leet sik de Pannkoken god smecken.
Noher drunken se Wien, de beiden, un as Odje ton Adjüstseggen [161] keem, do weurn de Lanternen utbrennt un in de Düsterheit kreg he Schalotte hol mi de Dübel um den Hals to foten un geef ehr een Seuten. Do kriesch se ober op as son Küken, dat pett worden is, un leep gau int Hus rin. Odje stunn noch twüschen de Stickbeern [162] un dach, dor hest du scheun wat mokt, do worr dat Fenster boben open mokt un Schalotte flüster: „Ich bin Ihnen böse, Herr Kapitän, aber morgen komme ich an Bord, dann sollen Sie Abbitte tun.“
Dat is jo een scheune Taß Tee, dach Odje, as he in sien Koje krupen [163] da, dat kann jo god warrn! [S. 44] Den annern Morgen weur he bannig gnatterig [164] un snauz an Bord rum as son Harm-mok-Larm.
„Markst Ossen?“ freug de een Jantje.
„Ne, ober Perd,“ sä de anner, „he hett woll een Poor Scheuh [165] kregen un will sien Wut nu an uns utloten.“
Nomiddag sä Odje ton Kock [166] : „Mok man een Taß Kaffe mehr, is meuglich, dat wie Beseuk kriegt!“
„Wi kriegt Beseuk? Wer kummt denn?“ freug de Kock.
„Een Bekannte von mi,“ sä de Stürmann kort un mok een Gesicht, as wenn he den ersten opfreeten [167] harr un bi den tweeten anfangen wull.
Un Schalotte keem! Ganz in Witt [168] keem se, mit een roten Sünnschirm boben den Kopp un danz as son Lustkutter op See.
De Stürmann kreg son Kopp.
„Markst Perd?“ freug de een Jantje.
„Ne, ober Elefanten,“ sä de anner, „nu paß mol op, wat he forn Angst hett, dat wi Stürmann to em seggt. Ober dat segg ik jo in Goden: seggt nu no Koptein to em, wi wöllt em erst noch mehr rinseilen loten.“
„Minsch, wat een Hitt [169] !“ stöhn Odje, as dat witte Kleed neuger [170] keem, un wisch sik den Sweet af.
Do reep dat ok all von de Kai her:
„Guten Tag, Herr Kapitän, Sie sehen, ich halte mein Wort!“
„Gewiß, dat seh ik,“ sä de Stürmann un dach, wenn doch blot de Dübel keem un de ganze Kru [171] hier holen dä: „Komen Se rop!“
„Ogenblick, Herr Koptein ,“ reep de een Jantje do, „ik will eben de Brügg for de gnädige Froo bitten beter henleggen. So, Herr Koptein, so geiht dat woll!“
De Stürmann kek em an, as wenn he den Fleegen Hollanner [172] vor sik harr, Schalotte reep ober: „O danke, es geht. Eine Seemannsfrau darf nicht ängstlich sein!“
Un se keem röbertrippelt as son Geescha [173] . „So, jetzt die Strafe, mein Freund, zeigen Sie mir Ihr Schiff!“
Odje wuß bald nich mehr, of he hochdütsch oder plattdütsch mit ehr snaken sull, so verlegen weur he den ersten Ogenblick. Denn dach he dor ober an, dat he een Hamborger Jung weur un dat elfte Gebot lehrt harr, un gung mit sien Beseuk stolz not Achterdeck.
As he an de Kombüs [174] vorbikeem, freug he: „Is de Kaffe klor, Kock?“
„Jowoll, Herr Koptein,“ reep de Kock un mok een dumm Gesicht, as Odje em scheef [175] ankek.
Schalotte sä: „Höfliche Leute haben Sie, mein Freund.“
„Dat liggt in jemehr Notur,“ sä Odje, „sünd all vonnen greunen Soot [176] !“
Schalotte leet sik dat ganze Schipp wiesen, drunk Kaffe in de Kojüt, vergeef Odje den Seuten von gestern un leet sik dorfor twee frische op de Backen backen [177] un lach as son Lachduw [178] .
As se weggung, lod [179] se Odje wedder ton Obendeten in un denn sweef [180] se dor hen, as wenn se fleegen lehren wull.
Odje gung wedder an sien Törn [181] .
„ Stürmann , sölt nu erst de langen Stücken rut?“ freug de een Jantje.
„Jo, man to,“ sä Odje un weur de Fründlichkeit sülm, leet sogor for fief Groschen innen Buddel [182] holen un spendeer een Pund Kasbeern [183] .
„Prost!“ reep de een Jantje, „prost Stürmann, dorfor seggt wi gern mol een halbe Stunn Koptein.“
„Wat sünd ji dor op komen?“ freug Odje.
„Na, as wi sehn dän, dat de Dame Se for den Koptein hollen dä, do droffen [184] wi Se doch nich in Verlegenheit bringen, Stürmann! Hamborger Jungens möt sik doch helpen!“
„Dat is recht, Jungens,“ sä Odje un reef [185] sik de Hannen. Un obends mok he sik wedder landfein un stebel wedder no sien Schalotte rut. Dütmol dreep he dor grote Sellschopp an: Schalotte [S. 48] harr all ehr Fründinnen inlodt un stell em vor as den Koptein „von dat grote Dreemastschiff, dat in unsen Hoben liggt“. Minsch, dach de Stürmann, weurst hier man erst wedder rut, ober dat holp em nix, he muß vertellen un snacken un Schalotte seet ümmer so dicht bi em, dat jedereen sehn muß: de beiden heurn tosomen. Dat weur een beusen Törn for Odje un as he wedder an Bord gung, dach he: wenn bloß dat Holt erst rut weur, dat wi wedder no See hen keemen.
Den annern Dag besoch Schalotte em mit dree Fründinnen an Bord. De Matrosen wullen sik dotlachen un reepen eenen Herr Koptein no den annern öbert Deck. Obends nehm Schalotte em mit in de Stadt rin, wo Konzert weur, un stell em de Honorotschoren von Stood [186] vor. As Odje ehr noher an de Husdör wedder aflebern [187] dä, sä se, as he ehr wedder een Seuten geben wull: se wull em gewiß nich drängen, ober von wegen ehr Fründinnen un von wegen de Lüd weur dat doch woll beter, wenn he sik bald erklären dä, ober se wull em nich drängeln.
Junge, Junge, nu weurt so wiet, nu seet de Stürmann Odje Klütenmeyer fast. He sull sik erklären, dat heet, he sull sik mit Schalotte verloben! Minsch, wat mok ik bloß, dach he, as he an Bord sleek, wat kom ik von de leege Wall [188] wedder af?
In de Kojüt stunn Tees Sanner, de Koptein, [S. 49] un trock grod de Unnerbüx ut: he wull tor Klapp [189] gohn.
„Hallo, Stürmann, wat geiht uns dat?“ reep he.
„Wat, Koptein, ji sünd all wedder hier?“ freug Odje.
„Jo, dat fule Leben dor in Hamborg is mi öber worden,“ sä Tees Sanner. „Allens in Trümm?“
„Jo, allens all right [190] , Käppen!“
„Stürmann, ji seggt dat mit een Gesicht, as wenn jo dat Potent [191] nohmen weur. Dor is wat nich in Ornung, gläuf [192] ik.“
„Doch, Koptein, is allens in Ornung,“ antwor Odje.
„Ne, ne, is nich wohr,“ reep de Koptein, „un ik will weten, wat dor los is.“
To weten kriegt he dat morgen jo doch, dach Odje, sallst em man leber nu all vertellen.
Un he schroof [193] de Lamp dol un vertell de Geschichte von Schalotte. Erst lach Tees, wat he man kunn, toletzt sä he ober: „Is doch een beusen Streich, Stürmann. Wat hefft ji forn Entschuldigung dorfor?“
„De Liebe,“ sä de Stürmann.
„Och wat, Liebe,“ lach de Koptein, „wat sall dor nu von warrn?“
„Dat wet ik nich.“
„Un wenn se morgen nomiddag hier mit söben von ehr Fründinnen ankomen deit?“
„Dat wet ik nich.“
„Jä, dat wet ik nich, heet dat nu, wat, Stürmann? Ji harrn den ganzen Heunerkrom man noloten sullt.“
„Ik harr Schalotte man to leew,“ sä Odje un kek deepsinnig in de Lamp rin.
„Dat beste is, ji goht morgen hen un seggt ehr, dat ji keen Koptein sünd, un frogt ehr, of se jo as Stürmann hebben will.“
„Ne, dat do ik nich, Koptein, leber lop ik von Bord,“ sä Odje.
„Na, denn wöllt wi uns de Sook erst mol besloopen,“ sä de Koptein un puß em de Lamp vor de Nees ut.
Den annern Morgen, as se Kaffe drunken, mok Odje noch son Gesicht as een Putt vull Müs, dat den Koptein dat duern dä. He sä: „Ich much dien seute Schalotte ok woll mol sehn, Odje Klütenmeyer: wat meent ji, Stürmann, wenn ik mi mol rutpett un mit ehr snacken do: vullicht dat ik den Krom denn wedder in de Reeg [194] krieg. Oder wöllt ji mit?“
„Ne, Koptein, goht man erstmol alleen hen,“ sä Odje un gung no de Luk hen.
As Tees Sanner gegen Middag wedder keem, sä he keen Word to sien Stürmann, gung still an em vorbi un pett sik no de Kojüt rin. Dor sett he sik dol un lur, dat Odje komen sull.
Odje keem ok bald an.
„Na, Koptein, wat ist worden?“
„Slechten Kerl sünd ji doch, Stürmann, slechten Kerl. Son mooi [195] Wief so to bedreegen! Wat is dat noch forn feine Froo, de Schalotte, un wat hett se forn fein Hus! Un wat forn Gorn! Dor heff ik mit ehr in seten, eenfach herrlich, kann ik di seggen.“
„Ik ok,“ sä de Stürmann, de ganz lütt worden weur. „Will se mi nu noch hebben, Koptein?“
„Ne, ober de Ogen will se di utkratzen. Odje Klütenmeyer,“ reep de Koptein, „se bedankt sik for de Ehr, Froo Klütenmeyer to warrn!“
„Will se würklich nix mehr von mi weten?“
„Ne, den Koptein Tees Sanner, den harr se leew hatt, sä se, ober mit den Stürmann Odje Klütenmeyer wull se nix mehr to kriegen hebben. All ehr Gedichten, de se for di trechtschostert [196] hett, Odje, son Hümpel [197] , hett se vor mien Ogen verbrennt. Hier werfe ich die Gluten in die Gluten, reep se, hest du een Ohnung, wat se dormit seggen wullt hett?“
„Se hett mi nich mehr leew,“ sä Odje, „vullicht hett se mi öberhaupt nich leew hatt. Droff ik ehr nochmol beseuken, Koptein?“
„Wen? Schalotte? Du, de is all lang weg, ik heff ehr noch no de Bohn henbrocht, se wull erst mol veer Wochen in de Eensomkeit, sä se, bet de Snackeree [198] von de Lüd vorbi weur.“
„Un bet wi no See hen sünd,“ sä de Stürmann un nick mit den Kopp.
„Richtig,“ reep de Koptein, „di Swinnelmeier, sä se, wull se nich wedder vor Ogen sehn!“
„Swinnelmeier, weur dat erst letzt Word?“ freug Odje.
„Ne,“ sä Tees Sanner, „dat letzte Word is düt Gedicht hier, dat hett se noch gau innen Wortesool klor mokt. Dichten un riemeln kann de Froo as de Dübel. Heur to:
Se fohrt no den Horz hen, Stürmann, ober dor kunn se inne Gang [199] keen Riem op sinnen, sä se, dorum hett se Tirol schreeben. Kummt ok jo nich so genau op an, sä se, is jo bloß forn Stürmann, wennt forn Koptein weur, denn weur dat wat anners. Se wull dor noch een Vers to moken, ober do fleut de Tog un se muß moken, dat se man mitkeem. Wat seggt ji dorto?“
„Nix,“ sä de Stürmann.
„Feuhlt ji denn nu gorkeen Reue?“ frog de Koptein.
„Ne,“ sä de Stürmann, „mi freit, dat ik ehr jeden Obend een opdrückt heff.“
„Wat dat anbelangt, Stürmann,“ antwor de Koptein, „ik heff ok een Seuten von ehr kregen.“
„Dat is nich wohr!“
„Doch ist wohr. Se sä, se harr den falschen Tees Sanner so veel Seute geben, nu wull se ok eenmol mol den richtigen küssen. Se wull ok eenmol mol een Kopteinsseuten hebben. Un den hett se kregen, Stürmann, Junge, dat weur een Seuten.“
„Verdori,“ reep de Stürmann, „wenn dat wohr is, denn lot ehr man reisen, de ole Zippel de.“
„Schalotte heet se.“
„Och wat, Schalotten un Zippeln [200] heff ik noch nie uteenannerkennen kennt,“ sä Odje, denn kek he sien Koptein ernsthaftig an: „Von eenen verheiroten Mann, de bald Großvadder warrn will, harr ik sowat egentlich nich dacht.“
„Ik ok nich,“ lach Tees Sanner, „ober scheun weurt doch, Stürmann. Segg dor man bloß mien Froo nix von, wenn wi no Hus komt. Un nu lot uns man wedder Holt löschen.“
„Jo, jo,“ sä Odje un gung wedder an Deck. „De ole Zippel,“ brumm he in sik rin un spee öber de Reeling, gliek noher dä em dat ober leed un he kek no de leddige Bank unner de Bäum hen un flüster: „Schalotte!“
Un he wisch sik öber de Ogen un nehm dat Löschen wedder op den Kieker.
„Markst Elefanten?“ freug de een Jantje den annern.
„Ne, Müs,“ sä de anner, „ik gläuf, uns Stürmann is eben kielholt [201] worden.“
„Wat hefft ji dor ümmer to preestern [202] ?“ schull [203] de Stürmann, „arbein, arbein, dat wi klor ward un ut düt verdreihte Lock rut komt! Hier kann een jo verrückt warrn!“
Fußnoten:
[54] Aus „Hamborger Janmooten, een lustig Book“ von Gorch Fock. Geh. 2.50 M., geb. in Leinen 3.50 M. (Verlag M. Glogau jr. Hamburg)
[55] Elbe
[56] ihrer Tochter
[57] engl. Crew-Mannschaft
[58] Koseform von Adolf
[59] Tag
[60] Butterkuchen
[61] Rausch
[62] geschehen
[63] sechs Uhr
[64] vor Zeug (ließ ans Werk gehen)
[65] kamen ihnen zur Hilfe
[66] allzuschnell
[67] schwitzen
[68] Äquator
[69] Breitengrad
[70] nötig
[71] Name des größten Segelschiffes der Welt (deutsches Schiff)
[72] ein bißchen im Hintergrund stand
[73] nieder
[74] süßen
[75] Alte
[76] Weibsbild
[77] strich
[78] fühlte
[79] fünfundvierzig
[80] siebenundvierzig
[81] gutes Aussehen
[82] aufgeputzt
[83] Auge
[84] geworfen
[85] schon
[86] kleines Küstenfrachtfahrzeug
[87] wog
[88] fragte
[89] gleichgültig
[90] reden
[91] Euer
[92] schön
[93] außerhalb
[94] Garten
[95] schielte
[96] gehören
[97] Rat
[98] wählerisch
[99] hier: Unsinn
[100] freien
[101] Sache
[102] lauert
[103] vertrocknet
[104] Nachdenken
[105] halten
[106] rief
[107] blinzelte
[108] Hafen
[109] ihr
[110] schlug
[111] Laterne
[112] Stahltrossen oder Taue, die die Masten seitlich halten
[113] blinken
[114] roch
[115] unsaubere
[116] erlebt
[117] Wohnraum
[118] „Merkst du was?“ (wörtlich: „Merkst du Mäuse?“)
[119] Ratten
[120] Winde
[121] sagte
[122] faßte
[123] Topf
[124] besann
[125] Gewissen
[126] Schmelz
[127] Nasenloch
[128] rug = rauh
[129] Zwiebeln
[130] höchste
[131] an Land
[132] gleich
[133] Unterschied
[134] faßte
[135] selbst
[136] Katzen
[137] Kosenamen für Janmaat = Matrose
[138] gutmütig-spöttisches Lächeln
[139] Hunde
[140] anbeißen
[141] schamrot
[142] Pfeffermühle
[143] erklärt
[144] Dämmerung
[145] Besuch
[146] schlug
[147] flötete
[148] rannte
[149] verrückt
[150] Ochsen
[151] glaube
[152] stiefelte
[153] viertel
[154] Grünen
[155] entgegen
[156] Laube
[157] Köchin
[158] Essen
[159] streichelte
[160] kroch
[161] Abschiednehmen
[162] Stachelbeeren
[163] kriechen
[164] sehr kratzbürstig
[165] entlassen worden
[166] Koch
[167] auffressen
[168] Weiß
[169] Hitze
[170] näher
[171] engl. Crew = Mannschaft
[172] fliegenden Holländer
[173] japanische Tänzerin
[174] Schiffsküche
[175] schief
[176] Straße im Hamburger Hafenviertel
[177] kleben
[178] Lachtaube
[179] lud
[180] schwebte
[181] Reihe (Arbeit)
[182] Flasche
[183] Kirschen
[184] durften
[185] rieb
[186] Standespersonen von Stade
[187] abliefern
[188] niedrige Küste (gefährliche Stelle für die Seefahrt)
[189] Bett
[190] in Ordnung
[191] Patent
[192] glaube
[193] schraubte
[194] Reihe
[195] gut
[196] zurechtgeschustert
[197] Haufen
[198] Geschwätz
[199] Eile
[200] Zwiebeln
[201] es ist ihm der Kopf zurecht gesetzt worden
[202] predigen
[203] schalt
Rudolf Presber ist am 4. Juli 1868 in Frankfurt a. M. geboren und lebt heute in Berlin-Grunewald. Wie sein großer Landsmann Goethe entstammt er einem literarisch gebildeten Hause. Früh waren beide als Dichter tätig, auch sind sie lebenslang Verehrer des schönen Geschlechtes gewesen. Aber darin ist der liebenswürdige Rudolf Presber doch himmelweit verschieden von seinem großen Landsmann, daß 90 Prozent seiner Werke humoristisch sind. Zweifellos besitzt er ein starkes Formtalent. Die fröhlichen Kinder seiner Muse danken ihren großen Erfolg dem flotten, frischen Erzählungston, der warmherzigen Gesinnung und nicht zum wenigsten jenem goldenen Humor , der ihm „Lebensäußerung und nicht Geschäft ist“, wie es in einer seiner Novellen heißt. Manches feine, kluge Wort ist ihm in Vers und Prosa gelungen.
Im Mittelpunkte seiner Novellen steht oft ein wunderlicher Kauz, vom Schicksal arg zerzaust, vom Dichter mit Liebe und Nachsicht behandelt. Eine solche Figur ist auch der unbekannte „berühmte“ Dichter unserer Novelle. Mit feinsinniger Satire geißelt er die Durchschnittsverehrung deutscher Dichter im sinnigen Stil unserer Zeit und verfolgt da [S. 57] mit Gedanken und Ziele, wie sie der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung besonders nahe liegen. Das Studentische ist mit Behagen und leichter Ironie dargestellt. Fast möchte man annehmen, daß ein persönliches Erlebnis des Dichters dahintersteht. Und köstlich wird das Ganze umrahmt von dem Gedanken aus der 74ten Nacht im orientalischen Märchen.
M. G.
Die vierundsiebzigste Nacht.
er fünfte Kalif aus dem ruhmreichen Geschlechte der Abassiden war Mehdis kluger Sohn Harun al Raschid.
Im Morgenland wissen sie noch viel von ihm zu berichten. Alle erzählen von ihm, von dem simplen [204] Kameltreiber bis hinauf zum Statthalter, der im Namen des Schattens Gottes Recht spricht.
Aber auch im Abendlande, das er selbst nie gesehen, nur mit Gesandschaften beglückt hat, kennt man ihn. Nicht als mächtiger Herr von Bagdad, nicht als gewaltiger Kriegsheld, der dem byzanti [S. 59] nischen Kaiser den Tribut [205] abtrotzte, nicht als Freund Karls des Großen wäre sein Bild auf unsere Tage gekommen, wenn nicht jene schönen arabischen Erzählungen so gern von ihm handelten, jene wunderbare Sammlung von Märchen voll Geist, Witz und Farbenpracht, die unter dem Namen „Tausend und eine Nacht“ bekannt ist.
In den seltsamen Geschichten, die die liebliche Sultanin Schehersad dem grausamen Sultan Scheherban erzählt, die Mordlust des Tyrannen einzuschläfern, kehrt sie immer wieder, die sympathische [206] Gestalt des großen Kalifen, der so gerecht wie klug war. Typisch [207] für die Art, wie sich die braunen Wüstensöhne unter den schattenden Palmen der Oase bei Datteln und Hirsebrot gern das Bild ihres größten Fürsten heraufbeschwören, ist Schehersads Erzählung in der vierundsiebzigsten Nacht, in der das wunderliche Märchen von den drei Äpfeln und der zerstückelten Frau beginnt.
„Man behauptet, o König der Zeit und Herr der Äonen“ [208] , so fängt Schehersad in jener Nacht ihre Geschichte an — „der Kalif Harun al Raschid habe in der Nacht einmal seinen Wesir Djafar rufen lassen und ihm gesagt: Wir wollen miteinander in die Stadt gehen und hören, was es in der Welt Neues gibt. Wir wollen die Leute über die Urteile der Richter ausfragen und den absetzen, über wel [S. 60] chen man sich beklagt, und den belohnen, den man lobt....“
— — — Mir fällt dabei nur eine kleine Geschichte ein, die einige Ähnlichkeit hat mit manchem Abenteuer des großen Kalifen Harun al Raschid, der unerkannt als geringer Mann verkleidet durch die Straßen von Bagdad ging und lauschte und erfuhr, was das Volk über ihn dachte.
Und wenn ich so lächelnd an jenes seltsame Begebnis zurückdenke, dann will’s mir vorkommen, als ob jeder von uns, wenn er nur lange genug atmet, seine vierundsiebzigste Nacht erleben könnte.
Man muß das für keine Absurdität [209] halten, was ich da sage. Ich weiß sehr wohl, daß — schlicht arithmetisch [210] genommen — die „vierundsiebzigste Nacht“ den Menschen noch als Säugling trifft, der mehr oder minder rasch und reinlich seine Milch verdaut und für die Geschehnisse der Außenwelt stumpf, blöd und ohne Teilnahme ist; obschon die Mutter — aber auch nur die Mutter — bereits ein gewinnendes, verständnisinniges Lächeln zuweilen bei ihm bemerken will. Ich fasse also die vierundsiebzigste Nacht — das sei allen Wortreitern und Silbenstechern angemerkt — im übertragenen Sinne, im Geist des Märchens vom Kalifen Harun al Raschid...
Es werden jetzt bald zehn Jahre, da stand ich an einem beträchtlich kalten Novemberabend auf dem Perron [211] des Bahnhofs meiner süddeutschen Vater [S. 61] stadt und wartete auf den würdigen Hans Eduard Meßmann, wartete auf ihn mit dem ganzen freudigen Enthusiasmus [212] , den meine Jugend und zwei Glas eben in der Restauration genossenen Grogs mir verliehen.
Hans Eduard Meßmann stand damals — so sagten die Zeitungen — auf der Höhe seines Ruhmes.
Er selbst sah die Sache anders an. Er wußte, daß sich bald vier arbeitsreiche Jahrzehnte sein liebes Vaterland und dessen gebildetes Publikum, für das er seine formvollendeten Epen und seine gedankenreiche Lyrik geschaffen, herzlich wenig um ihn bekümmert hatte. Besonders kluge und belesene Leute hatten ihn „stets geschätzt“. Er hatte glühende Verehrer, aber sie glühten im stillen. Die Buchhändler bliesen den Staub von den Bücherreihen auf den höchsten Regalen unter der Decke, wenn man nach ihm fragte. Die Inhaber von Leihbibliotheken zuckten bedauernd die Achseln: „Wird zu wenig gefragt.“ Und Professoren der neueren Literaturgeschichte schrieben seinen Namen nicht immer richtig, wenn sie ihn zu irgend einer Denkmalsspende oder einem patriotischen Aufruf heranziehen wollten.
Da kam sein siebzigster Geburtstag.
Wer es war, der Jahreszahl und Datum richtig entdeckte, bleibt dahingestellt. Jedenfalls es stimmte, Hans Eduard Meßmann wurde in jenem November siebzig Jahre alt.
Es bildete sich rasch ein Komitee [213] .
Das ist das Schöne und Zuversichtliche bei uns Deutschen: man kann nicht immer wissen, was sich etwa sonst noch in der Zukunft bilden wird. Aber eins ist sicher: Komitees werden sich bilden. Mit einem ersten Vorsitzenden, einem zweiten Vorsitzenden und einem Schriftführer. Mit Leuten, die viel reden und wenig bezahlen; und mit anderen Leuten, die sehr viel bezahlen und den Mund zu halten haben.
Nach diesem altbewährten Rezept, das der Deutsche mindestens so heilig hält, wie die frommen Karthäuser der Grande Chartreuse [214] das ihrige, bildete sich auch ein Komitee für die Feier des siebzigsten Geburtstages Hans Eduard Meßmanns, der, wie der schwungvolle Aufruf zur Teilnahme besagte, „in einem arbeitsreichen Leben die geistigen Schätze der Nation liebevoll gemehrt und durch seine unvergleichliche, echt deutsche Kunst, durch den Wohllaut seiner Lieder und die tiefe Bedeutsamkeit seiner epischen Gesänge sich die dauernde, heiße Dankbarkeit des Volkes erworben, das ihn voll Stolz aus seiner Mitte hervorgehen sah“.
Es war ein wirklich sehr schöner Aufruf. Und ein sehr schönes Komitee mit einem ersten Vorsitzenden, mit einem zweiten Vorsitzenden, mit zwei Beisitzern und zwei Schriftführern.
Nach mehrwöchentlichen Beratungen war man [S. 64] übereingekommen, des großen Hans Eduard Meßmann siebzigstes Wiegenfest in dem kleinen Odenwaldstädtchen zu feiern, das seine Heimat war und das er in seinem reizvollen Idyll „Die silberne Quelle im Odenwald“ in Sohnestreue verherrlicht hat.
Auch Verhandlungen, sein bescheidenes Geburtshaus anzukaufen, wurden eingeleitet. Ein Bankier aus der Bukowina zeichnete den Löwenanteil der dazu nötigen Summe. Leider stellte sich später heraus, daß man das verkehrte Haus in der Melibokusstraße gekauft hatte, nämlich Nr. 15 statt 17; ein baufälliges Haus, in dem der Schwamm war, und das nachher mit einem nicht unbedeutenden Verlust wieder veräußert werden mußte, was der verärgerte Bankier aus der Bukowina in einer stilistisch nicht einwandfreien, aber sonst recht groben Erklärung mit seinem Austritt aus dem Komitee beantwortete.
Der Glanzpunkt der Feier sollte ein Fest im „Roten Ochsen“ eben jenes Odenwaldstädtchens sein. Fünf Gesangvereine hatten ihre Mitwirkung zugesagt; und es wäre zu befürchten gewesen, daß ein Tag für all die Gesangsvorträge gar nicht genügt hätte, wenn nicht in letzter Stunde drei beleidigte Vereine abgesagt hätten, weil man ihnen das „deutsche Lied“ von Kalliwoda vom Programm gestrichen hatte. Das sangen nämlich die anderen beiden Vereine auch; und man befürchtete, daß es den siebzigjährigen Jubilar allzusehr anstrengen werde, [S. 65] fünfmal das „deutsche Lied“ von Kalliwoda zu hören.
Außerdem sollten einige zwanzig Adressen überreicht werden. Die Vorsitzenden von siebzehn literarischen Gesellschaften hatten sich zu Huldigungsansprachen gemeldet. Der Bürgermeister hatte eine längere Rede zugesagt. Einige Professoren der benachbarten Universitäten und neun studentische Deputationen [215] wurden erwartet. Für die Festtafel waren elf offizielle [216] Reden vorgemerkt. Einunddreißig Tischlieder waren eingegangen, von denen aber nur neunundzwanzig auf Büttenpapier gedruckt wurden. Eins war offenbar von einem Irrsinnigen; und ein anderes erwies sich als das freche Plagiat [217] einer Klopstockschen Ode, an der nur kleine, nicht einmal geschmackvolle Änderungen vorgenommen waren.
Alles in allem, es mußte sehr festlich werden.
..... Ich stand auf dem Perron [218] und wartete auf den gefeierten Dichter.
Ich zog noch einmal die Postkarte von heute Morgen hervor und las im Schein einer flackernden Laterne — damals war noch nicht alles elektrisch! — seine ehrenden Worte.
„Lieber junger Freund! Ich weiß, Sie fahren auch nach M., wo ich ‚gefeiert‘ werden soll. Mir graut ein wenig davor. Aber schließlich: ich darf die vielen Wohlmeinenden nicht um ihre Freude [S. 66] bringen, wenn auch ich selbst solchem fieberhaft ausbrechenden Enthusiasmus etwas mißtrauisch gegenüberstehe. Kommt hinzu, es ist böse Jahreszeit; die Zugverbindung ist schlecht; und ich — bin siebzig Jahre. Niemand weiß, daß ich schon heute abend dorthin reise. Aber morgen Bahnfahrt und Feier wäre mir zuviel. Wollen Sie mir einen großen Gefallen tun? Bilden Sie als einziger die Leibgarde des ‚triumphierenden Cäsar‘, zu deutsch: fahren Sie auch schon am Abend und lassen Sie mich unter dem Schutz Ihrer jüngeren Kraft dem ersten, vielleicht letzten Fest entgegenfahren, das mir meine zahlreichen, bis heute im verborgenen blühenden Verehrer spät, aber herzlich in meinem Vaterstädtchen bereiten wollen...“
Es stand noch einiges von wehmütiger Freundlichkeit klingende auf dem Blatt. Aber ich kam nicht weiter im Lesen.
Da war er!
In einen warmen, verschnürten Pelzrock gehüllt, der schon manches Jahr gedient haben mochte, eine etwas altmodische Reisetasche in der Hand, stand er vor mir. Sein gepflegter Patriarchenbart [219] schien mir noch weißer, noch ehrwürdiger geworden zu sein in den letzten Wochen. Der Jubilar war sichtlich etwas nervös erregt.
„Ich habe schon geglaubt, ich komme zu spät. So was von einem Kutscher. Und dieses Pferd [S. 67] — ich glaube aus meinem Jahrgang. Jung gewesen sind wir bestimmt zusammen. Es ist übrigens lieb, daß Sie gekommen... nein, nein, ‚natürlich‘ ist das durchaus nicht! So ein alter Mann als Handgepäck ist lästig. Aber ich werde sehen, daß ich mich brav halte. Ist’s Ihnen recht, so nehmen wir ‚ Nichtraucher ‘. Ich kann nämlich seit Jahren nur noch den Dampf von Zigarren vertragen, die ich selbst rauche... Schaffner, bitte, haben Sie ein leeres ‚Nichtraucher‘? Zweiter, ja. Vielleicht einen Wagen, der nicht zu sehr stößt.“
„No, wir könne wege Ihne nicht dem Herzog von Cambridge sein Salohwage [220] einstelle,“ erklärte der Grobian im breiten Dialekt meiner Heimat.
Ich schämte mich für ihn. Er wußte nicht, wen er da so barsch anließ. Er hatte offenbar das Zirkular [221] nicht bekommen.
Als wir saßen, stellte der große alte Mann die Heizung sofort auf „Sehr heiß“.
„Siebzig Jahre brauchen Wärme, junger Freund. ... Wissen Sie, ich bin hauptsächlich deshalb heute abend gefahren — ich schrieb’s Ihnen schon —, weil morgen der ganze Festtrubel — ich fürchte, es wird arg! — sich in den einzigen Frühzug ergießt. Und dann, wissen Sie, ich kenne die Leute fast alle nicht, die da kommen werden. Und die wenigsten kennen mich persönlich. Beim Bankett [222] — na ja, da werd’ ich unter Bekannten sitzen. Aber in der Bahn, [S. 68] was soll ich mit den Leuten reden? Ich werde auch — uah — sehen Sie, da haben Sie’s schon, ich werde so leicht müde beim Fahren — uah — dieses Geschuckel und das dumpfe halbe Licht.. nehmen Sie mir’s nicht übel, wenn ich ein bißchen ... schlafe?“
„Aber, Meister, nein, o nein! Wo denken Sie hin — —“
Er hatte meine Erlaubnis nicht abgewartet. Er schlief schon. Er schnarchte sogar. Recht kräftig für einen Siebzigjährigen.
Zu Anfang dieser Fahrt hatte mich nur der Stolz beseelt. Ich, ich allein fuhr mit diesem berühmten Mann zu seinem Ehrentag! Morgen würde der Telegraph zweifellos aller Welt verkündigen, wie er geehrt wurde von Vertretern der Nation. Vielleicht kam einer, dem besonders reichliche Depeschenspesen bewilligt waren, auf den preiswerten Einfall, zu drahten: „Wie ich erfahre, traf der gefeierte Jubilar schon mit dem Nachtzug in seiner Heimatstadt ein. Inkognito [223] und nur begleitet von dem sympathischen jungen Schriftsteller...“
Ich fuhr mir stolzbeglückt durch die Haare, die ich mir damals noch wöchentlich einmal brennen ließ. Der „sympathische junge Schriftsteller“, der war also ich!
Ich nahm mir vor, sehr freundlich mit allen Leuten zu sein, in deren Besitz ich Depeschenformulare vermutete...
Allmählich wurde es unerträglich heiß im Coupé [224] . Eine trockene, atembenehmende Hitze. Ich neige gar nicht zum Transpirieren [225] , aber im Verlauf von einer halben Stunde war ich, mit Respekt [226] zu vermelden, so naß wie ein Biber, der aus dem Wasser kommt.
Der große alte Mann vertrug offenbar die Hitze sehr gut. Er schlief mit offenem Mund und schnarchte.
Sonst beneidet das Alter die Jugend um ihren Schlaf. Diese Umkehrung der Regel war mir peinlich.
Der Zug hielt.
Ich sah hinaus, es war die Universitätsstadt Altburg. Auf dem Perron gewahrte ich bunte Mützen. Grüne, blaue und violette. Auch ein paar in Wachstuch gehüllte Fahnen. Bärtige Verbindungdiener liefen hin und her. Einer riß die Coupétüren auf.
„ Hier , meine Herren, ist viel Platz. Es sitzen nur zwei Herren hier.“
„Na, Tönnchen, denn mal rin ins Vergnügen! Wenn’s dich aushält, kommen wir auch mit!“
„Tönnchen“ wurde mit vielem Jubel hineingeschoben. Er machte seinem Kneipnamen Ehre und hatte zwei Bänder auf der gewölbten Brust, die mit seinem kräftig karierten Anzug eine etwas üble Farbensymphonie [227] ergaben.
Es erwies sich, daß man „Tönnchen“ zu heftig geschoben hatte. Er mußte sich an etwas halten; und es lag in der ungünstigen Platzverteilung, daß dieses Etwas das friedliche Gesicht des immer noch schlafenden Jubilars war.
„Bitte tausendmal um Vergebung...“
Tönnchen entschuldigte sich bei dem Erwachenden durchaus als Kavalier [228] . Dann donnerte er hinaus: „Der Fuchs, das heimtückische ‚Herzblättchen‘, hat absichtlich zu feste geschoben. Fuchsmajor, laß mir den Kerl heut’ abend mal zwölf Ganze spinnen. Dir will ich helfen, Jungchen!... Na, Wolfram von Eschenbach, willst du etwa auf dem Perron übernachten?“
„Ne, ne! Vorgestern in der Kegelbahn, heute auf’m Perron — danke...“
„Du, Leibfuchs, sieh doch mal auf meiner Bude nach, da muß noch ein Brief an meine alte Dame liegen. Der ist wichtig. Wirf ihn ein. Kleb’ aber erst ’ne Groschenmarke auf. Du darfst sie dir von deinem nächsten Wechsel abziehen.“
„Einsteigen, Mohrenfürst, einsteigen!“
„Ist der Friedrich mit der Fahne in der ‚Dritten‘?“
„Ja. Er hat sich natürlich schon mit dem Zugführer in den Haaren. Die rote Mütze regt ihn auf.“
„Du, das sag’ ich dir, Leibfuchs, wenn mich morgen bei der Feier deine Lackstiefel drücken, dann telegraphier’ ich dir einen Bierjungen!“
„Du, Sophokles, halt’ den Köter fest. Ich kenn’ ihn; im letzten Augenblick springt er rein. Führ’ ihn morgen ’n bißchen spazieren, ja? Und erzähl’ ihm von mir. Er hört’s gern. Du, und dann, Sophokles, er ist mit dem Magen nicht ganz in Ordnung. Gib acht, daß ihm die Hessen-Friesen morgen beim Frühschoppen nicht wieder ein rohes Beefsteak dedizieren [229] . Ja? Das machen sie immer, und er kann’s nicht vertragen.“
„Tönnchen, vergiß nicht, grüße den rasenden Roland von mir. Der ist sicher dort. Er hält sich für einen deutschen Dichter, seit die ‚Fliegenden‘ einen Gedankensplitter von ihm honoriert [230] haben.“
So ging das hin und her.
Es war ersichtlich: das war eine Deputation zum siebzigsten Geburtstag Hans Eduard Meßmanns.
Ich weiß nicht, warum mir bei dieser Erkenntnis unbehaglich zumute wurde. Aber es wurde mir so.
Die drei jungen Leute, die da mit Kappen und Bändern zu uns einstiegen, waren ja sonst ganz nett und frisch. „Tönnchen“ jovial-fidel [231] ; „Wolfram von Eschenbach“ ein wenig müdmodern mit einem Stich in den Patentfatzke; „Mohrenfürst“ mit besonders dunklem Teint [232] , der ihm seinen Kneipnamen verschafft haben mochte, und frischen Schmissen, die einen heftigen Jodoformgeruch verbreiteten.
Als sich eben der Zug in Bewegung setzen wollte, kam noch ein behäbiger, älterer Mann mit einer jungen Dame gesprungen.
„Freund Silen, hurra! Der Pflegevater des Dionys fährt auch mit!“ jubelte der Fuchs, der Tönnchens Köter, einen Hund von vielen Rassen, an einer knallgelben Lederstrippe führte.
„ Evoë Bacche [233] ! “ ließ sich die ganze Mützenversammlung vernehmen.
„ Hier herein, würdiger Herbergsvater!“ entschied Tönnchen.
Und er stieg ein, jubelnd begrüßt, der dicke alte Herr, pustend wie ein Böcklinscher Meerkentaur [234] . Mit ihm das Töchterchen, reizlos, wie ein Bügelbrett, aber mit dem gewinnenden Lächeln, das viele Wirtstöchterlein im Beisein deutscher Musensöhne so anmutig kleidet.
Es war großes Hallo in unserm Wagen, als sich der Zug in Bewegung setzte. Es ergab sich aus all dem Ulk und Gerede, daß „Silen“ ein beliebter Weinwirt in Altburg war, und daß die Herren Studenten — besonders Tönnchen und der Mohrenfürst — sehr gut mit ihm standen.
Ich hatte mich neben den Jubilar, der inkognito reiste, gesetzt. Auf größere Entfernungen hätten wir uns nicht mehr verständlich machen können.
„Mir scheint, diese Studenten sind eine Depu [S. 74] tation zu Ihrem Jubiläum“, sagte ich so leise, als es eben anging.
Der Dichter nickte, aber er sagte nichts.
„Kinder, hier ist aber eine Hitze, um einen Storch zu braten!“ Mit diesen Worten ließ Tönnchen das Fenster herunterrasseln.
Der Jubilar zog seinen Pelzkragen hoch. Aber er sagte noch immer nichts.
„Na, alter Silen, fahren Sie auch etwa..?“ Der Mohrenfürst schien das nicht annehmen zu wollen.
Der Silen aber nickte eifrig. „Ja, ja. Zu dem großen Zauber! Meine Tochter hat so gequängelt; na, und denn, man lernt auch immer was für’s Geschäft...“
„Das sind doch noch Grundsätze,“ lobte Tönnchen, indem er dem Silen kräftig aufs Bein schlug. „ So hab’ ich’s gern. Werden Sie denn auch ’ne Rede halten, was?“
Silen, der offenbar leicht zu belustigen war, wollte sich ausschütten vor Lachen bei diesem Gedanken.
„Ich — eine Rede? Puh — was sollt’ ich da wohl sagen?“
„Na, Sie wissen doch,“ sagte Wolfram von Eschenbach ganz ernsthaft, „daß von diesem alten Hans Eduard Meßmann das schöne Lied von der ‚Wacht am Rhein‘ ist?“
Silen sah etwas unsicher nach seiner Tochter. Die hatte einen roten Kopf und lächelte.
„Ja —“ sagte er schließlich, „natürlich. Der Mann hat seine Verdienste!“
„Die hat er,“ bestätigte Tönnchen im Tone eines Leichenredners.
„Wenn ich bloß wüßte, was er außer der ‚Wacht am Rhein‘ noch gemacht hat?“ Der Mohrenfürst sah sinnend vor sich hin. „Und dann: ist eigentlich der Text oder die Musik von ihm?“
Nun platzten die beiden los.
„Erlaubt mal,“ wehrte der Mohrenfürst ärgerlich. „Das geht mich doch im Grunde auch gar nichts an. Ich bin doch Jurist.“
„Bist du auch sicher?“ ulkte Wolfram von Eschenbach. „Ich dachte, du wärst für Sanskrit [235] und gotische Grammatik eingeschrieben?“
Tönnchen war selig. „Er ist Jurist!“ jubelte er. „Er hat auch bereits ‚juristische Medizin‘ gehört. Ich glaube, Mohrenfürst, du bist ein ‚Heimlicher‘! Du steigst am Ende übermorgen, wenn wir zurückkommen, vom Trittbrett direkt ins Examen, was?“
„Na Gott, ja, Tönnchen, du hast deinen witzigen Tag. Zugegeben,“ schmollte der Mohrenfürst. „Aber gut wär’s doch, wenn wir etwas von dem alten Meergreis wüßten, den wir feiern sollen.“
„Erlaube mal, das ist unlogisch [236] . Man feiert am besten, wenn man gar nichts weiß. Wissen ist schon Kritik [237] . Und alle Kritik ist der Gegensatz des Feierlichen.“
„Hand aufs Herz,“ bestätigte Wolfram von [S. 76] Eschenbach, „ich weiß von der ersten Liebe meiner Urgroßmutter väterlicherseits genau soviel wie von dem Jubelgreis.“
„Das heißt“ — Tönnchen zwinkerte listig mit den Augen — „bis auf die ‚Wacht am Rhein‘!“
„Ja, natürlich. Na, das weiß jeder.“ Und dann, zu dem begierig lauschenden Silen gewandt: „Es soll zuerst ein Roman gewesen sein — die ‚Wacht am Rhein‘ — nachher hat er ein Volkslied draus gemacht.“
„Ja, das ist gut,“ meinte der Weinwirt tiefsinnig. „Man merkt sich’s so besser. In Versen ist besser.“
„Richtig!“ billigte Tönnchen den weisen Ausspruch.
„Aber —“ Wolfram von Eschenbach hatte eine Idee. Er rückte näher zu der Tochter Silens und vollendete mit seelenvollem Augenaufschlag: „— aber vielleicht weiß das Fräulein besser Bescheid. Willst du genau erfahren, was alles in der Welt erdichtet wird, so frage nur bei edlen Frauen an, sagt Schiller...“
„Goethe!“
Der Jubilar hatte es ganz ruhig, aber laut vor sich hingesprochen.
Eine kurze Stille.
„Danke!“ sagte Wolfram von Eschenbach mit höflicher Verneigung. Dann wieder zu dem errötenden Mädchen: „Darf ich also nach diesem schönen Wort Goethes “ — abermalige Verbeugung nach dem Jubilar hin — „das Fräulein bitten, uns [S. 78] Barbaren aus dem Schatze seiner Weisheit zu belehren — —?“
„Ach nein,“ wehrte sie schüchtern, „ich weiß gar nichts. Ich bin ja morgen bloß Festjungfrau .“
Abermals tiefe Stille.
Dann ließ sich Tönnchen mit Würde vernehmen. „Es ist richtig. Festjungfrauen stehen außerhalb des Betriebes. Festjungfrauen haben niemals gewußt, worum es sich handelt.“
Der Mohrenfürst hatte seinen Humor wiedergefunden. Er erhob sich und tat, als ob er ein gefülltes Spitzglas hebe und einen Trinkspruch ausbringe:
„In diesem Sinne, meine Herren, erheben wir das Glas und trinken auf das Wohl aller hier im Coupé anwesenden Festjungfrauen!“ — und er zählte: „Eine, zwei, drei, vier, fünf —“ und dann mit Liebenswürdigkeit zu dem Jubilar und mir: „gestatten Sie, mein Herr, daß ich Sie mitzähle?“
„Bitte!“ nickte der Jubilar des morgigen Tages sehr freundlich.
„Also: sechs, sieben. Es leben die sieben hier versammelten ahnungslosen Festjungfrauen!“
„Hurra — hurra — hurra!“
Wir fuhren langsam in den Bahnhof ein. Den Bahnhof der Vaterstadt von Hans Eduard Meßmann, der sich „die dauernde Dankbarkeit des Volkes erworben, das ihn voll Stolz aus seiner Mitte hervorgehen sah.“ So sagte das Zirkular.
Sehen Sie, Hans Eduard Meßmann, der stets geschätzte Lyriker und große Epiker, wurde am nächsten Morgen siebzig Jahre alt.
Aber dies war erst seine vierundsiebzigste Nacht!
Ich bin kein Mathematiker, aber mir kommt vor, da stimmt was nicht.
Fußnoten:
[204] einfachen
[205] Abgabe
[206] angenehm berührende
[207] kennzeichnend
[208] Ewigkeiten.
[209] Wunderlichkeit
[210] zahlenmäßig
[211] Bahnsteig
[212] Begeisterung
[213] Ausschuß
[214] des großen Karthäuserklosters (in Südfrankreich)
[215] Abordnungen
[216] feierliche
[217] literarischer Diebstahl
[218] Bahnsteig
[219] Erzväterbart
[220] Salonwagen
[221] Rundschreiben
[222] Festessen
[223] ohne sich zu erkennen zu geben
[224] Abteil
[225] Schwitzen
[226] Verlaub
[227] Farbenzusammenklang
[228] Ehrenmann
[229] verehren
[230] bezahlt
[231] scherzhaft-lustig
[232] Gesichtsfarbe
[233] Jubelruf beim Bacchusfest
[234] Meerungeheuer
[235] Altindisch
[236] nicht folgerichtig
[237] Beurteilung
Wilhelm Schäfer ist am 20. Januar 1868 in dem hessischen Orte Ottrau geboren, kam aber kurz darauf an den Rhein, dem sein späteres Dasein und Dichten fast ausschließlich angehörte. Heute lebt er als Herausgeber der vornehmen „ Die Rheinlande “ auf eigener Scholle in Vallendar a. Rh. Jahrelang hat er als Lehrer am Niederrhein gewirkt, bis ihm ein Stipendium der Cottaschen Verlagshandlung die Freiheit zu Reisen und Studien verschaffte.
Seine erlesenen Erzählungsbände erscheinen bei Georg Müller in München und sichern dem Dichter einen besonderen Platz in der modernen deutschen Literatur. Seine Werke liegen auf der mittleren Linie zwischen aktenmäßiger Geschichte und historischem Roman . Sie sind weder Photographien noch Gemälde, sondern gleichen gewissermaßen vornehmen, fein empfundenen Kunstphotographien. Wie Kleist im „Michael Kohlhaas“ reinigt er seinen Stoff von allem zufälligen Beiwerk und übt so auf dem Gebiet der Prosaerzählung eine Tätigkeit aus, die der Arbeit unserer großen Tragiker im Drama ähnlich ist.
In unserer Novelle steigert sich die Komik zur Groteske. Im Mittelpunkt steht der höchst unkönigliche Bürgerkönig Louis Philipp, kurz vor seiner Flucht aus dem revolutionären Frankreich im Jahre 1848. Prächtig ist die Scheinwelt des dekadenten Königshofes in Verbindung gebracht mit dem Flitterwesen wandernder Zirkusleute. Wie anschaulich weiß Wilhelm Schäfer uns alles vor Augen zu führen, Menschen und Dinge, Landschaft, Dorf und Kleinstadt! Aber der Dichter gibt mehr als bloße Schilderung. Er leuchtet tief hinein in die geschichtlichen Zusammenhänge. Louis Philipp ist 1848 dem Fluch der Lächerlichkeit zum Opfer gefallen, den kein Fürst ungestraft auf sich lädt. Unsere Erzählung läßt das vorausahnen und ist so gewissermaßen ein Vorspiel der kommenden Revolution. Und Jean Mourier, der mächtige Zauberer, ist zugleich ein Prophet des großen Schicksals, das Länder und Fürsten regiert.
M. G.
Die Béarnaise.
s kommt wohl vor, daß eine Laune wie eine Witterung auf Dörfer, Städte, Landschaften und ganze Völker fällt; so daß, wo gestern alles noch im Gang der Tage, in Pflicht und schuldigem Respekt die Arbeit tat, auf einmal eine Spottsucht ausbricht, die keinen ohne Schaden an seiner Würde vorüber läßt. So muß es damals in Saargemünd gewesen sein, als Ludwig Philipp, dem dicken Bürgerkönig, sein Mißgeschick begegnete, davon ihn das Gelächter noch begleitete, als er in einer Mietskutsche das undankbare Frankreich verlassen mußte. Der Anlaß freilich war seine Sparsamkeit und daß ihn die ins Durcheinander mit einem Zirkus brachte, der sich vor der gleichen Spottsucht am Tage vorher aus Saargemünd nach Hundlingen gerettet hatte.
Wenn dunkle Nacht in den Gassen und auf den felsigen Waldbergen lag, wenn die qualmenden Öllampen ihr rotes Licht auf einen dichtgedrängten Ring der Zuschauer warfen, wenn die Messingstangen magisch leuchteten und die Stricke dick und flockig schienen in dem Licht, wenn die beleibte Medenella mit den Resten ihrer Reitkunst die edlen Pferde geängstigt hatte und ihr Sohn Camillo auf dem Kopf stehend über ein straff gespanntes Seil gerutscht war, höllisches Feuer dazu speiend, wenn in den Händen seiner Geschwister Blechteller begehrlich rasselten und die Drehorgel wehmütig quarrte: dann hatte nicht wie sonst der Beifall sich in Sousstücke aufgelöst. Und wenn endlich Jean Mourier, der Zirkusvater, sein Meisterstück mit den fünf edlen Pferden machte, die er mit nichts als einem grünen Stein behexte: dann hatten sie sein heiseres Kauderwelsch belacht wie einen albernen Spaß. Obwohl es so viel Zuschauern vordem jahrein jahraus ein Stück zum Staunen gewesen war, wie er gespenstisch auf der grünbehangenen Tonne inmitten stand und die fünf edlen Pferde zum Takt der Béarnaise [238] im Kreis herum stolzieren ließ: Nello voran, den sieghaften Schimmel, der seine Schenkel wie die Königin von Saba mit edlen Schritten hob. Bis plötzlich da, wo die drei schweren Baßtöne das Finale einleiteten, der Mourier den Stein hoch hob, den grünen [S. 86] Stein aus Malachit mit eingeschnittenen Schlangenköpfen, und die Verwandlung eintrat:
Nello, der so stolz geschritten war, fing an zu hinken und schleppte die Füße kaum noch fort, die schwarze Sylva drehte sich im Walzer mit ihren dicken langbehaarten Beinen, Mariette, der wie ein Kalb gefleckte Pony, ging als ein Grislybär wild in die Hinterbeine, die braune Lisette fing an zu scharren wie ein Schatzgräber, und Pierre, der hochbeinige Goldfuchs, dessen Schönheit den Schimmel Nello fast überstrahlte, brach in die Kniee, wie wenn ihm irgendwer mit einem Messer hindurchgeschnitten hätte. So mußten sie in einer traurigen Gruppe bleiben, die erst so edel im Kreis gelaufen waren, bis die drei gellenden Läufe der Musik den Schlußakkord erreichten und Mourier den Stein in seinem grünen, glasperlenbesetzten Talar verschwinden ließ.
Das war der große Schluß des Abends, und niemals hatte der Mourier danach vergebens mit dem Blechteller gerasselt; bis er in Saargemünd so übel anlief und sich vor der Seuche böser Spottlust seitwärts in die Berge und zu den Bauern schlug.
Nach einer schlimmen Fahrt auf regenweichen Wegen war er nach Hundlingen hinaufgekommen von Saargemünd und hatte rasch das Dorf um seinen grünen Wagen und die Schabracken seiner edlen Pferde versammelt. Hier stand die Sonntagssonne wieder hell am Himmel, hier gab es keine Lacher, mißtrauisch gemacht durch dreiste Zweifel, hier waren [S. 88] die Sousstücke besonders dick, weil man die blankgescheuerten nicht kannte.
Um vier Uhr fing er mit seinem Umzug an. Voran zu Fuß mit schmetternden Trompetentönen Camillo im feuerroten Trikot, hinter ihm mit dicken Beinen die schwarzbehaarte Sylva, zwei weitere Kinder Medenellas auf dem Rücken mit goldpapierenen Engelflügeln, dann das gefleckte Kälbchen Mariette mit der Trapezkünstlerin Camilla, hierauf Lisette, die braune, mühsamer schreitend unter dem Wust von Rosatüll, in dem die Zirkusmutter schwitzte, dann endlich Nello, der sieghafte Schimmel, Nello mit ihm selber, dem Hexenmeister Mourier, der mit gespreizten Fingern den grünen Stein hochhielt; zuletzt Pierre mit einem Affen in großer Uniform als General.
Die sinkende Herbstsonne übergoß den bunten Plunder mit einem gütigen Schmelz, rot und schwitzend folgten die Hundlinger den schmetternden Klängen und drängten fast die Dorfstraße auseinander: da scholl ein Peitschenschlag und das Getrapp von müden Pferden. Um die Waldecke — man sah am dicken Kirchturm vorbei den Weg hinauf — kamen Reiter in Uniform, vor zwei Kutschwagen her. Die reichlich überraschten Bauern drängten rückwärts gaffend den Festzug gegen den Brunnen, daß er nicht weiter konnte; so dicht gestaut, daß auch die Reiter halten mußten. Die Wagen fuhren gleichfalls auf, und während noch der Mourier verachtungsvoll von seinem Schimmel nach den abgetriebenen Postpferden der [S. 89] Ankömmlinge sah, öffnete sich im vordersten Wagen auch schon ein Fenster. Ein dickes freundliches Gesicht sah auf den Festzug und die fünf edlen Pferde und winkte nach den Reitern. Die ritten eilfertig hinzu und spähten gehorsam nach den Pferden, an denen die dicke Hand etwas zu zeigen schien: auf die gutgepflegten Pferde des Mourier, die nirgendwo saftigeres Futter gefunden hatten als an den Wegen hier. Wenn das nun ein Präfekt [239] war? Oder ein Gouverneur? [240]
Doch war es noch viel schlimmer. Es waren zwei Generäle und zwei Minister, mit einem dicken König, der es liebte, so bürgerlich zu reisen. Heute abend wollte er in Saargemünd einreiten und brauchte dafür Pferde, die gutgenährt und frischer als die seinen waren. So traf er mitten in dieser Ländlichkeit, wo nur mit Ochsen oder Kühen gepflügt und gefahren wurde, den Mourier mit den fünf edlen Tieren und fiel mit königlichem Vorrecht darüber her. In fünf Minuten hatten die Zirkusleute einen Schwall von Flüchen und königlichen Befehlen über sich ergehen lassen müssen, der Mourier und seine Medenella, Camilla und die beiden Goldengel waren mit allem Plunder aus den Sätteln entfernt, selbst Joko, der Affe, hatte seinen Goldfuchs einem andern General herleihen müssen. Aneinander gekoppelt wie zum Handel trappten die edlen Pferde hinter den königlichen Wagen her, den Weg hinab nach Saargemünd.
Oben auf dem Kirchplatz blieben die Verlassenen zurück inmitten einer nun auch von der Spottsucht angegriffenen Menge. Medenella mußte sich mit ihrem schönen Tüll auf den nassen Brunnentrog setzen, die beiden Engel rafften mit allen Fingern ihre goldgenähten Gewänder hoch, die rothaarige Camilla aber ließ trotzig ihre kostbaren Säume durch den klebrigen Schmutz schleifen, Camillo hielt seine Trompete in der Hand wie einen streitgerechten Morgenstern; Joko der Affe hockte neben seiner Herrin auf dem Brunnentrog und ließ die blauen Schöße seiner Uniform betrübt ins Wasser hängen: Alle aber sahen mit bösem Blick hinunter, wo die stolzen Hälse ihrer Pferde auf und nieder ruckten im schnellen Trab, bis sie verschwanden hinter herbstlichen Bäumen.
Jean Mourier saß auf dem Bock des zweiten Wagens, bis an die schwarzen Felsen der Tournette. Da hatte der Weg das Wiesental der Saar erreicht und ging nun durch die Ebene im langen Bogen um die Felsen herum nach Saargemünd. Die rote Sonne hing tief in den Bäumen, als sie da waren. Die Reiter sprangen ab, die Wagen hielten und rasch begann ein Schauspiel, das dem Mourier als Zirkuskünstler seltsam bekannt war: Aus dem vordersten Wagen kletterte der König mit zwei braunen Männern, von denen der eine lang, der andere kurz und sehnig war. Aus dem zweiten stiegen umständlicher ein Bürger mit Gichtbeinen und ein Männchen mit einer großen Hornbrille aus. Die [S. 91] stellten kollegialisch [241] eine Gruppe mit dem König, gähnten, schüttelten sich und reckten die gelähmten Glieder. Dann zeigten sie hinunter nach den ersten Häusern von Saargemünd, lachten und fingen an, auf offener Straße die bürgerlichen Mäntel auszuziehen. Die Kutscher mit den Reitern schleppten aus dem Wagen Röcke, Federhüte und Schärpen aller Art heran. Aus dem Dürren und dem kleinen Sehnigen wurden vor den Augen Mouriers Marschälle in großer Uniform, das Männchen und der Bürger mit den Gichtfüßen bekamen goldene Ordensketten umgehängt und Federhüte auf den Kopf. Der dicke König selber war kaum zu sehen vor lauter Gold und Orden.
Die Pferde wurden gleichfalls geschmückt mit Federbüschen und schuppigen Zügelketten. Bald ließ der König sich als erster in den Sattel heben; er plumpste auf den sieghaften Schimmel Nello, daß der Mourier an seine Medenella dachte. Der kleine Marschall bestieg den Goldfuchs und der große die schwarze Sylva. Der Minister mit den Gichtfüßen wurde auf die braune Lisette gesetzt und das ängstliche Männchen mit der Brille auf den gefleckten Pony Mariette. Die beiden Reiter — auch sie hatten langwehende Büsche auf den Kopf bekommen — ritten vorauf, zum Schluß folgte der eine Kutscher mit dem kräftigsten der Postpferde, der andere sollte zur Bewachung der Wagen bleiben.
Als dem Jean Mourier die Pferde so feierlich hinunter schritten, von denen er nicht wußte, wann er sie wiedersah, blieb er nicht mehr zurück. Er raffte den Talar und lief den Grashang zu den schwarzen Felsen hinauf. Wo nur ein Splitter vorstand, fand seine Hand den Griff. Der lange Kutscher spektakelte ihm nach und fiel in einen Brombeerstrauch. Er spuckte ihn von oben an und halfterte sich weiter, bis er vom Grat hinunter sah auf Saargemünd, auf die Dächer und den Marktplatz mit dem verkropften Amtshausturm. Er hörte Böller schießen und sah den König an der Brücke, wie er auf seinem Schimmel Nello mit dem Gefolge feierlich einritt. Der Mourier merkte, daß er noch immer barhäuptig im Talar mit Glasperlen war, dazu mit rotgefärbtem Haar, doch sprang er Stein für Stein und tückisch lächelnd, bis er mit wilden Sätzen hinunter an die Saar kam, an einer flauen Stelle hindurch und über eine Mauer in einen Obstgarten, zwischen Buchsbaumhecken her in eine krumme Gasse, wo schon die Fahnen wehten und Menschen standen, durch sie hindurch und über eine Treppe auf den Marktplatz, wo das Getümmel anfing.
Am alten Amtsgebäude standen die Musikanten bereit zum Blasen, und unten zupften die Amtsherren ihre Kragen zurecht. Doch kicherte die Spottsucht vor dem König her und hing sich dem Gefolge mit Gelächter an. Die Saargemünder hatten das gefleckte Kälbchen Mariette und danach auch die anderen [S. 93] Pferde vom Mourier erkannt. So ritt der König erregt und unruhig statt feierlich heran. Nur die Ratsherren merkten nichts; sie gingen ihm entgegen mit entblößten Häuptern und brachten ihm auf rotem Samtkissen die Schlüssel ihrer Stadt — obwohl er längst darin war — und den Ehrentrunk in einem silbernen Hahn.
Schon setzten die Musikanten ihre Hörner und Klarinetten an, als der Mourier mit großen Sätzen an die Treppe sprang:
„Die Béarnaise! der König will die Béarnaise!“
Die Musikanten setzten erschrocken wieder ab, der Kapellmeister klopfte. Die Noten seines Einzugsmarsches blieben auf den Pulten, aber was sie spielten, waren die Klänge des wohlbekannten Gassenhauers. Die Wirkung war, wie wenn ein höherer Tanzmeister als der König einen Ball befohlen hätte. Als erster spitzte Nello die edlen Ohren und setzte sich in Trab. Die andern folgten im engen Zirkuskreis über den steinichten Marktplatz. Die Amtsherrn durften ihre Blicke nicht von dem Antlitz ihres dicken Königs wenden; so drehten sie sich mit im Kreis, als zögen sie die Pferde an einer Schnur und immer stürmischer um sich herum. Bald mußte der Minister mit der Brille sich an den Hals der hopsenden Mariette klammern, und der andere griff in die Mähne der Lisette.
Bis endlich da, wo die drei schweren Baßtöne das Finale einleiteten, die Vorführung ihrer schönsten Künste begann: der sieghafte Schimmel Nello mit [S. 94] dem König hinkte schwer und konnte kaum noch fort; die schwarzbehaarte Sylva mit dem langen Marschall begann zu walzen und drehte sich wollüstig um den Schimmel im Kreis herum, das gefleckte Kälbchen Mariette ging wild in seine Hinterbeine, daß der kleine Minister wie ein Säckchen Hafer an ihm herunter rutschte auf die spitzen Steine; die braune Lisette fing an zu scharren wie ein Schatzgräber, und Pierre, der hochbeinige Goldfuchs, brach in die Kniee und stellte den kleinen Marschall kopfüber auf den Federhut.
Die festlichen Einwohner von Saargemünd mit ihren Amtsherren waren über diese Aufführung so erschrocken, daß ins Gelächter rund um sie ein leeres Loch kam. Nur die Musikanten spielten erbärmlich weiter, bis die drei Läufe endlich den Schlußakkord erreichten und die Pferde standen. Da erst kam soviel Vernunft in diese Amtsherren, daß sie zum König sprangen, der wütend von dem sieghaften Schimmel Nello herunter wollte, daß sie dem kopfstehenden Marschall auf die Füße halfen und dem sitzenden Minister. Sie mußten auch den andern mit den Gichtfüßen durch die Kellertür unter der Freitreppe rasch in das Amtshaus tragen, weil der König vor den Blicken seiner Untertanen dahin eingelaufen war.
Kaum aber war die Tür geschlossen, als ein Spottruf das Gelächter von neuem weckte. Dem Mourier war ein wilder Einfall gekommen, als er in der weiten Tasche seines Talars den Blechteller [S. 96] fand. Er lief umher und hielt ihn hin; und nun war keiner, der den Sou [242] zurückhielt, und alles schrie und lachte und johlte dem Mourier zu, der mit der frechsten Miene nachträglich in Saargemünd die längst verdiente Ernte hielt.
Dem König mußte wohl der Hohn- und Bravoruf der Menge bedenklich geworden sein; er hatte sich danach erkundigt und einer von den Amtsherren war zu dreist im Lügen: von seiner Ungezogenheit beschämt, riefe das Volk nach ihm. Und er, dem seine dicken Beine noch zitterten von dem konfusen [243] Ritt, war so verwirrt, daß er mit huldvoller Gnade auf den Balkon hinaustrat. Da stand der Mourier in seinem grünen Talar und hielt dem König auch seinen Teller hin, daß die Sousstücke nach allen Seiten aufs Pflaster klapperten. Und der König, der mit verstörtem Antlitz heruntersah, den grünen Menschen nicht mehr kannte, auch sonst die Sache noch immer nicht begriff: er warf ihm eine von den gefüllten Börsen zu, die er für solche Zwecke stets bei sich trug. Dann wurde das Getöse auf dem Marktplatz so wild, daß sich der König seinem Volk ratlos entzog.
Jean Mourier, der Zirkuskönig, schüttete den Teller in seine Taschen, raffte noch so viel, wie er im Handumdrehen erraffen konnte, pfiff seinem Schimmel Nello, sprang auf, und ritt mit den fünf edlen Pferden durch das Gedränge und den Lärm [S. 97] davon. Gleich an der Brücke nahm er Galopp und rastete nicht, bis er in tiefer Dunkelheit nach Hundlingen kam. Da brannten wie sonst die Öllampen, und der tapfere Camillo machte ein armseliges Kunststück nach dem andern. Er ritt mit seinen nassen Pferden mitten in den Kreis, daß Weiber und Kinder auseinander kreischten, riß die Deichsel unter den Rädern heraus, und vor den enttäuschten Augen der Zuschauer von Hundlingen verschwanden Stricke und Messingstangen, Öllampen und Medenella in dem grünen Wagen, der im Fackellicht durch den Wald hinauf den nächsten Weg zur Grenze fuhr.
Am andern Morgen war der Zirkus schon im preußischen Saarbrücken. Er kehrte auch nicht wieder nach Frankreich zurück, als dem Jean Mourier in Aachen die Nachricht zukam, daß Louis Philipp, diesmal in einer Mietskutsche, sein undankbares Land verlassen hatte.
Fußnoten:
[238] Gassenhauer im damaligen Frankreich
[239] etwa einem preußischen Regierungspräsidenten entsprechend
[240] etwa einem preußischen Oberpräsidenten entsprechend
[241] kameradschaftlich
[242] Kupfergeldstück
[243] tollen
Karl Schönherr , geboren 1867 zu Axams in Tirol, ist durch und durch ein Heimatdichter . Mit Recht hat Peter Hamecher diesen Poeten aus der Provinz in scharfen Gegensatz gestellt zu den etwas müden, dekadenten Dichtern der österreichischen Hauptstadt, einem Hofmannsthal, Schnitzler u. a. Der Arzt und Psychologe Schoenherr hat schon in der kleinen Sammlung „ Schuldbuch “ mit bitterem Ernst und scharfer Beobachtungsgabe Gestalten und Zustände seiner Tiroler Heimat festgehalten. Bereits hier, mehr aber noch in der vielgelesenen Sammlung „ Aus meinem Merkbuch “, tritt uns der liebevolle Beobachter alles Tüchtigen, Ernsten und Kernhaften entgegen. Früh zeigte sich, daß seine kraftstrotzende Gestaltungsgabe den Rahmen der Novelle sprengte und zum Drama hindrängte. Hier erst fand er Erfüllung und rechte Gestaltung.
Wie derb und wuchtig stehen diese Tiroler Männer und Frauen aus alter und junger Zeit vor unseren Augen! Gern gönnte man den Schiller- und Grillparzerpreis diesem Dichter, der es verstand, lebensvolle Menschengestalten von fast antiker Einfachheit und Größe hinzustellen. Aber derselbe Mann [S. 101] arbeitete auch mit jener bohrenden Seelenforschung, die an nordische Schriftsteller erinnert. —
In seinen Schauspielen begegnen uns häufig so recht jungfrische Lausbuben. Ein solcher ist auch der kleine Held unserer Erzählung. Man sieht ihn förmlich vor sich, den kleinen Sünder, wie er die Brocken für seine Beichte zusammenklaubt. Wir begleiten ihn an den Beichtstuhl des sackgroben Pfarrers und erschrecken mit dem Buben, als urplötzlich das irdische Strafgericht hereinbricht, just in dem Augenblick, da die himmlische Vergebung erlangt zu sein schien. Und von ganzem Herzen gönnen wir dem tückischen Simele seinen „vollgehämmerten Buckel.“
M. G.
Die erste Beicht’.
as gehörte zum Schrecklichsten, was der zehnjährige Knirps bisher in seinem Leben mitgemacht hatte — die Gewissenserforschung.
Ihr müßt aber nicht glauben, daß ich der Lump dieser Geschichte bin. Taufen wir also den Buben kurzweg — „Hansl“, damit das Kind einen Namen hat.
Die Mutter hatte für den Hansl schon in aller Früh’ beim Krämer einen großen Bogen Schreibpapier eingekauft, und einen Bleistift Nr. 1.
„Hansl“, sagt sie dann, von der Frühmesse heimgekommen, „da setz’ dich jetz’ her zum Tisch, [S. 103] mit dem G’sicht gegen das Kruzifix! Da hast Papier — hoffentlich langt’s — und jetzt denk’ einmal ernstlich nach, was du schon alles getrieben hast! Schreib’ dir’s fein auf, die groß’n Brock’n und auch die klein’, auf daß du deine Sach’n beinander hast für die erste Beicht’ heut’ nachmittag! So, jetzt laß i dich allein!“
Dann begab sich die Mutter mit schlürfendem Tritt in die Küche und hantierte dort herum; aber viel stiller als sonst, um den Gewissen erforschenden Hansl in der Stube drin ja nicht zu stören.
Also; da sitzt er jetzt, der Hansl! Eigentlich klebt er nur an der äußersten Kante des Stuhles. Bald nagt er am Bleistift, bald, wenn ihm ein großer „Brock’n“ einfällt, fährt er sich ins Haar, das wie Strohgarben aus seinem Kopfe schießt.
Hin und wieder schleifte er mit der aufgestellten Hohlhand blitzschnell über die Tischfläche und, wohlgemerkt, nie vergebens. Jedesmal zog er zwischen den sich vorsichtig öffnenden Fingern eine oder auch mehrere Fliegen hervor, er drückt ihnen heute bloß die Köpfe ein, Flügel und Füße läßt er in anbetracht der bevorstehenden Beichte ungeschoren.
Wie er nun so seine paar Jahre im Geiste an sich vorüberziehen ließ, kam ihm der helle Schweiß auf die Stirn. Lumpereien tauchten da vor dem Hansl auf; grün und blau wurde ihm vor den Augen.
Und dazu machte die Uhr im Kasten:
Wart’ — wart’ — wart’ — wart’!
Am schwersten drückte ihn die getigerte Katze der Pfarrersköchin. Diese Tigerkatze hatte er vor einem halben Jahre in aller Stille ganz kunstgerecht stranguliert und den Leichnam im Hühnerstall aufgehängt.
„Wie du mir, so ich dir!“
Denn der Hansl war ein Vogelnarr, eine Katze hatte ihm einmal seine singende Freude erwürgt. Darum hatte er diesen „Luderviechern“ allsamt den Tod geschworen.
Hinter dem nahen Holunderstrauch hatte er nach vollbrachter Moritat gepaßt, bis die Häuserin den Hühnern das Futter brachte. Diese wutverzerrten Züge und schauerlichen Grimassen der überdickleibigen Pfarrersköchin mit der kaffeebraunen Warze neben der Nase — o, da überläuft heute noch den Hansl ein wonniges Gruseln.
.... Dem Stangenbauer seinen Peitschenstiel abgebrochen... schrieb er weiter auf den Sündenzettel.
.... Dem Innsbrucker Boten zwei volle Kornsäcke angeschnitten...
.... Der Mutter mit einem Strohhalm die Milch aus den Schüsseln gesaugt ...
So schrieb er; eine Lumperei nach der andern.
Erst gestern noch hatte er das mit dem Strohhalm gemacht. Auf die Weise brachte er es zustande, daß die Rahmschicht obenauf unversehrt blieb, und darunter schwand die Milch. Die Mutter — sonst nicht abergläubisch — glaubte schon an Hexerei.
Der Hansl riet ihr, das Milchstübel vom Pfarrer „aussegnen“ zu lassen.
O, der Hansl war ein Früchtl!
Erst als er sich bis hoch in die Dreißig hineingeschrieben hatte, ging es langsamer; und endlich fiel ihm nichts mehr ein. Er las fünf, sechs Mal das ganze Register durch, damit er in Übung komme, nicht etwa im Beichtstuhl stecken bleibe und so den Pfarrer noch giftiger mache, als es ohnehin schon vorauszusehen war.
Schließlich setzte er getreulich den vollen Namen unter das Sündenprotokoll, und das Datum. Dann wickelte er den sorgsam zusammengefalteten Zettel in sein Schnupftüchel und steckte es in den Hosensack.
Das Mittagessen, Dampfnudel mit kalter Milch, schmeckte dem Hansl heute nicht so gut wie sonst. Die Milch rührte er gar nicht an; sie erinnerte ihn zu lebhaft an die Geschichte mit dem Strohhalm. Er getraute sich auch nicht, der Mutter ins Gesicht zu schauen; denn nun trug er es schriftlich in der Tasche herum, daß er ein ganz nichtsnutziger Junge sei.
„Hast recht große Brock’n?“ forschte die Mutter.
„Hm! So mittelt durch“, meinte der Hansl kurz nebenhin, und ließ sich nicht weiter ein.
Nach dem Essen schlich er sich in die Schule und von dort gemeinsam mit den anderen Buben unter Aufsicht des Lehrers in die Kirche.
Dort ging es bald los. Der Pfarrer „saß“ schon, als der jugendliche Büßerzug daherkam. Ein Knirps nach dem andern betrat reuig und ängstlich den Beichtstuhl, um ihn mit protziger Sicherheit wieder zu verlassen.
Es ging wie auf dem Schnellsieder. Die Bürschlein hatten ihre wenigen lumpigen Sünden fein sauber abgeschrieben und lasen sie herunter wie ein Kapitel aus der Bibel.
Das Aufschreiben hatte der Pfarrer selbst den Buben angeraten:
„Nur alle Sünden fein aufschreiben, Bübeln; damit ihr ja nix vergeßt! Wenn ihr erst einmal all’s bereut und einbekennt habt, dann sollt ihr erst sehen, was das für ein Gefühl ist; so ring und federleicht; man kann’s nit beschreiben; man kann’s nur fühlen!“
Schwer ging’s dem Hansl mit Reue und Vorsatz. Mitten darin plagten ihn immer wieder weltliche Gedanken.
„Die Braung’fleckte, dö die Häuserin jetzt hat; wenn i nur die amal dertapp’n tät’; der wollt’ ich den Kragen zuschnüren; na, vielleicht erwisch’ ich sie morgen...“
Endlich traf’s ihn; den strohhaarigen, verschmitzten Hansl. Mit schlotternden Knieen wankt er in den Beichtstuhl. Schon hat der Pfarrer das kleine Türchen aufgemacht; der Hansl soll beginnen. Der aber sucht und sucht — nach dem Sündenzettel.
Der Pfarrer wurde schon ungeduldig: „Kreuztibidomine! Fang einmal an!“
Der Hansl, krebsrot im Gesicht, stiert in allen Säcken herum, beutelt sein Schnupftuch hin und her, und muß endlich als erstes bekennen:
„I find’ meine Sünden nimmer!“
„Ah! Hast die Tabell’n verlor’n; Saggramentsbua!“
Der Pfarrer half dann aber doch nachsichtig und liebevoll dem Gedächtnis des Hansl nach.
Da kam zuerst zagend die Katzengeschichte; dann schlüpften die Kornsäcke herfür; und schließlich haspelte der Hansl seine Sündenlast nur so herunter. Nichts vergaß er, es waren ja lauter typische Fälle.
Als er zu Ende war, wartete er den Pfarrer ab; mutig, mit Fassung. Was wollte der auch machen! Schreien durfte er nicht; da wäre das Beichtgeheimnis in Gefahr; nach den Ohren oder dem Schopf langen konnte er nicht, denn da war ein engmaschiges Gitter dazwischen.
Ja, von dem Gitter war der Hansl schon ganz besonders befriedigt. So eine Einrichtung! So fürnehm und ausgesucht praktisch.
Gar so böse war der Pfarrer nicht einmal. Betreffs der Katze fragte er bloß:
„Hast das Viech gepeinigt?“
„Na! G’rad’ ein bissel aufg’hängt!“
Weiter ward kein Sterbenswörtchen über Muinz und Maunz gesprochen.
Ja, es dünkte den Hansl im Dämmerlicht, als hätte der Pfarrer dazu gar ein bissel geschmunzelt.
„Die Braung’fleckte werd’ i auch nit leid’n lass’n; ’s Hängen geht g’schwind, und i bin schon in der Übung,“ dachte sich der Hansl, als er nach Verrichtung der Buße froh aus der dämmerigen Kirche ins Freie trat.
Wie er aus dem Friedhof schritt und neben dem Pfarrhof abschwenkte, überwältigte ihn das Wohlbehagen. Es war ihm so federleicht. Er machte einen Luftsprung.
Aber er war noch nicht mit beiden Füßen wieder auf dem Boden, da hatte ihn schon die massige Häuserin beim Kragen; zerrte ihn mit wutfunkelnden Augen die zwei Schritte gegen den Holzschuppen.
Dort ergriff sie ein Scheit.
„Also du bist’s g’wes’n!... Du hast meine Tigerkatz’ umbracht! Da hast!“ kreischte sie und hieb auf den Hansl ein. Immerzu schrie sie:
„Da hast! Da hast!“
Und der Hansl hatte von ihr doch nichts verlangt.
Aber sie gab und gab.
Der Hansl brüllte, daß die Hennen vor dem Schuppen angstvoll aufgackernd auseinanderstoben.
„I tu’s g’wiß, ganz g’wiß nimmer!“
Auf solche Art erweckte die Pfarrersköchin noch nachträglich in dem Hansl Reue und Vorsatz.
Endlich warf sie das Scheit wieder zu den andern und den Hansl aus dem Schuppen. Während er sich erhob, um schleunigst das Weite zu suchen, ertönte vom niederen Dache ein spöttisches Miau der braungefleckten Katze. Aber der Hansl lief und dachte nicht ans Hängen.
Wie kam die zu der Katzengeschichte?
Der Hansl hatte schon früher öfters die Pfarrersköchin gedankenlos eine alte Hex’ geschimpft.
Jetzt hätte er’s beschwören können. Das war die hellichte Hexerei!
Als er heimkam, wartete schon die Mutter vor der Haustür. Die Hände hatte sie nach rückwärts zusammengeschlagen, als hielte sie dort etwas verborgen, was nicht jeder Mensch zu sehen brauche.
„So, Bübl, bist da,“ begrüßte die Mutter den Jungen auffallend scharf. „Jetz’ komm’ nur in die Stub’n!“
Drinnen kam der Stecken zum Vorschein.
„Wart’, Bürschl, deine Spitzbübereien mit dem Strohhalm! Jetz’ will i einmal dich aussegnen; vielleicht hilfts dann im Milchstübel!“
Und dann ging die ergrimmte Mutter über den Hansl.
Die Häuserin hatte sich hauptsächlich auf den Rücken des kleinen Sünders beschränkt. Die Mutter ging — praktisch wie die Mütter sind — um einen Schritt weiter. Und gründlich nahm sies, das muß man ihr lassen.
„Hm! Es ist doch ein’ recht schöne Sach’ um das Beichtgeheimnis“, dachte sich der Hansl; „und das Gefühl nach der ersten Beicht’ ist auch recht schön!“
Dann kroch er mehr, als er ging, durch die Hintertür auf die Wiese; legte sich hart am Zaune ins feuchte Gras. Der grüne, feuchte Rasen kühlt. Der Hansl fühlte instinktiv, was ihm nottat. Zerschlagen an allen Gliedern, wie er war, schlief er bald ein.
Ein schmerzhaftes Ziehen und Reißen im Kopfe erweckte ihn bald wieder.
Die Ursache davon war nicht etwa eine Erkältung, wie man meinen möchte; sie trug einen viel bestimmteren Charakter.
Der klapperdürre, geizige Stangenbauer war schon auf der Suche nach dem Peitschenstielverderber gewesen. Und wie er so spähend um das Haus schlich, entdeckte er ihn hinter dem Zaun.
Da schob nun Stanger knieend, mit fest aufeinandergekniffenen Lippen, vorsichtig seine beiden Fangarme durch die Lücke des Zaunes. Dann faßte er, immer noch leise hantierend, Hansl’s Ohren und Kopf zwischen die krallenartig umgebogenen [S. 113] Hände. Ganz so wie die Köchin den großen Suppenhafen an den Handhaben anpackt. Erst als der Bauer beiderseits festen Griff hatte, fing er an, symmetrisch [244] anzuziehen. Daher das Gefühl des Reißens in Hansl’s Kopf. Der Hansl schrie:
„Auweh! Meine Ohr’n!“
Der Stanger sekundierte [245] grimmgemut:
„Auweh! Mein Peitschenstiel!“
Weiter sprach er kein Wort; er grinste nur. Aber es hatte den Anschein, als ob er sich darauf kaprizieren [246] würde, Hansl’s dicken, kugelrunden Kopf durch den handbreiten Zaunspalt zu zerren. Als er endlich nach geraumer Zeit seine Krallenfinger öffnete, da waren Hansl’s Ohren so blaurot wie zwei Truthahnkämme.
So war der Hansl noch nie malträtiert [247] worden wie heute. Und der Pfarrer hatte ihnen eingeredet, die Seligkeit nach der ersten Beichte sei nicht zu beschreiben, die müsse man fühlen.
Der Hansl bedankt sich schön! Er wünscht dem Pfarrer auch solche unbeschreiblichen Gefühle.
Am nächsten Morgen konnte er sich kaum zur Kommunionbank [248] schleppen, so steif und schmerzhaft waren seine Glieder. Und eine erschreckliche Nervosität hatte ihn befallen. Bald vermeinte er die Klauen des Stangenbauern an seinen Ohren zu ver [S. 114] spüren oder er fühlte die salbungsvollen Hiebe der Mutter mit dem Birkenen.
Nach der Kommunion machte sich Hansl heim, so schnell er konnte. Es zog wieder sachte, sachte die Liebe zum Leben ein. Denn zu Hause erwartete ihn heute gewiß nicht mehr der Stecken, sondern Kaffee und „Guglhupf“ mit großen „Zibeb’n“ [249] .
Der Hansl hat alles „putzweg“ aufgegessen. Aber stehend verzehrte er das Frühstück. Die Mutter lud ihn zwar immer zum Sitzen ein:
„Hansl, setz’ dich! Mach’ dir’s kommod! [250] Tragst uns ja den Schlaf aus!“
Aber der Hansl schüttelte den Kopf:
„Der birkene Segen von gestern wirkt noch!“
Als nach und nach Hansl’s Ohren abzuschwellen begannen und auch Mutters „Segen“ allgemach die Kraft verlor, kam ihm wieder der Verstand. Und da brachte er es leicht heraus, daß der verlorene Sündenzettel für ihn so verhängnisvoll geworden war.
Der Flatscher-Simele, so was man sagt, ein guter Freund, hatte den „Zettel“ gefunden, und war damit sofort wie ein Leichenbitter von Haus zu Haus gelaufen, um Hansl’s Missetaten an die richtigen Adressen zu befördern. Hatte auch zur Erweisung seiner Behauptung überall den Zettel mit Hansl’s eigenhändiger Unterschrift vorgewiesen.
Der Hansl hat aber dann ein gut Teil jener „seligmachenden Gefühle“, die seine erste Beichte in ihm ausgelöst, an den Simele weitergegeben, und ihm den Buckel vollgehämmert.
Fußnoten:
[244] gleichmäßig
[245] begleitete
[246] versteifen
[247] mißhandelt
[248] Beichtbank
[249] Rosinen
[250] bequem
Ludwig Thoma , 1867 in Ober-Ammergau geboren, hat sich auf den verschiedensten Gebieten umgetan, im Schauspiel, Lyrik und Prosa, von der kleinen Skizze bis zum Bauernroman. Tod den Philistern — das ist vielleicht die beste Losung für sein vielseitiges Schaffen. Aus dieser Stimmung heraus wurde er der Mitbegründer von „ Simplizissimus “ und „ März “, zwei Zeit- und Streitschriften im Kampf gegen allerlei Vorurteile und Engherzigkeiten. Schlemihl-Thoma hat die Geißel bitterer Satire so kräftig geschwungen, daß sein Ruf als Dichter fast Schaden litt. Er leuchtete hinein in moralische Mißstände und soziale Verkehrtheiten. Am liebsten aber zog er immer wieder blank im Kampf gegen engherzige Parteipolitiker und heuchlerisches Pfaffentum. Mit heller Freude haben wir seine Briefe eines ländlichen Abgeordneten gelesen. Verhältnisse und Persönlichkeiten seiner bayrischen Heimat, die der frühere Rechtsanwalt von Grund aus kennt, weiß er uns so lebendig vor Augen zu führen, daß wir sie zu sehen glauben. Und doch sind diese Dachauer Bauerngestalten [S. 119] Schöpfungen höchster Kunst wie jene Gestalten auf Leibl’s Gemälden, die man nie wieder vergißt.
Diese Verbindung von Naiv-Einfachem mit hoher Kultur tritt uns höchst reizvoll in unserer Novelle „Kabale und Liebe“ entgegen. Matthias Claudius, der Wandsbecker Bote, auch ein Meister im Volkston, hat einmal eine Aufführung von Lessings „Minna von Barnhelm“ behandelt vom Standpunkte eines naiven Zuhörers, der alle Vorgänge auf der Bühne so lebhaft und leibhaftig mitempfindet, als ob sie sich wirklich vor seinen Augen zutrügen. Turgenjeff ist dann in seiner Novelle „Faust“ einen Schritt weiter gegangen. Er schildert die starke, verhängnisvolle Wirkung, die Goethes Faust auf ein Gemüt ausübt, das zwar naiv und von der Kultur noch unberührt, aber für künstlerische Eindrücke stark empfänglich ist. Etwas Ähnliches mag Thoma vorgeschwebt haben. Das Ergebnis der Aufführung von Schillers „Kabale und Liebe“ ist eine kräftige Prügelei der beiden Liebhaber. Das Stück war eben für die kleine Stadt zu leidenschaftlich gewesen. Das hatte der Herr Oberamtsrichter von Anfang an gesagt.
M. G.
Kabale und Liebe.
ie zeigte sich lieblich zu ihm und erweckte ihm Hoffnungen, die waren grün wie Buchenlaub. Es war aber zur Zeit der Schneeschmelze, daß Anton sie kennen lernte, an einem Feierabend, nachdem er sich den Ruß von Gesicht und Händen abgewaschen hatte. Er ging den Schloßberg hinauf und wußte nicht, warum er so seltsam bewegt war. Alle Rippen dehnten sich unter der Weste, und die Füße hoben sich von selber und marschierten dem Frühling entgegen.
Wo aus, du junger Schlossergeselle?
Immer weiter hinaus, wo das Glück sein muß. [S. 122] Es war aber ganz nahe und bog um die Ecke und schaute Anton aus zwei blitzblauen Augen an.
Ei, guten Abend, Fräulein Babette, und so spät noch um den Weg? dachte er; denn was ein Dürnbucher Jüngling ist, faßt sich nicht so leichthin das Herz, ein zierliches Frauenzimmer anzureden.
Er ging der Allerfeinsten nach und füllte sich mit Sehnsucht nach ihr, und als ihm das gleiche noch mehrere Tage geschehen war, wollte es sich schicken, daß er in ein Gespräch mit ihr kam.
Und Jungfer Babette Warmbüchler, eines Spenglermeisters Tochter, zeigte sich lieblich zu ihm.
Es nahm alles im Stillen und Heimlichen seinen Fortgang, und die Leidenschaft des Jünglings schlich an des Meisters Tür vorbei über knarrende Stiegen an einen Gartenzaun.
Dort legte sich Antons Schatten über die Wiese und gesellte sich zu einem anderen in mondhellen Nächten.
Wie herrlich war die Welt in diesem liebreichen Sommer!
Niemals zuvor hatten die Grillen lauter gezirpt, niemals hatte das Heu so geduftet, niemals hatten die Sterne heller gefunkelt.
Und Anton durfte die Darbietungen der Natur mit frohem Gewissen entgegennehmen, denn das Ideal stand unberührt in seinem Herzensschrein; er wollte als bildungsbestrebter Jüngling seinem Mäd [S. 123] chen poetisch nahen und wandelte auf schüchternen Fußspitzen im Liebesgarten umher.
Er besprengte die kostbare Blume der Jugendneigung mit allerzierlichsten Redensarten und mußte doch eines Tages sehen, daß sie verwelkt war.
Jungfer Babette wandte sich von ihm ab.
Es traf damit zusammen, daß ein neuer Apothekerprovisor als auffällige Erscheinung in Dürnbuch einzog; ein Mann, der gekräuselten Haares hinter der Ladenbuddel [251] stand und mit dem Maul nicht weniger Süßigkeiten vergab als mit den Händen. Wie er in brauner Sammetjoppe, den Schlapphut verwegen nach links geschoben, durch die Gassen schritt, war er sogleich ein gefährlicher Rivale [252] für jeden Handwerksgesellen.
Was half es, daß Anton sich an Sonntagen mit der schwarzen Turnerkravatte auftat und goldene Fransen auf die Brust baumeln ließ? Herr Provisor Elfinger trug eine künstlermäßige Lavaliere [253] , die unterm Adamsapfel einen beträchtlichen Knoten schlang und nach zwei Seiten ins Freie schweifte.
Und was konnte ein ehrlicher Schlosser in die Wagschale werfen gegen ihn, der alle wohlriechenden Wässerlein zu verschenken hatte und selber roch wie der Stöpsel einer Eau de Cologne-Flasche?
Es war nicht verwunderlich und es war nicht das erstemal, daß unscheinbare Tüchtigkeit vor dem glanzvollen Nichts zurückstehen mußte.
Jungfer Babette kam nicht mehr an den Gartenzaun, und Anton saß in seiner Kammer und schaute über die Dächer zum Nußbaum hinüber, unter dessen Zweigen er glücklich gewesen war.
Er nahm ein Büchlein zur Hand, das hatte einen blauen Einband, und darauf stand mit silbernen Buchstaben: Lebensweisheit in Versen.
Er blätterte darin und fand ein Gedicht, welches seiner Trauer angepaßt war.
„Sind welk die Blumen alle hingesunken“, wiederholte Anton und schrieb die Verse auf ein Blatt und legte es zu unterst in seinen Koffer und wußte nun, daß seine Trauer über die Maßen poetisch war. —
Das Folgende war auf der ersten Seite des Dürnbucher Anzeigers zu lesen:
„Erlaube mir, einem hohen Beamtenkörper, sowie Magistrat und verehrlichem, kunstliebendem Publikum ergebenst anzuzeigen, daß ich nur mehr wenige Tage dahier mit meinem Theater verbleiben werde, und dürften die letzten Vorstellungen einem besonderen [S. 125] Interesse begegnen, indem ich bemüht bin, trotz erheblicher Kosten dem allseits geäußerten Wunsche nach den Darbietungen unserer Klassiker entgegenzukommen. Heute wird das so lebenswahre und ergreifende Trauerspiel „Kabale und Liebe“ von Friedrich von Schiller gegeben. Die Rollen sind auf das vorteilhafteste besetzt und sehe einem zahlreichen Besuche entgegen.
Jakob Weindl, Theaterdirektor.“
Bezugnehmend auf obige Anzeige möchten wir nicht verfehlen, unsere kunstfreudigen Mitbürger ganz besonders auf den heutigen Theaterabend aufmerksam zu machen. Ist doch „Kabale und Liebe“, dieses ewig junge Werk unseres Nationaldichters, ungemein geeignet, durch den rührenden Kampf der Unschuld mit dem Laster immer wieder die Herzen zu ergreifen, und dürfte niemand das Theater unbefriedigt verlassen.
Die Redaktion.“
Der Lammbräusaal war angefüllt mit solchen, denen der Hinweis auf den verstorbenen Nationaldichter genügte; besonders waren die billigen Plätze dicht besetzt. Aber es fehlte auch nicht an Honoratioren [254] , unter welchen man den Oberamtsrichter Trollmann bemerken konnte, welcher sich vormals in Regensburg zu einem schätzbaren Theaterkenner ausgebildet hatte. Er schenkte seine Unterhaltung dem quieszierten [255] Lehrer Furtner, von dem man eine nach [S. 126] folgende Besprechung der Klassikervorstellung um so mehr erwarten durfte, als er die Theaterkritik für Dürnbuch übernommen hatte. Aus der zweiten Reihe drang ein angenehmer Geruch hervor, weil darin der Apothekerprovisor Elfinger saß, welcher durch ein Opernglas aus kurzer Entfernung auf Jungfer Babette Warmbüchler hinsah, jedoch auch andere Bürgermädchen in das Prisma [256] nahm. Wenn er das Glas niedersetzte, vollführte er mit gelben Glacéhandschuhen Bogen und Kreise, oder brachte seine Locken in eine verführerische Situation [257] , oder tat irgend etwas anderes, was die Damenwelt in Schwingung setzte und den ehrlichen Turnern und Handwerksgesellen im Parterre die Galle aufregte. Unter den besser Plazierten [258] fiel weiterhin der Lohgerber Weiß durch seine riesige Gestalt auf und durch das tiefe Seufzen, welches er schon vor Beginn hören ließ; denn es war ihm erzählt worden, daß die Sache einen traurigen Ausgang nehmen werde, und er war von der butterweichsten Art, aber ein leidenschaftlicher Freund der Bühne. Nahe bei ihm saß die Spediteurswitwe Karoline Tretter, welche eine Lebenstragödie [259] hinter sich hatte, weil ihr verstorbener Mann in die Hände einer leidenschaftlichen Näherin gefallen und als Vater eines so entstandenen Kindes ruchbar geworden war und damit das Glück einer zwanzigjährigen Ehe zertrümmert hatte, wenn schon [S. 127] ihn der Tod bald darauf von seinem Schuldbewußtsein erlöste. In der Witwe blieb ein ungemeiner Schmerz hängen, aber auch ein so wunderbarer Spürsinn für alles Sündhafte, daß sie auf jeder Preissuche eine höchst lobende Erwähnung davongetragen hätte. Sie hatte es momentan [260] gegen den Apothekerprovisor Elfinger, und indem sie seinem Opernglase folgte, sammelte sie halbe und ganze Verdachtsbegründungen. Es wäre von den bekannteren Bürgern noch der Hutmacher Zehetmaier zu erwähnen, welcher immer und überall und wo er nur konnte, über die Aristokratie [261] schimpfte und die Vorrechte der Geburt mit demokratisch ätzender Lauge übergoß. Im Parterre standen die Minderbemittelten, und vor allem die jungen Leute, und es war der Turnverein „Altvater Jahn“ vollzählig erschienen, weshalb man auch den Schlossergesellen Anton bemerken konnte. Er sah ohne Opernglas jedes Mienenspiel der Jungfer Babette und warf darum die allerdüstersten Blicke um sich und versengte mit ihnen die samtene Weste des Apothekerprovisors Elfinger. Es fehlte also nicht an Leidenschaften und Gefühlen im Lammbräusaale, und die Worte unseres Nationaldichters konnten auf gepflügten Boden fallen.
Der Vorhang ging in die Höhe, und aller Augen wandten sich der Bühne zu. Herr Direktor Weindl in eigener Person stellte den Musikus Miller dar; seine Frau Marie spielte abwechselnd die [S. 128] Lady Milford und die Millerin. Als prächtige Buhlerin des Herzogs trug sie einen großgeblümten Schlafrock und vergoldete Ballschuhe; als Millerin schlang sie einen dunkeln Schal um die Schultern und schlürfte in Filzpantoffeln über die Bühne. Auch im Tone wußte sie die beiden Frauengestalten gut auseinander zu halten und brachte bald eine vornehme Üppigkeit und bald das bürgerliche Wesen vor die Lampen. Fräulein Therese Weindl spielte die Luise in gedämpftem Tone, und das war vorteilhaft, weil die Nähte des Kleides unter ihrem üppigen Busen ohnedies einen schlimmen Abend verbrachten. Der Sohn des Direktors, Herr Franz Weindl, kam als Ferdinand und wirkte als Liebhaber wie als Militär durch Kanonenstiefel und einen gelben Schnurrbart. Obwohl die übrigen Rollen weniger günstig besetzt waren, indem insbesondere dem Sekretär Wurm ein auffälliger Spitzbauch im Wege stand, wirkte doch die Dichtung sogleich auf ein kunstliebendes Publikum. Die rauhen Worte des Musikus Miller gefielen und stärkten das bürgerliche Selbstbewußtsein, und als dann hinterher der Präsident Walter mit seiner lästerlichen Hochnäsigkeit ankam, ging ein Murren von der ersten Reihe bis zur Saaltüre.
„Bürgercanaille“, sagte er. Der Hutmacher Zehetmaier lachte grimmig auf, und die braven Burschen vom Altvater Jahn rekelten sich.
„Daß er der Bürgercanaille den Hof macht, meinetwegen Empfindungen vorplaudert, das sind [S. 129] Sachen, die ich verzeihlich finde; spiegelt er der Närrin solide Absichten vor — noch besser.“
Stand es so? Müssen ehrbare Bürgerskinder zum Vergnügen herhalten? Alle ergrimmten; am meisten Anton. Er kannte so einen, der Flatterien [262] vorsagte und Geschmack an schönen Mädchen zeigte.
Die Entrüstung im Saal legte sich, als man im Hofmarschall Kalb einen waschechten Junker und dumme Vorurteile verlachen konnte, und die ernste Unterredung Ferdinands mit seinem Papa zeigte, daß es auch in diesem eingebildeten Stande ordentliche Leute gibt.
„Umgürte dich mit dem ganzen Stolz deines Englands — ich verwerfe dich — ein deutscher Jüngling!“
Das gab ein Bravo beim Altvater Jahn und ein Patschen in harte Hände, daß der Vorhang wieder und wieder in die Höhe gehen mußte. „Wie sind Sie zufrieden?“ fragte der Lehrer Furtner. „Ich wiederhole, was ich schon immer sagte,“ antwortete Oberamtsrichter Trollmann, „es ist ein Fehlgriff der Direktion. Dieses Stück ist für ein ganz anderes Publikum geschrieben und erweckt hier nur gewisse Instinkte [263] .“ — „Aber als klassisches Stück?“ — „Klassisch hin, klassisch her. Ich sage, es ist nicht für Dürnbuch. Diese Leute betrachten es nicht historisch, sondern ziehen die Ereignisse in die Gegenwart. Haben Sie das einfältige Lachen bemerkt, [S. 130] als der Hofmarschall auftrat?“ Furtner nickte zustimmend und nahm sich vor, von diesen Gesichtspunkten einiges für seine Kritik zu verwenden. Der zweite Akt begann, und Frau Weindl nahm im geblümten Schlafrock reizende Stellungen ein und zeigte den Dürnbuchern, wie sich die schönen Weiber gehaben, welche unsere Fürsten auf Abwege bringen, und deren Launen wir Untertanen bezahlen müssen. Freilich, diese Lady war gutherzig und wollte die Edelsteine nicht annehmen, welche mit dem Glücke von siebentausend Landeskindern bezahlt waren. Niemand kann eine dukatengespickte Börse vornehmer in den Hut eines Kammerdieners werfen, als es Frau Weindl tat, aber ihre Freigebigkeit machte keine Wirkung. Ein lautes Bravo, ein Bravo aus tiefem, gepreßtem Herzen ertönte, wie der Kammerdiener die große Summe mit Verachtung zurückwies. Die Spediteurswitwe Karoline Tretter war es, und als man sich nach ihr umdrehte, nickte sie kräftig mit dem Kopfe, um zu zeigen, daß sie auf ihrem Beifall bestehen bleibe, und einen Mann achte, der von liederlichen Frauenzimmern nichts haben wolle. Sie kannte ja auch diese Sorte, und sie mußte nur bitter lachen, als Frau Weindl den Fluch des Landes nicht mehr in den Haaren tragen und den Erlös ihres Schmuckes unter die Armen verteilen wollte. Schwindel!
Aus dem prächtigen Salon der fürstlichen Geliebten ging es wieder zum Musiker Miller, und [S. 132] die Dürnbucher hielten den Atem an, als ein finsteres Schicksal über die braven Leute kam.
Der Lohgerber Weiß wischte sich dicke Schweißtropfen von der Stirne, wie nun der Vorhang über die Szene der frechsten Unterdrückung gefallen war, und alle anderen schwiegen erschüttert.
Nur der Apothekerprovisor mußte zeigen, daß er Spiel und Wirklichkeit nicht verwechsle; er stand auf und ging zu Jungfer Babette hin und brachte sie dazu, auch ihrerseits über das trauervolle Auditorium [264] ein höchst frivoles [265] Lachen anzuheben.
Anton sah es und nahm einen fressenden Zorn in den dritten Akt hinein, der wahrhaftig nicht dazu angetan war, einen ehrlichen Burschen abzukühlen. Was gab es für schmerzverzerrte Gesichter! Wie fühlte sich jeder in seinem Glücke bedroht, wenn solche Dinge in der Welt geschehen konnten und sich alles gegen treue Liebe verschwor! Auch harte Männer, welche ihre stürmischen Gefühle längst in die Ehe gebettet hatten, mußten weinen, als Luise den verhängnisvollen Brief schrieb, den der schuftige Sekretär diktierte. Der Lohgerber Weiß war völlig gebrochen und preßte die riesigen Hände ineinander und ließ sein Wasser hilflos rinnen, und wie die Seelenqual auf der Bühne immer ärger wurde, hielt er keinen Seufzer mehr an und arbeitete so furchtbar von innen heraus, daß es eine schauerliche Begleitung zu Luisens Vernichtung bildete.
Mit wuchtigen Schritten eilte die Tragödie vorwärts. Niemand hörte mit so schmerzenden Ohren das Dröhnen des Schicksals wie Anton, der immer mehr in Ferdinand von Waller sein Ebenbild sah, und der ganz in der Lage und in den Umständen war, mitzuknirschen gegen den Verrat an seiner Liebe. „Bube! Wenn sie nicht rein mehr ist! Bube! Wenn du genossest, wo ich anbetete! schwelgtest, wo ich einen Gott mich fühlte! Dir wäre besser, Bube, du flöhest der Hölle zu, als daß dir mein Zorn im Himmel begegnete! Wie weit kamst du mit dem Mädchen? Bekenne!“
Ha, du geschniegelter Hofmarschall, oder nein, du pomadisierter und bisamduftiger Apothekerprovisor, jetzt geladene Pistolen und ein Schnupftuch zwischen dir und Anton, und du solltest Gott danken, Memme, daß du zum erstenmal etwas in deinen Hirnkasten kriegtest!
Fühlst du die brennenden Blicke, Babette Warmbüchler, welche aus dem dunklen Parterre hervor nach dir schießen, und weißt du, was du aus dem dort gemacht hast? Sie wußte es nicht und sie dachte an nichts dergleichen, sondern hing während der zermalmenden Geschehnisse ihre Gedanken an einen blauseidenen Gürtel, welchen ihr Herr Elfinger heute geschenkt hatte. Die anderen Mädchen im Saale stellten sich mit Luise vor Lady Milford hin und sagten ihr so gründlich die Meinung, wie sie ein anständiges Bürgerkind einem solchen Frauen [S. 134] zimmer sagen muß, wenn es um den Liebsten geht, aber Babette Warmbüchler dachte an einen blauseidenen Gürtel; und als der Vorhang fiel und es wieder hell im Saal wurde, rümpfte sie verächtlich die Nase über die weinenden Menschen und lachte zu Herrn Elfinger hinüber.
Verloren, ja! Unglückselige, du bist es.
Und der Jammer häufte sich im Lammbräusaale und akkompagnierte [266] den Musikus Miller, als er seiner Tochter die Schrecken des Selbstmordes malte, und hundert Herzen drängte es, dem rasenden Major die Wahrheit zu sagen über diesen unglückseligen Brief, und hundert Herzen baten Luise, doch endlich den aufgedrungenen Eid zu brechen. Doch sie schwieg. Und dann ging ein tiefer und langer Seufzer durch den Saal. Luise war tot. Gestorben an der vergifteten Limonade.
Zu spät, daß Ferdinand seinem Vater Flüche ins Antlitz schrie, zu spät, wie immer, daß die Polizei eingriff und den schurkischen Präsidenten und den noch gemeineren Sekretär Wurm verhaftete. Der Vorhang fiel.
Die Dürnbucher standen auf und verließen den Saal; jedoch der Lohgerber Weiß blieb noch sitzen, in Vernichtung, und rang nach Luft und verwischte mit seinem blaukarierten Schnupftuch alle Spuren seines Seelenkampfes und ging als der letzte hinaus. Die Zuschauer eilten durch den dunkeln Hausgang [S. 135] auf den Stadtplatz, wo sie aufatmend inne wurden, daß noch alles am rechten Platz stände, die Heimatstadt, ihre Wohltätigkeit und ihr Familienglück. Niemand bemerkte den Schlossergesellen Anton, der aus einer dunkeln Ecke das Tor überwachte und sah, wie der Apothekerprovisor der Jungfer Babette folgte und in eine Nebengasse bog.
Er schlich ihnen nach. Indessen schritt Furtner neben Trollmann und sagte, daß ihn die Dichtung doch in einem gewissen Banne gehalten habe. „Das schon,“ erwiderte Trollmann, „und ich verkenne durchaus nicht die Vorzüge dieses Werkes, aber die Leute sind nicht gebildet genug, um Wahrheit und Dichtung auseinanderzuhalten. Es sind doch sehr starke Ausfälligkeiten darin.“
„Sie meinen den Hofmarschall Kalb?“
„Ich meine überhaupt die Prinzipien [267] , und die Rolle, welche man den Herzog spielen läßt.“
„Aber vielleicht waren die Zustände früher weniger geordnet?“
„Früher! Das ist es eben. Ich sehe den historischen Hintergrund, Sie sehen ihn auch. Aber die anderen werden aufgehetzt.“
„Ja ja,“ sagte Furtner, „in dieser Beziehung muß ich Ihnen recht geben.“
„Heutzutage, wo ohnehin jede Autorität...“
Trollmann sperrte seine Haustüre auf.
„Wo ohnehin jede Autorität... also gute Nacht, Herr Lehrer!“
„Gute Nacht, Herr Oberamtsrichter!“
Furtner ging tiefsinnig heim und überlegte, wie diese Bedenken in der Einleitung zu verwerten waren.
Und indessen geschah etwas am Gartenzaune bei Warmbüchler, was die Befürchtungen Trollmanns bestätigte.
Elfinger hatte Abschied von Babette genommen und schritt so leichtfüßig heim, wie nur ein Jüngling schreiten kann, dem sein Mädchen unter Küssen das Unerlaubte versprochen hat.
Er hüpfte und hielt die Nase siegesgewiß zum Sternenhimmel empor und forderte den Mond auf, noch auf einen so verfluchten Kerl zu scheinen, wenn er es fertig bringe.
Da tönte ein Halt.
Anton sprang vor und faßte den Provisor an der Lavalierekrawatte und legte seine Finger um den Adamsapfel. Wie sie zittert, die Memme!
„Wie weit kamst du mit dem Mädchen?“
Und eine harte Schlosserfaust schlug drauflos und ruinierte [268] eine Menge Schönheiten und raufte zierliche Locken aus und brachte Backenzähne in Unordnung.
„An meine Blume soll mir das Ungeziefer nicht kriechen, oder ich will es so, und so, und wieder so durcheinanderquetschen.“ Und in die Haselnuß [S. 137] stauden hineinschmeißen, daß es aus einem Provisor und Ebenbild Gottes zur blau und grün überlaufenen Jammergestalt wird.
Und so war es klar, daß Friedrich von Schiller für das gegenwärtige Dürnbuch zu leidenschaftlich wirkte.
Fußnoten:
[251] Ladentisch
[252] Nebenbuhler
[253] Schleife
[254] Standespersonen
[255] in den Ruhestand versetzten
[256] Fernglas
[257] Lage
[258] auf besseren Plätzen Sitzenden
[259] Lebens-Trauerspiel
[260] augenblicklich
[261] Adel
[262] Schmeicheleien
[263] Naturtriebe
[264] Zuhörerschaft
[265] leichtsinniges
[266] begleitete
[267] Grundsätze
[268] zerstörte
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1. Enking, Ottomar: Das Pünktlein auf der Welle. Mit Einleitung von Prof. Gregori und Bildern von Ludwig Berwald. Gebd. M. 6.–.
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*1. Müller, Fritz: Fröhliches aus dem Krieg. Mit zahlreichen Bildern. Geb. 1.50 M. Lederband 10 M. 1.-20. T.
*2. Weltkriegs-Geschichten , herausg. von Walter v. Molo. Mit Bildern. Geb. 1.80. M. Lederband 10 M. 1.-20. T.
*3. Speck, Wilh.: Aushalten! Geb. 1.50. M. 6.-10. T.
*4. Flämische Erzähler , verdeutscht und herausgegeben von Dr. Brühl. Mit Bildern. Geb. 1.80 M. Lederband 10 M. 1.-20. T.
*5. Küchler, Kurt: Kriegsflagge am Heck! Seekriegs-Geschichten. Mit Bildern. Einleitung von Gustav Frenssen. Geb. 2 M. Lederband 10 M. 1.-20. T.
* Schillerbuch. 346 S. Geb. 2 M. 31.-40. T.
* Märchenbuch. Auswahl der schönsten Märchen. Mit zahlreichen Bildern. Geb. 3.75 M. (ohne Aufschlag). 1.-20. T.
Die Fundgrube. Ein Führer zu den geschichtlichen Erzählungen und Balladen der Stiftung. 1.50 M., geb. 2 M.
Neue Bände in Vorbereitung:
Enking: Das Pünktlein auf der Welle. Kleinod-Romane Bd. 1.
Schücking: Die Marketenderin von Köln. Eichenkranz 6–7.
Tiergeschichten. Hausbücherei-Band.
Volksbücher zum größten Teil mit Text- und Umschlagbildern.
☛ Teuerungsaufschlag 100%. ☚
Heft | Geh. | Gbd. | |
Pfennige | |||
1. | 50 Gedichte von Goethe. Vergriffen! | 20 | 50 |
*2. | Schiller: Wilhelm Tell. 190 Seiten. 21.-30. T. | 30 | 60 |
*3. | Schiller: Balladen. Mit Bildern. 108 S. 41.-60. T. | 40 | 80 |
*4. | Schiller: Wallensteins Lager. Vergriffen! | 50 | 90 |
*5. | Schiller: Wallensteins Tod. 11.-20. T. Vergriffen! | 50 | 90 |
Heft 4 und 5 in einen Band gebunden | 150 | ||
6. | Brentano. Die Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Mit Bildern. Vergriffen! | 20 | 50 |
7. | Hoffmann, E. Th. A.: Fräulein v. Scuderi. Vergriffen! | 30 | 60 |
8. | Halm, Fr.: Die Marzipanliese. Vergriffen! | 30 | 60 |
*9. | Reuter: Woans ick tau ’ne Fru kamm. 31.-50. T. | 20 | 50 |
*10. | Eyth, Max: Der blinde Passagier. 91.-110. T. | 20 | 50 |
11. | Ebner-Eschenbach, Marie von: Die Freiherren von Gemperlein. Mit Bildern. 71.-90. T. | 20 | 50 |
12. | Jensen, Wilhelm: Über der Heide. 51.-70. T. | 35 | 70 |
*13. | Wichert, Ernst: Der Wilddieb. Mit Bildern. 61.-80. T. | 40 | 80 |
14. | Schücking, Levin: Die drei Großmächte. 31.-50. T. | 30 | 60 |
15. | Anzengruber, Ludwig: Der Erbonkel und andere Geschichten. Mit Bildern. 51.-70. T. | 25 | 55 |
*16. | Böhlau, Helene: Kußwirkungen. 51.-70. T. | 20 | 50 |
17. | Frapan, Ilse: Die Last. 31.-50. T. | 25 | 55 |
[S. 144] 18. | Kleist, Heinrich v.: Die Verlobung in St. Domingo. Das Erdbeben in Chile. Der Zweikampf. 31.-50. T. | 30 | 60 |
19. | Rosegger, Peter: Der Adlerwirt von Kirchbrunn. Mit Bildern. 61.-80. T. | 40 | 80 |
*20. | Zahn, Ernst: Die Mutter. Mit Bildern. 41.-60. T. | 20 | 50 |
*21. | Groth, Ernst Joh.: Die Kuhhaut. Mit Bildern. 61.-100. T . | 20 | 50 |
*22. | Schmitthenner, Adolf: Die Frühglocke. Mit Bildern. 61.-80. T. | 20 | 50 |
*23. | Freytag, Gustav: Karl der Große. Minnesang und Minnedienst zur Hohenstaufenzeit. 31.-50. T. | 30 | 60 |
24. | Spielhagen, Friedrich: Hans und Grete (Novelle). Mit Bildern. 41.-60. T. | 40 | 75 |
25. | Kotze, Stefan v.: Geschichten aus Australien. 41.-60. T. | 25 | 55 |
26. | Heyse, Paul: Andrea Delfin. Mit Bildern. 51.-60. T. | 30 | 60 |
*27. | Villinger, Hermine: Leodegar, der Hirtenschüler. Mit Bildern. 51.-60. T. | 20 | 50 |
*28. | Ludwig, Otto: A. d. Regen in d. Traufe. Vergriffen! | 25 | 55 |
29. | Huldschiner, Richard: Fegefeuer. Vergriffen! | 70 | 100 |
30. | Grillparzer: Weh dem, der lügt! Vergriffen! | 25 | 55 |
*31. | Dehmel, Paula: Märchenbüchlein. Mit 2 Voll- und 4 Halb-Bildern. 21.-40. T. | 30 | 70 |
32. | Supper, Auguste: Die Hexe von Steinbronn. Mit Bildern. 21.-40. T. | 10 | 40 |
33. | Wilbrandt, Adolf: Der Mitschuldige. Mit Bildern. 41.-60. T . | 40 | 80 |
*34. | Keller, Gottfried: Kleider machen Leute. Mit Bildern. 61.-80. T. | 30 | 70 |
*35. | Uxkull, Woldemar v.: Das Kriegsgericht. Mit Bildern. 21.-40. T. | 25 | 60 |
*36. | Schreckenbach, Paul: Volksbuch vaterländischer Dichtung. Mit Bildern. 21.-40. T. Lederband 2.50 M. | 50 | 80 |
*37. | Müller, Fritz: Fröhliches aus dem Kaufmannsleben. Mit Bildern. 41.-60. T. | 30 | 70 |
38. | Hesse, Hermann: Der Lateinschüler. Mit Bildern. 41.-60. T. | 30 | 70 |
39. | Hesse, Hermann: Die Marmorsäge. 21.-40. T. | 30 | 70 |
40. | Gotthelf, Jeremias: Die schwarze Spinne. Mit Bildern. 21.-40. T. | 30 | 70 |
41. | Clausen, Ernst: Der Heiligen Kind. 21.-40. T. | 40 | 80 |
*42. | Franzos, Karl Emil: Der deutsche Teufel. 21.-40. T. | 40 | 80 |
*43. | Geibel, Emanuel: Meister Andrea. Vergriffen! | 40 | 80 |
44. | Wichert, Ernst: Ansas und Grita. Mit Bildern von Ludwig Berwald. 1.-20. T. | 40 | 80 |
45. | Günther, Konrad: „Unrein!“ Mit Bildern von Ludwig Berwald. 1.-20. T. | 40 | 80 |
*46. | Müller, Fritz: Das Beil. Mit Bildern | 20 | 50 |
Man fordere auch unsere Sonder-Verzeichnisse, z. B. „Abenteuerliche Bücher“ und „Vaterländische Bücher“, die kostenfrei geliefert werden.
IX 18: 200.000