Title : Schen: Studien aus einer chinesischen Weltstadt
Author : Fritz Secker
Release date : January 9, 2018 [eBook #56343]
Language : German
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Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der 1913 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert; ungewöhnliche und altertümliche Ausdrücke bleiben gegenüber dem Original unverändert. Rechtschreibvarianten wurden nicht vereinheitlicht, sofern die Verständlichkeit des Textes dadurch nicht berührt wird. Das Unterkapitel ‚In der Foochow Road‘ ( S. 62 ) wurde dem Inhaltsverzeichnis hinzugefügt.
Im Umschlagbild wurde die Flagge des Wutschang-Aufstands (9-strahliger gelber Stern auf rotem Grund) vom Bearbeiter wiederhergestellt. Ein Urheberrecht wird nicht geltend gemacht. Das Bild darf von jedermann unbeschränkt genutzt werden. “The cover image was created by the transcriber and is placed in the public domain.”
Fritz Secker
Erstes Tausend.
1913.
Druck und Verlag von Adolf Haupt, Tsingtau.
Kommissionsverlag für Deutschland:
Max Noessler & Co. Berlin, Friedrichstr. 207.
D ie Studien aus der chinesischen Weltstadt sind seit Anfang vorigen Jahres in zwangsloser Reihenfolge im „Ostasiatischen Lloyd“ erschienen. Wenn ich sie jetzt gesammelt von Neuem der Oeffentlichkeit darbiete, so geschieht das aus mancherlei Gründen. Ich glaube, dass ich in diesen Aufsätzen und Skizzen fast unbewusst eine bedeutende Epoche im modernen chinesischen Kultur- und Sittenleben festgehalten habe. Jene Epoche setzte kurz nach Beendigung der Wutschanger Revolution ein und fand mit der Wahl Yüan Schi kais zum Präsidenten einen gewissen Abschluss.
Die fast zweijährige Zeitspanne stand unter dem Zeichen des jungchinesischen Reformeifers, der ein Vernichten alter chinesischer Kulturwerte und eine blinde Nachahmung alles Ausländischen zum Ziele hatte. Welche neue, zweifelhafte Werte dadurch geschaffen wurden, soll das Buch Schen zeigen. Wenn auch die Auswüchse jener Übergangszeit zum Teil wieder verschwunden sind, so wird doch auch in Zukunft das talmiglänzende Schanghai eine stete Gefahr für alle echten chinesischen Kultur- und Zivilisationswerte bilden. Dem alten China kann man im Interesse einer gesunden Weiterentwicklung nur wünschen, dass es für alle Zeiten von dem verderblichen „Schanghaiismus“ verschont bleibt.
Fritz Secker.
Auf dem Westsee bei Hangtschou,
im 9ten chinesischen Monat
des Jahres
Kui tschu.
D as chinesische Neujahrsfest 1912 hat infolge der politischen Ereignisse, die gerade kurz vor dem Fest zu einem vorläufig befriedigenden Abschluss kamen, ein besonderes Gepräge erhalten. Wer während der Festtage durch die Hauptstrassen der Niederlassung gewandert ist, dem fielen wohl zwei Dinge zuerst in die Augen. Einmal waren es die wenig Schönheitsgefühl verratenden grellfarbigen Flaggen der Republik, mit denen die Häuserfronten geschmückt waren, und ferner die vielen feld- und hechtgrauen Uniformen in dem wogenden Strassengetriebe. Diese beiden Aeusserlichkeiten waren gewissermassen der Grundton, der den vielen Einzelwesen, die in den Strassen auf- und abwogten oder sich an belebten Strassenecken als gaffende Zuschauer zu Massen stauten, eine besondere Farbe lieh.
Noch vor einem Jahr war es bei dem männlichen Geschlecht Sitte, das Neujahrsfest in einfachen, schmucklosen Feiertagsgewändern zu begehen. Doch, wer dieses Jahr näher zuschaute, der erblickte auf dem obern Gewand unscheinbaren Firlefanz, der trotzdem gross genug war, um auf einen über Nacht gezüchteten Patriotismus und auf unverstanden nachgeäffte Ausländerei des Trägers schliessen zu lassen; da gab es kleine Emailleschildchen, auf denen sich die republikanische Land- und Seeflagge kreuzten, fünffarbige in der Mitte zusammengeraffte Bändchen, die offenbar den Inhaber eines Ehrenzeichens vortäuschen sollen, und sogar richtige Orden wurden stolz zur Schau getragen. Ihre Träger waren wahrscheinlich entlassene oder Soldaten in Zivil, die den „Feldzug“ mitgemacht haben. Orden und Ehrenzeichen scheinen in China allmählich in Mode zu kommen; und damit werden dem Neid und der Eitelkeit neue Türen geöffnet. Hatten doch in Tschangscha neuangeworbene Soldaten, die während des Aufstands weder einen Feind gesehen, noch Pulver gerochen — 2 — hatten, gemeutert, weil ihre Kameraden sich mit Verdienstmedaillen auf der Brust zeigen konnten und sie bei dem Ordensregen schnöde unbeachtet geblieben waren! Und sogar ein „vorläufig amtlich revolutionäres“ Finanzinstitut stellte den Zeichnern einer allgemeinen öffentlichen Anleihe, an der sich auch Westländer beteiligen konnten, Orden und Ehrenzeichen in Aussicht. Uns liegt jede Kritik fern; aber solche kleine Aeusserlichkeiten sind ein interessantes Schlaglicht auf das in der Umwandlung begriffene China.
Abgesehen von jenen halb verdeckt zur Schau getragenen neumodischen Aeusserlichkeiten, scheint das Neujahrsfest auf gewisse chinesische Kreise doch etwas ernüchternd und national sammelnd gewirkt zu haben. Denn Viele, besonders Angehörige der mittleren Volksschichten, die sich, in eitler Nachahmerei, dem Ausland zu einer Zeit in die Arme geworfen hatten, wo sinnbetörende Schlagworte durch die Luft schwirrten, mögen sich plötzlich auf das Erbe besonnen haben, das sie in einer freiheitlichen Regung verschleuderten, um dafür europäische Hosen, Kragen, Schlipse und Manschetten einzutauschen. Das höchste Fest des Jahres hat sie aber sich darauf besinnen lassen, dass sie keine halben Ausländer, sondern Chinesen sind. Und daraus erklärt sich offenbar auch die Tatsache, dass verhältnismässig wenig Chinesen in westländischer Kleidung auf der Strasse zu sehen waren. Dem Schreiber dieses erklärte ein solcher „halber Ausländer“, der sich noch vor den Festtagen in einem nicht sehr blendend weissen Kragen und auf etwas schief getretenen Absätzen gefallen hatte, auf die Frage, weshalb er heute chinesische Kleider trage: „Heute bin ich Chinese.“ Auch die chinesischen Theater, auf deren Spielplan jetzt sonst die neuen, von westländischer Bühnenkunst beeinflussten Stücke wie die „Kameliendame“ und „Napoleon“ mit an erster Stelle stehen, hatten während der Festtage ihren Spielplan auf einen nationalchinesischen Ton gestimmt und dem klassischen Schauspiel wieder vorübergehend zur Ehre verholfen. An dem Tage, wo die Neujahrsfeier zu Ende geht und man über die zahlreichen Pflichtbesuche und Schmausereien hinweg ist, besucht man gerne das Theater, wo man noch diesen oder jenen Bekannten trifft, der nachträglich beglückwünscht wird. Wer an diesem Neujahrsfest seit langen Monaten wieder einmal das Theater besucht und von stolzer Loge auf die hundertköpfige Menge im Parkett — 3— geschaut hat, der erblickte unter sich ein ungewohntes Bild: hunderte, fein säuberlich gescheitelte, fest angeklebte, glänzende und nach Schmalz und Haaröl duftende Köpfe nickten, sich kurz verbeugend, nach rechts und links. Wie gemessen und würdevoll war das Bild noch vor wenigen Monaten, als Zopf an Zopf sich reihte.
Nun, der Zopf ist weg, vielleicht deshalb, weil ein chinesisches Sprichwort sagt: „Wer nicht mit der Mode geht, gilt als arm“. Und war das Zopfabschneiden nicht vielleicht Mode? Wenn nicht, so hat es wenigstens einer andern Mode zur Geburt verholfen, nämlich dem Tragen westländischer Mützen auf chinesischer Kleidung. Wer vor den Festtagen noch keine solche Mütze sein eigen nannte, der kaufte sich eine. Die europäische Industrie wird wenig Nutzen mehr von den Massenkäufen in Mützen vor Chinesisch-Neujahr gehabt haben; denn sie wurden entweder von Japan eingeführt oder aus „Aikuopu“ (vaterländischem Tuch) in China verfertigt. Man konnte Mützen in allen Formen sehen; besonders beliebt waren aber anscheinend die aus Stoff gesteppten, hutförmigen Kopfbedeckungen, deren Rand sich nach jeder Richtung beliebig biegen lässt und die dem Träger ein etwas verwegenes und keckes Aussehen verleihen sollen. Nur ganz vereinzelt tauchte hie und da unter dem auf- und abwandernden Volk jene altchinesische, die obere Stirn scharf umrahmende, schwarz seidene, mit einem roten Bandknäuel gekrönte Form auf; nur verstohlen wagte es ein Chinese, sich mit diesem Erinnerungszeichen an die „Knechtschaft der Mandschus“ sehen zu lassen. Namentlich bei der chinesischen Damenwelt Schanghais hat in den letzten Jahren das Tragen von Mützen immer mehr Eingang gefunden. Sie bedeckt aber nur den obern Teil des Kopfes und schmiegt sich leicht an das dicke, straff ausgekämmte Haar an. Die ursprünglich westländische Mützenart ist stetig verchinesisiert worden. An den Festtagen, wo sich die Damen nach dem „dernier cri de Changhaï“ kleiden, hat man besonders Gelegenheit zum Studium. Die Farbe der Mütze wird nach Möglichkeit dem Kostüm angepasst, himmelblau scheint besonders bevorzugt zu sein; von der Mitte aus, wo bei den Jungenmützen der Knopf sitzt, gehen strahlenförmig einige kurze Schleifchen flatternd auseinander. Auch das Verzieren der Damenkleider mit losen Bändern scheint beliebt geworden zu sein; auf Brusthöhe werden rechts und links, unter einer Art Kokarde, einige flatternde Bänder befestigt, die oft einen halben Meter lang sind; bei manchen — 4 — Damen waren die Bänder mit Spangen festgemacht, die das fünffarbige, republikanische Abzeichen trugen. Eine solche modisch gekleidete Schöne erinnerte gar zu sehr an ein festlich geschmücktes Pfingstöchslein. Auf den winzigen Schuhen, die allmählich vom Tuch zum Leder übergehen, werden jetzt gerne kleine Quasten getragen. Die Hosen nehmen eine bedenkliche Enge an; sie sind oft nicht weiter als der kleine Fuss, auf den sie herabfallen. Wenn die Mode die Hosenform noch weiter auf die Spitze treibt, dann weiss man wirklich nicht, was noch werden mag. Oder soll die Methode des alten Seydlitz eingeführt werden, dass künftighin die Hosen vor dem Anziehen in Wasser getaucht werden müssen, damit sie sich straff und prall an die Beine anschmiegen? Ein Teil der chinesischen Damenwelt scheint dies schon vorauszuahnen und trifft deshalb zeitig Vorsorge; darum heisst die Losung: „Zurück zum Rock“. Tatsächlich war die Zahl der rocktragenden Damen beim Neujahrsfest bedeutend. Mit dem Rock, der allmählich westländische Formen anzunehmen beginnt, wird auch wieder aller überflüssiger Firlefanz von der Kleidung verbannt. Wodurch die „Langröckigen“ aber auffallen, ist die neumodische Haartracht, die nicht mit einer Mütze verdeckt wird; auf dem vordern Teil des Hauptes werden einige geflochtene Haarsträhne mit einander verschlungen, sodass die Haartracht der Form eines Bretzels gleicht. Einen noch drastischern Vergleich möchte ich lieber unerwähnt erlassen.
Dass die neue Mode keineswegs den vollen Beifall des männlichen Geschlechts findet, zeigen die Spottverse, die in einem chinesischen Blatt auf die Frauenmode erschienen sind. Darin heisst es:
„Eine Dame mit blauer Brille gleicht dem Kopf eines Ochsen.“
„Das weisse Band um den Hals sieht aus wie ein Strick, an dem sie sich aufhängen will.“
„Die ledernen Schuhe machen Einen glauben, dass das Fräulein einer Missionsgesellschaft angehört.“
„Die goldene Kette um den Hals erinnert an die Eisenkette eines Strafgefangenen.“
„Der Aufputz der Haartracht, von hinten gesehen, gleicht dem Kopf eines Lämmleins, das auf der Weide Gras schnuppert.“
„Der „Gretchenzopf“ erinnert an einen zum Kampf bereiten Rauflustigen.“ (Wenn zwei Zopfträger in Streit geraten, dann — 5 — wickeln sie gewöhnlich vorher ihre Zöpfe um den Kopf, um dem Gegner keine Gelegenheit zu geben, den Zopf zu packen.)
„Eine Dame mit einem Spazierstock gleicht einem Affen, der spazieren geht.“
Der Schreiber war offenbar derart über die Kühnheit seiner bissigen Kritik erschrocken, dass er rasch noch die letzte Glosse anflickte, um alles Vorhergesagte zu mildern:
„Im Uebrigen gleicht das Auftreten und das Gehen der Damen dem eines Kriegers, der in die Schlacht zieht.“
Mit dem Vergleich des Kriegers hat er jedenfalls eine rührsame Seite der Schanghaier Frauenwelt getroffen, wenn man sich vor Augen hält, mit welcher Begeisterung während der Revolution ein Amazonenkorps gegründet wurde, um gegen die Reichshauptstadt zu Felde zu ziehen.
Dieser Umstand ändert aber nichts an der Tatsache, dass die neue Zeit China kostspielige und putzsüchtige Frauen beschert hat. Vorläufig beschränken sich zum Glück die neuen Modeauswüchse noch auf Schanghai. Wenn auch die anderen Städte und später das flache Land von dem Modefieber ergriffen werden, so wird manche Ehe an der teuren Putzsucht der weiblichen Hälfte scheitern. Dann wird auch das Epigramm in seiner wahren Bedeutung von den chinesischen Männern gewürdigt werden, das ein vor Jahrhunderten lebender chinesischer Philosoph über die Ehe verfasst hat. Er sagte: „Die Ehe gleicht einer belagerten Stadt; die draussen sind, möchten hinein, und die drinnen sind, möchten heraus.“
Der von der weiblichen Lebewelt am Neujahrstage entfaltete Luxus war recht bedeutend. Ein abendlicher Gang durch die berühmte, in märchenhaftem Farbenspiel der Lichter erstrahlende Foochow Road führte dem beobachtenden Westländer die steigend kostspieligere und prunkhaftere Lebensführung gewisser chinesischer Kreise überzeugend vor Augen. Rickschas, Sänften und selbst die mit Gummi beräderten Glaskutschen kommen allmählich auf den Aussterbeetat und werden von dem Kraftwagen verdrängt. Trotz Gummispekulation, Krisen auf dem Finanzmarkt und trotz den schweren Geldopfern, die für die „gute Sache“ der Revolution beigesteuert werden mussten, wurde der Tag der chinesischen Jahreswende mit Prunk und tändelndem Saitenspiel gefeiert.
Wie wohltuend wirkte da eine Flucht aus dem lärmenden Neujahrsgetriebe in die ruhige, behäbige Landschaft jenseits des Suchouer Krieks. Dort ist noch echtes, gemütliches, von dem nahen Schanghai unbeeinflusstes China, und es wurde dort auch dementsprechend Neujahr gefeiert. Wenn auch die Bauern jenseits des Krieks nichts von Goethe kennen, so ist ihnen wohl der Ausspruch des dritten Bürgers im Faust aus der Seele geschrieben:
I m Schanghaier Sprachgebrauch ist das Wort „Fu-tschou lu“ nicht sehr häufig. Wenn ein Einheimischer nach der Fuoochow Road geht, dann geht er nach dem „Vierten Pferdeweg.“ Die Hauptstrassen der internationalen Niederlassung haben sich nämlich die Chinesen in Ma-lu (wörtlich: Pferdeweg) eingeteilt. So ist zum Beispiel die Nanking Road der „grosse Pferdeweg“, die erste Parallelstrasse der „erste Pferdeweg“, die zweite, der „zweite Pferdeweg“, und so fort. Von allen Pferdewegen hat aber der vierte den besten Klang: Sze-ma-lu ist ein Schlagwort, das weit mehr sagt, als die nüchternen Worte ahnen lassen. Mit dem Szemalu sind die Gestalten pfirsichfarben geschminkter und winzig befusster Mädchen, Politik, Theater, aus der Kehle gequetschter und mit der Fiedel begleiteter Gesang, die neuesten Witze, schlemmerhafte Restaurants und langverandige Teehäuser auf das Engste verknüpft, kurz, der Szemalu ist „die“ Strasse Schanghais, wenn nicht ganz Chinas. Daraus erhellt, dass der Szemalu die Strasse der chinesischen Lebewelt ist. Bei Tage unterscheidet sich die Foochow Road kaum von den übrigen Pferdewegen. Sie trägt dann ein nüchternes, geschäftsmässiges Kleid; in der Luft liegt der Schweiss des Alltags, ausgehaucht von heissgelaufenen Rickschakulies und Lastträgern, vermischt mit Gerüchen, die den Läden entströmen. Die Menschen, die sich durch die Strassen bewegen, tun es nicht zum Zeitvertreib und zum Vergnügen. Jeder hat seine Bestimmung. Wer also bei Tage als studientreibender Ausländer die vielgerühmte Foochow Road durchwandert, der wird enttäuscht sein; denn ihr Bild ist ebenso alltäglich und farblos wie das jeder andern Strasse der Niederlassung. Er muss trotzdem aber einmal bei Tage durchgewandert sein, um die Folie für Das zu haben, was die Augen am Abend erschauen.
Sobald sich die Dämmerung über Shanghai senkt, wird die Foochow Road von einem Zauberstab berührt. Der Zauberer ist ein böses weibliches Wesen; es heisst Vergnügungs- und Genussucht. Wenn die aus dem Herzen der chinesischen Lebewelt verbannt werden könnte, so gäbe es eben keine Foochow Road. Der Zauber teilt sich den Menschen mit, und diese zwingen die Elektrizität in bunte Glaslampen zum frohen Farbenspiel. Trotz des ununterbrochenen Lärmens und Schreiens, mit dem sich die Menschenmenge durch den Strassenschlund zwängt, liegt darin Feierliches und Würdevolles. Das wird vor Allem durch die einheitliche Kleidung, den behäbig schlendernden Gang und das anmutige Spiel des Fächers bedingt. Nach des Tages Last und Hitze streift der Schanghaier Lebemann seine Alltagskleidung ab und wirft sich in ein leichtes, crêmefarbiges Gewand und presst das mit Pomade gesteifte Haar nach rechts und links zu einem Scheitel; er trägt in der Regel hellfarbige westländische Schuhe und weisse Strümpfe, die mit äusserlich sichtbaren Gummibändern straff gehalten werden. Das ist die Schanghaier Herrenmode im Sommer. Wer aus dem Norden des Reiches kommt, kann ihr nur schwer widerstehen; denn der „Wind des Südens“, der auf den harten Nordmann bald von verderblichem Einfluss wird, dass er sich wie „frühe Sommergarben im Winde beugt“, macht sich nicht allein in dem Unterwerfen unter die Schanghaier Weltanschauung des äusserlichen Scheins und des ausschöpfenden Geniessens (was man am Besten mit „Schanghaiismus“ bezeichnen könnte) geltend, sondern auch auf dem Gebiet der Mode. Nur ganz charakterfeste Nordleute vermögen ihre völkische Eigenart inmitten des Schanghaier Völkergewimmels aufrecht zu erhalten. Zur Ehre der Schantung- und Kiangpei-Leute, die ob ihrer besondern Zuverlässigkeit auf vorgeschobenen Posten als Schutzleute für die Sicherheit der Niederlassung Sorge tragen, sei es gesagt, dass sie bisher dem „Schanghaiismus“ mannhaft Stand gehalten haben. Sie sind die Einzigen unter der chinesischen Schutzmannschaft, die ihren Zopf zur Schau tragen; dass die konservative Beharrung durchaus mit einer kernfesten, das Zersetzende der Republik erkennenden Auffassung der Dinge in Einklang steht, erfährt, wer sich mit ihnen in eine Unterhaltung einlässt. Gar zu bald schleift sich aber bei weniger standhaften Nordchinesen die breite, harte und doch so wohlklingende Sprache zu Gunsten des wischwaschigen — 9 — Schanghaier Dialekts ab, und auch das dunkelblaue, grobleinene Gewand, das vielleicht die Mutter dem nach Süden ziehenden Sohn liebevoll mit eignen Händen gewebt hat, wird bald mit dem verweichlichenden Schanghaier Gewand vertauscht. Bei den Schanghaiern mehr wesensverwandten Mittel- und Südchinesen geht der Wechsel noch rascher vor sich. Daraus erklärt sich das einheitliche Strassenbild in der Foochow Road, obwohl unter der Menge, die täglich am Abend durch die Strasse wandert, Vertreter aller Provinzen des Reiches sind. Ein erlauschtes Wort und ein Blick ins Gesicht lässt aber stets mit ziemlicher Sicherheit erkennen, welcher Heimatprovinz der also vom „Schanghaiismus“ Besiegte angehört. Da drängt sich der vornehme Tschekianger, auf dessen edel geschnittenem Gesicht und in zwei weichen Augen ein Abglanz jener schwelgerischen Zeiten zu liegen scheint, als die alte Sungdynastie in Hangtschou herrschte; da fächelt sich selbstzufrieden der Musik und Sang liebende Hunaner; da schreitet der wetterfeste, von Nordsturm und Sonne gebräunte Schantunger; ihm folgt der melodisch gesprächige Ost-Tschihlier und der behagliche Pekinger. Und im Gegensatz zu diesen steht der Kantoner; er steht über allen diesen Gruppen. In seinem pergamentgelben Gesicht treten starke Backenknochen hervor, wodurch die Augen umso stärker zurückgedrückt erscheinen. In den Augen liegt der ganze Charakter; dort sprüht und flackert es von zielbewusstem Vorwärtsstreben, aber auch von Ermattung nach einem fruchtlosen Kampf; die Schnelle der Augenbewegungen wird von einer abgehackt, nervös klingenden Sprache unterstützt; eine Gestalt voll Leben und Unruhe. Wenn ein Mittelchinese diese Zeilen zu schreiben hätte, so würde er die Menge ganz anders charakterisiert haben, denn fast jeder Provinzler, Städter und Dörfler in China hat einen „Spitznamen“. Er würde zum Beispiel so gesagt haben: „Sehen Sie, dort geht eine Ningpoer „Wasserschüssel“, dort eine Tsimoer „Süsskartoffel“, dort steht eine Südschantunger „Wassermelone“, in der Sänfte sitzt ein Hangtschouer „Eisenkopf“, hier ist ein Anhuier „Maultier“, im Rickscha fährt ein Schansier „Rauhbein“, und dort drüben an der Ecke stehen eine Tientsiner „Schnauze“ und ein Pekinger „Aal“. Und wenn wieder ein Nordchinese seine Charakteristik abgeben sollte, dann würde er die „Schanghaiisten“ mit dem Sammelnamen „Nanmandse“ (Süd-Barbaren) abfertigen; als Antwort würde ihm aber von dem Schanghaier entgegenschallen: „Du kulturloser Nordmann.“ Doch — 10 — genug von dem Partikularismus, der sich gerade jetzt, nach der „Zurückziehung der Mandschus von den Staatsgeschäften“, so verderblich für eine zielbewusste Politik gezeigt hat.
Gestossen und geschoben kommen wir allmählich in dem Gewühl vorwärts. Der Weg vom deutschen Postamt bis zur Stelle, wo der Szemalu von der Kiang-nan Road gekreuzt wird, kann man noch ziemlich ungestört gehen. Was jenen Teil der Strasse auszeichnet, sind die chinesischen Drogerien und die Ateliers der Zahnkünstler. Beide erfreuen sich, trotz der Abendstunden, eines lebhaften Zuspruchs; denn in ihnen liegt die Quelle des innern und äussern Wohlergehens für den Chinesen. Innerlich, weil in den Drogerien westländische und japanische Allerweltsheilmittel verkauft werden, die angeblich ebenso sicher bei nervösem Asthma wie bei schmerzenden Hühneraugen wirken, wodurch also die Erfüllung des Lebenswunsches eines jeden Chinesen nach „schou“ (langes Leben) gewährleistet wird; äusserlich, weil in den Zahnateliers gleissend goldene Zähne verfertigt werden, die, den zernagten angeschmolzen, eine prahlerische Zahnreihe schaffen, die das stets geübte Lächeln vergolden, wodurch vor Allem zum Ausdruck kommen soll, dass der Besitzer zur Schau getragener Goldzähne wirtschaftlich in der Lage ist, sich ein solches Vergnügen zu leisten. Das hat den Vorteil, dass der Kredit gestärkt wird, und mancher Gläubiger, auch die des weiblichen Geschlechts, die von den verführerischen Zahnreihen bezaubert wurden, raufen sich oft die Haare, weil sie so dumm waren und um eines vergoldeten Zahns willen so weitherzig Kredit gegeben hatten. In der Foochow Road dem Vergnügen nachzugehen, ist für den mit den Verhältnissen nicht vertrauten chinesischen Lebemann nicht immer leicht. Wer aus den tiefsten Quellen geniessen will, dem muss ein kreditfähiger Name, der durch die Einführung eines bekannten Freundes erworben werden kann, vorausgehen. Der Provinzler, der ohne die nötige Einführung durch die Foochow Road bummelt, schöpft nur von der Oberfläche. Man findet ihn deshalb fast nur in den Teehäusern mit und ohne Gesang, die auch für den Einheimischen billige Stätten der Unterhaltung und des Vergnügens sind. In dem Teehaus ohne Musik trinkt man Tee, knappert Melonenkerne und versucht, möglichst einen Platz auf den langen, nach der Strasse liegenden Veranden zu ergattern, wo man in das bunte Strassengewühl blicken kann. Die männliche jeunesse dorée schätzt diese Art — 11 — Teehäuser nicht besonders, weil ihre Gegenwart nicht von sangesfrohen Damen verschönt wird. Dafür gibt es aber Stätten, wo ebenso wie aus der Teekanne das heisse Getränk, Mädchengesang ohne Unterlass aus den Kehlen quillt. Betritt ein Gast den zu dem ersten Stockwerk des Teehauses führenden Treppenaufgang, so stösst ein Bedienster einen kurzen Zuruf aus, der oben, aus mehreren Kehlen klingend, seinen Widerhall findet. Für die Aufwärter ist der Zuruf ein Zeichen, dass sich ein Gast naht. Ist man inzwischen die Treppe emporgeklommen, so wird man von der Aufwärterschar empfangen, die sich bemüht, jeder für seine Abteilung, den Gast unterzubringen; zugleich wird aber durch den Zuruf die Aufmerksamkeit der anwesenden Gäste nach dem Treppenfirst gelenkt, die in infolgedessen Gelegenheit haben, den Ankömmling zu mustern und, wenn es ein Freund ist, ihn zu begrüssen. Es ist eine geräumige Halle, die wir betreten. Die vier Wände sind völlig mit Wandrollen, die sinnige Inschriften tragen, geschmückt. Geschenke, die dem Unternehmer vor einigen Jahren oder Jahrzehnten aus Anlass der Geschäftseröffnung von Freunden überreicht wurden. An einer Reihe viereckiger, braun gebeizter Tische, deren Flächen mit Marmorplatten eingelegt sind, sitzen die Gäste; andere machen es sich auf den an bessere Opiumhöhlen erinnernden Bänken, auf denen sie mit angezogenen Beinen ruhen, bequem. An der hintern Wand befindet sich die Bühne mit rot und gold bemaltem, verschnörkelten Schnitzwerk. Auf der Bühne steht ein langer Tisch, um den fünf Sängerinnen sitzen. Sie lösen sich gegenseitig im Singen ab. Eine klassische Melodie steht auf dem Programm; ein Gesang aus dem Theaterstück „Yang-gia-dsiang“, das das Schicksal eines hohen verdienten Staatsbeamten aus der Sungzeit schildert, dem ein Aufstand Macht und Ansehen raubte und der, verlassen von Allen, den Hungertod stirbt. Die Seelenkämpfe des qualvoll Endenden behandelte ein Lied, an das sich der Klagegesang eines Trauernden schloss. Für Begleitmusik sorgte die Hauskapelle, die aus Trommel, Zimbel, Fiedel und Flöte bestand. Derweilen der gedämpfte Sterbegesang der Kehle einer Sängerin entquoll, lag ein kremefarbig gekleideter, langbeiniger Flegel auf der Bank, guckte mit dem Kopf nach der Decke, und spuckte die nicht essbaren Ueberreste von Melonenkernen in weitem Bogen durch die Luft. Die Sängerinnen wechselten häufig. Sie waren nicht prunkvoll gekleidet, sondern trugen schlichte Leinenkleider. Ihre tägliche — 12 — Einnahme ist äusserst gering; für ein Lied erhalten sie etwa zwanzig Zent Singhonorar. Jeden Abend treten sie nach einander in vier bis fünf Teehäusern auf; das macht im Monat kaum dreissig Dollar. Es ist klar, dass die Mädchen auf Nebenverdienst angewiesen sind; noch klarer ist, dass dieser nicht in Stricken und Häkeln besteht.
Besser ist es um die Klasse der Sängerinnen bestellt, von denen wir eine Vertreterin auf Bestellung hören sollten. So glatt auch Alles am Nachmittag schon eingeleitet war: als die Ausführung kommen sollte, stiessen wir auf Schwierigkeiten. Wir besuchten eine Reihe der ersten Restaurants, um ein kleines Zimmer zu erhalten; aber sie waren besetzt. Es blieb nichts weiter übrig, als ein zweitklassiges Restaurant zu wählen. Arglos füllten wir einen Zettel aus, der den Namen des Restaurants trug, und baten unsere Sängerin, die zu den besten und bekanntesten Schanghais zählt, uns mit dem bestellten Gesang zu erfreuen. Dem Ruf wich aber unsere Freundin vorläufig aus und schickte zur nähern Auskundschaftung ihre Dienerin, die sich scheinbar etwas bestürzt in unserm spiessbürgerlich mittelstandsmässig eingerichteten Speisezimmer umsah, einige entschuldigende Worte sprach und verschwand. Unterdessen wurde ein kleiner Imbiss aufgetragen; es gab Huhn in Scheiben mit würziger Tunke, geschmorte Krabben und kleine, in brauner Tunke schwimmende Fische; 1898er Wein aus Schauhsing würzte den Imbiss. Es schmeckte, aber der verdauende Gesang fehlte immer noch. Eine zweite Dienerin kam, sprach und ging. Wir wurden ungeduldig. Gerade als ein zweiter Zettel abgeschickt werden sollte, erschien unsere Freundin, liess sich, wie üblich auf der Seite des Gastgebers nieder und sang. Aber leider nicht die von uns gewünschte Parodie, sondern das Original, das berühmte Lied von den „Fünf Nachtwachen“, das kurz nach der Revolution mit zu den volkstümlichsten Schlagern gehört. Es ist in der Begeisterung entstanden, die damals in gewissen Kreisen herrschte, als es hiess, ein „nördliches Expeditionskorps“ der Revolutionäre rüste sich zum Vormarsch gegen Peking, und es ist den Eroberern zum Geleit gedichtet und in Marschmusik gesetzt worden. Das Lied ist von dem in chinesischen Kreisen rühmlichst bekannten Liederdichter Lin Butsing verfasst worden und zuerst in der Liedersammlung „Hsiaoyehhun“ erschienen. Die nicht in Reim und Rhythmus gezwängte — 13 — Uebersetzung des Liedes, wie es uns die Sängerin am jenem Abend vortrug, lautet:
Es ist eine Melodie, die jedes ausländische Ohr erfreuen würde; es haftet ihr aber in Takt und Rhythmus etwas Unchinesisches an, doch ist es wohl gerade die Eigenart, die dem Ausländer gefällt. Wenn man den Text einigermassen beherrscht und die Melodie dazu singen hört, kann man sich sogar für das Lied begeistern; so lebendig und rhythmisch ist der Gesang, dass man den Marschschritt der Soldaten zu vernehmen glaubt und sich mitten in dem Kampf wähnt. Unsere Freundin, die ein dünngewebtes, gazeeartiges Kleid trug und aus deren Haar eine stark duftende Jasminblüte einen erfrischenden Duft verbreitete, blieb nach dem Gesang noch eine Weile plaudernd bei uns. Und dann klärte sich auch auf, weshalb sie zu kommen gezögert hatte. Einfach deshalb, weil zwischen ihrem Ruf als erstklassiger Sängerin und dem zweitklassigen Restaurant, das wir, der Not gehorchend, wählen mussten, eine schier unüberbrückbare Kluft bestehe. Wir mussten ihr Recht geben. Unser Verhältnis wurde aber dadurch nicht getrübt. Sie lud uns freundlich ein, sie in einer Stunde in ihrer Wohnung zu besuchen. Der kleine Zwischenfall gab zu denken, und er hat bewiesen, dass man chinesisches Wesen nicht immer aus chinesischen Verhältnissen heraus erklären muss, sondern dass auch in Einzelfällen westländisches Taktgefühl als Massstab geübt werden kann. Denn wer würde es wagen, eine grosse Künstlerin zum „Strammen Hund“ in Berlin zu bitten, die Unnahbare, die nur auf Dressel und höher abgestimmt ist?
Bis zum Besuch der Sängerin hatten wir noch eine gute Stunde, die mit dem Besuch des in dem westlichen Teil der Fuchou Road gelegenen Theater Tanguidi itai ausgefüllt wurde. Seine innere Einrichtung ist völlig europäisch. Ein reicher elektrischer Lichtglanz bestrahlt die vielhundertköpfige Zuschauermenge, die, gleichfarbig gekleidet, gar würdevoll und peinlich sauber — 15 — ausschaut. Es wird ein leichter Schwank: „Der geheilte Spieler“ gegeben; der Dialog ist überaus gewandt und witzig, und er hält die Zuschauer fortwährend in Spannung. Der Held und seine Frau, die sich bald zärtlich anschäkern, bald erregte Auftritte haben, sprechen Schanghaier Dialekt, während der Schwiegervater und die Schwiegermutter in schönem Norddialekt dazwischen poltern. Der Schwiegervater ist eine köstliche Figur, die jetzt noch dem wirklichen Leben entnommen werden kann, in einigen Jahrzehnten vielleicht der Vergangenheit angehört und sich in Theaterstücken und Romanen nur noch künstlich als behäbiger Biedermeier erhält. Der Westländer, der dem Schwank zu folgen vermag, wird anregend unterhalten, und er verlässt das Theater fast mit demselben Genuss wie eine europäische Aufführung.
Nun noch rasch einen Blick in das japanische Panoptikum; an den Wänden stehen Kästen mit Drehkurbeln. Für einen Zent sieht darin der Chinese anschauliche, bewegliche Bilder, wie sie in der Wirklichkeit zu schauen auch dem reichsten Chinesen verschlossen bleiben. Jeder Kasten trägt eine chinesische Aufschrift, die kitzelnd andeutet, was darin zu sehen ist. Aufschriften wie: „Amerikanerinnen Zigaretten rauchend“, „Amerikanerinnen im Bade“, „Amerikanerinnen beim Schlafengehen“ bedürfen keines weitern Kommentars. Im Interesse des Ansehens der Westländer ist eine solche Schaustellung höchlich bedauernswert, und die Foochow Road würde wirklich keiner Eigentümlichkeit beraubt werden, wenn von massgebender Seite eine Schliessung dieses Lokals erfolgen würde.
Zur festgesetzten Stunde sassen wir unserer Freundin in ihrer Häuslichkeit gegenüber. Die erste Scheu, einen „Nakoning“ (Ausländer) zu bewirten, war bald überwunden, nachdem einige erheiternde Scherzworte gefallen waren. Das Zimmer war hoch und sehr geräumig. An dem hintern Ende stand eine aus schwerem Ningpoholz geschnitzte Lagerstätte; an der Wand die üblichen kleinen Empfangstische und nach Süden eine bequeme mit rotem Polster ausgelegte Ruhebank. Die nur zwei Sekunden glimmende Wasserpfeife, die mit einem Fidibus, der durch geschicktes Anblasen in Brand gerät, angezündet wurde, machte die Runde. Doch: Sieh da, Timotheus! Zwei Stückchen deutsche Heimat hängen dort an der Wand: billige Drucke mit der Unterschrift: „Winter am Main“ und „Windmühlen in Schleswig“, wodurch das Gespräch neue Anküpfungspunkte erhielt. Aus der weitern — 16 — Unterhaltung erklärte sich auch, weshalb unsere Freundin nicht die „Neuen fünf Nachtwachen“ sang. Um das Weitere zu verstehen, muss der Leser zunächst mit der Tendenz der Parodie vertraut gemacht werden, die einen Mitarbeiter der „Schenpao“ zum Verfasser hat. Die ersten zwei Strophen lauten:
Neben den Ausfällen gegen Tang Shau i und den „Blumen- und Wein-Tutu“ (damit ist der Tutu von Schanghai Tschen Ki mei gemeint, der den ihm angebotenen Posten eines Handelsministers im ersten republikanischen Kabinett nicht antrat) enthalten die drei letzten Strophen scharfe Angriffe gegen die kantonesische Partei Tungmenghui, ferner wird über die belgische Anleihe, über die keine Abrechnung vorliege, gespottet, und der neue Ministerpräsident Lu Tscheng-hsiang wird gerühmt, dass er sich auf die auswärtige Politik wohl verstehe. Also: „Ein garstig Lied. Pfui! Ein politisch Lied.“ Wenn sich eine namhafte Sängerin wie unsere Freundin nicht in ihrem Erwerb schädigen will, so darf sie ein solches Lied, das ein Kampfmittel der gemässigten Republikaner gegen die kantonesische Partei darstellt, nicht in ihr Repertoir aufnehmen; denn Shanghai ist noch eine starke Hochburg der Kantonesen. Aber trotzdem wird der Sang von Mädchen schon verschwiegen gepflegt. Man kann sich leicht ausmalen, — 17 — wie es manchem eingefleischten gegnerischen Parteigänger gleich Balsam über die Seele tropft, wenn aus einem kleinen, ein wenig karmesinrot betupften Mündchen die Moritaten Tang Shau yis und seiner Parteigenossen ertönen. Unsere Freundin bleibt aber neutral; sie kennt den Text und schweigt. Man sieht, dass die neue Politik, die in Peking gemacht wird, ihren Einfluss sogar auf die Welt der Sängerinnen ausübt.
Bei der anregenden Unterhaltung ist es inzwischen Mitternacht geworden; es ist Zeit zum Aufbruch. Durch zahllose Winkelwege führt der Weg auf die Foochow Road. Dort herrscht noch immer brausendes Leben. Die Theatereingänge speien ununterbrochen hellfarbige Menschenketten aus, unzählige Wagen und Rickschas drängen sich dazwischen, stauen sich und fahren mit Gästen davon. Allmählich kommt Ordnung in den Menschenschwarm, der sich in die Seitengasssen und in den zahlreichen Restaurants verteilt, wo vor dem Schlafengehen noch rasch ein kleiner Imbiss genommen, politisiert und geschwelgt wird. Aus kleinen winkligen Gässchen tönt hie und da noch ein später Gesang mit Fiedelbegleitung; er wird aus holdem Mund den Lebemännern gesungen, die ohne ihn keine erquickliche Nachtruhe finden können.
E ine blutrünstige Ueberschrift, nicht wahr, meine Gnädige? Wenn man in China nur das Wort Revolution hört, verknüpft man (die Erfahrung lehrt es) gleich etwas Schreckliches damit. Henkersschwert, lose sitzende Köpfe, Bomben und abgerissene Gliedmassen. Man denkt dabei auch an Fürsten, die ihre verbrieften Herrscherrechte scheinbar aus den Händen gegeben haben, weil das Volk, zornig mit dem Fuss stampfend, darauf bestand; man denkt an Männer, die sich bei dem Streben nach Neuerungen von wahrem Patriotismus leiten lassen, aber auch an Schreier, Schwätzer und unreife Politiker. Nichts von alle Dem will ich Ihnen erzählen. Denn Sie wissen, dass eine Revolution nicht immer politisch grausam zu sein braucht, sie kann auch wirtschaftlich friedlich sein. Und darüber möchte ich mit Ihnen plaudern, wenn Sie im Geiste Ihren Arm in den meinen legen wollen, damit ich Sie ohne Fährnisse vom Bund bis zum Rennplatz führen kann.
Wenn Sie an jenem grossen westländischen Kaufhaus an der Ecke der Szechuan Road stehen bleiben, so sind Ihnen schon gelegentlich im Schaufenster in protzig chinesischer Schrift geschriebene Ankündigungen aufgefallen. Sie haben sicher schon darüber ihren Kopf geschüttelt, haben Ihre Augen bestürzt über die krausen Schriftzeichen wandern lassen und vergeblich nach dem Preis gesucht, ohne aber auf den Gedanken zu kommen, etwas zu kaufen; die Güte des Ausgestellten und die chinesische Anpreisung sagten Ihnen, dass die Waren nicht für Westländer bestimmt sind. Hier haben Sie es schon: Revolution. Vor ein paar Monaten hätte kaum ein westländisches Geschäft daran gedacht, auf diese Weise chinesische Kundschaft heranzuziehen. Wie sollte es auch, wo das chinesische Gewerbe und die Industrie leistungsfähig genug waren, die Bedürfnisse der chinesischen Massen zu befriedigen. Wie viel Chinesen dachten vor ein paar Monaten an Schuhe, Hemden, Strümpfe und dergleichen Erzeugnisse westländischer Art? Heute ist es anders geworden. Bleiben Sie bitte noch ein Weilchen vor dem Schaufenster stehen und schauen Sie ab und zu nach dem Eingang. Jetzt hält ein Ponygespann an. Ihm entsteigen drei vornehme Chinesinnen. Sie betreten das Kaufhaus. Eine Schiebetür hinter dem Schaufenster öffnet sich, Sie sehen die drei Damen nach Gegenständen deuten. — 19 — Die zierliche flinke Verkäuferin vermag kaum noch Alles auf ihren Armen zu halten; das kleine Köpfchen verschwindet fast hinter dem Stapel Baumwollwaren. Gerade als der Pony unruhig zu stampfen anfängt, kommen die drei Vornehmen, mit Paketen beladen, aus der Eingangstür, und die Fahrt geht weiter. Sie aber sehen mich entrüstet an. Ihre Augen scheinen zu sprechen: „Wie kann man nur...“ Ich weiss genau, was Sie sagen wollen: Wie so vornehme Frauen so billige Ware kaufen können. Die verwöhnte Westländerin verlangt natürlich die feinsten Stoffe, weisses Linnen oder knisternde Seide. Alles Andere hält sie für „shocking“. Was Sie so entrüstet, ist jetzt aber bei der vornehmen Frauenwelt Chinas Mode. Und die Mode ist eine eigensinnige Dame.
Jetzt kreuzen wir die Strasse und betreten die deutsche Buchhandlung. Während wir die neu eingetroffenen Bücher ansehen, kommen einige Chinesen und zuletzt eine Chinesin in den Laden. Ich weiss bestimmt, wenn Sie Verkäuferin wären, dass Sie in Ihrem Schanghaier Kosmopolitismus gefragt hätten: „Woat ting wantschie?“ Aber lauschen Sie nur. „N’ Tag, möchte mir ’mal Ihre Bücher ansehen.“ Ein junger Chinese spricht es in fliessendem Deutsch und begibt sich auf die Wanderung durch die Menge der ausgelegten Bücher. Ein anderer tritt ein und spricht, den Oberkörper steif biegend, kurz und abgehackt militärisch deutsch: „Famoses Buch, die Kriegsgeschichte von General Müller. Ist mir leider während der Revolution abhanden gekommen. Möchte nachbestellen. Sein Sohn stand übrigens mit mir in Halberstadt in Garnison.“ Und er kauft sich die neuen deutschen Dienstvorschriften, einen Kriegsroman und einen Neuruppiner Bilderbogen von der preussischen Garde für seinen Jungen. Und von den anderen Chinesen nimmt der Eine ein technisches Fachwörterbuch, der Andere die Verfassung des Deutschen Reiches, und wieder ein Andrer interessiert sich für Berg- und Hüttenwesen. So geht es Tag für Tag. Sprechen solche Augenblicksbilder in dem deutschen Buchladen nicht ganze Bände? Sieht man nicht daraus, wie sich merklich das Interesse für deutsches Wesen unter den Chinesen zu regen beginnt. Ist es nicht ein Stückchen geistige Revolution? Doch beinahe hätten wir die junge Chinesin vergessen. Sie steht ein wenig schüchtern abseits und endlich verlangt sie — Hand aufs Herz — das bekannte Buch vom „imponierenden Auftreten“ und ein Werk über moderne Frauenfragen.
Nun müssen wir wieder in das Strassengewühl. Es stürmt so viel Neues, Revolutionäres auf die Augen ein, dass man kaum weiss, was man zu zuerst als besonders bezeichnend herausgreifen soll. Vor uns geht ein Chinese in eigenartiger Tracht. Wenn Sie illustrierte chinesische Romane aus dem fünfzehnten Jahrhundert durchblättern, finden Sie das Vorbild. Das Volk bezeichnet sie als Mingtracht. Es ist ein langes, quer über die Brust zusammengeschlagenes Gewand, dessen Kragen mit Samt eingefasst ist. Wahrscheinlich haben wir es in diesem Falle mit der neuen Nationaltracht zu tun, für die die chinesische Presse in letzter Zeit Stimmung gemacht hat. Als ob die bisherige Kleidung nicht praktisch wäre! Ja, praktisch ist sie, aber Manchem zu politisch. Denn man muss wissen, dass der letzte Modewechsel nach dem Sturz der Mingdynastie stattgefunden hat. Die neuen mandschurischen Herren sorgten für eine neue Mode, um das Andenken an die Ming zu verwischen. Und das Gleiche streben heute die Kleiderreformer an, die von der jetzigen Volkstracht Alles verbannen wollen, was an die Mandschus erinnert. Dann wollen sie aber auch dem Tragen westländischer Kleider entgegenwirken, in denen sich junge Stutzer so gern gefallen. Wenn man als durchschnittlich behäbig gekleideter Mitteleuropäer heute einem jener modisch gekleideten Stutzer begegnet, so kommt man sich recht klein vor. Und erst die Augen, die so herablassend auf den europäischen Kuli blicken! Ja, die Zeiten beginnen sich zu ändern. Das sieht man auch an dem Paar, das vor uns geht. Die Beiden sind entweder verlobt oder jung verheiratet. Sie gehen Arm in Arm. O, heiliger Konfuzius! Nein, wirklich nicht deshalb, weil sie Arm in Arm gehen, ich glaubte zwar, das sei etwas ganz Neues.... Aber sehen Sie, die junge Chinesin trägt ja ein — „Korsett“ ergänzen Sie seelenruhig, als ob es das gleichgültigste Ding der Welt sei. Keine Täuschung; die Chinesin trägt ein Korsett. Man sieht ganz deutlich, wie stark die Hüften geschnürt sind, wie mit Gewalt nach berühmten westländischen Vorbildern eine neue Linie geschaffen werden soll. Wohin man blickt, Revolution. Noch eine Schöpfung der neuen Zeit drängt sich in der Nanking Road zur Schau. So farbenschreiend auffallend ist ihr Aeusseres, dass die Augen mit Gewalt angezogen werden. Es sind die neuen Barbierläden. Um die von Grund auf verfolgte Wandlung, die das Barbiergewerbe durchgemacht hat, darzustellen, muss ich Ihnen zum Massstab erst einen der alten Barbierläden — 21 — vorzeichnen. Er war so sehr unter der Flucht von anderen Lädchen versteckt, dass nur der Kundige das anpreisende Firmenschild „Tscheng-jung“ (Ordnung des Gesichts) unter den vielen anderen herausfand. Der Glasverschlag, der die Barbierstube von dem Lärm der Strasse trennte, war schmutzig und mit Staub überzogen und wenn man durch die Tür blickte, so sah man einige mit heissem Wasser gefüllte Schüsseln auf Holzgestellen, worüber der sich in die Obhut des Barbiers Begebende seinen borstigen Vorderschädel beugte und ihn mit heissem Wasser einreiben liess. Der Barbiergehilfe setzte dann das viereckige, an einem schwarzen Holzstengelchen befestigte Messer auf die Kopfhaut und entfernte den Borstenwald. Dann wurde die verschlungene Strähne des Zopfes geöffnet, das Haar mit einem starken Kamm durchgekämmt und neu geflochten. Einschliesslich Rückenmassage zahlte der Kunde sechs Kupferlinge. Diese Barbierläden wurden fast ausschliesslich von den männlichen Angehörigen der unteren und mittleren Volksklassen besucht; der Vornehme hielt sich seinen eigenen Barbier oder liess ihn täglich ins Haus kommen. Dieser Zustand hat sich durch das Entstehen der modernen Barbierläden geändert. Der Uebergang vollzog sich aber nicht von heute auf morgen. In den ersten Wochen nach dem Ausbrechen des Aufstands lief noch Alles zu den alten Läden, deren Inhaber sich flugs Haarschneidemaschinen anschafften, um für das Wachsen des plötzlich vom Zopf entblössten Haares einen festen Grund zu legen. Derweilen wurden auf die alte Art die sprossenden Gesichtshaare entfernt. Allmählich gingen die Barbiere zur Benutzung von europäischem Barbierwerkzeug über. Den Wünschen des „feinen Publikums“ gerecht werdend, wurde die innere Ausstattung des Barbierladens nicht vernachlässigt. Heute gibt es Läden in der Nanking Road, die in Bezug auf Ausstattung, von dem bequemen, einstellbaren Lehnsessel bis zu dem mit einem blendend weissen Ueberwurf bekleideten Gehülfen, den Vergleich mit manchem westländischen Barbiergeschäft aushalten. Das schreiende Aeussere der früher die Zurückhaltung bewahrenden Barbierläden liegt in dem den japanischen Einfluss verratenden Anbringen von farbig bemalten Stangen und in den hochtönenden Anpreisungen der neuen Haarschneide- und Rasiermethoden; ja ein Barbier in der Nanking Road ging so weit, ein Schild mit westländischen Köpfen malen zu lassen, worauf er in Schriftzeichen andeutet, dass in seinem — 22 — Geschäft die deutsche, englische, amerikanische und französische Haar- und Barttracht gepflegt würde. In den modernen Barbierläden findet die neue Zeit ihre stärkste Ausprägung.
Von der friedlichen Revolution sind auch die chinesischen Kaufhäuser nicht verschont geblieben, die sich wie hungrige Maultiere an die Krippe zu beiden Seiten der allmählich breiter werdenden Nanking Road drängen. Der Typ des alten, gemütlichen Ladens wird von der neuen Zeit allmählich verdrängt. Ja, gemütlich war es darin, für die Kunden sowohl wie für die Angestellten. Die Ladenfront war nach der Strasse hin offen; und während der Verkäufer, die Wünsche des Kunden erfüllend, die Waren zusammensuchte, konnte der Kunde an einem Tisch Platz nehmen, seinen Tee schlürfen und plaudern, wozu immer einer der Angestellten ein angenehmer Gesellschafter war. Es spielte sich Alles in einem ruhigen, von gegenseitiger Ehrerbietung getragenen Rahmen ab. Heute gibt es zwar noch Läden in der Nanking Road, die ein Ueberbleibsel der gemütlichen, vorrevolutionären Zeit sind; aber in den meisten Geschäften hat eine amerikanische Hast ihren Einzug gehalten; übereifrige Höflichkeit und verächtliche Abfertigung werden aus einem Mund den Kunden gegenüber gepflogen. In den Läden alten Typs ist jeder Kunde den Verkäufern gegenüber nach Rang und Stand gleich. Betritt aber heute ein ärmlich gekleidetes Bauernweib eines der grossen Kaufhäuser und folgt ihm eine im Automobil angekommene, in Seide strotzende und mit Armspangen und Similibrillanten geschmückte Schöne, so wird Letztere mit unterwürfigen Bücklingen behandelt, während das Bauernweib so ganz von oben herab nach seinen Wünschen gefragt wird. Aeusserlich heben sich die Kaufhäuser neuen Stils von den alten sehr ab. Die Schaufenster, in denen, soweit es solche überhaupt gab, früher die Waren wahl- und ziellos durcheinanderlagen, sind für die Augen geschmackvoll hergerichtet; man merkt, wie genau die Aussteller vor den westlichen Läden Studien gemacht haben. Viele Artikel, die vor wenigen Monaten einzelne Ladenhüter waren, sind nun in den Vordergrund der Nachfrage gerückt, so Strohhüte, Taschentücher, sogar solche mit Sun Ya tsen in Schwarzdruck, westländische Anzüge, Schuhe und dergleichen. Und am Abend schwimmen die Fenster in elektrischem Licht, sodass das bekannte Schild: „Tschen bu erl gia“ (Hier gibt es wirklich keine zwei Preise) merklich überstrahlt wird. Was sich dem — 23 — Westländer so unangenehm aufdrängt ist die Prunksucht der Ladeninhaber. Man merkt, wie mit Gewalt alle Mittel des äussern Scheins angewandt werden, um die Käufer anzulocken. Von den mit englischen Aufschriften versehenen Firmenschilder anfangend bis zu dem in verschwenderischer Pracht geübten elektrischen Farbenspiel sind das Alles Zeichen für die Vorliebe äusserer Gefallsucht, wenn nicht Zeichen eines erbitterten Wettbewerbs, der in der lärmdurchtobten Nanking Road ausgefochten wird und den der Aussenstehende nur ahnen kann. Für die Spezialgeschäfte scheint eine bedenkliche Krisis gekommen zu sein. In den chinesischen Städten steht zwar heute das Spezialgeschäft, das in der Regel die Verkaufstelle der in dem damit verbundenen Betrieb hergestellen Ware ist, noch in hoher Blüte. Von der Nanking Road wird es aber verdrängt, wenn es sich nicht den neuen Verhältnissen anpasst. Denn schon sind Kaufhäuser entstanden, die alle Bedarfsartikel des täglichen Leben führen. Interessant ist die Beobachtung, wie sich die alten Spezialgeschäfte für Fussbekleidung umformen. Sie sind zunächst der gegenwärtigen Entwicklung gefolgt und haben ihren Betrieb auf den Verkauf von westländischem Schuhwerk erweitert. Das scheint aber nicht den erwünschten Gewinn zu bringen; denn alle Schuhgeschäfte führen neuerdings auch Kopfbedeckungen. Also auch der chinesische Kaufmann in der Nanking Road macht seine Revolution durch. Sie hat schon manches Ehrwürdige eingerissen und Zweifelhaftes an seine Stelle gestellt; und Letzteres neigt bedenklich vom Soliden zum Unsoliden.
Mit solchen Betrachtungen bahnen wir uns den Weg durch das Gewühl. Sehen ab und zu mit eitlen, parfümduftenden Chinesen besetzte Autos vorbeijagen, die man für ein paar Dollar mieten kann; sehen überelegante, zierliche Ponygespanne, deren Insassen prunkende Gewänder tragen, und lassen uns schliesslich, auf der Suche nach einem ruhenden Punkt, in einem chinesischen Café nieder, wo wir in Eiskaffee mit Schlagsahne schlemmen. Die Sahne, die eben noch süsser als Honig schmeckt, wurde plötzlich bitter; denn herein trat das verliebte Braut- oder Ehepaar von vorhin, dessen weiblicher Teil die Linienrevolution durchmacht. Der galante junge Mann bestellte zweimal Fleischbrühe mit Hörnchen....
S changhai ist eine verderbte Stadt, das Sodom und Gomorrha in China. Der Westländer bezeichnet es als das „Paris des Osten“. Ein chinesisches Blatt hat diese Tatsache vor Jahresfrist einmal ausdrücklich festgestellt. „Bei Denen, die nach Schanghai gekommen sind“, schrieb das Blatt, „gilt Schanghai für einen hochkultivierten Platz. Indessen gilt auch hier das alte Wort: Aussen rein, innen Schmutz. Und was in Schanghai geschieht, das ist auf das ganze Reich von Einfluss. Der Luxus nimmt bei Männern und Frauen überhand. Es gibt in der Kleidung noch kaum einen Unterschied zwischen ehrlichen und unehrlichen Frauen, und zu Letzteren gehören neunzig vom Hundert aller hier lebenden chinesischen Frauen. Was anfänglich nur die auffällige Tracht der öffentlichen Dirnen war, ist jetzt fast von allen Anderen angenommen worden. Die alten Sitten sind weggefegt. Die Väter kümmern sich kaum mehr um die Erziehung ihrer Kinder, und die Lehrer nicht mehr um die Sitten. Das übt mit der Zeit einen üblen Einfluss auf das ganze Reich aus.“ Diese Moralpredigt der schulmeisternden „Dschendschoujihpao“ ist wirkungslos verpufft; sie hat sich auch nicht als eindruckvoll genug erwiesen, die als Nachklang der Revolution immer üppiger werdenden Ausschweifungen der chinesischen Lebewelt einzudämmen. Die Revolution hat Arme zu Reichen und Reiche zu Armen gemacht, und wer heute in den Vergnügungsvierteln herrscht, ist der über Nacht reich gewordene Pöbel. Nicht mit Unrecht höhnen die chinesischen Blätter in ihren Witzspalten, dass der Handel mit „Ameisen“ (jungen Mädchen) und die einträgliche Ausübung von Gesang und tändelndem Saitenspiel das beste wirtschaftliche Ergebnis der Revolution seien. Die angenehmsten Freudespender sind dem chinesischen Lebemann die kleinen Mädchen; sie gehören — 25 — sozusagen zum Menü eines jeden auf Reichhaltigkeit Anspruch machenden Essens; sie singen, und Manche sind nach dem Mahl bereit, mit ihren zarten Fingern die braune Opiummasse zu Kügelchen zu kneten, während der mit Haifischflossen und Schwalbennestern angemästete Lebemann sich behaglich auf die rot bepolsterte Bank ausstreckt und im Vorgefühl auf den kommenden Opiumgenuss erheitert scherzt.
Jene Mädchen stammen meistens aus der Sutschouer und Hangtschouer Gegend; man findet unter ihnen reizende Gestalten. Von der Hangtschouerin hat schon der Italiener Marco Polo im dreizehnten Jahrhundert geschwärmt. Er sagt von ihr, dass sie „in den Künsten der Verlockung und Betörung vollkommen sei.“ Auf ihre Schönheit trifft auch der Lobgesang zu, der im „Schih-king“ auf die Fürstin Tschuang-Giang gedichtet ist:
Das ist etwa der Typ des „vornehmen“ Mädchens in der Foochow Road und ihrer Umgebung.
Eine zweite Gruppe sind die Kantonesinnen, die nur sehr selten öffentlich als Sängerinnen auftreten. Ihr Aeusseres sticht unvorteilhaft von den Angehörigen der ersten Gruppe ab; das Gesicht ist gröber und die Gestalt plumper und gedrungener; es wird aber an ihnen gerühmt, dass sie „häuslicher“ seien.
Eine dritte Gruppe von Mädchen, die in den unteren Klassen eine grössere Rolle spielt, stammt aus jährlichen Ueberschwemmungsgebieten in den Provinzen Anhui, Kiangsi und Kiangpe.
Nach statistischen Erhebungen sind vor einem Jahrzehnt in Schanghai fünftausend öffentliche chinesische Mädchen gezählt worden; ausserdem soll eine gleiche Anzahl heimlich ihrem unsittlichen Gewerbe nachgegangen sein. Diese Zahlen dürften sich jetzt verdoppelt und verdreifacht haben. Die Häuser werden fast ausschliesslich von den Mädchenhändlern gefüllt. Der Mädchenhandel, dessen Sitz Schanghai ist, ist wie jeder andere Geschäftsbetrieb organisiert. Von Schanghai werden die Mädchen nach den südchinesischen Häfen bis hinunter nach Kanton, nach Westen — 26 — bis Hankou und Szechuan und nach Norden bis Tschifu, Tientsin, Niutschuang gesandt; es ist ein immerwährender Mädchenaustauch zwischen jenen Plätzen und Schanghai im Gange, und nur in seltenen Fällen gelingt es den Behörden, den Handel vorübergehend zu stören. Die Mädchen werden in der Regel schon als Kinder aufgekauft. In schlechten Zeiten, wenn Ueberschwemmungen manchen Bauer an den Bettelstab gebracht haben, stehen die Preise am Niedrigsten. Dass diese Gelegenheit von den Händlern besonders ausgenutzt wird, beweist die volkstümliche Redensart: „Die Zeiten waren so schlecht, dass Kinder verkauft werden mussten.“ Für ein paar Dollar erwirbt der Händler ein kleines Mädchen und setzt es mit hundertfachem Gewinn ab. Dass tausend Tael dafür gezahlt werden, ist keine Seltenheit. Die Käuferin ist entweder die Besitzerin eines Freudenhauses oder eine „selbstständig arbeitende“ Sängerin. Die in vornehmere Privatfamilien, wo sie als Magd arbeiten, verkauften Mädchen, haben ein weit besseres Los. Für die beiden Ersteren ist der Kauf die denkbar beste Kapitalsanlage; am Grössten ist die Verzinsung des Kapitals an dem Tage, wo das Mädchen, nach Monate oder Jahr langer, von roher Misshandlung geförderter Erziehung, den ersten Schritt ins wirkliche Leben unternimmt, wo die Zwölf- oder Dreizehnjährige zum ersten Mal die Freuden ihres Berufs kennen lernt; dieses Ereignis ist ein beliebter chinesischer, unerhört realistisch dargestellter Novellenstoff. Nach diesem Ereignis ist das Mädchen dauernd werbendes Kapital für ihre Käuferin. Wenn die Reize der Sängerin verblühen, hat sie durch den Kauf ihres Mädchens eine Altersversorgung bis zum Tod. Und wenn das Mädchen in die Jahre des Verwelkens ihrer Reize kommt, wird es dem Beispiel seiner Käuferin folgen und auch für seine Zukunft sorgen. So besteht seit Jahrhunderten auf dem Gebiet der Prostitution in China ein ununterbrochener Kreislauf.
Gegen diese geschilderten Missstände anzukämpfen und zu retten, was zu retten, ist, ist das Ziel des von ausländischen Missionaren geleiteten „Tors der Hoffnung“. Das Institut arbeitet in engem Anschluss an die Polizei und das Gemischte Gericht, die ihm die Mädchen überweisen; mitunter klopft es auch verstohlen an der schweren Holztür, und ein von Reue über ihr unehrenvolles Leben ergriffenes Mädchen begehrt Einlass. Was kann nicht die Chronik der Rettungsanstalt von dem letzten Jahrzehnt erzählen! Von rachedurstigen Mädchen, die, unglücklich — 27 — über das geordnete Leben in der Anstalt, drei Mal versuchten, Feuer an das gebrechliche Gebäude zu legen; von geglückten und missglückten Selbstmorden; von unehrlichen Handlungen und Diebstählen; aber auch von Freude über die Errettung aus dem Schanghaier Moloch, von Dankbarkeit gegen ihre Erzieher und von glücklicher Heirat, von einem neuen Leben mit innigem Familienglück.
In der Nähe des Bahnhofs der Schanghai-Nankinger Bahn, in einem Geäder von Seitengassen, liegt das „Tor der Hoffnung“. Es fällt nicht durch eine besondere Bauart auf, sondern schmiegt sich in die gewöhnliche Häuserflucht ein. Drei ursprünglich selbständige Gebäude sind mit Durchgängen verbunden; sie genügen aber kaum, den hundertzwanzig dort untergebrachten Mädchen Unterkunft zu geben. In den engen Schlafräumen reiht sich Bett an Bett, und selbst ein kleines Stückchen mit einer Bambusmatte überdeckter Hof muss als vorläufige Nachtunterkunft dienen. Die Mädchen, die zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahre alt sind, werden zuerst in der „Reinen-Herz-Schule“ in allgemeinen Hausarbeiten ausgebildet. Ein grösserer Raum ist als Schule hergerichtet, die aus mehreren Klassen besteht; jede Klasse wird durch einen viereckigen Tisch dargestellt, um den sechs Schülerinnen sitzen und in chinesischen Elementarlehrbüchern oder im Neuen Testament lesen; mitunter wird der Unterricht durch Kindergeschrei gestört, denn einige Schülerinnen sind bald nach ihrer Aufnahme in das Heim Mutter geworden, und sie müssen während des Unterrichts ihre Kinder in Schlaf wiegen. Wenn sich die Mädchen nach einem einjährigen Aufenthalt im Heim bewährt haben, kommen sie in die Abteilung für Handarbeiten, wo die Nähmaschine ohne Unterlass surrt und die Finger geschickt die Nadel zu geschmackvollen Stickereien meistern; diese Mädchen stehen sich wirtschaftlich verhältnismässig gut, weil ihre Arbeit bezahlt wird; je nach ihrer Leistungsfähigkeit erhalten die Näherinnen und Stickerinnen eindreiviertel bis drei Dollar im Monat. Sie haben auch mehr Bewegungsfreiheit, können ausgehen und Einkäufe machen, was den anderen Mädchen verschlossen bleibt, die nur den sonntäglichen Kirchgang als Abwechslung in ihrem Leben kennen. Das grösste Glück ist aber die Heirat, die ebenso sehr von den Mädchen, wie von der ausländischen Leitung gewünscht wird, da sie der beste Ausweg ist, den überfüllten Räumen Luft zu schaffen. Im letzten Jahrzehnt sind — 28 — hundertdreissig Mädchen, trotz ihres wenig geordneten Vorlebens, noch glücklich unter die Haube gekommen. Wenn man das Heiratsfieber der Mädchen in Betracht zieht, so ist auch die Aufregung unter den kichernden Mädchen wohl zu verstehen, als wir, als chinesischen Studien nachgehende Westländer, die Anstalt besichtigten. Die Mädchen hielten uns offenbar für den berühmten „Mittelsmann“, der eine neue Heirat einzuleiten hat. Nach chinesischer Sitte erscheint nämlich zuerst der „chung-jen“, der Vermittler, der im Auftrag des Bräutigam handelt, während eine Dame der ausländischen Leitung des Heims die Interessen der werdenden (wenn auch schon einmal gewesenen) Braut vertritt. Die Verhältnisse des Bräutigams werden genau geprüft, um zu verhüten, dass das in die Ehe eintretende Mädchen nicht zum zweiten Male in die Hände eines Händlers gerät. Wenn die Vorbesprechungen zur Zufriedenheit ausgefallen sind, findet ein kurze Begegnung zwischen Braut und Bräutigam statt. Nach der Begegnung erscheint der Vermittler und teilt endgiltig mit, ob der Bräutigam die ihm auserwählte Braut heimführen will. Fällt die Antwort bejahend aus, so zahlt der Bräutigam vierzig Dollar, mit der die Aussteuer gekauft wird. Die Trauung findet in dem „Tor der Hoffnung“ statt. Wenn das Mädchen als junge Frau endgiltig das Heim verlässt, so folgen ihr die Blicke einer hoffenden und harrenden Mädchenschar. Die Jungen warten voll schäumender Ungeduld auf den Bräutigam, der sie bestimmt heimführen wird. Aeltere, die auch früher einmal bestimmt gehofft hatten, sind stiller geworden, und manche Träne tropft auf den Saum des Kleides, derweil die Nähmaschine surrt: „Niemals kommt der Freiersmann.“
Kein Neid und keine Missgunst trübt das Zusammenleben der ganz Kleinen, die draussen bei Kianwan, in frischer Feldluft, sorgenfrei leben, ohne das Schicksal zu ahnen, dem sie entronnen sind. Aus der handelsfähigen Ware, als die sie der Mädchenhändler mit Kenneraugen erkannt hatte, wurden wieder Menschenkinder, die durch richterliche Entscheidung des Gemischten Gerichts dem Heim überwiesen sind. In dem Kinderheim herrscht eitel Wonne und Frohsinn. Ein munteres Völkchen wohnt dort zusammen. Da ist die achtjährige Tseli, deren Eigentümerin vor dem Gemischten Gericht mit Aufbietung ihrer ganzen Beredsamkeit für ihr „Kapital“ kämpfte, aber abgewiesen wurde; das ist die „kleine Tigerin“, wild und unbändig, die immer ihre zum — 29 — Biss bereite Zahnreihe zeigt; sie wurde elternlos auf der Strasse aufgefasst und ins Heim gebracht. Da gibt es die Efu mit ihren runden Eulenaugen, und die sechsjährige Enan mit ihren beiden Grübchen in den Wangen und dem immer zum Lächeln geneigten Mund; und ausser diesen Kleinen gibt es noch hundertachtzig Andere, die all in dem Heim Unterkunft gefunden haben. Alles hübsche niedliche Dinger, die beweisen, dass die „Warenkenntnis“ der Mädchenhändler nicht gering ist. Welch ein Frohsinn herrscht, wenn die Kleinen zu den gemeinsamen Kindergartenspielen antreten; da können die kleinen Füsschen nicht flink genug sein, wenn es im raschen Lauf den Nachbar zu haschen gilt; und nicht langsam genug, wenn beim Blindekuhspiel die Füsschen behutsam über Geröll stolpern und die Händchen tastend in der Luft suchen.
Aber was bedeutet es: hundertachtzig Menschenkinder aus dem Weltstadtstrudel gerettet, wenn Zehntausende darin untergehen? Die im „Tor der Hoffnung“ getane Arbeit verflüchtigt sich wie der Dunst des Wassertropfens, der auf den heissen Stein schlägt. Solange die chinesischen Behörden nicht nachdrücklich den Kampf gegen die Mädchenhändler aufnehmen, wird eine Besserung der Verhältnisse kaum zu erwarten sein.
C hinesische Schauspieler gehörten bis vor Jahresfrist ebenso wie die Barbiere zu den wenig geachteten Volksklassen. Die Verachtung ging unter der Mandschudynastie noch so weit, dass ihre Söhne von allen Staatsprüfungen ausgeschlossen waren und somit gewaltsam abgehalten wurden, ihre gesellschaftliche Stellung zu verbessern. Die Revolution hat, wenigstens soweit Schanghai in Betracht kommt, einen Umschwung herbeigeführt. Die früher verachteten Barbiere treten plötzlich in die Reihe der „Vorkämpfer für republikanische Freiheit“, indem sie sich (was manche chinesische Behörden heute noch ihren Beamten als Verdienst anrechnen) um die Abschneidung des Zopfes und die Einführung einer „zivilisatorischen“ Haartracht (wen ming dsie fa) verdient machten. Ebenso hat sich auch das Ansehen der Schauspieler gehoben, weil sie als Leute angesehen werden, die die Revolution vorbereiten halfen. Das trifft eigentlich nur auf die Schauspieler von drei Theatern zu, die aus dem Rahmen der alten chinesischen Bühne durch ihr modernes Repertoire heraustreten. Seit etwa drei Jahren hat nämlich die chinesische Bühne eine bemerkenswerte Wandlung durchgemacht, wobei die Anlehnung an westländische Muster unverkennbar ist. Mit den Theatern der alten Art, wie sie sich besonders unverfälscht in den Provinzen erhalten haben, haben die neuen Anstalten wenig gemein. Die innere Einrichtung, der Bau des Zuschauerraums, die Anordnung der Sitzplätze, die Bühne und die szenische Ausstattung sind völlig europäisch. Ja, sie sind manchen europäischen Theatern noch überlegen, da zur raschern Bewerkstelligung von Verwandlungen eine drehbare Bühne eingebaut ist. Naturereignisse werden auf der Bühne durch mechanische Hilfsmittel getreu nachgeahmt und durch die Anordnung bemalter, in die Welt des aufgeführten Stückes passender Kulissen werden — 31 — keine besondern Ansprüche an die Phantasie der Zuschauer gestellt, während bei den alten Theatern die Zuhörer sich oft damit begnügen müssen, dass ein beschriebenes Schild ihnen andeutet, dass es schneit, regnet, oder dass dort hinten ein Wald zu denken sei. Die zur Aufführung gelangenden Stücke sind entweder aus einer fremden Sprache übersetzt oder dem modernen chinesischen Leben entnommen. Sie sind darauf zugeschnitten, weniger die Zuschauer zu unterhalten, als sie über politische und soziale Fragen der Gegenwart aufzuklären. Die Schauspieler sind so sehr von ihrer Aufgabe überzeugt, dass mir vor kurzem einer der berühmtesten, der monatlich eine Gage von etwa 2500 M bezieht, erklärte: „Unser Theater ist eine Volkshochschule und wir sind die Professoren.“ Die Arbeit, die heute von der modernen chinesischen Bühne geleistet wird, ist nicht zu unterschätzen. So musste vor etwa zwei Jahren die dem chinesischen Geschmack angepasste Kameliendame fast jeden Abend gegeben werden, und sie beherrscht noch heute den Spielplan, indem immer ein neuer Teil hinzugedichtet wird, so dass das Stück, das in seiner ursprünglichen Form an zwei Abenden aufgeführt werden konnte, jetzt von Anfang bis zu Ende vierzehn Abende in Anspruch nimmt. Das Stück hat vor der Revolution eine versteckte revolutionäre Propaganda gemacht und den kriegerischen Geist im Volke zu wecken versucht. In Bezug auf szenische Ausstattung ist für chinesische Verhältnisse Grossartiges geleistet worden. Die Schlachtenszenen, in denen bald der Feind in von Wasserfällen durchrauschten Gebirgsschluchten, teils mit Panzerschiffen auf dem Meer bekämpft wurde, haben jeden Abend neue Beifallsstürme entfesselt. Ebenso behauptet das aus zwei Teilen bestehende „Opiumstück“ seit mehrern Jahren den Spielplan. Es ist ein soziales Drama, das den Zusammenbruch einer reichen Kaufmannsfamilie zeigt, deren Haupt sich dem Opiumgenusse hingibt. Das Stück hat recht eindrucksvolle Szenen, die sicher dazu beitragen, den Chinesen den Westländer näher zu bringen. Dabei erhält der Westländer einen Einblick in das Leben innerhalb der vornehmen chinesischen Welt, die ihm wohl noch lange geschlossen bleiben wird. Am meisten sind vom Publikum jetzt politische Stücke begehrt. Während die Verhandlungen für die internationale Anleihe dem Abschluss nahe waren, wurde ein (wie angenommen wird, von Mitgliedern der damaligen kantonesischen Partei Tungmenghui verfasstes) Stück auf die Bretter gebracht, das die — 32 — Lage in China ausmalte, wenn das Land in der finanziellen Abhängigkeit der Fremden wäre. Das Spiel machte unter den Zuschauern einen so überwältigenden Eindruck, dass viele weinten, Dollarstücke, Armspangen und sonstigen Schmuck auf die Bühnen warfen, um Wohlwollen für die in hohem Pathos von der Bühne gehaltenen Reden auszudrücken. Dass es dabei auch nicht an wenig schmeichelhaften Worten gegen die Ausländer gefehlt hat, braucht kaum besonders betont zu werden. In einem andern Stück, das den Namen: Das Unglück Persiens trägt, wurde auf die Ausdehnungsgelüste Russlands und Englands hingewiesen und Persien als warnendes Beispiel für China hingestellt. Das neueste politische Stück ist die Darstellung der chinesischen Revolution auf der Bühne. Unter Anlehnung an die Ereignisse zieht der Aufstand in etwa 20 Szenen über die Bühne. Auch bei dem Revolutionsstück: Liyuan hung ist grosser Wert auf die szenische Ausstattung gelegt, die sich bemüht der Wirklichkeit nahe zu kommen. Die neuen Stücke sind durchweg von geringem literarischen Wert. Worauf es den Verfassern ankommt, ist im wesentlichen die Darstellung einer breiten, in alle Einzelheiten gehenden Handlung, die weniger um ihrer selbst willen als der neuen Umwelt wegen da ist. Rein äusserlich bedeutet die Aufnahme moderner Stücke in den Spielplan einen gewissen Fortschritt, der aber nur auf Kosten der Verflachung der chinesischen Schauspielkunst erfolgt. Denn so lächerlich diese auch dem europäischen Geschmack erscheint, so besitzt sie für die grosse Volksmasse doch ein hohen erzieherischen Wert. Das gleiche kann man von der von westländischen Vorbilder beeinflussten neuen Bühnenkunst, von ein oder zwei Ausnahmen abgesehen, nicht behaupten. Ihr Verhältnis zur alten Bühne ist etwa das gleiche wie heutzutage in Europa das der Operette zum klassischen Schauspiel.
Wer einen Winter in Berlin verlebt und sich für die Bühnenwelt interessiert hat, der kennt den eigentümlichen Reiz, der sich um jede Erstaufführung rankt. Die Presse verkündigt schon Wochen vorher, welches neue Stück von dieser oder jener Bühne erworben ist, und dem Tag der Aufführung wird mit Spannung entgegengesehen. Neben dem prunkenden Hausball, den Exzellenz X in Berlin W. gibt, gilt eine gelungene Erstaufführung als der „Clou“ der Saison und ist ein willkommener Gesprächsstoff in den Salons. Man muss einer Erstaufführung beigewohnt haben, — 33 — um als Bildungsmensch auf der Höhe zu sein. Dadurch, dass oft Eintrittskarten im Preise steigen, wie ein von allen möglichen Einflüssen abhängiger Börsenwert, hat sich der Besuch der Premièren zu einem fast ausschliesslichen Vorrecht der vornehmen Welt herausgebildet.
Man wird diese Gesichtspunkte im Auge behalten müssen, wenn man als kritisch veranlagter Westländer der Erstaufführung in einem chinesischen Theater beiwohnt. Denn gerade auf diesem Gebiet zeigen sich die Verschiedenheiten des westländischen und des chinesischen, oder besser Schanghaier Theaterpublikums. Zunächst muss vorausgeschickt werden, dass alle chinesischen Theater, von zwei oder drei Ausnahmen abgesehen, Erstaufführungen garnicht kennen. Ihr Spielplan bewegt sich seit Alters in berühmten klassischen Stücken, mit deren Inhalt der Grossvater schon seinen lauschenden Enkel vertraut macht; die Stücke haben in der Regel einen geschichtlichen Hintergrund, in den sich der Chinese schon als Junge hineinfühlt, und wenn er später einer Vorstellung beiwohnt, dann sieht er auf der Bühne, „dargestellte Geschichte.“ Bei Theatern, die sich die Pflege der alten Schauspielkunst nach wie vor zur Aufgabe gemacht haben, kann man also deshalb von Erstaufführungen im Sinne europäischer Hauptstädte nicht sprechen. Aber es gibt Ausnahmen; und diese finden wir in Schanghai, wo es moderne Theater gibt, die neben dem alten Schauspiel moderne, an westländische Vorbilder angelehnte Stücke auf ihrem Spielplan haben. Der Erstaufführung eines solchen modernen Theaters galt vor einiger Zeit unser Besuch.
Mit den Premièren der Berliner Bühnen haben chinesische Erstaufführungen garnichts gemein. Keine Zeitung schlägt vorher die Reklametrommel, kein auserwähltes Publikum füllt die Plätze, keine Kritik hebt das Stück in alle Himmel oder reisst es herunter, in keinem Salon ist es das Gesprächsthema für Monate, und Niemand kennt den Namen des Dichters. Erstaufführungen sind für das chinesische Theaterpublikum etwas Gleichgültiges; man sieht es sich an, weil es auf dem Programm steht; denn kein Theaterdirektor würde es wagen, mit einer Première als abendfüllendem Stück hervorzutreten. Trotz des neuen Zugs, der in die moderne chinesische Bühne gekommen ist, wird an dem alten überlieferten Brauch festgehalten, dass jeden Abend mehrere Stücke ausgeführt werden müssen. Selbst das am chinesischen Bund gelegene Theater Sin-wu-tai, dessen aufgeklärte Leitung für — 34 — alle Neuerungen auf dem Gebiet des Bühnenwesens leicht zugänglich ist, hat an dem alten Brauch noch nicht gerüttelt. Neben der Erstaufführung standen (über zwei Abende verteilt!) mehrere alte Stücke auf dem Programm. So „Schnee im sechsten Monat“, „Der Eisendrachen-Berg“, „Der Berg Tung Tschün“, der spassige „Spaziergang des Fräulein Liu Erh tsieh“ und ein mehrstündiges historisches Schauspiel aus der Zeit der „Drei Reiche.“ Durch diesen Grützenberg historischer Stücke musste man sich als premièrehungriger Westländer erst durchfressen, bis man das — nach westländischer Auffassung — Ereignis von zwei Abenden erleben konnte.
Das Stück hiess: „Li Yüan hung“. Welch ein Klang liegt in diesen Worten! Das zarte, verbindliche Li, das an unumschränkte Diktatur erinnernde Yüan, und das mit elementarer Wucht ausgesprochene hung. Es ist der Rhythmus eines ereignisvollen Zeitabschnittes, der aus diesem Namen heraustönt. Wer kennt nicht Li Yüan hung, das Zünglein an der Wage beim Ausbrechen der Revolution in Wutschang, den vergötterten Helden des Volksheers? Der Titel, den das Stück führt, lässt seinen Inhalt erraten. Denn Alles, was sich um diesen Namen gruppiert, ist neueste chinesische Zeitgeschichte. Wir Alle haben sie miterlebt; Manche aus nächster Nähe, und ganz Wenige haben die Ereignisse pochen hören, als sie Li Yüan hung in seiner schwersten verantwortungsvollsten Zeit, während vom Hankouer Bahnhof die Geschütze der Kaiserlichen Granaten nach Wutschang sandten, im Hauptquartier besuchten und gemütlich mit ihm zusammensassen. Uns ging es wie dem erwähnten chinesischen Jungen, der mit Andacht der „dargestellten Geschichte“ lauscht, nur mit dem Unterschied, dass wir zum Teil selbst mit dabei sein konnten, als sie gemacht wurde. Daraus erklärt sich die Spannung, mit der wir der Aufführung entgegensahen.
Das Stück zerfällt in zwei Teile, die nacheinander an zwei Tagen, Abends von halbelf bis halbein Uhr, aufgeführt wurden, nachdem der übrige Teil des Programms erledigt war. Wie alle „modernen Stücke“ der chinesischen Bühne zerfällt auch „Li Yüan hung“ nicht in drei oder vier, mit steigender Handlung straff durchgeführte Akte, sondern in etwa zwanzig Szenengruppen von fünf bis zehn Minuten langer Dauer, die die Geschehnisse in ununterbrochener Reihe darstellen, damit der Zuhörer nicht den Faden — 35 — verliert; manche Szenen sind nach westländischer Auffassung unbedingt überflüssig, und sie könnten ebenso gut im Dialog angedeutet werden.
Das Stück wird mit einer Szene im Gouverneursyamen eröffnet. Dort sind der Generalgouverneur Jui Tscheng und die höchsten Spitzen der Provinz versammelt. Die Beamten tragen die feierliche Amtskleidung und den Hut mit ihrem Rangknopf. Jedes Wort, das sie sprechen, wird mit besonderer Sorgfalt betont, jede Bewegung ist fein abgewogen, Alles bewegt sich in exakten, zeremoniellen Formen, die dem Gesamtbild etwas überaus Feierliches und Würdevolles geben. Das Gespräch dreht sich um die innerpolitische Lage; etwas Banges, Ungewisses wird mit dem Ausdruck „Autoritätsverwerfer“ verknüpft. Inzwischen sind die Umstürzler in Hankou an der Arbeit. Wir blicken in die historische Bombenwerkstätte. Der Revolutionär Sun Wu empfängt seine Gesinnungsgenossen, mit denen er den Plan der Erhebung schmiedet. Unter dem Sitzpolster von Stühlen werden wohlversteckte Waffen und Bomben hervorgeholt und verteilt. Eine treffend gesehene Gestalt, ausser Sun Wu, ist ein westländisch gekleideter Revolutionär; eine kindische Freude liegt auf seinem Gesicht, wenn von Revolution gesprochen wird; er hüpft und klatscht in die Hände, wie ein Schuljunge; dabei zittert er fortwährend vor freudiger Erregung. Die Verschwörer fassen den Entschluss, den Brigadekommandeur Li Yüan hung in Wutschang für die Sache der Umsturzgesellschaft zu gewinnen. Das nächste Bild zeigt die Ankunft Tuan Fangs in Wutschang. Tuan Fang, der seither in Zurückgezogenheit gelebt hatte, erhielt von der kaiserlichen Regierung den Auftrag, die in Folge der Bahnverstaatlichung in Szetschuan erregten Gemüter zu beruhigen. Nach Rücksprache mit dem Generalgouverneur Jui Tscheng sollte er von Wutschang nach Szetschuan abreisen. Tuan Fang wird mit amtlichem Gepränge vor dem Stadttor empfangen und nach dem Yamen geleitet, wo das Festmahl für ihn bereit ist; auch hier wirken die feinen Beamtenzeremonien äusserst angenehm auf das Auge. Während die Beamten sorglos beim Mahle sind, bereitet sich in der Wohnung des Brigadekommandeurs Li Yüan hung eine grosse Aktion vor. Sun Wu und der westländisch gekleidete Revolutionär besuchen General Li. Er trägt die Uniform eines Brigadekommandeurs. Die Gesichtsmaske ist im Wesentlichen erfasst; nur der Bart und die Augen müssten schwärzer und buschiger sein. — 36 — Als Li die Revolutionäre nach ihrem Begehr fragt, entsteht eine Verlegenheitspause. Man glaubt, die Herzen der Revolutionäre vor Aufregung zum Bersten schlagen hören. Sie fühlen: jetzt steht die Revolution auf des Messers Schneide; entweder ist Li Yüan hung der richtige Mann, oder wir haben uns getäuscht; und dann rollen unsere Köpfe morgen im Sande. Auch die Zuschauer, die sich vorher ab und zu laut unterhalten hatten, halten eine Weile den Atem an; auch sie fühlen, dass sie einen wichtigen geschichtlichen Augenblick vor sich abspielen sehen. Die Verlegenheitspause lässt nach. Ein harmloses Gesprächsthema ist gefunden, und vorsichtig sondierend, wird es von den Revolutionären ins Politische übergeleitet, indem sie es, sich gegenseitig ermunternd anstossend, im Fluss halten. Vor dem Kernpunkt des Gesprächs schrecken die Revolutionäre zurück. Da entsteht ihnen eine willkommene Helferin. Eine „weibliche Verwandte“ des Brigadekommandeurs, die Vertreterin der weiblichen „Autoritätsverwerfer“, mischt sich ins Gespräch und verlangt von Li, dass er sich der Aufstandsbewegung anschliesse. Ein kurzer innerer Kampf Li Yüan hungs, und er reicht den Revolutionären stumm die Hand, zum Zeichen, dass auf ihn und seine Brigade zu rechnen sei. Der nervöse westländisch gekleidete Revolutionär will vor Freude schier an die Decke springen, als sein Ohr die Botschaft vernimmt. Unterdessen wiegt sich der Vorgesetzte Li Yüan hungs, General Tschang Piao, in Sorglosigkeit. Die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen seiner zweiten und vierten Frau, erstere ein Geschenk des greisen Tschang Chih tung, dünkt ihm wichtiger, als den Gerüchten über revolutionäre Umtriebe nachzugehen, die seit den letzten Tagen Wutschang durchschwirren. In diesen Tagen kehrt auch Tschang Piaos Sohn, der in Japan seinen Studien obgelegen hat, ins väterliche Haus zurück, wo gerade Li Yüan hung mit Tschang Piao eine Unterredung hat. Der kleine Tschang Piao wird als kecker, übermütiger Junge in kurzen europäischen Hosen und Halbstrümpfen dargestellt; er benimmt sich wie ein ausgelassener Quartaner. „Ha, das ist Li Yüan hung. Jedes Kind auf der Strasse kennt ihn. Er ist berühmt, und Dich kennt Niemand,“ ruft der Sprössling seinem Vater zu. Mit Entsetzen erkennt Tschang Piao, dass sein Sohn keinen Zopf trägt. Darob zur Rede gestellt, bekennt der Kleine trotzig: „Ich bin ein Umstürzler.“ Mit derben Schimpfworten: „Faules Ei, faules Ei, Schildkrötenei, Schildkrötenei!“ herrscht Tschang Piao aus heller Wut — 37 — über das Geständnis seines Sohnes die Diener an. Danach setzt eine abgespannte Ermattung ein, und zur Beruhigung seines Innern lässt er sich von seiner Lieblingsfrau den Rücken massieren. Unter dem lieblichen Blick der Gattin glättet sich schliesslich das von Zornesrunseln durchfurchte Gesicht. Im Verschwörernest Sun Wus wird unterdessen fieberhaft gearbeitet. Zum ersten Mal wird die neue fünffarbige Flagge entfaltet; die Siegel der neuen Regierung werden angefertigt, Proklamationen geschrieben und Bomben mit tödlichen Sprengstoffen gefüllt. Eine Bombe explodiert und versengt Sun Wus Gesichtshaare. In wilder Hast fliehen die Verschwörer. Vier fallen in die Hände der Polizei. Nun treibt die Handlung Schlag auf Schlag vorwärts. Li Yüan hung versammelt telephonisch seine Brigade und wirbt über Nacht neue Truppen an. Im Yamen des Generalgouverneurs herrscht grenzenlose Verwirrung. Die ersten Geschosse fallen in den Hof. Die höchsten Beamten in ihren kostbaren Amtstrachten rennen mit schlotternden Knien umher, stossen gegenseitig mit den Köpfen an einander und schreien sich an, wie in einem Tollhause, kurz, die Verwirrung ist unbeschreiblich. Ein Hügel wird von den Aufständischen gestürmt, eine Schnellfeuerkanone aufgefahren und ununterbrochen Schüsse in die treugebliebenen Truppen Tschang Piaos gesandt. Die Umsturzfurie ist entfesselt. Mit der Flucht Tuan Fangs, der sich von seinem schönen Bart trennen muss, schliesst der erste Teil.
Der zweite Teil, der am folgenden Abend gespielt wurde, steht an Lebhaftigkeit hinter dem des ersten Abends bedeutend zurück; man vermisst die Sorgfalt im Aufbau der Szenen und findet die belehrenden, langatmigen Reden ermüdend, deren Grundton stets der gleiche ist, und die immer beginnen: „Mehr als zweihundert Jahre seufzte das Volk unter der Knechtschaft der Mandschus, jetzt aber usw.“. Recht eindrucksvoll ist indessen eine der ersten Szenen, wo Li Yüan hung von den Aufständischen und den Notabeln des Landtags zum Tutu erwählt wird. Der Doyen des Konsularkorps in Hankou soll von dieser Wahl in Kenntnis gesetzt werden. Einen beissenden Hieb erhält dabei die Anknüpfung der ersten „auswärtigen Beziehungen“ der neuen Regierung. Jeder der Anwesenden möchte die Mission zu dem fremden Konsul übernehmen. Schliesslich wird ein sehr korpulenter Herr, der sich auf seine fremden Sprachkenntnisse beruft, als Dolmetscher in Hankou und ein — 38 — Anderer als Abgesandter gewählt. Die Szene, die sich dann in dem Empfangszimmer des Konsuls abspielt, ist köstlich. Denn es stellt sich heraus, dass der angebliche Dolmetscher keine fremde Sprache spricht. Die heiteren Zwischenfälle, die dadurch entstehen, halten die Zuschauer fortgesetzt im Lachen. Schliesslich werden die Abgesandten Li Yüan hungs auf nicht allzu höfliche Weise verabschiedet. Diese Szene und die folgende im Hauptquartier Li Yüan hungs im Provinziallandtagsgebäude in Wutschang gehören zu den gelungensten des zweiten Teils des Stücks. Wie trefflich sind die Gestalten gesehen, die sich im Hauptquartier um General Li gruppieren; sie rufen in mir die Erinnerung wach, wo ich im November 1911 als besuchender Westländer das interessante Milieu störte. Da steht ein Mitglied der „Zum Sterben Bereiten“ mit der weissen, über die Brust gekreuzten Binde, der kämpfende Student, nur mit einem Säbel bewaffnet, der jugendliche Offizier mit dem roten Tuch am Schwertknauf, alles Gestalten, die der Wirklichkeit entnommen sind. Nur hätte General Li, der in prunkender militärischer Uniform dargestellt wurde, seinen schlichten bayrisch-blauen Anzug, die gelben Reitstiefel und den grossen Schlapphut tragen sollen, und die getreue Nachahmung des Lischen Hauptquartiers wäre auf Höchste vollendet gewesen. Trotzdem ist die Darstellung des Lebens und Treibens in jenem historischen Eckzimmer des Landtagsgebäudes recht gut wiedergegeben. Während Li mit seinem Stab versammelt ist, kommt die Meldung, dass eine starke Streitmacht unter dem Befehl des Generals Feng Kuo tschang von Peking unterwegs sei, und dass er die Aufgabe habe, Hankou und Hanyang dem Volksheer zu entreissen. Die nächsten Szenenbilder zeigen dann Gefechte zwischen den noch von Tschang Piao geführten Kaiserlichen und den Aufständischen, die für Letztere siegreich sind; Tschang Piao ergreift vor Angst an allen Gliedern zitternd, die Flucht. Inzwischen trifft Feng Kuo tschang mit seinem Heer vor Hankou ein. Die Aufständischen werden von Kilometer Zehn nach Hankou zurückgedrängt, und die Stadt von den Kaiserlichen eingenommen. Eine Szene zeigt die Chinesenstadt Hankou. Vom Ta tsche men fliegen die Brandgranaten in die Stadt. Ein Haus geht in Flammen auf; das Feuer greift um sich, bis schliesslich die Stadt in einen Trümmerhaufen sinkt. Die Schlusszene zeigt die Batterien von Wutschang, die mit dem Geschwader des Admirals Sah kämpfen. Eine Granate — 39 — zerschmettert den Mast des ersten Kreuzers, und gleich steigt die weisse Flagge am Heck auf. Die Flotte ist zu den Aufständischen übergegangen. Damit schliesst das Stück.
Wie aus der gedrängten Inhaltsangabe hervorgeht, ist es eine Darstellung der Ereignisse wie sie sich im Wesentlichen in den Monaten Oktober und November in den Wu Han-Städten abgespielt haben. Manches, ja Vieles, lehnt sich wahrheitsgetreu an die Geschehnisse an. Anderes ist aber stark zu Gunsten der revolutionären Sache gefärbt. Das Stück ist kein Drama eines Helden in westländischem Sinne, wie der Titel vielleicht ahnen lässt. Nicht Li Yüan hung wirkt als Heldennatur gestaltend auf die Ereignisse, sondern er wird von ihnen getragen. Ob damals Li Yüan hung, überzeugt von der Schädlichkeit der Mandschuherrschaft, aus freiem Entschluss das Banner der Empörung ergriffen hat, ist stets von unparteiischen Kennern bezweifelt worden. Weit eindrucksvoller und der historischen Wahrheit näher liegend wäre die auch später von Li Yüan hung bestätigte Szene gewesen, als damals, in der kritischen Nacht vom 8ten auf den 9ten Oktober, Angehörige seiner Brigade auf sein Zimmer kamen, ihm das Schwert an den Nacken setzten und ihn zwischen Tod oder Gefolgschaft wählen liessen. Li nahm das Letztere. Und von diesem Augenblick an hatte er seine Natur als Held an seine Umgebung verkauft, die ihm jede seiner Handlung vorschrieb. Anzuerkennen ist jedoch, dass ihn das Stück nicht von vorneherein als einen Umstürzler hinstellte, der nicht wie andere deshalb nach Rang und Würde im Heer strebte, um rascher zu seinem Ziel zu gelangen; das geht daraus hervor, dass er zuerst in einer Unterredung mit der „weiblichen Verwandten“ und den beiden Revolutionären für die Sache der Ko ming tang, der er zunächst unwissend, ablehnend gegenübersteht, gewonnen werden muss. Solche Feststellungen müssen westländischen Kreisen gegenüber gemacht werden, damit sie nicht Opfer einer Geschichtsklitterung werden, die jetzt von „national“ gesinnten chinesischen Kreisen getrieben wird. Das trifft auch auf Tschang Piao zu. Seine Gestalt wird ins allzu Lächerliche karrikiert, doch immerhin für chinesische Auffassung noch so glaubwürdig, dass jeder kritiklose Beobachter mit dem Namen Tschang Piao die feige Jammergestalt verknüpft. Möge das häusliche Idyll, das Tschang Piao in den launigen Händen von zwei Frauen zeigt, auch zutreffen, im Kampf gegen den überlegenen Feind hat er sich in jenen — 40 — kritischen Tagen, als er mit ein paar Getreuen den Bahnhof Kilometer Zehn verteidigte, als ein Held gezeigt. Und seinem Heldentum setzte er die Krone auf, als er in einer sternenklaren Novembernacht allein auf schwankendem Kahn über den Han-Fluss ruderte, eine dicke Hanftrosse nach sich zog und sie in unmittelbarer Nähe des feindlichen Lagers an seinem Pfahl festmachte, wodurch er das Schlagen der Brücke über den Han ermöglichte und auf diese Weise die Einnahme von Han yang vorbereitete! General Feng Kuo tschang, der Eroberer von Hanyang und Hankou, bleibt in dem Stück von Lächerlichkeiten verschont. Kein verulkendes Lachen ertönte aus dem Zuschauerraum, als er auftrat. Die Maske des Schauspielers war vorzüglich; Feng Kuo tschang, wie er leibt und lebt! Aus seinen Zügen leuchtete Tatkraft und Entschlossenheit; er war noch nicht gramgebeugt wie von jenem Tage ab, als ihm die Nachricht aus dem Norden zuging, dass fanatische Revolutionäre seine Familie ausgerottet und die Gräber seiner Ahnen geschändet hätten. Das Stück bemüht sich, den Wutschanger Aufstand so unblutig wie möglich darzustellen. Flüchtende Mandschus werden von den Soldaten angehalten und nach kurzem Verhör weiter gelassen. Das entspricht nicht den geschichtlichen Tatsachen. Viele wurden grausam niedergemacht, ganz zu schweigen von den achthundert mandschurischen Männern, Frauen und Kindern, die im Revolutionseifer von der Wutschanger Stadtmauer gestürzt wurden, wo sie mit zerschmetterten Gliedern liegen blieben. Doch die Zeit heilt. Sie heilt auch die Erinnerung an die Schattenseiten und unbedachte Grausamkeiten der Revolution, und nur das Lichte, Ideale soll der Nachwelt erhalten bleiben. In diesem Sinne ist auch das Stück „Li Yüan hung“ aufzufassen.
E s gibt Gassen in Schanghai, die in regenschweren Tagen von einem düstern Halbdunkel durchwoben sind. Es sind eigentlich gar keine Gassen, sondern schmale Gänge, die von einer Hauptstrasse abzweigen und stracks durch die Häuserblöcke führen. Die Gänge werden mit Namen bezeichnet, die manchmal sehr merkwürdig klingen und dem ganzen „Milieu“ Hohn sprechen. Hier sind einige Gassenbezeichnungen: „Die ewige Kostbarkeit,“ „die ewige Tugend,“ „der ewige Frühling,“ „der friedliche „Ursprung“,“ „die vollendete Schönheit,“ „das immerwährende Glück,“ „die hundert Harmonien,“ „die unwandelbare Gerechtigkeit“ und „der erhabene Friede.“
Eines Tages ging ich durch die „Gasse der „unwandelbaren Gerechtigkeit“.“ Zu beiden Seiten waren hohe Häuserwände und die Gasse war so schmal, dass man, wenn man sich in ihre Mitte stellte, mit den Fingerspitzen der ausgestreckten Hände die Wände berühren konnte. Die steilen, schmutzig grauen Wände wurden oben vom Himmel abgeschlossen, der von einem düstern Grau umflort war. Braun und klitschig von Regen und aufgeweichtem Staub war das Pflaster. Ein Geruch von Moder und Kellerdunst erfüllte die Luft. In der Gasse schien alles Leben ausgestorben. Nein, doch nicht. Denn dort, an die Wand gekauert, lag ein Sack aus groben, ackerfarbenem Tuch. Unter dem Sack war Leben. Vielleicht lag ein Hund darunter. Nein, es war nur ein Häufchen zusammengeknäueltes menschliches Elend. Auf dem Sack, der als kälteschützende Schlafdecke diente, kramte sich eine magere Hand hervor und schlug abwehrend in die Luft. Dabei verzog sich die Decke und ein Kopf kam zum Vorschein. Ein würdiger Greisenkopf. Das Gesicht war braun wie die Sackleinwand. Der Bart und die spärlichen Zopfhaare weiss wie frischgefallener Schnee. Die Augen waren zum Schlaf geschlossen. Da surrte eine Fliege heran, die, in irgend einem warmen Unterschlupf aufgestöbert, im Zickzackflug durch die Luft taumelte, sich auf dem Greisengesicht niederliess, und ihren schwarzglänzenden Leib an der von warmem Blut durchströmten Wange des Schlafenden wärmte. Der Greis lag offenbar im Halbschlaf; er erhob die Hände und klatschte nach der Fliege; unbeirrt kam sie immer wieder. Und plötzlich ging ein Aufleuchten durch die düstere Gasse; es flammte auf und verschwand wie ein Streichholz, das man in einem dunstigen, düstern Keller anzündet. Und dann leuchtete es wieder auf, das würdige Greisengesicht mit Helle überstrahlend und den schwarzen Leib der vorwitzigen Fliege mit grünschillernden Ringen umgürtend. Es war die Sonne, die, die graue Wolkenwand zerschneidend, ihre Strahlen in der „Gasse der unwandelbaren Gerechtigkeit“ spielen liess. Noch merkte der schlafende Greis das Wirken der Lichtspenderin nicht, obwohl die Fliege eindringlich zum Erwachen mahnte. Als aber die Sonne mit all ihrer Leuchtkraft in die muffige Gasse fuhr, da zwinkerte es um die verwitterten Augenwinkel des Greises, und langsam, langsam öffneten sie sich und blickten so hell und freudig in die Sonne, wie die frohen Augen eines kleinen Kindes, das beim Erwachen seine Mutter erblickt. Und dann schlossen sich die Augen wieder, und um den Mund des Bettlers zog sich ein stilles Lächeln.
Seit diesen kleinem Erlebnis sind für mich ein durch die Wolken dringender Sonnenstrahl und das Lächeln des Bettlergreises in der „Gasse der unwandelbaren Gerechtigkeit“ zwei unzertrennbare Begriffe.
I n einem der vielen Seitengänge, die sich von der Nanking Road in die dahinter liegenden Häuserblöcke bohren, hat seit Jahren ein Verkäufer von verzuckerten Erdnüssen seinen Stand aufgeschlagen. Die hohe Gestalt, die braunrote Gesichtsfarbe und die starkknochigen Finger, mit denen er die gezuckerten Früchte in senffarbenes Papier wickelt, oder mit denen er ab und zu eine überdauerte Winterfliege mit dem Federwedel verjagt, deuten daraufhin, dass er nicht ein eingeborener Schanghaier ist, sondern von einem andern Teil des Reiches in die Weltstadt zog. Der Erdnussverkäufer stammt aus Schantung; er gehört zu meinen Freunden, wie Alles, was von dort kommt. Eines Tages machte er mir einen Besuch und überreichte mir seine knabenfusslange, knallrote Visitenkarte, darauf in schwarzer Tuschschrift zu lesen stand: Wang Tung hai. Seit dem Besuch, den ich in seiner Wohnung in der Peking Road erwidert hatte, wurden wir Freunde, ein für das Studium soziologischer Verhältnisse in China wichtiger Umstand. Ich sprach über Dieses und Jenes mit ihm. So fragte ich ihn gelegentlich auch wie er sich in der Weltstadt Schanghai durchschlüge. Da erzählte er mir, dass er an regenfreien Tagen im Durchschnitt sechs chinesische Pfund gezuckerte Erdnüsse verkaufe. Er bezieht die Erdnüsse von einem Zwischenhändler, der sie wieder vom Produzenten in Kiangsu kauft. Die sechs Pfund Erdnüsse kosten ihm, einschliesslich Zuckerung und Einschlagpapier, zwanzig Zent. Der Tagesverdienst beträgt nach dem Verkauf der sechs Pfund fünfundvierzig Zent oder zwölfeinhalb Dollar im Monat. Wenn es regnet, bleibt er zu Hause und trommelt mit den Fingern an die vom Staub erblindeten Fensterscheiben; denn an Regentagen ist der Verdienst so gering, dass er lieber ganz darauf verzichtet. Als durchschnittlichen Monatsgewinn rechnet Freund Wang zehn Dollar; er hat aber in ganz besonders guten Zeiten schon fünfzehn Dollar verdient. Davon bestreitet er die Kosten für seine mit zweieinhalb Dollar im Haushalt veranschlagte Wohnung und sein mit Schantunger Leibgerichten gewürztes Essen, das die Summe von sechs Dollar nicht überschreiten darf. Der Mehrverdienst der guten Monate muss über die schlechten hinweghelfen. Und die machen fast die Hälfte des Jahres aus. Besonders graut es Freund Wang vor der „toten Saison“, — 44 — die die Sommermonate umfasst. Denn zu dieser Zeit sind die gezuckerten Erdnüsse am Wenigsten schmackhaft. Deshalb klappt Wang beim Beginn der heissen Zeit den Verkaufstisch zusammen, isst des Morgens den Rest der ihm verbliebenen Zuckernüsse zum Frühstück und besucht ein halbes Jahr lang die Stadtkundschaft eines Getreidegeschäftes. Das bringt noch weniger ein, als der Erdnussverkauf, hält aber den wackern Schantunger so lange in der Weltstadt über Wasser, bis wieder die Zeit anbricht, wo er seine gezuckerte Ware verkaufen und, je nachdem, mit den harten Fingern auf den Fensterscheiben trommeln kann, gegen die der unerbittliche, geschäftsstörende Herbstregen schlägt.
V or Kurzem war ich Zeuge einer Verkehrsstockung in der Szechuan Road. Das ist an sich kein sonderliches Erlebnis. Sonderlich genug war aber die Ursache, die zu der Verkehrsstockung führte. Halblinks von mir ging ein alter, behäbig-vornehm gekleideter Chinese; es war eine typisch chinesische Erscheinung vom Zopf bis zur Sohle. Die Gestalt erinnerte an einen biedern Provinzonkel, der sich einmal Schanghai „ansehen“ wollte. Die muntere Art, mit der er seine Aeuglein über das Grossstadtgetriebe spielen liess, zeigte, dass er sich an all dem Neuen, das rings um ihn herandrängte, ergötzte. Das Spielen seiner Gesichtsmuskeln liess einen Schluss in Das zu, wie er seine Eindrücke innerlich verdaute. Bald verzogen sich seine Züge zu einem behaglichen Lächeln, bald braute es vorwurfsvoll um Stirn und Augen. Da bleibt der Alte plötzlich wie angewurzelt auf der Mitte der Strasse stehen, den Kopf lauernd nach vorn gebogen, die Augen aufgerissen, und hinter ihm staute sich der Verkehr. Rickschas, Automobile, Kutschen und Fussgänger hielten an, und gar schrecklich bimmelte der ungeduldige Wagenführer der Elektrischen, als sich sein Wagen im Gewühl verrannte. Der Alte stand immer noch lauernd da, bis ihn schliesslich ein hochstämmiger rotbeturbanter indischer Schutzmann zur Seite schob und dem angestauten Verkehr freie Bahn schaffte. Der alte Chinese setzte wie eine vom Räderwerk aufgezogene Puppe seinen Gang fort, die Augen immer unverwandt nach vorn gerichtet. Ich ging unauffällig neben ihm her und versuchte mit meinen Augen das Ziel seiner Blicke zu ergründen. Endlich fand ich es. Es war eine tannenschlanke Chinesin der besseren Gesellschaftskreise; sie trug eine grüne Wollmütze und eilte mit ihren lackierten Lederschühchen über den Asphalt, den langen Rock mit der linken Hand ein wenig knöchelfrei hochschürzend.
Der Alte beschleunigte seinen Schritt und ging immer hinter her, immer hinterher... Mir fiel dabei eine wahre Geschichte ein, in der ein alter Chinese und eine „moderne“ Chinesin eine Heldenrolle spielten, und die fast genau so anfing wie die, die zu der Verkehrsstockung Anlass gegeben hatte. Im winterlich eisbestarrten Herzen des alten „konservativen“ Tsai, eines Bücherlesers, wurde es noch einmal Frühling. Es begann zu sprossen wie einst im Mai. Eine keck gekleidete, jugendliche Landsmännin hatte es ihm — 46 — angetan. Seitdem er Fräulein Edelstein an jenem Abend gesehen hatte, wo sie als begeisterte Agitatorin für das Frauenstimmrecht den Männern den Krieg erklärte, musste Tsai kapitulieren. „Du gleichst der Sonne am klaren Winterhimmel. Aus deinen Augen leuchtet der lautere Quell des Herzens. Deine Stimme ist so süss, wie die einer Nachtigall im vom Abendwind durchflüsterten Bambushain. Deine Lippen gleichen hellroten Frühkirschen.“ So himmelte er sie an, verbrach Gedichte und suchte in alten Klassikern nach sinnreichen Stellen, die seinem Liebesgestammel den Schein tiefgründiger Gelehrsamkeit geben sollten. Die Angebetete blieb hart. Sie sah ihn mit kalten Augen an und sagte rauh, dass sie sich mehr für Politik als für die Ehe interessiere. Dadurch immer mehr angestachelt, nahm er den letzten Anlauf. Und er gelang. Tsai führte die Heissumkämpfte heim. Er eroberte die Sonne, deren Licht ihm die Augen verblendet hatte. Vorher machten Beide einen Heiratskontrakt, darin zu lesen stand: „Der Unterzeichnete führt Fräulein Edelstein als seine Frau heim. Er ist damit einverstanden, dass sie, als seine rechtmässige Gattin 352 Tage im Jahre zu Zwecken der Agitation für das Frauenstimmrecht alle Plätze des Reichs bereisen darf. Die unterzeichnete Gattin verpflichtet sich, während des Neujahrsfest nach Schanghai zurückzukehren; sie braucht jedoch den Aufenthalt nicht über acht Tage auszudehnen.“
M ehr als ein Dutzend Male habe ich den berühmten Schauspieler Wu Tschan djiao auf der Bühne des Theaters Hsin wu tai gesehen, viertausend Zuhörer mit seiner melodischen Nordsprache und seinem eindrucksvollen Mienenspiel im Bann haltend. Unvergleichlich war er in dem klassischen Stück: „Die lachende Kaiserin“ als Staatsminister Sze Lang oder in dem Stück „Tsie Tsien“, das in die Zeit der „Drei Reiche“ versetzt. Die ganze Skala feinsinnigster bis zur berstenden Leidenschaft ausartender Gemütsbewegungen beherrschte er. In klassischen Stücken atmeten seine Rollen verhaltene Leidenschaft, die nach der alten chinesischen Schauspielkunst in scharf umgrenzte, rhythmische Bewegungen eingeschachtelt werden muss, aber darum nicht weniger eindrucksvoll ist. Dem westländischen Empfinden und Fühlen kam Wu in den modernen politischen Stücken am Nächsten. Da durfte er kühn alle, die innere Leidenschaft hemmenden Banden von sich streifen, da durfte er, frei von konventionellen Zunftüberlieferungen toben, schreien, begeistern, überzeugen, und ganz in seiner Rolle aufgehen, wimmern und schluchzen wie ein Kind. In solchen Augenblicken stand nicht mehr ein Schauspieler auf der Bühne, sondern ein Volksredner, der den Instinkt der Masse auszunutzen versteht; dann wurde das Theater zu einem politischen Versammlungsort, von mitgerissenen Zuhörern geworfen, prasselten Armspangen und harte Dollar auf die Bühne. Wer Wu Tschan djiao als Verschwörer Sun Wu in dem Revolutionsstück „Li Yüan hung“ gesehen hat, wird ihn nicht so leicht vergessen. Wu Tschan djiao war aber eine Kampfnatur. Die Bühne wurde ihm zu eng, und er suchte sich ein anderes Feld. Sein Streben ging höher. Nicht mehr auf viertausend Zuhörer wollte er wirken, sondern auf vierhundert Millionen, die — wie er meint — mehr oder weniger nichts Anderes als Zuschauer der grossen politischen Tragikomödie sind, an der unfreiwillig das gesamte chinesische Beamtenheer, die fremden Gesandten und der unter der Steuerschraube seufzende Bauer und Hunderttausende von Statisten mitwirken. Vor diese vierhundert Millionen ist vor Kurzem der Schauspieler Wu Tschan djian hingetreten und hat gerufen: „Achtet auf die gefrässigen Russen. Sie wollen den Zusammenbruch Chinas. Sie wollen Euch, meine heissgeliebten Brüder, zu — 48 — Sklaven machen. Achtet auf den „lebenden Buddha“, der im Solde Russlands steht!“ Und die Augen der vierhundert Millionen Zuschauer sind seit dem auf Wu gerichtet; die chinesischen Zeitungen berichten getreulich über Alles, was er tut. Und die Neuigkeitsucher machten sogar nicht vor Wu Tschan djiaos Privatwohnung Halt. Dort spielte sich eine eindrucksvolle Szene ab. Wu rief seine beiden Frauen und sprach: „Von heute ab zähle ich nicht mehr zu den jüngeren Brüdern des Pfirsichgartens. Jetzt bin ich General. Ich muss in den Kampf nach der Mongolei. Das Vaterland ruft.“ Da brachen die beiden Frauen in herzbrechendes Weinen aus. Sie sahen den Körper des geliebten Mannes von mongolischen Aufständischen zerfleischt, zerrissen und die Knochen auf gelbem Wüstensand bleichen, und zogen an Arm und Rock, damit er nicht von ihnen gehe. Wu Tschan djiao riss sich los und griff nach dem Abschiedstrank und sprach, fest mit strengen Augen seine Frauen anblickend: „Ich gehe.“ Die Frauen trockneten ihre Tränen, und sie hörten gefasst auf die Anordnungen des Mannes. Der ältern Frau vertraute er die Erziehung des kleinen Ahing an; er müsse fleissig lernen, um später ein tüchtiger Mensch zu werden. Die jüngere, die ihn sparsam dünkte, erhielt die Verwaltung des Vermögens. Jetzt ist Wu Tschan djiao schon im Norden und eifrig dabei, die Söldnerzahl um sich zu scharen, die seine Stellung als General rechtfertigen soll. Das schlecht bezahlte Schauspielervolk Chinas, besonders die, die müde sind, den Thespiskarren weiter durch den Schlamm zu ziehen, eilen zu den Fahnen Wu Tschan djiaos. So ist es den Erfolglosen, den Vielzuvielen, denen mit dem Schauspieler Wu Tschan djiao zu spielen verwehrt war, vielleicht noch vergönnt, unter dem General Wu Tschan djiao zu kämpfen. Hei, das wird ein heisses Streiten auf der mongolischen Steppe! Schulter an Schulter kämpfen dann die alten Heldengestalten, Tsao Tsao, Tschang Fe, Liu Pei, Kung Ming, wie sie Alle heissen, gegen den gemeinsamen Feind. Weh dir, Hutuktu!
D er berühmte, achtzig Jahre alte Bücherleser Wang Hui kai aus Hunan hat am Fest des „Erwachens der Insekten“ den ehemaligen Provinzialschatzmeister Wu Hsi kai, den frühern Minister der Ta Tsing Dynastie Ku Hung chi und einige andere hochgebildete Literaten im Garten Li hsüan zu sich einladen, um sich zu unterhalten und „Gedichte zu machen“. So war vor einiger Zeit in einem Schanghaier chinesischen Blatt, das zu den „gemässigten“ Republikanern gehört, am Liebsten aber sein republikanisches Mäntelchen gegen einen Kaisermantel eintauschen möchte, zu lesen. Zwischen all den Artikeln und Artikelchen über Parteiquacksalbereien, tollgewordenen Hunden, Lokalpolitik und Verschwörergesellschaften, wirkte das Lesen jener kleinen Mitteilung erquickend, wie ein kräftiger Landregen im heissen Sommer. Die Mitteilung hatte „Erdgeruch“. Endlich wieder einmal eine Neuigkeit, die Einen daran erinnert, dass man in China lebt. Ich kenne weder den Herrn Wang Hui kai noch den gewesenen Schatzmeister Wu Hsi kui und die Anderen. Ich weiss nur, dass sie echte Chinesen sind, Chinesen, die in der Zeit des Umsturzes und der politischen Zersetzung in ihrem tiefsten Herzensschrein noch ein Fünkchen Liebe für ihre alte Kultur bewahrt haben. Und das bedeutet viel, sehr viel. Bei den sogenannten Jungchinesen wäre ein solches Fest, das der achtzigjährige Wang Hui kai aus Hunan im Garten Li hsüan veranstaltet hat, ganz undenkbar. Wo heute zwei Jungchinesen zusammensitzen, wird über Politik gesprochen. Nein, nicht gesprochen, sondern geprahlt, unerreichbaren Phantomen nachgejagt, statt hübsch mit den Füssen auf dem Boden zu bleiben und tapfern Auges umherzublicken. Da wird der Mund recht voll genommen, gemäkelt, kritisiert, geschimpft, verschworen, eine andere Zeit herbeigesehnt und stumm die Hand gedrückt: „Na warte, wenn wir ans Ruder kommen!“ So ringt das immer gärende Jungchinesentum nach Gärung, in Wirklichkeit wühlt es den Schlamm im unergründlichen Brackwasser der sogenannten neuen chinesischen Weltanschauung immer tiefer auf. Anders ist es bei den „Altchinesen“, wie sie Herr Wang Hui kai im Garten Li hsüan um sich geschart hatte. „Um Gedichte zu machen“ stand auf der Einladungskarte. Herr Wang hatte mich mit keiner Einladung beehrt. Darob zürnte ich ihm nicht; denn wie könnte — 50 — er doch auch von einem „fremden Teufel“ annehmen, dass er sich für seine literarischen Schmausereien interessiere, ein „fremder Teufel“, der dazu noch in einer von chinesisch westländischem Materialismus beglückten Weltstadt wohnt. Aber die kurze Mitteilung in dem chinesischen Blatt liess das ganze Fest der Literaten vor mir entstehen, liess es mich innerlich miterleben.
Der Garten Li hsüan. Ich weiss nicht, wo der Garten liegt, kann mir aber genau vorstellen, wie es dort aussieht. Wenn man hineinblickt, sieht man eine in Miniatur zusammengepresste chinesische Landschaft. Die aus grünbemoosten, kopfgrossen Steinen zurechtgebauten Berge sind kaum drei Meter hoch; sie schliessen einen mit Riedgras bewachsenen „See“ ein, auf dessen Wasser Trauerweiden ihre Zweige wiegen. In dem Teich tummeln sich Karpfen und Goldfische, die mitunter, nach Fressbarem schnappend, die Wasserfläche quirlend aufwühlen. In den Trauerweiden streitet sich ein beutehungriges Elsternpaar. In einem kleinen Pavillon am Seeufer, von dem man die ganze Landschaft übersehen kann, sitzen am steinernen Tisch und auf steinernen, säulenförmigen Stühlen Wang Hui kai aus Hunan und seine Gäste, machen sich in artigen Redensarten Komplimente und nippen feurigen Schau hsinger Wein, mit mageren, zitternden Händen die kleinen Schälchen an den zuckenden Mund führend und mit dem Seidenärmel verlorene Tröpfchen vom Bart wischend. Die Herren gedachten alter Zeiten, beweihräucherten sich gegenseitig und lächelten zufrieden. Und dann belauschten sie die Natur. Das Elsternpaar in der Trauerweide hatte sich noch nicht ausgetobt; von Krallen- und Flügelschlag löste sich ein dürrer Zweig und klatschte, sich überstürzend ins Wasser, dieweil die hungrigen Goldfische danach schnappten und dann wieder enttäuscht ihre Köpfe unter das Wasser steckten. Der Zweig trieb auf ein einsam schwimmendes Blatt zu, und Beide schwammen vereint zum Ufer. Die Köpfe der Greise klappten nachsinnend zusammen; nach wenigen Sekunden war die chinesische Literatur um ein Gedicht bereichert. Das beste Gedicht in Schönheit des Ausdrucks und des Rhythmus erhielt der Minister Ku Hung tschi. Und so ging es Stunden lang. Die Wangen der Greise glühten in dichterischem Rausch. Dann wurde es still im Kreis, so still, dass man die Trauerweidenzweige knistern und knacken hörte. Und dann wurde es laut. Aus der Ferne fauchte es heran, tutend und staubaufwirbelnd. Keck durchbrach es die — 51 — Eingangspforte und drang störend in das Dichterreich. Es war ein Auto, ein ganz gewöhnliches Auto. Ihm entstiegen drei chinesische Damen und zwei Herren, von denen Einer Offiziersuniform trug; dem Range nach war er kommandierender General, dem Geburtsschein nach kaum dreiundzwanzig. Der andere Herr war im Gehrock und Zylinder, er war höherer Beamter. Die Kleidung der Damen trug den Modelaunen der Zeit Rechnung. Fast bestürzt richteten sich die Augen der Literaten auf die Eindringlinge, die sich frei und ungezwungen bewegten. Eine Dame rief dem kommandierenden General ein zärtliches Scherzwort zu, und er haschte nach ihr; wie eine Gazelle sprang sie davon; endlich erreichte er sie, drückte mit seiner kommandierenden Generals-Hand die Handknöchel der Entwichenen und sah ihr mit heissen Augen ins Gesicht. Der andere Herr quetschte vor lauter Vergnügen den Gummiball der Automobilhupe und die beiden anderen Damen stachen mit dünnen Spazierstöckchen nach den Goldfischen. Oben im Pavillon waren die Gesichter immer noch bestürzt. Der siebzigjährige Wu Hsi kuei murmelte eine Strophe aus dem „Schih tsching“:
Die Literaten horchten auf. Und der achtzigjährige Wang Hui kai aus Hunan ergänzte:
Wang Hui kai lachte, alle Form vergessend, laut auf und damit endete das Fest der Literaten...
V or ein paar Tagen war ich Abends in einem chinesischen Theater. Es war eines von den modernen, mit Rang und Sperrsitz, Kronleuchter, schiebbaren Kulissen und fürstlich bezahlten Schauspielern. Ich kam gegen elf Uhr. Ein wildes Durcheinander war auf der Bühne. Zwei Helden bekämpften sich. Wild flogen die Bärte, grimmig blitzten die Augen, geschmeidig dehnten sich die Körper unter den schweren Heldenkostümen. Im rhythmischen Takt der Musik schlugen die Gegner auf einander ein; der Rhythmus stockt, sechsmal hintereinander wie ferne Schüsse aus einem Schnellfeuergeschütz knallt der Trommler auf das gellende Holz, und dann war es still. In eherner Haltung, mit rollenden Augen und schnaubendem Atem standen die Kämpen an der Rampe und starrten unverwandt in die Zuschauer. Das Stück war aus; ein neues begann. Auf dem Theaterzettel stand: „Hsin Lo yang tschiao“ (Die neue Lo yang Brücke). Die alte Lo yang Brücke hatte ich früher einmal gesehen; soweit ich mich erinnerte, war es ein Stück mit vielen Göttern. Auch die Kuan yin pu sa, die Göttin der Barmherzigkeit war — Richtig, da kommt sie. In prunkendem Gewand, mit glänzendem Gefolge, das bunte Lichter und Laternen trug, wird sie auf ihrem Thron auf die Bühne getragen; sanft tönt die Musik; die Göttin singt ein Lied und wird dann wieder weiterbefördert. Der Vorhang senkt sich, hebt sich von Neuem, und man erblickt einen Mann im gewöhnlichen, chinesischen bürgerlichen Gewand, der sich mit einer Kanne Wein unterhält, des Spruchs von Li Tai po gedenkend:
Und richtig. Der Mann trank, trank so viel, dass sich der Lung Wang, der König der Unterwelt, veranlasst sah, einen Schergen zur Warnung vor dem Alkoholgenuss an die Oberwelt zu senden. Der Trinker schlug die Warnungen des Höllenschergen lachend in den Wind. Da ereilt ihn sein Geschick. Man sieht den Trinker, wie er auf schwankem Kahn über das — 53 — Wasser fahren will; es rauscht eine Welle heran, das Boot kippt um, und der Trinker, (ebenso wie der Dichter Li Tai po, der den Mond in des Wassers Mitte fassen wollte) sinkt immer tiefer und tiefer bis er den Wassergrund berührt. Der Vorhang senkt sich und hebt sich wieder, und der Trinker steht im Reich des Höllenkönigs. Mit wunderbarem Geschick hat dort der chinesische Regisseur ein Stück Unterwelt vor die Augen des Zuschauers gestellt. Man erblickt den Lung Wang mit seinem greulichen Gefolge, und im düstern Hintergrund blinken zahllose Lichter; hier erlischt ein Licht, dort facht ein neues an, dort brennt eins mit beängstigender Schnelle ab. Die Lichter sollen das Sinnbild des Menschenlebens sein, dessen Geschick in den Händen des Höllengottes liegt. „Aha,“ denkt der Zuschauer, „jetzt geht es dem Trinker an den Kragen.“ Man wartet; aber nichts ereignet sich. Der Trinker, der Höllenkönig und sein greuliches Gefolge blicken auffällig nach einer Seitenkulisse. Hat ein Schauspieler sein Stichwort überhört? Plötzlich hört man Schreie; dazwischen klingt es wie englische Laute. Ehe man sich dessen versieht, plumpen zwei Säcke auf die Bühne, die sich überschlagend drehen, vor der Rampe haltmachen und sich höflich vor dem Zuschauer verneigen. Es sind, wie man jetzt sieht, keine Säcke, sondern weissgepuderte Chinesen im Clownkostüm, Gestalten, wie sie zum eisernen Bestand jeder westländischen Zirkusvorstellung gehören. Und nun geht es los. Der neueste „Clou“ der chinesischen Bühne! Die zwei dummen „Aujuste“ in der Unterwelt! Glanznummer der biedern, verschandelten „Lo yang Brücke“! Ein Clown will sich setzen, flugs zieht der andere den Stuhl weg, und er liegt auf dem Boden. Bautz, da knallt die luftgefüllte Schweinsblase auf dem Rücken des Andern; bautz, da fliegt sie auf den harten Schädel. Und so geht es eine halbe Stunde lang. Die Zuschauer kreischen und lachen; der König der Unterwelt und sein Gefolge bemühen sich krampfhaft, ernst zu bleiben. Schallender Beifall belohnt die beiden Säcke, die sich überkugelnd vor die Rampe rollen, den spitzen Zuckerhut abnehmen und sich höflichst verbeugen. Der Vorhang senkt sich und hebt sich; verschwunden ist der Spuk. Der Trinker unterhält sich wieder mit einer Kanne Wein, des Spruchs von Li Tai po gedenkend:
Arme, chinesische Bühne! Wie lange wirst Du dich noch der „Autoliebchen“-, „Puppchen“- und „Filmzauber“-Kultur erwehren können!
W estländische Schuhe und Strümpfe waren die ersten „zivilisatorischen“ Bekleidungsstücke des Chinesen. Ehe ein chinesischer Händler daran dachte, der Nachfrage nach diesen Artikeln gerecht zu werden, wurden sie schon beim europäischen „Master“ gestohlen. Die westländischen Schuhe wurden meistens verächtlich behandelt; sie wurden nur an Regentagen, wenn die Strasse voll Wasser und weichem Kot war, getragen, weil die chinesischen Schuhe zu gut dafür waren. Dann kam aber die Revolution. Ihre Nachwirkungen fanden in Schanghai ihren Ausdruck in einem westländischen Modefieber. „Wer nicht mit der Mode geht, gilt als ein armer Mann“, sagt ein chinesisches Sprichwort. Nun, die Jungchinesen wollten zeigen, dass sie nicht arm waren. Ihre Kaufkraft zeigt die Schanghaier Zollstatistik bei der Einfuhr von Mützen, Tuchen, Schuhen und sonstigen Bedarfsartikeln; und was nicht verkauft ist, liegt in den Schaufenstern der Kaufläden, die über Nacht ihre alten chinesischen Ladenhüter mit europäischem Flitter vertauscht haben. Das Modefieber hat nachgelassen; aber wer noch von ihm gepackt ist, wird es nicht mehr los; das Fieber ist chronisch geworden. Zur Lehre und Mahnung der in Schanghai lebenden Ausländer will ich eine Geschichte von meinem frühern Freund Kang Lou hui erzählen, der an jedem Geschäft, das mit ausländischen Kleidungssachen handelte, in weitem Bogen vorüberging. Trotzdem zählte mein Freund Kang zu den am Besten gekleideten chinesischen Jünglingen der Weltstadt Shanghai. Bald kleidete er sich im gewöhnlichen Strassenanzug, bald in würdigen Gehrock mit gestreiften Hosen, dann trug er einen eleganten Schwalbenschwanzrock, und des Abends zeigte er sich öfter in der Foochow Road im „Smoking“ oder in Frack und weisser Binde. Es war erstaunlich, über welchen Kleiderreichtum Kang Lou hui verfügte; dabei verdiente er monatlich knapp fünfundzwanzig Dollar und besass keinen Zent Barvermögen. Als ich ihn eines Tages in seiner Wohnung, die aus einem einzigen, dürftig eingerichteten Zimmer bestand, aufsuchte und er mir in einem einfachen chinesischen Gewand entgegenkam, schaute ich vergeblich nach einer Kleidertruhe, die die Kleiderherrlichkeiten bergen konnte. Ich fragte meinen Freund vertraulich, wie er seinen Kleiderluxus ermögliche. Darüber — 56 — gab er mir nach einigem Zögern vertraulich Auskunft. Freund Kang sagte flüsternd: „Der ganze Kleiderluxus kostet mich monatlich drei mexikanische Dollar. Nichts von Dem, was ich am Leibe trage, nenne ich mein eigen. Alles ist — gemietet. Ein Freund von mir, der „Boy“ bei einem gutmütigen ausländischen Junggesellen ist, besorgt mir täglich Kragen, Taschentücher, Schuhe, Strümpfe, Ueberzieher und jeden gewünschten Anzug. Pünktlich liefere ich die Sachen, die auf Kosten des „Masters“ in die Wäsche gehen, ab und empfange neue. Einmal gab es einen schönen Krach. Seitdem hat die Kleiderherrlichkeit ein Ende. Ich hatte nämlich einen Frack samt Schlips und weisser Weste an einen Freund weiterverliehen, der einer Hochzeit beizuwohnen hatte. Wie es so geht, trank er zu viel Schao-hsinger Wein, er verlor das Gleichgewicht in der Rickscha und stürzte in den Strassenschmutz. Kaum hatte ich den Frack zur raschen Reinigung beim Wäscher abgeliefert, da kam auch schon atemlos mein Freund und Kleiderverleiher und sagte, sein „Master“ suche wie ein Wilder nach dem Kleidungsstück, da er zu einem Ball gehen müsse. Als ich dem Boy die Sachlage auseinandersetzte, ging er schimpfend davon. Ich versuchte, mich am nächsten Tag mit ihm auszusöhnen, und versprach, ihm vom kommenden Monat ab vier Dollar zu zahlen; ich bot ihm fünf und sechs Dollar. Der Freund blieb hart, seitdem ihn sein ausländischer Herr für den verlorenen Frack windelweich zerhauen hatte.“ Kang Lou hui schloss sein Geständnis traurigen Antlitzes. Verzweifelnd gestand er mir zum Schluss, dass er in den nächsten vierzehn Tagen zwei Hochzeiten, einer Beerdigung und zehn Nachmittagstees, bei denen er in moderner ausländischer Kleidung erscheinen will, auf dem Kalender angemerkt habe. Zur Zeit ist er auf der Suche nach einem dummen Ausländer und einem bestechlichen „Boy“, die seiner Kleidernot abhelfen.
D urch die chinesische Stadt führt der Weg; die Sonne brennt senkrecht auf die blauen Tuchblenden, die von Haus zu Haus auf schwanken Bambusstäben über die winklige Strasse gespannt sind. Müde Lastträger keuchen vor mir her und scheuchen buntschillernde scheinbar phosphorisierende Fliegen auf, die über eine süsse Melonenscheibe hergefallen sind. Noch zwei Häuser, und ich bin angelangt. Auf dem Ladenschild steht: „Berghütte für zusammengekehrtes Laub“. Das ist der Buchladen des Herrn Tschen Wai ku. Die hohen Regale mit unzähligen Bänden, deren Titel durch herausragende Papierfetzchen kenntlich gemacht sind, klettern an den zwei Wänden des engen Ladens empor. Im Hintergrund blickt man in ein Zimmer, darin zwei Lehrlinge, zwei Verkäufer und der Buchhalter gerade ihr Mittagsmahl einnehmen; sie haben lange, weichgekochte Nudeln zwischen den Esstäbchen und gurgeln sie geschickt in den Magen. Der Lehrling bemerkte mich zuerst, und er rief in den Raum: „Der Ausländer ist gekommen.“ Wem der Ruf galt, wusste ich. Bald trat die Gestalt des Herrn Tschen, die unwillkürlich an den greisen Tschang Tschi tung erinnert, aus dem Hinterzimmer in den Laden. Das Gesicht ist klein und runzelig; ein weisses Ziegenbärtchen hängt am Kinn herab. Tschen wies mir mit artigen Komplimenten den Kundenstuhl an, und er selbst nahm seinen gewohnten Sitz hinter dem Ladentisch ein. In seiner Hand hielt er einen Nephritgriff, aus dem ein halbes Dutzend Adlerfedern strahlenförmig auseinandergingen und doch ein einheitliches Ganze bildeten: einen Fächer. Herr Tschen fächelte sich Kühlung zu. Dabei fiel mein Blick auf die Rückenwand des Fächers, auf der die braunweissen Farbentönungen eine flüchtig skizzierte Gebirgslandschaft darstellten. „Ein Geschenk meines Sohnes, der in Tschekiang Beamter ist,“ sagte Herr Tschen kurz, wie das seine Art ist. Eine bessere Anknüpfung für mein Gespräch hätte ich kaum finden können; sie ersparte mir die Phrasen, ob mein Gegenüber schon gespeist habe und in seinem Glückspalast Alles wohl sei. „So, ihr Sohn ist Beamter. Er wird wohl jetzt schwierige Zeiten durchmachen müssen.“ Tschen wehrte ab. „Tschekiang ist ruhig und wird es bleiben.“ Haben sie Nachrichten von dort? Herr Tschen knisterte mit seinen dürren Fingern an der Seitentasche und zog einen zerknitterten Brief heraus. „Den hat er mir vor — 58 — Kurzem geschrieben. In Tschekiang lachen die Beamten über die unreifen Hitzköpfe, die Yüan Schih kai „bestrafen“ wollen. Der lässt sich nicht bestrafen. Die Republik ist doch kein Schulhaus. Ich sah, dass Tschen Wai ku heute in der besten Laune war, über Politik zu sprechen, und hielt ihn bei der Stange. „Ich bin Ausländer, Herr Tschen, und muss bei den inneren Wirren Ihres Landes unparteiisch bleiben. Ich möchte nur Ihre Meinung über die Lage hören, um die Volksstimmung zu ergründen. Ich sehne mich nach Ihrer Belehrung.“ Herr Tschen machte eine geschmeichelte Verbeugung und fächelte. Er schob die feingesponnenen Aermel zurück, damit die dürre Haut auch ein wenig gekühlt werde.
„Ja,“ sprach er dann etwas zögernd, „was ich Ihnen heute sagen werde, klingt verschieden von dem, was ich Ihnen vor zwei Jahren gesagt habe, als es in Wu tschang losging.“ Ich erinnerte mich rasch, dass damals der alte Tschen den republikanischen Segen über Alles pries. „Sehen Sie, damals fuhr unsere Volksklasse auf zwei Schiffen. Jeder stand mit einem Fuss auf dem einen, mit dem andern Fuss auf dem andern Boot. Niemand hatte Vertrauen zu den Mandschus. Und als der Augenblick gekommen war, sprang Alles auf das Boot der „Autoritätsverwerfer“.“
„Na, so billig war die Fahrt nicht,“ warf ich etwas spöttisch ein. Herr Tschen überhörte gern die Bemerkung, da sie in ihm unliebsame Erinnerungen weckte. Wie gehörig wurde er damals um des Grundsatzes der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit willen geschröpft, und er musste schliesslich als Ausdruck seiner innern Gesinnung die neue Regenbogenflagge hissen.
„Heute fahren wir nur auf einem Schiff,“ sagte Herr Tschen sehr stolz. „Wir haben Vertrauen zu Yüan Schih kai.“
„Also haben die Hetzartikel der Kuo min tang, in denen Yüan Schih kai als Mörder, Vaterlandsverräter, Volksbetrüger usw. bezeichnet wurde, keinen Eindruck auf das Volk gemacht?“
„Nein; sie haben nur den Hass des Volkes gegen die Kuo min tang erregt. Nicht deshalb, weil gerade Yüan Schih kai der angegriffene Teil war, sondern das Volk sagte: „Wer solche ungebührlichen Ausdrücke im Mund führt, ist unehrlich.“ Das Volk rückte dadurch nur von der Partei ab, anstatt (was die Kuo min tang beabsichtigte) sich ihr zu nähern. Und schliesslich: was geht es uns arbeitende Bürger an, wenn sich Yüan Schih kai — 59 — nicht genau an Das hält, was ihm einige Alleswisser vorgeschrieben haben? Ein Herrscher, der sich vom Volk in seine Geschäfte reden lässt, hat noch nie lange regiert. Jetzt wird es besser gehen; Yüan wird machen, was er will.“
„Sie haben also Vertrauen zu Yüan Schih kai, Herr Tschen?“
„Ja, das habe ich,“ erwiderte er lebhaft, „nicht nur ich, sondern Jeder unseres Volkes, der sich nach Ruhe und Ordnung sehnt. Wir vertrauen ihm besondern deshalb, weil Yüan Schih kai Chinese ist. Er kennt sein Volk, wie kein Anderer im Reich; er geht auf die Wünsche des Volkes ein, und (dabei flüsterte Herr Tschen) er kennt die Sehnsucht des Volkes.“
In der Nähe klang der Marschschritt einer Patrouille. Herr Tschen blickte etwas ängstlich auf die markigen nordchinesischen Gestalten, und dann neigte er sich über den Ladentisch und flüsterte: „Wenn man auf dem Weg redet, soll man daran denken, dass es im Gras Leute geben kann.“ Ich verstand. Tschen zog mich in das Nebenzimmer, wo seine Angestellten gerade das Mittagsmahl beendet hatten, um ihre Plätze im Laden wieder einzunehmen. Bei einer Tasse Tee sass ich Herrn Tschen nun gegenüber.
„Er kennt die Sehnsucht des Volkes?“ knüpfte ich das unterbrochene Gespräch wieder an.
„Ja,“ nickte Tschen „er weiss, dass die Masse des Volkes einen starken Herrscher will, einen Herrscher, der die edlen Güter der Nation zu wahren weiss. Wenn noch Huang Hsing ans Ruder käme, so wäre unser Volk in kurzer Zeit vernichtet.“ Hier machte Tschen eine Pause und tat einige Züge aus der Wasserpfeife.
„Huang Hsing,“ wiederholte er, indem er das Wort grimmig durch die Zähne zischte. „Noch nie hat unser Volk einen Mann so gehasst wie diesen Verräter. Er ist eine doppelzüngige Schlange. Ich erinnere mich, dass er vor etwa einem Jahr eine bescheiden unterwürfige Eingabe beim Präsidenten Yüan Schih kai gemacht hat. Er klagte darin dem „Ta tsung tung“ in heuchlerischen Worten über die traurige innere Lage; die leichtfertige Jugend erränge die Oberhand und treibe mit den edelsten Gütern des Volkes eitles Spiel. Um das Reich vor innerm Zusammenbruch zu bewahren, empfahl Huang Hsing die nachdrückliche Pflege der alten Tugenden unserer Weisen: Kindesliebe, Bruderpflicht, Treue, Anstand, Aufrichtigkeit, — 60 — Ehrlichkeit und Bescheidenheit. Er erwartete von Anderen, dass sie diese Tugenden pflegen sollten; er selbst lebte auf seine eigne Weise, und er wurde ein warnendes Beispiel für unsere Jugend, dieselbe Jugend, der er Aufsässigkeit und Mangel an Tugend vorwarf. So wie Huang Hsing waren seine Anhänger, die mit ihm die Herrschaft erstrebten. Jetzt ist er im Sonnenland. Das Volk atmet auf. Es kommt sich vor, als ob der Himmel ein Opfer mit Wohlgefallen angenommen habe.“ Tschen schwieg. Ich benutzte die Pause, um mich zu verabschieden, da ich meinen Zweck erreicht und einen Blick in die Volksstimmung getan hatte. „Und wie denken Sie über die Revolution im Allgemeinen?“ fragte ich beim Gehen. Tschen wai ku sann einige Sekunden nach und sagte dann: „Konfuzius sagt: Das Meer trägt ein Boot; das Meer kann im Sturm das Boot umstürzen. Ein Herrscher, der von dem ruhigen Willen des Volkes getragen wird, bleibt oben; ein Herrscher, der das Volk zum Sturm reizt, geht verloren.“
„Und wie deuten Sie diesen Ausspruch auf die heutige Lage?“
Tschen lächelte. „Auf dem weiten Meer fährt Yüan Schih kai allein im Boot. Fern, fern am Ufer stehen Huang Hsing und seine Schwurbrüder und versuchen, mit ihren zarten Händen das grosse Meer in Wallung zu bringen. Kein Wellenschlag berührt das Boot. Yüan Schih kai lacht über die unnütze Kraftanstrengung seiner Feinde am Gestade.“
S eit der Obsthändler Wong Ka long seinen Hökerstand in der Französischen Niederlassung aufgeschlagen hat, macht er glänzende Geschäfte. Ausser seiner reichhaltigen Auswahl von südländischen Früchten, hat er einen rotbetrichterten Grammophon und ein Mundwerk, das dem Rhythmus der Sprechmaschine nicht nachsteht. Der natürliche und der mechanische Apparat werden Wong sicher noch zum reichen Mann machen. Gestern staute sich eine Menge vor seinem Laden, als sein Grammophon ein berühmtes Lied von Lin Pu tsing spielte. Er liess aber den Sänger nicht zu Ende singen, sondern hielt den Apparat an und pries die vorzügliche Güte seiner Aepfel, das schmackhafte Fleisch der Bananen und die köstliche Frische der Lai tschis. „Ihr dünkt euch wie die Schlemmerkönige Yau und Schun, wenn ihr von meinen Früchten esst!“ rief der Händler in die Menge. Das Lockwort brachte ihm einige Käufer. „Ich werde ein Lied spielen lassen, das Ihr noch nie gehört habt, wenn ich innerhalb der nächsten fünf Minuten für zwanzig Zents Früchte verkaufe“, rief Wong weiter und harrte der Kunden. In zwei Minuten hatte er für zehn Zent Früchte verkauft. „Das Lied das gespielt wird, ist eine wunderbare Melodie. Es klingt schöner als der Sang des Goldvogels in den Azurbergen und feierlicher als Tempelmusik. Wenn ihr es hört, werdet ihr alles Leid vergessen; wohin ihr geht, wird euch der köstliche Gesang folgen.“ Wong verkaufte sechs Bananen. „Ihr müsst wissen, das Lied kommt vom Ausland“, fuhr er fort. „Könige, Fürsten, Präsidenten und die „hundert Familien“ (Volk) sind von ihm in Bann geschlagen, weil keine andre Melodie erfunden wurde, die ihr gleich stünde.“ Wong verkaufte drei Aepfel. „Das Lied wird von den fremden Barbaren gesungen, die daraus die Kraft für all ihre erstaunlichen Künste schöpfen.“ Wong verkaufte ein halbes Dutzend Lai tschis. Und dann rief er mit erhobener Stimme. „Das Lied birgt das Geheimnis der Kraft der Europäer.“ Wong kannte die Seele seines Volkes und er verkaufte soviel, dass er mehr Geld einnahm, als er erwartet hatte. Ehrfürchtig schaute die Menge auf das Grammophon. Wong nahm die Platte mit Lin Pu tsings Lied weg, holte eine andere aus einer Schachtel hervor, blies vorsichtig den Strassenstaub ab und setzte sie ein. Knirschend grub der Stahlstift seine Rillen. Und dann ertönte, kaum vernehmbar die ächzende Weise: „Puppchen, du bist mein Augenstern!“ Wong Ka long rieb sich vergnügt die Hände.
A bend in der Foochow Road, der Strasse der chinesischen Lebewelt. Ueberall elektrischer Lichterglanz und eine sommerlich gekleidete Menge. Zwei ausländische Gestalten sind im Gewühl; offenbar ein Ehepaar. Der Kleidung nach Deutsche und auf der Durchreise. Die schauhungrigen Augen der jungen Frau werden gar nicht satt. „O sieh mal, Männe hier!“, staunt fast jedes Wort, das dem zarten Mund entquillt. Das Paar bahnt sich den Weg durch das Gewühl. Plötzlich bleibt die Frau stehen und klammert sich fester an den Arm des Gatten. „Männe, hör mal!“ spricht die Frau und bleibt lauschend stehen; nein, sie spricht nicht, sie flüstert mit ehrfürchtigem Erschauern. Die Beiden lauschen gespannt. Oben, in einem Teehaus wird in wirrem Durcheinander auf Trommeln, Zimbeln und Metallbecken geschlagen; echt chinesische Musik; „O, Männe, Männe“ jubelt die Frau „wie zivilisiert die Chinesen geworden sind. Die spielen schon — Strauss!“ Mit verklärtem Blick zieht die Frau den Gatten weiter durch das Gewühl. Am nächsten Tag prangt ein besonderes Kapitel im Tagebuch: „Salomes Siegeszug in China.“
D ie neue Zeit hat den Chinesen eine merkwürdige Form der Heirat beschert. Sie kommt so recht dem Bedürfnis der leichtlebigen Welt entgegen und huldigt dem Grundsatz: „Leicht verbunden, leicht getrennt“. Oder im Bilde gesprochen: die neue Heirat verknüpft das junge Paar mit dünnen, zerreissbaren Seidenfäden, während die überlieferten Formen der alten Heirat die Neuvermählten mit festen Ketten zusammenschmieden. Und noch ein Unterschied besteht zwischen der Heirat in der alten und neuen Zeit. Der Jahrhunderte lange Brauch erfordert es, dass sich Braut und Bräutigam vor der Hochzeit nicht von Angesicht zu Angesicht sehen dürfen, und dass der Ehebund durch einen Vermittler, der mit den in Frage kommenden beiden Familien alle Verhandlungen führt, geschlossen wird, dass aber persönliche Zu- und Abneigung der Brautleute dabei in keiner Weise berücksichtigt werden. Wie anders ist dagegen die neue Heirat! Sie wird nur von Herz zu Herz geschlossen. Die Liebenden sehen sich und sprechen sich täglich, und wenn sich die Zeit erfüllt, schreiten sie beherzt zur neuen Ehe, die chinesisch „wen ming tsieh hun“ (zivilisatorische Verbindung) genannt wird. Von dieser Heirat in ihrer neuen Form und den Erfahrungen, die der junge A-sä dabei gemacht hat, soll eine kleine Geschichte handeln.
A-sä war der dritte Sohn des Reisbauern Li, dessen Anwesen hinter dem Sutschouer Kriek, dort, wo die kleine Fähre nach dem schattigen Jessfield führt, lag. A-sä zählte achtzehn Jahre und hatte zwei Brüder, die, nach altem Brauch verheiratet, in glücklicher Ehe lebten. Sie blieben trotz der neuen Zeit, die laut hörbar in den grossen Spinnereien längs des wasserreichen Krieks pochte, und trotz des Lockrufs, der täglich laut — 64 — vernehmlich aus dem Hasten der Weltstadt drang, ihrem Vater treu, plantschten knietief hinter dem Büffelpflug durch die zähschlammige Lehmerde, hegten die zarten Reispflänzchen wie ihren Augapfel und freuten sich des satten Grüns und der blendend weissen ausgereiften Körner. Der kleine A-sä aber schlug früh aus der Art. Seine Seele war weich wie Wachs, und jeder Gang, den er durch die brausende Weltstadt Schanghai machte, liess darin einen unverwischbaren Eindruck zurück. Und A-sä ruhte nicht eher, bis ihn sein Vater den bäuerlichen Arbeitspflichten entband und ihn in eine westländische Schule schickte, wo er Chinesisch, Englisch und Bibellesen lernte. A-sä wuchs frei und selbstbewusst auf. Als er sechzehn Jahr alt war, fand er eine Stelle in einem grossen ausländischen Geschäft in der Nähe des Szemalu. Dort war auch eine Buchhandlung. Und eines Tages entdeckte er ein Buch, das er glühenden Kopfes las. Es war eine Uebersetzung aus dem Französischen, und der Verfasser war ein gewisser Tso la. Vor A-sä tat sich eine neue Welt auf, zu der sich seine weiche Seele unwiderstehlich hingezogen fühlte. Das, was ihn so hinriss, war der ungezwungene Verkehr zwischen Geschlecht und Geschlecht. Noch mehr staunte er, als ihm eines Tages in der Zeitung eine Notiz über die neue Form der Ehe in die Augen fiel, die in einem andern Blatt sogar mit einem kleinen Gedicht verherrlicht wurde. Der Gedanke an diese neue Art Heirat verbunden mit dem gewaltigen Eindruck, den das Buch in ihm hinterlassen hatte, trieb A-sä Nächte lang den Schlaf aus den Augen. Er war entschlossen, die neue Ehe zu wagen, eingedenk des Sprichwortes „i ko jen bu suan i ko jen“ (Ein Mensch ist noch kein Mensch), was ihm auch ein gelerntes Bibelwort bestätigte, das da heisst: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Gerade in den Tagen, wo er den Entschluss zu heiraten gefasst hatte, wollte es der Zufall, dass der alte Li seinen Jüngsten auf sein heiratsfähiges Alter aufmerksam machte. A-sä murmelte etwas vor sich hin und schwieg. Mächtig flackerte aber sein Zorn auf, als ihm ein an den Vater gerichteter Brief in die Hände fiel, worin ein Heiratsvermittler mitteilte, dass A-pao, des wohlhabenden Reisbauern Tsung Tochter, ein passendes Ehegespons für seinen Jüngsten sei. Mit einem Gesicht, das vor Zorn fahl wie gebleichtes Strohgeflecht war, trat A-sä am Abend, den Brief in seinen Händen, vor seinen Vater und schrie mit bebenden Lippen, dass er keinen Heiratsvermittler brauche, dass er auf „wen ming Art“ selbst — 65 — seine Frau suche, und dass er von heute an überhaupt aus dem Familienverband der Li ausscheide! An der niedrigen Tür blieb A-sä stehen, schaute zum letzten Mal den verdutzten Alten an und lief trotzigen Herzens in die Nacht.
Jeden Abend, wenn das Geschäft schloss, betrat A-sä sein in der Nähe gemietetes Zimmer, schlüpfte in ein kremefarbiges Gewand, glättete vor dem Spiegel selbstgefällig das Haar zu einem straffen Scheitel und liess sich von dem Menschenstrom durch die Strassen treiben. A-sä ging auf Freiersfüssen. Jedes weibliche Wesen, das an ihm vorbeihuschte, musterte er mit seinen frechen, achtzehnjährigen Augen wie ein Dreissigjähriger. Und gar oft wurde sein Blick verständnisvoll erwidert. Aber das war nicht, was A-sä suchte; er suchte eine Lebensgefährtin. Und als er sie in dem Strassengewühl schliesslich nicht fand, wanderte er am Abend in den stilleren Gassen der Weltstadt umher. Das Glück war ihm hold. Am vierten Abend machte er die Bekanntschaft eines Mädchens, das Tags über in der Spinnerei Baumwolle zupfte und mit ihrem geringen Verdienst sich und ihre alte Mutter ernährte. Die Spinnerin war ein schüchternes, sechzehnjähriges Ding, das nur die Aussenränder der Stadt betrat, um nicht in dem grossen Strudel verschlungen zu werden; ihre Freude war „hoch wie der Himmel und allumspannend wie die Erde“, dass sie die Bekanntschaft des sich so vornehm gebärdenden A-sä gemacht hatte. Und wie verstand er zu erzählen, wenn sie mit ihm am Abend, der gar mondbeglänzt und voll weicher Luft war, auf einsamem Feldrain sass! Immer wieder musste sie ihm die kleinen, von rauher Arbeit erhärteten Händchen hinhalten, damit er sie kosend streichele, hübsch still sitzen, wenn seine zartgliedrigen Tags über geschäftig über das Rechenbrett gleitenden Hände, über ihre weichen Wangen fuhren. Und einmal fasste er sogar ihren Kopf derb zwischen den Händen, sah sie mit verlangenden Augen an und berührte seine Lippen mit den ihren. Und voll von Glücklichsein und Reue sprang er auf und beteuerte entschuldigend: „So steht es im Buch, ganz genau so!“ Eng umschlungen, wie zwei, die zusammengehören, gingen sie dann schweigsam den Feldweg entlang und betraten die beleuchtete Strasse. A-sä hatte das Einverständnis des Mädchens, seine Frau zu werden.
Nun stand der Hochzeit nichts mehr im Wege. Ohne den „Wind- und Wasserdoktor“ zu befragen, setzten Beide, voll — 66 — zehrender Ungeduld, den Freudentag fest. Und sie fuhren, sonntäglich gekleidet, zum Standesbeamten in der chinesischen Stadt. Krampfhaft presste A-sä ein kleines Kästchen in der Hand, darin wohlverborgen zwei messingvergoldete Eheringe lagen. Und das junge Paar trat vor den westländisch gekleideten, nervös blickenden Beamten, der sie zur Ehe zusammenführte. A-sä und das Mädchen wechselten die Ringe und fuhren in die Niederlassung zurück. Jetzt waren sie ein Ehepaar. Galant führte der Gatte seine Frau in den Garten Tschang Su ho, wo er sie mit Wein und Gebäck bewirtete und am Abend wohnten sie einer Vorstellung im Theater Hsin wu tai bei, wo gerade der fünfte Teil der „Kameliendame“ aufgeführt wurde. Während die junge Frau staunenden Auges über das Geländer stierte, fächelte sich A-sä selbstzufrieden und tat blasiert, als ob er den ganzen Rummel kenne.
Wenn die Mäuse satt sind, schmeckt das Mehl bitter. So erging es auch A-sä in seinem Ehestand. Die kleinen Nadelstiche der Ehe brachten ihn zur Verzweiflung. Wo er beständiges Glück erhofft hatte (wie es in dem Buche stand), fand er den nüchternsten Alltag. Und er kam zu der Feststellung, dass seine glücklichsten Stunden vor der Zivilisationsheirat gelegen hatten; damals, als er sich so zärtlich an seine Liebe schmiegen, ihr Beseligendes beteuern und zuflüstern konnte, während er ihr die Händchen und die Wangen streichelte. Ja, in diese Zeit sehnte er sich zurück. Und als diese Sehnsucht immer stärker wurde, schenkte er seiner Frau seinen Ehering, den sie mit dem ihren auf dem Pfandhaus versetzen sollte, und bedeutete ihr, dass nun die Zeit für sie wieder gekommen sei, in der Spinnerei zu arbeiten. Ein wenig schluchzend verliess die Frau das Haus: sie tröstete sich aber, als ihr A-sä beim Abschied sagte, dass Alles so kommen müsse, weil es so in dem französischen Buche stünde.
A-sä atmete auf. Nun war er wieder frei. Und es gelang ihm bald wieder, nach vorangegangenen beglückenden Wochen und Stunden, ein Mädchen für eine Heirat nach neuer Art zu begeistern. Und wieder folgten die kurze Zeremonie vor dem Standesbeamten, Wein und Gebäck in Tschang Su ho und Festvorstellung im Hsin wu tai. Und wieder kamen die kleinen Nadelstiche der Ehe. Schliesslich stand auch die zweite Frau auf der Strasse. A-sä schwor sich nun, mit dem Heiraten zu — 67 — warten, bis er etwas älter wäre. Dann stürzte er sich in die Arbeit, in der er völlig aufging. Schon hatte er seine leichtsinnigen Heiraten vergessen, als er eines Tages eine sanfte Mahnung erhielt, vor dem Gericht zu erscheinen. Er ging und fand dort seine zwei gewesenen Frauen, die ihn gemeinsam auf Entschädigung verklagt hatten. A-sä musste sich dem harten Urteilsspruch fügen. Mit einem Gehalt von fünfzehn Dollar ernährt er jetzt ausser sich zwei geschiedene Frauen und sorgt für das Wohlergehen von zwei Kindern. Das war das Nachspiel zu A-säs „Zivilisationsheiraten“.
Wenn A-sä jetzt spät in die Nacht hinein arbeitet, denkt er oft an die Hütte inmitten der sprossenden Reisfelder jenseits des Sutschouer Krieks, und er wartet Tag für Tag, dass der Vater seinen reuigen Sohn zurückruft und ihn mit der Tochter des wohlhabenden Reisbauern Tsung nach altem Brauch vermählt. Ja, er will sogar ein tüchtiger Reisbauer werden und knietief mit den Wasserbüffeln durch den Schlamm waten. Trotz Allem, was er auf der westländischen Schule und in dem grossen ausländischen Geschäft gelernt hat!
N ichts ist beständiger, als der Wechsel.“ Wenn dieses Wort irgendwo Anwendung finden kann, so passt es auf das chinesische Zeitungswesen in Schanghai. Die feste Wurzel des chinesischen Pressewesens liegt in der Schantung Road, wo fünf Zeitungen, die die alte Pekinger Regierung zwar häufig bissig verhöhnt haben, aber sie nie zu stürzen drohten, seit vielen Jahren ihre redaktionellen Zelte aufgeschlagen haben. Aber diese Zeitungen allein machen nicht die öffentliche Meinung aus. Ausser ihnen gibt es noch fünfzehn andere, und der Grund, auf dem diese stehen, gleicht einem unsichern, wandernden Moorboden. Jeder einsichtige, geschäftsmässig rechnende Chinese sagt sich, dass für zwanzig politische Tagesblätter in Schanghai kein Raum sein kann, und umso weniger, als sie ja paarweise oder zur Vieren in genau das gleiche Horn stossen. Echt chinesische Eigenbrödelei, ein falsches Komma hinter irgendeinem parteipolitischen Satz, eine stärkere Betonung eines bestimmten Parteiprogramms und die Vernachlässigung minder wichtiger Dinge, persönliche Feindschaften der hinter der Presse stehenden Männer und viele andern Gründe mehr haben bisher verhindert, dass eine Verschmelzung herbeigeführt werden konnte. Der Wettbewerb im Kampf um den Leser wird mit äusserster Spannung geführt. Jede Zeitung sucht auf irgendeinem Gebiet ihre besondere Stärke. Die eine legt sie in einen flottgeschriebenen Leitartikel, die andere in masslose Beschimpfung und Ausplauderung süsser Geheimnisse politischer Gegner; andere suchen die Gunst ihrer Leser zu gewinnen, indem sie für die Einführung der freien Liebe eintreten, andere bringen geschätzte Anekdoten unter Vermischtes oder Tagesereignisse in Karikaturen, und wieder andere wollen durch eine vornehm würdevolle, an väterliche Ermahnungen erinnernde Haltung bei Beurteilung politischer Fragen Eindruck machen. Wie gesagt, sind nur fünf dieser Zeitungen wirklich lebensfähig; die anderen werden durch starke Zuschüsse einzelner Privatkreise unterhalten, die aber aufhören zu fliessen, sobald die Geldgeber glauben, dass ihr Name genügend vervolkstümlicht sei.
Um dem bekannten dringenden Bedürfnis abzuhelfen, wurde vor einigen Monaten die einundzwanzigste Zeitung gegründet. — 69 — Natürlich auf Grund einer neuen „Stärke“. Diese lag in der „Benamsung“ des neuen Presserzeugnisses. Ehe das Blatt war, war der Titel.
Der Gründer war ein Lebemann, Namens Tsang, den das von seinem Grossvater Anderen abgenommene Geld juckte, und der keinen andern Ausweg wusste, als die ihm noch übriggebliebenen vierzigtausend Dollar, die nebenbei auch zum Erkaufen der unwandelbaren Treue berückender Sängerinnen dienten, in einem Zeitungsunternehmen anzulegen. Um nicht allein sein ganzes Geld zu wagen, sah er sich nach einem Teilhaber um. Den fand er durch die Einführung eines Freundes in Gestalt des Herrn Kung. Dieser verfügte „zufällig“ über kein flüssiges Kapital, konnte aber seine Kreditfähigkeit durch Aktien eines in der tibetischen Provinz Kham gelegenen Goldbergwerks beweisen, über die aber an jenem Tage gerade keine Kursnotierung vorlag. Als Dritter im Bund gesellte sich zu Tsang und Kung ein Herr Wen, der sich mit „geistigem Kapital“ an dem Unternehmen beteiligte. Es war der Mann mit der „Idee“, derselbe, der den zugkräftigen Namen „Tung pao“ vorschlug; die Stärke lag aber eigentlich in dem gleichzeitig vorgeschlagenen, bei chinesischen Zeitungen üblichen englischen Untertitel: „The Torpedo boat“.
Herr Wen wurde neben seiner Eigenschaft als Teilhaber zum Chefredakteur bestellt. Den Ausschlag gaben bei dieser Berufung die Verdienste, die er sich um das Gelingen der Revolution erworben hatte; er wies nämlich nach, dass er bei der Belagerung von Nanking höchst eigenhändig einen Schuss aus einem alten Geschütz abgefeuert hatte, ohne dass das Rohr barst, wodurch er das gefährdete Leben der umstehenden Bedienungsmannschaft gerettet hatte. Dafür erhielt er die Rettungsmedaille. Zum Verkehr mit den führenden Regierungskreisen in Schanghai und Umgebung war das zweifellos ein wichtiger Belang. Wen wurde auch mit der Oberaufsicht der geschäftlichen Leitung betraut. Seine Umsicht konnte er schon am folgenden Tag beweisen, als es galt, bei einer Druckerei die Druckkosten der neuen Zeitung, die vorläufig in zweitausend Exemplaren erscheinen sollte, festzusetzen. Er entledigte sich seiner Aufgabe mit einer grossen Kennerschaft chinesischer gewerblicher Betriebe. Zunächst bestellte er nur tausend Exemplare. Die Druckkosten für die ungedruckten restlichen tausend teilte er brüderlich mit dem Geschäftsführer der Druckerei, der sich dafür verpflichten musste, die tägliche Rechnung auf zweitausend Stück — 70 — auszustellen. Wen betrachtete diese fortlaufende Nebeneinnahme als eine angemessene Ergänzung seines monatlichen Gehalts in Höhe von hundert Dollar.
Endlich war der Vorabend des Tages gekommen, an dem „Das Torpedoboot“ zum ersten Male erscheinen sollte. Herr Wen schrieb den Leitartikel, der in Form und Inhalt alles Bisherige in den Schatten stellte. Es wäre schade, wenn seine Ausführungen der Nachwelt nicht erhalten blieben. Hier sind sie:
„Die niedere Redaktion gibt heute zum ersten Mal „Das Torpedoboot“ heraus. Weil unsere Zeitung klein von Gestalt ist, haben wir ihr diesen Namen gegeben. Es gibt in Schanghai auch grosse Zeitungen. Sie gleichen schweren, unbeholfenen Panzerschiffen, die aber den Angriffen unseres Boots auf die Dauer nicht standhalten können. Mit stets wachender Mannschaft umkreisen wir die grossen Schiffe und beunruhigen sie bei Tag und Nacht, bis ein wohlgezielter Schuss eines nach dem andern in die Tiefe gurgeln lässt. Wir nehmen den Kampf mit jedem Gegner auf, der die Rechte unseres heiss geliebten Brudervolks bedroht. Und wenn die neue Regierung die Volksrechte mit Füssen tritt, so werden wir auch gegen sie kämpfen und siegen. Je mehr uns die Allgemeinheit durch das eifrige Lesen unsers Blattes unterstützt, desto erfolgreicher vermögen wir ihre Rechte zu schützen. Wir sind erst dann kampfunfähig, wenn der letzte Schuss aus dem Rohr ist. Damit kein Munitionsmangel eintritt, bitten wir ehrerbietig um dauernde Unterstützung.“
Der Hauptgründer, Herr Tsang, war entzückt von der ersten Ausgabe. Er verweilte Stunden lang in der Redaktion und schaute fast ehrfürchtig den Chefredakteur an, der eifrig die zweite Nummer vorbereitete. Draussen vor der Redaktion hielt den ganzen Nachmittag ein Automobil, das ab und zu zur Reklame ratterte, um die wohlfundierte neue Zeitungsgründung nach aussen hin würdig zu vertreten.
So verging eine Woche. Der Eifer des Herrn Tsang liess nach. Er suchte Zerstreuung bei Fräulein „Kostbarer Edelstein“, die ihm oft bis zum frühen Morgen seine Lieblingslieder singen musste. Der Teilhaber Kung, der Mann mit den tibetischen Goldaktien, kannte den verschwiegenen Aufenthalt seines Geschäftsfreundes und besuchte ihn. Er komme im Auftrag des — 71 — Chefredakteurs, der Munitionsmangel festgestellt habe und um tausend Dollar bitte. In zwei Minuten war die Bankanweisung ausgeschrieben; Kung kam öfter, etwa alle zwei Tage, und erhielt in den Weinlaunen Tsangs anstandslos das Geld.
Als Kung eines Tags den Chefredakteur Wen sah, klagte ihm dieser wirklich über Munitionsmangel. Kung als Goldgrubenbesitzer in Tibet legte rasch tausend Dollar auf den Tisch des Hauses. Das beruhigte Wen. Inzwischen liefen täglich Briefe bei der Redaktion ein, die auf die allgemeine Begeisterung hinwiesen, mit der „Das Torpedoboot“ in den mittelchinesischen Provinzen gelesen wurde. Mit diesen Briefen, die er selbst bestellt hatte, ging der Chefredakteur zu dem Hauptgründer und Lebemann Tsang und regte die Erhöhung der Auflage von zwei- auf dreitausend an. Der Vorschlag wurde genehmigt, aber wie bisher kamen nur tausend aus dem Druck; die Druckkosten für die übrigen zweitausend waren der gemeinsame Gewinn des Geschäftsführers der Druckerei und des Chefredakteurs.
Chefredakteur Wen fühlte, dass er reich wurde. Und das Alles auf Kosten des kaltblütig vor Nanking abgefeuerten Kanonenschusses. Es fehlten nur noch zehntausend Dollar, dann war er angehender Grosskapitalist. Er schrieb fein säuberlich folgenden Brief an eine hochstehende Persönlichkeit:
„Euer Hochwohlgeboren! In diesen schwierigen Uebergangszeiten ist eine charaktervolle Zeitung für die Volksaufklärung unbedingt erforderlich. Ohne Zweifel werden Sie eigene Interessen haben, die Sie in diesen Zeiten vertreten sehen wünschen. Der grösste Teil der hiesigen Presse ist Ihnen feindlich gesinnt und arbeitet auf Ihren Sturz hin. Wenn Sie Ihren einträglichen Posten weiter zu halten wünschen (ich selbst weiss, wie berechtigt die Angriffe der Ihnen feindlich gesinnten Presse sind) bin ich gern bereit, höhern Orts für Sie einzutreten. Ihre Einwilligung hierzu werde ich darin bestätigt finden, dass Sie mir bis morgen früh zehntausend Dollar überweisen.“
Man muss es der neuen Zeit lassen, dass sie in gewissen Kreisen ein merkwürdig feines Verständnis für den Wert einer „guten Presse“ entwickelt hat. Am folgenden Tag war der Chefredakteur Wen im Besitz der gewünschten Summe. So, jetzt noch einen Griff in die Geschäftskasse, und fort war er.
Da sich in Folge des plötzlichen Ausscheidens des Chefredakteurs Niemand fand, der einer solch umsichtigen Geschäftsführung gewachsen gewesen wäre, musste „Das Torpedoboot“ an sich selbst zu Grunde gehen. In einer andern Tageszeitung erschien Tags darauf eine Notiz, in der mitgeteilt wurde, dass „Das Torpedoboot“ im Kampf mit dem überlegenen Feind gerammt worden und auf der Stelle gesunken wäre. Bis heute ist es noch nicht gehoben worden.
Der Lebemann Tsang ist um eine Erfahrung reicher, und er weint seinen Schmerz jetzt beim „Kostbaren Edelstein“ aus.
Kung, der Mann mit den tibetischen Goldaktien, hat einige tausend Dollar bei der Zeitungsgründung verdient. Denn die angeblich damals vom Chefredakteur alle zwei Tage verlangten Summen hat dieser natürlich nie zu sehen bekommen.
Der Chefredakteur Wen aber sitzt im sichern Port. Er beabsichtigt, mit dem rasch verdienten Geld eine Gesellschaft für „Versicherung gegen Grossstadtgefahren“ zu gründen.
V or Monaten brachte eine Zeitung in Schanghai folgende Notiz.
Ein junger Chinese, der westländische Kleidung trug, geriet mit seinem Vater in Streit, in dessen Verlauf der Sohn ausfällig wurde und dem Vater mit einem Stock ins Gesicht schlug. Als der Vater seinen Sohn dafür züchtigen wollte, zog letzterer einen Revolver aus der Tasche. Zum Glück schritt rechtzeitig die Polizei ein, die grösseres Unglück verhütete. Den Anlass zum Streit soll die Aufforderung des Vaters gegeben haben, der Sohn solle sich seiner westländischen Kleidung entledigen und in der herkömmlichen Tracht den Ahnen die vorgeschriebenen Opfer darbringen.
Das Ereignis ist ein Kulturdokument, das zwischen den paar Zeilen, in denen es dargestellt wurde, unbegrenzte Weiten und Tiefen hat. Es ist das Dokument einer chinesischen Weltstadt, die ein unfiltriertes, gärendes Gemisch von chinesischer und westländischer Kultur ist, ein Gemisch, das die edlen und wertvollen Teile der beiden Kulturen zu untätiger Verbannung ausscheidet, während sich die leichtbeweglichen, materialistischen Teile zu einem berauschenden Trank vermischen, der nach Ansicht Vieler das künftige Lebenselixier Chinas werden soll. Lange habe ich die fünfzeilige Notiz in meiner Westentasche herumgetragen, sie an stillen Abenden hervorgeholt, durch die Finger gleiten lassen und über sie nachgedacht. Ich hab mich im Geist in die Gedankenwelt der beiden Streitenden versenkt, ihre Gründe und Gegengründe gehört, und zuletzt standen sie in meiner Phantasie greifbar vor mir. Und als ich an einem Sommerabend, während vom Fluss weiche, erfrischende Luft wehte, überlegend am Schreibtisch sass, da sagte ich plötzlich laut vor mich hin: „Komm, alter Vater, erzähle mir von Deinem Schmerz und Deinem Zorn.“
Und der Alte erzählte:
Vor fünfzehn Jahren lebte ich in dem Fischerdorf Kiang wan, jenem Ort zwischen Schanghai und Wusung, wo vor einem Jahr der Ausländer in dem grossen Schmetterling durch die Luft flog. Damals bewohnte ich eine kleine Hütte, unterrichtete die Dorfjugend und nährte mich mit Frau und Sohn redlich. Ja, der Himmel hatte mir einen „Edelstein“ geschenkt, der mein Stolz und meine Freude war. Einen Sohn, den ich mir im Geiste der konfuzischen Lebensregeln erziehen wollte, der meiner Seele opferte, wenn dereinst die schattigen Lebensbäume über meinem Grabe rauschten. Ich war nur ein armer Gelehrter, trug aber in meinem Herzen Hochachtung vor dem grossen Unsichtbaren, der die Gestirne in ihren Bahnen lenkt, der aus schlechten Menschen gute und aus guten schlechte zu schaffen vermag.
Trotzdem ich mich eines ordentlichen Lebenswandels befleissigte, strafte mich der Himmel an meinem Sohn. Ich glaube nicht, dass es meine Schuld war, sondern nehme an, dass irgend einer meiner Ahnen Böses trieb, und dass die Strafe des Himmels erst nach vielen Jahrzehnten wirksam ward und gerade meinen Sohn traf.
Bis zu seinem zwölften Jahre war A-tou fleissig und treu. Eines Tages überredete mich ein Verwandter, doch mein einsames Lehrerleben aufzugeben und mich mit dem kleinen ersparten Kapital (es waren etwa sechshundert Stränge Lochkäsch) in Schanghai, der Stadt der Fremden, niederzulassen. Schweren Herzens verkaufte ich meine Hütte und zog nach Schanghai.
Wie mir ums Herz wurde, als ich mit Frau und Kind durch die Strassen der grossen Stadt zog, an den riesigen Steinmauern entlang schritt, die jeden Augenblick einzustürzen drohten, als ich nur ein Stückchen Himmel und keine Sonne sah, will ich nicht schildern. Mir war zu Mute, als ob ich durch die unterlassene Darbringung von Opfern meine Ahnen aufs Schwerste beleidigt hätte und jede Minute von ihrer Strafe ereilt werden könnte. Die Freude meines jungen A-tou war aber ohne Grenzen. Ueberall blieb er stehen. Alles fesselte ihn, über alles wollte er Auskunft haben.
Ich fühlte, wie schon beim ersten Betreten die Weltstadt meinen Jungen in ihre Fangarme nahm, und machte mir gleich selbst Vorwürfe, dass ich ihn nicht streng genug im Geiste unserer Väter erzogen hatte; denn das wäre ein Mittel gewesen, — 75 — ihn gegen alle Einflüsse, die mit unserer Weltanschauung nicht im Einklang stehen, widerstandsfähig zu machen. Wer aber der Strafe des Himmels verfallen ist, treibt unwiderstehlich dem Zusammenbruch zu; dagegen hält auch die gründlichste Erziehung nicht Stand. So ging es meinem Sohne A-tou. Die bösen Einflüsse gewannen in seinem Herzen die Oberhand und sie erfassten auch mich in manchen Stunden des Tages.
Noch heute verfluche ich die Stunde, wo mich ein reicher Freund besuchte und mich bat, meinen Sohn bei ihm in die Lehre zu schicken. Ich gab den damals Fünfzehnjährigen aus der väterlichen Gewalt. Das Unglück schritt schnell. Ab und zu kam er, modisch gekleidet, zu mir, redete hochtönende Worte und gebärdete sich wie ein hochmütiger Ladenbesitzer. Er hatte mitunter Ansichten, die mir als Vater die blasse Scham in die Wangen trieben; er redete vom Sturz von Kaiser und Altar, von einem Staat, wo kein kaiserlicher Beamter, sondern nur das Volk regierte, und dergleichen Dinge mehr. Seine Ansichten waren so fest unerschütterlich, dass ich keine Worte finden konnte, seinen verirrten Geist wieder auf den richtigen Weg zu führen. Ich erinnere mich nur, dass ich ihm in meiner grenzenlosen Wut die Tür gewiesen habe. Mit einem höhnischen verächtlichen Blick, der mir heute noch aus allen Ecken entgegengrinst, wenn ich nur an A-tou denke, verliess er mich.
Eines Tages kam der reiche Freund und klagte bitterlich. Ich ahnte nichts Gutes, und plötzlich gestand er mir, dass A-tou seit drei Tagen dem Geschäft fern geblieben sei. Er glaube, A-tou, der wegen revolutionärer Umtriebe verhaftet werden sollte, sei völlig in die Dienste der geheimen Umsturzgesellschaft getreten. Beim Hören dieser Schmerzensbotschaft war mir, als ob der Taischan eingestürzt sei. Meine Frau sass in der Ecke und weinte; Wochen lang war sie aufgeregt, bis sich eines Tages der Todesgeist in ihre Kehle setzte; da sie zu schwach war, musste sie ihn herunterschlucken und sterben. Sie wurde bei Kiang-wan beigesetzt.
Lange hatte ich von A-tou nichts mehr gehört. Inzwischen brach die Revolution aus. Und da erfuhr ich, dass mein Sohn zwei Jahre im Wutschanger Gefängnis gesessen habe, weil er sich gegen die heilige Person des Kaisers vergehen wollte, indem er den Aufstand predigte und Bomben anfertigte. Als Wu tschang fiel, wurde er aus dem Gefängnis befreit und trat in das — 76 — Volksheer ein, wo er es bald zum Offizier brachte. Das alles erzählte mir ein Kamerad A-tous, der von ihm überredet, als Freiwilliger gegen den Kaiser gekämpft hatte.
In jenen Tagen, als mir die Schande meines Sohnes erzählt wurde, wollte ich mich voller Gram in den Fluss stürzen. Ich vertraute aber auf den „alten Herrn Himmel“, dem ich täglich einige Stäbchen Weihrauch opferte, damit er das Herz meines Sohnes läutere und noch in letzter Stunde auf den rechten Weg führe, den „Weg der Mitte“, den unser Volk Jahrhunderte in schlichter Einfachheit geschritten ist. Ich wünschte mir, A-tou gegenüberzusitzen, und wollte mit ihm plaudern wie damals, als wir den Kiangwaner Fischern beim Netzflicken zuschauten. Ganz schlicht und einfach wollte ich zu ihm sprechen, ihm meinen Gram aus der Seele schütten, ihn väterlich zur Umkehr ermahnen. Vielleicht hatte die rauhe, vom Ausland angesteckte Zeit noch ein Fünkchen Mitleid in meinem Sohne gelassen, das, geschickt zur Flamme entfacht, A-tou zu innigem Verzeihen vor mir auf die Knie gezwungen hätte. Ja, diesem Augenblick sah ich als dem stolzesten meines Lebens entgegen.
Der Himmel erhörte mich, um mich aber nur noch schlimmer zu züchtigen. Eines Tages fuhr ein knatternder ausländischer Wagen ohne Pferde vor meiner schlichten Wohnung vor, und ein westländisch gekleideter Chinese mit einem wippenden Stöckchen in der Hand trat herein. Als er die blaue Brille von seinen Augen nahm, erkannte ich A-tou, der mir zur Begrüssung hochnäsig zurief, er sei jetzt Beamter der neuen Regierung. Das war eine nette Einführung. Den ihm angebotenen Tee wies er verächtlich von sich, weil die Tasse zu schmutzig sei; dabei lief er räsonnierend in den Zimmern umher und wippte dabei immerfort mit dem Stöckchen. Ich alte Einfalt folgte ihm, wie ein ganz gemeiner Kuli seinem Herrn.
Vor dem Papierbild des Schutzgeists unserer Familie blieb A-tou stehen. Trotz der Jämmerlichkeit meiner Lage frohlockte ich innerlich, weil ich glaubte, A-tou wolle dem Schutzgeist seine Rückkunft nach dem väterlichen Hause anzeigen. Statt dessen vollführte er mit der Gerte einen Schlag über das Gesicht des Gottes, dass das Papier klatschend auseinanderriss. Ich schrie vor Schmerz über diese Freveltat laut auf. Verwundert schaute mich A-tou an und befahl mir, den Plunder herunterzureissen. — 77 — Man müsse an nichts anderes als an sich selbst glauben; das sei die beste Religion.
Das war der väterlichen Geduld zu viel zugemutet. Ich hatte bis zum letzten Augenblick gehofft, Gelegenheit zu haben, mit A-tou gütlich zu reden. Jetzt musste ich ihm aber zeigen, dass ich der Vater war und er von meiner Autorität auf die Knie gezwungen werden muss.
„Du Verräter deines Vaterlandes“, herrschte ich ihn an, „du Zerstörer von Gott und Reich, du Vernichter der Ordnung des Volkes, du Zerstörer meines Familienglücks! Ich verlange von dir, dass du alle deine Taten sühnst. Vor dem Grabe deiner Mutter, deren Tod du verschuldet hast!“
Es ist schamlos für einen Vater, einzugestehen, dass die Worte unbeachtet im Raum verhallten. Denn A-tou sass auf dem Opfertisch, liess die Beine schlenkern und wippte verächtlich mit dem Stöckchen; dabei murmelte er etwas von Blödsinn, altem Weib, neuer Zeit, Zivilisation und was sonst mehr. Seine trotzige, unversöhnliche Art steigerte meinen Zorn. Und ehe er sich versah, hatte ich ihn am Kragen gepackt und mit einem Griff ihn mir Auge um Auge auf dem Boden gegenüber gestellt.
„So,“ rief ich, indem ich ihm die westländische Jacke herunterriss, „heraus aus dem fremden Sklavenanzug! Noch heute steckst du dich in die herkömmliche Festkleidung. Wir beide gehen nach Kiang wan, und du verbrennst Weihrauchstäbchen am Grabe deiner Mutter!“
Blitzschnell sauste als Antwort die Gerte über meinen Kopf. Das setzte der Schande die Krone auf. Voller Schmerz hob ich A-tou in die Luft und liess ihn wie einen Reissack auf den Boden fallen. Flugs hatte er sich erhoben, einen Revolver aus der Tasche gezogen und ihn auf mich gerichtet. Da erschien ein „Hsün pu“ und machte dem Streit ein Ende. A-tou fuhr unbelästigt im Wagen davon.
Ich dankte dem Himmel, dass er für seine Tat nicht bestraft worden ist, sondern sah darin ein günstiges Vorzeichen, dass mir der Himmel die Vollziehung der Strafe vorbehielt. Denn A-tou hatte, als er die Hand gegen mich erhob, das schwerste Verbrechen begangen, dessen ein Sohn gegen seinen Vater fähig sein kann. Da braucht man zu keinem Ortsbeamten zu laufen, um den Sohn anzuklagen, denn das ungeschriebene chinesische Familienrecht erkennt in diesem Falle den Vater als den — 78 — alleinigen Richter an. Ebenso wie er einem Sohn das Leben geben kann, so darf er es ihm auch wieder nehmen. Die Freveltat schrie nach Rache.
Zu dieser Zeit geschah es, dass ich den Entschluss fasste, in mein Heimatdorf Kiang wan zurückzukehren; ich besuchte daher öfter das Dorf, um ein Haus ausfindig zu machen, in dem ich wohnen konnte. Kurz nach Sonnenuntergang machte ich mich eines Tages auf den Rückweg von Kiang wan nach Schanghai. Unterwegs kam ich an dem grossen Platz vorbei, wo Chinesen und Ausländer ihre Pferde um die Wette laufen liessen. Das Fest war zu Ende, und Tausende von Menschen strömten auf dem Feldweg zur Bahnstation. Ganz hinten klapperte ein Wagen ohne Pferde. Plötzlich hielt er still. Von einer Ahnung gepackt, rannte ich nach der Stelle und sah, dass der Wagen, vom Weg abgeraten, in tiefem Lehm festsass. Ich sah noch mehr. Nein, ich schrie. Scharf und kurz, dass A-tou, dem der Ruf galt, erschreckt zusammenfuhr und ängstlich um sich blickte. Ha, auf einsamem Feld wirkte die väterliche Autorität.
Mit grimmigem Behagen trat ich an ihn heran, packte ihn wortlos an der Gurgel und zog ihn hinter mir her. Wir gingen quer über das Feld einem kleinen Gräberhain zu. Dort angekommen, drückte ich den Kopf A-tous gegen den frischbewachsenen Grabhügel und sagte kurz: „Dort unten ruht deine Mutter!“ Ich verschränkte die Arme und blickte abwartend auf die kauernde Gestalt.
A-tou wagte nicht aufzuschauen; er lag da wie ein Reissack, sein Rock war zerrissen und mit Lehm bespritzt. Ahnte er, dass sein Richter vor ihm stand?
Und zum zweiten Mal schrie ich ihn an, dass ihm mein Speichel ins Gesicht spritzte: „Dort unten ruht deine Mutter!“ Endlich fand A-tou Worte. Und er fragte leise: „Hast du Weihrauchstäbchen mitgebracht, Vater?“
Eine solche Frage hatte ich nicht erwartet. Was klang nicht alles aus dieser Frage? So schlicht und rein, so fragend und reuevoll klang die Stimme, dass ich von tiefstem Mitleid erfasst wurde, das meine Augen zum Weinen trieb. Mir dünkte, als habe A-tou zum ersten Mal seit Jahren wieder von Herz zu Herz mit mir gesprochen. Ich glaubte seine Stimme zu hören, als wir — 79 — damals in Kiang wan in Eintracht zusammenlebten, und sah plötzlich die Kluft überbrückt, die zwischen meiner und seiner Weltanschauung lag. Sein verirrter Geist war klar geworden: A-tou gedachte seiner Mutter: Meinen stillen Schwur, von dem mir zustehenden Recht Gebrauch zu machen und A-tou lebendigen Leibes in eine Grube zu werfen und Erde darüber zu schaufeln, musste ich brechen. Die Stunde war gar feierlich.
Ich befahl A-tou aufzustehen, und mit tausend Schwüren musste er am Grabe seiner Mutter geloben, ein neuer Mensch zu werden und morgen zur Versöhnung zu opfern. Das tat er.
Weit in Tibet suchte er später sein Arbeitsfeld. Dort kämpfte er für unsere Kultur gegen die Wilden. Bei Li tang ist er gefallen. Nun kann ich zufrieden meinem Lebensabend entgegensehen. Mir bangt nur vor der Frage: „Wer wird mir opfern wenn ich unter den schattigen Lebensbäumen ruhe?“
I ch, Hui tung, traf am achtzehnten Tag des zweiten Monats, dem „Fest des Reinen Glanzes“, in Schanghai ein. Ein deutscher Freund, den ich schon seit Jahren kenne und mit dem ich auf langen Ueberlandreisen in der Provinz Schantung Reis und Lager geteilt hatte, forderte mich auf, zu kommen. In Gedanken weilte ich oft bei ihm, wenn ich, niedergedrückt von der politischen Lage unsers Landes, nach Süden schaute, und ich wünschte oft, das durch die Lüfte sausende Geisterpferd zu sein, um bei meinem Freunde Tröstung zu suchen. Der Himmel hätte es nicht besser einrichten können, als dass er meinem Freunde eingab, mich nach Schanghai einzuladen. Schanghai hat bei uns keinen guten Klang, wie Alles, was im Süden liegt und von dort kommt. Ein Schantunger Sprichwort sagt: „Schao bu dsou nan“ (Wer jung ist, gehe nicht nach Süden.) Da ich das Jugendalter bereits beträchtlich überschritten habe und mein einst pechschwarzes Haar schon Fäden weisser Himmelsseide aufweist, glaubte ich mich gegen die Gefahren des Südens genügend gewappnet. Schon der erste Eindruck, den ich von Schanghai erhielt, war kein guter. Der Wagenzieher, der mich vom Hafen nach der Herberge Tschi tschang tschan brachte, verlangte mir so viel Fahrgeld ab, dass ich dafür in Schantung mindestens fünf Dutzend mit Fleisch und Kohl gefüllte Klösse und mehrere Schälchen Wein hätte kaufen können. In der Herberge wurde mir für teuern Preis ein kleines Zimmer angewiesen, das so düster war, dass ich selbst während des Tages ein Licht anzünden musste. Die Kinder des Wirtes lärmten Tag und Nacht, und aus Eimern, die nicht weit vom Eingang meiner Tür aufgestellt waren, drang ein widerlicher Geruch, den man in dem gesitteten Tsingtau, wo ich mehrere Monate lebte, vergebens suchen würde. Dort herrscht Ordnung, und die Bevölkerung fügt sich willig — 81 — dem höhern Gebot. Die Obrigkeit in Schanghai übt wenig Respekt aus; sonst könnten meine Landsleute die gesundheitlichen Gebote nicht umgehen und den ankommenden Fremdling die übelriechende Luft aus den Eimern einatmen lassen. Zu meinem Erstaunen habe ich dieser Tage von einem Landsmann, der aus der Huang hsiener Gegend stammt, gehört, dass Schanghai, das sich so oft brüstet, die fortschrittlichste Stadt in China zu sein noch nicht einmal Verrichtungen hat, um übelriechende Abflusswässer ablaufen zu lassen. Die Schanghaier sollten einmal nach Tsingtau gehen und sehen, was die Deutschen dort für die Bewohner getan haben. In den ersten Tagen meines Aufenthaltes überkam mich ein Gefühl der Verlassenheit. Von meinem deutschen Freunde abgesehen, hatte ich Niemand, mit dem ich mich in meiner Heimatssprache unterhalten konnte. Der Wirt kam zweimal auf mein Zimmer und knüpfte ein Gespräch an; es wurde auch eine kurze Weile geführt, indem wir gegenseitig Frage und Antwort auf ein Stück Papier schrieben; das langweilte ihn auf die Dauer, und er ging höflich hinaus. Dann sass ich allein auf meinem Zimmer und nahm mir einen Roman vor, den ich laut las, um wenigstens den Klang meiner Heimatssprache zu hören. Von der Strasse drang das unverständliche Sprachgeplärr der Südbarbaren so unartikuliert wie das Schreien des „Küo she“ Vogels herein. Ich setzte manchmal mit dem Lesen ab und lauschte. Wie ich so unbeweglich dasass, glich ich einer geschnitzten Holzfigur.
Auf abendlichen Spaziergängen durch die Strassen habe ich Vieles gesehen, was mich mit hoher Freude und mit tiefem Schmerz erfüllt hat. Aeusserlich wird man von dem Reichtum, der besonders in den Abendstunden entfaltet wird, geblendet. Die in zahllose Drähte gebannte elektrische Luft, die aus Glasglocken in ungewöhnlicher Helle erstrahlt, verleiht dem Strassenbild ein Aussehen, wie es im übrigen Reich nicht zu finden ist. Der Menschenschwarm „webt“ sich in den Strassen; denn alle Volksklassen: Gelehrte, Bauern, Kaufleute, Händler, Arbeiter, mischen sich ohne Standesunterschied durcheinander, und ihre Reihen verschlingen sich wie die Kreuz- und Querfäden eines Gewebes. Am zahlreichsten ist merkwürdigerweise die Frauenwelt vertreten. Es sind viele unehrliche Gestalten darunter, so zahlreich, wie die Schäferwölkchen am bestirnten Himmel. Ihre Haar- und Kleidertracht, ihr Elfengang bestrickt Jeden. Wie — 82 — ungezwungen sie sich bewegen! Sie bleiben ab und zu stehen, zupfen einen jungen Mann am Aermel und sprechen vertraulich mit ihm, als seien sie alte Bekannte. Auch mich fasste eines Abends ein solches Mädchen an; ich riss mich los und schimpfte derb in meiner Heimatssprache, worauf sie mir ihre Kürbiskernzähne zeigte und mich einen nordchinesischen Kulturlosen nannte. Ich dachte aber im Stillen an unser Sprichwort: „Wer jung ist, gehe nicht nach dem Süden!“ und schritt weiter. Dass sich eine gewisse Gruppen von Damen so frei gibt, hat mich eigentlich nicht überrascht. Wohl aber befinden sich in dem Gedränge viele Damen, die besseren Familien angehören. Ihre Kleidung und ihr Auftreten unterscheiden sich nur wenig von dem der anderen Damen. Auch sie bleiben stehen, wenn sie wirkliche Bekannte treffen, schütteln sich auf westländische Art die Hände, die sie vorher unmerklich mit einem seidenen Tüchlein abwischen, und plaudern. Ihre Eltern, Brüder oder Geschwister können die Damen nicht mahnen, das zu unterlassen, weil es gegen unsere überlieferten Sitten verstosse; denn sie würden sagen: „Das ist aber Schanghaier Sitte.“ Ein Glück, dass wir im Norden noch davon verschont sind. Dort ist der Kern des Volkes gesund; in Schanghai ist er zernagt. Mir fällt da eine kleine Geschichte ein, die ich vor Kurzem gelesen habe. Der sie geschrieben hat, hat sie lautern Herzens und Sinnes geschrieben. In der Geschichte wird von einem Tonfigurenhändler erzählt, der es meisterhaft versteht, kleine Figuren zu kneten, die bei jedem Beschauer ein Entzücken wachrufen. Denn die Farbe und die Züge des Gesichts, die bunten Kleider sind von seltener Naturtreue; meist stellen die Figuren berühmte Männer aus unserer Heldenzeit dar. Die Geschicklichkeit des Handwerkers ist weithin berühmt. Täglich steht ein Haufen Neugieriger vor seiner Werkstatt und bewundert den Meister bei der Arbeit. Ein gewisser Tou kaufte eine der entzückenden Figuren. Ich glaube, es war ein Abbild des trefflichen Staatsbeamten und Gelehrten Wang Schi tschi, der unter der Tsin Dynastie unserm Volk grosse Dienste geleistet hat. Der Käufer barg die Figur behutsam unter dem Arm und eilte frohen Herzens über den schönen Einkauf nach Haus. Wenn man solch ein kostbares Stück auf dem Arme trägt, soll man vorsichtig sein. Tou war es nicht und liess die Figur fallen. Sie zerschellte krachend auf dem harten Pflaster. In Schantung wäre sie vielleicht unverletzt geblieben; denn dort hätte sie sich — 83 — in den weichen Strassenstaub vergraben können. Der Käufer stand nun vor seinem zerschellten Prachtstück und sah mit Entsetzen, dass von dem entzückenden Aeussern, von dem er beim Einkauf so geblendet wurde, nur Schmutz, Unrat und zerhackte Strohhalme auf der Stelle lagen, wo die Figur zerbrochen war. Darüber war er aufs Höchste erstaunt; er lief eilig zurück und stellte den Handwerker wegen seines Betrugs zur Rede. Der gab ihm aber eine so rechtfertigende und treffende Antwort, die mich lebhaft an Tung Fang tschen aus der Han Dynastie erinnerte, der ein nie übertroffener Dichter von sinnigen Parabeln war. Mit Recht betonte der Handwerker, dass Alles auf der Welt eitel Falschheit und Lüge sei, dass sich Alles äusserlich den Schein gebe, sich mächtig und prunkend zu zeigen, aber nur um innere Hohlheit und Mangelhaftigkeit zu verbergen; das Alles verkörpere die äusserlich blendende und innerlich hohle Lehmfigur. Wenn ich jetzt über das chinesische Schanghai nachdenke, so wird mir bewusst, dass die Stadt und ihre Bewohner nichts Anderes sind, als die entzückende Figur des zerschellten Staatsbeamten Wang Schi tschi. Im Leben meiner Landsleute gilt heute der Schein mehr als das Sein. Wohin man geht, kann man diese Beobachtung machen. In den Strassen, Restaurants, Theatern und Vergnügungsgärten herrscht ein China, dem ich als Nordmann fremd gegenüberstehe. Was herrscht, ist die betörte Jugend, die vom Ausland das Beste (weil es äusserlich blendet) zu nehmen glaubt und gerade das Schlechteste nimmt. Aus Gesprächen mit meinem deutschen Freunde weiss ich, dass das Ausland Tieferes und Edleres zu geben hat. Oft durchwandere ich die Läden in der Bücherstrasse und spreche mit den „Laobans“, die gebildet genug sind, meine Heimatsprache zu verstehen, über Bücher. Einige Händler klagen, dass die Werke unserer Klassiker dem Staub und Moder verfallen, weil sie Niemand mehr kaufe; andere reiben sich geschäftszufrieden die Hände und deuten auf lange Bücherregale. Man braucht nur den Titel und die Kapitelüberschriften zu lesen, und man weiss was der Inhalt ist. Einmal kaufte ich mir ein solches Buch, um es bald mit Entrüstung zur Seite zu legen. Schon der verlotterte Stil, in dem es geschrieben war, verletzte mein Sprachgefühl. In der Vorrede wurde gesagt, dass das Buch die Uebersetzung eines weltberühmten französischen Romans sei; der Verfasser heisse Ah mi loh Tso la. Der Himmel möge verhüten, dass der Geist, der dieses Buch durchzieht, auch in unser Volk dringt. — 84 — Mit Schmerzen habe ich in Schanghai gesehen, dass dieser Geist schon hier am Werke ist. Schüler und Schülerinnen lesen schon solche Bücher, und wenn die Eltern fragen, was darin stehe, so sagen sie: „die neue Zeit.“
Ja, die neue Zeit, die tritt Einem hier überall entgegen. Manchmal überkommt mich das Gefühl, ihr entfliehen zu müssen; der Wunsch, irgend ein ruhiges Plätzchen aufzusuchen, wohin sie ihre Wellen noch nicht schlägt. Das Plätzchen finde ich draussen auf den Feldern, die ich mitunter mit meinem deutschen Freunde in erbauendem Gespräch durchwandere. Ein Spaziergang, den ich an einem heissen Sonntag mit ihm unternahm, ist mir noch in lebhafter Erinnerung. Die Landschaft hat mit der meiner Heimat nur wenig gemein; nur die spitzkegeligen Grabhügel und in Ferne verschwommene Dorfschaften könnten den Augen ein Stückchen Heimat vortäuschen. Das Landvolk war fleissig bei der Arbeit. Frauen und Mädchen mit rotbraunen, von der Sonne gefärbten Gesichtern und mit hellblauen Kopftüchern lockerten mit Harken den Lehmboden, und das Mannsvolk stand tief im Schlamm, um die zarten Reispflänzchen in Reihen zu setzen. Vom nahen Bambusgebüsch klang ein heimatlicher Laut; es war der Mahnruf eines Vogels, der die Bauern zur Arbeit ermuntert. Ganz deutlich ruft er: Kuan hou-erh to chou. (Ihr Müssigen, arbeitet!) Es war ein heisser Tag. Da ich sehr beleibt bin und zu Fuss den Feldweg entlang schritt, strömte mir der Schweiss aus allen Poren. Auch hier bewahrheitete sich das Wort, dass je mehr man geht, desto müder man wird; je müder man wird, desto mehr man schwitzt; je mehr man schwitzt desto durstiger man wird. In zwei Dörfern fragte ich vergebens nach Tee oder heissem Wasser, um meinen Durst zu stillen. Die ich anredete, waren entweder Kinder oder Greise; denn alle Rüstigen waren auf den Feldern beschäftigt. Da leuchtete eine rote Wand im Hintergrund; ich hielt sie für die Seitenwand eines Tempels. Fast eine Stunde dauerte es, bis ich dort mit meinem deutschen Freunde anlangte. Der Weg führte über Kanäle und wand sich in scharfen Krümmungen durch die Felder wie die Hörner eines Widders. Als ich endlich den Tempel, dessen Vorhof mit hohem Gras überwuchert war, betreten konnte, fing das kleine Kind des Wärters an zu heulen, und ein Hund bellte. Auf das Geschrei trat ein Mann aus dem Seitengebäude. Sein Gesicht sah düster aus wie das eines Opium rauchenden Räubers. Ich bat ihn um — 85 — einen Schluck Tee. Er verstand mich erst, als ich mit der Hand die Gebärde des Trinkens nachahmte, und er sagte dann: „Nu yao tse tso?“ Ich nickte. Bei uns in Schantung sagt man: „Ni yao ha cha mo“, wenn man jemand fragt, ob er Tee trinken will. Der Mann kam bald mit einer Tasse Tee zurück, die ich gierig austrank. Es war der schlechteste Tee, den ich je getrunken habe, und doch dünkte mich, als hätte ich „Lung tsing tsüeh shih“ Tee getrunken, das ist der beste, den es in China gibt. Mir fiel das Wort von Meng tse ein: „Ko chih kan yin“ (Dem Durstigen schmeckt jeder Trank). Neugestärkt konnte ich mich auf den Rückweg begeben. Als ich mich auf der Fähre ins Schanghaier Stadtgebiet übersetzen liess, da warf ich noch einen Blick auf die in der Dämmerung versinkende Landschaft. Ueberall hoben sich die Gestalten der arbeitenden Menschen auf den Feldern ab. Die Stimmung, die ich von jenem Spätnachmittag mit nach Haus nahm, klingt heute noch in meiner Seele nach. Im Westen senkte sich gerade das tiefrote Sonnenrad und warf über die Landschaft einen farbigen Schimmer, der sich auch in dem kleinen Flüsschen widerspiegelte. Mit wenigen Ruderschlägen glitt die Fähre zum andern Ufer, das von dickstämmigen, weitästigen Bäumen besäumt war. Ein kräftiger Geruch schlug mir entgegen; er schien „ausgehaucht von Wasserkastanien und Seerosen“, wie es in einem Gedicht heisst. Den Fluss abwärts huschten geräuschlos verspätete Boote; auf einem führte ein Greis das Steuer; ein kleiner Junge, der wohl sein Enkel war, übte sich auf einer Fiedel, der er krächzende Töne entlockte. Und doch dünkte mich inmitten der Abendstimmung, als hörte ich die wunderbaren Weisen des Melodienkönigs Yüan Tschen aus der Tangdynastie. Ein Glück, dass Jedem, der seines reichen und prunkenden Lebens müde ist, noch der beschauliche Beruf eines Fischers oder Sampanführers übrig bleibt; ich würde nie zögern, wenn ich meines jetzigen Lebens überdrüssig wäre, die Jacke des Literaten mit der des Fischers zu vertauschen. Ich glaube sogar, dass dies das beste Mittel ist, ein Volk ewig jung zu halten, wenn die durch Reichtum verweichlichten oder durch geistige Genussucht verkrüppelten Stände zwei Generationen hindurch ein Leben schlichter Einfachheit als Fischer, Bauer und dergleichen führen; daraus würde eine neue, geläuterte Generation hervorgehen und in allen Ständen des Volks ein immer frischer Kreislauf gesunden Lebens stattfinden. Wenn ich aber auf Schanghai blicke — 86 — so sehe ich wie gewisse Kreise meiner Landsleute in ein immer raffinierter werdendes, verfeinertes Leben hineingetrieben werden, von dem es kein Zurück in den erfrischen Odem der Atmosphäre der ruhigen Leute gibt; mein heisser Wunsch, den ich als echter Chinese, dem sein Volkstum über Allem steht, stets auf den Lippen trage, ist der, dass alle meine Brüder im weiten Reich gegen die von Schanghai ausgehende Ansteckung, die namenlos und doch nennbar gleich dem Tao ist, bewahrt bleiben mögen. Die Grossstadtluft lähmt nicht allein die Willens- und Schaffenskraft unseres männlichen Geschlechts, sondern sucht auch die weiblichen Reihen der Bevölkerung heim. Mit mitleidigem Bedauern sah ich an jenem Abend, wo ich von meiner Feldwanderung in die Stadt zurückkehrte, lange Reihen wandernder und auf Schiebkarren fahrender Mädchen. In ihrem Alter mochten sie zwischen zwölf und zwanzig Jahren gewesen sein. Die Aelteren sahen blass und freudlos aus; die Jüngeren strotzten von blühender Jugendfrische und schauten mit ihren glanzvollen Augen munter umher. Die Mädchen waren nicht unsauber gekleidet. Ich dachte einige Zeit nach, was wohl ihre Beschäftigung sein möge, bis ich schliesslich auf den Kleidern verräterische Baumwollflöckchen entdeckte; zugleich bemerkte ich im Hintergrund ein düsteres, vielfenstriges hohes Gebäude mit einem riesigen Schornstein. Daraus schloss ich, dass die Mädchen in einer Spinnerei arbeiteten und ich traf wohl mit dieser Vermutung das Richtige. Ich habe nichts dagegen, wenn Kinder ihren Eltern bei Feldarbeiten behülflich sind und sich so gegen ihre Ernährer dankbar zeigen; denn die Arbeit auf freiem Feld ist der Gesundheit nur förderlich. Wenn ich aber Gesetzesgewalt hätte, würde ich von heute an allen jungen Mädchen die Arbeit in Fabriken verbieten. Den Aelteren könnte es freigestellt werden weiter zu arbeiten, aber die Jüngeren, die zwölf- bis fünfzehnjährigen, müssten von der Sklavenarbeit befreit werden. Mir sagte ein alter Arzt, dass in den rohen Baumwollknäueln winzige Härchen enthalten seien, die, wenn sie sich in die Atmungsorgane eines Menschen setzen, den Keim zu einer stillen Krankheit legen. Da gerade die Jüngsten damit beschäftigt werden, die Kapseln zu zerpflücken, so ist die Krankheitsgefahr gross. Wenn man weiter bedenkt, dass diese Mädchen einst Mütter werden sollen, so muss man um den Nachwuchs besorgt sein. Mein deutscher Freund sagte mir, dass in Deutschland Gesetze beständen, die die Kinderarbeit in den Fabriken verbieten. Wer — 87 — ein solches Gesetz in Schanghai einführt, würde sich den Ruf eines grossen Wohltäters erwerben und die Achtung, die ihm seine Mitbürger entgegenbrächten, würde nicht gering sein.
Auf dem Nachhauseweg prägte sich noch ein anderes Bild fest in meiner Seele ein. Auf einem hohen, zweirädrigen Wagen, der von einem Pferd gezogen wurde, das zweimal so gross wie unsere gewöhnlichen Ponies war, sass eine westländische Dame. Wie der Nordsturm sauste das Gefährt durch die Strasse. Das Pferd schnaubte mit den Nüstern und warf die Vorderbeine, weit ausholend, in stetem Rhythmus auf das Pflaster, das Haupt in eherner Ruhe nach vorwärts gerichtet. Die straffen Zügel ruhten in festen Händen. Die Haltung der Dame war noch edler wie die des Pferdes. Sie sass mit straffem Oberkörper und erhobenem Haupt, dessen Profil aus edlem Gestein ziseliert erschien, auf dem Sitz und lenkte mit unerschütterlicher Ruhe und Sicherheit das Gefährt durch das Gedränge. Ich dachte mir, so müsste die tapfere Mu Lan ausgeschaut haben, die an Stelle ihres gebrechlichen Vaters in den Krieg gezogen war, oder die kampfeslustige Liang Hung yü aus der Sungdynastie, die auf wildem Pony, mit aufgelösten Haaren und zum Schuss gespannten Bogen gegen die tatarischen Feindesscharen ritt. Solche Gestalten wird man in der Jetztzeit vergebens suchen. Wie kläglich war doch das Unterfangen gewisser weiblicher Kreise in Schanghai während der vergangenen Revolution, ein Korps von Kriegerinnen zu bilden, das gegen die Kaiserlichen kämpfen sollte. Im überreizten Hochschwung der Gefühle wollten jene Kriegerinnen das Beispiel der Mu Lan und Liang Hung yü nachahmen und auf ihren Lotusfüsschen in die Schlacht ziehen. Unsere Zeitungen brachten spaltenlange Berichte über die dem Tod geweihten Jungfrauen und den Heldenmut ihrer Führerinnen; wenn man die Artikel las, so gewann man fast den Eindruck, als seien sie bei tränenbenetztem Antlitz des Schreibers entstanden. Und einige Tage darauf brachten die Zeitungen sogar ein grosses Gruppenbild der kampfbereiten Streiter; sie waren in eine gleichartige, militärische Uniform gekleidet und schauten trotzig drein. Dabei blieb es aber auch. In den Kampf sind die Damen nie gezogen. Schanghai war aber um eine Berühmtheit reicher, mit der es alle übrigen chinesischen Städte geschlagen hatte. Und darauf lief Jenes heldenhafte Epigonentum wohl nur hinaus. Das Geschehnis zeigt aber, welch ein verderblicher Geist die — 88 — Frauenwelt Schanghais beseelt; sie will nichts mehr und nichts weniger als es auf allen Gebieten den Männern gleichtun. Soviel ich weiss, machen noch nicht einmal westländische Frauen Anspruch darauf. Sie folgen willig des Himmels Bestimmung und bleiben ihren Gatten treue Lebensgefährtinnen und ihren Kindern sorgende Mütter.
Bei Rückkehr in die Herberge Tschi tschang tschan bereicherte ich meine Kenntnis des grossstädtischen Lebens in Schanghai um einen neuen Punkt. Bisher war das meinem Zimmer benachbart liegende Gemach frei gewesen; als ich die nicht fest gefügte Holztreppe hinaufschritt bemerkte ich, dass es besetzt war. Ich sah eine männliche und eine weibliche Person, die Beide recht vornehm gekleidet waren, im scherzenden Gespräch an einem Tisch sitzen, auf dem eine Kanne Tee und zwei Tassen standen. An der weiblichen Person bemerkte ich, dass sie die neue „Wen ming Haartracht“ und kleine aus Leder verfertigte Schuhe trug. Als mein Kommen bemerkbar wurde, stand die Mannsperson auf und schloss die Tür. Während ich in meinem Zimmer auf Tee wartete, überlegte ich, wer die Beiden wohl sein könnten; ich dachte zunächst, dass es eine junge Beamtenfamilie sei. Der Diener, der mir bald darauf den Tee brachte und den ich um nähere Auskunft bat, gab mir den gewünschten Aufschluss, der aber die Annahme hinfällig machte, dass es sich um ein Ehepaar handelte. Er sagte mir, dass Beide aus Hang tschou kämen und von reichen Eltern stammten. Der Herr sei ein Student auf einer Hang tschouer Schule und die Dame besuche eine höhere Schule in Schanghai. Früher in Hang tschou hatten sie sich sehr lieb. Der Vater des Mädchens machte aber der Liebschaft ein Ende und schickte seine Tochter auf eine Schanghaier Schule. Der Student konnte die Trennung nicht ertragen und reiste eines Tages nach Schanghai, wo er in der Herberge Tschi tschang tschan Wohnung nahm. Jetzt treffen sich hier die beiden Liebenden um die in Hang tschou gepflegte Freundschaft zu erneuern. Ich konnte nicht umhin, über diese Erklärung den Kopf zu schütteln. Während ich meinen Tee schlürfte, hörte ich aus dem andern Gemach eine im Flüsterton geführte Unterhaltung, wahrscheinlich wollten die Beiden nicht, dass etwas davon auch an mein Ohr schlug. Die Hang tschouer „Eisenköpfe“ hätten aber ruhig laut reden können, denn ich hätte ihren Dialekt so wie so nicht verstanden. Ihre Unterhaltung dauerte etwa eine — 89 — Stunde. Dann begleitete der Student seine Freundin bis zur Treppe. Er wollte sich gerade in sein Zimmer zurückbegeben, als ich zu meiner Tür hinaustrat und ihn beinahe umgerannt hätte. Dies veranlasste mich zu einer Entschuldigung, und wir tauschten einige Minuten höfliche Worte aus. Der Student hatte ein zartes, edles Gesicht, und er war von schlankem Wuchs. Was wird er wohl gedacht haben, als er mein rotbraunes kauliangfarbenes Gesicht sah? Ich gestehe selbst, dass, wenn ich ein rotes Tuch um meinen Kopf geschlungen hätte, ich einem jener indischen Teufel, die in den Schanghaier Strassen als Schutzleute stehen, aufs Haar geglichen hätte.
Als mir der Herbergswirt am Monatsende meine Rechnung vorlegte, fand ich, dass ich auf die Dauer nicht in der teuren Herberge wohnen könnte. Ich beauftragte deshalb einen Freund, der mit den örtlichen Verhältnissen vertraut war, eine Wohnung zu suchen. Das machte grosse Schwierigkeiten und ich lernte die Schanghaier dabei von einer ganz besondern Seite kennen. Wo ein Zimmer zu vermieten war, fragte der Vermieter zuerst eingehend nach meinen persönlichen Verhältnissen; wenn die Erklärung befriedigend war, fragte man mich, ob ich verheiratet sei. In mehreren Fällen, wo ich verneinte, wurde mir kurz geantwortet, dass ich das Zimmer nicht haben könnte. Wie merkwürdig sind doch die Schanghaier! Sie wollen nur Zimmer an Ehepaare vermieten. Ich konnte schliesslich doch nicht in Schanghai heiraten, nur um ein Zimmer zu bekommen! Durch die Fürsprache meines Freundes, der wiederholt beteuern musste, dass ich ein ehrlicher Mann sei, erhielt ich schliesslich ein leerstehendes Zimmerabteil in der Pekingstrasse. Im Erdgeschoss hatte ein Tischler seine Werkstatt aufgeschlagen. Mein Raum lag im ersten Stockwerk und war von einem grössern Raume durch eine dünne Holzwand getrennt. Dieser wurde von einem vierzigjährigen Manne bewohnt, der in einer Druckerei niedrige Aufseherdienste versah und dafür monatlich etwa fünfzehn Dollar erhielt. Zum Haushalt des Mannes gehörten eine Frau und sechs Kinder, unter denen zwei erwachsene Söhne und eine verheiratete Tochter waren. Das jüngste Kind war ein Jahr alt, und ich stellte gleich am ersten Tage meines Einzugs fest, dass die Familie demnächst um einen weitern „Mund“ vermehrt wird. Das Lärmen, das täglich aus dem Nebenzimmer drang, nahm mir die Ruhe bei Nacht und das freudvolle Verweilen in müssigen — 90 — Stunden. Wenn der Gatte Abends nach Hause kam, schimpfte er über das karge Essen; die Frau erwiderte im scharfen Ton, und dazwischen heulte das Jüngste. Solange ich dort wohnte, habe ich das kleine Kind nie ruhig gesehen. Sein Weinen war herzzerbrechend. Ich glaube, dass das Kind stets Hunger leidet. Statt dass die Mutter, wie es die Schantunger Mütter tun, ihrem Kleinen den nahrhaften, aus Weizenmehl hergestellten Brei zu essen gibt, stopft sie ihm grobkörnigen Reis in den Mund. Ich gab der Frau Ratschläge, wie der Weizenbrei bereitet wird; sie meinte aber, dass Weizenmehl der Gesundheit schädlich sei. Mein Herz wurde täglich unruhiger über den Lärm, den ich hörte, und über die Umgebung, in der ich wohnte. Ich tröstete mich aber mit einem Ausspruch des Kungtse, der an einer Stelle sagt: Tschün tse chüeh wu chiu an (Den Edelmann soll es nicht kümmern, wo er sein Haupt niederlegt). Damit möchte ich nicht sagen, dass ich in die Klasse des Edelmanns gezählt werden möchte, sondern nur andeuten, dass ich mit der gesellschaftlichen Umgebung, in die mich des Himmels Bestimmung gestellt hat, zufrieden bin. Ich bin in kleinen, bäuerlichen Verhältnissen aufgewachsen und möchte aus ihnen nicht höher streben. Ja, ich wage zu sagen, dass jeder Bürger seinem Vaterland dann die besten Dienste leistet, wenn er den Kreis nicht verlässt, den ihm die Bestimmung gezogen hat. Jedes Höherstreben, hinter dem gegebene Voraussetzungen zurückbleiben, schwächt die Grundlagen des Staates. Ueber das Schicksal der mir benachbart wohnenden Familie hatte ich oft im Stillen nachgedacht. Sechs Kinder zu ordentlichen Menschen zu erziehen, muss einen grossen Teil des kargen Verdienstes des Familienvaters im Lauf der Jahre aufgezehrt haben. Und was würde geschehen, wenn der Arme nur auf kurze Zeit krank und arbeitsunfähig würde? Dann könnte man das Sprichwort anwenden: Tschu liao lu lu kan liao hsi (Wenn die Schöpfräder stille stehen, vertrocknen die Bewässerungsrinnen), das heisst: wenn der Mann nicht arbeiten kann, hat seine Familie nichts zu essen. Weshalb hat in unserm Lande gerade der Arme die meisten Kinder und weshalb bleibt bei dem Reichen, wenn er nur einen Sohn hat, der Ehrgeiz befriedigt?
Der Ausgangspunkt zu dieser kurzen Betrachtung war das für Schanghai nur in geringem Mass anwendbare Wort des — 91 — Konfuzius, dass es den Edelmann nicht kümmern soll, wo er sein Haupt niederlege. In den ersten Tagen, als ich das von Lärm erfüllte Zimmer in der Pekinger Strasse bewohnte und durch den Schreihals ständig in der Beschaulichkeit meiner Gedanken gestört wurde, suchte ich mich mit jenem Spruch des Konfuzius über meine Lage zu trösten. Es kamen aber eine Reihe Umstände hinzu, die mir das Leben in dieser Umgebung auf die Dauer vergällten. Die Unruhe in meinem Herzen steigerte sich zusehends und teilte sich allmählich meinem Kopf und meinen Gliedern mit. Ich führe das zum Teil auch auf das wenig schmackhaft bereitete Essen zurück. Zuerst begab ich mich völlig in die Kost meines Wirts, des Tischlermeisters. Mein Schantunger Magen, der von jeher an derbe und kräftige Kost gewöhnt war, vermochte aber das Essen, das für Schanghaier Zungen bereitet war, nicht ertragen. Durch allerlei Zutaten, die ich mir durch einen kleinen Tischlerlehrling einkaufen liess, versuchte ich dem Essen etwas mehr Schantunger Geschmack zu verleihen. Die immer wiederkehrenden Schanghaier Gerichte, die meine Hauptnahrung bildeten, wurden immer fader, sodass ich sie schliesslich nicht mehr ohne starke Ueberwindung zu essen vermochte. Dieser Umstand trug zu einem steten Unwohlsein bei, das noch dadurch gesteigert wurde, dass ich während einer Nacht das Reissen in den Gliedern bekam. Unbeständig wie der Schanghaier Volkscharakter ist auch das hiesige Klima. Ich hatte mich an jenem Abend infolge der heissen Abendluft nicht zugedeckt. In der Nacht schlug die Witterung um und ich erwachte mit fröstelndem Körper. Als ich das Fenster schliessen wollte, um der kühlen Luft das Eindringen zu verwehren, spürte ich plötzlich einen reissenden Schmerz, der sich von meiner rechten Hüfte bis in die Wade zog. Drei Wochen lang, Tag und Nacht, litt ich starke Schmerzen, und ich schleppte mich über die Strasse wie ein in der vergangenen Revolution zum Krüppel geschossener Soldat. Wenn ich schliesslich von meiner Krankheit geheilt worden bin, so verdanke ich das der Güte und Milde eines deutschen Arztes, der mir ein gliederstärkendes Pulver verschrieb; ausserdem hatte aber auch ein chinesischer Arzt Anteil an meiner Gesundung, indem er mir empfahl, Nachts ein Hundefell über die schmerzenden Glieder zu legen. Die Krankheit und die mangelhafte Kost hatten mich — 92 — stark heruntergebracht. In einem solchen Zustand begegnete ich zufällig meinem besten Freunde Wang, den ich ich seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte und den ich weit in Schantung wähnte. Wir kennen uns schon zehn Jahre. Er stammt aus der Provinz Kuangsi. Sein Vater war höherer Beamter und sein Bruder Kreisrichter in einer Stadt in Schantung. Er selbst stand vor einigen Jahren im Dienst des trefflichen deutschen Postbeamten Ho Li tse (Holtzapfel), der, wie mir mein deutscher Freund vor Kurzem sagte, jetzt leider in Deutschland gestorben ist. Jener Deutsche hatte edeln Herzens seines Amts gewaltet und auch ausserhalb seines Berufskreises zeigte er sein gütiges Herz. Ihm war die Erziehung unseres Volkes ein steter Gedanke, und um einen Anfang zu machen, richtete er in einer Schantunger Stadt mit eignen Mitteln eine Schule ein und berief mich durch Vermittlung meines Freundes Wang zum Lehrer. Ich hatte Wang zum letzten Mal in Schantung gesehen. Jetzt wollte es ein gütiges Geschick, dass uns die Wellen der Grosstadt an einem Punkt zusammenwarfen. Unsere Wiedersehensfreude ist kaum zu beschreiben. Wir sahen uns stumm ins Gesicht. Wang ergriff erregt meine beiden Hände und wollte sie nicht loslassen. Wir müssen uns einige Zeit, ohne zu sprechen, gegenübergestanden haben. Denn es sammelten sich schon einige Gaffer an, um uns zu bestaunen. Schliesslich brach mein Freund das Schweigen. Betrübten Antlitzes hörte ich, dass er Anfangs hart vom Unglück verfolgt worden war. Unter seinen Kindern hatte er einige Todesfälle. Die Krankheits- und Begräbniskosten zehrten sein geringes Vermögen auf und er war gezwungen, sämtlichen Hausrat zum Pfandhaus zu bringen. Mittel- und stellenlos sass er in der Weltstadt. Ein holdes Geschick verschaffte ihm eines Tages eine hochbezahlte Sekretärstelle, in der er eine Respektsperson darstellte. Um die Freude voll zu machen gebar ihm sein Weib noch einen Sohn. Alle vier Glücksgüter (Tse tsai lou), Frau, Reichtum, Sohn und Ehrung waren plötzlich wieder vereinigt. Von der Sekretärstelle stieg er bald in einen Beamtenposten, im Frühjahr nahm er eine Stelle im Bergbauamt für Kiangnan an. Eine Krankheit zwang ihn aber, den Posten wieder aufzugeben. Und wieder drohte ihn die Weltstadt zu verschlingen. Er blieb aber tapfer und fand endlich eine Stelle bei einem Zollamt in der Provinz Tschekiang. Er wollte heute schon abreisen. So folgte der Wiedersehensfreude gleich der Trennungsschmerz. — 93 — Ich bin der festen Ansicht, dass ihm die mehrjährige Arbeit bei den Deutschen eine Tatkraft für sein ganzes Leben gegeben hat. Denn nicht jeder meiner Landsleute hätte, zweimal vom Schicksal niedergeschlagen, von Neuem versucht, sich aufzuraffen; er hätte sein Schicksal als die Bestimmung des Himmels angesehen und sich willig in das harte Joch gefügt.
Seitdem ich in Schanghai bin, musste ich zum dritten Mal auf die Suche nach einer Wohnung gehen. Dabei kam mir die vor Kurzem mit einem Schantunger Landsmann Namens Wang Tien hung angeknüpfte Freundschaft zu statten. Was ich besonders an ihm schätze sind, neben seinem freundlichen Wesen, die Beherrschung des örtlichen Dialekts und die Kunst des Kochens von Schantunger Gerichten. Als ich seine Bekanntschaft machte, stand gleich bei mir fest, dass wir Beide zusammen eine Wohnung beziehen müssten. Als ich ihm diesen Vorschlag machte, willigte er sofort ein. Dieses Mal ging die Suche leicht von Statten. Einige Häuser weiter in der Pekinger Strasse fanden wir ein helles luftiges Zimmer, das durch eine dünne Holzwand in zwei Abteile geschieden ist. Ich bewohne den vordern, er den hintern Teil. Dafür bezahle ich monatlich fünf Dollar und er zweieinhalben Dollar Miete. Der Hauswirt ist ein Auktionator aus Kiangpe. Alle Vorteile, die ich in der alten Wohnung vermisste, sind in der neuen vereinigt: durch helle Fenster lugt die Sonne und auf dem Herd brodelt ein Schantunger Gericht. Am Feierabend blicke ich, aufs Fenster gelehnt, mit meinem Freund auf die Strasse und ergötze mich an dem wirren Treiben. Gar froh wird mir ums Herz, wenn in dem Strassengewühl ein Verkäufer von Holzflöten auftaucht und zur Anpreisung eine frohe Weise aufspielt. Oft sitze ich mit meinem Freund nach dem Abendreis plaudernd zusammen, und er erzählt mir von seinen weiten Wanderungen. Weit in Sibirien ist er gewesen und half den Russen beim Schienenlegen für eine neue Eisenbahn; dann weilte er einige Monate als Diener in Russland. Er kam vor zwei Jahren stellenlos nach Schanghai, und er erwirbt jetzt seinen auskömmlichen Unterhalt mit dem Verkauf von Süssigkeiten, die aus Erdnussmehl hergestellt sind.
Eines Abends besuchte ich mit ihm das Teehaus Scheng Ping im vierten Pferdeweg. Die Treppe war so dicht mit Menschen überfüllt, dass sie sich beim Auf- und Abgehen mit den Achseln anstiessen. Im ersten Stockwerk liegt ein weiter Saal, — 94 — der nach der Strassenfront in eine Veranda ausläuft. An den Wänden des Saales waren hohe Spiegel angebracht, in denen sich die Strahlen zahlreicher elektrischer Lampen brachen. Es glitzerte ringsum wie aus einem Diamant. Die Tische und Stühle waren aus feinstem Holz verfertigt. Wir bestellten eine Kanne Tee. Als ich in dem Raum umherblickte, sah ich eine nordchinesisch gekleidete Gestalt, die suchend auslugte. Unsere Blicke trafen sich einige Sekunden und ich bemerkte, wie die Gestalt auf unsern Tisch zukam. Ich wendete meine Augen seitwärts, konnte aber nicht verhindern, dass sich der Mann zu uns setzte. Er hatte offenbar herausgefunden, dass wir beide aus dem Norden seien. Der Ankömmling, der etwa zwanzig Jahre zählte, machte sich in auffälliger Weise um meine Bewirtung bemerkbar und goss mir Tee ein. Dann begann er mir plötzlich sein Leid zu klagen; er sei hier seit Wochen mittellos in Schanghai und suche vergebens nach Arbeit; ob ich ihm nicht einige Zents geben wolle. Da fuhr ich ihn hart an, denn ich bemerkte sofort an seinen Zügen, dass er ein unverbesserlicher Opiumraucher war. Ich redete ihm scharf ins Gewissen. Ob er sich denn nicht schäme, in jungen Jahren zu betteln; selbst wenn ich ihm zwanzig Zents gebe, werde er doch versuchen auch bei Anderen zu betteln, nur um dem Opiumgenuss fröhnen zu können. Beschämt stand der Jüngling auf und verliess den Saal. Kaum war er fort, da setzte sich ein etwa siebzehnjähriges Mädchen auf den freigewordenen Stuhl. Selten habe ich eine so hübsche Gestalt gesehen. Ihre schwarzen Augenbrauen glichen sanft gekrümmten Mondsicheln. Die Augen leuchteten wie eine von der Frühjahrsonne umgaukelte Quelle. Das Gesicht schaute aus wie ein praller, rötlich sammetweicher Pfirsich, ihre Gestalt war schlank und biegsam wie ein Weidenstämmchen und die kleinen Finger waren zart wie die Halme des „Yu ti“ Grases. Das Mädchen war bescheiden und fragte schüchtern im Norddialekt, ob wir nicht mit ihr kommen wollten; sie möchte uns etwas musizieren. Als sie mich mit „Lao je“ (älterer Vater) anredete, machte ich sie darauf aufmerksam, dass China jetzt ein Volksreich sei, in dem solche Anreden nicht mehr statthaft seien. Sie nickte und wiederholte ihre Bitte. Mein Freund, der wohl meine Verlegenheit merkte, kam mir zu Hülfe und sagte, dass wir einen Freund erwarteten, für den der Platz, auf dem sie sässe, bestellt sei. Darauf ging das Mädchen höflich von dannen. Im — 95 — Augenblick war der Platz schon von einem andern Mädchen besetzt. Sein Aeusseres machte auch einen vorteilhaften Eindruck, aber sein Benehmen war ohne Mass und Sitte. Frech sagte das Mädchen, sie wolle Tee trinken. Wir überhörten absichtlich dieses Verlangen und unterhielten uns über gleichgültige Dinge. Ich hatte mir gerade eine Zigarette angezündet und die kleine Schachtel nebst Streichhölzern auf dem Tisch liegen lassen. Mit gierigen Fingern griff sie nach meinen Zigaretten, zerrte eine heraus und zündete sie an. Während das ungezogene Ding die erste Rauchwolke in die Luft blies, sagte es, es heisse Hung yün (Rote Wolke), stamme aus Su tschen und wohne im dritten Pferdeweg. Mein Freund sah die Freche mit zornigen Augen an. Und plötzlich brauste er auf und schrie das Mädchen in unverfälschtem Schanghaidialekt an: „Sa ka se ti nu na yi?!“ (Weshalb hast du die Zigarette genommen?) Ich beruhigte den Zornigen, hielt dem Mädchen die Schachtel hin und sagte, es solle sich soviel Zigaretten nehmen, wie es wolle, sich dann aber einen Tisch weiter begeben. Als das nichts fruchtete und das Mädchen nach wie vor aufdringlich blieb, bezahlten wir und gingen nach Hause. Mein Freund ging missgestimmt, und auf die frechen Schanghaier Mädchen schimpfend, neben mir her.
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Bis hierher habe ich meine Erlebnisse und Meinungen niedergeschrieben, die mein deutscher Freund für die Deutschen übersetzt hat. Was ich erzählt habe, ist dürftig und gering. Es würde sicher etwas vollendeter in der Darstellung sein, wenn jene Frau meinem Rat gefolgt wäre und dem schreienden Jüngsten den erprobten Weizenkuchen bereitet hätte, statt ihm groben Reis zu essen zu geben. Denn durch das Schreien des Kindes wurden meine Gedanken immer verwirrt.....
I n jener sternklaren Sommernacht, wo der grimmige Mars um den Wusungforts die Stunde regierte, lernte ich ihn kennen. In kauernder Stellung, hinter Ufergras und Erdhügel versteckt, das müde Auge nach dem Huangpu gerichtet, lag er da und horchte beim Klirren eines Glasscherbchen, das der hartbesohlte Schuh des Westländers zersplitterte, auf, riss schussbereit sein Gewehr in die Höhe und liess es sinken, als er sich vergewissert hatte, dass ich ein Ausländer war. Wir hatten unsere feindselige Begegnung bald vergessen und lagen plaudernd im nachttaukühlen Gras. Er hiess Wang Fei ting und gehörte zu den „Kan sze tui“ Truppen, die ihre nächtlichen Stellungen am Huangpu-Ufer bezogen hatten und eine Landung nordchinesischer Truppen verhindern sollten. Ich erinnere mich deutlich des zarten, jungenhaften Gesichts mit den fragenden Augen, das sich mir in dem nächtlichen Dunkel entgegenstreckte. „Fremder Herr, weshalb kämpfen wir hier?“, flüsterte mir Wang zu; mit ganz gedämpfter Stimme sprach er, damit seine Kameraden es nicht hörten. Und ich erzählte, was ich für sein tapferes, „zum Sterben bereites“ Herz für gut hielt, und als ich von ihm schied, da hauchte: „Ich sehne mich nach deiner Belehrung.“ Ich gab ihm die Adresse der Redaktion und nach dem Fall der Wusungforts stellte er sich bei mir als Zivilist ein, aufgeregt seine letzten Abenteuer erzählend. Das Haar hing ungekämmt auf seinem Kopf, seine Zivilistenkleidung, die er zerknittert in einem Pfandhaus ausgelöst hatte, schlotterte, ungeordnet an seinen Füssen schlürften ein paar ausgetretene Grossvaterpantoffel. Wie mir Wang erzählte, stand er vor der Entlassung. Vierzehn Tage hörte ich nichts weiter von ihm. Plötzlich kam er wieder, säuberlich gekleidet und stellte sich mir als „zum Sterben bereiter Freiwilliger a. D.“ vor. So kam es, dass ich Wang Fei ting aufforderte, seine Erlebnisse als — 97 — Revolutionär niederzuschreiben, um sie einem deutschen Leserkreis zu erhalten. Nüchtern und unpersönlich schrieb er nieder, wie es ihm in seinem Leben ergangen war und erst weitere Fragen und Gegenfragen ergaben das, was jetzt als Erinnerungen eines chinesischen Revolutionärs der Oeffentlichkeit übergeben werden soll.
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Ich heisse Wang Fei ting und bin aus dem Kreise Kiang ling, der in der Provinz Hupeh liegt, gebürtig. Meine Eltern, die einige Mou Ackerland bestellten, waren arm. Trotzdem ermöglichten sie es, dass ich in Zeiten, wo die Feldarbeit ruhte, die Schule des Dorfes besuchen konnte, und als ich dreizehn Jahre alt war, schickten sie mich sogar auf die höhere Elementarschule in der Kreisstadt. Dort hatten wir einen Lehrer, den ich sehr liebte. Er war weit gereist und sogar in Japan gewesen. Wenn die Schulstunden vorüber waren, kam er oft zu uns Schülern und plauderte wie ein Vater. Wie erstaunt war ich, als ich lernte, wie gross die Welt sei und wieviel Menschen, die alle möglichen Berufe ausübten, auf ihr wohnten. Vor dieser Riesengrösse kam ich mir sehr klein vor. Ich wurde verzagt und glaubte, für mich sei kein Platz auf dieser Welt, um vorwärts zu kommen. Trotzdem war etwas in meinem Innern, das mich vorwärts trieb. Der grosse Panku hat in achtzehntausend Jahren die Welt erschaffen, also sein ganzes Leben mit der Vollbringung einer einzigen Tat ausgefüllt. Ich sagte mir, da du nun einmal auf der Welt bist, musst du aus deinem Leben machen, was zu machen ist. Aus dem Werk Pankus schöpfte ich zuerst Kraft und Aneiferung. Noch ein andrer Umstand trieb mich zum Schaffen an: die Ausländer. Trotzdem ich noch keinen von ihnen gesehen hatte, war meine Hochachtung vor ihrem Können gross. Unser Lehrer erzählte, dass die weissen Ausländer bisher von dem Geschick auserwählt seien, für die Menschheit grosse Taten zu vollbringen. Er erzählte von den ausländischen Schiffen, Bergwerken, Maschinen, Telegraphen, Geschützen, Gewehren und noch vielen anderen Dingen, deren Namen mir entfallen sind, und ermahnte uns, fleissig zu lernen, damit wir den Ausländern bald ebenbürtig seien. Nach den Schulstunden machte ich meine Gedanken über all das Gesagte und kam zu dem Schluss, dass in all den Werken der Ausländer ein riesiger Fleiss stecken müsse; mir war klar, dass nicht ein Einzelner die grossen westländischen — 98 — Errungenschaften erfunden hat, sondern dass der Fleiss ganzer Generationen in einem einzigen Werke steckt, das zu immer höherer Vollkommenheit gebracht würde. Ich muss sagen, dass wirklich der ausländische Schaffensgeist ein grosser Ansporn für mich gewesen ist. Eine Ueberschwemmung, die unser Haus samt Wasserbüffeln und Schweinen fortriss, brachte meine Eltern an den Bettelstab, ich musste daher meine Studien aufgeben und mich beim Aufbau eines neuen Herds nützlich machen. Zu jener Zeit kam eine Anzahl feiner Herren der Regierung in unser Dorf und sprach mit dem Ortsältesten. Dieser liess bald die jungen Leute des Dorfes rufen und sagte ihnen, wer Soldat werden wolle, solle sich melden. Soldat? Das Wort blieb in meinem Ohr haften, und eh ich mich versah, rief ich meinen Namen, so laut, dass mich die umstehenden Dorfbewohner erstaunt anblickten. Soldat! Mir fiel das ein, was unser Lehrer von dem französischen Heerführer Na pu lun (Napoleon) erzählte, und ich dachte daran, dass er zuerst auch nur einfacher Soldat gewesen sei. Ausser mir meldeten sich noch drei Jungen meines Alters. Wir wurden gefragt, wie alt wir seien, ob wir zwanzig Li ohne Unterbrechung marschieren und ob wir einen halben Zentner Gewicht heben könnten. Als wir bejahten, wurden unsere Namen in die Liste eingetragen. Meine Eltern, die Anfangs über meinen Entschluss aufgeregt waren, beruhigten sich, als ich ihnen sagte, ich würde jeden Monat einen Teil meiner Löhnung nach Hause schicken.
So wurde ich mit sechzehn Jahren Soldat und der 9ten Division in Kiangsu zugeteilt. Ich erhielt jeden Monat sieben Dollar Löhnung, wovon jedoch vor der Auszahlung drei Dollar für Beköstigung abgezogen wurden. Zum Nachhauseschicken blieb nur eine ganz kleine Summe übrig. Ehe ich richtiger Soldat wurde, musste ich Kulidienste tun. Jeden Morgen musste ich die Stube reinigen, den fünf Mann auf der Stube Essen holen und sonstige Dienste leisten. Für meine Eltern und Dorfgenossen hatte ich früher ähnliche Arbeiten verrichtet und mich nie darüber beklagt; als mich aber die fünf Menschen zu ihrem Diener erniedrigten, sträubte sich mein Empfinden, und ich sagte eines Tages dem diensttuenden Offizier, dass ich richtiger Soldat werden wollte, andernfalls würde ich wieder nach Hause gehen. Ich wurde dann in eine andere Stube gelegt und hatte es von nun an besser. Die paar Stunden Dienst waren leicht zu ertragen. Ich lernte marschieren und das Gewehr behandeln. Nach einigen — 99 — Monaten durfte ich nach der Dienststunde die Schule unserer Division besuchen, wo uns ein hoher Offizier Vorträge über die Kriegskunst hielt. Der Offizier erzählte uns vom deutschen und japanischen Heer, von siegreichen Schlachten und von der Liebe des Volks zum Herrscher. Dass auch wir Soldaten unsern Kaiser lieben sollten, erzählte er nicht. Einmal sagte er scharf: „Ihr seid nur Soldat, damit ihr kämpfen könnt, wenn sich die Zeit erfüllt.“ Er lächelte dann still für sich hin. Wir Soldaten sahen uns an und verstanden ihn nicht. Erst später habe ich den Sinn der Worte verstanden. Unsern Divisionsgeneral habe ich während meiner dreijährigen Dienstzeit in Nanking nur dreimal gesehen. Das vorletzte Mal bei einer Parade unserer Division; nach ihr wurde ich zum Gefreiten befördert. So vergingen Wochen und Monate. Als ich einmal Posten stand, wollte ein ausländisch gekleideter Landsmann, der ein blaue Brille trug, am Wachthaus vorbei. Als ich ihn anhielt, sagte er genau das Wort unserer heutigen Parole, und ich musste ihn durchlassen. Der seltsame Mann kam häufig wieder, manchmal kamen auch Mehrere zusammen. Ihrer Sprache nach mussten sie aus Kuangtung gewesen sein. Eines Tages gingen fünf Offiziere unserer Division weg, und wir erhielten Ersatz. Die Besuche der Fremdlinge wurden häufiger. Dieses Mal sah ich unsern Hauptmann und einige Offiziere mit den Fremdlingen im Gespräch auf der Offiziersstube; sie hatten eine grosse Karte vor sich, nannten oft den Namen meiner Heimatprovinz und beschrieben mit den Fingern Kreise auf der Karte. Die Disziplin unserer Division wurde immer mehr gelockert. Statt dass die Offiziere uns mit gutem Beispiel in ihrem Lebenswandel vorangingen, blieben sie Tage lang vom Dienst und Nächte lang von der Kaserne weg und gaben Geld in vollen Händen aus. Woher sie das nur hatten? Erst später habe ich es ergründet. Der Divisionsgeneral kam häufiger als sonst. Einmal trat er in die Stube eines Offiziers, riss den Schrank auf, zog einen Haufen Schriftstücke heraus und ging zornbebend fort. Den Offizier habe ich nie wieder gesehen. An einem Herbstabend lag ich mit einigen Kameraden im Gras vor dem Lager. Da kamen einige Leute der ersten Kompagnie mit weingeröteten Gesichter des Wegs; einer schrie: „Fragt der Kerl, ob wir schiessen können? Natürlich können wir schiessen!“ Den letzten Satz wiederholten die Betrunkenen mit lautem Gebrüll. Ein Nüchterner sagte mir, dass ein junger Chinese, der südlichen Dialekt sprach, ein paar — 100 — Leute mit Wein bewirtet hätte, weil der Kaiser in Peking demnächst ein grosses Fest feiern werde. Das Fest der Herbstmitte war vorüber; die Disziplinlosigkeit in der Division erreichte ihren Höhepunkt. Da kam die Kunde in unser Lager, dass sich die Garnison in Wutschang gegen den Kaiser erhoben hätte. Ich erwartete nun, dass unser General uns sofort unter die Waffen rufen würde, das Leben des Kaisers zu schützen. Dafür kam eines Tages der Befehl, wer nach Hause gehen wollte, solle seinen rückständigen Sold in Empfang nehmen. Der grösste Teil der Soldaten meldete sich, und sofort sprangen tausende Leute aus Kuangtung und Chekiang ein, um die freigewordenen Stellen zu füllen. Auch die Offiziere wechselten; ich sah unter ihnen bekannte Gesichter. Kaum waren wir entlassenen Soldaten in der Stadt, da ging plötzlich ein grosser Kampf los. Ich weiss nicht mehr wieviel Tage gekämpft worden ist. Eines Tages zogen unsere frühere Division und zahlreiche Truppen des Revolutionsheeres in die Stadt ein und raubten alles aus. In dem mandschurischen Stadtteil war ein Kreischen und Schreien, das ich nie vergessen werde. Im Leng Kung Tempel hatten sich Mandschus zusammengedrängt, um gemeinsam zu sterben, ehe sie unter den Streichen des Volksheers fielen. Und plötzlich hoben sich mit furchtbarem Knall die Mauern in ihren Grundfesten und eine hohe Rauchsäule stieg in die Luft. Unter dem Schutt lagen nur Leichen. Die Tage der Stadt Nanking sind schrecklich gewesen. Ich verstand damals die Grösse der Zeit nicht und fluchte den Revolutionären.
Eines Tages war ich selbst unter ihnen. Da wir nun ein „Volksreich“ hatten, wollte ich es schützen. Ich begab mich nach Schanghai, wo ich mich bei den Kuang fu tschün Truppen, die im Taiyang Tempel bei Chapei lagen, gegen einen Monatssold von elf Dollar einreihen liess. Nach einigen Monaten wurden die Truppen aufgelöst, und ich ging wieder nach Nanking, wo ich unter den Kan sze tui Truppen, die bei der Eroberung von Nanking so kühn vorgegangen waren, aufgenommen wurde. Ich hatte soviel von den „Truppen, die den Tod nicht fürchteten“ gehört, dass ich mich freute, bei ihnen zu sein. Der Monatssold betrug nur acht Dollar, das Essen war frei. Die Truppen wurden von dem Obersten Liu Fu piao befehligt, der früher ein Führer der geheimen Gesellschaft Ko lao hui war. Wir waren im Fu Tse ying in der Nähe der Huai ting Brücke untergebracht. — 101 — Mehrere Monate vergingen. Eines Tages wurde die Nachricht im Lager verbreitet, dass wir gegen die Truppen Yüan Schih kais kämpfen sollten. Ein paar ältere Leute unserer Truppe waren darüber ganz aufgeregt und sangen vor Freude Kriegslieder, die ich zum ersten Mal hörte. Und plötzlich hiess es, Nanking sei von Peking abgefallen und habe sich selbständig erklärt. Nach westländischem Kalender geschah das im Juli. In unserm Lager begann ein geschäftiges Treiben. Wir achthundert Mann tauschten unsere einschüssigen Gewehre gegen fünfschüssige aus, jeder erhielt eine Feldausrüstung mit Mantel und fünfzig Patronen. Auf den Mannschaftsstuben ging es lebhaft her. Wir Jüngern lauschten den Aeltern, die von Kriegstaten erzählten, von Bomben, Granaten und zerrissenen Gliedmassen. Dann gingen wir in voller Ausrüstung schlafen. Am folgenden Morgen bliesen schon frühzeitig die Hörner. Wir traten an und marschierten nach dem Hu ning Bahnhof, wo wir mit dem Zug nach Schanghai befördert wurden. Nach unserer Ankunft in Schanghai wurden wir auf Booten den Huangpu aufwärts nach Schih li pu (Nantao) befördert. Es dauerte lange, bis für unsere achthundert Mann eine passende Unterkunft gefunden war. Schliesslich bezogen wir in einer Schule hungrig und müde Quartier. Nachts um drei Uhr heulte ein furchtbarer Sturm. Und plötzlich hörte man den Schall einer Kanone. Wir wurden alarmiert und zogen durch enge Gassen in die Nacht. Vor uns marschierte das 61ste Bataillon, das Befehl hatte, das Arsenal von Nordwesten her anzugreifen. Wir bezogen vor dem Südwesten der Stadt als Reserve Stellung. Bis zum frühen Morgen dauerte das Schiessen. Viele kleine Geschosse und Granaten flogen über uns weg. Gegen Dämmerung wurden die ersten Toten und Verwundeten des 61sten Bataillons an uns vorbeigetragen. Er dauerte nicht lange, da musste das Bataillon, das drei Stunden mit dem Arsenal im Kampf gelegen hatte, zurückgehen. Es ging nicht zurück, es lief. Und wir lagen mit frischen Kräften hinten in Deckung; die Aeltern von uns wurden ungeduldig, schalten unsere Offiziere offen Feiglinge und wollten, die übrigen Mannschaften anfeuernd, vorwärts stürmen. Als die Offiziere jeden niederzuschiessen drohten, der seine Stellung verlasse, wurden die Unzufriedenen ruhig und knirschten nur ab und zu Flüche durch die Zähne. Während der ganzen Kämpfe ums Arsenal erging es uns so. O, Schmach, o Schmach. Wir mussten zusehen, wie Hunderte unserer — 102 — Brüder von den Geschossen des Feindes hingerafft werden, ohne sie zu rächen. Wir sahen aber allmählich ein, dass alle Versuche, den Brüdern zu helfen, Wahnwitz gewesen wären. Unsere achthundert Gewehre reichten nicht gegen die grossen Kanonen des Feindes aus. Dennoch blieb wütender Zorn in unserm Herzen, dass wir nicht einmal schiessen durften. Unser Befehl lautete, das Leben der Einwohner der Stadt zu schützen. Und so zogen wir als Patrouillen Tage lang durch die Strassen der Stadt.
Eines Tages kam Liu Fu piao ins Quartier, liess die Patrouillen zurückziehen und gab Befehl zum Ausrücken. Niemand wusste, wohin es ginge. Die Aelteren freuten sich, weil sie glaubten, nun würde wirklich gekämpft. Statt dessen wurde einmal richtig gegessen, denn wir hatten seit vierzehn Tagen kein anständiges Essen im Leibe. Liu händigte einem Unteroffizier eine Summe Geldes aus und liess dafür über tausend warme Kuchen kaufen, von denen jeder Mann einen bekam. Dann marschierten wir kauend weiter nach dem Gebäude der Schansi Gilde am Nantao Bund, wo wir den Rest des im Feuer gewesenen 61sten Bataillons trafen. Wir waren noch nicht weggetreten, als Liu Fu piao mit einem etwa dreissig Jahre alten Chinesen kam, der einen goldnen Zahn hatte. Liu sagte, dass Herr Tsai einige Worte an uns richten wollte. Herr Tsai verneigte sich kurz und sprach, er sei bei dem Führer der Nordsoldaten gewesen, der sich sehr erfreut darüber ausgesprochen habe, dass die tapferen Kan sze tui Truppen ihre Kräfte aufgespart hätten und noch nicht gegen das Arsenal vorgegangen wären. „Ich sehe“, sprach Tsai weiter, „Ihr seid vom Hunger mager, Euch mangelt an Brot; Eure Waffenröcke sind zerschlissen. Folgt mir, ich will Euch Beides geben.“ Liu Fu piao bekräftigte mit wenigen Worten, was Tsai gesprochen hatte.
An demselben Tages wurden wir unter unserm neuen Führer Tai Hsing auf Boote verladen und nach den Wusung Forts gebracht, wo wir in der „Chung kuo kung hsueh“ bei dem Dorf Wen tsan pang Quartier bezogen. Tai Hsing hatte für ein gutes Quartier und ausreichendes Essen gesorgt, sodass bald frohe Laune herrschte. Die Leute auf meiner Stube stimmten das Kan sze tui Lied an:
Trotz des fröhlichen Lieds, in das auch die Leute auf den andern Stuben einfielen, herrschte doch bald wieder eine gedrückte Stimmung. Wir wurden das Gefühl nicht los, dass wir von unserm Führer wie Sklaven verkauft worden seien.
Am nächsten Morgen versammelte unser neuer Führer Ta Hsing die Mannschaften auf dem Haupthof der „Tschung kuo kung hsüeh“, wo wir im Quartier lagen und hielt eine Ansprache. Er sagte, wir seien in der Nähe der Wusungforts stationiert, um sie zu „schützen“. Wie und gegen wen wir die Forts schützen sollten, sagte er uns nicht. Die Aelteren von uns, die schon bei Nanking mitgefochten hatten und wirklich einmal kämpfen wollten, sahen sich erstaunt an und flüsterten sich etwas zu, was ich nicht verstand. Die Unzufriedenen wurden aber bald andern Sinnes, als Tai Hsing im Namen Liu Fu piaos einige Beförderungen bekannt gab. Auch ich stand auf der Liste und wurde vom Gefreiten zum Unteroffizier befördert. Als solcher verdiente ich vierzehn Dollar den Monat. Meine Freude war nicht gering; denn ich erhielt wirklich einmal Gelegenheit, ein paar Dollar zu sparen und wünschte im Stillen, dass die Revolution nur recht lange dauern würde. Ach, wenn ich damals gewusst hätte, wie kurz meine Zeit als Unteroffizier dauern sollte! Nachdem jeder der Beförderten einige Dollar Handgeld erhalten hatte, wurde Befehl zum Frühstücken gegeben. Mit grossem Poltern stürmten wir in die Stuben und harrten der reichhaltigen Mahlzeit, die unser neuer Führer uns versprochen hatte. Welche Enttäuschung! Es gab nur Tee und harte ausländische Kuchen. Ein grosser Groll sammelte sich gegen Tai Hsing an, weil er sein Versprechen nicht gehalten hatte. Die Beförderten kauten aber schweigsam die harten Kuchen und freuten sich auf das Essen, das sie am Abend in der Garküche nehmen würden, die nicht weit vom Quartier aufgeschlagen war. Am Abend sassen die Unteroffiziere unserer Truppe auf den schmalen Bänken vor der Garküche und schmausten und tranken. Der Unteroffizier Niu stimmte, als er — 104 — die Reste der gegessenen Speisen mit einem Näpfchen Wein hinuntergespült hatte, ein Soldatenlied an, in das wir einfielen:
Beim Singen klopften wir mit den Essstäbchen taktschlagend auf den Tisch. Da kam ein Bote unseres Kommandeurs und befahl uns, uns für den Ausmarsch bereit zu machen. Wir gingen in unsere Stuben, hingen Patronentasche und Nachtmantel um, und warteten auf das Signal des Aufbruchs. Das wurde bald gegeben. In einer langen Reihe, Einer hinter dem Andern, bogen wir in östlicher Richtung in die tiefschwarze Nacht. Längs des Huangpu marschierten wir in unsere Stellungen. Der Befehl lautete, scharfen Auslug auf verdächtige Fahrzeuge zu halten, die vielleicht Nordsoldaten den Huangpu aufwärts nach dem Arsenal bringen wollten. So lautete jeden Abend der Befehl. Bei Tage durften wir schlafen und essen. Liu Fu piao kam öfter von Schanghai und hatte wichtige Besprechungen mit Tai Hsing. Liu besuchte stets, ehe er nach Schanghai zurückkehrte, den Befehlshaber der Wusunger Befestigungen Kü Tscheng. Die Freundschaft, die die beiden Männer unterhielten, war ebenso stark, wie die zwischen Tsao Tsao und Kuang Yü, den hinterlistigen Helden aus der Zeit der „Drei Reiche“. Soldaten, die die geheimen Unterredungen zwischen Liu Fu piao und Tai Hsing, und zwischen Liu Fu piao und Kü Tscheng belauscht hatten, sagten, dass Yüan Schih kai unsere „Kan sze tui“ Truppe und die Besatzung des Forts für zehntausend Dollar kaufen wolle. Jeder Soldat sollte seinen vollen Monatssold und fünf Dollar Entlassungsgeld erhalten. Auffallend war, dass Liu Fu piao unsere Truppe täglich verstärkte. Wenn er von Schanghai zurückkam, brachte er immer einen Schub Rekruten mit, die zum Teil dem aufgelösten 61sten Bataillon entnommen waren. Eines Tages kamen auch auf Schleichwegen sechs Maschinengewehre. Wollte Liu unsere Truppe stärker machen, um mehr Geld beim — 105 — Verkauf an die Regierung herauszuschlagen? Merkwürdig war, dass Lius Besuche beim Festungskommandanten plötzlich aufhörten. Alles sah danach aus, als ob unsere Truppe nicht zum Schutz, sondern zum Angriff auf die Forts bereit sein sollte.
Wir hatten das Gefühl, als ob irgend ein schreckliches Ereignis in der Luft liege. Wie es kam, weiss ich nicht. Eines Nachmittags ertappte ich mich auf einem Spaziergang um unser Quartier. Es war von vier Seiten von einem breiten Wassergraben umgeben, und der Weg zum Haupteingang führte über eine Brücke. Wie notwendig diese kurze Orientierung war, zeigte mir der kommende Tag, an den ich mit Schrecken zurückdenke. Bei Morgendämmerung zogen wir uns aus den gewohnten Stellungen am Huangpu zurück und fielen nach der durchwachten Nacht bald in Schlaf. Die vom Nachtdienst frei gebliebenen Mannschaften flickten ihre zerschlissenen Uniformen oder kauten harte Kuchen. Ich war gerade beim Kleiderwechseln, als der Wachtposten am Haupteingang aufgeregt durch die Gänge lief und Liu Fu piao und Tai Hsing suchte. Tai kam aus seiner Stube, und ich hörte, wie die Ordonnanz in hastigen Worten meldete, eben sei eine starke Abteilung Soldaten aus dem Fort marschiert und nähere sich unserm Quartier in Schützenlinie. Kaum hatte er die Meldung erstattet, da sauste ein Geschoss über unser Quartier und schlug nicht weit davon ein. Wer hatte geschossen? Waren Nordsoldaten gelandet? Hatte das Fort auf uns geschossen? Es war keine Zeit zum Nachdenken. Der Donner des Geschosses liess alle Schlafenden erwachen. Jeder griff zu den Waffen. Alles eilte wirr durcheinander. Draussen knatterte Kleingewehrfeuer. Das erhöhte die Verwirrung. Vergebens schrie Tai Hsing in die Soldatenmenge, sich zu ordnen. Liu Fu piao lief bleich und mit herabhängendem Schnurrbart aus seinem Zimmer und versuchte durch mutiges Schimpfen seine „entwichene Seele“ zurückzurufen. Dann trat er zu Tai Hsing, und sagte ihm, er fahre sofort nach Schanghai, um Verstärkungen zu holen, damit der Verrat gerächt werde. Statt aber mutig durch den Hauptausgang zu laufen, der von den Angreifern unter Feuer genommen wurde, lief er nach Westen, wo er wahrscheinlich über die Mauer geklettert und durch den Wassergraben geschwommen ist, um mit heiler Haut zu entkommen. Die Geschosse der Feinde fielen dichter ein; darunter waren auch Granaten. Auf dem Hof waren etwa zweihundert Mann — 106 — angetreten, das war Alles, was von unsern achthundert Mann übrig geblieben war; der Rest war in der Verwirrung geflohen. Tai Hsing gab den Befehl, sofort durch den Hauptausgang dem Feind entgegenzurücken. Als wir im Sturmschritt durch den engen Ausgang in das freie Gelände liefen, prasselte uns ein Geschosshagel entgegen. Vor mir knickte ein Mann in sich zusammen; ich glaubte, er wollte seine Schuhriemen fester machen; er war aber zu Tode getroffen. Ohne starke Verluste waren wir endlich auf freiem Gelände und sahen unsern Gegner, der in langer Reihe hinter Feldrainen und Grabhügeln versteckt war. Auf dem Boden kriechend suchte jeder eine Deckung, und bald gaben wir den Angreifern durch anhaltendes Feuern ebenbürtig Antwort. Schuss auf Schuss krachte aus den grossen Geschützen im Fort, die schweren Geschosse flogen über unsere Köpfe weg und schlugen hinter unserm Quartier ein. Wahrscheinlich galten sie unsern Flüchtlingen, die wie ein Ameisenschwarm das Gelände überfluteten. Als Unteroffizier gab ich den Soldaten den Befehl, ein Maschinengewehr aus dem Quartier zu holen. An den Gebrauch dieser wirksamen Waffe hatte in der Verwirrung Niemand gedacht. Bald war das Gewehr in Feuerstellung. Niemand konnte aber damit schiessen. „Wer ist vom 61sten Bataillon?“, schrie ich die Reihe entlang. Rasch krochen einige Mann heran und dann sausten mehrere hundert Schuss in der Minute in den Feind; zugleich ratterten auch die Gewehre unserer zweihundert Mann. Das überraschende Schnellfeuer machte die Angreifer stutzig; einige wandten sich zur Flucht, und ihnen folgte ein grosser Haufe. Unsere Leute sprangen nun vor, schossen und rückten weiter vor, den Feind zurücktreibend, der keinen Widerstand leistete. So gingen wir rasch vor; etwa fünfzig Tote und Verwundete unserer Truppe bezeichneten den Weg, den wir gekommen waren, und ebensoviele Gefallene des Feindes zeigten uns den Weg, den wir noch zu gehen hatten. Etwa einen halben Li vor dem Fort blieben wir in Deckung liegen. Unteroffizier Niu, der am äussersten linken Flügel gefochten hatte, kam zu mir heran. Er blutete an der Wange. Trotzdem war sein Mut ungebeugt. Wir berieten beide, was nun weiter zu tun wäre. Sollten wir die Schmach auf uns nehmen, von unsern Brüdern, mit denen wir gemeinsam kämpfen wollten, angegriffen und geschlagen worden zu sein, oder sollten wir Rache nehmen? Rache nehmen hiess aber, für Yüan Schih kai gegen die Festung — 107 — Sturm laufen. Wir entschieden uns für Letzteres, denn wir sagten uns, dass Ehre und Reichtum gewiss war, wenn wir die Befestigungswerke für die Nordregierung nehmen würden. Ein Kamerad, der früher bei der Artillerie stand, sagte, am Besten wäre es, die nach dem Huangpu liegende Seite des Forts anzugreifen, wo kleinere Geschütze standen; sobald wir auf den Wällen wären, wollte er den übrigen Teil des Forts mit den Geschützen beschiessen. Das war ein Gedanke, dem Niu und ich sofort zustimmten. Niu kroch nach dem linken Flügel zurück und gab den Leuten kund, dass sofort Befehl zum Angriff gegeben werde; das Ziel sei die Eingangspforte in der Nähe des Teiches. Kaum war Niu an seinem Flügel angelangt, so machte er mit seinen Untergebnen, etwa achtzig Mann, eine Schwenkung, sodass sein Zug halbrechts gegen den Huangpu lag. Im Fort wurde die Bewegung bemerkt, und so bekam sein Zug heftiges Feuer. Nun ging es im Sturmschritt vor. Hie und da stürzte Einer von uns. Wir kamen aber dem Fort immer näher. Deutlich konnten wir die feindlichen Schützen auf der Umfassungsmauer sehen. Wir feuerten, sprangen vor, suchten neue Deckung und feuerten weiter, das Auge immer auf den östlichen Teil der Forts gerichtet. Dreihundert Meter — zweihundertfünfzig — zweih —. Da plötzlich ertönte ein furchtbarer Schrei vom linken Flügel. Wir sahen nach links und bemerkten zugleich, wie aus den Toren der Forts sich feindliche Truppen ergossen und sich wie ein Heuschreckenschwarm über das Gelände verbreiteten. Unsere Leute hatten bald die sich nahende Uebermacht bemerkt und begannen zu flüchten. Es war kein Halten mehr; in wirrem Durcheinander strömte der Rest unserer Truppen dem roten Backsteinbau zu, wo unser Quartier lag. Viele rissen sich die Patronengürtel vom Leib und warfen die Waffen fort, um schneller laufen zu können. Wie flüchtendes Wild vor dem Jäger sauste Alles über die Felder. Geschosse aus Geschützen und Gewehren schlugen in unsere Reihen und manch wildem Lauf wurde ein frühes Ziel gesetzt. Etwa achtzig Mann erreichten das Quartier. Niu, der sich trotz seiner Wunde immer noch tapfer hielt, befahl, zwei Maschinengewehre an den Eingang zu stellen. Sie konnten jedoch nicht in Aktion treten, weil uns der Feind von der Nordseite her angriff. Unser Führer Tai Hsing und seine Unterführer liefen aufgeregt durch Gänge und Höfe und wussten keinen Rat. — 108 — Auch wir Soldaten wussten nicht, was wir tun sollten; wir fühlten nur, dass unsere Widerstandskraft gebrochen war.
Ich wollte gerade in der Stube meine Sachen holen, da stürzten schon die Angreifer über Mauer und durch die Hinterpforte und zugleich schlug eine Granate in den hintern Teil des Gebäudes, das in Flammen aufging. Ich kletterte an einer Bambusstange die Südmauer hinauf, sprang auf der anderen Seite hinab und durchschwamm den Wassergraben. Ich blieb bis zum Oberkörper im Wasser und versteckte meinen Kopf zwischen Ufergebüsch. Aus dem Hof drang furchtbares Schreien und Schlagen, als ob mit dem Gewehrkolben auf Holz geschlagen würde. Nach einer Weile kroch ich aus meinem Versteck und wollte zwischen Reisfeldern das Weite suchen, als mich ein Schwarm der Angreifer entdeckte und mich zum Gefangenen machte. Ich wurde nach dem Hof unseres Quartiers gebracht, wo eine grosse Zahl meiner Kameraden von feindlichen Soldaten bewacht wurden. Auch Tai Hsing und seine Unterführer waren unter den Gefangenen. Unteroffizier Niu bemerkte ich nicht. Wir wurden unter scharfer Bewachung nach dem Fort gebracht, wo der Kommandant Kü Tscheng und seine Offiziere ein scharfes Verhör anstellten. Wir glaubten alle, dass wir erschossen werden sollten, zuerst wurde unser Führer Tai Hsing verhört. Kü Tscheng liess ihn vortreten und sprach zu ihm: „Du bist einmal einer meiner heissgeliebten Brüder gewesen, der für die gerechte Sache kämpfen wollte. Du bist aber ein Verräter geworden, der den Tod verdient.“ Kü Tscheng gab Befehl, den Gefangenen wegzuführen; Tai wurde am nächsten Morgen erschossen. Mit ihm noch einige Unterführer, mit Ausnahme Yings, der in die Dienste Kü Chengs trat. Von den Soldaten wurde keiner erschossen. Einige blieben im Fort, um bei Kü Tscheng Kriegsdienste zu tun. Die Uebrigen erhielten vier Dollar und durften gehen, wohin sie wollten.
Ich kehrte mit einigen Kameraden nach Schanghai zurück. Wir wollten Liu Fu piao suchen, der uns noch Entlassungsgeld zahlen sollte. Im Tai yang Tempel in Chapei fanden wir ihn. Dort kamen auch in den nächsten Tagen noch viele geflüchtete Kameraden, sodass wir im Ganzen zweihundert Mann waren. Viele von uns sahen mager aus und trugen zerrissene Zivilröcke. Liu Fu piao sorgte für unsern Unterhalt; er geizte aber mit den Ausgaben, so dass wir immer halbhungrig waren. Wir sagten ihm, er solle uns endlich ablöhnen. Einige von uns hatten — 109 — eine Zusammenkunft in einem Hotel in der französischen Niederlassung und beratschlagten, was sie nach ihrer Entlassung tun sollten. Sie beschlossen, eine Eingabe an den Tutu von Kiangsu, Tschen Teh tschuan, zu machen, worin sie ihn bitten wollten, sie in seine Dienste zu nehmen. Was daraus geworden ist, weiss ich nicht. Endlich erhielten wir unsern letzten Sold. Am Nachmittag wurde ein Handkarren mit zwei Kisten ins Lager gefahren, die Silberstücke enthielten. Liu Fu piao liess uns dann durch seinen Zahlmeister je sieben Silberdollar bezahlen. Sie waren ganz neu und noch nicht gebraucht. Auf dem Geld stand: „Dollar der Ta Tsing Dynastie“ in chinesisch und mandschurisch. Merkwürdig: wir einstigen Revolutionäre wurden mit dem Geld des Kaisers aus dem Dienst entlassen. Jeder erhielt eine Bescheinigung, dass er unter Liu Fu piao bei den „Kan sze tui“ gedient hatte. Liu ging am nächsten Tage nach Su tschou.
Das ist meine Lebensgeschichte.
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Der Leser wird vielleicht enttäuscht sein, wenn er den Erinnerungen eines chinesischen Revolutionärs bis hierher gefolgt ist. Er hat sicher erwartet, dass darin von Verschwörungen, Bomben und Begeisterung berichtet werde, besonders weil Wang Fei ting der „gefürchteten“ zum „Tode bereiten Truppe“ (die Engländer sagen „dare to dies“) angehörte, von deren Tapferkeit und revolutionärer Begeisterung in der chinesischen und englisch-amerikanischen Presse nicht genug Rühmens gemacht werden konnte. Liu Fu piao wird sich über die ungewollte Pressreklame oft ins Fäustchen gelacht haben, denn sie hat sicher dazu beigetragen, dass er den Verkauf seiner Truppe an die Pekinger Regierung unter den günstigsten Bedingungen hat durchsetzen können. Geschichtlich ist die Feststellung interessant, dass die „Kan sze tui“ Truppen in dem Augenblick, wo sie von ihrem neuen Führer Tai Hsing in Nan tao im Empfang genommen wurden, schon ohne ihr Wissen an die Nordregierung verkauft waren. Die Verführten und Betörten sind natürlich die Söldner gewesen. Solange sie bezahlt werden und genug zu essen haben, kämpfen sie für jede Sache. Hunderte sind um des Geldes und des täglichen Reises willen auf dem Schlachtfeld geblieben; ihnen flicht die Nachwelt keine Kränze. Die Erinnerungen des Revolutionärs bergen eine ernste Lehre für die chinesische Regierung. — 110 — Vor einigen Jahren zitterten die Behörden vor der „Studentengefahr“, da sie glaubten, dass in den Köpfen jugendlicher Heisssporne der Umsturz geboren werde; sie liessen aber dabei die „Soldatengefahr“ ausser Acht, die erst die Theorien politischer Wolkenkukuksheimer wirksam machen konnte, und die aus den Kreisen heraus entstehen musste, die infolge der sozialen Verhältnisse nach einer bessern Lebensversorgung drängten. Erst das Geld, dann die Gesinnung war das Schlagwort dieser Kreise; dass es mitunter zum Siege führen kann, hat die Wu-tschanger Revolution des Jahres 1911 gezeigt. Solange China Hunderttausende junge Menschen hat, die auf die Gefahr des Totschiessens hin jedem Demagogen folgen, der ihnen Geld und Reis zu bieten vermag, schwebt über jeder Regierung in Peking, sei sie republikanisch oder monarchisch, das Damoklesschwert einer Revolution.
D ie paar tausend Westländer, die die Ufer des Huangpu und die grünen Baumränder des Stadtgürtels bevölkern, sind mitten unter den Hunderttausenden von Chinesen die Fiebererreger der Arbeit. Was wäre Schanghai ohne die Ausländer? Dschunkenhafen wie viele andere an der Küste; vielleicht etwas sittlich gesünder und nüchterner als das jetzige Schanghai, aber ohne das belebende Kapital. Das haben erst die Ausländer hereingebracht; wie aus einem goldnen Füllhorn wurde es über die Stadt ausgeschüttet. Das sumpfige, wertlose Gelände, angeschwemmt von verschlickten Flüssen, das man vor sechs Jahrzehnten für ein paar Dollar hätte kaufen können, hat heute einen Wert von Millionen. Eng aneinander gepfercht liegen die fremden Geschäftshäuser, ineinander verbissen; keins kann dem andern Raum geben. Dazwischen schieben sich überall chinesische Häuser herein, mit dumpfen, sonnenlosen Räumen. Jeder Zoll kostet Geld. Drunten von Wusung bis viele Meilen flussaufwärts reihen sich die surrenden Getriebe der Fabriken und wie Dürstende drängen sie sich an den Ufern des Suchouer Krieks, der ihnen den Verkehr auf dem Wasser ermöglicht; ihr Räderwerk steht nie still. Weissflockige Baumwolle, von zarten Mädchenhänden entkernt, wird zu glänzenden Geweben gesponnen und gefärbt; Zigarren in Form und Zigaretten in Hülsen gebracht; aus gelben Bohnen, von der Mandschurei geliefert, wird goldbraunes Oel gepresst, Getreide zu blendend weissem Mehl gemahlen; Eisen und Stahl wird geschmiedet und gegossen und aus Hopfen und Malz deutsches Gebräu hergestellt; unzählige kleingewerbliche Betriebe gewähren Tausenden Verdienst. Ein auf- und abwogendes Leben herrscht in den Strassen, wo Tausende von Läden den stillen Kampf um den Kunden führen. Kunstgewerbliche Erzeugnisse aus den achtzehn Provinzen sind in den Auslagen vertreten. Riesige — 112 — Lagerschuppen erheben sich in meilenweiter Ausdehnung am Fluss, empfangen fremde Güter aus tiefem Schiffsrumpf und stossen sie von Zeit zu Zeit automatisch wieder ab. Der fremde Kaufmann im Geschäftshaus füllt täglich Seiten mit schwindelerregenden Zahlen, wirft mit Hunderttausenden um sich, die sich bei der kleinsten Kursschwankung vermehren und verringern können, ist Mehrer der vierteljährigen Zollstatistik und sieht in seinem Leben kein Stück der Waren, die ohne Fährnisse an ihren Bestimmungsort gelangen. Alles wickelt sich so sicher und taktmässig ab, wie ein gleichmässig abgestimmtes Uhrwerk. Für viele Millionen Mark Waren bringen die paar tausend Westländer jährlich herein; trotzdem sind sie nur ein Tropfen auf das unermessliche Absatzgebiet. Der Kaufmann glaubt zu herrschen; doch er wird beherrscht. Beherrscht von all den subtilen Aeusserungen auf dem riesigen Weltmarkt. Wenn heute in Kanada die Ernte missrät, der indische Monsun früher einsetzt als gewöhnlich, in Manchester die Arbeiter streiken, ein europäisches Bankhaus verkracht, ein Balkanstaat Kriegsdrohungen ausstösst, so äussert sich das mehr oder minder merklich auf dem hiesigen Markt. Weniger von diesen Einflüssen abhängig ist der chinesische Markt. Wie ein Kettenglied greift das Kapital eines Geschäftsunternehmens in das andere über; ebenso wie das kollektivistische Chinesentum dem individualistischen Westländertum, so steht hier das kapitalistische chinesische Unternehmertum dem westländischen Einzelunternehmer gegenüber. Hier Stärke, die sich auf sich selbst verlässt, und von Mächtigeren niedergerungen werden kann, dort vereinigte Schwäche, die sich schon mehr als einmal als das Stärkere erwiesen hat. Die Erfahrung lehrt aber, dass immer dann ein chinesisches Unternehmen zu Grunde ging, wenn es, beeinflusst von individualistischen westländischen Geschäftsgebahren, aus dem Rahmen seiner mächtigen Organisation, dem verkapitalisierten Chinesentum, trat. Es wurde ein Opfer des europäischen Individualismus, für den China noch nicht reif ist. Das ist in den letzten Jahren häufig in Schanghai geschehen, zum Beispiel bei den wilden Gummispekulationen, und die Folge sehen wir in dem unbeständigen chinesischen Geldmarkt, der vorübergehend seiner innern Stärke beraubt, mit Allerweltspflästerchen von Zeit zu Zeit verklebt werden muss. Schanghai ist eine Weltstadt. Das beweist auch sein vielhunderttausendköpfiger Menschenschwarm, der sich Tags über durch die Strassen — 113 — schiebt und die engen Grosstadtwohnungen bevölkert. Aus allen Provinzen des Reichs stammen die Bewohner. Nach altem Brauch, der zugleich ein treffender Beweis für das starkentwickelte Heimatsgefühl des Chinesen ist, ist das Herkunftsland für jeden Chinesen stets die Provinz, in der zuletzt sein Urgrossvater ansässig gewesen ist. Wenn somit eine Familie vor drei Generationen von Schantung nach Schanghai ausgewandert ist und sich seit dem in Schanghai niedergelassen hat, so fühlen sich die hier geborenen Urenkel noch als Schantunger. Im Hinblick auf die Tatsache, dass ein grosser Teil der chinesischen Bevölkerung Schanghais aus allen achtzehn Provinzen stammt, und der grösste Zuwachs erst seit den letzten drei Jahrzehnten stattgefunden hat, wird demnach Schanghai von Leuten bewohnt, die rein äusserlich die Bevölkerung Schanghais ausmachen, sich im Herzen aber gar nicht als Schanghaier fühlen. In den Stamm der Bevölkerung Schanghais, die sich vor sechs oder sieben Jahrzehnten aus Bauern und Schiffern zusammensetzten, brachten die regsamen Chekianger, in denen heute noch zum Teil etwas von der Regsamkeit der geschäftstüchtigen Araber steckt, die in Hang tschou und Ningpo stark bevölkerte Ansiedlungen besassen, den geschäftigen Geist, und den Blick für das Grosse die Leute aus dem fernen Schansi. Die trefflich organisierten Banken der Schansier haben heute noch einen grossen Ruf innerhalb der chinesischen Welt. Die Leute aus Anhui begünstigten die Leichtlebigkeit; denn merkürdiger Weise stammen alle Pfandhausinhaber in Schanghai aus der Provinz Anhui. Und ausser aus diesen drei Provinzen haben noch Einflüsse aus den fünfzehn andern und nicht zum Geringsten aus dem Ausland mitgewirkt, um im Schanghaier einen neuen chinesischen Typ auszuprägen. Er hat, zur Masse vereinigt, eine gewaltige Assimilierungskraft, der jeder andere Chinese, dessen Wiege nicht in Schanghai gestanden hat, zum Opfer fällt. Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Wenn man ein Stück weisses Tuch in Indigo wirft, so wird es blau“. Nun, Schanghai ist der riesige Indigotopf. Und wer als Einzelner hineingerissen wird, der nimmt die Farbe der Allgemeinheit an. Und wenn er nach seiner Heimatprovinz zurückkehrt, so steht er mit seiner in Schanghai erlernten Weltanschauung fremd am eigenen Herd. Denn es ist eine ganz eigenartige, berückende Luft, die hier in Schanghai weht, eine sinnbetörende Atmosphäre die der Atem der Weltstadt verbreitet. Das gilt für das — 114 — Wirtschaftsleben, dem man nüchternen Auges gegenüberstehen soll, vielleicht weniger, als für das politische und gesellschaftliche Leben. Für Letzteres aber ist Schanghai der tonangebende Platz des Reichs geworden. In engen, verkehrsdurchwogten Gassen liegen die Hauptquartiere der politischen Parteien. Eine Botschaft durch den Draht gibt den Parteimitgliedern bei der Pekinger Regierung die Weise an, nach der sie zu tanzen haben. In Schanghai wohnen die unsichtbaren Machthaber Chinas. Was sie nicht denken, spricht die ihnen nahestehende Presse aus; was sie denken, verschweigt sie. Keine andere Stadt in China hat ein äusserlich so entwickeltes Zeitungswesen wie Schanghai. Innerlich steht es auf derselben Stufe, wenn nicht auf niedrigerer, als vor einem Jahrfünft. Nachrichten wie folgende: „Eine ehrsame Witwe genas eines Fuchses“, sind zwar in Folge der „aufgeklärten Zeit“ aus den Spalten der Blätter verschwunden, früher aber häufig vorgekommen. Die Redakteure der chinesischen Blätter stehen nicht im besten Ruf. Das kommt daher, dass die Arbeitszeit von sechs Uhr Abends bis zwölf Uhr Nachts dauert und dass ein einmal „angebrochener Nachmittag“ glücklich zu Ende geführt werden muss. Die wenig sittliche Kraft der Redakteure zeigt sich auch im Inhalt der Zeitungen, an denen sie arbeiten. Es vergeht kein Tag, wo den Lesern nicht irgend eine illustrierte Geschichte aufgetischt wird, deren Heldinnen Freudenmädchen sind. Anstatt Erzieher des Volks zu sein, sind die Schanghaier Blätter Verderber des Volks. Wenn irgendwo Politik den Charakter verdirbt, so geschieht es in Schanghai. Denn eine Anzahl Blätter blasen politische Zukunftsmusik, die gar lieblich das Ohr der verständnislosen Leser umfächelt. Proletariat, Prassertum und freie Liebe ist ein gern gehörter Kehrreim. Was in den politischen Vereinigungen, deren es in Schanghai über zweihundert geben soll, über Politik gefaselt wird, lässt sich gar nicht beschreiben. Meist liest es nur eine geringe Anzahl. Manchmal dringt aber auch etwas in weitere Kreise. Eine Frau gründet einen sozialen Frauenklub. Sie selbst ist der Vorstand und hat ihren Mann zum Schatzmeister ernannt. Dieser kassiert die Mitgliedsgelder ein, sagt „Mein Name ist Schall und Rauch“ und verflüchtigt sich. Diese Vereinsgründung ist ein Beweis, dass auch unter der Schanghaier Frauenwelt politisches Leben seinen Einzug hält. Dieses Mal kommt alles Heil von Canton, das sich brüsten kann, drei Frauen in seinem Landtag zu haben, — 115 — die mit süssen Stimmchen über die Geschicke Kuangtungs entscheiden helfen. Chinesische Frauenrechtlerinnen sind ein bestimmter Typ. Der weibliche Typ des „zurückgekehrten Amerikastudenten.“ Anstatt als werdende Hausfrauen eifrig Küchenchemie zu treiben, haben sie Bombenchemie getrieben, die ihnen während des Aufstands gute Dienste geleistet hat. Wie andere Beteiligte an der Revolution verlangen auch sie für ihre Dienste eine Gegenleistung, und die besteht lediglich darin, dass den paar Millionen chinesischen Frauen politisches Stimmrecht verliehen wird. Die Regierung hat abgewinkt. Nun, so versuchen die Eiferinnen in zäher Arbeit ihr Ziel zu erreichen. Mit der Gründung einer Schule für angehende Frauenrechtlerinnen ist in einem Wetterwinkel Schanghais bereits begonnen worden. In Wort und Schrift wird für den neuen Frauengedanken Propaganda gemacht. Der Anschluss an englische und amerikanische Vereinigungen, die dem gleichen Ziel zustreben, (das heisst, mitunter einmal Fenster einschlagen oder einen hohen Beamten durch Johlen zur eiligen Flucht zwingen, ist auch schon in China vorgekommen) ist bereits gelungen. Ja, Schanghai ist eine Weltstadt.
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Ein Unbekannter, der einen flüchtigen Tag in Schanghai verbrachte, schrieb am 2ten April 1908 in sein von der „Neuen Rundschau“ veröffentlichtes Reisetagebuch: „Ueber den Menschen liegt die Stumpfheit der Kulturferne. Nur materielle Kultur ist da, und man fühlt recht, wie wenig sie bedeutet. Für den Chinesen ist sie eine ungünstige Folie. Er scheint, an ihr gemessen, plump und unzugänglich. Andererseits wirkt er in diesem seelenlosen Milieu selber noch nüchterner und trockener.“ Der Mann, der das schrieb, hat beim Betreten der Weltstadt Schanghai nicht nach Art der flüchtigen Weltenbummler das Protzig-Aeusserliche, durch westländische Zivilisationsmittel Geschaffene auf sich einwirken lassen, sondern hat mit einem offenbaren Sinn für das Psychologische ausgestattet, nach der Seele der Weltstadt gesucht, wie er sie wohl in jeder grossen Stadt des europäischen Festlands zu entdecken gewohnt war. In Schanghai hat er die Seele nicht gefunden, und er musste die Feststellung machen, dass es seelenlos, das heisst kulturlos, ist. Ihrer ganzen Entwicklung nach musste auch Schanghai zur steten Kulturlosigkeit verdammt werden, und alle Versuche, ihm eine Seele einzuhauchen, müssen scheitern, weil noch der Meiste — 116 — r fehlt, dem das gelingen könnte. Schanghai ist das nackte Produkt eines krassen Materialismus, dem alle Ansätze zu einer veredelnden Weiterbildung fehlen. Handel- und Schachergeist hat die Weltstadt erbaut, von Handel- und Schachergeist wird sie beherrscht. Aufgezwungene Verträge, unter drohenden englischen Kanonenschlünden unterschrieben, schufen den Grund und Boden, auf dem sie steht. Ganze Strassen gehören satten Kapitalisten, deren Söhne von den Erträgen leben, die die fetten Häusermieten abwerfen. Es waren nicht die edelsten Vertreter des Westens und des Chinesentums, in deren Schweiss die Weltstadt entstanden ist. In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war China das Land des europäischen Abenteurers, der besonders durch den Taipingaufstand angelockt, Schanghai zum Stützpunkt seiner Unternehmungen machte; die politische Konquistadorenpolitik zerschellte an dem passiven Widerstand des Chinesentums. Desto nachdrücklicher war die wirtschaftliche Konquistadorenpolitik. Englische Lebensinteressen erforderten es, dem indischen Opium ein Absatzgebiet zu schaffen. Durch den Rachen Schanghais wurde das berauschende Gift ins Land geschüttet, das seinerseits hergab, was der Acker trug. Der mit den Landesverhältnissen unkundige Kaufmann brauchte einen Vermittler, den Compradore, der, sich durch den Zwischenhandel rasch bereichernd, zu einer neuen Gesellschaftsklasse auswuchs, die allmählich zur herrschenden Klasse geworden ist. Sie ist ebenso wie die Weltstadt Schanghai durch und durch materialistisch. Schanghai speicherte immer Reichtum in seinen Mauern auf und brachte andere Handelsstädte an der Küste unter seine wirtschaftliche Vasallenschaft. Schon regte sich unter der Jugend das Bedürfnis nach westländischer Bildung. So entstanden Schulen, in denen der Junge lernte, wie man rasch Geld verdienen konnte. Der Kontordiener der Tags über mechanisch mit der Presse Briefe kopierte, liess sich Abends in die Geheimnisse der englischen Sprache einweihen, mit der sich so leicht Geschäfte machen liessen. Vielleicht bin ich in einigen Jahren ein gebietender Handelsherr, dachte er. Vielen war das Glück hold. Zwei brachten es sogar zum Minister. Es waren auch nicht die besten Vertreter des Chinesentums, die sich in den Gründerjahren in Schanghai zusammenfanden. Flüchtlinge aus dem Taipingaufstand, Verbrecher, bankrotte Kaufleute, alle möglichen verkrachten Existenzen, sammelten sich im Bereich der schützenden Niederlassungsgrenze. So wuchs — 117 — Schanghai allmählich heran; ein Schreckbild und warnendes Beispiel für jeden wahren Chinesen.
Und was ist Schanghai heute? Aeusserlich ist es ins Weite gewachsen und nennt alle Mittel westländischer Zivilisation sein eigen, einschliesslich des Luftfahrzeuges, das schon über die Dächer surrte. Doch die Menschen sind dieselben geblieben. Für Jeden, der durch den Tod abberufen wurde oder mit prallem Geldbeutel in die Heimat zurückkehrt, springen drei neue ein, die in derselben Weise des Glück erjagen wollen. Beinahe genau in denselben Bahnen, wie vor fünfzig Jahren, bewegt sich das Verhältnis zwischen Westländer und Chinesen. Die, die durch gemeinsame Interessen, das heisst das Geldverdienen, miteinander verknüpft sind, leben im besten Einvernehmen; es ist ein künstlich gezwungenes Einvernehmen, das jede Partei erhalten zu sehen wünscht, weil es zum beiderseitigen Vorteil gereicht. Von irgend einem tiefern, gegenseitigen Verständnis, einem sich anbahnenden „Sich verstehen wollen“ ist keine Spur vorhanden. Unüberbrückbar ist die Kluft zwischen dem Westländertum und der breiten Bevölkerungsmasse. Pharisäischer Rassenhochmut des Westländers und verhaltener Hass der Masse gegen den erobernden Eindringling sind Extreme, die sich nie berühren, sondern die nur noch weiter auseinanderklaffen können. Vor fünfzig Jahren, als sich der Westländer wirklich auf die Macht seiner Kanonen stützen konnte und als noch die chinesische Masse ihre ganze Ohnmacht fühlte, da war die herrschende Stellung des Westländers bedroht. Fünfzig Jahre bedeuten aber für Chinesen, deren Zahlengedächtnis, wenn sie die Geschichte ihres Landes studieren wollen, die Stufenleiter abwärts bis dreitausend vor Christus zurückgehen muss, nur eine Tag- und Nachtspanne. Und wie leicht kann er sich Dessen erinnern, was erst gestern geschehen war. Noch leben achtzigjährige Greise in Schanghai, die ihren Enkeln erzählen können, wie damals die Westländer die gesegneten Fluren zertrampelt haben und wie sie jedem, der sich nicht scheu duckte, die starke Faust des Eroberers fühlen liessen. In Büchern und Schriften sind die Sünden der Westländer aufgezeichnet, und nie wird ihnen dereinst grossmütig Absolution gegeben werden. Nein, die Nachkommen müssen fühlen, was ihre Vorfahren im Unverstand getan haben. Hat Schanghai nicht oft genug elementare Ausbrüche der Volkswut erlebt? Haben die Jahre 1905, 1908 und 1910 nicht Explosionen eines Volksempfindens gebracht, das — 118 — den Westländern übel will? Die Revolution hat dieses Empfinden geschärft. Genau in dem Masse wie sich in den Kreisen der Jungchinesen ein bis zur äussersten Empfindlichkeit gesteigertes Nationalgefühl herausgebildet hat, das gegen jeden vermeintlichen Uebergriff der Westländer in chinesische Hoheitsrechte geschlossen Front macht, ist auch das Massenempfinden auf diese Abwehr eingestellt. Und dieses Empfinden ist aus den Verhältnissen der chinesischen Weltstadt geboren worden; es ist, wie die Stadt selbst, das Erzeugnis einer kalten, materialistischen Kultur, die zwar Westländer und Chinesen im wirtschaftlichen Wettbewerb nebeneinander arbeiten lässt, die aber fast jede, vom Wunsch einer gegenseitigen geistig-kulturellen Annäherung getragene Absicht bisher vereitelt hat. Das ist eben der Fluch der Kulturlosigkeit, der auf Schanghai lastet. In der fortwährenden Anhäufung materieller Werte ist die Prägung geistiger Werte unterlassen worden. Schanghai ist der missglückteste Versuch einer westländisch-chinesischen Annäherung.
Die Geschichte lehrt, dass Weltstädte infolge der Fäden, die sie mit aller möglichen Herren Länder verknüpften, vielfach als Präger neuer Kulturen auftraten. Man braucht hierbei nur an die Riesenstädte Niniveh, Babylon, Theben, Memphis zu denken, die mittelbar die Mittelmeerkultur geschaffen hatte. Ist dem kulturlosen Schanghai eine ähnliche Rolle in Zukunft für das gewaltige chinesische Festland vorbehalten? Canton, das vor der Revolution als Ausgangspunkt einer neuen chinesischen „Kultur“ in Frage kommen konnte, musste die Führung schon an Schanghai abtreten, das nach allen Teilen des Reiches enge Verbindungen unterhaltend, der günstigste Platz für ein solches Unternehmen ist. Seine Presse trägt die Schanghaier Anschauungen weit in das Land hinein und lockert den Boden im Volk. In dem Augenblick, wo ganz China dem westländischen Unternehmungsgeist geöffnet ist, gibt es kein Halten mehr. Was dann geschehen wird, ist ein Zukunftsbild, und doch glaubt man es schon im Spiegel zu erschauen, wenn man auf Schanghai blickt. Schanghai ist das Spiegelbild des künftigen China. Neue Grosstädte werden wie berückende Sumpfblumen über Nacht entstehen und sich durch dieselbe Kulturlosigkeit auszeichnen wie ihr Vorbild; kleinere Städte und Dörfer werden sich anschliessen. Alles Schöne und Edle, was die chinesische Kultur zu geben hat, wird hinweggefegt, und das Gemeine und Hässliche, was der westländischen — 119 — Kultur anhaftet, wird siegreich vordringen, während ihre edlen Bestandteile erdrückt werden. Chinesischer und westländischer Materialismus werden sich wieder die Hand zum fröhlichen Bunde reichen. Das wird ein Arbeiten ohne Feiern. Denn wie berückend muss doch das Gefühl sein, nicht einer einzelnen Stadt, sondern allmählich einem tausendjährigen Kulturreich den Stempel der Kulturlosigkeit aufzudrücken.
D as Boot wird mit langen Bambusstangen durch den schokoladenfarbenen Suchouer Kriek gestochen. Es ist ein schmuckes Hausboot. Sein Inneres ist peinlich sauber, deutsch anheimelnd. Fast könnte man glauben, man sässe in einem schlicht geschmackvollen Junggesellenzimmer. Heimatbilder zieren die niederen Wände, von empfindender Künstlerhand aufgehängt. Am Bug, der sich allmählich in die Strömung des Huangpu hineintastet, stehen Liegestühle bereit, darin man wohlig seine Glieder reckt.
Noch liegt die Dämmerung hinter dem hellen Tageshimmel versteckt. Dem Auge nicht sichtbar kämpft sie um Durchbruch.
Zur Rechten atmet die „Lunge Schanghais“, der Stadtpark. Wie neu und eigenartig wirkt das Treiben, vom Fluss gesehen. Auf sattgrünem Hintergrund heben sich farbenfrohe Flecken ab, so willkürlich, als ob ein Maler, erbost über das Misslingen eines Werkes, alle Farbentuben auf der Leinwand ausgequetscht hätte. Obwohl man keine der auf- und abwandernden Gestalten erkennen kann und das Gesamtbild in einem wirren Farbenmeer gerinnt, braucht man nur für zwei Sekunden die Augen zu schliessen und die Phantasie rekonstruiert naturgetreu das Bild. Denn Jahr aus, Jahr ein ist man ja selbst ein wanderndes Pünktchen im Farbenmeer; die Gewöhnung hat Einen gar vertraut mit den spazierengehenden Menschen gemacht; Manche hat man bis in die winzigen Gesichtsrillen studiert. Und doch geht man täglich an sich vorbei. Unbekannt und doch bekannt. Ab und zu zuckt unwillkürlich die Hand zum Gruss. Doch auf halber Höhe erstarrt sie, weil der Verstand sagt: „Mensch, du bist ja gar nicht vorgestellt.“ Trotzdem beherrscht ein instinktives Gefühl der Zusammengehörigkeit die Masse der Spaziergänger; sie fühlt sich als europäisches Einsprengsel mitten in dem brandenden chinesischen Völkerkessel, und sie weiss, dass es, wenn sie sich zersplittert und von dem Sauerteig chinesischer Assimilierungskraft verschlungen wird, keine — 121 — Rettung gibt. Das wäre nicht zum ersten Mal in der chinesischen Geschichte. Und was noch das Zusammengehörigkeitsgefühl stärkt, das ist die Musik, die aus dem Tempel ertönt und von deren schmeichelnden Weisen gewiegt, die Menge auf- und abwandert. Sie ersetzt Manchen während der heissen Sommermonate die Sehnsucht nach frischer Luft, an der Schanghai so arm ist, und die Berge, die ihm so ganz fehlen. Sie reizt seine Phantasie an, entrückt ihn vom dem Sumpfboden, auf dem Schanghai steht, entführt ihn in Gärten voll duftender Blumen und lässt ihn alle Erdenschwere abstreifen. Dafür soll Euch immerdar gedankt sein, ihr Musiker. Heute blast ihr zwar gegen den Wind, und der ist so ungnädig, dass er nur stossweise die Tonwellen zu unserm Boot herüber wirft. So hören wir nur in abgehacktem Rhythmus die Weise aus dem ewig jungen Grafen von Luxemburg.
Jetzt siegt allmählich die Dämmerung. Mit ockergelben Wangen lugt sie hinter den Zinnen der arbeitsreichen Stadt hervor. Im Norden würde man sich vor einer solchen Farbe in einen wettersichern Winkel verkriechen. Denn dort kündet sie den gefürchteten Staubsturm an. Hier leuchtet sie nur zur Augenweide des Sentimentalen. Und je aufmerksamer man hinschaut, desto mehr bemerkt man, wie sich die Wangen rötlich tönen, erst orangefarben werden, dann rot und dunkelrot. Und die Wangen erhalten eine geheimnisvolle Leuchtkraft, die aus sich selbst heraus wächst. Drüben, am Putunger Ufer erglühen die Glasfenster der stampfenden Fabrik wie Feuer. In die Abendröte getaucht stöhnt das kleine Hangchouer Dampfboot flussauf; es schleppt hinter sich fünf maschinenlose Passagierboote. Wie flinke Geier stürzen sich von allen Seiten kleine Sampans auf den Schleppzug, die Bootshaken werden in die Bordwand eingekrallt, und die Sampanführer machen vergnügte Gesichter, dass sie ohne Anstrengung ein Stück stromauf geschleppt werden. Fünf Meter hinter dem letzten Schleppboot prescht noch ein Sampan gegen den Strom; auch er möchte ein Stückchen mühelose Fahrt machen. Eine stattliche Frauengestalt mit umschlungenem Kopftuch steht am Ruder, das sie mit Leibeskräften vorwärts schraubt. Das Glück ist ihr hold; sie kann ihr Fahrzeug festmachen. Erschöpft lässt sich die Frau auf der Bootsbank nieder und stösst das erleichternde „Ajo“ aus. Bald hätte sie den Anschluss verpasst.
Langsam fährt unser Boot stromauf. Das Hangchouer Schiff mit seinem stattlichen Anhängsel ist schon ausser Sicht. Am englischen Stationär vorbei, passieren wir zwei weissgelbe russische Torpedoboote mit hochgebautem Vordersteven, ein graublaues deutsche Kriegsschiff, einen typischen Amerikaner und einen Holländer, der mit seinen zwei schwarzen Zylinderhüten auf gelben Schornsteinen so behäbig in der braunen Schokoladensauce des Huangpu liegt, wie der selige Droogstoppel zwischen seinen „Bruntjes“.
Das Abendrot ist gewichen. Schanghai ist in ein leichtes Grau gehüllt. Scharf und kantig, wie aus dunkler Pappe geschnitten, hebt es sich vom Huangpuufer ab und klebt gegen den Himmel. Kleine Pinassen wachsen sich im Zwielicht zu grossen Dampfern aus und durchschwirren auf letzter Fahrt den Strom. Verspätete Sampans durchkreuzen den Fluss. Eigentümlich wirkt die Gestalt des Mannes am Ruder. Die Beleuchtung erniedrigt den Starken zu einem übergrossen spindeldürren Wesen, das wie eine vom Wind bewegte Vogelscheuche aussieht. Das Putunger Ufer liegt in Dunkel gehüllt. Die riesigen Lagerschuppen muten wie eine Hügellandschaft an, an der unser Boot entlang gleitet. Kein Fünkchen Licht erhellt das Dunkel. Allmählich kommen wir in den Bereich der chinesischen Stadt. Das Auge vermag das gegenüberliegende Ufer nicht zu erreichen; denn der Blick ist von einem Wald von Masten gehemmt. Hunderte von hochgebauten, seegehenden Dschunken liegen vor Anker. Tiefe Stille herrscht auf ihren Decks; kein Wellenschlag setzt die plumpen Schiffsrümpfe in Bewegung, deren Masten kerzengrade gegen den Himmel starren. Bis nach Singapore und nördlich bis in die Mandschurei und Korea fahren die Dschunken. Sind gefahren; denn seit Monaten liegen sie hier und warten auf bessere Zeiten. Wie selten lichtet einmal ein Boot den Anker und fährt flussab. Und wie lange wird es noch dauern, da man dem chinesischen Schuljungen auf Bildern zeigt, auf welch unbeholfenen Fahrzeugen die Eltern oder Grosseltern ihre Güter befördern mussten. Jung China trägt sich mit Plänen; mit grossen Plänen. In einigen Jahrzehnten wird China einen Schiffspark haben, der ähnlich wie in Japan mit hohen staatlichen Unterstützungsgeldern aufgepäppelt, auf dem Gebiet der chinesischen Küstenschiffahrt und vielleicht auch der Weltschiffahrt gewaltige Verschiebungen bringt. Schade, dass die Dschunke „Ningpo“, die — 123 — ein findiger Amerikaner den Schaulustigen auf der Ausstellung in San Franzisko „in Freiheit dressiert“ vorzuführen beabsichtigte, nicht über den „Stillen Teich“ kann. Das wäre doch ein Hauptvergnügen für Chinas kommende Geschlechter, eine Reise nach „Frisko“ zu machen, um einmal in Amerika zu sehen, wie früher eine chinesische Dschunke ausgesehen hat! Andererseits wird aber auch die Zeit nicht mehr fern sein, wo man sich als in China lebender Westländer in Erinnerung zurückzurufen haben wird, wie eigentlich ein ausländischer Yangtsedampfer ausgesehen hat. An diese Frage wurden wir erinnert, als unser Boot an der dunklen Masse eines ausländischen Dampfers vorbeifuhr, der schon einige Zeit an derselben Stelle vor Anker liegt, und sich noch immer nicht entschliessen kann, seine regelmässigen Fahrten zwischen Schanghai und Hankou wieder aufzunehmen. Der Wettbewerb auf dem Yangtse ist hart. Und er wird noch bedeutend verschärft, wenn chinesische Dampfergesellschaften ins Geschäft kommen. Das wird ein heisser Kampf werden, der schliesslich zum Sieg der Chinesen führen muss. Deshalb tut man gut, sich jeden ausländischen Yangtsedampfer genau zu betrachten, damit man später seinen Enkeln erzählen kann, wie ein solches Schiff ausgesehen hat. Dann wird man auch nicht umhin können, die Glanzzeiten des Europäertums in China kurz zu streifen.
Noch eine halbe Stunde ging die Fahrt flussauf. Dann klirrt die Ankerkette auf den Schlammgrund des Huangpu. Ein beschauliches Plätzchen hatte der Bootsmann ausgesucht. Einsam schaukelt das Boot auf dem Fluss. Ringsum liegt Alles im Ungewissen. Hundegebell und der Klang von Menschenstimmen dringen hinter einer schwarzen Wand hervor, die ebenso gut eine Baumgruppe wie eine Tempelanlage darstellen kann. Halbrechts, ein Stückchen flussab, glimmen viele flackernde Lichter im Dunkel, aus dem Fiedelklänge und Gelächter ertönen. Die Bevölkerung feiert dort ein Fest. Ab und zu löst sich eine plump beleuchtende Masse vom Ufer ab und steuert der Mitte des Stromes zu; es ist ein Boot, an dessen Bug ein korbähnliches Drahtgeflecht angebracht ist, in dem mit Silberpapier nachgeahmte Geldstücke in nie erlöschender Flamme verbrannt werden, um die Seelen der im Fluss Ertrunkenen zu versöhnen. Im Deckstuhl liegend, starrt man nach dem Himmel. Der ist in nimmer ruhender Bewegung; es scheint, als ob flüssiges Gold und Silber über tiefblauen Stahl riesele. Die Sternbilder der Lyra und des Aquila, in denen der — 124 — Chinese ein webendes Mädchen und einen Hirten verkörpert, sind wieder getrennt. Nur einmal im Jahr, am siebten Tag des siebten Monats, wenn die Weberin in den Bereich des Hirten kommt, dürfen sie sich zärtlich umarmen; die übrige Zeit muss die Weberin getrennt von ihrem Gatten leben. Viele chinesische Frauen und Jungfrauen richten an dem jährlichen Vermählungstag der beiden sich liebenden Sternbilder die Augen sehnsüchtig gen Himmel und erbitten das Glück, das ihnen das Geschick bisher verwehrt hat.
Die Fahrt geht wieder flussab. Der schmutzige Huangpu hat etwas von dem Silbergeschimmer angenommen, das vom Himmel strahlt. Der freche Geselle rauscht sogar so verführerisch wie der Rhein. Weit hinten leuchtet der Lichtkreis über Schanghai. Riesige Lichterketten, mitunter so regelmässig wie ein glitzerndes Perlengehänge, zeigen dem Boot den Weg. Aus der Ferne tönt das Stampfen und Atmen der Grossstadt, dieses aus chinesisch westländischer Kulturnotzucht hervorgegangene Kind, in dessen Zukunft man nicht blicken kann, wie es ebenso auch vergebens ist, zu ahnen, was hinter dem Lichtermeer liegt, wenn man als Fremder die Stadt noch nie betreten hat. Man sieht nichts; man vernimmt nur den Rhythmus der Stadt. Und der prägt sich im Surren der Maschinen in den Gewerkhäusern aus, die zu beiden Seiten des Flusses liegen. Noch ist das Arbeitervolk willig und zufrieden. Blühende Mädchen arbeiten für kargen Lohn in den Nachtstunden; russige Männer bedienen die Maschinen, die auf ihren Wunsch laufen, aber auch stillstehen können. Ja, stillstehen! Noch ist heute Streik vielfach ein ihnen unbekanntes Wort. Es findet aber schon im chinesischen Wörterbuch Eingang. In Versammlungen wird dunkel von einer sozialen Frage geredet, von gleichem Recht für den Arbeiter, von politischem Zusammenschluss. Wenn sich aber die Zeit erfüllet, dann wird Schanghai eine Hochburg chinesischer sozialistischer Gedanken sein, Schanghai, das so viele industrielle Betriebe aufweist, wie kaum das übrige China zusammen hat. Und es wird die Zeit kommen, wo man in Schanghai ruft: „Sun Yi hsien, die Arbeiterkolonnen grüssen Dich!“
Es ist eine Nacht, so recht angetan zum Träumen. Leise schaukelt das Boot flussab. Man hört kaum das regelmässige Wirken des Ruders. Jetzt kommt unser Fahrtgenosse, setzt sich in Bereitschaftsstellung, und er entlockt der Ziehharmonika frohe — 125 — Weisen. Unter ihren Klängen geht es dem Port zu. Im Vorübergehen wird dem deutschen Kreuzer ein Ständchen dargebracht. „Holdrio, jetzt gehts zur Heimat“ wiegt die Mannschaften in den Schlaf. Mehr als ein Kamerad wird seinen Nachbar angestossen und mit schlafzwinkernden Augen gefragt haben: „Wat spüllt Der? Zur Heimat? Also zu Muttern“. Und die Melodie wird noch Manchem in den Ohren gesummt haben, als beim ersten Hahnenschrei das Kommando ertönte: „Hängmatten zurr!“
Es ging wirklich zur Heimat. An der Gartenbrücke machte das Boot fest.