Title : Vögelchen
Author : Friderike Maria Burger Winternitz Zweig
Release date : May 8, 2018 [eBook #57114]
Language : German
Credits
: Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Friderike Maria Winternitz
Roman
1919
S. Fischer, Verlag
Berlin-Wien
Erste bis achte Auflage.
Alle Rechte vorbehalten, besonders das der Übersetzung.
Copyright 1919 S. Fischer, Verlag, Berlin.
Romain Rolland dankbarst
für viele Güte und Freundschaft
„Ich nenne sie deshalb Vögelchen, weil es etwas Reizenderes als Vögelchen nicht gibt.“
Dostojewski „Der Idiot“.
Fürsten der Erde und Sklaven, blutig gegeißelt,
Kamen wie Brüder zusammen im Dome unserer Andacht:
Den Friedenskuß brachten wir allen gezeichneten Stirnen,
Der Erde drückendste Träume wie heimlich Seufzen der Mutter waren uns verständlich
Und, wo sich abwandten unsere Brüder voll Grau’n, liebten wir noch.
Ottokar Brezina „Wahnbethörte“.
E twa um das Jahr 1860 fand in Wien, im Hause einer adeligen Dame, eine Ausstellung von Miniaturen statt, in der besonders zwei Sammlungen, die Adalbert Mannsthals, des Besitzers oder Großaktionärs der Mannsthal-Werke, und die des Nervenarztes Dr. Clemens Urbacher, Aufmerksamkeit erregten.
Mannsthals Sammlung war die eines sehr reichen Mannes, der sich sowohl Bestes als auch Reichhaltigkeit gönnen konnte. Sie unterschied sich wesentlich von der Urbachers, der als theoretischer Gelehrter über geringe Einkünfte verfügte, als wohlhabender Bürgerssohn nicht mehr als einer angenehmen Sorglosigkeit sich erfreute. Seine Miniaturen waren mit Bedachtsamkeit ausgewählt und niemals ohne das Bewußtsein des Luxus, den der Ankauf bedeutete. Er fand es sündhaft für ein Bildchen, für eine bemalte Dose oder Brosche viel Geld auszugeben, als Philanthrop fühlte er dies angesichts des menschlichen Elends, der Spitalsnot, der wirtschaftlichen Wirren. War er nun aber wahrhaftig solch ein Sünder, der vor einem Elfenbeinangesicht, das mit verträumten Augen in ein entschwundenes Leben lächelt, an schlecht dotierte Nervenanstalten, skrofulöse Kinder und rekonvaleszente Frauen vergessen konnte, so mußte Adalbert Mannsthal, trotz seiner wohltätigen Aktionen, ein noch viel größerer Frevler gewesen sein. Seine Leidenschaft für diese verbleichende Kunst, die um so rührender ist, weil sie wohl auf immer der Vergangenheit angehört, war so groß, daß er ihr seine lebendige Frau geopfert hat, seine liebliche und sanftmütige und noch jugendliche Frau. Die Sache hatte seinerzeit in Wien viel von sich sprechen gemacht, denn das kleine Mädchen, das Frau Martha Mannsthal in die Ehe gebracht hatte, verblieb bei dem Stiefvater. Es verlautete, daß zur Zeit der Heirat ein Kontrakt zustande gekommen war, wonach Arabella, das Kind, im Falle einer Scheidung, wie ein in der Ehe geborenes, dem schuldlosen Teile zugesprochen werden sollte. Man hatte herumgedeutet, was wohl die Beweggründe dieses nicht alltäglichen Vertrages sein mochten. Die einen waren der Ansicht, daß Mannsthal dadurch die Frau fester an sich binden wollte. Böse Zungen meinten darin ein Warnungszeichen zu erblicken, ein Mißtrauen gegen die Beständigkeit der Dame. Andere behaupteten, Mannsthal hätte das kleine Mädchen so lieb gewonnen, daß ein etwaiger Verlust ihm unerträglich schien, und ein nicht ganz harmloser Spötter, der zu dieser Gruppe gehörte, deutete, daß es ja immerhin möglich wäre, daß das kleine Mädchen der entscheidende Grund zur Heirat gewesen sei, und daß nicht die Frau, sondern das Kind es vermocht hatte, aus dem Sonderling und Eigenbrödler einen seßhaften Ehemann zu machen. Keinesfalls konnte ein Zweifel darüber herrschen, daß Mannsthal seine Frau nach der Geburt des Töchterchens kennen lernte, denn sie hatte mit ihrem kranken Manne in Ägypten gelebt, während Mannsthal gerade in diesen Jahren keine größere Reise unternommen hatte. Das Gericht hatte möglicherweise Mannsthal als den richtigen Vater anerkannt, was wohl eine Bedingung zur Abfassung des Vertrages gewesen sein mochte. Wenige Wochen vor der Scheidung hatte man in Gesellschaft der hübschen Frau einen Ausländer auftauchen sehen, dem alle äußeren Merkzeichen eines Frauenverführers zuzusprechen waren. Diejenigen, die die Vereinbarung dieser Eheschließung kannten, waren über die Kühnheit verwundert, mit der die Mutter mit dem Feuer spielte. Zu dieser Zeit hatte Mannsthals Sammlerleidenschaft ihren Höhepunkt erreicht und man schwärzt ihn nicht an, wenn man behauptet, daß er ihr seine Frau hintanstellte und deren Wünsche den Unsummen opferte, die er für seine Miniaturen verausgabte. Auffällig war, daß das kleine, ungemein zarte Mädchen nach wie vor wie ein Prinzeßchen gehalten wurde und sich über keinerlei Zurücksetzung von seiten des Stiefvaters zu beklagen hatte.
Urbacher kam kurze Zeit nach der Scheidung in Mannsthals Haus, um eine seiner Neuerwerbungen zu besichtigen, und bei dieser Gelegenheit lernte er sein Töchterchen Arabella, das Vögelchen, kennen. Niemand dachte daran, daß dieses Mädchen — es war damals etwa fünf Jahre alt — einen andern Namen führen könnte. Es war scheu, lebhaft, sanft und versonnen, zart und wärmebedürftig, irgendwie der Natur, ja dem Erdmagnetismus verschwistert, und seine Stimme war wie ein Sang, der durch eine Stille tönt. Unwillkürlich schwieg alles, wenn Vögelchen sprach. Jeder fühlte sich geneigt, es wie ein aus dem Nest gefallenes Junges gleichsam mit der warmen, gehöhlten Hand zu decken und zu schützen, und blieb dennoch zaghaft, vorausahnend, daß es mit leichten Flügeln den zarten Körper heben und entflattern würde, wenn man sich ihm allzusehr näherte. Und doch war es so zutraulich, daß von ihm selbst Ermutigung auszugehen schien, es zu greifen.
Was Vögelchen auch in den späteren Jahren über die Maßen reizend machte, war das völlig Unbewußte, fast Heilige ihres Wesens, das nicht dem eines Menschenkindes glich und etwas von der berückenden Schuldlosigkeit der Tiere an sich hatte. Urbacher fiel es gleich an ihrem Äußern auf, daß sie eine große Ähnlichkeit mit jenen malerischen Gebilden hatte, die Adalbert Mannsthal zu seiner Gesellschaft erkoren hatte. Ihr Gesichtchen war so weich, zart und unwirklich wie das der Miniaturen, ihre Züge wie mit einer leisen Feder gezeichnet, ihre Augen klug, lächelnd und von Sehnsucht erleuchtet, so stark im Ausdruck, daß dies unheimlich Heimliche der Seele klar zu sprechen schien und gewiß nur die menschliche Stumpfheit schuld trug, wenn sie diese Botschaft nicht erfassen konnte. Alles Beiwerk ihrer Erscheinung verflüchtigte sich gänzlich, war wie aufgelöst durch ihren überstrahlenden Blick. Als Urbacher Vögelchen inmitten dieser Bildchen sah, die ihren Namen, wie Diderot behauptete, von dem zart einschmeichlerischen Worte mignard ableiten, fiel ihm jener Spötter ein, der vielleicht im bösen Sinne die wahre Deutung von Adalbert Mannsthals Ehe gefunden hatte.
Wenn man also mit hinlänglicher Sicherheit davon ausgehen konnte, daß die erblühte Anmut der geschiedenen Frau den Schönheitssucher Mannsthal weniger gefesselt hatte als die des kleinen Mädchens, so war die Eifersucht, die ihre Mutter der Sammelwut ihres Gatten entgegenbrachte, ein Kampf um die Vorzugsstellung, die dieser der Tochter einräumte, der Kampf der Blüte gegen die Knospe. Man bedenke, daß sie die Klausel des Ehekontraktes kannte, in die sie in der vollsten Sicherheit ihrer selbst wie in eine Laune gewilligt hatte, da sie in ihr nur den Beweis einer starken Zuneigung vermutete. Man mußte jedoch Adalbert Mannsthal kennen, um es zu wagen, den Verdacht auszusprechen, daß er vom Augenblick, da er Vögelchen sah, planmäßig vorging, um eines Tages in ihren alleinigen Besitz zu gelangen. Man mußte seine Natur kennen, die es glaubhaft machte, daß er seine Frau nicht einmal als die beste Pflegerin Vögelchens neben diesem duldete, wiewohl er an dieser etwas willensmüden Gefährtin sicherlich seine Freuden hatte.
Mannsthal hatte jene Freundschaft mit dem Ausländer, die ihm den Vorwand zur Scheidung bot, gleichmütig, ja wie mit Schadenfreude geduldet. Weiß Gott, welch teuflischer Plan in ihm erwacht war. Es erscheint nicht unmöglich, daß er selbst es gewesen sein konnte, der diesen Aventurier gedungen, seine Frau zu versuchen.
Die Sammler sind ein eigenartiger Menschenschlag. Sie haben etwas von den rastlosen, unterirdischen Tieren, von den neidischen Hamstern und Mardern. Von diesen heißt es, sie seien klug, listig, mißtrauisch, behutsam, äußerst mutig, blutdürstig und grausam, gegen ihre Jungen aber ungemein zärtlich. Die Art, wie der Hamster sich für magere Zeiten versorgt, ist allen bekannt. Jedenfalls schien Mannsthals Bemühen um dieses Kind ein Aufsparen für die Zukunft.
Die Erziehung und Pflege, die der Kleinen zuteil wurde, war ganz darauf gerichtet, lange in ihr das Kindliche zu schonen und zu erhalten. Vögelchen besuchte niemals eine Schule, ja, es fanden sich erstaunliche Lücken in ihrem Wissen, als sie den Jahren nach schon ein großes Mädchen war. Von den Zielen der Aufklärung, die damals im Unterrichtswesen allmählich Wurzel faßten, blieb Vögelchen gänzlich unberührt. Ihre Körperpflege war danach angetan, ihr eine kühle Zartheit zu bewahren. Mannsthal ließ sie niemals aus den Augen; ohne daß sie dies fühlte, war sie allüberall von seiner Wachsamkeit umstellt. Das bedeutete nicht, daß Vögelchen ängstlich abgeschlossen war. Sie sah Kinder um sich, aber sie waren meist viel jünger als sie selbst und niemals altklug. Auch vom Kreise der Erwachsenen, die in Wien bei ihrem Stiefvater aus- und eingingen, verbannte man sie nicht, wohl weil sie selbst niemals unter ihnen blieb, sie flatterte an ihnen vorüber. Anders wollte sie es selbst nicht. Sei es daß Mannsthal eine Art Hypnose auf das Kind ausübte oder daß alles, was sie tat, sein Wunsch zu sein schien, weil er nichts anderes zu wünschen vermochte, eine seltsame Harmonie herrschte zwischen den beiden, die manchmal ein leidenschaftliches Aufflammen der Seelen krönte. Trotz allem schien es, daß Vögelchen Mannsthal nicht liebte wie einen Vater. Es war auch etwas von der Anhänglichkeit der Zirkuskinder für ihren Peiniger, der Wunderkinder für ihren Impresario in ihrem Gefühl. Ein viel zu starkes Innenleben wohnte ihr inne, um nicht im Unbewußten zumindest Ahnung zu erwecken, daß man an ihrer Mutter gefrevelt und sie um diese beraubt hatte. Man hatte ihr nichts erklärt, und sie schwieg. Aber, wenn sich der Eindruck des nestlosen, frierenden Vögelchens verstärkte, war es, als dächte sie an die Mutter, die nach einem hartnäckigen Kampf es aufgegeben hatte, ihr Töchterchen zurückzugewinnen. Dennoch war ihr Verteidiger und Anwalt ein leidenschaftlicher junger Geist, ein fulminanter Redner gewesen, von dem die Rechtswelt noch viel erwartete. In seinem Plaidoyer hatte er den Spieß umgekehrt und Mannsthal des Treubruches angeklagt. „Ist es nicht ganz unwesentlich,“ hatte er gesagt, „ob die Frau, der ich ein Vermögen opfere, der ich mich mit allen Fibern hingebe, um derentwillen ich mein angetrautes Weib der Verlassenheit und ihren Gefahren preisgebe, ist es nicht unwesentlich, daß diese Frau nicht eine greifbare Verführerin ist? Der Sammelleidenschaft hat Herr Adalbert Mannsthal gehuldigt, mit ihr hat er Orgien gefeiert. Er hat dem Laster gefrönt. Und wenn in Ihren Augen auch der Verdacht gegen Frau Mannsthal berechtigt erscheinen könnte, wenn man auch sie des Lasters bezichtigen könnte, Sie werden sich nicht der Gerechtigkeit versagen, Adalbert und nicht Martha Mannsthal als den schuldigen Teil zu erkennen. Denn, meine Herren, was ist das Laster überhaupt? Laster ist unendliche Hingabe. Vielleicht finden wir darin den Schlüssel, daß es Menschen gibt, die durch die Gewalt ihrer Hingebungsfähigkeit zugleich Heilige und Lasterhafte sind. Wenn nun ein Mensch seine Hingebungsfähigkeit, die ein anderer verkannt und verraten hat, einem Menschen schenkt, der mit den heißesten Wünschen darum wirbt, der Verräter und Verkenner dieses Gefühles sich hingegen an ein Phantom verliert, einer Unwirklichkeit das lebendig zuckende Herz opfert: welcher von den beiden, meine Herren, ist der Sündhaftere, der Schuldige?“
Der junge Verteidiger vermochte die Herren des Gerichts nicht zu überstimmen, der Prozeß konnte nur im Vergleichsweg ausgetragen werden. Martha Mannsthal aber verheiratete sich nach Jahresfrist mit ihrem Rechtsanwalt.
„Aller guten Dinge sind drei,“ sagte ihr zweiter Mann, als er es erfuhr.
Vögelchen aber wußte nichts von dem freiwilligen Verzicht, den der feurige junge Redner ihrer rechtsunkundigen Mutter abgezwungen hatte zur Erlangung eines beträchtlichen Vermögens, das Mannsthal bot, und zur Vermeidung einer allfälligen strafrechtlichen Verfolgung. Vögelchens Augen fragten zwar unablässig in das Leben, das ihr fremd und weit war, aber sie schienen eine Antwort nicht abzuwarten, als scheuten sie ihr Wissen. Nirgends verblieben sie lange, als fürchteten sie, zu warm zu werden, so stark war ihr Schauen. So hielt sie denn bei niemandem still. Urbacher war es damals allein beschieden, ihres Rastens froh zu werden. Von allen Menschen, die bei Adalbert verkehrten, war er der einzige (wohl auch dank seiner Eigenschaft als Arzt), dem Vögelchen sorglos anvertraut wurde. Niemals aber — und wie recht gaben die zukünftigen Ereignisse diesem Empfinden — fühlte er dieses Vertrauen als festen Besitz. Dennoch gelang es ihm im nahen Beisammensein den Sinn zu erforschen, der Vögelchens Fliehen und Flattern bewegte. Sie war ein kleiner Zugvogel, der in unserer Kühle nicht Heimat hat, einer großen Wärme bedürftig und dennoch die große Flamme fürchtend; einer Glut schien sie aufgespart, die sie ersehnte und scheute. Irgendwo im Leben wartete sie und vielleicht war sie nicht allzu ferne. Dem Freund ward nicht bange. Vögelchen hatte Schwingen, die kein Feuer versengen und verzehren würde.
Urbacher schrieb damals in sein Tagebuch, das nach seinem Tode einigen vertrauten Freunden zugänglich gemacht wurde: „Ich kann es nicht verschweigen, daß jede Guttat, die ich verrichtete, mir auf geheimnisvolle Weise von Vögelchen abgefordert wurde. Ich befand mich oft in einem Zustand äußerster Anspannung, in einem traumhaften Bann, der mich zum Vollstrecker allerlei Zartheiten machte und meine Feinfühligkeit erregte. Aber ich muß gestehen, daß ich meine Sehnsucht nach einem Übermaß der Güte, ja eines Heiligseins schließlich nur aus dunklen Trieben zu sättigen vermochte. Es ist ein eigen Ding um solches Sehnen, das sich mit einer falschen Antwort auf seine Fragen beruhigen läßt, als müßte aus dem wissentlichen Unterliegen rein und klar die Demut erwachsen, wie oft eine wunderliebe Blume aus dem Morast ihre Reinheit erhebt. Meine eigene Schwachheit flößte mir Mitleid ein und Verstehen. Daraus erklärt sich, daß ich Mannsthals Freund geblieben war, als ich ihn vor meinem innern Auge entlarvt hatte. Um Vögelchens willen mußte ich ihm Handlungen verzeihen, die ich selbst wohl niemals begangen hätte. Ich empfand vor der Planmäßigkeit, mit der er seinen Besitz erschlichen, bewahrte und verwahrte, ein fast physisches Gefühl, das Grauen und Lust in sich paarte. Mannsthal schien ein Kühler. Sein Geist war durch nichts überwuchert, mit nichts durchsetzt, er war gleichsam durch die Sinne zur äußersten Oberfläche seiner Handlungen getrieben, und hier in stetem Spiel. Ich habe niemals ein Gefühl bei ihm entdeckt, das ganz schlackenlos und, wenn ich sagen dürfte, geistlos aus ihm loderte. Ich ahnte, daß er äußerster Dinge bedurfte, um seinen Geist zum Scheintod zu zwingen. Ein Hang zur Unmäßigkeit war ihm eigen. Entschlüsse brachen blitzartig aus ihm, er war ihnen verfallen wie einem geheimen Befehl seines Unterbewußtseins. Der Abbruch unserer Beziehungen war ein solcher Entschluß. Und dennoch war Mannsthal unbedingt das, was man einen edlen und in mehrfachem Sinn einen gemeinnützigen Menschen nennt. Es fehlte ihm weder an impulsiver noch an wohlbedachter Güte, obwohl auch an seiner Schädlichkeit nicht zu zweifeln war.“
Zu jener Zeit verfolgte Mannsthal dem Kinde gegenüber die Verwirklichung seiner Vorstellungen in einer Art, die grausam zu nennen war. Er wollte Vögelchen wie ein Wesenloses, ein Bild genießen, er hätte sie hungern lassen, damit sie leicht bleibe wie ein Schmetterling. Er wollte sie wie eine Vision in seinem Leben haben, er vergötterte und förderte ihre Zerbrechlichkeit. Urbacher aber liebte ihre Zartheit, die ihm wie eine Gefahr schien, für die er immer bereit sein mußte. „Wundersam war es mir,“ so schrieb er, „die Wandlungen zu beobachten, denen Vögelchens Wesen unterworfen war. Wie die starre Unzugänglichkeit der byzantinischen Malerei sich in die kindliche Freundlichkeit der toskanischen und sienensischen Mystiker wandelt, so erblühte aus dem strengen Kind ein magdhaftes, stolzes und doch schüchternes Wesen, wie Ambruogio Lorenzetti, der stille seine Madonnen malte, als eben der heilige Franziskus die Natur entsühnt hatte. Das sinnend zur Seite geneigte Köpfchen, die minnigliche Holdseligkeit der schmalen Arme und Hände, die Biegung der Gestalt, über all dies körperlich Verengte, über die überirdische Lieblichkeit, diese Schwingungen der Zartheit, schwebte der träumerische, himmlische Friede des Trecento. Als wäre sie aus den Bildern jenes anmutreichsten Deutschen, aus Stephan Lochners Tafeln, zu uns herabgestiegen mit der mädchenhaften Schalkhaftigkeit seiner Madonnen, als käme sie aus den Welten jenes Fraters, der hinter den Klostermauern von San Marco schuf. Ihr Füßchen schien feucht von den Wiesen auf Fra Angelicos Bildern, die im Frühlingsschmuck prangen, und manchmal waren kleine, ungefährliche Teufelchen um sie, wie sie der Gute, Lichte gemalt. Oft aber, wenn sie eben getollt und gelacht hatte, geschah es, daß sie reglos still wurde, als horche sie. Da konnte sie ihre artigen Manieren vergessen und minutenlang in ein Antlitz starren mit einer Neugier, die grausam schien. Wenn der von ihr Gemusterte umgesunken, wenn vor der Tür ein Schuß gefallen wäre oder eine ersehnte, unerwartete Stimme sie gerufen, sie hätte den festgesaugten Blick nicht von dem Gegenstand ihrer Wißbegierde gewandt. Was sie erforschte, erzählte sie nicht, doch war es oft erstaunlich, wie unterrichtet sie war. Ihre kindliche Ahnungslosigkeit blieb dennoch unerschütterlich. Sie selbst aber glaubte mit einer gar zu drolligen Genugtuung, den Dingen auf den Grund gekommen zu sein.“
Adalbert Mannsthal hatte gleich nach seiner Scheidung das alte Familienhaus verlassen und ein Haus gekauft, in einem Bezirk, in dem noch alte Gärten vom merkantilen Unternehmersinn verschont geblieben waren. Es wäre ganz undenkbar gewesen, daß Mannsthal, der in feudaler Umgebung aufgewachsen war, mit fremden Leuten in einem Hause wohne, in einem Zinshaus. In seinem Heim erinnerte eigentlich nichts an eine bestimmte Zeit. Die Räume waren alle groß, still und nicht sehr hell. Die Luster waren Kerzenträger, die Spiegel hatten Metallrahmen, die Bücher standen hinter schweren smaragdfarbenen Seidenvorhängen, die Sitzmöbel schienen unbeweglich, so massiv waren sie. Antike Kunstwerke und wertvolles Porzellan schmückten die Wände. Vögelchen sah um so zierlicher aus in dieser Umgebung. Aber die ein wenig düstere Lage des Hauses und der tiefe Schatten des umschlossenen Gartens machten einen längeren Sommeraufenthalt für das Kind unumgänglich. Mannsthal besaß aus der Erbschaft nach einer Tante ein Landhaus an einem See der Kalkalpen. Dieses bestimmte er für Vögelchens Sommersitz. Er selbst verbrachte gewohnheitgemäß einen Teil der warmen Jahreszeit in einem Wildbad, das er einmal wegen eines Leidens aufgesucht hatte. Seltsam verjüngt kehrte er immer von dort zurück. Während seines Fernseins wohnte Urbacher in dem Landhaus am See und verließ es gewöhnlich bald nach Mannsthals Eintreffen, um seine einsamen Gebirgswanderungen anzutreten.
Der Aufenthalt am See ward Urbacher die schönste Lebenszeit. Wie beglückend war ihm das Bewußtsein, daß der künftige Tag und die vielen folgenden ein Wiedersehen mit Vögelchen bargen, daß er sie sehen konnte, wann er wollte, bei ihren kleinen Gärtnerarbeiten, bei den ergötzlichen Schulstunden, die sie, die Unbelehrte, mit den Bauernkindern abhielt, im Kahn, im Bade, im Walde, wo sie so durchscheinend blaß erschien, in ihrem Zimmerchen, das ein wenig phantastisch war, etwa wie das Zelt eines kleinen Indianerhäuptlings. Vögelchen liebte Fische. In dem Teich mit der Fontäne, deren Stimme sich in ihre Träume mischte, zog sie große Goldfische und eine andere weißliche Art, die sie Mondstrählchen nannte. Sie verehrte sie wie heilige Tiere.
Die Wochen, da ihr Stiefvater abwesend war, benützte Urbacher, sie zu belehren, und ihren Geist von dem eigenen bewegten Innern auf dieses anderer Menschen und Geschehnisse zu lenken. Märchen ergötzten sie nicht. Sie schienen farblos zu sein gegen solche, die sie selbst ersann. Waren ihr doch die wirklichen Ereignisse wundersame Begebenheiten, für die sie absonderliche und unzutreffende Deutungen fand. Daß sie das Leben wie ein Wunderland sah, unheimlich und doch nach ihrem Sinne, ohne Unerklärlichkeit, das erfüllte den Freund oft mit dem Bangen wie vor einer unabwendbaren Katastrophe. So marionettenhaft ihr auch die erdachten Märchen erschienen, so unermüdlich horchte sie den Berichten aus fremden Ländern. Sie war darin wie ein Junge. Ihre Bibliothek bestand aus Reisebeschreibungen. Sie liebte auch die Berichte von großen Taten und die Schicksale der Hilfsbedürftigen und Bresthaften fesselten sie. Aber auch das Dämonische und Grausame erweckten in ihr eine fast fieberhafte Neugier und es war unklar, ob dies aus Mitleid für die Opfer oder aus jenem bösen Instinkt geschah, der Kindern mehr als Tieren eigen ist. Urbacher fragte sich oft, ob Vögelchen ihre Lebensweise nicht eines Tages als Zwang empfinden würde, ob nicht schon Sehnsucht heimlich an ihr zehrte. Man ergründete niemals die eigentliche Quelle ihrer Zartheit. Noch schien sie ganz ruhig, ausschließlich auf die kleinen Dinge gerichtet, mit denen sie ihr Leben bevölkerte. Sie hatte eine seidenhaarige Katze, Fische, Reisebücher, Blumen und einen kleinen buckligen Bauernbuben zum Pagen. Sie trug jahraus jahrein weiße Kleider und farbige Ketten, die sie selbst verfertigte, des Sonntags eine zierliche echte Perlenschnur, ein Andenken von der Mutter. Sie sammelte Muscheln, Schmetterlinge und Käfer und nähte mit ihrer alten Wartefrau Kleidchen für arme Kinder, die meist zu klein ausfielen. Mit Mannsthals Gästen freute sie sich, obwohl sie viele unter ihnen nicht liebte, und stürzte sich mit hungrigen Fragen auf sie. Von der Welt, die man die Gesellschaft nennt, schien sie nichts zu wissen. Ihr war jeder Mensch ein zusammenhangloses Wesen und sie hielt ihm nichts zugute, da sie die Beziehungen seines Lebens nicht kannte und verstand. Oft aber entzückte sie ein Selbstverständliches. Urbacher verfiel immer wieder in Grübeleien über Vögelchens Zukunft. Mannsthal aber war keinerlei Erwägungen zugänglich. Man schlug ihm vor, mit Vögelchen zu reisen, da ihr Interesse für fremde Gegenden oft leidenschaftlich hervorbrach. Wenn nun auch Arabella noch keinerlei Unruhe zeigte, durfte Mannsthal ganz sicher sein, daß sie nicht in ihr unsichtbar sich vorbereitete? Als man ihm darüber Vorstellungen machte, meinte er, die Kleine sei eben nicht wie andere Vierzehnjährige, und sein Lächeln schien hinzuzufügen, er habe dafür gesorgt, daß ihr noch keine Flügel wüchsen. Es geschah jedoch, wie Urbacher es voraussah.
Es begab sich, daß Mannsthal, der Doktor und Vögelchen an einem blauen Juliabend an das jenseitige Ufer des Sees ruderten. Dort war vor kurzem ein verlassenes Schloß zu einer Fremdenherberge verwandelt worden. Auf der Terrasse, die weit ins Wasser hinausgebaut war, standen die Tische und Sessel, in denen die Reisenden und erholungsuchende Menschen sich müßig gegenüber saßen. Man konnte weithin den erhellten Saal sehen, aus dem oft wiegende Tanzmelodien klangen. Modisch gezierte Leute gingen hin und wieder. Adalbert, der diese Welt nicht suchte, aber niemals mied, begann mit Spott über dies Leben zu sprechen, das die Menschen zu Pagoden mache, in die Landschaft schlechte Farben und grelle Töne brächte. Es schien plötzlich eine Unrast in ihm zu sein wie in einem Tier, das etwas wittert. Der Abend barg eine von fremdem Duft beladene Schwüle, wie sie Gewitternächten vorangeht. Adalbert und der Doktor hatten fast den ganzen Tag im Studierzimmer verbracht, in die Angelegenheit einer Fälschung vertieft, der sie auf der Spur zu sein glaubten. Auch Vögelchen war den ganzen Tag über allein gewesen, wie vergraben zwischen ihren Blumen und Tieren. Das belebte Gelände am See erschien den aus der Einsamkeit Tauchenden wie eine Luftspiegelung; ganz fremd sah es in ihr Leben. Aber während Adalbert weiter sprach, als fürchtete er eine Stille, in die dies Fremde lauter tönen könnte, waren Vögelchens Augen mit jenem sich ansaugenden Ausdruck auf das Gestade gerichtet. Mannsthal saß am Steuer, während Urbacher in lässiger Betrachtung des neuen Bildes die Ruder gesenkt hielt.
Als er sie wieder aufnahm, sagte Vögelchen: „Bleiben wir noch.“
„Nein, wir müssen zurück. Es kommt Sturm,“ mahnte Mannsthal.
„Steigen wir aus,“ bat Vögelchen. „Ich will nicht bei Sturm auf dem See sein, bitte, Va.“ Sie sagte Va. Sie vermied, Vater zu sagen.
„Unmöglich, Kind.“
In dem völligen Gleichklang der Wünsche, der zwischen Vögelchen und ihrem Stiefvater herrschte, war dieser Mißton ein Ereignis, der schon einer starken Reibung gleichkam. Vögelchen biß die Lippen zusammen und preßte erbleichend die Hände aneinander. Ihr Blick blieb unverwandt auf das Ufer gerichtet, während Urbacher langsam heimwärts ruderte. Doch plötzlich schien sich die Pein zu lösen und einer neuen Hoffnung zu weichen.
„Ich möchte dort wohnen,“ sagte sie und ihr schmales Gesichtchen war von einer Freude und wie von einem Erstaunen über diese erhellt. Aber in diesem Augenblick, da ein heißer, plötzlicher Wunsch ihrer Sehnsucht die Tore brechen wollte, sah sie den Widerstand und der Anprall war stark.
„Was müßte geschehen, Va, daß ich in diesem Schlosse wohnen kann?“ rief sie.
„Nichts kann hiezu geschehen,“ sagte er.
„Müßte das Schiff brechen und wir von den Leuten dort gerettet werden?“ fragte sie weiter.
„Keiner würde für uns seine feinen Schuhe naß machen,“ erwiderte Mannsthal.
„Wenn wir nun heimkämen und das Haus stünde nicht mehr da,“ fragte sie, sich an das Wunder klammernd. Und als sie Mannsthal lächeln sah, fuhr sie fast böse auf. „Könnte es denn nicht abgebrannt sein oder eingestürzt? Wenn ich es ganz fest wollte, Va. Dann müßten wir im Schloß bleiben, es ist das einzige Obdach,“ jubelte sie.
„Und dein Dachzimmer mit den Puppen, Ari,“ sagte Mannsthal fast höhnisch, als wollte er sich rächen.
Vögelchen errötete und verstummte. In einer Mansarde bewahrte sie noch Spielzeug auf und ihr kleiner buckliger Page hatte jüngstens verraten, daß sie dort heimlich spiele.
Spät abends an dem darauffolgenden Tage, da Mannsthal in einer geschäftlichen Angelegenheit in die Kreisstadt gefahren war, spürte man plötzlich im Wohnhaus einen beizenden Geruch. Rauch schlug aus dem schwedischen Ofen. Gleichzeitig polterte der Knecht aus seiner Kammer die Bodenstiege herab. Das Haus brannte. Urbacher warf sich in seine Kleider und stürzte in Vögelchens Zimmer. Das Bett war zerwühlt. Er rief nach dem Kinde — kein Laut. Die Dienerschaft war schon auf den Beinen. Niemand hatte Arabella gesehen. Er gab Befehle, aber alles schien unwichtig, ehe man nicht Vögelchen gefunden hatte. Das Feuer ging von einer Vorratskammer am Dach aus. Es war zweifelhaft, ob man das Haus würde retten können, da es fast ganz aus Holz gebaut war. Das Wasser war nahe, aber außer einem Gartenschlauch gab es keine wirksamen Löschgeräte. Etwa zehn Minuten entfernt lagen drei kleinere Ansitze, das Dorf war doppelt so weit und seine Bewohner waren Mannsthal übel gesinnt seit einer Straßenangelegenheit, die er durchquert hatte. Es war nicht viel Hilfe zu erhoffen. Alles lief in fieberhafter Angst umher, hatte man nur Vögelchen in Sicherheit, dann mochten Hof und Haus in Trümmer zerfallen! Urbacher riß Türen auf, lief in den Garten, stürzte ins Haus zurück, hinauf bis zum qualmenden Dachboden. Da hörte er schluchzen. Es war das Weinen eines Kindes, das sich verlassen fühlt und dennoch, wie von Trotz gehalten, nicht um Hilfe rufen will. — In der kleinen Mansarde neben ihren verborgenen Puppen kniete Vögelchen. Der Rauch wob einen Schleier um sie, in ihrem Nachtkleid mit dem aufgelösten Haar war sie einem Engel vergleichbar. Dies hatte sie heraufgetrieben: sie wollte die Puppen retten und schämte sich, sie aus ihrem Versteck zu ziehen. „Vögelchen,“ rief Urbacher glückselig, und gleichzeitig fühlte er, wie eine andere Angst noch als die um des Kindes Sicherheit ihn freiließ. Sie war es nicht, die den Brand gelegt hatte. In diesem Falle hätte sie die Puppen, an denen sie so sehr hing, schon früher in Sicherheit gebracht. Aber warum weinte sie nun, da sie das Feuer tags zuvor erwünscht hatte? Sie sah Urbacher nun aus einem totenbleichen Antlitz regungslos an. Er riß sie auf, während sie noch rasch eine der Puppen an sich preßte, und trug sie in die Nacht hinaus. Niemals hatte Urbacher sie so in den Armen gehalten, „zurückgewichen in die bewußtlos-fromme Majestät der Kindlichkeit, der sie ihr Schmerz entriß“. Er fühlte ihren zarten Körper durch die leichte Hülle und hätte weinen mögen. Schon lag der Widerschein der Flammen auf dem See und tanzte in den Wellen, die der Nachtwind mit leiser Hand aufwarf. Im Bootshaus bettete er sie in den Kahn, doch als er sich wenden wollte, zum Rettungswerk zurückzukehren, fühlte er sich von zwei schlanken Armen umhalst und ein tränennasses Gesichtchen preßte sich an seine Wangen. Eine heiße Stimme, in der die Vögelchens kaum wiederzuerkennen war, flüsterte flehend: „Führ’ mich hinüber, dorthin, siehst Du? Es sind noch Lichter dort. Ich will das Feuer nicht sehen.“
„Kind, Kind,“ bat er und wollte sich losmachen. Aber ihre Finger gaben ihn nicht frei. Es war, als hätte sie Eisen in ihren mageren Händchen. „Ich komme wieder,“ sagte er. Da ließ sie ihn.
Die Löschaktionen waren im Gange. Auf der Landstraße, die längs des Sees lief, sah man ein Licht tanzen. In rasender Eile näherte es sich dem Brandplatz. Das war des heimkehrenden Adalbert Wagen. Urbacher stürzte in das Studierzimmer, warf einige kostbare Bücher und Manuskripte ins Freie, fand tastend im Rauch in dem aufgesprengten Kasten Mannsthals Wertgegenstände, die er seinem Diener übergab. Im Schein der Flammen raffte man etwas von Vögelchens aus den Fenstern geworfenen Kleidern zusammen. Urbacher stürzte zurück in das Bootshaus. Vögelchen lag ausgestreckt im Kahn, sie schien zu fiebern. Sie griff nach seiner Hand, preßte sie an ihre Lippen. Wenige Augenblicke später stieß das Boot ab. Das brennende Haus war die Leuchte.
Mannsthal verlangte keine Erklärung. Es mag sein, daß er sich den Vorgang selbst gedeutet hatte. Einem Menschen, der das Schicksal mit kühler, ruhiger Hand nach seinen Wünschen zu lenken schien, mußte diese Nacht mehr als eine schreckhafte Episode bedeuten. Er bestand auf einer genauen Untersuchung der Brandursache und merkwürdigerweise fiel der Verdacht auf den buckligen, halb blöden Bauernjungen, der nicht leugnete, auf dem Dachboden mit Zündhölzchen gespielt zu haben. Mannsthal veranlaßte vorläufig nicht die Wiederherstellung des Hauses, das dank einem starken Regen, der unmittelbar nach dem Eintreffen am jenseitigen Ufer niedergegangen war, teilweise verschont geblieben war. Er selbst reiste am Morgen der Brandnacht ab ohne Vögelchen zu sprechen, über deren Aufenthalt ihn der Diener gleich bei seiner Rückkehr aufgeklärt hatte. Er ließ sie in Urbachers Hut, als wäre dieser verantwortlich für des Kindes Flucht zu den Menschen, die ihm das Scheitern seiner Hoffnung bedeuten mochte. Sei es, daß er sich in einer Krisis befand, die er allein besser zu überwinden hoffte, sei es, daß er nicht mit ansehen wollte, wie Vögelchen sich selbst die Welt gewann, oder gar am Ende ihr böse war, er war nicht zu bewegen, ihr zu folgen oder sie zu sich zu rufen.
Arabella wohnte nun an dem modischen Gestade.
Am Morgen nach der Ankunft sah man sie bei einer alten Dame sitzen, eifrig plaudernd. Sie erzählte später, daß sie nicht geschlafen hätte und gleich, nachdem die Dienerin mit ihren Kleidern angelangt war, auf die Terrasse gekommen sei, voll Neugierde das neue Leben erwartend. Um nicht allein zu sein, hätte sie sich gleich zu der alten Dame gesetzt, die sich sehr freundlich ihrer angenommen habe. Wie es schien, hatte sich bei Vögelchen eine Schleuse geöffnet, aus der nun alles, was sie in ihrer Einsamkeit erlebt hatte, hervorstürzte. Die Dame, die, wie eine allseits verehrte Tante, unter den jüngeren Hotelgästen lebte, nahm Vögelchen, die ihr ein lächelndes Entzücken entlockt hatte, völlig unter ihren Schutz. Und bald war das Kind mit Jung und Alt befreundet und der Mittelpunkt des Interesses. Vögelchen schien es ganz selbstverständlich offene Türen zu finden.
Die Schloßgesellschaft war nicht gerade die übelste Auswahl jener Herdenmenschen, die weder vom Spiel der Nerven noch von bedeutenderen Geistesanlagen zu einem Abweichen von gewohnten Wegen und Gesetzen gedrängt werden. Ihre gewandte Beherrschung der Lebensformen erinnerte an die Sicherheit, mit der oft ahnungslose Kinder Gefahren bestehen. Immerhin hatte sie etwas Bestechendes. Vögelchen aber war nicht geblendet und besonders den jungen Männern gegenüber benahm sie sich fast geringschätzig. Offenbar glichen sie ganz und gar nicht den Helden, die in ihrem kindlichen Hirn thronten. Urbacher gefielen sie auch nicht sonderlich. Es waren Familiensöhne, Jünglinge, die sich ihrem Namen gegenüber verpflichtet fühlten einen bestimmten Lebensweg einzuschlagen, was ihnen beinahe etwas greisenhaft Abgeschlossenes gab. Sie waren in Leibesübungen gewandt und in deren Betätigung fast leidenschaftlich und ehrgeizig. Ihr geistiges Bestreben hingegen beschränkte sich auf eine flüchtige Umsicht, die möglichst viel umspannen sollte. Die Mädchen waren bescheidener. Die natürlichste Form guter Lebensart schien der Familie Normayr eigen. Man sprach von einem Sohn, einem jungen Seeoffizier, der erwartet wurde. Am Vorabend seiner Ankunft, es war zweifelhaft, ob Vögelchen sie wußte (keinesfalls schenkte sie dem Umstand Beachtung), hatte sich ihrer Unrast bemächtigt. Am folgenden Morgen, als Vögelchen die Stiege hinabschreitet und der jugendliche Offizier in der sommerlichen weißen Seemannstracht ihr an der Seite seiner Schwester entgegenkommt, ist ihr Blick mit einem Male wie gebannt gewesen, verstrickt in dies gebräunte Jünglingsangesicht. Auch Urbachers bemächtigte sich ein freudiges und beklommenes Staunen, als ginge es von Vögelchen auf ihn über. Der junge Seeoffizier, auf dem ein Abglanz lag von den siegreichen Tagen von Lissa, unterschied sich allerdings schon auf den ersten Blick von den anderen jungen Leuten. Er war über sein Alter ernst und bei aller Bescheidenheit in sich gefestigt. Eine Herbheit ging von ihm aus, wie die Seeluft rein und erfrischend. Auch er besaß Unterwerfung in den herkömmlichen Willen der Familie, nur war sie bei ihm nicht Dünkel, sondern Ehrfurcht und vielleicht deshalb bedingungsloser, denn sie lebte neben seinem klaren, menschlichen Blick.
Er war streng gegen Vögelchen von der ersten Stunde ihrer rasch aufblühenden Freundschaft an. Ihm war wohl, er dürfe es, er hätte dies Amt über sie. Ihrer kleinen Teufeleien mußte er Herr werden, wollte er auf den Grund ihrer Seele schauen. Und Vögelchen ging umher in Leuchten und Staunen und hin- und hergewiegt zwischen Furcht und Frage. Dennoch formte sich zu dieser Zeit ihr Wesen zu etwas Festerem. Aus ihren Instinkten wollte sich Bewußtes entwickeln. Die vielen Plauderstunden mit dem neuen Freund begannen aus ihrer süßen, kleinen Tier- und Kindseele den Menschen zu wecken. Der junge Offizier, darüber konnte kein Zweifel sein, stand ebenfalls unter einem jener leisen Wunder, wie sie in der rückhaltsvollen Welt immer seltener werden, und er mochte ganz und gar bereit sein, sich dem neuen Zauber hinzugeben. Auch seine Mutter war Vögelchen gewogen und scheinbar erfreut, dereinst vielleicht das vermögende Mädchen als Tochter willkommen zu heißen. Urbacher sah des Kindes Strahlen und erlebte im Vorgefühl Mannsthals ohnmächtige Trauer, den Zusammenbruch seines geheimen Planes, der in seinen Zielen ihm unheimlich erschien und dennoch erhellt von dem Wetterleuchten seines eigenen zwiespältigen Herzens. Eine abwartende Scheu hemmte ihn dem Freunde Mitteilung zu machen, obwohl er in dunklen Augenblicken sein blitzartig zerstörendes Eintreffen beschwor. Er begnügte sich indes noch die Aufforderung, sich ihnen zuzugesellen, auf das dringendste zu wiederholen.
Der Gesellschaft hatte sich eine Spannung bemächtigt. Es lag ein Ereignis in der Luft. Auch das Wetter war in diesen Tagen schwül und lastend, bis es sich schließlich unter Donner und Blitzen gesäubert hatte. Der Regen, der so andauernd und heftig gewesen, daß der See über seine Ufer trat, brachte aus den Felsen, die die Landstraße längs des Wassers säumten, Sturzbäche hervor. Man sprach davon, die Straße für den Wagenverkehr zu sperren. Das Zögern des Verbotes hatte ein Unglück zur Folge, aus dem sich die Begebenheit entwickelte, die jene Spannung auf eine merkwürdige Art löste.
An dem Morgen, der den Wettertagen folgte, fuhr nämlich Mila Maquard mit ihrem Wagen von einem der nahen Kurplätze über die gefährdete Straße. Mila Maquard war eine jener Frauen, deren Haar nicht ganz die Farben der Natur hat, deren Perlen ungewöhnlich groß sind, deren Kleidung eine verschwiegene Sorgfalt aufweist und deren Hochmut Triumphen entspringt, über die man bedeutsam zu schweigen pflegt. Mila Maquard war von großer Schönheit und es war ihr eine natürliche Anmut geblieben, die auch Frauen entzücken mußte, deren Auge nicht von bürgerlicher Verachtung trübe war.
Als sie nun ahnungslos jene Stelle der Fahrstraße passierte, wo das Wasser in den Felspartien verheerend gewirkt hatte, ging eine Erdrutschung nieder. Ihr Kutscher wurde schwer verwundet, sie selbst aus dem Wagen geschleudert, wodurch sie einen Bruch des Armes und einen leichten Nervenschock erlitt. Die Unfallsstelle war nicht weit vom Schlosse und der herbeigerufene Landarzt verfügte dahin den Transport der Verletzten. Man war zu der verhängnisvollen Stätte geeilt und einige Herren hatten die Verunglückte erkannt. Alsbald waren auch die Damen unterrichtet und eine eisige Teilnahme wurde der schönen Maquard zuteil.
Während man sie und den Kutscher in den Saal hingebettet hatte und der Arzt sich um sie bemühte, standen die Gäste auf der Terrasse in Gruppen umher. Lebhafte Gespräche entwickelten sich. Man schien nicht geneigt, der Fremden Gastfreundschaft zu gewähren. Frau von G., die Mutter von vier Töchtern, deren Verheiratung das Ziel der Sommerreise war, ereiferte sich ganz besonders. Ebenso Baron M., der sich abseits, wie man bemerkt hatte, für sein korrektes Benehmen in ausgiebigster Weise schadlos zu halten verstand. Er mochte Gründe haben diese Begegnung unter dem Auge der Familie zu scheuen.
Als die Debatte, die wegen der Nähe der jungen Mädchen nur andeutungsweise und im Flüstertone geführt wurde, ihren Höhepunkt erreicht hatte, erschien der Pächter und fragte auf das höflichste an, ob man die Güte haben würde, der Verunglückten in dem vollbesetzten Hause dadurch Platz zu machen, daß etwa zwei der jungen Leute in einem Zimmer schlafen würden, so daß man einen Raum gewänne. Es sei bemerkt, daß von dem Augenblick, da Mila Maquard sich in dem Hause befand, eine Veränderung mit der Gesellschaft sich vollzogen hatte. Die Herren waren mit einem Male sehr angeregt, als wäre nicht eben ein Unglück geschehen, das einen tödlichen Verlauf hätte nehmen können. Besonders die Jünglinge bezeigten ein lebhaftes, wichtigtuendes Wesen und den Fräulein ihres Kreises eine gewisse Geringschätzung. Ihre Beflissenheit beim Transport der blonden Dame war auch ganz außerordentlich gewesen. Aber auch die Damen wurden lebendiger, die Freudigkeit einer Abwechslung war auch in ihre Nerven gefahren, nur daß sich ihr Verhalten sogleich kriegerisch färbte. Der junge Normayr war mit seinem Segler am See. Da es sehr stürmisch war, hatte man Vögelchen bestimmt, ihn nicht zu begleiten, so daß es auch Zeugin des Unfalls gewesen war. Wo aber trieb es sich nun herum? Urbacher näherte sich der Terrasse und sah seine Vermutung bestätigt: Vögelchens weiße Gestalt lehnte dort an einer Holzsäule. Ihre Kinderaugen wandten den Blick nicht von der hübschen Frau, die auch in der Lage, in der sie sich augenblicklich befand, nichts von ihrer typischen Eigenart verloren hatte, die zu der des Kindes in einem so starken Gegensatz stand, daß die Frage nahe lag, ob die beiden denn Wesen einer Art seien. Als Vögelchen Urbacher sah, kam sie auf ihn zu und flüsterte: „Ist sie nicht schön? Glaubst du, daß es eine Prinzessin ist?“
Die gute Frau von G. war mittlerweile in so große Aufregung geraten, daß sie das „ pas avant les enfants “ vergessen hatte, als sie nun das Wort ergriff, um dem Hotelier zu antworten: „Wir sind alle der Meinung, daß es unmöglich ist, diese — diese Frau hier aufzunehmen. Wir können Ihnen nun freilich keine Vorschriften machen, aber ich für meine Person versichere Ihnen, daß ich mit meiner Familie morgen abreise, wenn sich diese Person hier auf einen längeren Aufenthalt einrichten wollte, und ich bin sicher, daß wir nicht die einzigen wären.“
„Ich bitte, sich zu beruhigen, gnädige Frau,“ sagte der Pächter. „Wir befinden uns ja noch unter dem ersten Eindruck dieses Unfalles. Was die Dame weiterhin zu tun gedenkt, ist mir völlig unbekannt, aber jedenfalls ist ihr für die nächsten Tage die Weiterfahrt ärztlich verboten.“
„Das ist ja sehr traurig, mein lieber Rösler,“ sagte die Baronin. „Man hätte eben die Straße für Wagen sperren sollen. Wir wollen aber in unserem Aufenthalt nicht gestört sein und Sie können uns nicht zumuten, mit dieser — dieser Frau unter einem Dache zu wohnen.“
Herr Rösler bemühte sich, ein Lächeln zu unterdrücken. „Verzeihen Sie, Gnädigste, aber versetzen Sie sich in meine Lage. Kann man eine Verunglückte vor die Türe setzen?“
„Nun dafür gibt es Beispiele,“ erklärte Frau Kommerzialrat Lobling. „Ich habe es selbst mitgemacht, daß man in K. zwei Lungenkranke abwies, die in unserem Hotel einkehren wollten.“
„Das ist abscheulich,“ sagte da eine bebende Stimme, und Vögelchen stand plötzlich im Vordergrund. Sie war bleicher als sonst und sprach in sichtlicher Erregung. „Ja, warum soll denn diese liebe Dame nicht hier schlafen?“ rief sie. „Wo soll sie nun denn wohnen? Vielleicht wäre es mir auch so ergangen, als uns das Dach wegbrannte, wenn ich am Tage gekommen wäre und man über mich abgestimmt hätte. Vielleicht hätte man mich auch verjagt.“
Einer der Jünglinge lachte, und im nächsten Augenblick entlud sich eine allgemeine Lachsalve. Vögelchen wurde glühend rot. Sie fühlte jetzt, daß sie etwas Einfältiges gesagt hatte, und große Tränen traten in ihre Augen.
„Ich bin natürlich gern bereit, mein Zimmer abzutreten, falls sich keiner der jungen Leute bereit erklärt,“ sagte Urbacher.
„Nein, das dürfen Sie nicht,“ unterbrach ihn der Baron. „Ich wäre ja auch bereit. Aber das ist nun einmal eine Prinzipiensache. (Wir sprechen ja wohl noch darüber, wenn wir unter uns sind.) Sie beschämen unsere jungen Leute oder drängen sie, den Damen gegenüber einen Taktfehler zu begehen.“
„Ich habe mein Wort verpfändet das Hotel nicht zu verlassen. Wenn mir keiner der Herren in seinem Zimmer Gastfreundschaft gewährt, ist meine Bereitwilligkeit leider ohne Wirkung.“
Eisige Stille folgte seinen Worten. Der Hotelier zuckte die Achseln und entfernte sich. Ihm war es ja schließlich auch lieber, wenn ein Fräulein Maquard nicht unter den Gästen seines Familienhotels erschien. Er selbst hatte sein Zimmer vermietet und wohnte in einer schlechten Mansarde.
Die Gesellschaft zerstreute sich. Die Herren waren froh unter sich zu sein. Die jungen Mädchen blieben beisammen und ließen ihrer Neugier freien Lauf.
Indessen war der junge Normayr gelandet und sogleich von den Begebenheiten unterrichtet worden. Als er nun zu Vögelchen trat, umwogte sie eine Welle von Zärtlichkeit, die aus seinen klaren Augen zu ihr ging. Sicher hatte er von ihrer rührenden, kleinen Standrede gehört. Als sie dann plaudernd auf- und abwanderten, kam Ruhe über sie.
Für den Nachmittag projektierten die Damen nicht ohne Hintergedanken einen Ausflug. Fräulein Maquard war indessen in dem Rauchzimmer untergebracht. Der Pächter war in einer verzweifelten Lage. Die Gesellschaft brach auf, ehe er nochmals an sie herantreten konnte. Auf diesem Ausflug schien sich zwischen Vögelchen und ihrem schönen Freunde eine Annäherung vollzogen zu haben, die nun manches bisher Unausgesprochene zur Wortschwelle gedrängt hatte. An diesem Abend entschloß sich Urbacher, Mannsthal von dieser Annäherung zu verständigen.
Was Fräulein Maquard betrifft, so fand man, vom Ausfluge zurückgekehrt, keine Spur mehr von ihr. Eine gewisse Scheu der Beschämung, wie sie Menschen oft befällt, wenn ihnen eine schlechte Tat gelungen, hielt die Frage zurück, wohin sich die Verunglückte gewendet habe. Die Lustigkeit, die die Gesellschaft an diesem Abend entfaltete, war nicht ehrlich. Man wollte sich über sein schlechtes Gewissen hinwegamüsieren. Selbst die Admiralsfrau von Normayr war geräuschvoll und ganz besonders liebenswürdig Vögelchen gegenüber, wohl um zu beweisen, daß sie ihre vorlaute Ansprache nicht übel genommen habe, da nun alles sich zur Befriedigung der gefährdeten Ehrbarkeit gewendet hatte.
Wie sehr erstaunte man aber, als am darauffolgenden Morgen Mila Maquard, den Arm in der Schlinge, ein wenig bleich, unter den Frühstücksgästen erschien und mit der größten Ruhe, ohne irgend jemanden zu beachten, in der guten Morgensonne, die sich nicht scheute auch sie zu bescheinen, ihr umfangreiches Frühstück einnahm.
Die Gespräche verstummten. Frau von G. schien von Gelbsucht befallen, die Mädchen wagten nicht aufzusehen, die jungen Leute sprachen lauter, als ihre Gewohnheit war, und prahlten mit bereits bekannten Ereignissen. Ein Sturm der Entrüstung brach los, als Mila Maquard die Terrasse verließ.
Urbacher war die ganze Zeit über ein wenig unruhig gewesen, weil er Vögelchen, die eine Frühaufsteherin war, vermißte. Ihr Freund, der bei ihm saß, teilte seine Unruhe. Nun kam sie, eben als der Redeschwall losbrach, langsam und verschlafen die Stufen des Hauses herab.
„Das ist unerhört,“ erklärte Frau Kommerzialrat Lobling, deren Kleid entschieden von dem Mila Maquards geschlagen worden war.
„Eine Hinterhältigkeit, eine Unverschämtheit von diesem Rösler,“ rief Frau von G.
„Meine Meinung wird er hören,“ pfiff die Baronin.
Auch die Admiralin war so ungehalten, daß ihr Sohn sie zu beruhigen trachtete.
„Wissen möchte ich, wer den Mut gehabt hat, ihr das Zimmer abzutreten,“ sagte der Baron. „Wissen Sie es vielleicht?“ fragte er die Kellnerin.
Da trat Vögelchen dicht heran. Sie sagte mit leiser, aber fester Stimme: „Das Fräulein hat in meinem Zimmer übernachtet.“
„Und du,“ fragte arglos Fräulein von Normayr in die peinliche Stille. „Hast du die Nacht im Walde verbracht?“
Vögelchen schüttelte den Kopf. Ihr Blick suchte den ihres Freundes, der dem ihren nur scheu begegnete.
„Nein,“ sagte sie. „Das Fräulein und ich schliefen in einem Bett.“
Die Admiralin stand auf und sagte: „Pfui, schämen Sie sich.“ Vögelchen erbleichte. Einen Augenblick hielt sie den Atem an, dann brach es aus ihr aus: „Pfui, ja pfui über Sie alle, über Ihren Hochmut, Ihre Unbarmherzigkeit.“ Erhobenen Hauptes entfernte sie sich.
Was nun folgte, war schmerzlich. Der junge Seeoffizier mied Vögelchen, die sich geweigert hatte, seine Mutter um Entschuldigung zu bitten. In einer Unterredung bat er den Doktor Urbacher, die Annäherungen an seinen Schützling zu entschuldigen. Gegensätzlichkeiten einschneidender Art nötigten ihn, den Verkehr aufzugeben, wie schwer dieser Verzicht ihn auch getroffen. Vögelchen erwiderte hoheitsvoll die Geringschätzung, die ihr von allen Seiten zuteil ward. Was Urbacher am bittersten schmerzte, war, daß sie ihm gegenüber den Vorwurf zu hegen schien, daß er sie vor den Menschen nicht gewarnt habe. Dies Erlebnis der Enttäuschung setzte Mannsthal wieder in seine Rechte ein. Zwei Tage nach diesen Begebenheiten fuhr er vor. Er hatte sich bis zur Unkenntlichkeit verjüngt. Die alljährliche Wirkung seiner Sommerkur wurde diesmal noch durch seine Bartlosigkeit unterstützt. Selbst seine Kleider hatten einen andern Schnitt. Vom neu erworbenen Wagen sprang ein weißhaariger Kammerdiener und öffnete dem Herrn, der neben ihm ein Jüngling schien, den Schlag. Merkwürdigerweise war Mannsthal über alles Vorgefallene unterrichtet. Die Auseinandersetzung, die nun zwischen ihm und Urbacher stattfand, hatte den Abbruch ihrer vertrauten Beziehungen zur Folge.
D as Zerwürfnis der beiden Freunde wäre unter anderen Umständen kaum so einschneidend und unwiderruflich gewesen. Mannsthal aber mußte bei der Ausführung eines Planes, der zu diesem Zeitpunkt einsetzte, vollständig ungestört und unbeobachtet sein. Er war durch einen berufsmäßigen Vertrauten, dessen Gewandtheit er schon mehrmals erprobt und der seinerseits sich mit einer im Schlosse wohnenden Erzieherin in Verbindung gesetzt hatte, über Vögelchens Leben daselbst aufs genaueste unterrichtet gewesen. Der gefürchtete Augenblick, den er noch in weiter Ferne wähnte, war gekommen. Vögelchen war einem Manne begegnet, einem Jüngling, dem sie sich geneigt fühlte. Solange alles furchtbar gefahrvoll schien, der junge Normayr Aussicht hatte, des Kindes vollstes Vertrauen zu erwerben, kostete Mannsthal die Lust, jene Gefahr bis zum Äußersten zu erleben. Es bestand ja immer noch die Möglichkeit, wenn alles verloren schien, ein grausames Nein zu sprechen. Nun aber hatte die Sachlage für ihn eine überraschend günstige Wendung genommen. Es lag etwas Unwahrscheinliches über diesem Naturereignis, das ihm so trefflich in die Hände gearbeitet hatte. Er zweifelte nicht, daß sein geheimer Wille Anschluß an höhere Macht gewonnen habe. An die Verwirklichung seiner Wünsche heftete sich kein Zweifel mehr. Als Sieger schon fuhr er in K. ein.
Vögelchen war in grausamere Fremdheit zurückgestürzt, in eine Öde, die mit jener nicht vergleichbar war, aus der sie sich zuweilen an das belebte Gestade gesehnt hatte. Jetzt schien ihr schon die Insel des Lebens durchquert und einer Wüste vergleichbar. Wäre nicht jene Nacht gewesen, die sie mit Mila Maquard verbracht! Irgendwo gleißte aus ihr ein Unbekanntes in die Ferne, schien selbst ein feuriger Faden, der durch Dunkelheiten lief, einer großen Flamme entgegen. Die scheue Freude und Ruhe, die sie im Umgang mit dem jungen Normayr genossen, sie wußte sie nicht mehr, seitdem er ihr wie erloschen schien. An ihrer Stelle saß ein kleiner Wurm in ihrem ehemals so aufgeschlossenen Herzen, das sich nun gefaltet hatte wie ein Blümlein zur Nacht. Als sie Mannsthal erblickte, stürmte sie auf ihn zu, aber sein verändertes Aussehen stürzte die Freude zurück in ihre Brust. War er es? Er folgte ihr auf das Zimmer, hielt prüfend seine kühle Hand an ihre Wange, fand, daß sie fiebere, und gebot ihr sich hinzulegen. Während sie in leiser Furcht und dennoch beglückt seiner Anordnung gehorchte, stand er vor ihr und meisterte die eigene Erregung. Er selbst war ihr behilflich, als sie dem Mädchen klingeln wollte. „Ich weiß, was vorgefallen ist,“ sagte er und setzte sich zu ihr. „Du mußt jetzt ganz ruhig bleiben, es wird sich alles von selbst lösen. Du mußt mir nur wieder vertrauen.“ Er streichelte leise ihr Haar, das aufknisterte wie nie zuvor, und seine Hand glitt wie beschwichtigend über ihre Schultern hinab. Da sah er Glut in ihre Wangen steigen. Eine Erinnerung hatte sie überwältigt und plötzlich riß sie sich aus der Betäubung, die er über sie hingoß, preßte ihre Arme um seinen Hals und schmiegte das heiße Antlitz an seine Wange. Sie hatte küssen gelernt.
Er atmete schwer, machte sich los. „Kind,“ sagte er, „wie bin ich jetzt erschrocken. Das Fieber macht dich so stürmisch. Ich gehe jetzt, du mußt ruhiger werden. Ich muß ja nun dringend Urbacher sprechen.“ Er verließ sie fliehend.
Vögelchen lag nun und die Stille tat ihr wohl. Denn nun war sie innerlich beruhigt wie nie zuvor, nun fühlte sie Geborgenheit und jenes Gleißende, womit ihr die verunglückte Frau für ihre Gastfreundschaft gedankt, glühte ihr näher und wärmer. Spät abends trat Mannsthal zu ihr und berichtete, daß Urbacher abgereist sei. Um die Aufregung des Abschiedes zu meiden, hätte er nur einige Worte für sie hingeschrieben. Vögelchen las: „Mein gutes Kind. Wir alten Freunde sind uneins geworden. Vergiß darüber nicht, daß in Treuen dir zugeneigt bleibt dein Freund Clemens Urbacher.
Ich meinte es gut. Trauere nicht über Leid. Schmerz erhöht.“
Vögelchen begann zu weinen, lautlos wie immer, wenn es weinte. Große Tränen rollten aus leuchtenden Augen über ein bewegungsloses Antlitz. So war Vögelchens Weinen. Mannsthal saß an ihrem Bett und küßte ihr Stirn und Haar. Sein Taschentuch, dem ein seltener, ihr unbekannter Duft entströmte, trocknete langsam die mählich versiegenden Tränen. Am folgenden Morgen saß Arabella, vom Schlaf erquickt, am Strande beim Frühstück. Die Leute schienen nun nicht mehr für sie vorhanden, obwohl die prunkvolle Ankunft Mannsthals nicht ohne Wirkung auf ihr Benehmen geblieben war. Vögelchen aber bemerkte es nicht, sie sah niemanden, sie wartete auf Va. Adalbert Mannsthal erschien im indischen Seidenanzug und erregte die Aufmerksamkeit der Sommergäste. Er küßte Vögelchens Stirn, im Flüsterton unterhielt er sich mit ihr. „Wie ich höre, war es die Maquard, die hier war. Ich werde mich nach ihrem Befinden erkundigen.“
„Du kennst sie?“
„Wer kennt sie nicht?“
Vögelchen errötete.
„Eine so schöne Erscheinung,“ fügte er hinzu. „Eine scharmante Frau. Ich werde sie bitten, dir bei ihren Kaufleuten einige neuartige Kleider und was du sonst noch brauchst zu bestellen. Da sie dich kennt, wird sie das Richtige treffen. Sie hat dich ja auch entkleidet gesehen und weiß ungefähr deine Maße, nicht wahr?“ Wieder errötete das Mädchen und blickte auf ihren Teller herab. Mannsthal lächelte fast unmerklich. „Wird es dir Freude machen, Ari, wie eine kleine Prinzessin gekleidet zu gehen?“ sagte er dann. „Sieh mich doch an.“ Er zwang ihren Blick in den seinen. „Denn wenn wir jetzt reisen, brauchst du schöne Dinge.“ Vögelchens Hände klammerten sich an seinen Arm und mit verzücktem Ausdruck preßte sie die Lippen zusammen, als müßte sie ein Jauchzen in ihrer Brust verschließen.
„Nun ja, wir wollen jetzt reisen, da du nun einmal unter die Menschen gegangen und an ihnen klug geworden bist,“ antwortete er. „Nun bleibst du ja auch eine Weile bei mir?“ Sie preßte seine Hand: ein glühendes Versprechen.
Vögelchen sah mit Erstaunen, wie er, den sie lässig und oft müde gekannt, die Segel meisterte. Sie war stolz darauf, daß er sich Normayr zur Seite stellen konnte. Wie er nun zur Maquard fahren wollte, machte sie sich eiligst bereit, ihn zu begleiten. Ihr Gesichtchen wurde nachdenklich, als er erklärte, sie nicht mitnehmen zu können. „Nicht etwa, weil ich sie aussätzig finde, wie diese Leute hier.“ Da hob sie den Kopf und sagte eigensinnig: „Du willst allein sein mit ihr.“ Vögelchen blickte Mannsthal an vom Kopf bis zu den Füßen. Sie schien erst jetzt bewußt zu empfinden, daß er ein Mann sei, und so gut wie ein anderer mit jener Frau in einer dieser geheimnisvollen Verknüpfungen stehen konnte, von denen die Leute gemunkelt hatten. Sie gedachte der seltsamen Nacht und Schauer von Ahnungen durchbebten sie. Zugleich empfand sie Eifersucht und verfiel in Unmut. Mehr als Ärger war es, der sich schon bis zu Zornausbrüchen bei ihr steigern konnte, wenn sie sich vor Rätseln sah, die den Andern völlig klar waren. Er gab nach, verschob den Besuch. Sie machten eine Spazierfahrt, stiegen aus und gingen durch ein benachbartes Dorf. Sie trafen dort den jungen Normayr mit einem älteren Offizier. Er erschrak, grüßte ehrerbietig. Vögelchen nickte ihm zu. „Das war er,“ sagte sie nach einer Weile.
„Ich dachte es mir,“ sagte Mannsthal erschauernd. Dann schwiegen sie. Aber auf der Rückfahrt nahm er plötzlich ihren Kopf zwischen seine Hände und küßte sie. Vögelchen sah eine Träne in seinem Auge.
„Va,“ rief sie und drückte seine Hände leidenschaftlich an die Lippen.
Als Vögelchen nach dem Essen auf ihr Zimmer gegangen war, schritt Mannsthal etwa zehn Minuten den See entlang. Dort stand sein Wagen. Er fuhr zur Maquard.
Des Morgens war er zurück. Nun wußte er mehr, als ihm lieb war. Die Maquard hatte ihm vorgearbeitet. Vielleicht hatte sie seine Absichten unbewußt gefördert. Er verschwieg Vögelchen den Besuch, ja er versuchte diese Begegnung in ihrer Erinnerung zu verdunkeln. Andere Eindrücke sollten sie verdrängen. Indessen kamen die Koffer mit den bestellten Kleidern, Mänteln, Hüten, Schuhen, mit blütenfeiner Wäsche, neuen Gepäckstücken und Toilettegegenstände mit Vögelchens Namenszug „Arabella“. Das Kind freute sich und auch das Mädchen schon, das gefallen wollte. Das Vögelchen von früher hätte manches abgelehnt von den neuen Dingen, die allerdings die Maquard mit seltenem Gefühl der Anpassung gewählt hatte. Ihre Jungfer hatte zurechtgemacht, was da und dort noch fehlte, und Vögelchen meinte, sie wäre zu ihr von einer Putzmacherin gesandt. Tags darauf veranlaßte Mannsthal die Übersiedlung in einen Gasthof an einen der benachbarten Seen, wo er Vögelchen mit dem Diener Camill allein ließ, um einige Geschäfte zu ordnen, ehe sie die Auslandsreise antraten.
V ögelchen begann sich nun langsam der Welt zu besinnen, wie die sich nun zu ihr, der kleinen Arabella Rutland, verhalten mochte. Sie lernte bewußt sich als Einzelwesen fühlen. Als sie eines Morgens im Rasen lag und von ihrer Anhöhe bald zum See herab, bald zum unendlich blauen Himmel aufblickte, empfand sie sich als ein wanderndes Stäubchen, ein losgelöstes Fünkchen auf Wanderschaft. Immer wieder sah sie noch das Feuerzeichen des Brandes, sah den Funkenregen und wie Teile sich loslösten und in der Luft verglühten oder im Wasser einen vorzeitigen Tod fanden. Alle schienen bis ans Ende ihrer Kraft zu fliegen und wurden Asche und Erde, nachdem ihr Leuchten in Dunkelheit untergegangen. Asche und Erde aber wurden von Wetter und Zeit zu feuchtem warmen Boden. Da grünten die Fünkchen von neuem ins Leben. Über ihr blitzte der Flügel einer Schwalbe im Sonnenlicht. „Flieg, Fünkchen, flieg,“ sang sie leise und es war ihr, als würde sie selbst ganz leicht und brauchte nur aufzuflattern. Waren alle Menschen beschwingt wie sie? In den Familien, in deren Nähe sie nach dem Brande gelebt, schienen kleine Widerhaken die Einzelnen aneinander festzuhalten. Wäre „Er“ denn sonst nicht mit ihr geflogen? Ach, sie war ein Sonderwesen, hatte nicht Vater, nicht Mutter, nicht Schwesterlein und Brüderlein. Va war ja nicht ihr Vater, das wußte sie. Aber auch für sie mußte es kleine Quellen geben, wo sie trinken konnte, Nester, wo sie ruhen würde, wenn die Wanderschaft begann und sie ermüdete. Va wußte alles. Er würde sie weisen. Va, der Zauberer, würde ihr die Türen öffnen. Die Reise, das wußte sie, die war der Anbeginn ihrer Wanderung, und die Wanderung würde ihr Leben sein. Die Leute in den Kirchen blickten zum Himmel auf, wenn sie beteten. Dort wohnte wohl Gott. Aber da unten im Seegrunde hauste ein anderer. Oder war das nur der Himmelsgott, der sich im Wasser spiegelte? Nein, der Gott da unten war verflochten in den Pflanzen der Tiefe und Fischlein schwammen silbern um seinen Bart. Der Gott im Himmel war sein Bruder und ewige Sehnsucht stieg auf und ab von ihnen. Vögelchen war es, als ginge der Strom ihrer Sehnsucht durch ihren eigenen Leib, aufsteigend und absteigend. In ihrem Herzen begegnete er sich, floß ein, floß aus. Ihr Blut nährte sich von ihm. Er hielt sie. Sie konnte nicht fallen. Sie bekam Weisungen von Höhe und Tiefe, in ihr verschwisterten sie sich. Dies alles war nicht Traum. Ließ es sich in Worte bilden?
Ja, sie konnte es in wirklichen Worten aus sich herausstellen. Von diesen Dingen erzählte sie dem Studenten Kruger, dem mißratenen Hofratssohne, der in ihrem Gasthof wohnte. Der hatte die Familienwiderhaken sich blutig aus dem Fleische gerissen. Nun heilte er die Wunden in Einsamkeit. Aber der Brand seiner Seele riß sie immer wieder auf. Schmerzten sie, so ward er wunderlich. Der Geist war ihm Seelsorger und Hofnarr zugleich. Vögelchen störte ihn nicht. Er nannte sie Ariel. Arabella klang ihm zu menschlich.
Student Kruger war ein wenig verwachsen oder es schien so. Man wußte nicht, wo und wie seine Gestalt abnorm war. Seine Augen hatten etwas Überraschendes wie die eines Falken oder Adlers, die sich, seltsam an der Ferne geschärft, unter bergenden Lidern enthüllen, und seine hohe Stirn, sein dichtes Haar ließen die Gestalt noch dürftiger erscheinen. Sein Mund aber war wie ein Hohn auf die Geistigkeit seiner blaugeäderten Schläfen. Er hockte wie ein Affe mit langen Armen neben Ariel und sprach in sie ein, bis er das Geheimnis des „Stromes“ aus ihr holte.
„Wer ist Gott?“ fragte sie.
„Gott ist ein einförmiges, göttliches, einfältiges Wesen und wirkt doch alle Mannigfaltigkeit und ist alles in allen Dingen, eines in allem und alles in einem, sagt der heilige Augustin. Gott sind Sie, Ariel, Gott bin ich, Konrad Kruger, Student der Theologie, Verkünder meiner Religion.“
„Und was ist das, was ihr die Seele nennt?“ fragte Vögelchen.
„Seele ist ein Aufgang zu Gott durch das Getümmel der Welt. Seele ist das Entsinken deiner selbst, dein Schauen, dein Warten, dein Empfangen, dein Geben in Demut.“
„Und was ist Demut?“ fragte Vögelchen.
„Demut ist Aufgeschlossensein, Demut ist Einlaß und Ausströmen der Liebe, Erkennen, Duldung und Dank, Bewährung im Glück und Schmerz, Demut ist Liebe gewordenes Leid.“
„Trauere nicht über Leid, Schmerz erhöht,“ sagte Vögelchen und bescheiden setzte sie hinzu: „Das weiß ich von Onkel Clemens, er schrieb mir das zum Abschied.“ Und plötzlich brach sie aus: „Ach, warum ist er fort, der gute, gute Onkel Clemens?“ Sie begann zu weinen. Student Kruger saß dabei und grinste aus Verlegenheit.
„Schmerz, wenn ein Rad über mein Bein fährt,“ fragte sie dann und trocknete ihre Tränen.
„Nein, Ariel, körperlichen Schmerz, sofern er nicht maßlos und andauernd ist, verspüren wir nicht, du und ich und die anderen, die wie wir sind.“
„Ich war nie krank,“ sagte Vögelchen.
„Und bist doch so zart. Sind Blumen krank? Die Narzisse auf wiegendem Stiel, das Buschwindröschen, die Orchidee? Nein.“
„Ich hatte eine schwarze Amme, eine Negerin säugte mich.“ Sie sah ihn kindlich triumphierend an. Das kann nicht jeder von sich erzählen, prahlte ihr Blick.
„Hattest du nicht die Masern, Scharlach, den Keuchhusten? Nein, daran wärest du gestorben,“ sagte Student Kruger. Er starrte sie eine Weile an. „Bist du eigentlich schon ein Mädchen?“ fragte er plötzlich. „Wie alt bist du?“
Vögelchen verschwieg gern ihr Alter. „Ich war immer ein Mädchen,“ antwortete Vögelchen ernsthaft.
„Ich meine, ob du noch Kind bist?“
Vögelchen richtete sich zornig auf. „Ich wäre ja beinahe Braut geworden,“ rief sie. „Und wenn wir nun reisen, so bin ich Frau Mannsthal. Das haben wir beschlossen. Va ist nicht mein Vater, müssen Sie wissen. Ich habe keinen Vater.“
„Und deine Mutter?“ Vögelchen erbleichte. Sie riß einen Halm aus und warf ihn von sich. Dies war die Antwort.
„Aber das mit dem Schmerz, daß wir es, ich und die anderen (sie ging immer auf seine Andeutungen einer geheimen Gemeinschaft ein), daß wir den Schmerz nicht spüren! Geben Sie mir Ihr Federmesser, ich will das versuchen.“ Gehorsam zog er es hervor. Soll ich öffnen, deutet er. Sie nickte.
„Rasch, sonst verliere ich den Mut.“ Er tat es. Sie ritzte sich in der Handfläche. Es ging nicht leicht. Ihre Haut wehrte sich des stählernen Eindringlings. Plötzlich sprang ein kleiner roter Strahl empor. Vögelchen war kreideweiß im Gesicht. „Wahrhaftig, es schmerzte nicht,“ sagte sie. Aber sie hielt den Atem an. Es wurde ihr übel. Student Kruger hockte neben ihr, seine Haare sträubten sich vor Erregung, seine Ohren reckten sich spitz, seine Augen hatten einen stumpfen, fast blödsinnigen Glanz.
„Ariels Blut,“ sagte er leise. „Wein des Lebens.“
„Ich kann es nicht sehen,“ sagte Vögelchen, die immer bleicher wurde.
„Und müßt doch bluten, ihr Frauen.“
„Red’ nicht so hoch daher,“ rief sie unwillig und wand ihr Tuch um die Hand. „Ich hasse euer ewiges Gescheitsein.“
„Ich möchte dir alles geben, was ich habe, Ariel, alles Gescheitsein auch.“
„Ich mag nichts von dir,“ sagte sie. Er sah sie an wie ein getretener Hund, dann beugte er sich über sie und flüsterte angstvoll: „Aber ich lasse dich nicht.“ Vögelchen sah zu ihm auf; wie sein Antlitz über ihr schwebte, war ihr, als ob das Grauen sich in einer Wolke über ihr ballte. Ein Druck legte sich wie eine eisern würgende Faust auf ihren Hals, ein blauer Strom ging an beiden Schläfen zu ihrem Herzen hinab. Sie wurde ohnmächtig.
Camill, der Kammerdiener, kam, vom Ruf des Studenten angetrieben. Er rieb ihr die Stirne mit Essig. Man trug sie auf ihr Zimmer. Dort schlug sie die Augen auf. „Er hat mich gebissen,“ sagte sie und deutete erzürnt auf Kruger, der bestürzt da stand. Der Kammerdiener machte ihm hinter Vögelchens Lager ein Zeichen. Er tippte mit dem Finger an seine Stirn, andeutend, daß er an der Vernunft seines Fräuleins zweifle.
Vögelchen streifte tags darauf wieder allein im Wald umher und war einsam bei den Mahlzeiten. Kruger begrüßte sie mit tiefen Verbeugungen. Er saß in einem Gartenhaus hinter Büchern bei einer Schreibarbeit. Manchmal stand er auf und fuhr wild gestikulierend mit den Armen in die Luft. Vögelchen war sehr neugierig, was er da treibe. Sie ging einige Mal um das Häuschen herum, setzte sich dann in Hör- und Sehweite, mit dem Schnitzen einer Gerte beschäftigt.
„Ja, da brauchte man ein Papier,“ sagte sie, scheinbar zu sich selbst sprechend. Ein kleiner Junge lief vorüber und sah das kleine Fräulein an. „Ich mache eine Fahne,“ sagte sie, „für mein Schiff. Aber dies ist erst der Mast. Ich brauche ein Papier. Und dann schreib’ ich darauf ‚Fünkchen, flieg‘. So heißt mein Schiff. Hast du verstanden, Peter? Oder heißt du vielleicht Seppel?“ Der Junge nickte. „Nun, kannst du nicht reden? Aber nicken kannst du doch? Andere können nicht einmal nicken, und wenn du ein Student wärst, hättest du auch ein Papier.“ Seppel murmelte etwas, das seine Zahnlosigkeit unverständlich machte, und verschwand auf das schrille Pfeifen eines Genossen.
Jetzt erschien Kruger vor dem Gartentor und hielt einen Bogen in der Hand.
„Ach, Sie sind hier?“ sagte Vögelchen.
„Sie suchen mich ja schon eine gute Weile.“
„Einbildung,“ sagte sie.
„Das ist keine Schande unter guten Freunden.“
„Freunden? Ich kenne Sie doch kaum. Vor acht Tagen wußte ich noch nichts von Ihnen.“
„Oh, das tut nichts zur Sache. Liebe auf den ersten Blick.“
„Ich, Sie lieben!“ Sie lachte.
„Lieben Sie den Vogel dort, der über dem Baum schwirrt? Vor einer Sekunde noch war er nicht in Ihrem Leben und vielleicht werden Sie ihn nie wiedersehen. Lieben Sie dieses Marienkäferchen, das morgen tot sein wird, den Fisch, der dort aufblitzt im See, den Seppel, der eben fortlief?“
Sie dachte nach. „Ja,“ sagte sie. „Aber Sie? Nein.“
„Auch mich, aber das ist nichts.“ Er machte eine Handbewegung, als schöbe er etwas weit weg, und immerzu noch lächelte er unter dem Glück, daß sie wieder zu ihm gekommen. „Auch mich, aber Ihre Liebe gehört allen und niemandem. Sie bleiben nirgends. Ihr Herz hat Flügel. Es saugt sich dort an und da an und es wird süß werden wie Honig. Dies ist der Sinn Ihres Lebens, Honig des Herzens zu geben und den Gesang Ihrer Seele. Sie werden nicht Landschaften malen, nicht auf den Brettern agieren und nicht studieren, es sei denn, Sie täten es einem Menschen zulieb. Sie werden nicht sticken und Bücher lesen, und ich glaube, daß Sie niemals ein Kind haben werden.“
Vögelchen hatte still zugehört. Jetzt kam Bewegung in sie. „Ich will Kinder haben, sehr bald will ich kleine Kinder haben. Nächstes Jahr vielleicht schon,“ sagte sie.
Kruger lachte, aber plötzlich standen seine Augen voll Tränen. Er hatte tagsüber in Ekstase gearbeitet und war sehr erregt. „Deine Wiege stand im Wüstensand, im Land des Morgens,“ sagte er mit weitausschauendem Blick, als predigte er. „Ehelich gebunden bist du, ehe du zum Weibe wardst. Du bist gebenedeit, denn zwischen dir und Gott ist kein Ich und Du.“ Und plötzlich beugte er sich herab, rasch hinknieend wie ein Frommer, der eine Kirche verläßt, und küßte den Saum ihres Kleidchens. Sie warf eine Blume, einen himmelblauen Enzian, auf ihn herab. Er barg ihn in seiner Brust.
Am Kiesweg knirschte ein Tritt. Camill, der Kammerdiener, stand hinter ihnen.
„Der gnädige Herr sind angekommen,“ sagte er.
Student Kruger war nun abgesetzt. Er war jetzt ganz auf Camill angewiesen, der eine starke Anziehungskraft für ihn hatte. Wenn Vögelchen zur Ruhe gegangen war, pflegte er mit ihm, der gern trank, im Schankzimmer des Gasthofes zu sitzen. Diese Freundschaft anzubahnen, schien ihm wichtig. Durch Camill hoffte er Vögelchens Wege verfolgen zu können. Der Diener sprach nicht wenig von schlüpfrigen Dingen und Student Kruger, mißratener Hofratssohn und Hörer der Theologie, vernahm sie mit Verständnis und Wohlbehagen. Er erfuhr auch einiges über Mannsthal, den er als Vögelchens Besitzer bewunderte und haßte. Camill ließ Andeutungen fallen von Abreibungen, elektrischen Kuren, von Medikamenten und Bädern, von gymnastischen Übungen, die alle der Erhaltung jugendlicher Manneskraft dienten. Konrad Kruger versuchte sich heimlich in ähnlichen Prozeduren und sie hatten die Wirkung, daß Minna, das Schankmädchen, ihm eine Ohrfeige gab. Eine Reihe von Gedichten entstand aus dem neuentfachten Brand seiner Sinne. Sie verklärten sich alle ins Mystische und alle waren an Ariel-Vögelchen gerichtet, das ihm von ferne ernsthaft zulächelte. Mannsthal hatte die Versuche, ihm Kruger näher zu bringen, mit leichtem Spott abgewiesen.
Da geschah es am Tage vor der Abreise, daß am späten Nachmittag eine Dame vorfuhr und nach Mannsthal fragte. Suchend irrte ihr erregter Blick umher. Sie war beinahe korpulent, was zu ihrem merkwürdig zarten, von Leid gezeichneten Gesicht im Widerspruch stand. Vögelchen sah, wie Mannsthal vorsprang und sich mit bleichem Gesicht kühl und wie abwehrend verbeugte. Die Dame sah forschend auf Arabella und ein schmerzliches, mit Neugier gepaartes Lächeln streifte sie. Dann folgte sie Mannsthal, der ihr Vorwürfe zu machen schien, in das nahe Wäldchen.
Vögelchen war sogleich von Argwohn erfüllt. Sie haßte es, von fremden Leuten betrachtet zu werden. Blicke krochen ihr bis an die Haut und verursachten ihr oft Unbehagen. So hatte sie sich auch unter diesem Lorgnettieren abgewandt und den forschenden Blick durch eine rasche Umdrehung der Schultern gleichsam abgeschüttelt. Eine vielleicht geplante Annäherung der Dame schien dadurch augenblicklich unmöglich geworden. Arabellas Mißtrauen war nach den Erlebnissen in K. begreiflicherweise noch nicht geschwunden und, wäre sie nicht Kruger begegnet, der ihrer innern Welt schon durch die Hemmungslosigkeit seiner Rede näher stand, sie hätte den Zweifel an einen möglichen Zusammenschluß mit Menschen nicht so bald überwunden. Aber noch beherrschte er sie. Mit dieser Fremden wollte sie nicht sprechen. Va schien über ihr Kommen erzürnt. Eine geplante Segelfahrt war nun überdies versäumt. Obwohl Arabella zu einem Buch griff, war sie innerlich aufgewühlt und las nicht. Sie ahnte wieder die Geheimnisse, die um sie wuchsen, wie undurchdringliches Gestrüpp. Ein Gefühl, aus Trotz und Scham gemengt, drängte jede Frage zurück. Dennoch zehrte Neugier an ihr und Grübeln, ob sie mit Wissen ein Drohendes, Unheimliches nicht würde bannen können.
Kruger lag im Walde, als Mannsthal mit der Dame herankam. In seiner grünen Lodenjoppe war er vom Moosboden nicht zu unterscheiden. Er las. Da hörte er eine Frauenstimme erregt sagen: „Bitte, setzen wir uns doch endlich, ich bin müde.“ Die nächste Bank war nicht in Hörweite. Student Kruger kroch auf allen Vieren, bis er Brocken des Gespräches erhaschen konnte.
„Was nützte dir der neuerliche Prozeß? Sie ginge ja doch nicht mit dir. Willst du das Kind gegen seinen Willen zwingen?“ Dann hörte er weiter aus Mannsthals Munde das Wort „Erbin“. „Du willst ihr ein glänzendes Leben verscherzen? Du, eine Fremde! Denn sie kennt dich ja nicht mehr.“ Die Frau antwortete: „Ein glänzendes Leben? Du wirst sie zugrunde richten. Du hast eine Wilde aus ihr gemacht. Ich dulde das nicht länger.“
„Man hat dich nicht gewarnt? — Urbacher? Oder spionierst du?“
„Nein, verdächtige niemanden. Gewissen —“
„Warum schwieg es denn damals? Warum hast du das Kind deinem Mann geopfert, der von mir bezahlt war? Muß ich dich wieder daran erinnern?“ Die Stimmen wurden lauter.
„Du lügst. Deine Spitzfindigkeiten boten uns keinen Ausweg.“
„Willst du endlich seine Unterschrift sehen? Ich habe diese kleine Kostbarkeit immer bei mir. Für alle Fälle.“
„Aber ich dulde nicht, daß du im Ausland lebst. Daß du das Kind verschleppst.“
„Sie haben keine Rechte zu verbieten.“
„Und wenn ich dich verdächtige, daß du nicht als Vater an ihr handelst?“
„So werde ich vor den gröbsten Mitteln nicht zurückscheuen. Noch einmal solch ein Überfall und ich erzähle Arabella alles.“
„Willst du ihr verächtlich werden?“
„Willst du, daß sie die Erinnerung an dich, daß sie das Wort ‚Mutter‘ für immer austilgt?“
„Erpresser,“ sagte die Frau.
„Du reizt mich zum Äußersten. Du weißt, ich liebe sie unüberwindlich, mehr als Recht und Ehre. Kehr’ in dein Leben zurück, das du dir freiwillig gewählt hast, und beunruhige das Kind nicht.“
Die Frau stand auf. „Treib’ es nicht zu weit. Gott gebe, daß ich dir Unrecht tue. Aber auch, wenn du reist, werde ich Mittel finden, das Kind im Auge zu behalten.“ Sie schluchzte. Sie entfernten sich. Kruger sprang auf. Er lief durch den Wald bis zu jener Stelle, wo die Fahrstraße ansteigt und Wagen im Schritt fahren. Dort wartete er. Als das Gefährt herankam, grüßte er.
„Auf ein Wort, bitte.“ Die Dame fuhr erschrocken auf und fragte:
„Was wollen Sie?“ Ein Bettler war das nicht.
„Ihre Adresse,“ sagte Kruger — „für alle Fälle.“
Die Dame erbleichte. „Wer sind Sie,“ stieß sie hervor.
„Wozu? Nebensache. Zu Ihrem Vorteil frage ich. Geben Sie zumindest eine Deckadresse. Den Namen Ihrer Tochter Arabella zum Beispiel. Welches Postamt?“
Die Dame sah den Menschen an. Sie besann sich mühselig. Zögernd nannte sie das Verlangte. Kruger zog rasch den Hut und verschwand im Walde.
Vögelchen konnte nicht einschlafen. Sie saß auf ihrem Balkon im Dunkel und kämmte ihr Haar. Sie tat das gern und immer länger, als es nötig war. Vor dem Gartenhaus sah sie Kruger herumwandern. Er sah ernst und vergrämt aus, schwer von Wissen. Mannsthal hatte sich zurückgezogen und ihr jede Frage abgeschnitten. Er wollte sie nicht mehr belügen. Seitdem er sie in ein neues Leben aufgenommen, versuchte er so ehrlich zu sein als möglich. Später würde er ihr für alle Teile gleich schonungslos die Wahrheit sagen. Später! Vögelchen starrte auf das Licht seines Zimmers. Jetzt losch es. Zorn stieg in ihr auf. War sie denn immer noch das Kind, dem versagt wird, was der bloße Anstand erforderte? Aufklärung von Vorgängen, die sich vor ihr abspielten und dies alles mit Selbstverständlichkeit. Ihre Freundschaft mit Urbacher, mit dem Studenten, wortlos wurden sie ihr genommen. Warum war dies zwischen ihr und Va, daß sie nachts sich nicht mehr zu ihm getraute, wenn ihr ängstlich zu Mute war? Alles schien ihr nun unnatürlich. Wie traumverloren stand sie auf, stieg mit ihren roten Pantöffelchen und aufgelöstem Haar zu dem Menschen, den sie da unten bei der Arbeit wußte, zu ihm, der die Tore seines Wesens für sie aufgeschlossen hatte. Morgen würden sie ja reisen. Da mußte alles anders werden. Dann würde wohl auch Va sie einnehmen in sein eigenes Leben. Aber, wenn das nicht geschah? Wenn sie allein bliebe? Gab es einen Weg aus ihrem Bangen? Nun würde sie Kruger Adieu sagen und seinen Predigersegen empfangen. Als sie so plötzlich vor ihm aufstieg, weiß und lautlos, griff er in die Luft, als gelte es eine Erscheinung zu fassen: „Wieder auferstanden?“ sagte er grinsend.
„Schweig,“ flüsterte sie. „Va braucht uns nicht gleich zu hören und Camill verrät uns.“
„Nein, der tut es nicht, und wenn auch? Morgen fährt Frau Arabella Mannsthal in die Welt.“
„Ja, morgen fahren wir in die Welt.“
„Du Glückliche,“ seufzte Kruger, „wenn du wüßtest, wie ich mich hinaussehne, wie ich es erlechze, die weißen Firne im Spiegelbild der blauen Seen zu erblicken, die berühmten Stätten der Kunst, die uralten Baudenkmäler, deren lebendiges Geschehen mir gegenwärtig ist! Wie ich mich nun doppelt sehnen werde, in diese schon von alter Kunstheiligkeit schaurig gewordenen Kirchen zu treten. Wird er dir auch alles zeigen können, wie ich es könnte? Wird er dich beten lehren und dichten, wenn Bewunderung keine täglichen Worte mehr findet? Wird er jene unzerreißbaren Fäden ziehen, die unsere Sterblichkeit an das göttliche Ewige binden? Für dich müßten die Steine wieder ihre alten Worte finden. Von den Wänden der Kapellen müßten Schwester und Brüder aus heiligen Landen herabsteigen und Zwiesprache halten mit dir. Statt dessen, Ariel, wird der große Brand über dich kommen. Sieh,“ fuhr er in schlichter Ergriffenheit fort, „dein Blut wird sich entzünden, es harrt schon des Feuersteines. Aus der schmalen Schale deines Kinderleibes werden Flammen brechen. Hüte ihre Heiligkeit. Möge es dich nicht vernichten, das Feuer.“
Vögelchen sah das Feuer, das die Stätte ihrer Kindheit verheert hatte. Es war eins mit dem Brande, vor dem er warnte. Welch Wunder, sie verstand ihn! Endlich kam ein Licht über ihr dumpfes Ahnen. In jener Nacht mit Mila Maquard, in jenen Stunden, da seltsame Liebkosungen Fluten von Wärme und heißer Gier in ihr erweckt hatten, da hatte zugleich ein Gefühl traurig beseligter Weltflucht, ein Enteilen ihres Körpers über alles Irdische sie erhöht. Sie ahnte, seine Warnung hieß: „Lass’ dich gleiten, verweile nicht auf den Wogenkämmen der Eigenlust. Ströme aus in unendlichem Geben.“
Daß sie ihn verstand, beglückte sie. Und nun war darüber kein Zweifel mehr, als er sagte: „Tu es mit ganzer Seele.“ Sie sah nicht, wie seine bebende Hand sich ballte und wie zum Fluch sie sich aufrecken wollte zum erloschenen Fenster Mannsthals.
„Ich werde dich wohl nie mehr sehen,“ sagte sie traurig.
„Du wirst mich sehen. Ich werde dir nahe sein, immer, immer wirst du nur zu rufen brauchen. Immer wird dein Bild vor mir schweben und mich zum Äußersten stärken.“ Er blickte auf sie mit halbgeschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund wie einer, der einen lieblichen Traum erschaut. Dann schlug er den Blick nieder zu ihren roten Pantöffelchen, ein Märchen kam ihm in den Sinn. Sie tippte ihn leise an der Schulter.
„Schreib mir,“ hauchte sie. Und dann verschwand sie, von seinen Worten durchschauert.
Tags darauf fuhr der Wagen vor, die riesigen Koffer aufgeschnallt. Vögelchen stieg ein wie eine Braut, ihr Schleier flatterte in der Brise des Morgens. Mannsthal folgte ihr, bettete sie ein in weiche Decken. Eine feierliche Entschlossenheit lag kalt wie Marmor auf seinem Antlitz. Camill sprang auf und blinzelte zu einem Fenster. Dort stand Kruger. Der Wagenlenker tat seine Arbeit. Ein leichtes Grüßen. Nun flog das Gefährt in die Landschaft ...
Hunde, die man zu Hause läßt, brechen zuweilen ihre Fesseln, Wagen oder Eisenbahn nachzujagen mit hängender Zunge. Also flog schweißtriefend Konrad Krugers Seele neben Vögelchens Wagen und heulte auf zu ihr in verschmachtendem Schmerz.
„ Il avait toujours eu le malheur d’être riche. “
(
Romain Rolland
„Dans la Maison“
)
F ünfundzwanzig Jahre vor diesen Begebenheiten saßen in dem Parke der Mannsthal-Villa in Hellwang einige Jungen und sprachen — sie waren etwa fünfzehnjährig — von „Unerlaubtem“. Einer von ihnen führte das Wort, manche warfen Bemerkungen ein, um Kenntnisse zu beweisen, andere stellten ab und zu eine zaghafte Frage. Nur Adalbert schwieg und es schien, als höre er nichts als das Brausen der nahen Stahlwerke und sähe nichts anderes als die feine Holzschnitzarbeit, die er eben handhabte. (Es war ein Kästchen, das einem besonderen Mineral als Aufbewahrungsort dienen sollte.) Immer wieder trieb es die Jungen an, vor ihm ihre Eröffnungen ins Lügenhafte zu steigern, um ihn endlich zur Anteilnahme hinzureißen. Während er äußerlich kühl blieb, entfiel ihm kein Wort des Gespräches, aber zum ersten Male bemächtigte sich nun seiner Unruhe. Er selbst war wohl von einem vernünftigen Vater hinreichend aufgeklärt worden, aber seine beherrschte Lebensart, die Beschäftigung mit künstlerischen Dingen, sein Interesse für das große Unternehmen des Vaters, sein stark entwickelter Schönheitsinn hatten ihn bisher vor den oft im Müßiggang vorzeitig aufkeimenden Trieben bewahrt. Zum ersten Male, obwohl älter als die Vettern und Freunde, begann nun ein heißer Drang in ihm aufzusteigen, der ihn so sehr betroffen machte, daß eine Beteiligung am Gespräche seine körperliche Anteilnahme verraten hätte. Während er nun mit unruhiger Hand die Laubsäge zu meistern suchte, ging quer über die Auffahrt zur Villa eine Dame mit einem etwa zwölfjährigen Mädchen. Dieses war sehr zart und blaß, ein Stadtkind. Ein leichtes, weißes Röckchen flatterte um gut gewachsene Beine, die zwischen den modisch hervorlugenden Spitzenhöschen und den Strümpfen nackt waren. Der Wind drohte sie noch weiter zu entblößen. Die Dame war die Frau eines neuernannten Werkdirektors, die Kleine ihre Tochter, die nun mit den Eltern in der Fabrik wohnen sollte. Sie waren gekommen einen Antrittsbesuch abzustatten. Adalberts Blicke folgten dem wehenden Röckchen, bis es hinter einer Baumgruppe verschwand. Nach einer Weile sandte die Tante, die Mutterstelle an ihm vertrat, Botschaft, um ihn in das Empfangszimmer zu rufen. Die Dame verneigte sich vor dem Sohn des mächtigen Fabriksherrn und sagte:
„Mach deinen Knix, Loli.“
Loli schien der Knix nicht am Platze. Sie reichte ihre Hand und sagte treuherzig: „Grüß Gott!“
Adalbert blieb eine Weile, aber so wohlerzogen er auch war, er fühlte seine Blicke immer wieder zu den nackten Knieen Lolis entgleiten, die ein blonder Flaum bedeckte, und weiterirren zu dem Höschen, das noch nackter schien, dann auf zu dem weißen Röckchen, das, vom Winde wie ein weißes Blütenblatt zerzaust, nun müde von ihren schmalen Hüften hing. Er wußte, daß er in diesem Augenblicke alles darum gegeben hätte, seine wertvolle geologische Sammlung, seine Eisenkristalle, seine Bücher, wenn der Sturm, der sich nun draußen erhob, durch die Türe der Terrasse brechend, ihm das enthüllen wollte, was ihn zu sehen gelüstete. Er war sehr blaß am nächsten Morgen. Als der Nachmittag kam, ein schwüler Julinachmittag, mit Lindenduft und müdem Gesang der Vögel, schlich er an das Gärtchen des neuen Direktors und sah Loli an einem Beet beschäftigt. Er pfiff leise. Sie horchte auf, sah ihn und sagte lächelnd: „Grüß Gott!“
„Willst du spazieren gehen?“ fragte er.
„Gern,“ sagte sie freudigst, rief ins Haus und kam dann aus dem Tor. Sie nahm ihre Schürze ab, warf sie auf die Hecke hinter den Zaun und reichte ihm kräftig die Hand. Wie frisch sie ihm erschien. Es ging ein Wohlbehagen von ihr aus, wie von neugesteifter, blütenreiner Wäsche, die sorgfältige Hände in einem Spind verwahrt hielten.
„Wollen wir in den Wald gehen?“ fragte er. Sie klatschte in die Hände.
„Fein,“ rief sie. Sie begannen zu plaudern nach Kinderart. „Wie alt bist du? In welche Schule gehst du? Was lernst du am liebsten? Hast du Geschwister?“
„Wo sind die vielen Jungen?“ fragte sie dann.
„Sie haben einen Ausflug gemacht.“
„Und du bist zu Hause?“
„Ich war zu müde, habe wenig geschlafen. Dann wollte ich dich herumführen. Du kennst hier noch nichts.“
„Wie freundlich von dir. Es ist so schön da. Mama hofft auch, daß ich hier stärker werde.“
„Ja, das könnte nicht schaden. Du siehst noch aus wie ein Junge. Vielleicht bist du einer.“
Loli wurde rot. „Was fällt dir ein!“
„Nun so beweise mir’s, daß du keiner bist.“
„Soll ich mit dir balgen?“
„Nein, das tut ihr Mädel ja auch. Anders sollst du mir’s zeigen, daß du kein Junge bist.“ Er sah sie von der Seite an und lächelte wie im Spott.
„Pfui, du bist ungezogen,“ rief Loli entrüstet. „Ich dachte, daß du ein feiner Junge bist. Und vor dir hätte ich knixen sollen.“
„Nun, sei nicht böse und verzünde mich nicht gleich bei deiner Mutter. Dann ist’s aus mit unseren Spaziergängen. Sieh, Loli, diesen kleinen Gefallen könntest du mir schon tun, damit ich sehe, daß du einer Freundschaft auch etwas zu Liebe tust. Und damit ich ganz sicher bin, daß du kein Junge bist.“ Er lachte, als scherze er. Sie waren schon im Walde, der hinter den großen Holzplätzen, die würzig in der Sonne dufteten, hinanstieg. Es war dunkel und still um sie. Loli sah blaß und erschrocken aus. „Ihr Jungen seid böse,“ sagte sie.
„Hat denn schon einer das von dir verlangt?“
„Ja,“ sagte sie. „Aber ich habe es nicht getan. Es waren fünf, alle meine Vettern. Hinter der Scheune bei Onkel Rudolf. Sie baten so, aber ich tat es nicht. Du hättest sie sehen sollen, sie wurden böse.“
„Willst du nun, daß auch ich böse werde? Und ich bin doch nur einer, da ist es dir doch leichter. Dann wollen wir doch auch Freunde werden. Im Winter fahren wir dann Schlitten, wenn ich zu den Ferien komme. Bitte, Loli!“ Seine Augen, die groß, grau und tief umschattet waren, leuchteten flehend in die ihren. „Einen Augenblick nur! Hier, siehst du, hinter diesem dicken Stamm. Hier sieht es niemand.“
Loli sah den hübschen Jungen, vor dem ihre Mutter sich verneigt hatte, sie leicht und dennoch herrisch an der Schulter berühren. Das Sonnengeflimmer rieselte grünlich durch die Zweige. Es war so still um sie her. Man hörte nur des Knaben erregten Atem. Da hieß das Äußerste seines Wunsches ihre Händchen seiner Bitte willfahren. Er kniete vor ihr. Ihre Haut war weißer als der Schnee. Er krampfte seine Fäuste ins Moos. Da raschelte ein Vogel auf. Loli erschrak. Bebend fiel die Hülle. Adalbert war auf dem Waldboden niedergesunken, vergrub sein Gesicht. Dann sprang er auf. Nun liefen sie aus dem Wald, als fürchteten sie Verfolger. Seine Überlegenheit war geschwunden.
Die folgenden Tage umgaben ihn die Kameraden. Adalbert schien ein anderer. Er war heiter und beweglich, beinahe rauflustig. Dann wieder verschwand er aus dem Freundeskreise. Er wollte sich abseits halten, um Loli wieder, ohne daß es die anderen gewahrten, zu einem Waldspaziergang aufzufordern. Es hätte ihm schon genügt, sie zu sehen, die Hand, die seinen Wunsch erfüllt, leicht zu berühren, unmerklich an ihr Röckchen anzustreifen. Aber immer war einer der Jungen hinter ihm her und es war ihm, als dürfe er keinen auf seine Fährte bringen. Er haßte sie alle in diesen Tagen, weil sie wie er vielleicht ein Gleiches erreicht hätten. Wenn ihm etwas lieb war, bekam es die Glorie der Heiligkeit. Es war nicht Neid, der ihn ängstlich seine Sammlung verschließen hieß. Er fühlte sich als Kronhüter.
Da geschah es, daß einer der Knaben vom Scharlachfieber ergriffen wurde. Er reiste, noch ehe die Krankheit sich entschieden geäußert, nach Hause, aber bald darauf erkrankte auch Adalbert. Er war in diesen Tagen in seinen Kräften sehr herabgekommen gewesen, hatte wenig geschlafen und gegessen. Nachdem der Ausschlag geschwunden war, stellten sich Folgekrankheiten ein. Er magerte ab. Das Fieber hatte ihn fast aufgezehrt. Die Schwäche löschte das Feuer der eben erwachten Sinne, die noch in den Phantasien der ersten Krankheitsnächte aufgeflammt waren. Eine seiner Lungen schien gefährdet. Im Spätherbst reiste man mit ihm nach dem Süden, dann in die Schweiz, deren Höhenkuren empfohlen wurden. Zwei Jahre lang lag er auf Terrassen, den Blick auf enzianfarbigen Himmel, von Schneekuppen gesäumt. Er las viel, lernte mit seinem Hauslehrer, einem Hochschulstudenten, der schwächlich war wie er. Lange Zeit war in der Liegehalle ein Russe sein Nachbar. Der war älter als er und eine brennende Seele wohnte in ihm. Sie sprachen leise, daß Arzt und Pflegerin sie nicht hörten, stundenlang. Der Geist war jetzt Herrscher über Adalbert. Nur ganz selten, wenn er die Augen schloß, müde des vielen Lichtes, sah er im Waldglanz an einen Baum gelehnt, ein fernes Bild. Wie im Traum.
Zu dieser Zeit bewegten ihn leidenschaftlich grundsätzliche Fragen. Daß man sein Vaterland vor allen anderen lieben müsse? Nikolai Karinski tat es. Nicht etwa daß er seine Nation über die anderen stellte. Rußlands Seele wolle den anderen dienen, es beugt sich vor der Kultur Europas, seit Peter sie heimgebracht. Nein, Rußland wäre wie kein anderes Land fähig, den Wert der anderen Nationen zu erkennen, und dennoch müsse die Erlösung der Welt von ihm ausgehen. Das Allmenschliche der russischen Seele sei die große Botschaft an Europa.
Adalbert verstand ihn zuerst nicht. Er meinte, daß Rußland und Zarismus das gleiche sei: eine ameisenhafte Anhäufung dürftiger Menschen, über der ewig die Knute des Despotismus drohe. Wie konnte Karinski sein Land lieben, wie von ihm Erlösung hoffen für die Welt. Und wie kam es, daß er das seine mit seinen alten Kulturtraditionen, seinen landschaftlichen Schönheiten nicht über alles lieben gelernt? Liebe fürs Vaterland, das war ihm nicht viel mehr als ein Schulgegenstand. Während der Reisen, die er mit seinem Vater unternommen hatte, war er in fremden Ländern gleichermaßen in Begeisterung entflammt, wenn das Schöne ihm begegnete. Karinski, der Graf, aber liebte sein Land im Volke, in der einfältigen Seele des Russen, die durch alle „Fegefeuer der Zweifel“ zu Gott ging und die Barmherzigkeit Christi auf Erden vertrat. Aber Adalbert hatte immer gehört, daß in Rußland die Korruption zu Hause, Bestechung und Grausamkeiten alltäglich seien. Dies habe ja das Volk groß gemacht, groß im Leiden, meinte Karinski. Dies habe die Seele des einzelnen erhöht und verbrüdert mit dem Niedersten seines Landes. Qualen, unsäglichste Leiden hatten den russischen Menschen widerstandslos gemacht gegen die Anfechtungen seiner dunklen Triebe und die Inbrunst seiner Gefühle. Deshalb sei er tierisch und kindlich, lasterhaft und einfältig zugleich, deshalb sei er grausam und gottesfürchtig, niedrig und großmütig, im Glück frevelnd, im Elend edel, eigensüchtig und freigebig, furchtlos bis zum Aberwitz und zernichtet in Angst und Schrecken. Immer ist er von den entgegengesetzten Polen seines Wesens abgestoßen und angezogen, Engel und Teufel, Kind und Verderber. Niemals könne das Gefühl für ihn erkalten, immer erregt er Bewunderung oder Mitleid, Abscheu oder Anbetungswürdigkeit.
Und Adalbert sah auf sein eigenes Volk zurück, er dachte an die Arbeiter seines Vaters, an arme Leute. Ja, auch sie lebten mit Leiden und seltenen kleinen Freuden, aber er sah nichts, was an ihnen begeistern konnte. Er erinnerte sich, wie er in seiner früheren Kindheit sich eins gefühlt mit den Kindern der Werkleute, daß ihn aber sogleich Befremden überkommen, wenn er einem Erwachsenen aus dem Volke sich gegenübersah. Nicht von ihm, dem Kinde, ging dies aus. Er liebte die arbeitenden Leute mit ihrem fremden Leben, das ihm unheimlich geheimnisvoll schien. Ihr Können, ihre Fertigkeiten waren ihm oft unerreichbar und reizvoll erschienen. Aber sie traten nicht als freie Menschen vor ihn, sie waren Diener, Sklaven oder mißlaunige Neider, die ihr wahres Gefühl schlecht verbargen. Wie mußten erst Rußlands Leibeigene hündisch unterworfen sein, wie unmöglich schien da eine Brüderschaft mit den Armen. Aber das war es ja, was Karinski so sehr an seinem Volke liebte, daß es seine eigene Würde bewahrte. Die Demut, die Neidlosigkeit, sie gaben dem Russen aus dem Volke das Selbstgefühl. Adalbert hatte geträumt dereinst als Fabriksherr der Wohltäter und Freund seiner Arbeiter zu sein. Nikolais Reden überzeugten ihn von neuem, daß ihn dieses Bestreben enttäuschen würde. Sein Widerwille dereinst über Tausende von Menschen zu herrschen wuchs stetig. Im Volk eine tote Masse zu sehen, die der Wille der Machthaber bewegt, war ihm unmöglich. Er sah den Einzelnen und sah die Vielen als Ausdruck einer Wesensart mit Wunsch und Willen, mit ihrem Eigenleben. Wäre er nicht unter den Arbeitern aufgewachsen, er hätte sie vielleicht wie eine ihm fremd geartete Masse angesehen, der er seinen Willen aufzulegen imstande gewesen wäre. Aber viele der Arbeiter waren seine Spielkameraden und deren Väter. Es fehlte ihm nicht an Herrschsucht, aber diese kam ihm einzig aus geistiger Überlegenheit oder Begierde. Eben deshalb kapitulierte sie hier vor seiner Einsicht.
Seines Vaters Tod traf ihn daher zwiefach. Er hatte sich mit dessen Einverständnis eine mehrjährige Lehrzeit in großen Unternehmen Amerikas gesetzt. Nun hieß es auf halbem Wege heimkehren. Er brach seinen Aufenthalt in England ab, wo er zwei Jahre studiert hatte, und begab sich sogleich nach Hellwang zur Übernahme des Werkes. Er war von seinem Leiden völlig ausgeheilt, aber anstrengende Tätigkeit machte bald wieder einen Urlaub notwendig. Als er zurückkehrte, begegnete ihm Lola Ritter, die Werkdirektorstochter. Sie war aus der Stadt gekommen, in der sie zur Sängerin ausgebildet wurde. Die Gesangsübungen hatten ihre Muskeln gekräftigt, so daß sie über ihr Alter entwickelt war. Als Adalbert sie sah, staunte er. „Sie ist erblüht,“ sagte er sich. Er erkannte den klugen Gesichtsausdruck, die Zartheit der Hände und Füße, ein blaues Äderchen zwischen den Augenbrauen, die noch immer unruhig waren wie damals. Seit jener kleinen Episode hatte er wohl Abenteuer mit Frauen gehabt und hatte mit Freunden die gebräuchlichen Stationen des Lasters kennen gelernt. Niemals hatte ihn seither eine Leidenschaft erfaßt und keine andere Neigung hatte das Bild der kleinen Loli verdrängt. Auch Lola Ritter, die Jungfrau, vermochte das nicht. Aber es war denkbar, das Kind in seinem erwachsenen Ebenbild stärker zu spüren.
Adalbert Mannsthal war damals zweiundzwanzig Jahre alt, aber auch er schien älter in seiner Selbständigkeit und er war in jeder Weise beherrscht und sicher in seinem Auftreten. Als er ihr in Hellwang begegnete, wo sie die Weihnachtsferien verbrachte, war er sich völlig klar, daß er sie besitzen würde, daß aber ein dauerndes Verhältnis an Ort und Stelle unmöglich sei. Warten aber bedeutete ihm nur Genuß. Lola, die in sich die Weihe der künftigen Sängerin trug, sah die Welt nur durch das Licht ihrer Kunst. Alles, was sich nicht auf sie beziehen ließ, war ihrer warmen Lebendigkeit fremd. So schien sie es auch mit der Liebe zu halten. Sie hatte, vierzehnjährig, mit einem seiner Vettern eine Freundschaft gehabt, die ihrer Neugier nur wenig mehr zu wünschen übrig gelassen hatte. Seither war sie gewarnt und hatte sich nur an ihre Kunstbegeisterung verschwendet. So hatte sie denn auch wieder ihre ursprüngliche Reinheit zurückgewonnen und war errötet in der Erinnerung jener Begebenheit im Walde, als ihr nun der Fabriksherr erschienen war. Aber bald fand sie ihm gegenüber die alte treuherzige Art wieder, die er an ihr so froh empfunden hatte. Sie erzählte ihm, wie sie damals um sein Fenster geschlichen sei, als er krank gelegen, alle Warnungen mißachtend, daß sie sich kindisch gewünscht, statt seiner zu erkranken. Wie sie gewartet habe, daß er dann zurückkehre, und daß sie sehr bestürzt gewesen, ihn während seines kurzen Aufenthaltes in der Stadt, ehe er nach England gereist sei, nicht gesehen zu haben. Seither gab es immer junge Leute, die ihr gut wären, aber sie sei nun schon zu erwachsen, um diese Dinge auf die leichte Achsel zu nehmen, und außerdem lenke dies alles vom Studium ab. Adalbert fühlte sich leicht und beruhigt, wenn sie bei ihm war. Unbewußt schien etwas an ihm gezehrt zu haben, das nun in des Mädchens Gegenwart schwand. Es war ihm gleichgültig, was sie sprach. Am liebsten hörte er sie von ihrer Kinderzeit erzählen. Zwei Tage nach ihrer Begegnung trafen sie sich heimlich zu einem Spaziergang und er lenkte ihre Schritte zu jener Stelle im Walde, die seinen Träumen so oft Nahrung gegeben. Sie erriet seine Absicht auf halbem Wege. Scham hinderte sie, ihm eine andere Richtung vorzuschlagen. Sie wollte sich lieber den Anschein geben, alles vergessen zu haben. Am nämlichen Platz blieb er stehen und zündete sich eine Zigarette an. Sein Blick brannte in dem ihren. Sie sprachen über gleichgültige Dinge. „Nun muß ich zurück,“ sagte er. Sie traten den Heimweg an.
Wenige Tage nach ihrer Rückkehr zur Stadt sandte er ihr (sie wohnte bei ihrer Großmutter) ein Billet zu einem Konzert. Er erwartete sie dann nach Schluß und bat sie, mit ihm zu nachtmahlen. Sie dankte mit Begeisterung für das seltene Fest; die Einladung zum Nachtmahl nahm sie an, für den Fall, als ihr ein baldiges Zuhausesein möglich wäre, damit ihre Großmutter nicht in Sorge sei. Sie verbrachten einen Abend, der Lola überzeugte, daß der junge Fabriksherr nicht zu fürchten sei. Bald sandte er ihr wieder eine Karte ins Theater unter dem Vorwand, daß die Trauer ihn verhindere, sie selbst zu benützen. Mählich waren es Stücke, zu denen er sie lud, die nicht nur Lolas Kunstbegeisterung erregten. Nach den Vorstellungen speisten sie in einem stillen, vornehmen Lokal. Wenig nach elf war sie zu Hause. Vor den Osterfeiertagen verabredete er mit Lola wieder eine gemeinsame Fahrt nach Hellwang. Er bat sie, ihn in seiner Wohnung zu erwarten, da er nicht gewiß sei, wann er abkommen würde. Keinesfalls sollte sie eine Ankunftsstunde ankündigen, da möglicherweise ein Hindernis eintreten könne. Lola war nach fünf Uhr gekommen. Sie trat in ein kleines palastartiges Haus. Der Diener bat sie, seinen Herrn zu erwarten. Als sie, noch ein wenig betäubt, sich in dem Zimmer umsah, hörte sie draußen die Eingangstür ins Schloß fallen. Sie war allein. Der Raum, in dem sie sich befand, war in einer ihr fremden Art eingerichtet. Hohe Kasten mit groß gemusterten Vorhängen verbargen Bücher und Sammlungen. In einer Kristallkugel, die in einer Sofaecke von der Decke herabhing, spiegelte sich regenbogenfarben der Glanz der verscheidenden Sonne. Jenseits der vornehmen Straße lag die Mauer eines Parkes, eben ergrünende Bäume streckten ihre Zweige hervor. „Frühling,“ dachte sie und es fuhr ihr ein süßer Schauer durch die Glieder. Wo blieb er nur? Es war bald sechs Uhr. Zweieinhalb Stunden hatten sie Fahrzeit. Die Türen der beiden Nebenzimmer waren geöffnet. In dem einen stand ein übermächtig großes Bett, große Kasten, eine Tür mit einem gerafften Vorhang ließ einen Baderaum sehen. Im anderen Zimmer stand ein Flügel, kostbare Bilder hingen an den Wänden. Lola erinnerte sich jetzt, daß Adalbert ihr einmal gesagt habe, er lebe mit seiner Tante in dem Hause, das seine Familie seit vielen Jahren inne hatte. Von einem Umzug hatte er ihr nichts erzählt. Wenn sie ihm etwas mitzuteilen hatte, schrieb sie ihm in sein Bureau. Plötzlich befiel sie jetzt in der fremden Behausung heftige Sehnsucht nach seiner beruhigenden Gegenwart. Es war dunkel geworden, als draußen Adalbert die Tür aufsperrte. Er bat, zu entschuldigen. Nun sei es ja wohl zu spät, hinauszufahren, zumal für sie, denn augenblicklich könnte er auch nicht fort. Ob sie ihm nicht ein wenig vorsingen wolle, er würde sie begleiten, und ob sie sich bei der Großmutter abgemeldet hätte. Er war sehr unruhig. Schließlich setzte er sich neben sie, nahm ihre Hände, küßte sie und meinte, es wären noch ganz der kleinen Loli Hände. Dann wieder sprang er auf und sagte, er wolle den Wagen für den Morgen bestellen, und ob ihre Großmutter nicht gestört sei, wenn sie so zeitig das Haus weckte. Lola hatte kaum Zeit zu antworten, da bat er sie, mit ihm zu nachtmahlen. Es war von einem gedeckten Tischchen, das immer bereit stand, nur ein Deckel zu heben. Sie aßen und Lola erschien alles unwirklich, zauberhaft. Nach dem Essen bat er sie, die Nacht bei ihm zu verbringen, dies wäre doch weitaus bequemer, niemand würde etwas erfahren und auch von ihm brauche sie nichts zu fürchten. Sie durchblätterten Bücher, er zeigte ihr nicht ganz einwandfreie Bilder, sie tranken Likör, setzten sich an den Flügel, aber Unruhe jagte sie von dort wieder auf. Schließlich bat er sie, sich zu legen, da sie früh am Morgen aufbrechen mußten. Er selbst würde sich auf dem Sofa des Bücherzimmers zurecht machen, er wolle ihr nur brüderlich behilflich sein. Sie lachte und lachte immer wieder in Verlegenheit und Ungeduld. Ein starkes Licht brannte in ihren Augen. Er öffnete, kaum ihre Haut berührend, die Knöpfe ihres Kleides. Dann entfernte er sich mit seltsamem Lächeln. Als er sein Lager aufgesucht hatte, hörte er ein leises Schreiten. Er schloß einen Augenblick die Augen. Dann hielt er sie still in den Armen. Sie blieben schlaflos aneinandergeschmiegt, bis drüben im Park die Vögel zu singen begannen. Sie konnte sich kaum erheben, die unerfüllte Begierde lag ihr lähmend in den Gliedern. In seinen Augen flammte ein böses und gleichfalls beseligtes Licht. Sie war ihm verfallen. Er wußte es.
Während der Osterfeiertage sah er sie nicht. In den ersten Tagen des Juli traf er, nach einer kleinen Reise, wieder in Hellwang ein. Als er Lola begegnete, war er herzlich und artig. Er machte spät abends Spaziergänge und ließ sie das wissen. Einmal trat sie plötzlich aus dem Dunkel auf ihn zu. Ein Mann tauchte auf und verscheuchte sie. Eines Tages fragte er sie — er sprach sie niemals allein, ob sie nicht wieder im Walde gewesen wäre, an jener Stelle, wo sie vor Jahren ihm ein Bild gezeigt, die heilige Elisabeth, die sich eines Sünders erbarmt. Sie antwortete leise, sie würde nachts dort sein. Er verbarg sich, ließ sie warten. Und dann, als sie schon müde ins Moos hinsank, kam er zu ihr und nahm sie ohne Zärtlichkeit. Er reiste bald darauf ab. Als er wiederkam, sagte sie ihm, daß sie guter Hoffnung sei. Da ging er zu ihrem Vater und hielt um ihre Hand an. Alles sollte vorläufig geheim bleiben.
„Aber du liebst mich ja nicht,“ sagte sie, als sie allein waren. Seine Werbung schien ihr unwahrscheinlich.
„Nein, ich liebe dich nicht,“ antwortete er. „Ich liebe die kleine Loli.“
Lola war in den folgenden Tagen recht wunderlich. Sie aß wenig und magerte ab. Stundenlang stand sie vor dem Spiegel und versuchte allerlei Verkleidungen. Ihre Mutter überraschte sie, als sie eben im Begriffe war, den Saum ihres Rockes zu kürzen. Sie ging mit hängendem Zopf umher, sang Kinderlieder und kramte in ihren alten Schulheften. Eines Tages mischte sie sich unter die Schulkinder und war eben daran, eines der Klassenzimmer zu betreten, als ihr Vater bestürzt hinzukam. Gewaltsam mußte sie aus dem Schulgebäude entfernt werden. Zu Hause befiel sie ein hysterisches Kichern, dann heftige Weinkrämpfe. Allmählich beruhigte sie sich und lag willenlos in unheimlichem Schweigen. Als Adalbert sie zu sprechen kam, weigerte sie sich des Wiedersehens, sie ließ ihm sagen: Loli sei tot. Man brachte sie in eine Nervenheilanstalt. Dort wurde die traurige Hoffnung auf das Kind zunichte. Die Verlobung ward aufgelöst. Der Direktor avancierte. Adalbert ging auf Reisen, um Karinski zu treffen.
„Nun, wie stehst du mit deinen Fabriksleuten?“ fragte ihn der Graf.
„Meine erste Tat war, die Tochter eines Werkdirektors zu verführen und ihren Verstand zu verwirren,“ erwiderte er.
„Gib es auf, ein Herr zu sein,“ riet Karinski.
Adalbert verfiel in Schwermut, wenn er an Lola Ritter dachte. Er wußte nun, daß er die kleine Loli getötet hatte. Er fühlte sie nicht mehr wie ein menschliches Wesen, wie ein Geist und Dämon stand sie unentrinnbar in seinem Leben. Mit jener Armen, deren Verstand getrübt war, hatte sie nichts mehr gemein. Lola Ritter wurde jedoch bald aus der Anstalt entlassen und es zeigten sich keine Symptome mehr. Sie versuchte wieder zu singen, aber die Stimme, so schön sie auch ansetzte, brach mißfarben ab. Adalbert bat den Direktor, ihr eine Rente aussetzen zu dürfen. Später verheiratete sie sich.
Mannsthal wußte jetzt: das Geld kauft los von Gewissensschuld. Mit Geld kann man zerbrochene Seelen leimen und Jungfräulichkeit vergüten, ein schlechtes Gewissen beruhigen. Aber eben deshalb verachtete er es und fühlte sich gemeiner als der Arme, der seine Schuld austragen muß ein Leben lang, Armut ist ihm Warnung und Verhängnis. Hätte er Lola geheiratet? Vielleicht — weil seine Eitelkeit es gefordert hätte, nicht als Verführer gezeichnet zu sein. Aber er wußte, er konnte diese Heirat nur zum Schein eingehen. Seine Mittel erlaubten ihm, an anderen Orten zu leben als seine Frau, Abenteuern nachzustreben und sich der Ehe zu entledigen. Für ihn war sie nicht der eiserne Ring, der den Armen in das Leben des Gefährten einkettet. Und er fühlte sich nicht verantwortlich für die Einrichtungen des Staates.
Ein Vetter seines Vaters und dessen Sohn, die höhere Stellen im Werk innehatten, räumten ihm mit unverhohlenem Widerwillen eine Machtstellung ein, die er selbst nur ungern auf sich nahm. Sie warteten, daß er sich unfähig erweise. Diesen Verhältnissen für einige Zeit völlig entfliehen zu können, lockte ihn. Er hatte das Werk so sehr geliebt, jede Maschine war ihm Freund gewesen als Knaben. Aber er hatte gehofft, dies alles noch lange genießen zu können wie einen großen Konstruierkasten, spielerisch, da und dort Versuche anstellen zu dürfen, ohne die Lasten der Verantwortung zu tragen. Was kümmerte ihn der Vertrieb, die Erfolge der Reisenden, die Preisunterbietungen der Konkurrenz, die Repräsentation unter den Industriellen. Bestenfalls war er Ingenieur und Erfinder, und er war es weit weniger als in seiner Knabenzeit, denn nun lockte ihn das Leben in seiner Vielfalt. Wäre sein Vater am Leben gewesen, er wäre mählich hineingewachsen in all die Notwendigkeiten und hätte sie schließlich als selbstverständlich empfunden. Nun aber ließ ihn sein Hang zum Wesentlichsein erkennen, daß es sich letzten Endes um Geldverdienen handle, um Zuhäufung des großen Vermögens. Er dachte an Beteiligung der Arbeiter. Seine erste Tat war gewesen, die Gehalte aufzubessern, ging er noch weiter, so wurde er beinahe lächerlich. Und er betrachtete das Unternehmen immer noch als Besitz und Werk des Großvaters und Vaters. Ein Kongreß im Ausland, dem er als Chef der großen Firma beiwohnen mußte, war ihm willkommen. Bei diesem Anlaß lernte er den Neffen eines Teilnehmers kennen, Gilbert von Tirotzky. Mit seinem märchenhaft schönen Gesicht bezauberte der ihn. Seine Augen waren zuweilen die eines in seiner Ehre gekränkten Mädchens. Aber nichts Weibliches war sonst an ihm: er war die Vollendung der Jünglingsschönheit. Adalbert konnte den Blick nicht von ihm wenden. Es ergötzte ihn, die heimliche Empörung zu beobachten, die in Gilbert aufstieg, wenn bei den reichlich tagenden Banketten die Gespräche frei wurden und sich in saftigen Anekdoten bewegten. Zu Adalberts maßlosem Erstaunen war der Jüngling, der im Begriffe stand, wie er ein großes Unternehmen zu leiten, unschuldig wie ein Kind. Da sie die Jüngsten waren, schien es natürlich, daß sie sich einander näherten. Eine gemeinsame Reise zur Besichtigung eines Eisenwerkes wurde unternommen. Als sie Munitionsfabriken besuchten, stieg plötzlich die Vision des Krieges vor ihnen auf. Sie sahen blutende, hinsterbende Menschen, eingeäscherte Gegenden, verwüstete Kunstdenkmäler. In ihren Schauern erinnerten sie sich, daß ihre Unternehmen Munition erzeugten und so den Kriegsgeist förderten. Derselbe Mannsthal, der wissentlich Lola Ritter gequält hatte und sich nun heimlich daran machte, Gilberts Reinheit zu zerstören, derselbe Mensch schwor sich, seine Hand aus einem Unternehmen zu ziehen, das Vernichtungszwecken der Menschheit sein Hauptaugenmerk widmete. Derselbe Adalbert auch, der sich mit seinem jungen Freund stundenlang über die Gedichte des Novalis und Hölderlin, über die Märtyrer des Mantegna und die Jungfrauen des Botticelli begeistern konnte, lenkte, wenn sie nachts im selben Zimmer lagen, zielbewußt das Gespräch auf die Jünglingsliebe, für die er sich entflammt fühlte, seitdem er Gilbert kannte. Er hütete sich, ihm dies zu beweisen, aber als sie sich trennten, war sein Freund in Bahnen gelenkt, die ihn dereinst ins Verderben stürzen sollten. Adalbert befiel eine böse Nervenkrise. Er litt um Gilbert, um die Erfüllung seiner frevelhaften Wünsche, die, wie er bald erfuhr, ein anderer erntete. Wie ein Strahl aus himmlischen Reichen erschien ihm Angele von Tirotzky, Gilberts kleine Schwester, die er anläßlich des Besuches, den er der Familie auf ihrem Gute abstattete, kennen lernte. Seltsam, als sie nach vielen Jahren wieder in sein Leben trat, glaubte er an eine himmlische Sendung, an eine Mission, die sie an ihm zu vollziehen hatte. Vor dieser entscheidenden Begegnung traf er sie einmal mit ihrer Mutter in Homburg, ohne sie sprechen zu können. Von Gilbert aber hatte er schon zur Zeit jenes Besuches keine Nachricht mehr. In diesen bösen Tagen rettete ihn vor dem Zusammenbruch ein Miniaturbild auf poliertem Gold, eine alte Brosche darstellend, die er bei einer Auktion erblickte und die die erste Erwerbung seiner kostbaren Sammlung wurde. Dieses Bild ähnelte Loli und Angele und sollte dereinst noch ein deutlicheres Ebenbild finden. Kenner bezeichneten es als Kopie einer Buchminiatur. Ein leiser Heiligenschein schimmerte um ein kindliches Haupt.
Bald waren ihm Namen und Werke Müelichs und Holbeins des Älteren, Luithard und Berengar, geläufig. Petitot, den Schweizer, die Deutschen Grahl, Hengel, Glocker, Aldenraths, Graff kannte er, Bouvier, Bossi und Harper, Füger und die Österreicher Daffinger, Theer, Saar, Peter. Er kannte alle Manieren, die auf Pergament, Elfenbein, Gold, Silber, Kupfer. Er reiste in süddeutsche Städte die preziöse Kunst des sechzehnten Jahrhunderts kennen zu lernen und kaufte und kaufte. Als er zurückkam, waren seine Nerven scheinbar in Ordnung. Nun arbeitete er im Werk, drei Jahre lang, fast ohne Unterbrechung. Er musizierte dort, hatte irgendeine Geliebte und war mit Sammlern und Kunsthändlern in Verbindung.
Er hatte keine Freunde, nur Genossen, von deren wesentlichem Leben man ebensowenig wußte wie von dem seinen: Männer, die etwa Beziehungen zu Courtisanen von Rang hatten und hinter einem Sport oder Spleen sich verbargen. Adalbert Mannsthal war wohltätig, aber auch dies erfuhr man nur durch Zufälligkeiten. Seine größte Schöpfung aus späteren Jahren (als er das Werk schon in eine Aktiengesellschaft verwandelt hatte) war eine Anstalt für blinde Mädchen. Er besichtigte jeden neuen Zögling, hatte unter ihnen seine Lieblinge, die er auch zu sich nach Hause nahm. Mehreren dieser Mädchen ward durch ihn eine musikalische Ausbildung zuteil. Sein Wesen blieb verborgen. Er genoß den Leumund hoher Moralität. Seine Heirat mit Frau Ruthland befestigte seinen Ruf. Seine Scheidung bekräftigte ihn. Ein Mann wie er konnte begreiflicherweise nicht die Auffassung teilen, die in einer Ehe Entgleisungen duldet. Mehrere Jahre vor seiner Heirat, nachdem er das Werk umgestaltet, reiste er ins Ausland, in ferne Weltteile. Einige Zeit schien er verschollen. Dann arbeitete er an neuen Maschinen und schloß sich einem berühmten Physiker in bewunderndem Dienst an. Zuweilen lebte er in dem Landhaus am See, das ihm seine mütterliche Tante vererbt hatte. Er besaß im Seehaus eine Voliere mit fünfunddreißig Vögeln, die er zum Teil aus fremden Ländern mitgebracht hatte. Als ein Marder mehr als die Hälfte von ihnen zerrissen hatte, aß er zwei Tage lang nichts und schenkte den anderen Tieren die Freiheit. Seine Miniaturensammlung betrieb er mit wachsendem Eifer. Durch sie lernte er Urbacher kennen, der menschliche Kuriositäten studiert hatte, aber dessen überdrüssig nunmehr seine Kenntnisse nur gelegentlich verwertete. Gleichfalls unabhängig, Herr seiner Zeit und seines Vermögens, war dieser in allerlei Leidenschaften verfallen, die in Müßiggang und Überfluß gedeihen, aber sein Wesen war durch seine Güte zwiespältig und durch fixe Vorstellungen skuril geworden. Er konnte keinen entscheidenden Einfluß auf Mannsthal gewinnen, wiewohl er in das Verborgene seines Wesens einzudringen imstande war. Hingegen war Adalbert durch Verstand, Schlauheit, Überredungskunst und durch eine Art Unwiderstehlichkeit befähigt, Menschen zu beeinflussen, wie es ihm gut dünkte. Er selbst fragte nicht danach, wie man sein Leben beurteilte. Äußere Ehrbarkeit hält die Neugier fern. Er trug sie wie ein schützendes Kleid.
V ögelchen schrieb an Student Kruger: „Ich weiß Ihre Adresse nicht. Camill verspricht, den Brief zu besorgen. Sie sind wohl schon zur Stadt zurück. Am Ende vergessen Sie, sich mit Onkel Clemens anzufreunden und ihm meinen Gruß zu bestellen. Dies haben Sie versprochen. Und, Herr Prediger, was ist’s mit Ihnen? Was treiben Sie? Ist ein Buch schon fertig? Haben Sie eine Braut genommen?
Ich will Ihnen von mir erzählen, von uns. Und Sie dürfen Va nicht länger böse sein. Va ist jetzt mein Freund, der so gut zu mir ist, daß ich es gar nicht aufzählen kann. Zuerst waren wir in einer Stadt und blieben dort, um Bilder anzusehen. Mögen Sie heilige Bilder? Gewiß, Herr Prediger. Die Leute sehen meist dumm darauf aus. Ich finde das so rührend. Das Jesukind ist oft reizend. Aber das mag ich nicht, wenn Teufel mit Gabeln sich überpurzeln. Die Farben waren auch oft so geschmacklos früher und vieles sieht jetzt so unbeholfen aus, weil man auf den Photographien die wirklichen Menschen sieht. Aber die neuen Bilder mag ich noch weniger. Ich finde sie oft roh und sie sehen zerstört aus. Landschaften gefielen mir z. B. ein Tal, auf das ein Wanderbursch hinuntersieht, so einer, der im Lindenbaum vorkommt, den wir zusammen gesungen haben. Da ist der Himmel und die Bäume und die Berge wie nach einem Gewitter. Aber alles zu erzählen, das geht nicht an. Niedliche Sachen bekam man zu kaufen aus Ton und hübsche Stoffe, alles sehr bunt. Ich trank schwarzes Bier aus Steinkrügen auf einem Faß, auf das mich Va hinaufgesetzt hatte. Alle Leute sahen mich an und waren freundlich. Abends fuhren wir in einen Garten und fütterten weiße Hirsche. Wie die seltsam sind, wie aus einem Märchen glotzen sie. Auch an Seen waren wir, die groß sind, und alles ist überfüllt, die Ufer und die Kähne. Ich wollte wieder schwimmen. Das Wasser war schmutzig. Va hat bekannte Leute getroffen. Ich mag fremde Leute nicht. Sie reden immer Gleichgültiges und man wartet immer, daß sie schon fertig sind. Wir haben auch Musik gehört, das war das Schönste. Va hat sich eine neue Geige gekauft. Dann fuhren wir. Es tanzte eine halbe Welt vor unseren Coupefenstern vorüber und jetzt sind wir wieder an einem See, wo es warm ist und nie regnet. Die Berge sind in der Ferne, der Himmel sehr blau, die Bäume Pinien und Zypressen und ähnliches, viele blühende Sträucher, Blumen, wie man sie bei uns nur in den Läden und Glashäusern sieht, wachsen in den Gärten und duften, daß man wie im Traum ist. Manchmal flimmert es über den See, den ich eben vor mir sehe, als wären viele Libellenflügel wie ein Schleier vor ihm aufgehängt. Nachts seh ich noch das Flimmern und die vielen Blumengesichter. Es sind auch viel andere Menschen da und sprechen fremde Sprachen. Wir wohnen nicht im großen Hotel, gehen nur zum Speisen hin. Wir haben ein Häuschen, auf dessen Dach man spazierengehen kann, mit einem großen Garten, der an der Seepromenade unten eine Türe hat. Abends ist auf der Hotelterrasse Musik und alles wie im Fest. Va ist vergnügt wie nie zuvor. Wir laufen um die Wette. Ich sage jetzt Albert. Camill wohnt im Hotel, ich habe kein Mädchen. Va wollte es nicht. Ich fürchte mich nachts manchmal, weil es seltsame Tiere gibt, die rufen. Aber die Tür zu Alberts Zimmer ist offen und er sieht zuweilen nach mir und ist gut zu mir, wenn ich böse Träume habe. Dann sprechen wir oft lange. Auch über den lieben Gott. Er sagt, Frauen müßten Gott in dem Menschen lieben, der ihnen am liebsten ist. Albert liest mir auch vor: aus der Bibel von Ruth und Josef und seinen Brüdern, vom armen Hiob und dann vom Heiland. Das muß schön gewesen sein, eine Frau zu sein, die ihm die Füße mit ihrem Haar trocknet. Aber meine Haare sind nicht so lang. Einmal träumte ich, daß ich Jairis Töchterlein sei und er mich aufgeweckt hat. Dann lesen wir auch Märchen, die aber auch für große Leute sind, und Theaterstücke von großen Dichtern. Die kennen Sie wohl alle. Auch spreche ich wieder fremde Sprachen, die ich früher einmal konnte, sagt Va. Bei manchen Worten fällt mir meine Mutter ein. Sie haben mich einmal nach ihr gefragt. Albert hat es mir gesagt; sie konnte nicht bei ihm bleiben. Ich möchte auch nicht, daß eine andere Frau bei Albert ist. Ich erinnere mich nicht, wie meine Mutter aussah. Warum ist sie aber weggegangen und hat mir nie einen Brief geschrieben? Nun schreibe ich schon so lange und weiß gar nicht, ob Sie noch an Ariel denken.
Machen Sie noch Verse, Herr Prediger? Wenn Sie Geld brauchen, so schreiben Sie gleich. Ich habe viel; Albert sagt, ich müsse damit selbst zurechtkommen. Also nur zu, wenn Sie Not daran haben und wenn man zu Hause wieder böse zu Ihnen ist. Es grüßt Sie bestens
Arabella Mannsthal.
P. S. Erinnern Sie sich noch an unser Sterngucken? Nicht weit von hier soll eine Sternwarte sein, von wo aus man durch lange Rohre die Augen am Himmel spazieren schicken kann und dort viele Geheimnisse sieht. Das muß das Schönste sein. Ich möchte zu gern hin. Albert hat mir eine Überraschung versprochen. Er ist manchmal abwesend, um sie vorzubereiten.“
Als Vögelchen den Brief verschloß, träumte ihr Blick den Garten hinab zum See, der sich dort wie eine tiefblaue Wand aufstellte. An seinem Ende erblickte sie einen aufschnellenden Gegenstand, der einem pfeilgeschwind hinsausenden Vogel glich, vor dem das Wasser in weißem Gischt zur Seite rauschte. Es war ein Gleitboot. Wie ein tierisches Wunder schoß es daher. An den Ufern hörte man rufen. Vögelchen eilte hinab. Schon sieht man es näher, es vergrößert sich in rasender Geschwindigkeit, nun erblickt man den schmalen Schiffskörper, hört das Knattern eines Motors. Die seitlich geschleuderten Wassermassen überfluten ihn, ein Mensch in Taucherkleidung wird sichtbar. Nun ist das Sausen ganz laut, das Boot schnellt aufbäumend glatt auf das beruhigte Wasser hin und schwebt ans Ufer heran. Arabella ist unter den Leuten, die sich in Neugier und Bewunderung am Dampferplatz zusammengeschart haben. Der Gleitflieger springt ans Land. Es ist Mannsthal. Vögelchen fällt ihm um den Hals. Sie zittert am ganzen Körper. Er hebt sie auf wie eine Feder und trägt sie durch die gaffende Menge. Nun ist ihr der Zauberer zum Helden geworden.
„Das ist dein Geheimnis?“ fragte Arabella noch atemlos.
„Ein Scherz vorläufig,“ sagte er lächelnd.
Adalbert pflegte mit Arabella auf der Terrasse an einem Tischchen abseits zu speisen. Als sie eines Abends, von neugierigen Blicken empfangen, eintraten, sprang rasch ein hochgewachsener Herr, der allein an einem Tische saß, auf, blieb wie vor einer Erscheinung stehen und stürzte dann auf Mannsthal zu. Es war Nikolai Karinski, von dem er schon mehrere Jahre nichts gehört hatte. Zum Erstaunen der Gäste, die ringsumher saßen, küßten sich die beiden Männer, blickten einander prüfend an, schüttelten sich die Hände und umarmten einander abermals.
„Das ist Arabella, du weißt —“ stellt Mannsthal vor. „Ein alter Freund, Graf Karinski.“ Sie waren abgesondert in ihrer Freude unter den fremden Menschen und Vögelchen war gleich die Dritte im Bunde. Der Russe, von dem sie kaum etwas wußte, war ihr nach wenigen Augenblicken kein Fremder mehr. Er trug sich ein wenig à la Lord Byron und hatte ein Gesicht, dem man immer neue Reize abgewann, obwohl es nicht schön war. Nichts schien in ihm aufeinander gestimmt, selbst die dunklen, sanften und doch flammenden Augen waren ungleich, das linke höher als das rechte, wie man es bei Menschen sieht, die lange ein Monocle getragen haben. Die Nase stach absonderlich hervor, sie war wie ein Haken kühn und adelig. Auch das Kinn unter dem breit geradlinigen Mund war kantig. Sein Haar, von einem weichen, metallenen Braun, war in kindhaften Scheiteln zurückgelegt und wenig dicht. Die starken Backenknochen, der Ausdruck der Augen, die Gestalt verrieten den Russen. Was diesem Antlitz das farbig Wechselnde des Kaleidoskops gab, war sein Lächeln und Schauen. Das konnte bald dem eines fröhlichen Kindes, bald dem eines weisen Greises gleichen und es konnte Verklärung und Andacht und tiefste Zerknirschung spiegeln. Übermut und Trauer flogen schattenhaft wie Licht und Dunkel darüber hin und zuweilen wurde es fratzenhaft (ganz selten in Vögelchens Gegenwart) und oft brach die Flamme des Geistes aus ihm und brannte heiß über seinen Zügen. Und dies alles schien oft zurückzustürzen, auszulöschen. Dann war das Antlitz einer verkohlten Landschaft gleich, über die fahler Nebel schwelt. Er hatte große Hände und starke Arme. Vögelchen dachte, daß er sie bis ans Ende der Welt würde tragen können ohne zu erlahmen.
„Also dies ist dein Kind, dein Täubchen, dein Weibchen,“ sagte er und sah sie an wie ein treues, derbes Tier. „Ich darf du zu ihr sagen, darf ich das, Porzellankindchen?“
„Ihr werdet bald gute Freunde sein,“ ermunterte Mannsthal.
„Habe ja auch ein Kleinod zu Hause. Du weißt, wie ich auf die Frauen zu sprechen war — aber die Gräfin! Ja, die meine, hat mich beten gelehrt.“
Und er begann von Tanjä zu erzählen. Eine barmherzige Schwester sei sie und ihre Seele wäre eine Wünschelrute, die jede Quelle des Leides aufspüre in der Menschen Drangsal. Ihre Stimme glätte Aufruhr und Zwiespalt, ihrer Worte Balsam sei Sanftmut ohne Ende! Und Nikolai Karinskis Augen waren die eines Beters und gleich darauf fiel sein Kopf zur Brust herab und er glich einem Büßer, der eine Züchtigung gewärtigt. Er erinnerte sich wie immer, wenn er von ihr erzählte, daß er sie einmal geschlagen, von Neugier getrieben, ob sie böse werden konnte. Er hatte einen Streit vom Zaune gebrochen, indem er eine Rücksicht, die sie üben wollte, barsch abwies, und als sie, seine Worte nicht ernst nehmend, sich anschickte, ihr sorgliches Vorhaben auszuführen, hatte er ihr mit Schlägen erwidert, die aus den Riemen einer Hundspeitsche auf sie niedergingen. Sie hatte sich, noch immer an Scherz glaubend, zu ihrem Bett geflüchtet und sich darin vergraben. Als es vorüber war, lag sie still und starrte zu ihm auf, als wäre ein Wunder geschehen. Aber kalt und starr war sie anzufühlen, als er sich in grenzenloser Selbstverdammung vor ihr auf die Kniee hinstürzte. Kein Schauer durchbebte sie. Wie eine Tote lag sie ihm im Arm. Tags darauf war sie still und gütig wie zuvor. Er bekam Krankenkost, das bedeutete eine Anzahl leichter Leckerbissen, und die Kinder mußten leise sein. Karinski erzählte das Arabella, als sie schon gute Freunde waren. Es tat ihm wohl einem Kinde zu beichten.
„Du wirst bis in den Tod daran denken müssen,“ sagte Vögelchen böse. „Ich wäre daran gestorben.“
„Ja, vielleicht ist auch sie daran gestorben und ich weiß es nicht. Ich fühle alle Schuld in dieser Erinnerung,“ sagte Karinski, „alle Qual, die seit Weltbeginn Menschenherzen gemartert hat. Und Tanjä ist eine Heilige geworden und viele Frauen sind Heilige. Sieh das Gesicht der Schwangeren und vergleiche es mit dem der Gottesfrauen und Gottesmänner in den Kirchen, und Gott liebt sie, weil sie Schuld abtragen in ihrer Mutterschaft. Und auch die Armen liebt er und tröstet sie in seinen Kirchen. Wir Reichen aber und im Geist Mächtigen, wir können nur unsere Inbrunst aufheben zu ihm mit verzückten Händen, bis sie erlahmen und wieder nur taugen zum Verzagen, zum Laster und zur Knute.“ Und er fuhr fort, von Tanjä in Ehrfurcht zu sprechen, und hatte dennoch keine Eile, obwohl sie sich in Sehnsucht nach ihm verzehrte und mit vielen kleinen Kindern sich sorgte, zu ihr zurückzukehren.
Eines Tages erschien dann eine russische Familie und Karinski umarmte sie, wie er Mannsthal umarmt hatte. Wenige Tage später reiste er mit den Landsleuten ab, nachdem er unter Tränen von Adalbert und Arabella Abschied genommen. Vögelchen trauerte ihm nach. Bald bekam sie ein Schreiben von Tatjana Gräfin Karinska, die sie ihrer Freundschaft versicherte und zu einem Briefwechsel lud.
Auch Mannsthal war jetzt schweigsamer als zuvor. Karinski hatte ihm die Ereignisse seines Lebens erzählt, die in die Zeit fielen, wo ihr Briefaustausch aufgehört hatte. Aber Adalbert hatte geschwiegen. In ihm war alles aufgewacht, was er seither erfahren, und hatte sich vorgedrängt bis zur Schwelle des Vertrauens. Nikolai hatte ihm dunkle Dinge gebeichtet und Reue und Scham, die er dabei empfand, waren ihm erwünschte Strafe. Was er selbst zu sagen hatte, war in seinen Einzelheiten so unfaßbar, daß er vermeinte, die Luft nicht weiter atmen zu können, in die der Hauch seines Geständnisses sich mengte. Er konnte nur eines bekennen, daß Arabella ihn gerettet und daß er sich aufgespart für sie. In diesen Tagen war nichts mehr von Strenge in ihm, sein Wille wollte sie nicht zwingen mit geheimen Mitteln. Eine grenzenlose Dankbarkeit floß zu ihr hin, fand seine Sinne in Gehorsam und entwaffnete seine List. Zu dieser Zeit lag glosende Hitze über dem südlichen See. Mählich verödeten die Straßen. Das Hotel, die Villen waren fast unbewohnt. Kaum daß die Häuser der Einwohner tagsüber die schirmenden Läden hoben. Die Bäume und Sträucher waren so üppig im Laub, daß sie ineinander sich verstrickten und Blüte an Blüte sich drängte. Die Insekten wurden gefährlich, die Nächte seltsam duftend und voll der Wunder. Aber weder die Nächte noch der See brachten Abkühlung. Vögelchen vertrug die Hitze besser als er, ja sie breitete sich aus wie eine treibende Pflanze. Leise Anzeichen sprachen dafür, daß ihr Körper reife. Auf ihren Wangen lag ein Schein erblaßter Rosen, die das Leuchten ihrer Augen steigerte, ihre Lippen öffnete ein scheuer Durst. Er sah es in unendlicher Entzückung. Seine Versuche mit dem „Mannsthal-Gleitboot“ hatte er aufgegeben. Er begnügte sich, den Stand seiner technischen Leistung in verschlossenem Brief in der Akademie der Erfindungen zu hinterlegen.
Eines Abends brachte Mannsthal ein etwa vierzehnjähriges Mädchen in den Garten. Es war blind. Vögelchen war erschüttert, als es die Kleine erblickte. Sie hörte nicht auf sie zu streicheln und schließlich küßte sie die leblosen Augen. Sie brachte ihm eisgekühlte Früchte, wusch ihm die heißen Wangen, erzählte ihm allerlei, sang ihm vor, so gut sie es konnte. Adalbert aber war weitaus gewandter im Umgang mit Blinden und seine Zärtlichkeit für die Unglückliche hatte für Vögelchen etwas Erstaunliches. Er schien ein anderer, wenn er Rosina berührte, als wisse er, wie Blinde empfänden. Vögelchen holte sie zuweilen aus dem Uhrmacherladen, wo sie zu Hause war, und schlich sich mit ihr in einen entfernten Teil des Gartens und verbarg sie vor Mannsthal. Oder sie entfernte sich, wenn dieser sich mit Rosina befaßte. War es möglich, daß sie dem Kinde Adalberts Güte neidete, oder wollte sie in ihren Bemühungen nicht übertroffen werden? Mannsthal entging das nicht. Er verdoppelte seinen Eifer um Rosina und seine Zärtlichkeit war nicht mehr verstohlen wie bisher. Vögelchen selbst suchte sie und erwiderte sie.
Die Landschaft lechzte nach Regen. Die Einwohner aber wußten, daß keiner zu erwarten war. Mannsthal fühlte feurige Dämonen um sich kreisen. Manchmal war ihm, als erhöbe sich lautlos ein glühender Gewittersturm und jage ihn. Ein anderer Mensch in ihm riet zur Flucht, zu Tod, zu Verwandlung. Er trug es nicht länger. Kam ihm nicht Erlösung, so brach er zusammen und die Frucht seiner Sehnsucht schnellte für ewig aus den erlahmenden Händen. Aber er wußte auch, plötzlich konnte „es“ geschehen, ohne Warnung und Zeichen, ohne Donner und Posaunenschall.
Auch Vögelchen war voll Unruhe jetzt. In der Dunkelheit trieb es sie in den Garten oder sie schlich Adalbert nach, wenn er noch spät sich entfernte, und wartete am Gartengitter auf seine Rückkehr. Einmal nachts, als er wie betäubt auf seinem Bette lag, weckte ihn das Leuchten eines Scheinwerfers. Weiße Lichtgarben sprengte er über das Land. Er tauchte den Garten von Dunkelheit rein, weckte die Statuen in den Hainen und die schlummernden Farben der blühenden Büsche. Vögel fuhren erschreckt aus ihrem Schlaf und huschten dann ängstlich wieder in ihre Nester nieder. Als der Schein wiederkam, war es Adalbert, als sähe er nächst den Rhododendrenbüschen eine lichte Gestalt, die traumhaft ihre Arme in das fliehende Licht hob. Der Strahl schien sie aufzunehmen und aufzulösen in seiner Helle. Mannsthal stieg zum Garten herab. Unhörbar war sein leichter Schritt im Moos. Er war sehr schlank geworden in diesen Tagen der zehrenden Sehnsucht. Die Luft schien um ihn zu knistern, als wären Millionen dunkeläugiger Fünkchen in ihr verborgen. Ihm war, als griffe der Duft der Blumen nach ihm und umstricke ihn. Er suchte die Hängematte, ein Frauengewand lag da. Seine Hände fieberten, als er es an seine Lippen hielt und seinen Kopf darein verwühlte. Dort im Rhododendrenhain stand die Statue nicht mehr. Der Mantel der Nacht hing ihr um die Schultern, aber leuchtender als Marmor schimmerte es im Moos: Schlafend lag ihm Arabella zu Füßen. Ihr Atem zog leise in die Nacht, der seine war verhalten in Grauen und Lust. Lange mußte sie gekämpft haben um diesen tiefen Schlaf. Er kniete neben ihr hin in Glut und Anbetung und segnete die Luft, die zwischen ihm und ihr war und ihm Raum gab, seine schauernde Seligkeit auszugießen über ihre ahnunglose Nacktheit. Warum, oh warum hatte die Nacht sich dem Licht geöffnet, warum, warum hatte der Strahl, aus den sein Schlummer ihn gerufen, ihn zu dieser Stätte geführt! Lenkte nicht einer unbezwinglichen Macht gefügiger Geist das Ziel seinem brennenden Wunsch entgegen? Nein, sein Schicksal weigerte sich nicht. Es entzündete ihm die Brautfackel und ließ sie leuchten über die Lande. Aber noch wollte er die Qual erdulden, sie neben sich zu fühlen, ohne sie zu berühren. Nicht im Schlafe wollte er sie aus der Kindheit wecken. Nicht doppelt unbewußt durfte sie erwachen in ihre Vermählung. Noch wollte er sich die Drohung ins Herz stoßen, von ihr zu lassen, wenn sie nicht erwachte, ehe vom Glockenturm der dumpfe Schlag der nächsten Stunde anschlug. Er fühlte ringsum den unsichtbaren Garten, der Dolden regungsloses Blühen und wie sich das Netz von Düften immer enger um ihn spannte, wie der Wohlgeruch von tausend Rosen sich mit dem der Glycinen verband und weiter wob zum leisen Hauch der Iris, zum goldenen Atem der Azaleen, zum linden Duft der Karthäusernelken. Erinnerung ferner Gärten stieg vor ihm auf, Wälder hoben ihre Dunkelheiten, Indiens Haine erstanden ihm, die ansteigenden Wege zu den heiligen Bergen des Ostens, gesäumt von Kirschblüte und Chrysanthemum. Affen saßen auf Zweigen, bunte Vögel flitzten durch beerenbeladene Äste. Fern blaute das Meer. Landschaft war ihm nur Rahmen der Erinnerung. Ein Zug von Frauen begann zu schreiten. Er sah sie alle wieder, die fremdartigen, die aus einer Stunde traten und sie bunt färbten, Loli, jenes Bild seiner Kindheit, der Wald hinter dem Werk, Tirotzky, Angele, dann das lachende Kirschengesicht einer Tänzerin, die Blinden, die bleiche Frau, die er zu sich nahm, auf daß sie bei ihm verstürbe, und die Entstellte dann, die er so namenlos beglückt, das Bettelkind in jenem irischen Dorf, in dem er unversehens genächtigt, die Fürstin C., dann die erträumten Wirklichkeiten seiner Miniaturen, Camilla, die an einem Kinde starb, das nicht das seine gewesen, Mila, das Weinstubenmädchen, mit der wahnsinnigen Mutter, das aufstieg zur Halbweltdame, Landmädchen, Courtisanen, dann — ein verhüllter Zug, der ihn erschauern machte. Geisterhaft stumm zogen sie. Aus aller Welt waren sie gekommen, aus Gräbern und Himmeln, aus Leben, das er nicht mehr kannte, über fremde Schwellen schreitend, aus fremder Umarmung sich lösend, aus Häusern des Lasters, aus Klöstern und vom trauten Tische sich stehlend, über dem Kinder und Gatte sich zum Mahle neigten. Ledig der Last der Jahre waren sie gekommen ihn zu grüßen, ehe sie versanken vor einem großen Licht. Denn sie waren alle Priesterinnen in seinem Liebestempel gewesen, nur daß keine ihm gefolgt war über die letzten Stufen des Hochaltars. Nun waren sie vorbei. Da fühlte er den Einstrom eines Lichtes. Wolken aus milchweißen Schleiern verbreiteten blendende Helle, Sterne schwebten wie Silberbienen zu knospenden Lilien, deren Kelch goldener Tau benetzte. Auf den Wellen des Lichtes schwebten weiße Wasserrosen. Da sah jene Sterbende aus spiegelnden Tiefen und goß ihm ihren mahnenden Blick ins Herz. Der Blick ging durch die Hallen des Lichtes, wie durch gläserne Wände, metallisch, rieselnd wie heiliges Wasser bespülte er Adalberts Seele. Er baute einen Baldachin weißer Blüten über das schlummernde Kleinod im Moos. Wie ein Taubenpaar schwebten der Bleichen Hände schützend über ihm. Ein Chor kleiner Engel schwebte heran. „Laß ab,“ beteten die Seelen der blinden Mädchen. „Wirf nicht Brand in den Schnee,“ flehten die Kelche der Lilien. „Rühr mich nicht an,“ sangen die Sterne, die wie Silberbienen schwebten. „Fliehe,“ säuselten die milchweißen Schleier. Und die Wasserrosen öffneten die siebenfach verschlossenen Lippen und seufzten:
„Laß ab!“
Und das Licht war ein Mund und posaunte:
„Laß ab!“
Aber lauter als sein Schall war der linde Atem der Schlafenden, denn er war lebendig. Schmal und flüchtig wie einen Traum wußte er sie hingebettet und dennoch wirklich, wie nur Leben sein kann. Und wenn er ging und abließ, dachte er, würde der glitzernde Leib einer Schlange sich aus dem Dunkel ringeln und Giftzähne in ihr Fleisch graben? Sie war einer Glut hingegeben, die sie ahnte und ersehnte. Konnten nicht Helden oder Unglückliche, die ihr mitleidiges Herz gewannen, sie ihm entreißen, morgen schon, und sie verheeren für immer. Denn er nur würde sie befähigen, höchste Lust zu geben und zu nehmen, eine Göttin, nicht eine Magd der Liebe zu sein. Er nur, der sie kannte wie kein anderer, würde sie, wie die Mutter sprechen lehrt, die Welt der Liebe lehren. Er würde Schätze heben aus ihrem aufpochenden Blut, Kleinode entsiegeln in ihren geheimsten Schreinen und unlösbar würde er ihre Seele mit ihrem Blut vermählen und so sie feien vor der Erniedrigung der wissenden Liebesglut. An ihr sollte das Laster sich heiligen und Keuschheit menschlich werden. Er nur, er konnte sie wecken zu verklärtem Brand, zu heiligem Genuß. Und doch, dies hatte der Dämon seiner Selbstqual über ihn verhängt, wenn die Turmuhr schlug, eh’ sie ihm erwachte, war sie ihm und sich selbst verloren in ewigem Durst. Er wußte, jenes blinde Kind wachte im Turm und hütete die Glockensträhne. Oft war er bei ihr gewesen. Konnte nicht jetzt ihr rächender Wille, müde seiner zu harren, die Strähne ziehen, ehe die Geliebte erwachte?
Da plötzlich griff es, ehe die Versuchung ihn überkam sie zu wecken, mit weißen Fingern in die Luft. Des Scheinwerfers Geisterhand schwebte auf und nieder, kaum die Baumwipfel berührend, und jetzt fiel sie pfeilschnell herab und ließ den Garten aufstrahlen in Licht. Vögelchens Schlaf zerriß, mit leisem Aufschrei haschte sie die Helle und im letzten aufstrebenden Strahl erblickte sie den Mann. Als würde Traum zur Wirklichkeit, schlang sie ihren Arm um seinen Hals, preßte die schlafheißen Wangen an seine Brust. Langsam ließ er sie zurückgleiten ins Moos, Hände kosten sie und grüßten die Kleinode ihres Leibes. Ihre Haare waren wie besonnte Seide, darunter die Pulse in den Schläfen pochten, wie kleine gläserne Hämmerchen. Auf die Wangen senkten sich die Lider herab wie bebende Schmetterlingsflügel. Ihre Lippen öffneten sich und er erschauerte, bald würde er ihre Süße kosten. Nun fühlte er die gläsernen Hämmerchen durch die feine Haut des Halses an seinem Mund und vor der Zartheit ihrer Schultern erbebte er, denn sie waren die eines Kindes. Ihre Brüstlein waren jungen Tauben gleich, die rosige Schnäbelchen aus dem Gefieder spreizten, wenn der Flügelschlag der Liebe ihrem Durste naht. Er meinte zu vergehen. Einen Augenblick vergrub er, Ruhe suchend, seinen Kopf an ihrem Halse, aber da fühlte er ihren Duft und war völlig berauscht. Er sah sich selbst und spürte, was er sah. Der andere Mensch, den er nicht mehr hielt und kannte, war an der Arbeit. Noch einmal verdrängte er ihn. Er faßte das Wesen und hob es von sich weg, um warnend es vor sich zu sehen. Federleicht spürte er seine Wehrlosigkeit. Aber dem andern war das nur recht, er riß dem Zauderer die Beute aus dem Arm und flüsterte betörende Worte. Oh, diese Worte! Arabella vergaß sie niemals. Ihre Erinnerung übergoß sie mit Gluthauch bis spät in die Jahre. Und wie gefällig machten sie diese Worte, wie beflissen ihn zu verstehen, wie willig alles zu erdulden, den Schmerz und die Lust. Aber dann, als nur mehr der andere herrschte und der Zaudernde verschwunden war hinter glühenden und tobenden Wolken, als Feuer auf sie niederbrach und sie unbarmherzig sengte mit Eisen und Schwert, über ihre Kraft es zu bergen, da befiel sie eine wahnwitzige, grenzenlose Furcht, die sie mit wunderbaren Schauern durchdrang. Aber nur bei ihm gab es Schutz, Zuflucht nur an seiner Brust, zu der sie hindrängte. War er ihr böse, daß er sie von sich stieß, um gleich wieder sich eisern in sie einzuschmieden? Da, als er wie ein von göttlichem Zorn Besessener über ihr raste, fühlte sie plötzlich namenlose Erlösung und während ihr ganzes Sein ausströmte in demütiger Verzückung zu randloser Ewigkeit, sah sie im ersten fahlen Licht des Morgens ihn zur Seite stürzen, als hätte Gott ihn an Felsen zerschellt. Die Vögel erwachten in ihren Nestern. Ein leiser Wind strich kühlend vorbei. Vögelchen richtete sich steil auf und sah über den Regungslosen mit großen, erstaunten Augen in das erwachende Leben.
S imonne Nerat hieß ihre Mutter. Leichtfertig war sie wohl anfangs nicht gewesen, aber die Leute vermuteten es. Sie kam aus südlicherer Gegend. In ihrer Beweglichkeit erblickten sie nicht natürliche Anmut, sondern abgefeimte Gefallsucht. Thomas Janele, der sie nach seiner Gesellenzeit heimbrachte, war ihr natürlich auf den Leim gegangen, meinten sie. Solange der alte Uhrmacher, sein Vater, lebte, der gutmütige, weißlockige Greis mit dem Kinderantlitz, da ging noch alles gut. Simonne war auch eine Meisterstochter, und was zur Gilde gehörte, gleichviel ob es unter seinem Dache als Schwieger hauste, genoß seines Schutzes. Geld hatte sie keines mitgebracht, denn Vater Nerat war zwar berühmt in seinem Fach, aber wie man sein Schäflein ins Trockene bringt, darin war er keineswegs Meister. Mochte sein, daß Simonne auch deshalb bei kleinen Leuten nicht voll genommen wurde. Und Ulrich war ein Käsegesicht und ein Duckmäuser. Warum hatte sie gerade ihn genommen? Das Kind war bald da: ein blindes Mädchen. Da schien des Teufels Hand im Spiel. Im ganzen Dorf gab es keine Blinde. Man verachtete die Fremde, daß sie es um eine Mißgeburt bereichert hatte. Der alte Janele weinte wie ein Kind, als der Arzt das Unglück feststellte. Längst waren seine Augen zu schwach, um über seine Räderchen und Federn zu herrschen; des kleinen Mädchens Führer zu sein, dazu taugten sie noch. Nun war sein Alter nicht nutzlos mehr.
Fragt nicht, wie es der Rosina erging, als der Großvater gestorben war! Niemand wußte mit dem blinden Kind umzugehen, man hatte sich völlig auf des Alten Sorgfalt verlassen. Der allein hatte um der Kleinen Eigentümlichkeiten gewußt und sie aus den eigenen Hinfälligkeiten verstanden. Er hatte sie ihr eifrig abgelauscht, sie selbst wußte ja nichts über sich und nun konnte sie nicht nach außen tasten mit Bitte und Frage, denn die Brücke, die sie getragen hatte, war eingestürzt.
Der Respekt vor dem Vater hatte den jungen Uhrmacher bislang gehindert, sein wahres Gefühl zu zeigen. Er liebte Rosina nicht mehr, er schämte sich ihrer und immer gab es ihretwegen Streit zwischen ihm und Simonne. Als des Schwiegervaters schlichtende Stimme erloschen war, züngelten wieder die bösen Zungen hervor. Dazu kam noch, daß Thomas noch zu Lebzeiten des alten Janele die Bestellung der neuen Turmuhr aufgetragen wurde und daß er die Erwartungen der Gemeinde aufs gröbste enttäuschte. Thomas hatte sich erbötig gemacht, eine Erfindung des Meisters Nerat zu verwerten und eine Uhr anzufertigen, die automatisch den Klöppel der Glocke zu leisen Schlägen bewege, so daß man nachts den Glöckner ersparen konnte. Das Werk mißlang. Es wurde eine gewöhnliche Turmuhr daraus. Weil aber Janele sich weigerte, der Gemeinde den im voraus bezahlten Mehrbetrag, den er schon für die teuren Bestandteile verbraucht hatte, zurückzuerstatten, mußte er sich verpflichten, den Glöckner selbst zu bestellen. Da zu dieser Zeit die Geschäfte schlecht standen, verlangte er von Simonne, daß sie die Glocken läute. Die Frau weigerte sich. Nun schloß er sich den Spöttern an, die Simonne der väterlichen Erfindung wegen, die ihrem Manne mißlungen war, verhöhnten. Die Frau schrieb dem Vater, er möge ihr helfen, aber dieser hatte sich verheiratet und die Stiefmutter säte Zwietracht. Zu dieser Zeit kam eine Putzmacherin ins Dorf und die Uhrmacherin, die mit der Nadel gewandt war, verdingte sich bei ihr. Den Haushalt konnte sie wohl nebstbei versehen, aber für die kleine Rosina blieb ihr wenig Zeit. Einige Wochen gestattete die Modistin, daß die kleine Blinde hinter dem Ladentisch säße und Perlen auffasse und Spulen aufwickle. Dann aber meinte sie, das Unglück schrecke die Kunden ab. So blieb denn Rosina zu Hause bei dem mürrischen Vater. Dieser war ganz böse geworden, seitdem er Simonne in guter Laune und nicht mehr von seinem Geiz abhängig sah. Er konnte sie nicht an ihren Reisen behindern, die sie mit Einkäufen für den Laden verband, und mußte es mit ansehen, daß der Sohn der Modistin, ein Student, ihr huldigte. Sie wollte Rosina in eine Anstalt geben, sie etwas lernen zu lassen. Der Mann duldete es nicht. Sie sollte ihr Sündengeld für sich behalten. Einmal nachts, als sie spät nach Hause kam, schlug er sie. Am nächsten Morgen war sie verschwunden. Für Rosina hatte sie ihre Ersparnisse zurückgelassen. Das blinde Mädchen in seiner Nacht wußte, daß draußen im Licht etwas Böses geschehen war. Sie fühlte nun die Gefahren um sich drohender werden. In ihrer Angst wurde sie noch folgsamer und erlernte es, dem Vater gefällig zu sein. Eines Tages führte er sie auf den Turm und zeigte ihr, wie man die Glocken läutet. Immer wenn die Uhr ein leises Knarren und Stöhnen von sich gab, mußte sie an den Strängen ziehen, je nach der Stunde. Nach einem Monat hatte sie alles begriffen. Zuerst ließ er sie nur tagsüber im Turm, von ihrem zwölften Jahr an zog sie auch nachts die Stränge. Zweimal in der Woche war sie frei, um zur Stadt in die Blindenschule zu fahren, wohin ein Frächter sie unentgeltlich auf seinem Schiffe mitnahm. Es war eine ermüdende Fahrt, sie sah ja nicht wie andere Kinder, deren Jauchzen aus fremder Welt zu ihr drang, das silbernde Wasser, den Schatten der Berge im leuchtenden Spiegel des tiefblauen Himmels. Müdigkeit bewirkte, daß Rosina dort nicht so recht aufmerken konnte. Auch hatten ja die anderen Blinden täglichen Unterricht. So kam es, daß sie selbst unter den Gefährten des Unglückes eine untergeordnete Rolle einnahm. Als sie vierzehn Jahre alt war, sprach sie auf der Straße ein Herr an. Seine Stimme war anders als die der Mitleidigen, die zu ihr geredet hatten. Er fragte sie, wo sie wohne, ging mit ihr, ließ sich ihre Arbeiten zeigen. Der Herr verstand die Blindenschrift und schien noch weit mehr zu wissen als der Lehrer in der Stadtschule. Adalbert Mannsthal, der Herr, sprach mit ihrem Vater und von nun an wurde Rosina statt in die Blindenschule zu ihm gebracht, in einen Garten und in ein Haus, in dem es nicht wie in dem ihren nach schlechtem Öl roch, sondern nach Blumen und seltenen Essenzen. Er selbst, der Herr, unterwies sie oder auch ein Mädchen, das ganz leise und gütig war und sie mit Kleidern und Zuckerwerk beschenkte. Lange Zeit hielt es Thomas Janele vor dem Wohltäter geheim, daß Rosina die Glocken läute, und auch diese selbst schwieg darüber. Sie wollte nicht prahlen mit ihrem Amt, auf das sie stolz war. Aber eines Tages, als ihr mehrmals die Augen zufielen, fragte Herr Mannsthal, ob sie nicht geschlafen habe. Da gestand sie, daß sie nun schon drei Nächte „oben“ gewesen sei.
„Oben?“
„Im Turm. Vater muß die Glocken läuten. Ich besorge es seit vier Jahren.“ Ihre Wangen färbten sich rot bis zum schwarzen gewellten Haar. Die erloschenen Augen schienen sich zu vergrößern. Ja, sie, eine Blinde, läutete die Glocken.
„Tust du es gern?“ fragte er, seiner Tochter Mitleid niederhaltend.
„Ja,“ sagte Rosina, und sie erzählte, wie sie sich anfangs vor den Fledermäusen gefürchtet habe und vor großen Vögeln, die oben im Gestühl hausten und deren Flügel sie zuweilen streiften, und wie ihr dann auch vor der großen Stille bangte und vor dem Raunen tief unten. Auch sei sie immer ängstlich, bevor das Knarren und Stöhnen im Uhrwerk hörbar werde, das ihr die abgelaufene Stunde anzeige. All die Jahre war es nur einmal ausgeblieben, nach einem Blitzschlag. Da habe sie der Vater vom Turm geholt und den Schaden ausgebessert.
„Ob sie sich nicht vor dem Einschlafen fürchte,“ fragte Vögelchen. Davor bewahre sie der Hunger nachts. Vater sagte ihr, daß Hunger den Schlaf fernhalte. Am liebsten lausche sie dem Nachklingen der Glocken, da höre man die Engelstimmen leise entschweben. Sie liebte Musik wie alle Blinden. Mannsthal nahm seine Geige und spielte. Beide Mädchen saßen, Hand in Hand, ergriffen. Aber der Blinden war er ein Gott, der Einlaß wußte durch ihre Nacht.
Der Wohltäter ging mit ihr zu einem Arzt, aber es ergab sich, daß geringe Hoffnung für ihr Augenlicht war, überdies fand er bei der Kleinen einen Herzfehler. Der Wohltäter stieg nun zuweilen in den heißen Nächten in den Turm und brachte seinem Schützling kühlende Erfrischungen. Er blieb bei ihr und nun fürchtete sie nicht einzuschlafen. Er wußte sie zu ergötzen. Wohl hätte er sie loskaufen können von ihrem schweren Amt, aber er wußte, sie war stolz es zu versehen und für Blinde ist es ein Glück, solchen Stolz zu haben. Auch liebte er seine nächtlichen Aufstiege zu dem Kinde. Rosina war glücklich.
Es kamen Nächte, wo sie sich unruhig fühlte und nach dem Manne sehnte, der so gut zu ihr war. Da begann ihr Herz heftig zu pochen und sie wartete in fiebernder Ungeduld. Es war auch die Zeit, wo die kleine Rosina vom Kinde zur Jungfrau wurde. Das Blut wallte in ihr. Das bresthafte Herzchen bestand den neuen Ansturm nicht.
In jener Nacht, da Mannsthal seinem Wunsch eine letzte Gefahr gesetzt im Schlag der Turmuhr, als er mit allen Fiebern es beschwor, da wurden plötzlich der Blinden Hände starr und zurückstürzend fand sie die Strähne nicht mehr. Ein Herzschlag hatte sie getötet.
A n einer Bucht des Sees, die zu einem Felshügel ansteigt, lag der Friedhof und die Totenkammer. Mannsthal ging, begleitet vom Küster, an den unscheinbaren Gräbern vorbei.
„Hier liegt sie, Herr,“ sagte der alte Mann und trat zur Seite, die Kappe in der Hand.
Auch Mannsthal griff nach seinem Hute. Das arme Kind, nun bezeugt man ihr ein erstes und letztes Mal Ehrfurcht. Ein Lichtband fiel durch die Türöffnung über die Mitte der traurigen Kapelle. Die Aufbahrung war schlicht und deshalb um so ergreifender. In einem weißen Kleide lag Rosina wie schlummernd und hielt in den bleichen, besonnten, mühsam gefalteten Händen ein Holzkreuz. Ihre Haare waren matt geworden, die geschlossenen Lider, die sich über das Unglück ihres Lebens gesenkt hatten, ließen vergessen, daß sie eine Blinde, eine Gezeichnete, gewesen. Da lag ein totes Mädchen, das einer sanften Jungfrau glich. Verstorben schien sie sehend geworden. Sie glich einem Kinde nicht mehr, der Tod hatte sie gealtert. Immer, wenn Mannsthal Tote sah, fühlte er sich erschauernd Urewigkeitgeheimnissen nahe, aber er empfand hier nicht Beängstigung. Er hatte gefürchtet, daß eine unheimliche Drohung aus dieser Toten zu ihm aufsteigen würde, mit kalter Hand ihm anklagend ans Herz zu greifen. Vor der Milde dieses friedlichen Antlitzes schwand seine Furcht. Er war gekommen, weil er nicht feige der quälenden Erschütterung entgehen wollte; nun blieb er straflos. Oder war es das selig erhöhte Lebensgefühl, das seit dem Morgen in ihm sang, das ihn nun gegen das Übel feite? Eine überwältigende Dankbarkeit zwang ihn auf die Kniee. Er fühlte in diesem Augenblick, wie sehr er das Leben liebte. Oft schon nach entronnener Gefahr hatte er es so mit seinem ganzen Sein liebend bejaht. Er verharrte in tiefer Andacht vor dem Lebendigen an der Bahre der Toten. Dorfleute, die ihn sahen, bewunderten die Frömmigkeit des vornehmen Wohltäters. Als er aber sich wieder erhob, fuhr er entsetzt zurück und seine Hand legte sich schirmend über die Augen. Das Gewand, das man Rosina angelegt, kleidete noch vor wenigen Tagen Arabella. Der Geliebten zarte Haut hatte er durch sein Gewebe leuchten gesehen. Erschrocken verließ er die Kammer. Da erhob sich eine Fliege, die auf der Toten Mund gesessen, Anofeles mit Namen, und folgte ihm. Er wehrte sie ab, doch schon holte sie ihn ein und träufelte ihm ihr Gift ins Blut. Eine Mine war gelegt.
Es war möglich, Vögelchen den Tod Rosinas zu verheimlichen. Sie hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen und Adalbert gab Auftrag, daß man ihr zu den Mahlzeiten die Speisen in dem anstoßenden Raum bereit halte. Durch Camill ließ er sie des Mittags wissen, er sei ausgegangen, damit sie nicht fürchte ihr Zimmer zu verlassen. Er ließ ihr überdies die Nachricht zukommen, Rosina sei auf einige Zeit bei ihrem Großvater Nerat, damit sie nicht auf den Einfall käme, die Entschwundene aufzusuchen. Er war keineswegs in Erstaunen versetzt über Vögelchens Verhalten. Er wußte, ihre Rückkehr würde nicht auf sich warten lassen und um so köstlicher für ihn sein. Abends ließ er ihr bestellen, er sei heimgekehrt und erwarte sie im Garten; falls sie es vorzöge allein zu bleiben, möge sie aber auf ihn keine Rücksicht nehmen. Vor Anbruch der Dunkelheit entließ er Camill mit dem Auftrag, frühmorgens zur Besorgung eines Reisewagens zur Stadt zu fahren. Dies würde ihn bis nachmittags fern halten. Von diesen Begebenheiten erstattete Camill sogleich seinem Freunde Konrad Kruger Mitteilung.
Als im Garten der lärmende Gesang der Vögel verscholl, durch die üppigen Efeuranken kaum mehr ein Lichtdämmern in die Zimmer drang, hörte Vögelchen Adalbert die Treppe heraufkommen. Bald darauf herrschte Stille. Sie stieg in den Garten hinab und wartete auf den Scheinwerfer, aber das Licht kam noch nicht und die schwüle Ruhe bedrückte sie. Im Hause blieb das Fenster des Freundes dunkel und unbewegt. Warum rief er nicht, warum holte er sie nicht? Sie brannte nach ihm. Aber noch immer lag ihr die Scheu, sich vor ihm blicken zu lassen, lähmend in den Gliedern. Nein, zur Tür eintreten bei ihm, sie vermochte es nicht. Warum konnte sie nicht unsichtbar, unhörbar sich ihm in die Arme betten und das Ungeheure fühlen? Leise ging sie ans Haus heran und nun maß sie die Höhe des Fensters. Die Mauer war aus Ziegeln, deren Mörtel vielfach herausgefallen war, Efeuranken bildeten an mancher Stelle eine natürliche Strickleiter. Nun versuchte ihr Fuß, von dem sie die Schuhe gestreift, nun zog sie den anderen nach und geschmeidig kletterte sie in wenigen Sätzen zur Brüstung. Es war nicht anders, als wenn ein Vogel im Blätterwerk raschelt. Nun schwang sie sich ins Zimmer, nun zog er sie an sich, nun ging sie unter im unendlichen Meer der Lust. Sie blieben zusammen, bis spät am Tage Rosinas Grabgeläute erklang.
K onrad Kruger schrieb an Arabella:
„Gnädigste Frau, was meinen Sie zu dieser Ansprache? Ich danke Ihnen für Ihren Brief. Ich hielt mein Versprechen und schrieb. Diese Briefe waren meine Zuflucht. Aber vielleicht kommt auch dieser Brief nicht an. Soll ich Dir sagen, Ariel, wie ich Sehnsucht gelitten habe von dem Augenblick an, als die Staubwolken Deines Wagens Dich meinem Blick verbargen, bis zum heutigen, da ich an Frau Adalbert Mannsthal schreibe? Erschrick nicht, daß ich Dein Geheimnis kenne. Ich werde immer Deine Geheimnisse kennen, Ariel. Was immer Dir das Schicksal bringt, es ist verknüpft mit dem meinen.
Ich war bei Deinem Freund. Er ist verreist. Lange blieb ich an dem Ort, wo Dein Bild noch lebendig war. Immer wieder erwartete ich Dich. Da Du eingingst in die Welt der Liebe, wirst auch Du bald verstehen lernen, wie man des geliebten Menschen harrt und an das Wunder glaubt, das ihn wiederbringt. Das Unmögliche zwingt man ins Natürliche und jeden Augenblick, der entschwindet und uns der trügerischen Hoffnung näher bringt durch seinen Abgang, möchte man segnen als Gewinn. Ariel, Ariel, ich habe Dich erwartet des Morgens mit dem Briefboten, in jedem Kahn, den ich von fernher kommen sah, in jedem Wagen, der weitab auftauchte, in jeder Frau, die irgendwo aus der Ferne trat, wähnte ich, oh Frevel, Dich Unvergleichliche. Und doch war nichts unmöglicher, als daß Du wiederkehrtest. Und weißt Du, was Angst ist um ein geliebtes Wesen, das man in Gefahr glaubt? Nein, das wirst Du nie wissen, denn Dir hat Gott die Kräfte Deines Wunsches gegeben, statt zu erbeben wird Deine Seele handeln. „Inwendiges Gebet durchdringt die Himmel.“ Sie wird sich anspannen bis zum Äußersten und es wird ihrer Sorge aller Grund genommen sein.
Ich aber bin ein Ohnmächtiger und habe vorerst nur den Willen. Darum flehe ich zu Dir, Ariel, hilf mir. Nun ziehst Du wohl weiter, sag’ ein Wort nur und ich atme Deine Nähe. Geld will ich nicht von Dir und müßte ich zu Fuß nach Mekka pilgern um mein Heil. Ich flehe um Deinen Segen. In unwandelbarer Treue
Konrad Kruger.“
Arabella antwortete:
„Wir sind eben daran, westwärts in die Berge zu reisen. Sie irren, Herr Prediger, Ariel ist nicht gnädige Frau geworden. Es ist wie im Traum, so als lebte ich nicht. Nur wenn es ruft, weiß ich es. Wenn es wirklich wäre? Es ist vielleicht häßlich, wenn es wirklich ist. Aber in Unwirklichkeit kann es grenzenlos sein. Sie können jetzt nicht kommen. Ich habe keinen anderen Gedanken als ihn. Woher wissen Sie dies alles? Sie wußten es schon damals. Quälen Sie sich nicht. Was soll ich Ihnen denn? Nein, Sie können jetzt nicht kommen. Er würde Sie gleich erblicken und es gäbe Streit. Warten Sie ab. Ihre
Arabella.“
Diesem Briefe war ein Schreiben Camills angeschlossen, das folgendermaßen lautete:
„Werter Herr Student, indem ich Ihnen den Brief des gnädigen Fräuleins sende, welchen am Tage der Abreise das Fräulein mir übergeben haben, ersuche ich die Verzögerung zu entschuldigen, daß ich ihn erst heute sende und die ersuchte Auskunft sende. Wir sind wegen der Hitze und weil es schon schwer war mit der Abwirtung im Hotel in kühlere Gegend gezogen. Der Herr und das Fräulein wohnen am Berge in einer Alpenherberge. Ich bin eine Stunde unterhalb im Postgasthof einlogiert, bringe mittags die Briefe hinauf und besorge das Nötige. Von dem, was ich im vorigen Schreiben mitgeteilt habe, ist alles bewahrheitet und man verstellt sich auch vor mir nicht mehr. Ich vertrage die hohe Luft schlecht, nachdem ich kein junger Mensch mehr bin, der Wein ist schlecht und wäre gern schon fort. Vielleicht ist es einem studierten Menschen wie Ihnen möglich, darauf hinzuwirken, daß das Fräulein den gnädigen Herrn eilt, daß wir bald nach Paris kommen, was geplant ist. Dort ist es dann auch für Sie leichter und Paris ist etwas für Sie. Da werden Sie erst Ohren und Augen aufmachen. Für die Zigarren schönen Dank. Es ist aber nicht nötig. Ich tue es gern. Wenn Sie etwas übrig haben, bringen Sie es meiner Landsmännin, der Monika Gallo, in der Brunnberggasse Nr. 12. Das ist ein liederliches Frauenzimmer, aber ich unterstütze sie, weil sie ein gutes Mensch ist und ihre Großmutter mich aufgezogen hat. Nachher bin ich zum Militär gekommen und nach der Dienstzeit bei meinem Offizier geblieben. So hat es mit meinem Beruf angefangen, so daß ich mich gut fortgebracht habe.
Wenn es ein Wiedersehen gibt, erzählt man sich wieder Verschiedenes von einst und jetzt. Aber schauen Sie, daß wir hier fortkommen. Der Wein ist hier ganz ungenießbar. Auch Weiber gibt es nicht. Ich empfehle mich Ihnen und verbleibe grüßend
Camillo Custove.“
K onrad war heimgekehrt. Herr Hofrat Engelbert Kruger, der verdiente Landesschulinspektor, der aussah wie ein nordischer Fischer (sein weißer Bart lief wie ein Röllchen unter dem Kinn zu den Schläfen hinauf bis zu den Brillenhaken), Herr Hofrat kam des Nachmittags später ins Amt und versäumte abends seine Kartenpartie. Das bedeutete nichts anderes als: Konrad ist heimgekehrt. Frau Hofrats rundliche Wangen hatten rote Flecken — Frau Rat nannten sie die Kinder, weil sie Goethes Mutter glich —, Frau Rats flinke Augen schossen umher wie ein Eichkätzchen in seinem Bauer und liefen forschend und erschrocken umher und sie suchten Schlüssel und fanden sie nicht. Anselma Kruger, der Tochter zärtlich verblühtes Gesicht, sah plötzlich böse aus und sie hatte ihre äußerst sorgfältig ausgeführten Spitzen zur Seite gelegt, weil sie eine Migräne nahen fühlte. Das hieß: Konrad ist heimgekehrt. Lisbeth, das Mädchen, vertauschte ihre verwaschene Bluse mit einer neueren, die ihren Busen vorteilhafter erscheinen ließ, denn diesen hatte „der junge Herr“ schon des öfteren belobt. Fürbaß, der Dackel, verübte mit seinem Schwänzchen die kunstvollsten Windungen und war gleichgültig gegen Lisbeth. Der Hausmeister sandte seinen Jungen um Bier, denn er wußte, die nächsten Abende brachten reichlicheres Sperrgeld. Dies alles besagte: Konrad ist heimgekehrt.
Ob aber mit Ausnahme von Fürbaß irgend jemand an des verlorenen Sohnes Heimkunft menschlich Anteil nahm, schien zweifelhaft.
Warum war er zurückgekehrt? Er wußte, wenn er Arabella folgte, war der Bruch mit dem Elternhaus besiegelt. Er besaß kein Geld für Lustreisen und konnte es sich in kurzer Zeit nicht standesgemäß erwerben. Das Honorar seiner geheim erteilten Privatlektion hatte er eben aufgezehrt. Wenn er nicht wieder sein gedankenschweres Haupt unter das häusliche Joch beugen wollte, war es ihm unmöglich, die Sekretärstelle jenes einflußreichen Vereines zu erlangen, die ihm sein Vater für alle Fälle bereit hielt. Wenn er sich liederlich in die Welt schlug, war er ein für alle Mal unbrauchbar geworden für die Zucht des hofrätlichen Familienherdes. Aber er wußte auch abseits seiner Selbstgefühle, der Vater war alt, die Pension würde einst nicht reichen, wenn dann auch Anselma ihre aufgestapelten Spitzen verkaufte. Das wenige Geld, das vorhanden gewesen war, hatte man für Anselmas Aussteuer (die in einer Truhe verschlossen blieb) und für die Hedwigs verausgabt. Für Hedwig, die nun verstoßen war. Und deshalb hatten sich die Eltern, wiewohl sie fromm waren, seinem Vorsatz, Pfarrer zu werden, widersetzt. Sie ahnten, er wähle dies Amt, um seine ekstatische Seele jubilieren zu lassen, und daß diese durch alle beruflichen Schranken durchbrechen würde. Frau Hofrats Vater war akademischer Maler gewesen und in der Schule, wo Engelbert Kruger seine erste Supplentenstelle einnahm, Professor im Zeichnen. Er trank gern und liebte die Frauen, er spielte sogar und arbeitete wenig. Kruger wollte das mutterlose Töchterchen geborgen wissen und heiratete sie bei der ersten Gehaltsaufbesserung. Aber er ließ die Frau niemals vergessen, daß er eine Edeltat an ihr verrichtet hatte. Nun waren zwei Kinder mißraten und zeugten wider sie. Oder war dem nicht so? Manchmal stiegen ihr Zweifel auf, ob denn Hedwig und Konrad, diese begabten, schöpferischen Menschen, wirklich mißlungen waren. Aber diese zweifelnde Stimme kam aus dem Grab einer Gewesenen, denn die müde, alte Frau widersprach Herrn Hofrat Engelbert Kruger längst nicht mehr. Konrads Willen aber bis zum äußersten zu durchkreuzen, war nun auch dem Hofrat nicht möglich gewesen. Er war also für Theologie auf der Hochschule eingeschrieben. Nun war aber der Junge ein Sonderling. Er liebte es, allerlei Vorgänge haargenau zu beobachten. Kinder, die sich prügelten, Menschen, die sich betranken, Eheleute, die sich zankten, und besonders fesselte ihn das Treiben der Liebespaare. Er nannte das Psychologie zu seelsorgenden Zwecken betreiben, hatte aber wohl seine heimliche Freude daran und vergaffte seine Lehrzeit dabei. Er kam spät abends, oft erst nachts nach Hause, weil er in Kneipen saß ohne zu trinken oder des Frühlings in Gärten zwischen heimlichem Liebesgetändel ohne selbst zu tändeln. Schließlich begann er ein umfangreiches Buch zu schreiben und veröffentlichte eine Studie über die Schriften Athenagoras, an die er eine neue Auffassung des Logos knüpfte, die ihm einen Verweis seiner Lehrer eintrug. Bald war es auch kein Geheimnis mehr, wer der Verfasser der in der „Hochwarte“ erscheinenden „Kritiken der Lebensführung“ war, die eine stupende Kenntnis geheimer Dinge bezeugten, zu denen sonst ein junger Theologe weder eine bejahende noch eine verneinende Beziehung hat. Sein Vater nannte sie den Auswurf eines Verlorenen und Anselma, die sie heimlich las, behauptete, daß der letzte ihrer Freier ihnen zum Opfer gefallen sei, da kein anständiger Mensch sich einfallen lasse, mit dem Verfasser dieser Schändlichkeiten eine Verwandtschaft einzugehen. Wenn Konrad nicht rechtzeitig zu Hause war, wurde ihm fortan das Essen entzogen, das Taschengeld wurde gekürzt und alle seine Bücher, die dem Hofrat verdächtig erschienen, verkauft. Als der Vater erfuhr, daß er Hedwig besuche, gab er ihm eine Ohrfeige. Daraufhin verließ Konrad das Haus.
Nun aber war er dennoch zurückgekehrt. Eine plötzlich erwachte Zärtlichkeit hatte, alle Einwände besiegend, ihn nach Hause getrieben. Er liebte des Vaters Art, über die Brille hinwegzusehen, seine liebreiche Beschäftigung mit Blumen und Tieren bei den gemeinsamen Ausflügen, er liebte der Mutter dunkle Augen, die allmählich heller geworden waren, ihre geheime Nachgiebigkeit, ihr Leid um Hedwig, er liebte Anselmas zärtlich verblühtes Gesicht und ihre nach Quittenäpfeln duftende Ordnungsliebe, ihre Trauer um den gestorbenen Verlobten. Er erinnerte sich an Fürbaß, den Dackel, und an Weihnachten. So war er denn wieder da und trotz allem entschlossen zu bleiben, wenn man ihn gut empfing und rücksichtsvoll behandeln wollte. Er erwartete Zugeständnisse, aber seine Abwesenheit hatte sich als eine sorgenlose Zeit bewährt und seine Rückkehr wurde nicht einer Belohnung wert befunden. So wurde denn der Spieß umgekehrt und Konrad dazu verhalten auf die Veröffentlichung bedenklicher Aufsätze zu verzichten, seine Besuche bei Hedwig zu unterlassen und nur ausnahmeweise die Abende außer Hause zu verbringen. Man behandelte ihn wie einen Mieter, der das Kostgeld nicht mehr bezahlt, den man aber nicht unverblümt vor die Türe setzen will. Im Spätherbst wurde die Sekretärstelle frei. Bis dahin mußte Konrads Aufführung musterhaft sein, auch sollte er schon einen Monat vorher als Volontär sich einarbeiten. Er ließ sich einige Tage Bedenkzeit. Dann kam Vögelchens Brief, darin standen hell drei Worte: „Warten Sie ab.“
Ausreißen konnte man immer noch. So gab er sich scheinbar zufrieden. Aber die Stadt begann ihren verderblichen Einfluß zu üben. Hatte er am See nur seiner Arbeit an dem Buche „Von St. Bernhard“, den Wanderungen in der Landschaft und seinen Träumen um Arabella gelebt, so begannen nun die erregten Nerven ihre Gifte auszuscheiden. Seine Arbeiten wurden wieder eifernden Geistes, seine Spaziergänge jenen hämischen Beobachtungen gewidmet, seine Sehnsucht nach dem geliebten Wesen Wahn und Eifersucht. So entstand der teuflische Plan in ihm, Mannsthal an Vögelchens Mutter zu verraten und ihr Geld zu entlocken unter dem Vorwand, die Vorgänge aus nächster Nähe beobachten zu wollen. Es schien ihm zweifelhaft, daß ein Brief an jene Deckadresse die Dame noch erreichen würde; geschah dies dennoch, so hatte sich eben der Zufall für seine Absicht entschieden. Er schrieb:
„Gnädige Frau, es gehen Dinge vor, die Ihre Duldung nicht finden würden. Gestatten Sie, daß ich Ihnen mündlich berichte. Ich habe die Gefahr erkannt, in der Ihre Tochter schwebt, und stelle mich Ihnen zur Verfügung, um ihre Errettung zu bewerkstelligen. Hochachtend ergeben Konrad Kruger, Student der Theologie, Sohn des Hofrats Engelbert Kruger, Landesschulinspektors usw. Postlagernd Treustraße.
P. S. Bitte um Diskretion.“
Konrad war bald als lästiger Nachfrager auf dem bezeichneten Postamt bekannt. Vierzehn Tage lang stahl er sich, vorsichtig auslugend, ob niemand ihm folge, dahin, und als ihm tatsächlich am fünfzehnten Tage ein Brief eingehändigt wurde, erbleichte er vor staunender Erregung und Erwartung.
Er las: „Mein Herr, finden Sie sich, bitte, am 3. dieses um zehn Uhr vormittags in meiner Stadtwohnung, Ring Nr. 3, Tür 5, in der ich mich eben vorübergehend aufhalte, ein. Sollten wir einander versäumen, erbitte ich sogleich Nachricht nach Hetzendorf bei Wien, Villa Martha.“
Konrad sah auf die Uhr. Es war zehn Uhr vorbei, aber das Datum stimmte. Er konnte nun nicht mehr nach Hause, um seinen Anzug zu wechseln, alles, was er riskierte, war, sich beim nächstbesten Friseur rasieren zu lassen. Es war elf Uhr, als er in das kühle, vornehme Haus eintrat und im ersten Stock klingelte. Nach angstvollem Horchen vernahm er Schritte und, während er auf der gegenüberliegenden Türe las: Dr. Franz Gunter, Hof- und Gerichtsadvokat, vernahm er, wie das Guckloch an der Türe sich bewegte. Frau Martha Gunter öffnete. Es war noch alles verdunkelt in der Wohnung, die Luft war dumpf trotz des geöffneten Fensters in dem Raum, in den Konrad ihr folgte. Bilder und Lampen waren verhängt, an ihrer Größe und den kostbaren Wandbehängen ließ sich eine prunkvolle Einrichtung erkennen. Im Nebenzimmer wurde ein Kamin abgetragen. Aus diesem Grunde war Frau Gunter zur Stadt gekommen und hatte bei dieser Gelegenheit nach dem Brief jenes rätselhaften Waldmenschen gefragt, der auf geheimnisvolle Weise in die Erlebnisse ihrer Tochter eingeweiht schien. Die Stimme der Dame war nicht dieselbe, die erregt und heiser aus jenem Gespräch am See geklungen hatte. Der schwere Schlag der Augenlider und der Schleier der Wimpern jagten ihm Fieber der Erinnerung durch die Glieder. Und des geliebten Wesens deutlichere Gestalt gab ihm Mut und er begann:
„Meine Gnädige, Sie werden mich für einen Narrn oder für einen Schwindler halten, jedenfalls für einen Menschen, der sich dreist in fremde Angelegenheiten mengt und der deshalb wenig vertrauenerweckend scheint. Ich will Ihnen aufrichtig die Wahrheit sagen. Ich habe Ihre Tochter sehr lieb gewonnen und die Eifersucht hat mir die Gefahr gezeigt, in der sie schwebt. Weniger Tage der Freundschaft hat es bedurft, um zu erkennen, daß ihr Stiefvater sie liebt und daß dieser Herr nur wartete, bis ihm sein Opfer mundgerecht war.“
„Was sagen Sie! Schweigen Sie, schweigen Sie,“ unterbrach die erbleichende Frau die einstudierte Rede. „Machen Sie mich nicht noch unglücklicher. Woher wissen Sie, daß es geschehen ist? Es ist furchtbar. War je eine Mutter unglücklicher?“
„Beruhigen Sie sich, gnädige Frau. Noch ist nicht alles verloren. Arabella ist ein himmlisches Wesen. Noch reicht ihr der Schmutz nicht bis zu den Knöchelchen der Füße. Sie kann nicht, sie wird nicht verderben. Ich glaube an sie, wie an ein göttliches Wesen. Aber sie muß fort von dem Verführer, sie muß zu Ihnen zurückkehren.“
„Sprechen Sie sich deutlicher aus! Haben Sie Nachrichten von dort? Haben Sie Briefe?“
Konrad zog ein Schreiben Camills hervor und zeigte, indem er es vorsichtig festhielt, der Dame folgende Stelle:
„Sie wohnen allein und schicken mich fort, wann es nur angeht. Das Fräulein ist ganz verändert und läßt sich vor ihm nicht blicken. Dann wieder sind die Kissen noch am Nachmittag in Unordnung. Ich schreibe Ihnen das, weil ich Ihnen es versprochen habe und wir Freunde sind. Wenn Sie es weiterreden, verlier ich den Posten, also denken Sie an die Freundschaft, die wir uns zugetrunken haben.“ Es folgten noch einige zweideutige Ausführungen über den Geschlechtsverkehr ungleichaltriger Menschen, die an ein Gespräch anzuknüpfen schienen, das der Schreiber mit Konrad geführt hatte. Offenbar lag für Camill hier die Basis der seltsamen Freundschaft mit dem Studenten. Frau Gunter las nur die ersten Zeilen dieser Bemerkungen, dann legte sie errötend die Hände vor ihr Gesicht.
„Es ist so gut wie sicher,“ sagte sie, ohne ihr Antlitz zu enthüllen, mit erstorbener Stimme. „Aber Beweise sind das nicht und rechtlich kann ich nichts erwirken. Es ist ungeheuerlich!“
„Ich will Ihnen Beweise schaffen. Ich werde es bezeugen können. Es wird mir nicht an Mut und Schlauheit fehlen, glauben Sie mir.“
„Und was dann?“ sagte Frau Gunter, deren Körper wie im Frost erschauerte. „Mein Mann wird einen Prozeß zu verhindern wissen und niemals werde ich ihm das arme Kind entreißen können. Es ist mir fremd geworden. Es kennt mich nicht mehr.“
„Sie irren, man muß Ihre Tochter erwecken mit geistlicher Kraft und ihn mit Drohungen erschrecken. Geben Sie mir die Befugnis, in Ihrem Namen den Verführer zu entlarven. Ich will alles aufgeben, Beruf und Elternhaus. Ich habe nur einen Gedanken, das himmlische Wesen in Sicherheit zu bringen. Um des Seelenheiles willen ...“
„Und wenn nur ein Wahn Sie treibt, wenn nichts geschehen oder nur ein unschuldiges Spiel, nur Zärtlichkeit —“ Sie sah fern ein Bild. Eine Frau am Traualtar, die nach bangen Jahren wieder Geborgenheit fühlt. Es war so schwer, das Böse zu denken.
„Wenn Sie zweifeln, wenn Ihr Gewissen Sie nicht antreibt, dem Retter, der durch scheinbare Zufälligkeiten zu Ihnen gelangt ist, zu vertrauen — — Meine Nachforschungen können ja nur nützlich sein.“
„Warten Sie einige Tage, ich will mich beraten. Nein, nicht meinen Mann will ich fragen, für den ist die Sache erledigt —“
„Jede Mitwisserschaft kann unseren Plan vereiteln. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“
„Und was verlangen Sie?“ fragte die gequälte Frau.
„Nichts als die Reisekosten und eine geringe Vergütung meines Lebensunterhaltes.“
Frau Gunter streifte einen Perlenring vom Finger, der von Brillanten eingefaßt war. Aus ihrem Portemonnaie nahm sie eine Geldnote. „Dies ist für die Reise. Den Ring versetzen Sie und bringen mir gleich den Versatzschein. Ich habe jetzt nicht mehr entbehrliches Bargeld und, da ich die Sache geheim halten muß, können Sie auch in nächster Zeit nichts erwarten.“ Sie legte den Kopf auf den Arm, als wollte sie nichts hören mehr und sehen. Ein lautloses Schluchzen erschütterte sie. Konrad nahm Geld und Ring, verbeugte sich und verließ rasch die Wohnung.
Er ging zunächst in das Versatzhaus, erhielt eine erstaunlich hohe Summe für den Ring und machte sich dann auf den Weg zu Hedwig, bei der er das Geld bis zu seiner Abreise aufbewahren wollte. Sie war nicht zu Hause. Nachmittags brachte er den Schein zu Frau Gunter, die ihn nochmals über seine Absichten ausforschte und, nun ruhiger geworden, Weisungen gab, wie er sie benachrichtigen und was er im Notfall veranlassen sollte. Er fühlte, daß es ihr unmöglich gewesen war, seine Hilfe abzuweisen, da ihr Gewissen sich belastet fühlte, aber er empfand deutlich, daß er als Ruhestörer aufgetreten sei und eine schon begrabene Hoffnung aufgewühlt hatte. Er ersah, daß Vögelchen heimatlos war und daß nur Leidenschaft ihr Obdach bot. Aber hinter all den Zweifeln über seine Mission stand die Gewißheit, er würde Ariel wiedersehen.
Als es dämmerte, klingelte er nochmals bei Hedwig an. Sie wohnte weit draußen in der Vorstadt, im entgegengesetzten Stadtteil der väterlichen Wohnung. An der Türe war mit einem Reißnagel eine Visitenkarte angebracht. Auf dieser stand: Hedwig Torn-Kruger, Malerin.
„ W ahrhaftig, der Konrad,“ rief eine helle, klingende Stimme zwischen dem leicht geöffneten Türspalt und schon flog die Tür auf und die Schwester zog ihn in den Vorraum. Hedwig, das sah man auf den ersten Blick, war aus der Art geschlagen. Vielleicht war die Mutter einst ihr ähnlich gewesen. Nun schien sie gegen die Angehörigen gesehen ein Kolibri in einer Gemeinschaft von Fledermäusen. Konrad war zwei Monate nicht da gewesen und der Geruch der Ölfarben, die saubere, eigenartige, wenn auch mit den primitivsten Mitteln hergestellte Einrichtung heimelten ihn gleich wieder an. Und Hedwig sah gebräunt aus und hübscher denn je.
„Wo ist der Junge?“ fragte Konrad und deutete auf das leere Stühlchen, auf dem nun des Kleinen Harlekin sich breit machte.
„Endlich in guten Händen,“ sagte Hedwig lachend. „Meine Freundin Marie, weißt du, die Kollegin aus der Malschule, hat ihn seit drei Wochen in Mödling draußen. Mir ist nicht wenig bang nach ihm, das kannst dir denken. Er ist ja so lieb jetzt. Weißt du auch, daß er dein Bild erkennt? Okki sagt er.“
Konrad liebte den kleinen Jungen und war sichtlich verstimmt, daß er abwesend war.
„Daß du dich aber wieder hergetraut hast nach der Ohrfeigengeschichte, Konni,“ sagte sie und sah ihn zärtlich an. Eine Träne schimmerte in den dunklen Augen, die jenen der Mutter glichen. Sie streichelte seine behaarten Hände.
„Ich bin gekommen, um Abschied zu nehmen, Hedi,“ sagte er und setzte sich neben sie. „Ich reise nach Paris.“
„Nach Paris!“ Hedwig schlug die Hände zusammen und lachte. „Ei, was du nicht sagst! Du Glücklicher! Grüß mir die Annaselbdritt und die Mona Lisa und die Wasserspeier von Notre Dame.“
„Nein, ich spaße nicht,“ sagte er und zog bekräftigend das Kuvert mit dem Geld aus der Brusttasche. „Ich möchte dich auch bitten mir dies aufzubewahren und es mir Samstag auf den Bahnhof zu bringen.“
„Samstag schon? Mit deinem Französisch traust du dich nach Paris?“
„Habe seit zwei Wochen eifrig aufgefrischt.“
Eine Pause entstand mit der stummen Frage, was es mit der Reise für eine Bewandtnis habe. Aber Hedwig liebte es nicht, befragt zu werden, so war auch sie diskret.
„So, so. Und was sagt man zu Hause dazu?“ fragte sie nach einer Weile.
„Niemand weiß etwas. Ich verschwinde. In zwei oder drei Tagen trage ich zwei Pakete mit meinen Sachen von zu Hause weg und bringe sie zu dir. Dann esse ich mit ihnen, sage Gute Nacht, ziehe mich in meine Bude zurück und verschwinde unter Zurücklassung einiger sachlichen Abschiedsworte.“
„Hat man dich wieder gehunzt?“ fragte Hedwig. „Kann denn nicht Friede werden! Weißt du auch, was du tust? Die Eltern sind doch alt. Sollen sie zwei Kinder verloren haben? Wie wirst du dich fortbringen?“
„Wenn du es kannst und mit dem Jungen, dann werde ich es wohl auch können.“
„Ja Frauen, die haben geheime Kräfte.“ Ein trauriges Lächeln umspielte ihren Mund und ihre Augen hatten einen schmerzlich verklärten Aufblick.
„Weißt du aber auch, durch wieviel Elend ich gegangen bin, Konni? Wie ich gehungert habe, ehe ich die Anstellung und die Privatstunden bekommen hatte und endlich wieder ein Bild verkauft war? Nein, nichts weißt du. Hast nur gehört, daß ich ein leichtfertiges Frauenzimmer bin und die Ehre der Familie nicht respektiert hab’ und schließlich nicht zu Kreuze kriechen wollt’. Ich will dir dein Geheimnis nicht abfragen, aber meines will ich dir jetzt sagen, damit du klüger wirst daran.“
„Aber reg’ dich nicht auf, Hedi, hörst du. Dann will ich lieber nichts wissen.“
„Also erinnerst du dich, daß man mich zuerst wie Selma in die Lehrerinnenbildungsanstalt steckte. Selma hatte schon ihre Anstellung als Industriallehrerin, als ich eintrat. Da war ein Professor im Zeichnen, ein aufgeklärter Mensch. Nun du weißt, wen ich meine. Der ging zu Vater und sagte, ich hätte Talent und ich sollt’ das zweite Jahr noch absitzen und dann ernstlich auf Malerei studieren. Zunächst unterrichtete er mich zwei Jahre privat. Vater war dagegen, aber Mutter, die Malerstochter, hat es durchgesetzt. Der Professor riet zu einer Schule in München. Vater zeigte meine Arbeiten mehreren Fachleuten, die alle sehr für meine Ausbildung waren. Du warst damals im Konvikt. Ehe ich abfuhr, besuchte ich dich. Erinnerst du dich noch?“
„Die Jungens verliebten sich alle in dich.“
„Ja, es hatte sich auch ein anderer in mich verliebt. Torn, der Bildhauer, des Professors Bruder. Wir waren viel allein. Ich dachte, es wäre alles nur Spiel. Ich war so furchtbar dumm. Torns waren in München bekannt und sie rieten zu einem Familienheim, wo ich solide untergebracht sein würde. Es ging alles gut anfangs, denn ich war in Hans Torn verliebt und keiner kam an mich heran. Ich habe gute Fortschritte gemacht. Bei der Schulausstellung schon wurden alle meine Bilder angekauft. Den Sommer verbrachten Selma und ich in einem Malerdorf. Dort hat sie den unglücklichen Hügler kennen gelernt. Wäre der dann nicht abgestürzt, es wäre vielleicht manches anders geworden. Er war so klug und die Eltern schworen auf ihn und reich war er auch. Er hätte auch mir geholfen. Die Torns waren auch da und dort merkte ich erst, daß auch der Professor in mich verliebt war; und auf einmal wußte ich selbst nicht mehr, welchen ich lieber hatte. Und das Seltsame war, keiner schien es vom anderen zu wissen, daß er mich zur Frau wollte. Aber mich reizte das so und ich trieb ein elendes Spiel mit ihnen. Ich traf beide heimlicherweise und hätte weder den einen noch den anderen verstoßen können. Im Fasching kam dann Hans, um in München zu bleiben, gleich nachher sollte ich nach Hause fahren, weil der Kurs der Lehramtsprüfung für Zeichnen begann, den ich für alle Fälle machen sollte. Weißt du, Konni, schon damals war mir meine Arbeit wichtiger als alles andere auf der Welt und das hat mich dann auch später gerettet. Ich hatte auch schon öffentlich ausgestellt nach vier Jahren Studium. Aber ich wußte: nun geht es ins Elternhaus und in den Erwerb zurück; das ist deine letzte ganz freie Zeit, sagte ich mir. Niemand fragt dich, wann du nach Hause kommst, wo du geschlafen und gegessen hast. Hans und ich durchtobten den Fasching. Aber da spürte ich plötzlich, ich liebe ja gar nicht den Hans, es ist der andere, es ist Hermann, nach dem ich mich all die Zeit gesehnt habe. Halb scherzend beichte ich es ihm und denke mir, er muß sich doch freuen, daß ich den Bruder, den er so verehrt, so lieb habe. Und nun geschieht etwas Häßliches. Hans sagt mir, daß er selbst ja nur sein Spiel mit mir wollte, daß er von meiner frommen Liebschaft mit dem Bruder gewußt habe und daß er, Hans, uns beide oft belauscht habe. Dann zeigte er mir Briefe, aus denen ich ersah, daß er immer neben mir andere Frauen gehabt hatte, schon damals, als ich nur ihn liebte, das war so seine Rache. Ich packte verstört meine Sachen. Auf der Reise faßte ich den Plan, nicht direkt nach Hause zu fahren. Ich telegraphierte, daß ich später eintreffen würde, und fuhr zu Hermann. Der erschrak freudigst, als er mich kommen sah, und ich wußte nun: da ist dein Glück. Wir verlobten uns. Wir blieben die ganze Nacht beisammen. Er rührte mich nicht an. Es war alles so heilig. Tags darauf kam ich nach Hause, begann den Kurs. Zwei Wochen später wußte ich, daß ich guter Hoffnung war. In meiner Verzweiflung vertraute ich mich Mutter an. Sie hörte es mit Grauen. Der Traum und Taumel fiel von mir ab, als ich sie noch starr vor Entsetzen sagen hörte: „Du darfst Hermann nichts sagen, du mußt dir das Kind nehmen lassen.“ „Das ist ja Betrug, Mutter,“ sagte ich, „Verbrechen!“ Alles, alles wollt’ ich, nur nicht tiefer in Lügen geraten und Abscheulichkeit. „Du hast den Weg des Bösen eingeschlagen,“ antwortete sie. „Jetzt geh den, der nicht andere mit ins Unglück stürzt.“ Da lief ich zu Hermann und sagte ihm alles. Hermann schrieb an Hans, er müsse zurückkehren und mich heiraten. Aber dem widersetzte ich mich. Ich liebte ja Hermann und nie und nimmer hätte ich Hans, der sich heimlich an mir rächte, zum Manne wollen. Nach schwerem Kampf schloß mich Hermann wieder an sein Herz, er würde zu vergessen suchen, daß Hans und nicht er der Vater sei. Aber dann kam der Brief aus München. Hans war vom älteren Bruder abhängig und wollte nicht eingestehen, daß er ihm weggenommen, was er sich aufgespart hatte. Er erklärte, ich wäre ihm nachgelaufen und hätte mich ihm aufgedrängt. Den Fasching hätte ich so wüst verbracht — daß wohl ebensogut Herr X. oder Herr Y. Vater meines Kindes sein konnte. Er dächte nicht daran, mich zu heiraten, da ich ja vor kurzem erst ihm eröffnet hätte, daß ich keinerlei Neigung mehr für ihn habe. Er sei überdies so gut wie verlobt mit einer Brauerstochter, einem reichen und anständigen Mädchen.“
„Hund,“ knirschte Konrad.
„Ach!“ sagte Hedwig traurig. „Er war kein Hund. Er liebte mich und deshalb trieb ihn der Haß. Er hat die Brauerstochter geheiratet, nun hält er’s bei ihr nicht aus und läuft mir die Türen ein. Aber ich habe den Kleinen gelehrt, mit Bausteinen nach ihm zu werfen und ihm das Gesicht zu zerkratzen, wenn er ihn küssen will. Nun höre weiter, das Böseste kommt erst. Hermann erklärte also daraufhin, von mir nichts wissen zu wollen. Selma fuhr heimlich zu Hans, aber auch der war unerbittlich. Da sagte Mutter alles dem Vater und der schlug mich blutig. Tags darauf ging er zu Hermann und bat ihn, er, der stolze Mensch, bat Hermann, mich zur Frau zu nehmen. Aber der Vater kam verstört nach Hause und sprach zwei Tage mit keinem von uns ein Wort. Indessen hatte Mutter eine Frau ausfindig gemacht, die alles ungeschehen machen würde. Aber in mir war der feste Entschluß das Kind zu behalten. Ich war sehr leidend von all den Aufregungen und man schonte mich in keiner Weise. Das Einzige, was Vater für mich tat, war, zu erwirken, daß ich meine Lehramtsprüfung vorzeitig ablegen konnte. Man bewachte mich. Selma und Mutter waren immer hinter mir. Ich widersetzte mich nicht mehr zu der schrecklichen Frau zu ziehen, dort würde ich wohl freier sein und vielleicht die Möglichkeit haben zu entfliehen. Aber schon vorher gelang mir das. Ich hatte noch das Geld von den verkauften Bildern und fuhr nach München, wo ich ja Freunde hatte, auf die ich mich verlassen konnte. Freilich Geld hatten die keines, aber Arbeit würden sie mir verschaffen. Mutter kam mir nachgefahren, sie hatten mich ausgeforscht. Ich lebte recht schlecht und sie lockte mit Unterstützungen und Verzeihen, aber alle ihre Vorstellungen, auf das Kind zu verzichten, waren fruchtlos. So fuhr sie denn wieder ab. Es kam kein Brief mehr. Einmal sah ich Hans. Es war im Sommer, die Stadt verödet. Ich saß im englischen Garten, da fuhr er mit seiner Braut an mir vorüber. Noch heute weiß ich nicht, ob er mich gesehen hat, aber damals lernte ich Gretchens Gebet im Kerker aus tiefster Qual verstehen. Einen Monat vor der Zeit kam eine Depesche von Selma, Vater liege im Sterben, ich sollte zurückkehren. Ich reiste. Abends trat ich verschleiert ins Zimmer. Alles war düster und leise. Es fiel mir zuerst auf, daß man dich weggeschickt hatte, aber ich war doch gleich von der Sorge der anderen erfüllt und maß dem keine Bedeutung bei. Vater sagte mir mit schwacher Stimme, ich sollt’ mich nicht länger widersetzen. Er habe mit Hermann gesprochen, er würde mich heiraten, wenn ich mich nach der Geburt des Kindes von diesem trennen würde, da doch nun einmal der Vater nicht nachweisbar wäre. Mutter brachte mich zu dieser Frau. Sie hatten schon alles vereinbart und sprachen abseits leise wie alte Bekannte. Ich besah mir den Raum. Die Luft schon war bedrückend. Zwei Betten standen da, in dem einen schlief schnarchend ein alter Hund. Ich war einer Ohnmacht nahe, die Reise, die schlaflose Nacht, die Aufregungen hatten mich ganz heruntergebracht. Ich hatte Schmerzen. Meine Füße trugen mich nur mehr zu dem Sofa. In einem Winkel des Zimmers sah ich einen schmutzigen Waschtisch mit allerlei unbekanntem Gerät. Ich wußte mit Grauen, hier wurden dem Tod Opfer gebracht. Ich rief nach der Mutter, sie war heimlich weggegangen. Die Alte brachte mir Tee, entschuldigte sich, sie müsse ausgehen, ich sollte unbesorgt sein, es würde niemand zu mir hereinkommen. Mir war es, als entferne sich die alte Hexe, um den giftigen Apfel zu bereiten. Ich schlummerte ein und sah mich in einem gläsernen Sarg. Ich erwachte, als draußen die Tür aufgesperrt wurde und das Zimmer neben dem meinen von einem Mann und einer Frau betreten wurde. Bald war kein Zweifel mehr, zu welchen Zweck. Arme Mutter, sie ahnte nicht, wohin sie mich gebracht hatte. Die Schmerzen kamen wieder und eine entsetzliche Angst befiel mich, daß es vorzeitig geschehen konnte, daß das Kind und ich in Schmutz und Gift zugrunde gehen würden. In den Schmerzen fühlte ich nur meine Qual, die Krankheit des Vaters war ja nichts gegen die Gefahr, die in jedem neuen Anfall zu drohen schien. Ich war voller Haß, daß man mich hier elend verkommen ließ, daß man mich morden wollte. Ja, ich verglich erbittert den Wert meines Lebens mit dem des Vaters, dem man das meine aufopferte. Aber nach einer Weile hörten die Schmerzen auf. Ich lag wie gerädert. Die nebenan rüsteten indes wieder zum Aufbruch. Das Leben stand grell vor mir. Ich war wie hellsichtig geworden. Mann und Weib nebenan, die sich umschlingen, dann die Tragödie der Geburt, der Tod, der Kampf um Ehre, alles stand in nackten Bildern vor mir. Aber nun wußte ich auch, was ich zu tun hatte. Ich stand auf; eh’ die Alte wiederkam, war ich auf der Straße. Es war spät abends, ich rief einen Kutscher an, ließ mich auf die Klinik fahren. Als ich ihn bezahlt hatte, blieb mir fast nichts mehr. Die Schwestern und Ärzte nahmen mich mit freundlicher Ruhe in Pflege. Aber erst eine Woche später kam das Kind zur Welt. Ich schrieb Mutter, wo ich sei, und daß sie doch meinen Tod nicht hätte verantworten wollen, bat Selma, mich zu besuchen und mir Nachricht von Vater zu geben. Niemand kam, niemand antwortete. Ich durchforschte die Zeitungen, ob ich das Schreckliche lesen würde, sah schon den geliebten Namen schwarz umrändert mir entgegenstarren. Zum Glück blieb Vater am Leben. Er war gar nicht sterbenskrank gewesen. Das wenige Geld, das ich hatte, verausgabte ich für Marken und Karten. Ich schrieb an Freundinnen, die mir ewige Treue geschworen hatten, aber jede hatte eine andere Ausrede, niemand kam mir zu Hilfe. Neben mir lag eine Arbeiterfrau. Sie erriet bald meine Verlassenheit und mit einer gewissen Schadenfreude über die Hartherzigkeit der „Herrschaften“ lud sie mich zu sich ein. Als der Mann des Sonntags sie besuchen kam, brachte auch er treuherzig seine Einladung vor. Tags darauf brachte uns eine Droschke ans Ende der Stadt. Nicht weit von hier lud sie uns ab mit den sorgsam verhüllten Säuglingen. Seither habe ich gelernt, unter armen Leuten zu wohnen. Da gibt es keine Unzufriedenheit, wenn man sieht, wie diese Armen hinter dem Bollwerk ihrer Stumpfheit darben. Sie hatte es gut gemeint, die brave Frau, aber nach zwei Tagen erkrankte ich an Kindbettfieber. Nun brachte man mich ins Spital zurück und das Ärgste war, man trennte mich von dem Kinde. Man brachte es mir nur, wenn es gestillt werden sollte. Nachts hörte ich sein Schreien lange in den hallenden Gängen, wenn man es mir hungrig brachte, und wieder schrie es, wenn man es forttrug. Einer meiner Hilferufe, die bisher unbeantwortet geblieben waren, hatte indes Widerhall gefunden. Marie hatte mich auf der Klinik, dann bei der Arbeiterfrau, die sie sogleich belohnte, dann wieder im andern Spital gesucht. Nun mietete sie mir ein Zimmerchen in ihrer Nähe. Das Kind wurde vom Spital aus auf das Land in Pflege gegeben. Als ich so weit hergestellt war, fuhr ich nach Neudorf hinaus, um es zu besuchen. Nie werde ich diesen Anblick vergessen. Es war so lieblich und rosig gewesen. Jetzt glich es einem kranken Greislein. Erstaunlich auch war es, wie es nun Hans ähnlich war. Die Nachbarinnen raunten mir zu, daß das Kind Hunger leide und in Schmutz liege. Vor wenigen Tagen wäre es dem Tode nahe gewesen. Ich nahm es eigenmächtig fort. Konnte ich denn das Kind dieser Engelmacherin überlassen? Es mußte ins Spital, es war ernstlich krank. Dort bedeutete man mir, es würde erst in einigen Tagen ein Platz frei. Die Frau, bei der mich Marie eingemietet hatte, war natürlich nicht erbaut über den kleinen Mitbewohner, der nachts erbärmlich schrie. Maries Unterstützung war nahezu aufgebraucht. Da trug ich das Kind abermals zur Klinik. Es war ein warmer Oktober, noch lagen die Kinder in den Wiegen im Garten draußen. Als ich an einem leeren Bettchen vorbeikam, kam mir der Einfall, das Kind hineinzulegen. So entging ich der Abweisung. Ich tat es und flüchtete dann wie eine Diebin. Indessen hoffte ich Hilfe zu finden. Zwei Tage machte ich vergebens Anstrengungen mir Geld zu verschaffen. Ich konnte ja nur an Menschen herantreten, die in keiner Beziehung zu den Eltern standen und die halbwegs verschwiegen waren. In meiner Verzweiflung ging ich zu Hermann. Ich fand ihn, erschrocken über mein Aussehen, erschüttert über das, was ich erlebt hatte. Ich erzählte ihm, daß ich eben das Kind durch das Gitter des Spitalgartens beobachtet, daß es schon wohler scheine, ich beschwor ihn, den Jungen zu sehen, er würde dann nicht mehr zweifeln, wer sein Vater sei. Er ging mit mir, er sah das Kind und nun sagte er mir, er sei bereit, eine Scheinehe mit mir einzugehen und das Kind als das seine anzuerkennen. Er würde dann sogleich um seine Versetzung einkommen, falls ich selbst nicht die Stadt verlassen würde. Er riet mir zu bleiben, um dem kranken Vater nahe zu sein, der vielleicht andern Sinnes werden würde, auch würde er mir noch eine staatliche Anstellung sichern können. Hans war verheiratet und verdiente nichts. Ich lehnte es ab Unterstützungen von dem Geld seiner Frau zu beziehen. Hermann war ein gebrochener Mann. Er sagte mir, daß er nach reiflicher Überlegung zu der Überzeugung gekommen sei, daß er ja an meinem Verkehr mit Hans, an meiner Abwesenheit vom Elternhaus, daß er an meinem Elend Schuld trage. Einige Wochen später, als alle Formen erfüllt waren, heirateten wir. Nach der Trauung fuhren wir zu den Eltern. Hermann verlangte, daß ich ihre Verzeihung erbitte. Als Hermann erklärte, daß er nun getrennt von mir leben würde und ihren Schutz für mich erbäte, brauste Vater auf. Abermals kam alles zur Sprache. Aber obwohl ich wußte, daß unsere Ehe nur zum Schein war, ich mußte Hermann verteidigen, ich mußte an seiner Seite stehen. Ich war durch nichts geblendet, Hermann war im Recht. So gingen wir beide im Streit mit den Eltern auseinander.“
„Und er ließ dich dann mit dem Kind allein zurück?“ fragte Konrad. Hedwig senkte den Kopf. Es war ganz finster geworden. Er sah nicht, daß sie weinte, aber er fühlte es.
„Ich selbst habe ihn fortgeschickt,“ sagte sie. „Ich hatte ihn zu lieb.“
Eine Weile blieb es still, dann griff Konrad ungeschickt nach Hedwigs Hand und küßte sie.
„Ich hab’ immer gespürt, was du wert bist,“ sagte er.
„Auch jetzt noch, Konni?“
„Auch jetzt noch, jetzt erst recht.“
N un waren Konrads letzte Skrupel, das Elternhaus heimlich zu verlassen, erledigt. Als er nach Hause kam, wollte Anselma eben sein Nachtessen wegsperren. Sie setzte es ihm wortlos vor. Er schob es weg. Er schloß sich in seine Kammer ein und schrieb an Ariel:
„Du mein Engel, Du mein Licht, nun ist es gewiß, ich werde Dich wiedersehen. Ich werde um Dich sein, und wenn es nötig sein wird, werde ich Dich mit meinen Händen aus allen Fährnissen tragen. Immer werde ich in Deiner Nähe sein. Vergiß das nicht, Du brauchst nur zu rufen. Ich weiß, Du fürchtest Dich vor dem Rätselvollen, vor dem Wunderbaren. Doch ich bin fortan bei Dir. Du mußt bald, bald Deinen Berg verlassen, denn sonst müßte ich in einer Eishöhle hausen oder mich als Kellner oder Hausknecht verkleidet in Deinem Gasthof verdingen. Und Paris ist so schön. Dort kann ich Dir Wunder weisen. Ich habe alles studiert. Wenn mein Brief Dich erreicht, brichst Du wohl auf! Noch bin ich ganz aufgewühlt. Hedwig hat mir heute ihr Leben erzählt, Hedwig, weißt Du, die von den Eltern verstoßen wurde. Ihr war viel Leid zugemessen. „Wenn Du ißt und trinkst, so sollst Du jeden Bissen in seine Liebeswunden tauchen,“ das stand über ihrem Leben geschrieben. Als ich nach Hause kam, nahm man eben mein Essen fort. Ich kann nichts mehr zu mir nehmen von ihrem knausernden Tisch. Auch sie haben des Lebens Bitternis gekostet, aber sie selbst hatten nichts es milde zu machen. Und das, mein Ariel, ist das Geheimnis: mit der Seele Lauterkeit muß man es durchtränken, mit des Herzens Honigseim es versüßen, und sei es aus Galle und Unflat. Merke Dir das, Ariel, wenn dennoch der Ekel an Dich herankriecht.
Konrad.“
Er ging nicht zu Bette. Er saß über den französischen Büchern, bis das Licht erlosch, spät nachts. Am nächsten Tag, als er einen Teil seiner Bücher und Schriften zu Hedwig geschafft hatte, fiel ihm ein, daß Camill ihn beauftragt habe, die Enkelin seiner Ziehmutter aufzusuchen. Er kannte die Straße schon aus den Erzählungen seiner Gymnasialfreunde. Ja, er war selbst mit einem von ihnen, ehe dieser es gewagt hatte, eines der geheimnisvollen Häuser zu betreten, an ihr vorbeigestrichen, um doch irgendwie an der unheimlichen Angelegenheit beteiligt zu sein. Es war nun eben vor Anbruch der Dämmerung, als er sie erblickte, schmal ansteigend zwischen alten Häusern, die mit allerlei Sandsteinzierat, Schutzheiligen und alten Schildern ein Stück Altstadt bildeten. Aus der lärmenden Hauptstraße kommend, fand man hier plötzlich Schweigen, verschlossene Tore. Die Sonne selbst schien nur verstohlen, noch ehe sie schied, an den einförmigen Fassaden hinzuhuschen. Sah man aber näher hin, stachen grell die roten Vorhänge der halbgeöffneten Parterrefenster hervor und hinter ihnen, Konrad erschrak, kauerten Frauen mit sorgfältig frisierten Köpfen und grellgeschminkten Gesichtern in durchsichtigen, bebänderten Morgenjacken und lächelten, spitzten die Lippen oder riefen leise, mit der Zunge schnalzend. Eine oder die andere warf ihm auch ein grobes Spottwort nach, weil er nur scheu hinblinzelte und in seiner Bestürzung seine Blicke suchend nach den Hausschildern aussandte. Am liebsten wäre er umgekehrt und hätte seinen Auftrag brieflich erledigt, aber dies schien ihm eines zukünftigen Weltreisenden unwürdig. Er fand das Haus und während sich dasselbe Spiel wiederholte, ein Fenster sich leise bewegte und ein aufgedunsenes Gesicht sich lächelnd zeigte und noch süßlicher lächelte, als er die Türschnalle ergriff, trat er in den Hausflur. Eine Wohnungstür öffnete ihren Spalt und dieselbe Frau zeigte sich. Sie hatte offenbar, um ihres Geschäftes ganz sicher zu sein, eine ihrer schönen Schultern entblößt. Ihre Füße, die in roten Saffianpantoffelchen saßen, waren nackt. Aber plötzlich fiel Konrad ein Märchen ein, das Märchen von den roten Schuhen. Die abenteuerliche Atmosphäre dieser Straße hatte ihn nach Traumland versetzt. Er sah das kleine Mädchen, das mit roten Schuhen, freilich war es nicht, um damit zu trauern, aber sie hatte keine anderen, als sie hinter dem ärmlichen Sarge der Mutter daherging. Und dann kam die alte Dame im großen Wagen und nahm das Mädchen mit sich. Das kleine Mädchen hieß Marie. Und als sie eingesegnet werden sollte, ging die alte Dame mit Marie zum Schuhmacher und Marie wählte sich rote Saffianschuhe. Aber die alte Dame sah nicht, daß sie rot waren, weil sie nicht gut sehen konnte. Als sie dann zur Chortüre kam, schienen selbst die alten Bilder auf den Grabstätten, die Prediger und Predigerfrauen mit steifen Kragen und langen, schwarzen Kleidern, die Augen auf ihre roten Schuhe zu richten. Doch als der Prediger von der heiligen Taufe und vom Bunde mit Gott sprach, dachte Marie nur immerzu an ihre roten Schuhe.
„Na, Kleiner, was spinnst denn, komm doch, mein Schatz,“ rief leise eine heisere Stimme aus der Türe. Aber Konrad sah den alten Soldaten an der Kirche, der dem kleinen Mädchen mit seinem Krückstock die roten Schuhe anzauberte, daß es ewig darin tanzen mußte. Die Schuhe trugen es über Dorn und Sumpf, über die Heide hinweg zum Scharfrichterhaus. „Komm heraus! Komm heraus!“ rief es dort. „Ich kann nicht hineinkommen, denn ich muß tanzen.“ Und Marie bat, schlag mir nicht den Kopf ab, schlag meine Füße ab. Der Scharfrichter hieb ihr die Füße mit den roten Schuhen ab und die Schuhe tanzten mit den kleinen Füßen über das Feld in Nacht und Wald hinein.
„Komm doch, mein Schätzchen,“ schnalzte die Stimme aus der Tür und nun sah Konrad zwei entblößte Brüste durch den Spalt schimmern.
Da schien die Sonne ganz hell und gerade vor ihr stand Gottes Engel mit einem herrlichen grünen Zweig. Er berührte damit die Decke und sie erhob sich und die Orgel spielte und die Gemeinde saß in den geputzten Stühlen und sang aus ihren Gesangbüchern. Und die Leute sagten: „Das war recht, daß du kamst, Marie.“ „Das war Gnade,“ sagte sie. Der klare Sonnenschein strömte durch die farbige Fensterrose in den Kirchenstuhl und Mariens Herz wurde so voll Sonnenschein, daß es brach. „Ihre Seele flog auf Sonnenschein, zu Gott, und dort war niemand, der nach den roten Schuhen fragte.“ Die kleine Marie war Konrads erste Liebe gewesen. Nun war sein Herz mit einem Male voll Mitleid. Er sah gar nicht ängstlich mehr auf die entblößte Frau und sagte ruhig, indem sein Blick noch auf ihren Pantoffeln haftete: „Ich suche die Monika Gallo, ich hab’ ihr etwas von einem Landsmann zu bestellen. Bist du die?“
„Mußt ein’ Stock höher gehen. Die schlaft jetzten, hat die ganze Nacht an Besuch g’habt. Geh’, bleib indes bei mir.“
Konrad sah noch immer auf des üppigen Weibes rote Pantoffel. „Wir sind allesamt Sünder,“ sprach er zu sich. Er nickte nur und ging zur Stiege. Die Frau warf heftig die Türe hinter ihm zu. Im Stiegenhaus sah er die Wände mit obszönen Zeichnungen bekritzelt, die ihn wahnsinnig erregten. Seine Hand zitterte, als er bei der Monika Gallo anklopfte. Eine verdrießliche Stimme rief: „Wer ist’s?“ Er öffnete. Im Hintergrund des Zimmers richtete sich auf einem geblumten Sofa ein Mädchen auf und blinzelte mit mandelförmigen Augen zu ihm hin, eine blasse Hand strich kastanienbraunes, wirr lockiges Haar aus der Stirn. Monika Gallo gähnte.
„Ich komme von Custove,“ sagte Konrad statt jeder Begrüßung.
„Vom Onkel, von Onkel Camill,“ rief sie mit italienischem Akzent. Mit einem Satz stand sie auf und kam näher. Die Monika Gallo glich ganz und gar nicht den anderen Frauen, die Konrad in dieser Gasse gesehen. Sie sah aus wie eine slowenische Obstverkäuferin und ihr schönentwickelter Hals und die stolze Haltung ihres schmalen Kopfes verrieten, daß sie auf ihm den Obstkorb getragen, ehe sie in ihren jetzigen Beruf geraten war. Sie war wohl noch nicht lange dabei, denn sie sah leidlich frisch aus. Ihre Haut war weich und glatt, noch nicht von Schminke und Krankheit verheert. Konrad legte sein Geld hin, sie griff nach seiner Hand und drückte sie warmblütig. Nun sollte er erzählen, woher er den Onkel Camill kenne und wie es ihm im Ausland erginge. Während er sprach, sah er sich im Zimmer um. Es war recht reinlich, ein wenig ärmlich und bunt. Das Bett war offen, die seidene Decke stach grell aus der Dürftigkeit. Über einer kleinen Kommode hingen Bilder aus der Heimat. Eine Frau in südtirolischer Tracht, eine Welsche, und ein alter Mann mit dem großen Hut der Passeier Bauern. Zwischen ihnen ein gußeiserner Christus mit einem Rosenkranz, dessen Perlen in einen Weihkessel tauchten. Konrad fühlte sich sehr wohl bei Monika. Sie war nun leidlich ausgeschlafen und er blieb bis gegen Mitternacht bei ihr. Ihm war es ja schon einerlei, wann er nach Hause kam. Wer aber, dem Augenschein folgend, Konrad verdächtigt hätte, seinen Besuch in jeder Art genossen zu haben, der hätte fehlgeraten. Dennoch zählte er den Abend zu seinen guten Erinnerungen. Nichts war ihm verhaßter als bürgerliche Scheinheiligkeit, hier gab es weder Lüge noch Verstellung und, da er als Gast gekommen war, wurde er mit Herzlichkeit und Offenheit aufgenommen. Er war auch nicht knauserig gewesen mit seinem Geschenk und betrachtete es reinen Gewissens als die erste Auslage seines Betriebskapitals. Camill mußte ihm ja gewogen bleiben. Das Mädchen brachte Bier und Käse. Da sie so reichlich beschenkt war, vergönnte sie sich’s an diesem Abend, nicht auf Beute auszugehen. Konrad erfuhr ihre simple Geschichte. Ein Mädchenhändler hatte sie zu bereden verstanden ihr Dorf zu verlassen, sie dann einer Frau übergeben, in deren Haus sie geschmachtet, bis die Polizei die Bude ausgehoben, wonach sie sich selbständig gemacht hatte. Der Onkel Camill hatte ihr wohl Geld gegeben für einen Obsthandel, aber sie hatte zuerst einer armen Freundin aus jenem Hause ausgeholfen, die an einer „Berufskrankheit“ hinstarb. Auch war sie ohne ein eigenes Kleidungsstück zurückgeblieben, da alles, womit sie sich bisher geschmückt hatte, der Frau gehört habe. Dann hatte sie „ihn“ gefunden, den sie liebte und der ihr das letzte Geld durchgebracht. Jetzt „säße“ er, weil er einer Messerstecherei angeklagt worden, die ein schlechtes Ende genommen hatte. Die Monika dachte nicht daran, sich Konrad etwa aus Dankbarkeit für das Geld anzubieten. Ihr waren diese Freuden längst ein lästiges Geschäft, galten sie nicht dem Messerstecher, den sie jeden Monat im Gefängnis besuchte, um ihm Zigarren und Schnaps zu bringen. Sie lud Konrad ein wiederzukommen, falls er die Reise verschöbe. Als er an der Türe jener anderen vorüberkam, besann er sich, ob er nicht eintreten sollte, aber das Bier hatte ihn träge gemacht. Er scheute die Auslage und er mußte wieder an das Märchen von den roten Schuhen denken, an die Mutter, die es ihm einst vorgelesen, als er im Fieber gelegen, an Ariel, die alle Märchenmarien in seinem Herzen verdrängt hatte. Traurig ging er auf die Gasse hinaus. Die roten Vorhänge, dahinter jetzt die Lampen entzündet waren, leuchteten geheimnisvoll. Da und dort trat eine hochbusige Frauensperson mit wiegendem Gang aus der Tür oder zeigte, von der Straßenecke kommend, einem Willfährigen vorausschreitend, den Weg. Konrad trat auf die Hauptstraße, die nun öder war, und schlenderte mit dumpfem Kopf der elterlichen Wohnung zu. Aber plötzlich war ihm, als könne er jetzt nicht nach Hause. Man hatte ihm den Türschlüssel entzogen und er mußte Lisbeth, die Magd, aus dem Schlafe wecken. Sie würde in ihrer Nachtjacke kommen, die Hand schützend vor die Kerze halten, so daß ihr junger Busen beleuchtet war, und heute, das wußte er, würde er ihr nachdrängen in ihr heißes Bett. Nein, so sollte nicht die letzte Nacht zu Hause sein. Er kam durch einen Garten, da lockte eine Bank. Des Morgens erst rüttelte ihn dort ein Schutzmann aus dem Schlaf. Er schlich nach Hause, Lisbeth holte eben die Milch. Er stahl sich ungesehen in sein Zimmer. Seine Abwesenheit war nicht bemerkt worden.
Hedwig aber ging mit schweren Sorgen. Soviel hatte sie aus Konrad herausgebracht, daß er einem Menschen, dem er nicht gewachsen war, die Geliebte abjagen wollte, deren Besitz ihm selbst niemals blühen würde. Sie sah, wie er seine Zukunft hinopferte und sich in Gefahr brachte ohne Lohn und Dank. Aber auch bei den Eltern schien ihm sein Leben unmöglich geworden und sie hatte keinen Weg zu ihnen, sie zu warnen und zu bitten. Alles, was sie selbst unternähme, würde dort seine Lage verschlechtern. Sie brachte ihm denn Geld und Gepäck zur Bahn und nahm den Anschein auf sich, an seiner Flucht mitschuldig zu sein.
„Nun verlasse ich dich denn auch,“ rief er anklägerisch. „Gott verzeihe mir, aber es gilt, einen ahnungslosen Engel zu beschützen.“
„Der bin ich nicht,“ sagte Hedwig mit einem trotzigen Lachen und reichte ihm die Hand in den abfahrenden Zug. „Gott schütze dich. Komm, komm wieder!“ Und als sie traurig nach Hause ging, wiederholte sie es angstvoll wie im Gebet: „Komm wieder, komm wieder!“
Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht.
(Joh. 3. 8.)
E s war im Park von Versailles, Werktag vormittags, am einsamen Teich. Arabella saß im Gras. Sie hatte den breiten Florentinerhut neben sich gelegt. Eine weißliche Oktobersonne schimmerte auf ihrem Haar, das sie nun, wie es in Paris in diesen Tagen Mode war, in einer Krone aufgetürmt trug. Sie sah zu Mannsthal auf, der neben ihr stand und zu ihr herablächelte.
„Ich glaube, du warst einmal eine Bachstelze oder ein Reiherweibchen, Vögelchen,“ sagte er, „oder gar eine Schilfnymphe, eine Nixe. Es zieht dich immer zum Wasser.“
„Hier ist es schön,“ sagte sie. „In der Stadt dort ist alles so betäubend. Hier habe ich auch dich. Auch in der Nacht kommt noch all das Viele von den fremden Frauen dir nach. Da denkest du an sie. Hier ist Ruhe.“ Sie legte sich zurück und kreuzte die Arme hinter dem Kopf. Er blickte auf sie herab, als sähe er sie anders als sonst. Er antwortete ihr nicht, er wußte nur zu gut, was sie beunruhigte. Ihre Augen glänzten zu ihm auf, um ihre Lippen zuckte es und sie schien sie zu ihm emporzuheben, während ihre Arme eine kleine hilflose Gebärde nach ihm sandten.
„Hier nicht,“ sagte er leise. „Brennt es wieder?“
„Ja, es brennt,“ sagte sie mit einem wundersamen Lächeln.
Sie wohnten seit mehreren Tagen in Versailles, nachdem sie zuerst in Paris selbst abgestiegen waren, um später wieder dahin zurückzukehren. Mannsthal hatte jetzt müde Tage. Sein Magen widersetzte sich zuweilen selbst der leichten Pariser Kost. Er hatte Schmerzen. Der Gedanke, daß er ernstlich erkranken könne, verdarb ihm die Freude an Paris. Auch Vögelchen sah zuvörderst nicht die Stadt, sah alles, was sie umgab als Rahmen ihrer Leidenschaft, die im hellsten Feuer stand. Er fühlte in ohnmächtiger Furcht, wie alles das erreicht war, wie nur seine heißesten Träume es entzündet hatten und daß Gefahr drohte, es verloren zu geben, ehe es zur Neige gekostet war. Wenn er das geliebte Kind betrachtete, das so willig und eins mit ihm bis an die Grenzen der Lust gegangen war, kam ihn ein Grauen an bei dem Gedanken, sie diesem Feuer zu überlassen, das er nur mühsam mehr zu löschen vermochte. In diesen Tagen hatte Mannsthal Stunden höchster und nie gekannter Lust mit einer Gefährtin, die ihm völlig gewachsen war und ihm die Wunder märchenhafter Instinkte bescherte. Diese fast heilige Einigkeit ihres Feuers glühte den besten Kern seines Wesens rein und verursachte ihm Qualen, die nur die Erkenntnis seelischer Liebe zu geben vermag, wenn sie das angebetete Wesen durch eigene Schuld am Rand eines Abgrundes erblickt. Vermochte er an das Wunder zu glauben, daß ihre Liebe sich jeder Wandlung ergeben konnte? In Vögelchen, er wußte es und empfand es noch täglich glückhaft, in ihrer Umarmung war Trieb und Seele so innig verschmolzen, daß nur ein blutiger Riß, der ihr tiefstes Wesen zerstören mußte, diese beiden trennen konnte. Und war ein junger Organismus imstande Schmerz so tief zu erleiden, daß er das ganze Wesen durchdringen und wandeln konnte? Nein, es wehrte ihn mit starkem Gegenstoß ab, wenn er sein Innerstes berührte. Junge Menschen haben nicht die Porosität des Schmerzduldens, die Schmerzverwandlungsfähigkeit. Das wußte und fürchtete er. All diese Fragen waren Beschwichtigungen, Wahrheit blieb ihr heißes, immer verlangendes Blut. Sie konnte es nur durch Güte beschwatzen, sie konnte es nur niederringen, bis es dann selbst rächend sich wehren würde. Doch noch hatte er Zeit und vielleicht geschah das Wunder und eine leichte Ernüchterung brachte ihr Kühlung. Es peinigte ihn, daß er dies erhoffte, was er gleichzeitig fürchtete, und daß das, was er fürchtete, ihm wenig Hoffnung brachte. Denn noch war Arabella weißgeglüht vom Scheitel bis zur Sohle. An der Oberfläche ihrer Haut mußten Millionen elektrischer Fünkchen hausen, die seine Nähe schon zum leisen Aufknistern weckten. Sie war wie die Mahd blühender Wiesen, auf die Sonnenglut herabgesengt war und die nur eines glimmenden Hölzchens bedarf, um in Flammen aufzugehen. Sie war wie ein Sommertag, der an tausend Enden aufsprießt und ausbricht, der besprengt ist mit unendlichen Keimen. Er versuchte kleine Ablenkungen, er beschenkte sie mit Dingen, die sie beschäftigen sollten, mit erlesenen Kleidern und Schmuck. Aber sie besah sich kaum mit den kostbaren Perlen, mit der spitzendurchfluteten Wäsche, den ausgesuchten Gewändern und Pelzen. Sie war schon wissend genug, zu ahnen, daß ihre Liebe nicht von der Art war, die solcher Behelfe bedarf. Und er selbst schuf sich nur neue Qualen, wenn der Blick der Männer durch die Kostbarkeiten, die er ihr bescherte, stärkere Anziehung fand. Sie selbst sah die Aufmerksamkeit nicht, die ihr in dieser Stadt, in der wenige junge Mädchen zu sehen sind, zuteil wurde. Die Art, wie sie sich trug, ließ ja dem erfahrenen Pariser keinen Zweifel, in welcher Beziehung sie zu dem viel älteren und scheinbar reichen Herrn an ihrer Seite stand. Aber all die lächelnde Mitwisserschaft, die sie mit Blick und Wunsch streifte, erregte sie unbewußt noch mehr und das Augenspiel der Frauen, das Mannsthal und zuweilen ihr selbst galt, beunruhigte sie. Ihr Instinkt und ihre junge Erfahrung ließen sie sogleich erkennen, wie stark die sinnliche Atmosphäre hier das Leben durchwogte, daß alles rascher, häufiger, unausweichlicher geschah. Sie glaubte, daß diese Luft allein schon Mannsthal sättige, daß die Frauen ihn vielleicht besaßen, wenn er auch nicht von ihrer Seite ging: sie war eifersüchtig auf Paris. Aber sie täuschte sich. Adalbert fühlte ihren Wert hier mehr als an irgendeinem anderen Orte der Welt. Die Pariser Frau, die bewußte, stets wache, war ihm entwertet. Einmal verließ er Arabella und versuchte es mit äußersten Dingen, aber er kam angewidert und wie verarmt zu ihr zurück und jede ihrer Berührungen waren ihm Pein, weil sein Blick sich beschmutzt fühlte wie nie bisher. Und Vögelchens Aufblühen erlosch wieder, sie sah jetzt noch kindlicher aus in ihrer Blässe und Zartheit. Sie quälte sich an ihm und er mußte, sie zu beruhigen, Mittel anwenden, die sie erschöpften. Da plötzlich kam ihm ein feuriger Gast zu Hilfe. Er durchtobte sein Blut, warf neue Brände in seine Sinne, er durchraste seine Träume und rüttelte dunkle Kräfte in ihm auf: das Fieber! Aus jener Stunde an Rosinas Grab trug er es im Blute. Einmal schwanden ihm die Sinne, da fing sein löschender Blick Vögelchens Bild, wie es über ihm geschwebt hatte. In seinem Traum war sie Europa, in deren blondem Gelock wild der Sturm des Meeres sauste, wie er, der Stier, sie über den See trug. Und es war ihm, als schwinge Europa über ihm, dem Stier, eine feurige Peitsche, die Fackel der empörten Lust. Als er erwachte, saß ein taubenhaftes Wesen, im langen Nachtkleid wie in ein Büßerhemd gehüllt, an seinem Bettrand und kühlte ihm mit Madonnenhänden die heiße Stirn.
Nach den Fieberanfällen schien die Krankheit erloschen. Er fühlte sich wieder ganz wohl. Allerlei kräftigende Mittel hatten die Mattigkeit behoben. Aber er war doch ein anderer jetzt auch äußerlich, fahl und gelb, und Vögelchen schlich ängstlich um ihn her. Sie zwang sich ihn zu schonen, aber er empfand ihre Fürsorglichkeit als Kälte. Heimlich ersehnte er wieder das anfeuernde Fieber und er hatte, wenn sie nachts sich zärtlich, aber ohne Verlangen an ihn schmiegte, seine Freude daran, auch ihr eine böse Lust zu erwecken, es herbeizusehnen. Malaria, das schien nicht tödlich für ihn, nicht ansteckend von Mensch zu Mensch, aber es war zehrende Vergiftung und das vorzeitige Ende ihrer Freuden, die sich zur Sünde verzerrten, wenn sie nicht weiterglühten.
Um seiner Unruhe Herr zu werden, begann er sich mit Neuerwerbungen seiner Sammlung zu beschäftigen. Viele Stunden verbrachte er im Hotel Drouot, neue Schätze zu erwerben. Wieder faßte ihn Sehnsucht nach Erlösung, die ihm aus diesen Gebilden einer zärtlichen Kunst leuchtete. Als er eines Abends an der Rive gauche aus dem Laden eines Kunsthändlers trat, hielt eben eine Equipage und eine Dame, deren Gesicht halb verschleiert war, entstieg ihr und eilte an ihm vorbei. War sie es, war das Angele von Tirotzky hinter zwiefachem Schleier: dem der Jahre auch, die sich zwischen die kindlichen Erinnerungen gedrängt hatten, zu denen er oft in Not und Verderben Zuflucht genommen? Es trieb ihn zu dem Händler zurück und er fragte nach der Dame. „Eine Fremde,“ hieß es, „Madame de Twede, Frau eines Legationsrates.“ Würde er ihr wieder begegnen? Sie befaßte sich mit Kunstsammeln. Da war ein Weg und er konnte ein Wiedersehen dem Zufall überlassen.
Zu dieser Zeit begann Arabella mit Camill in Paris Wohnung zu suchen. Bald hatte sie eine passende gefunden, mit Garderoben und Dienermansarde. Sie eignete sich einige praktische Geschicklichkeit an, sie feilschte sogar mit Händlern und benahm sich überall wie eine leutselige kleine Königin, der man alle Gefälligkeiten schuldet. Mannsthal war verblüfft über ihren Ortssinn. In kürzester Zeit fühlte sie sich in den fremdesten Stadtteilen zu Hause. Sie wußte jede Abkürzung des Weges, jede Richtung, sie kannte die Häuser, die Gärten, die Kirchen. So ließ er sie denn auch ohne Camill allein umherstreifen. Er war sicher, sie würde, wie die Zugvögel im Herbst zu ihrem Nest jenseits der Meere, abends im Gewirr der fremden Straßen zu ihm zurückfinden. Dieser Instinkt hatte sie geleitet dort Wohnung zu suchen, wo Gärten und ein weiter Ausblick zu finden waren. Von einer Terrasse aus übersah man durch die schmalen, hohen Fenster des Hauses alte Bäume, eine verwitterte Kirche und in der Ferne Türme und Hügel.
Während Adalbert wieder müde war und kaum das Versailler Hotel verließ, entdeckte sich Vögelchen das Paris der alten Kirchen, die Gärten, den Louvre, die Museen, das Bois. Meist fuhr hinter ihr der Wagen, den Camill für den Herrn gemietet hatte, aber zuweilen entschlüpfte sie ihm und er erwartete sie erst an dem von ihr bestimmten Ort, von wo aus sie wieder nach Versailles zurückfuhr. Sie fand da Adalbert mehrmals in Gesellschaft eines jungen Engländers von außergewöhnlicher Schönheit, den er aber stets verabschiedete, um sie zu begrüßen. Der Jüngling erhob sich hünenhaft, verbeugte sich mit scheuem Blick auf die junge Dame und Mannsthal entließ ihn, ohne ihn jemals mit Arabella bekanntzumachen. Als Adalbert eines Morgens zum Frühstück kam, fand er Vögelchen im Gespräch mit dem Engländer. Arabella hatte selbst den Jüngling angesprochen. Es schien ihr selbstverständlich, einen Bekannten Vas als den ihren zu betrachten. An den darauffolgenden Tagen blieb sie in Versailles, fuhr mit dem großen Menschen im Kahn und besichtigte nochmals mit ihm das Schloß. Ein Ausdruck der Qual lag auf Adalberts gelblichem Antlitz, wenn Vögelchen dann vergnügt ins Hotel zurückflatterte. Als sie ihn neben dem schönen jungen Menschen sah, floß ihr Herz über vor Mitleid und Liebe und die Zärtlichkeit, die sie dem Freund erwies, machten den jungen Engländer erröten. Seit Mannsthals Krankheit war sie nicht mehr so lebhaft gewesen und sie riß beide Männer zu einer Fröhlichkeit hin, die dann noch der Champagner befeuerte. In Adalbert brannte gleichzeitig eine wahnsinnige Erregung und Bestürzung. Er wußte, ihr Trunkensein, das ja der Wein kaum noch erhöht hatte, gehörte nicht mehr ihm allein, es gehörte auch Norton nicht, es strömt schon ins Leben. Eine Kraft war in ihr geworden, die er erweckt und deren Herr er nicht mehr war. Er konnte sie nicht zurückleiten, sie war herrenlos, denn Arabella selbst besaß nichts, womit sie selbst sie hätte zügeln können. Sie lebte ja unbewußt ihrer selbst. Sie zu erwecken würde vielleicht den Todessturz der Nachtwandlerin bedeutet haben. Er hatte, da Arabella seiner nicht sorglich wie sonst geachtet, Diätfehler gemacht, er hatte getrunken und sich tagsüber in größter Unruhe über Vögelchens Spaziergang mit Cecil befunden. Er fühlte das Fieber aufsteigen. Als sie die Stiegen hinaufgingen, die nur mehr matt erleuchtet waren und Cecil in seinen Zimmern verschwunden war, drückte er sie an sich und die Liebkosungen seiner Hände versprachen ihr wieder die langersehnte Umarmung. Seine Augen leuchteten im Fieber, aber sie sah es nicht, sie hörte aus seinem raschen Atem nur die Ungeduld der Lust, die auch sie empfand. In dieser Nacht war sie wie rasend und am darauf folgenden Tag schloß sie sich ein wie damals, als es zum ersten Mal geschehen war.
Als sie abends erfuhr, daß Adalbert fiebere, kam sie leise zu ihm, kniete an seinem Bett nieder und weinte lange.
V ögelchen hatte Konrad all die Zeit her vergessen und es war ihr nicht eingefallen, ihm zu schreiben. In der Sainte Chapelle, in der sie in Verzückung stand, kam sein Bild und seine Worte sprachen zu ihr. „Und das, mein Ariel, ist das Geheimnis des Lebens, mit der Seele Lauterkeit muß man es durchtränken, mit des Herzens Honigseim es versüßen und sei es aus Galle und Unflat.“ In dieser hochaufstrebenden Kapelle, in dieser Kirche, die aus heiligem Stein und heiligem Glas gebildet schien, war ihr Herz Gott aufgeschlossen und gedachte derer, die seine Worte in ihr gestärkt. Und aus der Bedrängnis, in der sie lebte und in der nur Taumel und Trunkenheit ihr Ruhe brachten, sah sie nun einen Weg und ein Tor. Das Tor war strahlend wie die Fensterrose der Sainte Chapelle und sie wußte, hinter ihr blaute der Himmel, den sie vergessen hatte. Während sie stand und das Licht durch tausend Farben der Glasmalereien über sich ergossen sah, während sie sich eingeschlossen fühlte von den Legenden der Bibeln und ihre Augen an den Bildern streiften, wie man neugierig und doch mit halber Aufmerksamkeit in einem Buche blättert, da trat leise von der Vorhalle her Imanuel Givo ein. Er ging ganz leise, als wollte er die Andächtige nicht stören und, als sie mit einem leisen Rauschen des seidigen Gewandes sich zu ihm wandte, begegneten stille, dunkle und weise Augen aus einem schmalen Gesichte den ihren. Schwarz war alles an ihm, Haare, Anzug, Hut, das Buch, das er in schwarz behandschuhten Händen hielt. Nur seine Hautfarbe war leuchtend hell und ein rosiger, fast frauenhafter Hauch lag auf seinen Wangen. Es war Ruhe und Sammlung in ihm und eine freundlich wissende Anteilnahme an der Umwelt. Er glich einem weltlichen Mönch. Vor der Darstellung der Propheten stand er lange und trug Notizen in ein Buch ein. Dann wandte er sich gegen die Vorhalle und seine Gestalt war in ihren Rändern von Licht umflossen. Er hatte breite Schultern und schmale Hüften, was ihm eine edle Biegsamkeit verlieh. In der Haltung seines Kopfes drückte sich eine fast demütige Anmut aus. Als Arabella an ihm vorüberglitt, fiel ihr das Schultertuch herab und schleifte den Boden, so daß er sich wohl darin verfangen hätte, wäre nicht eben ein leichter Blick zu ihr gegangen. Das war nicht derbe Absicht und doch wie durch beider Wunsch herbeigeführt. Er beugte sich herab, ihr zuvorkommend, und sah dann in ihre Augen, die aufleuchtend dankten und groß und hell wurden an den seinen. Ihr blasses, ungeschminktes Gesicht mit den feinen Nüstern, dem schmal blühenden Mund schien ihm ortsfremd, und seine freundlich wissende Anteilnahme wandelte sich in ein zärtlich kühles Grüßen des Blickes, wie es etwa Könige haben, wenn ihnen ein schönes Weib Blumen in die Karosse wirft. Er ging hinter ihr her und sie fühlte seinen Blick wie ein Streicheln zwischen ihre Schultern rieseln. Sie ging über den Platz hinüber gegen Notre Dame zu, blieb dann am Pont Neuf stehen und blickte auf die Seine herab, die vom Regen der letzten Tage gelblich war. Hier packte sie ein Schwindel und sie hielt sich am Geländer fest.
„Sie sind nicht wohl,“ fragte Imanuel Givo hinter ihr. Er umfaßte mit einem leisen, angenehmen Griff ihre Hand. „Darf ich Ihnen einen Wagen besorgen? Oder wollten Sie —?“ Er wies mit einem vorwurfsvollen Lächeln auf den Fluß hinab. „Sie ist doch so schmutzig heute, die Seine.“
Arabella war bleich und unwirklicher war ihm niemals eine Frau erschienen. Ihre Augen sprachen immer noch hell aufgeschlossen in die seinen. Sie war unfähig ihm mit Worten zu antworten. Sie fühlte, etwas Entscheidendes war ihr geschehen. Er sah, daß sie sich in einem außergewöhnlichen Zustande befand. Sie bebte am ganzen Körper. Er wartete ihre Antwort nicht ab, rief einen Wagen an.
„Ihre Adresse?“
Sie nannte sie, während er scheinbar ohne Neugier, sie zu vernehmen, den Kutscher, der sie leise wiederholte, bezahlte. Er grüßte ernst, freundlich und ging wie einer, der nun seine Pflicht getan hat. Arabella hätte ihm folgen, ihn bitten mögen, ihr unter seinem weisen, stillen Blick länger noch Obdach zu gewähren. Aber der schwarze Engel mit dem wissenden Lächeln schickte sie fort aus seinem Leben und ging seiner Wege. Als sie vor ihr Haus kam, stand ein zerlumpter Mensch am gegenüberliegenden Haustor und verschwand alsbald im Dunkel der Flur. Ihr Blick war nach innen gekehrt. Sie erkannte Konrad Kruger nicht.
Wie im Traum lag sie dann auf dem Sofa in dem kleinen Salon mit den weißen Boiserien, die den Marmorkamin einschlossen, in dem schon Feuer brannte, weil Adalbert so häufig fror. Da trat unangemeldet Cecil Norton ein. Er hatte die Tür offen gefunden. Camill stand unten bei Konrad Kruger. Der junge Engländer, den Arabella ohne Mannsthals Zustimmung eingeladen hatte, legte einen Strauß kostbarer Blumen an ihre Seite nieder und blieb mit einem fragenden, unbeholfenen Lächeln vor ihr stehen. Sie lächelte wie durch einen Schleier zu ihm auf, ohne seine Frage, ob sie leidend sei, und seine Entschuldigung, sie derart überfallen zu haben, zu beantworten. Es war in ihr eine Unfähigkeit zu sprechen. Auch sah sie ihn kaum: sie spürte ihn. So blieben sie eine ganze Weile, nur daß sein Gesicht, als er die Hingestreckte anstarrte, allmählich den Ausdruck der Begierde annahm und sie ahnungslos, wessen Mienenspiel sie nachahmte, leise mit der Zunge schnalzte und mit den Augen blinzelte. Er verstand sie und erschrak, wiewohl ihre Gebärde ihm verhieß, wonach er ja verlangte, und er kniete nieder und berührte die Seide ihrer Strümpfe. Ganz leise zog sie ihr Kleid kniewärts, während ihr Kopf zurücksank und ein wundersames Lächeln über ihr Antlitz sich breitete.
Camill stand unten am Tor und hielt Wache, Ausschau nach Mannsthals Heimkunft. Indes schlich Konrad in die Wohnung. Einem Lichtstrahl folgend, kam er an die Türe des Salons. Da hörte er Stimmen, verworrene Laute. Zutiefst erschrocken, floh er zu Camill zurück.
„Jetzt nicht,“ keuchte er. „Es ist einer bei ihr.“ Sein Freund, der Kammerdiener, lachte boshaft. Konrad bezog wieder die Flur des gegenüberliegenden Hauses, in der er mehrere Stunden des Tages verbrachte. Bald darauf sah er Mannsthal heimkehren. Er erblickte seinen Schatten, dann ihn selbst auf der Terrasse, durch deren Fenster man in Vögelchens Zimmer sehen konnte. Adalbert stand unbeweglich, wohl durch die Vorhänge verborgen. Was er sah, erschien vollendet schön, aber eben dieses Entzücken, das weder Eifersucht noch Erregung in ihm aufkeimen ließ, diese Anteilnahme an dem Geschauten, die der Ehrfurcht beim Anblick eines Kunstwerkes glich, ließ ihn wie einen Unbeteiligten, der Arabella vor wenigen Monaten noch als Kind gekannt, das erschauernd sehen, was die Menschen ein Verbrechen nennen. Und kalt und schonungslos stellte er sich an den Pranger seines Gewissens. Wie hatte er jemals glauben können, Vögelchen sei vor der Berührung Fremder gefeit durch ihre Unschuld? Eben diese, die nicht ahnte, was ihr Blut befahl, ließ sie frei ihren Trieben folgen. Hatte sie denn eine Seele? Er durfte nicht mehr ihrer sicher sein, konnte sie nicht mehr sich selbst überlassen und, wenn er jemals ganz ruhig werden wollte, mußte er gesund sein und jung oder sie wegsperren in Einsamkeit.
Er gab Camill den Auftrag den Herrn abzuweisen, wenn er wiederkäme; aber dessen bedurfte es nicht, denn als Cecil Norton das Haus verließ, trat unten ein zerlumpter Mensch auf ihn zu und sagte: „Mein Herr, folgen Sie mir auf die Polizei. Sie haben gegen das Gesetz gehandelt.“
„Hund,“ knirschte Norton zwischen den Zähnen.
Aber der andere sah zu ihm auf wie ein gehetztes Wild, das sich plötzlich gewendet hat und seinen Verfolger angreift. „Ich weiß, was ich sage, mein Herr. Aber ich kann schweigen, wenn man meinen Hunger stillt. Ich habe auch nichts mehr anzuziehen. Ich habe die da oben wochenlang vergeblich gesucht, nachdem ich von weither ihr nachreiste. Als ich die Gottesbraut wiederfand, hieltest du, Elender, sie in deinen Pranken.“
„Sie sind wahnsinnig!“
„Das wird das Gericht feststellen müssen.“
„Ich habe nichts getan, was nicht schon an ihr geschehen war. Sie können nichts beweisen.“
„Ich bin nicht so einer, nein. Aber an Ihrer Achtung ist mir wenig gelegen,“ sagte der Zerlumpte. „Zahlen Sie — und wenn Sie wiederkämen, dann würde ich Sie aufs neue verfolgen. Hüten Sie sich, dieses Mädchen zu berühren. Es ist meinem Schutz unterstellt.“
Norton streifte den Verfolger mit einem scheuen Blick. Der Mensch sah ihn mit schrecklichen Augen an, murmelte einen Fluch. Der Engländer griff in die Tasche, zog Geld hervor und hielt es erwägend in der Hand, indem er eilig weiterschritt. Aber als er sich wandte, um es seinem Bedränger zuzuwerfen, war dieser wie ein Schatten im Gewühle verschwunden.
Zu Mannsthals großem Erstaunen erwähnte Vögelchen beim Abendessen nur flüchtig des Engländers Besuch, dagegen erzählte sie eingehend von jenem Fremden, der ihr in der Sainte Chapelle begegnet war. Immer wieder kam sie auf ihn zu sprechen und erging sich in Mutmaßungen, wer er wohl gewesen sein mochte. Die Stadt war jetzt für sie der Wunder voll. Würde er sich melden, der Seltsame? Sie lag nachts in tiefem Schlaf neben Adalbert, der wach war, ihren Atem belauschend und ihr leises Seufzen. In ihrem Traum sandte sie ihre Sehnsucht aus nach dem Fremden und beschwor seine Gedanken. Der Traum aber war nicht erdgebunden, nicht wunsch- und drangvoll. Es war ihr Traum von Gott, von Demut und Unendlichkeit, der um Imanuel Givo blühte.
A ls er in Paris angekommen war, fand er es zunächst erstaunlich, daß, wiewohl die Mitternachtstunde nicht fern, viele Menschen vor kleinen Tischen dichtgedrängt auf der Straße saßen und trotz des betäubenden Straßenlärms sich mit lebhafter Behendigkeit gegeneinander gebärdeten. Nach der Schwüle der unbequemen Fahrt atmete er erlöst die Luft, in der er wie in einem flüssigen Duft die Meeresnähe zu spüren meinte. Wie ein Genesender empfand er, der nach dem Kerker der Krankheit wieder das Leben umfängt. Die Haft seiner Sehnsucht, die rasselnden Ketten seiner Gedanken, die ihn so lange gekerkert hielten, das Fieber seiner Unrast fiel von ihm ab. Am liebsten hätte er den heiligen Boden, der Ariel trug, geküßt, knieend ihn begrüßt und schwer nur trennte er sich von den Straßen, um den Gasthof aufzusuchen, den er in seinem Reiseführer ausgewählt. Dahin hatte er sich auch Camills Nachricht erbeten. Nach seiner Berechnung konnte sie schon am künftigen Tage eintreffen. Ja, es war nicht unmöglich, daß er selbst erschien und heimlich Vögelchen mitgeflattert kam. Es fand sich, daß die Angaben des Führers in bezug auf Hotel Riat von der Wirklichkeit überholt waren. Man hatte da einige Neuerungen und Verschönerungen ausgeführt, die den mäßigen Preis, der Konrad dahin gelockt hatte, um ein Beträchtliches erhöht hatten. Man empfing ihn mit seinem kleinen Handkoffer — eine Kiste mit Büchern und Manuskripten hatte er noch auf dem Bahnhof belassen — nicht sonderlich erfreut. Er war indes vorläufig mit allem zufrieden und tröstete sich mit dem Gedanken, daß er, sobald Camills Botschaft eingetroffen, sich billigeres Quartier suchen wollte. Als er nach neun Uhr erwachte, rasch angekleidet in das Bureau hinabstieg, wo unter einem Haken für den Türschlüssel das Brieffach der Mieter sich befand, gähnte ihm das seine leer entgegen. Zu seiner Befriedigung erfuhr er, daß alsbald die zweite Post eintreffen würde. Er setzte sich in die Frühstücksstube, nahm, da er tags zuvor nicht zu Abend gegessen, ein reichliches Mahl und wartete. Wiewohl er voll Ungeduld war die Stadt zu sehen, schien ihm doch nichts wichtiger als Camills Brief. Aber bald erfuhr er zwiefache Enttäuschung. Der Kellner erschien mit einem Teller, auf dem ein Papier lag. Ein freudiger Schreck durchfuhr ihn, Camill oder gar Vögelchen waren da und sandten ihm ein Wort. Oh weh, es war die Rechnung nur und sie war wahrlich nicht gering. Der Kellner meinte, des Jünglings Bestürzung gelte dieser allein und mitleidig riet er ihm, da er kein Trinkgeld erhalten hatte, doch in Zukunft in einem der kleinen Kaffeehäuser zu frühstücken, wo man stehend seine Tasse Kaffee tränke und nur wenig zu bezahlen hätte. Konrad zog nun aus, beschwingt wie einer, vor dem eine zauberhafte Welt sich auftut. Das zirkusbunte Straßenleben, das starke Augenblicksgefühl, das hier den Menschen zu eigen und atmosphärisch sich mitteilt, berauschte ihn, daß wie in einer Vision, wie aus einer Versenkung, mit der Kraft des Wunders das alte Paris erstand. Es erschien ihm nun ferner und märchenhafter denn zu Hause, als er aus Büchern und Bildern seine Schönheit zu enträtseln sich mühte. Er verstand sogleich, weshalb es die Künstler aller Länder in diese Stadt zog und was hier ihre Kunst erneute und fruchtbar machte. Es war der Kontrast vom heiß pulsenden Leben, der Geist und Sinne anfeuerte, und jenes zauberhafte Verlorensein in einer betäubenden Vergangenheit. Das Erlebte konnte sich in die Dämmerung des Entschwundenen retten, das seine Denkmäler zurückgelassen, es blieb nicht Leben allein, es wurde Bild, Idee, Traum, Sehnsucht, Ekstase. Denn niemals drang man ganz ein, immer blieb dies Wechselspiel vom Wachsein des Blutes und den Symbolen der Zeitenläufe, die starke Lebendigkeit und das legendäre Schweigen der Steine rätselvoll. Alles Geschaut-Erträumte lebte sich aus in diesem Verlorensein und erzeugte neues Leben. Genießen schien nicht Müßiggang und Arbeit Genuß. Hier konnte man der Welt abhanden kommen und spürte sie nirgend stärker. Als er im Luxembourggarten saß, von Studenten umgeben, die von den nahen Hochschulen kamen, wo er von dem Geist der Dichter, die hier geträumt hatten, sich umschwebt glaubte, vom vielen Wandern wohlig ausruhend, den Blick auf Terrassen, Fontänen und Kunstwerke, umzwitschert von puppenhaften Kindern, glaubte er zu träumen und fürchtete den Augenblick des Erwachens in seiner kleinen Stube im Elternhaus oder in einem der gewohnten Gärten der Vaterstadt. Er betastete die Bank, er horchte auf die fremden Laute der Vorübergehenden, er atmete die Luft, die nicht die heimatliche war und sich köstlich einsog: nein, er irrte nicht. Und dies war nicht nur Paris, dies war Ariels Wohnstatt. Verzückung machte sein Herz schwellen. Warum brach er nicht auf, sie zu suchen, fragte die vornehmen Hotels ab, belauerte die Wagen, die ins Bois fuhren? Warum saß er da, dieweil schon in seinem Gasthof ein Brief ihn zu ihr rief? Er vermied Fahrgelegenheit aus Ersparungsrücksichten und auch, um nichts vom Straßenbilde zu versäumen. Eilig stand er auf. Am Seineufer aber fesselten ihn die Buchtrödler, er wühlte in Kisten, er las stehend, er gab Geld aus. Dann befiel ihn Hunger. In einer kleinen Butike sah er die Speisekarte ausgehängt und kulinarische Kostbarkeiten, die er nur von Festen kannte, waren um geringes Geld ausgeschrieben. So tafelte er denn. Um so gewisser würde der Brief eingetroffen sein, wenn er ins Hotel zurückgekehrt war. Als er dessen Flur betrat, starrte ihm schon sein Brieffach entgegen: es war leer. Er ging auf sein Zimmer, in dem es dumpf nach der Seife seines Vorgängers roch, und warf sich auf das Bett. Von draußen kam der Straßenlärm, den der nahende Abend zu verdoppeln schien. Er fühlte sich mit einem Male verlassen in dem Getriebe der großen, fremden, rätselhaften Stadt. Und plötzlich fiel ihm auch seine Mission ein und legte sich lastend auf sein Gewissen. Schon war ein Tag versäumt, es war nichts geschehen für das Brot, das ihn nährte. Wo war Ariel?
Am nächsten Morgen suchte er ein Meldeamt, aber er fand es nicht. Auf dem Konsulat fragte er dann nach Arabella Mannsthal, schließlich nach Camill Custove. Die Formulare kosteten einiges Kleingeld und brachten die Antwort: unbekannt. Er schrieb nach dem Schweizer Gasthof, ersuchte um die Adresse des zugereisten Camill Custove. Er schrieb an Monika Gallo, sie möge ihm Camills Aufenthalt angeben. Er wartete noch einen Tag ab. Er bat Hedwig nachzufragen, ob daheim für ihn nicht postlagernde Briefe eingelangt seien. Aber all dies blieb erfolglos. Zunächst bezog er ein billiges Zimmer am linken Ufer unweit von Saint Etienne, nachdem er Auftrag gegeben, ihm einlangende Briefe sogleich nachzusenden. Aber seine Unruhe trieb ihn selbst immer wieder nach dem Hotel Riat zurück, bis man ihn dort unfreundlich empfing. Indes begann er sich mit dem Gedanken abzuquälen, Vögelchen sei unterwegs erkrankt, es sei Unheil über sie hereingebrochen, während er, der Retter, vielleicht ganz nahe, ohnmächtig sie suche. Stundenlang saß er in den Champs Elysees und fragte die Wagen nach ihren Insassen ab oder er beobachtete die Leute, die in den vornehmen Hotels aus- und eingingen. Nach einigen Tagen erst entsann er sich seiner Bücherkiste. Er trat den Weg zum Bahnhof an. Zu seinem Schrecken erfuhr er, daß diese mangels Nachfrage in ein entferntes Depot geschafft worden sei. Er verbrachte einen Tag, um wieder in ihren Besitz zu gelangen, und verausgabte in der Angst sie zu verlieren einen beträchtlichen Finderlohn. Die Kiste enthielt das Manuskript seines Heiligen Bernhard. Als er endlich das schon verloren Gegebene in seinem engen Zimmerchen vor sich ausbreitete, kam ihm neuer Lebensmut. Er sagte sich, daß er es so nicht weitertreiben könne, lieber wollte er still auf den Zufall warten als sich müde hetzen, ihn gewaltsam zu erzwingen. Er begab sich auf das Konsulat, wies seine Papiere vor und ersuchte um Zuwendung eines Schreiberpostens. Es war kein geeigneter Posten frei, man merkte sein Ansuchen vor. Die nächsten Tage galten dem Besuch des Louvre und der übrigen leicht zugänglichen Museen. Dann wanderte er von Kirche zu Kirche. In der Sainte Chapelle geriet er in ekstatische Ergriffenheit. Vor Notre Dame erlebte er Verzückungen. Stundenlang forschte er in den Reliefs, studierte die Martyrien, suchte sich die Gestalten des alten und neuen Testaments zu erklären, die Giebelfelder, Balustraden und Nischen bevölkern. Geheimnisvoll zogen ihn die Ungeheuer an, die dort, wo die breiten Türme sich massig in die Luft erheben, grinsend auf Paris herabblicken. Die sagenhaften Vögel mit riesenhaften Klauen angeklammert, die Teufelchen, Drachen, Affen, Gespenster und Höllenzwerge, gepaart oder einzeln, stierten ihn wissend an, als ständen sie gerade mit ihm in geheimnisvollem Einverständnis, als hätten sie Jahrhunderte lang geharrt, ihm verschwiegene Botschaft zu übermitteln, ihre Rätsel nur ihm zu entsiegeln. Er schwelgte weiter vor St. Julien le Pauvre und glaubte das zwölfte Jahrhundert zu erwecken, indem seine Hand den kalten Stein berührte. In Saint Germain l’Auxerois entzückte ihn die heilige Genovefa, die Schutzheilige von Paris, die seine Träume mit Ariel vermengten. Sie trägt dort eine kleine Kerze, die ein Teufelchen sich auszulöschen müht. Er meinte Vögelchens Kinderhände zu sehen und das Licht, das flackernd ihr Antlitz bescheint. Schon war er acht Tage in Paris und ein Drittel seines Geldes war aufgebraucht. Mehrmals hatte ihn der Regen durchnäßt, sein Schirm war ihm in einer Brasserie gestohlen worden. Manchmal fühlte er die ganze Stadt als ein Fremdes, das ihn mit allen Mitteln ausstoßen wollte. Die fremde Sprache schob sich wie eine Wand zwischen sie und ihn. Oft fürchtete er nach dem Mindesten zu fragen, um nicht lächerlich zu scheinen. Er beneidete den Pflasterstein, der hier zu Hause war, und seine Sehnsucht war, was immer für einen Beruf zu bekleiden, um nur irgend zur großen Maschine dieser Stadt zu gehören, die ihn um so mehr reizte, als sie ihn verstieß.
In der zweiten Woche begab er sich in die Nationalbibliothek und erstickte seine Unrast in den Büchern. Sein Zimmer war ja nur ein finsteres Loch, in ein düsteres Gemäuer gehöhlt, das ameisengleich bewohnt war. In den schönen Sälen sparte er Licht und der Regen verschonte ihn. Er fand sich so gut zurecht, daß er seinen Heiligen Bernhard umzuarbeiten begann. Zwischendurch grinste ihm aus der Zukunft das Gespenst des Hungers und der Verzweiflung entgegen. Was ihm sonst Lebenszweck in erhöhter Form gewesen wäre, Studium, Kunstbetrachtung, innere Bereicherung im neuen Erleben, es war ihm nun Betäubung, gelinder Rausch, der eine Wirklichkeit vergessen ließ, die ihn Ariels beraubte. Ihm war wie dem Verdurstenden, der die Quelle rauschen hört, verborgen, unerreichbar. Sein Ohr trinkt den Laut, aber sein Gaumen verdorrt. Gott ist ihm nahe, aber er geht nicht ein in ihn. Er kann der Seligkeit nicht teilhaftig werden.
Witwe Leroux kramte in Konrads Kasten. Ei, was für vornehme Sachen dieser Hungerleider hatte! Diese Krawatte würde für Charles sein, wenn er des Sonntags aus der Fabrik kam, und diese Kragen für Gaston. Vermißte er sie, mochte er sie eben beim Umzug vergessen haben. Sie besorgte ihm die Wäsche, ein oder das andere Hemd konnte da immerhin auch verloren gehen. Sonntag erschienen Gaston und Charles, ihre Söhne. Sie waren beide Maschinenschlosser. Nach kurzer Beratung klopften sie bei Konrad an. Sie stellten sich vor, verschwiegen ihre Vorzüge nicht, Charles war Kunstfahrer auf dem Rade, Gaston verdiente als Clown zuweilen ein paar Francs über seinen Fabrikslohn. Sie luden Konrad umständlich ein, den Nachmittag mit ihnen zu verbringen. Er hätte sicher Paris nicht von der heiteren Seite gesehen. Niemand würde ihn besser zu führen verstehen als die Brüder Leroux. Die Mutter kam hinzu und hörte mit geheuchelter Entrüstung die Vorschläge ihrer Sprößlinge. „Aber nein, welch ein Einfall, der Herr ist doch zukünftiger Priester,“ rief sie aus. „Und was macht das,“ fiel ihr Gaston in die Rede. „Was, Charles, du erinnerst dich doch an Abbe Griot, welch guter Kamerad!“ „Nun ja, aber treibt es nicht zu bunt,“ sagte die Witwe mit Würde. Konrad war nicht gerade abgeneigt die Einladung anzunehmen. Seine psychologischen Beobachtungen, seine Kritiken über Lebensführung hatten hier noch keine Bereicherung erfahren. Noch waren ihm die Sitten, die Sprache in all ihren zarten und rohen Feinheiten nicht vertraut genug. Er willigte ein die Brüder zu begleiten. Er wolle nur den Zuschauer abgeben, sie sollten für ihn ihre Gewohnheiten in keiner Weise ändern. „Es gibt Sonntage und Sonntage,“ sagte Charles, und sie zogen aus. „Wissen Sie, bei uns unternimmt man nichts ohne die kleinen Frauen,“ erklärte Gaston und sogleich, als hätte ein Zauberstab sie aus der Erde geholt, traten aus dem gegenüberliegenden Haustor zwei geschminkte Mädchen, die dort schon auf den Auszug der Brüder gewartet hatten. „Seid vernünftig, Kinder,“ ermahnte Charles, „der Herr, der uns die Ehre gibt, mitzuhalten, ist beinahe Priester. Dies, Herr Kruger (Krüschee sprach er es aus), sind Germaine und Marguerite, unsere Nachbarinnen, beide in einer Posamenteriefabrik beschäftigt, wenn sie nicht eben daran verhindert sind.“ Sogleich bekam Charles einen Schlag für seine allzu ausführliche Vorstellung. Marguerite, die einen sanften Augenaufschlag hatte, der ihre geschminkten Wangen komisch erscheinen ließ, hielt sich sogleich an den „Herrn Abbe“ und erzählte ihm, sie habe ihn schon mehrmals in der Gasse gesehen und bedauert, daß er von ihr keine Notiz genommen. Gaston schlug vor, daß man tanzen gehe. Man nahm den Weg nach den äußeren Boulevards. Nach verschiedenen Beratungen, von denen Konrad wenig verstand, landete man in einem rauchigen, trotz Tageslicht stark beleuchteten Saal, den eine niedere, in Logen eingeteilte Galerie umgab. Germaine und Marguerite hatten sogleich eine ausfindig gemacht, die noch unbesetzt war. Der Kellner kam und sie bestellten Wein und Backwerk. „Da ist es doch hübsch,“ sagten die Vier im Chorus und begannen gleich das Gelage. „Sind Sie mit unserer Wahl zufrieden, Herr Abbe?“ In diesem Augenblick setzte die Musik ein. Germaine packte Gaston und gleich verschwanden sie im rauchigen, denn noch grellfarbigen Gewühle der tanzenden Paare. Die Frauen schienen, so vermerkte Konrad, hier der angreifende Teil. Sie waren alle ausnahmelos aus irgend einem Grunde begeistert. Die einen trugen Bebekostüme aus hellfarbigem Atlas, die anderen große Federhüte und Ballerinenröckchen, elegant stachen die Mädchen in einfach geschnittenen Straßenkleidern ab. Sie sahen aus wie Damen der guten Gesellschaft, die sich herabgelassen haben, das Fest zu ehren. Dazwischen tummelten sich die Germaines und Marguerites, die sonntäglich aufgeputzt waren. Als die Musik, ein entsetzliches Geknirsche und Gekreische, innehielt, kam das tanzende Paar zurück. Germaine warf sich erschöpft auf einen Stuhl und man stürzte rasch einige Gläser hinunter. Gleich begann wieder die Kapelle ihr Gefiedel. Germaine sprang auf, zerrte wieder Gaston mit sich und nun brach auch Charles auf, winkte einem roten Domino und walzte mit ihm in das Chaos hinein. Marguerite rückte nun Konrad ganz nahe. Sie hatte die Ellbogen auf den Tisch aufgestützt und blinzelte zu ihm auf. „Du tanzt wohl nicht, kleiner Abbe,“ sagte sie und lehnte ihr Knie gegen das seine. „Nun, man ist auch ganz gut hier, nicht wahr? Später werden wir herumgehen. Man kann sich auch zurückziehen. Mußt nicht so schüchtern sein, Herr Abbe. Bei uns ist das nicht üblich.“ Konrad, der Einsame, fühlte die Wärme eines menschlichen Körpers neben dem seinen. Daß die da unten walzten, daß sie sich aneinander warfen, sich preßten und zerrten, das hatte wohl die Natur so vorgesehen. Und er fühlte merklich, daß sie auch in ihm ein Wörtchen zugunsten des benachbarten menschlichen Körpers sprach. Er erwiderte zunächst alles, was sie tat, mit tiefem Ernst allerdings. Er sagte sich, daß er zwar, beteiligte er sich nun gegen seine Gewohnheit am Treiben der anderen, seine Beobachtungen nicht objektiv bereichern würde, aber er versuchte sich zu überzeugen, daß ein wahrer Kritiker eigener Erlebnisse bedurfte. Marguerite hatte Mühe, dem schwermütig agierenden Abbe gegenüber ernst zu bleiben, aber sie hatte sich eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit angeeignet. Sie verfiel denn alsbald auch in tiefe Melancholie. Konrad war nun überzeugt von der Notwendigkeit eines engeren Anschlusses an Marguerite. „Gehen wir herum,“ sagte sie und stützte sich schwer auf ihren Begleiter. „Kellner, die Rechnung.“ Konrad erschrak. Sie bemerkte es. „Zahlen Sie einstweilen, wir können sonst nicht die Loge verlassen.“ „Und die Anderen?“ „Ich hoffe, die werden uns nicht stören,“ sagte Marguerite und blinzelte. Der Kellner überreichte die Rechnung. Konrad nahm sie und mit schweren Händen das Geld aus seiner Brieftasche. Er sah nicht, wie der Bursche dem Mädchen etwas hinschob, den Gewinnanteil für den neuen Gast. Marguerite liebte dies Lokal, nicht überall war man so large. Sie verlor sich sogleich mit ihrem Kavalier in den Seitengängen. Es gab da neuerdings Logen mit Vorhängen. Vor einem verdunkelten Saal wurde Entree abverlangt. Dort ließen sich Nackttänzerinnen sehen. Marguerite nahm zwei Karten. Konrad bezahlte. In dem übelduftenden Zimmer war solch ein Gedränge, daß man wenig nur von den Tänzerinnen erblicken konnte, die überdies nicht viel mehr sehen ließen als manche der kostümierten Frauen des großen Tanzsaales. Aber das Gedränge gestattete den Paaren allerlei Freiheiten. Bald sah Marguerite den Augenblick gekommen, Konrad in eine der verhängten Logen zu ziehen, wofür neuerdings bezahlt werden mußte. Champagner zweifelhafter Sorte stand bereit. Marguerite hatte bald Gelegenheit, ihren Abbe etwas lächerlich zu finden. Aber sie war trotz aller Routine im Geldverdienen ein leidlich gutes Mädchen. Sie entließ Konrad ähnlich wie jene venezianische Courtisane Rousseau, die ihm sagte: „ Zanetto lascia le donne e studia la matematica. “ Konrad war froh, daß Marguerite sich bald unter dem Vorwand, im Saale eine Freundin zu suchen, entfernte. Im Tanzsaal sah er wohl die beiden Brüder Leroux. Gaston war eben im Begriffe, mit rotgeschminkter Nase und eingedrücktem Claquehut seine Clownspäße zum besten zu geben. Aber Konrad zog es vor sich heimlich davonzustehlen. Diese merkantile Gesellschaft flößte ihm Schrecken ein.
Um dreißig Francs ärmer, schlenderte er geknickten Herzens über den Boulevard nach Hause und schlich dort leise in sein Zimmer, damit die würdige Mutter ihrer Söhne ihn nicht störe. Er verriegelte die Türe und fiel bald darauf dank der ungewohnten Genüsse in tiefen Schlaf. Man sollte glauben, daß es Konrad nach diesen Erfahrungen nicht weiter gelüstete das heitere Paris zu genießen. Nachdem er schließlich immer bereit, die anderen zu rechtfertigen, zu der Meinung gelangt war, daß die beiden Leroux an der Geldausgabe und an der Unzulänglichkeit dieser einen Genuß zu verdanken, unschuldig seien, er hingegen ein eitler Tropf gewesen, der seine Armut nicht rechtzeitig eingestanden habe, ertappte er sich dabei, nach Marguerite auszuspähen, wenn er durch ihre Gasse ging. Er fand sie auch eines Tages wie zufällig an einer Ecke stehend und, da sie augenblicklich kein Geld hatte, war ihr auch mindere Kundschaft willkommen. „Mein armer Junge,“ sagte sie, „diese Leroux haben dich neulich schön gewurzt.“ Sie sagte etwas von „poire“, das Konrad nicht verstand, aber er fühlte ihre Teilnahme und das beglückte den Einsamen. „Als ob man nicht auch ganz solide miteinander fröhlich sein könnte. Wenn du mir ein Drittel dieses Geldes gegeben hättest, würde ich dir das schönste Fest verschafft haben und wir hätten es bequemer gehabt als dort, wo es kein Wunder ist, wenn ein guter Junge, wie du — —“ Sie vollendete nicht, sondern kniff ihn in den Arm. Sie merkte, daß ihm das wohl tat. „Nun, bist du jetzt frei? Wollen wir ein kleines Abendessen besorgen und zu Mutter Leroux hinaufsteigen? Sie wird uns nicht stören, ich kenne sie.“ Marguerite lachte und kniff ihn von neuem. Konrad war mit allem einverstanden. Sie kauften ein, indem sie sich den Anschein gab, nur für Konrad auszuwählen. „Nun haben wir Wein und allerlei Leckerbissen und das Ganze kostet nur sechs Francs. Hast du sie bei der Hand?“ Konrad fand das wirklich preiswürdig, obwohl er mit dieser Summe sonst drei ganze Tage sich verköstigte. Mutter Leroux war nicht zu Hause. Marguerite aber wußte Bescheid. Sie deckte den Tisch und brachte alles Nötige herbei. Nachdem sie gegessen hatten und der Wein Konrad mutig gemacht hatte, zog er Marguerite auf das Bett, aber sie sprang rasch auf, indem sie ihm lachend einige Püffe versetzte, und sagte: „Halt, mir fällt ein, Frau Lapin, die Kaufmannsfrau, hat mir drei Francs zuviel herausgegeben. Ich habe sie in dein Portemonnaie gesteckt. Ich war so verwirrt und sie hatte eben so viele Kunden.“ Sie öffnete rasch seine Börse und entnahm ihr fünf Francs, die sie in ihre Tasche gleiten ließ. „Ich will sie ihr morgen zurückgeben.“ Dann kam sie zu ihm zurück und diesmal gab er ihr keine Gelegenheit zum Spott. Als sie noch nebeneinander lagen, kam die Leroux herein. Sie begann zu schimpfen, daß man ihr schönstes Geschirr verschleppt hätte ohne sie zu fragen, daß dem Herrn weder Service noch derartige Bedienung in seinen Zins eingerechnet sei und daß man sie außerdem der Gefahr ausgesetzt wegen Kuppelei bestraft zu werden. Sie werde dies alles nicht auf sich beruhen lassen, wenn man sie nicht im voraus für alle Unzukömmlichkeiten entschädige. Konrad war jäh aus seinem Traum erwacht. Des Morgens hatte er Beaudelaires Gedichte gelesen (er wollte das eine oder das andere übersetzen). In ihm sangen noch die Verse von „Parfum exotique“:
„Quand, les deux yeux fermés, en un soir chaud d’automne,
Je respire l’odeur de ton sein chaleureux
Je vois se dérouler des rivages heureux
Qu’éblouissent les feux d’un soleil monotone —“
Und Vögelchens Bild stieg in einer Gloriole auf:
„Und sei’s zur Nacht, im einsamen Gelaß,
Im Straßenlärm, im wüsten Stadtgetriebe,
Ihr Bild in Lüften strahlt mir wie die Sonne.
Manchmal da spricht es: Ich bin schön, oh laß
Vom Schönen nur dich leiten, mir zu Liebe,
Schutzengel, Muse bin ich dir, Madonne!“
Vögelchens Lippen lispelten es und sie waren bleich wie die einer Toten. Und nun hörte er die Stimme der Leroux, die heiser kreischte, und er hörte sie nicht. Marguerite hatte sich unter die Decke versteckt, kicherte und biß ihn dabei in den Arm. Er riß sich los, sprang auf und indem er mit drohender Gebärde der Leroux den Weg verstellte, schrie er: „Wenn Sie nicht schweigen, werde ich die Anzeige machen, daß Sie mir meine Wäsche gestohlen haben. Morgen verlasse ich Ihr Haus. Adieu.“ Die Frau hob die Hände, als fürchte sie, der Wütende würde sie schlagen. Sie hatte alles eher erwartet als in dem linkischen Mieter, der sich so viel gefallen ließ, einen Herrn zu erblicken, der ihr nun gebieterisch die Türe wies. Als sie draußen war, hüpfte Marguerite aus dem Bett. „Ungeheuer,“ sagte sie, „diese schmutzige Witwe! Ich suche dir eine andere Wohnung. Indessen kannst du bei mir schlafen. Da machst du noch ein Geschäft dabei.“ Als sie gegangen war, vermißte Konrad seine Uhr. Er wußte nicht, ob nicht etwa die Leroux sie rasch entwendet hatte, während der Traum ihn noch in Marguerites Armen umfangen hielt. Er packte seine Sachen, schlief dann bis gegen Mittag, bezahlte die Leroux, indem er ihr noch einen Teil der gestohlenen Wäsche abpreßte, und verließ fast mittellos das Haus. Sein erster Weg war aufs Postamt. Dort fand er ein Schreiben von Monika Gallo, die ihm mitteilte, daß sie vom Onkel Camill eine Karte aus Paris erhalten habe ohne Angabe der Adresse. Sein zweiter Weg war auf das Konsulat, um nachzufragen, ob man dort eine Stellung für ihn gefunden. Die Antwort war abweisend. Man käme nicht nach Paris ohne Mittel und Empfehlungen, man täte besser, keine Vergnügungsreisen zu machen, wenn es einem an Geld fehle. Wenn er hungere, könne man ihn schließlich in die Heimat befördern, das wäre alles, was von Amts wegen vorgesehen sei. Aber Konrad wollte nicht in jene Heimat. Seine Heimat hieß: Ariel. So wurde er denn vorderhand Zuhälter bei Marguerite Aupin.
Er hatte an Monika geschrieben und sie ersucht, bei Custoves Bekannten nachzuforschen, er schrieb an Hedwig, ob sie ihm Rat wisse, aber er verschwieg ihr seine Notlage. Um keinen Preis hätte er von Hedwig Geld genommen. Marguerite erhielt ihn. Sein Leben war nun geteilt zwischen der Bibliotheque nationale, den Kirchen, dem Luxembourggarten und den Schenken, in die er das Mädchen begleitete. Er war verliebt in Marguerite und er reizte sie, damit sie ihn schlüge. Sie hatte ihm sein letztes Geld abgenommen unter dem Vorwand, ihn zu verköstigen, was indessen nur geschah, wenn sie zusammen in Kneipen gingen. Einige Tage arbeitete er für das Mittagessen als Messerputzer in einem Gasthaus. Als es bekannt wurde, wie er zu der Aupin stünde, die dort Geld schuldig war, entließ man ihn. Das Ärgste war, daß er dabei sein mußte oder im Vorraum ihres Zimmers, wenn sie Besuch hatte. Oft hatte er das Geld entgegen zu nehmen für ihre Gefälligkeiten. Eine tierische Eifersucht hatte ihn befallen. Marguerite ließ sich kaum mehr von ihm berühren. Er sollte doch zu den „ femmes à cheveux “ gehen, den Dirnen ohne Hut, und sich das Geld vorerst für sie zusammenbetteln. Einmal aber, als sie ihn weinen sah wie ein kleines Kind, blieb sie eine Nacht lang in seinen Armen. Er hatte ihr in diesen Stunden sein Leid geklagt und sie war ergriffen. Sie versprach ihm die Hilfe eines befreundeten Detektives. Indes suchte er wieder Paris ab. Die Gewißheit, daß Vögelchen ihm nahe war, machte ihn in all seiner Verblendung oft trunken vor Glück. Es war schon kalt geworden und er hatte seinen Mantel versetzt. Niemand kannte wie er die Besuchstunden der Galerien und Bibliotheken, die er zu seinen Wärmestuben erwählt hatte. Er kam als erster und die Diener rasselten schon mit den Schlüsseln, wenn er ging. Nun stand er auch wieder vor den Brasserien und sättigte sich an dem Bratenduft, der aus den Räumen drang. Manchmal trat er in einen Laden, wartete geduldig, wenn Käufer anwesend waren, und verlangte dann etwas, das man gewiß nicht bekommen konnte, nur um sich zu wärmen. Endlich brachte ihm Marguerite Nachricht von Camillo.
V ögelchen hatte nun von Konrads Anwesenheit und seiner traurigen Verfassung erfahren und ihm durch den Diener Geld gesandt. Sie lief Geschäfte ab, um für ihn einzukaufen. Sie besorgte feine Krawatten, nicht ahnend, daß er längst nicht mehr den Kragen dazu besaß, und Leckerbissen, zu denen es ihm an Brot fehlte. All dies versteckte sie wie ein Kind, das sich eines Geheimnisses freut. Schließlich forderte sie von Camill Konrads Adresse. Indes ereignete sich folgendes: Der Salon der Karikaturisten veranstaltete seine Ausstellung. Mannsthal, der unter Künstlern und Händlern bekannt war, bekam eine Einladung zur Eröffnung. Dort sah er Angele von Twede wieder und ein Attache der xten Gesandtschaft stellte ihn der Frau des ausländischen Kollegen vor. Angele begrüßte Adalbert Mannsthal freudigst. Als er aber nach Gilbert von Tirotzky, ihrem Bruder, fragte, von dem er seit Jahren nichts mehr gehört hatte, breitete sich ein Schatten über die Lichtheit ihres Antlitzes. Warum sollte sie es seinem ehemaligen Kameraden verheimlichen? Er sei in der Bedrängnis einer der Familie unerklärlichen Erpressungsaffäre freiwillig aus dem Leben geschieden: Mannsthal erbebte in seinen Festen, als er es erfuhr. Er wurde bleich und fand kaum die Sprache, seine Bestürzung zu äußern. Er wußte, wer einst der Verführer Gilberts gewesen, und ahnte, welcher Art die Erpressung gewesen sein mochte, die ihn schließlich zum selbstgewählten Tode trieb. Diese königliche Frau, die mich mit ihrer Huld beglückt, sagte er sich, sie weiß nicht, daß sie mit dem Mörder ihres Bruders spricht. „Mama ist daran gestorben, bald nachdem wir Ihnen in Homburg begegnet waren,“ sagte Frau von Twede. „Ihr Herzleiden verschlechterte sich rapid. Papa war nicht mehr, Gilbert tot, ich selbst in der Ferne. Herr von Twede war damals in Konstantinopel stationiert. Seit zwei Jahren leben wir hier.“ Und um die Schatten der Vergangenheit zu bannen, neigte sie sich zu einem Bildchen herab. „Ach, sehen Sie doch, wie köstlich,“ und dann nach einer Weile „und Sie? Sie waren verheiratet oder sind es noch?“ Mannsthal schüttelte den Kopf. „Ich habe eine Stieftochter. Sie lebt bei mir. Darf ich sie Ihnen bringen?“ Er sah diese lichte Frau und wie eine Rettung schien sie ihm in seiner Not um Arabella. „Wie lieb wäre das von Ihnen. Ein junges Mädchen aus der Heimat. Das wird so sein, als sähe man sich selbst wieder.“ „Nein, erwarten Sie das nicht — oder“ in Mannsthals Auge blitzte es plötzlich auf, „oder erschrecken Sie nicht. Sie gleicht jenem Kinderbilde, das Gilbert von Ihnen besaß, dieser Miniatur, die er bei sich trug.“ Es war merkwürdig zu sehen, wie ein verräterisches Rot in seine Wangen stieg und unter ihrer Gelblichkeit sich entflammte. „Ein Mann allein mit einem jungen Mädchen in Paris. Bringen Sie mir das Töchterchen.“
„Heute, wollen Sie? Zum Tee. Man soll niemals den Wink des Zufalls unbeachtet lassen. Ich habe immer Gäste zur Teestunde. Ah, Baron, da sind Sie ja wieder! Dank, daß Sie mir Mannsthal brachten! Nun auf Wiedersehen heute nachmittags.“
Während Adalbert mit dem Baron noch einmal die Säle durchschritt, erfuhr er, daß Herr von Twede, ein ehrgeiziger Diplomat, wenig Sinn für anderes habe als seine Karriere, daß Angeles Ruf tadellos sei. Ihre Leidenschaften gälten der Malerei und der Musik. Sie hätte ein einziges Kind am Tropenfieber verloren, einen Knaben Gilbert, nach dem Bruder benannt.
Gilbert! Konnte er, durfte er zu ihr gehen, da er sich an seinem Untergang schuldig fühlte? Aber gerade das verstärkte die Anziehung, die ihre Lichtgestalt ihm einflößte. Er holte Arabella ein, die im Bois spazieren ging. Er hatte es vorgezogen, sie nicht zur Besichtigung der Karikaturen mitzunehmen. „Eine Dame lädt dich ein. Oh, sie ist so schön, eine Königin! Sie wird dich lieb haben. Wir wollen heute nachmittags zu ihr. Es werden auch andere Leute dort sein.“
„Gern, aber ich habe dann zu tun —“
„Ein Geheimnis?“
„Ja,“ aber sie lächelte so unbefangen, daß er nicht mißtraute.
„Nun vorher also. Sei um fünf Uhr bereit.“
„Wer ist sie?“ Adalbert erzählte.
Um halb fünf traten sie in Frau von Twedes Salon. Vögelchen erschrak zuerst ein wenig über die vielen Leute, die alle fremdländisch und so sicher waren. Aus ihrer Mitte aber schien ein lichter Strahl sie zu bescheinen, eine Stimme voll Güte und Feinheit brach sich oft Stille durch das wirre Geplauder. Angele von Twede hatte die sanfte Schwermut und die volle Tiefe deutscher Musik in ihrer Kehle. Arabella reichte ihr errötend die Hand und fühlte unter einem Freudeschauer den Hauch eines leisen Kusses auf ihrer Stirne. Angele hielt ihre Hand, während sie mit den anderen sprach. Eine Balkandame, eine Musikerin, setzte sich an den Flügel und spielte Wagner, der eben in Paris bekannt wurde. Vögelchen wurde traurig. Diese Musik griff in ihr Innerstes. Sie fühlte sich plötzlich verlassen. Adalbert war ihr hier wie ein Fremder. Zum ersten Male fühlte sie, daß ihre eigentliche Gemeinschaft ein Geheimnis war, etwas, das verborgen sein mußte, weil es nicht selbstverständlich war. Oder spürte ihr seltsamer Instinkt, daß der Geliebte hier einer andern Frau gehörte? Frau von Twede sprach nur für ihn. Arabella sah es, aber Frau von Twede hielt ihre Hand wie eine Freundin. Sie konnte ihr nicht böse sein. Sie liebte sie. Und plötzlich streichelte sie selbst diese Hand. Dann trat Herr von Twede ein. Seine Frau ward stiller in seiner Gegenwart und schien in leiser Schwermut der Musik zu lauschen. Um Adalbert hatte sich eine Gruppe gebildet. Er war brillant im Gespräch. Aus allen Zeiten und Erdteilen, aus allen Welten der Arbeit und der Kunst, allem Wissen des Menschlichen und Menschlichsten flocht er seine Rede, seine Antworten, Beispiele und Anekdoten. Er selbst entzündete sich an seiner Rede. Einzelne Worte blitzten auf wie Solitärs in kostbarer Fassung, schon fühlte er den unzerreißbaren Kontakt mit seinen Zuhörern, er sah und hörte selbst, was er sagte, und seine Sätze und Wortbilder veredelten sich in seiner Gewalt: sein Gespräch war ein Kunstwerk. Angele schien nur Musik zu hören: sie hörte nur Mannsthal. Als Herr von Twede sich zurückgezogen hatte, wandten die beiden sich wieder einander zu. Die Musik war verstummt. Vögelchen saß wie eingeduckt unter den vielen fremden Menschen, deren Sprache sie nicht zu kennen schien. Warum blieb sie hier, hatte sie nicht Wichtiges zu tun? Leise stahl sie sich hinaus. Sie ließ sich ihren Mantel umlegen und gab dem Diener Auftrag zu bestellen, sie würde wieder kommen. In ihren Taschen hatte sie zwei Pakete verborgen. Sie hieß einen Wagen holen, nannte Konrads Adresse und fuhr ab. Kutscher wundern sich ganz selten nur. Sie kennen alle Stadien des Lebens. Sie führen die Schwangere auf die Gebärklinik, den Säugling zur Taufe, den Trauernden hinter dem Sarge zum Friedhof, den Deserteur zur Bahn, sie gewähren Liebenden Obdach und geben ahnungslos Selbstmördern ein letztes Asyl, sie führen die Dirne zum Palast des Fürsten und die Dame, der ein Lakai den Pelzmantel um die Schultern legt, zu der Mansarde des Studenten. So führte denn der Kutscher Vögelchen zur schmutzigen Behausung jener Marguerite Aupin, deren Zuhälter Konrad Kruger, stud. theol., Sohn des Landesschulinspektors und Hofrats Engelbert Kruger war. Sie ließ den Wagen warten und stieg die zwei Treppen hoch. Auf den Gängen standen die Frauen im Gespräch. Die Wasserleitung stellte den Brunnen dar, der Gang den ländlichen Dorfplatz, an dem die Mägde, den Krug auf dem Kopfe, plaudernd verweilen. Einige kümmerlich blühende Blumenstöcke am Fenster ersetzten die Landschaft. Wie dürftig er wohnt, dachte mitleidig Arabella, als sie die unordentlichen Gestalten sah und den fast unverständlichen Argot ihrer Rede vernahm, die, als sie vorüberkam, verstummte und hinter ihr wie zischelndes Kielwasser wieder zusammenfloß. Sie fürchtete sich vor diesen schmutzigen Frauen und bewunderte Konrads Mut, der wohl täglich an ihnen vorüberging. So tastete sie sich, ohne nach ihm zu fragen, die ausgehöhlten Stufen hinauf, bis sie an einer Türe jenen Namen fand: Aupin. Ja, hier wohnte er. Hinter der Türe fand eine laute Unterredung statt. Mann und Frau wechselten die Rede. Nicht Konrads Stimme war es. Auf Vögelchens Klopfen öffnete jemand und schloß gleich wieder, von einer kreischenden Zurechtweisung ermahnt. Im Spalt der Türe hatte Arabella eine Frauensperson in mangelhafter Bekleidung und einen Mann gesehen, einen Arbeiter mit braunen Samethosen, die an den Schuhen zugebunden waren. Nach einer Weile wurde wieder geöffnet. Der Mann fragte nach Vögelchens Begehr mit der Höflichkeit und dem Anstand des Parisers. „Kruger? Kruger!“ Er rief den Namen aus der Küche ins Zimmer zurück. „Hm, Marguerite, ist das dein —? Eine kleine Dame sucht ihn. Vielleicht eine Prinzessin aus seinem Lande. Treten Sie ein, Madame.“ Drinnen rief die Stimme nun höflich: „Gleich, Fräulein, ich komme gleich.“ Marguerite erschien in einem rosa Schlafrock. „Er ist nicht zu Hause. Mein Gott, wie wird er sich kränken, der arme Junge. Geh, Ernest, sieh mal vors Haus oder zu Cuvier hinüber, dort hilft er zuweilen aus. Er scheut keine Arbeit, wissen Sie, um sich ehrlich durchzubringen. Setzen Sie sich, Fräulein.“ Sie rief es aus dem Zimmer, in das sie zurückgeeilt war, um das Bett zurecht zu machen. Ernest war verduftet.
„Wollen Sie nun eintreten, Sie müssen die Unordnung entschuldigen. Wenn man nicht vorbereitet ist, nicht wahr?“
„Wo ist Konrads Zimmer?“ fragte Vögelchen.
„Hier oder draußen, er hält sich überall auf. Ich nehme es nicht so genau.“
Sie schlafen zusammen, dachte Arabella und besah sich Marguerite. Sie mißfiel ihr. Alle Frauen in Paris mißfielen ihr. Die dicke Schminke, mit der sie bedeckt waren, ekelte sie. Marguerite war zart, sie hatte große Augen, die klug leuchteten, aber sie waren dunkel untermalt und die grellen Wangen ließen sie derb und roh scheinen. Aber gleichzeitig empfand Vögelchen Mitleid mit ihr wie mit einem Tiere. In Marguerites Blick, der forschend und furchtsam zugleich zu Arabellas Vornehmheit aufsah, lag etwas hündisch Zerbrochenes, etwas, das plötzlich selbst hineinsah in den eigenen Abgrund und um Vergebung bettelte.
Arabella hatte sich gesetzt, ganz vorsichtig an den Rand des Stuhles, als fürchte sie sich zu beschmutzen und sah nun selbst ein wenig hilflos zu der fremden Frau hinüber. „Ich habe ihm etwas mitgebracht.“ Sie zog die Pakete hervor. „Bitte, geben Sie ihm das. Ich kann nicht lange warten. Haben Sie vielleicht ein Stückchen Papier. Danke, einen Bleistift hab’ ich selbst.“ Sie nahm den goldenen Stift, den sie an einer kostbaren Chatelaine trug. Auf das ein bischen fette Papier schrieb sie in einer Marguerite unverständlichen Sprache.
„Mein armer Herr Prediger, wie schlecht ist es Ihnen bekommen mir nachzureisen! Wie können Sie leben in dieser häßlichen Wirtschaft! Ich habe Ihnen Krawatten und Leckerbissen gebracht. Schade, daß ich Sie nicht angetroffen habe. Soll ich Va sagen, daß er Ihnen helfen soll? Nun muß ich wieder zu den Menschen zurück, denen ich eben davonlief. Wir waren zu Besuch. Dort ist eine schöne Frau, die ich küssen möchte, so ein Engel ist sie. Ihnen muß geholfen werden! Kommen Sie morgen früh vor unser Haus. Ich werde durch Camill Nachricht schicken. In Eile
Arabella.“
Vögelchen stand auf und schüttelte den Blick des Mädchens ab, der die ganze Zeit über sie umfaßt hielt. Es roch nach schlechtem Parfüm und Abfällen aller Art. „Armer Konrad,“ dachte sie, und dann wieder, „um meinetwillen“. „Bitte, geben Sie ihm diesen Brief und die Pakete,“ sagte sie. Marguerite griff nach den Sachen. Sie, die Konrad schlug, war gegen dieses junge Mädchen schüchtern und linkisch. Sie wußte als Pariserin sehr gut, daß ihr Schlafrock schlechter Sorte war und ihre Schminke billig, an Arabella aber alles aus ersten Quellen. Das machte sie unsicher und neidisch. Und wenn sie auch Konrad nicht liebte, er war ihr Knecht und sollte es bleiben. Diese fremde Puppe würde sehen, wer die Stärkere war.
Als Vögelchen gegangen war, öffnete sie die Pakete. Sie verzehrte, da sie eben sehr hungrig war, den größten Teil der Leckerbissen und als Ernest zurückkam, um zu melden, daß Konrad einen Weg für Cuvier gemacht, schenkte sie ihm eine der teueren Krawatten. Spät abends kam Konrad aus dem Gasthaus herüber, in dem er eine Stelle als Aushilfekellner erhalten hatte, weil dort deutsche Studenten verkehrten. Marguerite hatte sich zu Bette gelegt und brummte, als sie geweckt wurde. Dann erinnerte sie sich des Besuches und wurde freundlich. „Sieh doch, mein Kleiner, wer dagewesen ist und was man dir mitgebracht hat.“ Sie richtete sich im Bett auf und sah ihn bei der Kerze lesen. Er sah alt aus und übermüdet, aber die Erregung und Freude veredelten sein Gesicht. Seine Gestalt war männlicher geworden. Nein, er war so übel nicht, der kleine Abbe. Sie dachte nicht daran ihn preiszugeben. Mit ihm konnte man sich auch sehen lassen, wenn bessere Zeiten kamen.
„Nun, hast du ihn wieder, deinen kleinen Schatz,“ sagte sie. „Und wem verdankst du es? Deiner Marguerite! Komm her und zeig, daß du ein guter Junge bist.“
„Gleich, gleich,“ sagte er. „Ich bin bald wieder hier. Ich muß noch zu Cuvier hinüber.“
Er lief, den kommenden Morgen frei zu bitten, um an Vögelchens Tür auf ihren Ruf warten zu können. An einem Sonntag, ob er denn bei Sinnen wäre, unmöglich! Dann träte er aus dem Dienst. Den morgigen Vormittag müßte er frei haben. Der Wirt wurde ärgerlich. Er warf ihm den Lohn für drei Arbeitstage hin. Er war entlassen. Befreit, lief er zurück zu Marguerite. Sie schmollte wie eine Verliebte. Oh, wie er sich freute, wie begnadet er war! Wo war Vögelchen gesessen? Dieses Papier mit ihrer kindischen Schrift, wie heilig war es ihm! Und der künftige Morgen! Er umarmte die gefügige Marguerite mit der Glut seiner unbändigen Freude.
Vögelchen war froh gewesen, den Wagen, der sie gebracht, vorzufinden. Der führte sie ja so weit sie nur wollte. Wie häßlich es in diesem Hause, in dieser Straße war! Wie ihr das Elend in alle Glieder kroch! Adalbert war ihr so weit, so unerreichbar unter Fremden. Hatte sie denn niemanden, zu dem sie flüchten konnte? Wo war jener Jüngling aus der Sainte Chapelle? In seinem Blick nur hätte sie Zuflucht gefunden. War das Unrecht gegen Adalbert, der so unermeßlich gut zu ihr war, dürfte sie eines andern Zuflucht begehren? Sie dachte an Norton. Plötzlich tauchte seine junge Hünenhaftigkeit vor ihr auf. Sie litt so sehr, wenn sie sich seiner erinnerte, und doch, warum kam er nicht wieder? Konrad war ihr nachgereist. Nun lebte er mit diesem Mädchen. Er hatte dort nicht einmal einen Tisch mit seinen Büchern. Wie karg das Leben sein konnte! Es wurde dunkel. Sie lehnte sich in den Wagen zurück, sie wollte nichts sehen von den Straßen. Jetzt blinzelten die in der Seine sich spiegelnden Lichtkugeln zu ihr auf. War das die Brücke, an der der Helfer zu ihr getreten? Er dachte, sie sei eine, die sich ins Wasser stürzen wollte. Oh nein, damals nicht. Aber heute? Sie war so traurig. Diese fremde Frau, zu der sie nun fuhr, streichelte ihre Hand, aber sie ließ sie nicht ein in ihr Herz. Vielleicht wollte sie nur Va für sich haben, wußte nicht, daß er schon eine Frau hatte. Frau und Kind! Arabella sagte es sich zum ersten Male, wie eine Fremde es gesagt hätte, nicht freudig mehr, sondern erschrocken. Vielleicht war das Sünde? Konnte es Sünde sein, da sie in seiner Umarmung sich heilig fühlte und erhoben? Oh, nur wieder ihn fühlen, wieder zermalmt sein unter seiner Kraft wie in den ersten Nächten, alles geben, alles erleiden. Durfte sie es noch? Blickte nicht jenes Jünglings Auge wissend in ihr Leben? Durfte sie noch in Feuer hinschmelzen, rief nicht er sie zu anderem Dienst? Und Adalbert hielt sie ja nicht wie früher. Er war wieder Va und sprach nun mit dieser engelgleichen Frau, die er eine Königin genannt hatte. Ach, ein Nest, eine Zuflucht ihrer frierenden Seele!
Motto:
„Es war etwas in ihm, das ihm die Menschen zu richten verbot und in seinem ganzen Leben ihm zuflüsterte, daß er nicht der Richter der Menschen sein, nicht das Verurteilen auf sich nehmen wollte und darum auch unter keiner Bedingung verurteilen würde. Es schien sogar, daß er alles zugab und nichts verurteilte, wenn er auch oftmals schwer darunter litt. Ja schließlich konnte ihn nichts und niemand mehr weder in Erstaunen setzen noch erschrecken.“
(Dostojewski „Die Brüder
Karamasoff“.)
I ndessen hatten sich allmählich Frau von Twedes Gäste empfohlen. „Seltsames Elfchen, Ihr Töchterchen,“ sagte sie zu Mannsthal. „Gewiß fühlte es sich hier nicht wohl und flatterte hinaus, als jemand einen Spalt der Tür öffnete. Oh, bitte, entschuldigen Sie sich nicht, das Kind ist bezaubernd.“
„Nun will ich Sie aber nicht länger stören. Ich lasse den Wagen zurück und werde auftragen, daß man Arabella sage, ich sei bereits nach Hause gefahren.“
„Ach, das sollten Sie nicht. Die Kleine würde sich dann nicht von mir verabschieden können und sich unbehaglich fühlen. Warum soll ich es diesem Einfall nicht danken länger mit Ihnen plaudern zu können? Herr von Twede arbeitet immer des Abends. Meine intimsten Freunde kommen meist nach den Teegästen. Givo zum Beispiel, der niemals in große Gesellschaften geht.“
„Ich bleibe,“ sagte Mannsthal mit seinem zuweilen kindlich strahlenden Lächeln.
„Diese Kleine,“ begann Angele, indem sie sich in dem kleinen Salon bequem zurecht rückte. „Diese Kleine muß Sie entzücken und ich verstehe, daß Sie sich selbst der Autorität entschlugen, Sie nannten sie Vögelchen. In der Tat erinnert sie mich an diese ursprünglich wilden Tauben, denen die Mongolen Bambusflötchen unter die Flügel binden. Ihr Flug ist Musik geworden, aber er kann sie nicht mehr zur Höhe tragen.“
„Sie meinen, daß ich um dieser Musik willen ihren Flug gedrosselt habe?“
„Ja, und ich glaube, daß sie eines Tages die Flötchen abschütteln wird, um zur Sonne aufzusteigen.“
„Das fürchte ich,“ sagte Adalbert leise. Seit Wochen beängstigt sprach er nun wie eine Selbstbeichte diese Worte und sie erleichterten ihn. — „Wie klug Sie sind, Angele Tirotzky,“ und wie immer, wenn er bewunderte, war sein bewegter vieldeutiger Blick kindlich demütig.
„Wenn es wirklich die Sonne ist, brauchen Sie nichts zu fürchten. Nur jene Pseudosonne kann gefährlich sein, die uns Frauen so oft verlockend leuchtet. Lassen Sie Ihr Vögelchen fliegen. Oder sollten Väter egoistischer sein als es Mütter wären?“
Es trieb ihn an, sich dieser Frau gegenüber zu offenbaren.
„Ich bin nicht nur ihr Vater,“ sagte er und senkte den Blick wie ein Knabe. Er hatte, ach wie oft sich nach Verachtung gesehnt und überall nur Achtung erfahren. Langsam hob er das Antlitz zu der auf, die er nun zu seiner Richterin machen wollte.
„Ich wußte es,“ sagte sie leise. „Damals auf der Stiege im Schloßhofturm! Erinnern Sie sich! Ich habe es später begriffen. Damals erschrak ich nur, als Sie mich, die Zwölfjährige —“
„Und jetzt?“ fragte er mit tiefem Ernst.
„Mich machen diese Dinge unsagbar traurig,“ erwiderte sie. „Ich kann niemals über sie scherzen, so wenig als ich lachen könnte, wenn jemandes Gesicht von Blatternarben seltsam verzerrt ist.“
„Sie sollten strafen können,“ sagte er. „Das täte wohl!“
„Was nützte es? Mein Mitleid würde den Schlag kühlen, eh’ er noch gefallen wäre.“
„Sie sind ein Engel,“ sagte er.
„Ich bin nur eine Frau.“
„Ja,“ erwiderte er voll Andacht, „denn es gibt auch rächende Engel. Die Frau aber in ihrer Vollendung kennt nur Linderung und Verzeihen. Aber an sie zu glauben, ich hielt es für verwegener als das Wunder zu erhoffen.“
„Und dennoch täte Strafen wohler denn Verzeihen?“ fragte sie schmerzlich.
„Verzeihen bedeutet Vertrauen,“ sagte er. „Die Strafe bejaht die Schuld, indem sie bestraft, das Verzeihen macht sie unwirklich. Der Verzeihende allein ist es, von dessen Herzensreinheit wir Strafe wünschten, vom Strafenden ist uns selbst Verzeihen bitter.“
„Sie sollten Givo kennen, Imanuel Givo.“ Sie sah auf die Uhr. „Vielleicht kommt er noch heute! Er ist der Apostel eines wunderbaren Heiles. Es heißt schauende und wirkende Demut. Er hat eine heimliche Gemeinde, seine Lehre ist eine zugleich neue und uralte Religion. Er hat sie weitergegeben und nun erfüllt sie sich stündlich. Wer in ihr ist, lebt in Seligkeit und nichts stört seine Weihe. Und nichts, nichts vermag ihn zur Überhebung zu verleiten und zum strafenden Urteil. Denn in ihm ist nichts, was sich mit anderen mißt und andere wägt, weil er einzigartig ist und der andere wieder ein anderer und eigener.“
„So gibt es denn Einklang von Wissen und Tun?“ fragte Mannsthal.
„Es gibt diese Wahrheit und diese Liebe,“ erwiderte Angele. „Liebe allein kann heilen und wie oft hat Lieblosigkeit das Laster verschuldet. Wenn ich einen auf Abwegen sehe, frage ich mich: ist er denn auch genug geliebt worden?“
Und sie begann wieder von Givo zu erzählen. Er sei Spanier und stamme von Mystikern ab. Das Leben, das jahrhundertelang in seiner Familie geübt worden, war in ihm als Jüngling zur Ekstase aufgeblüht. An seinem Wort hätten andere sich entzündet. Als er die Menschen kennen lernte in der Klarheit der Ernüchterung, in die ihn die Großstädte versetzten, hätte Mitleid seinen Abscheu vor den menschlichen Lastern besiegt. Er wollte lieber selbst schuldig werden, um nicht erhöht zu sein über die Schuldigen. Nun sei wohl die Heiligkeit seines Feuers erloschen, sie sei nur ein unterirdisches Leuchten mehr, aber seine Seele wärme jeden, der ihm nahe. Er lebe wie ein Einsiedler und dennoch in Fühlung mit den Menschen aller Welten. Seine Lebensflucht seien die Sterne. Er wäre Astronom. In der Atmosphäre bade er sich rein. Sein Wissen knüpfte sich an uralte Wissenschaften. Dabei sei er klar und einfältig wie ein Kind in den menschlichen Dingen und im Menschlichsten wissend und rein zugleich. Sein Handeln folge seinem Instinkt, so sei er denn zuweilen erstaunlich.
Als Givo eintrat, mit leichtem freudigen Gang auf Angele zueilend, deren Hände er küßte, dann ein wenig erschrocken vor dem Fremden sich verneigend, erkannte Mannsthal blitzartig Vögelchens schwarzen Ritter. Sie war ja nicht müde geworden, ihn auf das genaueste zu beschreiben. Seine Handlungsweise paßte auch völlig zu dem, was Frau von Twede erzählte. Das übrige besorgte einer jener merkwürdigen Instinkte, den oft Frauen besitzen, wenn ihre Sinne durch Eifersucht geschärft sind. Aber ehe Mannsthal an eine bevorstehende Begegnung Givos mit Vögelchen dachte, rascher also als ein Gefühl der Abwehr ihn befallen mochte, bezauberte ihn dieser Jüngling im Mannesalter, dieser Mann mit der knabenhaften Feurigkeit einer fanatischen Seele. Und er erkannte seine Lehre. Sie war ein Kampf gegen die geistigen Gifte, die verborgenen, die bekannten und die unentdeckten, deren Wirkungen kaum als Folgeerscheinungen von geheimnisvollen Vergiftungen gekennzeichnet waren. Auch der Wahn war ein Gift und wie vielfältig war er! Auch die Lieblosigkeit war vielleicht nur eines jener Toxine, die Ermüdung erzeugt und jene Nervenverfassung, die das Leben und das Lebendige herabsetzt, statt es zu erhöhen. Kraftlosigkeit, die neben sich für andere nicht mehr das Auskommen findet. Givo sah eine Welt von Menschen, die es zu lieben und zu heilen galt ohne Strenge, ohne Drohung, ohne Versprechen, Liebe durch Liebe, Weisheit durch Liebe, Segen durch Liebe. Und diese Liebe selbst? Sie war nicht Nachahmung eines erhabenen Lebenswandels, der entrückt war, nicht Liebe um eines Liebenden willen, Christi Nachfolge nur um des Himmelreiches Lohn, sie war die Einsicht, das Handeln des Menschen, der sich seiner begibt im Erkennen und sich genießt in diesem Sichbegeben. Um keines Dankes willen im Himmel oder auf Erden, um keiner Tugend, keiner Unsterblichkeit willen, um keines Glaubens willen waltete diese Liebe. Sie war die Weisheit und die Weisheit um alles Menschliche war ihr Glauben. Sie war die Ruhe und das Ruhen in allem Lebendigen war ihr Leben. Sie war das Leben, und das Sein ihr Paradies in allen Zeiten. Für sie war nicht Anfang und Ende, sie hörte nimmer auf, ihr Anbeginn tauchte in der Zeiten Urnebel und reichte, soweit Raum war. Sie war der Glauben der Liebe und der Glauben der ewigen Weisheit war ihre Ewigkeit. Ihr Ewigsein war ihre Ruhe. Und sie war zu Hause, im Kelch der Blüten, der sich auftut für Biene und Rosenkäfer, in der Wolke, die als Regen den Durst der Felder labt, sie nistete wartend um die Wiege des Säuglings und hütete der Kinder Entfaltung, sie war im Schoß des Weibes und in der zeugenden Kraft des Mannes, sie beugte sich über das Lager des Fiebernden und saß bei dem Ratlosen, sie zündete die Lampe an in des Verlassenen Haus und beschwichtigte den Verfolgten und barg den Verstoßenen. Sie forschte in den Laboratorien und sang ihre Kunde in unsterblichen Melodien. Und oft tat sie nichts als stillehalten. Sie schwieg dem Zornigen, sie erwiderte nicht dem Bösen, sie strafte nicht den Verleumder und höhnte nicht den Höhnenden. Und zuweilen tat sie mehr noch, sie machte den Zorn, das Böse, die Verleumdung, den Hohn zunichte im Vergessen. Sie versenkte sie, streute ihren Samen auf und ließ frische Blumen erblühen. Und wenn sie mit ihrem eigenen Blute die Erde des Vergessens düngte, so war es der Seele Acker, der Blumen Trieb und die hießen Verstehen, Vergeben, Verwinden, und andere wieder hießen: Verschenken, Verwandeln, Vergolden und Vertrauen. Im täglichen Leben tat Givo für eine häßliche alte Frau dasselbe, was er für die junge Arabella getan. Er war der Freund seiner Nachbarn, unter denen er stille hauste und fast ungekannt war bis zu dem Augenblick, wo sie seiner bedurften. In seiner Wissenschaft ging er seine Wege und was den anderen frommen konnte auf den Entdeckungsfahrten seines Forschens warf er ab, verschenkte es, ohne ein Quentchen nur des Ruhmes zu erheischen. Was er in seinem Fach erstrebte, war ein Spiel fast. Er suchte Fäden von den mittelalterlichen Gelehrten in die Forschungen der Neuzeit zu spinnen. Sein Werk war eine Andachtübung, ein Dank für verschollene Arbeit. Dazwischen arbeitete er „exakt“, aber nur nebstbei, doch dies zwang, seine Werke ernst zu nehmen, und zu der Zeit, als Mannsthal ihn kennen lernte, wurden sie bereits als eine Art preziöser Kostbarkeit geschätzt. Angele von Twede meinte, daß er sich dies scheinbar müßige Treiben erlauben dürfe, weil sein Leben von Mensch zu Mensch werktätig war wie kaum ein anderes. Mannsthal fieberte, Givo näher kennen zu lernen. Er selbst hatte ja, verborgener vielleicht als dieser junge Prophet, Menschen hingebend geholfen, das Äußerste oft gewagt nicht um Dank und ohne Pflicht. Das Pflichtgefühl der anderen, er besaß es nicht. Sein Gefühl für die Menschen war brennende Neugier und Wissen um Ungeahntes. Dies allein verpflichtete ihn zuweilen, daß er Verborgenes wußte, weil er mitschuldig wurde an Unglück und Schuld, wenn er nicht warnte, riet und half. Aber dies hinwieder hatte ihn hartgesotten Verfehlungen gegenüber und den leichteren Leiden. Oft war er Menschen wie ein Engel erschienen und es quälte ihn, daß er nicht zu sagen vermochte, wie sehr er heimlich bedankt war auf seine Weise und nichts geopfert hatte. Ihm, der jede zarte Regung des Wunschgefühles, die Einschätzung des anderen völlig erriet, ward zum Kinderspiel ein Leben zu krönen. Aber letzten Endes war seine Güte Können, Abfall seines Überflusses, Virtuosität und nicht Wille zum Guten. Sie war Reichtum, Mut, Waghalsigkeit, Experiment, Spiel. Givo aber? Er wußte um alle Laster, aber keines schien um ihn zu wissen. Er hatte sie gesucht, um ihre Geheimnisse zu erkennen, hatte ihr Leid, ihre Reue auf sich genommen um wenig Freude und um der Wollust willen, den Elenden näher zu sein. Die Gefahr war an ihn herangeschlichen in diesen Leiden zu versinken. Sein Sieg, seine Beschlossenheit hatte etwas Weihevolles. Vielleicht war er alt, wiewohl er ein Jüngling schien, war Mensch gewesen, da andere noch Kinder sind, vielleicht lag jene Zeit, in der die Seele durch feurige Tiefen geht und abstürzt aus frevelhaften Höhen, weit zurück, getrennt durch ein Leben, das schon Ewigkeit war? Einer seiner Vorfahren hatte als Knabe im Tempel gepredigt.
Angele sah die Wirkung, die Givo auf Mannsthal ausübte. Sie verstummte, sie wollte kein Wort und Gegenwort der beiden mit dem eigenen durchkreuzen. Ihre Seele hielt Wache und hütete den Faden, der von dem einen zum anderen sich spann. Aber Givo, das sah sie, wiewohl er in Mannsthal vielleicht wie in keinem anderen einen Ebenbürtigen im Menschlichen spürte, Givo blieb in seiner Welt und zögerte ihm die Gabe seiner Inbrunst zu reichen.
Adalbert hatte ihn nach der Stätte seiner Arbeit gefragt. Givo berichtete, daß er zu Gaste sei bald da, bald dort. Später gedenke er in einer eigenen Sternwarte zu arbeiten und seßhafter zu werden seiner Mutter zuliebe. Aber noch wisse er den Platz nicht. Angele meinte lächelnd, er warte ein Zeichen ab, ein Meteor.
„Wo soll der Tempel stehen?“ sagte er lächelnd, den Scherz aufnehmend. „Eine schöne Legende aus dem Palästinischen fällt mir ein.“
„Erzählen Sie,“ bat Frau von Twede.
In diesem Augenblick öffnete der Diener leise die Tür und ebenso leise trat Arabella ein. Der Saal war groß, sie durchschritt ihn, der dicke Teppich verschlang das Geräusch ihres Schrittes, sie blieb an der Türe des kleinen Zimmers stehen. Da drinnen sprach einer, da erzählte einer. Wessen war diese Stimme, oh diese Stimme! Er sah sie nicht, sie horchte atemlos. „Der Tempelplatz war einst eine Dreschtenne, die zwei Brüdern gehörte. Es war der eine verheiratet, der andere lebte allein. Als die Ernte vorüber war und sie geteilt hatten, legte sich ein jeder zu seinem Kornhaufen, um das Gedroschene zu behüten. Da erwachte einst nachts der Verheiratete, sann über seine Ernte und sagte sich: „Ich bin reich, habe Frau und Kinder und hoch ist mein Korn. Er aber, der Bruder, ist einsam, es betreut ihn keiner, einsamem Alter geht er entgegen. Warum soll ich glücklicher sein als er? Ich will ihn erfreuen, will ihm von meiner Ernte geben. Leise stand er auf und schleppte emsig einen Teil seines Kornes zum Haufen des Schlafenden. Die Arbeit hatte ihn müde gemacht und nun störte nichts mehr seinen Schlummer. Indes erwachte der andere. War nicht ein Flüstern in dem Stoppelfeld, nicht ein Rieseln im goldenen Korn? Wie reich war sein Haufen und er bedurfte so wenig, indes der Bruder Weib und Kind besaß. Böte er ihm Geschenke an, wies der ihn wohl ab, so stand er auf und trug einen Teil seines Kornes hinüber zum schlafenden Bruder. Des Morgens hatte ein jeder gleich viel Getreide, keiner wußte, wie ihm geschehen, und sie fragten einander nicht. Gott aber erwählte die Dreschtenne zur Stätte des Tempels.“
Givo wandte sich zur Türe. Es raschelte wie damals ein seidiges Gewand. Er sah Arabella. Sie hatte beide Hände wie eine Blinde, die sich einen Weg tastet, vorgestreckt. Er lächelte, er kam ihr entgegen.
„Sie sind es, Sie sind hier,“ sagte sie wie in Verzückung. Er reichte ihr die Hand.
„Wir sind einander in der Sainte Chapelle begegnet,“ erklärte er lächelnd, doch ohne Erstaunen.
„Ach,“ sagte Frau von Twede. „So kennen Sie einander?“
„Ich heiße Givo,“ sagte er. „Und Sie?“
„Arabella.“ Sie fuhr sich über die Stirn, einen Schleier abzustreifen, der ihr die Wirklichkeit zu decken schien. Sie ging auf Angele zu. „Verzeihen Sie mir, aber eine Sorge rief mich fort. Verzeih auch du, Va! Daß ich Sie hier finde!?“
„So muß Jairis Töchterchen ausgesehen haben, als der Herr sie erweckte,“ sagte Frau von Twede lächelnd.
„Ist es Ihre Tochter, Herr Mannsthal?“ fragte Givo.
Angele nickte wortlos.
„Nun aber müssen wir gehen, Vögelchen,“ mahnte Mannsthal.
Frau von Twede hatte das junge Mädchen an sich gezogen.
„Sie gleichen einander,“ sagte Givo, die beiden Frauen betrachtend.
„Komm, komm, Kind,“ drängte Mannsthal.
Vögelchen, an Angele gelehnt, wandte sich zu Givo.
„Ich habe Ihnen immer noch gedankt all die Tage.“
„Ich hätte fragen sollen, ob Ihnen auch bald wohl geworden ist. Das habe ich versäumt, um nicht dreist zu scheinen. Ich freue mich, Ihnen zu begegnen. Sie sind sehr zart, nicht wahr? Oder sind Sie noch so jung? Ein Kind vielleicht?“
„Das davonläuft,“ sagte Mannsthal.
„Trag mir das nicht nach,“ bat Vögelchen. Sie sah unverwandt Givo an, seine matte Stirn, seine glatten, glänzenden Haare, seine Augen unter den langen Wimpern, die Nase mit den feinen Flügeln, die zarte Gestalt, die sehnigen Hände. Auch er blickte sie an, nahm sie mit seinem Blick an sich, freute sich ihrer Haare, die wie ein blonder Schatten waren, ihrer großen, runden, blauen Augen mit dem feinen Bogen darüber, ihrer Nase, die immer leis zu wittern schien, ihres zuckenden, durstigen Mundes, ihres ein wenig kantigen Kinnes, des sehr schmalen Halses, durch dessen Haut man die blauen Äderchen sah, ihres Busens, der eben erst der eines Mädchens zu werden begann, ihrer braungebrannten Kinderhände.
Es war Givos Treue und Untreue zugleich, sich ganz dem Augenblick hinzugeben. In diesen Minuten war er so sehr Vögelchen zugeneigt, so tief erfreut über ihre kindliche Aufgeschlossenheit, daß er selbst wie ein Kind, das eben ein Geschenk erhält, nichts anderes sah als diesen Menschen. Die ihm so flüchtig begegneten und seine Liebe erfuhren, behielten ihn immer dankbar in ihren Herzen. Andere aber, die in seinem Umkreise blieben, waren enttäuscht, ein anderes Mal ihn dann nicht minder freundlich, aber dennoch anderem hingegeben zu finden, das sie selbst ausschaltete in den Schatten seiner Liebe. Als Vögelchen zum Abschied seinen Handkuß fühlte, glaubte sie das Paradies gewonnen zu haben. Sie ging in andächtiger Gehobenheit an Mannsthals Arm. Nachts schlief sie sanft und selig ein. Sie fühlte kaum die Liebkosungen Adalberts und erwiderte sie nur leis in einem Zustand von Entrücktheit, in den er sie um so leichter versetzen konnte, wenn sie freudig erregt war. Aber ein zweites Selbst war in ihrem Schlummer verborgen, das ihm verschlossen war.
A rabella erwachte spät am Morgen und als sie ans Fenster trat, erblickte sie Konrad, der im Torbogen des gegenüberliegenden Hauses stand. Es war ein kalter, klarer Tag. Er hatte keinen Mantel und fror. Die Krawatte, die Vögelchen in der Rue de la Paix gekauft hatte, war ihm von Marguerite kunstgerecht um einen Kragen aus künstlicher Leinwand geschlungen worden. Vögelchen hatte ihn ja herbestellt, nun stand er wohl lange schon unten. Sie rief Camill und erfuhr, daß Adalbert ausgegangen sei und in einer Stunde wiederkehren würde. Da bat sie rasch Konrad heraufzuholen. In einem Morgenkleidchen, selbst ein wenig frierend, vor dem Kaminfeuer auf einem weißen Fell kauernd, empfing sie den Gequälten, Verfehmten. Er stürzte vor sie hin und küßte ihre Füße. Ein Zittern und Schluchzen ging durch seinen Körper. „Steh auf, ach, steh doch auf,“ sagte sie voll leisem Erbarmen und fuhr ihm mit den kleinen, kalten Fingern durchs Haar. „Aller Qual Segen ist dieser Augenblick,“ sagte er und stand vor ihr auf und sein Lächeln war Vergessen vieler Abgründe. Als sie zu sprechen begann und jene Frau nannte, Marguerite, tauchte deren Bild wie aus fernem Hades auf. Er wußte nicht mehr, daß er nachts in ihren Armen gelegen war, wie Arabella nichts von Adalberts Liebkosungen mehr wußte. Aber sie sah Konrad in der Ekstase, in die sie die Sehnsucht nach Givo versetzt hatte, und war gut zu ihm. Geld nehmen wollte er nicht, doch er versprach ab und zu von ihr ein Geschenk anzunehmen, einen warmen Mantel würde er nicht zurückweisen, wenn er bis zum Einbruch des Frostes nichts verdient hätte. Während er sprach, löffelte Vögelchen in ihrer Schokolade. Sie bot ihm feines Backwerk, zartes Fleisch an. Wiewohl er nicht gefrühstückt hatte, rührte er nichts an. Er trank nur ihren Blick, nährte sich nur von der Speise ihrer guten Worte. War nicht alles plump, leer und ihrer unwürdig, was er, der Erniedrigte, zu stammeln versuchte? „Was wird nun aus Ihnen, Herr Prediger? Sie müssen jemand haben, der Ihnen hilft,“ sagte Arabella traurig. „Gehen Sie zu Frau von Twede, aber sagen Sie nichts von mir, kein Wort, hören Sie. Aber gehen Sie zu ihr, sie wird Ihnen Arbeit verschaffen. Nun müssen Sie gehen. Schreiben Sie mir dann.“ Und sie stand auf, reichte ihm beide Hände und nickte noch von der Türe her. Sie eilte in ihr Zimmer zurück, um allein zu sein, so stark übermannte sie wieder der Gedanke an dies wunderbare Wiedersehen am Vorabend. Konrad sah ihr nach wie einem verlöschenden Stern.
Nun geschah es, daß Adalbert krank wurde, kränker als er es bisher gewesen. Er lag matt und abgezehrt und Vögelchen saß an seinem Bett und hielt seine trockenen Fieberhände, aus denen ein unheimliches Feuer zu knistern schien. Er blickte auf sie wie auf das Leben, das ihm entflattern wollte. Sie liebte ihn so sehr in diesen Tagen, sie klagte sich an, daß die Krankheit über ihn gekommen sei, weil nicht ihm mehr ihr Gefühl zuströmen wollte wie bisher. Sie wußte, sie konnte es nicht wenden. Daß sie Givo wiedergesehen, war ihr wie eine Bestätigung, wie ein Wink von Gott, ihre Liebe wandle den rechten Weg und sei erhört. Aber konnte sie nicht kraft dieser Liebe Adalbert heilen und auch Konrads Hilfe sein, war sie nicht doppelt so stark jetzt?
Zu dieser Zeit tauchte zum ersten Mal in Adalbert der Wunsch als Vorsatz auf Vögelchen wegzusperren, sie irgendwie zu verklostern. Er meinte nur so gesund werden zu können, wenn er Ruhe gewänne über sie. Sie nicht zu sehen schien ihm qualvoll, sie neben sich zu haben ohne sie besitzen zu können noch unerträglicher. Er wagte nicht mehr sie zu berühren. Angele von Twede, von Arabella herbeigerufen, besuchte ihn. Sie riet ihm, ans Meer zu reisen, auch sie würde gern für einige Zeit Paris verlassen. Gleichzeitig erhielt er einen Brief von Vögelchens Mutter. Sie forderte ihn auf Arabella unverzüglich in die Heimat zurückzubringen, widrigenfalls sie sein ungesetzliches Treiben zur Anzeige bringen wolle. Ein Pariser Advokat, dem offenbar die Angelegenheit übergeben worden war, sandte zu ihm und forderte Erklärungen über Einzelheiten seines Lebens und zeigte sich in erstaunlicher Weise unterrichtet. Mannsthal wies ihm die Tür, aber er war unruhig fortan. War es nicht genug, daß ihm seine Krankheit die Freude an Vögelchen verstörte! Alles schien sich gegen ihn zu verschwören. Er witterte Feinde im Hause, sah sich umstellt und ausgeforscht. Um dieser Mißlichkeiten Herr zu werden, mußte er zu Kräften kommen. Ortsveränderung war zur Gesundung geboten. Oft sandte er auch Vögelchen unter einem Vorwand aus dem Hause. Ihr Anblick schmerzte ihn. Er wußte, daß sie von Givo träumte und daß er ihr vielleicht ein Glück vernichtet hatte, ehe es zur Blüte kam. Dann war er dankbar, wenn Angele kam und die bösen Geister bannte. Und ein neues Abenteuer lockte: durch sie die Schwester jenes Gilbert an sich zu fesseln. Er sah nur Vorteile in einer Verbindung mit dieser sanften, vornehmen Frau, die nicht mehr brennen wollte wie Arabella und dennoch ein Glück in der Gemeinschaft mit dem Manne noch ersehnte. Herr von Twede war rücksichtvoll und feinfühlig, er hatte sie niemals verletzt, aber sie erfror neben ihm und wußte, es war Zeit sich zu entscheiden. Hier war ein Mensch mit außerordentlichen Gaben, von dunkler Vergangenheit belastet, von Anfechtungen verfolgt, ein Mann, den man retten konnte, wenn man sich selbst aufs Spiel setzte. Und sie hatte gespart, jetzt wollte sie von ihrem Reichtum geben. So waren sie denn bald einig, zu reisen. Was aber sollte mit Vögelchen geschehen? Angele war nicht verlegen. Sie würde Givo zu sich bitten, der wußte immer zu helfen, und Arabella selbst würde gern seinem Rate folgen. Sie erinnerte sich eines Heimes, von dem er ihr einmal gesprochen. Keine Sorge, Vögelchen würde ein Nestchen finden.
Angele war Adalbert bald unentbehrlich. Ihre Nähe war Sänftigung aller Selbstqual und sie beherrschte den Gang der äußerlichen Täglichkeiten, denen Verwirrung drohte.
Camill, der sich als Diener immer anständig gehalten hatte, begann zu trinken. Der französische Wein hatte es ihm angetan. Da auch sonst Paris mehr Gelegenheit zu Ausgaben bot und alles teuer bezahlt werden mußte, wurde ihm bald sein anständiger Gehalt zu knapp. Aber auch die Aufbesserung, die ihm sein Herr gewährte, reichte bald nicht mehr. Da er als Mitwisser von Mannsthals Geheimnissen nicht Sorge trug, von diesem angezeigt zu werden, begann er allerlei Unehrlichkeiten zu begehen, die sich schließlich zum frechen Diebstahl steigerten. Nach wie vor war er tadellos in Pflege und Bedienung, aber Adalbert hatte jegliches Vertrauen verloren. Er sah in dem Dieb schon den Erpresser, der bestochen worden war, um seine Beziehung zu Arabella auszuforschen. Eines Tages, als ihm der Zustand unerträglich geworden, bezahlte er ihm Lohn, Verpflegung und die Reisekosten in seine Heimat und entließ ihn ohne Aufklärung. Nun fehlte er überall. Angele sandte ihre Beschließerin und sie brachte einige Ordnung ins Haus. Die Abreise ans Meer aber wurde nun um so dringlicher.
Während dieser Zeit hatte Givo Arabella ein einziges Mal gesehen, der Besuch seiner Mutter hatte ihn verhindert zu Angele zu kommen. Dies eine Mal hatte er sie in der Nähe des Observatoire getroffen. Er zweifelte, daß dies ein Zufall gewesen. Er war nicht allein und hatte sie nur flüchtig gesprochen. Sie möge doch ihr Versprechen erfüllen und die Sternwarte besuchen, er würde ihr bald schreiben. Aber er hatte bisher nicht geschrieben. Vögelchen wartete. Sie fragte in Bangen jede Stunde ab nach einer Botschaft. Ihm gegenüber war sie nicht das Kind, das blindlings seinem Triebe folgt. Sie erinnerte ihn nicht an seinen Brief, sie erschien nicht unaufgefordert, sie wartete. Durch Frau von Twede fühlte er sich an sein Versprechen gemahnt und sogleich empfand er Lust ihr zu schreiben. Er sah sie mit einem Mal hilflos allein, wie damals am Pont Neuf, Sehnsucht, sie zu beschützen, erfüllte ihn, Reue, daß er den Trost seines Briefes ihr vorenthalten. Er ging umher und hatte Vögelchen mit sich. Er wußte, wo er es bergen würde. Sie war die erste Heimatlose nicht, für die er Asyl Gloriot wählte. Immer war er von Wehmut und Liebe erfüllt, wenn er einen neuen Schützling der kleinen Anstalt empfahl, bei deren Gründung und Erhaltung er mittätig gewesen war. Das Asyl war dazu bestimmt, Kinder aus unglücklichen Lebensverhältnissen aufzunehmen. Da eine bestimmte Summe beim Eintritt bezahlt werden mußte, war die Anstalt nur den besitzenden Klassen zugänglich. Sie war auch in der Aufnahme der Zöglinge beschränkt, damit der Charakter eines Heimes gewahrt bliebe. Es wurden Kinder ohne Unterschied des Alters, auf jede Dauer und mit der Erlaubnis, immer wieder in das Asyl zurückkehren zu dürfen, aufgenommen. Givo, der die Erziehungsresultate des Asyls kannte, zögerte niemals, es zu empfehlen. Von anderen Pensionaten war es, abgesehen von den andersartigen Aufnahmebedingungen, durch den ihn leitenden Geist unterschieden. Wer das Asyl kennen wollte, mußte allerdings Cecile Gloriot kennen. Givo gedachte ihrer nie ohne Erhebung. Und dennoch, ihm ward weh ums Herz. Ausgestoßene, bedrohte Kinder waren es, die man ihr sandte, die sie durch ihre Mütterlichkeit errettete und erwärmte. Sollte auch dieses teure Mädchen den Stempel der Unglücklichen und Heimatlosen tragen? Fast hätte sie es überstanden, fast wäre sie heil und stark ins wache Leben getreten, sie war ja beinahe erwachsen, da lauerte der Dämon auf dem letzten Ende ihres kindlichen Weges und drohte sie zu überfallen. Denn mehr wußte Givo nicht, als daß Mannsthal nicht väterlich für sie empfand und daß die Mutter sie ihm vor Jahren überlassen hatte, so daß sie jetzt Vögelchen nur eine peinliche Fremde war. Nach kurzer Überlegung verstand er Angele. Sie und er sollten sich in die Arbeit teilen. Sie wollte den Mann, er sollte das Mädchen in seine Obhut nehmen. Wie aber sollte er es dem Mädchen sagen, dem zarten? War es nur Vorwand, wenn er ihr schrieb, daß er litte, sie im wirren, betörenden Paris so schlecht behütet zu finden, daß er sie gern bei einer mütterlichen Freundin wissen wollte? Nein, er fühlte wahrhaftig Besorgnis und eine Zärtlichkeit des Gedankens für sie, die er bisher nur bei den Begegnungen empfunden hatte. Gerne hätte er sie lebendig bei sich gehabt und warm in die Arme geschlossen, an seiner Brust geborgen. Zugleich aber fühlte er sich unwürdig vor ihr und seiner dunklen Wege bewußt. Er war in den Straßen umhergegangen, nun trat er in ein Restaurant; ließ sich Schreibzeug geben und begann seinen Brief, dessen Buchstaben an alte Schriftzeichen erinnerten:
„Arabella, liebe Kleine, ich darf so sagen, darf Mademoiselle weglassen. Seele zu Seele sagt nicht Name und Würden. Wollen Sie in mein Sternenheim kommen, nein, das meine ist es nicht allein, ich teile es mit vielen Wißbegierigen und es ist großer Geister Stätte gewesen. Wollen Sie nun kommen? Oder sind Sie durch Monsieur Mannsthals Unpäßlichkeit ganz an ihn gefesselt? Sie sollten ihm raten ans Meer zu gehen. Die Wellen und Winde bringen große Botschaft, darin des Einzelnen Wehe ertrinkt. Er wird dort Gesundheit finden. Sie selbst aber sollten bei Frauen sein und unter gleichaltrigen Jungfrauen und unter Kindern. Ich wüßte sie gern geborgen bei meiner Freundin Cecile Gloriot, einer ausgezeichneten, liebreichen Frau, die Ihnen Ruhe und Freude geben wird. Ich werde Frau von Twede bitten bei Herrn Mannsthal Fürsprecherin dieses Planes zu sein. Was meinen Sie dazu, Seelchen? Ach ja, ein Seelchen sind Sie, aber unter Cecile Gloriots Sonne werden Sie Seele werden. Kommen Sie oder schreiben Sie mir Antwort. Ich bin Ihr treuer Diener
Imanuel Givo.“
Der Kellner stellte das Essen vor ihn hin. Er nahm sein schlichtes Mahl. Dann trug er selbst den Brief in Vögelchens Haus.
Vögelchen erwartete Antwort von Konrad. Indessen kam Marguerite. Sie hätte ein Anliegen an das Fräulein. Ob man denn auch ungestört sprechen konnte. Arabella schloß die Tür ihres Zimmers und hieß sie Platz nehmen. Das Mädchen sah bei weitem besser aus in ihrem einfachen Straßenkleid als in dem grellen Schlafrock, in dem sie Vögelchen zum ersten Male gesehen. Es bat höflichst, die Belästigung zu entschuldigen und käme ohne Konrads Wissen. Der arme Junge sei zu stolz von dem Fräulein etwas anzunehmen, sie aber, Marguerite, wisse, woran es ihm fehle, und sie würde ihm gern das Nötige besorgen. Leider befinde er sich gar nicht wohl, seit dieser Deutsche zu ihnen käme. Es sei wohl der entlassene Diener. Sie wolle dem Fräulein durch diese Mitteilung ihre Ergebenheit beweisen. Der Diener spreche gemeine Dinge über sie und verleite Konrad zum Trunke. Sie hätte nun Aussicht einen kleinen Laden zu übernehmen und würde Konrad bei sich anstellen, wenn das Fräulein ein wenig beisteuern wollte, das würde ihn auch dem schlechten Einfluß dieses Custove entziehen, der überdies Konrad von ihr trennen wollte, um ungestört ihn zu Schlechtigkeiten zu verleiten, für die sie nicht zu haben wäre. Die beiden hätten auch beschlossen das Fräulein zu entführen. Vögelchen war es, als würge sie etwas am Halse. Sie ging zu ihrem Schrank, nahm etwas Geld. „Das ist alles, was ich habe.“ „Besten Dank,“ sagte Marguerite, ein wenig kühl. „Ich bin selbst arm,“ sagte Vögelchen, das Wenige entschuldigend. „Oh, Sie und arm; wenn man einen älteren Mann hat, der reich ist, ist man nicht arm. Ob sie sich denn nichts für später zurücklege — es sei kein Verlaß auf die Männer —“ Vögelchen schauderte. Sie verstand nicht den vollen Sinn dieser Worte, aber etwas Häßliches kroch an sie heran, das ihr Leben verunstalten wollte. „Bitte, gehen Sie jetzt,“ sagte sie. „Mein Verwandter kann mich jeden Augenblick rufen. Ich möchte nicht, daß er sie sieht. Sagen Sie Konrad, ich hätte ihm geraten zu einer Dame zu gehen. Ist er nicht dort gewesen?“
„Nein, er traf sie nicht an, er will nicht lästig fallen.“
„Mich aber will er überfallen und davonschleppen. Oh, gehen Sie, ich will allein sein, will nichts mehr wissen von ihm.“
Sie setzte sich hin und weinte. Sie weinte ihr Leid um Va, um ihre Kindheit, um Konrad und sie weinte um Givo, von dem sie sich vergessen glaubte. Sie fürchtete sich. Sie war sehend geworden ohne wissend zu sein. Sie litt in dumpfer Anklage. An den folgenden Tagen saß sie fast immer bei Mannsthal. Es war besser bei ihm zu sein, da schwieg der Groll gegen ihn. Und hier konnte keiner sie fortreißen, wenn auch Va zu schwach war sie zu schützen. Sein Wille bannte die Bedrohung von innen und außen. Wäre nicht Angele aus- und eingegangen mit leise schlichtendem Walten, im Hause und an Adalberts Liegestätte verweilend, hätte Vögelchen sich unentbehrlich gefühlt und daraus wieder Kraft gewonnen. So aber war sie auch vor sich selbst nur ein bleicher Schatten von dem, was sie noch in den ersten Tagen des Versailler Aufenthaltes gewesen. Sie schlief nicht und ging wenig aus. Seitdem sie sich vor Konrads und Camills Anschlag fürchtete und diese Furcht in sich verschloß, aß sie auch nur notdürftig mehr. Angele fütterte sie wie ein Hühnchen. Givos Brief kam, als ihr Angst und Sehnsucht die Kräfte zu erschöpfen drohten. Sie las den Brief, las ihn abermals, sann vor sich hin, drückte ihn ans Herz. Wie ein Gebet war ihr Dank. Ja, sie wollte alles, was er wollte. Er war ja ihr Schutzgeist. Oh, daß sie zu ihm durfte, endlich! Leise schlich sie in Adalberts Zimmer. Es war zehn Uhr abends, er schlief. Rasch warf sie über das weißwollene Hauskleid den Pelz, schlang einen Schal aus spanischer Spitze um ihr Haar und eilte in die nächtlichen Straßen hinab. Konrad, der vor dem Hause gestanden war, folgte ihr. Die Straße war einsam, sie hörte Schritte hinter sich, sie fühlte im Rücken, daß sie verfolgt wurde. Sie wagte nicht sich umzuwenden. War es einer, waren es beide, er und Custove? Konnte sie rascher sein als ihre Feinde? Wohin fliehen? Alle Haustore waren verschlossen. Zu ihm, zu ihm! Nun brach Licht vom Boulevard des Invalides, nun kamen Menschen, Lokale leuchteten auf, aus denen Lärm drang. Vielleicht war der Verfolger jetzt dicht hinter ihr. Mit letzter Kraft rief sie einen Droschkenkutscher an. Ein Wagen hielt: „Observatoire“, hauchte sie. Sie war geborgen!
Givo war nicht da. Möglich, daß er noch käme. Man führte sie in einen Saal nächst der Kuppel. Im Halbdunkel saß sie, schauernd vor Angst noch und Erwartung. Sie wartete. Es war kühl, sie hüllte sich dicht in ihren Mantel. So schlief sie ein. Gegen Mitternacht kam Imanuel. Der diensthabende Diener war gegangen, der ihn ablösende wußte nichts von des jungen Fräuleins Anwesenheit. Givo setzte sich an seinen Schreibtisch und sah die Abendpost durch. Dann ging er auf und ab, wie er bei vorbereitender Arbeit zu tun pflegte. Auf einer dieser Wanderungen kam er hinaus in die Halle bis zu der Bank, die von dem Fundament eines eingebauten Fernrohres beschattet war. Da sah er die Schlafende. Ihr Kopf war zur Schulter herabgesunken, die Wimpern dunkelten über die bleichen Wangen, die Hände lagen hilflos still und wehrlos gefaltet über den Knieen, die Haare hatten sich ein wenig gelöst und quollen aus den Spitzen auf den Pelz des Mantels. Ihr Atem ging ruhig und friedvoll wie der eines müden Kindes, das traumlos eingeschlummert ist. So war sie denn ohne Säumen gekommen und hatte, seiner wartend, ihre kindliche Schlafensstunde eingehalten! Er rührte sich nicht, er atmete leiser, er stand vor ihr und mühte sich nur ganz sacht sie zu betrachten, daß auch sein Blick nicht ihren Schlaf unsanft berühre. Sehr müde mußte sie sein! Die Lippen waren wie im Schmerz herabgebogen. Wie gern hätte er im Kuß ihre bange Starrheit gelöst. Ärgerlich über eine Störung fuhr er auf. Ein Knirschen deutete an, daß die große Kuppel aufgerollt wurde. Es war Mitternacht und die Wende, wo man die Novemberschwärme suchte. Mit dem bestirnten Blau der Nacht schwebte vielstimmiges Glockenläuten in den Raum. Die Kirchtürme von Paris sandten am lautesten und klarsten den nächtlichen Arbeitern der Sternwarte ihre tönenden Grüße. Givo kannte sie alle, dies war die Stimme der Jacqueline Montague, der Glocke von Notre Dame, deren Tore sein astronomischer Ahne Dupuis vor der Verwüstung der Revolution beschützt, da war der ein wenig heisere Klang von Julien le Pauvre, der wie der Ruf eines alten Mannes war, das helle kindliche Läuten wohl von St. Gervais, die schallenden Rufe der Madeleine, dann ein banges, mahnendes Klingen von weither. Er wußte, jetzt kam dieses und nun tönten jene beiden zusammen und dann wie eine, die sich verspätet hat, lief aus der Ferne noch wie in zärtlicher Sorge eine feine Glockenstimme daher, die er Cecile nannte. Dann kam die Stille der Nacht, die Lichter der Stadt funkelten wie ängstlich, die roten Laternen der kleinen Seinedampfer erloschen, das Raunen von Paris erstarb, auch die ewig wache Stadt schien mählich zu schlafen. Nun aber gingen Türen, eine Zimmerglocke läutete. Hier war man wach zur Arbeit. Arabella schlug die Augen auf. Givo trat rasch zur Seite. Sie sollte nicht erschrecken, sollte sich nicht im wehrlosen Schlaf Blicken preisgegeben fühlen, doch sollte sie ihn gleich bemerken, damit sie in fremder Umgebung nicht erschrecke. Als er sich wandte, saß sie aufrecht und blickte ihn an. Er erinnerte sich später immer wieder dieses Ausdruckes ihrer Augen. Er schien aus Meertiefen zu kommen, der feuchte Glanz unendlich dunkelnder Tiefe und die unbewußte gefährliche Schönheit einer rätselvollen Welt war in ihm eingefangen wie in einem einsamen Teich, der Nixen und vorzeitliche Tiere spiegelte.
„Haben Sie Hunger?“ fragte er und lächelte ihr zu. Er wollte sie freundlich in die Wirklichkeit zurückrufen.
„Ich habe geschlafen,“ sagte sie. „Ich bin ein wenig müde gewesen all die Zeit, das war wohl der Grund. Ich lief so sehr, man verfolgte mich“ — nun war die Furcht wieder da, aber ebenso rasch schwand sie. Lächelnd streckte sie ihm die Hand entgegen, die er mit beiden Händen ergriff.
„Hier verfolgt Sie niemand, Seelchen,“ sagte er.
„Wie schön es hier ist, welch schöne bestirnte Decke. Oh, ich habe die Sterne so lieb. Man wird so arm in der Stadt. Auf dem Lande da haben auch die ganz armen Leute die schönen Dinge.“
„Cecile Gloriot hat einen großen Garten und dort werden Sie geborgen sein. Niemand wird Sie verfolgen. Kein häßlicher Brief darf dort zu Ihnen.“
„Und Sie, werden Sie mir schreiben?“
„Ich werde Ihnen schreiben und werde Sie besuchen.“
„Sie schrieben so lange nicht.“
„Ja, das ist nun vorbei. Von nun an werde ich häufig schreiben und, wenn dann einmal eine Pause eintritt, werden Sie wissen, er denkt doch an mich, der Herr Sterngucker. Wollen Sie einmal durch das große Fernrohr sehen? Es ist nur neun Meter lang und reicht bis in den Himmel.“
Er führte sie im Gebäude umher, erklärte ihr Apparate und Pläne. Plötzlich hielt er inne. „Nun haben Sie mir meine erste Frage noch immer nicht beantwortet. Haben Sie Hunger?“
Sie nickte.
„Kommen Sie. Ein wenig Zwieback ist vorhanden, einige Krumen für ein Vögelchen.“
„Wissen Sie, wer auch sehr, sehr gut ist?“ sagte sie. „Urbacher und Karinski.“ Und sie erzählte ihm von den beiden, während sie mit ihren länglichen schmalen Zähnen am Zwieback knabberte. „Glauben Sie, daß Va mich zu Ihrer Freundin fahren läßt? Ach nein! Und was wird dann aus mir?“ Sie berichtete ihm all das, was Marguerite ihr gesagt. Von Konrad mußte sie ausführlich erzählen. Givo schrieb, während sie von ihm sprach, auf einen kleinen Block einige Worte nieder. Als er genug wußte und Arabella sich blaß gesprochen hatte, sagte er: „Ach, das Seelchen ist schon müde. Ich bringe es nach Hause.“ Sie gingen in die Stadt hinaus. Die Straßenlaternen waren verloschen, leer glänzte der Asphalt wie ein grüner See. Schwerpolternd kamen ab und zu die breiten Gemüsewagen angefahren, die zu den Hallen rollten; ein scharfer Duft von Kräutern mengte sich plötzlich in die Nachtluft. Vor den Cafes standen umgestürzt die Sessel an den Marmortischen, manchmal umschlich sie eine müde Gestalt und stocherte mit einer Gabel nach Tabakresten. An den geschlossenen Kiosken lehnten Dirnen in leisem Gespräch und duckten sich in ihren Schatten, wenn der Schutzmann vorüberkam. Aus einer Nebengasse schrillten plötzlich Pfiffe, eine Gestalt lief quer über den Damm, dann ward es wieder still und sie hörten ihr eigenes Schreiten. Er wollte in einem Wagen sie rascher zur Ruhe bringen, vielleicht auch erwartete man sie. Es kam keiner. Ihr war es um so lieber. Wäre der Weg nur länger noch gewesen! Es ward nun ausgemacht, daß er mit Mannsthal sprechen würde, nachdem Angele von Twede ihn vorbereitet, und daß er dann selbst sie zu Cecile Gloriot bringen würde, die er lange nicht gesehen. Als sie bei ihrem Haustor angelangt waren und er schon die übliche Aufforderung an den Portier zur Öffnung des Tores hatte ergehen lassen, ergriff Vögelchen seine Hand, zog ihn heftig näher und rascher, als er es wehren konnte, drückte sie einen heißen Kuß auf seinen Mund. Dann verschwand sie mit leuchtendem Blick, ihn noch einmal umfassend, in der Dunkelheit des Flures.
„Wenn Du nicht Mensch mehr bist und Dich verleugnet hast,
So ist Gott selber Mensch und traget Deine Last.“
(Angelus Silesius.)
Z wei Wochen nach diesem Abend etwa schrieb Konrad an Hedwig:
„Liebe Schwester, als ein anderer Mensch schreibe ich Dir heute als der alte vielleicht. Ich habe reine Wäsche, ich trage ordentliche Kleider, ich verdiene vorläufig durch Abschriften wissenschaftlicher Arbeiten Frühstück, Abendessen und Wohnung. Den Mittagstisch habe ich frei. Ja, der Mittagstisch, so begann es. Ich bekam vor zehn Tagen die Aufforderung, mich um zwölf Uhr bei Frau Calou, rue de quatre Portes, zum Speisen einzufinden. Wenn der Magen leer ist, besinnt man sich nicht lange, auch eine fast anonyme Einladung anzunehmen. Ich fand einen kleinen Saal, in dessen Mitte eine sauber und schlicht gedeckte Tafel wie in einem privaten Speisehaus seine Gäste erwartete. Nebenan war ein Arbeitszimmerchen. An einem Schreibtisch saß inmitten von Rechnungen und Briefen Frau Calou, eine grauhaarige Vierzigerin mit derben Zügen und den lebhaftesten, gütigsten Augen, die ich jemals sah. Die Art, mit der sie mich aufnahm, war die eines Untersuchungsrichters. „Ihr Fall wurde mir von einem Mitglied des „Sozialen Dienstes“ gemeldet, die Recherchen wurden heute beendigt.“ Und nun rollte sie mein Leben auf, mein erbärmliches Leben. „Wollen Sie wieder ein anständiger Mensch werden?“ fragte sie. „Ja,“ sage ich. „Dann ist unser Geschäft gemacht,“ ruft sie aus. „Sie finden sich täglich um halb ein Uhr hier zum Mittagstisch ein, Sie wählen ein Zimmer bei einer der vorgeschriebenen Vermieterinnen, Sie übernehmen vorläufig Schreibarbeiten für M. Tallandre vom Observatoire, der aus einem ziemlich unleserlichen Manuskript eine anständige Abschrift wünscht. Diese Arbeit wird Sie einen Monat in Anspruch nehmen, wobei Sie Ihre Privatstudien verfolgen können. Sie erhalten täglich zwei Francs von M. Tallandre, dem Sie Ihre Arbeit wöchentlich abzuliefern haben, weitere drei Francs von einem unbekannten Wohltäter, von denen ich 1 Francs für Ihre Bekleidung, die ich besorge, zurückbehalte. Nach der Schreibarbeit werden Ihnen, falls Sie diese anständig verrichtet haben, neue Wege offen stehen. Jedenfalls ist zwei Monate lang für Sie gesorgt. Die Recherchen bleiben aufrecht. Wenn man Sie wieder mit dem Trunkenbold antrifft, verlieren Sie alle Begünstigungen, desgleichen wenn Sie die Wege jenes Mädchens aus Ihrer Heimat kreuzen. Gegen Ihre Beziehung zu der Aupin ist nichts einzuwenden, wenn Sie dort nicht anders verkehren als irgend einer ihrer anderen Kunden. Sie sehen, wir sind nicht strenge. Aber wir sind rachsüchtig. Verfallen Sie in Ihre vormalige Lebensweise, so verfolgen wir Sie und erwirken, daß Sie bestraft oder in Ihre Heimat abgeschoben werden. Sie sind uns verfallen. Nun blicken Sie nicht so düster. Ich hoffe, dieser Blick gilt Ihrer Vergangenheit, nicht der Zukunft, die wir Ihnen ebnen wollen. Und nun gehen Sie in den Eßsaal und guten Appetit. Man lärmt schon drinnen. Unsere Schützlinge versammeln sich. Es ist hier nicht Sitte, daß einer dem anderen von seinem Schicksal erzählt. Wir haben hier lediglich Hungrige, Schwächliche des Lebenskampfes, Rekonvaleszente, Entgleiste. Niemals war ein Fall hoffnungslos, den wir behandelt haben. Aber wir wollen durch schlechte Beispiele und Depressionen nicht unsere Arbeit erschwert finden. Deshalb fordern wir Diskretion. Auf Wiedersehen bei Tisch.“ Dies alles war trotz aller Schroffheit so gütig vorgebracht. Ich drehte meinen Hut in der Hand wie ein Bettler, der aus Rührung und Beschämung keine Worte des Dankes findet. Man schob mir noch ein Zettelchen hin, auf dem Adressen von Wohnungen standen, unter denen ich zu wählen hatte. Dann stand ich in dem Saal. Es waren etwa fünfundzwanzig Menschen da, Frauen, Mädchen, Studenten, ein alter Mann, zwei Kinder. Ein Mädchen hatte einen dreijährigen Jungen neben sich sitzen, mit ernstem ältlichen Gesicht, er war musterhaft brav, benahm sich wie ein Erwachsener. Er glich ihr, offenbar war es ihr Kind. Ich mußte an Deinen Jungen denken, Hedwig, und an Deine bösen bangen Zeiten, in denen Dir nicht geholfen ward wie dieser dort. Und daß Du allein bist und unbeschützt, will ich an ihr gut machen, damit auch Dir geholfen werde. Seither sind wir einander nähergekommen, haben vergangenen Sonntag einen Ausflug miteinander gemacht. Der Kleine hat sich sehr an mich angeschlossen. Er sitzt nun neben mir bei Tische. Frau Calou präsidiert der Tafel. An jenem ersten Tage fand ich bereits meinen Namen an einem der Plätze neben einer Frau Lövgard (einer Übersetzerin, die mir riet, meinem Gelehrten anzutragen die Arbeit von mir ins Deutsche übertragen zu lassen, was ich denn auch mit Erfolg vortrug). Mein zweiter Nachbar war ein Mediziner, der über die Schädlichkeit des übermäßigen Alkoholgenusses kürzlich eine preisgekrönte Abhandlung schrieb. Ich vermute, daß er selbst Trinker war. Nach dem Essen werden des Sonntags kurze Vorträge veranstaltet. Auch ich werde sprechen über ein historisch-theologisches Thema.
Marguerite machte eine „Szene“. Sie verstieß mich, aber tagsdarauf paßte sie mir auf und fragte mich, wie ich mit der neuen Wohnung zufrieden sei. Ich war und bin es durchaus. Wir verabredeten ein Wiedersehen, sie hielt es nicht ein. Schließlich bin ich wieder unter einem Vorwand zu ihr gegangen. Ich habe mit Frau Calou über sie gesprochen, aber sie sagte, daß solche Fälle immer hoffnunglos seien. Sie erzählte mir, daß Marguerite bei Ariel gewesen und Geld für mich erpreßt habe. Von dem Geld habe ich nichts bekommen. Mein armer Ariel, er ist fort. Ich weiß nicht wohin. Ich habe ihn vertrieben, ich käufliches Untier. Aber erreicht ist es doch: ich habe sie von dem Verführer getrennt, meine Mission ist erfüllt, ihre Mutter hat mich nicht umsonst bezahlt. Ein neues Leben kann beginnen. Und Du, Hedwig, die ich anfülle randvoll mit meinen Schicksalen, sag’ auch Du mir Deine Mühsale. Deinen Briefen danke ich es, daß ich in diesem Schlamm nicht völlig erstickte und meiner Rettung aufgespart blieb. Ich küsse Deine Dulderhände und bin in Treue Dein
Bruder Konrad, der Narr.
P. S. Finde Zeit zu Doktor Urbacher zu gehen und ihm von Arabella zu erzählen. Es könnte vorteilhaft sein diese Verbindung anzuknüpfen.“
D er erste Frühschnee lag wie ein Flor auf den alten Bäumen, die den großen Bauernhof umstanden, den Cecile Gloriot zu einem ihren Zwecken aufs beste entsprechenden Wohnhaus umgewandelt hatte. In der Diele brannten schon im großen Steinkamin die wohlriechenden Holzscheite. Es war halb zwölf Uhr. Anna Bergmann, Ceciles Stellvertreterin, eine hellblonde Deutsche, saß vor einem Wäschekorb, der mit Nüssen angefüllt war. Fräulein Anna erzählte selbsterdachte Märchen.
Cecile Gloriot war in die nahe Stadt gefahren, um Einkäufe zu erledigen. Ihre Post lag auf dem Tisch bereit, der unter der Stiege, die zu den Schlafräumen führte, an dem blumenbesetzten Fenster mit den weißen Mullvorhängen stand. Man erwartete Tante Cecile für den Nachmittag.
Eine hellklingende Glocke rief um zwölf Uhr alle Bewohner zu Tische. Ein Säugling und ein Zweijähriges blieben mit der Amme auf dem Zimmer. Vor dem Essen mußte immer ein anderes Kind ein paar selbstgewählte Dankesworte an Stelle eines Tischgebetes sagen. Heute war die Reihe an Gil Colombe. Sie stand auf, lächelte zuerst zu Fräulein Anna hin, die heute an der Spitze der Tafel saß, und sagte dann: „Wir freuen uns schon auf das gute Essen und denken an alle armen Kinder, die nichts haben.“ Kathlin, die Rothaarige, stieß sie an. Nini blieb eine Weile noch stehen und wehrte sich gegen Kathlins Einflüsterung. Aber sie blieb die Schwächere und sprudelte noch hervor: „Und wir hoffen alle, daß Tante Cecile auch ein gutes Mittagessen hat und recht gute Sachen aus der Stadt mitbringt.“ Nini sah stolz umher und viele Bravos beglückwünschten sie. Gil, ihr jüngeres Schwesterchen aber, die sie abgöttisch liebte und ihren neunjährigen Geist maßlos bewunderte, war ganz blaß vor Staunen über Ninis Kühnheit. Die Kinder setzten alle einen Stolz darein, ein möglichst originelles Tischgebet zu sprechen, aber Witze waren verboten. Nun, dieser ging durch. Fräulein Anna lächelte sogar. Gaston hatte einmal gesagt: „Komm, Herr Jesus, und sei unser Geist und segne unsere Creme und Tante Cecile dazu.“ Und Philipp, der schon galant war, hatte gerufen: „Und lasse auch Taute Anna nicht leer ausgehen.“ Helene aber hatte gebetet. „Hab’ Dank, lieber Gott, für Speis’ und Trank und bescher sie mir mein Leben lang. Und schenke Tante Anna einen Bräutigam und mir auch einen.“ Es dauerte auch nicht lange und Tante Anna hatte einen. Er hieß Felix Blanc, war leitender Arzt des städtischen Spitals, ein junger Gelehrter, der im Asyl Gloriot erschien, wenn einer seiner Schützlinge erkrankte. Er hatte Anna lieben gelernt, als er sie Kathlin Drew während einer langwierigen Krankheit aufopfernd pflegen sah. Als das Verlöbnis geschlossen ward, meinte lächelnd die ernste Clothilde, Helenens Wunsch habe geholfen. Doktor Blanc erfuhr überdies, daß die kleine Wunschträgerin in Anna nach der Art kleiner Mädchen verliebt sei, und dies sicherte Helene sein besonderes Interesse. Er fand sie blaß und über Gebühr müde und reizbar. Bald glaubte er mit Hilfe Annas die Ursache zu kennen. Helene war aufrichtig. Sie gestand ihr kleines Laster und versprach Besserung. Aber sie war nun oft von Schwermut befallen, weil Anna nicht mehr ihr gehörte. Sie sehnte sich nach einem sicheren Besitz. Bald sollte ihre Sehnsucht Erhörung finden.
An dem Tage nun, da Cecile Gloriot erwartet wurde, übte Anna mit den Kleinen die Lieder, die Clothilde und Helene mit ihrer Hilfe gedichtet und Cecile vertont hatte. Die kleine Gil war gerade dabei, mit ihrem zarten Stimmchen als Nixenbaby, mit einem Schilfkranz um das Köpfchen, ihre Ansprache an Helene, die Nixenmutter, zu halten, als man draußen Cecile Gloriot vorfahren hörte. Gleich hatte der Mummenschanz ein Ende, alles drängte Tante Cecile entgegen. Seltsam, sie sah selbst aus wie ein Kind, ein zartes Mädchen, das Schutzes bedurfte, obwohl ihre Haare grau waren. Aber hinter dieser Zartheit verbarg sich eine eiserne Tüchtigkeit und eine unversiegbare Hilfsbereitschaft. Ihre Stimme war tief und klangvoll, als käme sie aus einem anderen Körper. Ihr entsprachen Haltung und Geste. Die Augen aber, die stahlgrauen, schwarzgeränderten, waren ein Wunder von Innigkeit und sanftem tiefen Wissen für alles, was sie sah und ahnte. Niemals ratlos, doch stets bereit Rat zu empfangen, schien sie nichts zu bedürfen und nahm dankbar an. Sie erwarb jedermanns Zutrauen, weil geheime Brücken von ihrem Herzen zu dem der anderen führten. Wie Givo hatte sie nur einen Ausweg gehabt, ihr Allwissen über die Menschen und ihre geheimsten Instinkte und seelischen Schicksale in werktätige Liebe zu verwandeln. Das Wissen hätte sie zum Wahnsinn getrieben, die Verachtung gewürgt, der Ekel beschmutzt, hätten sie nicht Weisheit, Gerechtigkeit, Liebe das Mitleben gelehrt. Sie wußte, daß es nichts Verläßlicheres gab, nichts, was die vernichtenden Grausamkeiten der Natur und Unnatur, nichts, was die Verzweiflung und den Wahn, der hinter allem triebhaften Geschehen, hinter aller Raserei der Selbstsucht lauerte, beschwichtigen konnte, als Demut und Liebe und der allumfassende Blick der Erkenntnis. Aber sie wußte von all dem nichts mehr. Die Motive ihres Wirkens hatte sie vergessen oder wollte sie auf immer vergessen haben.
Cecile und Anna schritten der Diele zu. Anna berichtete über kleine Vorfälle. „Ja, danke, nun geh aber und ruh’ dich aus.“
„Nein, du wirst müder sein, Cecile.“
„Niemals, du weißt es. Sehen wir noch die Post zusammen durch.“
Ein Stoß Briefe. Cecile stand in brieflichem Verkehr mit allen Schützlingen, die das Asyl verlassen hatten und deren Asyl die Briefe Ceciles geblieben waren. Sie hatte überdies viele Freunde, Gelehrte, Künstler, Arme, Kranke. „Von Givo!“ rief sie nun und vor allen anderen öffnete sie seinen Brief. „Endlich wieder einmal.“ Sie las: „Liebe Celia, so lange schwieg ich, aber Du weißt, daß ich in Gedanken Dir nicht schweige. Wie oft entbehre ich eine Aussprache mit Dir. Jetzt war meine Mutter da. Es war der alte Kampf auf beiden Seiten, jeder wollte dem anderen verbergen, wie unmöglich es ist des anderen Wünsche mit den eigenen zu vereinen. Ich soll in ihre zweite Heimat, nach Deutschland zurück, dort nach unserer Sitte ein Mädchen unserer Sippen heiraten und sie zur Großmutter machen. Ich hingegen wünschte, sie richtete sich in Paris ein für mehrere Monate des Jahres. Aber sie liebt Paris nicht, weil sie nicht durch innere Arbeit imstande ist, den vielen Tand, die große Geste des Kleinen zu übersehen und zum Menschlichen zu gelangen, das dort am stärksten sich zur Wirkung bietet, wo es am freiesten und dichtesten gemengt seiner eigenen Tragik zu unterliegen droht. Daß gerade dieser vorletzte Augenblick der Drohung mein Augenblick (und auch der Deine, Celia) ist, das kann sie nicht, will sie nicht miterleben, dazu ist sie zu untadelhaft, zu kühl, zu sehr von einem starken Gatten gefestigt gewesen, um diese Niedergänge so rasch zu fassen, als er nötig, denn ihre Strenge würde sie immer zu spät kommen lassen. Bis ihre Einsicht sie überwunden hätte, wäre alles verloren. Sie würde mich hemmen, weil sie zu wach ist und doch nicht überwach, hellsichtig wie Du etwa. Aber sie ist nicht weise genug, um wach sein zu dürfen. Wie wenig Frauen sind es auch noch außerhalb ihrer utilitaristischen Duldsamkeit! Es gibt keine Cecile Gloriots und wenige, die ihr nur nahe kommen. Oh, wie menschlich wertvoll ist sie aber dennoch, meine Mutter, wie klar und rein, daß ich erschauere über diese Möglichkeit. Ich werde ihren Willen erfüllen, wenn sie älter ist, ich bin es ihr schuldig, Kinder zu haben und die Regeln der Väter, denen ich so viel verdanke, zu erfüllen. Aber noch kann ich es nicht. Es ist genug geopfert schon heute, daß ich diese vorgebaute Zukunft weiß. Ich wage nicht ein weibliches Wesen an mich zu binden und liebte es mich noch so selbstlos, weil ich weiß, daß meine Mutter für mich wählen wird eine in unseren Regeln Aufgewachsene, die jung und seltsam aus Frauengemächern zu mir kommen wird. Oder ist es Gleichgültigkeit gegen das Einzelne. So ist mir alles mit Frauen episodenhaft und oft doch schmerzlich, um so süßer auch. Ich bringe Dir ein Mädchen, das so recht Deines Asyls bedürftig ist. Vielleicht ist es auch gut, daß es nicht in meiner Nähe bleibt. Auch ich könnte ihr gefährlich sein, der Gefährdeten. Ihr Fall erinnert flüchtig an den von Kathlin Drew, deren verwitwete Mutter von ihrem Stiefvater in Liebe verfolgt wurde, bis sie sich ihm ergab, nur daß die Verfolgte, die willig Verfolgte, diesmal Dein Schützling selbst, ein halbes Kind ist, das bei Dir geborgen werden soll, um seiner selbst und des Vaters willen. Es ist ein zartes, nicht einzuordnendes Wesen. Ich nenne es Seelchen, weil es noch sehr triebhaft ist, und ich versprach ihr, daß Du aus dem Seelchen eine Seele wecken würdest. In vielem wirst Du sie wissend finden wie eine Lebenserfahrene, die in Höhen und Tiefen geblickt, aber sie hat keinen Ausdruck dafür, nur ein ungereimtes Einahnen und Austräumen. In ihrer Bildung ist sie der Form nach durch geistige und reflektierende Umgebung reif, aber sie hat viele Lücken im Lapidarsten. Du wirst gut tun sie sehr ernst zu nehmen, ihr Verantwortungen zu geben, etwa die Aufsicht einer Angefochtenen. Sie ist sehr stark. Zarte, engelhafte Wesen sind das zuweilen, Celia! Angele von Twede grüßt Dich. Sie versucht den Vater über die Trennung zu trösten. Ich fürchte, es wird ihr nur gelingen, wenn sie, wie nie bisher, Heilige Elisabeth ist und statt Brotes sich selbst verschenkt. Du verstehst den Fall, Celia? — Ich bringe Dir das Kind in den allernächsten Tagen und bin glücklich, Dich zu sehen, Du Liebe.
Treulichst Dein Freund
Imanuel.“
Cecile Gloriot hielt den Brief zwischen den schmalen, sehnigen Fingern und blickte wie träumend zum Fenster hinaus. „Ruf doch Gil herein, sie läuft draußen ohne Umhülle herum,“ sagte sie ablenkend. Als Anna zurückkam, lächelte sie wie ein Kind, das sich freut. „Givo kommt heute oder morgen und bringt ein Mädchen, einen neuen Schützling mit. Wir wollen für ihn das große Mansardenzimmer zurecht machen und das Haus mit den Glashauspflanzen schmücken. Das Mädchen bekommt das Alkovenzimmer mit Helene.“ Cecile ging auf ihr Zimmer. Sie las nochmals Givos Brief. „Seine Mutter tut unrecht,“ sagte sie sich. „Er wird auch seine Frau einmal nur als eine Episode behandeln. Er wird jede Treue verlernen und sich an das Naschen gewöhnen, das den Charakter verdirbt und Unglück im Leben des anderen anrichtet. Er wird niemals zur Ruhe kommen mit den Frauen. Ich muß ihn warnen. Und mein neuer Schützling? Möge es mir gelingen an ihm Gutes zu tun!“
Abends um halb sieben Uhr hielt Celia Andachtstunde in ihrem Bücherzimmer. Vor den breiten Fenstern flimmerte ein leiser Schnee. Es war ganz still im Raum. Zehn kindliche Augenpaare hafteten an Celias Lippen. Sie begann: „Helene hat mir berichtet, daß sie mit Kathlin Streit hatte. Ich will gar nicht untersuchen, wer recht hatte, denn es ist fast ebenso bedrückend recht zu behalten als schuldig zu sein. Es gelüstet uns ja oft dem anderen zu widersprechen, denn jeder Mensch ist einzigartig und hat seine einzigartigen Gedanken, wenn er auf rechtschaffene Art denkt und nicht seine Denkungsweise vom anderen borgt. Oder wir wünschen etwas, das der andere nicht wünschen kann. Da ist es uns geboten zu fragen, nicht einmal nur zu fragen: Ist mir denn der eigene Wunsch, der eigene Widerspruch wichtig genug, daß ich den anderen betrübe. Und wenn etwas in uns mehrmals antwortet: ich kann nicht ablassen, so müssen wir so milde, als es uns gegeben ist, unserem Willen nachgehen und des anderen Kränkung dabei zu lindern trachten. Ihr Kinder glaubt manchmal euere Schwäche und Unerfahrenheit sei ein Makel, der schwindet, wenn ein anderes noch schwächer und unerfahrener aus einem Streit hervorgeht. Das ist ein Irrtum, denn ihr habt durch eure Eitelkeit recht zu behalten noch eine größere Schwäche dazu bekommen. Betrachtet eine Wage mit ihren Maßen. Sie sind nichts, wenn auch das eine schwerer wiegt als das andere. Sie sind nur Begriffe und erst ein Ding aus dem wirklichen Leben, dessen Schwere sie vorstellen, gibt ihnen Sinn und Wert. Darum ist eitler Streit sinnlos. Nur wirkliche Werte dürfen sich aneinander messen. Darüber aber steht dem Menschen oft selbst in seiner Reife noch kein Urteil zu, ob sein Wille wertvoller ist als der des anderen. Wißt ihr denn auch, daß ihr lieblos werdet, wenn ihr streitet? Ihr haßt am Ende den anderen in der Blindheit, in die euch eure Rechthaberei versetzt, und ihr liebt die übrige Welt nicht, weil ihr über dem Streit alles vergesset und nur euren scheinbaren Vorteil sehet. Die erzürnbare Seele nannte Plato die niedere Form der Seele, die tierische. Wer streitet, versteht nicht mitzuleben und sich in des anderen Leben zu versetzen. Mitleben, mitwissen aber ist das, was euch erst zum gerechten Menschen macht. Erlebt ihr des anderen Wunsch und Willen neben dem euren, wird der Streit gebrochen sein, eh’ er beginnt. Denn ihr Kathlin werdet ebenso Helene sein, als Kathlin und Helene — Kathlin so gut wie Helene. Lernet einander verstehen, dann werdet ihr im Frieden leben. Und die Menschheit wird Frieden haben, wenn sie sich versteht.“ Noch herrschte Stille. Da schritten Kathlin und Helene zaghaft anfangs, dann stürmisch einander entgegen und umarmten sich.
Jetzt sollte ein wenig Musik gemacht werden. Gaston wollte Clothilde zum Gesang begleiten. Als sie eben begonnen hatten, hörte Ceciles feines Ohr einen Wagen heranrollen. Sie ging zur Diele herab und erwartete dort allein Givo und seinen Schützling. Oben begann das Spiel. Musik war es, die Vögelchen empfing, als der Wagen durch den leicht verschneiten Garten ihrem neuen Heim entgegenrollte.
Süß ist das Leben
Um des strenggekehrten geistigen Blickes willen,
Der gleichzeitig umfängt die Erde von allen Seiten
Die kristallenen Öden der Pole, der Vorzeit,
Des Urgebirges, der Zahlen Gesetze.
(Ottokar Brezina.)
N ach dem Abendessen nahm Arabella die Aufforderung, sich zurückzuziehen, um ungehindert auszuruhen, gern an. Sie fand ihr Zimmer hart an der Stiege, die zu dem breiten, altertümlichen Turm führte, und durch diese ein wenig überwölbt. In dieser Wölbung stand ein großes Bett mit hellen Mullgardinen, ein ähnliches an der gegenüberliegenden Wand. Ein geblumter Teppich erhöhte die Wohnlichkeit. In einer Nische erblickte sie einen weißen, runden Kachelofen, in dem ein leises Feuer verknisterte, neben diesem einen Waschtisch und zu ihrem Gebrauch bereitet ein breites Badebecken. Neben dem Ofen einen Armstuhl, über dem ein großes Tuch zum Abtrocknen hing. Wie wohl tat diese Sorgfalt! Ihr Koffer stand vor dem Kasten, der für sie bestimmt schien. Sie entnahm ihm sogleich eines ihrer weichen, mantelartigen Gewänder, in denen sie einer kleinen Griechin glich, und streckte sich nach dem Bad auf das Bettchen hin, nur um eine Weile so zu verharren. Durch die breiten, kleinen Fenster sah eine stille, bestirnte Nacht, die über eine sanfte, stadtferne Landschaft gewandelt war. Durch diese Landschaft war sie mit Givo gefahren, neben ihm im ländlichen Gefährt mit hohem Sitz und ein und dieselbe Decke hatte sie vor der Kälte geschützt. Viele Stunden waren sie gefahren, denn Givo liebte Wagenreisen über Land und hatte nur eine kurze Strecke die Eisenbahn benutzen wollen. Arabella war es gewesen, als führe sie durch den Äther der Unendlichkeit.
Givo hatte zu ihr gesprochen all die Stunden mit der ihr märchenhaften Stimme, sie angesehen mit dem Blick, in dem sie ruhte wie in göttlichem Schutz, er hatte zuweilen leise ihre Hand in die seine gelegt und süßeste Geborgenheit war von ihrer guten Wärme ausgeströmt. Und er hatte zu ihr geredet nicht wie zu einem Kind, nein, wie zu einem verstehenden, ahnenden Wesen, das er in das Wesentlichste seiner Weltanschauung einweihen wollte. Seine Welt war das unendliche Gebiet der Erforschungen über Eindrücke und unbewußte Erfahrungen, die durch die Art der menschlichen Empfänglichkeiten möglich sind, zu deren Vervollkommnung Instrumente erdacht werden. Was der Mensch durch das begriff, was wir Ahnungen nennen, war ihm ein Teil des göttlichen Lichtes. Ein Ding an sich, ein Unabhängiges unserer Erkennbarkeit, einen Gott mit langem Bart im Sinne des gedrillten Glaubens, der zwischen sich und dem Himmel einen leeren Raum voraussetzt, sah er nicht. Ihm war Gott das Licht, jener wissende oder nur ahnende Strahl, jenes sich selbst vergessende Aufstreben zu einem Höheren, zu einer Fortsetzung unseres Selbst, in der wir uns überwinden und durch die wir verbunden sind mit dem Höheren der anderen. Die Seele war ihm hierzu die vorbereitende Stätte, wo Mittel geborgen waren, das Leben über seine tierischen Forderungen zu begreifen und zu bereichern, diesen ein Gegengewicht zu schaffen, aus dessen Wirksamkeit der Wert und die Vollkommenheit des Menschen zu beurteilen sei. Im genialen und produktiven Menschen sah er die Vorbedingungen zu dieser Vollkommenheit mitgeboren, oft aber im Werk erstarrt, im Kinde jedoch oder Kindgebliebenen in Ahnungen und Nebelbilder der Gedanken und Gefühle gegründet. Diese konnten die ganze Welt umspannen in ihrer Einfalt vor dem Unmöglichen und mählich von der Ferne zurückkehrend das Naheliegende begreifen. Kinder und Künstler sah er diesen Weg von der Imagination zum Nahen am langsamsten zurücklegen. Er wollte in der Schauung der märchenhaften Zusammenhänge in der Natur einen Ersatz geboten sehen für den selbstischen schwächlichen Traum dieser Lebenskinder. Die reale Welt war ein Wunder, wenn man sie mit dem Blick der Schauenden sah, sie entthronte den Traum und machte ungeheure Sphären frei zur Wanderschaft. Der Astronom weiß um die Unermeßlichkeit. Welcher Künstler könnte sie in seinem Hirne mächtiger gebären? Vögelchen begriff nun wie in einem Zauber und dennoch zum ersten Male zauberlos, daß sie unendlich weit sich aus dem Ich, das in die Umwelt gebannt ist, entfernen konnte, daß alle Fernen in ihr waren, alles Licht, alle Gottheit und ihre vielfältige Einheit und ganz dunkel ahnte sie schon das Ichlose, das ihr früher schon gedämmert war, da sie sich als ein Fünkchen auf Wanderschaft empfunden hatte. Sie sah sich geweiht Givo zu verstehen. Sie war gespeist vom Lichte seines Lebenssternes, sie fühlte sich selbst als Stern, erkoren von dem seinen. Und sie fühlte sich erlöst von jenem Schwanken der Wagschalen, wenn Tier und Mensch sich messen, um Gleichmaß bebend. Denn er lehrte sie, daß das Weltall und der Mensch selbst Vorgängen im Einzelnsten unterworfen sind, zwischen denen ewige Beziehungen und ewige Folgen bestehen. Vom gleichen Lichtgesetz sei der Mensch und sein Geist und seine Mutter, die Natur, gespeist. So lehrte er sie die Versöhnung von Körper und Geist und setzte die Seele als Vermittlerin ein, so zeigte er ihr auf, daß das Ich ein Gemenge von Vorgängen ist, die sich im Austausch mit den Vorgängen jener Umgebung befinden. So verstand sie auch Karinskis Wort, daß jeder Mensch an der Schuld des anderen und jeder andere an der eigenen Schuld mitschuldig sei. Sie begriff den Sitz seiner Güte, seiner verzeihenden Hilfsbereitschaft, da er die Verwicklungen erkannte, in die der Mensch mit seiner Umwelt geraten konnte, oftmals geraten mußte, wenn seine beste Einsicht der Schauung der Zusammenhänge versagte oder schwächer war als die Einwirkung des Außen auf die körperliche Schwäche und Lustbereitschaft. Denn das Licht allein schien ihm die Kraft, die unbewußte Kraft oft den bösen Folgen des Übels zu widerstehen. Dies Licht bedingt die Seele, die Seele selbst war von seinem Urstoff geschaffen. Sie erfaßte ahnend, was er von den Sternen wollte, daß er hart an der Himmelstüre der Unendlichkeit seiner Wissensarbeit einen Sitz errichtet hatte, um der Erde Wesen in dem Gesetz des Alls zu begreifen. Daß er in den Werken der Astrologen forschte (so sehr er auch das Horoskopieren als bösen Nebenverdienst wissenschaftlicher Quacksalber verwarf), daß er den Sehnsuchtkulten der letzten Dinge, den Mythen der Religionen nachhing, geschah in seiner Liebe zu einer neuen lichtvollen Gerechtigkeit, in seinem Trieb, das Dunkle zu entwirren und den Zauber der Wirklichkeit aufzurichten in der Legende.
Er erzählte ihr von erleuchteten Menschen und, während er sprach, drang ihre Gnade auf sie ein. Christus brachte ihr die große Tröstung der Liebe, Heilige kamen und ließen sie ihrer Einkehr teilhaftig werden, Gelehrte schenkten ihr die Früchte ihres Forschens, edle Menschen beglückten sie mit Zuversicht. Sie erlebte, als er sprach, wieder den Aufgang ihrer Gefühle über ihre Körperlichkeit wie in den Kinderjahren, wo ihr war, als flöge sie ins Weite, wie dann in den Nächten, da sie in den Schauern der Liebeslust sich hingegeben fühlte einer Unendlichkeit. Und alle Trostlosigkeit und Unwiederbringlichkeit, alle Anklage war gefallen. Sie richtete nun nicht mehr und sie wurde nicht gerichtet. Nicht ob ihrer Hingabe an Va, ob ihres Spieles mit jenem Jüngling, nicht um ihrer sinnlichen Träume, die nun mit ihrer Liebe zu Givo verschmolzen waren! Und als er schwieg und sie im Blick zu sich zog in all seiner Liebe, sagte sie leise, ganz leise: „Mir ist so wunderbar. Hab’ Dank.“ Und von diesem Augenblick an sagte sie du zu ihm wie im Gebet zu Gott.
Mit vollem Vertrauen war sie auch in Celias Asyl getreten wie an der Hand eines Engels und sie verlebte da den ersten Abend der Ruhe und des furchtlosen Vertrauens in das Leben, das nicht mehr wie eine unheimliche und verführerische Drohung sich auftat. Aber die Nacht rief sie zurück in ihr früheres Leben, ihr Traumzustand griff wirr in das Chaos von Vergangenheit und Zukunft.
Als Arabella auf ihr Zimmer gegangen war, saß Givo mit Celia beim Tee im Bücherzimmer, einem Raum edler Wohnlichkeit, während die Kinder mit Anna im Saal mit Gesellschaftspielen sich unterhielten.
„Und du willst auch an ihr wieder vorübergehen, obwohl du jetzt schon schmerzlich dein Entgleiten vorausfühlst, auch an diesem Mädchen, das dir teuerer ist als dir andere waren?“ sagte Celia mit schmerzlichem Vorwurf.
„Gerade sie darf ich nicht halten,“ sagte Givo, „weil so seltsam und unentwirrbar fein die Fäden ihres Wesens sind.“
„Du mußt sie stärker machen,“ erwiderte Celia.
„Damit ich sie doch dann zerreißen muß?“
„Lehrst du nicht selbst, der Zukunft unbesorgt zu sein?“
„Nicht meine Zukunft fürchte ich, nicht mein Leiden oder Unterliegen, sondern das ihre.“
„Du vergißt, wie selbstlos Frauen in ihrem Glück sind.“
„Und wie undankbar oft, denn ihr Genuß ist nicht der Genuß selbst, es ist das Lieben und höret nimmer auf.“
„Das macht uns ja so stark in der Liebe, daß wir doppelt gebunden sind, an sie selbst und an ihren Gegenstand. Und gerade unsere Ausdauer läßt sie Kränkungen und Zurücksetzungen überleben.“
„Aber es wird dann oft Haß aus ihr: eine andere Form der Liebe. Haß für den, der sie leichthin genoß, und wenn nicht Verbitterung, Liebe den Leidenden der Mehrheit.“
„Vergiß nicht, daß dieses Mädchen sehr jung ist. Deine Mutter mag anderer Meinung werden, du selbst zu eigenem Wählenmüssen reifen. Und wird es, wie du voraussiehst, mußt du sie lassen, so liegt noch das Leben vor ihr verklärt durch dich. Sie ist ja so jung, so köstlich jung.“
„Eine Frau ist so alt, Celia, als sie zu lieben und zu wissen begann um die Liebe. Deshalb bist du so jung, Celia, weil du an Jahren schon Mutter hättest sein können, als du erst wissend wardst.“
„Jung mit grauen Haaren,“ sagte Celia. „Um so stärker erleben wir die Liebe, wenn sie spät kommt. Aber wie immer wir sie erfahren, sie muß uns willkommen sein. Wir dürfen nicht wägen und wehren. Auch du nicht, Givo, wenn du auch deinen vorgeschriebenen Weg hast, deinen Weg der wissenden Hilfe. Muß er sich denn nicht behaupten gegen alle Proben, dein Weg der Liebe, auch gegen die Liebe? Und sieh, dies Mädchen ist Wachs unter deinen Händen. Ihr Blick hing an dir wie an einem einzigen Heil. Wir Frauen erkennen dergleichen. Da gibt es keine Verstellung. Du kannst aus ihr vielleicht die beste Frau erwecken. Deine Liebe könnte die Seele, die du mir anvertraust, im guten Feuer stählen und groß machen. Im Glück könnte sie reifen, an deiner Sonne köstlich werden. Nur im Glück, Givo, nicht in entsagender Sehnsucht. Die macht milde zuweilen, manchmal böse auch, aber immer schwächt sie und wirft uns aus den Reihen der Lebendigen.“ Celias Stimme erhob sich zu heißer Klage. „Wehe der Frau, der am Verlorenen ihr Herz hinblutet, wehe der Lebendig-Begrabenen, die unfruchtbar liebt!“
Givo erschrak. Er nahm Celias Hand. „Unfruchtbar, Liebe?“ fragte er leise besorgt. „Gibt es denn unfruchtbare Liebe? Verwandelt sie sich nicht bei den wahrhaftigen Seelen in tausendfältiges Lieben?“
„Ja,“ sagte Celia und drückte seine Hand, wie in einem Versprechen. „Der Mehrheit, wie du vorhin sagtest. Aber diese Verwandlung ist eine leidvolle Maske, die wir schließlich für unser wahres Gesicht halten müssen. Verschon’ dies Kind, wenn dein Herz ihm warm ist. Und sei gewarnt, Imanuel, daß deine Fügsamkeit sich nicht in Selbstsucht wandle, deine Freiheit zu behalten.“
Es klopfte leise. Anna fragte, ob Felix Blanc eintreten dürfe. Er wäre so erfreut gewesen von Givos Anwesenheit zu erfahren, als er eben, von einem Kranken kommend, seiner Braut Guten Abend sagen wollte. Blanc war längst Mitglied des „Sozialen Dienstes“ und ein Freund Givos. Es war Zeit, die Kinder zur Ruhe zu schicken. Cecile, Givo, Anna und Felix saßen noch lange beisammen.
I ndessen huschte Helene zu ihrer neuen Zimmergenossin. „Oh, ich weckte Sie,“ rief sie, als Arabella sich aufrichtete.
„Nein, ich schlief nicht.“
„Ich habe mich schon so sehr auf dich gefreut,“ sagte das liebliche Mädchen. „Ich darf doch du sagen, wir sagen hier alle einander du. Am liebsten hätte ich mich leise davon gemacht, als wir zu spielen begannen. Wie schön du aussiehst in dem weißen Gewand!“
„Und du hast so schöne blauschwarze Haare,“ sagte Arabella und streichelte Helene. Die beiden Mädchen schritten zaghaft aufeinander zu wie zwei Täubchen, die aneinander Gefallen finden und sich leise mit ihren Schwingen berühren wollen.
„Du duftest,“ sagte Helene und öffnete ihre feinen Nüstern. „Hast du gebadet? Du mußt eine ganz feine fremdartige Seife haben. Darf ich dir nun auspacken helfen, damit deine Sachen nicht gedrückt bleiben über Nacht? Oder bist du zu müde?“
„Nein, ich bin schon ausgeruht, Helene; nicht wahr, du bist Helene?“
„Daß du dir meinen Namen gemerkt hast!“ sagte Helene erfreut. Sie kniete vor Vögelchens Koffer und reichte ihr die Sachen hin. „Oh, so schöne Kleider hast du und die Wäsche, wie fein! Mama hat auch so schöne Wäsche. Wirst du das alles tragen, werde ich dich in all dem sehen und dir immer helfen dürfen?“
„Mein großer Koffer kommt noch,“ sagte Vögelchen ein wenig traurig. Sie dachte an die vielen schönen kostbaren Sachen einer kleinen Weltdame, die sie nun nutzlos besaß, und auf einmal stand Va vor ihr, der sie so fürstlich beschenkt hatte. Sie fühlte wieder seine Zärtlichkeit, verdrängte Bilder stiegen in ihr auf und trieben ihr heiße Röte in die Wangen. Und der Abschied! Va hatte gescherzt und alles nur als vorläufig betrachtet. Er haßte Sentimentalitäten. Von jeher hatte er Leidgefühle zurückgedrängt und die erstarrten Tränen hatten in seinen Leidenschaften Erlösung gesucht. Er würde ihr vorläufig nicht schreiben, denn das allein bedeutete Trennung, wenn sie von einander ganz frei wären, eine Zeitlang. Und die Trennung wäre ja nun einmal unter gemeinsamem Einverständnis beschlossen. Wie war das nur möglich gewesen! Dann hatte er sie geküßt unter Scherzen und liebevoller Peinigung, bis sie sich ihm lachend entwunden, weil Givos Wagen eben vorfuhr. Angele von Twede war auch gekommen. Und es war Vögelchen, als wäre die schöne Frau eine Fee, die alles mildern und schmerzlos machen konnte. Man blieb heiter bis zur Abfahrt.
„Denkst du an zu Hause?“ fragte Helene in Vögelchens Sinnen. „Hier ist es sehr schön bei Tante Celia. Du mußt nicht bange sein. Ach, wenn man doch nur ganz brav sein könnte, um es ihr zu danken. Sie ist so gut! Aber ich — — ich kann mich nicht beherrschen — — Vielleicht werde ich jetzt anders, weil du hier bist.“
Vögelchen freute sich der neuen Freundschaft. Sie packten aus und ordneten ein. Dann entkleidete und wusch sich Helene. Arabella half ihr. Sie küßten sich. Auf der Stiege erschollen Stimmen.
„Nun geht Herr Givo auf sein Zimmer.“
Vögelchen steckte den Kopf zur Türe hinaus und sah, wie eine der Mägde Givo die Treppe zur Turmzimmertüre hinaufleuchtete. „Gute Nacht!“ rief sie durch den Spalt.
„Gute Nacht, mein gutes Kind,“ rief er von seiner Türschwelle zu ihr hinab.
Helene lag schon in ihrem Bette. „Ich kam mit Großpapa,“ sagte sie, ihres Einzuges in Asyl Gloriot gedenkend. „Großpapa ist tot.“
„Und deine Eltern?“ fragte Vögelchen.
„Mama hat geheiratet, aber der Mann ist fort. Papa kannte ich nicht. Als Großmama starb, kam ich hierher. Mama ist jetzt Schauspielerin. Morgen zeig’ ich dir ihr Bild. Nun gute Nacht, schlaf wohl und sei glücklich hier. Ich werde dich lieb haben.“ Vögelchen setzte sich an Helenes Bett, ließ die weichen, blauschwarzen Ringeln durch ihre Fingerchen gleiten, nahm das blasse Gesichtchen zwischen ihre Hände und küßte es.
„Ich will dich auch lieb haben, Helene.“ Dann löschte sie das Licht und legte sich zur Ruhe. Bald schlief Helene fest und tief, wie Kinder schlafen. Vögelchen aber lag im Traum.
In einem Muschelwagen fuhr sie durch die Länder — Wiesen und Meere — und am Ende der Welt erglänzte ein Licht, es kam näher. Da stand Givo vor ihr. „Ich bin König des Morgenlands,“ sagte er. „Willst du ein Stern sein an meinem Himmel, der die Welten durchleuchtet? Mein Himmel ist der Mantel, der mich umhüllt, er ist mit Augen bestirnt und durchwirkt von Mondstrahlen. Dein Stern soll an meinem Herzen liegen und so hell erstrahlen, daß die Menschen es weithin sehen in ihrer Finsternis. Später, wenn unsere Arbeit getan ist, wirst du meine Braut sein. Jetzt wollen wir es einander geloben, Braut und Bräutigam zu sein. Niemand soll es erfahren, weil du nur ein Vögelchen bist, nur ein fliegender Stern im Äther, der nun an meiner Brust wohnt. Vor dem lieben Gott aber sollst du meine Frau sein, Arabella.“ Vögelchen richtete sich auf. Aus dem Fensterrahmen blickten zwei bleiche Vierecke sie an. In milchigem Glanz lag draußen die Nacht. Sie starrte hinaus und mählich erlosch das bleiche Licht und die Fenster waren nur mehr zwei schwarze Löcher Finsternis. Wenn es nicht wahr wäre, wenn er wieder ginge, wenn er ins Ausland reiste, wie er oft zu tun pflegte und sie allein zurückließe! Nein, sie war nicht allein, sie war unter freundlich klugen Menschen. Und sie konnte ja zu Va zurückkehren! Ob Angele von Twede immer bei ihm bleiben würde? Ob die nun seine Frau war, wie sie selbst es gewesen? Hatte man sie deshalb hierher gebracht? Hier waren alle Verlassenen und Cecile Gloriot ihre Mutter. Aber sie war ja ohne Mutter aufgewachsen und hatte nicht Sehnsucht nach einer Mutter. Va hatte ihr alle Menschen genommen, die sie liebten: die alte Amme, Urbacher, Konrad. Würde Va selbst nun nicht mehr schützend zu ihr stehen und ihr gehören? Hatte er sie verlassen, brachte Givo sie zu den verlassenen Kindern, weil sie selbst auch eines war? Die schwarzen Löcher Finsternis starrten sie an wie erloschene Augen, wie ihre eigene Angst blickten sie ihr entgegen. Da fiel ihr ein, wie Givo ihr die Qual genommen, sündig zu sein, wie sein Blick sie heilte und beruhigte, sein Wort sie rettete. Er würde ihr auch diese Furcht nehmen, die aus der Finsternis starrte. Mit einem Satz war sie aus dem Bett gesprungen. Helene schlief. Schon war sie draußen auf dem kalten Flur, huschte die Stiegen hinauf zur Türe, hinter der sie Givo hatte verschwinden sehen. Ach, durfte sie ihn wecken, ihn erschrecken? Sie stand, horchte und ihre Hand lag auf der Klinke und drückte. Da stand sie auch schon im Zimmer. Es war ganz finster, sie wagte nicht weiterzugeben, aus Furcht an ein Möbel zu stoßen, ihn unsanft zu wecken. Sein Atem war nicht hörbar, der Raum war groß. Im Kamin war noch ein verlöschender Schein der Glut. Nun sah sie die Fenster, sie gewöhnte sich an die Finsternis. Sachte schlich sie vorwärts. Da regte er sich im Schlafe, ganz leise seufzte er und wandte sich. Stille. Vögelchen hatte ihr Leid vergessen. Sie war bei ihm. Ihre Beseligung strömte ihm zu, schwebte um ihn wie warmer Flügelschlag. Er fühlte ihre Nähe, sein Auge, kundig im Finstern zu forschen, erblickte sie.
„Bist du’s, Kind?“ fragte er.
Sie erschauerte und kam näher. „War dir bange?“ fragte er. „Warum kommst du? Willst du mir die Hand geben und dann wieder in dein Zimmer gehen?“
„Ich fürchtete mich und ich fürchtete auch, du würdest des Morgens zeitig fortfahren ohne mich zu sehen.“
„Das konntest du glauben, Vögelchen?“
„Ich fürchte mich nicht mehr, selbst wenn alles wahr wäre.“
„Was wahr wäre?“
„Daß ich nun eine Verlassene bin.“
„Nein, sieh, das dachte ich nicht, daß du dich als eine Verlassene fühlen könntest, weil es hier Kinder gibt, die einmal verlassen waren. Du aber bist es nicht.“
„Doch, ich glaube, Va hat mich verlassen. Er ist ja nicht mein Vater, er nimmt eine andere Frau und ich habe keine Wohnung mehr bei ihm.“
Sollte er sie vertrösten? Würde denn Mannsthal nicht mehr nach ihr verlangen? Er wußte es nicht. Er konnte nichts versprechen. „Und ich, Vögelchen?“ sagte er.
„Du?“ rief sie in tiefem Gefühl. „Wie darf ich denn das, wie darf ich mich zu dir zählen? Wie darf ich denn dir gehören?“
Givo wußte, in diesem Augenblick schmiedete sich Arabellas Schicksal. Nahm er sie in sein Leben auf, so blieb sie heil an Körper und Seele, aber am Ende ihrer Gemeinschaft stand ein Schmerz, der war so groß wie ihr Glück, und er wußte nicht, ob sie es bestünde. Schob er sie aber leise begütigend in die Ungewißheit einer zerspalteten Zukunft, würde sie dann ihre erwachende Seele behaupten gegen Verführung und Anfechtung? Würde Cecile, so groß und rein ihr bildender Wille war, die leidenschaftliche Naturgewalt, die in diesem kindhaften Weibe lebte, meistern können, bis sie selbst sie zu besiegen Kraft fand oder um so wilder sie entfesselte? Nein. Cecile selbst hatte es ihm gesagt: Verschone das Kind. Nur im Glück wird seine Seele reifen.
„Fühlst du denn nicht, daß ich dich lieb habe?“ sagte er. „Du, die den Flug der Wolken, den Ruf der Vögel, die Stimme der Ewigkeiten begreift? Und wehrte ich mich dich zu lieben, ich betröge mich. Ich muß dich halten, Kind. Es muß wohl so sein. Und nun will ich es auch so. Ich komme wieder, bald komme ich wieder. Ich komme immer wieder zu dir.“
Sie hielt seine Hand, sie drückte sie, unfähig zu erwidern.
„Aber nun geh, Kind, du frierst, geh, bitte. Du sollst nicht hier sein zur Nacht.“
Vögelchen beugte sich zu ihm, sie umschlang seinen Hals. Sie suchte seine Lippen. Wie ein Hauch aus Wunder gewoben streifte ihr Atem seine Wange. Nun küßte sie ihn. Mit Worten konnte sie nicht Antwort sagen. Wie lange hatte er nicht einen jungen Mund an dem seinen gefühlt! Er hatte es selbst nicht gewußt, seit Wochen schon, seitdem er ihrer in Zärtlichkeit gedachte, hatte er keine andere Frau in seinen Armen gehalten. Ganz absichtlos war es unterblieben. Nun fühlte er es, nun reifte die grausame süße Frucht seiner Enthaltsamkeit. Nun war er ihr Beschützer nicht mehr. Und ihr Kuß, der bis in die Wurzeln seiner Sinne brannte, es war nicht der Kuß eines Kindes. Er flehte: „Geh, geh!“ Es war, als hörte sie nicht, als schliefe sie, als wären ihre Küsse die einer Träumenden. Ihre wundersam zarten Formen, wie sie sich anzuschmiegen verstand, wie sie zu vergehen schien! Sie war ganz Körper und doch war ihre Zärtlichkeit körperlos, ganz Seele, und doch schien ihre Umarmung die einer seelenlosen Nachtelfe, des Weibes, das nicht Name hat und Zeit. Ihm war, er müsse sie zerreißen, sie vernichten in seinem aufglühenden Feuer. Da ermannte er sich, trug sie in seinen Armen, oh, wie sie, die Kundige, jetzt seine begehrende Kraft erkannte! Aber willenlos war sie seinem Willen untertan, auch dem entsagenden. Und sein Überwille trug sie vor die Türe, sachte die Stufen hinab. Mit einem Kuß, tief in ihre Lippen gesenkt, dem ersten und letzten dieser Nacht, ließ er sie vor ihrem Zimmer aus seinen Armen gleiten.
„ L ieber Kon, da Du nun wieder auf möglichen Wegen gehst, muß ich Dich doch recht fest an den Ohren nehmen. Sag’, Junge, hast Du ein Recht, Dein Leben den Schweinen zum Fraße hinzuwerfen, Du, der Du die Lehren des heiligen Augustin predigst, daß jeder den Gott in sich trägt, jeder ein Teilchen Gott ist? Nun, Gott wird sich bedanken für Dein Teilchen, wenn Du es ihm nun nicht reinwäscht und rein erhältst. Du weißt, Kon, ich hab’ geschwiegen, solange Du bedrängt warst, hab’ nur geraten, ohnmächtig aus der Ferne, nicht gescholten. Wie hätte ich Dir denn eine Stütze sein können, wenn ich sie Dir unter dem Arme weggezogen hätte, um Dich damit zu schlagen? Aber sieh Dich vor, Kon, Du weißt selbst nicht, wie tief der Abgrund war, an dessen Ufern Du einhergingst. Ich weiß es, Kon, denn im Elend durchmißt man alle Tiefen der anderen. Auch Du wirst später schaudernd an diesen Abgrund denken. Enttäusche die Menschen nicht, die Dir geholfen haben, erwarte nicht das Unmögliche, daß sie Dir endlos helfen. Die Wohltätigkeit, sei sie noch so persönlich gemeint, ist demütigend und erkaltet, wenn sie sich blamiert. Sie hat nicht die Ausdauer einer freundschaftlichen Hilfe, sie ist wie der Zahnarzt, der keine Geduld hat, wenn in seinem Wartezimmer sich die Patienten drängen. Nütz’ Deine Zeit, Koni.
Ich streu mir heißblühenden Mohn in meinen Werktagsacker. Ein Wind verweht ihn. Ich wein’ ihm nicht nach. Der Kleine hat den Scharlach gehabt. Ich wollte es Dir nicht schreiben, damit Du nicht eine Sorge dazu hast. Selma hat es erfahren. Da ist sie eines Abends gekommen. Und nun ist es, als wäre sie täglich bei mir, obwohl ich ihr das Versprechen abgenommen habe nicht wieder zu kommen. Es brächte ihr Gewissenskämpfe. Grüße Deine Freundin Jeanne. Sag’ ihr, Arbeit und ein Kind helfen den Traum „Mann“ ersetzen, nicht seine Wirklichkeit. Ich helfe mir mit Episoden, das aber sag’ ihr nicht. Ihnen ist nicht jede Frau gewachsen. Die Eltern sind gesund. Denk auch an sie, Kon. Käme doch über uns alle Licht und Segen. Der meine ist bei Dir. Mach’ keine Sorgen mehr Deiner treuen
Hedwig.“
Er schämte sich, er schämte sich so sehr und das trieb ihn an, seine Eigenart besonders auszuspielen, damit man nur ja nicht merke, wie übervoll der Liebe er war, der Dankbarkeit und Reue. Gerade deshalb wollte er hart und streng erscheinen. Der Kreis der zu Rettenden bei Frau Calou wurde ihm bald lieb und vertraut und er wollte gern ihr Prediger werden, ihr Tröster. Heimlich hielt er sich für einen Nachkommen der Therapeuten, die sich Heilande genannt hatten und Seelenärzte gewesen waren. Jeanne Mercier war die erste, die er sich für seine Wirksamkeit auserkoren. Es war ja ein ganz banaler Fall, eine verlassene Geliebte, aber er spürte, da war ein ganzer Mensch. Jeanne hatte nicht von der Pariser Einrichtung Gebrauch gemacht ihr Kind auf die Drehlade des Findelhauses zu legen und frei wieder ihres Weges zu gehen. Warum? Aus Trotz, aus Liebe zu dem Manne, aus Mutterliebe? Nein, sie trotzte nicht, sie dachte nur nicht daran, sich dem Verführer mit seinem Kind im Arm in den Weg zu stellen. War er nicht unschuldig wie sie an dem Werk der Natur, das aus einem Vergnügen lebenslängliche Pflichten und einen Weg ins Ewige folgert? Sie dachte an den Mann mit Wehmut und mit dem leisen Schauer des Wunders, daß er ihren Leib fruchtbar gemacht, und sie hatte das Kind auf sich genommen, weil es hilflos war und sie sich scheute, nun allein zu bleiben. Sie gehörte nicht zu den Leichtblütigen und fürchtete fortan den Mann. Darum behielt sie das Kind und leistete Übermenschliches, um es zu behalten. Nein, sie wollte nicht eine Ausgestoßene sein in der Heimat der Liebe, ein Schatten nur der Mutter, zu der sie erwählt worden war. Sie wollte sich mit dieser Gnade bekleiden wie mit dem einzigen Festkleid, das ihr das Leben verliehen. Und Konrad fühlte sich zu ihr hingezogen um Hedwigs willen und weil er sah, daß sie das Kind nicht behielt, um den Mann an sich zu zwingen oder eine Märtyrerin zu scheinen wie andere. Sie tat das Natürliche ihrer Bestimmung, obgleich es unnatürlich schien der Gesellschaft zu trotzen, die Ehelichkeit fordert und kein Erbarmen hat mit Gesetzesstörern. So war ihr Konrad mit Ehrfurcht genaht und hatte der schüchternen jungen Frau eine Sicherheit zurückgegeben, die ihr Stärke und Lebensfreude bedeutete. Der anderen Genossen Schicksal war ihm fremder als das Jeannes. Er scheute jede Frage, um selbst ungefragt zu bleiben. Es kam der Sonntag, an dem er seinen Vortrag halten sollte. Er nannte ihn „Vai, das Vermischen“. Er, der vor wenigen Wochen bald Zuhälter, bald Messerputzer in einem Dirnenwirtshaus gewesen, weihte die Tischgenossen ein in die Lehren der persischen Religion. Er sprach ihnen von Ormuzd, dem Licht, dem Gott der Verklärung und von Ahriman, dem Gott der Weltlichkeit und Dunkelheiten. Er wies ihnen das Wesentliche des persischen Glaubens, Vai, die Vermischung, die Versöhnung des Dunklen im Triebleben und der geistig erkennenden Welt. Aber er ließ es sich nicht genügen, schlicht aus der eigenen Herzensnot zu sprechen, die auch jene seiner Genossen gewesen sein mochte, der Kampf um das Licht des Erkennens. Ihm saß das Polemisieren zu sehr im Fleische, als daß er nicht jede Gelegenheit wahrgenommen hätte, um möglichst vielen Menschen eben das zu sagen, was gerade seine geistige Streitbarkeit reizte. Er hatte in der Bibliotheque ein Büchlein über Amalrich von Bena aufgestöbert, der um 1200 n. Chr. Lehrer zu Paris gewesen, und darin ein Wort gefunden, das ihn erschütterte.
Quod in charitate constitutis nullum peccatum imputetur (den in der Liebe Verharrenden werden keine Sünden zugezählt). Der über jenen Lichtsucher Amalrich schrieb, Konrad fühlte das erschauernd, mußte einer von den großen Erkennern sein. Eine geheime Lehre der Liebe, die ihre Wege in die verworrenste Vergangenheit hat, leuchtete wie unterirdisch heiliges Gold unter dem Kristall der Worte und berauschte wie Himmelstrank. Konrad fühlte, wie ihm die kalte Betrachtung benommen war, wie seine eigene Heilgabe schal wurde und wirkungslos. Noch war sein Besinnen ganz in Gärung und Wachstum, sein geistiger Organismus verlangte selbsthafte Entwicklung. Hier gab es für ihn nur ein Hinknien und Sichselbstaufgeben oder Rettung im Widerspruche, den Fehdehandschuh, die eigene Kraft zu versuchen. Den warf er diesem Dichtergelehrten hin, der Givo war. Ja, Givo, seinem unbekannten Wohltäter.
Unter den „Geretteten“ war auch ein junger Mathematiker, der im Observatoire arbeitete. Tagsdarauf erzählte er dort von dem Vortrag, der außerordentlich gewesen wäre, wenn er nicht mit einem läppisch frechen Angriff auf Imanuel Givos Lehre geschlossen hätte. Givo erfuhr davon. Gerade unter den Geretteten wünschte er sich Freunde. Sie ahnten dort nichts von seiner Hilfe an ihrem Lebensunterhalt. Warum wütete dieser Jüngling gegen ihn? Wenige Tage später erhielt er die Anfrage, ob er die unter anderem an Student Kruger gewährte Unterstützung, die in der folgenden Woche ablaufe, fortzusetzen gedenke. Er gewährte sie für zwei weitere Monate. Der Gefährdete und der Widersacher, sie waren ihm nicht ein und derselbe. Bald darauf erhielt Konrad einen Brief von Givo, in dem dieser ihn Bruder nannte und ihn an die Worte Thomas von Kempens erinnerte: daß es ein groß Ding um die Liebe sei, weil sie allein alles Ungleiche mit gleichem Mut dulde. Konrad empfand Abscheu vor sich selbst. Die Umkehrungen seines Wesens folterten ihn. War es nicht Hohn, daß er, der lügenhafte Lästerer, über „Vai, die Vermischung“ sprach, daß er die Klärung des göttlichen Lichtes pries, da er selbst allen Dämonen verfallen war? War es nicht würdiger und wahrer und ihm gemäßer, Messerputzer zu sein oder Zuhälter? Er blieb zwei Tage fern dem Mittagstisch der Frau Calou. In diesen Stunden des Selbstkampfes beschwor er Vögelchens Bild und setzte sich hin, ihr zu schreiben, wiewohl es ihm verboten war sich abermals ihr zu nähern. Er wünschte sie in die Heimat zurück, denn er selbst begann sich nach ihr zu sehnen, nicht nach dem Vaterhaus, aber nach den heimischen Lauten, der vertrauten Landschaft. Und vor allem nach etwas Ehrbarkeit sehnte er sich. Aber gerade dieser Sehnsucht schämte er sich. Als er sich Vögelchen nun gegenüber befand, indem er ihr schrieb, hatte er vergessen, daß sie an jenem Abend vor ihm geflohen war. Auch ahnte er nicht, daß sie von seinem und Camills Plan gewußt. Er sah Ariel wie vordem und wunderte sich, daß er nun nicht wußte, wo Ariels weltlicher Wohnsitz war. Wenn er zu Marguerite ginge und seine Liebessehnsucht so recht eindringlich ihr schilderte, vielleicht würde sie wieder wie damals sich aufmachen, Vögelchens Aufenthalt auszuspähen. Er war drei Wochen lang nicht bei Marguerite gewesen, da er die Sonntage mit Jeanne und ihrem Kleinen verbracht hatte, aber er war gewiß freundlich aufgenommen zu werden, denn Marguerite schätzte das Seltene und Ungewisse. Zu seiner Überraschung fand er das Zimmer der benachbarten Wohnung dem der Aupin angeschlossen und in diesem ihm fremden Raum saß Camill Custove in mangelhafter Bekleidung mit Marguerite vor Büchern und Heften. Er war im Begriff das Mädchen im Deutschen zu unterrichten. „Ich wandere aus,“ sagte Marguerite. „Dein Freund nimmt mich mit nach Österreich. Er sagt, ich würde dort als Gouvernante in feinen Familien mein Glück machen.“
„Du willst junge Mädchen erziehen?“ fragte Konrad und lächelte schmerzlich. Camill wollte sich diskret zurückziehen, aber Konrad wehrte ab. „Ich wollte nur fragen, ob ihr —“ Nun brachte er es nicht heraus, Vögelchens Namen zu nennen, hier vor Marguerite, der Dirne und zukünftigen Erzieherin und ihrem neuesten Liebhaber, dem Trunkenbold und Diebsgesellen Custove. „Was wolltest du fragen, mein Sohn? A propos, dein Liebchen sitzt im Kloster, Asyl Gloriot heißt die Klause, im Departement X, nahe von Chaly. Willst du sie nicht holen gehen und mit uns nach Hause fahren? Der Finderlohn wird dir über die ersten Sorgen hinweghelfen. Die Fahrt schieß ich dir vor.“
Konrad wehrte mit wortloser Geste dem Redeschwall. Nun rückte Marguerite nahe an ihn heran, legte den Arm um seine Schulter, kniff ihn ermunternd in den Arm und sagte: „Wer weiß, wie sie dort schmachtet, die Ärmste! Ach, solch ein Täubchen! Sie war voll Zärtlichkeit für dich. Sieh, Geld hat sie mir noch, ehe man sie fortbrachte, aus ihrer armen kleinen Sparbüchse für dich gegeben. Ich bin selbst arm, hatte sie gesagt. Mir sind die Tränen gekommen. Am liebsten hätte ich ihr statt das Geschenk zu nehmen selbst etwas geschenkt.“ Konrad drückte gutgläubig Marguerites gepolstertes Händchen. Aber er stand auf, reichte wie widerwillig dem Custove die Hand, nickte dem Mädchen traurig zu und ging wie unter der Last seines aufquellenden Schmerzes gebückt und geduckt die Stiegen herunter. Dieselben Stufen hatten Ariels Füßchen berührt, das feinbeschuhte, um ihm Hilfe zu bringen. Mutig war sie zu ihm in seine zweifelhafte Behausung gekommen. Und er sollte nun nicht die Möglichkeit finden nach ihrem Ergehen zu fragen? Feige, nein feige war er nie gewesen. Sein Gewissen gebot ihm den Weg, so war das Verbot seiner Retter nichtig. Und wenn sie fort wollte, fort mit ihm, zurück in seine Heimat, zur unbekannten Mutter? Er lief nach Hause, nahm seine Arbeit vor, schrieb bis zum Morgengrauen und brachte vorzeitig den letzten Teil der Abschrift fertig. Nun entschloß sich M. Tallandre, da der Kopist sich so fleißig und pünktlich erwiesen hatte, ihm die Übersetzung der Arbeit zu übergeben. Wenn er sie nun abwies, bekam sie ein anderer und ein Bruch mit den Rettern war möglich. Das reichliche Honorar hingegen würde ihm die Schritte, die er für Vögelchen unternehmen wollte, ermöglichen. Indessen bekam er wohl auch Antwort auf seine Briefe. Ein übriges an Fleiß gewährte ihm vielleicht einen Urlaub vor Abschluß der umfangreichen Arbeit. War es nicht Vögelchen, um deretwillen er Tallandre so prompt bedient hatte, war es nicht Ariel, sein Schutzgeist, der ihm diesen reichlichen Verdienst verschafft hatte? So ging er denn mit neuen Kräften wieder zu Frau Calou und vergaß auch die beschämende Polemik über seiner neuen Arbeit.
G ivo traf Herrn von Twede im Foyer der Großen Oper. „Angele schreibt Ihnen nicht? Nun, sie hatte keine Zeit. Es gab allerlei zu unterhandeln, ehe wir einander das große Schweigen besiegelten. Ja, das hat nun schon seit Jahren zwischen uns gedämmert. Nun gab es noch geschäftliche Abwicklungen, der Scheidung wegen.“
„Oh!“
„Keine Kondolenzen, mon cher. Ich leide nicht sehr, es ist ein wenig peinlich, alles andere ist schon durchlitten. Auch dürfte ich nicht zehn Jahre lang Angeles Lebensgefährte gewesen sein, wenn ich mich nicht zu dem Grundsatz bekennen würde, daß es verboten ist allzuviel zu leiden, um nicht andere leiden zu machen. Meine Zwillingsschwester lebt jetzt bei mir.“
Die beiden Herren gingen noch auf und ab, als das Glockenzeichen die Fortsetzung der Vorstellung anzeigte und das Foyer sich zu leeren begann.
„Sagen Sie, cher Givo,“ begann Herr von Twede nach einer Pause. „Wer ist eigentlich der zukünftige Mann Angeles? Ist es eine Persönlichkeit? Ich fürchte für sie. Ist er nicht ein Viveur?“
Givo sagte mit milder, trauriger Stimme und voll Herzlichkeit: „Fürchten Sie nichts für Angele. Sie sucht die großen Aufgaben. Wären Sie weniger unfehlbar gewesen, sie hätte Sie niemals verlassen.“
„Ich liebe es nicht, wenn Frauen Berufe haben,“ erwiderte ablenkend Herr von Twede, „selbst Angeles, Liebe und Heilung zu sein, hat mich immer peinlich berührt. Ich weiß, sie hatte kein Wirkungsfeld bei mir.“ Und nach einer Pause des Nachsinnens, in die beim Öffnen einer Türe von der Bühne her ein wehmütiges Aufschluchzen einer schmetternden Sopranstimme klang, sagte der hochgewachsene, weißblonde Herr: „Das aber war es, was sie mir einst geneigt machte. Wie seltsam die Wege des Lebens sind!“
„Bleiben Sie ihr gut,“ wollte Givo sagen. Aber Herr von Twede kam ihm zuvor.
„Ich werde sie nun auch verehren können wie Ihr alle, jetzt, wo ich keine Rechte mehr habe. Rechte setzen einen immer ins Unrecht auch vor demjenigen, von dem wir sie zu erwarten haben. Nun treten wir ein. Meine Schwester erwartet mich. Wollen Sie ihr Guten Abend sagen?“
D er Frühling hatte auch Celias Garten geschmückt, die Hecke ans Gitter gedichtet und in den Beeten lichte Farben angezündet. Die Wege waren mit Kies bestreut, Gil und Nini hatten die Paquerettes, die Gänseblümchen aus dem seidigen Rasen gepflückt und jedes der Kleinen hatte sein Beet bestellt. Unter der alten Linde mit der weißen Rundbank saß Arabella in der Stille des Vormittags mit einem Buch. Nicht weit von ihr schlummerte ihr kleiner Liebling Alphonse, warm besonnt in seinem Korbwagen. Seit mehreren Wochen versorgte sie tagsüber das neun Monate alte Kindchen, das seine Amme plötzlich hatte verlassen müssen. Sie selbst hatte es entwöhnt und freute sich nun seines Gedeihens. Nichts konnte ihr lieber sein mit Ausnahme von Givos Briefen und Besuchen als der Augenblick, wo des Kleinen Brei, sorgsam ausgekühlt, nun löffelweise in das rundlich geöffnete Mündchen spazierte, wobei die großen dunkelblauen Augen sich mit zärtlich ängstlicher Frage zu ihr wandten, ob denn auch der nächste Löffel gewiß sei. Arabella gab sich Mühe, das Kind nicht durch Küsse während dieser heiligen Handlung zu stören. Wenn es dann satt war, mußte sie, so hatte Felix Blanc sie belehrt, es ganz still hinlegen, damit der kleine Magen das Genossene ungestört verarbeiten konnte. Dann aber schlief es. Ach, so spärlich war die Zeit, wo man es unbeschadet liebkosen konnte! Felix Blanc war sehr oft in der Säuglingsstube, während Alphonse von Vögelchen entwöhnt wurde. Er wurde in lange Gespräche verwickelt, denn sie war so gründlich, daß er sie neugierig nannte, und so pedant, daß er sie nur mehr Frau Professorin ansprach. Wenn er bei Anna sich um ein krankes Kind erkundigte, sagte diese lächelnd: „Die Frau Professorin wird es wohl besser wissen.“ Und sie sah dabei ihren langgewachsenen Bräutigam schalkhaft lächelnd an, als wisse sie Bescheid um sein verhohlenes Entzücken. Vögelchen fragte Anna, warum sie nicht Hochzeit halte mit Felix Blanc, aber Anna antwortete, daß sie immer ein Brautpaar bleiben würden wie die heilige Cecilie und der Römerjüngling Valerian. Arabella sann und sie fragte sich, ob denn auch sie und Givo immer Braut und Bräutigam sein würden. Seit jener Nacht hatte sie ihn nicht mehr aufgesucht, wenn er, was seither mehrmals geschehen war, zu Gaste kam. Aber sie begleitete ihn, wenn er abreiste, und sie blieben dann mehrere Stunden beisammen in sanftem Gespräch und guter Zärtlichkeit. Nachts, wenn eine unbestimmte Sehnsucht sie befiel, sie hütete sich, dafür Givo verantwortlich zu machen, wenn sie dann in ihrem Bette sich regte oder gar ans Fenster ging, war sie gewiß Helenes leises Rufen zu vernehmen und dann fühlte sie sich von schlanken Armen umschlungen und eng aneinander geschmiegt schlummerten dann beide Mädchen ein. „Nur nicht allein sein mit seiner Sehnsucht,“ sagte Helene, die ihr kleines Laster aufgegeben hatte, seitdem Arabella bei ihr wohnte. Während dieser Zeit waren zahlreiche Briefe Konrad Krugers an Vögelchen eingelaufen. Celia zeigte sie Givo, der die Schrift erkannte und entschied, daß sie Arabella nicht ausgefolgt würden. Er sandte sie uneröffnet an Konrad zurück. Er bat ihn zu sich. Er wollte ihn fragen, was er bei Arabella zu erreichen gedenke, er wollte ihre Ruhe ihm ans Herz binden. Aber Konrad kam nicht. Zu dieser Zeit war er bereits nach Chaly abgereist. Da er keine Antwort bekommen hatte, vermutete er, daß seine Briefe nicht bis zu Vögelchen gelangt waren. Er hatte in sie sein Bestes ausgeströmt, sie hätten nicht nur Vergebung erlangt, sondern Vögelchens warme Teilnahme erweckt. So entschloß er sich, von Tallandre Urlaub zu erbitten und ein Äußerstes einzusetzen, um Arabella auf sich aufmerksam zu machen. Er betrog seine Wohltäter, aber er beruhigte sich damit, daß er ja auch jener Frau und Mutter über Vögelchens Verbleiben Rechenschaft schuldig sei. Wie ein Flug ins Freie nach dunkler Umkerkerung erschien ihm die Reise in den strahlenden Frühsommer, die ihn in Vögelchens Nähe führen sollte. Die geliebten Chalets der Pariser erschienen ihm rührend bescheiden wie kindische Baukastenspielerei gegen die Landhäuser zu Hause, von denen jedes eine kleine Welt für sich war. Wie wenig ausgenützt war dort der Grund, sorglos nur dem Lustwandeln geweiht, während hier jeder Bahndamm genutzt zur Anpflanzung, zur Kaninchenzucht jeder Bretterverschlag, jedes Haus umrankt war von Obstbäumen und Rebe. Er erinnerte sich der Spaziergänge mit dem Vater an den Geländen der Stadt, wo schon einsame Landschaft sich aufschloß, wußte von einem Abend längs der Mauer des kaiserlichen Tiergartens, wo sie zwischen dunkelndem Kieferwald Wiesen entdeckt hatten und häuserfern einen von Pappeln umstandenen Teich: vorzeitliche Haine. Das Wiesel war ihnen über den Weg geflirrt. Wie ein Erlebnis brachten sie das mit zur Stadt, er und der Vater. Er und der Vater! Einen Augenblick starrte er hinaus auf die fremde Landschaft. Dann quoll etwas Heißes in sein Auge, kollerte hastig, als hätte es Eile zu verschwinden die Wange herab. Lautlos perlte es nun durch seine vom Schreiben gekrümmten Finger, rieselte über und unter ihnen hervor. Da ... eine fremde Hand tastete sich zu ihm hin, legte sich begütigend auf sein Knie. Er sah sie tief erschrocken. Eine Frauenhand war es im grauen, ehemals wohl teuren Handschuh, der jetzt schmutzig und geflickt war. Nun kam er zu sich. Nun würgte er es hinab, was als Knollen von Schande und Leid um Unwiederbringliches in seinem schluchzenden Halse saß. „Es ist nichts, es ist nichts,“ sagte er und schob die Hand leise weg. Durch die Finger der seinen, die ihn verbergen sollte, sah er die Frau ihm gegenüber. Sie war nicht hübsch, verlebt die Haut, grob die noch jungen Züge, aber der Blick ihrer großen, runden Augen war treuherzig wie der eines Hundes, der bittend und teilnahmevoll auf seinen Herrn gerichtet ist. „Lachen Sie doch lieber, lachen Sie den großen Menschen aus, der weint wie ein Schuljunge,“ sagte er. „Ich weiß selbst nicht, wie das gekommen ist, ich dachte an meine Heimat.“
„Nostalgie,“ sagte sie mit tiefer Stimme und sie dehnte das e wie die Schauspieler der Comédie française . „Nun, ich lache nicht, es gibt so wenige Männer mit Gefühl.“ Sie wäre Schmierenschauspielerin, erzählte sie, und eben auf dem Wege zu einer neuen Anstellung. Einmal, da hatte sie sichere Aussichten gehabt in Paris ein gutes Rollenfach an einem zweiten Theater zu bekommen. Der Kontrakt war unterschrieben. Da war ein Mann in ihr Leben gekommen, ein Abenteurer, der riß sie mit nach Brasilien. Oh dort, eine Hölle war es gewesen! Dann — als sie zurückkam, hatte sie sich mit schlechter Provinz begnügen müssen. Aber sie genoß Ansehen unter ihren Kollegen, denn den Kontrakt besaß sie noch. Sie zog ihn hervor und zeigte ihn.
Konrad stieg mit ihr aus an der Station, wo sie beide den Zug zu wechseln hatten. Er wollte mit ihr warten und dann weiterfahren. Nun, sie hätte auch keine Eile. Ob sie nicht das kleine Städtchen besehen wollten? Das Gepäck konnte an der Bahn bleiben oder in die „Sonne“ geschafft werden, den kleinen Gasthof, in dem es so gemütlich sei. Sie hatte da schon einmal übernachtet. Konrads Neugier lehnte nicht ab. „Nun, und erzählen Sie weiter,“ bat er, nachdem er dem Lohndiener die Koffer übergeben. „Wie war das auf dem schrecklichen Schiff, mit dem Sie abfuhren?“
Sie sprachen die halbe Nacht und dann geschah etwas, das böse Folgen nach sich zog. Am Morgen trennten sie sich herzlich ohne Versprechen einander wiederzusehen, denn er fuhr südwärts, sie ostwärts und sie sollte ein halbes Jahr in ihrer neuen Anstellung verbleiben. Ihre Züge verwischten sich in seiner Erinnerung, bald vergaß er ihren Namen, aber die Keime einer Krankheit, von der sie ergriffen zu sein vielleicht selbst nicht gewußt, blieben in ihm und verheerten sein Leben.
Noch wußte er nichts von dem Gift, das in ihm seine unheimliche Tätigkeit entfaltete, er fuhr in Ariels Nähe und das verlöschte die Erinnerung an diese zufällige Nacht.
In Chaly wußte er bald Näheres über Asyl Gloriot, daß es kein Kloster sei, daß niemals ein Geistlicher dorthin gelange. Man sei zwar fromm dort und wohltätig, aber auf seine Art. Das Haus liege inmitten von Feldern, weithin sei jeder sichtbar, der sich ihm nähere zu Wagen oder zu Fuß. Nachts lagen zwei Bernhardshunde zur Wache. Konrad kaufte sich eine schwarze Brille und eine Botanisierbüchse. Er gab sich den Anschein Heuschrecken zu fangen und näherte sich den Feldern, die Asyl Gloriot umfriedeten. Er kam an das Gitter, sah die Kinder, Anna, Helene mit dem Schützling Vögelchens. Vögelchen war auf ihrem Zimmer. Sie fühlte sich jetzt manchmal, obwohl sie aufblühte, matt und schwindelig. Felix Blanc wunderte sich, daß sie noch nicht, wie selbst Helene, die jünger war, zur Jungfrau gereift war. Das war wohl die Ursache ihrer Kopfschmerzen, die noch ohne weitere Begleiterscheinungen allmonatlich bei ihr auftraten. Ruhe allein half ihr. Konrad hatte vergeblich über das Gitter gelugt. Ein zweites Mal kam er auf dem Wagen des Wäschers angefahren. Den hatte er auf der Landstraße angesprochen und ihn, neugierig wie er war, nach seinem Fahrziel gefragt. Asyl Gloriot war die Antwort. Ob er ihn nicht aufsitzen lassen möchte um einen Franc für Hin- und Rückfahrt. Gern; wenn er mit ihm zurückfahren wolle, müsse er auf dem Bock sitzen bleiben, bis er die Wäsche abgeliefert. Das war ihm gerade recht. Vom Bock aus sah er besser über die Hecke. Clothilde erschien. Sie hieß den Wäscher den Korb vor die Türe hinsetzen, rief die Kinder herzu, jedes nahm seine Sachen in Empfang und brachte ein Säckchen mit. Da erschien Vögelchen an einem der Fenster, Alphonse auf dem Arm, der zärtlich sein Köpfchen an ihre Schulter schmiegte. Sie sah rosig aus, hold in ihrem mütterlichen Glück, umrahmt vom Fensterbogen, ein heiliges Bild. Sie rief: „Helene, vergiß nicht meinen Zettel, ich füttere Alphi eben.“ Dann verschwand sie. Der Wäscher kam, sprang auf den Bock, zählte das Geld, das er erhalten, rückte die Körbe zurecht und wandte den Wagen. Sie fuhren ab. Konrads Blick rüttelte an dem dunkeln Viereck des Fensters. „Noch einmal komm, Jungfrau Maria,“ stöhnte sein Herz. Der Wagen holperte über eine Biegung der Straße. Das Haus verschwand hinter Bäumen.
Bald darauf ging er zu dem Wäscher, dessen Häuschen ihm nun bekannt war. Er legte Geld auf den Tisch und bat ihn, einen Brief in die Wäsche zu spendeln, die mit A. M. gemärkt sei, eine feine Wäsche müsse es sein. Der Wäscher schlug es ab. Er könne die Kundschaft verlieren. Die Frau kam neugierig herzu, die Sache interessierte sie. Konrad sagte, dies sei das Geheimnis einer unglücklichen Mutter, der man das Kind geraubt habe. Er bat ihm diesen kleinen Dienst zu erweisen. Niemand würde es erfahren, diejenige, für die der Auftrag bestimmt sei, erwarte dies Schreiben. Er legte noch einen Franc hin, aber schon ehe er dies getan, ward schon die Frau seine Fürsprecherin. Der Mann sah neue Schwierigkeiten. Es wären zwei A. M. da. Er wisse so gut wie sie selbst, meinte die Frau, daß A. M. mit dem roten Kreuze Fräulein Anna sei. Sie suchte in den Wäschestößen, die schon wieder bereit lagen in das Asyl gebracht zu werden, und zog eine duftige Morgenjacke hervor, die eben noch überplättet werden sollte. „Da geben Sie Ihren Zettel, ich weiß schon Bescheid. Sie meinen die Zarte, die immer das schwere Kind schleppt, seit dem Herbst ist sie hier. Sagte ich Dir nicht kürzlich, daß Fräulein Gloriot doch noch ein Kindermädchen aufnehmen sollte. Unsere Louise wäre gerade recht.“ Sie steckte geschickt das Briefchen unter die Fälbchen. Konrad bedankte sich und ging.
In dem Briefchen stand:
„Ariel, mein Ariel, oh, daß Du diesen Gruß erhieltest, einen von den vielen, die ich Dir sandte aus dunkler Zeit. Mir ward Hilfe, noch weiß ich nicht, wer es begann. Ich bin wieder ein geistig arbeitender Mensch mit reiner Wäsche, alles andere ist gleichgültig, wenn ich noch Deinen Segen dazu habe. Ich habe Dich mit dem Kinde gesehen, Maria, und seither ist Ruhe in mir. Ich wandere durch die Felder und lobsinge zu Deinem Preise. Ariel, der Du ein Kindlein liebst, ist es nicht Zeit, daß Du Deiner Mutter gedenkest, die mich zu Dir sandte? Sie härmt sich um Dich seit Jahren, ohnmächtig war sie Dich Deinem Versucher zu entreißen. Ich aber will Dich zu ihr geleiten. Vertrau Dich meiner Liebe. Komm mit mir in die Heimat, in Dein Mutterland. Ruh aus bei Deiner Mutter von Kampf und Krampf, gib von Deiner Sonne ihr, die Dich gebar, der Du das Licht schuldest, das Ormuzd in sie strömte um Deinetwillen. Ich erwarte Deinen Wink und führe Dich ihr zu.
In Treue bin ich immerdar
Konrad.“
A rabella war mit Helene in ihrem Zimmer. Helene plauderte immerzu. Aber nicht wie andere junge Mädchen sprachen sie von verborgenen Dingen, denn diese erregten ihre Neugierde nicht mehr. Jenes verborgene Leben aber, das sie kannten, hatte das andere nicht berührt, das sie mit Altersgenossinnen gemein hatten. Auch waren sie beide schamhaft im Wort. Sie sprachen über Blumen, Spiele, Bücher, Musik, Kleider, Ausflüge, über Anna, Felix Blanc und über Alphi. Er hatte zwei kleine Mütter an ihnen, die mit ihm spielten wie mit ihrer letzten Puppe. Heute sprachen sie auch von Alphis Eltern. Seine Mutter war tot, der Vater, ein Gelehrter, war dem jähen Schmerz geflohen. Eine Forschungsreise hielt ihn seit Monaten fern. Er war ein Freund Givos, Tallandres jüngerer Bruder. Wenn sie von Alphis Zukunft sprachen, wurde Vögelchens Blick ernst und träumerisch. Helene wußte, die Freundin fühle sich gebunden, könnte auch Alphi nichts versprechen. Helene aber wollte bei ihm bleiben, bis er ein großer Junge war. „Mama will keine große Tochter haben. Ich bin ihr immer im Wege. Es ist so unruhig bei ihr, meinte sie. Immer kommen Schneiderinnen und Herren und Freundinnen, die aufgeregt sind. Ich habe dort keinen Winkel für mich und die vielen fremden Leute sehen mich alle neugierig an. Ich möchte bei Tante Cecile bleiben oder Gouvernante werden. Kinder sind doch das Netteste auf der Welt.“
„Ich möchte gern eigene haben,“ sagte Arabella nachdenklich und schwieg dann, wie immer, wenn sie an Verborgenes ihres Lebens dachte, von dem Helene nur ein weniges ahnte. Sie nahm ein Wäschestück aus dem Kasten, um sich damit zu bekleiden, ehe sie sich an den Frisiertisch setzte. Da fiel etwas zur Erde. Sie bückte sich. Es war Konrads Brief. Sie besah ihn erstaunt und las ihn erbleichend. Helene war um Alphi beschäftigt und schenkte dem Vorgang keine Aufmerksamkeit. Erst als Vögelchen lange schwieg, sah sie auf.
„Helene,“ sagte Arabella, „kannst Du Alphi einige Tage allein versorgen? Ich muß verreisen. Du allein sollst es wissen. Ich werde heimlich fahren. Man ließe mich nicht fort, wenn ich darum bitten würde. Ich will zu meinem Stiefvater. Ich muß Aufschluß haben über, über meine — Mutter. Du mußt über alles schweigen. Versprich mir’s, Helene.“ Vögelchen umfaßte Helene, die zu ihr geeilt war. Die beiden Mädchen hielten sich umschlungen. Sie bebten vor Erregung.
Nachmittags entfernte sich Arabella, nachdem sie Cecile einen Brief zurückgelassen. Helene sah ihr angstvoll nach. In einem Päckchen hatte sie das Nötigste für die Reise. Es war ihr, als folge sie schlafwandlerisch einer Macht, die dies alles für sie bestimmte. Zuerst telegraphierte sie Givo das Ziel der Reise. Dann ging sie in die größeren Gasthöfe und fragte nach Konrad. Er war abgereist. Zehn Tage waren vergangen, seitdem er das Briefchen zu dem Wäscher gebracht. Auf dem Bahnhof erfuhr sie, daß Quesdon, Mannsthals Aufenthaltsort, nicht an der Bahn liege, daß sie bis zu der zunächst liegenden Station Balogne in Louvais den Zug zu wechseln habe. Das Warten am Bahnhof zu Chaly war peinlich. Sie fürchtete überrascht zu werden, so ging sie bis zur nächsten Haltestelle, eine Stunde weit. Dort hatte sie noch eine weitere Stunde den Zug abzuwarten. Wie ungeduldig war sie! Endlich saß sie im Wagen. Da stieg ein Geistlicher ein. Sie bat ihn um Auskunft. Er riet ihr, in Louvais zu übernachten und früh am Morgen nach Balogne weiter zu fahren. Ob sie sich denn nicht fürchte allein zu reisen? Er würde ihr gern die Adresse einer frommen Herberge in Louvais geben und ein Briefchen dazu, damit sie nicht im Gasthof übernachten müsse. Arabella nahm dankbar an. Es war ihr, als hätte ein Schutzgeist ihr den alten Mann gesandt, der nun mit zitternder Altmännerschrift ihr die Adresse schrieb: „Empfohlen von Thomas Brueuil, Dechant von St. Jacques in Trouai.“ Er stieg bald wieder aus. Es war nicht anders, als ob er nur erschienen wäre, ihr die Weisung zu geben. Es dämmerte, geisterhaft flog draußen die Landschaft an ihr vorbei. Eine warme, süße Nacht warf ihre Schwaden über den eilenden Zug hin, Ausstrom der reifenden Felder, die er durchmaß. Ein Gruß ferner Welten floß in sie ein und stärkte ihre verängstigte Kraft. Nach fünfstündiger Fahrt war sie in Louvais. Wie Meerluft trank sich der Atem der Nacht. Sie sprach eine Frau aus den ärmeren Klassen an, die zeigte ihr den Weg nach der Herberge. Die Stadt lag im Mondschein gebadet. Die keine Kathedrale war wie beeist, dunkle Schatten lagen zwischen den gothischen Mauern, in einer Glasrosette glitzerte ein Mondstrahl und sah wie ein göttliches Auge in das Helldunkel. Auf dem Hauptplatz plätscherte ein Brunnen, unbesorgt der Stille, in die er sprach. Da und dort gingen noch Leute, huschten wie Schemen vom Glast zu Dunkelheit, verschwanden in winkeligen Gassen oder in den stillen, verschlafenen Häusern, deren Läden sich selbst dem warmen Sommerabend verschlossen. Arabella wagte nicht mit lebendiger Sprache eine der Schattengestalten festzuhalten, um nochmals nach Straße und Haus zu fragen. Sie war müde und traumselig berührt vom Zauber der schlafenden Welt. Sie fühlte noch das Kreisen der Waggonräder in den Gliedern. Es war gut zu schreiten in der linden Stille. Sie erinnerte sich eines Kindermärchens, eines der wenigen, die ihrer seltsamen Jugend beschert waren, sah eine fremde Stadt, in der eine Prinzessin einen Königssohn sucht, der verzaubert bei der Fee Conta wohnt, in einem alten gläsernen Palast, dessen verrostete Türklinke aufschluchzt, wenn einer sie berührt. Und nun stand sie vor einem der alten Gebäude, dessen gewölbte Erker tiefe Schatten auf die Straße warfen und wußte, dies Haus ist Kloster und Herberge. Nur ein schwaches Licht hinter bleichem Vorhang kündete, daß sich noch Leben regte in dem Hause, das aus vielen Jahrhunderten zu kommen schien. Arabella erschauerte, ihre einsame Wanderschaft zur Nacht wurde ihr einen Augenblick zum Symbol für ihr Leben. Nicht anders als wie eine kleine vom Wind betäubte Meise klopfte ihr Fingerchen an die durchleuchtete Scheibe. Eine Nonne öffnete ihr, das Antlitz von der Laterne beschienen, und sprach den frommen Gruß. Vögelchen fühlte, wie ein musternder Blick ihre modische Kleidung streifte. Wie zur Gegenwehr streckte sie den Zettel des Pfarrers hin und nun stand sie in einer kühlen Halle, über deren Mauer das Licht der Laterne tanzte. Ihr war, als wölbten sich massive Spinnweben über ihr. Irgendwo tickte eine Uhr, während die Nonne mühselig las. „Ein Plätzchen für die Nacht?“ sagte sie dann mit jener oft den Nonnen eigenen Stimme. „Im Vorderhaus ist nichts frei,“ überlegte sie. „Nun, wir müssen eben durch den Saal und leise sein. Folgen Sie mir.“ Nachdem sie aus einer Zelle einen Schlüsselbund geholt hatte, schritt sie Arabella voran. „Wir haben heute die Prozession aus Aisle zur Nächtigung,“ sagte sie. Nun traten sie auf einen großen Hof. Ein steinernes Marienbild leuchtete hell zwischen Birkenstämmen, deren Laub rieselnde Schatten über die Steinfliesen malte. Ziegen und Schafe lagen da im Schlafe. Von ihren Leibern ging atmende Wärme aus. Kreuze ragten aus Büschen. Vögelchen sah es nicht anders als Druidensteine. Unheimlich fremd waren der in allen Kulten Unbelehrten die frommen Wahrzeichen. Aber der Frieden, der ausging selbst von dem voranleuchtenden Schreiten der Nonne, stimmte sie dankbar. Das Hinterhaus, zu dem sie sich begaben, ragte dunkel, von Jahrhunderte altem Efeu umrahmt. Über der gotischen Türe brannte unter einem Heiligenbild ein ewiges Licht, einem ängstlich flackernden Blutstropfen gleich. Die Nonne öffnete. Sie schritten durch die Sakristei an der Kirche vorbei, dann öffnete sich behutsam eine riesige Türe, nachdem die Nonne die Laterne zurückgelassen hatte. Sie tasteten sich durch einen Saal, darin lagen zehn Nonnen. Sie waren nicht entkleidet und hatten nur niedere, mit Gurten bespannte Betten ohne Polster und Decken. In ihren weißen Gewändern glichen sie Schwänen, die auf dunklen Wellen schweben. Eine oder die andere rührte sich im Schlafe, eine hochgewachsene Gestalt richtete sich spähend auf und schien wie in Verzweiflung zusammenzusinken. Leise ging der Atem von anderen, deren friedliche Züge Mondschein überglänzte. Das Nebenzimmer wurde nun Vögelchen zur Nächtigung angewiesen. Neben einem altertümlichen Bett stand ein zinnernes Waschbecken und ein Stuhl. „Schlafen Sie in Frieden,“ sagte die Pförtnerin und verschwand. Vögelchen ging ans Fenster, fast taghell strömte nun das Mondlicht in den kahlen Raum. Ihr war, als wäre sie gefangen und müsse einen Ausgang erspähen. Unten im Hof entschwebte das Licht der Laterne. Da erblickte sie schräg gegenüber zwei erleuchtete Spitzbogenfenster. Welch seltsames Treiben bot sich ihr dar. Nonnen saßen über Spitzenarbeiten gebeugt. Riesige Kreuze und heilige Wappen streuten ihre kunstfertigen Finger in weißes Gespinst. Jahr und Tag saßen sie wohl so, ein Leben lang über die heilige Spitze gebeugt, die Altäre, Pulte und Priestergewänder schmücken oder jahrhundertelang in Klosterschreinen modern sollte. Weltfern lag ihnen das lebendige Leben, wahnvoll waren ihre Gedanken eingesponnen in die Gewebe. Ihre Gebete und Litaneien rankten sich verworren um Kreuz und Krummstab und dumpfe Sehnsucht um Lilie, Rose und Akanthusblatt. Vögelchen wurde nicht müde hinüberzuschauen, aber plötzlich tappte etwas neben ihr über die Steinfliesen. Blitzschnell flitzte ein grauer Schatten vorbei: Mäuse. Da eilte sie ins Bett und zog die Decke eng an sich. Irgendwo tickte es in altem Holz. Fast hörbare Schwüle tastete sich über Nonnenschlaf zu ihr und hüllte sie in jene Dämmer, die Erlebnis, Wunsch und Furcht vermengen. Sie sah Givo sie irgendwo erwarten und alle Einsamkeit hatte ein Ende und sie stand vor Adalbert und bat ihn sie von der Mutter zu erlösen, die rief und sie nicht fand und die sie nur sah wie einen Schatten, der nicht wärmt. Aber Adalbert sprach nicht, er blickte sie an wie in fernen Nächten mit dem Tierbändigerblick, der ihr wie ein süßer Befehl durch die Glieder rann. Da fühlte sie wieder, nur bei Givo war Erlösung, denn sein Blick entwaffnete den des Zauberers. Vor Tagesanbruch weckte sie leiser, eintöniger Gesang. Die Nonnen beteten. Immer lauter wurde das Singen, immer heller das Tagen vor den Fenstern. Es war, als riefen sie das Licht im Gebet, und es antwortete ihnen mit silbernem Ruf. Als der Gesang verstummte, brach Sonnenschein in das Gemach. Vögelchen ließ Wasser durch ihre Finger perlen und kühlte sich die schlafheißen Wangen. Neugierig ging sie ans Fenster, die Stätte der Nacht im Tag zu sehen. Alles war heiter jetzt und von schlichter Ehrwürdigkeit. Die Nonnen drüben waren von anderen abgelöst worden. Kinder gingen über den Hof, Bäuerinnen mit großen weißen Hauben flügelten umher, dazwischen weiße und schwarze Nonnen. Die Pförtnerin war unter ihnen und Vögelchen verließ nicht ohne Scheu ihres modischen Kleides wegen das Zimmer, schritt durch den leeren Saal und begrüßte die Nonne. Die führte sie zu einer Greisin, deren Blick geistesabwesend war wie der eines kleinen Kindes. Sie reichte Arabella mit einem erstarrten Lächeln ein Brot. Vögelchen streifte ein schmales Ringlein, das sie seit Kinderzeit trug, vom Finger und legte es der Priorin in den Brotkorb. Die nickte und murmelte einen Segen. Dann trat Arabella auf die Straße und durch die erwachte Stadt fand sie den Weg zum Bahnhof.
D as Reisen war damals noch nicht, was es heute ist. Kleine Fahrten, zumal in der Provinz, galten schon als Abenteuer. Die Lokomotive hatte noch etwas von der Hexenmaschine. Die Bürger von Louvais wunderten sich nicht wenig, dies fremdartige kleine Wesen am Bahnhof zu erblicken, wie es gewandt sich ein Billett nach Balogne löste und ohne ihrer zu achten längs der Geleise auf und ab wanderte. Arabella fühlte selbst oft mit Erstaunen diese Unabhängigkeit in sich, die sie, die Zarte, mit Kraft und Sicherheit ausstattete, überraschende Entschlüsse fassen ließ, ohne daß ihnen bewußte Erwägungen vorangegangen waren. Gleichzeitig aber entsprang diese Freiheit einer Unterwürfigkeit für mystisch vorbestimmte Wege und Ziele ihres Lebens und ihr Gewissen war daher ohne Schranken und Reue. Diese scheinbar nebelhaften Vorgänge, ein Teil ihrer wesentlichsten Art, waren ihr nun viel klarer und selbstverständlicher und erfüllten sie mit zuversichtlicher Ruhe, denn sie überzeugte sich, daß diese heimlichen Gebote ihr Gewissen selbst waren, das für sie dachte und erwog und befahl, ehe ihr ein Urteil zufiel. Sie erfuhr, daß stets alle Mittel bereit waren, diese Gebote zu fördern und zu erfüllen. Was andere Zufall und Wunder nennen, war ihr natürlich und es schien ihr gegeben diese Wunder anzuziehen. Am Großen und Kleinen erlebte sie dies und war bedient von jenen unbewußten Witterungen und Ahnungen, die Givo ihr gedeutet hatte. Dies auch war es, was sie Lichtsuchern als ein astrales Wesen erscheinen ließ, das mühelos besaß, um was sie selbst sich in Geisteskämpfen mühten. Ihr war es gegeben in den göttlich wissenden Lichtsphären zu wandeln, wiewohl das tägliche Leben sie umgab, eine Aeonin im lebendigen Leben zu sein. Fremde lasen ihr diese Besonderheit von der Kinderstirn, ein Heiliges haftete ihr an, dem Halbkind, das schon durch alle Feuer der Sinnenlust gegangen war.
Ein Herr, kein Bürger, ein Gutsbesitzer vielleicht, sprach sie an. Er war schlank, schwarzbärtig, korrekt gekleidet. Ein Diener hielt sich in seiner Nähe auf. „Madame, darf ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein? Mein Bedienter wird Ihr Gepäck versorgen.“ Vögelchen erwachte aus ihren Träumereien.
„Danke,“ sagte sie. „Ich fahre nur nach Balogne, von dort aus will ich nach Quesdon. Dahin finde ich wohl einen Wagen.“
„Man geht eine Stunde zu Fuß bis an die Dünen,“ sagte der Herr.
„Ach, das Meer!“ rief sie. Sie hatte bisher nicht daran gedacht, daß sie es sehen sollte. Der Fremde lächelte. Sie sah erst jetzt, wie klug und ernst er aussah. Schwermut lag hinter weltmännischer Haltung verborgen, ein fast düsterer Blick, anders als Givos wissendes Schauen betrachtete sie, das neugierige flammende Auge eines Künstlers.
„Sie haben in Louvais übernachtet, darf man fragen, wo? Ich habe im besten Gasthof geschlafen. Sie waren nicht dort, wie schade! Sie sind ja fremd hier, eine Ausländerin, wie ich vermute.“
„Ich schlief bei den Ursulinerinnen in Louvais.“ Wieder lächelte er, aber unmerklich, schon mit der Absicht, sie nicht zu verletzen.
„Wie schade, daß Sie nach Quesdon fahren, ich reise nach Paris. Wie hübsch wäre es gewesen Ihnen Gesellschaft leisten zu dürfen. Sie haben den bessern Teil erwählt. Jetzt ist es schön am Meer. Ich komme von Etretat und spüre noch seinen Hauch in der Seele. Wäre ich doch dort geblieben, aber ich bin voll Unrast, mich jagt es umher, es jagt, es kreist —. Unzählige Briefe erwarten mich, Verabredungen, Korrekturbogen, meine Verleger, mir graut davor —.“ Er sprach es wie zu sich selbst. Und wie in plötzlicher Nervosität: „Francois, wir haben vergessen, unsere Goldfische zu füttern.“
Arabella sah plötzlich in der morgenhellen Landschaft nur seine düster flammenden Augen, diesen dennoch warmherzigen und gequälten Blick, hinter dem es noch wie Erinnerung an Schönheit und Lebensfreude aufzuckte. Sie empfand Mitleid mit der Unrast, die sie aus seinen Nerven knistern fühlte. „Sie sind krank?“ fragte sie. „Sie sollten Ruhe suchen.“ Ein Ausstrahl ihres Herzens war in ihrer Stimme.
„Ja,“ sagte er. „Ich bin müde, müde. Und man quält mich? Wenn Sie in Paris sind, rufen Sie mich zu sich, kleine Fremde. Ich spare Ihnen eine freie Stunde.“ Er reichte ihr seine Karte: Guy de Malpasse.
„Der Dichter?“ fragte sie.
„Um Gotteswillen, ja,“ sagte er. „Sie haben doch nichts von mir gelesen?“
„Nein, ich habe nur kürzlich Ihre Bücher auf dem Regal meiner Vorsteherin abgestaubt.“
„Lassen Sie es daran bewenden oder lassen Sie lieber den Staub darauf liegen. Ich schreibe nichts für Elfen aus Fremdland.“ Sein Zug setzte sich in Bewegung. Sein Blick flackte über sie hin, zurück in die Landschaft, zu La Guilette mit seinen carrés normands , dem Goldfischteich, den Erdbeerbeeten, den weißen Pappeln.
A ls sie gegen Balogne fuhr, wandten sich ihre Gedanken wieder bewußt dem Zweck ihrer Reise zu. Die Frage, die sie an Mannsthal stellen wollte, begann sie von neuem zu beängstigen. Ungeduld und Grauen auch trieb sie an ihn wieder zu sehen, den Zauberer. Sie dachte nicht daran, daß er selbst nicht den Wunsch geäußert hatte, sie in den Sommermonaten aus dem Asyl zu rufen. Er hatte vor einigen Monaten wieder begonnen, ihr zu schreiben, freundlich scherzhafte Briefe, in denen er auch zuweilen nach ihren Wünschen fragte. Sie hatte keine. Sie war mit allem reichlich versorgt, ja, sie schämte sich ihres Überflusses. Von Angele reihte er Grüße an. Von einer Veränderung, die er plane, schrieb er ihr und die er zu rechter Zeit ihr mitteilen würde. Was mochte er gemeint haben? Während sie sann, drängten sich einige Fahrgäste an die Fenster. Die Bahn überschritt die Somme. Sie selbst erhob sich, sie sah die Dünen und, durch einen Einschnitt ward das Meer sichtbar. Unendlich blau und still, ein Ebenbild des Himmels schien es dort wie eine riesige Wiese zu planen. Balogne wirkte gegen Louvais wie ein Variete gegen ein Passionsspiel. Ein geschäftiges modisches Treiben und die Emsigkeit, die aus dem Räderwerk der Stahlfederfabriken auszulaufen schien, umgaben sie. Bald war ein Wagen gefunden, aber als sie an die Dünen kam und der Kutscher ihr den Weg nach Quesnon zeigte, dessen Villen schon hinter einem schmalen Band von Bäumen auftauchten, sprang sie rasch aus dem Wagen und bezahlte. Sie wollte allein sein mit dem Meer. Der Sand war da und dort zu Hügeln aufgewirbelt. Auf einen solchen setzte sie sich und ließ das Wunder der See auf sich zuschreiten. Es war ein Sonnenwunder. Milliarden weißblitzender Fünkchen tanzten auf blauen Wasserhügeln, die in unabsehbaren Reihen aus unendlichen Fernen auf das Ufer zueilten. War es möglich, daß das große Meer nur ein Teil der Welt, ein Teil eines Teiles war? Die Luft, das Reich des Lichtes, war unendlicher noch, sie sah in den Himmel hinauf, wie ein Abgrund war die Höhe, sie war von seligster Bläue und diese Bläue nur war die Unendlichkeit. Ihr war, als wenn sie längst gestorben wäre und selbst durchsichtig wie Luft und Wasser, ein Teil der unfaßlichen Unendlichkeiten, hinzöge ins Maßlose. Und sie fühlte Givo in sich, wie sie ihn trug auf Flügeln ihrer Seele, wie er sie trug, wie sie wie ein Libellenpaar hinschwebten über Meere, Welten — Welten, Meere, Himmel — Unendlichkeiten. Eine Nebelpfeife weckte sie. Sie sprang auf, eilte den Bäumen zu. Landsitze standen dort in Gärten, spärliche Anlagen, dem Dünenland abgetrotzt. Sie wußte nicht, in welchem Haus Adalbert wohnte, aber sie vermutete, daß es das war, das auf festgefügtem Steindamm gegen die Dünen stand, den Blick frei auf das Meer gerichtet, während seitlich ein großes Stück Gartenland sich an die Felder und Anlagen schloß, die die Villenanlage von dem Ort trennte, dessen ländliche Kirche hinter kleinen Häusern sichtbar wurde. Vögelchen sah den Gasthof, ein breitspuriges Gebäude mit dicken Mauern, hinter denen es wohnlich aussah. Einige Tische standen vor dem Hause, Landleute und bescheidene Reisende saßen und standen davor. Auch sie setzte sich hin und bestellte ein Frühstück. Außer dem Brot der Ursulinerinnen hatte sie seit dem Mittagessen des vorigen Tages nichts mehr zu sich genommen. Sie aß Eierkuchen, trank dicke Milchcreme. Oh, wie hungrig hatte sie die Seeluft gemacht! Hier hätte sie Adalberts Wohnung erfahren, aber wer weiß, unter welchem Namen er im Ort bekannt war. Eine Scheu hielt sie ab, nach dem Haus zu fragen, das das einzige war, das sie allenfalls als ihr Vaterhaus bezeichnen konnte. So ging sie und spähte hinter Hecke und Zaun. Sie hatte nicht fehlgeraten, das stattlichste gegen Sturm und Winter geschützte war Vas Wohnstatt. Denn — ihre Hände griffen in die Eisenstäbe des Gitters, da ging zwischen bunten Vervenenbeeten eine hochgewachsene blonde Frau: Angele. Sie war schwanger. Sie sah kräftig aus und um vieles jünger in ihrem rosafarbenen Morgenkleid, das keinen Zweifel über die Veränderung ihrer schlanken Gestalt ließ. Adalbert, auch er war verjüngt wie vor der Krankheit, ein wenig stärker vielleicht. Er kam aus dem Hause wie zum Ausgehen bereit, küßte die Hand der Frau, umfing sie sanft, streifte ihr Haar aus der Stirn. Vögelchen erschrak, sie kannte diese Geste. Er lächelte dankbar einem Wort aus ihrem Munde. Dann kam er dem Ausgang zu. Vögelchen stand und es schüttelte sie, als hätte sie Fieber. Die Vergangenheit trieb ihr Blutwellen ins Antlitz beim Anblick ihrer Nachfolgerin, die die Frucht dieser Nachfolgerschaft so sichtbar trug. Weh ihr, wo sollte sie sich verbergen? Aber im selben Augenblick ging das Tor und Mannsthal stand vor ihr. Er erbleichte. Nun aber ersah sie seine Züge, seine Augen, seinen Mund, wußte, fühlte es wieder, daß er sie besessen, wußte um das, was in ihr im Dämmerschlaf gelegen, um jenes Leben der verebbten Sinnenlust. Sie hatte ihre Frage vergessen, sie fühlte nur jenes andere, fühlte den Zauberer. Aber auch er überwand seine erste Erschrockenheit und fragte mit Besorgnis: „Kind, warum bist du da? Ist Dir etwas geschehen? Allein diese Reise?!“ Er legte die Hand um ihre Schultern, wie er es eben bei Angele getan. Diese Bewegung brachte sie zu sich, rüttelte sie wieder zurück in die Erniedrigung, die sie empfunden hatte.
„Nicht da hinein,“ sagte sie. „Komm weg von hier,“ und sie entfernte sich eilig. Er folgte ihr.
„Du hast sie gesehen,“ sagte Adalbert mit warmem Bedauern in der Stimme, etwas Mildes klang mit, das neu war in ihr. „Bist du ihr denn böse, mein Liebes, Kleines, du? Verzeih mir, Kind, verzeih mir. Aber es mußte sein, das brachte mich dem Leben zurück, das abzuwarten. Das allein half mir meine Krankheit zu überwinden. Vielleicht wirst du das alles einmal verstehen.“ Schon war es Vögelchen, als spräche ein Fremder zu ihr. Es schmerzte, daß sie ihn als Fremden empfand, den ihre Augen, ihr Blut so gut kannten. Und jenes Haus, jene Frau ward ihr eine fremde Stätte, aus der sie ausgeschlossen und in die übrige, unendlich große Welt gestoßen war! Jetzt, ja jetzt mußte die Frage gestellt werden. Sie stieß sie unvermittelt hervor: „Wo ist, wer ist meine Mutter?“ Er fühlte es wie Rache und seine Antwort sollte mit gleicher Münze zahlen.
„Oh, eine gute, langweilige Frau, die dich wenig fesseln würde. Ich schätzte sie leidlich, als sie jung war und vor allem nur deinetwillen. Ich habe dich ihr abgekauft, als sie zu einem anderen und bald dann auch zu einem zweiten Manne ging. Das heißt, es war ihr vierter, falls dein Vater ihr erster gewesen, was wahrscheinlich ist. Dein Vater war ein Kranker, ein Dichter und Träumer. Deine Papiere waren nicht in Ordnung. Es war nicht schwer für mich dich als Tochter anzuerkennen.“ Als Mannsthal nun Vögelchens leichenblasses Gesicht sah, sagte er besänftigend: „Deine Mutter war nicht schlecht, nur völlig willenlos und sehnte sich nach einer Heimat bei einem Mann, der nicht zu viel und nicht zu wenig von ihr wollte. Jetzt hat sie ihn seit vielen Jahren und einen Sohn dazu. Ich war nicht gerade aufopfernd gegen sie — das will ich dir gestehen, aber sie lebt jetzt in glücklicher Ehe und verdankt diese Ehe dem Umstand, daß ich dich behielt. Du wärest eine Fremde dort. Bist du nun gekommen, mich anzuklagen? Bist du mir böse geworden, weil ich an dir Mutterstelle vertreten habe? Du warst doch recht zufrieden bei mir. Oder solltest du bereuen, daß wir, daß es — war es nicht schön? Sag“ — er faßte sie leidenschaftlich an — „war es nicht schön? Nichts, nichts konnte mir das, kann mir jemals das verschaffen. Hast du es abgeschüttelt wie eine Schande, weil es die stumpfen, heuchlerischen Menschen so nennen würden, wenn sie wüßten, wie glücklich wir gewesen sind in unserer Leidenschaft. Und nun hast du ja deine Schwärmerei und eine heilige noch dazu. Ich trete dich ab an Imanuel Givo. Bist du’s zufrieden?“
Vögelchen atmete schwer. Es war zu viel, dies alles zu bewältigen. „Sie ruft nach mir — diese Frau,“ sagte sie schließlich mühselig.
„Sie wird sich beruhigen, wenn sie erfährt, daß ich mich mit Frau von Twede vermähle,“ erwiderte Mannsthal. „Erspar’ dir also eine Enttäuschung und vertrau’ mir. Was hat dich denn getrieben, wer hat dich verhetzt? Givo schrieb, du wärest so glücklich in dem Heim!“ Sie waren in den Dünen draußen in der Einsamkeit und in die Stille sprach nun das Meer mit seinem rieselnden Raunen und Rauschen. „Du hast es nie gesehen, nicht wahr?“ sagte Mannsthal, als er sah, wie sie von der Gewalt des Elementes ergriffen wurde. „Ich denke oft an dich, wenn ich hier sitze, sehne mich nach deinem Plaudern, nach deinem kleinen Körper auch. Du bist sehr wohl, nicht wahr? Siehst frisch aus trotz der Reise und der überflüssigen Aufregungen, in die du dich versetzt hast.“ Er nahm ihre Hand in die seine und drückte sie heftig. „Komm, setzen wir uns hierher. Ist es nicht einzig, das Meer?“
„Ich will jetzt zurück in den Gasthof,“ wehrte sie. „Dort habe ich meine Sachen gelassen und erwarte Briefe. Ich will auch heute noch zurück. Fräulein Gloriot könnte mir böse sein.“
„So rasch willst du fort und willst nicht deine Scheu überwinden und zu Angele kommen?“
Vögelchen schüttelte den Kopf. „Es ist zu viel auf einmal,“ sagte sie und setzte sich müde hin. Er war gleich bei ihr, kniete zu ihr hin, küßte ihre Hände. „Mein kleines, mein geliebtes Kind! Laß dich nicht verwirren. Gehören wir denn zu den anderen, mit denen du vergleichst? Oh, du Liebes, du Schönes, du!“ Er bog sie zurück, er küßte sie, er liebkoste sie, er flüsterte ihr vergessene Worte ins Ohr. „Ist es nicht wie ein Wunder, es ist heute Nacht ein Jahr gewesen. Denkst du daran, jene Nacht, in der Rosina starb. Unsere schönen, heißen Nächte, Vögelchen!“
Nonnengesang hatte sie an diesem Morgen geweckt. Sie sah das fast blödsinnige Lächeln der Priorin, das aus einer Welt heiliger Einfalt zu kommen schien. Dort im Gasthof erwartete sie vielleicht eine Antwort von Givo oder er selbst. Sie sah die schwangere Frau im Garten und in der Ferne eine Familie, die sie fremd ansah, während sie auf eine Frau zutrat und Mutter sagen wollte. Wahnsinn grinste sie an. Aber dazwischen sang das Meer das ewige Lied, das alles Einzelne in seiner Unaufhaltsamkeit aufsaugt, alles Zeitliche in seiner Ewigkeit verschlingt. „Laß mich,“ sagte sie ohne Abscheu und Hast. Sie reichte ihm zum Abschied die Hand.
„Ich bringe dich zurück nach Chaly,“ sagte er.
„Jetzt will ich in den Gasthof und allein sein,“ erwiderte sie. Ihr Gesichtchen verzog sich, aber sie schämte sich der Tränen des Mitleides über sich selbst und gleich darauf zieh sie sich der Undankbarkeit gegen Givo, der sie unter seinen Schutz genommen. So eilte sie hinweg. Mannsthal stand auf, ihr zu folgen. Aber sie wandte sich und hob beschwörend die Hände. Nun schien sie über die Dünen zu fliegen. Sie entschwebte ihm. Seine Gewalt war gebrochen.
Sie lag im Gasthof zu Quesdon, dumpf, zerbrochen. In die gesteiften Vorhänge des Bettes schlug der Meerwind. Die Türe ging auf und Givo trat ein. Sie rührte sich nicht, sah nur in hilfloser Dankbarkeit zu ihm auf. „Warum hast du es getan, ohne mich?“ sagte er. „Es wäre alles besser, leichter gewesen.“ Er sah, daß sie gelitten hatte. Er streichelte sie. Ihr Atem wurde ruhiger. Sie sprachen lange. Aber als sie dann ihm, ja selbst ihm nicht alles sagen konnte, kam wieder Verzweiflung über sie. Sie lag wie abgestorben. Da wuchs seine Angst um sie, da wollte er mit ihr fühlen, daß es kein Traum war, daß sie zu einander gehörten. Er wollte sie wärmen mit dem Zustrom seines Gefühles, mit seinen Küssen ihre Erstarrung lösen und sie schloß die Arme um seinen Hals und hielt ihn und er wollte spüren, daß ihr Herz pochte, an seine Lippen sollte es schlagen. Er löste ihre Kleider in Zärtlichkeit, er fühlte sie wie eine lose Blüte duftend in seinem Arm verhangen, keine Abwehr war in ihr, wissend sog sie sich seinen Wünschen entgegen. Aber dann hielt er sie nur warm an sich, wagte nicht, sie ganz an sich zu nehmen, und selig spürte er, wie sie den Schmerz vergaß über der drängenden Sehnsucht sich ihm zu schenken. Lange lagen sie in sinnenraubenden Flammen regungslos verschmolzen, bis er, seiner nicht mehr mächtig, in sie eindrang. Da wußte er nebelhaft im Rausche, daß sie nicht mehr Jungfrau war. Sein Schmerz erstickte in Mitleid und Erstaunen überwältigte ihn, daß sie in Liebeskünsten gewandt wie Courtisanen und doch unbewußt war wie ein Kind und verklärt in ihrem Feuer. Während er sie besaß, stürzten Tränen heißer Trauer aus seinen Augen, während er sie glühend an sich riß, entsagte er seinem liebsten Traum. Aber Vögelchen wußte nicht mehr, daß sie ein anderer besessen, ahnte nicht, daß es eine Jungfräulichkeit gab, die geraubt werden konnte, und daß nicht Givo allein genommen, was sie einzig für ihn besaß. Viel später erst erfuhr sie, durchschauert von der Ungeheuerlichkeit ihrer kindlichen Vergangenheit, in einem zufälligen Gespräch die Veränderung vom Mädchen zur Frau. Und dennoch hatte Givo sie, die nicht mehr Jungfrau war, in anderem Sinne vom Kind zur Jungfrau gemacht, denn am Morgen nach jener Liebesnacht trafen Dr. Felix Blancs Voraussagungen ein. Givo schrieb an Celia, daß er in einigen Tagen erst Vögelchen ihr wiederbringen würde. Er ließ sie ruhen und umsorgte sie mit andächtigem Gefühl.
I manuels Vater war Spanier, Chemiker von Beruf und hatte sich mit dem Studium offizinaler Pflanzen befaßt. In Indien und Südamerika hatte er Plantagen besessen, in einer deutschen Hafenstadt sein Lager und eine Fabrik zur Verwertung der Rohprodukte mit umfangreichem chemischen Betrieb. Seine schwankende Gesundheit war durch Seereisen gefestigt, als er sich noch mit fünfzig Jahren ein zweites Mal zur Ehe entschloß. Er heiratete Lea Jakobs. Ihr Vater war Holländer, die Mutter eine Norddeutsche, in Hamburg begütert. Amos Givo war ein Mann von seltener Schönheit gewesen. Immanuel erinnerte sich mit Andacht des schwarzen Feuerblickes unter weißen Brauen, der edlen elastischen Gestalt, der klangvoll starken Stimme, deren Ausdruck unvergeßlich war. Lea war achtzehn Jahre alt gewesen, kaum ihrer Glaubensschule entwachsen, als der Bund geschlossen ward. Die Eheleute der Sekte, deren Givos Eltern angehörten, heirateten nur selten nach der Staatsreligion, zu der sie sich bekannten, und wenn dies geschah, so hatte diese formelle Trauung nur den Zweck, alles zu vermeiden, was die geheime Sekte gefährden könnte. Ihren Vorschriften nach blieb die Ehe frei und ward ohne jegliches Gelübde geschlossen. Ihre Verpflichtungen waren religiöser und seelischer, nicht gesetzlicher Natur. Die Heirat bedeutete bei ihnen die Verschmelzung des Lichtes mit der Erde, die Vereinigung von Geist und Blut, die Verklärung der Leidenschaft, sie war nicht Schwur einer Frau und eines Mannes einander zu dienen und Treue zu bewahren, sie war unlösliche Vermischung ohne äußeren Zwang und erzwungenes Gesetz, eine elementare Verbindung, deren Vollzog rein innerlich ist. Der Himmel, in dem diese Ehen geschlossen werden, ist das Weltenlicht, das die Erde durchdringt.
Lea Jakobs war siebenunddreißig Jahre alt, als ihr Mann starb. Ihre Liebe für ihn war exstatischer Überschwang, die Treue nach seinem Tode nährte den Glauben an ihre gemeinsame Lehre. Manuel war damals 17 Jahre alt. Sein Vater hatte vor seinem Tod alle Liegenschaften verkauft, um den Sohn nicht an Geschäfte zu binden, ihm volle Freiheit für das erwählte Studium der Astronomie zu gewähren. Der Jüngling reiste zwei Jahre lang, traf dann seine Mutter in Spanien, wo sie gemeinsam die Familien der Sekte besuchten, die dem Vater verwandt oder nah befreundet waren. Imanuel lernte Uhari, einen Weisen und zugleich Leidenschaftlichen, kennen, mit dem er seit seinem vierzehnten Lebensjahr in Briefwechsel gestanden hatte. Er liebte ihn mit ehrfurchtvoller Glut. Doch lange war ihm die Freundschaft mit diesem Mutigsten der Sekte nicht vergönnt. Eine tückische Krankheit raffte zugleich den noch jungen Mann und seine Frau hinweg. Die Glaubensgenossen vermuteten einen Giftmord und hielten sein Andenken wie das eines Märtyrers ihrer Lehre. Uhari hinterließ eine Tochter Zora, die zur Zeit, als Givo Arabella in sein Leben nahm, in die Glaubensschule eingekleidet werden sollte, nachdem sie unter Lea Givos Wohltaten herangewachsen war.
Fünf Jahre nach dem Tode ihres Mannes, als Imanuel in Paris und Greenwich studierte, erbte Frau Givo nach ihrer Mutter deren Villa in H., ein ehrwürdiges Haus am stahlblauen Wasserbecken, in dem schon der Wellenschlag des Meeres sich kräuselt und die weißen Mövenschwärme sich wiegen. Samtene Rasenflächen senkten sich vor dem Hause zu einer vornehmen Straße herab. Hinter alten Bäumen stand das Gebäude, Lea Givos einsamer Wohnsitz. Manuel war fern. Er hatte sein Wirken in der Welt angetreten.
Lea ging durch die Straßen, niemand kannte sie. Ihre Nachbarn wußten nicht, ob das Haus bewohnt sei, so still blieb es. Sie war noch schön und wußte es im Spiegel der fremden Blicke. Ängstlich versenkte sie sich in den Glauben, ihr begehrendes Blut zu beruhigen, und es war ihr, als müsse sie um des neugläubigen Sohnes willen ihrer alten frommen Lehre getreuer sein. So fand sie auch unter den Genossen wenige, die ihren Eifer in gleichem Maße teilten.
Givo bat in jedem Briefe, sie möge ihren Starrsinn lösen und seinen Wohnsitz teilen, und obwohl sie nichts heißer ersehnte als den Sohn, entschloß sie sich nur schwer ihn zu besuchen, Kämpfe fürchtend. All ihre Liebesfähigkeit hatte sich in ihren einsamen Stunden in die selbstvernichtende Sucht ergossen, ihn allein zu besitzen, ihn nicht zu teilen mit anderen Frauen. Heimlich hatte sie ihm Uharis Waise, Zora, ihren Schützling, zur künftigen Frau erwählt. Diese würde sie nicht berauben, da sie ihr alles verdankte, was sie genoß. Zuweilen kam Imanuel und sie reisten. Sie hatten in allen Ländern Verwandte wohnen und die Sippen der geheimen Glaubensgemeinschaft. Einmal besuchten sie gemeinsam Zora Uhari in Dresden, wo diese in einem Pensionat lebte. Als Givo dann nach Frankreich zurückkehrte, wurde sie ihm zur Begleitung nach Lausanne anvertraut. Sie saß ihm gegenüber, trotzig, schweigsam, eine Welt von Geheimnissen hinter der bleichen Stirn und den verschleierten, mandelförmigen Augen. Sie war schön wie ein „Bild“, eine Schönheit ohne Wort und Geste. Es war ein unlösliches Schweigen in ihr, als hätte der jähe Tod der Eltern ein trauerndes Standbild in ihr und sie schien auf ihren Schultern jene Knechtschaft zu tragen, gegen die ihr Vater sich nutzlos aufgelehnt, um daran zugrunde zu gehen. War jemals der Verdacht jenes Giftmordes zu ihr gedrungen, hatte der in ihr das Lachen, die Jugend in der Seele erstickt? Aber Givo ahnte: sie liebte die Lehre nicht, ja ihm war, als haßte sie ihre Besonderheit und er erschauerte, ihres Vaters gedenkend, der ihr Held gewesen war. Sie schrieben einander nicht und er erfuhr auch vorerst nichts von seiner Mutter Absicht sie zu vereinen. Diese meldete ihm nur, daß Zora das Schweizer Pensionat verlassen hatte, um in die Glaubensschule einzutreten. Am Wege würde sie bei ihr ausruhen, dann werde sie ihm wohl noch mehr von Zora zu erzählen haben. Der nächste Brief aber enthielt nichts von Zora. Er lautete: „Mein Manuel, Du hast mich tief betrübt mit Deiner Nachricht. Ich habe es immer gefürchtet, daß Deine neuen Anschauungen Dich auf Abwege führen werden. Du mußt von dem fremden Mädchen lassen. Glaub mir, es ist nur ein Betrug Deiner Wünsche, daß Du in ihr ein Wesen siehst, das unsere Schauung ohne die Lehre so tief erlebt haben soll. Bei vielen findest Du ähnliches, aber das ist dennoch nicht unser Glauben. Ich quäle mich ab, daß ich Dich nicht strenger in der Altgläubigkeit gehalten habe und nun der Fluch auf mich Mutter fällt. Warum bin ich nicht bei Dir geblieben in der verwirrenden Stadt und habe Dich bewahrt? Nun liege ich wie gelähmt vom Schrecken und kann nicht zu Dir, Dich Herz an Herz zu beschwören von diesem Wesen zu lassen, das ich niemals lieben kann. Du hast sie zu Deiner Frau, sagst Du, zu Deiner Geliebten gemacht? Und das sollte ein Grund sein, sie für Dein Leben zu wählen, wo unsere Vorschriften verlangen, daß der Geist sich mit der unberührten Erde vermählt! Ist dieses Mädchen eine Jungfrau gewesen? Ich will sie gern bewundern, wenn Du sie würdig hältst, aber als die Frau, die Du in ihr erhoffst, verabscheue ich sie und hasse sie, denn Du mißachtest darin Deiner Lehre vornehmste Gebote. Weißt Du nicht, daß Frauen nur als Kinder unserem Glauben eingekleidet werden können, damit nur die Töchter der Sekte gewählt werden? Wie stünde es um unsere Gemeinschaft, wäre dem nicht so? Die fremden Frauen hätten sie längst vernichtet. Ich beschwöre Dich, mein Sohn, komm zu mir. Ein fremder Mann ist nicht von gleichem Übel, lehrte Makar Hildar, aber die Erde darf nicht Fremdland sein, in die Du säest. Lege Deine Hände auf die Wunden, die Du geschlagen hast. Bring mir das gute Licht des Glaubens, wie Du es an Deines Vaters Bahre geschworen als sein Vertreter im Geist, der die Leuchte des Hauses hält. Komm, denn ich liege gelähmt und fürchte für meine Genesung. Ich bin in Verzweiflung Deine
Mutter Lea.“
Sie lag im verdunkelten Gemach, der alten Magd weiße Haube leuchtete im Raum. Ab und zu plätscherte das Wasser im Kupferbecken, wenn Minka die Kompressen auf der Herrin Stirn wechselte. Eine große Balkontüre, halb von wildem Wein verhangen, stand offen. Vom Hafen her kam der Ruf der Dampfpfeifen wie angstvoller Aufschrei. Frau Lea Givos Qual war in dem Wehruf, der in die Unendlichkeit des Meeres klagte. Sie lag und rührte kein Glied. Sie hatte sich’s verschworen, wie lahm zu liegen, bis daß der Sohn ihr wieder Ruhe und Zuversicht brächte. Sie wartete auf ihn. Flog nicht sein leichter Schritt über den Kies? Der Abend kam, die Amseln lärmten im Garten. Schlaflose Nacht senkte sich mählich herab. Die alte Minka war im hohen Armstuhl eingeschlafen.
„Und wo sich abwandten unsere Brüder —“
A ls Givo früh am Morgen Vögelchens Zimmer verlassen hatte, um das seine aufzusuchen, begegnete ihm auf der halbdunklen Treppe Mannsthal. Sie standen einander gegenüber, der Ältere mit flüchtigem Lächeln, der Jüngere mit verhaltener Abweisung. „Sie wollen zu Arabella?“ fragte Givo nach der Begrüßung, ohne Wärme, ohne des anderen Lächeln zu erwidern.
„Ja, ich erfuhr abends, daß sie sich noch hier aufhalte, und wollte nicht, daß sie wieder allein fährt.“
„Sie wird nicht allein fahren,“ sagte Givo. „Darf ich Sie bitten, sie jetzt nicht aufzusuchen. Es würde ihr die Ruhe rauben, die sie kaum erst wiedergefunden hat. Wollen Sie mir die Ehre erweisen, mit mir zu frühstücken?“
Mannsthal folgte Givo in das Gastzimmer hinab. „Vielleicht haben wir einander noch einiges zu sagen,“ sprach er. „Frau von Twede ist wohl?“ fragte Givo. „Darf man vorsprechen?“
„Frau Mannsthal empfängt jetzt nicht gern. Sie wissen wohl: sie erwartet ein Kind. Sie würde zwar Ihnen gegenüber gern eine Ausnahme machen. Wollen Sie heute kommen?“
„Ich will nicht lästig fallen. Verzeihen Sie überdies, ich wußte nicht, daß Angele sich wieder verheiratet hat. Ihre Stieftochter war auch nicht verständigt?!“
„Ich hatte Arabella erst vorbereitet. Über unsere Verheiratung unterblieb aus Rücksicht für den Legationsrat jede öffentliche Mitteilung. Angele wollte Ihnen indes selbst Mitteilung machen.“
„Es wird mich sehr glücklich machen von ihr Nachricht zu erhalten. Sie wissen, ich schätze sie über die Maßen. Wie froh bin ich, daß sie ein Kind haben wird. Es empfiehlt sich wohl doch nicht, daß ich sie besuche. Es wird besser sein, wenn Arabella nicht einer Peinlichkeit ausgesetzt ist, und ich möchte gerade vor Angele nicht mein Hiersein bemänteln. Ich bin gewiß, daß Arabella nur Freundliches für Angele empfindet und diese für sie, aber lassen wir erst Gras über diese aufgewühlte Erde wachsen.“
„Sie haben wahrscheinlich recht und ich sehe, daß ich keinem gewissenhafteren Freund Vögelchen anvertrauen könnte.“
„Noch eines möchte ich zur Sprache bringen,“ unterbrach Givo. „Sie wissen, daß Arabella sich zufolge eines Briefes jenes Studenten, den ich schon beruhigt glaubte, um ihre Mutter abquält. Halten Sie eine Vereinigung der beiden Frauen für möglich?“
„Vögelchen hat keine Mutter,“ sagte Mannsthal kühl.
Givo runzelte die Stirn.
„Diese Dame hat Arabella gegen eine sehr hohe Summe an mich abgetreten, auch ihr Mann wurde von mir bezahlt. Nennen Sie mich einen Verbrecher, weil ich sie kaufte und so Mutter und Kind getrennt habe, aber fragen Sie sich selbst, ob eine Mutter, die diesen Namen verdient, sich ein Kind abkaufen ließe! Sie hat ihre Mutterschaft veräußert. Unser Vertrag war vor Gericht nichtig. Sie hat es aber nie zu einem Prozeß kommen lassen, weil sie sich zu unsicher fühlte.“
„ Bien , aber sie hat es bereut, sie wünschte das Kind zurückzugewinnen. Sie haben es verweigert, weil Sie selbst es nicht lassen wollten. Jetzt aber?“ Givo war blaß, er neigte sich vor, die Antwort rasch aufzufangen. Er selbst wünschte nicht Vögelchen an die ihr fremde Mutter zu verlieren.
„Jetzt aber fände Arabella an dieser Mutter eine in ihrer zweiten Ehe glücklich verankerte Frau, die im Grunde nur ein Kind hat, das sie ihrem zweiten Mann geboren. Daß sie sich nach Vögelchen sehnt, ist eine Erfindung dieses Verrückten, der Arabella in seine Heimat zurücknötigen will. Ich bin gewiß, daß Frau Gunter beruhigt war, als sie erfuhr, daß ich ihre Tochter nicht heiraten werde und daß sie zufrieden unter gutem Schutze lebt. Am Tage meiner Verheiratung habe ich Arabella eine lebenslängliche Rente ausgesetzt, die ihr erlaubt in bestem Wohlstand zu leben. Dies habe ich Frau Gunter mitgeteilt und sie hat seither ihrem Pariser Vertreter geschrieben, daß er nunmehr seine Nachforschungen, die ihr wohl auch zu kostspielig geworden sind, nicht weiter verfolge. Würden Sie selbst Arabella raten sich in dieses fremde Heim einzudrängen?“
Givo hatte den Kopf in die Hand gestützt. Er empfand in diesem Augenblick eine grenzenlose Liebe für das Mädchen, das seine Geliebte war und dem er Obdach und Zuflucht sein wollte. Hatte er aber nicht das Unrecht gehäuft, wenn er es als Unrecht empfand, daß der Mann ihm gegenüber das Kind besessen, der Mann, dessen Schutz sie noch unterstellt war. Oh, daß er sie nicht für alle Zeiten jedem fremden Anrecht entreißen konnte! Das Bild seiner zelotischen Mutter stand säulenhaft aufgereckt vor ihm auf und drängte die Worte in seine Kehle zurück. Noch konnte er sie nicht zur Frau verlangen.
„Nun, lieber Givo,“ sagte Mannsthal, der nicht mehr auf Antwort wartete. „Ich halte es für besser, wenn ich Ihren Rat befolge, mich jetzt zu entfernen. Sie reisen —?“
„Morgen in der Früh —“
„Auf Wiedersehen, cher Givo — bis — wie sagten Sie doch, Gras über der aufgewühlten Erde steht. Und — — ich würde Ihnen danken, aber Sie — ja selbst Sie verachten mich ja —“
Givo sah fragend in Mannsthals Blick. Spottete er oder war er ernst? „Ich achte Sie als den Gatten Angeles,“ sagte er. „Ich liebe Sie als einen, der gelitten hat.“ Mannsthal reichte ihm die Hand, Givo berührte sie leicht, er geleitete ihn zur Türe. Dann ließ er sich Papier geben und schrieb an seine Mutter.
C elia hielt Andachtsstunde in der Glycinenlaube.
„Ich will euch vom heiligen Coemgen, dem Gründer und Vorsteher des Klosters Glendalough, erzählen,“ sprach sie. „Der war schon ein Greislein geworden, ging vornübergebeugt wie die Bauern, denen lange Arbeit den Rücken gekrümmt. Der heilige Coemgen war auch ein emsiger Ackersmann gewesen, er hatte Liebe gesäet sein Leben lang. Nun war er hochbetagt, da überkam ihn Wanderlust. Als er Wiesen und Wälder durchschritt, öffnete sich ihm eine moosige Zelle und der heilige Einsiedler Barban trat hervor und sagte: „Wohin, Mann Gottes? Was wanderst du umher statt still an Ort und Stelle abzuwarten, bis sich die Unruhe in dir löst. Oder hast du jemals vernommen, daß ein Vögelchen seine Eier im Flug ausbrütet?“ Heilsam beschämt kehrte Coemgen zurück gegen Glendalough. Am Wege aber wollte er noch den blinden heiligen Berchan besuchen. Der ließ dem staubbedeckten Pilger ein laues Bad bereiten und, als nun die beiden heiligen Männer beisammen saßen, da rief der Blinde, als wäre er sehend geworden: „Was sitzt denn auf den Schuhen dieses frommen Pilgrims? Ich glaube gar, es ist ein Dämon! Hinweg, du Ausgeburt, wie wagst du es, den Schuh des Abtes zu berühren! Fort mit dir!“ Aber das Teufelchen auf dem Holzschuh rief: „Wir haben uns lange abgeplagt und konnten dem Braven nichts anhaben. So mußten wir es versuchen, ihn unter dem Schein des Guten aus seiner heiligen Ruhe zu locken. Ich schlüpfte in seinen Schuh und habe ihn zu dieser Pilgerreise verführt.“ So sprach das Teufelchen und verschwand. Der heilige Coemgen gelangte nach Glendalough und verharrte fortan in Frieden, bis er verstarb. Das Schuhteufelchen aber blieb am Leben und jüngst hat es seinen Besuch in Chaly gemacht. Da gefiel ihm ein kleines Stiefelchen aus schwarzer Seide an einem zierlichen Füßchen, das viel kleiner war als der Holzschuh des heiligen Coemgen, in den schlüpfte es und hieß es davoneilen, ohne Beratung. Wohl ihm, daß es auf dem Wege Schutz gefunden hat und klüger zurückgekehrt ist nach seinem Glendalough.“
Das war alles, was Celia über Arabellas heimliche Reise sprach. Vögelchen aber wartete, bis die anderen gegangen waren, dann kniete sie vor Celia hin und küßte ihre Hand und obwohl Givo im Hause war, blieb sie um Alphi beschäftigt und all die versäumten Vorfälle seines kleinen Lebens, die ihr Helene berichtete, schienen ihr von größter Wichtigkeit. Givo aber saß wie an jenem ersten Abend, da er Vögelchen zu Celia gebracht, im Bücherzimmer beim Abendtee mit der Freundin allein.
„Du mußt deiner Mutter Widerstand besiegen,“ sagte sie. „Oder willst du sie nicht aufnehmen in dein Leben um des einen willen, das sie dir teuer gemacht hat, daß sie rein durch das Laster gegangen ist?“
„Ich will sie aufnehmen in mein Leben, sobald du sie mir zuführst,“ sagte er.
„Ja, nun ist sie unter meinem Schutz und soll es noch eine Weile bleiben. Du magst um sie werben.“
„Wie soll ich das! Mein Glaube kennt keine Vermählung in Gotteshäusern. Was verlangst du an äußeren Zeichen?“
„Daß du sie hältst wie deine Frau und niemals mit einer anderen wohnst, daß du sie nicht verlassest oder ihr Schmerz bereitest, der ihr die Heimstatt verstört. Daß du ihr die Ruhe des Verweilens schenkest ohne sie fühlen zu lassen, daß du einen Teil deiner Freiheit um ihretwillen aufgegeben hast. Nichts ist beschämender für die Frau, als wenn der Mann mit der Sklavenkette klirrt. Denn wisse, Frauen, deren Rechte nicht in den Gesetzesbüchern der Menschen stehen, sie können nur vor Gott hintreten, wenn sie verletzt werden. Und sie müssen ihres Besitzes weit sicherer sein als die Ehefrauen, die das äußere Band stützt und hält, wenn sie für ihr Glück fürchten könnten. Und oft ist uns das nicht haltenswert, um das wir fürchten müssen aus fühlbarer Rechtlosigkeit.“
„Celia,“ sagte Givo, „Arabella ist nicht vom Dämon des Stolzes heimgesucht. Du warfest einst ein Glück von dir, weil du meintest, es sei dir nur gnädig zugemessen bis auf Widerruf.“
„Ja, ich fühlte die Stunde des Abschiedes in jedem Kusse bis zur Unerträglichkeit. So warne ich dich denn: gib ihr die Ruhe des Bleibens. Wenn du erwogen hast, daß du dies kannst, dann nimm sie in deine Tage und Nächte, Manuel!“
„Wie schlicht du es siehst. Es gibt Bündnisse, die uns erwählen, ein solches ist das unsrige, es ist bedingungslos geschlossen und Gott hat den Schlüssel zu sich gesteckt. Ich wollte, er behielte ihn und waltete unseres Friedens. Dir hat er ihn einst zurückgegeben, vielleicht zur Probe nur, da liefst du hin und befreitest dich. Ob nicht der andere sich umschlossen fühlt von der Erinnerung! Warum kommt er niemals, den kleinen Neffen zu sehen, Vögelchens Liebling? Er fürchtet sich vor dem lebendigen Bild. Wirst du niemals versuchen Gott den Schlüssel wiederzugeben?“
„Vorbei,“ sagte Celia und legte die Hände vor die Augen. „Es ist nicht gut den Stolz der Frau zu versuchen. Wozu die Kraftprobe, da ihr euch doch die Starken nennt!“
„Ach, Celia, ihr wäret nicht stolz, wüßtet ihr immer das Ende. Aber ihr glaubt, wenn ihr geht, man holt euch zurück und ihr habt es dann besser denn je,“ sagte er.
„Hüte dich davor, Vögelchens Stolz zu reizen!“ rief sie.
„Warum sagst du das, Celia? Sie ist nicht stolz. Das liebe ich an ihr. Sie ist vor allem selbstlos.“
„Aber die Selbstlosen sind die Leichtestverletzlichen. Ihr Einsatz ist immer größer als der der anderen.“
„Wenn eine Frau von mir ginge, die ich an mein Herz geschlossen habe, ich folgte ihr nicht, ich riefe sie nicht.“
„Aus Stolz, du, Manuel?!“
„Nein,“ sagte er lächelnd, „wie kann man stolz werden an Besitz, der sich nicht erweist. Ich habe kein Besitzgefühl, das hat die Frauen oft glauben gemacht, sie wären mir wertlos. Und dies Gefühl, ihrer nicht wert zu sein, läßt mich oft die Gesellschaft der Dirnen suchen. Da fühle ich mich freier und entbehre doch nicht das Weib. Ja, ja, Celia, ich weiß, was du sagen willst, ich bin nicht undankbar. Frauen, wie du und Angele es sind, gibt es wenige. Was mich bei euch freier machte, verpflichtete mich auch. Ich konnte nur nehmen und nicht leicht nahm ich, konnte nie fordern und halten, was sich wenden wollte.“
Die Türe wurde aufgerissen, Gaston, der Sechzehnjährige, stand auf der Schwelle, er wurde rot vor Scham, als Celia erschrocken aufstand.
„Ich dachte, du wärest allein, Tante Cecile,“ sagte er. Er würdigte Givo keines Blickes.
„Das dachtest du, Gaston? Wolltest mir wohl Gute Nacht sagen?“ fragte Celia mit Milde. „Ein anderes Mal stürm’ nicht so, Gaston.“ Er küßte ihre Hand, vor Givo verneigte er sich und ging.
„Eifersucht,“ sagte Celia lächelnd. „Ich nenne ihn Nemidh mit der reinen Hand. Kennst du die Legende von der heiligen Brigitta, die einen jungen eleganten Kleriker zur Bescheidenheit bekehrt und ihm verheißt, daß er ihr die letzte Ölung spenden werde. Er hütete sich die Hand zu verunreinigen, die einst seiner Heiligen das Salböl reichen sollte, daher erhielt er diesen Namen „Nemidh“.“
„Ich fürchte, er ist ganz weltlich in dich verliebt,“ sagte Givo lachend.
„Sein Vater, der Bildhauer, ist im Zuchthause,“ sagte sie. „Man hat ihn verurteilt, weil er angeblich seine eigene Geliebte getötet. Ich war zu jener Zeit mit ihm verlobt. Gaston weiß das. Begreifst du, daß seine kindische Liebe mir heilig ist, daß ich diesen Unglücklichen niemals kränken werde!“
„Oh, du liebe Gute,“ sagte Givo und freute sich, daß Celias Hand die seine warm umfing, dem alten Bund zur Bekräftigung.
E in Wagen hielt vor Frau Givos Haus. Ein junges Mädchen sprang ab, schlug den Reiseschleier zurück, lugte durch das Gartengitter und setzte die Türklingel in Bewegung. Oben schreckte die alte Magd auf. Die Herrin schlief. Minka sah über den Balkon hinab, sah das Gefährte, von dem der Kutscher eben Koffer und Schachteln abräumte. „Gott sei gelobt, der junge Herr!“ Aber als sie unten mit dem Gärtner zusammenstieß und der Gast eben in den Garten trat, sah sie, daß es Zora Uhari war, Zora, die sie als kleines Mädchen gekannt. Wie groß war sie geworden, wie schön! Zora umarmte die alte Minka und drehte sie im Kreise umher.
„Ach, ich bin froh, bei euch zu sein; schläft die Tante?“
Die Alte hatte mit glücklichem Erschrecken des jungen Mädchens Ungestüm abgewehrt. Schläft und ist krank, sehr krank, böse Zeiten. Gut, daß du gekommen bist! Oder muß ich schon Fräulein sagen?
„Versteht sich,“ sagte Zora. „Aber sag doch, was ist’s mit Tante? Ja, das ist ja schrecklich, Minka,“ und leise flüsterte sie der Alten hinter die Haube. „Ich bin um zwei Tage früher abgefahren. Die Vorsteherin wollte, daß ich auf Begleitung warte. Da wird Tante nun am Ende noch böser sein!“
„Nein, nein, gut, daß du da bist. Wir erwarten auch den jungen Herrn und er kommt nicht. Sie spricht ganz irre. Eine böse Zeit, eine böse Zeit!“
Minka hatte Zora in das Zimmer geführt, das für sie vorbereitet war. Die legte nun Hut und Mantel ab. Man sah es ihr an, es fiel ihr schwer sich der drückenden Atmosphäre anzupassen. Sie hatte sich ihrer Freiheit gefreut. „Also sprich doch, was ist geschehen? Oder soll ich’s nicht wissen? Gehör ich denn nicht zu euch?“
„Ja, Zorachen, das ist es ja, das ist es ja,“ sagte die Alte geheimnisvoll.
„Minka, ich zwicke dich, wenn du nicht endlich ’rausrückst. Ich verkomme ja vor Angst und Neugierde.“
„Ein Brief ist gekommen.“
„Von wem?“
„Vom Manuel, er will heiraten. Nicht dich, Zorachen, keine von euch, eine Fremde! Und da liegt die Frau wie lahm, ißt kaum und horcht nur, ob er nicht schon kommt und wieder zurücknimmt, was er geschrieben hat. Leg dich hin, Kind, und ruh dich aus. Bist ja so weit hergekommen. Ich will wieder zu ihr, wachen.“
„Bleib weg,“ sagte Zora. „Ich wasch mich nur, dann löse ich dich ab. Ich will sie schon beruhigen.“
„Vielleicht erschrickt sie, wenn sie dich so plötzlich sieht.“ Die alte Frau trippelte zur Tür und sah leise ins Zimmer, in dem die Herrin schlief. „Sie schläft fest, der Brief liegt neben ihr. Ich kann nicht lesen. Was wohl alles drinnen steht!“
„Geh schlafen,“ sagte Zora. „Ich bleibe bei ihr und rufe nach dir, wenn sie dich braucht.“ Sie schob sanft und kräftig zugleich die Dienerin hinaus. Leise trat sie ins Gemach, in dem nur ein gelbliches Nachtlicht brannte. Die Tante lag da, wie steinern war ihr Gesicht, es sah nicht mehr gütig aus, wie Zora als Kind es ehemals kannte. Sie setzte sich in den Stuhl, den die Alte verlassen. Einen Augenblick griff dies alles nach ihr wie ein Traum, der Abschied vom Pensionat, den sie gewaltsam erzwungen, die Tränen ihrer Freundin, der Rosenstrauß des jungen Musikprofessors, dann die Reise, die zu ihrem Leidwesen ganz uninteressant verlaufen war. Die Hand der Tante hielt einen Brief. Sie erkannte Givos eigenartige Schrift. Der eine Teil des Blattes war herabgebogen. Was Zora im schwachen Licht der Nachtlampe lesen konnte, lautete: „.... unmöglich abkommen, dann aber kann ich Monate bleiben. Aber wie soll ich vor dich hintreten mit leeren Händen? Ich kann nicht widerrufen, was ich sagte. Ich habe dies Kind in mein Herz geschlossen und es hat vielleicht niemanden auf Erden als mich. Vernichtung bedeutete es, verließe ich es, indes ich die Frau nicht kenne, die du mir gewählt hättest. Wäre dein Herz nicht vor allem das einer Mutter, imstande die Qual, die der Sohn ihm schuf, um seiner tieferen Pflicht willen zu verwinden? Lasse ruhiger werden den Widerstreit, denn ich will kommen, ihn ganz zu besänftigen. Oh, kenntest du sie, ihr Antlitz zart wie ein fernes Bild, über das noch ein Schleier sich breitet, nur die Augen durchdringen ihn mit himmlischer Klarheit —“ Zora Uhari lächelte. Wie er sie liebt, die Fremde, das hätte sie ihm gar nicht zugemutet, dem Heiligen! Sie war verliebt in Givo, obwohl sie immer trotzig gegen ihn gewesen, aber nun hatte ihr ja der junge Geiger einen Rosenstrauß zum Abschied geschenkt und ihr heimlich geraten, sie sollte sich für Musik ausbilden. Der herrschte nun an erster Stelle. Daß die Tante sie mit Manuel verheiraten wollte, das wußte sie aus untrüglichen Zeichen, aber sie hatte das niemals ernst genommen. Vor allem war sie gewiß, daß sie mit ihrem Trotz Givos Zutrauen verscherzt hatte, und er wußte es ja als der Einzige, daß sie sich nicht freudig der geheimen Gemeinschaft einordnete, der ihre Eltern zum Opfer gefallen waren. Sie schämte sich der frommen Umständlichkeiten aus einer tiefen Keuschheit und Herbheit der Seele. Sich sichtbar zu Abseitigem bekennen, erschien ihr wie eine Entblößung heiligster Gefühle. War nicht Heirat auch das offene Eingeständnis des Beischlafes, der Schwangerschaft, das Kind die schamlose Schaustellung seines Vollzuges? Zora Uhari war wissend und wach, sie war nicht naiv und rein im Denken, aber ihr Gefühl hüllte sich vor dem eigenen Wissen in den Mantel der Keuschheit. Nein, Manuel brauchte nichts von ihrer Seite zu fürchten. Sie selbst würde seine Verbündete sein im Kampfe gegen die Mutter. Er sollte nur sehen, wie klug sie war und wie treu, wenn er sie auch noch für ein dummes Kind hielt, sie, die eine geheime Freundschaft mit einem Musiker hatte, der schon einmal in Genf öffentlich konzertiert hatte. Nein, sie wollte nicht heiraten und auch nur ein Jahr in der Glaubensschule bleiben, dann würde auch sie sich ganz dem Geigenspiel widmen. Viel Geld würde sie verdienen und niemandem gehorchen in der Welt als ihrer Kunst. Daß sie eine Waise war und es immer gewußt, das hatte sie stark gemacht und auf sich gestellt. Sie trat auf den Balkon, horchte auf das Plätschern der Alster. Ein süßes Gefühl der Freiheit strömte durch ihre Glieder, ihre jungen starken Muskeln dehnten sich wohlig. Vor ihr lag das Leben weit beschiffbar wie das Meer, das sie in einer Brise grüßte. Es war nichts Rätselvolles, was sie mit dem Atem der Freiheit einsog, nichts Ängstliches, und sie spürte auch das, daß es nichts Geheimnisvolles für sie gab. Die Tante quälte sich, arme eigensinnige Frau, dachte sie, aber sie fühlte ihre eigenen Wünsche viel zu stark, um eines anderen Leid in eigenes zu verwandeln. Minkas Stimme weckte sie aus ihrem Denken.
„Zora ist angekommen, euer Gnaden, Zorachen. Wo ist sie nun?“
Zora trat ein und küßte die Tante.
E s war Jeanne Cochard, Konrads Tischgenossin, gelungen Heimarbeit zu bekommen. Nun konnte sie den Kleinen und sich ernähren. Sie bot Konrad um geringes Geld einen guten Mittagstisch. So nahm er denn von Frau Calou dankenden Abschied und entschwand ihrem Kreise. Die Arbeit für Tallandre ging ihrem Ende entgegen. Sein deutscher Verleger lud ihn zu mündlicher Aussprache und versprach einen schönen Vorschuß für seinen Heiligen Bernhard. Er hatte sparsam gelebt: das Honorar für die Übersetzung und für das neue Werk würden für Heimreise und ein halbes Jahr Lebensunterhalt reichen. Dann würde man weiter sehen. Von Arabella hatte er einen Brief bekommen, der bedeutete Abschied: „Es freut mich, lieber Konrad, daß es Ihnen wieder gut geht. Ich glaube, es ist ganz richtig, wenn Sie in die Heimat zurückfahren. Ich kann nicht mit Ihnen, weil mich nichts abzieht von hier, wo ich gern bin. Ein Mensch wacht über mich, der ist mir gut und ich habe nur einen Gedanken, ihm wert zu sein und seine Nähe zu verdienen. Sagen Sie der Frau, die Sie meine Mutter nennen, falls es wahr ist, daß sie nach mir verlangt, ich fürchte, wir sind einander fremd und ich möchte nicht fort von hier. Warum hat sie mir niemals geschrieben? Sie hätte Wege gefunden wie Sie, auch wenn man sie gehindert hätte. Nun bin ich nicht mehr das ängstliche Kind, das sich nach ihr sehnte und sich schämt allein zu sein. Vielleicht war sie es, nach der ich manchmal weinte in all meiner Unwissenheit. Jetzt habe ich es verwunden und sie würde mich mit einer plötzlichen Liebe erschrecken. Haben Sie Dank für die Sorgen um mich und fahren Sie nun ruhig zurück. Ich bin nicht Ariel, ich bin nur ein dummes Mädchen, das Ihnen seltsam erschienen ist, weil niemand es in seinen Träumen und Ängsten gestört hatte. Aber auch das ist vorbei. Es soll jetzt ein neues Leben werden. Auch für Sie, Herr Prediger. Darum nichts mehr von unseren Narrheiten!
In Freundschaft Ihre
Arabella.“
Er las ihn oft und oft diesen Brief und, wenn er den Kopf in die Hand stützte und seine Augen feucht wurden, fuhr ihm Jeanne Cochard durchs Haar und scherzte ihm den Kummer hinweg. Wurde er dann zärtlich, so hielt sie seine Hände fest und in ihren Augen war ein Flehen. Sie fürchtete sich vor Männerliebe. Es kam ein Tag, da blieb Konrad aus. Zu Mittag wartete sie hilflos, dann noch einen weiteren Tag, schließlich ging sie zu seiner Vermieterin. Sie erfuhr, daß er sich elend gefühlt und fortgegangen sei, ohne seither wiedergekommen zu sein. Dann wäre ein Bursche da gewesen und hätte etwas Wäsche für ihn abgeholt. Jeanne fühlte, wie eine eiserne Hand ihr Herz zusammenkrampfte. Sie schüttelte den Kopf mit dem aschblonden Haar, das Konrad so gern hatte. Sie wußte nichts von Marguerite. Sie ging Frau Calous Rat erbitten. „Ich gebe Ihnen Nachricht,“ versprach diese. Sie schickte zu Marguerite, die verweigerte die Auskunft, aber der Kundschafter erfuhr von der Hausmeisterin, daß Konrad bei ihr sei und im Fieber läge. Frau Calou hatte Mitleid mit Jeanne, sie ahnte den Sachverhalt: Konrad war krank und glaubte Ursache zu haben sich dessen zu schämen. Er hatte sich zu Marguerite geschleppt, der alles Menschliche menschlich war. Sie pflegte ihn ohne viel zu fragen und sie, die ihn geschlagen, wenn sie in Zorn geriet, war nun sanft und gut, weil er bedauernswert war und einen Makel trug. Nun war er ihresgleichen. Was sollte nun Frau Calou Jeanne antworten? Sie vertröstete sie. Aber wenige Tage später ging sie selbst zu Marguerite, da hieß es, Konrad wäre im Spital. Es wäre ein böser Fall. „Dieses schmutzige Tier,“ fluchte Marguerite: „Er hat es sich auf der Reise geholt.“ Frau Calou schickte Jeanne ins Spital, aber als diese nach Konrad fragte, führte die diensthabende Nonne sie an die Schwelle der Totenkapelle und mit weinseliger Stimme erzählte sie. Der Arzt hatte wenig Hoffnung auf eine baldige und völlige Genesung gegeben und als das Fieber gestiegen, hätte der Ärmste sich des Nachts draußen im Waschraum erhängt. Schwester Philiberte hatte Nachtdienst gehabt, da konnte eben dergleichen geschehen. Die ängstliche Jeanne trat nicht ein in die Kapelle, sie fragte auch nicht nach Konrads Krankheit. Eine andere Frau kam und schob sie gleichgültig beiseite. Es war Marguerite, die einen Kranz brachte. Jeanne ging nach Hause, wo sie der Kleine erwartete. Währenddem sie ihm den Brei kochte, tropften die Tränen über ihre blassen Wangen in das Gefäß. Der Junge sah es und er fürchtete sich vor dem seltsamen Salz, das ihm die Mutter in die Speise träufelte. „Wo ist Herr Konrad?“ fragte er. Da weinte sie laut auf. Die Milch lief zischend über.
Marguerite ging allein hinter Konrads Sarg. Custove war betrunken. Sie hatte ihn beredet zu Hause zu bleiben. In Konrads Brieftasche hatte man eine verblaßte Blume gefunden, eine Enzianblüte. Sie war in ein Papier gewickelt, darauf hatte er sich angemerkt: Quod in charitate constitutis nullum peccatum imputetur . Marguerite nahm es an sich. Weiß Gott, wie man das Zettelchen noch brauchen konnte!
U nd wie die Schwester es erfuhr:
In Heiligenstadt bei Wien, unweit der Villenstraße, die heute den Namen Springsiedelweg führt, stand im Glanz der Abendsonne stadtwärts blickend ein einsamer Spaziergänger. Immer wieder ergötzte sich sein Schauen an der feinen Silhouette des Stephansturmes, der goldig umnebelt über die Häuser der Wiener Stadtbezirke ragte. Der Mann lüftete den Hut, ließ das graugemengte Haar frei, weitete sein Samtjackett, als wollte er hier auf der Höhe mit allen Poren Luft schöpfen. Dann wandte er sich und wie unter ein Joch sich zu beugen, das er plötzlich stärker zu verspüren schien, schritt er geduckt, ein frühzeitig Alternder, gegen den Beethovengang, wo einst gleich ihm ein sonderbarer Junggeselle gewandelt war, unsterbliche Harmonien im Klang des Baches erlauschend. Als er so hinschritt, vernahm er das Säuseln der fallenden Blätter und gedachte des entschwundenen Sommers. Es war ihm, als hätte er in Verbannung gelebt, wiewohl er ihn im eigenen Heim verbracht hatte. Ein Landhaus an einem See tauchte in seinem Erinnern auf, ein feines Blondwesen ging dort elfengleich über die Wege, dann wieder sah er Flammen, nächtliche Kahnfahrt, einen rollenden Berg, dem, unheilbringend, eine Circe entstieg. Seine Sommerheimat lag verwüstet. Immer wieder brach die Wunde auf, wenn er sie eben schon verharrscht glaubte, und ärgerlich über die eigene Weichlichkeit, machte er nun kehrt und stieg in das Dorf hinab. An dem Hause kam er vorbei, in dem einst sein Vater Meister Grillparzer besuchte, nebenan hörte er im Heurigengarten das halb wehmütige, halb lustige Gefiedel des „Schrammelquartetts“, Fiaker und „Zeiserlwagen“ standen die Straße entlang. Die Wiener Melodien schmolzen ihm die Bitternis in der Brust und es blieb ihm nur eine lächelnde Traurigkeit, als er sein Gartentor an der Probusgasse erreichte. Wie er nun dem alten Haus entgegenschritt, trat aus der rotverhangenen Weinlaube eine junge Frau in die Abendsonne heraus. Ihr Haar schimmerte rötlich, sie hielt den Florentiner Hut in der Hand, ein kleiner Junge stand hinter ihr.
„Verzeihen Sie, daß ich störe. Sie sind ja wohl Herr Doktor Urbacher? Ich bin Hedwig Torn, die Malerin.“
„Sie sind die Torn,“ sagte er, sich verbeugend, „die den Prater so schön malt? Und der da hier, ist das auch ein eigenes Werk?“ Er deutete auf den Jungen, der wie verzaubert im fremden Garten stand.
„Er kann wohl hier bleiben, indes ich Sie um eine Auskunft ersuche?“ fragte sie.
„Gewiß, gnädige Frau, darf ich Sie ins Haus bitten? Er fürchtet sich doch nicht, Bube?“ Hedwig schritt voran. „Eine hübsche Frau und wie bescheiden sie sich gibt trotz dieses Könnens! Was mag sie wollen,“ dachte Urbacher und öffnete die Türe zum Flur.
„Wie schön er es hat,“ dachte hier wieder Hedwig, als sie die Diele durchschritten, in der angedunkelte Bilder über alten Truhen hingen. Eine Uhr aus der Maria-Theresien-Zeit mit bemaltem Zifferblatt tickte laut in der Stille. Er öffnet eine Türe, dann aber, wohl einer kleinen Eitelkeit gehorchend, führte er sie weiter in den Gartensaal und nun hätte Hedwig fast vergessen, welch trauriger Anlaß sie hergeführt. Hier waren die Wände des großen Raumes über und über bedeckt mit den herrlichen Miniaturen der Urbacherschen Sammlung, aus Vitrinen lugten ihre besonderen Kostbarkeiten. Sie erblickte alte Möbel, seltene Bücher; durch die Bogenfenster grüßten die bunten Herbstbäume: zu viel für das Auge der Malerin, um sogleich ihrer Frage sich zu besinnen.
„Ich stehe zu Ihren Diensten,“ hatte Urbacher gesagt. Sie ließ sich in den grünen Ripsfauteuil nieder und, indem sie zur Entschuldigung vorbrachte, daß all dies Schöne sie geradezu verwirre, suchte sie nach Worten.
„Es handelt sich um eine Adresse. Mein Bruder, ein Student, ist nach Paris gefahren, eines jungen Mädchens wegen, das Sie kennen. Nun habe ich seit Wochen keine Nachricht von ihm. Alle Briefe kommen zurück. Ich bin voll Sorge. Ich möchte diesem Fräulein Mannsthal schreiben, sie weiß vielleicht, wo er sich aufhält, was vor sich geht — —“
„Seltsam,“ dachte Urbacher. „Nun kommt eine Fremde und spricht ihren siebenfach versiegelten Namen. Die Schwester jenes Menschen ist sie?!“ „Ja, ich habe von Ihrem Bruder gehört. Mein Freund Mannsthal hat mich vor einem Jahr etwa gebeten Schritte einzuleiten, um den jungen Mann, der ihm lästig war, in seine Heimat zurückbefördern zu lassen. Ich wollte mich an Ihren Vater wenden, erfuhr aber, daß der junge Mann schon großjährig sei. Ich hatte auch wenig Lust mich einzumengen. Kurze Zeit nachher verheiratete sich Herr Mannsthal und seine Tochter kam in ein Pensionat. Seither habe ich keine Nachrichten.“
„Mein Bruder hat sich lächerlich aufgeführt. Weiß Gott, wie ihm sein Dämon mitgespielt hat. Er ist von jeher ein unglücklicher Mensch gewesen. Es ist mir sehr peinlich — —“
„Ungewöhnliche Verhältnisse,“ beschwichtigte Urbacher. „Das hat ihn wohl auch verwirrt. Leider kann ich Ihnen mit der gewünschten Adresse nicht dienen. Ich kenne sie nicht.“ Seine Züge verkrampften sich, als er dies sagte. Es wurde still im Raum, Musik schwirrte herein, aus einem der Heurigengärten ins Zimmer getragen. Hedwig stand auf, bedrückt und von böser Ahnung befallen. Sie sah nun zum ersten Mal in Urbachers Gesicht — die Umgebung hatte sie bislang davon abgelenkt und mit dem feinen Instinkt der leiderfahrenen Frau erriet sie, daß auch er irgendwie verstrickt war in diese „ungewöhnlichen Verhältnisse“.
Er fühlte Wärme aus diesem Blick und er brauchte sie an diesem Abend. Rasch legte er seine Hand auf Hedwigs Arm und sagte: „Bleiben Sie.“ Dann schritt er zu einem kleinen Kästchen, entnahm ihm eine Dose, deren Deckel ein auf Elfenbein gemaltes Bildnis trug, und hielt es vor sie hin.
„Dies ist Arabella,“ sagte er. „Können Sie ihn nun verstehen, den Bruder?“ Seine Hand zitterte. Er hatte etwas getan, das ihn selbst überraschte und wie Verrat schien. „Das ist sie,“ sagte er und atmete schwer. „Ein schönes Kind, ein armes Kind,“ sagte Hedwig ergriffen.
Er gewann die Frau lieb, die dies sagte, er gewann wieder die reife, verstehende Frau lieb, und mit einem Male stand das Ungeheuerliche, das Unnatürliche mit beschämendem Schmerz vor seiner Seele, daß er um ein Kind sich in Qualen verzehrt hatte, sich weichlich ihnen hingegeben hatte. Wie ein Engel, der ihn aus Trübnis erweckte, erschien ihm Hedwig. Das Gefühl, das ihn plötzlich zu ihr hinzog, machte ihn wieder zum Manne, der sich des Weibes besinnt. Leise faltete er die mit Schildpatt gefütterte Dose auseinander, eine blonde Flechte lag darin. Unendlich fern schien ihm die, der sie angehörte, ein Traum, ein Wahn!
„Ich will nach Paris an einen Bekannten schreiben, daß er sich erkundige,“ sagte er und räumte die Dose weg. „Wohin darf ich Ihnen dann Antwort senden?“ Sie nannte die Adresse.
„Was mag ihm zugestoßen sein?“ entfuhr es ihr.
„Beunruhigen Sie sich nicht. Allen Anschein nach ist das ein sonderbarer Kauz, Ihr Bruder. Weiß Gott, was für Grillen er eben fängt. Ich freue mich, daß Sie den Weg zu mir gefunden haben. Hoffentlich kann ich Ihnen bald Nachricht geben.“
„Ich bin Ihnen von Herzen dankbar. Und diese Dame, ihre Mutter, sollte ich nicht zu ihr, vielleicht weiß sie etwas von ihm? Er war mit ihr in Verbindung,“ sagte Hedwig.
Urbacher biß die Lippen zusammen, eine Frage zu unterdrücken. Es tat ihm weh, daß dieser Mensch, der gleich ihm dieses Kind vergötterte, Verrat trieb. Und dennoch focht ihn Neugier an zu erfahren, was jener erkundschaftet hatte. Mannsthal hatte ihm geschrieben, ehe er sich verheiratet hatte. „Verzeih mir, um Arabella,“ schrieb er. „Jetzt bin ich selbst nur mehr ihr ferner Schutzgeist, soweit ich selbst dieses nicht verscherzt habe. Sie hat einen Beschützer gefunden, der besser ist als wir, einer, der eines Menschen Seele und Willen in seine Seele und seinen Willen aufnimmt.“ Das war alles, was er wußte. „Laß es begraben sein,“ sagte er sich immer wieder.
„Der Bub,“ rief nun Hedwig erschrocken und sprang auf.
„Ja, was die Mutter betrifft,“ sagte Urbacher, sich ihrer Frage besinnend, die ohne Antwort verklungen war, „da bin ich nun noch weniger unterrichtet. Aber mir will scheinen, als ob man sie nicht zu oft erinnern sollte an ihre Tochter. Wunden brauchen oft Jahre, um zu vernarben, und ein Wort kann mühseliges Heilen ungeschehen machen. Auch diese Frau wurde verwirrt in diesen — Verhältnissen. Lassen wir ihr das späte Glück, das über diesem Grabe blüht. Ich sah sie jüngst vergnügt mit Mann und Kind auf dem Kahlenberg. Gibt es einem Hoffnung, daß man auch wieder sorglos werde.“
Er geleitete Hedwig hinaus. Der Garten lag erloschen. Herbst feuchtelte aus den Büschen. Der Bub kam ihr entgegengelaufen und klammerte sich an sie.
„Der braucht Sie! Beneidenswert, ein Kind zu haben,“ sagte er. „Ein Muttersöhnchen, was? Versteckt sich gar!“
„Er hat nur mich,“ sagte Hedwig. Sie sprach ihr tiefstes Leid aus, den ängstlichen Kleinen zu rechtfertigen.
„So, so,“ sagte Urbacher. Seine Stimme war ganz weich, als wollte sie ein Frauenherz streicheln. „Ich bringe Sie zum Stellwagen, zum Rauschinger hinüber. Wird Ihnen ein wenig die Seele herausrumpeln, das alte Gefährt. Lassen Sie sich’s nicht verdrießen und kommen Sie wieder.“
Aber wenige Tage später klomm er selbst in Hernals die schmale Stiege empor zu dem Photographen-Atelier, das Hedwig als Werkstatt diente. Sein Pariser Kunstfreund hatte ihm geantwortet, er werde sogleich die gewünschte Nachforschung einleiten. Das genügte als Vorwand die Frau aufzusuchen, die nun seine Gedanken beschäftigte. Maler gingen bei ihm ein und aus, er hätte einen oder den anderen nach der Kollegin fragen können. Aber schon hielt ihn die Scheu zurück, die ein ernstes Gefühl ankündigt. Der ehemalige Nervenforscher wußte über sich und andere Bescheid und gleich stellte er sich an den Pranger, als er sich dabei ertappte, der Einschichtigkeit dieser Frau nachspüren zu wollen.
„Da sind sie alle gleich sprungbereit, die Herren Böcke, ich natürlich mit inbegriffen,“ sagte er zu sich. „Aber immerhin ist das noch besser als Kindern nachzulaufen, die sich nicht wehren, weil sie unsere Niedertracht nicht kennen.“ Er läutete. Es wurde nicht gleich geöffnet. Er hörte erregte Stimmen und wollte schon wieder gehen, als die Nachbarin, die Hedwigs Türe mit ihrer Neugier bewachte, sich einmengte.
„Warten S’, ich läut’, es ist der ihrige drin,“ und ehe der Erschrockene es verhindern konnte, versetzte sie die alte Ziehglocke in stürmische Bewegung.
Im selben Augenblick öffnete sich die Tür und ein junger Mensch mit zorngerötetem Gesicht stürmte an Urbacher vorbei. Peinlich berührt stand der da und schon sagte er sich: „Da hast du wieder einmal Pech, du unverbesserlicher Narr“ — als Hedwig zum Vorschein kam. Er erkannte sie kaum wieder. Sie war in diesem Augenblick geradezu — schön. Auch ihr Antlitz war gerötet, in ihren Augen schimmerte noch eine Träne, aber sie lächelten Urbacher zu. Obwohl ihr Mund noch wie in Spott und Geringschätzung sich kräuselte.
„Ach Gott, Sie haben geläutet,“ rief sie — sie bemerkte die Nachbarin, schlug ihr die Türe vor der Nase zu und geleitete den Gast in das Atelier, das ihr und dem eben abwesenden Buben auch als Wohnstatt diente. „Nun werden Sie eine schöne Meinung von mir haben,“ sagte sie noch mit erregter Stimme. „Dieser junge Mensch der eben an Ihnen vorbeigestürmt ist, hat mich beleidigt und ich habe ihm die Türe gewiesen.“
„Da muß ich Unglücksmensch Ihnen gerade in den Weg laufen.“
„Nein, nein, Sie kamen eben recht. Ihr Sturmläuten hat mich aufgerüttelt, noch schnell das letzte, das entscheidende Wort zu sagen. Wenn wir noch lange herumgeredet hätten, wäre am Ende wieder eine Versöhnung zustande gekommen. Wissen Sie, was er gesagt hat, dieser Mensch? Er könne nicht mit mir ausgehen, ich sei ihm zu simpel gekleidet. Und da, da,“ sie hieb mit ihrer kleinen Faust auf den Tisch, „da hat er mir Geld hergelegt, einen Hunderter. Der ist ihm aber rasch an den Kopf geflogen. Andere Künstlerinnen nehmen auch von ihren Geliebten Geld an, hat er gesagt, der unverschämte Grünschnabel.“ Sie besann sich, wurde feuerrot und trat ans Fenster, Urbacher den Rücken kehrend. „Sie werden sich was Schönes denken, Herr Doktor,“ sagte sie leise. „Der Bruder ein Landstreicher und die Schwester — — Aber wissen S’ (sie begann in der Erregung im Dialekt zu sprechen), man ist doch noch jung und man kann nicht all’weil allein sein. Der da ist der Hausherrnsohn vom Fünfer-Haus. So ganz aus der Art g’schlagen ist er, malt auch ein bissel und war lieb zum Buben. Da bin ich halt mit ihm gangen. Und wegen der paar Busseln wird er jetzt frech und legt mir ein’ Hunderter hin. ‚Angabe‘, hat er gesagt und hat dabei g’lacht, daß ich ihm eine hätt’ geben können, daß ihm die Zähne“ — sie mußte selbst über ihren neuerlichen Zornausbruch lachen und unterbrach sich — „um seine Zahnderln wär’ schade g’wesen, aber sonst ist kein Schad’ um ihn. Bin froh, daß alles aus ist, hat mir schon lang nicht gepaßt.“
Urbacher dachte: „Zum Fressen ist sie, wenn sie zornig ist.“ Er ging die Wände entlang, die Bilder betrachtend: „Ihr einschichtigen Frauen habt es ja noch schlechter als wir,“ sagte er. „Warum kauft ihr der Tölpel nicht die Bilder ab statt ihr Geld anzubieten,“ dachte er. „Hören Sie, Frau Meisterin, dieses Bild aus Grinzing müssen Sie mir überlassen. Das ist ein feines Stück,“ rief er aus.
„Beschämen Sie mich nicht, Herr Doktor, das ist schon eine alte Arbeit. Aber wie lieb von Ihnen, daß Sie selbst gekommen sind! Haben Sie am Ende schon Nachricht? Sie haben mich letzthin so beruhigt. Aber nun ist mir auf einmal wieder bange.“
„Ich habe von meinem Bekannten die Zusicherung bekommen, daß er sich sogleich aufmacht, in der Wohnung, die Ihr Bruder zuletzt bewohnt hat, nachzufragen. Das wollte ich Ihnen vorläufig melden.“
„Danke, danke! Wenn nur nichts passiert ist.“
„Wo ist der Junge?“ fragte Urbacher, der sich fast fürchtete, mit ihr allein zu bleiben. „Nun will ich aber gehen. Ich komme wieder, wenn ich Nachricht habe. Dann sprechen wir auch von dem Bild. Schreiben Sie aber gleich darunter ‚Angekauft‘. Oder läßt sich’s gleich machen? Dreihundert Gulden biet’ ich dafür.“
„200 ist schon zu gut bezahlt, Herr Doktor, und gar für die Umgebung, in die es kommt. Da sollte man mit der Ehre vorlieb nehmen.“ Nun setzte er sich auf ihr Drängen wieder hin.
„Sie sollten sich nicht aufregen, Frau Meisterin; sehen Sie, das Äderchen, das Ihnen da angeschwollen ist.“ Er nannte einen lateinischen Namen. „Schonen sollen Sie sich. Sie haben gewiß schon viel mitgemacht!“
„Das erraten Sie?“
„Ja, wenn mir das nicht geblieben wäre von meiner Nervendoktorei!“ sagte er.
„Warum haben Sie es aufgegeben, das Doktern?“
„Es hat mich aufgegeben. Ich war zu neugierig, wissen Sie. Ich bin jedem Fall nachgegangen bis in seine tiefsten Ursprünge und darüber bin ich ins Philosophieren geraten.“ Er wunderte sich, daß er ihr so schlicht erklären konnte, was einst so viel Verwirrungen in ihm angerichtet hatte.
„Die waren die Erholung, die Betäubung, der gefeite Boden sozusagen, wo nicht gekämpft wurde. Denn da drinnen,“ er zeigte auf seinen Kopf, „sah es aus wie auf einem Schlachtfeld.“
„Auf dem schließlich ein Sieg erfochten wurde?“
„Der steht noch aus,“ sagte er. „Ich brauchte halt Hilfe.“ Er lächelte ungeschickt. Das rührte sie.
„So, so, nun da stell’ ich mir vor, daß sich jemand finden könnte.“
„Glauben Sie?“
„Ja.“ Sie sagte es mit den Augen.
Und als er dann die böse Nachricht erhielt, ging er zu ihr. Er hörte sie mit dem Buben lachen. Da hatte er nicht das Herz es ihr zu sagen. Weggehen wollte er auch nicht. Er trat ein und log, er wüßte noch nichts, wäre nur wegen des Bildes gekommen, sie möchte es selbst hängen, draußen in seinem Haus. Sie fuhren zu ihm, im Fiaker, in dem er gekommen war. Der Bub saß auf dem kleinen Klappbänkchen. Da hatte sich ihm ein Traum verwirklicht, dessen Erfüllung er erst mit der Firmung erwartete, auf einem Klappbänkchen im Fiaker zu sitzen. Bei der „Linie“, die jetzt schon tief im Weichbild der Stadt ist, mußte der Wagen stehen bleiben, vom Zollbeamten angerufen. Hedwig verschloß ihr Bangen um Konrad und war fröhlich mit dem Buben. Bei einem Heurigen beschlossen sie den Abend. Wochenlang schob er es auf, von Begegnung zu Begegnung, ihr die Todesnachricht zu sagen. Eines Abends schlug er ihr vor mit dem Buben zu ihm zu ziehen, das Haus ihm zu leiten. Als sein Entschluß gefestigt war, nicht länger ihr die traurige Wahrheit vorzuenthalten, schwoll seine Zuneigung zu unaufhaltsamem Begehren. Er nahm sie zu eigen. Längst hatte auch sie ihn liebgewonnen, den sanften Spötter. Er würde dem Kleinen ein Vater sein, das fühlte sie, obwohl er oft selbst wie ein Kind war, das sie schützend sich in ihren Schutz begeben. Am Morgen ihrer Vereinigung sagte er ihr, daß der Bruder tot sei. Nun hatte sie ein Heim, darin ihr Schmerz sich mählich auflösen konnte in ein stilles Glück.
A rabella erfuhr nichts von Konrads Tod. Und noch ahnte sie nicht, daß sich eine willensstarke Frau um ihres Sohnes willen gegen sie verschworen, um mit zäher Sicherheit ihr die neue süße Ruhe zu rauben. Sie hing mit großer Zärtlichkeit an Cecile und, da Clothilde das Asyl verlassen hatte und Anna auf einige Zeit in ihre Heimat gereist war, nahm sie allerlei Pflichten auf sich und wurde ein brauchbarer Mensch in den täglichen Anforderungen des Lebens. Wenn Alphi schlief, beteiligte sie sich mit Inbrunst an den der Musik gewidmeten Stunden und las mit Helene die wertvollen Bücher aus Ceciles Bibliothek. Givo kam ein, auch zwei Mal des Monats, blieb den Sonntag und gab noch ein oder zwei Tage dazu. Er sah mit Kummer, daß Ceciles Gesundheit immer gebrechlicher wurde und beriet sich mit Dr. Blanc. Den drückte noch eine andere Sorge. In Chaly begannen Stimmen laut zu werden, daß man im Asyl ketzerisch lebe, niemals sei von seinen Bewohnern jemand in der Messe zu sehen. Da machte sich Givo auf und ging mit Arabella zum Segen. Stickig war es und finster in der Kirche, ernst, fast drohend stiegen die gotischen Pfeiler auf, ohne Tröstung. Die Menge schien zusammengeschweißt im Gebet, wie ein Leib waren ihre knieenden Leiber, wie Murmeln eines Einzelnen ihre Zwiesprache mit Gott. Über all das Dunkel streckten sich die vielfarbigen Fenster und spannen blumige Lichtgarben zu einander. Arabella, die selten nur eine Kirche besuchte, war ergriffen. Die Orgel begann ihr erlösendes Spiel. Sie stand neben Givo aufrecht zwischen den Knieenden und hielt ihr Herz zu Gott hinauf inmitten der inbrünstigen Ströme der Fugen. Dank kam über sie und Demut des Gebetes. Sie kniete hin und ließ die Seele mitjauchzen im Gesang, der aufrauschte aus der Menge. Givo sah, wie sie ohne sich zu besinnen niedergekniet und tief versunken war. Wieder war er von zärtlicher Rührung übermannt und wieder mischte sich dieser, wie so oft schon, ein Gefühl schicksalschweren Wissens über dieses in seiner Hingebung wehrlose Wesen, das seinem Schutze anvertraut schien und das er dennoch nicht würde bewahren können vor der allzu großen Last der Liebe. Ja, vielleicht würde er selbst sie beschweren! Schon war alle Freiheit verwirkt, sie konnten einander nicht lassen. Givo war froh, als sie aus der Kirche traten. Zu dick war ihm dort die Luft. Aber er hatte Cecile geholfen und dem Asyl. Man hatte Arabella gesehen, wie sie in aufrichtigem Beten kniete. Ihre Andacht sicherte, ohne daß sie selbst den Sachverhalt ahnte, den Bestand des Asyls auf weitere Zeit. Denn nun schwiegen die bösen Zungen.
Als Vögelchen Manuel zur Bahn geleitete, hielt er sie lange im Dunkel des Weges im Arm. Schwer nur gestand er ihr, daß er auf längere Zeit verreise, zu seiner Mutter, in den Norden Deutschlands. Arabella nahm erschrocken seine Hand: „Nimm mich mit zu ihr, nimm mich mit! Ich will sie lieb haben.“ Da trieb es Manuel die Tränen in die Augen.
„Nein, Kind, es geht nicht. Aber wenn ich wiederkomme, hol’ ich dich zu mir, ganz zu mir!“ Vögelchen sagte kein Wort mehr. „Es geht nicht,“ sprach es immer wieder in ihr, es geht nicht! Zum ersten Male hatte er sie verwundet, sie, die kaum geheilt war von altem Leid.
Z ora hatte an Givo geschrieben. Er kannte die Schrift nicht. Es war der erste Brief, den er von ihr empfing. Sie schrieb ihm, daß die Mutter schon etwas gesprächiger sei und nun stündlich seine versprochene Ankunft erwarte. Er möchte nur getrost kommen und nicht allzusehr erschrecken, wenn er erführe, wer die Braut sei, die ihm erwählt worden. Denn diese wäre ja fest entschlossen niemals zu heiraten, da sie einzig ihrer Geige Treue geschworen. Und er, Givo, der Heilige, werde doch nicht ein Zigeunermädchen aus Hispaniens Fluren ehelichen, das nichts Schöneres sich erträumte als sich heimatlos durch die Welt zu geigen. Er sollte der Mutter nicht trotzen, die von ihr erwählte Braut würde ihm Treue bewahren, indem sie sich weigere seine Frau zu werden. So hätte er denn weniger zu fürchten, als wenn die Zukunft ihm eine Willfährige entgegenführte. Nur eilig kommen möge er, denn sie wolle die Tante nicht verlassen, ehe er nicht eingetroffen sei, und jeder Tag, den sie später eintrete in die Glaubensschule, bedeutete Aufschub ihrer späteren Freiheit. Er möge ihr beistehen, schon in einem halben Jahre die Schule verlassen zu dürfen, um bei einem berühmten Geiger in die Lehre zu treten. Als Givo in Hamburg ankam, war Zora des Morgens heimlich abgereist. Sie hatte der Tante einen Brief hinterlassen, in dem es hieß, es dränge sie nicht eine Stunde mehr zu zögern, da ja nun Manuel sie entbehrlich machen würde. Geheimnisvoller Ruf wäre an sie ergangen ohne Abschied in ihr Kloster zu eilen.
„Wie fromm sie ist,“ sagte Frau Givo, die aufrecht saß, aber noch immer nicht das Bett verließ. „Ich bedaure es aber, daß du sie nicht gesehen hast. Sie ist schön geworden: eine Jungfrau.“ Sie betonte das Wort. Weder sie noch Manuel erwähnten Vögelchens Namen. Die Mutter schwieg und verlangte nichts und er ließ sein letztes Briefwort bestehen, daß er nicht lassen würde von Arabella. Zwei Monate blieben sie beisammen ohne Vorwurf und Zank, aber das Schweigen lag oft schwer zwischen ihnen und hemmte die alte Vertrautheit. Als Givo abgereist war, verfiel Frau Lea wieder in tiefes Brüten. Sie versuchte zu gehen, sie hatte es beinahe verlernt. Sie schien um vieles gealtert, als sie nach viermonatiger Weltflucht wieder auf die stille Straße trat, ihren Wagen bestieg, um ihre Glaubenswerke zu üben.
E ine ganz kleine Türe hatte sich in Vögelchens Herzen geöffnet und ließ Angst ein. Sie war manchmal fest verschlossen, wie von guten Geistern gehütet, dann wieder sprang sie auf. Über ihrer Einfriedung stand: es geht nicht. Da war eine große düstere Frau, die ging aus und ein und sagte: „Er gehört mir, mir allein.“ Fremde Frauen mit wehenden Federn am Hute nickten ihr aus Karossen, in denen sie mit dem Herzensfreund saßen und riefen: „Sieh, Kleine, wer mein Ritter ist!“
Givo blieb lang aus. Als er wiederkam, schloß sich die kleine Tür und die guten Geister hielten vor ihr Wache.
Arabella schrieb an Adalbert: „Lieber Va, ich wohne von nun ab bei Imanuel Givo. Er hat ein kleines Haus in St. Cloud gemietet. Willst Du mir erlauben die Möbel meiner Zimmer, die wohl noch im Magazin eingestellt sind, dahin schaffen zu lassen? Du wirst Dich nicht wundern, daß ich nicht Givos Namen haben werde. Er sagte mir, daß dies vielleicht erst in einer späteren Zeit möglich sein könnte. Ich glaube zu ahnen weshalb und Du wirst es wohl ebenso deuten können. Seine Mutter will mich nicht als seine Frau. Wir wollen jetzt ganz still für uns leben. Später besuchen wir Dich einmal. Frau Angele möchte doch auch an mich schreiben, falls sie Rat braucht, wenn das Kind geboren ist. Ich habe Alphi Tallandre gepflegt und weiß Bescheid um die Kleinen. Der Abschied wird mir schwer von ihm. Er ist so niedlich und fängt schon an zu plaudern. Aber Manuel erlaubt, daß Helene und der Kleine uns im Frühling besuchen. Ich habe Cecile Gloriot viel zu danken und ich hoffe, sie weiß, wie ich sie liebe. Aber wie kann ich gut sein und bei ihr bleiben, um ihr zu helfen, wenn ich mit Givo leben will, und das muß ich von ganzem Herzen. Hab auch Du Dank für Gutes und Böses.
Es küßt Dich Dein Vögelchen.“
A uf einem kleinen Dampfer fährt Givo die Seine entlang. Er blickt in das schäumende Kielwasser, er beobachtet die Fahrgäste, aber nichts kann seine Ungeduld bezwingen. Und so ergeht es täglich, seitdem er mit Arabella draußen in St. Cloud wohnt. Eilig geht er dann ans Land und ist bald an der Pforte, über der Weinlaub hängt. Frieden umfängt ihn, sobald er eintritt. Er ist meist müde von der Arbeit, die er nun emsig ihrem Ende zudrängt, weil jetzt Neues so reichlich aus ihm quellen will. Es ist, als wäre der Antrieb seiner Kräfte jene warme Erdenglut, die täglich aus einem geliebten Frauenleib in ihn einströmt. Er sieht so viel jetzt, was geschehen muß, was gesagt und gewirkt sein will, und er sieht es neu, er, der immer ein Schauender war. Noch beben in ihm die Räder der Arbeit, wenn er Arabella begrüßt, die mit kindlicher Scheu ihm entgegentritt, als teilte sie mit ihm nicht Tisch und Bett. Aber sie ist für ihn wie ein Engel der Verkündigung, der aus seiner lichten Welt der Inbrunst fromm eintritt in seinen heißen Arbeitstag und ihm ein neues Heil weist. Geschmückt ist der Tisch, festlich winken die Bücher und das Bett ist der fromme Altar ihrer Vereinigung. Über ihrem Lager sind blaue Nebel göttlicher Unendlichkeit, umschwebt ist es von berauschenden Tönen, über deren Wellen kein Schiff gelangt aus Tagland. Seine Kissen haben Engel geschlichtet aus Lämmerwolken, seine Decken sind aus Sonnenfäden gewirkt und sie wärmen die Liebenden, die nur ein Leib sind auf ihrem heiligen Lager. Manchmal ist ein leises Lachen in der Luft wie von unsichtbaren Amoretten, die Stimmchen der Kinder, die sie ihm schenken möchte, und dann, ach, ein Seufzen des Kampfes, den er mit seinen Sinnen ringt, um ihren zarten Leib nicht mit der ersehnten Bürde zu beschweren. Denn weit ab und nur wie das Auffunkeln eines wachen bösen Blickes leuchtet ein Auge und nimmt ihm den Traum Vater zu werden aus dem Herzen. Doch Glückes genug! Er hält nicht ein Weib mehr, die Liebe selbst, wie sie durch Ewigkeiten schwingt, pocht mit lebendigem Herzen an dem seinen und er fühlt, er hat ihr Wahrsein gebraucht, ihr frauliches Dasein, daß auch seine Arbeit ausströme als eine große Wirklichkeit der Liebe.
Als ein Vergangenes liegt das Lebendigste seines Lebens, sein Kampf mit dem Dunkel, unter dieser Liebe eingesargt. Schatten sind die Genossen im Laster geworden, die er zuweilen suchte, weil auch er eindringen wollte in die Tiefe, Schemen die Dirnen, Nebelgebilde die lichtscheuen Stätten. Sein Fuß strauchelt nicht mehr über diese Erinnerungen. Licht ist um ihn und seine Lust hat sich verklärt.
Arabella hat einen Garten und Glashäuser, ihre Pflanzen zu schützen. Was will sie nur mit ihren Blumen? Sie fährt sie zur Stadt, aufgetürmt auf starkem Wagen. Der hält vor den Häusern der Siechen. Sie trägt sie hinauf über die weißen Stiegen der Spitäler und mischt ihren Duft in den des Äther und der Essenzen der Reinigung. Sie tritt in die Krankenzimmer und stellt sie auf die Tische. Da richten sich die Blicke steil auf in den Betten. Es wird lichter im Raum. Ging da eine Elfe vorbei und ließ Linderung zurück? Sie kommt auf ihren Gängen auch in das Zimmer, darin Konrad gelegen, bevor er hinausschlich, die Erdenhülle abzuschütteln. Ahnunglos streift ihr Kleid das Bett an, in dem er gestrandet. Da liegen Menschen umher nach Gottes Ebenbild geformt und sind ein elendes Stück Fleisch, schlotternd in Weh und ihr Blick sucht ein Endchen Himmelsbläue, ausgespart zwischen Mauern. Sieh, da blüht ein Busch Vervenen auf dem Tisch und speist ihr Auge. In einem Saale sind Kinder gebettet, fiebrig glimmen die Augen durch den Schlitz der Lider, die zuckende Hand hält den farblosen Wurstel, der vom reichen Kind abfiel fürs Spital. Hier kann Arabella nicht enteilen. Die Schwester müht sich einem schwarzlockigen Püppchen mit dünnem Hälslein den Verband zu wechseln am bresthaften Bein, während seine Augen in hilfloser Klage sein Weh künden. Bittend tritt Vögelchen näher und die Schwester läßt ihr willig den Dienst. Die Kleine blickt in zärtlichem Bangen auf zu dem Engel, der zu ihm niederrauscht, Chrysam auf seine Wunde zu legen. Wie Flügel bauscht sich die Seide ihres Kleides und die mageren Händchen greifen nach den Perlen an des Engels Hals. Löffel auf Löffel füttert die Lichte ihm zu. Der Verband ist angelegt. Nun kommt die Mahlzeit und es weiß nicht mehr, daß ihm die Suppe vergällt ist durch Schmerz in den armen kleinen Eingeweiden. Leise bettet Vögelchen es zurück in die Kissen, wischt den Schweiß ihm mit ihrem feinen Tüchlein von der Stirn und hält sein Händchen, bis es entschlummert ist. Nun tritt sie zu den anderen, reicht ihnen Backwerk und Spielzeug. Abends beten sie für Arabella.
Aber Givo bittet Arabella eindringlich nicht mehr in die Spitäler zu gehen. Tiefer sei dann das Dunkel, wenn sie den Kranken entschwunden, und er fürchte, sie könne selbst erkranken. Nun sandte sie Bücher, las emsig, um die rechte Auswahl zu treffen, und manchmal schrieb sie Tröstungen an den Blattrand. Zu dieser Zeit dichtete Givo Psalmen und Hymnen. Arabella findet die Verse in ihre Tage gestreut und sie singen in ihr durch die Stunden ihrer häuslichen Andachten. Da ist eines „Passi flora“, genannt nach jener Blume, die Spanier fanden, seine Vorfahren als sie in Amerika landeten.
Du rotgetupfter Nektarienkranz,
Wie gleichst Du dem blutigen Dornenglanz:
Fünf Staubgefäd dem Wundenmal
Fruchtknoten dem Kelch, der Griffel dem Pfahl,
Die Narben den Nägeln, drei an Zahl,
Das Blatt der Lanze geschärfter Qual.
Du ranktest Dich auf in liebender Glut,
Du Engel der Blumen, aus Gottes Blut.
Immer wieder liehen ihm die gläubigen Sagen seiner Vorväter Gleichnisse. Vom Paradiesvogel erzählte er ihr:
Von einem Vogel sprach mir auch die Ahne,
Den sie in Neu-Guinea fliegen sahen:
Von Düften lebt er, leuchtend in der Nacht,
Fliegt unaufhörlich in des Himmels Wonne,
Borgt seine Strahlen vom Geschmeid der Sonne,
Aufschwung und Licht, das ob dem Dunkel wacht.
Er hatte ein Leid, aber er nahm es hervor, nur wenn er allein war, abseits dem Hause, das seine Geliebte hielt wie einen lebendigen Balsam. Das Leid war es um der Mutter Wahn. Er sah sie dort in ihrem kalten Haus, unbeweglich erstarrt in ihrem Trotz, fern seinem blühenden Leben.
Wie sollte er Arabella Vorbereiten, daß er für Wochen, Monate nun wieder dort mit der Mutter leben, sie aber nur besuchen würde wie ein Bekannter. Eine Zeit des Jahres gehörte der Mutter ganz, die seiner Freiheit willen all die übrigen Monde opfervoll in Einsamkeit lebte. Er lud Freunde ein, daß Arabella nicht allzu einsam würde ohne ihn. Da war nun auch Frederic Tallandre von seiner Afrikareise heimgekehrt und freute sich, daß Alphi ihn mit seinem dritten Mütterchen, Helene, besuchen würde. Er war scheu gegen Frauen, der junge Gelehrte, er war es immer gewesen und bereute es, eine Ausnahme gemacht zu haben mit der eignen, indem er sich verheiratete. Er hatte seine Frau wie gegen seinen Willen geliebt und nun war fast Groll in ihm gegen die lebendigen Frauen, die sie überlebten. Er war ein wenig wunderlich, aber kindlich gut und einfältig zuweilen. Da war Hettwer, ein junger Aristokrat, der Givo schwärmerisch liebte und dessen Freundin dienen wollte wie ein Page. Aber Vögelchen fühlte seine Gebrechlichkeit, auf die wohl er selbst sich stützte, die anderen aber niemals Halt geben konnte. Dennoch erregte Mitleid ihr eine leise Zärtlichkeit. Sie hätte ihn erwärmen mögen an ihrem Herzen. Ihre Bewunderung aber galt Frau Calou, die zuweilen an Abenden kam, um zu beraten, und mehreren jungen feurigen Menschen, die in Givos Lehre vom wissenden Licht ihre Daseinsform erkannten. Aber da waren auch mehrere, deren Weltauffassung sich nur scheinbar mit der Givos deckte. Sie erhoben den Geist zu ihrem rettenden Gott. Freilich, er sah alles, befehligte alles, aber er thronte oft über dem Dunkel als ein Dünkel und, wiewohl Arabella sein Licht sah, fühlte sie sich diesem Gottesgeist fremd, der sich nur vom eigenen Feuer nährte und selbstsüchtig sich selbst verzehrte. Sie sprach wenig und erhorchte sich viel. Ihr war manches fremd, mit dessen Wissen andere heranwachsen, und von vielem hatte sie Ahnungen, durch die sie das Gehörte auf eigene Art fortspinnen und ausbauen konnte. Eines Abends, nachdem Hettwer und die Schauspielerin Larousse gegangen waren, blieb sie lange traurig. Die Larousse hatte von einem Mädchen gesprochen, das gegen die Behauptung ihres Verlobten ihre Jungfräulichkeit durch einen Arzt hatte nachweisen lassen. Vögelchen war still und nachdenklich, dann als sie allein waren, in Scheu und Scham in sich gekehrt, als Givo sie liebkoste. Eine leise Frage hatte ihm ihre Traurigkeit verständlich gemacht. Es war ihr unbekannt gewesen, daß es solche Jungfräulichkeit gab. Ihre Seele litt Heimweh nach Kindheit, der sie sich entgleiten fühlte. Mit einem Male wußte sie, daß sie Givo reicher hätte beschenken können. Sie fühlte, daß sie ihrem ersten Freunde nachtwandlerisch vergeben, was sie wachend noch nicht besessen, es verloren, ehe sie darum gewußt. Sie wunderte sich, daß Manuel Va nicht strenge abwies. Aber Manuel Givo wußte zu sehr um die Schuld, die jeder einzelne um die des anderen trägt. Er genoß Vögelchens Liebesreife, die Mannsthal gefördert hatte, und er lebte ohne gesetzliche Trauung und dies war ihm eben möglich, weil schon ein anderer es getan hatte. Wer ohne Sünden ist unter euch, der werfe den ersten Stein ... Sie aber war ihm schuldlos, wie Tier und Blume, und wo ihre Seele aufwachte, ward Schönheit und Güte. In ihrer Bewußtheit war nichts sündig, so lange sie mit ihm lebte. Und um die leise Trauer zu heilen, ließ er tagsdarauf die folgenden Verse auf ihrem Tisch zurück:
Mir ist Dein Leib ein lichtes Himmelstor,
Durch das ich ströme in mein Paradies,
Und wenn kein Engel mich aus seinen Hallen wies
Ist’s, weil Du selbst bist Metathron im Chor.
Aeonin bist Du, doch im Dienen groß,
Sieh, Deine Schwingen ruhen mir im Arm.
Noch sind sie Dir von weitem Fluge warm,
Gebenedeit ist Göttin mir Dein Schoß.
Wie konnte sie einhergehen, anderen Frauen gleich, da ihr Herz in Seligkeit, von den Kräften seiner Anbetung getragen, sie aufhob, daß ihr Fuß kaum die Erde streifte.
N un kam der Tag, wo Givo ihr sagen mußte, daß er nun mit der Mutter wohnen würde. Mutter, konnte sie es begreifen, war ihr nicht ein leeres Wort, was andere als unantastbares Gut empfanden und ihm so viel noch bedeutete! Als er es ihr sagte, verstand sie vor allem das eine, daß er schon lange der Mutter Beschützer war, an des toten Vaters statt und sie nicht verlassen durfte um der Pflicht willen, die er schon früh getragen. Daß sie Vögelchen ausgeschlossen haben wollte aus diesem Lebenskreis, das faßte sie nicht und es war ihr so fremd und unentwirrbar, daß sie daran in ihrem Denken wie an einen Felsen stieß, den sie umgehen, aber nicht übersteigen konnte. Und Givo wußte, nur ihre Ergebenheit würde es überwinden. Er war ihrer so sicher, er glaubte den kindlichen Geist plötzlich erwachender Auflehnung in ihr schon völlig in Liebe gelöst. Gewiß wäre es das Klügste gewesen, wenn er Arabella veranlaßt hätte, einige Wochen bei Cecile zu verbringen, aber er fürchtete ihr Mißtrauen, daß ihr das Heim wieder genommen sei, indem er freiwillig eine Trennung herbeiführte, während er, wenn sie in St. Cloud blieb, sie täglich besuchen konnte. Frau Givo war nun angekommen. Sie ging auf einen Stock gestützt und hatte allerlei Eigentümlichkeiten angenommen, die sie alt und wunderlich machten. Sie schien nicht mehr die vornehme, herb verborgene Frau. Es war, als ob eine Angst sie jage, und ihre Unruhe teilte sich anderen mit. Zu Givos Erstaunen stieg hinter ihr Zora aus dem Zug. Er erschrak fast über die Schönheit des jungen Mädchens und seine Mutter bemerkte es mit einem Lächeln, das in ihr edles Antlitz einen bösen Zug zeichnete.
„Was sagst du nun zu diesem Kind, ich habe es mitgebracht, daß du es auf den rechten Weg bringst.“
„Ich bin ausgerissen,“ sagte Zora.
Als sie im Wagen saßen, erfuhr er, daß Zora, die sich in der Glaubensschule als störendes Element erwiesen, mit Zustimmung der Tante einige Wochen Ferien erwirkt hatte. Givo war es recht, daß Zora mitgekommen war, so konnte er denn in St. Cloud unter dem Vorwand wohnen bleiben, den beiden Frauen genügend Platz in seiner Stadtwohnung zu belassen. Eine seltsame Scheu hielt ihn zurück, Arabella von Zora zu sprechen, auch von der Mutter erzählte er nicht und dieser niemals von Arabella. Er lebte während dieser Wochen zwei vor einander verborgene Leben. Er stand zwischen zwei Notwendigkeiten und, daß er sie nicht vereinen konnte, ließ ihn selbst oft minutenlang außerhalb, als einen, der sich selbst sieht und abwartet. Aber er fühlte, daß diese Zwiespältigkeit nicht andauern konnte, sie war zu sehr seinem Wesen fremd und verächtlich.
Zora hatte begonnen bei dem berühmten Geigenkünstler Mabese Stunden zu nehmen und Frau Givo sah sich vor einem neuen Konflikt. Die Rückkehr in die Glaubensschule schien ihr auch aus anderen Gründen nicht ratsam. Sie fürchtete, Zora könne sich dort durch ihre Heftigkeit neuerdings unmöglich machen und vor allen Mitgliedern der Gemeinschaft befleckt sein. Dann aber würde eine Ehe mit dem Sohn ausgeschlossen sein. Ihr Talent könnte immerhin die Möglichkeit bieten sie teilweise von der Schule zu befreien. Der Name Uhari war einer der besten unter den Schauenden. Aber gerade deshalb sollte Zora ihn nicht gefährden. Die Bitternis um Manuel hatte sie schlau gemacht und nachgiebig, wenn es galt, dem Ziele näher zu kommen. Sie hoffte schließlich, den Sohn für Zora zu gewinnen. Und Zora war ja hilflos ohne sie, denn Zora liebte das Wohlleben und den Luxus, obwohl ihr Vater Enthaltsamkeit gepredigt hatte, und sie gab ihr darin nach, gewöhnte sie an das Teuerste, nur um sie ganz in der Hand zu haben. Den tieferen Sinn der Lehre beachtete Frau Givo nicht mehr. Ihr galt einzig, ihren Willen, der ihr zum Wahn geworden war, durchzusetzen. Sie rechnete und berechnete. Mochte Manuel die Nächte mit dem fremden Mädchen verbringen, mochte er es verzehren in Liebe, um so rascher würde er frei werden für Zora. Sie täuschte sich: Manuels Leben mit Arabella war die edelste Erfüllung dessen, was seine Lehre unter Geschlechtsgemeinschaft versteht, es war ihm jenes Untrennbare, das keines äußeren Bandes bedarf, die erdenhafte Verschmelzung, aus der die göttliche Flamme schlug, das Licht über seinem Wandel, das nichts Irdisches zerstören, nichts Himmlisches verdunkeln konnte. Mochte sein Gehen und Stehen von ihr getrennt sein, ihr Einssein blieb unlöslich.
Aber zu dieser Zeit geschah es, daß Arabella zu Givo in die Sternwarte kam, was lange nicht geschehen war, um ihm Ceciles Ankunft zu melden, die ihres Leidens wegen zu ihrem Pariser Arzt gekommen war. „Es ist eine Dame bei Herrn Givo,“ sagte der Diener mit verschwiegenem Lächeln. Arabella hörte Zoras Lachen. Sie wartete eine Weile, aber es war irgend peinlich wie lauschend an der Türe zu stehen, während bittere Gedanken kamen, die sie nicht bannen konnte: Wer ist sie? Sie ist jung und lustig. Es duftet hier nach Parfüm. Warum sprach er nicht von ihr? Kann ich nicht immer eintreten zu ihm? Ist es nicht häßlich, wenn ich nicht sorglos ihn begrüße? Niemals war ihr Mißtrauen gekommen und, überdachte sie es, so gönnte sie ihn anderen Frauen. Aber nun stand sie und etwas machte ihr angst und kalt. Sie wußte es gleich, sie liebte nicht die da drinnen und gleich verurteilte sie es, einer Fremden, von der sie nichts wußte, übel zu wollen. Weil es sich aber nicht begründen ließ, weil sie nicht Beweise hatte für ihr abweisendes Gefühl, lag wohl ein Grund vor, ein geheimer Sinn, dem sie Glauben schenkte. Plötzlich ging die Tür auf und Givo trat heraus. Er wurde — er selbst spürte es mit Schrecken — bleich. War es Vögelchens Gefühl, das sich ihm mitteilte, war es der ganze Zusammenhang, der Umstand, daß er nie über Zora gesprochen, die zufällig gekommen war, mit einer Bestellung seiner Mutter, ebenso zufällig wie Arabella? Aber Givo sah sich plötzlich umstellt, verfolgt in seiner Arbeitzelle oder er täuschte sich unbewußt dies vor, um nicht sein wirkliches Gefühl der Scham über sein doppeltes Leben zu empfinden, da er, der immer gerade Wege ging und für alles Tun einstand, vor diesem Wesen, das ihm vertraute, scheinbar ein Geheimnis hatte. Er wußte, dies war nichts als der flüchtige Besuch eines Mädchens, mit dem er in heiterem und zugleich feindlichem Einverständnis stand, aber er sah es, wie Arabella es sehen mochte, als eine heimliche Zusammenkunft und vielleicht nur eine von vielen. Sie wollte sprechen, aber die Scheu, die sie zuweilen empfand, war so groß, daß sie kein Wort hervorbrachte. „Ich kann jetzt nicht mit dir gehen, es ist jemand bei mir. Willst du mich irgendwo erwarten? Wir können dann eine Weile zusammen bleiben.“
„Eine Weile?“ fragte sie. „Und jetzt?“
„Jetzt ist ein Mädchen da, das mir meine Mutter mit einem Brief geschickt hat. Ich kann es nicht rasch fortschicken, ohne es zu kränken.“
Vögelchen wollte ihn bitten: schicke sie fort, sie , nicht mich. Aber sie brachte es nicht über die starren Lippen. Sie nickte nur und ging die Stiegen hinab. Die Kniee zitterten ihr. „Wo sehe ich dich?“ rief er ihr nach.
„Cecile ist hier,“ sagte sie von unten mit mühsamer Stimme. Dann ging sie. Er blieb stehen, seine Füße waren bleischwer. Hinter ihm stand Zora. „War sie das?“ fragte sie und ihre mandelförmigen Augen leuchteten.
„Wer denn? Ach, ihr Frauen, ihr Neugierigen,“ sagte er. Als Zora gegangen war, stand unten an der Tür Arabella. Sie hatte den Schleier über ihr Antlitz gesenkt, aber Zora wußte: das ist sie. Und Zora schritt sorglos weiter, hob ein wenig trotzig den Kopf, als sie an ihr vorüberkam, und Arabella schien es, als kräusle ein Lächeln ihren Mund. Ein kleiner Funken knisterte zwischen ihnen: Feindschaft.
Als Manuel nach St. Cloud kam, fand es sich, daß Arabella mit Cecile zur Bahn gefahren war. Er hatte zwar eine Verabredung mit seiner Mutter, aber nun hatte ihn Unruhe und Sehnsucht befallen, sie an sein Herz zu drücken. War es möglich, daß sie etwa, ohne ein Wort zu hinterlassen, weggefahren war? Welcher Teufel hatte ihn gejagt, nicht das, was ihm das Wertvollere und das Natürlichere war, zu tun? Er quälte sich. Warum hatte er sie, nicht Zora weggeschickt!
Vögelchen kam spät nach Hause. „Allein bist du den einsamen Weg gegangen?“ sagte er und nahm sie in die Arme wie eine Mutter ihr Kind. Er war so froh, daß sie zurückgekommen war. Da weinte sie, weinte all ihre unausgesprochene Angst um jenes Leben, in dem er war abseits von ihr, in einer fremden Welt, die ihr feind war.
D er Mai, mit seinem Zustrom von Fremden, war Givo nicht lieb in Paris. Die Stadt schien ihm da von ihrer vielfältigen Wirklichkeit zu einer Stätte wahnvoller Lustbarkeit gewandelt. Er aber kannte die Kehrseite, das Elend, die nachbetende Verlogenheit, die die Prostitution verherrlichte, all die geistige Verlotterung und die Eintagsfreude des Luxus. Die Regsamkeit der Menschen drängte ihnen nach in ihre Zurückgezogenheit. Sie riefen die Menschen nicht zu sich, aber ihr Helfen rief sie: wer unberaten, bedrückt, bedrängt oder begeistert war, sehnte sich in ihre Nähe. Künstler verlangten die Weihe ihres Verständnisses, täglich liefen Briefe und Bücher ein, Bilder wurden vor ihnen aufgerollt, sie mußten in Ateliers klettern, uneheliche Kinder aus der Taufe heben, Kranke besuchen, die nach ihnen riefen, Streitigkeiten von Liebespaaren, Diskussionen über geistige Uneinigkeiten, seelische Rechtsbrüche wurden von ihnen abgehandelt. Wiewohl es nicht unbekannt war, daß Givo einen großen Teil seines väterlichen Erbteiles für wohltätige und wissenschaftliche Zwecke verbraucht hatte, hielt man ihn für genügend reich immer noch helfen zu können. Die Mannsthal-Aktien waren sehr gestiegen. Adalbert hatte Vögelchen ein großes Vermögen angelegt. Givo wollte nicht ärmer werden, um nicht in die Lage zu kommen, aus diesem Gelde Nutzen zu ziehen. Und vor allem sehnte er sich nach Abgeschlossenheit, um neue Kräfte zu sammeln. Givo wollte die Haustüre sperren, einen Zettel hinaushängen und darauf schreiben: „Hier wird gearbeitet, man bittet um ein wenig Ruhe.“ Aber da blickten die Freunde durch die Hecke am Gartengitter und riefen: „Ach, ihr spaziert ja eben herum, da kommen wir nur auf fünf Minuten.“ Oder Givo bringt selbst einen Verstörten, den Arabella aufrichten soll. Sie fühlen eines Tages, daß die Freunde ihre Feinde sind, daß ihnen der Fremde, der auf der Straße vorbeigeht, mehr Freund ist, weil er ihnen nicht von ihrem Leben nimmt, wie man Äpfel vom Baum bricht. Und sie fühlen auch, daß sie ärmer werden an ihnen, weil diese mit der Gewaltsamkeit des eigenen Wichtignehmens ihre Existenz in die ihre drängen und ihnen den eigenen Atem rauben. Sie haben keine Einkehr mehr mit sich selbst. Der Traum ist ihnen verscheucht, selbst aus dem Schlaf, der sie so bleiern anfällt, daß sie sich nur leise mehr durch ihn spüren und nur selten mehr die Frische haben, sich einander hinzugeben. Vögelchen wird blaß und müde und eines Tages läßt sie die Koffer herbeischaffen und Givo findet alles vorbereitet zu einer Reise.
Er wollte gern mit Arabella noch einige Tage nach Chaly, reine Luft zu trinken. Der Arzt aber hatte Cecile auf eindringlichstes Fragen eine schlechte Prognose gestellt; keine Hoffnung auf Genesung. Sie hatte es geahnt, aber nun befiel es sie wie Grauen über sich selbst, beinahe Verächtlichkeit war es für den hinsiechenden Körper. Zählte sie noch mit, konnte sie noch auf Menschen wirken, da sie nicht mehr ganz zu den Lebendigen gehörte? Gab es nicht etwas zu tun, das der Menschheit nützlich sein konnte und das nur einer vollbringen mochte, der ein Leben zu opfern hat! Sie wollte ihr Augenmerk auf nützliche Taten lenken, deren Folgen andere zu fürchten hatten. Aber noch war ihr der Gedanke zu neu eine Sterbende zu sein. Sie mußte allein sein mit diesem Übergang und keiner, dem sie lieb war, sollte den Urteilsspruch des Arztes erfahren oder erraten. So schrieb sie Givo, er möge den Besuch verschieben. Gleichzeitig aber erhielt dieser einen Brief von Mannsthal, er sei im Begriff zu verreisen, er wolle vermögensrechtlicher Angelegenheiten wegen, auch um Vögelchens Freiheit zu schützen, deren vorzeitige Großjährigkeit erwirken. Angele würde sich freuen, ihn und Arabella während dieser Zeit bei sich zu sehen. Sie würde auch Vermittlerin sein in einer Angelegenheit, die er gern bereinigt sähe. Arabella machte sich bereit, Givo nach Quesnon zu begleiten, wo sie mehrere Tage verbringen wollten. Da kam Helene mit Alphi und Manuel reiste allein.
Er fand Angele verändert, mütterlich froh und gerundet, verjüngt und gereift zugleich. Sie war unablässig bemüht um das Kind. Es war schwächlich und sie hatte deshalb mit Adalbert beschlossen im Süden sich anzusiedeln. Bevor sie aber Nordfrankreich verließen, wollte Mannsthal gern Arabellas Zukunft gesichert sehen und das quälende Bewußtsein der Vergangenheit völlig überwinden. Er, Givo, wäre wohl großzügig genug, um Mannsthal nicht das Recht zu schmälern, Vögelchen zu beschützen, solange kein anderer diese Rolle dauernd übernahm. Es bedrücke ihn, daß Givo Arabella bislang nicht zur Frau begehrt, obwohl er ihre Seelenreinheit erkannt habe. Mannsthal habe geschwiegen, weil seine Lage Vögelchen gegenüber eine außergewöhnliche sei und er selbst scheinbar deren Anspruch auf Rechtmäßigkeit verwirkt habe. Sie aber, die Freundin und Frau, der es gelungen, den Dämon aus Adalberts Leben zu bannen, sie bäte Givo flehentlich gerade um dieser Umstände willen, nicht zu zwangloser und unsicherer Beziehung die Sachlage auszunützen. Sie kenne seine losen Verbindungen mit Frauen, als des Mädchens Stiefmutter bäte sie um Bescheid. Givo ward in den Grundfesten seines Wesens erschüttert, als er die Freundin solchermaßen sanft und eindringlich sprechen hörte. Die Einstellung war falsch. Niemand wollte wie er Vögelchens glückliche Geborgenheit. Aber Angele hatte recht, das durfte er nicht, wie er es bisher stillschweigend getan, jenes Mannes Unrecht nützen. Während Angele gesprochen, wußte er es mit einem Male, er handelte schlecht an Vögelchen. Er dachte ja nicht daran sie zu verlassen und ihre Liebe war groß genug sich in außergewöhnliche Verhältnisse zu fügen. Seiner Glaubenslehre war die freie eheliche Verbindung gemäß, nicht zwanglose Leichtfertigkeit lenkte ihn und Scheu sich für alle Zukunft zu entscheiden. Aber er sah sich gehemmt Frauen gegenüber frei zu handeln und was aussah wie Libertinage, war in Wahrheit Zwang. Was ihn erschütterte, war, daß er sich greller bewußt ward, daß seine Mutter, indem sie seine Lehre, die mit überzeugtem Handeln so enge zusammenhing, schützen wollte, ihn zu zweifelhaften Kompromissen verurteilte. Seine Männlichkeit, seine Ehrlichkeit sträubte sich gegen gebundene Hände. Wohin er sah, es war nicht Freiheit mehr um ihn. Wie aber sollte er wirken ohne sie? Er verabschiedete sich von Angele, es drängte ihn mit seiner Mutter zu sprechen. Nach Paris zurückgekehrt suchte er sie gleich auf. Er fand sie lesend, Zora übte im Nebenzimmer eine schwierige Sonate. Jenseits der Seine waren Türme und Dächer in das Rot der untergehenden Sonne getaucht, der Fluß, dessen Lauf man von den Fenstern aus verfolgen konnte, hatte etwas feierlich Hinschwebendes.
„Ich möchte mit dir sprechen, Mutter.“ Frau Givo erbleichte. Sie fühlte das Außerordentliche des Augenblickes.
„Was wünschest du?“ fragte sie.
„Ich will nun dieses Mädchen zu meiner Frau machen.“ Die Frau mit dem wachsgelben Gesicht sah starr auf den Mund, der das Gefürchtete ausgesprochen, sie blieb still, aber es war nur der Augenblick, währenddessen die Keule ausholt, ihren wuchtigsten Schlag zu tun. Sie sagte langsam mit unendlichem Hohn:
„Die Geliebte ihres Vaters?!“
Wie stand es mit der Lüge, konnte er nicht Entsetzen über Verleumdung heucheln? Der Schlag brannte. Erst als seine Betäubung schwand, konnte er erwidern: „Wer hat dir diese Ungeheuerlichkeit hinterbracht?“ Nun wurde Frau Givo gesprächig. Gleich, als sie angekommen waren, hätte sich eine Person gemeldet, die geschickt worden sei, ihn, Givo, nach der Adresse des Fräuleins Mannsthal zu fragen. Es handelte sich um die Übermittlung einer Todesnachricht. Sie sei dann mit diesem Mädchen ins Gespräch gekommen und habe so die sauberen Dinge erfahren, die dieses von dem Kammerdiener Mannsthals und von jenem Toten wußte. Sie habe auch von diesem ein Andenken mitgebracht mit dem Ersuchen, es dieser Mannsthal zukommen zu lassen. Frau Givo holte aus einer Lade ein Kuvert hervor, in dem ein Zettel lag. Manuel las:
Quod in charitate constitutis nullum peccatum imputetur.
Ein himmelblauer Enzian war aus dem Zettelchen gefallen. Er war nicht vergilbt und wie ein unschuldvolles Auge aus einer reinen, fernen Bergwelt sah er in die Schwüle dieser Stunde. Givo sagte: „Von diesem Unglücklichen ist es, dessen Tod ihr verheimlicht wurde.“ Er las die Worte laut. „Verstehst du das? Er hatte es wohl aus meiner Schrift, gegen die er polemisierte. Verstehst du es, Mutter?“
„Und wenn ich es verstünde, ich will es hier nicht bestehen lassen. Um der Sünde willen, die an ihr begangen wurde und die sie selbst, wie es heißt, nicht von sich wies. Ich sage nein und nicht um der Liebe willen, in der sie leben mag, sagte ich jemals ja. Sie ist und bleibt eine Fremde.“ Und kraftvoll, daß im Nebenzimmer das Geigenspiel zerbrach, sprach sie: „Wisse es, Manuel: Nur über meine Leiche geht dein Weg in diese Ehe.“ Da packte Givo ein heiliger Zorn.
„Das ist Lästerung!“ rief er und er, der Sanfte, warf den Stuhl, den seine Hände umklammert hielten, zu Boden. Er nahm seinen Hut und eilte hinweg.
Einige Tage später verließ er mit Arabella Paris. Der Mutter schrieb er, daß er sie wiedersehen würde, wenn sie, von ihrem Wahn geheilt, die entsetzliche Weigerung einstellen würde. Er wollte nicht zum Verbrecher werden an der Ehrfurcht, die er ihr zolle, und nicht zum unglückseligen Schurken an einem Wesen, das er liebe wie seinen Glauben. Angele bat er Mannsthal zu vermitteln, daß es über seine Kraft ginge, Arabella zurzeit seinen Namen zu geben. Es gäbe Verwicklungen, die jenseits der üblichen Lebenswege sich nicht in gewaltsamer Entwirrung lösten. Er könne nur wiederholen, daß sie ihm teurer sei als sein Leben und ihrer Liebe so sicher wie der eigenen.
Vögelchen erfuhr nichts von den Verhandlungen. Sie war glücklich nun des Geliebten Nähe, losgelöst von allen Beziehungen, zu genießen. Sorglos hingegeben fragte sie nicht nach Gesetzen und Verträgen.
Es kommt eine Zeit, in der die Freunde nichts hören von Manuel und Arabella. Sie wohnen im Garten des Glückes und der hat seine Tore geschlossen und läßt niemanden ein. Sie hausen hinter Mauern, über die bunte Blumen sich chaotisch ranken und hinter ihnen im Paradies der Landschaft sprießen sie selbst ineinander, durchweben, durchranken, durchsonnen sich. Einmal nachts ist ihre Umarmung so vollkommen, daß sie der Frucht dieser Stunde gewiß sind. Da kommt am folgenden Tag eine Depesche von Zora, die der Mutter lebensgefährliche Erkrankung meldet und schleunige Abreise empfiehlt. Auf ihr Blühen fällt Frost. Sie raffen sich schwer auf und ziehen gegen Norden. Er will gern Arabella zu Cecile schicken für diese düstere Zeit, die aber ist krank. So muß er sie mitführen in das Fremdland, das seiner Mutter Krankenlager umgibt. Ein Schlaganfall hat in der Stunde ihrer innigsten Vereinigung das Leben Lea Givos bedroht. Es war, als hätten Tod und Zeugung hier geheimnisvollen Zusammenhang.
D as Asyl hatte nur wenige Zöglinge mehr aufgenommen, seitdem Cecile ihre Helferinnen verloren hatte. Clothilde war Krankenpflegerin geworden, Anna leitete in Felix Blancs Lungenheilstätte den wirtschaftlichen Betrieb. Helene war in ihrem Heim beschäftigt. Die Behörden von Chaly wurden überdies von Jahr zu Jahr unduldsamer gegen das Asyl. Cecile verlängerte den Pachtvertrag nicht mehr, als er abgelaufen war. Es gelang ihr mit Hilfe ihrer Schwester das Häuschen Givos in St. Cloud einzurichten und darin die Schützlinge unterzubringen. In Paris gewann sie leichter Hilfe und im Notfall Ersatz für sich selbst.
Besonders lieb war es ihr, daß sie sich von Gaston Lantrec, der nun die Hochschule besuchen sollte, nicht zu trennen brauchte. Dieser junge Mensch fürchtete sich vor dem Gespenst jenes Mordes, das ihm nun oft und oft erschien. Ein Besuch bei dem Vater im Gefangenenhaus hatte ihn in tiefste Schwermut gestürzt und Cecile wußte es, sein brennendster Wunsch war alles aufzubieten, des Vaters Begnadigung herbeizuführen. Er wollte unmäßig viel Geld verdienen, Stunden geben, Erfindungen machen, den besten Verteidiger zu bezahlen, daß der alte Prozeß wieder aufgenommen würde. Nachdem Cecile das Heim in St. Cloud eingerichtet hatte, löschte sie ihren Namen aus der Leitung. Sie fühlte sich sehr müde. Man riet ihr zu Kuren und Reisen, aber sie wußte Bescheid, es half ja nur zu einer Galgenfrist. Eines Tages gab sie Gaston einen Brief, er möge ihn heimlich dem Vater zustecken. Bald darauf erkrankte sie ernstlich, sie begab sich in Spitalspflege und starb nach wenigen Wochen. Gaston war bei ihr in den letzten Stunden. Ninidh mit der weißen Hand drückte ihr die Augen zu. Unter ihren Papieren fand sich ein Brief, der für das Gericht bestimmt war. Sie teilte darin mit, daß sie vor sechzehn Jahren aus Eifersucht Frau X. erschossen habe, weil diese die Geliebte des Bildhauers Lantrec, ihres heimlich Verlobten, gewesen sei. Der Mann habe die Schuld auf sich genommen und ihr das Gelübde abgerungen zu schweigen. Nun aber brachte sie die Wahrheit an den Tag. Der Tod löse ihre schweigenden Lippen. Sie testierte eine größere Summe für die Kosten des neuen Prozesses und für Gefangenenfürsorge. In einem Brief an Givo bat sie ihn, Gaston in seinen Bemühungen zu unterstützen. Man solle nicht versuchen sie für die Öffentlichkeit reinzuwaschen. Sie hoffte, daß ihr Leben ein solches gewesen, daß ihre Freunde, was immer sie auch in Leidenschaft getan habe, sich ihrer nicht zu schämen brauchten. Hector Lantrecs Prozeß wurde wieder aufgenommen. Zwei Monate nach Ceciles Tod wurde er aus dem Gefängnis entlassen.
H elene war nach ihrem Aufenthalt bei Arabella mit Alphi zu dessen Vater übergesiedelt und hatte das verwaiste Hauswesen neu eingerichtet. Sie war fast siebzehn Jahre alt und ihre Mutter billigte es nicht, daß sie in Paris in einem frauenlosen Haushalt leben sollte. Aber es zeigte sich, daß Helene kaum Zeit hatte auszugehen und der junge Gelehrte flößte ihr ein Vertrauen ein, das sich in einer Art verächtlichem Zweifel über seine tatsächliche Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht ausdrückte. Zudem sah Cecile, die der Schauspielerin als ein höheres Wesen galt, hier für Helene eine Lebensaufgabe. Was sollte sie auch mit der großen Tochter anfangen! Sie hatte einen Hund, den sie in ihrem Muff trug und abgöttisch liebte. Dieses Format war ihrer mütterlichen Liebe gemäßer. Helene fühlte sich sehr wohl bei Tallandre, sie war trotz ihrer jungen Jahre ihm in mancher Weise überlegen. So hatte sie bald zu ihrem Ergötzen entdeckt, daß er sich vor ihr fürchtete und sich alle Mühe gab vor ihr den Wüstling zu spielen, der mit anständigen Mädchen nichts anzufangen weiß. Es war auch ein Teil Wahrheit dabei, denn er war ein wenig ausgehungert auf seiner Afrikareise. Aber eben deshalb wußte er, daß ihm Helene nicht ungefährlich war. Der gute Fifi, wie ihn seine Freunde nannten, war zudem ein großes Kind, das auch gern vor sich selbst prahlte. Er wollte schon fertig werden mit dieser Anfechtung. Bah, solch ein kleines Mädchen und er, der Elefanten gejagt hatte! Wenn aber Helene Alphi liebkoste, bekam er alle Zustände. „Ob es denn eigentlich gesund sei, daß sie und das Kind einander so oft küßten?“ fragte er eines Tages erbost. „Gesund nicht eben, aber gut sei es,“ antwortete Helene und, als er den Kopf schüttelte, sagte sie lachend: „Wenn Sie nicht glauben, daß es gut ist, so versuchen Sie es doch — bei Alphi natürlich.“ Eines Tages hatte seine Schwägerin den Kleinen für einen Ausflug aufs Land abgeholt. Helene saß vereinsamt über ein Buch gebeugt, als er nach Hause kam. Sie sah ihn an und lächelte vertraulich. Aber er wußte, es war nicht der borstige, nörgelnde Tallandre, den sie anlächelte, sondern der wirkliche, der in Helene verliebt war. Sie war also liebevoll, ohne von ihm Notiz zu nehmen, sie liebäugelte mit ihm über seinen eigenen Kopf hinweg, mit seinem freundlicheren Ich. Er ärgerte sich über die Geringschätzung eines Anwesenden. „Nun, wen haben Sie heute zu küssen?“ fragt er hämisch.
„Alphis Vater,“ sagte sie, stand auf und trat mit strahlenden Schelmenaugen auf ihn zu. Da packte ihn die Liebeswut und er vergaß seine schnöde Verachtung für die anständigen Frauen. Er vergaß sie so gründlich, daß nach einem Monat Helenes Mutter in ihrem Freundeskreis erzählte: „Meine Kleine ist ein Ungeheuer, sie hat mich zur wirklichen Stiefgroßmutter gemacht.“ Und sie zeigte mit Stolz das Bild Alphis. Zur Großmutter war sie begabt. Sie entschädigte Alphi für die Zärtlichkeit, die nun sein drittes Mütterchen Helene zum Teil seinem Vater zuwandte.
Helene schrieb überschwengliche Briefe an Vögelchen. Das Einzige, was ihr junges Eheglück trübte, war Ceciles fortschreitende Krankheit und schließlich ihr opfergekrönter Tod.
A rabella und Givo erhielten die Nachricht von Helenes Verheiratung in Hamburg, wohin sie eiligst gereist waren. Wenn Vögelchen an diese Lebenszeit zurückdachte, sah sie bleischweren Nebel, hörte Stürme an ihre Fenster trommeln und den Schrei der Dampfpfeifen des Hafens. Und doch war Frühling und an der Elbe blühte es in den Gärten. Givos Mutter lag wochenlang zwischen Leben und Tod. Er konnte sich kaum wegstehlen von dem Krankenlager. Vögelchen war allein in der fremden Stadt und ihr Leid mußte schweigen, weil der Geliebte mehr litt als sie selbst. Als sie angekommen waren, hatte er sie in einem Hotel an der Alster untergebracht. Der Zustand der Mutter erwies sich wohl bedenklich, aber eine unmittelbare Gefahr bestand nicht mehr. Der Arzt war es zufrieden, daß Givo gekommen war, aber er schlug vor, daß er sich vorläufig der Mutter nicht zeige. Er wolle sie zuvor im Verein mit Zora langsam vorbereiten. So war es Givo möglich gewesen, die ersten Tage mit Arabella zu verbringen. Wiewohl hinter jedem freudigen Augenblick das Bewußtsein lauerte, an der Mutter Krankheit mitschuldig zu sein, und dunkle Ahnungen über neue Verwicklungen ihn beschatteten, führte er Vögelchen umher zu den Stätten seiner Kindheit. Sie war bemüht ihn aufzuheitern und es fiel ihr seltsam leicht, heiter, ja freudig zu sein. Es war, als sprudelte noch immer ihr Blut in heißem Takt. Sie fand das Essen köstlich, sie fühlte ihre Muskeln in neuer Kraft. Manuel sah sie zuweilen forschend an, ohne daß sie es bemerkte. Eine Vermutung war in ihm aufgestiegen, die ihn aufs tiefste bewegte.
Nun war es so weit, daß Givo die Mutter besuchen konnte. Sie beherrschte wieder die Sprache, nur ab und zu machte ein Wort ihr Mühe. Sie lag zu Bett und sah ihm mit sanfter Freude entgegen. Er mußte sich beherrschen, um die Tränen zurückzudrängen: es ging eine Milde von der Mutter aus, die nicht mehr von dieser Welt schien. In ihrer Rede kam etwas mühsam von weither, als hätte er sich von neuem des gewohnten Lebens zu besinnen. Sie verschwieg ihm ihre Sehnsucht, wie ihre Gedanken durch Qualen ihn stündlich gesucht, wie sie in ihren welkenden Tagen jede Stunde als eine unwiederbringliche fühlte, das Entbehren seiner Nähe als einen Fluch, der sie vergiftete. Nichts von der gefährlichen Warnung des Wahnsinns sagte sie ihm. Aber eben in dem Schweigen spürte er in aufflammender Liebe ihre Peinigung. Sie sprach ihm von allerlei, von ihrer Krankheit erwähnte sie nichts. Sie gab ihm wohl die Schuld und in ihrem Bemühen, sie im Gespräche zu übergehen, lag die Anschuldigung am deutlichsten. Givo beachtete nicht, daß Geisteskranke zuweilen das wirksamste Mittel wählen ihr Ziel zu erreichen, daß auch ihrer Ruhe nicht zu trauen ist. Dankbar ließ er die Milde auf sich wirken, er sah der Mutter Bild wieder rein und hell, umstrahlt von der Märtyrerkrone ihrer Duldung, die Zukunft schon gelöst in Einigkeit. Freundlichst kam er Zora entgegen. Ihre Treue für die Kranke bewegte ihn. Die verhaltene Glut ihres Blickes konnte er sich nicht deuten. Liebe oder Haß? Beides vielleicht?
Als Frau Givo ermüdet den Sohn verabschiedete, ließ sie Zora zu sich rufen.
„Er wohnt nicht im Hause?“ fragte sie.
„Nein,“ antwortete Zora.
„Dieses Mädchen ist bei ihm?“
Zora zuckte die Achseln, aber ein Zucken um ihren Mund bedeutete, daß die Kranke richtig geraten habe.
„So will ich morgen ein Ende machen zwischen ihm und ihr,“ sagte sie. „Nun will ich mir Kraft zuschlafen. Gute Nacht!“
Da sagte Zora: „Kann Glück sein, wo so harte Weigerung ist? Hab’ Mitleid mit uns beiden. Ich fühle, wie das Böse in mir aufsteigt, Rache um seine Liebe für die andere.“
Da richtete sich die Frau auf, so gut sie konnte. „Gott will es. Er stählt mir den Willen bis in den Tod. Vertrau ihm. Willst du ihm ungehorsam sein, dann geh aus meinen Augen! Geh!“
„Wohin?“ fragte Zora tonlos. In diesem Augenblick rissen in ihrer jungen Brust alle Fäden der Zusammengehörigkeit. Ihr heimatloser Sinn kehrte von Suchen und Sehnen zurück und wandte sich auf immer ab vom Gemeinwesen der Menschen.
„Du kennst deinen Weg, wenn du dich deinem eigenen Glück widersetzt. Dem höchsten Glück, das je einer Frau zuteil werden kann! Fort in die Glaubensschule und dann in Stellung.“
Und als Zoras Schweigen wie Unheil sich im Zimmer breitete, sagte sie beschwörend: „Laß es reifen in ihm, erobere ihn dir. Rette ihn zu dir, aus der Verhexung dieser Fremden.“
Die Kerze flackte auf von unsichtbarem Hauch geschreckt. Zora stierte ins Feuer und wünschte, daß es sie und die Welt verschlänge. „Lösch aus,“ sagte Frau Givo. „Morgen muß wieder Klarheit kommen: das Licht,“ und wie im Traum schon lallte sie: „Licht.“
D as Licht aber drohte ihrer Lebensflamme zu verlöschen. Givo sagte: „Laß ab, Mutter. Diese Gemeinschaft kannst du nicht trennen.“ Als sie erwidern wollte, fiel ihr Kopf zur Seite, die Zunge ward ihr schwer, die Augen blickten stier, die Glieder wurden lahm. Zwei Tage darauf erwachte sie aus todesähnlicher Bewußtlosigkeit. Manuel hatte lange Beratungen mit dem Arzt und Zora. „Es wird nicht mehr lange dauern. Belügen wir sie,“ sagte das Mädchen. Ihre schwarzen Augen flackten zu bläulichem Glanz, als sie Givo fragend anblickte. Der Arzt mahnte. „Nehmen Sie ihr die Qual.“ Die Mutter lag im Nebenzimmer und kämpfte sich ins Leben zurück. Plötzlich schrie sie auf, dumpf wie ein geängstigtes Tier. Givo stand auf, nahm Zora an der Hand und trat an ihr Bett. „Mutter,“ rief er leise. Und Zora lehnte den Kopf an Givos Schulter und weinte. Da lächelte Lea Givo und wollte das Zeichen des Segnens machen. Sie war zu schwach, aber sie verfiel in ruhigen Schlaf und, als sie erwachte, war die drohende Gefahr vorüber.
Vögelchen hatte Manuel fröhlich erwartet. Er war voll Hoffnung von ihr gegangen. Nun kam er nicht. Des Abends erst sandte er Botschaft, die Mutter sei schwer erkrankt. Zwei Tage vergingen, bedrückt von der plötzlichen Einsamkeit und der Qual, in der sie ihn wußte, um ihretwillen vielleicht. Sie hatte ihn der Mutter genommen und jenem Mädchen, das fühlte sie. Aber warum konnten sie nicht beide an ihm froh werden? Wenn er aber ihr genommen würde, was dann? Zurück zu Cecile? Nein, nicht arm und verwaist ins Asyl, nach St. Cloud, wo sie mit Givo glücklich gewesen. Sie würde Va besuchen und dann reisen, bis sie ein Ziel fand, irgendein Ziel. Welches? Nein, nein, sie würde bleiben, wo er war. Konnte es denn sein, daß er sie von sich ließ, daß er nicht ein Leben fand, in dem auch sie war? Allem wollte sie zustimmen, was nicht Trennung hieß. Und vielleicht, vielleicht gab er ihr ein Kind! Wer konnte ihr verbieten ein Kind zu haben? Dann würde sie die Einsamkeit schon leichter tragen. Und als sie darüber sann, war es ihr, als sei ihr der Wunsch erhört. Sie legte die Hände auf ihren Schoß und erlebte die Verkündigung. Wie im Traum lag sie und war gefeit vor Schmerz. Spät abends kam Givo, bleich, seine Augen brannten. So hatte sie ihn nie gesehen, ihn, den Ruhigen, den immer Befestigten. Er kniete vor ihr hin und legte den Kopf in ihren Schoß. Lange lag er so und schien Ruhe zu schöpfen und nachzusinnen.
Da fragte sie leise, wie aus einem Traum: „Hörst du unseres Kindes Herzchen schlagen?“
Er schüttelte den Kopf. Tränen gebadet hob er sein Gesicht zu ihr auf. „Es wurde in der Nacht, als der Tod die Mutter anfiel,“ sagte er. „Darum darf es nicht sein, du mußt es ungeschehen machen mit deinem Willen. Es ist mir Schweres geschehen. Ich habe meine Hand in die einer anderen gelegt um der Mutter Leben und Ruhe willen. Kannst du mir verzeihen? Kannst du mir vertrauen, trotz allem?“ Sie lag starr. Gigantische Kräfte hätten ihr jetzt die Zunge nicht gelöst. Wille und Wort waren in einen tiefen Schacht gefallen, der hieß Verzweiflung. Nach einer Stunde erst, in der sie beide regungslos gelegen, hauchte sie: „Ich vertraue dir. Ich lebe ja nur durch dich. Tu, was du mußt. Nur töte mich nicht, töte mich nicht.“ Er hatte sie umfangen, während sie aus den Tiefen des Schmerzes zu ihm sprach und in unendlicher Liebe nahm er sie zueigen. Dumpf heulten die Dampfpfeifen im Hafen. Nordwind peitschte die Wolken. Angstvoll war das Flattern der Sturmvögel und Möven.
Z u dieser Zeit erfuhren sie Ceciles Tod. Zum ersten Male griff die schwarze Hand in Arabellas Nähe, zum ersten Male konnte sie erfassen, was es heißt: ein Mensch ist ausgelöscht, der dir lieb war, und ein Stück deiner eigenen Seele ist mit ihm gewandert. Und während Givo nur Trauer empfand, quälte sie sich über Ceciles Geständnis. War es möglich zu töten? Seltsam, sie mußte an jene Begegnung vor Manuels Tür im Observatoire denken, an den triumphierenden Blick jenes Mädchens. Sie fragte sich, ob sie selbst würde ein Leben vernichten können, das ihren heiligsten Besitz bedrohte. Und daß der Geliebte dann für Cecile geschmachtet hatte! All das quälte, bis Givo ihr bewies, daß Cecile einen frommen Trug, nicht einen Mord begangen hatte. Das Leben war ihr beschattet von allen Seiten und Givos Sonne hellte es nicht; die trug ja selbst den Flor der Trauer. Nein, kein Kind in dieses Leben setzen, das sie nicht zu enträtseln vermochte. Nie hätte sie es beschützen können in der Wildnis, die sich vor ihr auftat. Sie war so sehr versonnen, daß sie ihrer täglichen Bedürfnisse kaum achtete. Givo war oft Tag und Nacht an das Krankenlager der Mutter gebunden. Er konnte nicht acht haben auf sie. Vögelchens wandernder Sinn blieb nicht haften am eigenen Schmerz, er verirrte sich in alle Labyrinthe menschlichen Leidens. Manchmal stieß sie die Kinderstirne wund an den nächtlichen Toren der Unwiederbringlichkeiten und trug aus dieser Zeit unauslöschbare Narben in ihr Leben mit. Der Schmerz tötete das keimende Leben in ihr und, als sie dessen bewußt war, beweinte sie es. Zu zart war ihr Körper, den Unbilden der Seele zu trotzen. Wie ein Schifflein, das von leichtem Segel beflügelt auf dem Schrecken des Meeres tanzt, ward er vom Sturm ergriffen und seine Ladung über Bord geschleudert. Ein Krönlein lag am Meeresgrund. Zuweilen schimmerte es zu ihr auf und sie sandte ihm die Perlen der Tränen, es zu schmücken. Aber das Meer trank sie auf in dumpfer Unersättlichkeit.
Frau Givo lag gelähmt. Man ging auf Zehenspitzen, es war gesorgt, daß keine Tür ins Schloß falle. Ein Erschrecken konnte sie töten. Man hatte ihr gesagt, die Heirat sei vorbereitet, und eines Tages trat Zora vor sie in festlichem Kleid. „Heute wird es sein.“ Givo kam herzu. Der Mutter Hand wollte nach seiner Stirne tasten. „Der Wagen ist schon vorgefahren,“ drängte Zora. Sie verließen die Kranke. Zora ergriff ein Weinkrampf, als sie die Stiegen abwärts schritten. Der Schleier fiel über ihre Tränen. Der Arzt blieb bei Frau Givo zurück, während Zora und Manuel, die Zeit hinzubringen, eine Rundfahrt durch die Stadt machten. An dem Krankenbett war dann ein Mahl gerichtet, dem nur der Arzt zugezogen war. Die alte Minka weinte verstohlen. Sie allein unter den Dienstboten ahnte das Verschwiegene. Ihre Herrin lag mit einem Lächeln, das wie Eisglanz über dem gelblichen, halb gelähmten Gesicht funkelte. Bald schlummerte sie wieder ein. Givo küßte Zoras Hand. „Hab Dank für dies traurige Spiel,“ sagte er. Ihre Mundwinkel bogen sich nach abwärts, sie senkte die Lider über den Fluch ihres Blickes. Er stürzte davon, dem Ersticken nahe, Betrug würgte ihn tödlich. Seine Seele schrie nach Unbeflecktheit, aber wohin er auch blickte, war Schuld.
Frau Givo wollte nicht so rasch aus einem Dasein gehen, in dem sie nun endlich ihren heißesten Wunsch erfüllt sah. Zähe Kräfte hielten sie am Leben und schmiedeten Zora und Manuel an ihr Krankenzimmer. Gäste wurden nicht vorgelassen, einige Glückwünsche fingiert. Die Kranke hatte aufgetragen, daß das untere Geschoß des Hauses für Zora und den Sohn eingerichtet würde, und es traf sich günstig, daß der Raum, in dem Imanuel die kostbare Sammlung alter astronomischer Instrumente aufbewahrte, zu diesem Zwecke geräumt werden sollte. Er träumte von einem Uraniaborg, einer Sternwarte am Meer, wie sie sein geistiger Ahne Tycho de Brahe besessen, einer Insel Gwenna, auf die er nachts zu Liebe und Arbeit entfliehen wollte, vom Zwang und Trug an der Mutter Krankenbett. Es fand sich bald ein turmartiges Gebäude mit drei riesigen Räumen, die er sogleich für seine Zwecke umgestalten ließ. Das eine diente zur Aufstellung der Sammlung, die anderen als Schlaf- und Arbeitsräume. Er scheute keine Kosten, um rasch das Gemäuer wohnlich zu machen. Eine Fischersfrau wurde zur Bedienung gedungen. Als Arabella nach öden Wartetagen in dem Hotel, das sie kaum verlassen hatte, von Givos Plan erfuhr, war sie glückselig. Endlich würde sie wieder mit ihm vereint sein, sein Leben erhellen und seine Arbeit teilen. Sogleich sah sie sich als sein Famulus, der Knabengewänder trug, um in der einsamen Behausung unbehelligt zu sein. Glücklich, sie wieder ermutigt zu sehen, duldete er freudig ihre romantischen Einfälle und war selbst darin nachgiebig, als sie nach Besichtigung des Turmes erklärte, daselbst auch dann wohnen zu wollen, wenn er gezwungen sein würde bei der Mutter zu bleiben. Das Befinden Frau Givos verschlechterte sich indes nicht und Manuel konnte unter dem Vorwand, auf seiner Sternwarte zu arbeiten, die Nächte unbehelligt außer Hause verbringen. Die ersten Wochen verflogen unter emsigem Auspacken, Ordnen und Reinigen der alten Geräte und der vielen astronomischen Bücher und Schriften. Givo wollte den Turm allmählich zu einem historischen Museum der Sternkunde ausbauen. Mit dem ihr eigenen Eifer vertiefte sich Vögelchen in das Studium der alten Bücher, legte Kataloge an und gefiel sich in ihrer Verkleidung. Stundenlang blickte sie aufs Meer, das hinter dem Fjord sich weit öffnete, und erdachte sich Wunder. Sie ging meist nur abends aus. In weiten Mantel gehüllt, den Lockenkopf unter einer Samtkappe verborgen, kam sie Manuel entgegen, dem die kurze Bahnfahrt endlos dünkte. Er brachte allerlei Leckerbissen mit, die sie für das schlechte Essen, das die Fischersfrau bereitete, entschädigen sollte. Bis Mitternacht arbeiteten sie, verbrachten dann Stunden heiligster Liebeseinigkeit und, während Arabella in den späten Morgen schlief, verließ Givo sie fast bei Tagesanbruch. Dieses Leben, so sehr es sie auch beglücken mochte, untergrub ihre Gesundheit. Dann kamen Abende, wo sie vergeblich Manuel entgegenging. Die Fischersleute in der Umgebung begannen neugierig zu werden und blickten ihr nach. Stürme durchbrausten den Turm und durchheulten die Nächte, die sie schlaflos verbrachte, wenn der Geliebte ihr fern war. Kam dann Givo, schien ein ihr verborgenes Leben noch an ihm zu haften. Aus der Ferne hörte sie ein Mädchenlachen wie hinter der Tür im Observatoire und ein häßliches Gefühl ließ ihr das Zutrauen erkalten. Hielt ihn die andere dort auch oder allein der Mutter Krankheit? Zu lange schon dauerte diese Wartezeit, die sie so viele Stunden von ihm trennte, in der er ihr unzugänglich war wie ein Fremder. Givo aber lebte nun kaum mehr ein eigenes Leben. Er wußte längst, daß er den Tod der Mutter ersehnte, immer dringlicher. Nichts anderes mehr konnte ihn befreien von der Lüge und auch der Tod nicht, der die Gequälte erlösen sollte, wenn er zu kommen zögerte. Denn er fühlte, wie die Kraft seiner Seele sich spaltete an der Ungeheuerlichkeit, daß er, dem der rechte Weg bewußt war wie kaum einem jungen und warmfühlenden Menschen, nun belastet war mit Schuld. Schwer trug er es, Arabella unbeschützt zu wissen, ehelos ihm angetraut, schwer drückte ihn ihre Klage um das Kind, das sie sich erhofft, qualvoll war ihm sein Wunsch nach der Mutter Tod, peinigend Zoras ihn suchende Nähe. Denn neben Arabella schien ihm Zora noch schwereres Los zu tragen. Ihr Opfer war größer noch, weil es nicht bedankt war durch seine Liebe. Verwaister war sie und zur Unglückseligkeit bestimmt, weil sich ihr junges Blut in Hoffnunglosigkeit vergiftete. Nun wußte er es, sie liebte ihn. Da wollte er ihr Gutes erweisen und schlug ihr in Gegenwart der Mutter vor, ihr Geigenspiel wieder aufzunehmen, vorerst auf eine Woche zu verreisen, um sich an guter Musik zu erfrischen. Sie nickte nur freudlos. Auch hier hatte der zehrende Brand ihrer unerfüllten Liebessehnsucht gewütet. Seit jener Scheinhochzeit fühlte sie sich nicht mehr jungfräulich gehemmt. Heiß sengten sie die Blicke fremder Männer. Ihr Blut siedete. Sie wußte, ihre Zeit war gekommen, unaufhaltsam drängte es sie zum Manne. Wenn sie sich wegwarf — und das würde sein — konnte täglich, plötzlich aus einer Stunde brechen, warum nicht an ihn, an Manuel, warum nicht besser an ihn! Dann würde sie gehen und nie wiederkehren! Wäre das nicht Erlösung auch für ihn? Einmal hatte sie eifersüchtiger Verdacht hinausgetrieben auf sein Riff, das zu besuchen er ihr untersagt hatte. Sie hatte der Fischersfrau aufgepaßt und erfahren, es sei nur ein Junge im Turm, der die Instrumente putze. Dies gab ihr Mut ein Letztes für sich zu erhoffen. Aber ein dumpfes Mißtrauen beschlich dennoch die Nächte, die er auf der Warte verbrachte. Wenn er ihr Erleichterung schaffen wolle, bat sie, so möge er ihr einige von seinen Arbeitsnächten opfern, damit sie sorgloser schlafe. Zu ängstlich wache sie über der Kranken Schlummer. Seine Stirne verfinsterte sich, aber er schlug ihr die Bitte nicht ab. So blieb er denn zuweilen nachts in der Stadt. Und einmal spät abends, als er über ein Buch geneigt in seinem Zimmer saß, rauschte der Vorhang auf, der seine Türe von der Zoras noch dichter abschloß; als er sich wandte, stand das Mädchen im Nachtkleid an der Schwelle. Wie ein Mantel umwallte sie das schwarze Haar. Die Nacht selbst schien zu ihm gekommen und blickte ihm düster, rätselvoll verlangend ins Gesicht. Und mit seltsam ferner Stimme lispelte Zora: „Ich will bei dir sein, eine letzte Nacht.“ Er blickte sie an erschrocken und wie verwundet.
„Kind, warum, warum? Warum es uns so schwer machen?“
„Ich habe Sehnsucht,“ sagte sie klagend. Er war ergriffen, daß sie gekommen war, ihm verlangend ihr Leid zu sagen, sie, die Verschlossene, deren Stolz er mit seiner Kälte so oft geknechtet haben mochte. Er nahm sie in seine Arme wie ein fieberkrankes Kind. Da fühlte er die Köstlichkeit ihrer reifen unberührten Jugend. Aber er trug kein Verlangen nach ihr. Des Morgens bat sie, „laß mich bei dir, nimm mich auf die Warte, nur eine Weile, dann gehe ich fort.“
„Du kannst nicht gehen,“ sagte er traurig, „du gingest denn in dein Unglück, heiß wie du bist, mein armes Kind.“
„Nenn mich nicht arm nach dieser Nacht,“ flüsterte sie. Sie war nicht stolz mehr, sie wußte flehentlich zu bitten, wenn er des Abends wegging. Er mußte ihr Drängen vertrösten auf kommende Nächte.
Aber Vögelchen, die wenig wußte, fühlte, erahnte viel. Es war ihr Gewißheit, bevor Givo sprach, daß eine Frau ihr die Nächte stahl. „Laß ein Ende kommen, dann reisen wir,“ bat er. Sie sah ihn stumm an. Sie verstand dieses fremde Mädchen, sie, die ihm selbst so gut war, und sie verstand seine Nachgiebigkeit, aber seltsam, er wurde ihr ferner, fremder in dem Wissen, daß sie ihn nicht allein besaß. Sie war nun scheu in ihrer Hingabe, als wäre noch der Blick eines Dritten in ihm, und sie fürchtete sich, sein Mitleid könne Freude werden an der anderen. Dann wieder schämte sie sich, ihm Freude zu mißgönnen. Ehe ihr offenbar war, was geschehen, hatte sie, wenn Givo klagte, er fürchte im nordischen Winter für ihre Gesundheit, den Plan erwogen, zu Helene zu fahren. Nun aber hieß dies, der anderen das Feld zu räumen. Sie blieb, aber sie verachtete sich darob und sie wußte, daß sie selbst ihr teuerstes inneres Gut opfern würde, wenn sich diese Selbstverachtung zum Äußersten steigern würde.
Da kam ein Brief von Adalbert und Angele, dem einige Zeilen von Karinskis Hand beigefügt waren. Man war zusammen in Nizza, in dem unvergleichlich schönen Villenbesitz Mannsthals. Der Kleine erstarke in der südlichen Luft, es sei auch Olga, Karinskis reizendes Töchterchen, da, denn Gräfin Tanja sei vor einem halben Jahre gestorben und der Graf habe seine Töchter in Schweizer Pensionaten untergebracht. Ob denn Vögelchen nicht friere im garstigen Norden, hier sei ihr ein warmer Empfang bereitet. Gab es das, irgendwo Wärme, Menschen, die sie liebten, die sie nachts nicht allein ließen, gab es Blumen, tropisches Blühen, Frauen in schönen Kleidern und weltmännische Kavaliere, die von früh bis abends ihre Damen umsorgen, gab es Bäder, reinliches Essen, Sorglosigkeit? Wer aber würde Manuels Instrumente putzen, seine Schriften in Ordnung halten? Nun, jene andere doch! Befreite sie ihn nicht von dem Zwiespalt, wenn sie ging? Nicht die Mutter war es, die sie trennte, die Gelähmte, die ihr Bett nicht mehr verließ. Der Freund hätte sie ja selbst im Hause halten können, ohne daß die Kranke es jemals hätte erfahren müssen. War Givo nicht dort Herr des Hauses? Nein, jenes Mädchen war es, die sie fern hielt, und sie fühlte den bösen Zauber, der zwischen diesen beiden Welten spann. Es kam der Tag, wo sie es nicht mehr ertrug, ihn in der Nähe der anderen zu wissen, wo sie unter seinen Liebkosungen litt und seine zärtlichen Worte nur mit Bitternis genoß. Der Bissen, den sie aß, war ihr vergällt, sie schämte sich der Verkleidung. Ihre erschütterten Nerven brachen ihr die sanfte Geduld.
Eines Abends fand Givo die Warte verödet. Er rief nach dem geliebten Wesen. Seine Stimme hallte erschrocken zurück vom alten Gemäuer. Irgendwo klirrte ein Instrument wie leises Wimmern. Vögelchen war fortgeflogen.
W ie ein sinneraubender Taumel war die Fahrt von Meer zu Meer. Sie erwachte erst aus dumpfer Verzweiflung, als Mannsthal und dann Karinski, die an die Bahn gekommen waren, sie umarmten. Zwei Tage war sie rastlos unterwegs gewesen. Schmeichelnd umgab sie nun die süße südliche Wärme. Jetzt erst fühlte sie, wie oft sie gedarbt hatte nach der warmen, kosenden Luft, in der sie geboren war. Nach kurzer Wagenfahrt durch festliche Straßen trat aus dem Dunkel eines tropischen Villengartens Angele mit dem blassen Knaben Gilbert. Sie küßten einander. Es war keine Scheu mehr zwischen ihnen. Schlaftrunken sah Arabella die kleine Olga, die nach ihr lugte, dann folgte sie Angele in das Zimmer, das man ihr bereitet hatte, und verfiel totmüde in tiefen Schlaf. Als sie erwachte, war Mitternacht nahe. Sie tastete sich hinunter in das Speisezimmer, die Türe zur Terrasse stand offen. Es war nichts zu sehen als das Glimmen einer Zigarre. Der einsame Raucher draußen wandte sich, es war Karinski.
„Nun, war ich nicht klug? Die anderen sind endlich zu Bett gegangen. Ich wußte, daß das Vögelchen bald ausgeschlafen hat.“ Er zog sie auf seine Kniee und küßte sie wie vor Jahren. Ihm war sie das Kind geblieben, das Porzellankindchen, wie er sie genannt. Und Arabella lachte wieder, es ging so viel warmer, kindlicher Frohsinn von ihm aus. Wochen schienen vergangen, seitdem sie nicht mehr gelacht. Alles war hier weich und sorglos. Wie eine Geisterburg stand fern im nördlichen Sturm die Sternwarte. Weh ihr, sie sah den Verlassenen dort.
Es sei eine Depesche von ihrem Freund eingetroffen, ob sie angekommen wäre, Angele hätte gleich beruhigend geantwortet, sagte Karinski, doch er fragte nichts. Als sie lange schwieg, sagte er: „Wir haben beide viel gelitten, seit Tresano. Nun soll es besser werden.“ Ach, Arabella wußte nicht, ob es besser werden konnte. Karinski aber begann ihr zu erzählen, wie er Tanja verloren und nun die Kinder untergebracht hatte. Olga wolle er hier lassen, um weiter zu reisen. Da sagte Vögelchen traurig: „Nein, laß sie nicht hier.“ Er nahm ihre Hand, er erriet sie. „Das ist wohl vorbei bei ihm,“ sagte er. „Du mußt ihm verzeihen,“ bat Karinski. „Es fehlt ihm sonst nichts zu seinem Glück als das deine. Die Frau hat Ruhe in sein Leben gebracht. Auch du wirst Ruhe haben, wart’ es ab.“
„Ich werde niemals Ruhe haben,“ sagte Arabella. „Ihr nennt mich Vögelchen. Ich werde immer wandern, von Süd zu Nord, von Nord zu Süd, immer!“
„Hier ist gut sein eine Weile,“ sagte er. „Willst du dann mit mir wandern?“
„Wenn er mich ruft, muß ich zu ihm. Solange bin ich frei. Wie gern will ich da mit dir sein.“ Sie sprachen die ganze Nacht. Als sie in ihr Zimmer zurückging, beim Morgengrauen auf eine Weile sich hinzulegen, suchte sie, aus Halbschlummer erwachend, den Geliebten neben sich. Dies war die Stunde, da er sie, bevor der Tag ihn zu der Kranken rief, noch einmal in seine Arme schloß. Erinnerung überkam sie so stark, daß sie vor ihrer Flucht zu tiefst erschrak. Sie hatte nicht bedacht, daß ihr Handeln Givo zu anderer Besinnung bringen konnte, als möglichst bald dem zwiespältigen Zustand zu ihren Gunsten ein Ende zu bereiten. Aber auch dies hatte sie nicht bewußt erwogen. Sie war der Unerträglichkeit entlaufen. Wie so oft schon hatte sie besinnungslos und wahrhaftig gehandelt, einem inneren Ruf folgend. Aber nun litt sie herbes Leid um ihn und seine Not. Sie faßte ihre Tat nicht mehr. Sie setzte sich hin, ihm zu schreiben. Zwei Stunden lang stammelte sie Worte der Reue, der Liebe. „Mußte nicht ich dich der Freiheit wiedergeben, daß du wählen konntest? Die anderen hatten dich nicht lieb genug, sie dir zu geben. Ich ertrug es nicht, das mit der anderen in meiner Abgeschiedenheit. Nicht Neid war es, aber es war so unheimlich, weil es doch geschehen war gegen deinen Willen, wie deine Mutter wollte. Und mein Stolz tat weh, so weh! Ich fühlte die andere bei dir, wenn ich in deinen Armen war. So ging ich plötzlich weg und hab es nicht auf mich genommen zu warten. Hättest du mich freiwillig gehen lassen? Es wäre noch trauriger gewesen, wenn du mich nicht gehalten hättest. Ich bin treulos und doch bleibt mein Herz auf immer bei dir, wie es bei Gott bleibt, Manuel. Leb wohl und wähle, ruf mich. Ich komme, sobald du rufst. Dein
Vögelchen.“
Es kam nur eine kurze Antwort. „Geliebte, mein stärkstes Gefühl ist Reue, Reue, daß ich dich weggesperrt hielt, dich junge Blüte, dem Sturm ließ und der Verlassenheit. Denn ich selbst war ja nicht mehr das Leben, das zu dir kam. Ich lebte tagsüber im Hause des Todes und nachts stahl ich seiner Gier die Stunden, den Sternen und unserer Umarmung. Aber er war immer da, der Tod schlich mir nach. Das Licht hat nicht Gewalt über mich vor seinem allgegenwärtigen Angesicht. Dich, Vögelchen des Lichtes, hielt ich im Bauer der Dunkelheit, aber der Tod ging dich nichts an. Das war es. Es war ein fremder Tod. So gingst du und du hast es entschieden. Nie forderte ich; du hast gegeben, du tatest, was Gott dich tun hieß, du hast genommen. Nicht stündlich wußte ich, wer du seiest. Ich hielt dich nicht mit jedem Atemzug. Nun trennt uns die äußere Welt. Sei frei und laß die Wege walten. Jene andere dauerte mich. Nun ist es geschehen. Daß ich nur dich liebe und immer lieben werde, wie könntest du daran zweifeln. Nur daß mein Lieben nicht abhängt vom Geschehen, das wisse. Meine Lehre verbietet es, an Zufälle zu glauben, alles hat seine geheimen Fäden. Vielleicht war es nur zu früh, Arabella, zusammen zu bleiben. Vielleicht müssen wir noch durchs Feuer gehen, ehe wir hienieden den Himmel gewinnen, in dem unsere Sterne gepaart sind. Bis dahin leb wohl, mein Nachbarstern.
Imanuel.“
Der Brief erhob sie über den Schmerz. Ihre Sehnsucht ward wie einst Aufstieg zum göttlichen Licht. Ihre Liebe war Demut auf allen Wegen und trug nicht irdische Fessel mehr. Um sie war alles Lustbarkeit, müßiges Sonnen in der Stadt der Blumen. Sie konnte mit den Freunden lange auf dem Boulevard des Anglais sitzen und scherzen wie andere schöne Frauen. Klima und Menschen umgaben sie mit Zärtlichkeiten. Olga vergötterte sie und Mannsthal war eifersüchtig auf diese Liebe. Neben der viel jüngeren Olga war ihm Arabella nur die Tochter, auf deren reizvolle Erscheinung er stolz war. Ein leichter wissender Ton des Scherzes war zwischen ihnen. Sie war sich selbst verwandelt, ihre Schwere aufgelöst im Einatmen der Freude, ihre Tränen wie aufgesogen vom heißen Blau des Meeres und von dieser berauschenden Lichtfülle, die im Süden wie ein Wunder beglückt. Zuweilen im Gespräche mit Angele kam Erinnern an Schmerz und Glück. Sie war mit ihr ernst und vertraut und unterhielt sich mit ihr über das Kind, als wäre sie selbst schon Mutter gewesen. Dem Kleinen gegenüber war sie nicht so kindlich aufgeschlossen mehr, wie sie es zu Alphi gewesen. Da mußte sie an ihre Fahrt nach Quesnon denken, an den Augenblick, wo sie Angele im Garten erblickt, und zuweilen auch an ihre verlorene Hoffnung auf ein Kind. Eine andere wieder war sie mit Karinski. Ihm war sie ein Fabelwesen, das man vor der Wirklichkeit schützen mußte. Er ließ sie selten allein, wenn sie ohne die anderen ausgegangen war, schlenderte ihr nach, wanderte mit ihr von Laden zu Laden, um schöne Dinge für sie auszuwählen, entrückte ihr das Leben, in dem es Arme und Unglückliche gab, daß ihr nicht, wie ehedem, die Sorglosigkeit geraubt sei. Er war fast immer bei ihr, ohne sie zu hindern sich unbewacht zu fühlen. Er lenkte selbst ihre Aufmerksamkeit auf Bewundernde und hielt sich abseits, wenn sie sich mit jungen Leuten vergnügte. Einmal sah sie auf dem Boulevard des Anglais Guy de Malpasse, der ihr in Louvais nach jener Klosternacht begegnet war. Er erkannte sie nicht. Sein Blick hatte sich verdüstert, er flammte dunkel auf, als er in den ihren brannte. Sie wandte sich leichthin, er desgleichen. Sie lächelten fast schmerzhaft. Dies war das erste Mal, daß Arabella jenes Spiel der Augen übte, bewußt des Spielens und der Lockung. An Tagen irdischer Sehnsucht, wo sie sich hinsetzte an Givo zu schreiben, um dann den Brief in tausend Fetzen zu reißen und diese rasch irgendwo unsichtbar zu machen, wie um die Schmach ihrer Schwäche zu verwischen, kleidete sie sich mit Sorgfalt und flog unter die schaulustigen Menschen, hungrig nach bewundernden Blicken, die ihr Feuer sänftigten. Sie fühlte, daß sie auch Adalbert nicht widerstehen würde, wenn sein nun an der fremden Bewunderung aufflackerndes Begehren mehr als Blick und Scherz wurde. Da machte Karinski der Schwüle ein Ende und bat sie, ihn auf seiner Reise nach der Schweiz zu begleiten, wohin er Olga bringen wollte.
M on cher Pierre, zuerst von den Kindern. Ich danke dir, daß du auf Schloß Wolonsk die Vorkehrungen für meiner Schwester Ankunft getroffen hast. Nadescha und Maria haben mit ihrer Freundin, der Prinzeß Lisa, die Pension verlassen und Melissa Wolonskaja, meine Base, bringt die Mädchen nach Hause. Boris bleibt noch ein Jahr in der Akademie. Bis dahin bringe ich Olga und —? — dann?
Ja, Pierre, ich liebe sie, ich liebe Arabella, dieses Wesen aus Traum, Leidenschaft und Sanftmut gewoben, diese Blume, dieses Kind, diesen Engel, diese kleine Dirne. Ich habe Tanja geliebt, wie man zur schwarzen Mutter Gottes in seiner Schloßkapelle zu Hause betet, aber Vögelchen, Vögelchen bete ich an wie eine heidnische Gottheit, vor der nackte Sklaven die Stirne in brennenden Wüstensand tauchen. Sie lebt bei mir. Nachts schläft sie im anstoßenden Gemach. Ich sehe, wie sie die Perlen vom Halse löst, ihre Locken herabwallen läßt auf die elfenbeinernen Schultern und ich warte auf den Augenblick, wo sie das Hemd gegen ihr Nachtgewand vertauscht und ab und zu — vielleicht zweimal in acht Tagen — eine ihrer kleinen Brüste dabei sichtbar wird. Dann fühle ich ihren Kuß, halte sie drei Minuten lang im Arm, trage sie in ihr Bett und verlasse sie rasch. Und morgens bin ich dabei, wenn sie Toilette macht. Wir reisen nun schon zwei Jahre und es wird immer köstlicher. Meine Liebe will nicht mehr als dies: sie zu begehren und dennoch nicht zu besitzen. Darin liegt alle Läuterung, aller Buße Süßigkeit. Pierre, du hattest viel Weiber, aber du hattest dies nicht, diese Nächte des Fiebers, diesen Wahnsinn einer freiwilligen Entsagung. Einmal — in Genf war es — da erwachte sie aus der Ekstase der Sehnsucht um ihren verlorenen Geliebten. Sie erwachte aus diesem Bann, der sie keusch hält, sie, die schon viel Lust genossen hat. Es war, wie seltsam ist das, zur Zeit, als sich ihr Geliebter verheiratete, denn wir verheimlichten es vor ihr. Sie hat es erst kürzlich erfahren. Zu dieser Zeit war sie wieder im wachen Leben, schmückte sich sorgfältiger und erwiderte den Blick der Männer. Und eines Tages traf sie Hettwer, den Dichter, einen Freund ihres Geliebten. Ich fuhr zu meinen drei Mädchen nach Lausanne. Als ich zurückkam, erzählte sie mir, sie habe auswärts geschlafen bei einem Unglücklichen. „Schade um jede einsame Nacht, in der auch ein Mann allein ist und sich nach Frauen sehnt.“ „Und jetzt, jetzt hast du ihn wieder verlassen?“ „Ja, jetzt bist du wieder hier.“ „Ich, alter Mann?“ „Ja, du alter Mann, der mir meine Sehnsucht läßt.“ So ist Arabella. Ich werde ihr meinen Namen geben, wenn ich sie verlassen muß, um mit Olga nach Hause zu fahren, die Kinder zu verheiraten und die Güter zu besorgen, auf denen jetzt der Teufel haust. Ich werde sie verlassen mit gebrochenem Herzen und ihr lächelnd sagen: ich gehe, damit ihr ein Junger die Sehnsucht — nimmt. Manchmal wünschte ich — obwohl sie reich ist — und es durch mich noch mehr sein wird — sie wählte einen Beruf, eine Beschäftigung, wenn ich von ihr gehe. Aber sie will nichts hören davon: Ich kann nur Briefe schreiben, sagt sie oder Tagebuchblätter, aber auch die zerreiße ich und vernichte ihre Spuren. Manchmal verbrenne ich sie oder ich gehe weit und werfe sie in treibendes Wasser. Soll ich auf Leinwand malen, wo ich doch in mir viel schönere Bilder habe? Soll ich Schauspielerin werden und vor Ehrgeiz häßlich werden? Hettwer kannte eine Schauspielerin, die in einem seiner Stücke spielte. Sie gönnte keiner anderen ihre Rolle; als sie Masern hatte, trat sie mit den roten Flecken im Gesicht auf, damit keine andere sie verträte. Nein, das Theater ist häßlich. Ich möchte tanzen, tanzen, die Kleider von mir werfen und die Luft umkreisen, daß sie mir Flügel gäbe und mich zu sich nähme. Soll ich einmal vor dir tanzen, Nicolai, wie Salome vor Herodes? Und wahrhaftig, Pierre, sie tanzte einmal vor mir. Sie hatte sich in Schleier und Ketten gehüllt und das Licht mit gelben Tüchern verhängt und sie tanzte vor dem Spiegel und die Perlen rollten um sie, sie tanzte sich die Schleier von ihrem unbändigen, knabenhaften Leib. Dann sank sie auf den Teppich und schlief sogleich ein, als wäre das alles nachtwandlerisch gewesen. Ich ließ sie allein, versperrte die Türen und ging — und du kannst dir denken, wohin ich gehen wollte. An der Schwelle kehrte ich dort um.
Seit vier Tagen sind wir in München. Es ist Karneval. Ich möchte sie heiter sehen. Seitdem sie von dieser Heirat weiß, geht sie oft in Schwermut einher. Nun leb wohl, Pierre. Ich bin sehr glücklich. Erinnerst du dich noch, wie wir, siebzehnjährig, auf den Scheunen von Wolonskaja den Dorfmädchen Kinder machten? Nun haben uns diese gewiß schon zu Großvätern gemacht und ich liebe noch immer, liebe wieder zum ersten Mal.
Es umarmt dich dein
Nikolai.
A ls sie in München abstiegen, Arabella und der Graf, hieß es, daß abends Bal pare sei in ihrem Hotel. Sie speiste mit Karinski zeitig abends, ehe der Trubel begann. Die Vorbereitungen des Festes fesselten sie. Musikinstrumente wurden vorbeigetragen, Blumen in bunten Buschen, Sektflaschen in Körben, verfrühte Masken schon stahlen sich vorbei, lugten in den noch leeren Saal, in dessen Parkett die Kronleuchter sich müßig spiegelten.
„Willst du dabei sein?“ fragte sie der Graf. Sie schlug in die Hände vor Freude.
„Deine Toilette?“
„Ach, ich habe allerlei,“ sagte sie und sprang auf. Die Jungfer mußte rasch nach einer Maske fahnden, eine ganz kleine schwarze nur, ordnete Karinski an. Er half ihr unter ihren Abendkleidern wählen. Mit ihrem Wirbelhaar im schwarzen glitzernden Kleide sah sie wie ein blondes Teufelchen aus. Er begleitete sie in das bunte Wimmeln des Saales. Sie trennten sich lachend. Bald erblickte sie ihn fröhlich am Arme zweier Dominos. Vögelchen fühlte sich wohl hinter der Maske. Sie mischte sich ins Getriebe, fing Gespräche auf, blieb stehen und lachte mit den anderen, wenn es etwas zu lachen gab. Mehrmals näherten sich Herren, ihr die zögernde Ansprache zu erleichtern, flüsterten Koseworte. Die Frauen musterten ihren Schmuck, ihr Kleid, das der deutschen Mode noch fremd war. Wort und Blicke glitten von ihr ab. Manche der Anspielungen waren ihr neu und drollig, vieles völlig unverständlich, das aus den Gesprächen sie streifte. Sie empfand nicht Lockung sich an eines fremden Mannes Arm zu hängen, da war kein Gesicht, das ihr eine innere Welt verriet. Auch die Männer schienen Masken zu tragen. Als sie schon mehrmals den Saal durchschritten, sah sie an einer Säule gelehnt einen vornehm aussehenden Herrn stehen. Wie einsam versprengt, unbeteiligt wie sie selbst, in stillem, beschaulichem Ernst, ließ er das Treiben an sich vorüberziehen. Glitt ihm eine Maske näher heran, sagte er ihr lächelnd ein dankbares, aber abweisendes Wort, ohne ihr zu folgen. Es schien, als erwarte er eine Frau oder zöge es aus irgendeinem Grunde vor allein zu sein. Vögelchen blieb unweit von ihm stehen und forschte in seinem ebenmäßigen, noch immer knabenhaften Gesicht. Sie hatte ihn gleich erkannt, es war Franz von Normayr. Ein wenig gealtert schien er, die Haut von Seereisen gebräunt, noch heller stach der Blick, noch klarer schien die Stirne und etwas, das wie Unfehlbarkeit wirkte, schmückte noch immer die Haltung.
„Sie läßt dich warten,“ sagte Arabella mit einem leisen Beben in der Stimme, als sie eine Weile neben ihm gestanden, während sein Blick lächelnd zu ihr herabgekommen war.
„Sie ließ mich warten,“ antwortete er. „Aber nun ist sie ja gekommen.“
„Es waren so viele, die dich mitführen wollten.“
„Ich wartete auf dich.“
„Kennst du mich denn? Wie heiße ich?“
„Vögelchen,“ sagte er.
„Das ist doch kein Name,“ sagte sie erschauernd.
„Eben deshalb heißt du so, kleine Unbekannte. Es gibt Namen, die wie ein Bild sind unter Schleiern und Masken. Vielleicht ähnelst du auch einer, die man so nannte.“
„Ach geh, solch ein Name! War die denn wirklich?“ Er schwieg. „Dein Vögelchen ist wohl nur eine Ente. Nenn mich lieber Salome Maria. Den Namen las ich einmal auf einem alten Friedhof in Salzburg.“
„Aber du bist doch lebendig. Laß fühlen, ob du lebendig bist oder eine Elfe.“ Er legte mit kundigem Griff seinen Arm um ihre Taille und zog sie mit sanfter Kraft in eine der Nischen.
„Du gleichst einem jungen Seemann,“ sagte sie. „Dein Blick sieht auf das Meer.“
„Liebst du das Meer?“ fragte er.
„Ich habe einmal auf einem Leuchtturm gehaust.“
„Wie interessant,“ sagte er mit leichtem Spott. „Da warst du wohl verzaubert wie Rapunzel. Dabei siehst du so aus, als ob du in Palästen gewohnt hättest. Oder warst du des Leuchtturmwächters Töchterchen in einem anderen Leben?“
„Ja, in einem anderen Leben.“
„Erzähle mir von diesem Leben. Wo hast du denn da noch gehaust und genächtigt, als Schwalbe oder Kolibri?“
„Ich erinnere mich zunächst, in einem Kloster geschlafen zu haben. Mondschein kam zum Bogenfenster herein und die Spinnweben aus den alten Mauern waren die Gitter. Mir gegenüber über den Hof saßen im Saal Nonnen über Spitzenarbeiten gebeugt, Tag und Nacht. Es waren Mäuse im Zimmer. Kennst du den Dichter Malpasse?“
„Ja, ich kenne seine Novellen. Hatte der sich etwa in eine Maus verwandelt?“
„Nein, er fiel mir nur eben ein. Oh, wie schlecht euer Champagner ist,“ sagte sie französisch.
„Bist du Französin?“
„Nein, mein Mann ist Spanier und ich bin ein wenig von überall.“
„Salome Maria Überall,“ sagte er.
„Und du, wie heißt du, laß mich raten und warte — Gottfried? Nein, Franz. Das wird es sein.“
„Du bist hellsichtig,“ sagte er. „Also dein Mann ist Spanier. Liebst du ihn?“
„Ja, ich liebe ihn.“
„Und doch bist du hier?“
„Ja, mein Gott, er läßt mich allein und ich liebe die Männer so sehr. Ich liebe es, ihnen ganz nahe zu sein, ganz nahe.“
„Nun war es, als hättest du zum ersten Male mit deiner eigenen Stimme gesprochen.“
„Erschreckt dich das?“
„Du bist so seltsam. Es ist eine Traurigkeit in deiner Glut.“ Er nahm ihre Hand und spielte mit ihren Fingern, er preßte sie zwischen den seinen, die sehnig und kühl waren. „Und bist du immer so — — frei? Nicht nur im Karneval?“
„Ich bin immer so frei. Mein Leben ist ein Fest der Liebe.“
„Wie viele Männer haben dich schon besessen?“
„Das zählst du kaum!?“
„Das zähl’ ich kaum?“
Er sagte es sehr traurig. „Und wie begann es?“
„Da war einer, dem vertraute ich. Ein Kind war ich damals, weißt du, und er war mir wie ein Engel, der mich durch alles Irren führen sollte. Aber da mißfiel ihm meine Dummheit. Sie „schickte“ sich nicht. Ich hatte nicht gelernt mich zu verstellen. Er überließ mich meiner Dummheit mit Haut und Haar.“
„Und dann?“
„Dann nahm ich den Vater zum Mann, meinen Stiefvater.“
„Du scherzest jetzt.“
„Er war ein guter Lehrmeister. Warte, wie ging es weiter? Dann kam ein junger Lord. Das war nur Spiel für ein paar Nachmittage. Später —“
„Später?“
„Später — ach, sieh dies arme Ding dort! Wie ärmlich ist ihr Domino, wie schlecht ihre Schminke! Sie sind mir so leid diese Mädchen. In Paris kannte ich eine Dirne. Ein Freund von mir war ihr Zuhälter. Der Arme hat sich erhängt, einer bösen Krankheit wegen. Ich erfuhr es lange nicht. Was ich dich fragen wollte! Wie geht es deiner Schwester?“
Sein Gesicht war bleich, seine Augen glühten in Leidenschaft. Ihre Stimme sprach zu ihm aus dunkel funkelnder Welt. Log sie? War sie es? Nein, das war nur Spuk seiner Phantasie. Warum ergriff ihn dann ihr seltsames Sprechen? „Meine Schwester laß beiseite,“ sagte er. „Du willst dir den Anschein geben, mich zu kennen. Wozu? Ist es nicht schöner, sich aus fremdem Leben zu begegnen?“
„Dich schaudert, daß ich deine Schwester kenne, weil mein Freund Zuhälter war und ich die Männer so sehr liebe. Aber sieh, ich habe auch für die Frauen ein Herz. Diese Dirne dort, wie dauert sie mich. Sie tut es um Geld, sie muß es tun. Während ich mir wähle, was mich freut. In Nizza, da ging ich einmal an einem Fenster vorbei, es war hart an dem Laden eines Antiquitätenhändlers, alte Bilder hingen da, hölzerne Heilige, Kupferkessel. Das Fenster hatte rote Scheiben und dahinter saß in rosigem Schein, wie ein Page gekleidet mit langen, blonden Locken, eine Dirne. Ich ging gern dort vorüber. Sie tat mir leid, immer mußte sie sitzen und warten und dann —? Ich wäre gern zu ihr gegangen und hätte sie abgelöst für einen Abend.“
„Aus Mitleid nur?“
„Ja, aus Mitleid. Denn damals schlief ich wieder bei meinem Vater. Er stahl sich nachts leise zu mir, daß seine Frau ihn nicht höre, die hütete ihres Kindes Schlaf.“ Das log sie.
„Du freust dich deiner Sünden?“
„Sprich das Wort nicht aus, es hat einen falschen Klang. Ist es denn Sünde, wenn man beglückt?“
„Es hätte dir richtig geklungen, wenn dich jener erste Mann nicht, wie sagtest du doch — deiner Dummheit überlassen hätte. Daran wurdest du klug und —“
„Warum hältst du inne?“
„Eine Erinnerung kam mir. Komm mit mir, willst du?“ sagte er plötzlich wild ausbrechend. Sie sprach nicht mehr, sie schmiegte sich an ihn, saugte seinen Blick in ihr Auge.
„Erwarte mich,“ lispelte sie und ging, noch immer nach ihm zurückstarrend. In ihr Zimmer drang ihr noch Festlärm nach. Es war spät in der Nacht. Der Graf war schon zur Ruhe gegangen. Sie nahm leise den Pelz. Nun lief sie zu dem, der im Vestibule ihrer harrte.
„Du zauberst?“ sagte er. „Wohin bist du verschwunden? Schon fürchtete ich, nach deinem Schuh suchen zu müssen, dich wiederzufinden.“ Er legte den Arm um sie, rief nach einem Wagen. Er fuhr sie zu seiner Wohnung am englischen Garten.
„Jetzt darf ich dich sehen,“ bat er in der ersten Umarmung.
„Nein, laß, morgen früh. Mach dunkel jetzt!“ befahl sie. „Rasch, ich verbrenne.“
Als er des Morgens erwachte, erkannte er sie im Dämmerlicht. Sie schlug die Augen auf und lächelte. Er sah fern den Strand, ihr Kindergesicht mit den klaren Augen, die zu ihm aufstrahlten, er hörte ihr Geplauder. Todernst sah er sie nun an. Es schien ihr, als feuchtete sich sein Auge. Er wollte sprechen, aber sie scherzte nur. Einen Augenblick dachte sie: Es war eine gute Nacht. Konnte es nicht so bleiben, ein neues Leben beginnen? Sie würden Kinder haben, ernste Seemannskinder. Und auch er dachte es. Aber die Wirklichkeit sah aus einem silbernen Rahmen unter einem schwarzen Spitzenhäubchen mit strengen Augen zu ihnen herüber. Die Mütter! Die Mütter, sie kreuzten den Weg der Mutterlosen.
„Einen hübschen Ausblick hat deine Wohnung,“ sagte Vögelchen und warf die Decke zurück. „Nun aber heißt es, rasch Toilette machen. Mein Graf wird schon unruhig sein. Ich werde dich nicht wiedersehen. Wir reisen bald.“
Er war sprachlos, zerschmettert. Feuchten Auges küßte sie ihn und kehrte zu Karinski zurück.
A ls Imanuel nach der ersten einsamen Nacht in Alvemünde in das Haus an der Alster zurückgekehrt war, empfingen ihn Zoras Geigenklänge. Lauschte man ihrem Spiel, so war es, als hätte man sie niemals sprechen gehört, oder als wäre Zora die Spielende und Zora die Sprechende nicht dieselbe. Sonst herb und spöttisch, schmolz ihr, hielt sie die Geige im Arm, das Eis in der Brust und je verschlossener sie war in Rede und Tun, desto beredter wurde die Stimme der Geige. Givo war übernächtig und zerquält, dies Spiel war Linderung. Als er später in das Krankenzimmer trat, sah er Zora eifrig um die Mutter bemüht. Sie oblag mit größter Gewissenhaftigkeit ihrer Pflege. Immer wieder, wenn Manuel diese Sorgfalt beobachtete, sagte er sich: „Sie ist besser als ich, sie will ihr das Leben erhalten, währenddem ich —“ Aber seltsam, nun empfand er auch selbst nicht mehr den quälenden Wunsch, die verruchte Ungeduld, vom Kummerzwang befreit zu sein, seitdem ihm das liebste Ziel der Freiheit entflattert war. Es gehörte zu seinen Eigenheiten und mochte wie Untreue scheinen, daß er nicht dringlich war, nicht hielt und rief, was ihm sein Gott nicht freiwillig schenkte. Er war einer, der sich selbst Besitz nicht anmaßt und doch zuweilen anmaßend erscheint, weil er um nichts sich bemüht. Er gönnte anderen, was er besaß, trug er doch nicht die Last der Schuld, allein zu besitzen. Er war von der Art jenes Mönches, dem römische Gassenbuben ein Geldstück in seinen Bettelsack schmuggeln und den selbst solch kleine Bürde zur Erde drückte. So verwarf er den Wunsch, Arabella einzuholen, sie zu rufen. Er war im Grunde seiner Seele ihrer gewiß und in Entbehrungen nicht weichlich. Er lebte in seinen Träumen und in der Ekstase, in die ihn seine Liebe zur Menschheit versetzte. Vögelchen verstärkte den Traum und Rauschzustand seiner Seele. War sie ihm fern, siedete unter diesem das Begehren nach ihrer Nähe wie heiliges Feuer, das ihn bis in seine Lebenswurzeln sengte und ihn wie einen Märtyrer zum Opfer antrieb. Mochte das Leben seinen Weg ziehen, sie begegneten einander eines Tages, dessen war er gewiß. Man sieht zuweilen Menschen mit seltsamem Ausdruck der Augen, mit einem zweiten Blick sozusagen, der nur notdürftig die Umwelt anfaßt, als wäre seine Glut in eine eigenste Welt nach innen gerichtet. Ihr Handeln ist ruhig und sicher, weil es nichts fordert für sich selbst. Das Leben Givos war solcher Art. Zu viel leiden macht die anderen leiden, sagte auch er sich. Als Zora wieder versuchte, sich ihm zu nähern, wehrte er sich nicht. Als sie von ihm ein Kind trug, machte er die Scheinhochzeit zur Wahrheit. Daß Vögelchen davongeflattert war, galt ihm als ein Zeichen, das sie, die Unbewußte, selbst erhalten. Zwischen ihm und ihr sollten fortan keine irdischen Bande sein.
Nun aber ging eine seltsame Veränderung mit Zora vor. Ihre Sorgfalt für die Kranke ließ plötzlich nach. Sie war meist ungeduldig, sprach von Reisen und schürte Givos Unlust an der langen Absperrung. Imanuel sah es mit leisem Grauen. Er erriet sie: nun, da sie ihr Ziel erreicht, zu dem ihr die Kranke unentbehrlich schien, war auch die Bemühung erlahmt, ihr Leben zu verlängern. Der aufreibende Pflegedienst war also nichts gewesen als Eigennutz. Als er eines Abends nach Hause kam, empfing ihn die alte Minka mit kreideweißem Gesicht. Die Mutter war gestorben. Sie hatte wie gewöhnlich nachmittags die schmerzstillenden Tropfen genommen, war eingeschlummert und nicht wieder erwacht. Frau Zora hatte ihr die Augen zugedrückt. Givo sah das bleiche Gesicht, es lag wie Erstaunen darin, eine Frage, als wäre der Geist noch rege in dem stummen Leib! Givo kniete hin und nahm die kühle, vergilbte Hand. Wie hatten sie beide gelitten, ehe sie wieder zu einander gefunden, wie glücklich war er, daß er gerade in den letzten Wochen ihr zurückgekehrt war in Gehorsam und Liebe. Von dem Tage, da sein Bund mit Zora Wahrheit geworden, war die alte Eintracht wiedergekehrt. Sie mußte doch vordem etwas in seinem Wesen gelegen sein, das ihrer Seele den Weg verschlossen hatte zu der seinen. Wie seltsam auch, am Abend des vergangenen Tages hatte sie ihn lange zärtlich sorgenvoll betrachtet und dann wie aus einer großen Stille heraus leise gefragt: „Wie ist es diesem Mädchen ergangen? Möge auch sie glücklich sein!“ Er hatte zum Dank ihre Hand ergriffen, so wie er nun die Hand der Toten hielt. Frühe Kindheiterinnerungen kamen ihm. Der Mutter Leben blätterte sich ihm auf. Er weinte nicht. Dem Schauenden ist der Tod ein Fest der Verschmelzung, vor dem er in Ehrfurcht verharrt. Als er aufstand, sah er unter dem Nachtkästchen eine kleine Phiole liegen. Er hob sie auf. Sie war leer. Er klingelte der alten Minka. „Ruf mir die junge Frau,“ sagte er.
„Herr Manuel, sie ist ausgegangen.“
„Unmöglich, sieh nach.“
„Gewiß, Herr Manuel, ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Vielleicht wollte sie ausschauen nach Ihnen.“
„Dies ist das Fläschchen, in dem der Mutter Tropfen enthalten waren?“ fragte er.
„Ja gewiß, Herr Manuel.“
„Dies Fläschchen wurde heute morgens erst aus der Pharmacie geholt, ist es so?“
„Ja, ja, Herr Manuel.“
„Die Mutter hat also zwei Mal daraus genommen, zehn Tropfen. Du sagtest, sie hätte, bevor es geschah —“
„Jawohl, Herr Manuel,“ die alte Minka begann von neuem zu weinen in der Erinnerung an Frau Leas letzte irdische Verrichtung.
„Wer hat ihr die Tropfen gegeben?“
„Die junge Frau, wie immer —“
„Die Flasche lag auf der Erde und war leer. Ihr habt sie wohl umgestoßen. Nun danke, Minka.“ Die Alte ging. Er beugte sich zur Erde und suchte die Stelle, wo das Fläschchen gelegen war, tastete den Boden ab, ob er feucht wäre von vergossener Flüssigkeit. Bleich erhob er sich. Zora stand hinter ihm. Sie hielt Blumen in der Hand. Sie legte sie auf die Decke hin. Sie fand kein Wort des Trostes.
„Laß doch, später,“ sagte er und schob die Blumen beiseite. Dann ging er ans Fenster und blieb regungslos. „Wenn sie mir folgt,“ sprach sein Herz, „wenn sie kommt, wenn sie ihren Kopf an meine Schulter lehnt, wie sie zu tun pflegt —“ Aber er hörte, wie Zora das Zimmer verließ. Später, als er sich quälte, um seinen Verdacht zu besiegen, sagte er sich, daß wohl Mißtrauen aus seinem Blick geglommen war und ihre Annäherung verscheuchte.
Er sprach das Sterbegebet, sprach vor der kleinen Gemeinde die Worte: „Herr des Seraphs und des Wurms, Herr des Lebens und des Todes, ich bin in deiner Hand. Wenn du mich abrufst, ist mein Glück dein Wille, denn du bist die Liebe und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in dir und du in ihm. Du Licht und Heil, ich fürchte mich nicht, denn meine Seele ist bei dir.“ Als er so sprach, da war Zora bleicher als das Bahrtuch. Dennoch, sie trug sein Kind und er wandte sich ihr zu und bannte mit dem äußeren Willen die Dämonen des Verdachtes.
Seine Stelle im Observatoire war besetzt, so ging er mit Zora nach England, wo eine Zusammenkunft der Schauenden einberufen war. Givo gründete dort die weltliche Seelsorge. Er ging dabei von dem Standpunkt aus, daß der kirchliche Priester in seinem abgeschlossenen Lebenswandel nicht Einblick gewinnen könne in die mannigfaltigen Verwicklungen des Lebens, daß er ein Schauender nur des Himmels und ein Wegschauender der Erde sei. Aber um der Menschen Seele zu versorgen, müsse man ein Schauender des Lebens sein. Er rief die Priester in den lichten Tag hinaus, zu forschen nach den Quellen der Schuld, die ihnen gebeichtet werden, wenn sie erst schal geworden und unwiderruflich trotz der Sühne. Er wies die Bedrängten an eine neue Art von Helfenden, an die weltlichen Seelsorger, die auf dem ganzen Erdenrund ihre ratende, warnende, tröstende und verzeihende, heilende Tätigkeit entwickeln sollten.
Er half Settlements einrichten, Arbeitererholungsheime, die sich allmählich zu Volksuniversitäten ausbilden sollten. Er arbeitete im Sinne Elihu Burrits am Entstehen der Friedensbewegung. Oft aber sehnte er sich zurück nach der nächtlichen Stille seiner Sternwarten. Er war nun niemals allein. Zora erwartete das Kind. Durfte er sie da auf unbegrenzte Zeit verlassen? Er war neuerdings gebunden und seine Pläne waren es mit ihm. Seine Gedanken an Arabella und seine freudige Ungeduld um das Kind begegneten sich in seinem Herzen. Zuweilen erschrak er, daß er von einer anderen als von der Geliebten ein Kind haben sollte, die vor Gott seine Frau war. Aber ihm war, dieses wäre in Liebe um sie gezeugt. War er denn nicht ganz erfüllt von ihr!
Zora hatte nun erreicht, was ihr äußerlich zu erreichen möglich war, aber was galt ihr nun die Fessel, die Imanuel an sie schmiedete, da sie erkannte, daß ihr spröder Unmut, der immer wieder bei ihr die Oberhand gewann, sein Herz ihr abkehrte, so sehr er es auch verbarg. Wie oft schrie sie es ihm, dem Stillen, Freundlichen ins Gesicht: „Sag doch, daß du mich hassest, so sag es doch!“ Givo konnte den Zeitpunkt nicht erwarten, bis das Kind sich aus dieser Hülle begeben würde, die ihm vergiftet schien von dunklen Leidenschaften. Er, der für alle Menschen ein Heilmittel zu finden meinte, er versagte kläglich an Zoras Bitterkeit. Sie wollte Liebe, Leidenschaft. Er konnte sie ihr nicht geben, er besaß sie nicht mehr.
Als seine Kräfte zu versagen drohten und er die hohe Welt seiner eigenen Lebensinsel aufs äußerste bedrängt sah, als er schon verzagte Arabella erhoffen zu dürfen, ward ihm ein Mädchen geboren und oh Wunder, es glich der Geliebten. Zora erkrankte an der Geburt und war lange unfähig sich des Kindes anzunehmen. Ja, sie selbst wollte, daß man es aus dem Hause entferne. Ihr war, als könne es in ihrer Nähe Schaden nehmen. Ihr Wesen verdüsterte sich zunehmend. Sie wußte, das Kind glich nicht ihr, nicht Givo, sondern jener anderen, an die auch sie oft und oft gedacht hatte, weil sie ihr Manuels Herz neidete. Sie hatte in eifernder Qual ihr Bild immer wieder wachgerufen, jenen flüchtigen Augenblick, da sie verächtlich an ihr vorübergeschritten war, daß sie wohl auch damals von ihrem Antlitz besessen war, als sie es empfangen hatte. Und er, dachte er denn jemals an sie, Zora? Nein, das fühlte sie zu jeder Stunde, der Himmel, zu dem er aufsah, war bestrahlt von der einen, anderen. Zora konnte es körperlich spüren, wenn er mit seiner Sehnsucht bei dieser weilte.
Da das Kind seinen Sinn nicht gewendet, da sie vielmehr glaubte, ihr entstellter Körper entfremde ihn, hatte es ihr gefallen mit ihrer Mutterschaft Spott zu treiben. Mit einem Male war wieder der Ehrgeiz der Künstlerin ihn ihr erwacht. Sie wollte nur bald sich der engeren Gemeinschaft mit dem Kinde entledigen. Als ihr zugemutet wurde, es selbst zu nähren, lachte sie verächtlich. „Mit Galle statt mit Milch!“
In einem englischen Dorf vor der erwarteten Zeit gebar sie das Mädchen. Daß es Arabella glich, schien Trug zuerst, Wunsch dem einen, Befürchtung dem anderen, aber als das Kind einige Monate zählte, war eine Ähnlichkeit nicht zu verkennen.
Zora hatte, als sie sich wieder wohler fühlte, zu geigen begonnen, doch es war das alte Spiel nicht, und Givo schien es bedeutsam, daß es zerrissen klang, gequält, niemals sehnsüchtig hingegeben mehr. Er fühlte die Schuld, die er an seiner Frau innerer Verwüstung trug. Seit jener unselige Verdacht in ihm aufgestiegen, hatte er sie nicht mehr berührt, kaum daß seine Lippen ihre Stirne streiften. War dieser Bann des Blutes nicht Zeuge, daß mehr als Verdacht ihn hemmte! Ein Wissen mußte tief unten in der Welt der Instinkte sein Blut gewarnt haben. Aber er beklagte ihre Verlassenheit an seiner Seite, ihre Freudlosigkeit an dem Kinde, wie ein Fernstehender sah er alles und dieser war milde und freundlich zu Zora Uhari.
„Kinder und Gräber sein Weibersachen.“
(Gerhart Hauptmann
„Rose Bernd“.)
A ls sie von England nach Paris kamen, bat sie ihn, mit ihr die Gräber ihrer Eltern in Spanien zu besuchen. Er willigte ein. Er ging zu Helene und gab ihr das kleine Mädchen in Obhut, bis daß sie zur Weiterreise nach Deutschland und Österreich zurückgekehrt wären. Alphi klatschte in die Hände, daß er nun ein Schwesterchen haben solle. Helene Tallandre war erschüttert über die Ähnlichkeit der kleinen Noemi mit ihrer Herzensfreundin. Kaum war Imanuel abgereist, telegraphierte sie an Arabella Karinski. „Mache dich reisebereit, Brief folgt.“ In diesem schrieb Helene, sie müsse ihr von einem Wunder berichten. Givos Kind gleiche ihr. Es wäre für wenige Wochen in ihre Hut gegeben. Sie möge kommen, um es zu sehen. Sie und Tallandre würden sorgen, daß ihr Besuch Geheimnis bleibe. Helene hatte richtig geraten. Arabella depeschierte: „Ich komme.“ An einem der nächsten Abende trat sie leise mit traurig fragendem Lächeln ein. Sie war so seltsam geworden in ihrer reisenden, dennoch febrilen Schönheit, der Schmerz hatte ihren großen Kinderaugen etwas Überirdisches gegeben. Das Kindliche lag nur mehr um den Mund in dem Lächeln, in den Händen und Bewegungen. Ihre Augen waren wissender und auch ihre Art zu sprechen die einer sichern anmutigen Weltdame, die immer Bescheid weiß und die gewohnt ist, von jedermann Dienste dankbar zu empfangen. Helene küßte sie. In wortloser Rührung führte sie die Freundin in die Kinderstube. Da saß in Alphis Gitterbettchen ein kleines Mädchen mit strahlenden blauen Augen und fahlblondem Gelock um ein schmales Gesichtchen mit durstigrotem Mund, der es noch blasser erscheinen ließ. Es sah auf ohne Lächeln, ohne Furcht in ernsthafter Aufmerksamkeit. Dies schien kein Kind zu sein, kein Engel, keine Elfe und war doch etwas von all dem, eine Pflanze, Menschenkind genannt, aus Seelenland kommend. Man vergaß es nicht, wenn man es einmal sah. Es war schlank, fast gebrechlich, mager, seine Haut hatte einen leichten bräunlichen Stich, als glühte es unter ihr. Seine Augen leuchteten in einem fiebrigen Glanz und in ihnen war diese Fremdheit einer anderen Welt und die Sehnsucht nach zärtlicher Wärme. Arabella kniete vor dem Kind in tiefster Ergriffenheit. Es langte mit ernster Gebärde in ihre Haare, die den seinen glichen, und plötzlich lachte es laut auf, wie Kinder lachen, irdische Kinder. Es freute sich. Arabella hatte es angesehen mit heißester Liebe. War ihm zumute, als blickte es in einen Spiegel? Lachte es deshalb mit so holdem Laut? Sie stand auf, reichte der Kleinen ein Perlenkettchen, das sie seit Kindheit trug, eilte aus dem Zimmer. Schluchzen machte ihren Körper erbeben. Während sie weinend Helenens Hand hielt, sagte sie: „Bin ich nicht kindisch! Wie reizend ist es! Ein Engel! Hab Dank!“ Sie blieb den ganzen Abend an Noemis Bettchen, bis die Kleine schläfrig wurde und sie selbst auch die Müdigkeit der langen Reise übermannte. Am Morgen fuhr sie zu Ceciles Grabstätte. Sie fand sie in reichem Blumenflor. Gaston und sein Vater schmückten sie in dankbarer Liebe. Dann ließ sie nach Konrads Grab forschen. Es dauerte lange, bis man es in den Büchern verzeichnet fand. Sie hatte weit zu gehen und Mühe, es zu entdecken. Nur ein Schildchen bezeichnete es. Arabella blieb stehen und betete auf ihre Weise. Draußen vor den Toren des Friedhofes bestellte sie im Laden eines Steinmetz ein kleines Grabmal aus Porphyr. „ Quod in charitate constitutis nullum peccatum imputetur. “ Dies sollte in Konrads Stein gemeißelt sein.
Sie stand zu sehr unter dem Eindruck, den das Kind auf sie gemacht hatte, um die Stadt wiederzufinden. Einen Augenblick dachte sie daran, die Sainte Chapelle zu besuchen, aber sie schämte sich dieser Wallfahrtsgelüste. Die Bilder der Straßen flogen an ihr vorbei und taten ihr nicht wohl. Die Menschen waren ihr fremd geworden und sie empfand fast Unlust, in die Läden zu gehen und die schmeichlerischen Laute der Verkäufer zu hören. Zu Mittag war sie wieder bei der kleinen Noemi. Ein Wagen wartete vor dem Tor und nach dem Essen nahm Helene Alphi an der Hand, sie selbst das kleine Mädchen auf den Arm und trug es behutsam hinab ins Freie. Es war ein schöner Vorfrühlingstag. Sie fuhren ins Bois, hielten dann vor einem Spielzeugladen und Arabella kaufte ein. Wie glücklich war sie mit den Kindern. Einen Augenblick kam es wie ein Rausch über sie. Nimm die Kleine und entflieh! Gehört sie denn nicht dir vor Gott? Aber sie biß die Lippen zusammen und reichte sie abends Helene, die sie ins Bettchen zurücklegte. Noemi hielt die Püppchen in der Hand, die sie sich gewählt hatte, und sah mit ihrer ernsten Aufmerksamkeit bald auf Arabella, bald auf das Spielzeug. Noch hatte sie das Perlenkettchen um den Hals und seltsam, es wollte sich nicht von ihm trennen, hielt es fest und verzerrte schmerzvoll das Gesichtchen, als man es ihm nehmen wollte. Arabella hatte es als einen Talisman getragen seit ihrem fünften Jahr. Es war, sie ahnte es dunkel, ein Geschenk ihrer Mutter. Aber wie froh war sie, daß es die kleinen Händchen hielten wie ihr eigen.
Als sie die Kleine verließ, wollte Tallandre sie zurückhalten. Ob nicht das Wohl des Freundes über alle Bedenken ginge, Givo sei am Ende seiner Kräfte, sie zu ersehnen. Sie möge seine Rückkehr abwarten. Da verhärtete sich ihr Herz. „Nein, nein, nein,“ rief sie und wies auf die Türe, hinter der das Kind schlummerte. „Da dies hat er mir geraubt, auch ich hätte ein Kind von ihm, auch ich,“ und sie barg schluchzend ihr Antlitz. „Warum ist er mir nicht gefolgt nach seiner Mutter Tod, warum hat er mich verlassen und nicht diese Frau? Aber er hatte mir ja nichts geraubt, nein, er hatte mich ja gerettet aus den Armen meines Verführers und so eine, die darf man wieder hinausstoßen — in anderer Männer Arme, von Bett zu Bett.“ — Tallandre war erschüttert, in seiner Ungeschicklichkeit wußte er nichts zu sagen als: „Aber waren denn Sie es nicht, die ihm davonlief?“
Arabella war erschrocken über die eigene Heftigkeit. Die Anklage gegen den Geliebten, die sie selbst sich verschwiegen, hatte sie nun laut vor einem anderen ausgestoßen. Tallandres Bemerkung brachte sie völlig zu sich. Sie hob den Kopf, sah seine Bestürzung und unter Tränen lächelnd sagte sie, ihn mit du anredend: „Mein armer, lieber Fifi, das verstehst du nicht.“ Und als eben Helene eintrat, umarmte sie die Freundin, drückte Tallandre die Hand und eilte davon.
Leer war ihr Kopf und Herz, als sie in den Straßen irrte. Sie lechzte nach Betäubung, nach Brand, der ihr Erinnerung ausmerzte für Stunden, für einen Tag, für eine Nacht. Sie erinnerte sich blitzartig Malpasses und seines funkelnden Begehrens im Blick. Jahre waren vergangen seit jenen beiden flüchtigen Begegnungen in Louvais und Nizza, seit jener Aufforderung, sich bei ihm zu melden. Aber war sie nicht seither schöner geworden? Sie hatte kürzlich in den Zeitungen gelesen, er sei erkrankt. Aber dies war ja ein Grund mehr, ihn aufzusuchen. Der Portier des Hotels fand die Adresse im Anzeiger. Sie ließ sich zu ihm fahren und schon läutete sie an der Türe. Der Diener Francois, der nämliche, der Malpasse in Louvais begleitet hatte, öffnete mit düsterem Antlitz.
„Der Herr empfängt nicht.“
„Sagen Sie ihm, jene Dame, die er vor Jahren am Bahnhof zu Louvais — Sie waren mit ihm damals —“
Die Gräfin nickte. Francois kam zurück. „Monsieur erinnert sich nicht, aber er hat gefragt, ob Madame schön seien —“ Francois verbeugte sich, es zu bekräftigen, indem er die Tür öffnete. Malpasse kam ihr entgegen. Er schien ihr jünger als damals, so schlank war er, er hatte die Gestalt eines Jünglings. Sein Blick war noch sengender geworden, ein ängstliches Licht flackte darin.
„Soll ich heucheln, Madame, ich erinnere mich nicht mehr. Um so freundlicher von Ihnen, da Sie vielleicht auch erfahren haben, daß ich mich elend fühle — —. Ich habe mich allen Bekannten verleugnen lassen. Oh bitte, nehmen Sie hier Platz — aber zuweilen sehne ich mich aus dem Kerker meiner Krankheit wieder zu jenem Unbekannten, jenem fremden Leben, das uns auf der Straße streift. Frauen, deren Antlitz dann plötzlich im Tag auftaucht, Frauen, die wir vielleicht vor Jahren sahen —“
„Am Boulevard des Anglais zum Beispiel.“
„Sind wir einander dort begegnet? Lassen Sie es vergessen sein. Bleiben Sie die Unbekannte, die schöne Unbekannte dieser Stunde —“
„Auch ich bin nicht zu dem Berühmten gekommen, nur zu jenem Fremden, von dem ich hörte, daß er leidend sei, eine plötzliche Eingebung hat mich zu Ihnen getrieben.“
„Das ist gut so — und sollte mich dennoch Neugierde antreiben, antworten Sie mir nicht. Wenn Sie Ihr Taschentuch ziehen, verbergen Sie Ihr Monogramm. Ich will nicht einmal die Anfangsbuchstaben Ihres Namens wissen, will nicht wissen, ob eine Krone sie ziert und wie viel Zacken sie trägt. Ich will Sie nur sehen — — Sie sind schön. Ihre Augen strahlen so seltsam —“
„Von Tränen!“
„Von Tränen, oh, diese kostbaren Karfunkel. Wir sollten Sie aufsparen für die Stunden unseres höchsten Glückes.“
„Nicht für die, da wir ihm nachweinen?“ —
„Man kann nie wissen, ob nicht ein Größerer noch kommt, dem wir dann noch heißere Tränen weihen müßten. Mögen sie uns nie versiegen, diese posthumen Glückstränen. Madame, ich gestehe Ihnen, meine Augen waren feucht, ehe Sie kamen. Nun werden sie es sein, nachdem Sie gegangen sind.“
„Sie werden eine neue Geschichte schreiben und die Tinte wird die Tränen aufsaugen — —“
„Sie verachten die Dichter?“
„Ich liebe die Künstler nicht. Sind sie nicht der Abfallstoff der Kunst? Ein verbrannter Rest —“
„Ja, ein trauriger Stoff sind sie und einer der traurigsten steht vor Ihnen.“
Sie reichte ihm die Hand. „Verzeihen Sie mir.“
„Verzeihen Sie — daß ich wage, diese kleine Hand zu umfassen.“
„Sie wehrt sich nicht, die Hand.“
„Doch,“ sagte er mit einem kindlichen Lächeln, das rührend war auf dem zuweilen greisenhaft Wissenden seines Antlitzes. „Doch, sie hat sich eben gerührt.“ Und er küßte die zuckende Hand.
„Francois,“ sagte er später zu dem Diener, „lassen Sie niemanden vor. Weder heute noch morgen früh. Auch den Arzt nicht, Francois, hörst du, auch den Arzt nicht —!“
A ls Zora mit Manuel kam, die Kleine zu holen, ließ Helene das Kettchen unter das Kleidchen der Kleinen gleiten. Als es abends im Eisenbahnzug entkleidet wurde, sah es Givo. Er erkannte es. Wie kam dies Zeichen an der Kleinen Hals? Ein Wunder rührte ihn an. Zora fragte die Nurse, ob Frau Tallandre das kostbare Kettlein geschenkt hätte. Es mußte wohl so sein, sie hatte es an Noemis Hals gesehen, als sie von ihrem Ausgang zurückgekommen sei. Aber Noemi, als fürchtete sie, man könne es ihm nehmen, hielt die kleinen Perlen fest zwischen ihren mageren Fingerchen und lag so die ganze Nacht, neben sich die Puppe und in sich noch das Bild der Fremden, in das sie geblickt hatte wie in einen Spiegel. Givo war wach, er sah auf das Kind, als könnte es im Schlaf die Lippen auftun und das Geheimnis lösen. Aber schließlich sagte er sich, daß Arabella wohl Helene das Kettlein geschenkt und diese es dem Kind angelegt haben mochte. Warum war er der Versuchung widerstanden, Helene nach der Geliebten zu fragen! Zu lange litt er schon. Er sehnte sich nach lösender Wiederkehr. Wenn er nun die kleine Noemi im Arme hielt und sie ihr Hälslein an ihn schmiegte, fühlte er, ach wie so oft in fernen glücklichen Nächten, das kindische Kettlein kühl seine Lippen streifen und es mahnte ihn und rief. Da beschwor er Arabellas Nähe heißer und heißer von Tag zu Tag.
A rabella kehrte nach fünftägiger Abwesenheit zu Karinski zurück, den sie in einem deutschen Badeort verlassen hatte. Sie war müde und gedankenvoll, aber die schützende Nähe des Grafen beruhigte sie.
„Wie gern wäre ich mit dir gefahren, Bella,“ sagte er. „Aber ich wollte, daß du dich ganz frei fühltest, falls du Entschließungen treffen wolltest. Und dann, meine Zeit ist bald abgelaufen. Ich muß mit Olga zurück, muß die Güter in Ordnung bringen, die Mädchen verheiraten und dich von einem alten Mann befreien, damit dir noch ein Lebensglück zuteil wird.“
„Sprich nicht so,“ bat Arabella. „Wenn ich dich ziehen lasse, geschieht es nur, weil ich deiner unwürdig bin. Dein Name schon war ein Gnadengeschenk.“
„Du belügst dich und mich, Bella,“ sagte er und küßte ihre Hand. „Du hast mir noch ein spätes Glück geschenkt und ich will es dir nicht danken, indem ich in deiner Gegenwart alt werde. Du sollst nicht das Opfer der Tatjana bringen, obgleich ich dir keinen Onegin wünsche. Dort bei uns ist es zu kalt und Nadescha wäre eifersüchtig auf dich — und ich selbst bin dort nur ein Bauer. Nein, täusch dir nichts vor. Weißt du aber, woran ich oft denken muß? Daß der arme Narr, der Student, recht gehabt hat, als er dich zu deiner Mutter bringen wollte. Adalbert schrieb mir, daß ihr Mann gestorben sei — —“
Vögelchen sann eine Weile. „So ist sie allein jetzt. Und glaubst du, daß sie von der Landstreicherin, ihrer Tochter, noch etwas wissen will?“
„Ich werde zu ihr fahren und mich als der Mann dieser Landstreicherin vorstellen und dich ihrem Schutz empfehlen.“
Vögelchen sann wieder. Dann sagte sie: „Du Guter, ja, fahre zu ihr.“
Sie sehnte sich nach einem ruhigen Ausblick in ihre Zukunft. Jetzt war alles Verworrenheit, seitdem sie sich in Verzweiflung gegen den Geliebten aufgelehnt, der zu kommen zögerte. Mit aller Gewalt begann sie den Zufall zu beschwören, der ihre Wege zusammenführen sollte.
Wenige Tage nach des Grafen Abreise erhielt sie von ihm einen Brief aus Wien.
„Mein geliebtes Vögelchen, eben komme ich von Deiner Mutter. Gott sei es gedankt, daß ich diesen Weg gemacht habe. Wie soll ich Dir diese Frau schildern, diese Sanfte, diese Wehrlose. Jetzt besitzt sie die Kraft, die der Schmerz verleiht und die jede Gabe als ein unverdientes Geschenk ansieht. In ihrem Gesicht ist das Lächeln der Sonne über viel Wetter und Verwüstung. Nun hat sie auch den Mann verloren, mit dem sie gut gelebt hat, und hat das Opfer gebracht, sich von ihrem Jungen zu trennen und ihn in ein Konvikt zu geben, weil sie sich seiner Erziehung nicht gewachsen fühlte. Zu keiner Zeit hast Du so sehr in ihrem Leben gefehlt als gerade jetzt. Mein Täubchen, ich erwarte Dich hier. Laß mich noch die Vereinigung mitansehen und einige Wochen hier mit Dir verbringen. Heute will ich mir das kleine Palais besichtigen, von dem uns Adalbert geschrieben hat. Paßt es Dir, so wollen wir es Dir wohnlich machen. Auch darüber möchte ich beruhigt sein, wie Du wohnst. Wird es Dir Mühe machen, mein Gepäck zu versorgen? Gedenkst Du Deine Jungfer mitzunehmen? Deine Mutter will Dich mit allem versorgen. Mein Liebling, laß mich stark bleiben. Wäre es besser vielleicht zu gehen, ohne Abschied zu nehmen? Versprichst Du täglich zu schreiben im Anfang unserer Trennung? Oh, Du geliebtes Vögelchen. Komm, laß den Alten noch einmal vor Dir knien, laß mich Deine schmalen Fesseln umspannen mit meinen Bärentatzen und gib, gib mir das Versprechen, daß Du Dein liebes, launiges — und zuweilen erstaunlich gescheites Geplauder mir bis ans Ende der Welt schicken wirst.
Es umarmt Dich Dein
Karinski.“
In einer stillen Straße eines südlichen Bezirkes von Wien, einem Parke gegenüber, wie es deren dort mehrere gibt, lag der Wohnsitz Arabella Karinskas, das nämliche Haus, in das einst Mannsthal Lola Ritter geladen. Hinter den Erkern und Fenstern sah man zwischen den Spitzen der Vorhänge Tropenpflanzen und abends das Licht kristallfunkelnder Lampen. Vor dem Hause stand zuweilen ein Kutschierwagen, vor dem in kaum gebändigter Unruhe ein Paar herrlicher russischer Pferde gespannt waren, die ihre Besitzerin aus dem Karinskischen Gestüt als einen sehr lebendigen Gruß bald nach ihres Mannes Abreise erhalten hatte. Zuweilen fuhr ein anderer Wagen vor und eine ältere Dame, die immer schwarz gekleidet war, entstieg ihm. Putzi, die Lachtaube, die eben vor dem Teegeschirr oder den Bronzekübeln der Azaleenbäume ihre Komplimente machte, flog dem willkommenen Gast auf die Schulter und rief die Herrin des Hauses herbei, die schon zur besprochenen Ausfahrt in den Prater bereit war. Arabella umarmte die Mutter und ein glückliches Lächeln sprach von der Eintracht der beiden Frauen. Sie hatten ein schweigendes Übereinkommen getroffen, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Arabella wußte mehr von dem verstorbenen Doktor Gunter als von ihrem Vater. Aber im Laufe der Zeit erkannte sie in der Liebe der Mutter zu diesem, ihrem ersten Mann, den sie als Schwerkranken schon geheiratet, viel von ihrer eigenen heilbringenden und hilfsbereiten Sehnsucht.
Jedem, der Arabellas Heim sah, schien es undenkbar, daß hier eine Frau allein hause, eine junge reizende Frau, die in dem kleinstädtischen Wien Aufsehen erregte. Alles schien weich und einladend, die harten Wände verborgen hinter Kakemanos und Karamanien. Auf den Sofas häuften sich die Kissen, von Palmen beschattet. Die vielen kleinen Kostbarkeiten, die ihr Karinski auf den Reisen angehäuft hatte, machten das Haus zu einem kleinen Museum. Tiere belebten es, ein Papagei, ein Affe, die Taube und ein King Charles, der laut durch die Nase atmete und gern wie eine seidene Kugel auf Arabellas Schoße lag. Aber dies äußere Leben, das nun gefestigt war und sich zwischen Vergnügen und geräuschloser Wohltätigkeit bewegte, bildete nur eine trügerische Decke ihrer gärenden Unruhe. Sie sehnte sich quälend nach dem Geliebten. Ihr war, als hätte die Unrast nach seiner Nähe unter des Grafen Liebkosungen geschlummert, sie einwiegend in ein Leben, das der Luxus berauschte. Nun aber war sie erwacht und lechzte aus Scham und Ernüchterung nach Beruhigung. Hätte sie die Mutter nicht gefunden, sie wäre, das wußte sie, in das hemmungslose Leben jener Lust geraten, die immer in ihr gärte. Sie wäre eine der großen Amoureusen geworden, die zu den Sehenswürdigkeiten einer Stadt gehören. So aber war sie eine versehnte, im Traum lebende Frau, die vor episodenhaften Erlebnissen zurückzuschrecken begann und sich, immer des Geliebten gewärtig, scheute, eine sie fesselnde Liaison einzugehen. Sie hatte ihn nicht gewaltsam aus ihrer Sehnsucht zu drängen versucht, um der Qual ledig zu sein und frei dem Neuen. Wie der Fromme Gott, mit dem er hadert, dennoch aus tiefstem Herzen liebt und seine Gnade ersehnt, so behielt sie Givo in sich und rief nach einem geheimen Auftrag, den er ihr erteilen sollte, für den sie zu leben vermochte, wenn sie seiner Nähe nicht teilhaftig werden konnte. Wäre er nur einmal freiwillig herausgetreten aus der Ferne, um ihr Kraft zu geben. Sie wußte nicht, wo er war, und lange hatte sie sich enthalten, ihn und das Kind bewußt herbeizuwünschen. Nun brach ihr Widerstand. Mit aller Kraft ihres Seins in Tagen und Nächten schwor sie ihn nun herbei. Schaudernd erinnerte sie sich, wie sie als Kind oft bei heftigsten Wünschen kein Mittel gescheut hatte, ihren Willen dem Schicksal aufzutrotzen. Konnte es nicht wieder so sein wie damals, als sie das Feuer erzwang? Ein Jahr war hingegangen, daß die Tallandres nichts mehr von ihm zu wissen vorgaben. Das Kind war so zart gewesen. Verheimlichte man ihr Schlimmes? Sie wagte auch Angele nicht nach ihm zu fragen.
Frau Gunter sah, daß Arabella immer zarter und empfindlicher wurde. Der Arzt empfahl zunächst größere Spaziergänge vor der Stadt. Meist fuhr sie nach Schönbrunn hinaus. An sonnenklaren Nachmittagen war der Park wie unter einem Zauber von Licht und Klarheit in die goldene Ruhe seines herbstlichen Farbenspieles getaucht. Ergriffen fühlte sie das Vergehen, das sanfte Sterben und fern das Wiederaufstehen der Natur, jenes köstliche Empfinden der Kreatur, das Tat twam asi — ich bin in allem, alle in jedem — war in ihr. Die Natur wies ihr das Rätselangesicht. „Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht.“ Givo hatte ihr dies Goethe-Wort in ein Buch geschrieben, das immer in ihrem Wäschekasten zwischen Spitzen lag.
Manchmal schien es Arabella, als hätte sie als Kind in diesem Park gespielt. In einem anderen Leben war es. Mit leisen Fäden war ihr hier das Herz verankert an die Irrwege und Rondells, an die Volieren und Glashäuser, an deren Fenstern sich Orchideen und Kamelien drängten, an die vielen verborgenen Wege und abgesperrten Teile, undurchdringbar der kindlichen Neugier.
Hier fühlte sie sich den Kindern ganz nahe. In der Menagerie plauderte sie mit ihnen und fütterte mit ihnen die Tiere. Musterten sie neugierige Blicke, ließ sie ihren Schleier fallen oder sie bedeckte wie absichtlos ihr Gesicht mit dem Fächer, den sie meist mit sich trug. „Die Kaiserin,“ flüsterte einmal eine Dame einer anderen zu. Einmal sprach sie ein Herr an, anscheinend ein Würdenträger, der aus dem Schlosse kam. Er wäre ihr schon mehrmals bewundernd gefolgt. Seine Stimme war angenehm, sein Wuchs dem eines edlen Hengstes gleichend, seine Augen liebkosten sie, während ein herrliches Raubtiergebiß sichtbar ward. Er bat sie um eine Zusammenkunft. Aber als dann die Stunde kam, flüchtete sie zu ihrer Mutter und ließ sich entschuldigen. Sie hatte all ihre Leichtigkeit verloren.
Da die Spaziergänge sie nicht sonderlich kräftigten und der Winter nahte, riet der Arzt zu einer Fahrt nach dem Süden. Sie wählten einen Ort, der, eben im Aufblühen, noch nicht die Masse der Reisenden anzog. Auf hellen Felsen lagen zwischen Pinienwäldchen die Villen über dem blauen See gelagert, durch schmale, säuberliche Fahrwege verbunden. Wieder empfand sie, die Südgeborene, die heimatliche Liebkosung der sonndurchwärmten, lichtgetränkten Luft. Sie spürte nun ihre Sehnsucht genährt von Kräften, die sie nur geahnt und die sie nun in einen ekstatischen Zustand von Lust und Wehmut versetzten. Der Zauber blauer, flüsternder Nächte lag ihr tagsüber noch in den Gliedern und mancher Kranke, der ihren strahlenden und dennoch schmerzwissenden Blick empfing, fühlte sich durch ein leisseliges Gefühl beglückt. Zuweilen wurde sie düster und floh selbst die Mutter. Denn da wurde ihr plötzlich ihre Vergangenheit bewußt: mit Grauen erinnerte sie sich, daß sie und die Mutter den selben Mann besessen hatten.
Den Verkehr mit Männern vermeidend suchte sie die Bekanntschaft der berühmten Schauspielerin Calese, die nach kurzem Aufenthalt am See zu einem Gastspiel nach Wien reisen sollte. Arabella fühlte sich hingezogen zu dieser Schwester im Wandern. Vogelfrei waren sie beide. Der Calese Gesicht war oft wie erloschen hinter Schminke und Grimasse und wie nackt lag die verwüstete Schönheit des Antlitzes. Sie hatte ein Kind und Arabella sah den verzweifelten Abschied, als sie es in die Heimat zurücksandte, um ihr mehrmonatiges Gastspiel im Norden anzutreten. Vögelchen mußte an Noemi denken, als sie die Kleine sah, und bat die Calese es ihr anzuvertrauen. Die aber fürchtete das rauhe Winterklima für das wärmebedürftige Kind.
Frau Gunter war abgereist, um ihrem Sohn nicht allzulange ihre Besuche im Konvikt zu entziehen. Arabella und die Schauspielerin beschlossen gemeinsame Rückfahrt. Als sie über den Brenner fuhren, lagen Berge und Wälder im Märchenglanz des Schnees. Reich wie Tropenpflanzen starrten die Bäume in ihrer üppigen weißen Pracht. Das Geheimnis der Wälder, wie es ihr Givo einst gelehrt, erwachte in Arabellas Erinnerung. Sie sah vorzeitliche Menschen, hochgewachsen, rothaarig, blauäugig, das Beil in den behaarten Händen, von riesigen Hunden gefolgt, über die beschneiten Pfade schreiten. Frauen mit fliegenden Haaren weissagten unter den Bäumen. Auerochsen und Einhorn lugten am Weges, Bärenspuren, die Male jagender Pferde waren in den Schnee geschrieben. Sie dachte an Rama, den sanften Friedensverkünder, von dem ihr Givo nicht müde geworden zu erzählen und dessen Bild ihr mit dem seinen verschmolz. Sie sah ihn unter dem Baume sinnend, wie er die Pest banne, sah die goldene Sichel des Fremden, der ihm erschien, und wie diese den Mistelzweig des Heiles bruderselig vom Stamme schnitt. Aesc-heyl-hopa, die Hoffnung des Heiles, ist im Walde. Weihnachten nennen es die Menschen und legen unter den winterlichen Baum die Symbole ihres Erlösers. Die Stimme der Calese weckte sie. Arabella erzählte ihre Legenden aus östlichen Sagenkreisen. „Uns verdrängt der Heiland alle anderen Sinnbilder,“ sagte die Calese. „Mir ist er immer gegenwärtig. Ich weiß, Sie werden nicht lächeln über die Geschichte, die ich Ihnen jetzt erzählen werde.“ Und mit ihrer seltsam erzenen, oft aufschluchzenden Stimme begann sie: „Im Anfang meiner Laufbahn, ehe ich mich zu jenem Glanz gekämpft hatte, den die Menschen Ruhm nennen, war ich eines Tages durch viele Qual bis zu dem Entschluß gejagt, freiwillig aus dem Leben zu gehen. Es war Sommer, ein schwüler Abend, als ich in einer Phiole Gift bereitete. Der Gesang der Vögel lockte mich hinaus. Ich wollte noch einmal, bevor ich trank, das Leben der Glücklichen sehen. Als ich unter den Menschen umherirrte, in den Gärten und Straßen, begegnete mir ein Fremder. Er blieb vor mir stehen und sein Blick zwang auch mich stehen zu bleiben. Ich glaubte, es wäre der Herr selbst, so milde war sein Antlitz. Er geleitet mich, spricht freundlich zu mir wie zu einem Kinde, bisweilen nimmt er meine Hand, als könnte ich straucheln.
Vor der Stadt heißt er mich in eine Schenke treten und schenkt mir Glas auf Glas eines berauschenden Weines. Wir scherzen einfältig wie Kinder und plötzlich sinkt mein Kopf, mein müdgesorgter, an seine Schulter und ich schlafe ein. Als ich erwache, ist er verschwunden. Ich suche ihn in allen Ecken, ich laufe verzweifelt auf die Straße hinaus, nirgends eine Spur. Ich irre weiter, da steht an einer Brücke — — ein — — hölzerner Heiland. Es ist — sein Antlitz, er bewegt die schweren Augenlider, sein Mund lächelt Wiedererkennen in unnennbarer Süße. Ich sinke vor ihm zusammen. Ich erwache zu Hause, eine Pflegeschwester ist um mich. Ich hatte lange Fieber gehabt. Die Phiole war verschwunden. Eine edle Frau nahm sich meiner an. Ich war gerettet.“
Arabella reicht ihr die Hand. „Er war es. Weil du an ihn glaubtest,“ sagte sie. Und sie denkt: „Auch mir wird Rama begegnen, weil ich an ihn glaube — Rama Imanuel.“
In Villach kaufen sie eine Zeitung. Da liest Arabella, daß Zora Uhari-Givo eine Konzertreise angetreten habe, die sie nach Wien führt.
A rabella fand ihr Heim wohlig und warm. Lora, der Papagei, begrüßte sie, indem er sich mehrmals mit seinem Namen vorstellte, der Affe sprang ihr auf die Schulter und zauste ihr Haar. Putzi, die Lachtaube, die Arabella überall hin begleitete, wurde aus dem Reisekäfig in ihr schönes, großes Haus befördert und bedankte sich mit ihrem inbrünstigen Kukuru. Frau Gunter war mit ihrem Jungen gekommen, dem die gräfliche Stiefschwester ein unentwirrbares Geheimnis war, eine kostbare Zusammensetzung von Fraulichkeit, Duft, Spitzen und tausend kleinen Unerklärlichkeiten. Von ihr zu träumen aber war möglicher als mit ihr zu sprechen. Die Dienstboten eilten mit fröhlichem Eifer umher, Befehle auszuführen, die ihre Herrin ebenso rasch erteilte als widerrief. Arabella hatte von Karinski die Gewohnheit angenommen Dienstleute zu duzen. Sie rief sie herbei, teilte Geschenke aus, umarmte des öfteren die Mutter und den Bruder, der verlegen sich bemühte, in seiner Konviktsuniform zu imponieren, eilte von Zimmer zu Zimmer, alles von neuem betrachtend, als sähe sie es nun mit anderen Augen. Eine prickelnde Unrast trieb sie umher. Die Stadt war ihr eines heimlichen Zaubers voll: sie ahnte Givos Gegenwart oder erhoffte sie so warm, daß sie ihr schon Gewißheit schien. Was durfte sie beginnen, fragte sie sich, da er all die Jahre geschwiegen? Oft und oft hatte sie sich damit beschwichtigt, daß er sich ihr nicht genähert hätte in der Meinung, er, der Unfreie, dürfe nicht ihr Leben kreuzen, da auch sie in Gemeinschaft lebe. So durfte sie ihm doch zu wissen geben, daß sie frei sei, es immer gewesen war für ihn. Der Gedanke, es könne Zora Uhari ohne ihn die angekündigte Konzerttournee unternehmen, kam ihr gar nicht in den Sinn, so sicher fühlte sie den Augenblick eines Wiedersehens gekommen, und gleichfalls war sie dessen gewiß, daß auch er der Wiedervereinigung gewärtig war. Würde er sie finden?
So sehr sich auch um diese Zeit das ländlich umgürtete Wien zu vergrößern begann, es hatte sich kürzlich sogar, wie eine richtige Großstadt, in ein Netz von Telephondrähten eingesponnen, so klein blieb es dennoch und es war nicht leicht, unbekannt in seinen Bezirken zu leben. Arabella aber hatte eine fast kindische Angst vor neugierigen Menschen. Da ward das Wandervögelchen in ihr wach, das nur überall zu Gaste sein will und hinter Blätterwerk recht ab- und obseits sich sein Nest erbaut. Bekam ihre Mutter, während sie bei ihr weilte, Besuch, schlüpfte sie durch eine Hintertüre davon und Frau Gunter sah sich um ihr Vergnügen betrogen, mit der Tochter Staat zu machen. Neugierige Fragen konnte die immer Freundliche und im Gespräch stets zum Scherz Gelaunte mit hochmütiger Schärfe beantworten. Anonymität bedeutete ihr die große unbehelligte Welt, das unmittelbare Leben von Mensch zu Mensch ohne Beschränkungen. Um nicht das Interesse der Leute zu erregen, verweigerte sie lange Zeit ihr Mitwirken zu wohltätigen Veranstaltungen. Häufig aber geschah es, daß sie durch Luise, ihre Jungfer, Arme und Kranke, die irgendwo ihren Weg gekreuzt, besuchen und beschenken ließ. Ihre Leute bezahlte sie fürstlich und kümmerte sich überdies um das Wohl ihrer Familien. Unbemittelte und schlichte Menschen interessierten sie weit mehr als die „Gesellschaft“, deren Banalität sie fürchtete und die sie vielleicht instinktgemäß um der Einschätzung willen verachtete, die sie von ihr zu erfahren meinte. Es gab indes eine Welt, in der die Gräfin Karinska wohlbekannt war. Bei Trödlern, Antiquitäten- und Spitzenhändlern konnte man sie stundenlang sitzen sehen, um zu wählen, zu betrachten, zu gustieren, bis sie ermüdet in den wartenden Wagen flüchtete, in den die neu erworbenen Schätze verladen wurden. Da sie die Dinge um sich häufte, lernte sie die Menschen entbehren. Ihre Tiere waren ihr treuer als eigennützige Freunde und sie war glücklich, daß gleichgültiges Geschwätz ihr nicht die Muße ihrer Sehnsucht störte. Ihr Leben war, flüchtig gesehen, dem Luxus und Wohlleben geweiht. Eine grande Dame schien sie, die nur ihren Prunk im Auge hat und weder einem Manne noch einem Kinde lebt. Des äußeren Scheines fast unbewußt gab sie sich sorglos dem Dasein hin, wie ihr der Tag es bescherte, ahnungslos, daß der erwartete Geliebte ihr Leben erschaute.
Bei einem Kunsthändler erfuhr sie zu jener Zeit von der Versteigerung und Vorbesichtigung einer Sammlung von Miniaturen, deren Besitzer ihr alter Freund, der Doktor Clemens Urbacher, war. Sie hatte oft daran gedacht, den verschollenen Freund aufzusuchen. Das Erleben all der Jahre aber hemmte sie. Dem einst so Vertrauten wollte sie nicht aufrollen, was sie vor sich selbst ins Vergessen drängte. Nun aber entschied das Schicksal. Ein Wink von außen rief sie zu ihm, in sein Haus nach Heiligenstadt, von dem er ihr oft erzählt und das sie nie betreten hatte. Sie erinnerte sich, wie gern sie den Onkel Clemens besucht hätte, und heftiger als sonst empörte sie sich gegen den Zwang, in dem sie Adalbert einst gehalten hatte. Immer klarer ward ihr nun rückblickend sein absichtvolles Wesen, die Schliche und Schlingen, die er ihr gelegt hatte, denn oft mußte sie jetzt in ihrem Entbehren um Givo ihrer frühen Entweihung die Schuld geben. Niemals hatte es ihr der Geliebte bekannt, aber es war ihr zur Gewißheit geworden, daß sie nun um ihrer Vergangenheit willen verlassen war. Mehrere Equipagen standen vor Doktor Urbachers Haus, als auch ihr Wagen vorfuhr. Der Garten lag im Schnee, die alten Sandsteinstatuen, die kleinen Pavillons waren unter seiner Last verborgen, das Haus selbst mit seinem vorspringenden Dach schien sich traulich zu verschließen, wiewohl sein Eintritt heute jedermann frei stand, der sich für die Kunstschätze des Hausherrn interessierte. Am Tor war überdies eine Tafel angebracht, die den Verkauf des Besitzes anbot. In der Diele schon erblickte sie Urbacher, der gerade Gäste zur Türe begleitete. Das Antlitz einer Frau verschwand eben noch grüßend hinter einer Türe. Dies Frauengesicht, wie seltsam, es rief ihr eine ungeklärte, unerkannte Erinnerung wach, etwa ein „Wo sah ich es schon?“ und gleichzeitig ergriff sie der Anblick Urbachers. Wie war er gealtert, der einst so treue Freund! Auf dem Kragen seines schwarzen Samtrockes kräuselte sich Silberhaar, über den einstmals so hellen Augen lagen Brillen mit dunklen Gläsern.
Die Türen der anstoßenden Räume waren offen und darin die kleinen Kunstwerke auf Tischen mit schwarzen Tüchern aufgereiht. „Wie eine Aufbahrung,“ dachte Vögelchen und es war ihr, als läge inmitten der bunten Bildchen und Blätter ihre eigene Kindheit hingebettet. Immer wieder mußte sie beim Anblick der Miniaturen an Adalbert, den Sammler, denken und vergleichend lernte sie nun auch seine Auswahl besser verstehen. In diesen Tagen der äußersten Erregung war sie hellsichtig und spürte den geheimen Zusammenhang, die geheime Verknüpfung ihrer selbst mit den zarten Gebilden der Mannsthalschen Sammlung, von denen die Urbachers eine auserwählte, aber viel geringere Anzahl besaß. Ein Haß quoll plötzlich gegen diese Bildchen in ihr auf, genährt durch die Erzählungen ihrer Mutter, die vor Jahren gegen die Sammelleidenschaft Adalberts vergeblich gekämpft hatte. Dieser Haß aber lag in seinen Wurzeln viel tiefer: Arabella witterte das lasterhafte Tier, die grausame Gier eines kalten Genießers, der ihr Leben für immer aus den natürlichen Bahnen gelenkt hatte. Eine Liste der Besucher lag auf, sie unterschrieb sich und las den Namen von Mannsthals Kunsthändler. Es war ihr sofort klar, daß dieser für ihn eine Sammlung erwerben wollte, die Adalbert locken mußte wie keine andere. Blitzartig entschloß sie sich, diesen Kauf zu vereiteln. Indes hatte der Hausherr seine Gäste begleitet, er kam zurück und verneigte sich artig vor ihr. Er sah sie nur als eine vornehme junge Frau und hörte einen undeutlich gesprochenen gräflichen Namen. Ihr ward so wohl, heimatlich wohl, als sie neben ihm von Bild zu Bild schritt. Ihr Wissen, geschult durch einen so bedeutenden Sammler wie es Mannsthal war, entzückte ihn und er fühlte mehr, als er ihn sah, den Liebreiz dieser Frau, die er, als sie Kind war, mehr geliebt hatte als sein Leben. Oder war es die Stimme, die dunkler gewordene, die noch in ihren kindlichen Ausrufen der Vögelchens des Kindes glich!? Er wurde gesprächig, so daß Arabella die Frage wagen konnte, warum er sich von einer so liebevoll angehäuften Sammlung trenne. Nun, er könne ihre Feinheiten nur mehr erinnernd genießen, da er im Begriff sei zu erblinden. Aus diesem Grunde wolle er auch das alte Haus verkaufen und nach Bozen oder Trient übersiedeln, um in der milden Luft noch einen Schimmer südlicher Farben zu verspüren. „Allein?“ entfuhr es ihr voll Mitleid. „Nein, ach nein, meine Gefährtin begleitet mich mit ihrem Sohne. Sie ist Malerin und braucht die Farben noch notwendiger als ich Erblindender.“ Da nahm ihn Arabella bei der Hand und führte den Erstaunten an das Fenster. Sie neigte sich nahe zu ihm und sagte bittend: „Onkel Clemens, erkennst du Vögelchen nicht mehr?“ Da rückte er sich die Brille rasch zurecht und sah ihr angestrengt ins Gesicht.
„Ja, Kind, du bist ja, bist ja eine Prinzessin geworden, Gräfin sagtest du?“
„Ja, ist es denn nicht einerlei, wie ich nun heiße?“ erwiderte sie. „Bin ich nicht mehr dein Vögelchen, bin ich dir ganz fremd geworden?“
„Da bist du nun,“ sagte er wie aus einem Traum. „Ja, jetzt sehe ich, daß du es bist, höre deine Stimme, ja. Siehst du, mir bist du eben noch immer das Kind geblieben, das ich an dieses Unglücksufer gerudert habe. Gott sei es gedankt, daß du nicht später gekommen bist. Nun kann ich dich noch sehen hinter einem leichten Flor wie ein Engelsbild. Bald wird der Schleier dichter fallen,“ und er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und betrachtete sie prüfend wie eines seiner kostbaren Bildchen. „Du hast manches erlebt, Kind,“ sagte er. „Heißes und Kaltes lese ich da. Ich wußte es ja und es ist noch viel Unruhe in dir. Nicht wahr, es ist, als wäre alles, was in der Kindheit gewesen ist, überbaut wie ein Gewässer durch eine Straße. Oben geht das Leben mit seinen neuen Menschen und seinem Geschehen, seinem Gegenwartstreiben, unten sprudelt das Element weiter in die Ferne, ins Unendliche, ins Meer.“
Vögelchen nickte. „Wer war die Frau, die ich vorhin sah? Ist es die, die du deine Gefährtin nanntest? Ich muß sie schon gesehen haben, vor Jahren vielleicht.“
„Oh, Kind, es ist ja Hedwig, Konrad Krugers, dieses Unglücklichen, Schwester.“
„Ach, wie kamt ihr denn zusammen!?“
„Durch dich, Vögelchen, durch dich! Der Bruder hatte von dir meine Adresse, um mir Grüße zu bestellen. Als der Arme gestorben war und seine Briefe ausblieben, kam sie zu mir, hoffend, ich könne durch dich sein Schweigen aufklären. So kamen Hedwig und ich einander näher. Und so danke ich einem Unglück dies späte Glück.“
„Seltsam,“ sagte Vögelchen bewegt. „Und weißt du auch, was aus dem Buch geworden ist, an dem der Arme geschrieben hat?“
„Es ist kürzlich in neuer Auflage erschienen. Du sollst es haben. Es ist der Stolz seiner Schwester. Komm zu ihr, willst du? Ich will sie vorbereiten. Es wird sie sehr erschüttern. Da höre ich Leute kommen. Könnte ich sie doch alle wegschicken und gleich mit dir plaudern, von deinem Wandern hören.“
„Tu das, Onkel Clemens. Niemand soll uns jetzt stören. Ich kaufe die Sammlung um die höchsten Preise. Ich wäre untröstlich, wenn ein anderer sie erwerben würde. Und dein schönes, altes Haus kaufe ich auch, wenn ich es erschwingen kann. Du sollst keine Sorge haben, Onkel Clemens.“
Der alte Herr geriet in freudige Aufregung. „Das wolltest du tun, du gutes Kind,“ rief er aus. „Es ist nicht leicht die Sammlung an den Mann zu bringen, deshalb habe ich sie der öffentlichen Versteigerung preisgegeben. Ja, preisgegeben allen Gaffern, der Gasse. Wie Kinder sind mir diese behüteten Dinger, um jedes habe ich meine Sorgen gehabt, jedes habe ich gehegt und gepflegt in Liebe.“
„Ja, Kinder, wie Kinder,“ sagte Arabella und ein heiliger Zorn stieg in ihr auf. Unbezwinglich ward der Wunsch in ihr, Urbachers kleine Heiligtümer vor Mannsthal zu schützen. Ja, auch ihr erschienen diese zarten Gebilde wie Kinder. Lebendig wurden die Gesichter und rührend in ihrer Wehrlosigkeit und sie spürte es, wie Adalbert sich ergötzen würde an jedem einzelnen. Aber keines, keines sollte er besitzen, an keinem sich gierig erlechzen. Und wenn es ihr halbes Vermögen kosten sollte, sie mußte ihn besiegen.
„Und nun wird er kommen,“ fuhr Urbacher, wie zu sich selbst redend, fort. „Er, der sich mir jahrelang verborgen hat, nachdem er dich mir geraubt hat, jetzt ist der Augenblick, wo er auftaucht, mir diese Opfer zu entreißen.“
„Hat er sich schon gemeldet?“
„Nein, Kind, das ist es eben. Ich weiß nichts von ihm, aber ich spüre ihn, spüre, wie er die Beute umlauert, wie er schon seine Netze legt. In jedem Käufer wittere ich seinen Mittelsmann. Er wird es schlau anstellen. Wer immer die Sammlung erwirbt, schließlich fällt sie ihm anheim. Bin ich denn deiner so gewiß?“
„Nein, Onkel Clemens, nein, von mir wird er sie nie und nimmer herausbekommen. Oh, sehen möchte ich es, sehen, wie er bittet und bietet und schmeichelt um jedes kleine Bildchen. Aber ich will es ihm entgegenschleudern, wie sehr ich ihn durchschaut habe, wie ich ihn verlache, verhöhne, verachte!“
„Kind,“ stammelte Urbacher erschrocken. „Kind, so hat es dich gegen ihn ergriffen? Ist es also doch so gekommen, daß du ihn hassest?“
Sie erschrak. Haßte, haßte sie ihn denn? War sie nicht all die Jahre in freundlichem Briefwechsel mit ihm gestanden, lebte sie nicht auch von seiner Großmut? Oder war dies Vermögen, das er ihr zugewendet, etwa Bezahlung, Abfindung? Waren sie nicht quitt? Nein, sie schuldete ihm nichts, sie durfte ihn hassen. Sie war ja um seinetwillen verlassen, verstoßen. Aber plötzlich sah sie durch die rote Wolke des Zornes Givo, den sie zur Stunde fast vergessen hatte. Es war ihr, als blickte er sie erstaunt an, als fragte er in ihre Seele, die sein Werk war: „Wie, du hassest? Vögelchens Seele birgt Haß?“
„Es war nur eine plötzliche Aufwallung, Onkel Clemens,“ sagte sie. „Aber hier nimm mein Versprechen. Adalbert wird nie, niemals deine Bilder besitzen.“ Er hielt ihre Hand, besah sie mit seinen verlöschenden Augen, dann küßte er sie. „Daß dies eine Frauenhand werden konnte, mit Brillant- und Perlenringen, dieser Schmetterling von einem Kinderhändchen, dieses Rosenblatt im Wind deiner Launen. Kind, Kind, was hat man dir getan?! Ich fürchte es zu hören, ich fürchte es.“
Arabella sah ihr Leben, ihre Nächte. Der Reigen flüchtiger Liebesstunden umkreiste sie. Das zehrende Warten um Givo trug sie als Heil und Last.
„Ich bin jetzt allein,“ sagte sie. „Vielleicht kommt er jetzt bald, den ich erwarte, vielleicht nie wieder, weil es so mit mir gewesen ist.“
Er verstand sie nur halb, aber dies, „weil es so gewesen ist“, das wußte er ja, hatte es immer geahnt. Daß es nicht verschmerzt war? Oder war eine Wunde aufgebrochen, die sie selbst kaum gespürt hatte? War er die Ursache bösen Erinnerns? Er selbst war ja mitschuldig. Warum hatte er sie nicht verborgen, beschützt, gerettet, wie jener andere es gewollt, Konrad, der Narr?
„Willst du jetzt zu Hedwig kommen?“ sagte er traurig und rührte sie sanft aus ihrem Sinnen. „Ich folge dir, sowie ich die Besucher weggeschickt habe. Nun soll mir keiner mehr herein. Die Bilder sind verkauft.“
A ls Adalbert Mannsthal erfuhr, daß die Sammlung Urbachers, die er um jeden Preis zu erwerben suchte, von einem Agenten für eine unbekannte Persönlichkeit angekauft worden sei, setzte er sich sofort auf und fuhr nach Wien. Er wollte mit allen Mitteln den Kauf rückgängig machen, ihn überbieten, ja selbst seine Scheu überwinden, sich Urbacher zu nähern und ihn an ein vages Versprechen zu erinnern, die Miniaturen nicht ohne sein Wissen aus den Händen zu geben. Arabella hatte, um Adalbert in Unkenntnis zu lassen, einen Kunstagenten als Käufer vorgeschoben, dieser war bestechlich und Adalbert schon seiner Sache gewiß, als er mit dem Mittelsmann nach Heiligenstadt fuhr, wo sie die wirkliche Käuferin, eine angebliche Frau von Werter, treffen sollten. Arabella hielt sich gern in dem alten verlassenen Hause auf. Urbacher und Hedwig waren schon abgereist. Sie ordnete und veränderte und im Geheimen künstelte sie schon an einem Raum, der Givos Arbeitszimmer werden sollte. Ihr Stiefbruder, der fünfzehnjährige Wolfgang, war eben bei ihr zu Besuch gewesen, als sie sich zur Fahrt nach Heiligenstadt rüstete, und sie hatte ihn mitgenommen. Währenddem sie mit den Gärtnersleuten sprach, machte sich Wolfgang in der Bibliothek zu schaffen. Er saß in einer Ecke über einem Mappenwerk, als Arabella eintrat. „Was studierst du da?“ fragte sie nähertretend, aber im selben Augenblick gewahrte sie die seltsame Veränderung in des Jungen Gesichtszügen. Blaß und verzerrt stierte er auf ein Bild, das seine zitternden Hände hielten. Ein Blick genügte und Arabella packte das Heft, es ihm zu entreißen. Auf dem Umschlag las sie von Urbachers sauberer Schrift geschrieben: „Kopien aus der Sammlung Mannsthal.“ Dazu ein P. in der Klammer. Es erwies sich, daß sie zu schwach war, dem Jungen den gefährlichen Band aus den Händen zu winden. Wie ein hungriges Tier, das um seine Futterschüssel kämpft, sah er sie aus seinen glühenden Augen an, während seine verklammerten Finger sich zu Eisen krampften. Als sie dennoch siegte, lachte er blödsinnig, drohte sie zu küssen und frech zu werden. Scherz schien dieser Kampf und war doch von beiden Seiten viel mehr als Spiel und Weigerung. Eines der Bilder war zerfetzt und zur Erde gefallen, es stellte ein kleines Mädchen dar, das in einer Speisekammer auf einen Sessel steigt, um Süßigkeiten zu erhaschen, während ein Mann in türkischem Schlafrock und Mütze sie auf unzweideutige Weise an den Röcken faßt. Arabella fühlte die merkwürdige Fügung, durch die sie nun Tag für Tag an gewisse Vorgänge gemahnt wurde. Eine seltsame Erregung erfaßte sie. Sie selbst war ja damals fünfzehnjährig gewesen wie dieser Junge, der jetzt keuchend die Arme um sie breitete. In diesem Augenblick fuhr knarrend am hartgefrorenen Pflaster ein Wagen vor. Der Agent und jener Fremde, der sie zu sprechen wünschte, waren angelangt. Wolfgang ließ ab und stürzte aus dem Zimmer, während Arabella hastig das Mappenwerk zusammenraffte. Gleich darauf trat Herr Blumenstock ein, hinter ihm — Mannsthal. Sie erschraken, er und sie. Sie hatte den Hut, nicht den Pelz abgelegt, ihr Blondhaar, das verwirrt war, leuchtete über dem dunkeln Zobel. Er sah ihr vom Ringen gerötetes Gesicht, ihre zornfunkelnden Augen, er fand sie sehr schön. Nur eine Sekunde hatte er, als er so Arabella erblickte, sich der Täuschung hingegeben, sie hätte, um Urbacher zu überlisten, anonym für ihn die Sammlung gekauft. Aber sie sah ihn nicht an wie einen, den man freundlich überraschen will, sie hatte ihm nicht die Hand gereicht, sie stand sprachlos und bebte.
„Das ist ja ein seltsames Wiedersehen. Habe ich dich am Ende angesteckt mit dem Sammeln,“ sagte er und ging sogleich an die Tische heran. „Du wußtest ja, was ich von Urbachers Sammlung halte. Nun und was gedenkst du mit ihr anzufangen? Man wird doch noch ein Angebot stellen können, hm?“ Während er sprach, umkreiste sein Blick mit heißer Gier die Bilder und er schien allmählich zu vergessen, daß jemand im Zimmer war, daß er mit Arabella sprach, die er Jahre nicht gesehen hatte. Er beugte sich tief herab, umschlang, verschlang mit den Augen die kleinen Kunstwerke und streckte die zitternden Finger aus, ein oder das andere zu erfassen. Mit Grauen erkannte Arabella den Blick, den heißkalten Blick, die bebenden Finger, die mit derselben Gier sie spinnengleich umgarnt hatten, dieselbe konzentrierte Aufmerksamkeit, dieselbe bebende Besessenheit drückte sich in seinen Zügen aus. Noch brannten ihre Arme von Wolfgangs starken Griffen, Adalberts Hände waren greisenhaft, trocken wie verkohltes Holz. Sie sah die Einzelheiten der Veränderungen, die mit ihm vor sich gegangen waren, sie gewahrte die vergeblichen Verjüngungsversuche an dem gealterten Körper. Zum ersten Male fühlte sie zu tiefst das Abnorme ihres kindlichen Erlebnisses, es schnürte, es umpreßte ihre Kehle, es blies ihr den Atem stoßweise aus der Brust, es sträubte ihr Haar, als stünde der Teufel in Person vor ihr und tränkte die Luft um sie her mit Schwefelgestank. Und wie er nun lauernd von Tisch zu Tisch schritt, war ihr, als müsse sie gleich Simson Säulen umfassen und sich mit ihm und den Bildern in Trümmern begraben. Aber da stand er ja noch, da ging er ja noch, ohne sie zu beachten, umher und tat, als wäre dies alles doch schon unantastbar sein Eigen. Sie wollte, sie mußte ihn aufrütteln mit bösen Worten aus der Benommenheit seiner Gier. „Du bist also nur der Bilder wegen hergereist? Das ist wichtiger als ich es dir bin. Hättest mich vielleicht gar nicht aufgesucht? Man könnte ersticken in Verlassenheit. Wären Karinskis Briefe nicht, ich wüßte überhaupt nicht mehr, was Treue und Dankbarkeit ist.“
„Ach so, Dankbarkeit. Ich soll dir also dankbar sein. Ach ja, mein Kind. Bin ein wenig zerstreut. Diese süßen, kleinen Dinger da nehmen mich ganz gefangen. Einzig! Was sagst du von Verlassensein? Sagtest du nicht etwas Derartiges? Ich wollte dir übrigens von Givo erzählen, vom ancien ami .“ In diesem Augenblick bemerkte er eine Miniatur, die eine Brosche vorstellte, und ihn über die Maßen zu fesseln schien. „Nein, so ein Glückspilz, hat er dich erobert, dich Perle, Kleinod. Ja, sehe ich dich wieder!“ Er nahm das Bildchen zur Hand. „Wahrhaftig, du, du!“
„Givo,“ stieß Arabella hervor. „Was weißt du von ihm?“
„Und das hat er mir verschwiegen,“ sagte er, sich erregt zu Vögelchen wendend. „Ich hatte eine Unsumme für dieses Stück geboten. Aber nun werde ich es ja besitzen. Du wirst mir doch keine Schwierigkeiten machen, Bella?“
„Du wolltest mir etwas von Givo ...“
„Ja, ich glaube, ich habe es nun vergessen, mußt Angele fragen. Reden wir jetzt von Wichtigerem. Dieses Bild habe ich gesucht, gesucht! Warum hast du die Sammlung gekauft? Um deinem alten Freund Urbacher eine Freude zu machen, der sie bei dir natürlich am liebsten sehen wollte, der dich so gegen mich aufgehetzt hat, daß er sicher zu sein glaubt, daß ich sie nicht doch bekomme? Aber da hat er sich geirrt, nicht wahr, mein Liebling! Wir werden uns schon verständigen.“ Und in freudiger Erregung war er ganz nahe an sie herangekommen. „Wie schön du geworden bist, Bella,“ sagte er. „Und das gibt vor, verlassen zu sein! Hast wahrscheinlich täglich zehn Anbeter. Und sag, bist du, bist du noch immer so, so erpicht darauf, so inpitoyable?“ Er hatte sie umfaßt und blickte sie mit faunischem Lachen an. „Da hätte man ja im Notfall noch Glück bei dir. Im Notfall meine ich.“ Ihr war wie im Angsttraum, wenn man laufen will und nicht kann, wenn man schreien will und wie der Taubstumme lallt.
„Wolfgang,“ preßte sie hervor. „Wolfgang!“ Es war nur ein Gestammel, das der Junge draußen nicht vernahm.
„Wen rufst du da? Ist ein Retter in der Nähe, ein Ritter? Ich sagte es ja. Hab keine Angst. Aber Spaß beiseite, ich biete dir das Doppelte des Preises, den du für die Sammlung bezahlt hast, und lasse dir noch dazu einige Stücke.“
„Du und Karinski, ihr habt dafür gesorgt, daß ich keine Geschäfte zu machen brauche,“ sagte sie.
„Wenn ich dir nun sage, daß mir unendlich viel an dem Besitz liegt, willst du da mit Hilfe dieses Geldes, von dem du eben sprichst, willst du mit meinem Gelde —“
„Pfui!“ sagte Arabella und wandte sich ab.
„Sieh, Kind, du zwingst mich, so deutlich zu sein. Warum stellst du dich so feindlich, was ist plötzlich in dich gefahren?“
„Plötzlich?!“
„Ja, denn früher warst du es, die dankbar war, nicht von mir verlangtest du Dankbarkeit. Dankbar warst du mir, wie ich dir für wundervolle Stunden, Stunden, die mir nie wiedergekehrt sind, Arabella, die mich jetzt noch mit Schauern erfüllen. Nein, weiche nicht zurück, süßes Kind. Ich habe zu viel Ehrfurcht vor dieser Oase in meinem oft qualvollen Leben. Du hast mich beseligt, willst du mir jetzt einen Wunsch versagen, dessen Erfüllung dir keine Entbehrung, mir aber eine Sehnsucht stillt, die du nicht verstehen kannst. Denn sieh, Arabella,“ begann er leise, als flüstere er zu sich selbst. „Wirklich geliebt habe ich in meinem Leben nur diese blassen Frauen und Kinderbilder, die wie ein Hauch sind, daß jeder Blick schon Schändung bedeutet. Ja, die Wirklichkeit, sie ist willfährig, oder wenn sie es nicht ist, so ist sie nicht so wehrlos wie diese Gebilde, diese Opfer des Blickes! Könnte ich dir deutlicher sagen, was für himmlische Gelüste sie mir bereiten und erfüllen — —“ Seine Augen waren die eines Irren, seine tastenden Hände suchten die ihren. Eiskalt kroch es ihr an den Gliedern empor.
„Das ist ja Wahnsinn,“ sagte sie heiser vor Entsetzen.
„Ja, nenn’ es Wahnsinn, ein heiliger Wahnsinn ist es. Aber nur so sind wir glücklich, Bella. Das wahre Leben ist unerträglich. Sei behütet davor, den Mut, den Wahn aus deinem Leben zu weisen. Hast du nicht selbst dich betäubt, spieltest die Samariterin und glaubtest dem Elend abzubitten. So sei doch wieder Samariterin. Man spricht noch jetzt von dir in den Pariser Hospitälern. Wo ist deine Milde hingeschwunden? Gib, gib mir sie, die Bilder, diese süßen kleinen Elfenkinder. Gib sie mir, als hättest du sie mir geboren aus unserer Umarmung, Arabella, Ariel, süßer Ariel.“ Wieder war er ihr ganz nahe.
„Wolfgang,“ rief Arabella nun laut und befehlend, und diesmal gab die umklammerte Kehle den Laut frei.
Wolfgang trat ängstlich ein. — „Hier stelle ich dir meinen Stiefbruder vor,“ sagte sie bebend. Und zu dem Jungen: „Dies ist Herr Mannsthal. Es wird dich interessieren, ihn kennen zu lernen. Bitte, führe ihn dann zu seinem Wagen, er weiß nicht, wie das Schloß funktioniert an der Gartentüre.“ Sie war an die Bilder und Dosen herangetreten und warf ein schwarzes Tuch über einen der Tische. „Ich muß nun Vorkehrungen treffen, daß die Dinge sogleich verpackt werden und der Galerie zugestellt werden, der ich sie zugedacht habe.“
„Das wirst du nicht tun,“ rief in zornigem Schreck Adalbert.
„Wir sehen uns wohl noch, ehe du reisest, etwa heute Abend in der Oper,“ sprach sie, atemlos Fassung erkämpfend. „Man spielt ‚Les Contes d’Hoffmann‘,“ sagte sie mit böser Gleichgültigkeit. Sie nahm die Brosche, deren Anblick seinen Bericht über Givo verdrängt hatte, und steckte sie an. „Aber über die Miniaturen wollen wir dann nicht mehr sprechen. Es langweilt mich. Vielleicht erinnerst du dich aber dessen, was du mir von Givo sagen wolltest?!“
„Du bist schlagfertig geworden,“ sagte Mannsthal mit verbissener Wut. „Also, dies ist Wolfgang Gunter. Nicht übel. Diese Frau hat Talent, deine Mutter nämlich — — Grüße sie herzlich von mir. Wollen wir aber nicht alle gemeinsam zur Stadt fahren?“
„Ja, geht beide, nimm Wolfgang mit und bring ihn seiner Mutter. Vielleicht hat sie mit dir zu sprechen. Sie ist oft so ratlos in ihren Angelegenheiten. Ruf mir den Gärtner, Wolfgang. Ich bleibe noch hier. Auf Wiedersehen heute Abend!“
Sie sah ihnen nach, dem gealterten Mann und dem Knaben. Im Bestreben schlank zu bleiben war Mannsthal mager geworden. Sein Hals war gehöhlt, sein Rücken rund, die ehemals prächtigen Schultern hatten sich gesenkt wie ein morsches Gerüst. Arabella erschrak. Sie ersah das unbarmherzige Schreiten der Zeit. Einen Augenblick durchzuckte es sie wie Mitleid: Mag er sie haben, die Bilder. Dann erinnerte sie sich Urbachers. Seine Kinder hatte er sie genannt, um die er sich gesorgt hatte. Ihr war nun, als beschütze sie sich selbst in ihnen. „Aber es ist ja zu spät,“ murmelte sie, „längst zu spät.“
Der Gärtner kam, sie ließ die Truhen holen, die sein Herr zur Verpackung der Bilder bestimmt hatte. Sie selbst legte Hand an, bettete sie sanft ein wie in ein Grab. Als die Mappen daran kamen mit der Aufschrift P., zögerte sie. Sie blickte ins Feuer, beutegierig gab es den Blick zurück. Schon sah sie es die ungeheuerlichen Blätter verschlingen, da tauchte eine Nacht in ihrer Erinnerung auf. Von Givos Kind war sie gekommen, gebrochenen Herzens. Ein Kranker mit verzerrtem Blicke hatte sie umschlungen, während er auf ihren Knieen ein Buch hielt, in dem sie lächelnd blätterten. Eine böse Lust war in ihr sich zu erniedrigen, das Unrecht, das ihr geschehen war, zu rechtfertigen. Es gewährte Freude, diese lüsternen schamlosen Bilder mit Malpasse zu besehen und sich schamlos zu gebärden, während sie vor Scham verging. Gab es nichts Böseres noch, sich zu brandmarken, daß die quälende Anklage in ihr erstürbe?!
Dieser Stunde gedachte sie nun und ihre rächende Hand verschonte die Mappen. „Nicht an mir ist es, zu richten,“ sagte sie sich. Aber ihr Blick ins Feuer wurde unheimlich starr, visionär. Sie sah die Scheite knistern und stürzen. Es war ihr, als ginge dort unter stürzenden Balken sie selbst und die Welt zugrunde.
E ine Woche nach Adalberts Abreise erhielt Arabella eine Depesche von Karinski, die seine Ankunft meldete. Mannsthal hatte auch seine Hilfe angerufen, seine Frau zu bestimmen, die Miniaturen auszuliefern. Er hatte ihm nicht verschwiegen, daß es um ihre Nerven nicht am besten stünde. Eine plötzlich unüberwindlich gewordene Sehnsucht und Sorge hatte den Grafen zu Vögelchen getrieben. Auch er hatte sie fast zwei Jahre nicht gesehen. „Wer weiß, ob du noch lange frei bist. Ich mußte eilen,“ hatte er gesagt.
„Hängt meine Freiheit denn nicht von dir ab,“ fragte Arabella und schmiegte sich dankbar an ihn. Wie edel erschien er ihr neben Mannsthal, der nicht abließ sie in vielen Briefen um die Sammlung zu bitten.
„Um Johannis blühen manchmal die Bäume wieder, aber darum ist es doch nicht Frühling,“ sagte der Graf und zog mit wehmütigem Lächeln ein Schriftstück aus der Tasche. „Hier der Scheidungsbrief, falls du ihn brauchen solltest.“
„Ich habe einen Aberglauben gegen gut vorbereitete Dinge,“ erwiderte Vögelchen. „Behalte den Brief, mein Guter.“
Nachdem der Graf abgereist war, bemächtigte sich Arabellas fieberhafte Unruhe. Immer deutlicher fühlte sie das Ereignis nahen, Wetterleuchten zuckte in ihrem Blut.
Es war an dem Tag, der dem Eröffnungsabend des Gastspieles Calese voranging, als Arabella, von plötzlichem Lufthunger ergriffen, das Fenster ihres Salons öffnete. Ein föhnartiger Wind strich über die Bäume des botanischen Gartens. Sie beugte sich hinaus und erblickte am Ende der Straße einen Mann, der sich entfernte. Es durchzuckte sie seltsam. Im selben Augenblick hörte sie der Taube Flügelschlag und fühlte, wie sie sich auf ihre Schultern niederließ. Wie so oft neigte sie ihr die Wange und empfing ihre Küsse. Da plötzlich begann die Taube unruhig zu flattern, hob die Schwingen und schon flog sie über die Straße den Bäumen zu. Der Ruf erstarrte Arabella in der Kehle. Die Taube ließ sich auf einem der höchsten Gipfel nieder, um gleich wieder, wie gescheucht, in den dämmerigen Himmel aufzusteigen, wo sie schließlich, ein kleiner schwarzer Punkt, ihrem angstvollen Blick entschwand. Mit einem Schrei sank Arabella in Luisens Arme, die eben die Robe für den Theaterbesuch hereinbrachte. Nun lag sie in Tränen, von den jammernden Dienstboten umgeben, die alle die Taube lieb gehabt hatten. Der Portier war auf die Polizei gegangen und hatte Annoncen an die Zeitungen getragen, die dem redlichen Finder der Lachtaube Putzi, die ein goldenes Herzchen an einer Halskette trug, einen märchenhaften Finderlohn versprach. Arabella hätte am liebsten auf den Theaterbesuch verzichtet, um so mehr als Frau Gunter die Post sandte, Kopfschmerzen hinderten sie die Gräfin zu begleiten. Luise, das Kammermädchen, die nun gewiß war ihre Herrin vom Theater abholen zu dürfen, was ihr, einer Theaternärrin, schon Vergnügen bereitete, bettelte in ihrer eindringlichen Art, Euer Gnaden dürfe sich der Traurigkeit nicht hingeben. Im Theater würden die Frau Gräfin vergessen. „Vergessen, Luisel, was glaubst denn, mein Tauberl vergessen?“ Aber schon fühlte sie das Außergewöhnliche, das ihr geschehen sein mochte, ein Zeichen vielleicht, das sie annehmen sollte ohne zu klagen. Und sie mußte an all die Wunder ihres Lebens denken. Sie stand vor dem venetianischen Spiegel, in dessen geschliffenen Blumen die Kerzen sich funkelnd spiegelten. In ihren Augen glitzerten noch die Tränen, der Schmerz gab ihrem Antlitz etwas rührend Kindliches. Luise heftete ihr eine tiefrote Rose in die fahlblonden Wolken ihres Haares und öffnete die Schmuckkassette, die neuerdings von Karinski bereichert worden war. Aber Arabella wollte Trauer um das Täubchen und schob sie weg. Ach, nun würde sie der Calese schmerzdurchfurchtes Antlitz um so tiefer bewegen, da sie selbst sich so seltsam verworren fühlte im Rätselhaften. Die Qual um die Heimat, die sie von dem Tag an genährt hatte, als Givos Kampf an der Mutter Krankenlager begann, sie spürte sie nun zu einem Ende gesteigert. Wie der Vogel, dessen Flügel vor dem Ziel zu erlahmen drohen, während tief unten die Wellen des Meeres unerbittlich drohen, sah sie sich mit letzten Anstrengungen dem Ufer zusteuern, das ihr die Entscheidung bergen mußte.
W ien war nach der großen Börsenderoute, die so viele Existenzen gestürzt und bedroht hatte, rasch wieder aufgeblüht. Dem Luxus waren zwar die Flügel gestutzt worden und manch einer und mit ihm die Seinen, von der Höhe üppiger Lebensführung herabgestürzt, gewahrte, daß er aus den Trümmern einstiger Pracht nur innere Werte hatte retten können, etwa die Liebe zur Kunst und Wissenschaft, die Fühlung mit einer Welt, die ihre Grenzen erst dort findet, wo die Kultur aufhört. Dies gab den geistigen Menschen und den Leuten von Welt einen internationalen Zug, der auch geeignet war, chauvinistische Stimmungen auszugleichen. Die Kunst und ihre Altäre verbanden alle Welt. Ein Jahrzehnt nach dem „Krach“ aber hatte sich diese scheinbare Verinnerlichung zur Sensationslust vergröbert. Andere Schichten waren zu Reichtum gelangt und suchten es den Kultivierten gleich zu tun.
Als zu Anfang der Achtzigerjahre die berühmte italienische Tragödin Gabriela Calese ihr Gastspiel ankündigte, drängte sich Arm und Reich, die Jemands und Niemands, die Größen von gestern und heute, von morgen und übermorgen und alle, die ihnen so gern nachbeten, zu diesem Theaterereignis, neben ihnen der Troß ehrlich Begeisterter. Alle Vorstellungen waren vor Beginn der ersten ausverkauft. Das Phäakentum der Wiener trat offensichtlich zutage: man wollte, wenn auch des Genusses selbst nicht teilhaftig, zumindest Augenzeuge des Genießens der anderen sein. In allen Kreisen wurde zu dieser Zeit viel gewettet und gespielt. Der kleine Mann, ja selbst der Arbeiter spielte und das leicht erworbene und leicht verlierbare Geld wurde sorglos wieder ausgegeben. Wenn „etwas los“ war, gebot es der Lokalpatriotismus mitzutun. Manch einer, der sein Volk liebte, sah es mit Sorge hinter dem Fortschritt der anderen mit leichtfertiger Gleichgültigkeit zurückbleiben und war erschüttert über seine soziale und politische Teilnahmelosigkeit. Die demokratische Gemeindeverwaltung, in der es noch keine konfessionelle Spaltung gab, versuchte, selbst ohnmächtig, ihre verirrte Herde aufzurütteln. Ein Sturmwind mußte es sein, der diese wurmstichige Gesellschaft erfassen, sie aufzurütteln vermochte, und kein Wunder, wenn er wie ein Springteufel der eigenen Fahrlässigkeit entfuhr! Sorglos wie immer war man ins Theater gegangen. Das Parkett, das Parterre, die Logen waren ein Wogen und Murmeln von Farben und Stimmen, von blendenden Frackhemdbrüsten, dekolletierten Frauen, ein Nebeneinander ergreifender Geschmacklosigkeit und erschlaffter Eleganz. Emporkömmlinge mit dem Bedürfnis nach Beglaubigung blähten sich neben schlichter Echtheit. Die Galerien sahen ganz fern aus, unheimlich hoch schienen sie aufzusteigen. Türme von Menschen bergend, Abgesonderte, die möglicherweise ein verworrenes Sprechen erhaschen würden, aber jedenfalls anwesend waren als Publikum des Publikums. Flaubert hat irgendwo gesagt: „Lieben wir uns in der Kunst wie die Mystiker sich in Gott lieben und möge alles vor dieser Liebe erblassen.“ Auch der Neid möge es, der blasse Neid, der zwischen Orden, Frisuren, Schleppen und Bücklingen vor den Altären der Kunst sein Spiel treibt. Mit Schadenfreude sahen die Menschen, die einander so sattsam gut kannten, wie eine fremde Erscheinung ihren Glanz verschattete. Es trat ein mittelgroßes, überschlankes Persönchen ein, das blonde Lockenhaar mit der roten Rose verdeckte fast das schmale Gesicht. Der vom Karminstift leicht gestreifte Mund verriet die Sitte der Ausländerin, die sich ihrer Schminke nicht schämt; dennoch hatte er etwas Rührendes, es zuckte noch ein Schmerz um seine Winkel. Der weiße Atlas des Kleides nähte sie der letzten Mode nach eng ein. Eine entzückende Eleganz und Originalität lag in der fast hageren Erscheinung. Der Gang stolz und doch sieghaft leicht, die Haltung des Kopfes mädchenhaft und dennoch fast königlich. Von solchen Frauen denkt man, sie seien eines Großen heimliche Beherrscherin; ihr Thron ist gebaut über dem sichtlichen, dem Fürsten dienen. Eine Seele vibrierte hier durch den Körper und verklärte ihn. „ Un prétexte pour qu’une âme restât sur la terre ,“ hatte Givo seinen Freund Hugo zitiert, als er einst mit Hettwer Arabella betrachtete. Die Dame nahm Platz, lehnte sich zurück, leicht den Kopf erhoben, den Blick in die gemalten Ranken des Vorhanges verloren und so wie abwesend sich scheinbar vor der Neugier bergend. Man hat sie vielleicht schon im Prater gesehen. Ist es nicht dieses Mädchen, diese Frau mit dem schönen Kutschierwagen? Wer mag ihr Mann, ihr Geliebter sein? Ist sie eine Französin, eine Russin? Aber mit einem Male reißt unter den vielen ein einziger Blick sie auf. Sengend packt er sie, bis ins Tiefste dringt er ein. Es ist ihr, als müßte sie aufstehen und ihm entgegentaumeln. Er zwingt sie ehern, sie fühlt ihn über ihre Haut tanzen mit kleinen blauen Flammen. Er ist ihr ganz nahe dieser eine Blick, ganz innen in ihrem Sein, aber wo, wo ist er, der ihn zückt, noch sieht sie ihn nicht, wagt ihn nicht zu sehen unter den Vielen! Er reißt ihr die Haut blutig, er wühlt in ihr, er gräbt sich in sie. Ihr Widerstand ist vergeblich, immer näher weiß sie ihn. Dort, dort ist es, dort starrt einer her aus leichenblassem Gesicht, brennt seinen Blick auf sie hin. Neben einer schwarzhaarigen Frau steht er, die unruhig geworden ist, steht vornübergebeugt über der Brüstung der Loge und reißt ihren Blick zu sich, in die Flamme des eigenen hinein. Seine Gestalt ist noch immer die eines Jünglings, seine Züge sind zart und von leuchtender Geistigkeit, nur die Augen, die Augen haben etwas vom ewigen Feuer, das durch alle Zeiten brennt. Eines Wetterleuchtens Widerschein liegt um Stirn und Schläfen. Aber jetzt ist die Flamme dieses Auges nur einem Ziel entzündet. Und nun weiß die Gräfin Karinska, von wo der Blick ruft: Arabella weiß, daß Manuel sie erblickt. Doch seltsam, fast im selben Augenblick wird ein eigentümliches Sausen im Theater hörbar, vor den ersten Bänken steigt ein kleines Rauchwölkchen auf, der Vorhang bäumt sich wie eine flatternde Fahne, eine unheimliche Stille tritt ein. Eine Stimme schmettert über die Menge fanfarengleich: „Feuer, Feuer!“ Im Nu sind die Menschen ein zäher, drängender Knäuel, zusammengeballt von der Faust der Gefahr. Angst ist aus jedem als eine einzige Gewalt gepreßt, zu einem einzigen Ziele drängend, vorwärts, zur Tür, an die Luft, ins Leben. Über eine Logenbrüstung schwingt sich ein Mann, stürzt sich in das Gewühl des Parterres, der Todesgefahr und seinem brennendsten Wunsch entgegen. Versteinert starrt die Frau, die ihn halten wollte, der eigenen Rettung nicht achtend, ihm nach, entgeistert von einem Schrecknis, das nur sie empfindet, im Schrecken aller. Schon strahlen die goldenen Karyatiden der Brüstungen in feenhafter Beleuchtung. Zwei Choristinnen in Flitterkleidchen flattern wie von der Zugluft der Flammen getrieben über die leere Bühne. Rauch schlägt schwarz aus der leuchtenden Lohe und schwingt sich auf zu den Galerien. Das Entsetzen ist zum Schrei aus hundert Kehlen geworden. Menschen stürzen zur Erde und sind nur ein Sprungbrett der Nachdrängenden. Doch wehe, plötzlich stockt das Drängen. Gänge und Türen sind zu klein, alles kann nicht hinaus an die Luft, in die Freiheit aus der Umarmung des Todes in das Leben. In Verzweiflung drängen sie anderen Wegen zu, geraten in Sackgassen und entlegene Räume und überall schwärzt der Rauch den Weg. Sie gelangen in Gänge, die sich labyrinthisch verwirren, hinauf, hinunter, von Grauen gepackt und verwirrt, durch Fenster winkt für viele nur Rettung, denn der Weg zurück ist abgesperrt vom todbringenden Qualm. Ersticken droht. Fast scheint es, als würde es allen Menschen gelingen, aus dem Innenraum in Gänge und Seitentrakte gedrängt, sich dem Ausgang zu nähern, da erlischt das Gaslicht. Die Notausgänge bezeichnet keine wachende Lampe. In entsetzlicher Finsternis sind die Menschen aneinandergepreßt, zu grauenvoller Gemeinsamkeit ineinander verkrampft. Dunkel versperrt ihnen den rettenden Weg. In grausamem Ringen drängen Männer Mütter zurück, reißen einander Kleider und Haut in Fetzen. — In der Stadt hat sich blitzschnell die Nachricht des Brandes verbreitet. Pferde vor schleudernden Wagen rasen, Schaum vor dem Munde, durch die Straßen. Fenster öffnen sich, Rufe, Fragen werden getauscht. Wer ein Liebes dort im Theater vermutet, stürzt besessen davon.
Frau Martha Gunter hatte abgesagt Arabella ins Theater zu begleiten. Kopfschmerz, ihr altes Übel aus nervenzerrüttender Zeit, hatte sie tagsüber geplagt. Abends hatte sie sich erleichtert gefühlt und saß nun still versonnen beim Abendessen. Wie wohl es das Schicksal doch mit ihr gemeint hatte, daß es ihr die Tochter wiedergegeben, als der Mann ihr verstarb! Und wie gut sie war, wie schön, ihre Tochter, ihr großes Kind. Auch der Groll gegen Mannsthal, der wie Asasel, der Böse, ihr Leben verschattete, war gewichen: denn Arabella war unversehrt. Sie war zwar traurig zuweilen und eigen, aber kindlich war sie geblieben und verderbt schien sie ganz und gar nicht. Und wenn sie jetzt auch einsam lebte, was absonderlich war für ein Wesen ihrer Art, so hatte das gewiß seine guten Gründe. Instinktmäßig erriet Frau Gunter in Arabellas Leben dennoch den Mann. Aber fragen, nein, das konnte sie nicht. Wie hätte sie es über sich gebracht, dies Kleinod, diesen späten Sonnenstrahl zu beunruhigen, zu verscheuchen! Qualvoll schon war der Gedanke, sie wieder verlieren zu können! Da war plötzlich ein Raunen und Rauschen auf der Straße vernehmbar geworden, fast gleichzeitig kam Luise, Arabellas Kammermädchen, mit dem Schreckensgerücht und war von der alten Dienerin sogleich weggeschickt worden, nach Hause zu laufen, ob ihre Herrin zurückgekommen sei. Sie erblickte, als sie eintrat die gefährliche Botschaft zu melden, Frau Gunter am geöffneten Fenster. Sie mußte von der Straße her die Nachricht vernommen haben. Sogleich brachte die alte Magd Mantel und Schal. „Vielleicht bringt man sie hierher. Gott gebe es, daß sie heil ist,“ betete die Mutter. Sie wollte Luise nicht abwarten. So eilig sie konnte, lief sie den Ring entlang zwischen den erregten Menschenmassen. Feuerschein stieg zum Himmel und sengte ihr ins zitternde Herz unaussprechliche Angst. Atemlos kam sie näher und näher. Aus drei Feuerherden vom Parterre, dem Dach, den Galerien, loderte wie aus Riesenessen der Brand. Noch war die Feuerwehr nicht in voller Tätigkeit, da sieht die bebende Frau hinter der Statue, die den Dachfirst krönt, die Flamme durchbrechen und in entsetzlicher Gewalt steil zum Himmel steigen. Auf den Balkons, an den Fenstern erscheinen Menschen, ihr Schrei erstickt im Prasseln, gleich Gespenstern strecken sie Hilfe erflehend die Arme in die Höhe, schwarz sich von den Flammen ihres feurigen Hintergrundes abhebend. Jedes Fenster, jede Türe verhüllt ein Flammenvorhang, das feurige, gierige Maul frißt rückwärts die Treppen ab, läßt nur die eisernen Träger zurück und die Gitter, die in Schlangen und Feuerblumen phantastisch glühen. Das Zischen der Flammen übertönt das Krachen des Gebälkes. Um das brennende Haus steht immer noch anwachsend die Menge der Stadt. Dampffeuerspritzen arbeiten, Löschtruppen, Wachleute, Männer aus dem Volke dringen in die feurige Hölle, um zu retten. Funkengarben fliegen ins Weite, auf brennender Zunge tragen sie die Botschaft. Hilflos unter Hilflosen laufen die Leute um das prasselnde Haus, ziehen die stürzenden, erstickenden Menschen aus dem Gewühl, laben die Verschmachtenden, raffen Tote hinweg, trösten Besorgte. Ein alter Mann in feinem Pelz steht neben der bebenden Frau und ruft mit der gebrochenen Stimme des Greises in französischer Sprache: „ Es-tu en haut, Julie? “ Die Leitern kommen. Sie sind zu kurz. Dunkelheit und Rauch verschlingen die wechselnden Vorgänge, wenn nicht blitzartig die Flammen sie erhellen. Nun breiten sich die Sprungtücher. Ein Mann in Hemdärmeln kriecht längs des Balkongeländers, steht auf einmal aufrecht, wendet sich und verschwindet. Inmitten der Menge unten steht ein Statist in rosa Trikot. Er dreht sich unaufhörlich, wie ein brennender Kreisel, ein Spielzeug, das auch Musik machen kann. „Arabella,“ ruft es da; eine zitternde, des lauten Rufens ungewohnte Stimme preßt den Schrei hervor. „Arabella!“ Keine Antwort. Und wieder, wieder ruft es gellend vor Angst, ein Mutterschrei: „Arabella!“
In den umliegenden Kaffeehäusern sammeln sich Leute an, die, erschöpft oder leicht verwundet, mangelhaft bekleidet, die Brandstätte verließen. Damen in Soireetoiletten, Offiziere in Waffenröcken, Herren ohne Übermäntel, Schauspieler in Kostümen, grellgeschminkte Statisten und Statistinnen strömen in die Lokale, sich vor Kälte zu schützen. Vielen wird erst jetzt die Todesgefahr bewußt, der sie entronnen. Grauenhafte Schilderungen erhitzen die Gemüter. Angst treibt Geängstigte wieder hinaus. Blutiger Schein dringt durch die Fenster, das jüngste Gericht scheint hereingebrochen, das Gottesgericht. Auf seinen Armen trägt ein schlanker Mann in zerfetztem Abendanzug eine weibliche Gestalt. Ihr Blondhaar ist aufgelöst, beschmutzt ihr weißes Kleid. Ihr Kopf ist an die Schulter des Retters geschmiegt. Nun setzt er sanft seine Last ab, bettet sie auf eine Wandbank. Auf ihre Wange hat das Feuer sein Mal gezeichnet. Nun kniet er vor ihr, forscht nach der Verwundung. Noch haben sich ihre Arme nicht von seinem Nacken gelöst. Seltsam ist ihr Blick, als sähe sie das Wunder blickt sie ihn an. Nun senken sich die Lippen zu einander, bleiben lang im Kuß geeint. Die beiden wissen nicht, was um sie ist. Draußen tobt Feuer. Durch seine Schrecken sind sie ins Leben gelangt, Herz an Herz geschmiegt, verklammert zu einem Körper haben sie die Wiedergeburt ihrer Vereinigung erlebt. Nun erwacht der Mann, er erinnert sich, daß, ehe das Große geschah, das Wiedersehen mit der Geliebten, neben ihm eine Frau geweilt hat, seine eigene ihm angetraute Frau. Er greift sich an den Kopf, er reibt sich den Rauch aus den Augen, er stürzt davon. Er eilt nach Hause ins Hotel. Die Frau ist nicht heimgekehrt. Nun ist Givo zur Brandstätte zurückgestürzt. Da hört er den Schrei, den geliebten Namen „Arabella“. Rasch drängt er sich in die Richtung des Rufes, da erstickt der Schrei. Ihre Mutter muß es gewesen sein. So ruft nur eine Mutter. Er reckt sich auf und antwortet der Stimme. Laut schreit er, jubelt er, wiewohl er die Ruferin nicht sieht, nicht findet. „Arabella ist gerettet. Vögelchen ist gerettet.“ Die Frau preßt die Hände an die Brust. Wer antwortet ihr? Ist es Gottesstimme, welches Wunder geschah ihr? War es die Stimme eines Lebenden? Sie wankt. Halb entgeistert führt die Beseligte ein Herr hinweg.
Als Arabella aus der Ohnmacht erwacht, steht ein Fremder neben ihr, hält ein Stück einer Pelzboa in der Hand, sein Haar ist versengt und er ruft unaufhörlich mit heiserer, tränenerstickter Stimme, wie ein Papagei, den man um seinen Namen fragt: „Mali! Mali! Meine Mali! Sie brennt drin, Mali!“ Man bringt ihn fort. Arabella will denken, will sich mit Angst und Gebet ins Feuer tasten. Stimmen übertönen die mühsam gesammelten Gedanken. Zwei Schauspielerinnen am Nebentisch erzählen laut, erregt: „Wir sitzen in unserer Garderobe, schminken uns für die Vorstellung, da stürzt ein Herr herein und schreit: Wo ist ein Ausgang? Ich erwürge Sie, wenn Sie mir nicht den Ausgang zeigen. Wir glauben, daß es ein Wahnsinniger ist, er stürzt davon. Kein Wort vom Feuer. Nach zehn Minuten erst hören wir ein Raunen. Ich öffne die Türe. Das Haus brennt!“ Arabella richtet sich auf.
„Wo ist die Calese?“
„Sie hatte ja erst im zweiten Akt aufzutreten. Man sagt, sie schläft vor den Vorstellungen und meist nicht allein. Man hat oft darüber gespottet. Das hat sie gerettet.“
Wie durch einen Nebel hört Arabella der Calese umflorte Stimme: „Alles ist vorbestimmt, wozu sich wehren!“
Ein Herr jammert: „Sie sagen, alle seien gerettet, das kann nicht sein. Ich sah Hunderte, die so erschöpft waren, daß sie nicht mehr kämpfen konnten. Ein Verbrechen wurde begangen, Fahrlässigkeit ist Verbrechen, böser als Totschlag, wenn Hunderte daran zugrunde gehen.“ „Schicksal ist es, Gericht Gottes,“ schreit eine alte Jüdin, die bisher heulend wie ein Klageweib dagesessen. „Mein Ignaz!“ Arabella horcht auf. „Schicksal? Gottesgericht um den Tod der anderen? Jahrelang habe ich mich gequält, zu wissen, was ich, was ihm die andere wert ist. Mußte eine Volksmenge brennen, daß ich die Wahrheit wisse, daß er mich rettet und nicht sie?“
„Was Schicksal,“ schreit da ein Offizier. „Eine Schweinerei ist es, eine verantwortunglose Schweinerei! Wer schwätzt hier noch? Die stark genug sind, mögen retten und laben, wer schwach ist, halte Ruhe oder schleppe sich nach Hause.“ Arabella erhebt sich. Ja, auch sie will retten, will ihm nach. Kann sie ihn verlieren jetzt? Nein, er wird leben, muß leben. Sie steckt rasch ihr Haar auf. Ihre Kniee zittern, sie muß sich festhalten, ehe sie den Ausgang erreicht. Draußen schlägt ihr der glühende Atem des tobenden Elementes entgegen. Die Wange schmerzt und auch am Knöchel ist sie verwundet. Sie fühlt, wie das Blut, wie den falschen Schwestern Aschenputtels, ihr in den Atlasschuh rieselt. Aber darf sie, die noch aufrecht geht, etwas anderes wollen als helfen? Der Offizier hat recht. Sie drängt sich durch die Menge dem Brandplatz zu und je näher sie kommt, desto wacher wird sie. Nun zweifelt sie nicht mehr. Er ist zurück in den Brand, er sollte nicht unter den Rettern sein, sollte seine Frau nicht retten wollen, die er um ihretwillen zurückgelassen hat? Eine wahnsinnige Angst packt sie, schüttelt sie mit dem Frost zugleich. Das Gedränge wird immer stärker. Wachleute haben einen Kordon gebildet. Sie lassen niemanden durch. Man trägt schauerlich entstellte Leichen an ihr vorüber. Neben ihr schreit ein etwa zwölfjähriges Mädchen, dessen offene Haare halb verbrannt sind, herzzerbrechend: „Mama, Mama!“ Arabella nimmt das Kind an der Hand. Der fremde Schmerz gibt ihr Kraft. Sie führt die wankende Kleine zur Seite, trocknet mit ihrem Taschentuch das Blut, das ihr von der Schläfe rinnt, läßt sich von der Schluchzenden erzählen, daß sie die Mutter in der Finsternis des Hauses verloren, noch oben auf einer Stiege, die zum Dache führte; ein Mann habe sie hinausgetragen und hier abgesetzt. „Du mußt gleich nach Hause, vielleicht sind die deinen schon zu Hause und sorgen sich. Ich führe dich.“ Arabella geht mit dem fremden Kinde durch die Straßen. Sie weiß, das, was sie hilft, ist nichts, doch Tun ist Rettung vor dem Denken und Wissen all des Entsetzlichen. Wüßte sie Givos Wohnung, sie ginge hin, selbst wenn sie der Frau begegnen müßte, und wartete dort ab, sähe Noemi, beruhigte sie, wenn sie Angst hätte, weil Vater und Mutter nicht kommen. Und nun ist ihr, als führe sie Noemi an der Hand, wie sie so mit dem fremden Kinde dahingeht. Es wohnt nur eine Viertelstunde weit, aber der Weg dünkt beiden endlos. Aus dem Hause, auf das die Kleine lossteuert, läuft ein Herr. Das Kind stürzt ihm entgegen. Da versagen Arabellas Kräfte. Sie kann nur rasch den Helfenden die Adresse ihrer Mutter sagen, dann weiß sie nichts mehr.
Überall sind nun die Eingänge in das brennende Haus von drängenden Menschen verrammt, von übelriechendem Qualm und Finsternis. Givo aber hat sich einen Weg erkämpft, eine Türe reißt er auf, da fährt er entsetzt zurück, über eine Stiege kommt glühendes Blei geflossen, in Kaskaden springt es daher. Ein Ausgang wird endlich freigelegt, Beamte, Feuerwehrleute, Offiziere versuchen mit Fackeln einzudringen, manch einer kehrt wieder um, aber Givo tastet ihnen nach und bald ist er im Innenraum, sucht in den entsetzlichen Trümmern die Logen zu erkennen. Aber von oben her sind die Galerien herabgestürzt und der Platz, der ehemals das Parterre vorgestellt, ist ein entsetzlicher Trümmerhaufen von qualmendem Holz und Menschenresten. Noch ist die Hitze und der Rauch so groß, daß ein übermenschlicher Wille nur das Vordringen möglich macht. Grauenvoll ist der Anblick der ragenden Traversen der Galerien, an denen Leichenteile hängen, hohnvoll sind noch da und dort metallene Schnüre zierlich um verkohlte Stoffdraperien geschlungen, glühend schmelzende Gasrohre ragen wie feurige Bäume empor. Givo weiß, in diesem Hause ist niemand mehr am Leben, auch Zora nicht, wenn sie nicht gleich die Loge verlassen hat, von der aus sie sich leicht hatte retten können. Aber er folgt den Männern und, wo sie eingreifen um Leichen zu bergen, ist er an erster Stelle. Dann fällt ihm ein, daß Zora seither in ihre Wohnung zurückgefahren sei und ihn dort erwarten mochte. Er sieht es wieder vor sich, wie sie ihn am Arm faßt, um mit ihm hinauszudrängen, und er sich losreißt, über die Brüstung ins Parkett springt und in rasender Angst, er könne die fliehende weiße Gestalt aus dem Auge verlieren, nach rückwärts drängt, wo sie durchkommen muß, ehe sich der Weg vor dem Ausgang teilt. Wie er dann, auf einem Sitze stehend, um nicht abgedrängt zu werden, Arabella zuruft und winkt und — Ewigkeit dünkten ihm diese Augenblicke — endlich sie in seinen Armen hochhebt und hinausträgt. Im Gang draußen, im atemberaubenden Gedränge erlischt das Licht. Arabella sprach nicht, sie preßte nur fester die Arme um seinen Nacken, zwischen Qual und Gefahr fühlten sie traumhaft das unfaßbare Glück des Wiedersehens. Dann trat die Stockung ein und erst da, im endlos scheinenden Warten, wußte er, daß er nicht beide mehr retten kann, die Geliebte und die Frau. Blitzschnell hatte er es überdacht, Arabella, die Gefährdete, hinauszutragen und gleich dann nach Zora auszuschauen, die den näheren Weg ins Freie hatte. In der Finsternis aber hätte er Zora nicht wiedergefunden. Und ebensowenig vermöchte er nun nach Stunden eine Spur von ihr zu erblicken. Ein grausiges Abwarten steht ihm bevor, falls er die Frau nicht zu Hause findet. Als man im Hotel die Frage, ob seine Frau heimgekehrt sei, verneint, fühlt er nicht Schmerz und Sorge um sie, die vielleicht durch seine Schuld zugrunde geht. Er weiß nur dumpf das Elend der vielen dort; das seine ist ein Teil von dem ihren. Die englische Bonne, die über Noemis Schlaf wacht, weiß nichts vom Feuer. Er sagt ihr rasch, was geschehen ist und daß er zurückkehre zu helfen und zu bergen. Für Zora nichts. Er zweifelt an ihrer Rückkehr. Er hat sie aufgegeben.
Die folgenden Tage vergehen unter Nachforschen zwischen entstellten Leichen und Leichenresten auf der Brandstätte, in Spitälern und Totenkammern. Von verkohlten Klumpen, zerbrochenen Skeletten, deren Gesichter keine Spur mehr eines physiognomischen Ausdruckes trugen, nährte sich stundenlang sein suchender Blick. Hier und dort klebte noch ein Fetzen eines Kleidungsstückes, an manchen Fingern glänzte ein Ring. Auf der Brust lag manchem das vorgefundene Geld, das in der Hitze seine Formen verändert hatte. Das Kind war neben dem Greise gebettet, der Handwerker im Kittel neben der reichgekleideten Dame, um die noch goldene Ketten hingen, kunterbunt waren sie aneinandergereiht, furchtbar zur Strecke gebracht. Aus dem entsetzlichen Gemenge verkohlter Leichen wurde in den Foyers nach Reliquien gesiebt und geschaufelt. Weniges nur bot Anhaltepunkte zur Agnoszierung der Toten. Eine kleine rührend zarte Hand fand sich, die Hand eines Kindes oder einer jugendlichen Frau, verkalkt und am Gelenk abgetrennt, die Nägel schmal und gepflegt. Givo erschrak, denn sie erinnerte ihn an Vögelchens Zartheit. Inmitten des Grauens stürzte er weg, um sich zu vergewissern, daß sie lebe, daß sie nicht etwa, aus Angst um ihn sich in den Brand wagend, ihr Leben verloren hat. Wieder stand er vor ihrem Hause, zu dem ihn vor dem tragischen Wiedersehen schon Sehnsucht getrieben hatte. Er erfuhr vom Portier, daß die Gräfin bei ihrer Mutter sei, er hätte Auftrag ihn zurückzuhalten, falls er Herr Givo wäre. Aber Imanuel kann und will nicht, will Arabella nicht sehen, bevor die traurige Arbeit nicht zu einem Ende gekommen ist. Eine schauererregende Ausstellung muß er besuchen. Auf weißen Porzellantellern liegen im Polizeihause die gesammelten Reliquien der Toten. Kleiderfetzen, Schmuckstücke, Sacktücher, Schlüssel, Kämme, Liebespfänder, allerlei Kleinigkeiten, die man bei sich zu tragen pflegt. In einem Zimmer ist auf Tischen eine große Anzahl von Uhren zur Schau gestellt. Manche ticken noch laut, als wäre ein Rest vom Leben ihrer Besitzer in ihnen zurückgeblieben. Geisterhaft stille und laut erregte Menschen irren mit Givo zwischen den tragischen Resten. Traurige Gewißheit wird manchem zuteil, der die armseligen Überbleibsel des Vermißten wiederfindet. Aber Givo, wiewohl er vor dem Schauerlichsten nicht zurückschreckt, um eine Spur zu finden, erforscht nichts. Ist Zora — immer wieder kommt ihm dieser Gedanke — freiwillig verschwunden, wie sie so oft gedroht, wenn ihre Nerven anstürmten gegen Givos kühlen Frieden. Aber sie, die sich einen Künstlernamen erworben, konnte sie im Leben untertauchen, als wäre sie wirklich verbrannt, konnte sie zu einem ungenannten Stäubchen werden, sie, die mit aller Kraft nach Ruhm gestrebt?
Machte sie es wahr, was die Asketen ihrer Sekte predigen, aufzugehen im lebendigen All, ein heimlich beseelter Teil, sonst nichts? Und Noemi, deren Zärtlichkeit sie nur ungern geduldet, würde die sie nicht aus ihrem Verborgensein locken? Er wußte dies eine: wo immer sie war, sie hatte verschwinden wollen. Rettung war ihr möglich gewesen trotz aller Verhängnisse. Zunächst dem Ausgang war ihre Loge gelegen. War sie um seinetwillen, um der Gefährdung willen, in die er sich begeben, zurückgeblieben? Es kam keine Antwort auf diese Fragen.
„So jemand zu mir kommt
und haßt nicht seinen Vater,
Mutter, Weib, Kinder, Brüder,
Schwester und dazu sein eigenes Leben,
der kann nicht mein Jünger sein.“
(Lukas 14, 33.)
A rabella, deren Nerven schon vor der Katastrophe mit Hochdruck gearbeitet hatten, fand kaum die Kraft sich all des Entsetzlichen zu besinnen. In ihren Fieberträumen sah sie ein blutendes Feuermeer und daraus hervorsteigen ihn, den Geliebten, den Erwarteten, das Heiligtum ihrer Liebe zu Himmeln entführend, die kein Rauch mehr von irdischem Geschehen berühren kann. Und sie sah wahr, Givo hatte sie gerettet, hatte nach jahrelanger Trennung das Kleinod seines Gefühles aus dem brennenden Unheil getragen. Wie körperlos war diese Rettung, nicht die Frau hatte er dem Untergang entrissen, das Weib, das er besitzen wollte, die Hülle war es seines geheimen Heils, das er durch Jahre der Kämpfe, der Sehnsucht hinter siebenfach verschlossenen Altären anbetend verwahrte. Ihn verlangte nicht nach Lebendigem. Was er über die Gräfin Arabella Karinska erfuhr, das hatte wenig gemein mit dem Gral seiner Seele. Eine junge Frau, vom Geld ihrer Anbeter in einem kleinen Palast lebend — Vollblutpferde, die ein niedliches Kammermädchen mit Zucker füttert, scharren vor dem Tor — während oben ein Fenster sich öffnet und die Herrin zusieht, wie es den Lieblingen mundet: so hatte, im Parke verborgen, Givo, der Mann, der nach der Geliebten Sehnsucht trug, sie erblickt. Eine verwöhnte Frau, die nichts mehr weiß vom Jammer der Welt, von den Elendvierteln von London, den Judenverfolgungen in Rußland, dem Sklavenhandel und der Nachtarbeit der Fabrikskinder. Zwischen seinem Leben und Streben und dem ihren, das im Luxus versandet, liegt eine Welt. Aber ihre Seelen wissen nichts von dieser Kluft, sie leben vereint untrennbar, unentwirrbar. Daß er sie retten konnte und darob Zora verlor, daß diese ins Unerklärliche verschwand, es erstaunte ihn nicht. Nichts war ihm wunderbar, ihm, der im Wunderbaren lebte, ihm, der Erden des Schmerzes wie unter den gekrampften Händen eines ohnmächtigen und dennoch unablässig schöpferischen Gottes tief unter sich zucken fühlte. Wie weit war er gewandert seit jener Nacht, da ihm das lichte Vögelchen mit dem zuweilen so schwermütigen Gezwitscher entflogen war! An die Gestade mythischer Welten war er gelangt. Er schrieb ihr:
„Geliebte, ich sende Dir mein Kind. Seine Mutter ist tot, verschwunden. Sie war eine Unglückliche. Ich habe, wie Du weißt, auch meine Mutter getötet, nun diese Frau. Laß mich Dir fern bleiben. Ich tauge nicht zu Frauen. Mein Weg ist nicht wirtlich. Bleib fern ihm! Ich will Deine heiligen Füße nicht blutig sehen im Dornengestrüpp dieses Weges. Du sollst die Musik der Sphären mit mir teilen, nicht das Wimmern der Menschenqual, das meinen Tag einsingt: Wenn mein Kind bei Dir Heimat fände, wie dankte ich es Dir! Sei ihm, was Cecile Dir einst war. Ich komme, wenn ich nicht mehr besessen bin von den Bildern des Grauens, die in den Leichenkammern der Verkohlten sich in meine Augen brannten. Ich komme, Dich zu umarmen und zu — gehen. Dein
Givo.“
Luise meldet einen Herrn. „Ein Herr in Uniform, von der Marine,“ sagt sie. Arabella liegt müde danieder und immer schreckt sie zusammen, wenn es läutet, denn sie erwartet Givo. Zuerst meint sie, wenn er käme, würde alles gut, die Vereinigung vollendet, wenn er auch vom Gehen schrieb, aber wie sie so lange wartend liegt, kommt wieder Hellsichtigkeit über sie und sie weiß, daß sie ihn nicht wieder gewinnen kann. Die Stunden schleiern wie Asche auf sie herab und sargen sie ein. Als Luise den Marineoffizier meldet, weiß sie gleich, daß es Normayr ist. Sie hat ihn nicht gesehen seit jener Fastnacht, nur einmal dem immer in der Ferne Versprengten einen Gruß durch einen Kameraden gesandt. Nun ist er gekommen, weil er in Triest, sich eben ausschiffend, in den Zeitungen las, daß auch sie im brennenden Theater gefährdet gewesen. Seltsam, oft muß sie an ihn gedacht haben, denn er ist ihr nicht fremd; sie fühlt plötzlich eine stille Geborgenheit, die von seiner Ruhe ausgeht und die ihr die Qual der Wartestunden nimmt. Und obwohl das Gespräch konventionell bleibt, ist eine verborgene Herzlichkeit, eine wissende Wärme unter den Worten geborgen: die Hoffnung auf ein sicheres Wiedersehen zu ruhigerer Zeit. Wie er dann gegangen ist, um bald wieder sich für eine Nordpolexpedition einzuschiffen, rinnen rasch, sie selbst überraschend, Tränen über ihre Wangen herab. Sie weiß selbst nicht, wem sie gelten, ihm, Givo, sich selbst. Dem Leben wohl, dem Leben!
Und tagsdarauf stand ein blasses Kind mit großen, stillen Augen und dem lieblichsten Mund neben seiner englischen Nurse vor der Türe der fremden Gräfin, bei der es nun wohnen sollte. „Gehen wir nicht hinein?“ fragte es. „Oh luk!“ Die Kleine hatte glückselig den Papagei erblickt. Arabella hörte den Ausruf des Kindes und stürzte aus ihrem Bette, ihrer entkräfteten Glieder wieder mächtig. „Mein Kind, mein Liebling!“ Noemi erschrak nicht. Die Frau im weißen Gewand mit dem blassen Dulderangesicht glich einem Engel. Es kam ihr eine Erinnerung, ohne daß sie es wußte, und unwillkürlich griff sie an ihr Perlenkettchen. Dann sagte sie leise der knieenden Frau, auf die Wange deutend, in deren Blässe das Feuermal brannte: „Was hast du da? Tut es weh?“
„Nein, Kind, nein, nichts schmerzt mehr, denn nun bist du ja bei mir, bei mir,“ und sie verbarg ihr Antlitz in der Kleinen Lockenhaar.
Etwa drei Monate nach diesen Begebenheiten erhielt der Graf wieder ein Schreiben:
„ Mon cher Nicolai, es geht besser, seitdem ich draußen in Heiligenstadt wohne. Mutter ist bei mir. Sie, die alles stiller um mich macht. Und Noemi heißt der Glücksquell, aus dem ich schöpfe. Ich brauche Dir nichts zu sagen von diesem meinem zweiten Leben, in das ich zurückgekehrt bin, nachdem ich es damals in Tresano in den Tagen, als ich Dich zum ersten Male sah, verließ. Unbewußt war ich ja wohl oft darin zu Gaste und gefühlt hab’ ich es immer in den Liebesumarmungen, und wenn ich schöner Musik lauschte, da war ich ihm am nächsten. — Jetzt aber lebe ich in Weihe. Du wirst es mir nicht glauben, ich war froh, als Givo abgereist war. Ich ertrug seine Nähe nicht, es war, als müßte ich vor Glück vergehen, als müßte er in diesem zweiten Feuer mit mir verbrennen. Es war zu viel. Das ist nichts für Menschen, so ein überirdisches Glück! Givo ist jetzt in Russisch-Polen, lebt dort unter den orthodoxen Juden, die er erretten will. Ich verstehe nicht ganz, wie er es plant. Ich glaube, er will ihnen Liebe wecken, Sie leben nur im Geist, sagt er, er möchte sie zurückführen zu den Dingen. Er möchte ihnen das ruhelose Irren nehmen, ihre Seelen sollen in ein höheres leibliches Leben eintreten, um zu gesunden. Er sieht das heutige Judentum wie eine Abnormität, eine Krankheit. Dort, wo es auf schönen Wegen war, soll es in ein Sektenwesen ausgeartet sein, das er zurückleiten will zur Liebe. Wer könnte es besser als er, der sich niemals über die anderen erhebt, sondern ihresgleichen wird, um zu helfen. Aber ich fürchte, er wagt zu viel. Wirst Du ihn beschützen dort? Ich weiß, daß er schwach ist, ich weiß es. Ich vertraue ihn Dir an, Nikolai!
Und was mich betrifft? Dein Scheidungsbrief ist vorläufig überflüssig. Manuel ist vor den Gerichten nicht Witwer, weil er keinen Beweis erbringen konnte, daß seine Frau verbrannt ist. Eine Reihe von Jahren muß hingehen, bis der Tod gesetzlich beglaubigt ist. Und wozu auch eine Ehe eingehen? Wir sind einig, wie wir es immer waren, und ein Leben wie Mann und Weib es führen, scheint uns nicht beschieden zu sein. Er muß seinem Genius Deva Nahuscha folgen und sein Lebenswerk weiterfördern in Klüften und Bergen, in denen ihm göttliche Sonne strahlt. Vielleicht ist er ein Märtyrer und ich muß ihm dereinst mit meinen Haaren das Herzblut stillen wie Magdalena des Heilands Füße trocknete. Leb wohl. Du hörst Heiteres, sobald der Frühling mich Frierende erwärmt. Deine
Bella.“
A us den nachgelassenen Schriften des Maurus Perbon geht hervor, daß sein Meister Imanuel Givo, dem er sich anläßlich seiner Lehrerschaft in Polen und Rußland anschloß, während eines Pogroms, fälschlich für einen Juden gehalten, deren Verteidigung er übernommen hatte, um das Leben kam. Dem Bericht ist hinzugefügt: „Seine Tochter Noemi Cecilia lebt bei seiner Herzensfreundin, der Frau Arabella von Normayr.“
Wie ersichtlich, hatte sich Arabella mit ihrem Jugendfreund, dem nachmaligen Admiral, vermählt. Mannsthal besuchte sie vor ihrer Verheiratung und bei dieser Gelegenheit soll sich ein Unglück ereignet haben, das allerdings glimpflich ablief. Auf nicht völlig aufgeklärte Art ging in den Händen der Gräfin ein Revolver los und traf ihren Stiefvater an der Schulter. Die Dienstboten behaupteten, daß zur nämlichen Stunde die Herrin im Hause vergeblich und sehr erregt nach ihrer heißgeliebten Ziehtochter, der vierzehnjährigen Noemi, gesucht habe und diese schließlich schwer geängstigt bei dem wunderlichen Herrn Mannsthal angetroffen hatte. Luise, die noch immer bei ihr diente, wollte gehört haben, wie die Gräfin zu der alten Frau Gunter gesagt hatte: „Gott sei Dank, ich kam gerade recht.“ Der alte Herr Mannsthal war dann vor der Hochzeit, die in aller Stille stattfand, noch mit dem Arm in der Schlinge abgereist.
Die zweite Ehe der Gräfin Karinska, die mit dem Grafen Nicolai bis zu dessen Tode in regem Briefwechsel verblieb, soll still und sehr glücklich gewesen sein. Doch starb Arabella von Normayr allzufrüh an einer akuten Herzkrankheit.
Angele hatte die traurige Pflicht ihren Gatten, den Admiral, zu verständigen, der sich eben auf einer Seereise befand. Über das Meer dröhnte ein Kanonenschuß. Dreihundertzwanzig Matrosen knieten und beteten. Eine schwarze Fahne stieg langsam mastaufwärts und flatterte im Abendwind, der von den Küsten Japans Blütenduft auf den Schwingen trug. Leise löste sich über den gleichmäßigen Wellen der grünlichen See die schmale Rauchsäule in die Unendlichkeit.
Ende
Druck von „Norbertus“ Buch- und Kunstdruckerei vorm. J. Roller & Co. Gesellsch. m. b. H., Wien.
Anmerkungen zur Transkription
Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Korrekturen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):