Title : Freiluftleben
Author : Fridtjof Nansen
Release date : June 21, 2018 [eBook #57367]
Language : German
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Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der 1920 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Zitate wurden nicht korrigiert.
Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter der Übersichtlichkeit halber an den Anfang des Buches verschoben.
Das Original wurde in Frakturschrift gedruckt; Passagen in Antiquaschrift werden im vorliegenden Text kursiv dargestellt. Abhängig von der im jeweiligen Lesegerät installierten Schriftart können die im Original gesperrt gedruckten Passagen gesperrt, in serifenloser Schrift, oder aber sowohl serifenlos als auch gesperrt erscheinen.
Freiluftleben
Von diesem Buch sind dreihundert Exemplare auf Büttenpapier von Van Gelder Zonen abgezogen, mit einem Bildnis des Verfassers in Kupferdruck in Halbleder gebunden und handschriftlich numeriert worden.
Copyright 1920 by F. A. Brockhaus, Leipzig.
W enn diese Blätter eine Mahnung enthalten, so ist es das alte Losungswort: Zurück zur Natur! Das einzige Heilmittel gegen die Krankheit unserer Zeit.
Nur allzuvieles, was geschehen ist, seitdem diese Blätter geschrieben wurden, scheint mir dies in unheimlichem Maße erwiesen zu haben.
Europa ist krank. Die weiße Rasse hat eine Fieberkrisis zu überstehen. Die menschliche Gesellschaft zeigt an vielen Stellen die Symptome der Auflösung.
Der Heiltrank kann nur aus den einfachen Tiefen der Natur geschöpft werden.
Als Präsident Wilson die Vereinigten Staaten in den Krieg führte, hoffte er die Welt dadurch „ safe for democracy “ zu machen.
Die Welt aber wollte es anders.
Europa ist ein Chaos geworden, ein brodelnder Hexenkessel, in dem Demokratie, Despotie, Militarismus und Anarchie in unheilschwangerem Brei sich umeinanderwälzen, [S. 6] und niemand weiß, was in heftigsten Entladungen explodieren wird.
Klarer als je zuvor hat sich erwiesen, daß der Krieg keine Heilung, keine Erlösung bringen kann. Wohl vermag er eine drohende Krankheit auszulösen. An ihrer Stelle aber schafft er zehn neue Krankheitskeime. Er ist selber ein Fieber und keine Kur.
Die Seele der menschlichen Gesellschaft läßt sich nicht durch Bajonette reformieren, und keine Idee, auch eine falsche nicht, kann durch Maschinengewehre umgebracht werden.
Bernard Shaw soll kürzlich gesagt haben, er wisse nicht, was die Bewohner der andern Planeten im Sinne hätten. Dessen sei er aber sicher, daß sie unsern Planeten für ein Irrenhaus hielten.
Das gibt ein treffendes Bild des jetzigen Zustands unserer Erde.
Die Geisteskrankheit rührt aber von den falschen Grundanschauungen her.
Die Menschen sind auf Abwege geraten in ihrer wahnsinnigen Jagd nach Macht.
Die Massen haben Kultur mit materieller Entwicklung verwechselt. Letztere bringt die Macht des Überflusses, erstere die Schönheit der Harmonie.
Nicht der Wille zur Macht, sondern der Wille zur Schönheit wird die neue Zukunft schaffen:
die Schönheit der großen, einfachen Lebenslinien, die alle Herrschgier, allen Flitterstaat, allen Überfluß abgestreift hat.
Schließlich muß doch der Geist den Sieg erringen :
nicht der Geist, der neue Gewaltmittel erfindet, neue Zerstörungsmaschinen, neue Sprengstoffe, neue Gase —,
auch nicht der Geist, der neue Industrien schafft, neue Verkehrsmittel erschließt, so nützlich er auch sein mag —,
sondern der Geist, der aus den alten, ewig jungen Urquellen der Natur schöpfend neue Lebenswerte formt:
die Welt der Zukunft , deren Symbol nicht mehr die raffende Raubtierklaue ist, sondern die gebende Menschenhand —,
in der die Klassenpolitiker und die Staatsmänner entdeckt haben, daß es nicht nur Menschen gibt, sondern auch Mitmenschen —,
in der sie nicht nur mit den Lippen bekennen, sondern auch durch die Tat beweisen, daß sie anstatt die brutale Selbstsucht der Staaten, der Klassen, der Einzelnen, auch in der Politik die Lehre der Nächstenliebe vertreten, die da sagt:
Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
Laßt uns, trotz der Finsternis, laßt uns nicht an der Morgendämmerung zweifeln!
Noch gilt das Gesetz von der Kontinuität des Keimplasmas. Noch ist das Geschlecht im Kern gesund und unverdorben. Nur die Lebensbedingungen, die Grundlagen der Erziehung in den sogenannten Kulturzentren sind naturwidrig.
Die Rettung liegt, jetzt wie immer, in der Losung:
Zurück zur Natur, zu den einfachen Grundwerten, auf denen alle Schönheit des Lebens sich aufbaut.
Wie in Wissenschaft und Forschung, so auch im Menschenleben gilt es den Naturgesetzen zu folgen. Nicht wider die Natur heißt es zu wirken, sondern im Bunde mit der Natur!
Lysaker , Weihnachten 1919.
Bergen , im März 1884.
Es war am Sonnabend, 26. Januar, in diesem Jahre des Heils 1884. Ich ging abends vom Museum nach Hause. Der Regen peitschte mir das Gesicht mit einer Heftigkeit, die selbst hier in Bergen ungewöhnlich war. Am Himmel jagten schwarze Wolken. Das Thermometer zeigte viele Grade Wärme, das Barometer sank und sank und stand auf Erdbeben. Wahrhaftig ein Wetter, das der Verzweiflung nahebringen konnte. Das sollte also der norwegische Winter sein!
Die Geschäftsleute hasteten die Straße entlang, den Regenschirm gegen den Wind, den Kopf tief zwischen den Schultern. Nach vollbrachter Wochenarbeit strebten sie dem gemütlichen Heim zu.
Morgen war Sonntag. Erst noch einen Abstecher nach dem Postamt, um nach Post zu fragen; dann nach Hause, um es mir gemütlich zu machen und alle Schlechtigkeit der Welt und des Wetters zu vergessen.
Ich hatte mich im Lehnstuhl zurechtgesetzt. Einen flüchtigen Blick in das eben angekommene Sportblatt; dann wollte ich mich in meine Studien vertiefen. Doch was stand da? Schneeschuhwettlauf auf der Husebyhöhe am 4. Februar. War es möglich? Sollte es wirklich irgendwo in norwegischen Landen Schneeschuhbahn geben?
Schneeschuhe und Schneeschuhbahn waren wohl das, was noch vor einem Augenblick meinen Gedanken am fernsten gelegen hatte. Nun ergriff es mich mit unwiderstehlicher Gewalt: Lockend weiß stand der Nadelwald unter der Schneedecke; die Dörfer mit den Halden, Hügeln und den Bergen lagen blank und weiß da und glitzerten im Sonnenschein. Alles so frisch und so leicht in der klingenden Winterkälte...
Der Sonntag kam und brachte noch mehr Sturm und Regen. Am nächsten Morgen wollte ich aufs Meer hinaus zur Tiefseeforschung. Aber die Gedanken gaben keine Ruhe. Ich mußte in den Zeitungen der letzten Tage nach den Wetterberichten schauen. Nein, Wärmegrade übers ganze Land, nirgends konnte es Schneeschuhbahn geben. Da unternahm ich lieber meine Meerfahrt.
Am Nachmittag aber half nichts mehr: fort mußte ich, und ich ging zum Oberhaupt des Museums, zum alten Doktor Danielsen. Er war verständnisvoll wie immer, und ich bekam Reiseurlaub. Nun galt es, alles für meine Abwesenheit zu ordnen, dann konnte ich am nächsten Morgen um halb sieben Uhr mit dem Zuge abfahren.
Alle vernünftigen Freunde meinten natürlich, es sei Wahnsinn, in dieser Zeit über das Gebirge reisen zu wollen, und schüttelten den Kopf — aber Jugend hat keine Tugend...
Endlich saß ich im Abteil, und es ging nach Voß hinauf. Der Regen trommelte auf das Wagendach. Na ja, ein schönes Schneeschuhwetter das! Aber höher oben würde es wohl besser werden. Durch Tunnels und Einschnitte ging es, an Abgründen [S. 11] vorüber, die engen Fjorde entlang. Als wir weiter hinaufkamen, begannen die Abhänge der Berge hoch oben weiß zu werden. Das hob sofort die Hoffnung: im Gebirge gab es sicher Kälte und Schnee.
Um zwölf Uhr brachen der Hund und ich von Voß auf. Wir schlugen den Weg durch das Rauntal ein; von dort wollten wir nach Hol im Hallingtal hinübergehen. Das ist ein etwas weiter Weg übers Gebirge. Dafür wird aber der Weg nach dem Ostland um so kürzer.
Die Schneeschuhe auf den Schultern, stieg ich getrost in rieselndem Regen aufwärts. Es würde schon besser werden, wenn ich erst ins Gebirge hinaufkam; dorthin wollte ich bis zum Abend gelangen. Ich ging und ging, aber beständig lag der Nebel dicht und schwer über den Abhängen zu beiden Seiten des Tals, und die Regentropfen fielen gleich schwer und ungemütlich.
Unterwegs fragte ich, ob jemand wisse, wie die Schneeschuhbahn im Gebirge sei. Aber man schüttelte nur den Kopf und meinte, bei solchem Wetter sei nicht ans Gebirge zu denken.
Als ich mich dem Sverresteig näherte und es noch nicht aussah, als wenn es besser werden sollte, dachte ich, es sei doch vielleicht vernünftiger, umzukehren und den Weg über Gudvangen und von da ins Lärtal einzuschlagen. Von dort konnte ich auf der Poststraße weiterkommen, mochte dann das Wetter sein wie es wolle.
Gedacht, getan. Und da ich auch einen Pferdehändler mit Pferd und Schlitten traf, der auf demselben Weg nach dem [S. 12] Ostland wollte und sich erbot, die Schneeschuhe mitzunehmen, so ging ja alles in schönster Ordnung.
Am Abend erreichte ich Vinje. Hier war schon gute Schneeschuhbahn, nur war es noch etwas zu mild. Der Mann mit den Schneeschuhen und noch ein Pferdehändler, der sich angeschlossen hatte, übernachteten auf dem Nachbarhof. Sie versprachen bei mir vorzusprechen, bevor sie am nächsten Morgen aufbrachen.
Nach der ungewohnten Bewegung schlief ich gut. Der Tag war schon ziemlich weit vorgeschritten, als ich erwachte. Ich richtete mich auf, um durchs Fenster zu schauen. Doch was für ein Anblick: Eisblumen an den Fenstern! Es war unmöglich hindurchzusehen. In aller Eile stand ich auf und durch Reiben und Hauchen taute ich soviel von dem Fenster auf, daß ich erkennen konnte: es war klares Frostwetter mit Neuschnee. Das gab einen Jubel...
Hastig verzehrte ich das Frühstück, und dann sprang ich nach dem Nachbarhof hinüber, um die Schneeschuhe zu holen; nun sollte es nach Gudvangen gehen. Aber ach, die Männer waren vor einer halben Stunde abgefahren und hatten die Schneeschuhe mitgenommen.
Das kühlte mir das Blut ab. Aber wenn ich sie noch vor dem Stalheimhügel einzuholen vermochte, dann konnte ich dort ja doch noch die Schneeschuhe gebrauchen. Aber bis dahin war es nur eine Meile [1] , und da ist eine halbe Stunde ein großer Vorsprung.
[1] Unter „Meile“ wird hier und im folgenden die alte norwegische Meile = 11 Kilometer verstanden.
Ich eilte die Anhöhen hinan. Es war schwer, im Schnee zu gehen; aber das Wetter war herrlich. Ringsum strahlten die Berge blendend weiß in der Sonne. Die Nadelbäume standen feierlich still unter der Decke von Neuschnee. Es war Winter, strahlender Winter, und ihn hatte ich ja gesucht. Auch der Hund freute sich des Lebens und wälzte sich im Schnee.
Aber ach so tot, so öde! Nirgends ein Schneeschuhläufer, nirgends eine Schneeschuhspur zu sehen. Gab es denn hier keine Menschen? Doch da lagen ja viele Gehöfte. Aber die Männer verschlafen wohl in dieser Gegend des Landes den größten Teil des Winters. Dunkel und leblos stehen die Gehöfte auf dem weißen Schnee; nur der Rauch steigt träge aus den Schornsteinen auf. Die Weiberleute arbeiten, während das Mannsvolk in den Stuben herumhockt. Draußen breitet sich eine glänzende Schneeschuhbahn, und im Gebirge gibt es Wild genug. Welches Winterleben könnte sich hier entfalten, wenn sie nur die Schneeschuhe gebrauchen lernten!..
Weiter ging es an schneebedeckten Abhängen entlang, über fischreiche Wasser, die unter Eis und Schnee schliefen und auf den Sommer warteten. Und dann durch kleine schöne Wälder. Hier und da lief eine Hasenspur über den Weg. Puß hatte es jetzt schwer, im Schnee vorwärtszukommen, der Arme.
Nach und nach holte ich die Männer mit meinen Schneeschuhen soweit ein, daß ich sie in den Windungen der Straße erkennen konnte. Ich begann zu springen und erreichte sie auch wirklich.
Welcher Jubel, die Schneeschuhe unter den Füßen zu fühlen — [S. 14] und erst, wenn ich eine Anhöhe hinabsauste! Das war wahrhaftig ein anderes Leben, als in Bergen durch Regen und Schmutz zu waten. Die Schlitten waren bald außer Sicht.
Aber dort war Gelegenheit zu einem schönen Sprung über den Weg. Die Lust, die alten Künste zu probieren, erwachte mit einem Male: erst hinauf und dann hinunter. O wie gut es tut, sich dem Himmel näher zu fühlen! Aber der Rucksack muß herunter. Noch höher, noch geschwinder, und nun — hopp — wie eine Möwe herabschweben! Ja, man fühlt: noch ist Kraft und Saft in den steifgewordenen Gliedern.
Doch nun war es mit einem Male auf den Höfen ringsum lebendig geworden. Wie im Frühjahr die Ameisen aus dem Bau, so wimmelten sie heraus, Junge und Alte; alle mußten sie sehen, was das war, das da oben sprang.
Ich hatte Durst bekommen und steuerte dem nächsten Gehöft zu. Und nun gab es wieder ein Wettrennen in das Haus hinein. Einer vor dem andern, alle auf einmal; nur ein alter Mann stand noch da, als ich ankam.
„Wie heißt dieser Hof?“
„Du kannst aber schneeschuhlaufen.“
„Wie weit ist es wohl bis Gudvangen?“
„Wo kommst du denn her?“
„Ich komme von Bergen und will nach dem Ostland. — Glaubst du, daß ich hier etwas Milch bekommen kann?“
„Du willst also übers Gebirge? Das sind feine Schneeschuhe. Was ist denn heute für Wetter?“
Nein, ich mußte wohl hineingehen. Vielleicht ging es dort besser.
Ich schnallte die Schneeschuhe ab und trat in eine Stube, die der Dunst von Menschen und Tieren erfüllte. Die Wände entlang und oben in den Betten standen, saßen und lagen Frauen und Männer, Mädchen und Knaben. Auf dem Boden krabbelten Kinder im Verein mit Ferkeln und Hühnern und andern Tieren.
„Kann ich einen Tropfen Milch bekommen?“
Eine lange Pause. Dann kommt von einer Frau die langgezogene Antwort:
„Ich weiß nicht.“
Das gab mir Hoffnung.
„Habt ihr denn nicht etwas Milch?“
„O ja, die haben wir wohl.“
„Kann ich denn etwas kaufen?“
„Willst du vielleicht saure Milch haben?“
„Danke, am liebsten möchte ich süße, wenn es geht.“
„O ja, die kannst du schon haben.“
Dann geht sie endlich zu einem Gesims, um eine Kanne herunterzunehmen; die Milch war gut und tat gut.
„Wieviel bin ich schuldig?“
„Ich weiß nicht. Es ist ja nicht des Bezahlens wert.“
Ich legte einige Pfennige auf den Tisch und bedankte mich.
„Nein, das ist zuviel.“ Als sie aber sah, daß ich verschwand, rief sie hinterdrein:
„Ja, dann also vielen Dank.“
Draußen umstanden eine Menge Männer meine Schneeschuhe. Sie waren von den Gehöften ringsum gekommen. [S. 16] Schneeschuhe und Bindung wurden an allen Ecken und Enden untersucht, und als der Besitzer selber kam, der auch.
Ich schnallte die Schneeschuhe an und fuhr die Anhöhe hinauf. Hinter mir her hörte ich: „Das waren feine Schneeschuhe!“ „Was er für einen kleinen Stock hat!“ „Wie groß der Hund ist!“ —
In Gesellschaft eines der Pferdehändler, der gerade gefahren kam, zog ich weiter.
Wir waren in der Nähe von Stalheim. Das Gebirgstal mit den kiefernbestandenen Abhängen lag tief unter Schnee. Unten im Grunde strömte der Fluß, und oben erglänzten in der Sonne die gewaltigen Berge weiß unter dem blauen Himmel. Das Tal ist hier wild und großartig. Vorn rechts schnitt eine enge Schlucht in das Bergmassiv ein, umgeben von wilden, zerrissenen Gipfeln. Wie ich so ging, dachte ich darüber nach, wohin sie wohl führen könnte. Den Grund sah ich nicht; der verschwand tief unten, aber die Berghänge gehörten zu den steilsten, deren ich mich je erinnerte.
Unwillkürlich wurden die Augen von diesem Spalt angezogen. Durchfuhr einen auch ein Kälteschauer, so oft man dahin sah, so konnte man sich doch nicht davon abwenden.
Auf einmal blieb ich stehen. Vor meinen Füßen hörte der Weg auf. Ich stand unmittelbar vor dem Schlund und sah plötzlich in einen Abgrund hinab. Nie hätte ich geglaubt, daß durch diesen Spalt der Weg nach Gudvangen ginge. Aber es mußte doch so sein. Ich wandte mich nach dem Pferdehändler um, der mir folgte. Ja, es war wirklich so: wir standen auf dem Gipfel des Stalheimhügels, am Ende des Närötals.
Ich schaute hinunter. Der Fluß und der Talgrund schlängelten sich dort unten wie ein schmales Band. Ich blickte in die Runde: vorn war das Närötal mit seinen steilen Wänden; über sie stürzten die gefrorenen Gebirgsbäche in ihrem blaugrünen Winterstaat, hier und da lag der Schnee auf Absätzen in weißen Streifen die vereisten Bergwände entlang, und darüber hingen die Schneewächten, bereit, beim ersten Tauwetter abzubrechen. Unmittelbar rechts war ein Schlund, in den der Stalheimfall mit dumpfem Brausen unter der Eisdecke hinabstürzte. Ein Stück weiter links donnerte ein anderer Wasserfall in eine ähnliche Kluft. Gerade unter mir wand sich der Weg in kurzen Windungen von der einen Schlucht zur andern, dem Talgrund zu. Über all das steigt der Kegel des Jordalsgipfels empor, hoch und jäh, wie ein gewaltiger Riese. Weiter hinten als Rahmen für diese vereiste, zugeschneite Gebirgskluft erhoben sich die Bergspitzen und verschwanden in dunkeln, schweren Wolken. Zuhöchst oben aber über dem Ganzen stand blau und klar der Himmel, während die Sonne auf Schnee und Eis im Vordergrund spielte.
Als ich in Betrachtung versunken dastand, sagte eine Stimme hinter mir: „Komm, laß mich deine Schneeschuhe probieren.“
„Nein, danke, mit denen werde ich selber fertig.“ Und ich begann abwärts zu gleiten.
Es ging bergab, bald am Rande der einen Schlucht, bald nach der andern hinüber. Es gab viele kurze Windungen. Bei jeder mußte man bremsen, sich gut einwärts lehnen und dann mit um so größerer Schnelligkeit weiterfahren, sobald es wieder geradeaus ging.
Unterwegs sauste das Bild eines Bauern an mir vorbei, der vor Schreck ganz in die Bergwand hineingekrochen war.
Noch ehe ich recht zur Besinnung gekommen, war ich drunten auf dem Talgrund. Von oben kam der Hund wie ein brauner Knäuel hinterher. Das Pferd konnte ich nicht mehr sehen.
Ich fuhr weiter. Der Weg führt den Fluß entlang. Der Grund des Närötals bis Gudvangen ist so flach, daß sich kaum eine Anhöhe findet. Der Talboden ist schmal. Zuweilen ist gerade noch Platz für Fluß und Straße, und auf beiden Seiten steigen die Gebirgswände schroff in die Höhe. Hoch oben hängen die Schneewächten, zwischen ihnen ein Streifen blauen Himmels.
Hier und da lagen große Schneelawinen. Sie folgen im Närötal rasch aufeinander, und unglaublich sind die Geschichten, die man von ihnen zu hören bekommt. Man muß sich geradezu wundern, daß Menschen hier leben wollen, am Fuße dieses immer drohenden Berges. Aber sie gewöhnen sich so daran, daß eine Lawine für sie etwa soviel bedeutet wie für uns ein Gewitter. Wenn sie nur sehen, daß die Lawine nicht ihren Weg kreuzt, so sind sie ruhig, wenn sie kommt, auch wenn der Boden unter ihnen wie bei einem Erdbeben erzittert. Der Luftdruck, der der Lawine voranzugehen pflegt, ist so stark, daß er weiter draußen, wie die Sage geht, Leute auf die andere Seite des Fjords hinübergeworfen hat.
Die Lawinen können zuweilen so groß sein, daß sie den ganzen Fjord füllen und Boote und was sie sonst auf ihrem Weg antreffen, unter sich begraben.
Einmal konnte sich ein Dampfer nur mit knapper Not retten. [S. 19] Als die Leute die Lawine kommen hörten, suchten sie unter Volldampf zu entkommen. Im letzten Augenblick gelang es ihnen auch. Nur das Achterende und ein Stück des Decks bis zur Kajütentreppe wurden mit Schnee angefüllt. Im Nu war der ganze Fjord voller Schnee, und wäre der Dampfer nur einige Schiffslängen zurück gewesen, so wäre er begraben worden und wohl niemals wieder an die Oberfläche gekommen.
Eine große Lawine war kurz vor meiner Ankunft in dem Fjord niedergegangen, und man bekam ordentlich Respekt davor, wie sie dort lag und sich weiß leuchtend von den dunkeln Bergwänden an den Seiten und dem schwarzen Wasser darunter abhob.
In Gudvangen zeigten sie mir auch einen großen Block, der vom Gebirge herabgekommen war. Er hatte sich zu oberst auf dem Kamm losgelöst und war in drei Sprüngen herabgesaust. Beim zweiten Sprung war er wie eine Kanonenkugel quer durch beide Wände eines Hauses hindurchgegangen, mit einer solchen Geschwindigkeit, daß die Löcher, die er geschlagen hatte, nicht größer waren als er selbst. Beim dritten Sprung fuhr er durch Dach und Wand eines andern Hauses, schlug eine Frau tot und eine zweite zuschanden und bohrte sich dann in die Erde ein, wo er noch lag.
Von Gudvangen ging es mit dem Dampfschiff am sternklaren Abend durch den Näröfjord und weiter nach dem Lärtal.
Am nächsten Morgen früh fuhr ich bei mäßiger Schneeschuhbahn durch das Lärtal hinauf. Das Wetter war ganz gut, [S. 20] aber der Schnee war schlecht, und der Weg wurde bald ganz schwarz, so daß ich die Schneeschuhe tragen mußte. Auch hier ist es eng und wild, aber nicht so wie im Närötal. Hier und da waren Lawinen niedergegangen, die nun weißleuchtend unten an den Berghängen lagen.
Im Verlauf des Vormittags ließ ich mich bei einem kleinen Bach am Wege nieder, holte den Proviant hervor und begann zu frühstücken. Eine tiefe Schlucht durchschnitt die jähe Bergwand bis zum Gipfel hinauf. An den gewaltigen Schneemassen konnte ich erkennen, daß eine große Lawine niedergegangen war.
Wie ich eben in die Umgebung vertieft dasaß, dem Getöse des Wasserfalls lauschte und an den Sommer dachte, da man mit der Angel am Fluß entlang gehen konnte — es gab hier so schöne Fischgumpen — wurde ich von einer gellenden Stimme aus meinen Träumen geweckt.
„Du bist wohl nicht recht bei Trost, dich hierher zu setzen, gerade unter eine Lawine?“
Ich fuhr auf. Ein Bauer kam in schneller Fahrt auf einem Schlitten vorüber.
„Ach, es wird wohl nicht so gefährlich sein.“
„Nicht gefährlich? O ja, es ist schon manchem hier schlecht gegangen. Kommen die Lawinen herunter, dann füllen sie das ganze Tal.“
„Man hört wohl, wenn sie kommt, und kann dann flüchten?“
„Hören, wenn sie kommt? Mann, das geht so schnell wie ein Büchsenschuß.“
Wie ich noch darüber nachdachte, kam wieder einer gefahren. Er trieb das Pferd an und rief mir zu, ich möge sehen, daß ich weiterkomme.
Weiter oben traf ich einige Männer, die mir erzählten, die Schlucht heiße Saueskluft und sei wegen ihrer Lawinen, die den ganzen Talgrund sperren können, die gefürchtetste Stelle im Lärtal. Sie kämen vom Gipfel herab und wüchsen durch den Schnee, der von beiden Seiten herabstürze, und auf ihrem langen Weg könnten sie eine unheimliche Größe erreichen. Was ich da sah, war nur der erste Absturz, der den Weg für das ebnete, was nachkommt und das nun zu erwarten war. Da würde ich etwas ganz anderes zu sehen bekommen.
So marschierte ich denn weiter. Bald konnte ich die Schneeschuhe wieder anschnallen, und es ging nun schnell durch die wilden Gebirgsschluchten hinauf. Der Fluß tief unten war mit Eis bedeckt, unter dem er einen ruhigen Lauf hatte. Um die offenen Löcher herum und von Loch zu Loch gingen Otterfährten. Hier lebt der Otter sommers und winters. Man erschauert, wenn man in diese schwarzen Löcher hinabsieht und sich vorstellt, man solle untertauchen und in diesem kalten Wasser leben. Aber dem Otter geht es gewiß ganz gut, Fische gibt’s hier genug.
Auf einmal höre ich ein munteres lautes Zwitschern. Erstaunt sehe ich mich um. Gibt es hier auch Vögel? Jetzt derselbe Klang wieder. Nicht von den Bergwänden herab, nein, von unten her. Da fliegt wahrhaftig der Sänger das Eis entlang, und nun taucht er mitten in den wilden Fall hinein. Das war die Wasseramsel. Ihr ist das Leben nie zu schwer, [S. 22] außer wenn der Fluß zufriert und sie kein offenes Wasser mehr findet.
Weiter oben, nach Borgund zu, beginnt sich das Tal zu weiten. Nachdem ich an Huse vorübergekommen war, bog ich bei Vindhellen in den alten Weg ein, der in steilen Windungen aufwärts führt, dafür aber viel kürzer ist.
Über einen Felsrücken geht es an der andern Seite wieder bergab. Man kann hier weit in das schöne Borgundtal hineinsehen; unten rechts liegt die alte Holzkirche von Borgund, die neue Kirche unmittelbar neben ihr. Sie ist schön im Sommer, aber schöner noch ist sie anzusehen in dem weißen Winter, wenn ihre vielen Giebel und Dächer mit Schnee bedeckt sind.
Es war schon längst dunkel geworden, als ich gegen sieben Uhr in Burlo anlangte und die langen steilen Höhen zum Filefjell hinaufstieg. Der Weg war schwierig. Die Beine, die noch nicht recht geschmeidig waren, machten sich auch bemerkbar, und ich war den Tag über auf der schlechten Bahn nicht wenig gegangen. Doch hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, die Nacht in Breistölen zu schlafen, und da mußte ich eben gehen, bis ich dorthin kam.
Ich band die Schneeschuhe zusammen und zog sie hinter mir her. Wenn nichts andres, so war es doch eine kleine Abwechslung, sie nicht mehr beständig an den Füßen zu haben.
Bald begann die Bergweite sich vor mir auszubreiten, während hinten das Tal im Dunkel lag. Über mir flimmerte der Sternhimmel und warf einen unsichern Schein über die Berge. Die Nacht war still, kein anderer Laut war zu hören als meine eigenen Schritte im Schnee.
Wie ganz anders war es doch, als ich im letzten Winter an Weihnachten hier wanderte; es war just um dieselbe Tageszeit. Jetzt dieser tiefe Friede. Man sieht geradezu in den Weltenraum hinein. Damals Sturm und Schneetreiben, das ganze Bergland im Gestöber, so daß man nur ein paar Armlängen weit sehen konnte. Der Gegenwind war so stark, daß man auf den Schneeschuhen zurückgeworfen wurde; man mußte sie abschnallen, um nur vorwärtszukommen. Der Hund jammerte und zitterte unter den Windstößen.
Endlich erglänzten auch diesmal die Fenster von Breistölen lockend in die Nacht hinein, und bald war ich unter Dach.
„Herrjesses, ist denn jemand noch so spät in der Nacht im Gebirge?“
„Jawohl, es ist einer da.“
„Ach nein, du bist’s? Du bist ja immer so spät unterwegs.“
Ich bekam Milch, und dann ging’s ins Bett. Es läßt sich nicht leugnen, es gibt wenige Genüsse im Leben, die den übertreffen, sich nach einem beschwerlichen Tag in einem guten Bett auszustrecken, nachdem man den Durst gestillt und sich satt gegessen hat.
Am nächsten Morgen ging es über das Filefjell weiter nach Bjöberg.
Gerade als ich von Breistölen aufbrach, ging die Sonne auf und ergoß ihre Röte über das Nebelmeer und die Berggipfel, die wie weißrote Zelte aus dem Nebel aufragten. Das Tal, aus dem ich kam, lag ganz unter den Nebelwogen verborgen. Über der Berglandschaft aber spaltete sich der Nebel immer mehr [S. 24] und mehr, so daß die Sonne in breiten Streifen durchdrang, während einzelne warmgetönte Nebelfetzen um die Gipfel krochen.
Nun galt es, vom Westland Abschied zu nehmen. Nach Osten hatte ich nur das weiße Hochland vor mir.
Wie ich in dieser Stille dastand, weckte mich auf einmal Lärm in nächster Nähe; donnernd ging in dem Berge hinter mir eine Lawine herab; der Rauch stieg zum Himmel an. Sie erreichte den Grund — das Echo erstarb im Schnee — nur einige feine weiße Schneewolken umschwebten noch die Bergwand.
Ich setzte meinen Marsch fort. Es war richtiges frisches Winterwetter. Die Sonne glitzerte in Tausenden von Eisnadeln. Ringsum erhoben sich die kuppelförmigen Berge in weißer Pracht. Alles lag im Sonnenlicht, alles war glänzend weiß. Nur hier und da zogen schwarze Wolkenbüschel um einzelne Berggipfel, während sich der Himmel darüber hellblau und fleckenlos wölbte.
Ich fuhr über Bergrücken und Gipfel. Es war gerade kein kurzer Weg, aber man konnte auf den Schneeschuhen stehen, und das war ja die Hauptsache.
Um die Mittagszeit erreichte ich Bjöberg. Dort waren zwei Jäger aus dem Lärtal auf der Schneehuhnjagd, und nach dem, was man auf dem Söller des Hauses sah, war kein Mangel an Schneehühnern. Die Männer saßen, als ich ankam, gerade bei Tisch und genossen offenbar das Leben, wie es Jäger zu tun pflegen. Ich wurde sofort herzlich eingeladen, mit ihnen zu speisen; dazu brauchte es keine große Überredung. Das Mahl [S. 25] war freilich nicht zu verachten: frischer Renntierbraten von Fleisch, das seit dem Herbst unter dem Schnee gelegen hatte und so frisch war, als sei das Tier erst gestern erlegt, und dann mehrere andere Gerichte. An Getränken fehlte es auch nicht; es gab Bier, Schnaps, Milch, Rotwein, Sherry. Als wir den Durst gestillt und uns satt gegessen hatten, kamen Kaffee und Zigarren. Und wahrhaftig, da brachte der alte Knut Bjöberg aus dem Keller auch noch Curaçao herbei.
Das war eine andere Bewirtung als im vorigen Winter. Damals kam ich auch auf Schneeschuhen mit einem Hund daher. Als ich in die Küche trat, stand dort Bjöberg. Er sah mich von der Seite von oben bis unten an und schielte nach dem Hund.
„Kann ich etwas zu essen bekommen?“ fragte ich.
„Dort kannst du dir nehmen“, antwortete er und zeigte auf den Tisch, wo eine halbgeleerte Schüssel mit Grütze und etwas saure Milch in einem Topfe stand. Ich sah die Schüssel an und sagte langsam:
„Ich bin ja gerade kein Kostverächter, aber wenn es angeht, möchte ich doch am liebsten etwas Fleisch haben.“
Da warf mir Bjöberg einen scharfen Blick zu und fragte:
„Kannst du denn das Essen auch bezahlen?“
Ich erwiderte: „Freilich will ich bezahlen!“ Und da bekam ich denn etwas gekochtes Fleisch.
Er hielt mich für einen Landstreicher, für deren Beköstigung sie auf diesen Berghöfen vom Staate Bezahlung erhalten. Es konnte ja nicht anders sein, wenn einer in der Winterszeit hier [S. 26] auf Schneeschuhen daherkam, den Rucksack auf dem Rücken und mit so einem Hund! Aber jetzt hatte der alte Bjöberg-König eine andere Ansicht von mir bekommen. Er wußte gar nicht, was er alles mit mir anstellen sollte.
Ja, es war ein gemütlicher Mittag. Es ist eigentümlich: wenn Jäger zusammenkommen, gibt es nicht viele Umstände; sie sind gleich gute Freunde. Und manche Jagdgeschichte würzte das Mahl.
Die beiden Männer drangen immer mehr in mich, ich möchte dableiben und mit auf die Schneehuhnjagd gehen. Flinte und Patronen sollte ich erhalten, und schöne Hühner gebe es genug. Wahrhaftig, es gehörte weniger dazu, ein Jägerherz in Brand zu setzen. Aber unterwegs begann ich unschlüssig zu werden. War es nicht doch das beste, weiterzuziehen, um zu dem Schneeschuhwettlauf zu kommen, den ich mir nun einmal in den Kopf gesetzt hatte? Und so leid es mir tat, nahm ich Abschied von diesen gemütlichen Menschen, dankte für all ihre Gastlichkeit und zog weiter übers Gebirge nach dem Hemsetal zu.
Ich hatte mir’s in Bjöberg doch zu bequem gemacht. Es dämmerte schon, die Sterne traten allmählich hervor, und der neue Mond stand im Süden über dem Gebirge. Als ich an dem stillen Abend weiterwanderte, hörte ich von der andern Seite des Tals herüber aus den Weidengebüschen das Gack-gack-gack-gack der Schneehühner. Sie waren wohl dabei, sich für die Nacht eine Unterkunft zu suchen.
So eine Bewirtung mag recht gemütlich sein, aber es fragt sich, ob sie für den gut ist, der weiterwandern soll. Ich habe [S. 27] sonst eine gute Lebensregel: Trink nicht viel und rauche nicht, wenn du einen langen Weg vor dir hast. Heute hatte ich beides getan. Aber ich fühlte es auch wie Blei in den Gliedern.
Es war spät, als ich Tuf im Hemsetal erreichte. Da ich entschlossen war, am selben Abend noch weiterzukommen, um wenn möglich am nächsten Tag Gulsvik zu erreichen, wollte ich hier am liebsten ein Pferd haben.
Die Lampe unter dem Balkendach erleuchtete matt den großen Raum, in den ich trat. Um den Tisch herum saß eine ganze Gesellschaft, meist Pferdehändler, die Karten spielten. Man schlug auf den Tisch, und das Geld klirrte. Ich wurde sogleich eingeladen mitzutun, zog es aber vor, weiterzukommen. Es gab saure Gesichter, daß man so spät noch heraussollte; aber ein Pferd bekam ich. Die Fahrt in dieser sternklaren Nacht war etwas kalt, leicht angezogen und müde wie ich war. Aber ab und zu ein Dauerlauf half darüber hinweg.
Endlich blinkt ein Licht durch den Wald. Wir biegen auf einen Hofplatz ein und sind an der Poststation Kleven. Mitternacht ist schon vorüber. Alle Leute schlafen. Wir donnern gegen Türen und Fenster, erhalten aber keine Antwort. Endlich werden einige Mägde wach. Licht wird angezündet. Aber auch hier ist alles von Pferdehändlern besetzt, die ostwärts auf die Märkte reisen. Nach einigen Unterhandlungen läßt sich doch noch Unterkunft schaffen, und ich erhalte ein Bett und ein Fell.
Am nächsten Morgen gegen neun Uhr ging es wieder auf Schneeschuhen das Hemsetal hinab. Die Berglehnen stiegen zu beiden Seiten gleichmäßig an. Der Fichten- und Kiefernwald [S. 28] stand frisch und schön unter der Last des Schnees. Da und dort lagen oben auf den Hängen Sennhütten in den weißen Almwiesen, und im Talgrund murmelte der Fluß geschützt unter dem Eis. Wie winterstill es war! Ja, nun bin ich zum norwegischen Winter zurückgekehrt. Das Herz jubelt.
Dort ist ja bereits Rolfshus. Vielleicht ist es möglich, heute noch die siebeneinhalb Meilen bis Gulsvik zurückzulegen. Es ist erst halb elf Uhr; anderthalb Meilen in anderthalb Stunden, das verspricht Gutes. Mit neuem Mut geht es durch das Hallingtal nach Nes.
Hier bekam ich ein kräftiges Mittagessen und hielt eine Stunde Rast, dann ging’s die vier Meilen nach Gulsvik weiter.
Der Schnee fiel in weichen, dichten Flocken. Ich hatte Angst wegen der Bahn. Die Schneeschuhe blieben schon etwas haften, aber es ging vorwärts, und solange kann man ja zufrieden sein.
Spät in der Nacht kam ich endlich müde und durstig nach Gulsvik. Aber nun war ich bald am Ziel: nur noch die vier Meilen über den Krödersee und morgen mittag mit dem Zug weiter. Dann kann ich am Sonntag ausruhen und mich für den Schneeschuhlauf am Montag etwas üben.
Ein paar Liter gute süße Milch, wie köstlich das schmeckt! Gibt es wohl etwas Besseres? Und dann zu Bett gehen und die müden Glieder mit Wohlbehagen in den Wolldecken ausstrecken!
Am nächsten Morgen war wieder klares Wetter. Die Sonne schien, als ich um neun Uhr von Gulsvik aufbrach. Ich dachte an den Ringnesrücken mit seinen lockenden Höhen. Aber die Zeit [S. 29] war zu knapp, um noch den Dreiuhrzug zu erreichen. Deshalb war es am besten über das Eis zu fahren; auf den Schneeschuhen ging es darüber in größter Geschwindigkeit.
Und dann oben rundherum die Fichtenhänge und hoch über dem Ganzen der weiße Noreberg. Ja, hier ist es schön, winters und sommers!
In Ringnes war ich gegen zwölf Uhr, und da es von dort noch eine Meile bis Olberg ist, mußte ich mich beeilen. Von neuem ging es weiter, was Glieder und Schneeschuhe nur leisten konnten, und in weniger als einer Stunde war ich in Olberg. Ich hatte noch mehr als zwei Stunden bis zum Abgang des Zugs und nur noch eine Meile zu laufen. Ich konnte bequem einkehren und eine Weile ruhen.
Als ich in der Sofaecke saß, war die Versuchung zu stark. Es war vielleicht doch gut, die letzte Meile zu fahren, und im Pelze des Posthalters, die Schneeschuhe hinter mir, den Hund vor mir, sauste ich im Schlitten in scharfem Trab übers Eis nach dem Bahnhof.
Die Schlittenschellen klingelten munter in die Nacht hinaus. Vor mir erstreckte sich das Krödereis blank in das Dunkel hinein. Hoch oben strahlten die Sterne. Die Gedanken gingen im Takt mit den Schellen, während ich im Schlitten saß.
Die Hauptstadt und ihr Lärm lagen hinter mir; es ging wieder hinauf in die freien Berge. Die Tanzmusik des letzten Abends summte und hüpfte noch in den Ohren.
Welcher Wechsel! Am Ufer des Krödersees unter den dunkeln Höhen blinkten freundliche Lichter aus Höfen und Hütten in die Nacht hinein. Welcher Friede! Wie still und ruhig fließt das Leben an diesen Berglehnen dahin. In der Stadt dagegen....
Schwapp, schwapp, das Pferd trat durch die brüchige Eiskruste. Ich schreckte aus meinen Gedanken auf, fuhr schärfer zu, und flott ging es bald über Glatteis, bald über Krusteneis nach Olberg.
Am nächsten Morgen im Schlitten weiter über den Krödersee. Wie rasch sich alles verändert! Als ich vor etwa anderthalb Wochen diesen Weg kam, herrschte hier strenger Winter, und alles war weiß. Schwer lag der Schnee im strahlenden Sonnenschein auf Wald und Busch. Jetzt aber war alles schwarz und traurig, nur hier und da vereinzelte weiße Streifen. Die Bäume standen nackt, die Dächer der Hütten waren ohne Schnee, das Eis blank und naß, die Luft dunkel und regenschwer, und die Höhen mit dem feuchten Nebeldach, wie waren sie düster und schwermütig! Der lichte, frische Winter war verschwunden.
Das war wenig versprechend für den, der die Schneeschuhe gebrauchen wollte....
Doch es wird sich schon machen. Auf den Höhen liegt Schnee —, und schnell ging es das Hallingtal hinauf auf der gewölbten, blanken Straße, wo es oft recht schwer war, [S. 31] den Schlitten in der Mitte des Wegs zu halten, ohne in die Gräben zu geraten.
Lange Strecken konnten wir den Fluß hinauffahren; dort lag blankes Schlittschuheis. Mehr und mehr ärgerte es mich, daß ich die Schlittschuhe nicht mitgenommen hatte. Sicher hätte ich fast den ganzen Weg vom Bahnhof über den Krödersee und den Fluß hinauf bis weit hinein nach Ål laufen können. Das wäre eine lange Schlittschuhfahrt geworden. Doch — — da trat das Pferd durchs Eis — — ein Ruck in die Zügel, nach links, und wir waren geborgen. Man muß gut aufpassen. Nach dem langen Tauwetter ist das Eis mit seinen Löchern jetzt heimtückisch.
Schon begann es zu dämmern, als wir am Nachmittag Nes erreichten. Aber ich wollte noch die zwei Meilen bis Rolfshus zurücklegen und gern die steifen Glieder wieder geschmeidig machen. Deshalb nahm ich die Schneeschuhe auf die Schulter und marschierte weiter.
Es war dunkel, und der Weg war glatt und beschwerlich zu gehen. Vom Fluß her vernahm ich den Lärm des Eises, dazu Rufe und Gelächter. Schlittschuhläufer amüsierten sich offenbar gut, und auch die Dunkelheit hatte sie nicht nach Hause getrieben.
Bald kam ich an einem Gehöft vorüber — es mochte irgendeinem Beamten gehören — und hörte die gebietende Stimme einer Hausmutter ins Dunkel hinausrufen: „Na, kommen sie noch nicht?“
Und eine Mädchenstimme antwortete im Hallingdialekt: „Nein, ich habe mich schon heiser geschrien, aber sie wollen nicht gehorchen.“
Da stand die Kindheit mit einem Male lebendig vor mir. Ja, wenn das Eis blank auf Fluß und Teich lag, war es nicht leicht, uns nach Hause zu unsern Schularbeiten zu bringen....
Der Freitagmorgen brachte klares Wetter und einige Grade Kälte. Von Rolfshus aufwärts lag soviel Schnee am Straßenrand, daß ich die Schneeschuhe benutzen konnte.
Ich stand vor der Entscheidung: sollte ich wieder den Weg durchs Hemsetal und über das Filefjell einschlagen? Das war ja das Sicherste, aber auch etwas zu zahm. Nein, dann lieber durch Ål und über die Hallingberge. Das Wetter lockte. Sicher gab es im Gebirge gute Bahn, und man hat ja die Wahl zwischen drei Übergängen: über den Gjeiterücken nach Aurland hinunter, oder über Nygard nach Eidfjord in Hardanger, oder auch den längeren Weg über Vosseskavlen nach Voß hinab. Einer davon mußte doch möglich sein...
Nach Sundre kam ich kurz nach Mittag; ich sprach hier mit dem Posthalter, welcher Weg wohl der beste sei, doch müsse ich morgen jenseits des Gebirges sein. Das sei unmöglich, meinte er; er war bloß den Weg über Nygard nach Eidfjord gegangen; aber ich könnte Nygard heute nicht erreichen, denn bis dahin seien es fünf Meilen, ich müsse warten.
Nein, das dauerte zu lange. Dann wollte ich lieber nach Gudbrandsgard fahren, dem höchsten Gehöft des Bezirks nach Sogn und Voß zu. Bis dahin waren es vier Meilen, und von dort aus kam ich morgen wohl wenigstens bis nach Aurland in Sogn, vielleicht sogar nach Voß. Dort war aber der Posthalter nicht bekannt, und nie hatte er gehört, daß jemand im Winter [S. 33] diesen Weg eingeschlagen hätte. Er glaubte auch nicht, daß es ginge. Ich meinte, ich wolle es versuchen. Dann war es aber das beste, ein Pferd bis Nerål, der letzten Station im Tal, zu nehmen, um Gudbrandsgard vor Einbruch der Nacht zu erreichen und am nächsten Morgen in aller Frühe aufbrechen zu können.
Ein Pferd bekam ich, und schnell genug ging es bis Nerål über das blanke Eis der vielen Seen. Von dort mit frischem Pferd weiter nach Gudbrandsgard. Aber nun war es spät am Nachmittag geworden, und es dämmerte schon. Die Straße war gewölbt und vereist. An vielen Stellen geht es durch enge Schluchten, die Bergwand an der einen, den Abgrund und den Fluß auf der andern Seite. Man mußte vorsichtig fahren.
Diese Straße war vielleicht die, die König Sverre im 12. Jahrhundert nach seinem Marsch übers Gebirge von Voß her mit seinen Anhängern, den Birkenbeinern, gekommen war...
Der Weg wurde schlechter. Es war stockdunkel. Über den Bergen schien sich ein Unwetter zusammenzuziehen. Das versprach für morgen nichts Gutes.
Endlich waren wir auf dem Sundalsfjord, und in scharfem Trab ging es nach Gudbrandsgard.
Ich trat in eine große gemütliche Stube. Auf dem Herd flammte ein Scheiterhaufen harzigen Kiefernholzes. Sie hatten sich schon schlafen gelegt, waren aber gleich aufgestanden. Von den nahe der Decke angebrachten Betten sahen einige fragende Gesichter herab.
Etwas recht Gemütliches und Warmes haben diese alten Hallinghöfe, und gerade Gudbrandsgard ist einer von den echten. [S. 34] Wände und Dach sind schwarz von Feuer und Rauch, aber sie würden nur verlieren, wenn sie frisch gescheuert würden. Diese braunen Holzwände und dieses rauchgeschwärzte Balkendach bergen Erinnerungen.
Ich zog einen Stuhl an den Herd und streckte mich behaglich aus. Der Hund kroch dicht an das Feuer heran, starrte hinein und machte sich’s recht bequem.
Ich plauderte mit dem Bauern über die Aussichten, morgen übers Gebirge zu kommen.
„Ja, nach Aurland kommst du wohl hinüber. Im Gebirge ist jetzt gute Bahn.“
„Ich möchte am liebsten über Hallingskei und Vosseskavlen nach Voß,“ wandte ich ein.
„Das wirst du wohl nicht schaffen. Ich bin in der Gegend nicht bekannt und habe auch nicht gehört, daß einer den Weg im Winter gegangen ist. Du willst doch nicht etwa allein dorthinüber gehen?“
„Im Herbst vorigen Jahres bin ich schon dort gegangen. Wenn ich aber einen Begleiter kriegen kann, so möchte ich gern einen guten Schneeschuhläufer haben, der die Gegend kennt.“
„Hier im Tal wirst du nicht leicht einen finden, der dich jetzt übers Gebirge nach Voß begleiten wollte. Der einzige wäre Andres Myrestöle. Er treibt Renntierzucht und Schneehuhnjagd und ist im Gebirg überall gut bekannt. Wenn er dich nicht begleiten will, so ist gewiß kein andrer aufzutreiben.“
Nach Myrstöl waren es fünf Viertelmeilen. Es lag gerade auf meinem Weg bei Strandefjord. Das beste war, am frühen [S. 35] Morgen aufzubrechen und dort vorzusprechen. Die Frau versprach, mich um ½3 Uhr zu wecken und etwas Essen bereitzuhalten.
Wie groß war meine Überraschung, als ich Rahmgrütze auf dem Frühstückstisch vorfand.
„Du mußt mit dem vorliebnehmen, was da ist,“ sagte die Frau. „Grütze hält lange vor, und dann wird man nicht durstig davon.“
Ja wahrhaftig, ich nahm vorlieb, wenn auch nicht gerade, weil ich jetzt im Winter im Gebirge den Durst fürchtete. Aber ich sollte die Richtigkeit ihres Wortes, daß Grütze auch für den Durst gut sei, noch bestätigen müssen.
Die braven Menschen! Wie gut sie es meinten, und als ich mich verabschiedete, ermahnten sie mich dringend, vorsichtig zu fahren!
Dann ging es in die mondhelle Nacht hinaus. Die Bahn war gut, der Schnee hart. Bevor ich das Tal verließ, mußte ich mehrere Male fühlen, daß Mondschein für Schneeschuhläufer heimtückisch ist. Der Schnee leuchtete in silbernem Glanz, wo nicht Abhänge und Vertiefungen dem Mond abgewandt waren. In den wenigen zerstreuten Waldstrecken warfen die Bäume lange Schatten. Die Berglehne im Süden lag im Dunkel.
Ich sauste eine lange Anhöhe hinab. Erst durch ein Wäldchen, dann aufs offene Feld hinaus. Aber auf einmal lag der Weg wieder im Schatten. Dichtes Gebüsch stand zu beiden Seiten. Bums! Die Schneeschuhspitzen rannten gegen einen Schneebuckel — und ich lag auf der Nase. Nun, das war nicht das einzige Mal.
Allmählich ließ ich das Tal mit den Bäumen und Büschen hinter mir. Im Westen lag die Bergweite wogend vor mir. Wohin das Auge schaute, war Schnee, Schnee, weißer, schimmernder Schnee.
Schnell ging es vorwärts. Mein Schatten tanzte neben mir her. Ich kam auf einen Bergrücken hinauf; vor mir breitete sich westwärts weit hinaus die weiße Fläche des Strandefjords, und den Hang hinunter ging es gerade auf ihn zu. Die Schneeschuhe hüpften über die Schneewehen wie über erstarrte Wogenkämme; es ging mit rasender Geschwindigkeit. — Nun war ich drunten auf dem Eise und hatte nur noch eine halbe Meile bis Myrstöl.
Bald meldete sich über der Bergreihe im Osten der Tag mit tiefstem Feuerrot, das nach und nach stärker und heller wurde. Berge und Schneeflächen empfingen einen seltsam unwirklichen blauvioletten Schein. Aber noch schien der Mond und warf lange Schatten.
Da lag auch schon Myrstöl. Ich ging um das Haus herum, um den Eingang zu finden. Es sah ganz so aus wie ein Stall. Ich klopfte, man antwortete, und ich öffnete die Tür. Ich sah in einen Raum mit Feuer auf dem offenen Herd, einige Frauen standen dort. Ein scharfer Geruch von Kühen schlug mir entgegen, und ich hörte die Tierlaute aus dem Raum nebenan und aus dem Raum unter der Diele. Ein solches Zusammenleben von Mensch und Vieh unter einem Dach hatte ich noch nie gesehen. Aber es gab Wärme, und Holz war spärlich, so tief im Gebirge.
„Guten Morgen, ist der Bauer zu Hause?“
„Nein, er ist bei Sennhütten jenseits des Fjords. Sie sind dabei, Renntiere zu zeichnen.“
Das Glück ist ein launischer Vogel. Die Renntierherde, die sie hier halten, hatte ich nicht in Rechnung gesetzt.
„Wie weit ist es bis dahin?“
„So eine halbe Meile Wegs wird’s wohl sein.“
Hm, bis Voß waren es wohl sieben oder acht Meilen. Da noch zwei halbe Meilen zuzulegen, war etwas viel. Ich mußte sofort weiterwandern. Aber etwas Proviant und eine Schachtel Streichhölzer hätte ich gern mitgehabt.
„Hast du etwas Proviant für mich zum Mitnehmen?“
„Da kann wohl Rat geschafft werden, wenn du mit dem vorliebnehmen willst, was wir haben. Aber wohin willst du denn? Du willst doch nicht etwa jetzt allein durchs Gebirge gehen?“
Jawohl, daran hätte ich gedacht, und die Bahn wäre im Gebirge jetzt wohl gut.
„Ja, das ist sie, und wenn du den Weg kennst, so sind es nur drei Meilen bis Aurland. Aber die Tage sind kurz, und es kann schwer werden, bis zum Abend ans Ziel zu kommen.“
Nein, diesen Weg kenne ich nicht. Ich wollte über Hallingskeid, Gröntalsee und über den Skavlen ins Rauntal hinab.
„Nein! Hat man so was gehört, den Weg jetzt zu gehen! Wo soviel Schnee im Gebirge liegt!“
Um so besser sei es, meinte ich, dann gäbe es doch gute Schneeschuhbahn.
„Aber du kommst heute nicht hinüber, und was willst du dann tun?“
Darüber wollte ich unterwegs nachdenken. Sehe es allzu gefährlich aus, dann könnte ich ja immer noch nach Aurland hinabfahren. Aber auf alle Fälle möchte ich etwas Proviant mitnehmen.
„Und dann könntest du mir eine Schachtel Streichhölzer geben,“ sagte ich zu dem jungen frischen Mädchen, das neben mir stand.
„Die sollst du haben,“ sagte sie und mit schelmischem Lächeln in den Augen fügte sie hinzu: „Aber dann mußt du mir auch versprechen, nicht übers Hochgebirge zu gehen.“
Das konnte ich nicht versprechen, so leid mir’s tat. Aber vorsichtig fahren wollte ich und alles gut überlegen, wenn ich auf den Gjeiterücken kam. Damit gab sie sich zufrieden, und ich erhielt die Schachtel Streichhölzer, die mit einem Stück Käse und einigen Laiben Fladenbrot in den Rucksack gestopft wurde. Dann verabschiedete ich mich und fuhr wieder auf dem Eise weiter. Der Mondschein war vor dem Tage verblichen.
Ich befand mich gerade am Ende des Strandefjords und wollte eben die langen Hänge zum Gjeiterücken hinauf, der Wasserscheide zwischen Hallingtal und Aurland — da ging die Sonne auf, und ein Strahlenquell ergoß sich über die Berge.
Ich zog durch das Tal, das sich gleichmäßig ansteigend aufwärts windet. Die letzten Sennhütten lagen bald hinter mir. Es ging über ein zugeschneites Gebirgswasser nach dem andern. Tief unter dem Schnee brummte der Fluß.
Dann stand ich an der Wegscheide. Nun galt es Aurland oder Vosseskavlen.
Gerade vor mir eine weite Ebene. Draußen am Rande verschwanden die Berge. Dort ging es abwärts nach Sogn zu. Auf diesem Wege konnte ich das Tal schnell erreichen. — Ich wandte mich um: weiß und lockend breitete sich die Bergweite, Gipfel an Gipfel, wie ein Lager weißer Zelte bis zum Himmelsrand, blaßrot und klar.
Weshalb den Umweg um Aurland und nicht geradeaus? Hatte ich früher in Nebel und Regen hinübergefunden, so mußte ich doch jetzt bei klarem Wetter und guter Schneeschuhbahn wohl auch ans Ziel kommen. Ging es heute nicht, so ging es morgen, und Unterkunft konnte ich in den Sennhütten von Hallingskeid oder in der Gröntalalm finden, und im übrigen ist der trockene Schnee warm genug, wärmer als eine harte Steinplatte im Herbst, wenn man bis auf die Haut durchnäßt ist.
Ich kam zu der heuschoberähnlichen Kuppel des Såta, die auf dem Bergrücken gerade da liegt, wo die Täler von beiden Seiten zusammentreffen. Man kann sie von weither sehen, und sie ist im Sommer eine gute Wegmarke.
Dort lag in alten Zeiten zwischen zwei großen Blöcken die Hütte eines englischen Lords. Es gab viele Renntiere, und manche schöne Tiere wurden hierhergebracht, aber auch manche Saumlast Getränke aus dem Tale. Die Hütte ist vergessen, das Dach eingestürzt; nur die niedrigen Steinwände stehen noch. Doch jetzt ist alles tief unter dem Schnee begraben, und kein lebendes Wesen streift hier vorüber, außer den Renntieren.
Dort waren frische Fährten einer großen Herde. Wie sie den Schnee aufgewirbelt hat, während sie davongejagt ist, soweit das Auge reicht! Dort verlieren sich die Fährten in einem Seitental.
Wie der Wind ging es immer bergab über den hartgefrorenen Schnee auf den kilometerlangen Abhängen. Viele Wochen lang hatte der Sturm den Schnee fest zusammengepackt. Das Tauwetter hatte eine dünne Kruste darübergelegt, und über diese war noch eine dünne Schicht losen Schnees gekommen. Eine bessere Bahn konnte sich ein Schneeschuhläufer nicht denken. Es ging fast von selbst, und ich konnte mich vom Wind, den ich im Rücken hatte, treiben lassen. Zuweilen ging’s über lange flache Seen zwischen den Bergen, dann wieder über lange Abhänge und durch jähe Schluchten.
Aber was war das dort für eine Fährte? Wölfe, drei Wölfe! Es ist der schlimmste Feind des Renntiers, und vor ihm waren sie wohl am Såta mit solcher Geschwindigkeit geflohen. Die Wölfe scheinen zuzunehmen. Voriges Jahr haben sie von der Herde zahmer Renntiere beim Strandefjord drei Stück geholt, dieses Jahr bereits fünf.
Ich hatte darauf gerechnet, daß ich um vier Uhr auf der Höhe des Vosseskavlen sein und bei Tageslicht ins Rauntal hinabkommen könnte. Brach die Dunkelheit herein, dann mochte es schwierig genug werden, sich hinabzufinden. Es war schon über zwei Uhr, und noch war ich nicht bei den Hütten von Hallingskeid. Sie lagen mitten im Tal, und ich konnte unmöglich vorübergekommen sein, ohne sie zu sehen. Gleich hinterher [S. 41] sollte ich ja zum Gröntalsee mit Hütte kommen und dort zum Vosseskavlen hinauf abbiegen.
Ich lief immer weiter, aber keine Hütte kam. Ich lief über einen See nach dem andern; doch da ich kein Haus sah, kam es mir nicht in den Sinn, daß einer von ihnen der Gröntalsee sein könnte. Zuletzt hatte ich ihn im Herbst bei Regenwetter gesehen. Alle Berge ringsum waren schwarz gewesen, nur Vosseskavlen im Südwesten hatte den weißen Kamm in das Nebeldach hinaufgehoben. Jetzt war alles weiß in weiß, so daß ich ihn nicht wiedererkannte. Ich mußte und wollte erst diese Hütten finden.
Es war schon nach drei Uhr — es ging stark auf vier. Die Hoffnung, noch heute hinüberzukommen, begann zu schwinden. Ich mußte sehen, die Hütten zu erreichen und dort zu übernachten. Dort war wohl vom Herbst her noch etwas Holz. Aber wo blieben sie nur? Sollte ich Zeit und Entfernung so falsch berechnet haben?
Das Tal wandte sich ruhig weiter abwärts, und schneller und schneller eilte ich ungeduldig vorwärts. Wieder war ich am Ende eines langen Sees. Doch halt! Da vorn verlor ich den Grund unter den Füßen. Die Schneewächte, auf der ich stand, hing über den Abgrund, und ich sah unten keinen Grund. Hier war keine Möglichkeit, hinabzukommen. Der Fluß schäumte und brauste unten durch eine enge Schlucht, jäh fielen die Talwände ab.
War ich je zuvor hier gegangen? Nein, ich konnte mich nicht entsinnen. Aber es mußte doch wohl so sein. Tal und [S. 42] Fluß gingen in dieser Richtung, und ihnen mußte ich folgen, bis ich zu den Hütten kam.
Ich fand einen Abstieg. Er war sehr steil, und es galt sich festzuhacken, den Stock in der einen, die Schneeschuhe in der andern Hand.
Endlich war ich unten am Fluß. Doch hier stürzte die Talwand so scharf zu den Wasserfällen ab, daß es schwer war, sich festzuhalten und nicht in das schwarze Wasser drunten zu fallen. Ich stieß den Stock bis zum Griff in den Schnee, und er hielt, wenn der Fuß den Grund verlor.
Da hing die Bergwand über den Fluß über. Hier mußte ich hinauf, wenn ich vorwärts wollte. Es ging mir nicht in den Kopf, daß ich jemals hier gewesen sein sollte, es konnte aber nicht anders sein; also kletterte ich hinauf. Oben hing die Schneewächte über. Ich mußte den Stock so weit innerhalb der Kante hineinstoßen, als ich nur konnte, dann die Schneeschuhe daneben — der Schnee war hart und hielt —, und dann galt es, sich hinter diesen hinaufzuschwingen. Hierauf kam der Hund, der auch hinaufgezogen werden mußte; damit war für dieses Mal uns beiden geholfen.
Es kam nun wieder ein etwas flacheres Stück, und dann ging es mit rasender Geschwindigkeit nach einem neuen See hinab. Als dieser überwunden war, folgte wieder eine Schlucht, die noch schlimmer war als die erste. Nach vielem Klettern kam ich auch hier vorüber und gelangte an einen dritten See.
Nun ahnte ich aber doch allmählich ernstlich Unheil, wenn mir’s auch nicht in den Kopf wollte, daß ich verkehrt gegangen sein sollte; [S. 43] selbst der Anblick von Birken überzeugte mich nicht. Als ich aber am Ende des Sees einen großen Birkenwald vorfand, dann auf einer Anhöhe vor einer Schlucht von einer Tiefe von mehreren hundert Fuß stand und in den dunklen Schlund eines engen, zu beiden Seiten mit Wald bestandenen Tales hinabsah, da wurde mir klar, daß ich nach Sogn hinabgekommen war und nicht mehr weit bis Kårdal im Flomstal haben konnte. Aber das war doch nicht mein Weg, ich wollte ja über den Vosseskavlen. Also umkehren! Ich mußte diese Nacht auf der Gröntalalm Unterschlupf suchen.
Das Schlimmste war, daß ich nun wieder die Schluchten, die ich herabgekommen war, hinauf mußte. War es aber herabgegangen, so kam ich wohl auch wieder hinauf.
Die Dunkelheit brach schon herein. Es ging gegen sechs Uhr. Bleich glitzerten die Sterne am blauen Gewölbe. Ich kletterte eine Bergwand hinauf. Der Schnee war hart und glatt; trat ich hier fehl, dann ging es direkt in den Wasserfall hinunter. Es wurde steiler und steiler; dann aber hing die Schneewächte so über, daß ich über die Kante reichen konnte. Stock und Schneeschuhe wurden fest eingerammt. Ich bekam am Rande Halt für das eine Knie, und so schnell wie möglich zog ich mich hinauf und war geborgen. Der Hund war glücklicherweise an einer andern Stelle hinaufgelangt.
Bald befand ich mich wieder auf einem langen See. Alle Schwierigkeiten waren überwunden. Jetzt galt es nur die Gröntalalm zu finden. Ich erinnerte mich, sie lag am Uferrand, gerade unter einem Felsschrofen, ich konnte sie also unmöglich [S. 44] verfehlen, wenn es auch dunkel war. Nur die Sterne warfen einen schwachen Schimmer über die Schneefläche.
Über alle Seen aufwärts hielt ich mich am rechten Ufer und spähte scharf aus, aber nichts anderes sah ich als Schnee und wieder Schnee und hier und da schwarzes Gestein. Ein See nach dem andern kam — eine Almhütte fand ich nicht. Es war wie verhext. Ich mußte bald wieder im Hallingtal sein.
Ich sah auf die Uhr. Ich konnte sie gerade noch erkennen, sie schien ½10 zu zeigen. Seit drei Uhr morgens waren wir unterwegs. Mochte es mit der Alm sein wie es wollte; wir konnten auch da, wo wir waren, ein weiches Bett finden, aber es ging ein beißender kalter Wind, und es galt, sich vor ihm zu schützen.
Wo der Wind eine hohe harte Schneewehe an einem großen Blocke zusammengetrieben hatte, grub ich mir ein Lager, zog eine Wolljacke an, das einzige Kleidungsstück, das ich im Rucksack hatte, und schlief sofort ein, den Sack unter dem Kopf, den Hund zusammengerollt neben mir.
Ich erwachte. Uff, war es kalt an den Beinen! Ich blickte empor und in die Weite. Gewiß schien bereits der Mond über den Schneeflächen dort oben. Ich konnte also ebensogut meine Fahrt fortsetzen.
Der Hund sah mich fragend an, rollte sich aber wieder zusammen. Er hatte keine Lust, so früh aufzubrechen.
Es war drei Uhr. Ich lief auf und ab und stampfte mit den Beinen. Dann wieder die Schneeschuhe angeschnallt. Ringsum leuchteten die Berge weiß im Mondschein. Die Schattenseiten lagen in düsterem Halbdunkel.
Aber wo ging der Weg? Wer jetzt sehen könnte, was die Berggipfel da oben von ihrer Höhe aus erblickten! Gestern abend mußte ich mich im Dunkel in ein Nebental verirrt haben; dort schien es gerade aufzuhören. Es war das beste, sich dessen zu versichern und dann auf demselben Wege, auf dem ich gekommen war, zurückzugehen. Die Spur von gestern mußte ich wiederfinden, wenn sie nicht verweht war.
Ich ging los und fand bestätigt, daß es ein Seitental war. Dann kehrte ich nach dem letzten See zurück, über den ich gegangen war. Dort waren Schneeschuhspuren. Ich sah mich um, eine Ähnlichkeit mit dem Gröntalsee, so wie ich ihn in Erinnerung hatte, war wirklich vorhanden. Die Berge schienen freilich etwas niedrig, aber dort auf der Südseite erhob sich ja genau so ein steiler Fels wie über der Gröntalalm. Wo aber waren die Häuser? Sie waren doch nicht etwa ganz eingeschneit?!
Am Fuße des steilen Felsens sah ich mich um. Da zeigte sich wirklich eine Erhöhung. Ich stach mit dem Schneeschuhstock hinein und stieß auf festen Boden. Ja, es war nicht unmöglich, daß da das Dach eines Hauses war. Ich mußte hier ins Gebirge hinaufsteigen, und auf jeden Fall mußte ich Umschau halten.
Ich stieg bergauf. Der Weg war steil und schwer zu gehen, und es dauerte einige Zeit, bis ich den Gipfel erreichte. Aber welcher Rundblick von dort oben! Unter dem ruhigen Glanze des Mondes breitete sich die Bergweite nach allen Seiten wie ein erstarrtes Meer von weißen Wellen, Rücken und Tälern mit Ebenen dazwischen — und baute sich weit draußen auf in Gipfeln und Gletschern, weiter und immer weiter, und am äußersten [S. 46] Himmelssaume schwand alles in silbernem Schimmer. Der Schnee leuchtete, die Firne glitzerten, die Täler aber lagen im Dunkel.
Nicht weit im Osten erhob der Hallingskarv seine gewaltige Masse. Was dort im Süden blinkte, mußte der Hardangergletscher sein, dann folgte wohl der große Osefirn. Im Westen aber erhob sich steil ein hohes Gebirge mit einer ebenen Firnfläche auf dem Kamme, das mußte Vosseskavlen sein. Gerade unter mir sank der Grund in das Dunkel hinab, über mir wölbte sich der Himmel tiefblau mit Mond und Sternen.
Doch der Mondschein trügt. Es ist besser, den Tag zu erwarten und Sicherheit über den Weg zu erhalten. Unterdessen kann man sich wieder in den Schnee eingraben und einige Stunden schlafen.
Dann brach der Tag an, und es wurde so hell, daß ich deutlich sehen konnte. Dort im Westen lag wirklich Vosseskavlen, darüber mußte ich hinweg. Ich konnte also wieder hinabfahren und dann das Tal, das gerade darauflos führt, entlang gehen; aber erst mußte ich etwas frühstücken.
Die Sonne kam, ein klarer Strahl drang durch den Raum und blitzte über das Meer von Bergen. Die Gipfel erglühten. Ein wahrer Lichtstrom brach herein.
Mit rasender Geschwindigkeit ging es ins Tal hinab, dann über einen See nach dem andern zum Vosseskavlen. Nun fand ich mich wieder zurecht. Die Hallingskeidalmen und die Gröntalalm waren offenbar ganz eingeschneit.
Endlich befand ich mich auf dem obersten Gebirgssee. Rundherum stiegen die hohen Felswände auf. Überall lag schwerer [S. 47] Schnee; das gab einen schwierigen Aufstieg, aber diesen Weg mußte ich gehen.
Schritt für Schritt kam ich aufwärts. Oft mußte ich in der harten Schneewand Stufen treten und mich mit Stock und Schneeschuh festhacken. Das Schlimmste waren die großen Schneewächten, und deren gab es eine Menge. Da mußte ich mich am Schneeschuhstock über den Rand hinaufschwingen. Der arme Hund! So lange es steil aufwärts ging, war er auf seinen vier Beinen im Vorteil. Hing der Schnee aber über, dann stand er ratlos da und begann zu winseln und zu heulen. Gewöhnlich fand er aber bald irgendeine Stelle, wo er hinaufkommen konnte. Sonst mußte ich mich oben auf den Bauch legen und ihn nachziehen. Ich mußte seinen Mut bewundern; am Rande eines Abgrunds konnte er die Schneewand hinauf die gewagtesten Sprünge machen; trat nur ein Fuß fehl, so mochte es eine schlimme Reise in die Tiefe geben...
Endlich hatte ich das Schlimmste überwunden. Puh, war das heiß! Das griff Arme und Beine an, und die Sonne briet. Ich empfand brennenden Durst, und der Schnee labte wenig. Vor Freude darüber, so weit gekommen zu sein, holte ich die Apfelsine hervor, die ich solange aufgespart hatte. Sie war gefroren und hart wie eine Kokosnuß. Ich aß sie ganz, Schale und Fleisch; mit Schnee gemischt war sie eine gute Erfrischung.
Am Rande des großen Gletschers, der sich nach dem Absturz zu vorschiebt, wurden die Schneeschuhe wieder angeschnallt, und schräg ging es die gleichmäßig ansteigende Fläche hinan.
Jetzt war ich oben. Der ebene Firn breitete sich vor mir. Im Westen blitzten in weiter Ferne die Gipfel nach Voß zu, im Süden und Südosten das Hardangergebirge mit dem Gletscher und der Osefirn, und hinter mir hoben sich die schweren Formen des Hallingskarv vom Himmelsrande ab. Unter mir sah ich den Gebirgskessel, den Bergsee und das Tal, durch das ich heraufgekommen war. Welch frohes Gefühl, die Hindernisse überwunden zu haben! Nun gab es keine mehr; nun nur noch bergab, den ganzen Weg bis Vossevangen.
Hier über diese Berge muß, nach der geschichtlichen Überlieferung, König Sverre irgendwo mit seinen Mannen, den Birkenbeinern, vor mehr als 700 Jahren (1177) im November gezogen sein, als er sich vor dem Feinde das Rauntal hinauf zurückziehen mußte.
„Da nahm König Sverre fünf Führer, die den Weg am besten kannten. Das war aber auch notwendig, denn das Wetter wurde so schlimm, wie selten geschieht. Es fiel unerhört viel Schnee... Sie verloren dort 120 Pferde mit goldenen Sätteln und Zäumen, allerhand Kostbarkeiten, Mäntel, Waffen und viele andere gute Dinge.“
Das alles hört sich nicht unglaubwürdig an. Für Pferde ist hier ein schlechter Weg. Schlimmer wird es, wenn es weiterhin heißt:
„Dazu kam, daß sie nicht wußten, wo sie zogen, und nicht einmal Wasser bekamen sie. Acht Tage lang genossen sie nichts anderes als Schnee. Am Tage vor Allerheiligen wurde das Wetter so schlimm, so unerhört es auch klingen mag, daß ein Mann davon den Tod fand, als das Wetter ihn niederwarf [S. 49] und ihm an drei Stellen das Rückgrat brach. Wenn die Böen kamen, blieb einem nichts anderes übrig, als sich in den Schnee zu werfen und die Schilde so fest wie möglich über sich zu halten.“
Das ist eine kräftige Schilderung. Aber wenig glaubhaft ist, daß Männer, und noch dazu wegkundige Männer, acht Tage lang durch dieses Gebirge gezogen sein sollen, ohne irgendwo eine bewohnte Stelle zu finden, mochte das Wetter auch noch so schlimm sein. So etwas passiert berggewohnten Leuten kaum. Schlimmer ist, daß sie, im Gebirge angekommen, angeblich kein Wasser finden konnten, anfangs November, wo es in jedem Bach rieselt. Aber es verhält sich ja so, daß, als die Saga von Abt Karl Jonsson niedergeschrieben wurde, „König Sverre selber aufpaßte und sagte, was geschrieben werden sollte“...
Ich ging über den Firn und stand bald auf der andern Seite, wo er in ununterbrochener glatter Fläche anderthalbtausend Fuß nach dem Kaldesee abfällt — immer schroffer und schroffer. Der Schnee war vom Winde glatt und hart zusammengepackt; hier und da gab es einige Wehen, zuweilen etwas Harscht. Es konnte schwer werden für die Schneeschuhe, die Richtung einzuhalten. Aber immerhin — es ging weiter und mit immer größerer Geschwindigkeit. Bald flog ich über Wellenkämme, bald wieder über ebenen Grund. Ich versuchte, die Geschwindigkeit durch einige Bogen zu mäßigen, doch das half wenig. Auf dem harten Schnee rutschten die Schneeschuhe nur seitwärts aus; deshalb lieber die Beine zusammen und geradeaus.
Ich erreichte das Eis, und eine weite Strecke ging es darüber hin. Nach vollendeter Fahrt zitterte ich an allen Gliedern. Ich [S. 50] schaute nach oben. Weit droben auf der Höhe arbeitete sich ein dunkler Punkt abwärts. Das war der Hund, der mir schleunigst nachkam.
Die Bahn wurde immer schlechter. Man merkte die Nähe des Meers. Der Schnee wurde mehr und mehr von einer glatten Eiskruste bedeckt, die für die Schneeschuhe sehr schlecht war und auch für die Hand, wenn man ihr zu nahe kam. Doch schnell ging es durch die enge Schlucht, die vom Kaldesee zur Opsetalm hinabführt, der höchstgelegenen Alm im Rauntal.
Auf einmal stand ich vor einem Abgrund. Von allen Seiten ging es schroff hinab nach dem Tale tief unter mir. Die Schneewächte rundete sich glatt vornüber, und ich fuhr zurück. Es war nicht sicher, ob sie trug. Gab es hier einen Abstieg? Es sah schlimm aus. Aber vielleicht ging es in einer engen Schlucht, wo die Schneewächte nicht überhing; vorsichtig stieg ich Schritt für Schritt ab...
Nun folgten nur noch lange schöne Abhänge und schließlich die lange Lehne zur Opsetalm hinab. Da gab es eine bedenkliche Geschwindigkeit. Die Schneeschuhe rutschten auf dem gefrorenen Schnee. Ich fiel und bekam von dem Harscht einige schlimme Risse am Handgelenk.
So war ich denn im Rauntal, und auf birkenbestandenen Halden, wo die Schneehühner aufflatterten, glitt ich nach Kleivene hinab, dem höchstgelegenen Gehöfte der Gemeinde.
Wie durstig ich war! Ich glaube, Sverres Mannen konnten kaum durstiger gewesen sein. Nichts in der Welt ging jetzt über ein paar Liter süße Milch.
Ich erreichte das erste Haus. Keine Menschenseele daheim. Bis zum nächsten Gehöft waren es mehrere hundert Schritt. Das war zu weit. Ich nahm die Schneeschuhe ab, trat ins Haus und holte mir vom Milchschrank einen großen Topf süße Milch; ich trank und trank und aß etwas dazu, und auch der Hund bekam seinen Teil.
Wie ich so auf der Holzbank saß und mir gütlich tat, kam eine Schar kleiner Mädchen hereingestürzt. Wie angenagelt blieben sie stehen, als sie mich und den Hund erblickten. Eine Weile standen sie mit offenem Mund. Ich sagte Guten Tag, bekam aber keine Antwort. Dann stürmten sie davon, so rasch es ging. Ich muß schrecklich ausgesehen haben.
Nach einiger Zeit erschien eine Frau. Vorsichtig öffnete sie die Tür und kam herein, blieb aber unschlüssig stehen. Hinter ihr glotzten einige von den erschrockenen Mädchengesichtern. Ich nickte freundlich:
„Guten Tag, du mußt entschuldigen; ich habe mir von deiner Milch genommen, aber ich war so durstig und konnte nicht warten.“
„Na, Gott sei Lob und Dank, daß du ein Christenmensch bist; wir glaubten schon, du wärest ein Troll und dein Hund ein Wolf oder sonst ein Ungeheuer. Einen so großen Hund haben wir noch nie gesehen.“
Ich hatte einen rotbraunen irischen Setter mit mir.
„Du brauchst dich nicht zu fürchten, er beißt ebensowenig wie ich.“
„Aber wie bist du hierher gekommen?“
„Ich komme über Vosseskavlen aus dem Hallingtal.“
„Nein, hat man so etwas gehört!“...
Sie hatten mich weit oben in der Birkenhalde, in eine Wolke losen Schnees gehüllt, auf den Schneeschuhen kommen sehen, und dann in weitem Abstand den Hund in einer andern Schneewolke. Ich war ganz vollgeschneit und weiß gewesen. Darum hatten sie mich für einen Berggeist gehalten, der einen Wolf bei sich hatte, und da waren sie denn nach dem nächsten Gehöfte gelaufen, da nur Frauen zu Hause waren.
Es war auch weiter kein Wunder. Niemals war jemand zur Winterszeit dort durch das Tal gekommen und selten des Sommers, und einen Hund so groß wie einen gewöhnlichen Hühnerhund hatten sie noch nie gesehen.
Bald wurden wir gute Freunde, und ich bekam alles, was ich haben wollte, Milch und Essen.
Ich war müde, und eine halbe Stunde Schlaf konnte gut tun. Ich warf mich aufs Bett und schlief.
Um vier Uhr ging es weiter. Aber hier im Tal wurde es bald dunkel, und die Bahn und der Weg wurden für Schneeschuhe bei der Glätte und den Buckeln immer mehr unmöglich. Als ich Vold erreichte, hielt ich es daher für das beste, ein Pferd zu nehmen und wenn möglich die letzten zwei Meilen zu fahren.
Ich trat in eine große Stube mit Lehmboden, in der ein gewaltiges Feuer auf dem Herde knisterte. Ich wünschte Guten Abend und fragte nach einem Pferd.
„Ja, das kannst du schon haben, aber doch nicht heute abend?“
„Doch,“ sagte ich, „ich möchte die Nacht in Vossevangen sein.“
„Nein, du, das laß bleiben, bei solcher Bahn und in solcher Dunkelheit kann man nicht nach Vangen fahren. Der Weg geht gewölbt und vereist neben dem Abgrund. Beim Sverresteig ist es am schlimmsten, dort ist es schon am Tage schlecht genug.“
Ich blieb bei meinem Entschluß. Ich wollte noch am Abend ans Ziel kommen. Konnte ich kein Pferd erhalten, so würde ich zu Fuß gehen.
Nach einiger Überredung gab der Bauer nach und sagte, er wolle es versuchen.
Endlich brachen wir auf; aber der Weg war schlecht, das war richtig, und dunkel war es auch. Wir mußten ungefähr ebensoviel gehen als fahren, aber ich war müde und darum froh, so oft ich sitzen konnte. Wir erreichten den gefürchteten Sverresteig; er war wirklich schlimm, hatten wir ihn aber überwunden, dann ging es auf ebenem Wege weiter.
Wir gingen behutsam zu Werk; der Weg war steil und führte unmittelbar neben dem Abgrund. Er war gewölbt und glatt; es war schwer, Fuß zu fassen. Ließ man den Schlitten los, so konnte man leicht abrutschen. Das Pferd aber mit seinem scharfen Beschlag stand fest auf den Beinen. Wir konnten uns an den Zügeln und am Schlitten halten; so ging es Schritt für Schritt abwärts.
Endlich waren wir unten. Wir konnten aufsitzen und bald waren wir in Vossevangen. Es war schon ein Uhr nachts. Ich donnerte an die Tür. Es dauerte eine Weile, bis sie geöffnet wurde. Die kurze, dicke Gestalt des Hotelwirts stand in [S. 54] Unterhosen vor mir und rief verwundert: „Ach, Sie sind so spät noch unterwegs?“
Ich sehnte mich nach einem guten Bett, das ich auch bekam. So tadellos in der vergangenen Nacht das Lager auf dem Hallinggebirge gewesen sein mochte, fand ich doch, in Fleischers Hotel in Vossevangen war es besser.
Mitte März 1916 saß ich abends in dem gemütlichen Gastzimmer des Hotels in Finse und sprach davon, daß ich Lust hätte, noch einmal auf Vosseskavlen zu stehen und wie in der Jugend Umschau zu halten und dann den Abstieg auf Schneeschuhen zum Kaldesee hinab und weiter zu versuchen. Andreas Klem, der Direktor von Haugastöl, mit dem ich zusammen war, fing sofort Feuer. Wohl schneite es im Gebirge, im Westen aber war klares Wetter, dessen versicherte er sich sofort durch das Telephon.
„Fein-feine Schneeschuhbahn! Morgen früh ziehen wir los.“ Nun wohl!
Vor Sonnenaufgang kamen wir mit dem Zug über das Hochland nach Station Hallingskeid, gerade der Stelle, wo ich an jenem Winterabend vor 32 Jahren nach einer eingeschneiten Sennhütte gesucht hatte, um dort die Nacht zu verbringen. Auch jetzt hatte ich einen Hund mit.
Die Schneeschuhbahn war gut. Es ging die langen Lehnen von der Station nach dem Gröntalsee hinab, dann über das Eis und das Tal zum Vosseskavlen hinauf. Es war blauer Himmel, [S. 55] und bald kam die Sonne. Ungefähr dasselbe Wetter und dieselbe Bahn wie damals, als ich zuletzt hier fuhr. Nur schien mir der Weg vom Gröntalsee bis zum Skavlen viel länger zu sein als damals.
Endlich waren wir beim höchsten Gebirgssee angelangt. Ja, ich fand mich so ziemlich wieder zurecht. Da waren die schroffen Bergwände auf allen Seiten und die lange schwere Steigung zum Skavlen hinauf; eine mächtige Schneemenge war auch da. Aber trotzdem war es anders. Die Steigung schien mir nicht ganz so schroff, wie ich sie in der Erinnerung hatte, und dann hingen jetzt keine Schneewächten über. Es war leichter hinaufzukommen, und der Hund hatte keine Schwierigkeiten.
Vom Vosseskavlen hatten wir dieselbe Aussicht über diese weiße Bergweite wie einst. Sie war sogar noch wunderbarer, als ich sie in der Erinnerung hatte, und Andreas Klem fand, nie habe er etwas Schöneres gesehen, soviel er auch diese Berge durchstreift habe.
Die Fahrt über den Gletscher vom Rande der obersten weißen Fläche bis zum Kaldesee hinab gestaltete sich noch großartiger, als ich mich erinnern konnte.
Es war ein mächtiger Abhang, und wir bekamen eine tüchtige Geschwindigkeit. Aus Leibeskräften bremsten wir mit dem Stock; es ging aber schneller, als uns lieb war. Schneewehen waren auch viel mehr vorhanden als jenes Mal, und es war schwer, die Herrschaft über die Schneeschuhe zu behalten, während sie über die wellenförmige Fläche tanzten und man sich auf den Stock stützte. Mitten in der schnellen Fahrt rutschten die Schnee [S. 56] schuhe zu beiden Seiten einer Schneewehe aus. Die Beine kamen immer weiter und weiter auseinander; es war, als sollte man in der Mitte gespalten werden. Aber im letzten Augenblick, bevor das Unheil eintrat, gelang es mir, die Schneeschuhe wieder aneinanderzureißen... Klem erzählte mir später, ihm sei es ebenso gegangen, aber auch er habe sich noch im letzten Augenblicke gerettet.
Wir fuhren nun mehrere Bogen, um die Geschwindigkeit etwas zu mäßigen. Endlich ging es die letzte schroffe Böschung hinunter, gerade auf den See zu, und in rasender Schußfahrt sausten wir weit aufs Eis hinaus.
Wir schauten zurück. Derselbe Anblick wie damals. Hoch oben ein schwarzer Fleck, der Hund. Welch gewaltigen Eindruck machte nicht diese Anhöhe, die von dort oben auf uns herabkam! Wir konnten den Anfang nicht sehen.
Andreas Klem sagte, nie habe er einen „flotteren Lauf“ gehabt, aber man fühlte es auch in den Beinen.
Seit ich das letzte Mal hier gefahren, waren viele von denen, die am Bau der Bergenbahn beteiligt waren, in diese Gegend gereist, und während der Arbeit am Gravehalstunnel war ja ein beständiger Verkehr über das Gebirge hin und zurück.
Man hatte später mehrere leichtere Übergänge gefunden, besonders einen Schneeschuhweg, der der Doktorweg hieß, nach dem Dr. Brunn, dem Distriktsarzt von Ål, der damals Arzt bei der Tunnelunternehmung war. Dieser Weg sollte weiter östlich vom Kaldesee nach dem Myrtal hinabführen.
Ich wollte am liebsten meine alte Straße ziehen; deshalb [S. 57] fuhren wir durch das enge Gebirgstal hinunter. Hier lag auf dem Schnee eine blanke Eiskruste, die uns zwang, sehr behutsam zu fahren.
Endlich erreichten wir denselben Talkessel, in dem mir das letzte Mal Halt geboten war. Aber es war wahrhaftig viel schlimmer, als ich mich erinnern konnte. Wir kamen an dieselbe überhängende Schneewächte und mußten zurück, und nirgends schien es einen Abstieg zu geben.
Wir versuchten es an einer Stelle, wo keine Wächte überhing, und kamen auch ein Stück herab; aber die Schneewand fiel steil ab und hatte streckenweise eine harte Eiskruste. Die Schneeschuhe in der einen Hand, mußten wir Stufen in das Eis stampfen, während wir mit der andern Hand den Stock hineintrieben, um uns an ihm zu halten. Ich war besser daran als Klem. Da ich keinen Schneeteller am Stocke hatte, konnte ich diesen tiefer hineinstoßen. Es ging ein scharfer Wind. Schlimme Windstöße kamen über die Bergwand auf uns herab.
Schließlich wurde der Abfall so steil, daß es uns nicht mehr geheuer war. Der Schnee war fast ganz vereist, und es war nicht leicht, Fuß zu fassen. Wir ließen den Rucksack fahren, um auf alle Fälle ihn los zu sein. Er sauste hinunter und wurde immer kleiner, bis er endlich das Tal erreichte. Tief unten sahen wir ihn als einen schwarzen Punkt. Denselben Weg würden wir nehmen, wenn ein Fuß ausglitt. Aber die Schneewand war ganz glatt und ging allmählich in den Talgrund über. Vielleicht war es doch nicht das Schlimmste, wenn wir uns auf den Rücken legten und hinabrutschten, aber wir wollten uns [S. 58] nicht gern auf das Experiment einlassen. Man konnte nicht wissen, was wir an Kleidung noch am Leibe haben würden, wenn wir unten ankamen.
Wir sahen uns um. Oben unter der hängenden Wächte war eine Art Kluft. Vielleicht war dort besser hinunterzukommen. Wir gingen zurück und hinauf und machten den Versuch. Eine Weile ging es gut, aber da stürzte der Hund über die Wächte hinab, überschlug sich in der Luft und fiel auf einen kleinen Fels am Rande des Abgrunds. Dort faßte er Fuß und war geborgen. Er war offenbar oben auf der Wächte infolge eines Windstoßes ausgeglitten.
Bald wurde der Abstieg schroffer, der Schnee härter und verharscht, und die Windstöße wurden nicht schwächer. Wir fanden es schlimm und wären am liebsten zu der Stelle zurückgekehrt, wo wir es zuerst versucht hatten. Aber nein, nun mußten wir da weiter, wo wir waren. Indem wir eine Stufe nach der andern stampften, kamen wir auf die Felswand auf der andern Seite der Kluft hinüber. Dort war der Schnee weicher und der Abstieg leichter. Endlich konnten wir wieder die Schneeschuhe anschnallen, und dann ging es zum Rucksack im Talgrunde hinab.
Ich konnte mich nicht entsinnen, damals, als ich hier allein ging, etwas so Schlimmes erlebt zu haben wie den Abstieg in dieser Schlucht. Es mußte aber wohl ebenso gewesen sein, und mich erfaßte beinahe Bewunderung für mich selber, daß ich das geleistet hatte, ohne einen tieferen Eindruck behalten zu haben.
Mit der Erinnerung ist es übrigens eine merkwürdige Sache. Den Aufstieg hatte sie eher schlimmer gemacht als er war, aber die Hügel und Abhänge abwärts um vieles geringer und leichter als in Wirklichkeit. Kommt das vom Alter? Während die Schwierigkeiten des Aufstiegs nicht sonderlich größer werden, ja dem ungeduldigen, unerfahrenen Jüngling vielleicht schlimmer erscheinen, überwindet die Jugend im leichten Spiel alle Schwierigkeiten des Abstiegs. Das Alter macht behutsamer.
Nun ging es einen schönen Abhang nach dem andern hinab und schließlich noch die langen Halden nach Opset zu. Hier briet uns die Sonne, und wir mußten uns von allen Hügeln fernhalten, die nicht im Schatten lagen. Endlich erreichten wir den Talgrund und sollten nun zur Station Opset hinauf. Die Schneeschuhe wollten nicht mehr gleiten. Wir versuchten es auf alle Weise, sie in Gang zu bringen, aber schließlich mußten wir verzweifelt nachgeben und stolperten hinauf, mit fußdickem Schnee unter jedem Schneeschuh, bis wir endlich an die Eisenbahnlinie und an die Häuser kamen.
Es war über eine Stunde, bis der Zug abging, mit dem wir nach Finse zurückfuhren. Dort nahmen wir um halb drei Uhr ein üppiges Mahl ein.
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Welche Wandlung! Wie sich doch alles auf einmal ändern kann!
Seit Sverres Zeiten — und schon lange vor ihm — war hier oben bis vor wenigen Jahren alles beim alten geblieben — dieselbe Einsamkeit im Winter über diesen Bergweiten.
Aber jetzt! Der Pfiff der Lokomotive durchgellt die Stille, keuchend fahren die Züge hin und zurück. Der schwarze Steinkohlenrauch schlägt zu den Tunnelmündungen heraus und steigt zum blauen Himmel empor — und die sogenannte Kultur mit ihren großen Hotels und ihren unvermeidlichen „Touristen“ kriecht höher und höher in die Berge hinauf.
Ja freilich, es ist ja „bequem“ und „komfortabel“. Du kannst des Abends in Kristiania zu Bett gehen und am frühen Morgen in Finse oder Hallingskeid zum Frühstück aufstehen und am Vormittag einen Spaziergang nach dem Hardangergletscher oder zum Vosseskavlen unternehmen. Das bringt viele Leute ins Gebirge hinauf, die sonst nie dorthin gekommen wären.
Aber ach, wenn nur nicht so vieles andere mitfolgte, was die Menschen nicht hebt. Allerhand Luxus, Essen und Trinken und Toiletten und Kartenspiel und Narrenstreiche! Jetzt gehen die Leute hinauf ins Hochland, in eines dieser großen Hotels, um die Zeit totzuschlagen, und tage- und wochenlang leben sie ein so lärmendes Leben, daß sie in die Stadt hinabmüssen, um sich auszuruhen...
Die Bergweite, die den Menschengeist erhebt und ihm die großen, einfachen Linien geben könnte, sehen die wenigsten. Ich glaube, sie war doch wohl besser, die eingeschneite Almhütte, die ich suchte und nicht fand...
Ich habe eine Erinnerung, die sich mir oft aufdrängt. Es war bei der Heimkehr von der Nordpolfahrt. Fest auf Fest war in den Städten gefeiert worden. Die „Fram“ glitt bei strahlendem Sonnenschein in den breiten schönen Fjord von [S. 61] Drontheim hinein. Dampfer, über und über flaggengeschmückt, schwarz von Menschen, fuhren den Heimkehrenden entgegen. Hurra- und Hochrufe, Kanonensalut, Jubel ringsum zu Wasser und zu Lande. Da trat Peter Hendriksen zu mir auf der Brücke heran.
„Du, N.“, sagte er, „schön mag das wohl sein, aber es ist zuviel Lärm. Ich denke ans Eismeer. Dort hatten wir’s gut.“
Und er sah mich an, mit seltsamer Wehmut in den treuen Kinderaugen.
War es die Sehnsucht dorthin zurück, wo der Himmel so hoch war, die Luft so rein, so einfach das Leben? — Zurück in die Einsamkeit, in die Stille, in die Größe?
September 1898.
D er Edelstein wird nicht blank ohne Schleifen und der Mann nicht vollkommen ohne Prüfungen. So lautet bei den Chinesen eine Inschrift im Tempel der ewigen Harmonie. Dann muß ich aber wirklich der Vollkommenheit nahe gekommen sein; denn nie hat wohl ein Mann so viele Prüfungen zu bestehen gehabt wie ich, bevor ich diese Reise antreten konnte. Ich wollte ins Gebirge, um neue Jagdreviere zu besichtigen.
Erst hatte ich den halben Tag mit meiner Ausrüstung zu tun, dann vergaß ich, sie nach der Bahnstation in der Stadt mit der Post befördern zu lassen, und mußte daher zur Nachtzeit das Mädchen zum Landkrämer schicken, um ein Pferd zu bekommen.
Endlich kam ich am Morgen weg. Erik Werenskiold und Moltke Moe wollten mich ein Stück begleiten. Zunächst fuhren wir mit der Bahn nach Kröderen. Ich hatte aber den Hundekuchen vergessen, und es mußte nach Drammen telefoniert werden, damit uns ein Sack voll an den Zug gebracht würde, wenn wir dort durchfuhren. Auch das kam in Ordnung.
Dann wäre uns an der Station Kröderen das Dampfschiff beinahe vor unsern Augen davongefahren, während wir uns mit irgend etwas anderm beschädigten.
Dann war der eine Koffer mit all meinem Gebirgsproviant bei Olberg an Land gegangen, und ich mußte auf der Landebrücke von Gulsvik stundenlang telefonieren, ohne die Sache in Ordnung bringen zu können, und mußte die ganze Eisenbahnverwaltung in Bewegung setzen. Währenddem saß der gute Moltke Moe an einer Kiste, die er als Tisch benutzte, und schrieb an einer Eingabe, die er jemand versprochen, aber nicht vor der Abreise fertig bekommen hatte — nun mußte sie erledigt werden.
Endlich war auch das in Ordnung, und wir zogen durch das Hallingtal hinauf. Doch da überfuhr ich meinen Hühnerhund Laila, und er schrie so fürchterlich, daß ich schon dachte, nun sei dieser Jagdausflug unmöglich gemacht. Es zeigte sich aber, daß kein Knochen gebrochen war; ich nahm den Hund in den Wagen, und bald war er wieder bei bester Laune.
Dann begegneten uns mehrere große Kuhherden, und der andere Hund, Jompa, ein kleiner Waterspaniel, rannte in den Wald. Wir mußten lange Jagd auf ihn machen, bis wir ihn endlich wieder einfingen. Er war ganz von Sinnen; soviel Kühe hatte er noch nie auf einmal gesehen.
Am Abend erreichten wir endlich Åvestrud. Hier entdeckte Moltke, daß er noch für L. eine Eingabe an das Storting um ein Stipendium schreiben müsse, um sie mit der ersten Post abzuschicken.
Das sah ihm ähnlich! Immer alles für andere, nichts für sich selbst. Ermüdet von der langen, ungewohnten Reise und trotzdem unermüdlich in seiner Güte für andere, setzte er sich hin und schrieb bis nachts halb ein Uhr, während ein Mann vor [S. 64] der Tür wartete, um den Brief südwärts nach Vik auf die Post zu bringen. Aber die Eingabe war auch so, wie kein anderer sie schreiben konnte.
Am nächsten Tag (7. September) kamen wir nach Nes, und am Abend traf der Koffer ein, von der Bahn mit Extrapost nachgeschickt.
In Nes hielt sich ein Schotte, Sir James F., mit Lady auf, um im Sevrefall zu fischen. Er fand es einigermaßen unbequem, daß er Tag für Tag die lange Strecke bis dort hinaus fahren mußte. Er war seit dem 4. Juli da und wollte bis zum 26. September bleiben. Am Nachmittag angelten er und die Lady im Flusse bei Nes ohne Erfolg. Die Lady beklagte sich sehr darüber, daß sie nicht mit angeln könne; aber sie wage es nicht, in Kniehosen zu gehen, sagte sie, um bei den Bauern nicht anzustoßen. Für sie und Sir James war es eine große Erleichterung, als ich versicherte, die Bauern würden es ertragen, selbst wenn Lady die unerhörte Unanständigkeit begehen sollte, in Hosen zu gehen.
Unser Hotelwirt in Nes war ein gewandter Mann, der sich fein ausdrückte. Mein Hund Jompa sei „kongservastiv“, meinte er; er halte sich an die Damen und wolle nichts mit den andern Kötern zu tun haben. Eine Erklärung dafür, weshalb das besonders konservativ war, erhielt ich nicht.
Übrigens erzählte er auch, wie er gelegentlich seine Gäste hinters Licht führte. Er hatte einen einfachen Rotwein, den er sich mit zwei Kronen die Flasche bezahlen ließ; der war ziemlich sauer. Einige Engländer hatten gemäkelt und gefragt, ob er [S. 65] nicht einen teureren Wein hätte. O ja! Er war in den Keller gegangen und hatte einige Flaschen derselben Sorte, aber bestaubt und beschmutzt, hervorgeholt. Die brachte er behutsam herein und sagte, sie kosteten vier Kronen die Flasche. Da habe der Wein gut geschmeckt, behauptete er; das mit den feinen Weinen sei meist Einbildung.
Am Freitagmorgen (9. September) kam die schlimmste Prüfung. Es galt, Abschied zu nehmen von Erik Werenskiold und Moltke Moe, die wieder zurück mußten, während ich mit Saumpferden westwärts ins Gebirge hinein weiterreiste.
Im Rukketal sprach ich bei Ola Haraldset vor, den ich gern mit auf die Jagd nehmen wollte. Es war aber nur die Frau zu Hause. Der Mann war oben im Gebirge, um einige junge Hunde abzurichten. Aber in ein paar Tagen werde er zurück sein, und dann käme er vielleicht nach. Also ging ich allein weiter, an Liaset und Brynhilds-tjern vorüber nach der Holmevaßhütte.
Am Sonnabend (10. September) streifte ich über alle Hügel und Spitzen östlich des Holmesees, um nach Schneehühnern und nach der Brenbu-Alm zu suchen, wo ich eigentlich bleiben wollte. Schneehühner fand ich nicht viele, nur zwei Völker, aber die Alm fand ich endlich am Nachmittag.
Brenbu-Alm , Sonntag, 11. September 1898.
Auf der Alm. Der Tag geht zur Neige. Auf dem Herde glimmt die Glut. Die Hunde liegen auf dem Boden, [S. 66] müde von der Jagd, glücklich, daß sie ausruhen können. Ich sitze auf dem Bett und schaue durchs Fenster auf die Berge hinaus.
Draußen liegt Bergrücken hinter Bergrücken. Hier vorn zwischen den niedrigen birkenbestandenen Anhöhen einige sumpfige Weiher, jetzt dunkel und still nach dem Sturm, der noch die Wolken über die Rücken jagt.
In weiter Ferne aber blinkt zwischen blauen Bergrücken ein goldener See, gerade unter dem schmalen Lichtstreifen des Sonnenuntergangs, wie ein lockendes Nixenauge. Es sendet Kunde und Grüße. In den goldenen Fluten ist Ruhe für die brennende Menschenseele.
Ganz draußen am Rande des Horizonts liegt das blauschimmernde Gebirge Hallingskarve mit glitzernden Firnen, der Gipfel noch verdeckt von jagendem Nebel...
Da stürmen die Schafe und Ziegen in ganzen Herden auf die Wiese herein. Wie sie vor ausgelassener Lebensfreude hüpfen und springen! Die Lämmer umspringen die Mütter, als sei das Leben eitel Lust. Lustig bewegt sich das kleine Schwänzchen, so oft sie unter den Bauch stoßen und die Zitzen erwischen. Der Schafbock stößt mit den Hörnern gegen den Zaun, daß es knallt, und rennt den Schafen nach.
Nun kommt die Melkerin mit dem Holzkübel, um die Ziegen zu melken, die ruhig warten, bis sie daran sind. Unten an der Birkenhalde am Rande des Moors trottet die Kuhherde daher, man hört von weither das Schellengeläute und Brüllen.
Aber der Herbstabend wird dunkler, die Weiher dort unten [S. 67] noch schwärzer und tiefer. Hoch oben jagen düstere Wolken. Und mitten darin zwischen allem — der Mensch, der in allem und in nichts sich selbst wiederfindet, der weder träumender See noch jagende Wolke ist, aber sinnloser als dies alles.
Rasch wird es dunkel, vereinzelte Regentropfen fallen auf die Fensterscheibe. Bald kommt die Nacht und hüllt die Bergweite ein, die schwarzen Weiher und das Nixenauge weit draußen.
Montag abend, 12. September.
Wieder sitze ich hier am Fenster, wieder liegen die Hunde müde von der Jagd auf dem Boden, und wieder dieses wundervolle Gefühl in den Muskeln, wenn man die Glieder nach einem anstrengenden Tage streckt. Man hat das Wohlbehagen des Tiers, das Glück des geschmeidigen Leibes bei dem Gefühl, daß doch noch Spannkraft vorhanden ist — den ewigen Traum von Jugend...
Es ist auch eine Freude, als Wilder zu leben! Es ist der Naturmensch in uns, der seinem Ursprung näher kommt.
Während ich so dasitze, gleitet Bild auf Bild aus dieser Bergwelt an meinen Augen vorüber.
Ich sehe die Berge im Westen im herbstlichen Nebelregen. Es dunkelt gegen Abend. Die Renntierherde lockt tief ins Gebirge hinein. Der Nebel wird dichter und dichter. Man verirrt sich... Die Renntiere verschwinden unter den Blöcken der Schutthalde; im Dunkel geht es durch einen Bach nach dem andern, bis an den Leib im Eiswasser, der Steinhütte zu. — [S. 68] Endlich ist man am Ziel. Man hat Krampf in den steifen Beinen und kommt nur mit Mühe vom letzten Fluß aus die Anhöhe hinan. Die Hütte ist nicht besonders. Es tropft durchs Dach. Draußen gießt es, und ich bin naß bis auf die Haut. Auch das Holz ist naß... Endlich lodert das Feuer. Alle Kleider sind zum Trocknen aufgehangen, nackt sitze ich am Herd und brate das Renntierfleisch am Spieß. Ich esse es halb roh, während der rote Fleischsaft herabrinnt... Dann werden Steine gewärmt und ins Bett getragen, dessen Grasfüllung ganz naß getropft ist. Das gibt eine warme, aber freilich keine ebene Unterlage. Der Körper muß sich in S -Form biegen, um den fallenden Tropfen zu entgehen. Am nächsten Tag geht es wieder hinter dem Renntier her...
Schneebedeckt liegt die Bergweite im Sonnenschein blinkend da, Gipfel hinter Gipfel, wie ein Lager von weißen Zelten am Himmelsrand, blaßgrün und klar. Auf den Schneeschuhen kommt man leicht mit Windeseile vorwärts...
Dann die Berge in der Winternacht unter dem Sternengewölbe. Ein Mann und ein Hund suchen eine Hütte, die im Schnee verweht ist...
Und dann sehe ich die Bergweite im Schneesturm. Alles ist rauchender Kampf, kein Weg zu erblicken. Die Windstöße fallen über einen her, daß man auf den Schneeschuhen zurückgetrieben wird. Aber man muß vorwärts, um eine geschützte Stelle zu finden...
Immer dasselbe freie, einfache Leben in reiner Luft, das dem Ursprünglichen in uns wieder zu seinem Rechte verhilft.
Mittwoch abend, 14. September.
Es gibt merkwürdig wenig Schneehühner. Gestern hatte ich den ganzen Tag über das feinste Schneehuhnrevier, aber alles, was ich erbeutete, waren fünf Hühner, und mehr waren auch nicht zu sehen.
Tief im Gebirge, jenseits des Holmesees, traf ich Haraldset, der auf dem Wege hierher war. Ein vierschrötiger Mensch, etwas untermittelgroß. Der Kopf sitzt gut auf starken Schultern; ein kräftiges Gesicht mit Vollbart, das Haar unter dem Filzhute etwas verwildert. Erfahren in allerhand Jagd und Fang, immer unterwegs in Wald und Berg, Sommer und Winter, einer von diesen wandernden Gesellen, denen das Leben im Tal zu eng und zu kleinlich ist. Es gibt mehrere der Art rundherum in den norwegischen Gemeinden. Sie formen ihr Leben, wie sie selber wollen, diese Männer, nicht wie andere es wollen. Das könnten wir wohl alle, aber wir tun es nicht.
Er hatte ein Klappergestell von einem jungen englischen Setter mit, den er dressieren sollte, einen feinen, schönen Hund, aber so mager, daß man fürchten mußte, die Rippen könnten sich durchs Fell bohren. Er war wählerisch im Fressen, und es kostete viel Mühe, ihn überhaupt dazu zu bringen. Wir nannten ihn später den Knochenmann.
Heute morgen ging südlicher Wind mit Regen. Traurig und schwer hing nasser Nebel an allen Spitzen. Dann schlug der Wind in kalten Nordwest um; er wurde rauher und rauher und steigerte sich zu heulendem Sturm, und der Himmel klärte sich zu kalter Bläue.
Den ganzen Tag durchstreiften wir das Gebirge, ohne viel zu finden; nur hier und da einen vereinzelten Hahn. Erst als wir auf die höchsten Bergrücken kamen, fanden wir einige kleine Hühnervölker. Aber der Wind ging so stark, daß Hunde und Mann weggeweht wurden, und Haraldset wurde beinahe umgeblasen, als er eine scharfe Wendung machen wollte, um ein Schneehuhn zu schießen. Klein-Jompa überschlug sich, als er im Weidengebüsch vorlaufen wollte, und es sah so aus, als sollte der arme Knochenmann mitten entzwei geblasen werden.
Die Schneehühner hielten schlecht und strichen vor dem Winde ostwärts über die Berge, soweit wir sehen konnten; Haraldset meinte, geradewegs nach Schweden hinein. Viel Beute machten wir nicht. Auch einen Hasen sahen wir hoch oben auf dem höchsten Gipfel, aber wie eine Wollflocke sauste er davon.
Diesen Haraldset muß ich bewundern. Niemals bin ich mit einem Bauernjäger zusammen gewesen, der sich so auf die Dressur von Hühnerhunden verstand und ein so guter Flugschütze war. Ein tüchtiger Kerl im Gebirge, wenn es galt, die Schneehühner aufzuspüren, und ausdauernder zu Fuß als die meisten, das merkte ich heute. Aber wahrhaftig, gut ist er auch in der Sennhütte. Ein frisches Wesen geht von ihm aus, und er bringt Leben mit sich. Es nimmt kein Ende, was er alles erzählen kann von dem, was er in Wald und Gebirge, meist auf der Jagd, gesehen und erfahren hat, und die Worte fehlen ihm nicht.
Waldvögel und Schneehühner hat er viele geschossen und gefangen. Hasenjagd hatte er stark betrieben und gute Hunde gehabt. Am eifrigsten aber ist er hinter dem Fuchse hergewesen.
„Ich und der Bäcker,“ erzählte er, „der Bäcker Johannes dort unten in Nes, weißt du, wir waren oft hinter dem Fuchse her. Ich habe wahrhaftig manche muntere Fuchsjagd mitgemacht. So waren wir eines Jahres, ich und der Bäcker, zusammen im Gebirge oberhalb Dökkji. Wir hatten zu der Zeit zwei höllisch gute Hunde.
„Ja, das gab ein Gebell, als wir sie losließen. Aufwärts ging’s und ins Gebirge hinein in fliegender Hatz, und dann wieder ein langes Stück zurück.
„Wir wechselten gern die Hunde mitten in der Jagd. Wenn der erste Hund sich und den Fuchs müde gejagt hatte, dann ließen wir den andern los. Dann aber ging’s Reinecke schlecht, und er schlüpfte unter die großen Blöcke der Steinhalde; er wußte sich nicht mehr zu helfen. Der Hund aber bellte, daß es weithin schallte, und bald waren wir dann auch da. Ja, da standen wir und überlegten.
„Wir hatten die Hunde gekoppelt und die Flinten weggelegt. Ich mußte in die Steinhalde hineinkriechen und nachsehen, wie es ausschaute, und ich stach mit einem Stocke hinein, und damit traf ich auf etwas Weiches. In demselben Augenblick schlüpfte der Fuchs durch ein Loch auf der andern Seite der Steinhalde heraus — ein Sprung über einen großen Stein, und fort war er. Ich auf, faßte die nächste Flinte, es war die Schrotflinte vom Bäcker, und feuerte sie ab, fehlte aber, da ich nicht an sie gewöhnt war, weißt du.
„Der Bäcker wurde so verwirrt, daß er die Koppel losließ. Die Hunde in wilder Hatz bergab, die Leinen hinterherschleifend. [S. 72] Aber da gab es ein Gebell, mein Lieber! Sie rannten wie der Wind, diese Hunde, und verdammt gut waren sie.
„Gegenüber der kleinen Mühle ist im Berg eine Höhle. Dorthin ging der Lauf, und hier fuhr der Fuchs hinein. Die Hunde machten einen Heidenlärm, bis wir nachkamen und sie koppelten.
„Die Höhle ist aber tief. Es war nicht so leicht, bis zu dem Fuchs hineinzugelangen, und wir hatten nichts, womit wir ihn fassen konnten. Ich schnitzte mir einen langen Stock, mit dem ich hineinstechen wollte. Der Bäcker aber lief ins Tal hinunter, um besseres Gerät zu holen.
„Unterdessen stach ich und stach, bis ich etwas Weiches fühlte, und ich merkte, daß ich am Fuchse war. Ich bohrte so lange, bis ich den Stock, in dessen Ende Haken eingeschnitten waren, fest in die Haare gewickelt hatte, und bekam den Fuchs soweit heran, daß ich ihn bei den Hinterläufen packen konnte. Dabei verbiß er sich aber in meine Finger und blieb fest hängen, und ich zog die Hände so rasch zurück, daß ich den Fuchs über mich warf und über die Hunde, die gekoppelt dastanden, und weit in den Wald hinab. Die Hunde aber stießen ein wildes Geheul aus, machten einen Sprung und kamen los — und dann ging es unter Heidengebell gerade nach dem Schulhause hinunter.
„Ich faßte die Flinte und eilte hinterdrein. An einer Wendung des Wegs begegnete ich dem Bäcker; ich hätte ihn beinahe über den Haufen gerannt.
„‚Warum rennst du denn so wie der Teufel?‘ fragte er.
„‚Warum ich renne?‘ sagte ich. ‚Hörst du denn nicht das Gebell, mein Lieber?‘ Und damit stürzten wir beide hinunter.
„Bei der Schule hättest du nun aber etwas erleben können. Da ging die Jagd rund ums Haus herum. Vornweg der kleine Fuchs, hinterdrein die Hunde. Der Schulmeister und die Kinder fuhren in der Schulstube von einem Fenster zum andern und guckten. Das gab eine unruhige Schulstunde. Als ich aber den Fuchs schoß, war der eine Hund umgekehrt und wollte ihn von der andern Seite fangen.“
Mardern und Ottern hatte Haraldset auch oft nachgestellt.
„Aber der Otter ist ein schlauer Kerl, und es ist nicht leicht, an ihn heranzukommen,“ sagte er, „und wenn du auch noch so gut weißt, wo er seinen Bau hat, so ist es doch ein Glücksfall, wenn du ihn erwischst. Er weiß ganz genau, wenn du in der Nähe bist, und dann kommt er nie.
„Den Eingang zu seinem Bau in der Steinhalde hat der Otter unter Wasser an einer Gumpe des Flusses, und er taucht unter, sobald er dort hinein will, und wenn er von dort kommt, so sieht er sich gut vor. Zuerst kommt nur die Nasenspitze übers Wasser und dann, während er über den Fluß schwimmt, etwa noch die beiden Augen, und dann kommt er so still an Land, daß du es nicht einmal plätschern hörst.
„Manche mondhelle Nacht habe ich im Winter am Flusse gelegen und darauf gewartet, daß er aus dem Loch im Eise auftauchen sollte, aber das ist eine kalte Arbeit.
„Da nähte ich mir aus Fellen einen Schlafsack, so wie ich gehört habe, daß man ihn am Nordpol gebrauchen soll, und diesen Sack erprobte ich erst zu Hause auf dem Boden. Ja, hinein kam ich wohl, wenn er auch etwas eng zu sein schien, und hübsch [S. 74] warm war es auch darin. Aber als ich wieder heraus wollte, da wurde es schlimm. Soviel ich mich auch abmühte, immer rollte ich wie ein Wickelkind auf dem Boden. Meine Frau lachte sich halb zu Tode, und ich fluchte. Da mußte sie mir aus dem Sack heraushelfen.
„Ich machte den Sack weiter und ging damit los. Es war eine bitterkalte Nacht, aber der Sack war warm, und ich fand, er war wirklich eine abgezeichnete Erfindung, wie ich so im Mondschein dalag und auf den Otter wartete, der nicht kam, und mir der Atem fast im Halse gefror.
„Die Schuhe hatte ich vor mich hingestellt; aber als ich sie wieder anziehen wollte, waren sie steif gefroren wie Holz, und wie ich mich auch mühte, ich brachte sie nicht wieder an die Füße. Da half es nichts, ich mußte auf Strümpfen nach Hause gehen. Als aber die Frau die Tür öffnete und mich in bloßen Strümpfen stehen sah, den Sack in der einen Hand, die Schuhe in der andern, da wurde sie böse und sagte: ‚Was machst denn du für Geschichten?‘“
Wir sprachen auch vom Winter und vom Schneeschuhlauf.
„Eines Winters,“ sagte Haraldset, „unternahm ich mit dem Studenten H. eine schneidige Schneeschuhwanderung. Das war einer, der konnte dir fahren! Wir waren im Gebirge, nördlich vom Rukketal; er hatte Speise und Trank bei sich und auch Schreibzeug. Er sollte nämlich für ein Sportblatt schreiben, aber daraus wird wohl nichts geworden sein.
„Auf dem Heimweg, da kamen wir auf den Bergrücken oberhalb Nes, da geht es, weißt du, schroff bergab. Ich warnte [S. 75] ihn, er sollte nicht zu schnell fahren, aber er war keck. Wir hatten eine Flasche Punsch mitgehabt, und er hatte wohl das meiste davon getrunken. Damit ging es also abwärts.
„Ich fuhr behutsam, machte öfter eine Seitenwendung und versuchte, die Geschwindigkeit zu mäßigen. Als ich aber ein Stück weiter hinabgekommen war, wurde der Weg steiler und steiler, und die Geschwindigkeit stieg unheimlich.
„So kam ich an eine Windung, die nach rechts abbiegt. Dort lag gerade vor mir ein großer Block. Dem H. war es hier schlecht gegangen. Er war drauflos gefahren und mit höllischer Geschwindigkeit gerade auf den Block los, und da hatte er eine lange Luftreise gemacht.
„Wie ich nun dort hinunterkam und mich nach ihm umsah, da hing er oben an einer Birke, so hoch, daß seine Haarspitzen gerade noch den Boden berührten. Ich lachte, daß ich kaum noch stehen konnte. Er hatte schon einige Zeit oben gehangen, als ich kam, und hätte es noch länger gedauert, so wäre er weiß Gott draufgegangen.
„Ich mußte ihn abschneiden. Er hatte die Schneeschuhe festgebunden, siehst du, und die waren oben an der Birke hängen geblieben.“
Donnerstag, 15. September.
Heute geht der Wind im Gebirge zu scharf, als daß ich auf die Jagd könnte. Die Schneehühner wollen nicht halten und stieben davon, daß man sie nicht mehr sieht. Ich stieg auf den Berggipfel westlich von der Alm, um die Beine zu bewegen. Welch frisches Wetter! Der Wind jagte in Wirbelstößen über die Seen, [S. 76] daß sie weiß aufschäumten und der Gischt wie stiebender Schnee in die Höhe stieg. Die Gischtwolken fegten in wildem Tanze dahin, Windstoß um Windstoß, und ein Regenbogen stand in ihnen. Oben rings um die Höhen sauste und heulte es. Auf dem obersten Bergkamm, in der Scharte zwischen den Felsgipfeln, wo es steil nach beiden Seiten abfällt, stürmte es so, daß ich mich im Moos niederhocken mußte, um nicht die Bergwand hinabzusausen. Weit draußen in dem engen Tale über dem Vatssee zog eine weiße Wolke; das war das Wasser das wie Staub emporgepeitscht wurde.
Das Herz wird so wunderlich leicht in solchem Wetter. Es ist, als schärfe das Wetter den Willen. Es ist eine Erfrischung, sich im Sturm zu baden...
Hier sitze ich wieder, die Füße am Herd, und starre in die Glut, während die Windstöße im Schornstein heulen. Ola Haraldset sitzt am Fenster und erzählt Geschichten, und die Burschen und Mägde lachen.
Er erzählt von dem Dänen, der vor ein paar Jahren bei Rosenberg auf Brynhilds-tjern zu Gaste war, und den er auf die Jagd begleitete. Dieser Däne sah jeden Tag, den sie draußen waren, „wenigstens mehrere hundert Schneehühner“. Wenn ein Volk aufflog und Haraldset sagte, es könnten wohl acht oder zehn Stück sein, dann sagte der Däne: „Bist du verrückt, Mensch, das waren doch wenigstens 30 oder 40.“ Er schoß und schoß, brachte aber niemals eine Feder zur Erde, und jedesmal sagte er: „Das war aber ein Teufelsschuß.“
„Aber da kriegte der Hund die Geschichte satt und wollte nicht mehr hinaus und blieb uns vor den Füßen.“
Da gab Rosenberg dem Haraldset eine Flinte. Er sollte ihm helfen, einige Schneehühner zur Strecke zu bringen, und den Hund wieder aufzumuntern. Haraldset erhielt aber strengen Befehl, den Dänen zuerst schießen zu lassen. Nun ja, dann ging es in der Regel so, daß der Däne zunächst einmal daneben schoß, und dann knallte gewöhnlich sein zweiter Schuß mit dem des Haraldset zusammen, und dann fiel wohl ein Schneehuhn herunter. Da sagte der Däne:
„Das ist doch des Teufels, daß ich nie mit dem ersten Schuß treffe.“
Eines Tages zog der Hund Schneehühnern über einigen Hügeln nach; es dauerte etwas lange.
„Aber was ist denn das?“ sagte Haraldset, „ich glaube beinahe, das ist ein Bär.“
„Wollen wir nach Hause gehen?“ sagte der Däne.
Vor einigen Jahren ging Haraldset mit einem Deutschen auf die Bärenjagd. Von ihm gab es viele Geschichten.
Sie waren drüben auf der Fjölabuhalde und streiften dort mehrere Wochen lang nach einem Bären.
„Einen Hund wollte der Deutsche gegen den Bären nicht brauchen, der verscheuche ihn nur. ‚Aber wir wollen den Bären dazu bringen, daß er zu uns kommt, Ole,‘ sagte er und kaufte einen alten Bock.
„Dem schnitt er die Kehle durch und den Bauch auf, so daß die Eingeweide sich herauswälzten. Dann band er ihm einen Strick um den Hals, und diesen Bock mußte ich den ganzen Tag [S. 78] durch den Wald hin und her schleifen. Dann würde der Bär kommen, meinte er. Na, mein Lieber, ich schleifte den Bock Tag für Tag hinter mir her, bis nicht mehr viel von ihm übrig war. Aber er war wohl verrückt, der Deutsche.
„Auf dem Rücken hatte ich eine ganze Wagenladung von allerhand Dingen, die wir jeden Tag mit in den Wald hinausnahmen, wenn wir auch nicht viel über die Wiese hinauskamen. Aber wir durften nichts zurücklassen, sagte er. Küchen- und Blechgeschirr wie für ein ganzes Hotel: Töpfe und Kessel und Löffel und Tassen und Bratpfannen und Gabeln und Messer und Teller — und all das mußte jeden Tag mit.
„Ja, sogar eine Säge hatte er bei sich, und Axt und Hammer und Zange und große sechszöllige Nägel. Als ich aber die Nägel einpacken sollte, da fragte ich, was er mit denen anfangen wolle. Nun, die brauchten wir, wenn wir etwa eine Hütte bauen müßten. Und dann ein Bett! Ein ganzes Feldbett mußte ich tragen, denn er konnte nichts in der Hütte lassen.
„Ich hatte mir einen Rucksack geliehen, der größer war als der, der dort liegt. Aber der reichte nicht aus. Ich mußte noch einen großen Sack dazu nehmen.
„Ich keuchte also unter einer ganzen Wagenladung daher, den Bock schleppte ich an einem langen Strick hinterdrein, während das Blechgeschirr in dem Sack auf dem Rücken klapperte. Man konnte uns wie eine Schellenkuh von weitem hören. Währenddem blies er auf einer Pfeife und meckerte wie ein Zicklein, das sollte den Bären anlocken, meinte er.
„Am Abend legten wir den Bock auf den Boden und setzten [S. 79] uns unter eine Fichte, um auf den Bären zu lauern, und dort blieben wir sitzen, bis es pechfinster geworden war.
„Zuweilen kam er auf den Einfall, auf den Anstand zu gehen, und ich sollte tief in den Wald hinein und ihm den Bären zutreiben. Ich schlug mit einem Stock auf die Fichtenstämme und rief: muh! muh!, wie ein Ochse. Aber wenn ich dann zu laut brüllte, wurde er böse und schrie:
„‚Du bist ja rein verrückt, Ole, du darfst den Bären nicht zu sehr erschrecken.‘
„Wenn wir zurückgingen, wollte er den Weg nach der Alm mit einem Kompaß finden, den er hatte. Wie wir auch den Tag über gegangen waren, sollte die Alm immer in der Richtung liegen, wie die Nadel am Vormittag gezeigt hatte, als wir aufbrachen; du kannst dir vorstellen, wie das ausging, und wenn wir dann lange nach seinem Kompaß gegangen waren und uns verirrt hatten und es dunkel war, kriegte ich es satt. Ich fand einen Ochsen oben an der Halde, den jagte ich vor mir her, und so kamen wir schnurgerade nach der Alm. Das war der beste Kompaß.
„Jeden Abend sagte er: ‚Morgen müssen wir früh aufstehen, um einen Bären zu finden, Ole.‘
„Am Morgen standen wir dann so zwischen neun und zehn Uhr auf, und bis wir uns genügend gerüstet hatten, war es mindestens zwölf Uhr geworden. Wenn es dann eins war, mußten wir Mittag essen. Es war gleichgültig, wo wir waren; gewöhnlich waren wir noch nicht weit außerhalb der Wiese gekommen. Wenn dann alles eingepackt war und ich die [S. 80] Wagenladung auf dem Rücken hatte, dann war es spät am Nachmittag.
„Er war eben verrückt, verstehst du.
„Aber einmal kriegten wir doch wirklich einen Bären zu sehen; das war oben am Waldrand. Der Deutsche ging voraus, und ich kam hinterdrein gewankt mit meiner Wagenladung auf dem Buckel. Da bekam ich den Bären zu Gesicht. Der Deutsche marschierte gemütlich auf freiem Feld, der Bär würde ihn also bald gesehen haben.
„Ich sprang vor, hielt ihn zurück und sagte: ‚Da ist ein Bär!‘
„‚Was ist da weiter dabei?‘ sagte er, ‚suchen wir vielleicht nicht einen Bären? Du bist viel zu hitzig, Ole,‘ sagte er.
„Dann überlegte ich, wie wir uns am besten an ihn heranpirschen könnten.
„‚Nein, du bist ganz verrückt, Ole, du verstehst ja auch gar nichts! Ich werde ihn dazu bringen, daß er näher kommt,‘ sagte er.
„Damit legten wir uns hinter die aufrechtstehenden Wurzeln eines umgestürzten Baumes, und er zog seine Pfeife hervor und meckerte wie ein Zicklein. Da lagen wir nun. Der Bär kam herangewatschelt, blieb auf einigen Steinen stehen und windete.
„‚Nun mußt du schießen,‘ sagte ich zum Deutschen.
„‚Du bist doch ganz verrückt! Ich werde ihn noch näher bringen,‘ und damit meckerte er weiter.
„Ja, der Bär kam noch näher. Aber vor uns, in einer Entfernung von dreißig Ellen war eine Talsenke, und dort witterte er unsere Spuren, so daß er verscheucht wurde und fliehen wollte.
„Da fand ich, das sei doch gar zu verrückt, ergriff die mit Rundkugel geladene Doppelflinte, die ich tragen und neben seine legen mußte, wenn er schießen sollte. Aber er faßte die Flinte, drückte sie zu Boden und sagte:
„‚Ich werde ihn schon zurückbekommen,‘ und damit fing er wieder an zu meckern.
„So meckerte er den ganzen Abend, bis es dunkel wurde, und er wäre wohl die ganze Nacht liegen geblieben, wenn ich nicht noch vor Nachtanbruch nach Hause gewollt hätte.
„Eines Abends, als wir uns in einer Hütte unterhalb der Fjölabuhöhe aufhielten, glaubte ich, mein Deutscher würde mir ganz draufgehen. Er lag im Bett, das dort an der Wand stand. Ich legte eine Kiefernwurzel auf das Feuer; sie sollte brennen, während ich oben in der Almhütte war und etwas Milch holte.
„Dabei verging aber einige Zeit, weißt du. Die Alm lag etwas abseits, und dann waren die Mägde gerade nicht zu Hause, und ich mußte warten.
„Als ich zurückkam, hörte ich schon von fern lautes Schreien, und ich rannte hinunter.
„Da saß er im hintersten Zimmer und schrie mir zu, er verbrenne. Während ich fort war, hatte die Kiefernwurzel angefangen etwas stark zu brennen, und auch anderes Holz, das auf dem Herde lag. Da hatte er Angst gekriegt, und da saß er nun und brüllte, als ich kam.
„‚Du bist mir der rechte,‘ sagte er ‚du willst mich verbrennen, während du den Mädchen nachläufst. Wir jagen hier jetzt Bären, [S. 82] Ole, und nicht Mädchen. Schaffe das Feuer hinaus. Zur Strafe wirst du ohne Abendessen zu Bett gehen.‘
„Er war ganz wütend. Na, ich warf die Kiefernwurzel hinaus und legte mich nieder. Aber auch dann sollte ich noch keine Ruhe bekommen. Ich hatte nicht lange gelegen, da schrie er von neuem:
„‚Du mußt das Feuer löschen, ich kann ja nicht schlafen, solange es leuchtet.‘
„Es knisterte und brannte noch ein wenig Holz auf dem Herde, verstehst du. Ich nahm also einen Eimer Wasser und goß ihn auf den Herd. Die Steine aber waren heiß, und es spritzte und prasselte, und die glühenden Kohlen flogen nach allen Seiten. Da fuhr er im Bett auf und drehte sich so um, daß die Asche ihm in die Augen flog. Da gab es nun erst eine Aufregung. Er fing an zu weinen.
„‚Herrgott, nun hast du mir meine Augen zugrunde gerichtet!‘
„Ich mußte aus seiner Apotheke etwas holen, mit dem ich ihm die Augen einschmierte, dann klagte er und rief:
„‚Du, Ole, du machst aber auch alles verkehrt!‘“ —
„Du bist aber wohl auch lange weggewesen? Gewiß warst du dort oben auf der Alm gut bekannt, Haraldset,“ warf eine Magd ein und lachte.
„Ja, weißt du, es dauerte natürlich immer einige Zeit, denn die Mägde waren gerade nicht zu Hause, als ich kam, und dann hatte ich einen Pantoffel des Deutschen mit, den ich flicken lassen sollte.“
„Ach, du wirst den Mädchen wohl arg schön getan haben!“
„Nein, wahrhaftig nicht, aber ich kannte sie natürlich, und der Deutsche war böse, weil sie von ihm nichts wissen wollten.“
„Als wir eines Morgens unterwegs waren, ging ich in die Hütte hinein, und da hörte er, wie ich mit den Mägden scherzte. Als wir weitergingen, fragte er:
„‚Sind die Mädchen hübsch, Ole?‘
„‚O ja!‘ erwiderte ich.
„‚Ich glaube, ich mache ihnen einen Besuch,‘ sagte er, und als wir abends nach Hause kamen, sagte er: ‚Heute abend hole ich die Milch, Ole.‘
„Nun, er nahm den Eimer und ging hinauf. Aber es dauerte nicht lange, da kam er zurück, ohne Milch und ohne Eimer. Er sagte nicht viel, setzte sich an den Herd und schaute ins Feuer.
„Nach einer Weile sagte er: ‚Die Mädchen waren verflucht tugendhaft.‘
„Sie hatten ihn hinausgeworfen, weißt du, und dann mußte ich die Milch holen.
„‚Hat denn dein Deutscher jemals einen Bären geschossen?‘ fragte einer der Burschen.
„‚Das fragte ich ihn auch einmal,‘ sagte Haraldset. Jawohl, er habe zwei unten bei Åvestrud geschossen, sie aber nicht bekommen. Ich fragte ihn, wie das habe geschehen können.
„‚Ja, ich kam auf eine Höhe,‘ sagte er, ‚und da bekam ich zwei Bären zu Gesicht, die ich sofort schoß: bumm, bumm.‘
„Es war doch ärgerlich, daß es Bom [2] war,“ sagte ich.
[2] Mit „Bom“ wird im Norwegischen der Fehlschuß bezeichnet.
„‚Nein, so ist es nicht zu verstehen,‘ sagte er, ‚es klang nur so. Beide Bären fielen, aber später liefen sie davon.‘“
Sonnabend, 17. September.
Ein wundervoller Tag. Keine Wolke am blauen Himmel. Die Bergweite breitet sich in ihrem braungelben Herbstschmuck nach allen Seiten. Menschen und Vieh sind von den Almen ringsum heimgekehrt. Haraldset mußte auch nach Hause mit seinem Knochenmanne, der nicht fressen wollte.
Ich bin allein in der einsamen Pracht. Nur der Hund ist noch da, der dort unten die Weidengebüsche durchsucht, und der Bursche, der hier nebenan auf dem Hügel liegt. Er schläft gewiß bald in der Sonne.
Überall zwischen den braunen Höhen sind blaue Seen und Weiher verstreut, die sich von dem Braungelb noch blauer abheben. Das Auge folgt dem farbenreichen Teppich weithinaus; er geht in Wogen wie das Meer, ein Rücken hinter dem andern, und verklingt in weiter Ferne.
Zwischen den Rücken lange tiefeingeschnittene Spalten, aus denen es wie Brodem aufsteigt — dort unten wohnen Menschen.
Immer blauer und blauer werden die Berge draußen, und ganz in der Ferne die Schneeberge leuchten kühn und frisch im Sonnenschein. Der Blick schweift frei nach allen Seiten, nichts engt ihn ein. Weit im Süden steht hoch und einsam der Gausta.
Das Blaue dort im Dunst in Nordosten, das müssen die Rondanegipfel sein — und der dort, weiter im Norden, ist [S. 85] das nicht der Snehetta? Dann wild und gewaltig das ganze Jotunheim mit dem Nautgardstind als Wächter ganz im Osten; dann die Kalvåhögda und die Torfinsspitzen mit Firnen und Gletschern. Weiter vorn erstrecken sich die Hemsetalberge westwärts nach Voß zu, dann folgt Hallingskarve, breit und sicher, als könne nichts seine Ruhe stören. Ruhig trägt er die Firnen auf seinem Rücken. Am weitesten nach Westen aber liegt der Hardanger-Jökul mit seinem mächtigen Gletscher, der wie ein einziges fleckenloses Laken alles Dunkle unter sich eingehüllt hat. Weiß und glänzend — wie ein Gruß aus den Schneelanden im hohen Norden. Wie schön ist er jetzt im Sonnenglast!
Wie tut doch ein solcher Tag im Gebirge wohl! Frische Eindrücke ziehen durchs Gehirn; sie fegen all das Eingesperrte hinaus und machen dich frei.
Da steht der Hund! Bald flattern weiße Schneehuhnflügel über den braunen Teppich.
Am Abend.
Wieder auf der Alm. Die Kühe sind noch nicht heimgekommen. Vier Pferde und ein Füllen weiden auf der Wiese. Auf dem Felsen über der Alm klettern einige Ziegen und rupfen das Gras von der Bergwand. Eine Schelle klingelt. Ab und zu meckert ein zartes Zicklein.
Eben geht die Sonne zwischen goldnen Wolken hinter dem Jökul unter. Der goldene Schein verbreitet sich über die höchsten Gipfel. Der Bergrücken hier gerade über dem Weiher erglüht wie rotes Gold.
Wie gelb schon das Birkenlaub geworden ist! Der Herbst hält seinen Einzug, langsam und sicher.
Dunkel liegen die Moore und Weiher im Abendschatten. Dunkel krümmt sich Bergrücken hinter Bergrücken dem Sonnenuntergang entgegen. Aber aus den Tälern dazwischen steigt hell und dunstig der Brodem des Menschenlebens herauf, und hell und blau liegen der Hallingsskarve und der Jökul dort hinten, wo die Sonne untergeht.
Das ist ein Stück Norwegen, das ist das Land, das dir gehört, und es ist so wie kein anderes....
Langsam kommen die Ziegen die Wiese daher. Eine graue meckert fragend. Sie glotzen und wundern sich. Die eine steckt ihr Maul in mein Tagebuch hinein und verwischt die Tinte und reibt sich dann vergnügt an meinem Knie. Na, bitte, jetzt weg ein bißchen! Da ist ja auch die Schellenziege selber. Der Wind raschelt in dem Blatt, auf dem ich schreibe, und erschreckt fährt sie zurück — kommt dann wieder, schnuppert und will gestreichelt sein. Nein, jetzt ruft die Magd, daß die Forelle fertig ist.
Sonntag, 18. September.
Von Süden her ziehen dunkle, drohende Wolkenbänke herauf. Der Nebel treibt über die Bergrücken; bald haben wir Regenwetter. Ich bin jetzt mit dieser Natur vertraut geworden und kenne sie in Sonnenschein und Nebel. Auf dem Angesicht der Erde wohnen wir Menschen. Dieses hier ist die Stirn, von [S. 87] den Zeiten gefurcht. Nun zieht sie die Kappe über. Drunter ruhen die Erinnerungen der Jahrmillionen, die wir nur ahnen. Und der tiefe Gebirgssee sieht dich an wie ein dunkles Auge. Er scheint dir soviel zu sagen zu haben, aber du verstehst es nicht. Vielleicht ist es nichts für dich, oder liegt vielleicht gar nichts in der Tiefe des dunkeln Auges?
Montag, 19. September.
Heimwärts. Weit draußen kehrt eine Herde ebenfalls aus dem Gebirge zurück, der letzte Nachzügler, der noch auf einer Alm irgendwo oben in Tunhövd gewesen ist.
Hör’, wie die Mägde locken und jodeln, um die Herde beisammenzuhalten. Es geht ins Tal zurück. Wieder liegt das Gebirge einsam da und verstreut sein rötliches Herbstgold unter treibenden Wolken — und die Nixenseen spiegeln den Himmel in ihren blauen Träumen...
Januar bis Februar 1900.
E s war am Dienstag, 30. Januar 1900. Von Bolkesjö wollte ich auf Schneeschuhen nach Norden über den Bleberg hinunter zum Sörkjesee fahren und dort einige Wochen in der Ormanhütte bleiben. Ein Bursche namens Holgje kam als Träger mit. Als wir zur Blespitze hinaufstiegen, herrschten dichtes Schneetreiben und starker Wind, und nichts war zu sehen. Da lief ich lieber die langen Abhänge nach Bolkesjö zurück, in der Hoffnung, am nächsten Tag besseres Wetter zu haben.
Am Mittwochmorgen machte ich mich mit Holgje wieder auf den Weg über den Ble. Nun war es aber schlimmer geworden. Es schneite und wirbelte, daß Himmel und Erde eine Schneemasse zu sein schienen und wir nicht viele Schneeschuhlängen weit sehen konnten.
Holgje war leicht bekleidet; er sagte, er sei noch nie in einem solchen Wetter draußen gewesen. Er hielt die Hand vors Gesicht, beugte sich vornüber und stemmte die Schultern gegen die Windstöße, während wir so gut es ging aufwärts stiegen. Als ich ihn einmal ansah, waren seine Backen und Kinnladen ganz weiß. Ich rieb sie, bis der Blutumlauf wieder in Gang kam. Doch wir waren noch nicht weit gegangen, als seine [S. 89] Kinnladen wiederum ganz steif gefroren und von dem Treibschnee mit einer Eiskruste bedeckt waren. Wieder knetete ich.
Aber das Wetter wurde schlechter statt besser. Es sah aus, als ginge der Wind mitten durch den armen Holgje hindurch, und zum drittenmal waren seine Kinnladen und Backen weiß, und von neuem mußte ich sie kneten. Jetzt begann er aber zu wimmern und zu klagen. Er fand es unheimlich.
Wir mußten in der Nähe der Blespitze sein; es herrschte aber ein solcher Schneesturm, daß wir, selbst wenn wir bekannt gewesen wären, Schwierigkeiten gehabt hätten, die Åkelischlucht zu finden, wo wir nach dem Sörkjesee abbiegen mußten. Ich wagte es nicht, die Verantwortung für den Burschen auf mich zu nehmen. Es blieb nichts anderes übrig, als abermals umzukehren und wiederum abwärts zu rutschen. Jetzt hatten wir den Wind im Rücken, und es ging schnell.
Am Abend kamen wir nach Bolkesjö zurück. Dort waren in diesen Tagen viele Leute, Anwälte, Amtsrichter und Förster aus Kongsberg, Skien und Kristiania. Es war Berufungsverhandlung in einer Sache wegen Holzschlagrechts im Walde. Es konnte nicht ausbleiben, daß diese Leute über einen Nordpolfahrer lächelten, der zweimal wegen Schneesturms im Blegebirge umkehrte.
Damit hatte ich genug von dem Weg die Abhänge hinauf, und Holgje hatte sicherlich mehr als genug. Am nächsten Morgen wollte ich über Hovin fahren. Aber der Posthalter vergaß, daß er mir einen Wagen versprochen hatte. Er hatte sich wohl mit Torjus einen ordentlichen Rausch angetrunken, da [S. 90] am Abend das Urteil in der Holzschlagsache gefallen war und sie verloren hatten. Ich mußte mir aus dem Nachbarhotel einen Wagen verschaffen und verspätete mich um einige Stunden. Aber nach Fosso in Hovin kam ich trotzdem; dann ging es auf Schneeschuhen den Abhang hinauf an Knutsgard und Nystöl vorbei über den Sörkjesee, und am Nachmittag erreichte ich die Ormanhütte.
Dort traf ich Halvor Kåse aus Rollag im Numetal. Ich hatte ihn dorthin bestellt, und er hatte seit Dienstag gewartet. Als ich aber auch am Mittwoch nicht gekommen war, war er ins Dorf hinuntergestiegen, um sich telephonisch nach mir zu erkundigen. Er habe nicht glauben können, sagte er, daß ein Mann wie ich sich von dem bißchen Schneegestöber habe abschrecken lassen.
Freitagabend.
So bin ich also wieder im Gebirge. Schneeweiß und rein liegt es vor mir, das weite Hochland, lange Schneeschuhbahnen und freier Himmel. Weit weg, tief unten liegt das Tal.
Welch frisches, freies Leben! Warum ist es nicht immer so?
Man arbeitet, wenn man will und solange man will; nichts stört den Arbeitsfrieden. Und ist man müde, dann auf Schneeschuhen hinein zwischen die weißgekleideten ernsten Tannen, die Birkenhalden hinauf über die Berge. Alles große, klare, reine Linien. Ja, warum richten wir uns das Leben nicht so ein?
Draußen steht die schmale Sichel des neuen Mondes über dem Gebirgsrande. Vom Süden, vom Åkeligipfel her, zieht [S. 91] ein Wolkenschleier herüber. Bald ist es dunkel. Ich kann nur schwach noch die dunkeln Umrisse der Tannen von der weißen Eisfläche unterscheiden.
Aber wie gemütlich ist es hier im Zimmer! Im Kamin knistert lustig das Birkenholz und verbreitet Licht und Wärme. Es ist so warm, daß sich auch die Fliegen wohl fühlen. Sie sind mitten in der Winterkälte erwacht und summen unter dem Dach.
Wie gewöhnlich sitze ich da, starre in die Glut und folge den flackernden Flammenzungen, die an den rußigen Platten hinanlecken, in den Schornstein hinein.
Es ist, als hätte man immer so gesessen seit dem Winter in der Hütte unter der Erde dort im Norden, im Franz-Joseph-Land. Aber der Raum ist größer geworden. Man kann unter dem Dach aufrecht stehen. Die Tranlampe ist verschwunden. Durch die Fenster kann man in den Winterabend hinausschauen, und die Kleider, die schweren, fettgetränkten Kleider, die fest am Leibe klebten, sind gewechselt; sie sind rein und weich und trocken geworden. Unwillkürlich reckt man sich vor Wohlbehagen.
Aber das Leben dort im Norden war wohl auch frei und ungestört genug? Ja, freilich; gleichwohl hielt es sich unter dem Mindestmaße der täglichen Lebensnotwendigkeiten.
Wie viele unvernünftige Lebensbedürfnisse haben wir Kulturmenschen uns zugelegt, während wir die wirklich nützlichen Dinge wie Selbstverständlichkeiten gebrauchen, ohne zu bedenken, welche Güter sie sind. Z. B. die Nägel! Dort im Norden bekamen wir das zu fühlen, als wir sie uns selber aus Knochen herstellen mußten.
Und dann bedenkt, hier habe ich das, wovon wir damals als vom Allerhöchsten träumten: eine Tür, eine senkrecht stehende Tür!
Ich muß daran denken, wie ich Morgen für Morgen den ganzen Winter und Frühling hindurch im Schlafsack saß und mir die Lappenschuhe und die fettigen, zerrissenen Kleider und Bärenfellfäustlinge anzog, und wie mir davor graute, in den Hausgang hinauszugehen und mich durch das Loch hindurchzuzwängen, das mit einer Bärenhaut zugedeckt war, auf die aber der Wind Nacht für Nacht eine schwere, harte Schneewehe schichtete. Ach ja, wie man sich da hoffnungslos nach einer senkrecht stehenden Tür sehnte, die in Angeln ging und sich, mit einer einfachen Türklinke, leicht öffnen und schließen ließ!
Im übrigen war es gar nicht so schlimm, wenn man bedenkt, daß wir vom Winter eingeschlossen waren, ohne Proviant, nur mit Büchse und Patronen, einem Messer und sonst mit leeren Fäusten.
Damals fand ich, daß gar nicht viel dazu gehörte, das Leben vollkommen zu machen. Ich träumte einen seligen Traum davon, an einem Strande an Land geworfen zu werden, mit Spaten und Hacke, einem Sack Mehl, einer Büchse, Patronen, einem guten Messer mit Wetzstein, Nadel und Zwirn, Seife, und auch mit Büchern und Schreibzeug, und ich fand, das Leben müßte vollendet glücklich werden.
Ist es noch so?
Soviel Kleinliches hängt uns an den Beinen. Es ist, als gingen wir in Dornengestrüpp.
Montag, 5. Februar.
Wie schön der Schnee ist! Schau, wie fein und leicht er draußen herabrieselt, wie weich die Decke liegt über Höhen, Steinen und Rasenhügeln und über niedergebeugten Bäumen, über dem Eis auf dem See und den alten Schneeschuhspuren in der Richtung, aus der ich gekommen war. Alles ist leicht und behutsam mit dem reinen Teppich zugedeckt. Und der Lärm der Welt liegt unendlich weit weg, er ist ausgeschaltet — hier wird jeder Laut gedämpft. Der Tannenwald und die Halden stehen still und weiß im Sonntagsstaat, und der Åkeligipfel dort draußen verschwindet ganz im Schneegeriesel.
Die Eisfläche leuchtet in kleinen Wellen im Sonnenschein, der auch durch mein Fenster hereindringt und es auch hier unter der Stubendecke licht und leicht und hoch macht. Und die Sonne steht dort oben in der rieselnden Schneeglorie.
Drinnen und draußen herrscht feierlicher Sonntagsfriede, trotzdem es Montag ist. Ja, wahrhaftig, es ist Montag, und dort unten auf Holmenkollen bei Kristiania ist Schneeschuhlauf; da gibt’s Tausende von Menschen, Pferde und Schlitten und Bankreihen, und Hurrarufe und Gelächter.
Ja gewiß, das ist Leben und Frische, ein Bild von Schnee, von Winter und norwegischer Jugend! Und was hat es nicht unserm Volke gegeben! Man denke nur einige Jahre zurück, was die Jugend damals getrieben, und wie tot es damals im Winter rings um die Städte und in den Tälern war; kaum eine Schneeschuhspur in dem tiefen Schnee zu sehen. Und jetzt? — Wenn nur nicht soviel „Sport“ dabei wäre, „Rekorde“ und all das [S. 94] Unwesen, das, wie die Fremdworte selber, aus der Fremde eingeführt ist — das verdeckt die Sonne....
Ich bin heute ganz allein. Halvor habe ich ins Tal nach Proviant geschickt. In einem Umkreis von vielen Meilen kein lebendes Wesen. Nur Meister Lampe sitzt im Schneewetter weiß und schön unter den niedergeschneiten Tannenbüschen; er macht sich’s bequem, putzt sich und sieht in die Sonne wie ich.
Weit weg, tief unter diesen weißen Flächen, wogt das Leben des Menschengeschlechts...
Ja, das Leben! Was haben wir daraus gemacht? Eine endlose Reihe von Trivialitäten und Kleinlichkeiten! —
Und was haben wir uns gewünscht? Das Dasein einfacher zu gestalten, damit wir das schaffen können, was wir eigentlich wollen, und daß die Kräfte nicht unterwegs von allerhand Kleinlichkeiten aufgebraucht würden, von all dem, was wir nicht wollen. Volle Entfaltung unserer Kräfte, unserer Persönlichkeit, unseres innersten Wesens — das, was wohl die Bedingung für alles echte Lebensglück ist.
Wie weit sind wir gekommen? Es geht den verkehrten Weg. „Mach die Schleppe länger, und du machst die Schwingen kürzer,“ heißt es. Aber ist es nicht gerade die Schleppe, an der wir arbeiten? Jede neue Erfindung kann wohl Erleichterung geben, vermehrt aber die Bedürfnisse und bindet uns fester an Kleinlichkeiten. Das Leben wird immer verwickelter.
Vom Zelt und dem Kamelhaarmantel sind wir weit abgekommen!
Und die Schwingen?
Die materielle Entwicklung hat in der lärmenden Gesellschaft Europas die Übermacht. Und die geistige Entwicklung — wer fragt nach ihr? Äußerer Luxus, materielles Wohlbefinden sind, scheint es, Losung und Ziel geworden, und für wie viele wiegt das nicht schwerer als manche geistigen Werte?
Ein Beispiel! Wenn ich zu einem Freunde komme, und er bittet mich, zum Abend zu bleiben, damit wir miteinander plaudern können, und er setzt mir dann nur seine gewohnte Hafergrütze vor, müßte ich mich da nicht geehrt fühlen? Denn er setzt voraus, daß ich, wie er, das als eine Nebensache im Leben ansehe, und daß es Geist und Begabung sind, mit denen zusammen zu sein schon ein Fest ist. Aber ob nicht manche es als eine Beleidigung auffassen würden, daß man nicht mehr Staat mit ihnen macht?
Wer hat den Willen und den Mut, einfach zu sein, wenn es nicht gerade Mode ist?
Mode! Man denke: eine „Kultur“, die Moden hat, den Stempel der Unselbständigkeit, der verwaschenen Persönlichkeiten! Wendet nicht ein, daß nur Frauen und närrische Mannsleute der Mode nachlaufen. O nein, nicht nur in Kleidern, Essen, Trinken und dergleichen haben wir Moden. Sie herrschen auch in der Kunst, in der Literatur, in der Wissenschaft, ja in unsern Meinungen, in unserer „Überzeugung“...
Und es wird immer schlimmer. Mit den immer schneller werdenden Verkehrsmitteln nimmt das Tempo unheimlich zu. Früher brauchte eine neue Mode Jahre, um zu uns zu gelangen. [S. 96] Jetzt braucht sie ebenso viele Tage oder Stunden; — und unaufhörlich wechselt sie.
In dieser lärmenden Hetzjagd hat man keine Zeit, seine eigene Meinung zu finden; so keucht man hinter derjenigen der letzten Mode her. Man darf doch nicht etwa entdeckt werden, wie man dasitzt mit einem Hut oder einer Ansicht oder einer Meinung oder einem Unterrock, die schon altmodisch geworden sind!
Unser ganzes Leben ist darauf eingerichtet, auf andere zu wirken; es ist nicht so eingerichtet, wie wir es selber wünschen könnten, sondern so, wie die andern, der Haufe, es will. So wohnen wir, so kleiden wir uns, so speisen wir, so schlafen wir, so arbeiten wir, so denken wir, ja — so lieben wir auch..
Wann kommt das neue Geschlecht, das all diese Zeitvergeudung abschüttelt, das sein eigenes Leben lebt, es selbst ist, freie Männer und Frauen, das das Kleine klein sein läßt und die Schönheit und Harmonie ins Leben zurückführt?..
Wie soll das enden? Ohne Ruhe zur Verarbeitung der neuen Eindrücke, ohne Selbstvertiefung kann sich wohl kein Mensch entwickeln. Aber wann findet man dazu die Ruhe in der modernen Gesellschaft?
Neue Eindrücke pflanzen sich immer schneller fort; wir bekommen jetzt mehr von ihnen an einem Tage als früher in Monaten und Jahren. Sie wimmeln heran mit dem Telegraphen, mit den Zeitungen, mit dem Telephon. Und wenn wir in die Welt hinaus reisen, um den Horizont zu erweitern, durchfahren wir in einer Woche mehr, als wir früher in einem Jahr sahen.
Und das arme Gehirn müht sich mit all diesem Stoffe ab. [S. 97] Es ist in der Entwicklung nicht nachgefolgt. Sein Rauminhalt und seine Kräfte sind so begrenzt wie sie früher waren, während der Stoff, die Eindrücke unbegrenzt geworden sind — es wird mit ihnen nicht mehr fertig.
Wir sehen, wir hören unendlich viel mehr, aber wir lernen weniger. Das muß mit logischer Notwendigkeit zur Oberflächlichkeit führen; es wird unmöglich, in die Tiefe zu gehen. Das gibt Mangel an Originalität, Mangel an Persönlichkeit.
Und das Übel wächst, es wächst in geometrischer Progression. Wo soll das enden?
Rousseau, du bist heute nötiger denn je zuvor! Damals war nur eine kleine Oberschicht auf Abwege geraten, jetzt ist das ganze Leben der Gesellschaft so geworden, daß es mit Eisenbahngeschwindigkeit den verkehrten Weg einschlagen muß.
Ein größerer Geist muß kommen, der den Zug umlenkt und höher hinauf, zur Vereinfachung, führt. Kommt er nicht, dann gehen die Menschen zugrunde!
Donnerstag.
Etwas Schnee rieselt so ziemlich jeden Tag — als gefrorene Luft —, und jeden Morgen lockt der neue Schneeteppich.
Halvor und ich ziehen in den Wald hinaus. So einsam und still und lebensfern ist es zwischen den weißen, schneebelasteten Tannen. Lautlos gleiten die Schneeschuhe über das weiche Mehl, eine Welt in Flaumfedern. Es ist kalt, und der gefrorene Atem bleibt in der erstarrten Luft hängen.
Auf der weißen Fläche kein Flecken. Nur hier und da die [S. 98] kleinen Fährten eines Eichhörnchens, das über eine Waldlichtung gehüpft und den nächsten Tannenstamm wieder hinaufgeklettert ist, und dann wie ein dünner Strich einige winzige Trippelspuren einer Waldmaus. Man fühlt gleichsam, welche Eile sie hatte, mit den kleinen Füßen von dem einen Loch im Schnee, aus dem sie auftauchte, nach dem nächsten zu kommen, in dem sie wieder verschwand.
Aber dort sind einige größere Fährten, immer zwei und zwei. Da ist das Hermelin auf der Jagd gewesen. Aber auch sie verschwinden in einem Loch im Schnee. Es ist einem, als könne man es pfeilgeschwind dahineilen sehen. Man gewahrt fast nur den schwarzen Schwanz auf der weißen Fläche und dann, wenn es auf einmal stehen bleibt, die schwarzen scharfen Augen.
Auf weitere Entfernung kann man an einem Weidendickicht in einer Moorsenke einige größere Spuren sehen. Da ist in der Morgendämmerung Freund Lampe unterwegs gewesen; er hat die Hinterläufe möglichst ausgebreitet, um nicht zu tief in den lockern Schnee zu sinken. Hier ist er zwischen den Weidenbüschen und den Birkenruten im Moorlande hin und her gehoppelt, hat an den jüngsten Schößlingen und an der Borke geknabbert und einen richtigen Paß getreten. Es ist nicht ganz leicht, sich zurechtzufinden und die Fährten zu verfolgen. Wir müssen das Gestrüpp umschlagen, um die Endspur herausfinden.
Nun geht es geradeaus, ein Stück durch den Hochwald, dann hinter einer Anhöhe in das Gestrüpp von Birken, Ebereschen und Espen hinein, wo es abermals einen Wirrwarr von Fährten gibt. Wieder müssen wir die Stelle umschlagen, und [S. 99] endlich finden wir weit oben die Fährte — dann geht es die Halde hinan. Hier ist Lampe eine lange Strecke in seiner eigenen Spur zurückgekommen, und siehe — dort hat er einen mächtigen Hopser seitwärts gemacht, vier, fünf lange Sprünge nach dem dichten, verschneiten Tannenbusch zu, auf das Moor hinaus. Dort hat er sich hineingesetzt. Jenseits des Busches aber führt die Spur selbstverständlich weiter. Er ist oben davongesaust, daß der Schnee stäubte. Wir haben ihn schon verscheucht; er sitzt jetzt, da es dem Frühling zugeht, zu locker, und wir können ihn kaum im Lager fassen.
Nun jagen wir. Halvor treibt, und ich stehe auf Anstand. Er schlägt an, möglichst genau wie ein Hund. Das Gebell steigt die Halde hinan. Es klingt so dumpf und tot in der weißen Stille. Er treibt nicht rasch, aber dann macht auch der Hase in dem weichen Schnee nicht so lange Touren.
Schau, dort kommt Lampe angezottelt, so weiß und fein und still, dort an dem Moorrand, zwischen dem schneebedeckten Tannengestrüpp. Er bleibt liegen, setzt sich auf zwei Läufe, hält den Kopf seitwärts und lauscht den wunderlichen Lauten Halvors, der auf Schneeschuhen die Fährten entlang die Halde herunterkommt. Dann läßt er sich wieder behutsam auf alle viere nieder und kommt auf mich zugehoppelt....
Am Abend sitze ich wie gewöhnlich vor dem Kamin und starre in das Feuer, und der Mond scheint durchs Fenster herein. So gleiten die Tage vorbei, und wir merken es nicht.
Gestern abend kamen zwei Männer. Sie blieben über Nacht in der Almhütte, die Wanderern immer offen steht. Die Leute [S. 100] waren aus Telemarken und jagten Marder, die sie auf dem Spürschnee fingen. Das ist eine lohnende Jagd, denn Marderfell steht jetzt hoch im Preise. Sie hatten nur einen Sack mit zum Fang. Ein Gewehr sei nichts nütze, meinten sie, damit schieße man nur Löcher in den Pelz. Sie verfolgen die Spur des Marders bis zu dem hohlen Baum, in den er tagsüber gekrochen ist, dann binden sie den Sack vor die Öffnung und klopfen an den Baum, bis der Marder herausspringt, in den Sack hinein. Auf diese Weise hatten die zwei Männer viele Marder gefangen.
Dienstag.
Der Proviant fing an knapp zu werden. Halvor und ich mußten ins Tal hinunter, um mehr zu holen. Es gab eine besonders schöne Schneeschuhbahn. Leicht war der Aufstieg die Halden hinan vom Sörkjesee nach Synhövd, dann über das Bortal nach dem Staveberg, und bald standen wir an dem Absturz über Rollag im Numetal und sollten nun die abschüssigen Steige zu den Fikkanhöfen hinab. Hier geht es sehr steil abwärts, und der Abstieg ist lang und beschwerlich; auch war Holz hinabgefahren worden, was die Sache nicht besser machte. Zu beiden Seiten des Wegs stand meist Nadelwald, der so dicht und unwegsam war, daß man dort nicht vorwärts kommen konnte. Es blieb also nichts anderes übrig, als auf dem Steig zu bleiben.
Halvor meinte, das klügste sei, sich einen ordentlichen Tannenbusch abzuhauen und darauf abzufahren, so wie es die Mägde [S. 101] oft tun, wenn sie solche Wege auf Schneeschuhen hinab wollen. Ja, ein solcher Tannenbusch war wohl eine gute Bremse; aber einer, der ein richtiger Schneeschuhläufer sein wollte, konnte doch nicht gut zu einem solchen Mittel greifen!
So ging es denn hinunter. Ich sollte aber bald bereuen, daß ich nicht doch den Busch genommen hatte. Es ging immer steiler abwärts, und was ich auch tat, um zu bremsen, mit gleich großer Geschwindigkeit sauste ich weiter. Ich setzte Schneepflug, ich ritt aus Leibeskräften auf dem Stock, ich riß die Hacken aus den Schneeschuhen heraus und setzte sie auf den Boden, aber der Weg war hart, und es ging so ziemlich gleich schnell abwärts, ob ich seitwärts oder geradeaus fuhr. Die Windungen mäßigten wohl etwas die Geschwindigkeit, aber dann kamen lange Strecken, wo es in gerader Linie hinabging, und da gab es keine Barmherzigkeit. Zu beiden Seiten stand das Gestrüpp dicht wie eine Mauer, und es war nicht daran zu denken, die Schneeschuhspitzen dorthin zu lenken. Ich bremste so gut es ging; Arme und Kreuz taten weh, wie ich so auf dem Stocke ritt, aber mit Windeseile sauste ich hinab.
Schließlich flog ich über den Haufen, aber trotzdem ging es noch ein langes Stück weiter hinab. Halvor kam nach und fuhr an mir vorüber. Merkwürdig, wie der Bursche mit den alten Kieferschneeschuhen und ohne Bindung zurechtkommt. — Dann geht es wieder hinab, aber besser ist es wahrhaftig nicht, und diese abschüssigen Bergwege nehmen kein Ende. Mehr als einmal blieb mir nichts anderes übrig als vor Anker zu gehen. Aber hinunter kam ich endlich doch, mit heilen Gliedern und [S. 102] Schneeschuhen. Ob auch mit Ehren? Das will ich nicht entscheiden. Halvor war auf seinem Hilfsmittel lange vor mir unten.
In Fikkan versahen wir uns mit allem, was wir für eine neue Woche im Gebirge brauchten, dann ging es denselben Steig wieder hinauf. War es aber schon schwierig gewesen hinabzukommen, so war es aufwärts wahrhaftig nicht leichter. Jetzt trugen wir ja auch einiges auf dem Rücken. Es kostete viel Mühe, den Weg hinaufzukommen, den wir so unheimlich schnell hinabgesaust waren.
Es war schon dunkel geworden, bevor wir oben anlangten; aber dann kam der Mond, und im Mondschein ging es westwärts weiter. Es war eine prächtige Schneeschuhbahn, die sich lohnte. Hoch und still und einsam lag ringsum die Bergweite.
*
*
*
Eines Morgens machten Halvor und ich uns wieder reisefertig. Wir verschlossen das Haus und fuhren über den Sörkjesee die Åkelischlucht hinauf über den Bleberg nach Kongsberg. Es ist das sechs, sieben Meilen weit, und die Bahn war nicht die beste. Es gab auch etwas Schneegestöber, und wir hatten ziemlich zu tragen. Aber vorwärts kamen wir doch, wenn es auch länger dauerte, als wir erwartet hatten.
Es wurde dunkel, bevor wir über den Bleberg ins Jontal hinabkamen. Hier glitten die Schneeschuhe besser, als wir erst auf die feste Straße kamen, und wir fuhren scharf drauflos, um Kongsberg noch früh am Abend zu erreichen. Wir fanden wohl, daß es am Lågenfluß entlang etwas kalt war, beachteten das [S. 103] aber nicht weiter. Bei der starken Bewegung fiel es uns nicht schwer, uns warm zu halten.
Als wir endlich das Grand Hotel in Kongsberg erreichten, empfing uns der Wirt an der Tür mit den Worten:
„Nein, sind Sie heute bei so kaltem Wetter unterwegs?“
„Ist es denn so kalt?“
„Ja, das Thermometer zeigte heute nachmittag 36 Grad Kälte.“
Das hatten wir uns nicht gedacht! Da war es auch kein Wunder, daß die Schneeschuhe etwas mühsam geglitten waren. Aber durstig und müde waren wir, und wir tranken sofort mehrere Krüge Milch aus.
Dann lud ich Halvor zum Abendessen ein; es gab frischgebratene Koteletten und allerhand leckere Dinge. Halvor stocherte in dem Essen herum und aß nur wenig. Ich versuchte auch ein wenig zu essen, aber es ging nur langsam, und beide plauderten wir, um unsern Zustand zu verbergen. Die Sache war die, keiner von uns konnte essen. Wir waren in der Kälte zu schnell gefahren, und dann hatten wir wohl auch zu viel kalte Milch auf einmal hinuntergestürzt.
Kristiania , Juli 1900.
D er Ausdauer Dr. Johan Hjorts ist es endlich gelungen, den norwegischen Staat zum Bau eines eigenen Dampfers für Meeresforschung zu bewegen. Wenn man daran denkt, welche tiefe Bedeutung die Verhältnisse des Meeres und ihre Veränderungen für unser ganzes Land und nicht zum wenigsten für den Fischfang haben, so muß man sagen, daß es hohe Zeit war.
Der Dampfer ist „Michael Sars“ getauft, nach unserm großen Bahnbrecher in der Meeresforschung; er soll jetzt auf seine erste Fahrt hinaus. Hjort hat mich gebeten, daran teilzunehmen, um mit Björn Helland-Hansen die physischen Untersuchungen auszuführen. Er selbst will das Tierleben und die Fischereiuntersuchungen übernehmen und Håken H. Gran die botanischen Untersuchungen. Kapitän G. Sörensen soll den Dampfer führen.
Aber ach, welche Mühe kostet es immer, bis man zu einer solchen Fahrt ausgerüstet ist. Neues aller Art muß hergestellt, ausgeprobt und verbessert werden; man hat zu wählen und zu verwerfen. Alles muß völlig instand sein, nichts darf vergessen werden. Das Gehirn wird schlaff und leer, man fühlt sich erschöpft, noch ehe die Arbeit selbst beginnen kann.
Der Dampfer fährt mit den andern um die Küste herum, soll aber nach Geiranger hereinkommen.
Gudbrandstal , 15. Juli.
Die Stadt, die Anstrengung und die Leere liegen hinter mir. Es geht nordwärts durch das Gudbrandstal. Ich fahre die grüne, schäumende Otta entlang...
Das Auge folgt den weißgrünen Wirbeln; man sieht sich wieder frisch an diesem starken Willen, der seinen singenden Siegeslauf durch das Tal, das er selbst gegraben hat, dahinzieht — von keinem Hindernis aufgehalten. Du bist wie das Menschenleben, wie das Mannesalter! Du kommst aus der unbewußten Unschuld der Kindheit, aus dem weißen Schnee, der die knorrige Härte des Gebirges bedeckte, als die Zeit nicht eilte.
Nun hastest du mit der Blindheit des Mannes durch dein Werk, brichst dir selber den Weg und leistest deine Arbeit, um still ins Meer zu verschwinden. Aber von neuem steigen deine Wasser, von neuem fällt Schnee im Gebirge...
Über deinen schäumenden Lauf beugt sich geschmeidig und anmutig die Hängebirke. Du gibst ihren Wurzeln Wasser und ihren Blättern Tau — aber dann eilst du weiter......
Grjotli , 16. Juli.
Wieder oben zwischen Bergen und Schnee. Die Sonne ging gerade unter, und über dem Bergkamm erglühte der Gletscher in tiefem Karmin. Die Flächen und der See unter mir liegen im kalten Abendschatten.
Kaum ist man den Gletschern wieder nahe, und sofort treibt der Lebensmut neue Schößlinge, und das andere da unten wird dumpfe Schlaffheit.
Was ist das für eine Zaubermacht? Als ich sie diesmal zuerst sah, die dunkle Schlucht, die jähen Felswände und die weißen Gletscherflecken, scharf begrenzt und hart, da kam das Unbehagen; es war wie: ach, mußt du da hinein? Da lockten die fruchtbaren Felder und die lachenden Birkenhaine... Aber jetzt — wenn man zu den Gletschern hinübersieht, wie sie bläulichweiß und kalt daliegen, nachdem die Sonnenglut verschwunden ist — da ist es, als fühle man sich wieder frei und aufrecht. Kommt es vielleicht von der Luft, die so hoch über dem Meere leichter ist?
Geiranger , 17. Juli.
Regen und Nebel über den Bergen. Nichts ist zu sehen, und trotzdem ist es schön, Mensch zu sein. Es ist so wunderlich: in Regen und Unwetter wird einem oft am leichtesten zumute. Löst die feuchte Luft das trübe Wetter im Innern auf? Nun ist es ganz fort...
Die Fahrt hier herab gehörte gewiß zum Großartigsten, was ich je sah, wenn ich nur etwas davon hätte sehen können! Aber der Nebel war so dicht, daß, als ich oben in der Schlucht stand und Wasserfälle auf allen Seiten stürzten, ich über und unter mir nichts anderes als wogende Wolken schaute. Ich ahnte nur, daß ich 3000 Fuß unter mir das Tal und den Fjord hatte, da unten in der Tiefe, wo die grauen Steinmassen verschwanden.
Einmal ging ein Riß durch die Nebelmasse, und ich erblickte tief, tief unten ein grünblaues Band — das mußte der Fluß sein, zu dem die Wasserläufe sich über diese stürzenden, hängenden [S. 107] Schutthalden und Bergwände hinabgewälzt hatten... Dann verschwand es wieder, und ich hörte nur das Donnern stürzenden Wassers.
Es ist der ausgeprägteste Talkessel, durch den ich je, soweit ich mich besinnen kann, gefahren bin. Die Wände im innersten Kessel steigen etwa 2000 Fuß an, und das Tal spaltet sich dann in zwei, jedes mit einem Fluß; keiner von diesen scheint sich tiefe Rinnen gegraben zu haben. Die Zeit, seitdem der Talkessel vom Eise gebildet worden und der Gletscher geschwunden war, war zu kurz; dazu kommt, daß der Abstand von der Wasserscheide bis zum See so klein und das Gefäll groß ist, daß also die Ausgrabung und der Transport von allen Seiten zu schnell gegangen ist.
Es war die reine Polarlandschaft dort oben zwischen den Bergen. Die Gletscher wälzten sich aus dem Nebel herab, die Bergwände standen nackt und naß darunter, und dazu der schwarze Djupsee mit den zerstreuten blaufüßigen Eisschollen. Man war wieder hoch im Norden in der Eiswelt.
Ålesund , Sonntag, 22. Juli.
Ich liege seewärts auf einer Bergkuppe und lasse mich von der Sonne braten. Weit draußen nach Nordosten breitet sich das Meer kühl-blau und dunkel mit weißen Schaumkämmen.
Von Geiranger aus haben wir ozeanographische Untersuchungen im Storfjord unternommen; jetzt sind wir hier. Gestern kamen wir halbwegs bis Storeggen hinaus, um unsern Querschnitt [S. 108] durch das Meer nach Island hinüber mit einer Reihe von ozeanographischen Stationen zu beginnen, auf denen Lotungsreihen mit Temperaturbeobachtungen und Wasserproben von der Oberfläche bis zum Meeresboden genommen werden.
Mehrere Tage hatte es Nordweststurm gegeben. Noch war hohe See, und die Wogen gingen so hoch, daß sie auf mehrere Faden Tiefe Brandung bildeten. Das war nicht gerade gemütlich für diejenigen von uns, die nicht seefest waren. Aber die Arbeit wurde trotzdem geleistet, und wir erledigten unsere fünfte Station auf dieser Reise gut genug...
Hier ist es so still und friedlich. Unten ein kleiner gemütlicher Hafen mit Speichern und Fischerhütten ringsum; draußen Schären und Holme, die gelbbraun, mit eingesprengten grünen Flecken, sich von dem blauen Meer abheben, auf dem es von Nordosten immer mehr zu wehen anfängt. Kein Segelboot ist bei dem frischen Winde zu sehen; es ist ja Sonntag, und die Leute sind in den Häusern und feiern.
Hier und da schlendern sonntäglich gekleidete Männer umher, die Hände in den Hosentaschen, und spucken — oder sie liegen auf einem Hügel in der Sonne, die Hände unter dem Nacken, und starren ins Weite, oder sie sitzen zu zwei und zwei zusammen, saugen an ihren Pfeifen und reden vom Wind und von Fischfangaussichten. Sie haben in den letzten Wochen einen überaus guten Fang von Langfischen gehabt.
Unten auf dem Hügel spielen einige Kinder. Ein keckes, halbwüchsiges Mädchen mit roter, in der Sonne hell leuchtender [S. 109] Mütze übt auf einer Ziehharmonika „Ja wir lieben dieses Land“; sie singt dazu und marschiert auf und ab. Sie bewegt sich stramm und behend.
Dort kommt ein erwachsenes Mädchen im blauen Rock herauf; sie setzt sich auf den Stein und will die Harmonika haben. Sie spielt nicht besser.
Auf einmal aber wird sie eifrig; sie fährt auf, glättet das Kopftuch und geht ein Stück nach unten. Ich sehe nach der entgegengesetzten Seite. Dort unten auf dem Wege gehen zwei Mannsleute ruhig und gemütlich. Sie werden wohl bald stehen bleiben? Jawohl, der eine bleibt stehen, sieht hinauf und spuckt, die Hände in den Taschen, den Nacken etwas gebeugt. Der andere bleibt weiter unten stehen.
Das Mädchen wendet sich und kehrt zurück; verwirrt sieht sie sich nach den Kindern um, die sie ja nicht zu beaufsichtigen hat, bittet sie zu kommen und will doch gar nicht, daß sie es tun. Dann geht sie im Zickzack nach unten.
Das Mädchen mit der Harmonika will folgen, wird aber abgewiesen. Dann geht es schneller und schneller, bis zum Stacheldrahtzaun. Dort unterhalten sie sich, dann spazieren sie den Weg weiter hinunter und verschwinden hinter den Häusern.
Später sehe ich sie unten im Hafen in einem Boot. Er setzt ein rotbraunes verwittertes Segel, und bei gutem Wind geht es zu einer Sonntagsfahrt über den glitzernden Fjord. Der blaue Rock leuchtet frisch weit hinaus, aber die Freude ist ja blau. Das Leben ist strahlendes blaues Sonnenlicht.
Wie gut es tut, zu faulenzen! — Morgen geht es auf die [S. 110] See. Wir wollen erst mit einer Reihe von Stationen einen Querschnitt durch das Meer nach Island hinüber ziehen, dann soll es weiter nach Jan Mayen gehen und zurück nach den Lofoten. Hjort und Gran wollen die Verbreitung des Lebens im Meer und die Fischverhältnisse studieren, Helland-Hansen und ich werden besonders das Verhältnis zwischen den warmen und kalten Strömungen und Wassermassen zu ergründen suchen.
Wir alle haben neue Apparate, Instrumente und Methoden für die Untersuchung des Meereslebens und der physikalischen und chemischen Verhältnisse des Meeres erfunden, und Großes erwarten wir von dieser Fahrt — nach unserer Annahme dürfte sie wohl in der Meeresforschung eine neue Zeit einleiten.
Auf dem Meer
zwischen Norwegen und Island,
Donnerstag, 26. Juli.
Das Leben ist mitunter licht. Wir haben den ersten Sieg auf unserer Fahrt errungen! Heute nacht bekamen wir unsere Treibnetze voll von Heringen, blanken, blinkenden, großen Heringen. Einen Kohlfisch fingen wir auch und zwei große Dorsche, mitten auf See.
Hjort strahlte vor Stolz auf diese Bestätigung seiner Erwartung. Er war zu dem Schluß gekommen, daß die Fischarten, die uns unsere großen Fischereien liefern, nicht nur an die Bänke und Küstenstriche gebunden, sondern über das ganze Meer verbreitet sind, auch über die großen Tiefen, überall wo sie Lebensmöglichkeit finden. Er war darin bestärkt worden durch [S. 111] das, was Bottlenose(Entenwal)-Fänger von Fischmengen erzählten, die sie auf offener See gefunden hatten.
Hier haben wir also die sicheren Beweise. Auf einmal wird das Feld, aus dem die Fischereien ihre Reichtümer holen, mächtig erweitert. Die Fischmengen des Meeres scheinen noch unerschöpflicher zu sein, als wir zu glauben gewagt hatten.
Nun bin ich gespannt auf den Rotfisch ( Sebastes norvegicus ) westlich von Jan Mayen, wo ich im Jahre 1882 einen Klappmützenmagen voll von frischen Rotfischen fand, die eben erst eingenommen sein mußten. Und das war mitten in der Tiefsee. — Und dann denke ich auch an alle die Fische, die ich in den Magen von Eishaien fand, die wir damals in der Dänemark-Straße zwischen Island und Grönland fingen.
Wir hielten ja Dorsche, Rotfische und ähnliches hauptsächlich für Grundfische, und wir unterschieden sie von den sogenannten pelagischen Fischen, die frei im Meere herumstreifen, wie z. B. die Makrele. Aber nun werden sie ja so ziemlich alle pelagisch.
Es ist Windstille. Lange Dünungen wie wogender Stahl. Leise Schläge gegen die Schiffswand, die Feuerkugel der Sonne geht in bläulichem Purpur unter. Eissturmvögel schweben geschäftig auf stillen Schwingen über dem Meeresspiegel, unablässig den Sonnenstreifen kreuzend, als suchten sie etwas, was sie niemals finden. Aber du lieber Himmel, das tun wir wohl alle....
Doch man muß schlafen. In wenigen Stunden kommt das Schleppnetz herauf, und dann gilt es wieder die ganze Nacht zu arbeiten, Temperaturen zu messen und Wasserproben aus der Tiefe zu holen. — Schlafen, wie man nur auf See schlafen kann.
Nördlich von Island , Sonntag, 29. Juli.
Nebel, Nebel — über uns, um uns — Nebel, wohin wir schauen.
Aber fahr weiter durch den Nebel, während das Meer dir entgegenwogt und dir Botschaft und Grüße bringt von der unsichtbaren Welt da hinten, du weißt nicht woher — dir Sehnsucht bringt, du weißt nicht wonach. Du ahnst nur, daß es eine Sehnsucht gibt nach irgendwohin im Raum — hinter, über dem Nebel, wo der Tag klar ist und die Sonne auf blinkende Zinnen scheint.
Hallo, da wird in der Maschine halbe Fahrt signalisiert. Der Nebel draußen ist dicht wie Brei. Wir können nur ein paar Schiffslängen vor uns sehen.
Das ist der Eismeernebel. Das ist die Grenzscheide, wo die warmen, salzigen Meeresströmungen des Südens mit den weißen Eisfeldern zusammentreffen. Und Wogen kommen und Wogen gehen, wir sehen nicht woher und wissen nicht wohin.
Irgendwo im Süden liegt Island, das Land der Sagas — im Norden liegt das Eis. Aber aus diesen wollgrauen Nebelmassen kommen kühne Wikingerschiffe aus längst verschwundenen Zeiten mit niedrigem Segel vorübergefahren — wetterharte Kerle mit struppigem Bart, den Kopf frei auf starken Schultern und scharfe Augen unter den Brauen — Kerle, denen das Leben ein Spiel ist, die aber auch den Tod nicht fürchten.
Da fährt der geächtete Eirik Raude, vierschrötig und zerlumpt, aber mit zähem Willen; dir passen Nebel und Eis. Da steht Leif aufrecht und ruhig am Achtersteven, der Verwegene [S. 113] mit den weiten Zielen und der sicheren Überlegung. Du vermeidest am liebsten das Eis und suchst das offene Fahrwasser.
Sie verschwinden wieder im Nebelmeer, während Island dort im Süden liegt und seine Erinnerungen an Tat und Missetat hegt.
Nun wird in der Maschine wieder volle Fahrt signalisiert. Der Nebel hat sich etwas gelichtet, die Schraube dreht sich in gesteigertem Tempo; es geht neuen Zielen zu.
Setze Segel für den Tag der Arbeit, hinaus aus dem naßkalten Nebel! Sie lebten ihr Leben und erfüllten es mit Abenteuern, laßt auch uns unser Leben leben.
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Am Nachmittag endlich entdecken wir plötzlich Land vor uns. Es ist der Fuß einer senkrechten Bergwand unten an der Meeresfläche, der aus dem Nebel hervordunkelt.
Es ist Kap Nord, gerade das, was wir erwarteten. Wir sind in der Tat nicht weit davon entfernt. Nun wissen wir, wo wir sind, und da geht es weiter. Eine felsige Landzunge nach der andern tritt hervor, senkrechte Basaltwände. Wir sahen in den Jökullfjord und in den Isafjord hinein. Der Nebel lag auf allen höheren Bergspitzen, aber hier und da leuchteten Firne und Gletscher aus den Nebelmassen hervor. Von Nordosten ging eine frische Kühlte.
Ein Blick in den Önundarfjord hinein. Wild und zerrissen ist er, aber jetzt ansprechender als das letztemal, als ich im [S. 114] Sturm dort war, im Monat Mai vor zwölf Jahren, und die Berge mit Neuschnee bedeckt waren.
Draußen begegneten wir Ellefsens fünf Walfischfängern, starken, kleinen Schiffen, die sich gut auf den Wellen schaukelten, Schaum am Bug.
Gegen Mitternacht ging es in den Dyrafjord hinein, aber ich erkannte ihn nicht wieder. Der spitze Kegel dort war wohl die Myrumkuppe, die Häusergruppen an Steuerbord mußten Högatal sein, aber ich entsann mich nicht, daß es so bewohnt war.
Dort vorn erstreckt sich eine flache Landzunge, soweit wir das im Dunkeln durch das Fernrohr erkennen können. Ja, nun kenne ich mich wieder aus, das ist Thingeyre. Aber auch dort scheinen jetzt mehr Häuser zu stehen, als ich in Erinnerung habe.
Wo ist Bergs Haus? Es muß wohl weiter da drinnen liegen. Ja, dort liegt auch ein Dampfschiff vor Anker. Das muß einer von seinen Walfischfängern sein. Nein, das ist ja eine Fabrikesse. Nein, es ist doch ein Dampfer mit Schornstein.
Wir kommen näher. Ich starre nach Thingeyre hinüber. Ich erkenne das Haus wieder, in dem wir wohnten und drei Mann zusammen in einem Schlafsack auf der Diele einer Bodenkammer schliefen — wo ich, auf der Diele dieser Bodenkammer auf dem Bauche liegend, eine Abhandlung über den „Hermaphroditismus des Schleimaals“ schrieb... Und auf einmal stehen jene Tage mit all ihren unruhigen Erwartungen und unsicheren Ahnungen leibhaftig vor mir.
Wir warteten damals auf das Schiff, das uns an die Ost [S. 115] küste Grönlands bringen sollte, wo wir durchs Treibeis an Land wollten, um über das Inlandeis zu gehen.
Es war im Grunde keine begehrenswerte Zeit. Keine Ruhe, um sich irgend etwas zu widmen. Die Berghalden entlang unternahmen wir unsere Ausflüge zu Pferd. Aber auch diese konnten wir nicht ganz genießen, ebensowenig wie den Ritt zum Glåmugletscher. Wie eine Nebelwand lag es ja vor uns, dieses Unbekannte, in das wir hinein-, durch das wir hindurchfahren sollten — wie die Nebelkappe jetzt dort über dem Glåmugletscher.
Aber der Dampfschiffsschornstein dort drinnen wurde doch zu einer Fabrikesse, und das Helle dort oben an der Halde muß Bergs Haus sein.
Der Geruch sollte uns auch nicht lange darüber in Zweifel lassen, daß wir in der Nähe einer Walfischfängerstation waren. Vorsichtig fuhren wir ein und ankerten neben drei Walfischfängern, die dort vertäut lagen.
Gegen sechs Uhr morgens ging Kapitän Sörensen an Land und begrüßte Berg. Dann mußten wir nach Thingeyre hinüber, um Kohlen zu bestellen und meinen alten Wirt, den Holsteiner Herrn Wendel, zu begrüßen. Dann zurück und vor Framnes anlegen; und drei Tage lang war das Leben eitel Sonnenschein.
Im Grunde ein prächtiger Ort. Der Fjord voll von Fischen und Enten und Seevögeln, Forellen in den Flüssen, Schneehühner auf den Bergen und dann die herrlichen Ausflüge zu Pferd. Was will man noch mehr? Hier mußte man leben können, unterdessen mochte die Welt weiterrollen. — Die Chinesen [S. 116] schlachten Europäer ab und die Engländer Buren — was geht das uns hier an? Man hat Telegraph und Post vergessen — und das Telephon.
Dienstag, 31. Juli 1900.
Ich besuchte einen alten Dichter, Sigvathor Grimsson. Er ist Bergs nächster Nachbar und sein Pächter. Er ist 60 Jahre alt und hat in seinem Äußern nicht gerade viel von einem Dichter. Als ich zu ihm kam, stand er gerade gebückt da und mähte. Er war dabei, einen Rasenhügel mit einer kurzen Sense zu barbieren, wie sie in Norwegen und Island benutzt wird, wo die vielen Steine im Gras dazu nötigen.
Erst wurden die notwendigen einleitenden Bemerkungen über dies und jenes erledigt. Er brachte seine Versicherung, daß er so vornehmen Besuch nicht erwartet habe, in gutem Dänisch vor, wobei er ständig die Anrede brauchte: „Mein guter Herr.“ Dann kamen wir ins Plaudern.
Ich fand, es müsse doch mühsam sein, eine Wiese zu mähen, die so dicht mit Höckern bedeckt sei wie diese, und fragte, wie er dies Jahr für Jahr tun könne.
Erstaunt entgegnete er, wie es denn anders gemacht werden könne. Ich meinte, es müsse doch weit besser sein, das Feld flach zu pflügen.
„Nein, mein guter Herr, dann würde ja die Fläche, auf der Gras wachsen kann, viel kleiner!“
Das war auch ein Gesichtspunkt. Aber sonst war das Pflügen in diesen letzten Jahren hier nicht mehr unbekannt. [S. 117] Als ich vor zwölf Jahren nach Grönland reiste, kaufte ich das einzige Pferd auf Island, das, wie man sagte, vor einem Pflug erprobt war und daher ziehen konnte, was die isländischen Pferde sonst nicht können.
Dann fragte er, ob ich ins Haus treten wolle. Durch den niedrigen, gekrümmten dunkeln Gang, der sich fast wie der Hausgang einer Eskimohütte ausnahm, kamen wir in einen Raum, der so niedrig war, daß ich nicht aufrecht stehen konnte. Da lagen Bücher die Wände entlang in Haufen aufgestapelt, meist uneingebunden, von verschiedener Art, von Familienzeitschriften angefangen bis zu Sagas.
Dann ging es eine Treppe in das Obergeschoß hinauf, das ein gemeinsamer Aufenthaltsort unter dem Dachboden war: Wohnstube, Arbeitszimmer und Schlafraum für ihn und die ganze Familie.
Hier lag auf einem Tisch am Fenster sein Arbeitszeug, Feder und Tinte. Wenn er aber schrieb, saß er auf einem Schemel und hielt ein Brett als Schreibtisch im Schoß. Hier verbrachte er, soweit ich erfahren konnte, den größten Teil des Winters und seine sonstige von Landarbeit freie Zeit.
Er zog seine Manuskripte hervor, sechs dicke Bände über isländische Priester, schön und dicht beschrieben; dazu kamen noch mehrere Bände mit Nachträgen.
Über den Inhalt kann ich nicht urteilen. Aber eine Riesenarbeit ist allein schon die Niederschrift, und sie ist geleistet ohne Hoffnung, sie jemals gedruckt zu sehen. Es soll eine Arbeit sein, die er kommenden Geschlechtern hinterläßt und die auf der [S. 118] Kopenhagener Universitätsbibliothek aufbewahrt werden soll, wenn sie nicht etwa jetzt der Reykjaviker Bibliothek übergeben wird.
Wahrhaftig, mich überkam Bewunderung für diesen alten Mann, wie er dort in dem engen Zimmer stand. Für wen arbeitete er? Nicht für Ruhm — es müßte höchstens bei der Nachwelt sein. Etwa für die Menschheit?
Arm wie Hiob, in dieser Umgebung, den undichten Torf des Daches so dicht über dem Kopf, daß er daran stieß. Nie hatte er studiert, nur immer die Erde gegraben. Ja, wir arbeiten, weil wir müssen, sei es selbst über isländische Priester.... Unsere Ziele werden groß genug, wenn unsere Scheuklappen nur das Gesichtsfeld klein genug machen.
Undicht? Ja, das Torfdach war so undicht, daß er, wenn es regnete, über das Manuskript gebeugt sitzen mußte, damit es nicht aufs Papier, sondern auf seinen Rücken regnete.
Das ist Island! Niedergedrückt von Erinnerungen, fast bis zur Verkrüppelung, lebt es in der Vorzeit — vergißt die Gegenwart — und braucht die kurze Sense.
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In der Nacht des 2. August fuhren wir in düsterer Stimmung wieder aus dem Dyrafjord hinaus. Wir hatten im Laufe des Tages einen herrlichen Ritt nach der Kirche und weiter unternommen, und die Familie Berg hatte den Abend bei uns an Bord zugebracht.
Niemand hatte Lust abzufahren, und mehrere von uns hätten wohl gern Sturm auf See gehabt, um wieder zurückkehren zu müssen. Aber die See war schön, und im Norden träumte der [S. 119] Himmel nach Sonnenuntergang in einer wehmutsvollen bleichen Röte. Ove Hjort sang: „Norweger wollen fahren.“
Aber nicht immer wollen sie fahren.
Tags darauf machte Dr. Hjort einen ausgezeichneten Fang. Mit dem großen Netz fing er im Verlauf einer Viertelstunde mitten in der Dänemark-Straße, in der Grenzzone, wo sich der warme Irmingerstrom aus dem Atlantischen Ozean und der Polarstrom begegnen, 128 Fischbruten, meistens Dorscharten.
Dieser Fund ist von großer Bedeutung, denn er zeigt, daß die Brut von den Bänken an der Küste, wo die Fische laichen, mit den Strömungen vom Lande nordwärts ins Meer hinaustreibt, bis das Küstenwasser, das sie mitführt, hier dem Wasser des Polarstroms begegnet. Die jungen Fische leben nun ihr freies Leben im Meer, bis sie so groß werden, daß sie aus eigenem Trieb wieder zu den Bänken zurückkehren.
4. August 1900.
Gestern kamen wir bei glänzendem Sonnenschein und stiller See an das Eis heran. Es war ein eigentümliches Gefühl, es wiederzusehen. Am äußersten Rand trieben kleine lose Stücke, die von der warmen See aufgezehrt wurden. Weiter weg aber erstreckten sich in düsterer Eismeereinsamkeit schwere Schollen, unbetreten und ungesehen.
Ich schaute sie mir durchs Fernrohr an, diese weißen Eisflächen, die ich so gut kannte. Ich überlegte, ob es leicht war, Boote darüber hinwegzuziehen, und war mitten drin in unserer Fahrt [S. 120] übers Eis und unserer Drift Grönland entlang vor zwölf Jahren.
Erst fühlte ich mich so überlegen, als Gran und die andern gern ins Eis hinein wollten. Ich hatte gar nicht den Wunsch, da hinein zu kommen; ich hatte dort nichts zu tun. Das einzige, was mich interessierte, schien mir zu sein, ein Stück sibirisches Treibholz aufzufischen, das im Wasser zwischen den Eisstücken trieb.
Wie ich aber so dastand und hinausstarrte, da überkam mich doch die Sehnsucht, wieder dort drin zu sein, wieder von einer Scholle aus nach Fortkommen auszuspähen — es ist Spannung, Handlung in dem Leben dort...
Der Schraube wegen mußten wir wieder umkehren; sie konnte in den losen Eisstücken abbrechen. Aber ich blieb stehen und starrte weiter, bis die schweren Schollen außer Sicht waren.
Wir waren gerade an der Grenze, wo sich die kalte und die warme Strömung begegnen. Auf der einen Seite der Polarstrom: aus weniger salzhaltigem, leichterem Wasser bestehend, von den sibirischen Flüssen gespeist, fließt er an der Oberfläche südwärts die grönländische Ostküste entlang und trägt die großen Eismassen auf seinem Rücken. Auf der andern Seite die warme Strömung, der Irmingerstrom genannt, die vom Atlantischen Ozean nordwärts die Westküste Islands entlang zieht.
Hier fließt das kalte, aber süße und daher leichte Eismeerwasser auf der Oberfläche, während das warme, salzige und daher schwerere Wasser des Atlantischen Ozeans unter das Eismeerwasser untertaucht. Und alles, was es auf seinem Rücken trägt, wird abgeschäumt und bleibt längs der Grenzlinie liegen, so [S. 121] daß wir diese auf weite Entfernung wie einen scharfen Schaumrand sehen können, wo die Wasserfläche zittert und wirbelt. Tiefer unten sind die verschiedenen Schichten durcheinandergeschoben, abwechselnd warme und kalte.
Heute nacht machten wir gerade in dieser Strömung eine Lotungsstation, in der wir wie üblich eine vertikale Reihe von Temperaturbeobachtungen anstellten und von der Oberfläche bis zum Meeresboden Wasserproben entnahmen. Die Temperatur konnte hier an der Oberfläche in ein paar Minuten von 3 Grad bis zu 10 Grad Wärme ansteigen.
Es war geplant, mehrere Stationen zu machen und dann nach Island zurückzukehren. Aber das Wetter ist gut, wir müssen es ausnützen und weiterkommen. Der Kurs wird daher nördlich von Island bis nach Jan Mayen gesetzt.
Südlich von uns liegt Island, vor einer Weile im Sonnenschein, jetzt im Nebel. Ein paar herrliche Tage hatten wir dort gehabt, ein sonniges Leben. Von den Nebeln kamen wir und zu ihnen kehren wir zurück....
Die Ritte dort am schönen Fjord entlang über die ebenen Gebirgsflächen, die grünen Täler, die muntere Fahrt, das ansteckende Gelächter, die schneeblinkenden Berge und weit draußen das glitzernde Meer. Und das Leben wurde jung und frei.... Man hatte das Gefühl, als könne man sich hier für die Dauer niederlassen.
Und dann diese guten prächtigen Menschen, die unter freien Verhältnissen aufgewachsen sind.
Man schließt die Augen und sieht Sonnenblicke über grünen [S. 122] Lehnen — schroffe Basaltwände darüber — niedrige isländische Bauernhöfe — Isländer, die Heu einbringen — eine graue, schlichte Kirche — draußen seewärts der Fjord. Vorn eine Reiterin, die in frischem Trab anführt, und hinterdrein eine Reihe Reiter und Reiterinnen, und blaue Augen, die vor Freude blitzen.
Das Bild wechselt — und in wilder Karriere rast eine ganze Schar im Wettrennen über den flachen Sandstrand, wo die Wellen die Pferdebeine umspülen. Das Getrappel der raschen Pferdehufe klingt hart und taktfest. Über den Himmel ziehen Gewitterböen, mit Nebel und Regen im Gebirge, während die sinkende Sonne über den Meeresrand durch Gewitterwolken einen Lichtstreifen auf glitzernde Wellen wirft. Hei, Mann, ist das Leben schön und gesund!
Unter mir aber erklingt das einförmige Stampfen der Maschine, die uns unbarmherzig nach Osten und nach Norden in den Eismeernebel hineinführt.
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Das Wetter hat sich wieder aufgeklärt. Der Gletscher am Land südöstlich von Kap Nord leuchtet uns am Nachmittag entgegen, halb bedeckt von Nebelwolken. Es war wie ein Gruß vom Franz-Joseph-Land: die schroffen, schwarzen Basaltwände unten, darüber die große ebene Schneefläche und dann der Gletscherkamm, der oben im Nebel verschwand.
Nun ging die Sonne im Meere unter; ein glühendes Stück Regenbogen in einer blauen Gewitterwolke über den Berggipfeln; und dann einen kurzen Augenblick, als die Sonne sank, die Wolken dort in Purpurglut und die Bergspitzen blau, die See [S. 123] dunkel und frisch in der Brise und der Rauch vom Schornstein wie eine rotgelbe Wolke, während im Nordwesten, wo die Sonne verschwunden war, der ganze Himmel ein gelbroter Brand über dunkelblauem Meere war.
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Es ist Mitternacht. Die See rollt blank und grün. Berge und Gletscher im Süden stehen düsterblau und scharf. Kalte Schimmer von Schneeflecken heben sich von einem dunkeln grünblauen Himmel ab. Island und der Dyrafjord sind in Nacht gehüllt, aber im Norden träumt noch der Himmel gelbrot und spiegelt sich in blanker See. Es ist Zeit zu schlafen.
7. August 1900.
Wir kommen von Südwesten in einemfort durch Nebel über das Meer von Island her. Kurzer Sonnenschein am Mittag und am Vormittag gestattete uns einige Sonnenhöhenmessungen. Danach mußten wir auf der Höhe der Insel Jan Mayen sein, aber etwas westlich. Die Temperatur scheint freilich nicht darauf hinzudeuten, daß wir dem Eise nahe sind, denn das Wasser ist warm, über 4 Grad, bis zu einer Tiefe von 20 Metern, und warmes Wasser ist auch noch weiter unten in einer Tiefe von 100 Metern, ja zum Teil bei 200 Metern.
Aber es muß doch so sein, so große Fehler können unsere astronomischen Bestimmungen nicht aufweisen. Die Tiefe war 1207 Meter. Nach Osten zu muß es weniger tief werden, und wir fahren ostwärts.
Aller Augen starrten in den Nebel vor uns, der sich bald etwas lichtete, bald wieder verdichtete, so daß wir kaum zwei Seemeilen, zuweilen nicht eine Meile weit sahen.
Zwei Stunden später, um drei Uhr nachmittags, war die Tiefe 1100 Meter; wir konnten nicht mehr weit entfernt sein.
Eine Stunde später maß die Tiefe 1082 Meter; noch eine Stunde, und sie war 914 Meter. Das ist spannend. Die Augen starren in den Nebel hinein. Man glaubt eine Landzunge zu sehen, die bald kommt, bald verschwindet.
Die Tiefe wird allmählich geringer, bis auf 658 Meter. Der Kurs ist nun genau nördlich, aber auf einmal wird das Wasser wieder tiefer.
Wo sind wir? Sind wir westlich oder östlich von der Insel? Nach dem Besteck müßten wir etwas östlich sein, aber der Kompaß scheint in diesem Fahrwasser wenig zuverlässig. Nach den Sonnenhöhen müßten wir nicht viele Meilen westlich sein, und ein Sonnenblick, den wir am Nachmittag hatten, ergab eine neue Beobachtung, die das bestätigt. Es muß richtig sein. Aber diese zunehmende Tiefe?
Trotzdem wollen wir nach Westen zurückhalten. Nimmt die Tiefe zu, dann müssen wir westlich sein, und dann gilt es nur die Breite zu halten und nach Osten zu gehen, bis wir auf Land treffen.
Etwas später ist die Tiefe ungefähr dieselbe, aber der Nebel zerstreut sich ein wenig, und dort im Osten und Nordosten hält sich beständig ein merkwürdig heller Schein, mit dunkeln Bänken nahe dem Horizont, der Land mit Vorsprüngen ähnlich sehen [S. 125] könnte. Er kommt und verschwindet immer auf derselben Stelle. Wir schlagen diese Richtung ein. Da muß etwas sein; unterdessen gehen wir hinunter und essen.
Als wir bei Tisch sitzen, ruft der Kapitän, nun sehe er bestimmt Land.
Alle Mann hinauf! Es ist ebenso neblig wie vorher. Aber dort im Osten erkennen wir am Horizont deutlich eine dunkle Landzunge. Bald wird sie etwas deutlicher, bald verschwindet sie wieder fast ganz. Das ist Jan Mayen! Aber wo? Nördlich oder südlich?
Wir steuern darauf los. Der Nebel kommt und nimmt sie weg. Dreiviertel Stunde fahren wir und müßten nun unmittelbar davor sein. Aber nichts sehen wir außer dichtem Nebel, und die Tiefe ist wieder größer geworden.
Wir sind froh, daß wir unzweifelhaft Land erblickt haben, nun können wir kaum noch zwei Seemeilen entfernt sein. Wir müssen still liegen und warten, während sich die Augen anstrengen, um das Land noch einmal einen Augenblick zu sehen, und die Ohren, um womöglich die Brandung am Strand zu hören.
Der Nebel wird bald leichter, bald dichter, aber nichts ist zu sehen und zu hören, nur Nebel und Meer, mit einer schwachen Dünung aus Nordwest.
Endlich zerstreut sich der Nebel wieder etwas, und man sieht von neuem die runde Bergkuppe dunkel aus dem Nebel hervorscheinen — nun ganz in der Nähe. Dann tritt weiter nordwärts ein Stück Land dunkel hervor, südlich aber nichts.
Sollten wir in der Nähe der Südspitze sein?
Bald wird der Nebel wieder ganz dicht. Wir können nichts erkennen und wir können nichts anderes tun als liegen bleiben und warten. Näher unter Land zu gehen, scheint bei solchem Wetter nicht ratsam. Vielleicht bleiben wir hier die ganze Nacht liegen....
Das Land ist wieder ganz weg; wir waren ihm aber so nahe, daß wir die Brandung am Strand sehen konnten. Wir gehen unter Deck.
Als ich später am Abend wieder auf Deck kam, konnte ich einen Augenblick die Bergkuppe schärfer und dunkler sehen als zuvor. Nun gewahrte ich auch ganz deutlich eine Landzunge weiter im Süden. Aber dort, was war das? Dort vor der Landzunge? Eine Klippe, die aus der See aufragt, und daneben noch ein niedrigerer Stein?
Das muß die Klippe an der Südostspitze des Landes sein. Ich rufe den Kapitän. Er sieht sie auch, bald ganz deutlich, bald wieder draußen im Nebel.
Kurz zuvor hatte der Steuermann einen Blick tun können auf den Beerenberg selbst, oben im Nebelmeer, aber der Berg war sofort wieder verschwunden.
Lange bleibe ich stehen und schaue. Alles ist wieder verschwunden. Nun aber kommt ein Riß in den Nebel und siehe, jetzt wird die Spitze wieder sichtbar und die Klippe davor mit einem Spalt in der Mitte und ein kleinerer Fels südlich davon.
Nun ist kein Irrtum mehr möglich, und langsam dampfen wir [S. 127] nach Süden, um südlich um die Insel herum auf die Ostseite zu kommen, wo im Schutz des Landes gewiß klareres Wetter sein muß, denn der Wind kommt von Westen.
8. August 1900.
In der stillen grauhellen Nebelnacht fuhren wir langsam um die Südspitze der Insel. Als wir weiter nach Osten kamen, wurde das Wetter soweit klar, daß wir die grüngelben Abhänge des Berges oben in den Senken zwischen den Gipfeln und Kratern auf dem Rücken des Landes sehen konnten. Darunter waren die jähen Lavawände, die von Nebelschwaden umgeben schwarz ins Meer abfielen.
Die Vorsprünge der Ostseite der Insel nach Norden zu traten nach und nach mehr hervor. Der Bautastein, der dort vor der schroffen Lavalandzunge aus der See aufragt, muß die „Leuchtturmklippe“ sein. Wir spähen immer weiter hinaus, aber nordwärts wird kein Land mehr sichtbar.
Im Lee der Insel, auf der Ostseite, ist die See ganz glatt geworden, und wie zu erwarten, ist das Wetter hier klarer.
Eine Nacht mit wunderlicher Nebelstimmung, so still und öde. Auf der glatten Seefläche unter den schwarzen Lavawänden lagen gleich schwarzen Flecken da und dort Alke und ein vereinzelter Krabbentaucher. Sie schwammen mit Wohlbehagen — zuweilen flatterten sie vor dem Schiffe über den Wasserspiegel, konnten sich aber nur schwer erheben; es war zu still — und dann tauchten sie. Einer stieß seinen ärgerlichen Schrei aus.
An den Lavawänden entlang hing oben eine helle Nebelschicht. Darüber ragten hier und da die eigentümlichen Lavagipfel und Krater hervor, mit ihren Töpfen voll Schnee. Jetzt werden sie ganz klar, und die grüngelben Abhänge heben sich von der lichten Nebeldecke ab.
Wir halten, um eine Angelschnur auszuwerfen und zu prüfen, ob hier Fische sind. Wie still wurde die Nacht, als die Schraube aufhörte zu schlagen.
Ganz anders ist es hier als sonst irgendwo. Landeinwärts erhebt sich dieses düstere Vulkanland, halb in Nebel gehüllt. Krater an Krater, mit scharfen Kämmen dazwischen. Keine Täler, nur Kare, von den kleinen Gletschern ausgehöhlt, und hier und da ein Bach, der keine Rinne gegraben hat, sondern von der Schneedecke über die hohen Lavawände in die See hinabstürzt, ein weißer Streifen auf schwarzem Grund. Und am Fuße der Wände tiefe Spalten und Höhlen, darunter der glatte Meeresspiegel. Oben darüber wälzt sich das Nebelmeer von Nordosten her, und draußen liegen das blanke Meer und der Nebel. Es ist wie eine ausgestorbene Welt auf dem Monde oder auf einem vergessenen Planeten.
So liegt sie hier durch die Jahrtausende, diese einsame Insel, dem Menschenauge verborgen, und niemand erfährt, was sie im Wechsel der Zeiten durchmacht.
Bei der Spannung der Erdkruste unter dem Meer wurden einst die inneren glühenden Massen aus der Tiefe in einem Ausbruch nach dem andern emporgetrieben. Das Meer stöhnte und zitterte in furchtbaren Explosionen. Meerbeben folgten, [S. 129] gewaltige, berghohe Wellen wälzten heran, zerschmetterten das Eis im Norden und warfen die schweren Schollen in krachendem Tumult übereinander. — — —
Dann stieg die Lava in kochendem Nebel über die Meeresfläche. Vulkankegel bauten sich auf, Aschenregen verfinsterte den Tag zur Nacht. Höher stiegen die Vulkane, Krater an Krater öffnete sich. Aber am gewaltigsten erhob sich ein Kegel; er stieg und stieg bis mehr als 2500 Meter über die Meeresfläche, es war der Beerenberg. Er wurde von schweren Firnen und Gletschern bedeckt.
Bis in späte Zeiten hinein hat es Ausbrüche auf der Insel gegeben. Lavaströme sind hervorgebrochen, Gletscher sind geschmolzen, und Wassermassen mit Eis und Schutt sind in wildem Lauf hinuntergeschäumt. Der Aschenregen hat den Schnee und das Eis weit in die See hinaus mit dicken schwarzen Lagen bedeckt. Erde und Meer haben gezittert. Der Erdkessel ist übergekocht, und die Stille der Polarnacht ist von dem Brüllen und Krachen des ausströmenden Dampfes erschüttert worden. Diese ganze Eiswelt war eingehüllt in das kochende, brausende Wolkengemisch...
Kein Fisch! — Wir dampfen wieder nordwärts, um in die „Treibholzbucht“ hineinzufahren. Vom Land im Norden erkennen wir im Nebel nur dann und wann die Eierinsel.
Hjort war auch herausgekommen; stumm standen wir unter dem Nebeldach auf der Brücke und schauten in diese fremde Welt hinein. Die Eierinsel und die Lavalandzunge im Norden traten [S. 130] allmählich deutlich hervor. Das mußte die „Lotsenbootklippe“ sein, der schwarze Fels, der wie ein Segelschiff dort auf Backbordbug aus der See aufragte. Und dort weiter nördlich ist die Bucht, in die wir hinein wollen.
Aber schau, nun zerstreut sich der Nebel! Er bekommt Risse, und aus den Nebelmassen tritt höher und immer höher der Beerenberg mit weißblauen Gletschern und schwarzer Lava dazwischen hervor; es ist, als ob er sich auf uns herniederwälzte.
„Da, sehen Sie, Kapitän!“ Eine Weile sieht der Kapitän hin, ohne ein Wort zu äußern, dann zuckt er die Achseln und sagt:
„Uff, ist das unheimlich! Es ist, als ob sich ein Ungeheuer auf einen herabwälzte.“
Ja, hier ist Trollebotten, das Land der Reifriesen der norwegischen Mythen. Etwas Derartiges habe ich wenigstens nirgends gesehen. Diese weißen Gletscher mit blaugrauem Eis dazwischen, die unter dem Nebeldach leuchten und sich nach allen Seiten unmittelbar ins Meer wälzen, hier und da mit schwarzen Basaltwänden darunter,
Wir fuhren in die Bucht hinein. Angelleinen wurden ausgelegt, und am hellen Morgen gingen wir schlafen und träumten von lachenden Wiesen.
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Mit den Leinen fingen wir nichts. Mehrere Trawlzüge wurden unternommen, aber auch sie ergaben keinen von unsern südlichen Fischen, nur kleine Aragonus Cottus und ähnliche in Mengen.
Wenn man an all die Fische denkt auf den Bänken bei Island, was nicht viel weiter südlich ist, und bei Finmarken im Osten, was ebenso hoch im Norden liegt — ja oft bei Spitzbergen, noch viel weiter nördlich —, dann konnte es nicht unwahrscheinlich dünken, daß auch auf den Bänken bei dieser Vulkaninsel Fische vorhanden wären. Aber es scheint doch nicht so zu sein. Die Tierwelt muß hier ziemlich arktisch sein, und für unsere großen Fische gibt es wohl zuwenig Nahrung.
Am Nachmittag schossen Ove Hjort und ich unter den Lavawänden ein halbes Hundert Alke. Das war doch wieder etwas, die Flinte gebrauchen zu können und die Alke, einen nach dem andern, auf ihrer sausenden Flucht an uns vorüber ins Wasser stürzen zu sehen.
9. August 1900.
In der Nacht, während wir vor Anker lagen und einige Heringsnetze ausgelegt hatten, mit denen wir aber auch nichts fingen, zogen einige von uns wieder ins Land hinein. Zuerst die Lavawände entlang, um Alke zu schießen.
Auf der Eierinsel gab es eine Bucht, die das Ödeste, Unheimlichste, Verzaubertste ist, was ich je gesehen hatte. Unten ein schmaler, öder Sandstrand mit einigen Stücken Treibholz, gleich verwitterten Knochen. Darüber dunkelbraune Lava- oder Tuffwände, von Wasser und Frost in den gekrümmtesten knorrigsten Formen zerfurcht, überall von oben bis unten gewunden und gezerrt wie Knoten und Sehnen. Nichts Lebendes ist zu schauen. Nicht ein einziger Schneefleck, alles ist jetzt um Mitternacht dunkel, braun und düster.
Wahrlich, das ist der „Trolle-Botten“ im Norden, im „Nebelheim“. Hier wohnen Drachen und wunderliche vorweltliche Tiere — für jetzt lebende Wesen keine Stätte des Bleibens.
Wir gingen weiter und dann wieder zurück — überall dasselbe Bild. Anderwärts saßen doch die Alke reihenweise übereinander und belebten die Gegend. Aber hier gingen all die tiefen, krummen Furchen von oben nach unten, so daß für Vögel kein Raum war.
Südlich, vor der Eierinsel, ragte ein gewaltiger Lavafels aus der See empor, die seinen Fuß umspült und tiefe Löcher in ihn höhlt, so daß er wohl bald umstürzen wird.
Weiter südlich, in der „Treibholzbucht“, gingen wir durch die Brandung an Land und zogen das Boot auf den Strand, so gut wir konnten. Wir gingen tief ins Land hinein, aber nie habe ich eine trostlosere Landschaft gesehen, nur eine Fläche verwitterter Lava oder Asche, schwarz und traurig, ohne einen Grashalm. Nur in weiter Ferne sahen wir in den schwarzen Bergen grüngelbe Abhänge. Aber dorthin kamen wir nicht, trotz unseres eifrigen Botanikers, der gern etwas für seine Botanisiertrommel haben wollte.
Nebel lag auf allen Bergen ringsum. Nur über den Kämmen im Nordwesten leuchtete die Sonnenröte unter dem Nebeldach und erinnerte daran, daß es irgendwo in der Welt Sonnenschein gab. Aber das mußte weit, weit weg sein.
Als wir gegen Morgen an Bord gingen, zerstreute sich der Nebel über den Bergspitzen im Süden. Draußen im Nordosten [S. 133] färbte sich der Himmel rot von der Sonne; in seiner Art war das ganz schön.
Von Jan Mayen glaubten wir genug gesehen zu haben. Ganz hatte sich uns der Beerenberg freilich nicht gezeigt, und vielleicht erhält, wer ihn an einem Tag mit Sonnenschein zu sehen bekommt, ein anderes Bild von der Insel. In meiner Erinnerung hat sich die Insel unauslöschlich befestigt. Aber zu dieser Erinnerung werde ich wohl kaum gern zurückkehren....
Im Verlauf des Tages führten wir neue Trawlzüge aus und fanden unter anderm, daß hier die Algen bis in eine Tiefe von 90 bis 100 Meter hinab wachsen. Das kommt daher, daß das Wasser infolge des dürftigen Planktons so klar und durchsichtig ist und das Sonnenlicht daher im Sommer in große Tiefen hinabdringen kann. Das Meer hat die Klarheit und den Reichtum an Pflanzenleben, die Luft und Land entbehren müssen.
Am Nachmittag ließen wir die einsame, der Erinnerung bare Insel in ihrer Nebelwelt zurück. Schnell verschwand sie unter dem Horizont im Nebel, und es ging ostwärts nach Norwegen.
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Am Abend nahmen wir eine Temperaturreihe bis auf den Grund. Da ereignete sich leider das Unglück, daß beim Heraufholen der Lotleine mein neu erfundener Wasserschöpfer in voller Geschwindigkeit gegen den Block des Flaschenzugs rannte, die Leine sprang aus, und das teure Instrument mit seinen kostbaren Thermometern verschwand in der Tiefe. Einen Augenblick gab es mir einen Stich ins Herz — mein Blut stand still; auf das Instrument war [S. 134] ja monatelange Arbeit verwandt. Aber dann erinnerte ich mich, daß es nur ein Wasserschöpfer war, und wir holten einen andern hervor. Die letzte Tiefenmessung mußte wiederholt werden, und wir setzten sie bis zum Grunde in 1530 Meter Tiefe fort. Und so war das Unglück nicht weiter groß. Aber trotzdem — es war viel verloren, und man hat mit genug Schwierigkeiten zu kämpfen.
11. August 1900.
Wir dampfen in der Nacht mit voller Fahrt nach Osten über die große rollende Wasserfläche. Auf einmal denke ich daran, daß es Sommer ist. Und dies ist wieder ein Sommermorgen mit zunehmendem Licht und mit blaugrauen echten Kumuluswolken. Weit hinten liegt der Nebel — und dort vorn baut die Sonnenröte ihr wunderbares Elfenland, blaue Berge mit goldenen Kämmen, Sunde dazwischen, und hier und da segelnde Schiffe von Wolken, die wieder verschwinden. Dort oben im Nebel hatte man den Sommer ganz vergessen.
Nun starre ich in der zunehmenden Morgenröte in das lockende Wolkenland hinein. Es ist, als steige Norwegen dort hinten über den Meeresrand. Du herrliches Land! Es ist einem, als wäre man weit, weit weg gewesen, seit du im Meer versankst.
Über uns segeln Raubmöwen in ihrem leichten Falkenflug (meist Stercorarius crepidatus , seltener S. pomarinus , fast alle mit heller Brust, selten dunklere Formen).
Wie auf der Reise nach Island kommen sie hier in ganzen [S. 135] Scharen, bis zu zehn und zwanzig auf einmal, und sind fast Alleinherrscher. Von Eissturmvögeln sind verhältnismäßig wenige zu sehen, und von den Stummelmöwen hier und da eine.
„Das ist ein totes Revier, hier gibt’s weder Vogel noch Fisch,“ sagt der Steuermann, der neben mir auf der Brücke steht und Ausschau hält.
Vorn auf der Back stehen die Leute; sie unterhalten sich und sehen ostwärts in den aufsteigenden Tag. Oben auf dem Anker sitzt Ove Hjort und singt: „Schönes Tal“. Seine schlanke Gestalt hebt sich dunkel vom Himmel und der hellen Meeresfläche ab.
Aber es ist bald vier Uhr, und ich muß wieder hinunter, um das Wasser zu untersuchen, ob es in der Nähe des Golfstroms wärmer wird, oder ob sich derselbe merkwürdige Wechsel zeigt wie früher......
Es ist weiterhin dasselbe Mischungswasser.
Oben fliegen die Raubmöwen. Einmal kommt eine Stummelmöwe. Da stoßen sie in wilder Jagd auf sie herab, bis sich das geplagte Tier auf das Wasser legen muß. Sonst habe ich hier oft die Raubmöwen selber sich dazu herablassen sehen, etwas im Wasser zu fischen, wenn sie keine Stummelmöwen in der Nähe haben.
Aber dort kommt Ove Hjort mit der Gitarre und singt:
und dann singt er: „Santa Lucia“ und „Wenn die Blätter leise rauschen“.
Dort draußen steigt der Atemdampf von Walfischen auf. Ein paar große Wale ziehen ostwärts denselben Weg wie wir.
Drei Uhr nachmittags.
Nach einer arbeitsreichen Nacht habe ich geschlafen und liege hier auf dem Heck und schlucke Sonnenschein. Dunkelblaues Meer, hellblauer Himmel, hoch oben weiße segelnde Sommerwolken und Norwegen im Osten immer näher rückend, hinter dem scharfen blauen Meeresrand.
Dort vorn sind Netze zum Trocknen aufgehangen und heben sich schön rotbraun von der blauen Fläche ab.
Die Sonne brät einen bis in die Seele hinein, und das Leben ist blau. Kann man je zuviel Sonnenschein bekommen?
Hoch oben stoßen die dunkeln Raubmöwen ihre Klageschreie aus. Sie folgen uns noch. Was willst du hier im Sonnenschein, du Alk, fliege heim zu deinem Nebel und störe nicht die Sommerträume des Mannes.
Wie schön die Mastspitze golden gegen den blauen Himmel leuchtet! Sie erinnert mich an die goldene Mastspitze der „Fram“, wenn ich sie vom Eise her weit draußen in blauer Luft schaute. Es war so wunderbar einsam, dieses Gold dort hoch oben in der kalten Luft — ein Gruß aus einer reicheren Welt. — Segelt weiter, blinkende, goldene Träume!
Am Abend.
Gerade jetzt etwas Freudiges.
Tagelang haben wir seit der Abfahrt von Jan Mayen nach [S. 137] Medusen ausgespäht, Tag und Nacht. Nun sahen wir endlich die ersten. Das große Netz muß hinaus, während wir zu Abend essen.
Gran untersucht das Oberflächenplankton. Große Freude! Plötzlich tritt jetzt in Mengen Ceratium tripos auf, eine Kieselalge, die das Meerleuchten hervorruft — also Küstenwasser oder Wasser von den Bänken. Gerade das, was wir nach den Medusen erwarten müssen.
Was wird das Netz bringen? Es wird hereingeholt. Große Spannung! Als es dann aber voller Medusen war und es zwischen ihnen von Fischbrut wimmelte, da herrschte an Bord wilde Freude. Gran lief herum und sang und tanzte. Der Kapitän kam aus seiner Kajüte im bloßen Hemd heraus und wollte es nicht glauben, bis ihm ein ganzer Teller voll wimmelnder Fischbrut präsentiert wurde.
Ja selbst der junge Jakob mit seinem Zahngeschwür mußte, in ein großes Tuch eingemummelt, hervorkommen und sich das Netz ansehen, das dieses Wunder: Fischbrut, reine Dorschbrut mitten im Meer zwischen Norwegen und Jan Mayen, mehr als zweihundert Seemeilen vom Lande, heraufgeholt hatte. Die Freude steckte alle an Bord an. Ein neuer Schritt vorwärts zum Verständnis des Meerestierlebens.
Es muß so vor sich gehen, daß im Frühjahr das Wasser an der Oberfläche an den Küsten und über den Bänken durch die zunehmende Menge Flußwasser vom Lande her stark gespeist wird. Außerdem wird dieses süße Oberflächenwasser im ganzen Vorsommer stark von der Sonne erwärmt. Auf diese Weise wird [S. 138] es viel leichter als das salzhaltige Wasser und muß sich infolgedessen weiter ins Meer hinaus verbreiten als im Winter. Dadurch kommt dieses Oberflächenwasser dazu, auch sein Plankton mitzuführen, wie auch diese roten Medusen, Ceratium tripos , und die Dorschbrut, die im Frühjahr an den Bänken gelaicht ist.
Es ist übrigens eigentümlich, daß diese Dorschbrut, die also mit dem Wasser forttreibt, sich meistens gerade unter den großen roten Medusen aufhält, wo sie wohl bis zu einem gewissen Grad am besten geschützt ist.
Auf dem Meer
zwischen Jan Mayen und Norwegen,
12. August.
Gestern abend, hier mitten im Meer treibend, legten wir Leinen mit Hunderten von Angelhaken aus, und heute früh holten wir sie herein und fanden eine Menge Rotfische, große Sebastes norvegicus. Das hatten wir gerade erwartet. Es war also richtig, daß der Rotfisch hier draußen über den großen Meerestiefen lebt, etwa 80 bis 90 Meter tief, und in solchen Mengen. Und das wissen die Seehunde, wenigstens die Klappmützen.
Der Himmel ist bewölkt, und das Meer lächelt nicht. Trübes Wetter im Herzen — weshalb? Und morgen sehen wir vielleicht Norwegen! Ich habe wohl die letzte Nacht zuviel gearbeitet, und diese Tage zuwenig geschlafen. — Schwermut. — Die See rollt bleigrau......
So viele Rätsel unter der ewig wogenden Fläche. Und wie [S. 139] wenig wissen wir noch von dem, was da unten vorgeht und sich bewegt.
Droben im Polarmeer hatte ich durch fortlaufende Temperaturmessungen der Wasserschichten in verschiedenen Tiefen eine Ahnung davon bekommen, daß in diesen Schichten große Wellen gingen, von denen wir an der Oberfläche des Meeres nichts merkten.
Nun haben wir, indem wir viele Stationen dicht nebeneinander machten, diese Verhältnisse näher zu erforschen versucht. Es bestätigt sich, daß es solche unbekannte Wellen in der Tiefe auf den Grenzen zwischen den Schichten geben muß, so daß die schwereren Schichten unten in den leichteren Schichten oben auf- und abwogen. Und die Wellen, die dort unten langsam rollen, sind groß, sie können 40 und 50 Meter hoch sein; ja, es ist die Frage, ob nicht zuweilen solche von 100 und 200 Meter Höhe vorkommen.
Hier an der Oberfläche merken wir sie nicht. Man denke sich, daß wir auf einmal solche Wellen daherrollen sehen. Aber das verhindert die Schwerkraft. Der Gewichtsunterschied zwischen Wasser und Luft ist zu groß; solche Wellen würden an der Oberfläche des Meeres, wo sie sich in die Luft erheben sollten, zu schwer werden im Verhältnis zu der Kraft, die sie vorwärts treibt. Und selbst wenn man sie sich durch ein zufälliges Ereignis gebildet denken könnte — z. B. durch einen Vulkanausbruch auf dem Meeresboden oder durch ein Erdbeben —, würden sie sofort zusammenfallen und eine entsprechende Höhe annehmen. Anders dort unten, wo der Gewichtsunterschied zwischen der einen Schicht und der andern so gering ist.
Wenn wir auf einem hohen Berge stehen, das Nebelmeer unter uns, und die Sonne scheint darauf, dann können wir dort große Wellen sehen. Das sind die Wellen in den Luftschichten. So ungefähr müssen wir es uns auch unten im Meere denken....
Im übrigen ist es merkwürdig, wie regelmäßig verteilt wir die Wasserschichten in der Tiefe gefunden haben; ganz anders gleichmäßig, als alle früheren Untersuchungen erwarten ließen.
In allen Tiefen von mehr als 800 bis zu 1000 Metern ist das ganze Nordmeer voll von kaltem Wasser, unter Null Grad, und die Temperatur nimmt regelmäßig ab bis zum Grunde, wo sie ungefähr 1,2 Grad unter Null ist. Der Salzgehalt ist überall bis zum Grunde fast genau derselbe, und die Veränderungen in diesen tiefen Schichten von Ort zu Ort sind verschwindend klein. Auch in den höheren Schichten sind die Veränderungen immer gradweise und regelmäßig. Das sind wichtige Entdeckungen; die Meeresforschung wird zu einer mehr exakten Wissenschaft.
Draußen nimmt die Dünung von Norden her zu. Der Himmel verfinstert sich, und es beginnt zu wehen. Sollte es in der Nacht Sturm geben?
Durch die Wolkenschicht im Nordwesten dringt ein goldener Sonnenstrahl und nach unten ein Lichtschleier, der ganz draußen am Meeresrand glitzert; dann verschwindet er wieder. Die Abenddämmerung bricht an. Das Meer wogt über seine Rätsel in die Nacht hinein.
Ove Hjort singt im Laboratorium, zwischen Helland-Hansens [S. 141] Flaschen am Tisch sitzend, zur Gitarre: „Die Hütte ist geschlossen“, während die Schraube uns ostwärts nach Norwegen arbeitet.
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Am Abend des 14. August kamen wir unter die Küste von Norwegen, diesem Märchenlande des Nordens. Auf der See draußen begann es zu stürmen, wir mußten daher unsere Arbeit auf der letzten Station etwas abkürzen.
Wir steuerten in den Sund hinein. Südlich lagen die Lofotenberge wild und gezackt. Mit Firnen und Schneefeldern, fast bis zum Fuß herab, stürzten sie aus dem Nebel in die See, im Bunde mit der Welt, aus der wir kamen. Kein Platz für ein menschliches Heim — das reine Trollheim.
Auf der Nordseite lag die Hasselinsel, weiße Häuser auf grünen Wiesen, die gerundeten Anhöhen mit Birkenwald, Gras und Moos bis zur Spitze hinauf begrünt, nicht ein nackter Fleck......
Ist das nördlich des Polarkreises? Wie wunderbar friedlich und freundlich lächelt es uns entgegen an dem düstern Abend unter dem dunkeln, drohenden Nebeldach, das sich von dem Trollheim im Süden nach Norden erstreckt. Ein Gruß von Sommer und Frieden.
Ist dies die Schönheit? Oder ist es das unbändig Wilde auf der andern Seite? Oder das Große, Rollende, immer Wechselnde dort draußen?...... Ich weiß es nicht mehr. — Aber hier ist Frieden, der dazu verlockt, haltzumachen, sich umzusehen und zu ruhen.
Weiter drinnen der Fjord, waldbewachsene Anhöhen und dahinter der Mösattel und Gipfel mit Gletschern, die in den Wolken verschwinden.
Es ging südwärts zwischen Holmen und Schären nach dem engen Raftsund, die Bergwände in Nebel gehüllt. Nachts hielten wir in Hannö, um das Morgengrauen zu erwarten.
Am Land erhielten wir vom Kaufmann die neuesten Zeitungen: König Umberto erschossen, in China ungefähr alles beim alten, aber keine Neuigkeiten von zu Hause.
Am nächsten Morgen steuerten wir in den Westfjord hinaus und westwärts nach Svolvär. Ein steifer Wind, aufgeregte See, immer noch treibender Nebel über den Bergspitzen, aber auch ein Sonnenstrahl.
Um acht Uhr morgens erreichten wir Svolvär. Das erste war, an Land zu gehen und Telegramme aufzugeben. Endlich, am Nachmittag, kam Antwort von zu Hause — alles wohl! Am Abend veranstalteten die freundlichen Menschen von Svolvär und Kabelvåg ein Fest für uns.
Am nächsten Morgen kam „Vesterålen“. Hjort, Kapitän Sörensen und die andern begleiteten mich an Bord. Trotzdem es nach Süden ging, stimmte die Trennung wehmütig, und lange winkten wir, bis „Vesterålen“ durch die enge Einfahrt hinausfuhr. Die weiße Mütze Hjorts, der auf der Brücke stand, verschwand hinter dem Holm, und das Schiff tauchte in die Wogen, die in den Westfjord hineinrollten.
Der uns entgegenwehende steife Wind brachte uns drei Stunden Verspätung, so daß wir schon darauf vorbereitet waren, [S. 143] in Drontheim zu spät zum Zug zu kommen, trotzdem Kapitän Nielsen alles tat, um die Verspätung einzuholen.
Am Freitagabend, 17. August, fuhren wir in den Drontheimfjord. Wie friedlich und still es hier war! Der Fjord breit und schön, die Höhen rundum mit Nadelwald bestanden, darunter Gehöfte, Wiesen und Äcker nach dem Wasser zu. Ach dieses Forscherleben, ewig auf der Jagd nach allen Rätseln, ein verwickelter, ruheloser Apparat! Man sehnt sich zurück nach dem einfachen Leben. — —
Der Zug hatte auf uns gewartet, und so ging es in der Nacht nach Süden, den Gulafluß entlang.
Wie wohltuend war es, wieder zu den dunkeln Nächten zurückgekehrt zu sein. Wie die Bergrücken dort oben sich schwarz von dem dämmernden Himmel abheben! Vom Mond dringt etwas Gold durch die Wolke über der Schlucht im Süden. Unten brummt der Fluß mit Stromschnellen und schwarzen Gumpen zwischen den Tannen. Ich erkenne ein Boot. Sie fischen jetzt wohl in der Nacht.
Ich liebe diese dunkle Nacht, wenn sie so sachte sich senkt, alle Kleinlichkeit bedeckt und nur die großen einfachen Linien durchschimmern läßt — und die Sterne.
Ormanhütte , 24. September 1903.
E in Waldtal tief im Gebirge, in dem noch nie das Lautgeben der Hunde zur Hasenjagd von den Bergen widerhallte, hat seinen eigenen Reiz; es ist eine stille Welt für sich.
Vorigen Herbst war ich eines Tags durch ein solches Tal gekommen. Andres und ich waren oben im Gebirge auf der Hühnersuche gewesen und hatten kein Glück gehabt. Die Schneehühner hielten nicht, und wenn sie aufstanden, verschwanden sie im Nebel. Es war ein nasses, garstiges Wetter.
Dann aber kamen wir unter das Nebeldach hinab in dieses Tal, wo der Wald so still dastand, das Moos so weich und grün war, und der Bach sich zwischen sanft abfallenden Hängen im flachen Talgrunde schlängelte. Im Moor entdeckten wir Elchspuren. Wie geschützt und üppig war es hier; kein Kampf, keine Hast.
Wir zogen unsern Proviant hervor, warfen uns unter einer Kiefer am Rande des Moors in das Heidelbeergesträuch und steckten uns dann eine Pfeife an. Ich hatte nur den einen Wunsch: hätte ich doch den Hasenhund mitgenommen! Hier war so schöner Waldbestand, ein herrliches Revier, die Jagd mußte hier leicht und ergiebig sein.
Seitdem lockte mich dieses Waldtal dort im Westen immer von neuem, und so oft ich im Gebirge war, besonders am Nachmittag, schaute ich hinüber zu diesen bewaldeten Abhängen zwischen den baumlosen Gebirgsflächen, wo der Abend schon kühle Schatten warf.
Vorgestern früh brachen wir endlich auf, Andres und ich. Nun wollten wir einen Versuch machen, erst mit den Schneehühnern und am nächsten Morgen mit den Hasen. Es war so schönes Herbstwetter. Die Schneehühner mußten jetzt in die Berglehnen hinaufgezogen sein. Wohl waren wir in diesem Herbst schon einmal dort gewesen, ohne mehr als einige alte Hühner zu finden, aber damals herrschte ein rasender Westwind.
Jetzt hegten wir große Erwartungen. Es ging über den Velebuberg und die flachen Strecken mit Mooren und Hügeln hinter den Sötliseen — aber nirgends war etwas von Schneehühnern zu sehen.
Dann den Waldhang ins Tal hinab über Windbruch, Wipfel und Zweige; hier und da gab es Hasenspuren, und Sang zog an der Koppel. Aber jetzt galt es den Schneehühnern.
Auf Liset fanden wir eine Almhütte voll mit Heu, wo wir die Nacht schlafen konnten. Wir legten unsere Sachen ab, aßen in aller Eile, bevor wir hinaufzogen nach dem lockenden Weidengesträuch oben auf den kahlen Höhen über der Waldgrenze.
Den ganzen Tag über trotteten wir über dieselben Strecken, wo wir voriges Jahr um diese Zeit Volk um Volk gefunden hatten; aber kein Schneehuhn war zu sehen, nicht einmal ein einsamer Hahn, kaum eine Feder. Alles war hier wie aus [S. 146] gestorben. Nur an einer Stelle hatte ein Volk Spuren hinterlassen, doch es war nirgends zu finden. Gab es zuviel Füchse? Fuchslosung fanden wir an mehreren Stellen, und als wir das letztemal hier waren, hörten wir den Fuchs die ganze Nacht oben in den Halden bellen.
Aber herrliches Wetter war es. Die Sonne sengte auf die Gebirgsflächen herab wie in Hochsommerzeiten. Dort im Westen lag im blauen Sommernebel der Gausta mit seinen weißen Schneestreifen; die Berge von Telemarken mit Skorve und Lifjell wogten südwärts in leichtem Dunst, und unter uns die Waldrücken und Talsenken von Hovin, ein Meer von Tannenwäldern mit goldenen Tupfen, den gelben Birken, die ihr Laub noch nicht verloren hatten. Und mitten in den Wäldern lagen die blanken Seen still und weltenfern.
Immer haben solche Weiher im Walde etwas Friedvolles, wenn man sie von weitem sieht. Sie spiegeln den Himmel und spiegeln die Halden, und wenn man nicht zu nahe kommt, möchte man beinahe glauben, der Wald ringsum sei noch nicht angetastet von Menschenhand.
Eine solche Waldwelt sehe ich immer mit einem Gefühl, wie es etwa die ersten Jäger gehabt haben müssen, wenn sie vor Tausenden von Jahren herankamen und von der Höhe aus den gewaltigen dunklen Waldteppich weithin wogen sahen — mit seinen Mengen von Hochwild — und ihnen diese Seen entgegenblinkten, die großen Fischreichtum ahnen ließen.
Über dem Walde aber liegt die Bergweite jetzt rotbraun in den letzten Farben des Herbstes, bevor der Schnee kommt. Die [S. 147] Bergbirke hat schon fast das ganze Laub verloren, welk raschelt es unter den Füßen. Sollte es den Schneehühnern im Gebirge zu trocken sein, und sind sie die Abhänge hinabgezogen? Am Nachmittag fanden wir auf dem Heimweg nach der Alm oben am Waldrand ein Volk und schossen einige Hühner.
Wir kochten das Abendessen draußen auf der Almwiese, streckten uns auf dem Boden hin und rauchten....
Wie still und friedlich es war! Längst waren Menschen und Tiere von den Almen heimgekehrt. Die Sterne erglänzten. Im Westen erhob sich über uns dunkel der bewaldete Hang, darüber das kahle Gebirge.
Östlich, auf dem Velebuberg, dem Åkeligipfel und dem Ble, stand noch tiefe Abendröte, aber bald verschwand sie.
Die Erde mit Tälern und Bergen und Wäldern und Seen lag da, eingehüllt in die dunkle Herbstnacht.
All das sinnlose Gewimmel und Hasten war ausgelöscht. Nur die großen Linien waren noch undeutlich zu erblicken unter dem glitzernden Sternenhimmel, der ruhig und selbstverständlich alles Kleinliche in Vergessenheit sinken läßt.
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Gegen fünf Uhr morgens waren wir wieder nach Sörset unterwegs. Noch herrschte nächtliche Stille, kein Laut im Walde. Der Orion strahlte auf uns herab, im Osten aber dämmerte schon der Tag.
Als wir an Sörset vorübergekommen waren, begann Sang unruhig zu werden. Bald gab er Laut. Es war wohl ein Junghase, denn er ging so unregelmäßig und versteckte sich im [S. 148] Dickicht; richtiges Büchsenlicht war auch noch nicht. Es dauerte nicht lange, bis der Hund ihn unter Steinen verbellte, und der Hase kam zur Strecke.
Wir zogen weiter, ließen den Hund wieder los, und bald fand Sang eine neue Spur; mit hellem Laut ging es die Böschung hinan. Es wurden anderthalb Kreislinien gemacht, denn der norwegische Hase läuft, wenn gejagt, in großen Kreisen. Dann kam der Hase in langen Sprüngen den Almsteig herab und fiel. An einigen offenen Stellen im Walde, etwas weiter unten, wurde wieder eine Spur gefunden. Es dauerte nicht lange, und das Treiben war neuerdings im vollen Gang. Nach einigen langen und schwierigen Kreistouren hatte dieser Hase dasselbe Schicksal wie der vorige.
Ist es nicht merkwürdig, daß unser Gedächtnis sich so oft an Dinge heftet, die wir zunächst vielleicht gar nicht weiter beachteten?
Was mir von diesem Jagdausflug am meisten vor Augen steht, ist, wie wir uns gegen Mittag in der Sonnenhitze müde und schläfrig nach der Alm zurückzogen. Der Hund lief irgendeiner Spur nach. Wir setzten uns ab und zu und warteten auf ihn, ob er den Hasen wohl finden würde.
Es war sehr heiß, die Augenlider fielen uns zu, und zuweilen nickten wir ein wenig. Das vergilbte Farnkraut stand hoch und dicht auf Lichtungen an den Lehnen zwischen Windbruch und Tannenreisig.
Es war nicht leicht zu gehen. Bei solcher Trockenheit werden [S. 149] die Stiefel sehr glatt. Unter den Birken raschelte das Laub, wenn wir gingen, aber unter den Tannen war Schatten.
Dann kamen wir an den Bach in dem flachen Talgrund. Das erfrischte. Welche Wonne ist doch so ein klarer rieselnder Waldbach an einem heißen Tage!
Es war so erquickend, so friedlich, sich in dem dichten Gras am Ufer zu lagern, wie auf einer kleinen Wiese mitten im Walde. Die Sonne spielt mit frischen Lichtern in dem klaren, kühlen Wasser. Jeder Stein auf dem Grunde ist sichtbar, und die Sonnenstrahlen, von den kleinen Wellen gebrochen, glitzern über sie hin. Ein Bild der ewigen, lachenden Jugend.
Der Bach schlängelt sich dahin zwischen den flachen Sand- und Kiesbänken. An den offenen Stellen wachsen an den Ufern Gras und etwas Schilf, und unter den Bäumen grünes Moos und Farnkraut. Und die Tannen, die hoch und schlank dastehen und schattenspendend ihre Zweige breiten, spiegeln sich in dem dunkeln, stillen Wasser.
Diese Gumpen im Flußbett haben etwas unveränderlich Reines und Frisches. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber so oft ich sie sehe, drängt sich mir ein zufälliger Eindruck auf aus den Straßen Roms an einem warmen, klaren sonnenheißen Junitag. Ich kam an einem dieser vielen kleinen Marmorbecken vorüber, in denen aus einem Löwenmaul ein Wasserstrahl springt. Ich sehe noch die Sonne auf dem Marmorboden spielen, höre noch das Plätschern des Wassers.
Weshalb kommt mir das in den Sinn? Vielleicht versetzte mich damals dieses frische, reine Wasser in dem kühlen, weißen [S. 150] Marmor im Nu aus der großen Weltstadt mit all ihren Kulturdenkmälern und ermüdenden Museen an einen klaren Bach mit murmelndem Wasser und weißen Kieselsteinen, tief drinnen im Wald, wohin die Kultur nicht gelangt....
Ja, diese Freude am rieselnden, reinen Wasser — an der Sonne, — am blauen Himmel, — am Waldfrieden — sie ist vielleicht mit dem Ursprünglichsten in unserm Wesen verwandt. Wenn wir nur von dieser einfachen Freude mehr in das Leben zurückbringen könnten!
Worüber freuen wir uns denn sonst?
Plötzlich muß ich an ein Bild denken, das mir einst Erik Werenskiold mit Worten malte. Ich sehe es aber, als habe er es mit seinem Pinsel gemalt:
„Wir Menschen in den Städten, sind wir nicht wie Tiere, die in Kisten leben? Erst schlafen wir in einer Kiste, dann schlüpfen wir hinaus durch einen schmalen Zwischenraum und hinein wieder in eine andere Kiste. Dort bleiben wir einige Stunden, dann kehren wir wieder in die vorige Kiste zurück. Nach ein oder zwei Stunden geht’s wieder in eine dritte Kiste. Wenn wir dort eine Weile gewesen sind, dann schnell zurück in die vorige Kiste.“
Ja, genau so ist es. Und so vergehen die Jahre, drinnen in diesen Kisten. Und das nennen wir das Leben! Und darin pflanzen wir uns fort und schaffen neue Geschlechter, die dasselbe Kistenleben fortsetzen sollen.
Und wenn es einmal so eine rechte Freude sein soll, dann schlüpft ein Teil der Tiere in eine größere Kiste, um miteinander [S. 151] zu essen. Da sitzen sie reihenweise auf ihren Hinterteilen, die Vorderpfoten auf einem Brett, und stopfen fünf, zehn, fünfzehn verschiedene Sorten Nahrung in sich hinein, je nach der Größe der Freude, und trinken entsprechende Mengen starker Getränke, bis sie sich selbst und die andern und die Kistenwelt in einem idiotischen Nebel sehen. — Das nennt man Fest....
Aber dieser Bach rinnt Jahr um Jahr und gräbt langsam sein Tal, und der Wald steht still, gilbt im Herbst und grünt im Frühling. Und wie viele sehen den Bach außer dem großen Elch, der haltmacht und trinkt — dem kleinen Hasen, der angehoppelt kommt und im Grase äst — und dem Fuchs, der in der Dämmerung behutsam heranschleicht, um Hasen und Vögel zu belauern?.....
Zu unsern Häupten ziehen die Drosselscharen hin und wieder. Sie sammeln sich jetzt im Herbst. Keck und lebensfroh sind sie. Bald flöten sie sich etwas zu, bald lachen und spotten sie kreuzvergnügt.
Warum findet ihr heuer das Leben so lustig, wo es doch so wenig Vogelbeeren gibt? Vielleicht deswegen, weil ihr trotz allem dahin zieht, wohin es euch gelüstet....
In einem Tannenwäldchen jenseits des Bachs fliegt der wunderliche Unglückshäher von Zweig zu Zweig. In der Regel ist er stumm und still, als trüge er das Geheimnis des Lebens. Zuweilen schlägt er einen melodischen, wehmütigen Flötenton an, aber zu andern Zeiten bricht er plötzlich in ein hitziges, schneidendes Lachen voller Zorn aus.
Rätselhafter Vogel! Aus dir werde ich niemals klug. Bist du vielleicht der, der dem unsteten Menschengeiste am ähnlichsten ist?
Zuweilen, wenn ich im Walde sitze und du lautlos herangeschwebt kommst und dich auf den Ast über mir setzst und den Kopf schief hältst und herabsiehst, dann ist es, als müßtest du unbedingt etwas sagen. Aber dann fliegst du wieder weiter zum nächsten Baum, ehe du es gesagt hast. So geht es wohl auch mit uns. Wie oft finden wir keinen Ausdruck für das, was auf dem Grunde unserer Seele liegt und am tiefsten in uns ertönt......
Ab und zu kommt etwas wie der Versuch eines kleinen kühlenden Hauches. Es rauscht schwach in den Baumwipfeln und zischelt leise im Farnkraut. Aber es ist nur wie ein Luftschöpfen, und dann ist wieder alles still.
Oben zittert der Waldhang in der Sonnenhitze, wie er es Jahrtausende getan hat, und die Insekten summen ihre alte ewige Lebensmelodie. Dann fährt ein größerer Käfer in dürres Laub und raschelt darin. Der Kopf sinkt tiefer; ach, es ist so schön zu sitzen — wahrhaftig.....
Aber auf einmal fahren wir in die Höhe und ergreifen das Gewehr. Hat jetzt doch der Hund in der Mittagshitze den Hasen aufgestoßen!
In voller Jagd geht es aufwärts. Alle Schläfrigkeit und Müdigkeit sind wie weggewischt.....
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Auf dem Heimweg. Es dunkelt. Auf einmal stehen wir am Abhang. Dort unten liegen die Ormanhütte und der Sörkjesee. Draußen nach dem Auslauf zu glitzert ein Wasserstreifen im Mondschein, ebenso gerade unter uns in der Bucht. Über dem See ein leichter Silberschleier, oben auf dem Blegipfel eine dichte, weiße Wolke. Darüber groß und rund der Mond. Die Berge dunkel, tiefblau.
Über allem der große Weltraum, unendlich und blau, — nur vereinzelte flimmernde Sterne. Im Osten blinkt gelb der Jupiter, gerade über dem Bergkamm von Synhövd.
Wie hoch wölbt sich heute abend der Himmel! Man sieht die Erde wie einen Punkt im Weltraum schweben.
Vor solch einem Hintergrund bewegen wir uns und beschäftigen wir uns mit unsern kleinen Sorgen! Was werden sie in zwanzig, ja schon in zehn Jahren bedeuten? In welcher Welt von Kleinlichkeiten leben wir und sind wir verstrickt?
Nur eine solche Nacht — so weit, so einfach! Hierher trachten wir durch alles Hasten des Tages, ohne es zu wissen. Hier finden wir die Befriedigung unseres Sehnens nach Schönheit und Harmonie.
„Wir steigen hinab, um uns zu finden“, sagt man. Hat nicht jeder von uns, mag er noch so sehr Alltagsmensch sein, ein solches Heiligtum, in das wir leise treten? Aber das bewahren wir für uns selbst und „steigen hinab, um uns zu finden“.
Montag, 5. Oktober 1903.
Der Tag war am Freitag gerade angebrochen, als Andres und ich uns aufmachten. Wir wollten einen großen Ausflug [S. 154] nach Hovin hinunter unternehmen und Hasen und Schneehühner jagen. Der Himmel war überzogen. Vom Süden trieben dunkle Wolken heran, als wir über den Sörkjesee ruderten. Es konnte Regen geben.
Als Trygve uns am andern Ufer ans Land gesetzt hatte und wir die Moore hinaufgingen, hörten wir einen eigentümlichen Laut. Da war er wieder. Andres meinte, es sei wohl ein Fuchs am andern Ufer. Ich dachte an eine Lumme, aber eine solche war jetzt im Dunkeln nicht unterwegs.
Noch war kein Vogel wach. Oben auf dem Moor stand ein Schneehuhn schreiend vor dem Hunde auf. Ich konnte es in der Dunkelheit gerade noch weiß schimmern sehen.
Dann wurde es heller. Die Drosseln begannen zu erwachen und sich miteinander zu unterhalten, und bald gab es ein lautes Drosselkonzert. Aber der Hund, der draußen herumstrich, ließ nichts von sich hören. Der Boden war feucht und versprach einen guten Jagdtag — wenn nur kein Regen kam.
Endlich hörten wir Sang in dem Abhang zwischen Lauvhövd und Grönli, und bald war das Treiben im Gang. In großen Kreistouren ging es bergauf, bergab, den waldlosen Höhen zu. Endlich kam ein guter Hase den Weg flüchtig herab und fiel.
Noch drei Treiben gab es. Das Ergebnis waren vier Hasen; inzwischen war es wohl zwölf Uhr mittag geworden. Aber nun begann es im Ernst zu regnen; genieselt hatte es schon lange. Da gingen wir nach Rustaholte.
Der Hof war voller Kinder, die ins Haus liefen, als sie uns erblickten. Es war Schule. Aber wir wurden in die [S. 155] Schulstube hineingeholt und Kinder und Lehrerin solange hinausgejagt. All mein Bitten fruchtete nichts. Später aber gelang es uns, in die Käserei zu schlüpfen und uns auszuruhen.
Dort wurde uns etwas Essen gekocht, während wir uns mit Sveinung und seinem Vater unterhielten, einem drolligen alten Hallingbauern, dem die Rede aus dem zahnlosen Munde wie Wasser floß.
Während wir dort saßen, kam ein Mann mit einem Regenschirm und einem Gewehr herein. Es war ein Gelegenheitsarbeiter, der angestellt war, die Steuern einzutreiben und auszupfänden. Er hatte schon das Remingtongewehr als Pfand genommen und sollte nun auch noch bei andern Schafe pfänden.
Der Regen dauerte an, und da wir hier keine Unterkunft finden konnten, gingen wir nach Knutsgard hinüber. Dort wurden wir von Tor, dem Bruder Sveinungs, gut aufgenommen. Man würde uns die Nacht über schon unterbringen.
Den ganzen Tag regnete es in Strömen. Wir vertrieben uns die Zeit, so gut es ging, damit, daß wir an den Türen herumstanden, nach dem Wetter ausschauten, im Garten Johannisbeeren aßen und mit den Kindern plauderten, mit der kleinen schönen Ingeborg und den Zwillingen, die seit vorigem Jahr stark gewachsen waren. Aber der Junge war doch der prächtigere; zwei Jahre alt, bekam er noch Muttermilch. Das Mädchen war wohl soviel Mühe nicht wert.
Am Abend bekamen Andres, Tor und ich einen Grog, und ein Gespräch über die heurige Elchjagd entspann sich. Tor war von einer eigenen, unbestimmbaren Art. Schwarzhaarig, hatte [S. 156] er etwas Mongolisches an sich, während sein Bruder Sveinung ein blauäugiger Germane war.
Als ich Andres sagte, Tor sei doch gar so mager, er müsse zuviel auf die Elchjagd gegangen sein, antwortete Andres, Tor sei nicht mehr recht gesund gewesen seit dem Tage, da er vor einigen Jahren einen Knacks bekommen habe. Er hatte sich in Kongsberg auf dem Markte herumgetrieben und lag bei der Heimfahrt betrunken auf seinem vollgeladenen Wagen. Und wäre ihm nicht jemand, der ihn auf der Heimfahrt sah, gefolgt, dann wäre er damals wohl draufgegangen, denn als man ihn fand, war er fast erfroren. Das Pferd hatte die Beine zwischen den Zügeln verwickelt und konnte nicht weiter, und er lag besinnungslos auf dem Wagen. Es war krachend kalt, und man fand ihn gerade noch im letzten Augenblick. Seitdem ist er nicht wieder recht zu Kräften gekommen.
Ich lag lange wach und dachte über diesen Mann nach, während draußen der Regen immer noch herabströmte. Das kränkliche Gesicht mit dem halbscheuen Blick, den nervösen, hageren Zügen, den knochigen Schläfen, den hohlen, knochigen Backen, dem unruhigen Wesen.
Was konnte ihm noch das Leben sein? Etwa diesen kleinen Gebirgshof zu bewirtschaften und im Winter Holz zu fällen, oder sich herumzutreiben und aufzuspielen, oder auf die Elchjagd zu gehen? Was ist seine Jagdfreude? Ist es der Raubtierinstinkt, oder ist es der fahrende Geselle, die rastlose Jagd nach etwas, das in der Ferne liegt? —
Als ich tags darauf zu seinem Bruder Sveinung kam, der [S. 157] mit seiner Frau und der fünfjährigen Tochter gebückt auf dem Felde stand und Kartoffeln ausnahm, tauchte bei mir dieselbe Frage auf. Ist dies da das Leben für ihn? Es schien nicht gerade das zu sein, was am besten zu ihm paßte, zu dem gewandten, kräftigen Burschen, der auf allen Tanzböden obenauf war, den ich im Wald hinter dem Elch leicht wie einen Wolf laufen sah.
Als wir am Morgen ins Freie kamen, waren die Hänge unter dem Gråfjell und Ble bis auf die Almwiesen hinab weiß. Hier unten hatte es die ganze Nacht bis gegen Morgen geregnet; aber wir wollten die Hasenjagd trotzdem versuchen.
Am Björsee fing Sang an Laut zu geben, und bald hatte er einen jungen Hasen aufgestoßen, der sich aber noch drückte.
Als wir nach langem vergeblichem Treiben den Moorrand entlang wateten, wo er liegen sollte, fuhr Sang mit der Schnauze in ein Tannendickicht neben mir — der Hase sprang heraus, ein helles Gekläff Sangs, der Hühnerhund auch hinterdrein — vier Schüsse von Andres und mir — und der Hase lag.
Einige Birkhühner fanden wir auch, aber dann gab es nichts mehr, und wir machten uns auf den Heimweg. Es hatte zuviel geregnet.
Auch hier begannen Schneeflocken zu fallen, und wir waren noch nicht weit über Rustaholte hinausgekommen, als der Boden schon ganz weiß war. Bald lag der Schnee mehrere Zoll hoch.
Der Hühnerhund zog an. Es ging weiter und weiter über ein Moor und eine Halde hinan. Im Schnee war keine Spur zu sehen. Was konnte es sein? Ein Vogel mußte es sein. [S. 158] Aber der war hier gelaufen, bevor der Schnee gekommen war. Endlich stieg ein großer Auerhahn auf.
Auf Grönli wollten wir zwei Hasen holen, die wir dort im Kuhstall aufbewahrt hatten. Auf der Wiese lag tiefer Schnee wie mitten im Winter, und im Wald fiel er dicht und still.
Alles Leben war verschwunden. Die Drossel, die gestern, trotz des trüben Wetters, so geschäftig und so vergnügt gewesen war, war jetzt fortgezogen. Auf dem Heimweg nach der Ormanhütte waren wir und die Hunde die einzigen lebenden Wesen im Gebirge. So einsam wird es in solchem Schneewetter.
Doch still, was war das? Wahrhaftig, Sang gab Laut trotz des Neuschnees über den Spuren. Und nun wieder! Und bald begann das klingende Treiben über den Grönlialmen.
Ich sah den Hasen weit draußen, ganz grau in dem weißen Schnee. Aber der Hase will jetzt nur ungern aufs offene Feld hinaus. Am liebsten schlüpft er ins Dickicht.
Andres schoß in die Tannen hinein, fehlte aber und rief den Hund. Gleich darauf jagte Sang den Hasen aus seinem Versteck unter einer umgewälzten Tannenwurzel dicht neben der Stelle, wo Andres stand und schoß. Wie ging das zu? Der Hase kann sich doch nicht so schnell wieder gedrückt haben? Es war ein Rätsel.
Wieder wurde es nichts. Wir wollten die Spur des Hasen verfolgen. Das war aber nicht leicht. Es gab im Schnee zu viele Hasen- und Hundespuren. Nun standen wir lange zu beiden Seiten eines Tannenbuschs und unterhielten uns darüber, wo der Hase sich wohl gedrückt haben könnte. Hier irgendwo mußte es sein. Der Hund kam herbei, steckte die Nase in den Busch [S. 159] hinein, und zwischen uns fuhr der Hase heraus. Aber da knallte es auch schon, und er lag.
Ich ging zu der Tannenwurzel, wo Sang den Hasen aufgestoßen hatte. Dort war das Lager, aber keine Spur führte dahin. Also war es ein anderer Hase, und der erste war noch da. Ich gab einen Schuß ab. Wir schrien, und Sang lief hinaus.
Bald begann er oben auf einem Moor zu winseln. Es ging aufwärts, und das Winseln nahm zu; dann folgte hier und da ein Gekläff und nun klingendes Treiben. Wir gingen auf unsere Posten; ich dahin, wo der vorige Hase gefallen war. Fünfmal ging es hier vorüber, hinauf und hinunter, bevor ich zum Schuß kam; aber jetzt kam Lampe auf dem weißen Schnee gerade auf mich zugelaufen und fiel.
Wahrhaftig, das hatten wir nicht erwartet! Zwei Hasen, bei vier Zoll tiefem Schnee über den Spuren. Nun stapften wir im Schneewetter heimwärts.
Bei unserer Ankunft wurden wir mit frohen Mienen empfangen, und es wurde nur bedauert, daß wir so schlechtes Wetter gehabt hätten. Als aber unsere Beute an Hasen und Schneehühnern hereingebracht wurde, schien man uns nicht mehr zu bedauern.
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Und nun ist weiß und still der Winter da. Hier wird geschäftig eingepackt, um ins Tal hinabzukommen.
Ich mußte heute morgen in den Spürschnee hinaus und Abschied nehmen. Zwei Nächte lang hatte es geschneit. Es wäre wohl denkbar, daß der Hase trotz des Schneewetters ein wenig unterwegs gewesen war.
Die Sonne brach durch und schien lockend auf die weißen Hänge herab. Aber keine Hasenspur war zu sehen.
Wie still es in dem gepuderten Walde war! Nur ein paar feine Meisenpfiffe ertönten auf einigen Tannen. Keine Spur auf dem weißen Teppich, nur die von einem Eichhorn. Und dann die feinen Striche, die eine Maus hinterlassen hatte. Die Zweige bogen sich unter dem Schnee. Die Winterruhe war gekommen. Nur der Sörkjesee lag dort unten offen und schwarz in all dem Weißen; Rauch stieg von ihm auf wie zur Winterszeit.
Wieder einmal ist dieses Gebirgsleben zu Ende, und es geht zu dem Lärm, zu den Nichtigkeiten hinab, zu all dem, was man nicht will, nach dem man sich nicht sehnt.
Das Auge schweift über die schneebedeckten Hänge. Die Berge glänzen in der Sonne, während unten in den Tälern, in Hovin und im Numetal, auf beiden Seiten schwarze Nebelschwaden ziehen.
Es ist ein schmerzliches Gefühl, fort zu müssen. Man möchte so gern bleiben und sehen, wie der Winter sich festsetzt groß, weiß und rein...
Aber gehen wir nur. Um so schöner ist’s, wieder hier heraufzukommen, fernab vom Tal, wo die lichten Birken wachsen und die dunkeln Tannen — wo das Gebirge morgens und abends sich rötet, und die Nacht groß ist und still......
Mai 1916.
D ie Sonne senkte sich auf die Bergrücken herab, als der Jäger Johann und ich von Örnelund in den Ankerwäldern in Smålene auf Jagd zogen. Wir ruderten in südlicher Richtung über den See und schlugen den Weg nach der Höhe bei Trettern ein, wo wir am Abend jagen wollten.
Gerade bei Sonnenuntergang kamen wir ans Ziel. Der Hügel mit mäßig hohem Tannenwald fällt nach Westen hin gleichmäßig ab. Voriges Jahr hatte man dort Holz geschlagen. Wipfel und Zweige lagen herum, und es war nicht leicht zu finden, wo der Auerhahn seinen Balzplatz hatte; es mußte ganz oben auf dem Rücken sein. Wir setzten uns auf dem Abhang am Ostrand nieder. Dort mußten wir den Hahn einfallen hören, sowohl am Bergrücken hier als auch im Wald im Osten unter uns.
Wir fanden einen geschützten Platz mit weiter Aussicht, wo wir gut gedeckt saßen, jeder an seine Tanne gelehnt.
Im Nordwesten glühte noch der Himmel, aber es dämmerte, und langsam kam die Nacht über den Wald dahergezogen. Es war nicht so windig wie gestern abend, nur hier und da ging ein Rauschen durch die Baumwipfel.
Die Singdrossel war geschäftig; sie kam von einem Lied ins [S. 162] andere, brachte bald hohes, munteres Gezwitscher und Geschwätz, bald lange spottende Strophen — vielleicht auf all die Greuel der Menschen, die sie im Süden sah? —, und dann zitterten wieder tiefe Brusttöne durch die Schwermut des Waldes. Das Rotkehlchen half dabei nach Kräften, und es klang fast wie ein Wettstreit zwischen den beiden, aber die Singdrossel gewann. Zwischenhinein ließ sich noch der und jener andere Sänger hören.....
Dann wurde es allmählich still, nur hier und da trillerte durch den Waldfrieden noch eine verspätete Strophe, die in einer Kehle steckengeblieben war.
Des Himmels schwacher Purpurschein im Osten wurde dunkler, der dunkelblaue Schatten der Erde zog höher und höher am Himmelsgewölbe hinan.
Es duftete nach frischer Erde, nach Frühling und Nadelwald .....
Hoch oben zitterte furchtsam ein vereinzelter bleicher Stern. Unten zwischen den Bäumen aber wurden die Schatten dichter; man konnte die Blätter auf dem Waldboden nicht mehr unterscheiden.
Im Osten flossen die Bergrücken zu einer einzigen dunkeln Masse zusammen. Ein vereinzelter Windstoß fuhr klagend durch die Stille.
Nun sollte eigentlich die Waldschnepfe streichen. Aber kein Pfiff ertönte, kein Knorzen war zu hören.
Die Dämmerung wurde dichter. Wie feierlich ist dieses Herabsinken der Nacht auf die Erde — Tag für Tag — und [S. 163] doch immer neu. Aber die Gegenwartsseele hat keine Zeit, dem Walde und der Nacht zu lauschen.
Doch sieh! Da kommt er, der Zaubervogel, schwarz und groß, von irgendwo draußen durch die Dämmerung über die Baumwipfel angestrichen. Wie groß er aussieht! Wie der leibhaftige Waldgeist, mit dem geraden, rauschenden Flug, mit dem gestreckten Hals und den gesträubten Halsfedern. Und es geht gerade aufs Ziel los, hier herauf auf den Bergrücken. Dort verschwand er hinter den Bäumen, und richtig, dort fiel er ein. Es war kein kleiner Hahn.
Wieder ist es still. Wir sitzen unbeweglich und lauschen, ob nicht ein Schnalzer ertönt, aber nichts ist zu hören. Da, noch ein Einschlag, etwas ferner, und dann noch einer, weiter unten am Berg.
Wir saßen eine Weile, hörten aber keinen einzigen Schnalzer. Es war zu weit weg. Lautlos schlichen wir den Kamm entlang weiter, aber immer blieb es gleichmäßig still.
Pst, da ertönte ein Schnalzer, mehrere folgten. Wir schlichen näher, aber es entstand kein Spiel. Es war etwas Wind aufgekommen, der durch die Baumwipfel sauste. Es war nicht leicht zu hören. Und in der Nähe von uns rieben sich zwei Kiefern aneinander, das klang täuschend so, wie wenn ein Auerhahn mit dem Schnabel knappte. Dazwischenhinein vernahmen wir den Auerhahn wirklich schnalzen, aber kein Glucksen.
Doch still! Da hörten wir einen weiter weg im Walde unter uns. Jetzt wieder, schneller und schneller. Ein Glucksen ertönte! Das war ein richtiges Spiel.
So lautlos wie möglich schlichen wir an den Rand und den Abhang hinab. Bald waren wir so nahe, daß wir anfangen mußten, anzuspringen.
Endlich sind wir unten. Es geht über das Moor von Büschel zu Büschel, jedesmal drei Sprünge nach jedem Glucksen.
Unmittelbar vor uns stehen über dem Waldrand der Halbmond und Jupiter und scheinen auf uns herab, während der Wald unten ganz schwarz daliegt. Aus dem Dunkel kommt der schwache, geisterhafte Laut. Dort jenseits des Moors auf einem Baume muß der Hahn auffußen. Das Spiel geht beständig weiter.
Wir kommen immer näher. Alle Nerven und Muskeln sind gespannt, das Auge saugt sich in die Dunkelheit hinein. Aber wo ist er? Es ist unmöglich, auf dem Hintergrunde des schwarzen Waldes etwas zu sehen.
Gerade unter dem Mond steht eine einsame kleine Kiefer am Rande des Moors. Unter dem Stamm erkenne ich einen großen schwarzen Klumpen; kann er das sein? Nein, der rührt sich ja nicht. Doch, dort hat sich wirklich etwas bewegt. Beim nächsten Glucksen wurde das Gewehr gehoben und gezielt. Wieder ein Glucksen, dann ein langer Lichtblitz im Dunkel und ein Knall. Ein Klatschen, ein schwerer Fall ins Moor. Johann springt hinzu und hebt ihn auf. Es ist ein großer Hahn.
Still bleiben wir stehen. Es ist ziemlich dunkel geworden, aber noch ist es Zeit. Etwas weiter weg hatten wir einen andern Auerhahn spielen hören, während wir den ersten angesprungen hatten. Wir lauschen. Aber jetzt ist es ganz still. [S. 165] Er ist wohl vom Schuß vergrämt worden. Wir gehen wieder den Berg hinauf und lauschen nach dem ersten. Dort schnalzt er, aber spielen will er auch jetzt nicht. Hier und da wieder ein Schnalzen, ein Spiel wird jedoch nicht daraus. Dann verstummt es ganz. Auch der Auerhahn hält seine Nachtruhe. Da ist es wohl auch für uns Zeit, und wir ziehen weiter.
Es ist noch ein gutes Stück Wegs bis zum Nordmoor, wo wir am Morgen jagen wollen. Erst geht es über Schutthalden und nasse Moore, dann durch ein steiles Tal mit einem Bach zwischen schroffen Bergwänden. Wir kommen auf eine Anhöhe, so steil, daß wir hinaufklettern müssen, zuweilen auf allen vieren.
Endlich geht es auf der andern Seite hinab. Hier hatten wir vorige Nacht unter einer überhängenden Bergwand gute Unterkunft gefunden. Aber jetzt war es bald ganz finster, und es war nicht leicht, vorwärts zu kommen; bald ging es über gestürzte Baumstämme, bald über nassen Moorboden. Wir tasteten uns die Bergwand entlang vorwärts und fanden die Höhle.
Johann lief herum und klopfte alle dürren Kiefernstämme nach harzigem Holz ab, bis er einen guten, fetten Stock fand. Jetzt, da der Wald so feucht war, lohnte sich’s, damit ein Feuer anzumachen. Inzwischen brach ich dürre Bäume und trug sie zusammen.
Bald flammte das Feuer vor der Bergwand. Tannenzweige gaben ein trockenes Bett auf dem nassen Boden, und zwischen Berg und Feuer wurde es hübsch warm. Dann kam der Kaffeekessel ins Kochen, und der Proviant wurde hervorgeholt.
Nach dem langen Marsch machten wir es uns bequem. Johann erzählte seine Erlebnisse mit Auerhähnen und Elchen in diesen Wäldern.
Der Feuerschein spielte die Bergwand hinauf und auf den Baumstämmen drin im Walde. An der nächsten Tanne hing der Auerhahn an einem Ast. Draußen war es schwarze Nacht.
Die Unterhaltung starb hin. Johann legte sich schlafen, bald hörte ich seine regelmäßigen Atemzüge. Das Feuer fiel auch zusammen, nur hier und da ein Aufflackern, wenn harziges Holz erfaßt wurde und zitternder Lichtschein auf die Tannenstämme und zu den dunkeln Baumwipfeln hinauf fiel.
Zwischen den Zweigen segelte der Halbmond..... Alle nächtlichen Laute waren erstorben, nur ein Uhu schrie noch einige Male weit, weit weg....
Groß, einfach, still — der große Weltraum, das seit der Zeiten Anbeginn Unveränderliche, vor dem alle Ziele der Menschen versinken.
Die Gedanken schweifen auf weiter Fahrt durch die Jahrtausende zurück, weder Entfernung noch Zeit hält sie auf. Die Wälder waren größer, unwegsamer, die Nacht hier zwischen den hohen Bäumen noch schwärzer.
Auch damals zogen Menschen nachts vielleicht gerade diese selbe Bergwand entlang. Lautlos schleichen sie zwischen den Tannen wilden Tieren gleich heran, elastischen Schrittes, halbnackt, in Felle gekleidet; sie tragen Spieße und Beute. Sie nähern sich dieser Höhle, brechen Zweige und dürre Bäume ab, machen [S. 167] Feuer an mit einigen Holzstücken, die sie wie bei einem Drillbohrer aneinanderreiben.
Bald flammt ein großes Feuer auf. Sie tragen Zweige und Moos zu einem Lager zusammen, während das Fleisch an Holzspießen gebraten wird, die sie neben der Glut in den Boden stecken. Sie sprühen von Lebensmut und Lebenslust, während sie lachen und wie Kinder schwatzen und die Fleischstücke verschlingen, sobald sie gebraten sind.
In unbeschreiblichem Wohlbehagen strecken sie sich aus und lassen die strahlende Wärme die nackten Glieder braten. Sie sind restlos glücklich ohne beschwerliche Ziele, ohne lastende Pläne. Sie leben ein Jagdleben mit seinen Mühen und seinen Freuden. Keine Sorgen über den Augenblick hinaus; diese schwinden so rasch wie sie kommen.
Im Wechsel der Zeiten wurden der Menschen mehr, der Wälder weniger, und das Wild wurde spärlicher. Mit den Wäldern, den Jagdtieren und dem Leben des Wilden flohen aber auch das Glück und die Lebensfreude immer mehr von den Menschen. Die jetzt bei dem Feuer sitzen, sind nicht mehr die jungen, elastischen wilden Tiere, die von Lebensmut strotzen, sie sind alt, niedergebeugt vom Drucke der Gesellschaft, erfüllt von endlosen Rücksichten, Fesseln, Sorgen für sich und für andere, von zerstörten Hoffnungen, fehlgeschlagenen Plänen — von allerhand Jämmerlichkeit, die sie nie losläßt. Die sinnlose Wehmut des Lebens. Die Knospe, die springen sollte, hat keinen Saft. Ja, wohin ist im Abendland die Freude geraten?
Aber laß nur draußen in der Nacht Schritte von Tieren [S. 168] laut werden, einen Zweig knacken — auf einmal steht er wieder straff wie eine zitternde Stahlfeder, und blitzschnell, wie der Wilde seinen Spieß faßte, ergreift er das Gewehr. Das Raubtier blitzt aus den Augen, die ins Dunkel hinausspähen.
Ach ja, das Raubtier meldet sich wohl auf mancherlei Weise... Da ist dieser Krieg! Auch dort rast das Raubtier. Aber hier ist es das Tier in seiner Zerstörungslust, während es im Walde der Trieb war, den Lebensunterhalt zu schaffen....
Der Mond schleicht zwischen den Tannen weiter. Es ist, als höre man die Atemzüge der Natur. Kann unsere ganze Kultur uns etwas geben, was die Schönheit einer Waldnacht aufwiegt? Aber die Fähigkeit, sie zu würdigen, hat sie vielleicht doch entwickelt.
Noch ein paar Klötze auf das Feuer. Es flammt von neuem auf, und ich lege mich nieder, um eine Weile zu schlafen, bevor wir wieder aufbrechen.
*
*
*
Ich fuhr auf, aber es war noch nicht zwei Uhr. Noch war ganz finstere Nacht, und der Mond war westwärts hinter die Bergwand gezogen. Um halb drei Uhr durften wir erwarten, daß der Auerhahn balzte. Es war nicht viel mehr als eine Viertelstunde Wegs bis zum Ziel. So weckte ich denn Johann. Im Nordosten begann es allmählich hell zu werden.
Wir dämpften das Feuer, indem wir die Klötze auseinanderzogen. Übrigens bestand jetzt keine Gefahr, da der Wald so naß war. Dann gingen wir hinab über das Tal am See vorüber. Auf dem Hang gegenüber sollte der Auerhahn balzen.
Da ertönte ein langer pfeifender Klagelaut in der Luft. Johann kannte ihn nicht. Wahrscheinlich war es ein Brachvogel, der strich. In der Stille der Frühlingsnacht, während alles schläft, geht sein Weg vom Süden nach dem Nordlandssommer. Sonst kein Laut.
Wir traten behutsam auf und vermieden es, den Fuß auf einen Zweig zu setzen. Lautlos glitten wir zwischen den Bäumen vorwärts.
Es wurde etwas heller, aber noch war es still. Wir mußten noch ein Stück gehen und so lange warten, bis der Wald mit den ersten Singvögeln erwachte; dann wußten wir sicher, daß wir nicht zu früh zur Balz kamen und störten.
Jetzt rief draußen im Osten der Kuckuck, und auf der andern Seite im Süden von uns polterte ein Birkhahn. Aber den Auerhahn hörten wir nicht. — Dann kam das erste Morgengezwitscher, es war ein Rotkehlchen. Nun ließ sich aber auch die Singdrossel hören, — und beruhigt konnten wir weitergehen....
Wir schlichen weiter und weiter vorwärts, aber kein Schnalzen von einem Auerhahn. Die Birkhähne polterten, daß es klang, wie wenn siedendes Wasser in einem Topf brodelte. Nicht weit von uns lachte und rief der Kuckuck übermütig wie ein Verrückter. Singdrossel, Rotkehlchen und alle andern Morgenvögel sangen aus voller Kehle.
Ja, jetzt war der Wald erwacht. Welcher Morgenjubel! Es war, als wollten sich alle für den Regen und Sturm der letzten Tage schadlos halten. Nur der Auerhahn schwieg still. Was war mit ihm los?
Da, platsch! Ein großer, schwarzer Vogel stieg aus der Tanne vor uns auf. Da hatte er gefußt, ohne zu spielen — und das an einem solchen Morgen. Was in aller Welt mochte da los sein?
Lange standen wir mucksmäuschenstill. Es war Gefahr, daß der abstreichende Hahn auch die andern Hähne zum Schweigen bringen würde.
Wieder schlichen wir ein Stück vorwärts. — — — Da endlich ein Schnalzer, nicht weit von uns; noch mehrere, schneller und immer schneller, und dann ein Glucksen, das volle Spiel war im Gang ! Das ging nun so weiter, aber nicht regelmäßig.
Doch halt, dort links, etwas weiter entfernt, war noch einer; der spielte frischer und regelmäßiger. Das beste war, ihn anzuschleichen. Es war noch dunkel. Wir mußten behutsam gehen und uns gut vorsehen, damit wir auf keinen Zweig traten.
Bald waren wir so nahe, daß wir uns in Sprüngen anschleichen mußten. Der andere spielte auch, und wir fürchteten, ihn zu verscheuchen, während wir den ersten ansprangen; dann wären beide erledigt. Wir hielten uns links und kamen so näher.
Der Hahn spielte immer noch. Ich spähte angestrengt die Kiefer vor mir hinan. Ich glaubte, er fuße oben unter dem Wipfel, konnte ihn aber nicht sehen. Mit jedem Sprung kamen wir näher.
Nun war ich in unmittelbarer Nähe. Es war nicht ratsam, weiterzugehen. Aber wie ich auch spähte, ich sah keinen Hahn.
Ich hockte mich nieder, um ihn vielleicht sich vom Himmel abheben zu sehen. Da, ein Platsch, und er strich ab. Er hatte auf einem Zweige unten am Kiefernstamm ganz frei aufgefußt, und ich hatte ihn nicht erblickt. Vor Ärger hätte ich platzen [S. 171] mögen. Nun hatte er auch die andern im Spiel gestört, und nichts mehr war zu hören.
Lange standen wir still, aber es kam nichts mehr. So pirschten wir denn weiter und kamen auf einen Bergrücken hinauf. Dort standen wir lange und horchten nach allen Seiten.
Doch still! Was war das für ein Ton? Strich da vielleicht die Moorschnepfe?
„Das sind die Rehe,“ sagte Johann. „Sie sind draußen gewesen und haben den Auerhahn so erschreckt, daß er heute morgen nicht spielte.“
Ich hörte das schwache Schmälen an drei Stellen unter uns; es mußten mehrere sein, die einander riefen, aber wir sahen keines. Diese Rehe sind hier in den Wäldern eine wahre Plage geworden; dabei ist es nicht erlaubt, sie das ganze Jahr hindurch zu schießen. Anker klagt sehr darüber. Es ist nicht mehr möglich, eine richtige Hasenjagd zustandezubringen. Kaum läßt man die Hunde los, so kommen sie auf Rehfährten, und dann geht es geradeaus, und die Hunde sind den ganzen Tag weg. Nimmt man eine neue Koppel, so geht’s mit der oft genau so.
Wir mußten mehr nach Norden, vielleicht war dort ein Auerhahn zu hören. Es war jetzt schon etwas heller geworden, aber noch war es Zeit.
Wir schlichen weiter und lauschten. Ein Stück weiter gekommen, hörten wir das Schnalzen, „knepp — knepp — knepp-knepp“, und dann das Glucksen, „kluck“, also volles Spiel! Wir pirschten uns heran. Das Spiel ging weiter, und bald mußten wir anfangen zu springen.
Es ging über ein breites, nasses Moor, wo man genau aufpassen mußte, auf welchem Büschel man bei jedem Sprunge landete. Es kam aber vor, daß man bis zur Wade im Wasser steckenblieb, ohne sich vor dem nächsten Glucksen bewegen zu können. Hörte der Hahn mitten im Spiel auf, so zogen sich die Minuten in die Länge; man sank tiefer und tiefer ein, und die Beine schmerzten, ohne daß man einen Fuß bewegen konnte. Dann fing der Hahn wieder an, und wir kamen schließlich über das Moor und den Abhang auf der andern Seite hinauf.
Da sahen wir den Hahn frei auf einem Aste auffußen. Der Abstand war ziemlich groß, aber das Feld war so offen, daß man nicht näher herankommen konnte. Ich mußte schießen. Beim nächsten Glucksen erfolgte ein Knall, und klatschend fiel der Hahn zur Erde. Johann eilte davon, ihn zu holen.
Es war nun schon so hell, daß kein Spiel mehr zu erwarten war. Auch ein Sonnenspiel würde es nicht geben, denn im Osten war der Himmel dicht bewölkt, und die Sonne konnte nicht durchdringen, als sie aufging. Darum machte ich mich mit Johann auf den Heimweg.
Juli 1916.
D ie Fahrt von den lachenden Mjöslandschaften das lange Gudbrandstal hinauf bis Otta bietet nicht viele Überraschungen. Gutgehaltene Gehöfte leuchten zu beiden Seiten des glitzernden Lågen. Das Leben geht im Talgrund seinen gleichmäßigen, altgewohnten Gang. Der ziemlich gelichtete Wald erstreckt sich auf beiden Seiten die Abhänge hinan bis zum Rand des kahlen Gebirges.
Verläßt man aber diese Einförmigkeit und geht ein Seitental hinauf, wie es die Waldschlucht ist, durch die sich die Ula ihren Weg vom Hochland herab bricht, dann ist man bald in einer neuen Welt.
Durch ein einsames Waldtal kommt man am Fluß entlang aufwärts, der in lauter Wasserfällen zur Seifensteinmühle unten im Tal hinabstürzt.
Hat man eine enge Bergpforte hinter sich, dann erweitert sich das Tal etwas und wird oben flacher. Die großen weißen Terrassen zu beiden Seiten mit den horizontalen Schichten zeigen, daß hier einmal, wohl am Schluß der Eiszeit, ein großer Binnensee gewesen ist. Jetzt ist er ausgetrocknet, da sich der Fluß einen freien Lauf gebahnt hat durch diese Rinne im Berge, die wohl von einer Moräne aufgedämmt worden war, oder [S. 174] vielleicht auch vom Eise, als das Tal draußen von einem Gletscher angefüllt war.
Dann wird das Tal wieder enger, und es geht höher hinauf. Allmählich wird der Wald niedriger und lichter, bald steht man an seinem oberen Rand. Die Talschlucht erweitert sich. Nach oben wird es flacher, und vom obersten Rücken, meint man, müsse man schon einen Ausblick auf die Bergweite mit ihren Gipfeln haben.
Das Barometer war gestern gesunken, schwere Wolken zogen jetzt von Osten her. Es mochte wohl Regen geben, aber es war gutes Wetter zum Gehen.
Jenseits der Schlucht liegt eine Sennhütte in etwas lichtem Wald mit flachen Mooren. Von da kommt man zur Mysualm hinauf. Im Birkenwald steht Hütte an Hütte; rot angestrichen, mit grünem Torfdach, vorn Fahnenstangen; sie sind von Stadtleuten gebaut, die sich hier im Sommer aufhalten und die Gebirgsluft genießen, im Herbst auf die Jagd gehen und zu Ostern Schneeschuh laufen.
Dann kommen die Touristenhütte und die Sennhütten. Aber der Weg führt höher hinauf, ins kahle Gebirge. Bald ist man ganz oben, und die Bergweite liegt wie eine Almwiese vor einem und wogt in weichen, mit Heidekraut und Moos überwachsenen Wellen.
Über dem allen liegen die Berge. Dort ist Rondane! Wolkenhohe Steinmassen wölben sich Kuppe an Kuppe über den Bergheiden mit tiefen Spalten, mit Firnen und Talkesseln und Schutthalden — eine Märchenwelt für sich.
Dort ganz im Westen, sind das der Valsberg und die Bråkdalshöhe, wo Per Gynt hauste? Dann sind das in der Mitte wohl Smiuhammer und die Rondvaßhöhe mit den jäh abfallenden Hängen. Aber Diger-Ronden selbst und Hög-Ronden sieht man nicht, die liegen hinten. Hier vorn im Osten ist die Illmannhöhe.
Was für Berge! Sie tauchen fast zu plötzlich auf, nach dem kurzen Aufstieg vom Tale. Die Brust weitet sich, der Mut und die Schwingen wachsen.
Über welche Flächen schweift hier das Auge! Man fühlt sich so leicht, als könne man fliegen, und die Gedanken schwimmen in der blauen Luft bis weit nach Norden zu den festen Linien der Rondeberge.
Nach allen Seiten dehnt sich die Bergweite — die Täler wie schmale Risse in den Gebirgsflächen. Tief dort unten windet sich der Fluß des Menschenlebens, weit, weit weg von hier oben. Hier atmet man frei, hier bietet sich Ruhe für Auge und Herz.
Doch andere Bilder tauchen auf — aus weiterer Ferne.... Festungen, Schützengräben — Berge von verstümmeltem Menschenfleisch.
Nein, nein, dem Furchtbaren da draußen entkommt man nicht, auch hier nicht! Nirgends gibt es Frieden.
In all das, was man sieht, klingt der Jammer von Millionen von Frauen hinein, die alles verloren haben — den Geliebten, den Gatten.... Man sieht verzweifelte Mütter nach ihren Söhnen suchen, ergraute gebeugte Väter nach der Hoffnung ihres Stammes....
Ein Alpdrücken des Wahnsinns!.... und niemand kann es aufhalten — niemand.
Schon erbeben die Grundlagen der Gesellschaft.... Die Völker Europas — die „Träger der Kultur“ — fressen einander auf; sie zertrampeln die Kultur, sie legen Europa in Ruinen — wem zum Vorteil?
Es ist wie eine Lawine, die auf ihrem Weg zum Abgrund immer mehr mit sich fortreißt, Bäume, Wälder, Häuser, Gehöfte. Sie nimmt zu an Furchtbarkeit; alle wissen, daß sie das ganze Tal begraben wird, aber keine Macht kann sie aufhalten, sie muß ihren Lauf vollenden.
Und wofür wird gekämpft? Für Macht ! Nur für Macht! Wenigstens die, die angefangen haben....
Konnte es denn anders kommen? Eine Kultur, die die Macht als das hohe Ziel der Völker setzt, kann die Menschheit nicht vorwärtsbringen; sie mußte sie schließlich hierher führen — dem Untergang entgegen.
Für die einzelnen wie für die Staaten galt als Forderung der freie, rücksichtslose Wettlauf nach dem materiellen Erfolg um jeden Preis, nach äußerer Macht, nach Glanz.
Um das Ziel zu erreichen, nahmen die Völker auf nichts anderes mehr Rücksicht als auf sich selbst. Ideale, Moral konnte jeder mit heiligem Recht mit Füßen treten, sobald nur sein Volk Vorteil davon hatte. Da konnten feierliche Versprechen gebrochen werden, da konnte gelogen, betrogen, da konnte gemordet werden mit Lug und Trug. Da wird der Mann zum Verräter, der nicht jedes Mittel anwenden will, um die Gegner seines Volkes [S. 177] zu vernichten. Ja, wenn es notwendig war, schadete es nichts, wenn einer die übrige Menschheit vernichtete, sobald sein eigenes Volk Platz brauchte....
Der Feldruf ist: Nieder mit allen andern, wenn nur wir in die Höhe kommen!
Mit Notwendigkeit mußte das zu dieser Selbstvernichtung führen, sie mußten einander auffressen, sobald die Erde zu klein wurde und jeder Platz besetzt war, als die letzten zur Krippe kamen und meinten, sie hätten dasselbe Recht auf die fetten Bissen wie die andern.
Aber alle behaupten, sie seien in den Kampf hinein gezwungen worden, sie kämpften für die hohen Ideale. Wie ist es so gekommen?
Es mußte so kommen! Europas Kultur hat versagt ; sie war innerlich faul. Wie der kranke Baum im Walde stürzte sie zusammen, sobald der Sturm losbrach.
Kultur? Ja, was ist sie denn, wenn sie nicht das wilde Tier meistert, wenn sie es nicht fortführt aus der Barbarei? Das ist ja ihr innerstes Wesen, ohne das ist sie eine leere Schale.
Aber nun rast das wilde Tier zügellos, der Fenriswolf ist los, häßlich heult Garm am Eingang zur Unterwelt.
Der größte Sieg ist, sich selbst überwinden. Das gilt nicht nur für den einzelnen, das gilt auch für die Völker, für die Gemeinschaft der Menschen.
Wir führen einen steten Kampf, um die Naturkräfte zu meistern, um das Dasein zu sichern. Aber die ohne Frage größten Unglücksfälle, das schlimmste Elend verdanken wir [S. 178] immer noch den Menschen selbst , und noch sind wir nicht dahin gelangt, das hindern zu können. Welch eine furchtbare, demütigende Wahrheit!......
Die schwere Nebelkappe über dem Smiuhammer wird dunkler, unten in der Schlucht wird es blauschwarz. Es ist, als runzle der Berg die Brauen......
Kann es wahr sein? — Aber es sind ja Großmächte — und eine Großmacht darf alles, was sie selbst für recht erklärt. Die Mehrheit entscheidet über das Recht in der Welt. Eine Großmacht ist immer in der Mehrheit, also hat sie immer recht — und die kleinen Völker haben unrecht. — —
Nein, das führt im Kreise herum. Aber ich will ja vorwärts, ich will weiter über diese moosbewachsenen Flächen, wo nichts den Fuß aufhält.
Über die Flächen und an den Bergwänden hinauf schweift der Blick..... Hier gab es früher Renntiere genug, aber jetzt ist kein Tier zu sehen, kein lebendes Wesen. Die Menschen haben alles vernichtet.
Ein herrliches Geschöpf, dieser Mensch..... plündern, rauben, Krieg gegen die Tiere, Krieg gegen die Menschen..... Raubtier — überall.....
Und wie dieser Krieg alle Begriffe auf den Kopf stellt! Zu was für Ungeheuern macht er uns!
Bekommt einer eine Uniform an, Kleider von einer gewissen Form und Farbe, und dazu einen Befehl, dann hat er Recht [S. 179] zu allem möglichen. Er kann aus der Luft Bomben auf friedliche Städte werfen, auf arbeitsame Bürger, die nur ihrer Tagesarbeit nachgehen, er kann Wohnstätten, Eigentum, Beruf vernichten.
Verteidigt sich aber einer, der keine Uniform anhat, schießt er auf die Gewaltmenschen, dann ist das ein schändliches Verbrechen .... Fängt man ihn, dann wird er nach Gesetz und Recht erschossen oder gehängt...
Es kocht in einem.... Aber selbst sonst gutherzige Menschen finden so etwas in Ordnung, wenigstens schreien sie nicht.
Ist das die Kultur, in der die Welt weiterleben sollte? Dann lieber verbluten..... dann lieber untergehen!
Mußte Europas Kultur bis zu diesem Wahnsinn führen — und das mußte sie wohl, denn es waren ja erwachsene Männer und nicht gedankenlose Kinder, die die Drähte in der Hand hielten —, ja, dann war sie fertig und sie mußte in den Schmelztiegel ....
Und wir, unser Volk? Sollen auch wir in den Mahlstrom hineingezogen werden, bevor wir noch haben versuchen können, unsern Einsatz in der Entwicklung der Welt zu leisten? Noch haben wir Norweger keine eigene Kultur hervorgebracht, aber die Kräfte sind da, und groß genug liegen die Aufgaben vor uns in der Zukunft — wenn wir nur nicht an unserer Seele Schaden nehmen, indem wir als Zuschauer dasitzen und uns mit dem mästen, was vom Weltbrand abfällt.....
Bei uns herrschte dieselbe wilde Gier nach Gewinn, die den Krieg entzündete; aber wir leben ohne die großen Gefühle, die ihn tragen.....
Dort draußen werden trotz aller Vernichtung doch Willen gehärtet, dort werden Männer geschaffen. Die Völker kämpfen um ihr Leben, — da gibt es noch Ziele!..... Und sie erhalten ihre Taufe in dem großen Leiden, in der Entsagung, in dem geduldigen, unbegrenzten Opferwillen..... Aller Flitterstaat wird abgestreift, sie werden zur Natur zurückgezwungen, zu dem einfacheren, gesunderen Leben in Genügsamkeit.... Aber wir?...
Sollte aus dieser Berserkerwut des Wahnsinns doch etwas Gutes, eine neue Zeit hervorgehen?
Fertig, sagen sie? Sollte Europas Kultur fertig sein? Ist der Mittelpunkt der Welt im Begriff verlegt zu werden?
Oder haben trotzdem die Völker die Kraft zur Erneuerung?
Die Welt hat früher gesehen, daß Völker, die für ihr Dasein, für die Freiheit — aber nicht für die Macht — kämpfen, sich herrlich entfalten können, wie die Griechen, wie Athen nach dem Kampf gegen die Perser.
Aber die Welt hat auch gesehen, daß, wo ein Militärstaat, ein Sparta oder ein Rom, den Sieg davontrug, der große Niedergang der Kultur begann.
Ja, wer weiß, was kommt — und was nützt es, darüber zu grübeln?
*
*
*
Es geht schnell und leicht nach Osten. Ich komme über die Glitra, die nach dem Gudbrandstal fließt, und wandere weiter aufwärts. Das einzige lebende Wesen ist hier und da ein Morinell ( Eudromias morinellus ), der zwischen den mit Heidekraut bedeckten Rücken davonläuft.
Bald erreichte ich die Wasserscheide zwischen der Glitra und dem Musvollfluß, der nach Nordosten in den Atnesee fließt. Es öffnete sich auch eine breite Talsenke ostwärts mit Aussicht nach Sollien und dem Glommental. Im Norden aber thronten über allem die Berge von Rondane. Können vielleicht sie dort oben von ihrer Höhe in die Zukunft hineinschauen?
Ja, sag du mir, Diger-Ronden, was du siehst..... Die Zukunft, das Kommende, ist es denn nur Finsternis?
Oder vielleicht verbrennt das Alte und Verbrauchte, damit Neues an seine Stelle treten kann? Aber woher soll dieses kommen?
Bleibt Kraft genug zurück, um das neue Geschlecht fortzupflanzen? — —
Tausendmal die gleiche Frage, aber der unstete Gedanke erhält keine Antwort. Es ist, als ob alles versage und versinke. Wir fühlen uns todkrank.
Doch nein, welche Genesung in diesen Bergweiten! Man sieht sich wieder gesund und stark an diesen Bergen, wie sie daliegen in ihrer breiten sicheren Größe, fest, unverrückbar, wie sie die wechselnden Zeiten an sich vorübersausen lassen, während sie unverändert bleiben.
Wenn abgelebte Kulturen einiger Völker zugrunde gehen, so ist das wohl kein unersetzlicher Schaden. So etwas ist schon früher geschehen, und noch leben die Menschen.
Sieh diese gewaltigen Gebirgsformen! Hier liegt die Erde, wie sie eben vom Eise verlassen wurde, wie sie jahrtausendelang gelegen hat. Sie birgt Möglichkeiten für neue arbeitende Geschlechter. Sorge dich nur nicht! Wenn die, die waren, [S. 182] einander auffressen konnten, so ist es wohl gut, daß neue kommen.
Aber woher sollen diese kommen? Wo finden wir die frischen unverbrauchten Geschlechter?
Nein, wieder geht es im Kreise. Aber ich wollte ja zum Atnesee hinunter.....
Nach und nach tauchte etwas Birkengebüsch an den Talhängen auf. Der Hund zog mehrmals vor Hühnern an, und die ängstliche Schneehuhnmutter ging auf und lief mit hängenden Flügeln vor dem Hunde fort, um ihn zu sich heranzulocken, weg von den Jungen. Ja, ich habe die Schneehuhnmutter mit gesträubten Federn gerade auf den Hunderachen zulaufen sehen, um auf ihn einzuhacken, wenn der Hund das Junge nehmen wollte.
Das ist Mut und Opferwille bis zum Tode. Können wir Menschen ihn besser für unsere Nachkommen und für das Vaterland beweisen?
Weiter unten begegnete ich einer Herde Jungvieh, die am Flusse weidete. Ohne auf den Hund zu achten, stürmten sie auf mich ein und umringten mich, pusteten und schnauften und kamen mit dem Maul an meine Hand heran, um sich streicheln zu lassen und Salz zu bekommen, als ob sie lange Zeit keine Menschen gesehen hätten. Sie sind also menschenfreundlich genug..... und wir?...
Sie folgten mir ins Tal hinab, so sehr ich sie auch wieder ins Gebirge hinaufzuscheuchen versuchte.
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Auf der Björnhullhalde kam ich zu der ersten bewohnten Alm. Ich ging ins Haus, um ein Schnitzmesser abzugeben, das ich unterwegs gefunden hatte. In der Stube saß die Frau und nähte; der Mann verspeiste gerade einen Fisch, den er im Bergsee gefangen hatte.
Sie hatten sechs Kühe und einige Ziegen auf der Alm; das Gehöft lag zu oberst im Atnetal, und der Mann war, wie er sagte, der nächste Nachbar von Hög-Ronden.
Auf ihrem Berghofe ernteten sie nichts als Heu und vielleicht noch etwas Grünfutter. Der Anbau von Korn war nicht möglich, auch nicht der von Kartoffeln. Was sie davon brauchten, mußten sie aus dem Tale holen, und es waren jetzt teuere Zeiten. Aber man durfte trotzdem nicht klagen, sie bekamen genug.
Ja, in seiner Art war es ein mühseliges Leben, und der Winter war streng und lang — aber das Leben so hoch oben im Gebirge ist auch gesund. Die Luft ist rein, das Wasser gut, und wir sind frisch an Leib und Seele, und so können wir, wie gesagt, nicht klagen.
Ich erwiderte, es sei erfreulich, so etwas zu hören. Es gibt viele, die über die Lage des Bauern klagen, nicht zum wenigsten oben in den Gebirgstälern. Manche Täler sind ja in den letzten Zeiten ziemlich entvölkert worden; besonders die Jugend wandert nach Amerika aus oder zieht auch in die Städte. Sie finden es zu Hause zu mühselig; die Ansprüche ans Leben sind gestiegen. Was aber noch schlimmer ist, das Leben ist ihnen zu langweilig geworden. Sie wollen lieber in der Stadt hungern und frieren, denn dort gibt es so vieles, was anlockt.
Oh, er könne nicht sagen, daß es hier im Tal so schlimm gewesen sei. In der letzten Zeit hätten sich sogar mehrere neu angesiedelt. Es habe doch auch keinen Sinn, in diese häßlichen Städte zu ziehen, wenn man im Gebirge sein eigener Herr sein und sein freies Leben haben könne.
Das waren erfrischende Worte von einem, der selbst dieses Leben lebte. Daß der Hinweis auf die Gesundheit mehr als Gerede war, zeigt das hohe Alter, das die Leute hier im Tal erreichen. Die Mutter dieses Mannes wurde über 92 Jahre alt; mit 89 Jahren ging sie noch mit dem Vieh vom Tal zur Alm, und sie war gesund und rührig in ihrer Arbeit.
Frohen Mutes zog ich weiter. Gäbe es nur viele von dieser Art in unserm Volk, dann könnte Norwegen einer lichten Zukunft entgegensehen.
Ja, wenn wir die Lebensansicht dieses Nachbars von Hög-Ronden der Jugend unserer Zeit einpflanzen könnten, dieser Jugend, die sich am meisten damit beschäftigt, wie sie bei geringster Arbeit das meiste Geld verdienen kann, um ihrer Genußsucht zu frönen. Wenn wir nur in der Jugend auch die Liebe zu dem Lande erwecken könnten, zu dem Volk, das sie hervorgebracht hat, wenn wir sie dazu bringen könnten, an die Zukunft der Nation zu denken und daran, was aus der Rasse werden könnte, und welche Pflichten, welche erhebenden Aufgaben sie da finden könnte, anstatt nur an sich selbst und an ihre Gelüste zu denken.
Dieser kleinliche Egoismus, der sich Tag für Tag mehr in allen Schichten verbreitet und die Gesellschaft entkräftet, in dieser Natur müßte er sich abschälen.
Wenn einer Rondane dort im Westen sich vom Himmel abheben sieht, dann muß er erkennen, daß zwischen solchen Bergen der Gesichtskreis ein anderer wird, die Ziele größer, als in dem Hof einer Fabrikstadt, wo das Auge den ganzen Tag nicht weiter schaut als bis zur nächsten Wand, und wo der beständige Anblick von andern, die es besser haben, die Unzufriedenheit nährt.
Gebt ihnen etwas von dem Naturleben zurück, das ihnen allen fehlt, nach dem sich aber alle, bewußt und unbewußt, sehnen — und die Lebensauffassung wird gesunder, die Lebensfreude wird heller werden!...
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Nun ging es im Walde abwärts, und nach einer halben Stunde erreichte ich die Musvollalm. Sie war voller Städter. Trotz der liebenswürdigen Versicherung des Besitzers, daß er mir schon noch einen Platz und ein gutes Bett verschaffen werde und sich gern mit mir unterhalten wolle, war es doch für einen fahrenden Gesellen zu früh am Tage, um haltzumachen. Die Hügel hinab wanderte ich weiter durch den Wald, und bald war ich unten am Atnesee.
Hier stehen einige Fischerhütten, die Leuten aus Fron, aus dem Gudbrandstal, gehören. Von alters her haben sie in diesem See das Fischrecht. Es waren gerade einige Männer da, aber größere Fische hatten sie nicht gefangen; das Wetter war zu still gewesen, auch stand das Wasser zu hoch.
Ich hatte die Erlaubnis erhalten, das Boot des Besitzers der Musvollalm zu benutzen; in ihm fuhr ich auf die andere Seite des Sees hinüber, wo eine neue Ansiedlung sein sollte.
Eine gute Strecke aufwärts vom See fand ich endlich auch die Rodung mitten im Wald. Zwei Männer hatten sich zusammengetan und hatten hier vor zwei Jahren angefangen urbar zu machen. Sie hatten schon einen guten Gerstenacker und Kartoffeln, und die Bäume waren auf einer großen Fläche gefällt. Die Wurzeln staken noch im Boden, und noch genug Arbeit war zu tun. Aber der Boden war gut, vielleicht etwas trocken, mit Sand darunter. Eine gemütliche kleine Hütte war schon gebaut, und auch der Stall war beinahe fertig. Als ich kam, saß der eine Mann auf dem Dach und legte Planken.
Ja, er könne mich über den See nach Brenn rudern; er könne auch sofort aufbrechen, müsse aber nur noch einmal ins Haus und sich etwas herrichten. Er war verheiratet, sein Kamerad aber war noch ledig. Sie hatten sich 16000 Quadratmeter Land gekauft, konnten einige Kühe und ein Pferd halten und verrichteten im übrigen in der Hauptsache Waldarbeit.
Es stärkt den Glauben an die Zukunft, wenn man hoch oben im Gebirge eine solche neue Ansiedlung sieht. Der Anbau werde sich gut lohnen, meinte er; die Heuernte sei in den meisten Jahren gut, die Kartoffeln gediehen auch. Weniger gut stehe es mit dem Getreide, aber sie schnitten es als Grünfutter, was sich auch lohne. Dann hätten sie Fische im See und im übrigen, wie gesagt, Arbeit genug im Walde. Hier sei es wahrhaftig nicht schwer zu leben.
Die Ruderstrecke über den Atnesee beträgt etwa 8 Kilometer.
Welcher Friede! Dort an der Nordseite liegt das schöne Nesset, wo einer der wenigen großen Männer Norwegens, der [S. 187] Mathematiker Cato Guldberg, gewohnt hat. Das war ihm ähnlich, sich gerade hier niederzulassen. Diese einfache, aber großartige Natur entsprach seinem Wesen.
Breit und sicher liegen die Häuser oben auf dem grünen Wall, der sich bis an den See hinunter erstreckt; sie leuchten rot im Walde. Zu beiden Seiten ziehen die flachen Waldhänge bis zum kahlen Gebirge hinan.
Erst am Abend gelangte ich nach Brenn an der Atnebrücke und bekam für die Nacht Quartier. Das Zimmer ging auf den Fluß hinaus. Das Wasser des Falles donnerte unter der Brücke. Es stürzte in eine schöne Fischgumpe hinab, die verlockend aussah. Kreis um Kreis stießen die Forellen auf der blanken Wasserfläche oberhalb der Brücke. Die Nacht war still und warm. Das war viel für ein Fischerherz, aber — es hieß weiterziehen. Es war das beste, sich schlafen zu legen.
Am nächsten Morgen fuhr ich im Wagen vom Atnetal über den Bergrücken hinab ins Vulutal und weiter nach Sollien.
Nun geht es vom Gebirge, von dem weitgedehnten Hochland hinab ins Land der ernsten großen Wälder.
Von der Skyßstation in Sollien fuhr ich mit frischem Pferd weiter, die Hügel hinab ins Glommental. Wie bedauerlich wenig Zeit wir Menschen brauchen, um unsere Lebensbedürfnisse zu steigern! Früher schien es herrlich, mit Pferd und „Stuhlkarre“ zu reisen. Jetzt aber, nachdem wir seit wenigen Jahren die Automobile haben, bewundert man die Geduld der Menschen, die sich dareinfinden, ihre Zeit damit zu verlieren, sich in einer Karre schütteln zu lassen und ein müdes Postpferd vorwärts zu treiben.
Das Pferd, das ich hier bekommen hatte, war übrigens recht willig. Gern ließ ich den kleinen erst zehnjährigen Kutscher fahren, denn er kannte das Pferd wohl am besten.
Als es aber einen langen Hügel hinabtrottete, stolperte es, fiel in die Knie, versuchte wiederaufzukommen, schlug aber dann einen Purzelbaum und lag auf dem Rücken, die Beine in der Luft.
Ich sprang aus dem Wagen und hielt dem Pferd den Filzhut über die Augen, damit es nicht zappeln und die Gabeldeichsel zerbrechen sollte. Der kleine Kutscher war beherzt. Ein bißchen weinen mußte er ja, gleichzeitig aber gab er mir mit der Miene des erwachsenen Mannes Bescheid, wie ich das Pferd ausspannen müsse. Bald hatten wir das Geschirr herunter, das Pferd wieder auf den Beinen und vorgespannt. Wir stiegen ein und fuhren weiter.
Ein wunderliches Pferd, mitten auf ebenem Weg einen Purzelbaum zu schlagen. Ich ergriff die Zügel, merkte aber bald, daß es leicht stolperte und fest im Zügel gehalten werden mußte.
Sie hätten das Pferd eben erst aus der Stadt bekommen, sagte der Junge, und er kenne es nicht. Wahrscheinlich war es ein Kutschpferd, das von den Steinstraßen kranke Beine bekommen hatte; durch die Automobile vertrieben, sollte es nun seine letzten Jahre als Postpferd hier auf dem Lande abdienen, wohin das Automobil noch nicht gelangt war.
Aber nein, dieses Beförderungsmittel ist ein Überrest aus der Vergangenheit. Bald wird das Automobil auch in diesem Tal, wie in allen andern, siegreich seinen Einzug halten. Schließ [S. 189] lich werden die Pferde nur noch zur Holzbeförderung im Walde gebraucht werden; denn dahin können die Autos noch nicht vordringen. Aber wer weiß, was kommen wird? Wir haben schon merkwürdigere Dinge erlebt als die Beförderung von Holzstämmen mit Automobilen.
Endlich kam ich an den Bahnhof Atna. Von dort ging es mit der Eisenbahn südwärts nach Koppang und von da mit dem Automobil nach Åsheim am Nordende des Storsjö im Äußeren Rental. Dort wollte ich einige Tage bleiben und fischen.
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Åsheim , 14. Juli.
Durch eine tiefe, bewaldete Schlucht an der Westseite der Sölenberge bricht sich die Mistra ihren Weg von den weiten flacheren Gebirgsstrecken im Norden. In einem großen Bogen geht es durch ein enges Waldtal wie durch einen Riß in dem Bergmassiv zu dem schönen Storsjö im Rental hinab.
Den Fluß ziehen große Forellen hinauf, und ich hatte Lust, es mit ihnen zu versuchen. Aber es war am Fluß entlang unwegsam, und man mußte gut bekannt sein, um die richtigen Gumpen zu finden, in denen die großen Fische stehen.
Olav Åsheim kam lächelnd vom Telephon herein und sagte:
„Nun habe ich einen guten Begleiter für dich gefunden, den Schneider hier im Ort. Einen bessern Fischer gibt es in dieser Gegend nicht. Er findet das Wetter heute gut und ist bereit, mitzugehen, aber er wird erst gegen ein Uhr frei, dann will er dich bei Misteregga treffen.“
Jawohl, das paßte mir gut. Ich hatte bis dahin auch noch einiges zu besorgen.
„Du kannst meinen Sohn Klein-Olav nehmen, der wird dir den nächsten Weg durch den Wald zeigen.“
„Er lahmt, der Schneider,“ fügte er hinzu, „er hat ein steifes Bein. Aber darum brauchst du dich nicht weiter zu kümmern. Er klettert die Bergwände hinauf und geht im Wald wie nur einer mit gesunden Beinen. Auch einen bessern Jäger gibt es in unserer Gegend nicht.“
Etwa gegen zwölf Uhr zogen wir los, Klein-Olav und ich. Erst mußten wir durch den Renafluß, da das Hochwasser im Frühjahr die Brücke fortgerissen hatte. Dann ging es durch den Wald aufwärts. Es war eine Brathitze, und man mußte die Kleider ablegen, soweit es ging. Je höher wir hinaufkamen, um so gespannter wurde ich, diesen merkwürdigen Schneider zu sehen.
Endlich erblickten wir die Häuser von Misteregga zwischen den Bäumen, und als wir auf die Landstraße hinauskamen, erhob sich vom Straßenrand ein junger Mann und wünschte „Guten Tag“.
Ein hübscher, stark gebauter Mensch von Mittelgröße, oder vielleicht eher klein, im braunen Jagdanzug mit Kniehosen, mit blondem Knebelbart, sonst glatt rasiert, mit lachenden, treuherzigen Augen.
Das war der Schneider Rikard Kvernnes, auch Rikard Odden genannt, nach dem Haus nördlich vom Lomnessee, in dem er wohnte. Von dort war er auf dem Rade gekommen. Er trug eine lange Angelrute aus Bambusrohr mit Roller.
Wir gingen ostwärts die Anhöhen hinauf. Trotz seines steifen Beines marschierte mein Begleiter leicht. Es schien ihn keine Anstrengung zu kosten, Schritt zu halten.
Wir stiegen etwa anderthalb Stunden, bis wir vom Weg abbogen; dann ging es die waldigen Berghänge nach dem engen Tal hinab, auf dessen Grund tief unten die Mistra schäumt.
Im allgemeinen fließt die Mistra in gleichmäßigen Stromschnellen schäumend über und zwischen runden Steinen, ohne tiefere Stellen. Hier halten sich in der Hauptsache nur kleine Fische auf. Dann aber verlangsamt der Fluß, oft in langen Abständen, seinen munteren Lauf in langen Vertiefungen, in denen die großen Fische stehen.
Nachdem wir einen steilen Abhang hinabgeklettert waren, standen wir endlich am Fluß. Der Schneider schlug vor, wir sollten erst aufwärts von einer Gumpe zur andern gehen, um dann am Abend wieder herunterzuwandern. Das taten wir, aber wir bekamen nicht einen großen Fisch.
Es war drückend schwül. Schwere schwarze Wolken zogen sich im Osten über der Schlucht zusammen. Man hatte das Gefühl, daß ein Gewitter im Anzug war. Aber es standen Wolken vor der Sonne, und daher mußte jetzt am Nachmittag gut fischen sein. Ich versuchte es erst mit der Fliege, und dann benutzten wir Wurfköder mit Rotauge als Lockspeise, eine Angelmethode, in der der Schneider Meister war. Aber wir hatten keinen Erfolg.
Der einzige Fang, den ich sah, war ein großer Auerhahn, der gegen meine Angelrute herangesaust kam, als ich auf einem Stein [S. 192] im Flusse stand. Er war vom Hund auf dem Land hinter mir aufgestoßen worden. Ich dachte daran, den Köder nach ihm zu werfen. Natürlich sollte er den Köder nicht etwa verschlingen, ich konnte aber leicht die Schnur um ihn werfen, so daß ihn die Angelhaken festhielten. Ich ließ es aber sein, und er sauste den Fluß hinab und im Kiefernwald auf der andern Seite hinauf.
Das wäre ein „Fischfang“ gewesen! Ich sehe ihn, wie er, die Schnur um den Hals, draußen im Flusse Widerstand leistet, mit den Flügeln schlägt, den Hals streckt, während ich ihn mit dem Roller heranziehe. Das wäre ein Kampf geworden!
Es gab hier unheimlich viele Mücken, und sie bissen und stachen in Gesicht und Hals, Hände und Waden, daß man kaum ruhig auf den Steinen stehen und angeln konnte.
Es fielen schwere Tropfen, und ein gewaltiger Regenguß platschte auf uns nieder, Schauer um Schauer. Auf einmal aber brach der Donner los, daß es zwischen den Bergwänden in dem engen Tal hallte, und es dröhnte Schlag auf Schlag; schließlich kamen Blitz und Donner fast gleichzeitig.
Der Schneider meinte, da brauche man sich nicht zu wundern, wenn die Fische nicht hätten anbeißen wollen. Nun sei es ganz hoffnungslos zu angeln.
Wir stiegen im Wald bis zu einer Holzhütte, um vor dem Regen Schutz zu finden und etwas zu essen. Wir mußten uns gedulden, bis das Gewitter vorüber war; vielleicht ging es dann mit dem Fischen besser.
Als der Regen nachgelassen hatte, kletterten wir wieder zum Fluß hinab, hatten aber auch weiterhin kein Glück. Wir mußten [S. 193] uns noch eine Weile gedulden und gingen etwas weiter hinauf, bis zu einer neuen großen Fischgumpe. Der Schneider warf seinen Köder im unteren Teil der Gumpe, ich versuchte mein Glück etwas weiter oben.
Da biß beim Schneider mitten in der stärksten Strömung ein großer Fisch an. Es ging die Stromschnelle hinab, die ganze Schnur sauste vom Roller herunter. Der Schneider mußte hinterdrein; er sprang von Stein zu Stein und watete im Wasser oft bis an den Leib, so daß der Schaum um ihn aufspritzte. Plötzlich stürzte er zwischen den Steinen, und nur die Arme, die Schultern, der Kopf und die Angelrute waren über dem Wasser zu sehen. Er sprang auf, und weiter ging es.
Dann wurde aber die Strömung zu stark; er mußte ans Land und die Bergwand hinaufklimmen. Ich ergriff den Kescher und sprang hinterdrein.
Der Schneider kam um den Berg herum; er hatte einen Teil der Schnur eingezogen, und der Fisch war in etwas stilleres Wasser gekommen. Aber immer noch gab es recht starke Stromschnellen.
Er zog den Fisch ans Land heran. Mehrmals versuchte ich, mit dem Kescher heranzukommen, aber dann ging es wieder fort, weiter und weiter hinab.
Endlich fing der Fisch an, sich zu ergeben. Der Schneider zog ihn wieder herein, ich bekam den Kescher unter den Fisch und zog ihn ans Land. Wahrhaftig, eine schöne Forelle, fett und breit, mit kleinem Kopf. Sie wog gut ihre drei Kilo.
Der Schneider hob den Fisch feierlich in die Höhe und überreichte ihn mir. Den sollte ich, sagte er, als Gabe erhalten.
Wir gingen wieder aufwärts. Der Schneider warf noch einige Male den Wurfköder in derselben Fischgumpe aus, ich weiter oben. Wieder stippte ein Fisch an. Diesmal hing er nicht, aber der Schneider sah den Schwanz, der groß war.
„Klein-Olav sah ihn auch, und hätte ich ihn herausbekommen, dann hättest du gesehen, daß wir hier auch große Fische im Fluß haben. Er war beträchtlich größer als der fünf Kilo schwere, den ich hier vor einigen Tagen fing. Aber so ein großer Fisch beißt nicht mehr als einmal an. Geht es dann fehl, dann beißt er nicht wieder. Wir müssen ihm Zeit lassen und den Versuch auf dem Rückweg wiederholen.“
Wir gingen weiter hinauf. Oft fiel der Berg an den Gumpen sehr steil ab. Von einem hohen Felsen aus warf ich den Köder in eine große schöne Gumpe. Ich zog den Köder über den Strom hin. Platsch, da biß etwas an; es gab mir einen Stoß durch den ganzen Körper. Die Rute stand wie ein gespannter Bogen, und die Schnur sauste vom Roller. Nun galt es festhalten, der Fisch wollte die Stromschnelle hinab.
Ich bekam ihn wieder in die Gumpe hinein. Er ging im Kreise. Während ich so stramm als möglich hielt, kletterte ich die Bergwand bis zum Ufer hinunter. Endlich wurde er müde; er kam gutwillig und wurde in den Kescher hineingeholt; es war ein Fisch von etwa anderthalb Kilo.
Nun war aber nichts mehr zu machen, so oft wir es auch weiter oben versuchten. Wir gingen wieder zurück, denn es war schon spät am Abend geworden. Aber auch der große Fisch des [S. 195] Schneiders wollte nicht wieder anbeißen, und so war nichts zu machen als heimzukehren.
Wir kletterten vom Fluß aus aufwärts, bis wir an eine Holzhütte kamen, wo wir einen Bissen Abendbrot aßen.
Klein-Olav hatte einige kleine Fische mit der Fliege gefangen; er triefte vor Nässe, war aber stolz auf den langen Ausflug. Dann kletterten wir weiter hinauf bis zur Straße und wanderten heimwärts.
Als wir die langen steilen Hänge hinabgingen, erzählte der Schneider, hier sei es gewesen, wo er das Bein gebrochen habe.
„Wie ist denn das zugegangen?“
„Ja, ich kam auf dem Rad daher, und da geriet hier oben auf der Höhe die Bremse in Unordnung, und dann verlor ich auch das Pedal, und da ging es in voller Geschwindigkeit alle diese steilen Hügel hinunter.“
„Aber warum versuchtest du nicht gleich seitwärts abzuspringen?“
„Ja, da sind auf beiden Seiten so häßliche Steine, und dann, weißt du, meinte ich auch, ich würde schon mit der Geschichte fertig werden.“
„Du mußt aber diese steilen Hänge mit fürchterlicher Geschwindigkeit hinabgesaust sein?“
„Ja, freilich ging es schnell.“
„Ich hörte von einem, der dich hatte hinabfahren sehen, es sei wie der Blitz gegangen.“
„Akkurat da war es, wo dieser Seitenweg abbiegt; dort standen sie und machten die Saumlast fertig, sie wollten zur [S. 196] Alm hinauf. Ich rief ihnen zu, als ich da unten gefallen war, aber sie hörten mich nicht.“
„Sahen sie dir denn nicht nach?“
„Ach nein, sie glaubten wohl, es sei meine Gewohnheit, so schnell zu fahren. Aber, weißt du, ich meinte, ich würde schon mit der Sache fertig werden. Diesen schroffen Abhang hinunter nahm ja die Geschwindigkeit furchtbar zu, und dann kam dort unten die Biegung, die damals noch viel schlimmer war als jetzt, weil der Weg noch nicht umgelegt war. Damals waren es zwei Biegungen, erst eine jäh nach links und dann wieder eine jäh nach rechts. Ich lag flach auf dem Weg, erst auf der einen Seite, dann auf der andern, und wahrhaftig — es ging! Aber dann sprang ein Felsen in den Weg vor; auf den fuhr ich los, wurde heruntergeworfen und brach das Bein an zwei Stellen, über dem Knie und darunter, Oberschenkel und Schienbein. Da blieb ich liegen; aber ich hatte Glück, nicht länger als eine Stunde lag ich, da kam ein Mann, der zur Alm hinauf wollte, und der hatte glücklicherweise einen Wagen mit Federn, auf dem ich hinuntergefahren wurde.“
„Tat es nicht weh?“
„Ach nein, ich kann nicht sagen, daß es besonders weh tat, bis ich nach Hause kam, aber dann fing das Blut zu strömen an. Es war gut, daß ich damals einen so guten Doktor hatte; das Bein wurde so gut hergerichtet, als nur möglich war. Aber mein Doktor sagte, mit Jagen und Radeln sei es nun Schluß. Damit behielt er freilich nicht recht. Ich lag aber lange, bis ich wieder gesund wurde.“
„Aber dein Bein war ja schon vorher verletzt?“
„Ja, ich hatte einmal mit dem Beil hineingehackt, und da entzündete sich die Wunde, und das Knie wurde steif. Weißt du, das kam daher, daß es schlecht behandelt wurde.“
Bei Misteregga trennten wir uns. Der Schneider fand hier sein Rad wieder und fuhr davon, die Abhänge hinab. Es war kaum zu glauben, daß er mit dem einen Bein fahren konnte; es war aber so kräftig entwickelt, daß es zwei andere Beine aufwog.
Klein-Olav und ich gingen durch den Wald hinunter nach dem Storsjö. Meine Gedanken waren bei dem Schneider, diesem merkwürdigen Mann. Welch zäher Wille muß in seinem Körper leben!
Åsheim , 18. Juli.
Einige Tage später (am Montag, 17. Juli) fuhr ich wieder zur Mistra hinauf. Diesmal hatte ich in Åsheim ein Rad geliehen und fuhr auf der Landstraße über die Kvernnesbrücke und Odden, wo der Schneider wohnt. Es war ein Umweg von einer Meile.
Der Schneider stand auf dem Hofe; ich kam früher, als er erwartet hatte. Er bat mich hereinzukommen und Platz zu nehmen, bis er sich fertig gemacht habe.
Draußen und drinnen war alles in guter Ordnung. Das Haus liegt schön auf einer kleinen Landzunge an der Südseite des Lomnessees. Draußen war ein kleiner schöner Garten mit Blumenbeeten und Küchengarten.
Eine helle luftige Stube mit Waffen an den Wänden: eine Winchester-Magazin-Hagelflinte, ein Büchsendrilling mit Zielfernrohr. Damit schießt er im Winter die Auerhähne, das [S. 198] soll er besonders gut verstehen. Mehrere andere Gewehre hingen auch da und Fischereigeräte.
Aber vom Schneiderhandwerk war nichts zu entdecken. Auf den Tischen lagen Kataloge von Jagd- und Fischereigeräten. Man merkte, daß er Junggeselle war.
An der Wand hing ein Diplom. Sollte es ein Schützendiplom sein? Aber nein; wahrhaftig, das erinnerte doch etwas an den Schneider, es war ein Diplom über einen vollendeten Zuschneidekursus in Kopenhagen. Also ganz ausgelernt, und gewiß tüchtig im Handwerk wie in allem andern.
Nun ist er fertig. Kaffee in der Thermosflasche und zwei Flaschen Bier im Rucksack, so zogen wir auf unsern Rädern in der Sonnenhitze aufwärts. Man merkte es wahrhaftig nicht, daß er nur mit einem Bein treten konnte. Ich hatte meine liebe Not, ihm die langen steilen Anhöhen hinauf zu folgen, trotzdem ich an meinem Rad die Übersetzung wechseln konnte. Die steilsten Hügel hinauf mußten wir freilich gehen.
Halbwegs oben hörten wir ein furchtbares Getrampel auf uns zukommen; schneller als wir denken konnten, sprengte eine Koppel Pferde heran. Wir mußten uns mit unsern Rädern schleunigst in den Graben werfen, um nicht niedergetrampelt zu werden.
„Den Teufel auch, was mag das bedeuten?“
Aber da kam noch etwas hinterdrein — ein Mann auf einem Motorrad. Wahrhaftig der junge Tierarzt! Hatte der nichts Vernünftigeres zu tun, als so die Pferde zu jagen?
„Wenn der lange so gefahren ist, dann sind sie versprengt,“ sagte der Schneider.
Weiter oben begegneten wir einem alten Mann, der den Hut lüftete. Wir grüßten.
„Guten Tag,“ sagte er, „willst du ins Gebirge?“
„Wir wollen an die Mistra angeln gehen,“ antwortete ich. „Kommst du weit von Osten her?“
„Ich habe eine Stute nach Trysil gebracht.“
„Mußt du denn die Stuten so weit bringen?“
„Ja, dort ist ein tüchtiger Hengst. Sonst hätte ich sie freilich zum Hengst im Rental, zum Romulus, geschafft, aber er ist vorige Woche verendet; König Knut hat ihn so geschlagen, daß er einging.“
„Ja, ich hörte davon. Aber wie konnte es zugehen, daß die beiden Hengste aneinander gerieten?“
„Man hatte schlecht aufgepaßt, weißt du, und da kamen sie zusammen.“
„Das war ein schwerer Verlust für den Besitzer?“
„Ach, er war für 2000 Kronen versichert; aber du weißt, das ist kein Preis für so ein gutes Pferd. Aber die Besitzer waren Halstein Sjölie, Simen Landet und andere Große, und für diese Reichen wollen einige tausend Kronen nicht viel sagen.“
Wir mußten weiter und verabschiedeten uns.
„Guten Tag,“ sagte er und zog weiter bergab.
Als wir hoch genug gekommen waren, ließen wir die Räder stehen und gingen zum Fluß hinunter. Es war gegen Nachmittag und Zeit, etwas zu genießen.
Wir schlugen den Weg zu einer Holzhütte ein, um dort, vor Mücken geschützt, unsern Proviant zu verzehren. Eine Flasche [S. 200] Bier legten wir zum Kühlen in den Bach, während wir in die Hütte gingen.
Der Schneider ging voraus. Als er aber in die Türöffnung trat, hörte ich ein fürchterliches Flattern. In der Hütte war ein Birkhahn. Vor Schreck flog er erst in die eine Ecke und dann in die andere; im Dach war ein Loch, durch das er hinaussauste. Dann fiel er draußen auf dem Boden ein. Dort blieb er eine Weile und bedachte sich, dann strich er durch den Wald ab.
Auer- und Birkhähne findet man oft in solchen Holzhütten. Neulich hatte ein Junge einen Auerhahn in einer Hütte erschlagen, was freilich ungesetzlich war.
Wir blieben nicht lange in der Hütte; es gab drin gar zu viele Mücken und Bremsen, da war es draußen doch besser. Freilich war es auch da schlimm, aber zuweilen kam doch ein Windstoß, der Erleichterung brachte.
Ein sicheres Mittel gegen Mücken hatte ich freilich auch mit, Zitronellaöl, das die Engländer in den Tropen gegen Insekten verwenden sollen. Ich hatte gerade eine Flasche von Christiansen von Elverum bekommen, der am Storsjö angelte; er kannte das Öl von Malakka her, wo er Gummiplantagen besitzt.
Gewiß, das Öl war gut. Ein oder zwei Stunden lang kam einem keine Mücke zu nahe, wenn man sich ordentlich eingeschmiert hatte. Aber wir mußten mit dem Vorrat sparen, bis wir zur Mistra kamen, wo das ernstere Geschäft, das Angeln, vor sich gehen sollte. Wir wußten ja auch, daß am Abend die Mückenplage noch schlimmer wird.
Das Essen schmeckte jetzt, aber noch mehr das Bier, das in [S. 201] dem Bach schön kalt wurde. Wir beschlossen, auch gleich die zweite Flasche zu leeren; es gab kein Widerstreben. Abends konnten wir dann den Kaffee trinken. Die Sonne brannte heiß, der Himmel war wolkenlos, es hatte also keine Eile, an den Fluß zu kommen und mit dem Angeln zu beginnen.
Wir wateten durch den Renfluß und kamen zu der Fischgumpe in der Mistra. Wir beide verwandten Wurfköder, aber ohne Erfolg. Es war zu klares Wetter, vielleicht wurde es gegen Abend besser.
Wir gingen flußabwärts.
Ich kam an eine große tiefe Gumpe unter einer jähen Bergwand, wo man im Schatten stand. Hier mochten wohl große Fische stehen. Ich warf den Köder nach der andern Seite hinüber und ließ ihn treiben, während ich ihn hereinzog; er kam gerade dahin, wo ich ihn haben wollte.
Aber dort am Rand der Strömung? Ein schwerer Platsch, ein gelbes Aufblinken, ein runder dunkler Rücken, ein breiter Schwanz schlug aus dem Wasser auf. Es zog an, die Schnur lief vom Roller, und die Angelrute stand rund wie ein Rad. Ich stemmte mich dagegen, soweit es irgend anging. Es kam darauf an, den Fisch in der Gumpe zu behalten. Kam er erst in die Stromschnelle hinab, dann war es ungewiß, ob ich mit ihm fertig werden könnte, denn die Bergwand fiel senkrecht ab, und der Fluß war tief und reißend, so daß es nicht leicht war zu folgen.
Am Rand der Stromschnelle kam es zum Kampf. Ich wußte, das einfache Vorfach, wenn es auch dünn war, war gut, und [S. 202] die Schnur hielt wohl, und eine geschlissene Bambusrute ist nicht leicht zu brechen. Das Ende vom Liede war, daß ich den Fisch wieder in die Gumpe hineinbekam; dort ging es blitzschnell im Kreise herum.
Während ich mit diesem Tanz beschäftigt war, sah ich den Schneider auf der Bergwand über mir. Er kletterte herunter, um mir zu helfen.
Bald wurde die Forelle schwächer, und endlich zeigte sie den Bauch. Ich zog sie direkt in den Kescher des Schneiders hinein. Sie kam ans Land; groß und blank lag sie im Sand zwischen den Steinen, wand sich und schlug. Sie war nahezu drei Kilo schwer.
„Das verdiente einen Trunk,“ meinte der Schneider, aber den Trunk hatten wir nicht.
Wir gingen weiter abwärts, hatten aber weiter keinen Erfolg, weder der Schneider noch ich. Wenn auch ihm nichts gelang, so war es gewiß nicht deswegen, weil wir schlechte Fischer waren.
Inzwischen war es Nacht geworden; da war nichts weiter zu tun, als zu Abend zu essen, und der warme Kaffee aus des Schneiders Thermosflasche schmeckte gut, besonders da wir uns tüchtig mit dem Zitronellaöl eingeschmiert hatten, so daß wir vor den Mücken Ruhe hatten.
Dann kletterten wir aus der Schlucht wieder hinauf, kamen auf die Straße und fuhren durch die Sommernacht auf unsern Rädern nach Hause. Wir konnten die Räder meistens einfach frei laufen lassen.
Wir machten noch einen Versuch in den Fischgumpen unter [S. 203] halb der Brücke bei Misteregga. Aber auch dort hatten wir keinen Erfolg, und so radelten wir denn weiter abwärts.
Recht wehmütig nahm ich vom Schneider am Zaune seines gemütlichen kleinen Anwesens auf der Landzunge Abschied. Ich bin sicher, daß wir beide aus aufrichtigem Herzen „Auf Wiedersehen“ sagten.
Åsheim , 19. Juli.
Mit zwei Damen fuhr ich nach dem Lövfjord, um Hechte zu fischen. Beim Schuhmacher am Südende des Fjords sollten wir ein Boot bekommen. Als wir kamen, war er nicht zu Hause, aber Kinder waren genug da. Sie hatten gerade junge Rotaugen als Köder für uns gefangen, und einer der Söhne konnte uns rudern.
Der Schuhmacher hatte sechzehn Kinder, die alle am Leben waren. Bevor wir ruderten, kam er selber.
„Ja,“ sagte er, „es kann wohl sein, daß es heute Hechte zu fangen gibt. Im übrigen aber ist es wunderlich mit dem Hecht. Er beißt nur bei abnehmendem Mond an, und dann die ersten Tage des Neumond.“
Dann müßten wir ja Aussicht haben, meinte ich, es sei heute das letzte Mondviertel.
Ja, erwiderte er, das sei wohl möglich. „Aber das Angeln taugt nichts zwischen Neumond und abnehmendem Mond, denn da gehen dem Hecht die Zähne ins Zahnfleisch und verschwinden ganz. Nur bei abnehmendem Mond und bei Neumond kommen die Zähne wieder hervor, und dann beißt er an, wie man sich leicht vorstellen kann.“
Im übrigen, meinte der Schuhmacher, gebe es im See große Hechte; vielleicht könnten wir einen von den größten erwischen. Aber mit den Geräten, die wir hätten, sei er nicht leicht ans Land zu bringen. „Denn er ist schlau!“
Ich mußte diesem Mann, der so viele prächtige Kinder hatte, einige anerkennende Worte sagen. Die wir sahen, waren wirklich schön, und frisch sahen sie auch aus.
„Es tut not, daß die Leute hier im Tal viele Stiefeln zerreißen, wenn du so viele Kinder zu ernähren hast.“
„Ach,“ sagte er, „mit dem Auskommen würde es hapern, wenn man bloß von der Schuhmacherei leben sollte; da könnte man Hungers sterben. Man kann nur in den freien Stunden Schuhmacher sein, im übrigen müssen wir vom Walde leben.“
Dann stiegen wir ins Boot und fuhren zum See hinauf. Ein achtzehnjähriger Sohn des Schuhmachers ruderte. Wir hatten aber scharfen Gegenwind, deshalb ging es sehr langsam vorwärts, und wir fingen nichts. Erst als wir am oberen Ende des Fjords den Wind in den Rücken bekamen, ging es schneller, und sofort biß auch ein Fisch bei einer der Damen an. Nach einer Weile brachten wir ihn ans Boot heran und nahmen ihn mit dem Kescher herein. Es war ein Hecht von etwa zwei Kilo.
Da der Wind zu stark war, wollten wir nicht unter der Brücke in den Lomnessee hineinrudern. Wir hielten sonnige Mittagsrast auf einem grasigen Hügel und fuhren dann wieder in den Lövfjord hinaus, den Wind im Rücken; das Boot hatte genügende Geschwindigkeit.
Nicht lange dauerte es, da biß ein Fisch von etwa zwei Kilo [S. 205] an, den wir auch ins Boot bekamen. Einige kleinere Hechte fingen wir ebenfalls. Dann aber kam eine lange Strecke ohne Erfolg, und wir gelangten bis ans Südende. Da wollten wir denn wieder ein Stück aufwärts, um zu sehen, ob es dort nicht besser gehen würde, und fuhren querüber, um am andern Ufer entlang zu rudern.
Mitten im Fjord sagte Frau S.:
„Da schnappt etwas, aber ich bin gewiß auf Grund geraten.“
Ich nahm die Angelrute, es schien wahrhaftig so zu sein, aber im selben Augenblick sauste die Schnur vom Roller. Da war nicht der Grund gefaßt, nein, die kleine Bambusrute stand krumm wie eine Peitsche. Ich bremste aus Leibeskräften, mußte aber den Fisch gehen lassen und die Schnur immer länger und länger geben. Es war ihm nicht zu widerstehen. Ich zog ein, sobald es sich tun ließ, dann zog der Fisch aber wieder hinaus, so stark, daß der Roller pfiff. Wahrhaftig, es mußte ein großer Fisch sein.
Der Bursche fragte, ob er nicht ans Land rudern solle; da müßte der Fisch doch leichter hereinzubekommen sein; die Schnur werde jetzt so lang.
„Bist du verrückt? Halte dich in der Mitte des Fjords und über der tiefsten Stelle. Laß mich nur nicht auf den Grund kommen; denn dann können wir dem Fisch gleich Lebewohl sagen. Rudere aufwärts, soviel du kannst, damit wir nicht in den Strom hineintreiben.“
Wir waren in die Nähe des Ausflusses gekommen und spürten die Strömung.
Nach einer Weile wurde der Fisch schwächer, und ich konnte [S. 206] die Schnur etwas einziehen; aber bald zog er wieder weiter weg, er hatte also noch Kraft genug. Dann ging er in die Tiefe. Ich stemmte mich dagegen, soviel es anging; die Schnur und das einfache Vorfach wurden sehr angespannt. Hierauf zog ich wieder ein. Die Geschichte wiederholte sich in einem fort.
Endlich kam er näher, quer vors Boot. Wir sahen ihn in seiner ganzen Länge; er war wirklich groß. Dann schwamm er noch mehrmals weg und wurde wieder hereingeholt; er kam schließlich ganz unter das Boot, und wir mußten rasch wenden, um von ihm loszukommen.
Endlich ergab er sich einigermaßen und fing an, den Bauch zu zeigen; aber wir hatten keinen Landungshaken, und der Kescher war viel zu klein, um ihn hereinzuholen. Der Bursche versuchte es, er hielt den Kescher unter den Schwanz. Als er ihn aber hob, glitt der Fisch heraus und fuhr in die Tiefe. Ich bekam ihn wieder herauf, ein neuer Versuch wurde mit dem Kescher unternommen. Viermal passierte die gleiche Geschichte.
Dann bekam ich den Hecht wieder an die Bootseite. Noch einmal hält der Bursche den Kescher unter den Schwanz, während ich den Kopf mit der Schnur an dem Bootrand heraufziehe. Dann hopp, wir heben und wälzen ihn herein, und da liegt der Fisch auf dem Boden des Bootes. Die Freude war groß; wahrhaftig ein starker Fisch, er mochte etwa achteinhalb Kilo haben.
Ein unheimlicher Anblick war es, wie er da im Boote lag und den Rachen aufsperrte. Ja, dieser Hecht ist eine Großmacht, die personifizierte Machtgier. Sieh nur den großen Rachen mit den häßlichen Zähnen!
Er darf alles tun, wozu er Lust hat; er verschlingt alles, was er erreicht, und lebt gut auf Kosten anderer. Trotzdem aber wird er eines Tags in solch feinen schwachen Dingen gefangen, weil er sich verrechnete, als er auf ein armseliges kleines Rotauge losgehen wollte......
Wir fuhren wieder den Lövfjord hinauf und fingen noch einige kleinere Fische. Dann war es Schluß, und wir ruderten zum Schuhmacher und seinen vielen Kindern zurück.
„Ja,“ meinte er, „das war ein guter Fang, aber es ist ja auch bald abnehmender Mond, und drum ist es nicht weiter verwunderlich.“
21. Juli.
Die Reise ging weiter ostwärts vom Storsjö längs der Mistraschlucht hinauf über das Gebirge und hinunter zum Klarafluß.
Im Norden lagen hoch über der Bergweite die Sölenberge mit dem tiefen engen Sölenpaß. Durch ihn nahmen vor Jahrhunderten die Pilger ihren Weg auf ihrer langen Wanderung nordwärts zum Schrein des heiligen Olav in Drontheim, wo sie für Leib und Seele Genesung suchten und auch oft fanden.
Ach, wenn man ein solches Wunderheilmittel für das hoffnungslos kranke Menschengeschlecht finden könnte, das jetzt aus eigener Schuld leidet, ohne dem Halt gebieten zu können.
Die Zeiten ändern sich, die Menschen ändern sich, aber die Natur — die große einfache — bleibt unveränderlich......
Viksalm , 24. Juli.
Die Sonne stand schon über dem Waldrand im Osten und [S. 208] flutete gerade ins Zimmer herein, als ich die Tür öffnete, um im Klarafluß ein Morgenbad zu nehmen.
Welch wundervoll friedlicher Fleck auf dieser lärmenden Erde! Still und ruhig liegen die Sennhütten auf der Wiesenfläche mitten in dem großen Wald. Ein betauter Blumenteppich reicht die Wiese bis zum Flußrand hinab. Draußen glitzert der Klarafluß wie ein breites Silberband; auf der andern Seite steht der dunkle Wald in kühlem Schatten.
Man scheut sich, den Fuß auf diese morgenfrische Reinheit zu setzen und den Tau von diesen zarten Blumenknospen zu treten. Man bleibt stehen, weitet die Brust, saugt diesen Frieden ein und läßt sich die Sonne ins Herz scheinen.
Aber dieser unermüdliche Fluß eilt ohne Rast und ohne Ruh weiter über Rollsteine; seine Schaumkämme und Wirbel wechseln ununterbrochen und doch bleiben sie immer dieselben.
Weshalb solche Hast, gerade hier? Nimm dir doch lieber etwas Zeit, du starker Fluß!
Aber wer kann das in seiner Manneskraft? Du hast es nur eilig, um rasch durch dieses Land zu kommen, nach Schweden hinein.
Ist das ein wunderlicher Fluß! Alle großen Flüsse sonst haben sich im Laufe der Zeiten tiefe Täler gegraben. Der Klarafluß aber hat seinen Lauf geändert. In alten Zeiten floß er vom Fämundsee über den Drevsee geradewegs nach Schweden hinein, dann aber hat er seinen Sinn geändert und seinen Lauf [S. 209] über das graue, mit Renntiermoos bewachsene flache weite Gebirgsland mit seinen runden Höhen und Senken genommen.
Aus dem Fämundsee fließt die Glöta durch unwegsame Moränen aus großen Steinen in den Istersee und dann in den Galten. Daraus geht der Klarafluß hervor. Durch flaches Waldland, endlose Kiefernwälder — mit hohen, moosbewachsenen Bergen dazwischen — fließt er zumeist in allmählich fallenden Stromschnellen und stilleren Strecken, seltener in größeren Wasserfällen mit anschließenden tiefen, schwarzen Gumpen für die großen Fische.
Weiter draußen hat er eine größere Talentwicklung gefunden, erst das Elvtal und dann Trysil. Aber auch dieses ist nicht tief und eng und es ist ohne hohe Berge. Der höchste ist der Trysilberg.
So gleitet der Klarafluß hinein nach Schweden. Nicht alles was von Norwegen kommt, ist wohl alle Zeit so willkommen gewesen wie diese strömenden Wassermassen und ihre Tausende und Abertausende von Holzstämmen. Es ist ja dieses norwegische Wasser, das den größten See Schwedens, den Wenersee, mit bilden hilft, Schwedens größten Wasserfall und die größte Kraftstation, den Trollhätta, und dieses Bauholz!....
Herrgott, wenn wir zwei kleinen Völker doch immer einsehen könnten, um wieviel weiter wir kommen, wenn wir jederzeit bereit sind, Kraft voneinander zu empfangen! —
Wie herrlich erfrischt es, in diesem Flusse auf dem hellen Grund zu sitzen und die kühlen Wellen die Brust umrauschen zu lassen, während die Sonne ins Wasser scheint und unten mit den Füßen spielt. Man vernimmt das Jubeln des Pans in den stillen Wäldern.
Ich wollte zur Mißjöhöhe nördlich von den Sölenbergen hinüber; aber es war zu heiß, um am Tage zu gehen. Ich wartete lieber bis zum Abend und genoß inzwischen auf dieser Almwiese die Sonne und den Frieden und träumte den Traum des Waldes.
Große Pläne hatte man gehabt. Ich sollte jetzt eigentlich weit weg sein, unter der Tropensonne im Urwald, im Unbekannten, und war dann vom Krieg verhindert worden.
Weshalb aber so weit weg? Hier ist Sonne genug und blauer Himmel, und ewig jung ist die Natur, ewig neu — wahrhaftig genug zu entdecken — und dazu des Waldes große Einsamkeit und Schwermut.....
Im übrigen aber ist gerade hier der Wald jetzt nicht so dicht. Die Menschen sind schlimm mit ihm umgegangen. Sie haben diese weiten Kiefernheiden gelichtet, und es stehen keine großen Stämme mehr. Aber so ist es ja fast überall. Wo sind Norwegens Wälder, die einst Schutz gewährten?
Und trotzdem ist es doch der Wald, aus dem wir gekommen sind. Ostwärts, immer weiter nach Osten erstreckt er sich. Unter seiner ununterbrochenen Decke kannst du Monat für Monat wandern, Jahr für Jahr, durch Schweden, Finnland, durch Rußland, über den Ural, durch Sibirien, durch das Amurland, über Berge und Täler und endlose Waldebenen bis an den Stillen Ozean.
Da sind wir, da bleiben wir wir selbst. Und will sich einer ein Zukunftsheim erträumen, das er nie fand, dann ist es im Wald, das Waldesrauschen von Jahrtausenden über dem Hüttendach, Tautropfen im Farnkraut vor der Tür am Morgen, einen [S. 211] murmelnden Waldbach und kühle kleine Gumpen über weißen rundgeschliffenen Steinen zwischen dem Moos, und dann ein blanker See in der Stille des Waldes, wo der Fisch abends plätschert und große Kreise stößt.
Wie dieses Leben die Menschen gesund und schön macht! Betrachte sie nur alle, denen wir hier begegnen. Diese Bergljot hier auf der Alm, hast du solch eine Königin je gesehen? So selten schön das Antlitz, diese Augen, dieses Lächeln, gütig und zart und doch vertrauensvoll und selbstsicher. Und dann dieser Körper, so wohlgebaut, so fest und kräftig, und diese Haltung, dieser freie leichte Gang.
Nein wahrhaftig, die Menschen waren nicht geschaffen, in Städten zu wohnen! Hier entfalten sie sich. Schicke sie in die Städte, und du findest wieder bleiche verwaschene Gesichter, hängende schlenkernde Körper, müden schleppenden Gang, falschen Staat und falsche Gefühle.
Daß sie hier oben so aussehen müssen, das verstehe ich; aber nicht verstehe ich, daß Bergljot noch nicht verheiratet ist und keine Kinder hat. Aber danach wagte ich sie nicht zu fragen.
Oberes Rental , 25. Juli.
Am Abend, als es kühler geworden war, zog ich weiter. Ich stieg den Waldhang nach Aursjövola hinauf, dann im kahlen Gebirge nach Nordwesten. Dort war es leichter zu gehen, und es war auch mehr Hoffnung auf einen Luftzug, der die Mücken und Bremsen etwas fernhalten konnte.
Aber oben unter dem Sölen war es auch auf den kahlen [S. 212] Bergflächen schwer vorwärts zu kommen. Eine Moräne nach der andern kam, mit großen Steinen auf allen Seiten. Kämme, Rücken und Löcher, mit engen, tiefen, von Gletscherflüssen geschnittenen Rinnen durch die Moränen, als ob das Eis sie gestern verlassen hätte. Nur daß das Renntiermoos jetzt alles überwachsen hatte, und es war schwer, durch das tiefe Moos zwischen all diesen großen Steinen vorwärts zu stampfen.
So weit weg von den Menschen!
Aber auch bis hierher verfolgt einen der Lärm des Unwetters von dort draußen. Europa verblutet sich.....
Eine Kraftprobe, sagen sie. Kraft worin? In Machtgier? In Vorbereitungen, die andern niederzuschlagen und die Macht im günstigsten Zeitpunkt an sich zu reißen?..... Ist das die Kraftprobe?
Sind das die Eigenschaften, die die Zukunft aufbauen sollen?
Inzwischen verströmt Europas edelstes Blut. Wer bleibt übrig? Wie soll die Rasse werden, wenn gerade die tüchtigsten, die mutigsten Männer ausgerottet werden?
Und das Leiden, das große heilige Leiden der Völker..... wird es von Kräften verschuldet, die wir nicht meistern können, gleich denen, die diese Moränen aufgebaut haben? Nein, die Menschen selbst verschulden es ! Wehe uns!.....
Aber welche Nacht! Dort unten der Wald mit den Mooren auf den Flächen bis hinab zum großen Sölensee, der sich weit nach Nordwesten erstreckt, mit waldigen Vorsprüngen, mit baumbestandenen Inseln gleich spähenden Kriegsschiffen — das er [S. 213] innert unheimlich an die, die draußen in der Nordsee auf der Lauer liegen, um einander zu vernichten.
Die Wälder erstrecken sich weit hinaus, Rücken hinter Rücken, glitzernde Seen dazwischen. Jenseits der inselüberstreuten Fläche des Sölensees kommt der Galtensee, weiter draußen der Istersee und am fernsten, zwischen blauen Bergrücken, die Lücke des Fämundsees, der selbst nicht zu sehen ist. Über dem Steinrücken, auf dem ich stehe, erhebt sich das Gebirge bis zu den Sölenbergen mit Schluchten, Talkesseln und Schneefeldern.
Aber jenseits des Sölensees und der Waldflächen fern im Norden verschwimmen hohe Berge: Gloföiken, Elgepiggen, Gråhögda, in blauem Dunst unter dem Traum des Nachthimmels.
Wie die Bergweiten wogen! Sie steigen und sinken und steigen wieder immer höher hinauf — das ist Musik. Unwillkürlich erklingt im Herzen das Preislied.....
Das Preislied? Ist es denn möglich? Kann eine Kultur, die eine Welt geschaffen hat, so erhaben, so schön wie die Musik, eine Kultur, die im Preislied immer höher steigt, bis sie in strahlenden Schönheitsjubel ausbricht — kann diese Kultur dieselbe sein, die diese brutale Machtgier entfaltet, dieses Jagen nach äußerem Glanz?
Nein, und abermals nein! Das ist nicht die Kultur, das sind die alten Instinkte des wilden Tiers, die die Massen irregeführt und die sie durch die Macht der Suggestion auf Abwege mitgerissen haben. Sie haben Telegraph, Telephon, Presse in ihrem Dienst, um ihr Gift mit der Geschwindigkeit der Elektrizität zu verbreiten. Und der Haufe, der bei der [S. 214] zunehmenden Hast der Gegenwart die eigene Meinung und Urteilskraft verliert, unterliegt ihnen sofort.
Eine Wiedergeburt muß kommen — eine neue Zeit mit neuen Idealen, in der die geistigen Werte wieder das Ziel bilden und die materiellen nur Mittel werden — in der der Mob und die Mittelmäßigkeit nicht länger die Welt regieren, sondern die großen Geister die Menschen auf größere Höhen mit weitem Ausblick führen — in der jede geistige Entdeckung, jeder Sieg in der Welt des Geistes mit derselben Begeisterung begrüßt wird wie jetzt die materiellen Siege — in der die Menschen für ein größeres, schöneres, einfacheres Leben leben!
Aber die Hetzjagd des Alltags dort unten in den Städten, unter dem Alpdruck des Geldes, verflacht die Menschen. Aus der Wüste, aus der Einsamkeit, aus der einfachen Tiefe der Natur sind zu allen Zeiten die neuen Männer gekommen.
Welch starker Ernst in einer solchen Nacht! Es ist, als höre man das erhabene Lied des Weltraums selbst — so hoch, so weit, so ätherisch rein — so wunderbar frei für Herz und Sinn.....
Aus dieser Welt müssen die Männer der neuen Zeit geboren werden, mit den großen einfachen Linien — aus einem Guß — ohne die Zweideutigkeit der doppelten Moral.....
Aus dieser nachtstillen Größe müssen die Gedanken sprießen, die dem kommenden Geschlecht Gesundung bringen können.
Werke von Fridtjof Nansen
im gleichen Verlag erschienen.
In Nacht und Eis.
Die Norwegische Polarexpedition 1893–96. Reich illustriert mit einfarb. u. bunt. Abbild. u. Karten. 2 Bde. Neue Aufl. in Vorbereitung.
Das einzige Werk, in welchem Nansen selbst über die kühnste aller Polarfahrten berichtet. Was in den beiden stattlichen Bänden enthalten ist, klingt an die alten Sagen an, die uns von der urwüchsigen Kraft und dem Wagemut germanischer Helden Kunde geben. Nansens Schilderungen bieten in ihrer schlichten, ungekünstelten Darstellung ein großartiges Bild des abenteuerlichen Lebens einer Handvoll mutiger Männer in den Eiswüsten des Nordpols. Ein reich illustrierter dritter Band, gebunden 25 M., verfaßt von zweien seiner Begleiter, schildert das Leben an Bord der „Fram“ nach Nansens Abschied und die tollkühne Schlittenreise des berühmten Forschers.
Nebelheim.
Entdeckung und Erforschung der nördlichen Länder und Meere. Reich illustr. mit einfarbigen u. bunten Abbild. 2 Bde. Geb. 50 M.
Auch auf dem neuen Gebiet ein Entdecker! Haben ihn Eisberge und Nebel seinerzeit gereizt, Gesundheit und Leben einzusetzen, so reizten ihn diesmal die geistigen Nebel, die von Anbeginn der Menschheit bis zum Zeitalter der Renaissance über Deutschland und Norwegen, über der Geschichte aller Länder Nordeuropas lagen. Eine südnördliche Durchfahrt durch alle Wirrnisse dreitausendjähriger Geschichtschreibung, von den Zeiten Homers bis zur völligen Aufklärung im 16. Jahrhundert, ist ihm gelungen! Nicht nur der historische Geograph, sondern jeder Gebildete, der für die altgermanische Welt des Nordens Interesse hat, wird das Buch gern und oft lesen, das Ganze ist durchweht von dem Geist jener alten Wikingerrecken, die auf ihren schlanken Booten hinaussteuerten ins dunkle, geheimnisvolle Nordmeer, um Neuland zu suchen...
Sibirien, ein Zukunftsland.
Reich illustriert mit einfarbigen Abbildungen u. Karten. Geb. 25 M.
Ein neuer Seeweg nach Sibirien — die wirtschaftliche Erschließung dieses ungeheuer reichen Landes und die gelbe Gefahr sind die Probleme, die in dem Werke mit besonderer Ausführlichkeit und Sachkenntnis behandelt werden. Auch dieses Werk besitzt alle Vorzüge der meisterhaften Schilderung, die den großen Forscher auszeichnet. Unterstützt durch die trefflichen Photographien entrollt sich ein lebendiges Bild des „Landes der Zukunft“.
Druck von F. A. Brockhaus, Leipzig.