Title : Der kleine Dämon
Author : Fyodor Sologub
Translator : Reinhold von Walter
Release date : August 22, 2018 [eBook #57741]
Language : German
Credits
: Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Fjodor Ssologub
Der
kleine Dämon
Roman
von
Fjodor Ssologub
Autorisierte Uebertragung aus dem Russischen
von
Reinhold von Walter
.
Dritte Auflage.
München und Leipzig
bei Georg Müller
1909
Der Festgottesdienst am Nachmittage war aus und die Kirchenbesucher gingen auseinander. Innerhalb der steinernen, weißgetünchten Umfriedung standen noch einige Leute unter den alten Linden und Ahornbäumen und plauderten. Sie hatten Sonntagskleider an und blickten froh aus den Augen. Es hatte den Anschein, als wäre das Leben in dieser Stadt ein friedliches und freundliches, — ja sogar ein fröhliches. Aber das schien alles nur so.
Bei seinen Freunden stand der Gymnasiallehrer Peredonoff. Seine kleinen, verquollenen Augen schielten verdrießlich durch die goldene Brille, und er sagte:
„Sie selbst, die Fürstin Woltschanskaja, hat es der Warja versprochen; das stimmt jedenfalls. Heiraten Sie ihn nur, hat sie gesagt, dann werde ich ihm eine Inspektorstelle verschaffen.“
„Wie kannst du denn Warwara Dmitriewna heiraten?“ fragte Falastoff; er hatte ein rotes Gesicht, „sie ist doch verwandt mit dir! Gibt es so ein neues Gesetz, daß Verwandte [1] heiraten dürfen?“
Alle lachten. Das frische, für gewöhnlich gleichmäßig schläfrige Gesicht Peredonoffs wurde böse.
„Kusine im dritten Grade,“ fuhr er auf und stierte wütend an seinen Freunden vorbei.
„Hat es die Fürstin dir persönlich versprochen?“ fragte Rutiloff. Er war groß, blaß und stutzerhaft gekleidet.
„Mir nicht, aber Warja,“ antwortete Peredonoff.
„Sieh mal an, und das glaubst du?“ sagte Rutiloff lebhaft. „Sagen kann man alles. Und warum bist du nicht bei der Fürstin gewesen?“
„Begreife doch, ich ging zusammen mit Warja hin, sie war aber nicht zu Hause, nur um fünf Minuten kamen wir zu spät,“ erzählte Peredonoff, „aufs Land war sie gefahren und kommt erst nach drei Wochen zurück; ich konnte ganz unmöglich so lange warten, mußte hierher zurück wegen der Prüfungen.“
„Verdächtig ist es doch,“ sagte Rutiloff und lachte; dabei sah man seine angefaulten Zähne.
Peredonoff wurde nachdenklich. Die übrigen verabschiedeten sich, nur Rutiloff blieb bei ihm stehn.
„Das ist selbstverständlich,“ sagte Peredonoff, „jede könnte ich heiraten, wenn ich nur wollte. Warwara ist nicht die einzige.“
„Natürlich, Ardalljon Borisowitsch, jede würde Sie nehmen,“ bestätigte Rutiloff.
Sie traten aus der Umfriedung heraus und gingen langsam über den staubigen, ungepflasterten Platz.
Peredonoff sagte:
„Was nur die Fürstin sagen wird; sie wird sich ärgern, wenn ich Warwara den Laufpaß gebe.“
„Ach was, die Fürstin,“ sagte Rutiloff, „was hast du mit der zu schaffen! Vor allem soll sie dir die Stelle besorgen, nachher kannst du dich immer noch herauslügen. Wie stellst du dir das eigentlich vor, so einfach ins Blaue herein, ohne jede Sicherheit!“
„Das ist richtig,“ gab Peredonoff nachdenklich zu.
„So sag es auch der Warja,“ beredete Rutiloff, „in erster Linie die Stelle; weiß Gott, großes Vertrauen habe ich nicht zu der Sache. Hast du aber die Stelle, dann heirate doch wen du willst. Nimm doch eine von meinen Schwestern; drei sind da, wähle ganz nach Belieben. Es sind gebildete, kluge Mädchen; ohne zu prahlen, aber so wie Warwara sind sie nicht. Die reicht ihnen nicht das Wasser!“
„So,“ brummte Peredonoff.
„Freilich. Was ist an deiner Warwara? Hier, riech mal.“
Rutiloff bückte sich, pflückte ein behaartes Bilsenkraut, zerquetschte die Blätter und die schmutzigweißen Blüten in seiner Hand, zerrieb alles und hielt diesen Brei Peredonoff vor die Nase. Der schnitt eine Grimasse, so unangenehm schwer war der Geruch. Rutiloff sagte:
„Zum Zerquetschen und zum Fortwerfen, das ist die ganze Warwara. Sie — und meine Schwestern! Lieber Freund, das ist ein gewaltiger Unterschied. Fesche Mädels durch und durch, — gleichviel welche von den dreien, schlafen wird dich keine lassen. Dabei jung, sogar die älteste ist dreimal jünger als deine Warwara.“
Das alles sagte Rutiloff, seiner Art nach, schnell und fröhlich, lächelnd; — er machte einen schwindsüchtigen Eindruck: so hochaufgeschossen, schmalbrüstig, zerbrechlich, wie er war und unter seinem neumodischen Hute starrte fast traurig dünnes, kurzgeschorenes Blondhaar hervor.
„Ach geh doch, dreimal jünger ...“ sagte Peredonoff teilnahmlos. Er nahm seine goldene Brille ab und wischte an den Gläsern.
„Freilich ist es so,“ sagte Rutiloff lebhaft. „Sieh nur zu und schlaf nicht, solange ich noch lebe, sonst — du weißt, sie haben auch ihre Ehre, — dann wirst du später wollen, nur zu spät. Allerdings weiß ich, daß jede von ihnen dich mit größtem Vergnügen heiraten würde.“
„Ja, hier verlieben sich alle in mich,“ prahlte Peredonoff.
„Nun sieh mal, ergreife den Augenblick,“ überredete Rutiloff.
„Mir kommt es vor allem auf eines an: sie darf nicht mager sein,“ sagte Peredonoff mit einem leisen Ton von Schwermut, „ich möchte eine dickere.“
„Da kannst du ruhig sein,“ sagte Rutiloff eifrig. „Sie sind schon jetzt ziemlich rundlich. Haben sie noch nicht den nötigen Umfang, so ist das gewiß nur zeitweilig. Wenn sie heiraten, gehen sie alle in die Breite. Zum Beispiel die älteste: Larissa, du weißt ja, sie ist dick wie ein gemästeter Karpfen.“
„Ich würde ja heiraten,“ sagte Peredonoff, „ich bin nur bange vor dem großen Skandal, den Warja inszenieren könnte.“
„Du fürchtest einen Skandal? Dann mach es so,“ und Rutiloff lächelte listig, „heirate gleich, heute noch, oder morgen: dann kommst du nach Hause mit deiner jungen Frau, — es ist so einfach. Nein — wirklich, — willst du, ich werde alles Nötige besorgen, zu morgen Abend, meinetwegen? Welche willst du haben?“
Peredonoff lachte auf einmal aus vollem Halse, abgerissen und laut.
„Na, paßt es dir, — bist du einverstanden — ja?“ fragte Rutiloff.
Ebenso plötzlich hörte Peredonoff zu lachen auf und sagte finster, leise, fast flüsternd:
„Die Kanaille wird mich angeben.“
„Sie wird dich nicht angeben, da ist ja nichts zum Angeben,“ beteuerte Rutiloff.
„Oder vergiften,“ flüsterte voller Angst Peredonoff.
„Ich sag dir doch, verlaß dich auf mich,“ beredete Rutiloff, „ich werde dir alles tadellos einrichten.“
„Ohne Mitgift werde ich doch nicht heiraten,“ schrie Peredonoff böse.
Rutiloff war nicht erstaunt über den neuen Gedankensprung seines finstren Parten.
Immer gleich eifrig antwortete er:
„Merkwürdiger Mensch; glaubst du denn, daß sie ohne Mitgift sind! Also — ist es abgemacht — ja? Hör — ich werde laufen und alles einrichten. Nur eins, merke wohl: keinem ein Sterbenswörtchen von der Sache! — hörst du — keinem einzigen!“
Er schüttelte Peredonoff die Hand und eilte davon. Peredonoff blickte ihm schweigend nach. Er dachte an die Rutiloffschen Mädchen: so lustig waren sie, so komisch. Ein unkeuscher Gedanke wurde zu einem gemeinen Lächeln auf seinen Lippen, — aber nur für einen Augenblick, dann verschwand es wieder. Eine dunkle Unruhe erfaßte ihn.
Was nur die Fürstin sagen wird, dachte er. Die da haben die Groschen, aber keine Protektion, — heirate ich Warwara, so erhalte ich den Inspektorposten, später wird man mich zum Direktor ernennen. —
Er blickte dem eifrig davoneilenden Rutiloff nach und dachte schadenfroh: Mag er nur laufen! Und dieser Gedanke gab ihm ein welkes und schattenhaftes Vergnügen. Es wurde ihm langweilig, allein zu sein, er drückte den Hut in die Stirn, runzelte die blonden Augenbrauen und ging schnell nach Hause durch öde, ungepflasterte Straßen, auf denen weißblumiges, kriechendes Mastkraut, Kresse und in Schmutz getretenes Gras wucherten.
Jemand rief ihn schnell und leise.
„Ardalljon Borisowitsch, kommen Sie zu uns.“
Peredonoff blickte aus düstern Augen auf und sah böse über das Gitter. Hinter einem Zaun im Garten stand Natalja Afanasjewna Werschina, eine kleine, dürre, dunkelfarbige Person, ganz in Schwarz gekleidet und schwarz waren auch ihre Augen und ihre Brauen. Sie rauchte eine Zigarette aus einem kleinen dunkelfarbigen Weichselrohr und lächelte so leichthin, als wüßte sie um Angelegenheiten, von denen man nicht spricht, über die man aber lächelt. Weniger mit Worten, als mit leichten, schnellen Bewegungen rief sie Peredonoff in ihren Garten; sie öffnete das Pförtchen, trat zur Seite, lächelte bittend, fast vertrauensvoll und bedeutete mit den Händen: Tritt doch ein, was stehst du da.
Und Peredonoff trat ein: er fügte sich ihren magischen, lautlosen Bewegungen. Dann blieb er sofort auf dem Kieswege stehen, auf dem trocknes Reisig umherlag, — und sah nach der Uhr.
„Es ist Frühstückszeit,“ brummte er. Die Uhr gehörte ihm schon lange, aber wie immer in Gegenwart anderer, blickte er voll Wohlgefallen auf den großen, goldenen Doppeldeckel. Es war zwanzig Minuten vor zwölf. Peredonoff entschloß sich, kurze Zeit zu bleiben. Verdrießlich ging er auf den Gartenwegen hinter der Werschina her, vorüber an kahlen Johannisbeersträuchern, an Himbeerbüschen und Stachelbeerstauden. Reifes Obst und späte Blumen ließen den Garten ganz bunt erscheinen. Da waren verschiedene Fruchtbäume, Sträucher und Laub: niedrige weitverzweigte Apfelstämme, rundblättrige Birnbäume, Linden, Kirschen mit ihren glatten, glänzenden Blättern, Pflaumen und Je-länger-je-lieber. In den Hollunderbüschen leuchteten rote Beeren. Am Zaune wucherte dichtgesätes, sibirisches Geranium: ganz kleine blaßrosa Blüten mit purpurfarbenem Geäder. Silberdisteln reckten aus den Büschen ihre dunkelroten, stachligen Köpfchen. Ganz hinten stand ein kleines, graues Holzhaus, ein Einfamilienhaus, mit einem breit in den Garten vorgebauten Flur. Es sah lieb und wohnlich aus. Hinter dem Hause konnte man ein Stückchen vom Gemüsegarten sehen. Da schaukelten vertrocknete Mohnkapseln im Winde, und große, gelblichweiße Maßliebchen; halbwelke Kronen gelber Sonnenblumen nickten leise. Mitten unter Küchenkräutern streckten sich weiße Schierlingsdolden und bleicher, purpurfarbener Storchschnabel. Da blühte blaßgelber Hahnenfuß und niedriger Löwenzahn.
„Waren Sie im Vespergottesdienst,“ fragte die Werschina.
„Ja,“ antwortete Peredonoff ärgerlich.
„Eben kam auch Martha zurück,“ erzählte die Werschina, „sie geht oft in unsere Kirche. Das kommt mir so komisch vor: um wessentwillen gehen Sie eigentlich in unsere Kirche, Martha? fragte ich. Sie wurde rot und schwieg. Kommen Sie, wollen wir uns in die Laube setzen,“ sagte sie schnell und ohne jeden Uebergang.
Im Schatten eines breitastigen Ahornbaumes stand eine ganz alte, graue Laube, — drei Stufen führten hinauf, — es war nur eine bemooste Diele, ein niedriges Geländer und sechs plumpe, geschnitzte Säulen, die das sechsseitig abfallende Dach stützten.
In der Laube saß Martha, noch im Sonntagskleide. Es war hell, mit Bändern verziert und stand ihr nicht. Kurze Aermel ließen ihre eckigen, roten Ellenbogen und die großen, starken Hände frei. Martha war übrigens nicht häßlich. Ihre Sommersprossen verunzierten sie nicht. Sie galt sogar für recht hübsch, besonders unter den Polen, ihren Landsleuten, und Polen gab es nicht wenige in der Stadt.
Martha drehte Zigaretten für die Werschina. Ungeduldig wartete sie darauf, daß Peredonoff sie ansehen würde, und wie er dann entzückt sein würde. Dieser Wunsch war in einer Miene unruhiger Liebenswürdigkeit auf ihrem gutmütigen Gesichte zu lesen. Das hatte seinen einfachen Grund darin, daß Martha in Peredonoff verliebt war. Die Werschina wollte sie an den Mann bringen, denn Marthas Familie war groß. Schon vor einigen Monaten, bald nach dem Begräbnis des altersschwachen Mannes der Werschina, war Martha zu ihr gezogen. Sie wollte sich der Werschina dankbar erweisen für alle erwiesene Freundlichkeit, auch für all das, was für ihren Bruder getan wurde. Er war Gymnasiast und lebte ebenfalls als Gast bei der Werschina.
Die Werschina und Peredonoff kamen in die Laube. Peredonoff grüßte verdrießlich und setzte sich; er suchte sich einen Platz aus, der durch eine der Säulen Schutz vor dem Winde bot, er wollte seine Ohren vor dem Zugwinde schützen. Er blickte auf Marthas gelbe Schuhe, die mit rosa Ponpons verziert waren und dachte dabei, daß man ihn zum Heiraten einfangen wolle. Das dachte er aber immer, wenn er junge Damen sah, die zu ihm liebenswürdig waren. An Martha sah er nur Nachteiliges, — viele Sommersprossen, große Hände, dazu noch die grobe Haut. Er wußte, daß ihr Vater, ein kleiner polnischer Edelmann, sechs Werst vor der Stadt ein Gesinde in Pacht hatte; kleine Einkünfte und viele Kinder; Martha hatte das Progymnasium absolviert, der Sohn besuchte noch das Gymnasium und die übrigen Kinder waren noch jünger.
„Kann ich Ihnen Bier anbieten?“ fragte die Werschina.
Auf dem Tische standen Gläser, zwei Flaschen Bier, Grieszucker in einer Blechdose und daneben lag ein vom Bier benetztes Löffelchen aus Melchiormetall.
„Werde trinken,“ sagte kurz angebunden Peredonoff. Die Werschina blickte auf Martha. Martha füllte ein Glas, rückte es zu Peredonoff und dabei spielte auf ihrem Gesicht ein merkwürdiges Lächeln, halb erschrocken, halb freudig. Die Werschina sagte rasch — so, als hätte sie die Worte ausgestreut:
„Tun Sie Zucker ins Bier?“
Martha reichte Peredonoff die Blechdose mit dem Zucker. Aber Peredonoff sagte ärgerlich:
„Nein, das ist eine Schweinerei, Bier mit Zucker.“
„Nicht doch, es schmeckt sehr gut,“ sprach eintönig und rasch die Werschina.
„Sehr gut schmeckt es,“ sagte Martha.
„Es ist eine Schweinerei“, wiederholte Peredonoff und blickte böse auf den Zucker.
„Wie Sie wollen,“ sagte die Werschina und im selben Tonfall, ohne eine Pause zu machen, ohne jeden Uebergang redete sie von anderen Dingen: „Tscherepin wird langweilig,“ sagte sie und lachte.
Auch Martha lachte, Peredonoff blickte gleichgültig drein: er nahm keinen Anteil an fremden Angelegenheiten, er liebte die Menschen nicht und dachte nie anders an sie, als in Verbindung mit seinem eignen Nutzen. Die Werschina lächelte selbstzufrieden und sagte:
„Er glaubt, ich würde ihn nehmen.“
„Er ist ungeheuer frech,“ sagte Martha, nicht darum, weil sie das dachte, sondern weil sie der Werschina etwas Schmeichelhaftes und Angenehmes sagen wollte.
„Gestern lauerte er am Fenster,“ erzählte die Werschina. „Er hatte sich in den Garten geschlichen, als wir zu Abend speisten. Unter dem Fenster stand eine Wassertonne; wir hatten sie in den Regen gestellt, und sie war voll bis an den Rand. Obendrauf lagen Bretter, so daß man das Wasser nicht sehen konnte. Er kriecht hinauf und guckt durchs Fenster. Bei uns brennt die Lampe, so daß er uns sah, wir ihn aber nicht. Auf einmal hören wir ein Getöse. Ganz erschreckt laufen wir hinaus. Und das war er; direkt ins Wasser gefallen. Aber noch bevor wir hingekommen waren, hatte er, naß wie er war, das Weite gesucht, — und nur auf dem Wege eine feuchte Spur hinterlassen. Und außerdem erkannten wir ihn noch an seinem Rücken.“
Martha lachte fein und fröhlich, so wie ein gut gesittetes Kind lachen muß. Die Werschina hatte alles schnell und eintönig erzählt, als streute sie die Worte, — so pflegte sie immer zu sprechen, — plötzlich schwieg sie still, saß ganz ruhig da und lächelte mit dem einen Mundwinkel, dabei legte sich ihr dürres, dunkles Gesicht in lauter Falten und ihre vom Zigarettenrauchen geschwärzten Zahnreihen waren leicht geöffnet. Peredonoff dachte nach und auf einmal lachte er. Das war immer so. Er verstand einen Witz nie gleich, er war schwerfällig und stumpf für neue Eindrücke.
Die Werschina rauchte eine Zigarette nach der andern. Ohne Zigaretten konnte sie nicht leben.
„Wir werden bald Nachbarn sein,“ erklärte Peredonoff.
Die Werschina warf einen schnellen Blick auf Martha. Diese wurde ein wenig rot, blickte in banger Erwartung auf Peredonoff und sah dann sofort wieder in den Garten.
„Sie ziehen um?“ fragte die Werschina, „warum denn?“
„Ich lebe zu weit vom Gymnasium,“ erklärte Peredonoff.
Die Werschina lächelte ungläubig. Sie dachte nämlich, daß Peredonoff in die Nähe von Martha ziehen wolle.
„Aber Sie leben doch schon seit einigen Jahren in der Wohnung,“ sagte sie.
„Außerdem ist meine Wirtin ein Aas,“ sagte Peredonoff wütend.
„Wirklich?“ fragte die Werschina ungläubig und lächelte schief.
Peredonoff wurde lebendiger.
„Neue Tapeten hat sie angekleistert, ganz gemeine Tapeten,“ berichtete er, „kein Stück paßt zum andern. So ist im Speisezimmer über der Tür ein ganz anderes Muster; — überall im Zimmer sind gewundene Linien und Blumen, über der Tür aber glatte Streifen mit Nelken darauf. Außerdem eine ganz andere Farbe. Wir hatten es zuerst gar nicht bemerkt, da kam eines Tages Falastoff und lacht. Jetzt lachen alle darüber.“
„Das glaub ich, so eine Gemeinheit,“ stimmte die Werschina bei.
„Wir sagen ihr nichts davon, daß wir ausziehen,“ sagte Peredonoff, und ließ dabei seine Stimme sinken. „Sobald wir eine Wohnung finden, ziehen wir um, aber sie darf es nicht wissen.“
„Das ist selbstverständlich,“ sagte die Werschina.
„Sonst macht sie uns einen Skandal,“ sagte Peredonoff, und seine Augen blickten furchtsam. „Da soll man ihr noch für einen Monat den Zins zahlen; für so ein Loch.“
Peredonoff lachte aus vollem Halse vor lauter Freude, daß er ausziehen würde ohne den Zins bezahlt zu haben.
„Sie wird ihn eintreiben lassen,“ bemerkte die Werschina.
„Mag sie, sie bekommt nichts,“ sagte Peredonoff trotzig. „Wir waren nach Petersburg gefahren und während der Zeit stand die Wohnung leer.“
„Ja, aber die Wohnung gehörte doch Ihnen,“ sagte die Werschina.
„Was ist denn dabei. Sie mußte renoviert werden; sind wir denn verpflichtet, für eine Zeit zu zahlen, in der wir die Wohnung gar nicht benutzen konnten? Und dann vor allem, — sie ist unglaublich frech.“
„Na, frech ist Ihre Wirtin darum, weil Ihr ... Schwesterchen ein etwas zu heftiges Temperament hat,“ sagte die Werschina mit einer leichten Betonung auf dem Worte „Schwesterchen“.
Peredonoff runzelte die Stirn und blickte mit halbverschlafenen Augen stumpf vor sich hin. Die Werschina fing von andern Dingen zu reden an. Peredonoff zog aus seiner Tasche ein Bonbon, wickelte es aus der Papierhülle und kaute es. Zufällig blickte er auf Martha und dachte dabei, daß sie ihn beneide, und daß auch sie gern ein Bonbon essen würde.
Soll ich ihr geben oder nicht, dachte Peredonoff, — nein, wozu. Oder soll ich ihr doch geben, sonst denken sie am Ende ich wäre geizig. Sie werden denken: er hat so viele, seine Taschen sind ganz voll.
Und er zog eine Handvoll Bonbons aus der Tasche.
„Da haben Sie,“ sagte er und reichte die Bonbons erst der Werschina, dann Martha, „es sind gute Bonbons, sie sind teuer; dreißig Kopeken habe ich für das Pfund gezahlt.“
Sie nahmen je ein Stück. Er sagte:
„Nehmen Sie doch mehr. Ich habe viele, und die Bonbons sind gut, — etwas Schlechtes werde ich nicht essen.“
„Danke, ich will nicht mehr,“ sagte die Werschina rasch und ohne Ausdruck.
Und dasselbe wiederholte dann Martha, nur ein wenig unsicher. Peredonoff blickte sie mißtrauisch an und sagte:
„Wie? — Sie wollen nicht? Da — nehmen Sie!“
Und von dem ganzen Haufen behielt er ein Bonbon für sich, und legte alle andern vor Martha hin. Martha lächelte schweigend und neigte ihren Kopf.
Unhöfliche Person, dachte Peredonoff, sie versteht nicht einmal zu danken.
Er wußte nicht, was er mit Martha sprechen sollte. Er hatte kein Interesse für sie, ebensowenig wie für einen beliebigen Gegenstand, zu dem er weder ein angenehmes noch ein unangenehmes persönliches Verhältnis hatte.
Der Rest des Bieres wurde in Peredonoffs Glas gegossen. Die Werschina blickte auf Martha.
„Ich werde Bier holen,“ sagte Martha. Sie erriet immer, was die Werschina wollte.
„Schicken Sie doch Wladja, er ist im Garten,“ sagte die Werschina.
„Wladislaus!“ rief Martha.
„Hier,“ antwortete der Knabe, sofort aus nächster Nähe, als hätte er gehorcht.
„Bring zwei Flaschen Bier,“ sagte Martha, „es steht im Flur auf der Truhe.“
Bald kam Wladislaus fast lautlos zur Laube gelaufen, reichte Martha die zwei Flaschen durchs Fenster und machte eine Verbeugung vor Peredonoff.
„Guten Tag,“ sagte Peredonoff rauh, „wieviel Flaschen Bier haben Sie heute ausgepfiffen?“
Wladislaus lachte gezwungen und sagte:
„Ich trinke kein Bier.“
Er war ein Junge von vierzehn Jahren, hatte so wie Martha, Sommersprossen im Gesicht und sah ihr auch sonst ähnlich; er hatte ungewandte, eckige Bewegungen und trug eine Joppe aus grober Leinewand.
Martha flüsterte mit ihrem Bruder. Beide lachten. Peredonoff blickte argwöhnisch nach ihnen. Wenn man in seiner Gegenwart lachte, ohne daß er wußte worüber, so nahm er immer an, daß man sich über ihn lustig mache. Die Werschina wurde unruhig. Schon wollte sie Martha berufen, als Peredonoff gereizt fragte:
„Worüber lachen Sie?“
Martha zuckte zusammen, und wußte nicht, was sie sagen sollte. Wladislaus lächelte, blickte auf Peredonoff und errötete.
„Es ist unhöflich, zu lachen, wenn Gäste dabei sind,“ betonte Peredonoff. „Lachen Sie über mich?“ fragte er.
Martha wurde rot und Wladislaus erschrak.
„Verzeihen Sie,“ sagte Martha, „wir haben gar nicht über Sie gelacht; das waren so unsere Geschichten.“
„Wohl ein Geheimnis?“ sagte Peredonoff aufgebracht. „In Gegenwart von Gästen ist es unhöflich, Geheimnisse zu besprechen.“
„Nicht gerade ein Geheimnis,“ sagte Martha, „wir lachten nur, weil Wladja barfuß ist, und nicht hereinkommen will; er geniert sich.“
Peredonoff beruhigte sich, scherzte mit Wladja und schenkte ihm ein Bonbon.
„Martha, bringen Sie mein schwarzes Tuch,“ sagte die Werschina, „und werfen Sie einen Blick in die Küche, wie es um die Pasteten steht.“
Gehorsam ging Martha hinaus. Sie begriff, daß die Werschina mit Peredonoff reden wollte und war froh, daß sie sich nicht zu beeilen brauchte. Sie war etwas träge.
„Und du gehst etwas weiter,“ sagte die Werschina zu Wladja, „was hast du dich hier herumzutreiben?“
Wladja lief fort, und man hörte, wie der Sand unter seinen Füßen knirschte. Die Werschina blickte vorsichtig und rasch auf Peredonoff. Er saß schweigend da, blickte trübe vor sich hin und kaute an einem Bonbon. Es war ihm angenehm, daß die beiden fortgegangen waren, — sonst hätten sie vielleicht wieder gelacht. Obgleich er bestimmt wußte, daß nicht über ihn gelacht worden war, empfand er doch ein stilles Unbehagen, so wie man noch lange nachher einen unangenehm stechenden Schmerz verspürt, wenn man sich an Nesseln verbrannt hat.
„Warum heiraten Sie nicht?“ fragte die Werschina plötzlich. „Worauf warten Sie noch, Ardalljon Borisowitsch? Verzeihen Sie, wenn ich’s grade heraussage, Warwara paßt nicht zu Ihnen.“
Peredonoff strich mit der Hand über sein etwas in Unordnung geratenes, braunes Haar und sagte unnahbar und selbstbewußt:
„Hier wird sich keine für mich finden.“
„Sagen Sie nicht,“ antwortete die Werschina und lachte schief. „Hier gibt es viele, die bei weitem besser sind, als diese Person. Und jede wird Sie heiraten wollen.“
Mit einer energischen Bewegung strich sie die Asche von ihrer Zigarette, als hätte sie irgendwo ein Ausrufungszeichen zu setzen.
„Jede ist mir aber noch lange nicht recht,“ antwortete Peredonoff.
„Es ist ja auch nicht von jeder x-beliebigen die Rede,“ entgegnete schnell die Werschina. „Sie brauchen doch auf keine Mitgift zu rechnen, und da wüßte ich ein feines Mädchen grade für Sie. Sie haben ja, Gott sei Dank, ein gutes Auskommen.“
„Nein,“ antwortete Peredonoff, „für mich ist es vorteilhafter, Warwara zu heiraten. Die Fürstin hat ihr ihre Protektion versprochen. Sie wird mir eine gute Stelle verschaffen.“ Er sagte es mit trotziger Sicherheit.
Die Werschina lächelte leichthin. Ihr ganzes faltiges, dunkelfarbiges, vom Zigarettendampf gleichsam durchräuchertes Gesichtchen drückte herablassendes Mißtrauen aus:
„Hat sie Ihnen das gesagt, ich meine die Fürstin selber?“ fragte sie, mit Betonung auf dem Worte „Ihnen“.
„Nicht mir, aber Warwara,“ gestand Peredonoff, „das ist doch ganz dasselbe.“
„Sie verlassen sich zu sehr auf die Worte Ihres „Schwesterleins“,“ sagte die Werschina spöttisch. „Sagen Sie mal, ist sie viel älter als Sie? So etwa um fünfzehn Jahre? Am Ende noch mehr? Sie muß doch an die fünfzig sein.“
„Ach, gehen Sie doch,“ sagte Peredonoff ärgerlich, „sie ist noch nicht dreißig.“
Die Werschina lachte.
„Ach, wirklich,“ redete sie weiter mit offenkundigem Spott in der Stimme. „So, dem Aussehen nach ist sie viel älter als Sie. Allerdings, es ist ja nicht meine Sache, immerhin: es täte mir leid, wenn so ein charmanter junger Mann, wie Sie, nicht so leben kann, wie er es verdient hätte, nicht allein seiner Schönheit wegen, sondern vor allem wegen seiner reichen seelischen Veranlagung.“
Peredonoff blickte selbstgefällig an seiner Figur herunter. Aber sein frisches Gesicht zeigte kein Lächeln, und es schien, als fühlte er sich gekränkt, daß nicht alle Menschen ihm das gleiche Verständnis entgegenbrächten, wie die Werschina. Die Werschina aber fuhr fort:
„Sie werden es auch ohne Protektion weit bringen. Wie sollen Ihre Vorgesetzten Sie nicht richtig einschätzen! Was hängen Sie an der Warwara? Ebenso die Rutiloffschen Damen, — nehmen Sie keine von denen; es sind leichtsinnige Mädchen, Sie brauchen aber eine gleichmäßige Frau. Würden Sie doch beispielsweise Martha heiraten.“
Peredonoff sah nach der Uhr.
„Ich muß nach Hause,“ sagte er und stand auf, um sich zu verabschieden.
Die Werschina glaubte, daß Peredonoff nur darum fortginge, weil sie an einen wunden Punkt gerührt hätte, und daß er bloß aus Unentschlossenheit im gegebenen Augenblick nicht von Martha sprechen wolle.
Peredonoffs Konkubine, Warwara Dmitriewna Malochina, wartete auf ihn. Sie war unordentlich gekleidet, dafür sorgfältig geschminkt und gepudert.
Zum Frühstück wurde Peredonoffs Lieblingsgericht, kleine Pasteten mit Saft, gebacken. Auf hohen Absätzen lief Warwara schwerfällig und geschäftig in der Küche hin und her. Sie beeilte sich alles fertig zu haben noch bevor er kam. Warwara fürchtete die Langfingrigkeit ihres Dienstmädchens, einer pockennarbigen, dicken Person, Natalie mit Namen, — sie hätte z. B. einen Kuchen stehlen können, — vielleicht sogar einige. Darum getraute sie sich nicht die Küche zu verlassen und schalt auf die Magd; aber das tat sie gewöhnlich. Ihr faltiges Gesicht, das die Spuren vergangener „Hübschigkeit“ trug, hatte immer und unveränderlich einen mürrisch-habgierigen Zug.
Peredonoff war, wie gewöhnlich, wenn er nach Hause kam, gelangweilt und unzufrieden. Sehr laut trat er ins Speisezimmer, warf seinen Hut auf die Fensterbank, setzte sich an den Tisch und rief:
„Warja! bring das Essen!“
Warwara brachte das Essen aus der Küche; geschwind hinkte sie auf ihren zu engen Schuhen heran und bediente Peredonoff. Als sie den Kaffee gebracht hatte, beugte sich Peredonoff über das dampfende Glas und roch daran. Warwara wurde unruhig und fragte erschrocken:
„Was ist los, Ardalljon Borisowitsch? Riecht der Kaffee?“
Peredonoff blickte sie finster an und sagte böse:
„Ich rieche, ob vielleicht Gift dabei ist.“
„Aber um Gotteswillen, Ardalljon Borisowitsch!“ sagte Warwara erschrocken, „was ist dir nur, wie kommst du auf solche Gedanken?“
„Du hast da einen Gifttrank gebraut!“ brummte er.
„Was soll ich davon haben, dich zu vergiften,“ beteuerte Warwara, „laß doch die Possen!“
Peredonoff roch wiederholt am Kaffee, endlich beruhigte er sich und sagte:
„Wenn Gift dabei ist, so kann man es gleich am schweren Geruch merken, — man muß nur aus nächster Nähe dran riechen, so am Dampf.“
Dann schwieg er einen Augenblick und fuhr bösartig höhnend auf:
„Die Fürstin!“
Warwara wurde aufgeregt.
„Die Fürstin? Was ist los mit der Fürstin?“
„Das ist los mit der Fürstin!“ sagte Peredonoff, „mag sie mir erst die Stelle verschaffen, dann werde ich meinethalben heiraten. Schreib ihr das!“
„Du weißt doch, Ardalljon Borisowitsch,“ überredete Warwara, „daß die Fürstin ihr Versprechen nur unter der Bedingung gab, daß du mich heiratest. Sonst ist es ihr unbequem, sich für dich zu verwenden.“
„Schreib ihr, daß wir schon verheiratet sind,“ sagte Peredonoff rasch und freute sich über den neuen Einfall.
Warwara kam für einen Augenblick aus der Fassung, dann fand sie sich und sagte:
„Warum lügen? Die Fürstin könnte sich erkundigen. Viel besser wäre es, wenn du den Hochzeitstag bestimmtest. Es ist sowieso an der Zeit, daß ich mir ein neues Kleid anschaffe.“
„Was für ein Kleid?“ fragte Peredonoff verdrießlich.
„Ja, soll ich mich denn in diesen Lumpen trauen lassen?“ schrie Warwara. „Gib doch endlich mal Geld für ein neues Kleid, Ardalljon Borisowitsch.“
„Willst wohl dein Leichenhemd nähen?“ fragte Peredonoff boshaft.
„Du Rindvieh, das bist du, Ardalljon Borisowitsch!“ zeterte Warwara.
Plötzlich fiel es Peredonoff ein, Warwara zu necken. Er fragte:
„Weißt du, Warwara, wo ich war?“
„Na, wo denn?“ fragte Warwara unruhig.
„Bei der Werschina,“ sagte er und lachte.
„Eine nette Gesellschaft für dich, jawohl,“ rief Warwara böse.
„Ich habe Martha gesehen,“ fuhr Peredonoff fort.
„Dies sommersprossige Weib, ein Maul bis an die Ohren, so ein richtiges Froschmaul,“ sagte Warwara wütend.
„Hübscher als du ist sie jedenfalls,“ sagte Peredonoff. „Ich werde sie heiraten, was ist denn dabei?“
„Ja, heirate sie nur,“ schrie Warwara. Sie wurde ganz rot im Gesicht und zitterte vor Wut, „ich spritze ihr Vitriol in die Augen.“
„Du bist grade zum Anspucken gut genug,“ sagte Peredonoff ruhig.
„Du wirst dich nicht unterstehen!“ schrie Warwara.
„Doch,“ sagte Peredonoff.
Er stand auf und in gleichgültigem Stumpfsinn spuckte er ihr gerade ins Gesicht.
„Du Schwein!“ sagte Warwara ziemlich ruhig, als hätte sie sein Speichel erfrischt.
Dann wischte sie mit der Serviette über ihr Gesicht. Peredonoff schwieg. In der letzten Zeit behandelte er sie roher als sonst. Aber auch früher hatte er sie schlecht genug behandelt. Durch sein Schweigen ermutigt, sagte sie lauter:
„Wahrhaftig, du bist ein Schwein; grade ins Maul hast du getroffen.“
Im Vorhause ließ sich eine blökende, schafähnliche Stimme vernehmen.
„Brüll nicht,“ sagte Peredonoff, „Gäste kommen.“
„Ach ja, das ist Pawluschka,“ sagte Warwara schmunzelnd.
Laut und fröhlich lachend trat Pawel Wolodin ein. Es war ein junger Mann, der im Gesicht und in seinen Bewegungen einem Schafe auffallend ähnlich sah: sein Haar war wollig, wie bei einem Schafe, seine Augen vortretend und dumm, wie bei einem lebenslustigen Lamm. Es war ein dummer, junger Mensch. Er war Tischler, hatte früher eine Handwerkerschule besucht, und war jetzt als Lehrer seines Handwerks in der Volksschule angestellt.
„Bruderherz, Ardalljon Borisowitsch,“ rief er erfreut, „du bist zu Hause, und schlürfst Kaffee; da bin ich grade recht gekommen.“
„Nataschka, bring einen dritten Löffel,“ rief Warwara.
Man konnte hören, wie Natalie in der Küche mit dem letzten nachgebliebenen Löffel herumwirtschaftete; alles Silberzeug wurde verschlossen.
„Iß doch, Pawluschka,“ sagte Peredonoff und man konnte merken, daß er die Absicht hatte, Wolodin ordentlich zu füttern, „weißt du, Freund, ich werde bald Inspektor werden, die Fürstin hat es Warja versprochen.“
Wolodin strahlte und lachte.
„Aha, der Herr Inspektor in spe trinkt seinen Kaffee,“ sagte er laut und klopfte Peredonoff auf die Schulter.
„Glaubst du vielleicht, daß es so einfach ist, Inspektor zu werden?“ sagte Peredonoff, „man wird irgendwie verstänkert und dann ist es aus.“
„Was ließe sich denn zu deinen Ungunsten sagen?“ fragte Warwara schmunzelnd.
„Was weiß ich! Wenn man zum Beispiel erzählte, ich hätte den Pissareff gelesen — ich wäre geliefert.“
„Wissen Sie, Ardalljon Borisowitsch, tun Sie doch den Pissareff in irgend eine der hinteren Bücherreihen,“ riet Wolodin kichernd.
Peredonoff schielte vorsichtig auf Wolodin und sagte:
„Den Pissareff, den habe ich am Ende niemals besessen. Willst du einen Schnaps, Pawluschka?“
Wolodin reckte die Unterlippe vor, machte ein bedeutendes Gesicht, so als verstände er es die Leute einzuschätzen und sagte, in seiner Schafsmanier den Kopf vorbeugend:
„Zur Gesellschaft? es sei, da bin ich immer bereit; sonst, allein für mich: keinen Tropfen.“
Auch Peredonoff war immer bereit, einen Schnaps zu trinken. Man trank einen Schnaps und aß zum Aufbiß die süßen Pastetchen.
Auf einmal spritzte Peredonoff den Rest seines Kaffeeglases an die Tapete. Wolodin glotzte erstaunt aus seinen schafigen Aeuglein und blickte verwundert um sich. Die Tapeten waren schmierig und zerfetzt.
Wolodin sagte:
„Was haben Sie da für Tapeten?“
Peredonoff und Warwara grinsten.
„Das tun wir so, um die Wirtin zu ärgern,“ sagte Warwara, „wir werden bald ausziehen. Aber sprechen Sie nicht davon.“
„Ganz famos,“ rief Wolodin und lachte ausgelassen.
Peredonoff ging dicht an die Wand heran und bearbeitete sie mit seinen Absätzen. Wolodin folgte seinem Beispiel und begann auszuschlagen. Peredonoff sagte:
„Wenn wir umziehen, machen wir es immer so; bedrecken einfach die Wände, — mag sie ein Andenken haben.“
„Was für wunderbare Muster Sie da hereingebracht haben,“ rief Wolodin begeistert.
„Irischka wird die Augen aufreißen,“ sagte Warwara und lachte trocken und boshaft.
Und alle drei stellten sich an die Wand, spuckten sie an, zerfetzten die Tapete und bearbeiteten sie mit ihren Stiefelsohlen. Dann wurden sie müde und gingen befriedigt an ihre Plätze.
Peredonoff bückte sich und nahm den Kater auf den Schoß. Der Kater war dick, weiß und garstig. Peredonoff quälte ihn, zerrte ihn an den Ohren, am Schwanz und schüttelte ihn am Halse. Wolodin lachte sehr fröhlich und sagte Peredonoff, was sich noch alles anstellen ließe.
„Blasen sie ihm in die Augen, Ardalljon Borisowitsch; streicheln sie ihm das Fell gegen den Strich.“
Der Kater prustete und bemühte sich, loszukommen, aber er wagte nicht die Krallen zu zeigen, dafür kriegte er entsetzliche Prügel. Endlich wurde diese Unterhaltung Peredonoff langweilig, und er warf den Kater in die Ecke.
„Hör mal, Ardalljon Borisowitsch, was ich dir sagen wollte,“ begann Wolodin. „Den ganzen Weg über dachte ich daran, es nicht zu vergessen, nun habe ich es fast ausgeschwitzt.“
„Was denn?“ fragte Peredonoff gelangweilt.
„Ich weiß, du ißt gerne Süßigkeiten,“ sagte Wolodin fröhlich, „da ist so ein süßes Gericht, na, du wirst dir die Finger lecken.“
„Ich kenne alle süßen Gerichte,“ sagte Peredonoff.
Wolodin setzte eine gekränkte Miene auf.
„Vielleicht,“ sagte er, „freilich kennen Sie alle süßen Gerichte, welche in Ihrer Heimat gegessen werden, aber wie sollten Sie alle die süßen Gerichte kennen, die in meiner Heimat gekocht werden, denn Sie waren doch niemals in meiner Heimat?“
Und zufrieden mit seiner überzeugenden Darlegung, lachte Wolodin und meckerte.
„In deiner Heimat werden krepierte Katzen gefressen,“ sagte Peredonoff böse.
„Erlauben Sie, Ardalljon Borisowitsch,“ entgegnete Wolodin mit pipsender, lachender Stimme, „das ist vielleicht in Ihrer Heimat so, daß man krepierte Katzen zu essen pflegt; darüber wollen wir nicht streiten, aber doch: Jerli’s haben Sie sicher nicht gegessen.“
„Nein, die hab ich nicht gegessen,“ gestand Peredonoff.
„Das ist was ganz Besonderes,“ erklärte Wolodin, „wissen Sie, was Kutja [2] ist?“
„Wer sollte das nicht wissen,“ sagte Warwara schmunzelnd.
„Also merken Sie auf: Kutja aus Weizen, mit Rosinchen darin und Mandeln und mit Zucker, — das sind Jerli’s.“
Und Wolodin berichtete ausführlich, wie in seiner Heimat Jerli’s zubereitet würden. Peredonoff hörte ihm gelangweilt zu. „Was will der Pawluschka eigentlich, will er zu meinem Leichenschmaus Kutja essen?“
Wolodin machte einen Vorschlag:
„Wenn Sie wollen, daß es richtig zubereitet wird, so geben Sie mir das nötige Material, und ich werde Ihnen Jerli’s kochen.“
„Das wäre: den Bock zum Gärtner machen!“ sagte Peredonoff mürrisch. Er wird Gift dazuschütten, dachte er bei sich.
Wolodin fühlte sich wieder gekränkt.
„Wenn Sie glauben, daß ich bei Ihnen Zucker klemmen will, Ardalljon Borisowitsch, so irren Sie, Ihren Zucker brauche ich nicht.“
„Wozu die Albernheiten,“ unterbrach Warwara, „Sie wissen doch, er hat seine Launen. Kommen Sie nur und kochen Sie.“
„Dann mag er es selber fressen,“ sagte Peredonoff.
„Warum denn das?“ fragte mit gekränkter, zitternder Stimme, Wolodin.
„Darum, weil es eine Schweinerei ist.“
„Wie Sie wünschen, Ardalljon Borisowitsch,“ sagte Wolodin und zuckte die Achseln, „ich wollte es Ihnen recht machen, aber wenn Sie nicht wollen, dann tun Sie eben, was Sie wollen.“
„Und wie hat dich der General abfahren lassen?“ fragte Peredonoff.
„Was für ein General?“ fragte Wolodin zurück und wurde rot. Ganz beleidigt schob er die Unterlippe vor.
„Wir haben doch davon gehört,“ sagte Peredonoff.
Warwara schmunzelte.
„Erlauben Sie, Ardalljon Borisowitsch,“ sagte Wolodin lebhaft, „Sie haben davon gehört, ja freilich, aber es könnte sein, daß Sie nicht das Richtige gehört haben. Ich will Ihnen erzählen, wie sich die ganze Sache verhalten hat.“
„Also los,“ sagte Peredonoff.
„Das war vorgestern,“ erzählte Wolodin, „grade um dieselbe Stunde, wie eben. Sie wissen, daß die Werkstatt in unserer Schule renoviert wird. Nun, bitte merken Sie auf, kommt Weriga zusammen mit unsrem Inspektor zur Besichtigung. Wir arbeiten grade in einem der hinteren Zimmer. Schön. Ich kümmere mich gar nicht darum, weswegen der Weriga eigentlich kommt; was er da zu suchen hat, geht mich nichts an. Freilich, ich wußte ja, daß er Adelsmarschall ist; immerhin hat er gar keine Fühlung zu unsrer Schule, — aber daran will ich nicht rühren. Mag er kommen, wenn er Lust hat. Wir störten sie nicht, und arbeiteten so ganz gemächlich. Auf einmal treten die beiden bei uns ein, und der Weriga, — ich bitte das zu beachten, — behält seine Mütze auf.“
„Damit wollte er dir seine Mißachtung bezeigen,“ sagte mürrisch Peredonoff.
Ganz erfreut griff Wolodin diese Bemerkung auf: „Nun sehen Sie, außerdem hängt noch in unsrer Stube ein Heiligenbild, und wir alle waren ohne Kopfbedeckung; er hingegen kommt herein, wie ein Heide. Also ich erlaubte mir, zu bemerken, leise und ehrerbietig: Exzellenz, sage ich, haben Sie die Güte, ihre Mütze abzunehmen, darum, sage ich, weil hier das Heiligenbild hängt. War das nicht recht gesagt?“ fragte Wolodin und rollte die Augen vor.
„Sehr gewandt, Pawluschka,“ bemerkte Peredonoff, „das war gut getrumpft.“
„Natürlich,“ pflichtete Warwara bei, „so was darf man nicht dulden. Sie sind ein fixer Kerl, Pawel Wassiljewitsch!“
Wolodin fuhr mit der Miene eines schuldlos Gekränkten in seiner Erzählung fort:
„Und daraufhin geruhte er nur zu sagen: Schuster, bleib bei deinem Leisten, — kehrte mir den Rücken und ging. Das ist die ganze Geschichte. Weiter nichts!“
Wolodin fühlte sich immerhin als Held. Peredonoff gab ihm zur Beruhigung ein Bonbon.
Dann kam noch ein Besuch: Sophja Jefimowna Prepolowenskaja, die Frau eines Unterförsters. Sie war dick, hatte ein gutmütig-listiges Gesicht und segelnde Bewegungen. Auch sie wurde genötigt, mitzuessen. Hinterlistig bemerkte sie zu Wolodin:
„Sagen Sie doch, Pawel Wassiljewitsch, man sieht Sie ja recht oft bei Warwara Dmitriewna?“
„Sie entschuldigen,“ antwortete Wolodin, „ich bin keineswegs zu Warwara Dmitriewna, sondern zu Ardalljon Borisowitsch gekommen.“
„Haben Sie sich verliebt?“ spottete die Prepolowenskaja.
Alle wußten, daß Wolodin nach einer Braut mit größerer Mitgift suchte. Er hatte schon oft angehalten, aber immer Körbe bekommen. Der Scherz der Prepolowenskaja schien ihm unpassend zu sein. Mit bebender Stimme und in seiner Wut ganz einem gekränktem Schafe gleichend, sagte er:
„Wenn ich mich verliebt haben sollte, Sophja Jefimowna, so geht das keinen Menschen was an, ausgenommen mich und das betreffende Mädchen: Sie hingegen sind in Ihrer Art und Weise zudringlich.“
Aber die Prepolowenskaja ließ nicht locker.
„Passen Sie nur auf,“ sagte sie, „wenn Warwara Dmitriewna sich in Sie verlieben wird, wer soll dann für Ardalljon Borisowitsch die süßen Pastetchen backen?“
Wolodin reckte die Lippen vor, zog die Augenbrauen hoch und wußte nicht, was er antworten sollte.
„Seien Sie doch nicht so schüchtern. Pawel Wassiljewitsch,“ fuhr die Prepolowenskaja fort, „warum sollten Sie nicht heiraten? Sie sind jung, Sie sehen gut aus.“
„Aber vielleicht will Warwara Dmitriewna nicht,“ sagte Wolodin und kicherte.
„Wie sollte sie nicht“, antwortete die Prepolowenskaja, „Sie sind zu unrechter Zeit bescheiden.“
„Aber wenn ich selber nicht wollen sollte,“ sagte Wolodin ganz verlegen. „Vielleicht ist es so, daß ich ein fremdes Schwesterchen gar nicht heiraten will. Vielleicht gibt es in meiner Heimat irgend eine heranwachsende Nichte zweiten Grades für mich.“
Schon fing er an zu glauben, daß Warwara nicht abgeneigt wäre, ihn zu nehmen. Warwara wurde böse. Sie hielt Wolodin für einen ausgemachten Esel; zudem hatte er ein viermal geringeres Einkommen als Peredonoff. Die Prepolowenskaja ihrerseits wollte Peredonoff an ihre Schwester, eine fette Popenwitwe, verkuppeln. Darum bemühte sie sich auch, Peredonoff und Warwara zu entzweien.
„Warum wollen Sie mich verkuppeln,“ fragte Warwara ärgerlich, „besorgen Sie doch lieber die Heirat zwischen Pawel Wassiljewitsch und Ihrer jüngsten Schwester.“
„Ich werde ihn Ihnen doch nicht abspenstig machen,“ entgegnete scherzend die Prepolowenskaja.
Die Scherze der Prepolowenskaja hatten dem langsamen Gedankengang Peredonoffs eine andere Richtung gegeben. Die Erinnerung an die Jerli war ihm fest haften geblieben. Was hatte Wolodin für einen Grund, von dieser Speise zu erzählen? Peredonoff liebte es nicht, zu grübeln. Im ersten Augenblick glaubte er alles, was man ihm sagte. So glaubte er auch, daß Wolodin in Warwara verliebt wäre. Er überlegte so: sie wollen mich umgarnen, dann, — wenn es dazu kommt, daß ich in einer anderen Stadt Inspektor werden soll, werden Sie mich unterwegs mit diesen Jerlis vergiften, und an meine Stelle tritt dann Wolodin; man wird mich beerdigen, und Wolodin wird Inspektor. Wahrhaftig! schlau haben sie sich das ausgedacht.
Plötzlich hörte man im Vorzimmer Lärm. Peredonoff und Warwara erschraken: Peredonoff richtete seine zusammengekniffenen Augen starr auf die Tür, Warwara schlich zur Tür, die in den Saal führte, öffnete sie ein wenig, blickte hinein, und dann kehrte sie ebenso leise auf den Fußspitzen, mit den Händen balancierend und verlegen lächelnd zum Tisch zurück. Aus dem Vorzimmer hörte man schrilles Rufen und Schreien, so als wäre dort eine Prügelei. Warwara flüsterte:
„Es ist die Jerschicha — vollständig betrunken —, Natascha läßt sie nicht herein. Aber sie drängt mit aller Gewalt in den Saal.“
„Was sollen wir tun?“ fragte Peredonoff ängstlich.
„Wir müssen in den Saal gehen,“ entschied Warwara, „damit sie nicht herkommt.“
Man ging in den Saal, und die Türe zum Speisezimmer wurde geschlossen. Warwara ging ins Vorhaus. Sie hoffte im stillen die Hauswirtin dort aufhalten zu können oder sie in die Küche zu expedieren. Aber das niederträchtige Weib drängte nur so in den Saal herein. Sie stemmte ihre Fäuste in die Seiten, blieb an der Schwelle stehen und begann als erste allseitige Begrüßung zu schimpfen. Peredonoff und Warwara bemühten sich um sie und versuchten sie auf einen Stuhl in der Nähe des Vorhauses und weitab vom Speisezimmer festzunageln. Warwara brachte ihr aus der Küche auf einem Teebrett Bier, Schnaps und Pasteten. Allein die Hauswirtin setzte sich nicht, aß nichts und drängte mit Gewalt ins Speisezimmer; nur die Türe konnte sie nicht finden. Sie war ganz rot im Gesicht, zerzaust, schmutzig und roch schon von weitem nach Schnaps. Sie brüllte:
„Nein, du mußt mich an deinen Speisetisch führen. Warum bringst du mir das Essen auf einem Teebrett. Ich will ein Tischtuch vor mir haben. Ja — ich bin die Hauswirtin! Du mußt mich in Ehren bewirten. Du — sieh mich nicht so an, weil ich besoffen bin. Dafür bin ich ein ehrliches Weib! ich bin meinem Manne rechtmäßig angetraut.“ Warwara lächelte gemein und feig. Sie sagte:
„Das wissen wir schon.“
Die Jerschowa blinzelte Warwara an, lachte heiser und schwippte frivol mit den Fingern. Sie wurde immer dreister und frecher.
„Seine Schwester?“ schrie sie, „wir kennen das, — schöne Schwester das! Warum besucht dich die Frau des Direktors nicht? He! — warum?“
„Du, brüll mal nicht,“ sagte Warwara.
Aber die Jerschowa zeterte noch lauter:
„Was hast du mir zu befehlen? Hier in meinem Hause kann ich tun, was ich will. Wenn es mir paßt, so werfe ich euch gleich hinaus, um euren Dunstkreis loszusein. Ich will euch aber eine Gnade erweisen: lebt wie ihr wollt, aber wagt es nur euch aufzuspielen!“
Wolodin und die Prepolowenskaja hatten sich indes ganz bescheiden an ein Fenster gedrückt und verhielten sich still. Die Prepolowenskaja schmunzelte ein wenig, schielte ab und zu auf das keifende Weib, stellte sich aber so, als blickte sie auf die Straße.
Wolodin saß da mit einer Miene gekränkter Erhabenheit.
Die Jerschowa wurde für eine Zeit menschenfreundlich, grinste fröhlich in trunkenem Mut, klopfte Warwara auf die Schulter und sagte freundschaftlich:
„Du — hör mal, was ich dir sagen will —, du mußt mich an deinen Speisetisch führen und mich gebildet unterhalten. Du mußt mir etwas Süßes zum Essen geben, du mußt deine Hauswirtin ehrenvoll bewirten! ja, das mußt du, du mein liebes Mädchen.“
„Da hast du Pasteten,“ sagte Warwara.
„Ich will keine Pasteten; ich will dasselbe essen, was die Herrschaften essen,“ schrie die Jerschowa, fuchtelte mit den Händen und lachte selig, „so süßes Backwerk essen die Herrschaften — ach, so süß!“
„Ich habe kein Backwerk für dich,“ antwortete Warwara. Sie wurde mutiger, weil die Hauswirtin lustig geworden war, „schau mal, man gibt dir Pasteten, dann mußt du sie essen.“
Plötzlich hatte die Jerschowa die Tür zum Speisezimmer entdeckt. In toller Wut heulte sie auf:
„Gib den Weg frei, du Schlange!“
Sie stieß Warwara zur Seite und stürmte zur Tür. Man konnte sie nicht mehr aufhalten. Mit vorgebeugtem Kopf, die Fäuste geballt, brach sie krachend die Türe auf und stürzte ins Speisezimmer. In der Nähe der Schwelle blieb sie stehn, sah die beschmierten Tapeten und stieß einen gellenden Pfiff aus. Sie stemmte die Arme in die Seiten, stellte den einen Fuß verwegen vor und schrie wie eine Rasende:
„Also ihr wollt wirklich ausziehen!“
„Keine Spur, Irina Stepanowna, — wir denken nicht daran, sei doch nicht närrisch.“
„Wir werden gewiß nicht ausziehen,“ bestätigte Peredonoff, „wir haben es hier so gut.“
Die Wirtin hörte nicht, kam der bestürzten Warwara immer näher und fuchtelte mit den Fäusten vor ihrem Gesicht. Peredonoff zog es vor, hinter Warwaras Rücken zu bleiben. Er wäre gerne fortgelaufen, andererseits war es interessant zu sehen, wie die Wirtin und Warwara sich prügeln würden.
„Ich werde dir auf den einen Fuß drauftreten, am andern ziehn und dich in zwei Hälften reißen!“ schrie die Jerschowa wutentbrannt.
„Was fehlt dir nur, Irina Stepanowna,“ beruhigte Warwara, „hör doch auf, wir haben Gäste.“
„Zeig’ sie mal, deine Gäste,“ brüllte die Jerschowa, „deine Gäste kann ich gerade brauchen.“
Schwankend taumelte die Jerschowa in den Saal. Mit einem Mal änderte sie vollständig ihre Art zu reden und ihre Umgangsformen, verbeugte sich tief vor der Prepolowenskaja, so tief, daß sie fast hinfiel und sagte bescheiden:
„Gnädige Frau, liebe Sophja Jefimowna, verzeihen Sie mir, denn ich bin ein besoffenes Weib. Aber eins muß ich Ihnen sagen, hören Sie bitte. Sie besuchen diese Leute hier, aber wissen Sie auch, was die da von Ihrer Schwester gesagt hat? Noch dazu wem? Mir — der besoffenen Frau eines Schusters! Und warum? Damit ich es allen weitererzählen soll, sehen Sie — darum!“
Warwara wurde dunkelrot und sagte:
„Nichts habe ich dir gesagt.“
„Du hast nichts gesagt? Du ekliges Ungeziefer!“ tobte die Jerschowa, mit geballten Fäusten an Warwara herantretend.
„Jetzt schweig aber still,“ murmelte Warwara verlegen.
„Nein, ich werde nicht stillschweigen,“ schrie die Jerschowa schadenfroh und wandte sich wieder an die Prepolowenskaja. „Daß sie, — Ihre Schwester nämlich, — ein Verhältnis mit Ihrem Manne unterhält; sehen Sie, das hat sie mir gesagt, dieses verworfene Weib!“
Sophjas böse und verschlagene Augen blitzten zu Warwara hinüber. Sie stand auf und sagte mit gezwungenem Lachen:
„Ich danke untertänigst, das habe ich nicht erwartet.“
„Du lügst“, quiekte Warwara wütend.
Die Jerschowa grunzte böse, stampfte mit dem Fuß auf und machte eine abwehrende Handbewegung. Dann wandte sie sich sofort wieder an die Prepolowenskaja:
„Und was der Herr dort von Ihnen sagt, allergnädigste Frau! Sie hätten sich früher herumgetrieben und dann später geheiratet. Da sehen Sie, was das für gemeine Leute sind! Spucken Sie Ihnen einfach ins Maul, liebste gnädigste Frau, Sie sollten nicht mit diesem niederträchtigen Pack verkehren.“
Die Prepolowenskaja wurde rot und ging schweigend ins Vorhaus. Peredonoff lief ihr nach und rechtfertigte sich:
„Sie lügt, glauben Sie ihr nicht. Nur einmal habe ich in ihrer Gegenwart gesagt, daß Sie dumm seien, und das sagte ich nur aus Wut. Weiter habe ich — weiß Gott — nichts gesagt, alles hat sie gelogen.“
Die Prepolowenskaja antwortete ruhig:
„Lassen Sie doch, Ardalljon Borisowitsch, — ich sehe doch, daß sie betrunken ist; sie weiß ja nicht, was sie schwatzt. Nur eins: warum gestatten Sie, daß so was in Ihrem Hause vorkommt?“
„Ja, sehen Sie,“ antwortete Peredonoff, „was soll ich mit ihr anfangen?“
Die Prepolowenskaja war verwirrt und ärgerlich. Sie zog ihre Jacke an. Peredonoff kam nicht darauf ihr zu helfen. Irgendetwas murmelte er noch, aber sie hörte ihn nicht. Dann kehrte Peredonoff in den Saal zurück. Die Jerschowa begann ihm in schreiendem Tone Vorwürfe zu machen.
Warwara lief auf den Flur hinaus, um die Prepolowenskaja zu versöhnen:
„Sie wissen doch, was er für ein Dummkopf ist, — er weiß ja nicht, was er sagt.“
„Ach lassen Sie doch; warum beunruhigen Sie sich?“ antwortete auch ihr die Prepolowenskaja. „Ich weiß doch, was so ein betrunkenes Weib alles schwatzen kann.“
Die Haustür mündete auf einen Hof. In dichter Menge wuchsen dort am Hause hochaufgeschossene Brennesseln. Die Prepolowenskaja lächelte kaum merklich und der letzte Schatten von Unzufriedenheit schwand von ihrem rosigen, vollen Gesicht. Sie wurde wieder liebenswürdig und höflich. Für die Kränkung wollte sie auch ohne sich zu zanken Rache nehmen.
Beide gingen zusammen in den Garten, um dort die Szene mit der Wirtin abzuwarten.
Fortwährend blickte die Prepolowenskaja auf die Nesseln, die auch im Garten reichlich am Zaune wucherten. Endlich sagte sie:
„Wie viel Nesseln Sie haben! Haben Sie Verwendung dafür?“
Warwara lachte und sagte:
„Nanu, was sollte ich damit anfangen?“
„Wir haben nämlich keine,“ sagte die Prepolowenskaja, „und wenn es Ihnen nicht weiter leid tut, so will ich mir einige Handvoll ausraufen.“
„Ja — aber wozu denn?“ fragte Warwara verwundert.
„Ach, ich brauche sie halt,“ sagte die Prepolowenskaja und lächelte vielsagend.
„Liebes Herz, sagen Sie bitte — wozu?“ flehte Warwara neugierig.
Die Prepolowenskaja neigte sich dicht an Warwaras Ohr und flüsterte:
„Wenn man sich mit Nesseln abreibt, so wird man nicht mager. Das machen die Nesseln, daß meine Genitschka so rundlich ist.“
Es war überall bekannt, daß Peredonoff die dickeren Frauen bevorzugte, die mageren hingegen verschmähte. Warwara war ganz betrübt, daß sie schlank war und immer mehr abmagerte. Was tue ich, um recht viel Fett anzusetzen? — das war eine ihrer größten Sorgen. Ueberall fragte sie: „Wissen Sie nicht ein Mittel?“ Und die Prepolowenskaja glaubte sicher, daß Warwara sich jetzt nach ihrem Rezept mit Nesseln abreiben, und auf diese Weise sich selber strafen würde.
Peredonoff ging zusammen mit der Jerschowa auf den Hof. Er murmelte:
„Ach du Aas!“
Sie schrie aus vollem Halse und war sehr ausgelassen. Dann fingen sie auf dem Hofe zu tanzen an. Die Prepolowenskaja und Warwara gingen durch die Küche in die Wohnstube und setzten sich ans Fenster, um zu sehen, was auf dem Hofe vorging.
Peredonoff und die Jerschowa hatten sich umarmt und tanzten auf dem Rasen um einen Birnbaum herum. Peredonoffs Gesicht war wie sonst — stumpf und ganz ohne Ausdruck. Wie auf etwas Leblosem hüpfte die goldene Brille mechanisch auf seinem Nasenrücken hin und her, ebenso das kurzgeschorene Haar auf seinem Kopf. Die Jerschowa quiekte, juchzte, fuchtelte mit den Händen und schwankte. Durchs Fenster rief sie Warwara zu:
„He da, hochnasige Person, komm doch heraus, — wollen tanzen! Oder ekelt dir vor unserer Gesellschaft?“
Warwara wandte sich ab.
„Hol’ dich die Pest,“ rief die Jerschowa, „ich bin halbtot.“ Sie wälzte sich auf den Rasen und zog Peredonoff nach sich.
So saßen sie und hielten sich umarmt, dann tanzten sie wieder. Das wiederholte sich etlichemal: bald tanzten sie, bald ruhten sie sich auf einer Bank unter dem Birnbaum oder einfach im Grase aus.
Wolodin sah aus dem Fenster auf die Tanzenden und amüsierte sich königlich. Er schüttelte sich vor Lachen, schnitt allerhand Fratzen, krümmte sich, zog die Knie hoch und frohlockte:
„Das ist ein Hauptspaß, — zum Wälzen!“
„Verfluchtes Aas!“ sagte Warwara geärgert.
„Ein Aas ist sie wohl,“ gab Wolodin zu und lachte, „warte nur, vielliebste Wirtin, ich werde dir schon einen Gefallen tun. Wollen wir auch den Saal besauen! Jetzt ist es doch egal, heute wird sie nicht mehr herkommen. Wird sich müdehopsen auf dem Rasen und dann schlafen gehen.“
Und er wälzte sich beinah vor Lachen und sprang wie ein Schaf umher. Die Prepolowenskaja stachelte ihn an:
„Natürlich! Pawel Wassiljewitsch, Sie müssen jenes Zimmer auch beschmieren. Was glotzen Sie nach ihr? Und wenn sie auch kommen sollte, dann kann man ihr einfach sagen, daß sie alles selber in der Betrunkenheit angerichtet hat.“
Wolodin lief, hüpfend und lachend, in den Saal und machte sich daran, die Tapeten mit seinen Stiefelsohlen zu bearbeiten.
„Warwara Dmitriewna,“ schrie er, „geben Sie doch bitte einen Bindfaden.“
Warwara wackelte wie eine Ente durch den Saal ins Schlafzimmer und brachte ein verknotetes und zerfasertes Bindfadenendchen. Wolodin machte eine Schlinge, stellte einen Stuhl mitten in den Saal und befestigte die Schlinge an dem Lampenhaken in der Decke.
„Das ist für die Wirtin!“ schrie er, „sie muß doch was haben, woran sie sich vor Wut aufhängen kann, wenn Sie ausgezogen sind.“
Beide Damen schrieen vor Lachen.
„Geben Sie ein Stückchen Papier!“ rief Wolodin, „und einen Bleistift.“
Warwara stöberte wieder im Schlafzimmer und brachte dann einen Fetzen Papier und einen Bleistift. Wolodin schrieb: „Für die Wirtin“ und befestigte das Papier an der Schlinge. Dabei machte er die albernsten Bewegungen. Dann bearbeitete er wieder wie ein Rasender die Wände mit seinen Sohlen und sein Körper flog von der Erschütterung. Sein Gejohl und sein blökendes Gelächter füllte das ganze Haus. Der weiße Kater hatte ängstlich die Ohren angezogen, blinzelte aus dem Schlafzimmer herüber und wußte augenscheinlich nicht, wohin er flüchten sollte.
Endlich war es Peredonoff gelungen, die Jerschowa abzuschütteln. Er kam allein zurück. — Die Jerschowa war in der Tat ganz ermattet schlafen gegangen und Wolodin empfing Peredonoff mit Schreien und Lachen:
„Jetzt haben wir auch den Saal besaut. Hurra!“
„Hurra!“ brüllte Peredonoff und lachte dröhnend und abgerissen, wie aus der Pistole geschossen.
Auch die Damen schrieen „Hurra“. Die Heiterkeit wurde allgemein. Peredonoff rief:
„Pawluschka, komm tanzen!“
„Los, Ardalljoscha,“ antwortete dummerhaft kichernd Wolodin.
Sie tanzten unter der Schlinge und beide warfen ihre Beine plump in die Luft. Der Fußboden zitterte unter Peredonoffs schweren Tritten.
„Ardalljon Borisowitsch beliebt zu tanzen,“ bemerkte die Prepolowenskaja und lächelte.
„Es lohnt nicht davon zu sprechen; bei ihm ist alles Laune,“ antwortete Warwara mürrisch, aber sie fand Gefallen an Peredonoff.
Es war ihre aufrichtige Ueberzeugung, daß er hübsch und flott wäre. Selbst das Dümmste was er tat, schien ihr nachahmenswert.
Sie fand ihn weder ekelhaft, noch lächerlich.
„Wollen wir der Wirtin die Totenmesse singen!“ schrie Wolodin. „Geben Sie ein Kissen!“
„Was der sich alles ausdenkt!“ sagte Warwara und lachte.
Sie warf aus dem Schlafzimmer ein Kissen mit schmutzigem Leinwandbezug heraus. Das Kissen wurde auf die Erde gelegt, es sollte die Wirtin vorstellen, und sie sangen mit wilder, schreiender Stimme die Totenmesse. Dann wurde Natalie gerufen. Sie mußte die Drehorgel spielen, während alle vier unter albernen Bewegungen, die Beine hochwerfend, eine Quadrille tanzten.
Nach dem Tanze kam Peredonoff in Geberlaune. Eine düstre, trotzige Begeisterung leuchtete matt aus seinen verschwommenen Augen. Er fühlte sich von einer fast mechanischen Sicherheit beherrscht, — vielleicht infolge der anstrengenden Muskelbewegung. Er zog seine Brieftasche hervor, zählte einige Scheine ab und warf sie Warwara zu mit selbstgefälliger, stolzer Miene.
„Da hast du, Warwara,“ rief er, „näh dir das Hochzeitskleid.“
Die Geldscheine flatterten zu Boden. Warwara sammelte sie schnell auf. Diese Art und Weise beschenkt zu werden, kränkte sie nicht. Die Prepolowenskaja dachte wütend bei sich: „Das wollen wir noch abwarten, wer siegen wird“, und lächelte perfid. Wolodin kam natürlich nicht darauf, Warwara beim Geldsammeln behilflich zu sein.
Bald ging die Prepolowenskaja. Im Vorhause traf sie mit einem neuen Besuch zusammen; es war die Gruschina.
Maria Ossipowna Gruschina war eine junge Witwe und hatte ein frühzeitig-welkes Aussehen. Sie war schlank, — und ihre trockene Haut hatte sich ganz in kleine, sozusagen staubbedeckte Fältchen gelegt. Ihr Gesicht war nicht unsympathisch, dafür ihre Zähne schmutzig und schwarz. Sie hatte schmale Hände, lange spinnartige Finger und unsaubre Nägel. Wenn man sie flüchtig anschaute, sah sie nicht grade schmutzig aus, machte aber den Eindruck, als scheute sie das Wasser und würde darum gelegentlich zusammen mit ihren Kleidern ausgeklopft. Man konnte sich leicht vorstellen, daß eine Staubwolke bis an den Himmel aufgewirbelt wäre, wenn man sie mit einem Bambus zwei-, dreimal bearbeitet hätte. Die Kleider schlotterten an ihr in geknüllten Falten, so als wären sie eben erst aus einem sehr fest verschnürten Packen, in dem sie lange zusammengepreßt gelegen hatten, genommen worden. Die Gruschina lebte von einer Rente und erwarb sich den übrigen Unterhalt durch kleinere Kommissionsgeschäfte und durch Geldverleihen gegen Obligationen. Sie redete gewöhnlich recht unbescheiden und suchte Herrenbekanntschaft, um einen Gatten zu finden. Ein Zimmer in ihrem Hause war ständig an irgendeinen unverheirateten Beamten vermietet.
Warwara begrüßte die Gruschina sehr erfreut: sie hatte irgend ein Geschäft mit ihr. Die Gruschina und Warwara fingen auch gleich an, über Dienstboten zu sprechen und kamen so ins Schwatzen herein. Der neugierige Wolodin setzte sich zu ihnen und horchte. Peredonoff saß einsam und verdrossen am Tisch und verknüllte mit den Händen einen Zipfel des Tischtuchs.
Warwara beklagte sich bei der Gruschina über ihre Natalie. Die Gruschina schlug ihr eine andere Magd vor, die sie sehr zu loben wußte, eine gewisse Klawdija. Man beschloß, gleich hinzufahren an den Ssamorodina-Bach. Dort lebte sie nämlich bei einem Akzisebeamten, der in diesen Tagen in eine andere Stadt versetzt worden war. Warwara zögerte nur noch des Namens wegen. Ratlos fragte sie:
„Klawdija? Aber wie soll ich sie denn rufen? Etwa Klaschka?“
Die Gruschina riet:
„Rufen Sie sie doch einfach Klawdjuschka!“
Warwara gefiel das. Sie wiederholte:
„Klawdjuschka, djuschka!“ und lachte heiser. Es muß nämlich bemerkt werden, daß man die Schweine in unserer Stadt „Djuschki“ zu nennen pflegt. Wolodin grunzte und alle lachten.
„Djuschka, Djuschenka,“ flüsterte Wolodin zwischen lauten Lachanfällen. Er machte ein dummes Gesicht und reckte die Lippen vor.
Dann grunzte er und betrug sich so lange läppisch, bis man ihm sagte, daß er langweilig würde. Dann fühlte er sich gekränkt und stand auf, um sich neben Peredonoff zu setzen. Just wie ein Schaf beugte er seine rundgewölbte Stirn vor und stierte andauernd auf das befleckte Tischtuch.
Warwara beschloß gleich auf dem Wege zum Ssamorodina-Bach Stoff für ihr Hochzeitskleid zu kaufen. In die Kaufläden ging sie immer zusammen mit der Gruschina; die half ihr beim Treffen der endgültigen Wahl und bei dem unvermeidlichen Feilschen.
Als Warwara von Peredonoff fortschlich, stopfte sie in die tiefen Taschen der Gruschina für deren Kinder allerlei Leckerbissen, süße Pastetchen und Bonbons. Die Gruschina erriet, daß Warwara ihrer Dienste dringend bedürfe.
Warwara konnte nicht weit gehen wegen ihrer zu engen Schuhe mit den hohen Absätzen. Sie wurde rasch müde. Daher benutzte sie gewöhnlich eine Droschke, obwohl die Entfernungen in unserer Stadt nur geringe waren. In letzter Zeit war sie besonders häufig bei der Gruschina gewesen. Das hatten die Droschkenkutscher schon gemerkt: ihrer gab es nicht viele, vielleicht an die zwanzig. Wenn Warwara einstieg, fragten sie garnicht mehr, wohin sie fahren sollten.
Sie setzten sich in den Wagen und fuhren zu den Herrschaften, bei denen Klawdija diente, um sich nach ihr zu erkundigen. Die Straßen waren fast durchweg mit Schmutz bedeckt, obwohl es schon gestern abend aufgehört hatte zu regnen. Nur selten ratterte die Droschke über kurze, gepflasterte Straßen, dann versanken die Räder wieder im zähen Schmutz grundloser Wege. Umso mehr zitterte ununterbrochen Warwaras Stimme, begleitet vom teilnehmenden Geschwätz der Gruschina.
„Mein Gänserich war schon wieder bei Marfuschka, [3] “ erzählte Warwara.
In teilnehmender Empörung antwortete die Gruschina:
„Sie suchen ihn einzufangen. Will es gerne glauben. Das wäre just ein Ehemann für dieses Mädel, die Marfuschka. So einen kann sie sich im Traume wünschen.“
„Ich weiß wirklich nicht, was ich anfangen soll,“ klagte Warwara, „er ist jetzt so widerhaarig, — gar nicht zu sagen wie. Glauben Sie, es wirbelt mir im Kopf. Fällt es ihm ein, zu heiraten, dann kann ich auf die Straße gehen.“
„Nicht doch, liebste Warwara Dmitriewna,“ beruhigte die Gruschina, „glauben Sie das nicht. Nie wird er eine andere heiraten als Sie. Er hat sich doch an Sie gewöhnt.“
„Manchmal geht er in der Nacht aus, dann kann ich nicht einschlafen,“ erzählte Warwara, „Gott weiß, vielleicht läßt er sich irgendwo trauen. Manchmal sorge ich mich die ganze Nacht. Alle haben es auf ihn abgesehen — die drei Rutiloffschen Stuten, — sie hängen sich ja an jeden, — und Jenkja mit der gedunsenen Fratze.“
Noch lange klagte Warwara, und aus ihrem ganzen Gespräch ersah die Gruschina, daß sie eine besondere Bitte auf dem Herzen hatte, und schon im voraus freute sie sich auf eine neue Einnahme.
Klawdija gefiel. Die Frau des Akzisebeamten hatte sie gelobt. So wurde sie denn engagiert und man sagte ihr, sie hätte noch am selben Abend zu erscheinen, da der Akzisebeamte schon heute abreisen mußte.
Endlich langten sie bei der Gruschina an. Sie lebte in ihrem eigenen Häuschen, ziemlich unordentlich, zusammen mit ihren drei kleinen Göhren. Die waren zerzaust, dreckig, dumm und bösartig wie begossene Welpen. Die eigentliche Aussprache folgte erst jetzt.
Warwara begann zu erzählen: „Mein Ardalljoschka, der Dummkopf, verlangt, ich soll wieder an die Fürstin schreiben. Was soll ich ihr denn so mir nichts dir nichts schreiben; entweder wird sie überhaupt nicht antworten, oder etwas antworten, was nicht in meinen Kram paßt. Die Freundschaft ist nicht von weitem her.“
Die Fürstin Woltschanskaja, — Warwara hatte gelegentlich als Schneiderin für einfachere Arbeit bei ihr gearbeitet, — hätte Peredonoff allerdings nützlich sein können: ihre Tochter war nämlich an den Geheimen Rat Tschtepkin verheiratet, ein Mann, der im Schulressort viel zu bedeuten hatte. Schon im vorigen Jahre hatte sie an Warwara als Antwort auf ihre Bitten geschrieben, daß sie für Warwaras „Bräutigam“ ein gutes Wort einzulegen nicht gewillt wäre; anders verhielte es sich, wenn sie heiraten würde, dann könnte sie vielleicht gelegentlich ein Wörtchen zu seinen Gunsten fallen lassen. Peredonoff hatte jener Brief nicht befriedigt: damit war eigentlich nur eine unbestimmte Hoffnung gegeben, es war aber nicht direkt gesagt, daß die Fürstin ganz unbedingt Warwaras Manne den Posten eines Inspektors verschaffen würde. Um diese Ungewißheit zu klären, waren sie kürzlich nach St. Petersburg gefahren. Warwara hatte die Fürstin aufgesucht und dann führte sie auch Peredonoff hin, hatte aber diesen Besuch mit Absicht so lange hinausgeschoben, bis sie die Fürstin nicht mehr zu Hause trafen: Warwara begriff, daß sich die Fürstin im besten Fall auf den Rat beschränken würde, sie möchten so bald als möglich heiraten, vielleicht noch einige unbestimmte Versprechungen hinzufügen würde, daß sie bei Gelegenheit ein gutes Wort einlegen wolle, kurz — Versprechungen, die Peredonoff keineswegs genügen konnten. So beschloß denn Warwara, Peredonoff die Fürstin nicht zu zeigen.
„Ich verlasse mich felsenfest auf Sie,“ sagte Warwara, „helfen Sie mir, teuerste Marja Ossipowna.“
„Wie soll ich Ihnen denn helfen, liebes Herz?“ fragte die Gruschina, „Sie wissen doch, Warwara Dmitriewna, daß ich für Sie bereit bin, alles zu tun, was in meiner Kraft liegt. Soll ich Ihnen vielleicht wahrsagen?“
„Ich weiß doch, was an Ihrer Wahrsagerei dran ist,“ sagte Warwara lachend, „nein, ganz anders müssen Sie mir helfen.“
„Wie denn?“ fragte in freudig-reger Erwartung die Gruschina.
„Ganz einfach,“ sagte schmunzelnd Warwara, „schreiben Sie einen Brief an mich, als käme er von der Fürstin. Fälschen Sie ihre Handschrift; ich werde ihn dann Ardalljon Borisowitsch zeigen.“
„Aber was denken Sie nur, Teuerste! Das geht doch nicht,“ beteuerte die Gruschina und stellte sich empört, „wenn die Geschichte herauskommt, was soll dann aus mir werden?“
Warwara ließ sich durch diese Antwort keineswegs aus der Fassung bringen, zog einen verknüllten Brief aus der Tasche und sagte:
„Da habe ich Ihnen gleich den Brief der Fürstin als Mustervorlage gebracht.“
Die Gruschina sträubte sich lange. Warwara sah klar, daß die Gruschina ihr Einverständnis geben würde, daß sie nur für diesen Dienst mehr beanspruchen wolle. Warwara ihrerseits wollte gerade weniger zahlen. Und nur ganz allmählich erhöhte sie den Bestechungspreis, versprach verschiedene kleinere Geschenke, ein altes Seidenkleid, und endlich sah die Gruschina ein, daß Warwara in keinem Fall mehr geben würde. Klagende Worte ergossen sich aus Warwaras Munde. Die Gruschina tat, als wäre sie nur aus Mitleid bereit, die Sache zu übernehmen und nahm den Brief.
Das Billardzimmer war dick vollgeraucht. Peredonoff, Rutiloff, Falastoff, Wolodin und Murin — ein Gutsherr von hünenhaftem Wuchse und dummerhaftem Aussehen, Besitzer eines kleinen Gutes, außerdem ein kapitalkräftiger, unternehmungslustiger Mann —, alle diese fünf hatten das Spiel beendet und machten sich auf den Heimweg.
Es dämmerte. Auf einem schmutzigen Brettertisch standen viele geleerte Bierflaschen. Die Spieler, welche während des Spieles viel getrunken hatten, hatten rote Köpfe und lallten berauscht. Rutiloff war der einzige, der wie sonst schwindsüchtig-blaß aussah. Er trank auch weniger als die andern und hätte bei stärkerem Trinken gewiß noch blasser ausgesehen.
Rohe Schimpfworte flogen durch die Luft. Keiner fühlte sich gekränkt: man war eben unter Freunden.
Peredonoff hatte, wie fast immer, verloren. Er spielte schlecht Billard. Trotzdem war sein Gesichtsausdruck unerregt finster, und nur mit Unlust bezahlte er seine Spielschuld.
Murin rief laut:
„Feuer!“
und zielte mit einem Queue nach Peredonoff. Der schrie auf vor Schreck und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Ihm war der dumme Gedanke gekommen, Murin wolle ihn totschießen. Alle fingen an zu lachen. Peredonoff brummte ärgerlich:
„Ich kann solche Späße nicht leiden.“
Murin tat es schon leid, daß er Peredonoff erschreckt hatte: sein Sohn war nämlich Gymnasiast, und da hielt er es für seine Pflicht, auf alle nur mögliche Art den Gymnasiallehrern zu Gefallen zu sein. Jetzt entschuldigte er sich bei Peredonoff und bewirtete ihn mit Wein und Selters. Peredonoff sagte finster:
„Meine Nerven sind ein wenig angegriffen. Ich bin mit unserem Direktor nicht zufrieden.“
„Der künftige Inspektor hat Unglück im Spiel,“ schrie mit blökender Stimme Wolodin, „schade um das Geld.“
„Unglück im Spiel, Glück in der Liebe,“ sagte Rutiloff lächelnd und wies seine angefaulten Zähne.
Wegen seines Verlustes im Spiel, dazu noch der Schreck, war Peredonoff sowieso nicht in rechter Stimmung. Dann fing man an, ihn mit seinem Verhältnis zu Warwara zu necken. Er rief:
„Ich werde heiraten und Warjka muß hinaus.“
Die Freunde lachten und stichelten:
„Du wirst nicht dürfen.“
„So, meint ihr? noch morgen suche ich mir eine Braut.“
„Was gilt die Wette?“ schlug Falastoff vor, „ich setze zehn Rubel.“
Peredonoff tat es aber leid um das Geld; sollte er am Ende verlieren, so hätte er zahlen müssen. Er kehrte sich ab und schwieg finster.
Am Gartentor trennten sie sich nach verschiedenen Richtungen. Peredonoff und Rutiloff gingen zusammen. Rutiloff versuchte ihn zu bereden, sofort eine seiner Schwestern zu heiraten.
„Ich habe alles in Ordnung gebracht,“ wiederholte er, „sei ganz unbesorgt.“
„Das Aufgebot ist noch nicht gewesen,“ schützte Peredonoff vor.
„Ich sage dir doch, alles ist in Ordnung,“ beteuerte Rutiloff. „Ich habe einen Popen ausfindig gemacht; der weiß, daß ihr nicht verwandt seid.“
„Es sind keine Marschälle da,“ sagte Peredonoff.
„Ach was, es sind keine da! Die Marschälle haben wir im Nu zusammen, ich schicke einfach nach ihnen und sie werden direkt in die Kirche kommen. Oder ich werde sie selbst holen gehen. Früher konnte man doch nicht gut, — dein „Schwesterchen“ hätte Wind gekriegt und uns gestört.“
Peredonoff schwieg still und blickte trübselig zur Seite. Hin und her sah man im Schatten schweigsame Häuser in träumenden, kleinen Gärtchen mit morschen Zäunen davor.
„Warte ein wenig an der Pforte,“ sagte Rutiloff überredend, „ich werde dir jede vorführen, welche du nur magst. So hör doch, ich will es dir gleich beweisen. Ist zwei mal zwei vier oder nicht?“
„Jawohl, vier,“ antwortete Peredonoff.
„Also: zwei mal zwei ist vier, darum mußt du eine von meinen Schwestern heiraten.“
Peredonoff war ganz erstaunt. In der Tat, dachte er, es ist so; natürlich ist zwei mal zwei vier. Und mit Ehrfurcht blickte er auf den klugen Rutiloff. Ich werde heiraten müssen! Mit ihm ist nicht gut Kirschen essen.
Mittlerweile waren sie ans Rutiloffsche Haus gekommen und blieben vor der Pforte stehen.
„Man kann doch nicht so per Gewalt,“ sagte Peredonoff böse.
„Sonderling, sie warten ja nur darauf,“ rief Rutiloff.
„Aber ich selber will vielleicht nicht.“
„Na ja, du willst nicht, Schlaukopf. Willst du denn dein lebelang Junggeselle bleiben?“ antwortete Rutiloff sicher, „oder willst du ins Kloster? Oder ist dir die Warja noch immer nicht widerlich geworden? Bedenke nur — ihre Fratze, wenn du ihr auf einmal eine junge Frau ins Haus führst.“
Peredonoff lachte abgerissen und kurz, aber sofort wurde er wieder finster und sagte:
„Und außerdem, sie wollen vielleicht garnicht!“
„Geh doch, wie sollten sie nicht wollen, Sonderling,“ antwortete Rutiloff. „Ich gebe dir mein Wort darauf.“
„Sie sind stolz,“ sagte Peredonoff.
„Was geht dich das an; noch besser.“
„Sie machen sich über alles lustig.“
„Aber doch nicht über dich,“ beteuerte Rutiloff.
„Woher soll ich das wissen.“
„So glaub mir doch, ich will dich nicht betrügen. Sie verehren dich. Du bist doch nicht irgend ein Narr den man auslacht.“
„Ja, dir soll man glauben,“ sagte Peredonoff mißtrauisch. „Nein, erst will ich mich selbst davon überzeugen, daß sie über mich nicht lachen.“
„Merkwürdiger Mensch,“ sagte Rutiloff verwundert, „wie sollten sie sich überhaupt unterstehen zu lachen? Wie willst du dich davon überzeugen?“
Peredonoff dachte nach und sagte:
„Laß sie gleich auf die Straße herauskommen.“
„Meinetwegen, das geht,“ sagte Rutiloff.
„Alle drei auf einmal,“ fuhr Peredonoff fort.
„Meinetwegen.“
„Und jede soll sagen, wodurch sie glaubt, mein besonderes Gefallen zu erregen.“
„Wozu denn das?“ fragte Rutiloff erstaunt.
„Da werde ich eben sehen, was sie eigentlich wollen, sonst laß ich mich am Ende an der Nase herumführen,“ erklärte Peredonoff.
„Niemand will dich an der Nase herumführen.“
„Vielleicht wollen sie mich zum Beispiel auslachen,“ erklärte Peredonoff, „laß sie nur herauskommen, wenn sie dann Lust bekommen zu lachen, dann werde ich sie auslachen.“
Rutiloff überlegte, schob seinen Hut in den Nacken, zog ihn dann wieder in die Stirn und sagte endlich:
„Also warte jetzt, ich will gehen es auszurichten. Sonderbarer Kauz. Du komm inzwischen in den Hof, sonst — der Teufel mag wissen — kommt noch jemand gegangen und wird alles sehen.“
„Es ist doch einerlei,“ sagte Peredonoff, ging aber doch hinter Rutiloff durch die Pforte.
Rutiloff begab sich ins Haus zu seinen Schwestern; Peredonoff wartete unterdessen auf dem Hof.
Im Salon — einem Eckzimmer — mit den Fenstern zur Pforte, saßen die vier Schwestern. Sie hatten alle dieselben Gesichter, glichen dem Bruder, waren nett anzusehen, rosig und fröhlich. Die verheiratete Larissa, ruhig, sympathisch und stattlich; die flinke und quicke Darja, sie war die größte und schmächtigste von den Schwestern; die immer lachende Ludmilla und die sich zierende Valerie, klein, zart und dem Aussehen nach zerbrechlich. Sie naschten Rosinen und Nüsse und schienen aufgeregt etwas zu erwarten, denn sie lachten mehr als gewöhnlich in Erinnerung an die letzten Klatschgeschichten der Stadt und machten sich außerdem über Bekannte und Unbekannte lustig.
Vom frühen Morgen an hatten sie sich zur Trauung bereit gehalten. Es erübrigte, nur ein passendes Brautkleid anzuziehen und den Schleier und die Blumen anzustecken. Von Warwara wurde überhaupt nicht gesprochen, so als existierte sie nicht. Aber schon der Umstand, daß sie, die sich rücksichtslos über alles und jedes lustig machten, die über alle den Stab brachen, den ganzen Tag lang allein über Warwara kein Sterbenswörtchen zu sagen wußten, — schon allein dieser Umstand bewies zur Genüge, daß ein unangenehmes Erinnern an sie wie ein spitzer Nagel im Kopfe einer jeden von ihnen bohrte.
„Ich hab ihn hergelockt!“ erklärte Rutiloff bei seinem Eintritt in den Salon, „er steht an der Pforte.“
Ganz erregt sprangen die Schwestern auf und fingen alle mit einmal zu schwatzen und zu lachen an.
„Da ist nur ein Haken dabei,“ sagte Rutiloff und lächelte vielsagend.
„Was denn, was denn?“ fragte Darja. Valerie zog ärgerlich ihre schönen, schwarzen Augenbrauen zusammen.
„Jetzt weiß ich nicht, ob ich’s sagen soll?“ fragte Rutiloff.
„Nur schneller, schneller,“ drängte Darja.
Etwas verlegen erzählte Rutiloff von Peredonoffs Wünschen. Die jungen Damen fingen zu zetern an und schimpften um die Wette auf Peredonoff. Aber allgemach wurde aus dem unwilligen Geschrei Lachen und Scherzen.
Darja machte ein finster-erwartungsvolles Gesicht und sagte:
„ So wartet er an der Pforte.“
Sie hatte ihn gut und drollig nachgeahmt. Die jungen Damen guckten durchs Fenster zur Pforte. Darja öffnete das Fenster und rief:
„Ardalljon Borisowitsch! Darf man es durchs Fenster sagen?“
Als Antwort hörte man ihn brummen:
„Nein.“
Darja schloß das Fenster sofort, denn die Schwestern lachten sehr laut und konnten garnicht mehr aufhören. Dann liefen sie aus dem Salon ins Speisezimmer, um von Peredonoff nicht gehört zu werden.
Man verstand in diesem fröhlichen Kreise, die trübste Stimmung in Lachen und Scherzen ausklingen zu lassen, und so manche Angelegenheit wurde einfach durch einen Scherz gelöst.
Peredonoff stand draußen und wartete. Er war traurig, und ein unbestimmtes Angstgefühl bedrückte ihn. Er dachte daran, fortzugehen, aber auch dazu konnte er sich nicht entschließen. Irgendwo in der Ferne hörte man Musik: das war wohl die Tochter des Adelsmarschalls, die Klavier spielte. Leise und wiegend zitterten die Töne durch die dunkle, stille Abendluft; sie stimmten traurig und ließen die Gedanken traumhaft werden.
Peredonoffs Grübeleien hatten sich zuerst ins Erotische verloren. Er stellte sich die Rutiloffschen Mädchen in den wollüstigsten Lagen vor. Aber je länger er warten mußte, desto mehr fühlte er sich enttäuscht, — warum ließ man ihn überhaupt warten! Und die Musik, die nur ganz wenig an sein grobes, halberstorbenes Gemüt gerührt hatte, verlor für ihn allen Reiz.
Und ringsum war es Nacht geworden, still und doch voll Flüstern und Rauschen. Peredonoff stand innerhalb des Lichtkreises der Lampe, die im Salon brannte, darum erschien ihm alles noch dunkler. In zwei Streifen fiel das Licht auf den Hof und wurde breiter und breiter zum Nachbarzaune hin, dahinter konnte man dunkle Bretterwände sehen. Im Hintergrunde des Hofes warfen die Bäume des Rutiloffschen Gartens unheimliche Schatten und flüsterten. Lange Zeit hindurch hörte man irgendwo in der Nähe auf der Straße langsame, schwere Schritte. Peredonoff fürchtete sich: während er da wartete, hätte ihn jemand überfallen und ausrauben, vielleicht sogar ermorden können. Er drückte sich scheu an die Wand und wartete im Schatten, um nicht gesehen zu werden.
Mit einmal tauchten in den Lichtstreifen im Hofe lange Schatten auf, man hörte Türen gehen, und im Flur wurden Stimmen laut.
Sie kommen, dachte er, und sachte regten sich lüsterne Gedanken über die schönen Schwestern in seinem Hirn, — tierische Ausgeburten einer spärlichen Phantasie.
Die Schwestern warteten auf dem Flur.
Rutiloff ging zur Pforte und hielt Ausschau, ob niemand in der Nähe wäre. Es war nichts zu sehen und nichts zu hören.
„Die Luft ist rein,“ flüsterte er seinen Schwestern zu, die Hände als Sprachrohr benutzend.
Er blieb als Wache auf der Straße stehen. Peredonoff war mit ihm hinausgegangen.
„Sie werden es gleich sagen,“ sagte Rutiloff.
Peredonoff stand gerade an der Pforte und blickte auf die Spalte zwischen Pforte und Torpfosten. Sein Gesicht war düster, fast erschrocken, alles Grübeln und Denken in ihm war erloschen und an Stelle dessen war ein dumpfes, sinnliches Begehren getreten.
Darja kam als Erste an die halbgeöffnete Pforte.
„Womit könnte ich Ihr Wohlgefallen erregen?“ fragte sie.
Peredonoff schwieg finster. Darja sagte:
„Ich werde Ihnen ganz besonders schöne Pfannkuchen backen, heiße Pfannkuchen, nur: ersticken Sie nicht daran.“
Ueber ihre Schultern hinweg beeilte sich Ludmilla zu rufen:
„Ich werde jeden Morgen in die Stadt gehen, werde alle Klatschgeschichten sammeln und sie Ihnen dann vorerzählen. Das ist außerordentlich lustig.“
Zwischen den fröhlichen Gesichtern der beiden Schwestern zeigte sich für einen Augenblick Valeries kapriziöses, schmales Gesichtchen, und ein feines Stimmchen rief:
„Ich werde auf keinen Fall sagen, was ich Ihnen geben will, Sie müssen es erraten.“
Die Schwestern liefen lachend davon. Ihre Stimmen und ihr Lachen verklang hinter der Tür. Peredonoff hatte sich abgewandt. Er war nicht ganz zufrieden. Er dachte: da haben sie irgendwas geschwatzt und sind fortgegangen. Hätten sie doch lieber Zettelchen gebracht. Aber dieses Stehen und Warten dauerte zu lange.
„Hast du sie dir angesehen?“ fragte Rutiloff, „welche willst du haben?“
Peredonoff dachte nach. Natürlich, — entschloß er sich endlich, — nehme ich die Jüngste. Warum hätte er auch eine Alte heiraten sollen.
„Führ Valerie her,“ sagte er bestimmt. Rutiloff ging ins Haus und Peredonoff begab sich wieder auf den Hof.
Ludmilla spähte verstohlen durchs Fenster, um zu horchen, was sie sprachen, aber sie konnte nichts hören. Jetzt tönten Schritte auf dem Hof. Die Schwestern wurden ganz still und saßen aufgeregt und verlegen da. Rutiloff trat ein und verkündete:
„Er wünscht Valerie. Er wartet an der Pforte.“
Die Schwestern jubelten und lachten. Valerie wurde ein wenig blaß.
„Das ist gut, das ist gut,“ wiederholte sie, „ich will ihn schon gerne nehmen, ich brauche so einen Mann.“
Ihre Hände zitterten. Sie wurde angekleidet, — alle drei Schwestern bemühten sich um sie. Wie immer zierte sie sich und trödelte. Die Schwestern drängten zur Eile. Sie wünschten ihr wohl Glück, beneideten sie jedoch im stillen. Rutiloff schwatzte unaufhörlich, fröhlich erregt. Ihm gefiel es, wie schlau er die ganze Sache eingefädelt hatte.
„Hast du schon eine Droschke besorgt?“ fragte Darja.
Rutiloff antwortete aufgebracht:
„Konnte ich denn? Die ganze Stadt wäre zusammengelaufen, und Warwara hätte ihn an den Haaren nach Hause gezerrt.“
„Und wie sollen wir fortkommen?“
„Sehr einfach, bis zum Stadtplatz gehen wir zu Fuß und nehmen dort Droschken. Als erste fährst du mit der Braut, dann Larissa mit dem Bräutigam, — aber bitte nicht alle zusammen, sonst wird es noch in der Stadt bekannt. Unterdessen fahre ich mit Ludmilla zu Falastoff, die fahren dann zusammen ab, und ich hole dann den Wolodin.“
Schon aus den Scherzen der Schwestern war zu ersehen, wie sehr Valerie beneidet wurde; sie wurde gepufft und mit ihrem Trödeln und Sich-Zieren geneckt. Endlich hielt sie es nicht mehr aus und sagte:
„Was wollt ihr eigentlich? sind die Trauben sauer? Wenn ihr das meint, dann will ich überhaupt nicht.“
Und sie brach in Tränen aus. Die Schwestern sahen einander an und versuchten sie durch Küsse und Schmeicheleien zu beruhigen.
„Was weinst du denn, Dummerchen,“ sprach Darja, „wir scherzen doch nur.“
Larissa sagte in beruhigendem, zärtlichen Ton:
„Du wirst ihn schon unter den Pantoffel kriegen. Wenn er nur erst geheiratet hat.“
Allmählich wurde Valerie ruhiger.
Peredonoff stand allein draußen und gab sich lüsternen Gedanken hin. Er träumte von der Brautnacht: Valerie nackt, verschämt und doch fröhlich in seiner Umarmung, so schmächtig wie sie war, so subtil ...
Das alles malte er sich aus, während er ein Bonbon nach dem andern aus seiner Tasche zog und daran lutschte.
Auf einmal fiel es ihm ein, daß Valerie recht kokett wäre. Sie wird ja Toilette machen wollen — überlegte er — und überhaupt Aufwand treiben. Dann wird es gewiß nicht mehr möglich sein allmonatlich Geld auf die Sparbank zu tragen, und alles Ersparte wird draufgehn. Und seine Frau wird Launen zeigen, und — womöglich — nicht einen Fuß in die Küche setzen. In der Küche werden dann die Speisen vergiftet werden, denn Warja wird sich rächen wollen und die Köchin bestechen. Und außerdem ist sie mir viel zu mager, dachte Peredonoff. Man weiß überhaupt nicht, wie man sie anfassen soll. Man kann sie nicht schimpfen, man kann sie nicht stoßen, man kann sie nicht anspucken. Sie fängt zu schluchzen an und wird einen vor aller Welt blamieren. Nein, — es ist unheimlich, sich mit ihr einzulassen.
Ludmilla ist darin ganz anders. Soll ich sie heiraten? Peredonoff trat ans Fenster und klopfte mit seinem Stock an das Fensterkreuz. Nach einer halben Minute steckte Rutiloff seinen Kopf heraus.
„Was willst du?“ fragte er beunruhigt.
„Ich habe mich bedacht,“ brummte Peredonoff.
Rutiloff trat vom Fenster zurück.
„Satan rundgeborner!“ murmelte er und ging zu seinen Schwestern.
„Es ist dein Glück, Ludmilla,“ sagte sie fröhlich.
Ludmilla lachte, sie ließ sich auf einen Sessel fallen und lachte, lachte, bis ihr der Atem ausging.
„Was soll ich ihm sagen?“ fragte Rutiloff, „willst du ihn überhaupt?“
Ludmilla konnte vor Lachen nichts sagen, sie winkte nur mit den Händen.
„Natürlich will sie,“ sagte Darja für sie, „sag’s ihm nur schnell, sonst sucht er das Weite ohne die Antwort abzuwarten.“
Rutiloff ging in den Salon und flüsterte durchs Fenster:
„Wart einen Augenblick; sie ist gleich fertig.“
„Aber etwas flinker,“ sagte Peredonoff ärgerlich, „was trödeln sie so lange.“
Ludmilla wurde eilig angekleidet. Nach fünf Minuten war sie fertig.
Peredonoff dachte an sie. Sie ist fröhlich und mollig. Nur eins, sie liebt zu lachen. Würde sie ihn auslachen? Gräßlicher Gedanke. Darja ist freilich munter, aber doch solider und ruhiger. Hübsch ist sie auch. Es ist besser sie zu heiraten. Er klopfte wieder ans Fenster.
„Er klopft wieder,“ sagte Larissa, „am Ende gilt es jetzt dir, Darja!“
„So ein Teufel,“ schimpfte Rutiloff und lief ans Fenster.
„Was willst du noch?“ fragte er böse, „hast du dich wieder bedacht, he?“
„Bring Darja her,“ antwortete Peredonoff.
„Das will ich dir eintränken,“ flüsterte Rutiloff wütend.
Peredonoff stand und dachte an Darja — und wieder kam an Stelle des sinnlichen Wohlgefallens ein Gefühl der Furcht. Sie ist zu lebhaft, zu dreist, sie wird mich quälen. — Und was steh’ ich hier, worauf warte ich eigentlich — dachte er. — Ich werde mich erkälten. Dort im Graben am Straßenrand, im Grase beim Zaun hat sich jemand versteckt, der springt plötzlich auf und wird mich ermorden! Peredonoff hatte große Angst. Außerdem, überlegte er, bekommen sie keine Mitgift. Irgendwelche Verbindungen nach oben hin haben sie nicht. Warwara wird bei der Fürstin klagen. Und der Direktor ist sowieso nicht gut auf mich zu sprechen.
Peredonoff ärgerte sich über sich selbst. Was hatte er sich überhaupt mit den Rutiloffs einzulassen. Es war geradeso, als hätte ihn Rutiloff behext. Ja wirklich, er muß mich behext haben. Ich muß rasch etwas dagegen tun.
Peredonoff drehte sich wie ein Kreisel herum, spuckte nach allen Seiten und murmelte Beschwörungsformeln. Sein Gesicht war ernst und aufmerksam, als hätte er etwas Wichtiges vor. Dann fühlte er sich leichter und glaubte gesichert zu sein vor Rutiloffs Zauberkünsten. Sehr energisch klopfte er mit seinem Stock ans Fenster und flüsterte dabei:
„Wäre es nicht gut, sie zu denunzieren?“
Rutiloff steckte seinen Kopf aus dem Fenster.
„Ich will heute nicht heiraten,“ erklärte Peredonoff.
„Aber was ist denn, Ardalljon Borisowitsch, alles ist schon fertig“ versuchte ihn Rutiloff zu überreden.
„Ich will nicht,“ sagte Peredonoff energisch, „komm zu mir nach Hause Karten spielen.“
„Verdammter Teufel!“ schimpfte Rutiloff. „Er will nicht heiraten,“ erklärte er den Schwestern, „er hat Angst gekriegt. Aber ich will diesen Esel schon zähmen. Er bittet mich, bei ihm Karten zu spielen.“
Die Schwestern schrieen und schalten auf Peredonoff.
„Willst du wirklich zu diesem Halunken gehen?“ fragte Valerie aufgebracht.
„Freilich, und zur Strafe werde ich ihn bespielen. Und außerdem soll er von uns doch nicht loskommen,“ redete Rutiloff und bemühte sich dabei, sehr sicher zu erscheinen, obgleich er sich recht ungemütlich fühlte.
Die Wut der Schwestern auf Peredonoff verwandelte sich allgemach in große Heiterkeit. Rutiloff war fortgegangen. Die jungen Damen liefen ans Fenster.
„Ardalljon Borisowitsch!“ rief Darja, „warum sind Sie so unentschlossen! Das geht doch nicht!“
„Herr Sauerampfer!“ rief Ludmilla und lachte laut.
Peredonoff war sehr unzufrieden. Seiner Meinung nach hätten die Schwestern vor lauter Kummer weinen müssen, — er hatte sie doch sitzen lassen. „Sie verstellen sich nur,“ dachte er und ging schweigend zum Tore hinaus. Die jungen Damen liefen an die Fenster, welche zur Straße führten und riefen Peredonoff allerlei böse Worte nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war.
Peredonoff fühlte sich sehr unbehaglich. Auch hatte er keine Bonbons mehr in der Tasche, und das ärgerte und verstimmte ihn. Rutiloff redete fast die ganze Zeit über allein, — er sprach noch immer in Tönen der Verzückung von seinen Schwestern. Peredonoff unterbrach nur einmal sein Gerede. Er fragte ärgerlich:
„Hat der Stier Hörner?“
„Freilich, und was weiter?“ fragte Rutiloff erstaunt.
„Na, ich will eben nicht Stier sein,“ erklärte Peredonoff.
Rutiloff fühlte sich gekränkt und sagte:
„Gewiß, Ardalljon Borisowitsch, du kannst unmöglich ein Stier werden, weil du ein komplettes Schwein bist!“
„Lüge!“ grunzte Peredonoff.
„Nein, ich lüge nicht und ich kann’s beweisen,“ sagte schadenfroh Rutiloff.
„Beweis’ doch,“ verlangte Peredonoff.
„Wart nur, ich will es schon beweisen,“ höhnte Rutiloff. Beide schwiegen. Peredonoff wartete ängstlich; er hatte einen stillen Haß auf Rutiloff. Plötzlich fragte Rutiloff.
„Hast du einen Fünfer bei dir, Ardalljon Borisowitsch?“
„Ja, aber du kriegst ihn nicht,“ antwortete Peredonoff böse.
Rutiloff lachte aus vollem Halse.
„Wie solltest du kein Schwein sein, wenn du einen Fünfer [4] hast,“ rief er vergnügt.
Peredonoff griff erschreckt nach seiner Nase.
„Du lügst,“ brummte er, „ich habe keinen Fünfer, ich habe eine ganz gewöhnliche Fratze.“
Rutiloff lachte noch immer. Peredonoff schielte ärgerlich nach ihm und sagte:
„Du hast mich heute absichtlich an Bilsenkraut vorbeigeführt und hast mich behexen wollen, damit ich deinen Schwestern in die Schlingen gehe. Ich habe schon an einer Hexe genug , da soll ich gleich drei auf einmal heiraten.“
„Wie du merkwürdig bist,“ sagte Rutiloff, „wie kommt es denn, daß das Bilsenkraut mir nichts anhaben konnte?“
„Du kennst die Gegenmittel,“ sagte Peredonoff, „vielleicht hast du mit dem Munde geatmet und die Nase zugehalten, oder vielleicht hast du irgendwelche Zaubersprüche dagegen gesagt; ich kenne sowas nicht, wie man sich vor Zauberei zu schützen hat. Ich bin kein Schwarzkünstler. Ich war die ganze Zeit im Banne des Bilsenkrauts, bis ich mich dagegen sicherte.“
Rutiloff lachte.
„Was hast du denn getan“, fragte er.
Aber Peredonoff schwieg bereits.
„Warum hast du dich an die Warwara gekettet?“ sagte Rutiloff. „Glaubst du etwa, es wird dir gut gehen, wenn du durch ihre Vermittlung eine Stellung bekommst? Sie will dich begaunern.“
Peredonoff verstand das nicht.
Sie hat ihren eigenen Vorteil im Auge — dachte er, — sie wird es doch besser haben, wenn sie mit einem höheren Beamten verheiratet ist und mehr Geld bekommt. Mit andren Worten: sie ist ihm zu Dank verpflichtet, nicht er ihr. Und in jedem Fall ist es mit ihr bequemer zu leben, als sonst mit irgend einer Person.
Peredonoff hatte sich an Warwara gewöhnt. Sie erschien ihm begehrenswert, vielleicht aus dem einfachen Grunde, weil es ihm zum Bedürfnis geworden war, sie zu quälen. Eine ähnliche Frau hätte er nicht einmal auf Bestellung bekommen.
Es war spät geworden. In Peredonoffs Wohnung war noch Licht, die hellen Fenster stachen grell von der dunklen Straße ab.
Am Teetisch saßen Gäste: die Gruschina — Warwaras alltäglicher Gast —, Wolodin, die Prepolowenskaja, ihr Mann Konstantin Petrowitsch, ein stattlicher Vierziger; er war sehr schweigsam, bleich und hatte schwarze Haare. Warwara hatte sich schön gemacht — sie trug ein weißes Kleid. Man trank Tee und plauderte. Wie gewöhnlich, wenn Peredonoff lange ausblieb, fühlte sich Warwara beunruhigt. Wolodin hatte fröhlich meckernd berichtet, Peredonoff wäre zusammen mit Rutiloff gegangen. Ein Grund mehr um Warwaras Unruhe zu steigern.
Endlich erschien Peredonoff und Rutiloff. Sie wurden mit Gelächter und dummen, zotigen Scherzen empfangen.
„Wo ist der Schnaps?“ herrschte Peredonoff Warwara an. Sie sprang auf, lächelte schuldbewußt und brachte eilig den Schnaps in einer grobgeschliffenen Karaffe.
„Prost“, brummte Peredonoff.
„Warte doch, die Magd bringt den Imbiß gleich,“ sagte Warwara, „he, Faultier, etwas flinker,“ rief sie in die Küche.
Aber Peredonoff hatte den Schnaps schon eingeschenkt. Er murmelte:
„Man soll noch warten! Die Zeit wartet nicht.“
Man trank und aß dazu kleine Saftpasteten.
Zur Unterhaltung der Gäste hatte Peredonoff nur Schnaps und Karten bereit. Zum Kartenspiel war es noch zu früh, — man hatte den Tee noch nicht getrunken, — also blieb der Schnaps.
Unterdessen war der Imbiß gebracht worden, so konnte man weiter trinken. Die Magd hatte beim Hinausgehen die Tür nicht geschlossen. Peredonoff wurde unruhig.
„Ewig ist die Tür sperrangelweit auf“, schimpfte er.
Er fürchtete den Zugwind, — man hätte sich erkälten können. Daher war es in der Wohnung stets dumpf.
Die Prepolowenskaja nahm ein Ei.
„Prachtvolle Eier,“ sagte sie, „wo kaufen Sie ein?“
Peredonoff antwortete:
„Das sollen Eier sein! Auf unsrem Gut gab es eine Henne, die legte tagaus tagein zwei große Eier.“
„Große Herrlichkeit,“ antwortete die Prepolowenskaja, „als wäre das was Besonderes, auch ein Grund zum Protzen! Wir hatten im Dorf eine Henne, die legte täglich zwei Eier und ein Achtel Butter dazu.“
„Akkurat wie bei uns,“ sagte Peredonoff, ohne den Witz zu begreifen. „Was andere Hühner konnten, konnte unsre Henne erst recht. Unsere Henne war sehr ergiebig.“
Warwara lachte.
„Dumme Witze“, sagte sie.
„Die Ohren faulen ab von solchem Unsinn,“ sagte die Gruschina.
Peredonoff sah sie wütend an und gab erbittert zur Antwort:
„Wenn sie faulen, täte man gut, sie abzureißen.“
Die Gruschina wurde verlegen.
„Sie werden gleich ungemütlich, Ardalljon Borisowitsch; immer sagen Sie sowas!“ meinte sie schüchtern.
Die andern lachten mitleidig. Wolodin zwinkerte mit den Augen, runzelte die Stirn und erklärte:
„Wenn Ihre Ohren faulen, so muß man sie abreißen, sonst wäre es ja komisch, wenn sie verfaulen und hin und her schlenkern.“
Wolodin zeigte mit den Händen, wie die verfaulten Ohren hin und her schlenkern würden. Die Gruschina schrie ihn an:
„Sie schwatzen alles nach! Was eigenes wissen Sie nicht zu sagen.“
Wolodin fühlte sich gekränkt und entgegnete mit Würde:
„Ich kann wohl, wenn ich nur will, Marja Ossipowna, da wir aber dabei sind, uns in größerer Gesellschaft angenehm zu unterhalten, so sehe ich keinen Grund, warum ich nicht dem Scherze eines anderen beipflichten sollte. Sollte Ihnen das nicht passen, so tun Sie, was Sie wollen. Wie Sie uns begegnen, so begegnen wir Ihnen.“
„So ist es recht, Pawel Wassiljewitsch,“ ermunterte ihn lachend Rutiloff.
„Pawel Wassiljewitsch steht immer seinen Mann,“ sagte die Prepolowenskaja und lächelte spöttisch.
Warwara hatte ein Stück Brot geschnitten und behielt das Messer in der Hand, während sie auf Wolodins scherzhafte Bemerkungen horchte. Die Messerklinge funkelte. Peredonoff lief es kalt über den Rücken, — wie, wenn sie ihn plötzlich niederstoßen würde. Er rief:
„Warwara, leg das Messer fort!“
Warwara zuckte zusammen.
„Was schreist du so,“ sagte sie und legte das Messer beiseite. „Wissen Sie, er sieht immer Gespenster,“ erklärte sie dem schweigsamen Prepolowenskji. Der strich sich den Bart und machte Miene, etwas zu sagen.
„Das kommt vor“, begann er mit traurig-weicher Stimme, „ich hatte einen Bekannten, der fürchtete sich vor Nadeln. Ihn plagte die Angst, jemand würde ihn stechen und die Nadel würde in seine Eingeweide dringen. Und stellen Sie sich vor, jedesmal wenn er eine Nadel sah, zitterte er ...“
Hatte er einmal angefangen zu reden, so hörte er nicht auf und erzählte immer wieder dasselbe mit kleinen Aenderungen, bis ihn jemand unterbrach, um auf ein anderes Thema zu kommen. Alsdann hüllte er sich wieder in tiefes Schweigen.
Die Gruschina gab dem Gespräch eine Wendung ins Zotige. Sie erzählte von der Eifersucht ihres verstorbenen Mannes, und wie sie ihn hintergangen hätte. Dann berichtete sie von einem Klatsch über irgendeine hochstehende Persönlichkeit und seine Maitresse. Diese hätte einmal auf der Straße ihren Liebhaber getroffen. Ganz laut ruft sie ihm zu: Guten Tag, Jeannot! — Das auf offener Straße! — erzählte sie.
„Ich werde gegen Sie Anzeige erstatten“, sagte Peredonoff ärgerlich, „wie darf man sich unterstehen, über Leute von Rang solche Geschichten zu verbreiten!“
Die Gruschina murmelte erschreckt:
„Ich kann nichts dafür, man hat es mir so erzählt. Ich erzähle es nur weiter.“
Peredonoff schwieg erbost, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und trank seinen Tee aus der Untertasse. Er dachte bei sich, daß es im Hause eines künftigen Inspektors nicht statthaft wäre, unehrerbietig über hohe Beamte zu reden. Er ärgerte sich über die Gruschina. Auch Wolodin kam ihm verdächtig vor: merkwürdig oft nannte er ihn Herr Inspektor in spe . Einmal hatte ihm Peredonoff schon gesagt:
„Du beneidest mich wohl, mein Bester! Du wirst es nicht zum Inspektor bringen, ich wohl.“
Hierauf hatte Wolodin entgegnet, — und er gab seinem Gesicht ein überzeugendes Aussehen:
„Jedem das Seine, Ardalljon Borisowitsch — Sie sind Spezialist auf diesem Gebiet, ich auf meinem .“
„Denken Sie nur, Nataschka ist von uns direkt zum Gendarmerieoberst in Dienst gegangen,“ berichtete Warwara.
Peredonoff fuhr auf; verstört blickte er um sich.
„Du lügst wieder!“ sagte er halb fragend.
„Nanu, warum soll ich lügen,“ antwortete Warwara, „geh zu ihm hin und frag ihn doch.“
Diese unangenehme Neuigkeit wußte auch die Gruschina zu bestätigen. Peredonoff geriet ganz aus der Fassung. Sie würde ihn denunzieren, der Gendarmerieoberst würde sich das merken und gelegentlich dem Ministerium Bericht erstatten. Wie fatal!
Peredonoffs Auge blieb an einem Bücherregal haften, welches über der Kommode hing. Da standen einige gebundene Bücher: dünne Bändchen von Pissareff und etwas dickere — „Vaterländische Memoiren“. Peredonoff erbleichte und sagte:
„Diese Bücher müssen fort, sonst werde ich denunziert.“
Früher hatte Peredonoff diese Bücher zur Schau gestellt, um damit seine liberale Gesinnung zu zeigen, — in der Tat war er vollständig gesinnungslos und hatte nicht die geringste Lust, irgend einem Problem nachzugehen. Außerdem standen diese Bücher nur bei ihm, er las sie garnicht. Es war schon lange her, daß er ein Buch zur Hand genommen hatte — zum Lesen hatte er keine Zeit, — aber auch Zeitungen ließ er nicht kommen, die Tagesneuigkeiten erfuhr er aus Gesprächen. Im übrigen gab es für ihn eigentlich nichts Wissenswertes, denn nichts in der Welt interessierte ihn. Ueber Zeitungsabonnenten machte er sich lustig, es wären Geldverschwender und Tagediebe. Man hätte glauben können, daß ihm jede Minute kostbar war.
Er ging zum Bücherbrett und flüsterte:
„Das ist bezeichnend für unsere Stadt, alles wird hinterbracht. Hilf doch, Pawel Wassiljewitsch,“ sagte er zu Wolodin.
Wolodin erhob sich. Er machte ein ernstes, verständnisvolles Gesicht und nahm behutsam die Bücher, welche Peredonoff ihm reichte. Sich selbst behielt Peredonoff einen kleinen Bücherpacken, Wolodin gab er den größeren und ging in den Saal. Wolodin hinter ihm her.
„Wohin wollen Sie den Plunder verstecken, Ardalljon Borisowitsch?“ fragte er.
„Das wirst du sehen,“ antwortete Peredonoff verdrießlich.
Die Prepolowenskaja fragte:
„Was schleppen Sie da eigentlich, Ardalljon Borisowitsch?“
Im Fortgehen antwortete Peredonoff:
„Streng verbotene Bücher. Wenn man die sieht, werde ich denunziert.“
Im Saal kniete Peredonoff vor dem Ofen nieder, legte die Bücher auf den Boden — Wolodin tat dasselbe — und schob ein Buch nach dem andern durch die schmale Ofentür. Wolodin kniete hinter ihm und reichte die Bücher. Dabei suchte er den sinnenden, verständigen Ausdruck in seinem Schafsgesicht zu wahren, indem er seine Lippen vorstreckte und seine rundgewölbte Stirn in Falten legte.
Warwara stand an der Tür und sah zu. Sie lachte und sagte:
„Du bist ein ganzer Narr!“
Aber die Gruschina verwies ihr das:
„Nein, Warwara Dmitriewna. Sagen Sie nicht, die größten Unannehmlichkeiten können entstehen, wenn da was herauskommt. Vergessen Sie nicht, er ist Lehrer am Gymnasium. Die Vorgesetzten fürchten sehr, die Lehrer könnten den Schülern revolutionäre Ideen beibringen.“
Man hatte den Tee getrunken und machte sich ans Pochspiel; alle sieben setzten sich an den Kartentisch im Saal. Peredonoff spielte sehr eifrig, aber ohne Erfolg. Bei jedem zwanzigsten Stich verlor er und mußte zahlen; Prepolowenskji hatte das größte Glück. Er spielte mit seiner Frau zusammen. Sie hatten bestimmte Zeichen verabredet, Hüsteln, Klopfen und verständigten sich so über die Karten, welche sie in der Hand hielten.
Peredonoff hatte heute gar kein Glück. Er beeilte sich, seine Einsätze zurückzugewinnen, allein Wolodin zögerte im Gegenspiel und bemühte sich, seine Karten zu halten.
„Pawluschka, sag an,“ rief Peredonoff ungeduldig.
Wolodin fühlte sich im Spiel als gleichberechtigte Persönlichkeit, er machte ein bedeutendes Gesicht und sagte:
„Wie meinst du das eigentlich, freundschaftlich oder wie?“
„Freundschaftlich, freundschaftlich,“ entgegnete Peredonoff gedankenlos, „sag nur schneller an!“
„Es sei denn, ich bin wirklich erfreut, von Herzen erfreut,“ redete Wolodin und lachte froh und dumm, während er sein Spiel ansagte, „du bist ein Prachtmensch, Ardascha, und ich habe dich sogar aufrichtig lieb. Freilich hättest du es nicht freundschaftlich gemeint, so wäre es ein ander Ding. Weil du es aber freundschaftlich meinst, so bin ich hocherfreut. Zur Belohnung gebe ich dir ein Aß,“ sagte Wolodin und spielte Trumpf.
Peredonoff hatte in der Tat ein Aß, aber nicht Trumpf, daher verlor er wieder. Geärgert sagte er:
„Du gabst mir ein Aß, aber ich kann’s nicht brauchen, du betrügst,“ brummte er, „ich brauchte Trumpf und was hast du mir gegeben? Was fang ich mit Pik-Aß an?“
Rutiloff wurde witzig:
„Freilich, wozu brauchst du ein Aß, du bist ja selber ein Aas.“
Wolodin meckerte und kicherte:
„Der Inspektor in spe macht eine Wandlung durch: Aß, Aß, Aas.“
Rutiloff schwatzte in einem fort, er erzählte Klatschgeschichten und Anekdoten recht zweifelhaften Inhalts. Um Peredonoff zu ärgern, versicherte er, daß die Gymnasiasten sich schlecht betrügen, besonders jene, welche nicht im Internat lebten: sie rauchen, trinken Schnaps und stellen jungen Mädchen nach. Peredonoff glaubte das. Und die Gruschina bestärkte ihn in diesem Glauben. Solche Geschichten bereiteten ihr ein besonderes Vergnügen: sie hatte nämlich nach dem Tode ihres Mannes die Absicht gehabt, eine Pension für 3-4 Gymnasiasten einzurichten. Der Direktor hatte ihr hierzu die Konzession nicht erteilt, trotz Peredonoffs Fürsprache, — denn die Gruschina stand in schlechtem Ruf. Nun begann sie eifrig jene Frauen zu schmähen, welche Gymnasiasten in Pension hatten.
„Sie bestechen den Direktor,“ erklärte sie. „Solche Frauen gehören zum Gesindel,“ sagte Wolodin mit Nachdruck, „beispielsweise meine Wirtin. Als ich das Zimmer mietete, wurde vereinbart, sie hätte mir jeden Abend drei Glas Milch zu liefern. Schön, einen Monat, den zweiten, war alles in Ordnung.“
„Hast du dich nicht besoffen?“ fragte Rutiloff lachend.
„Warum sollte ich mich besaufen?“ entgegnete Wolodin gekränkt. „Milch ist ein vorzügliches Nahrungsmittel. Außerdem hatte ich mich daran gewöhnt, jeden Abend drei Glas zu trinken. Plötzlich werden mir nur zwei Glas gebracht. Warum denn so? frage ich. Die Magd antwortet: Anna Michailowna — sagte sie — läßt vielmals um Entschuldigung bitten, aber ihre Kuh — sagt sie — gäbe jetzt weniger Milch. Was geht mich das an! Ich halte mich an meinen Kontrakt. Gesetzt den Fall, ihre Kuh gibt überhaupt keine Milch mehr, soll ich dann ohne bleiben? Nun, sage ich, wenn keine Milch da ist, so sagen Sie Anna Michailowna, daß ich um ein Glas Wasser bitte. Ich habe mich gewöhnt, drei Glas zu trinken, zwei Glas sind mir zu wenig.“
„Pawluschka ist ein Held,“ sagte Peredonoff, „erzähl’ doch deine Geschichte mit dem General.“
Wolodin kam dieser Aufforderung bereitwillig nach. Allein diesmal wurde er ausgelacht. Gekränkt streckte er seine Unterlippe vor.
Während des Abendessens betranken sich alle vollständig, sogar die Frauen.
Wolodin machte den Vorschlag, die Tapeten noch ein wenig zu bearbeiten. Alle freuten sich: unverzüglich ließen sie das Essen stehen, machten sich an die Arbeit und amüsierten sich wie die Tollen. Die Tapeten wurden bespuckt, mit Bierresten begossen, man warf Papierpfeile, deren Spitzen mit Butter beschmiert waren, an die Wände, man schleuderte kleine Teufelchen, die aus gekautem Brot geknetet wurden, an die Lage. Dann beschloß man, auf gut Glück Fetzen aus der Tapete zu reißen — wer die längsten Streifen zog, gewann. Bei diesem Spiel gewannen die Prepolowenskjis anderthalb Rubel.
Wolodin verlor. Infolgedessen und auch wohl infolge seiner Betrunkenheit wurde er plötzlich wehmütig und klagte seine Mutter an. Er machte ein vorwurfsvolles Gesicht und sprach, aus irgend einem Grunde mit der Faust zur Erde weisend:
„Warum hat sie mich geboren? Was hat sie sich dabei gedacht? Was hab ich doch für ein elendes Leben! Sie ist nicht meine Mutter, sie hat mich nur in die Welt gesetzt. Denn eine echte Mutter sorgt für ihr Kind, meine Mutter hat mich zur Welt gebracht und noch im zartesten Alter in Kronsinstitute gesteckt.“
„Dafür haben Sie etwas gelernt und Sie können sich unter Menschen sehen lassen,“ sagte die Prepolowenskaja.
Wolodin senkte seine Stirn, wackelte mit dem Kopfe und sagte:
„Nein, nein, was ist an meinem Leben dran, — es ist ein Hundeleben. Warum hat sie mich geboren? Was hat sie sich dabei gedacht?“
Plötzlich mußte Peredonoff an die Jerli von gestern denken.
„Aha,“ dachte er bei sich, „er klagt seine Mutter an, warum sie ihn geboren hätte, er will eben nicht mehr der Pawluschka von früher sein. So ist es, so ist es: er beneidet mich. Vielleicht geht er schon jetzt mit dem Gedanken um, Warwara zu heiraten und in meine Haut zu kriechen,“ so dachte Peredonoff und blickte wehmütig auf Wolodin.
Könnte man ihm doch eine Frau verschaffen?
Im Schlafzimmer, als es schon spät in der Nacht war, sagte Warwara zu Peredonoff:
„Du denkst wohl, all die jungen Weiber, welche dir nachstellen, sind schön, weil sie jung sind? Sie sind alle Plunder, ich bin schöner als sie alle.“
Eilig entkleidete sie sich und entblößte mit einem niederträchtigen Lächeln auf den Lippen ihren leicht geröteten, schlanken, schönen, elastischen Körper.
Obwohl sie vor Trunkenheit taumelte und obwohl ihr tierisch-wollüstiger Gesichtsausdruck jeden lebensfrohen Menschen abgestoßen hätte, so muß doch zugestanden werden, daß sie einen wunderschönen Körper hatte, einen Körper so zart, wie man ihn bei Nymphen zu denken liebt und an diesen Körper schien eine böse Fee den Kopf einer gemeinen Dirne gezaubert zu haben. Und dieser prachtvolle Leib war für die zwei betrunkenen, schmutzigen Leute nur ein Mittel, um ihre viehische Lust daran zu stillen.
So pflegt es oft zu sein und wahrhaftig in unsrem Zeitalter scheint die Schönheit dazu bestimmt, niedergetreten und mißachtet zu werden.
Peredonoff lachte tierisch, wie er seine Freundin nackt vor sich stehen sah.
Die ganze Nacht über träumte er von nackten Frauenleibern.
Warwara glaubte, daß die Einreibungen mit Nesseln, welche sie auf den Rat der Prepolowenskaja anwandte, erfolgreich gewesen wären. Es schien ihr, als sei sie plötzlich voller geworden.
Alle ihre Bekannten fragte sie:
„Nicht wahr, ich nehme doch zu?“
Und sie dachte im stillen, daß Peredonoff sie nunmehr unbedingt heiraten würde; er mußte doch sehen, wie sie dicker wurde, und dann würde er außerdem den gefälschten Brief erhalten.
Peredonoff war lange nicht so hoffnungsfreudig. Er war überzeugt, daß der Direktor ihm feindlich gesinnt wäre — und in der Tat der Direktor des Gymnasiums hielt Peredonoff für einen trägen und unfähigen Lehrer. Peredonoff seinerseits dachte, der Direktor gäbe den Schülern Instruktionen, ihn zu mißachten, — das war natürlich Peredonoffs eigene grundlose Erfindung. Immerhin festigte das in Peredonoff die Ueberzeugung, er habe sich vor dem Direktor in acht zu nehmen. Aus Bosheit machte er sich des öfteren in den höheren Klassen über seinen Vorgesetzten lustig, und einer ganzen Reihe von Schülern gefiel das.
Jetzt, wo Peredonoff den Plan hatte, Inspektor zu werden, wurde ihm dieses unfreundliche Verhalten des Direktors doppelt unangenehm.
Gesetzt den Fall, die Fürstin legte sich ins Mittel, so schlägt ihre Protektion die Ränke des Direktors nieder. Immerhin schien das Spiel nicht ungefährlich.
Außerdem glaubte Peredonoff in den letzten Tagen noch anderen Leuten begegnet zu sein, welche ihm nicht wohlwollten und nur zu gerne seine Hoffnungen auf den Inspektorposten zerstört hätten.
Zum Beispiel Wolodin: nicht umsonst redet er immer wieder vom Inspektor in spe . Auch hat es Fälle gegeben, daß Menschen sich einfach fremde Namen beilegten und ganz lustig in den Tag hineinlebten.
Freilich, so direkt sich in Peredonoffs Rolle hereinzufinden, dürfte dem Wolodin schwer fallen, doch war Wolodin trotz seiner Dummheit in seinen Einfällen unberechenbar. Und es ist ratsam, sich vor einem bösen Menschen in acht zu nehmen.
Ferner die Rutiloffs, die Werschina mit ihrer Martha, schon aus Neid Parteigenossen, alle sind sie froh ihm zu schaden. Wie ließ sich das anstellen? Sehr einfach, man schwärzt ihn bei den Vorgesetzten an und erklärt, er sei ein unzuverlässiger Mensch.
So kam es, daß Peredonoff sich um zweierlei sorgte; erstens mußte seine Zuverlässigkeit über jeden Zweifel erhaben sein, und zweitens mußte er sich vor Wolodin schützen, indem er ihm eine reiche Heirat vermittelte.
Eines schönen Tages fragte er Wolodin:
„Willst du — ich werde für dich bei Fräulein Adamenko anhalten? Oder trauerst du noch um Martha? Ein Monat dürfte doch genügt haben, deinen Gram zu stillen.“
„Warum soll ich um Martha trauern,“ antwortete Wolodin, „ich habe ihr einen ehrenvollen Antrag gemacht, wenn sie aber nicht will, so ist das nicht meine Schuld. Ich werde auch eine andere kriegen, oder sollte sich tatsächlich keine einzige Braut für mich finden? Gott, so was kriegt man doch an jeder Straßenecke.“
„Ja, aber die Martha hat dich doch abgekorbt,“ neckte Peredonoff.
„Ich weiß nicht, was für einen Bräutigam sie erwartet,“ sagte Wolodin beleidigt. „Hätte sie wenigstens eine große Mitgift, aber so —! .. Sie hat sich in dich vernarrt, Ardalljon Borisowitsch.“
Peredonoff gab ihm einen Rat:
„An deiner Stelle würde ich ihre Pforte mit Teer beschmieren.“ [5]
Wolodin kicherte, beruhigte sich aber gleich und sagte:
„Wenn man mich klappt, so wird es Unannehmlichkeiten geben.“
„Du brauchst es ja nicht selber zu tun; miete dir doch irgend jemand,“ sagte Peredonoff.
„Bei Gott, es wäre eine gerechte Strafe,“ sagte Wolodin begeistert, „denn wenn sie nicht eine richtige Heirat eingehen will, indessen aber bei Nacht junge Leute durchs Fenster in ihr Zimmer läßt, — so hört doch alles auf. Solche Menschen haben weder Schamgefühl noch Gewissen.“
Am nächsten Tage machte sich Peredonoff mit Wolodin auf den Weg zu Fräulein Adamenko. Wolodin hatte sich schön gemacht, er trug seinen neuen, ein wenig zu engen Bratenrock, ein reines Plätthemd, einen bunten Schlips; er hatte seine Haare mit Pomade eingerieben, sich parfümiert und war in gehobener Stimmung.
Nadeschda Wassiljewna Adamenko lebte mit ihrem Bruder in einem eigenen roten Ziegelhäuschen; nicht weit von der Stadt hatte sie ein Gut, welches verpachtet wurde. Vor zwei Jahren hatte sie die höhere Töchterschule absolviert und beschäftigte sich jetzt damit, auf der Ottomane zu liegen, allerhand Bücher zu lesen und ihren Bruder, einen elfjährigen Gymnasiasten, zu berufen. Dieser rettete sich vor der strengen Schwester mit der kurzen Bemerkung: „Mama war viel besser als du. Mama stellte einfach den Regenschirm in die Ecke, nicht mich.“
Bei Nadeschda Wassiljewna lebte noch ihre Tante, ein wesenloses, unselbständiges Geschöpf. Im Haushalt hatte sie nichts zu bedeuten. Nadeschda Wassiljewnas Bekanntenkreis war eng begrenzt. Peredonoff besuchte sie selten und nur der Umstand, daß er sie fast garnicht kannte, entschuldigte seinen Plan, dieses Fräulein mit Wolodin zu verheiraten.
Sie war sichtlich erstaunt über den unerwarteten Besuch, doch empfing sie ihre Gäste immerhin liebenswürdig. Gäste wollen unterhalten sein und Nadeschda Wassiljewna glaubte, daß ein Lehrer der russischen Sprache am liebsten über Pädagogik, über die bevorstehende Schulreform, Kindererziehung, Literatur, Symbolismus, russisches Zeitungswesen reden würde. Sie berührte gesprächsweise alle diese Fragen, erhielt aber so merkwürdige Antworten, daß es ihr erstaunlich klar wurde, wie vollständig gleichgültig ihren Gästen all diese Dinge waren. Sie erkannte, daß nur ein Gesprächsthema möglich war, nämlich Klatschgeschichten. Trotzdem machte Nadeschda Wassiljewna noch einen Versuch:
„Haben Sie Tschechoffs „Menschen im Futteral“ gelesen?“ fragte sie. „Nicht wahr, ein vortreffliches Buch?“
Sie hatte diese Frage an Wolodin gerichtet. Der fletschte die Zähne und fragte:
„Was ist denn das, eine Novelle oder ein Roman?“
„Eine Erzählung,“ erklärte Nadeschda Wassiljewna.
„Von Herrn Tschechoff, wenn ich fragen darf?“ erkundigte sich Wolodin.
„Ja, von Tschechoff,“ sagte Nadeschda Wassiljewna und lächelte.
„Wo ist es denn erschienen?“ fragte Wolodin neugierig weiter.
„Im ‚Russischen Gedanken‘“ antwortete das Fräulein sehr liebenswürdig.
„In welcher Nummer?“ erkundigte sich Wolodin.
„Ich weiß nicht recht, ich glaube, es war im Sommer,“ antwortete Nadeschda Wassiljewna immer noch liebenswürdig, aber sehr erstaunt.
Der kleine Gymnasiast rief durch die Türspalte:
„Im Maiheft war die Erzählung gedruckt,“ er hielt sich mit den Händen an der Tür und blickte mit seinen fröhlichen, blauen Augen von den Gästen zur Schwester.
„Es ist viel zu früh für Sie Romane zu lesen,“ sagte Peredonoff streng. „Sie würden besser daran tun, zu lernen, statt Geschichten zweifelhaften Inhalts zu lesen.“
Nadeschda Wassiljewna sah ihren Bruder vorwurfsvoll an.
„Das ist ja reizend. Man steht hinter der Tür und horcht,“ sagte sie, hob beide Hände auf und legte die kleinen Finger im rechten Winkel aneinander.
Der Gymnasiast wurde verlegen und verschwand. Er ging in sein Zimmer, stellte sich in den Winkel und blickte auf die Uhr. Die kleinen Finger im rechten Winkel aneinander gelegt bedeuteten zehn Minuten Winkelstehen. „Nein,“ dachte er ärgerlich, „bei Mama war es besser; Mama stellte nur den Regenschirm in den Winkel.“
Unterdessen suchte Wolodin im Salon das Fräulein mit dem Versprechen zu beruhigen, er würde sich das Maiheft des „Russischen Gedankens“ verschaffen und die Erzählung des Herrn Tschechoff lesen. Peredonoff hörte gelangweilt zu. Endlich sagte er:
„Ich habe das Ding auch nicht gelesen. Ich lese keine Dummheiten. Erzählungen und Romane sind immer dumm.“
Nadeschda Wassiljewna lächelte liebenswürdig und sagte:
„Sie urteilen sehr hart über die moderne Literatur. Es werden doch auch gute Bücher geschrieben.“
„Die guten Bücher habe ich schon längst gelesen,“ erklärte Peredonoff. „Ich werde doch nicht Sachen lesen, welche eben erst verfaßt worden sind.“
Wolodin blickte voll Ehrfurcht auf Peredonoff. Nadeschda seufzte leicht auf und — es war nichts zu machen — begann zu schwatzen und Klatschgeschichten zu erzählen, so gut es gehen wollte. Obgleich sie diese Gespräche keineswegs liebte, so verstand sie doch als wohlerzogene, junge Dame, die Unterhaltung in Fluß zu halten. Sie langweilte sich entsetzlich, die beiden aber dachten, daß sie ganz besonders liebenswürdig wäre und schrieben das dem berückenden Aeußern Wolodins zu.
Als sie sich verabschiedet hatten und auf der Straße waren, beglückwünschte Peredonoff Wolodin zum Erfolge. Wolodin lachte und hüpfte vor lauter Freude. Schon hatte er all die erhaltenen Körbe vergessen.
„Schlag nicht aus,“ sagte ihm Peredonoff. „Du springst so wie ein junger Bock. Warte nur, du wirst schon mit einer Nase abfahren.“
Das sagte er nur im Scherz, denn er war fest davon überzeugt, daß seine Werbung für Wolodin erfolgreich sein würde.
Die Gruschina war beinahe jeden Tag bei Warwara. Warwara kam noch öfter zu ihr, sodaß sie sich fast garnicht trennten. Warwara regte sich auf und die Gruschina zögerte, versicherte, daß es sehr schwer sei, die Buchstaben genau so nachzuschreiben, bis sie ganz ähnlich würden.
Peredonoff wollte immer nicht den Tag der Trauung bestimmen. Wieder verlangte er, man möge ihm zuerst den Inspektorposten verschaffen. Er hatte es nur zu gut behalten, wie viele heiratslustige Bräute ihn ersehnten und damit drohte er öfters Warwara, gerade so wie im vergangenen Winter.
„Ich gehe sofort, mich trauen lassen. Am Morgen kehre ich mit meiner Frau heim und jage dich zum Teufel. Es ist das letzte Mal, daß du hier über Nacht bleibst.“
Mit diesen Worten ging er ins Restaurant Billard spielen. Manchmal kehrte er abends heim; öfter jedoch zechte er die ganze Nacht durch mit Rutiloff und Wolodin in irgend einer verrufenen Kneipe. In solchen Nächten konnte Warwara nicht schlafen. Nachher hatte sie entsetzliche Migräne. Gut, wenn er um ein oder zwei Uhr in der Nacht nach Hause kam, dann atmete sie erleichtert auf. Wenn er aber erst in den Morgenstunden erschien, so war sie tagsüber ganz krank. Endlich hatte die Gruschina den Brief fertiggestellt und brachte ihn Warwara. Lange prüften sie ihn, verglichen ihn mit einem alten Briefe, welcher tatsächlich von der Fürstin stammte. Die Gruschina versicherte: er ist so täuschend ähnlich, daß nicht einmal die Fürstin ihn für eine Fälschung halten würde. In der Tat war die Aehnlichkeit nur gering, doch Warwara war leichtgläubig. Außerdem war es doch ganz sicher, daß Peredonoff sich ganz unmöglich an die ihm nur wenig bekannten Schriftzüge so deutlich erinnern konnte, um die Fälschung als solche zu erkennen.
„Gott sei Dank,“ sagte sie erfreut, „endlich einmal! Ich hatte schon alle Geduld verloren, so lange habe ich warten müssen. Wie wird es nur mit dem Briefumschlag — wenn er danach fragt, was soll ich ihm sagen?“
„Den Umschlag kann man nicht fälschen,“ sagte die Gruschina lächelnd und schielte spöttisch auf Warwara, „Poststempel lassen sich nicht nachmachen.“
„Ja, was soll man denn tun?“
„Liebste Warwara Dmitriewna, sagen Sie doch einfach, Sie hätten das Kouvert verbrannt. Was fängt man sonst mit Kouverts an.“
Warwara begann wieder zu hoffen. Sie sagte der Gruschina:
„Wenn er nur heiraten wollte, ich würde keinen Finger mehr für ihn rühren. Nein, ich werde mich dann ausruhen, mag er für mich laufen.“
Am Sonnabend ging Peredonoff nach dem Mittagessen zum Billardspielen. Seine Gedanken waren sorgenvoll und trübe.
Er dachte:
Es ist eine Qual unter neidischen, feindlich gesinnten Menschen leben zu müssen. Man muß es ertragen, — alle können nicht Inspektor werden. Das ist der Kampf ums Dasein!
An einer Straßenecke traf er den Gendarmerieoberst. Eine peinliche Begegnung.
Der Oberstleutnant Nikolai Wladimirowitsch Rubowskji war nicht besonders groß, untersetzt, er hatte dichte Brauen, fröhliche graue Augen und hinkte ein wenig. Daher klirrten seine Sporen unregelmäßig. Er war sehr liebenswürdig und in Gesellschaften ein gern gesehener Gast. Er kannte alle Leute in der Stadt und ihre geschäftlichen Beziehungen; er liebte es, kleine Klatschgeschichten zu hören, war aber selbst bescheiden und verschwiegen wie ein Grab und bereitete niemandem unnützerweise Unannehmlichkeiten. Man blieb stehen, begrüßte sich, plauderte. Peredonoff machte ein verdrießliches Gesicht, hielt vorsichtig Umschau und sagte dann:
„Ich höre, unsere Natascha ist bei Ihnen im Dienst; ich bitte, glauben Sie ihr nicht, wenn sie etwas über uns erzählen sollte; das lügt sie.“
„Dienstbotenklatsch ist mir zuwider,“ sagte Rubowskji voll Würde.
„Sie ist eine gemeine Person,“ fuhr Peredonoff fort, ohne die Entgegnung Rubowskjis zu beachten, „sie hat einen Geliebten , einen Polen. Vielleicht ist sie nur darum zu Ihnen gegangen, um irgendwelche geheime Akten zu stehlen.“
„Bitte, beunruhigen Sie sich nicht,“ versetzte trocken der Oberstleutnant, „Festungspläne habe ich nicht in Verwahrung.“
Diese Erwähnung von Festungen überraschte Peredonoff. Es schien ihm, als spiele Rubowskji darauf an, daß er es bewirken könne, ihn hinter Schloß und Riegel zu bringen.
„Ach was, Festungen,“ murmelte er, „so war es nicht gemeint. Ich wollte nur im allgemeinen bemerken, daß über mich allerlei dumme Gerüchte umlaufen. Das hat seinen Grund im Neid. Glauben Sie, bitte, nichts Derartiges. Man denunziert mich, um den Verdacht von sich selber abzulenken. Uebrigens bin auch ich in der Lage, zu denunzieren.“
Rubowskji verstand nicht recht.
„Ich gebe Ihnen die Versicherung,“ sagte er, mit den Achseln zuckend und sporenklirrend, „mir sind gar keine Anzeigen gemacht worden. Irgend jemand hat Ihnen wohl im Scherze damit gedroht, aber man redet oft mehr, als man verantworten kann.“
Peredonoff traute ihm nicht. Er glaubte, daß der Gendarmerieoberst etwas vor ihm verheimliche, und ihm wurde sehr bange.
Jedesmal, wenn Peredonoff an dem Garten der Werschina vorbeiging, redete sie ihn an und lockte ihn mit beinah magischen Bewegungen in den Garten. Und er trat ein, ohne es zu wollen, ihrem stillen Einfluß gehorchend. Vielleicht würde es ihr gelingen, schneller als die Rutiloffs ans Ziel zu kommen, dachte sie, denn Peredonoff stand allen Menschen gleich fremd gegenüber und warum hätte er nicht Martha heiraten sollen?
Doch der Sumpf, in dem Peredonoff steckte, war schlammig und zäh, und kein Mittel verfing, ihn da heraus in einen anderen zu zerren.
Auch heute gelang es der Werschina, als Peredonoff nach der Unterredung mit Rubowskji vorüberging, ihn hereinzulocken. Sie war wie immer ganz in Schwarz.
„Martha und Wladja fahren auf einen Tag nach Hause,“ sagte sie und sah zärtlich aus ihren braunen Augen durch den Rauch ihrer Zigarette auf Peredonoff, „Sie sollten zusammen mit den beiden einen Tag im Dorfe zubringen. Ein Knecht ist mit einem Wägelchen gekommen, sie abzuholen.“
„Es wird eng sein,“ sagte Peredonoff verdrießlich.
„Ach was, zu eng,“ entgegnete die Werschina. „Sie werden ausgezeichnet Platz haben. Und wenn es auch etwas eng sein sollte, das ist kein Unglück; es ist ja nicht weit, eine halbe Stunde Fahrt.“
In diesem Augenblick kam Martha aus dem Hause gelaufen, um sich bei der Werschina nach etwas zu erkundigen. Die Freude an der bevorstehenden Fahrt hatte ihre Trägheit verdrängt und ihr Gesicht war lebhafter und fröhlicher als wie gewöhnlich. Nun fingen sie beide an, Peredonoff zur Fahrt ins Dorf zu überreden.
„Sie werden ganz bequem sitzen können,“ beteuerte die Werschina, „Sie neben Martha auf dem Rücksitz und Wladislaus neben Ignaz auf dem Bock. Sehen Sie doch selber, da steht das Wägelchen im Hof.“
Peredonoff ging mit der Werschina und Martha in den Hof; da stand der Wagen. Wladja machte sich daran zu schaffen und verpackte etwas. Der Wagen war ziemlich geräumig. Aber Peredonoff erklärte, nachdem er ihn besichtigt hatte:
„Nein, ich fahre nicht. Es ist zu eng für vier Menschen, außerdem noch allerhand Sachen.“
„Na, wenn Sie meinen, daß es zu eng ist,“ sagte die Werschina, „so kann ja der Junge zu Fuß gehen.“
„Natürlich,“ sagte Wladja und lächelte freundlich, „zu Fuß bin ich in anderthalb Stunden da. Ich werde mich gleich aufmachen, da komme ich noch vor Ihnen an.“
Hierauf erklärte Peredonoff, der Wagen würde rütteln und das könne er nicht vertragen. Man ging in die Laube. Alles war schon fix und fertig zur Abfahrt, nur der Knecht Ignaz aß noch in der Küche und dieses Geschäft besorgte er nachdrücklich und ohne sich zu übereilen.
„Wie lernt mein Bruder?“ fragte Martha. Ein anderes Gesprächsthema fiel ihr nicht ein, und die Werschina hatte ihr schon wiederholt Vorwürfe darüber gemacht, daß sie es nicht verstände, Peredonoff zu unterhalten.
„Schlecht,“ sagte Peredonoff, „er ist faul und gehorcht nicht.“
Die Werschina liebte es, zu schelten. Sie machte Wladja Vorwürfe. Wladja wurde rot und lächelte, zog die Schultern zusammen, als habe er es kalt und hob, wie es seine Gewohnheit war, eine Schulter höher als die andere.
„Das Semester hat eben erst begonnen,“ sagte er, „es wird schon gehen.“
„Man muß gleich von Anfang an lernen,“ sagte Martha im Tone der älteren Schwester und wurde rot.
„Außerdem macht er Unsinn,“ klagte Peredonoff, „gestern betrugen sie sich gerade wie Straßenjungen. Und außerdem ist er frech; noch Donnerstag sagte er mir irgend eine Ungezogenheit.“
Wladja wurde heftig, ganz eifrig erzählte er, immer ein Lächeln auf den Lippen:
„Garnicht frech, ich redete nur die Wahrheit, daß Sie in den anderen Heften an fünf Fehler übersehen haben, bei mir aber alle Fehler angestrichen und mir eine schlechte Note gegeben haben. Ich hatte aber schöner geschrieben als jene mit den guten Noten.“
„Noch eine andere Frechheit haben Sie mir gesagt,“ beharrte Peredonoff.
„Gar keine Frechheit, ich habe nur gesagt, ich würde es dem Inspektor sagen,“ sagte Wladja trotzig, „warum soll ich immer schlechte Noten bekommen?“
„Wladja, vergiß nicht, mit wem du sprichst,“ sagte die Werschina streng, „statt daß du dich entschuldigst, wiederholst du noch deine Ungezogenheiten.“
Plötzlich fiel Wladja ein, daß man Peredonoff nicht reizen dürfe, weil er doch vielleicht sich mit Martha verloben könnte. Er wurde ganz rot, spielte verlegen an seiner Gürtelschnalle und sagte bescheiden:
„Verzeihen Sie. Ich wollte nur bitten, ob sich das nicht ummachen ließe.“
„Schweig doch still, ich bitte dich,“ unterbrach ihn die Werschina, „ich kann so was nicht leiden,“ wiederholte sie und zitterte kaum merklich am ganzen Körper. „Wenn dir ein Verweis erteilt wird, so hast du still zu sein.“
Und die Werschina überschüttete den Jungen mit Vorwürfen, rauchte ihre Zigarette und lächelte schief, wie sie immer lächelte, gleichviel wovon die Rede war.
„Man muß es dem Vater sagen, er wird dich bestrafen,“ schloß sie.
„Man muß ihn durchprügeln,“ sagte Peredonoff und blickte böse auf den Jungen, der es gewagt hatte, ihn zu kränken.
„Natürlich,“ bestätigte die Werschina, „man muß ihn durchprügeln.“
„Man muß ihn durchprügeln,“ sagte auch Martha und errötete.
„Ich werde heute zu Ihrem Vater fahren,“ sagte Peredonoff, „und werde ihm sagen, er soll Sie ordentlich in meiner Gegenwart durchprügeln.“
Wladja schwieg, blickte auf seine Peiniger, zog die Schultern zusammen und lächelte, während ihm die Tränen in den Augen standen. Sein Vater war sehr hart. Wladja versuchte sich zu beruhigen; er dachte, das seien nur Drohungen. Es war doch nicht möglich, daß man ihm so den Feiertag verderben wollte. Ein Feiertag ist etwas ganz Besonderes, ein fröhlicher, schöner Tag und dieses Festliche ist garnicht vereinbar mit dem Alltäglichen, mit dem Leben in der Schule.
Peredonoff fand aber Gefallen daran, wenn Kinder weinten, — besonders wenn er selber den Anlaß zu Tränen und Zerknirschung gab. Wladjas Verlegenheit, seine verhaltenen Tränen und sein schuldbewußtes, schüchternes Lächeln, alles das freute Peredonoff. Er entschloß sich, zusammen mit Martha und Wladja hinauszufahren.
„Na meinethalben, ich werde mitkommen,“ sagte er zu Martha.
Martha freute sich, war aber doch ein wenig erschreckt. Natürlich wünschte sie es, daß Peredonoff mitkäme, — richtiger, die Werschina hatte es für sie gewünscht und ihr diesen Wunsch eingegeben durch einige schnelle Worte. Jetzt aber, wie Peredonoff erklärte, er wolle mitkommen, tat es ihr leid um Wladja.
Auch Wladja fühlte sich unbehaglich. War es möglich, daß Peredonoff nur um seinetwillen mitkam? Er wollte Peredonoff freundlicher stimmen und sagte:
„Wenn Sie meinen, Ardalljon Borisowitsch, daß es zu eng sein wird, so will ich gerne zu Fuß gehen.“
Peredonoff sah ihn argwöhnisch an und sagte:
„Das kennen wir. Wenn man Sie allein läßt, werden Sie das Weite suchen. Nein, nein, wir werden Sie schon hinbringen zu Ihrem Vater, er wird Sie schon strafen.“
Wladja wurde rot und seufzte tief auf. Die Gegenwart dieses brutalen, finstren Mannes war ihm unleidlich und widerwärtig. Um Peredonoff zu erweichen, beschloß er, dessen Sitz im Wagen so bequem wie möglich herzurichten.
„Ich werde es schon so machen,“ sagte er, „daß Sie ganz vorzüglich sitzen sollen.“
Und eilig lief er an den Wagen. Die Werschina sah ihm nach, lächelte schief, paffte und sagte leise zu Peredonoff:
„Sie haben große Angst vor ihrem Vater. Er ist sehr streng.“
Martha wurde rot.
Wladja wollte eigentlich eine neue englische Angel mitnehmen, welche er für sein Taschengeld gekauft hatte, und noch allerhand andere Dinge, aber sie nahm zu viel Platz fort. Und der Junge trug alles wieder ins Haus zurück.
Es war nicht heiß. Die Sonne neigte sich zum Westen. Der Weg war noch feucht vom Regen, welcher am Morgen gefallen war und staubfrei. Der Wagen mit seinen vier Insassen rollte gleichmäßig über den Schotter; das gutgefütterte, graue Pferdchen trabte munter, als hätte es gar keine Last zu ziehen, und der faule schweigsame Knecht lenkte es mit nur den Erfahrenen bemerkbaren Bewegungen der Zügel.
Peredonoff saß neben Martha. Ihm war so viel Platz eingeräumt worden, daß Martha es sehr unbequem hatte. Das bemerkte er aber nicht. Und wenn er es auch bemerkt hätte, so hätte er gedacht, daß das ganz in der Ordnung sei: er war doch der Gast.
Peredonoff fühlte sich sehr gemütlich. Er beschloß, liebenswürdig mit Martha zu reden, etwas zu scherzen, sie zu erheitern. Er begann so:
„Wird Ihre Revolution bald anfangen?“
„Wieso?“ fragte Martha.
„Ja, ihr Polen seid doch immer bereit, loszuschlagen; es wird nur vergebens sein.“
„Ich mache mir gar keine Gedanken darüber,“ sagte Martha, „außerdem denkt niemand bei uns an Revolution.“
„Das sagt man wohl so. Ihr haßt doch die Russen.“
„Wir denken nicht daran,“ sagte Wladja, indem er sich Peredonoff zuwandte. Er mußte sich umkehren, weil er auf dem Bock neben Ignaz saß.
„Das kennt man: wir denken nicht daran. Wir werden euch euer Polen niemals zurückgeben. Wir haben es erobert. Wir haben euch so viel Wohltaten erwiesen; aber da sieht man es wieder, wenn man den Wolf noch so sehr füttert, er will immer in den Wald zurück.“
Martha antwortete nichts. Peredonoff schwieg ein wenig, dann sagte er:
„Die Polen sind blödsinnig.“
Martha wurde rot.
„Das gibt es überall bei den Polen und bei den Russen,“ sagte sie.
„Nein, nein, es ist schon so,“ beharrte Peredonoff, „die Polen sind dumm. Protzig sind sie. Die Juden — das sind kluge Leute.“
„Die Juden sind Schufte, garnicht klug,“ sagte Wladja.
„Nein, die Juden sind ein sehr kluges Volk. Der Jude wird einen Russen immer nasführen, aber niemals ein Russe den Juden.“
„Es ist ja auch garnicht nötig, zu hintergehen,“ sagte Wladja, „besteht denn die Klugheit nur darin, zu betrügen und zu übervorteilen?“
Peredonoff blickte den Jungen zornig an.
„Die Klugheit besteht im Lernen,“ sagte er, „Sie zum Beispiel sind faul.“
Wladja seufzte auf und kehrte sich wieder um und sah dem gleichmäßigen Traben des Pferdes zu. Peredonoff aber fuhr fort:
„Die Juden sind klug, im Lernen und überhaupt in allen Dingen. Würde es den Juden erlaubt sein, Professoren zu werden, so würden sämtliche Professoren Juden sein. Die Polinnen sind alle schlampig.“
Er blickte auf Martha, und mit Behagen bemerkend, daß sie sehr rot wurde, sagte er liebenswürdig:
„Denken Sie nicht, ich hätte Sie damit gemeint. Ich weiß, daß Sie eine vorzügliche Hausfrau abgeben.“
„Alle Polinnen sind gute Hausfrauen,“ entgegnete Martha.
„Na ja,“ antwortete Peredonoff, „von außen sehen sie sauber aus, aber ihre Unterröcke sind dreckig. Dafür haben sie auch einen Mizkewizsch gehabt. Ich schätze ihn höher als Puschkin. Ich habe ein Porträt an der Wand hängen; erst hing der Puschkin da, jetzt habe ich ihn ins Klosett gehängt, — er war ein simpler Hoflakai.“
„Sie sind doch ein Russe,“ sagte Wladja, „wozu brauchen Sie unsern Mizkewizsch. Puschkin schreibt wunderschön und Mizkewizsch auch.“
„Mizkewizsch steht höher,“ wiederholte Peredonoff. „Die Russen sind Dummköpfe. Nur die Teemaschine haben sie erfunden, weiter nichts.“
Peredonoff blickte auf Martha, kniff die Augen zusammen und sagte:
„Sie haben viele Sommersprossen. Das ist nicht hübsch.“
„Dafür kann ich nichts,“ flüsterte Martha lächelnd.
„Ich habe auch Sommersprossen,“ sagte Wladja und kehrte sich auf seinem engen Sitz um, wobei er den schweigsamen Ignaz anstieß.
„Sie sind ein Junge,“ sagte Peredonoff, „da macht es nichts. Ein Mann braucht nicht hübsch zu sein. Ihnen hingegen,“ er wandte sich zu Martha, „schadet es. Niemand wird Sie heiraten wollen. Sie müssen Ihr Gesicht mit Gurkensaft waschen.“
Martha dankte für den Rat.
Wladja lächelte und blickte Peredonoff an.
„Warum lachen Sie?“ sagte Peredonoff, „passen Sie auf, wenn wir erst an Ort und Stelle sind, werden Sie Prügel bekommen.“
Wladja hatte sich wieder umgekehrt und fixierte Peredonoff; er wollte erraten, ob es ihm ernst wäre, oder ob er nur scherze. Peredonoff konnte es nicht ertragen, fixiert zu werden.
„Was starren Sie mich so an?“ fragte er grob. „Ich habe keine besonderen Verzierungen im Gesicht. Oder haben Sie am Ende den bösen Blick?“
Wladja erschrak und blickte zur Seite.
„Verzeihen Sie,“ sagte er bescheiden, „ich dachte mir nichts dabei.“
„Glauben Sie an den bösen Blick?“ fragte Martha.
„Nein, das ist ein dummer Aberglaube,“ sagte Peredonoff zornig, „es ist nur sehr unhöflich, einen so anzustarren.“
Einige Minuten herrschte verlegenes Schweigen.
„Sie sind ganz arm?“ unterbrach Peredonoff die Stille.
„Reich sind wir nicht,“ entgegnete Martha, „immerhin ganz arm auch nicht. Wir werden alle eine Kleinigkeit erben.“
Peredonoff sah sie ungläubig an und sagte:
„Ich weiß schon, Sie sind ganz arm. Sie gehen an Wochentagen barfuß.“
„Nicht darum, weil wir arm sind,“ versetzte Wladja lebhaft.
„Ach so, wohl darum, weil Sie reich sind?“ fragte Peredonoff und lachte kurz auf.
„Jedenfalls nicht, weil wir arm sind,“ sagte Wladja und wurde rot, „es ist sehr gesund barfuß zu gehen, man härtet sich ab und im Sommer ist es sehr angenehm.“
„Das lügen Sie,“ sagte Peredonoff grob. „Wohlhabende Leute gehen niemals barfuß. Ihr Vater hat viele Kinder und zählt seine Einnahmen nach Groschen. Dafür lassen sich keine Stiefel kaufen.“
Warwara hatte keine Ahnung, wohin Peredonoff gegangen sein könnte. Sie hatte eine entsetzlich unruhige Nacht.
Als Peredonoff am Morgen in die Stadt zurückkam, ging er nicht nach Hause, sondern befahl dem Kutscher zur Kirche zu fahren, denn um diese Zeit begann der Frühdienst. Es schien ihm gefährlich zu sein, nur selten in die Kirche zu gehen — man hätte das gegen ihn ausnützen können.
Am Kirchentor traf er einen hübschen, rotbackigen, kleinen Gymnasiasten. Er sah sehr nett aus, hatte ein harmloses Gesicht und unschuldige blaue Augen. Peredonoff sagte:
„Guten Tag, Maschenka [6] , kleines Mädchen.“
Mischa Kudrjawzeff wurde purpurrot. Peredonoff hatte ihn schon etliche Male so geneckt und ihn Maschenka genannt. Kudrjawzeff begriff gar nicht warum und konnte sich nicht entschließen, zu klagen. Einige dumme Jungen, welche da herumstanden, lachten über Peredonoffs Anrede. Auch sie liebten es sehr, den kleinen Mischa zu necken.
Die Eliaskirche war sehr alt; sie war noch zu Zeiten des Kaisers Michael erbaut worden und stand auf einem großen freien Platz gegenüber dem Gymnasium.
Zum Frühgottesdienst und zur Vesper waren die Gymnasiasten verpflichtet an Feiertagen in diese Kirche zu gehen. Sie mußten links stehen, in Reihen, am Altar der heiligen Märtyrerin Katharina; hinter ihnen pflegte sich ein Ordinarius aufzuhalten, um auf Ordnung zu sehen. Etwas mehr in der Mitte des Kirchenschiffes standen die Lehrer des Gymnasiums, der Inspektor und der Direktor mit ihren Familien. In der Regel pflegten sämtliche Schüler griechischer Konfession hier zusammenzukommen, mit Ausnahme einiger, welchen es gestattet war, zusammen mit ihren Eltern die vorstädtischen Kirchen zu besuchen.
Der Schülerchor sang vortrefflich, daher gingen die Kaufleute erster Gilde, die Beamten und die Gutsbesitzer mit ihren Familien in diese Kirche. Einfache Leute sah man nur selten. Um so mehr, als dem Wunsche des Direktors entsprechend der Gottesdienst später als in den anderen Kirchen abgehalten wurde.
Peredonoff stellte sich auf seinen gewohnten Platz. Von hier aus konnte er den ganzen Chor überblicken. Mit den Augen zwinkernd sah er auf die Reihen der Sänger und dachte, daß sie unordentlich stünden und daß er schon Ordnung schaffen wolle, wenn er Inspektor wäre. Zum Beispiel der brünette Kramarenko. Er war klein, schmächtig und beweglich und wandte sich bald hierher, bald dorthin, bald flüsterte er seinen Nachbarn etwas ins Ohr oder lachte und keiner berief ihn. Als wäre es vollständig gleichgültig.
„Das ist Unfug,“ dachte Peredonoff; „diese Sänger sind immer Taugenichtse; jener schwarzhaarige Bengel hat einen schönen, reinen Diskant, — da denkt er gleich, er kann in der Kirche nach Herzenslust schwatzen und lachen.“
Und Peredonoff ärgerte sich.
Neben ihm stand der ein wenig zu spät gekommene Inspektor der Volksschulen, Sergius Protapowitsch Bogdanoff, ein alter Mann mit braunem, dummerhaften Gesicht, welches stets so aussah, als wünschte er jemandem etwas zu erklären, was er selber absolut nicht begreifen konnte. Man konnte diesen Bogdanoff sehr leicht in Erstaunen setzen oder erschrecken: wenn ihm etwas Neues oder Aufregendes zu Ohren kam, so furchte sich seine Stirn in krankhafter Aufregung und seinem Munde entfuhren unverständliche, sinnlose Worte.
Peredonoff beugte sich zu ihm und flüsterte:
„Eine Ihrer Lehrerinnen trägt rote Blusen.“
Bogdanoff erschrak. Sein Kinn zitterte vor Angst.
„Was sagen Sie da?“ flüsterte er heiser, „wer tut das?“
„Na jene mit dem dicken Hals, diese unförmliche Person da. Ich weiß ja nicht, wie sie heißt,“ flüsterte Peredonoff.
„Mit dem dicken Hals, mit dem Hals,“ wiederholte Bogdanoff fassungslos, „das ist die Skobotschkina.“
„Na also,“ sagte Peredonoff.
„Ja, wie ist das nur möglich!“ zischelte Bogdanoff erregt, „die Skobotschkina trägt rote Blusen! Haben Sie das gesehen?“
„Jawohl, außerdem soll sie auch in der Schule so herumlaufen. Manchmal noch schlimmer, dann trägt sie einen Sarafan, [7] ganz wie ein Bauernweib.“
„Nein, das ist ja unglaublich! Das muß festgestellt werden. Das geht nicht, das geht auf keinen Fall. Man muß sie entlassen, ja entlassen,“ flüsterte Bogdanoff, „sie war schon immer so.“
Der Gottesdienst war zu Ende. Man ging aus der Kirche. Peredonoff sagte zu Kramarenko:
„Du kleiner, schwarzer Taugenichts, warum lachst du in der Kirche ? Warte nur, ich werde es deinem Vater sagen.“
Peredonoff redete die nichtadeligen Schüler manchmal mit „Du“ an; zu den Adeligen sagte er immer „Sie“. In der Schulkanzlei erkundigte er sich nach dem Stande des Einzelnen und sein Gedächtnis ließ ihn in solchen Dingen niemals im Stich.
Kramarenko sah Peredonoff erstaunt an und lief schweigend davon. Er gehörte zu jenen Schülern, welche Peredonoff für grob, dumm und ungerecht hielten und ihn deswegen verachteten und haßten. So dachte die Mehrzahl. Peredonoff glaubte, das wären jene, welche der Direktor gegen ihn aufgestachelt habe, wenn auch nicht in eigener Person, so doch durch seine Söhne.
Schon außerhalb der Umfriedung trat Wolodin fröhlich kichernd auf Peredonoff zu, er machte ein salbungsvolles Gesicht, als hätte er Geburtstag, sein steifer Hut saß ihm im Nacken, und er fuchtelte mit seinem Spazierstöckchen.
„Weißt du was, Ardalljon Borisowitsch,“ flüsterte er freudig erregt, „ich habe den Tscherepin herumgekriegt, er wird in diesen Tagen das Tor von Marthas Haus mit Teer einschmieren.“
Peredonoff schwieg ein wenig und bedachte sich. Dann lachte er schadenfroh. Wolodin hörte alsbald zu grinsen auf, machte ein bescheidenes Gesicht, rückte seinen Hut zurecht und mit dem Stöckchen schlenkernd, sagte er:
„Schönes Wetter heute, am Abend werden wir wohl Regen haben. Mag es nur regnen, wir werden mit dem Inspektor in spe zu Hause sitzen.“
„Ich kann eigentlich nicht zu Hause bleiben,“ sagte Peredonoff, „ich habe verschiedne Gänge vor und muß in die Stadt gehen.“
Wolodin machte ein verständnisvolles Gesicht, obgleich er natürlich garnicht wußte, was Peredonoff so plötzlich für Gänge vorhaben konnte. Peredonoff überlegte aber, daß es dringend notwendig wäre, einige Visiten zu machen. Sein zufälliges Zusammentreffen mit dem Gendarmerieoberst hatte ihn auf einen Gedanken gebracht, dessen Ausführung ihm nützlich erschien: er wollte alle Honoratioren der Stadt besuchen, um sie von seiner Zuverlässigkeit zu überzeugen. Sollte das gelingen, so hätte er für alle Fälle angesehne Leute in der Stadt, welche für seine korrekte Gesinnung bürgen würden.
„Wohin wollen Sie gehen, Ardalljon Borisowitsch?“ fragte Wolodin, als er bemerkte, daß Peredonoff einen anderen als den gewohnten Weg einschlug, „gehen Sie nicht nach Hause ?“
„Nein, ich gehe nach Haus,“ antwortete Peredonoff, „ich fürchte mich bloß, den alten Weg zu gehen.“
„Warum denn?“
„Da wächst so viel Bilsenkraut, der Geruch ist so schwer; er wirkt auf mich betäubend. Meine Nerven sind schwach, wegen der vielen Unannehmlichkeiten.“
Wolodin machte wieder ein verständnisvolles, teilnehmendes Gesicht.
Unterwegs riß Peredonoff einige Kletten ab und steckte sie in die Tasche.
„Wozu sammeln Sie das?“ fragte Wolodin grinsend.
„Für den Kater,“ gab Peredonoff traurig zur Antwort.
„Werden Sie sein Fell mit Kletten bewerfen?“ erkundigte sich Wolodin sachgemäß.
„Ja.“
Wolodin kicherte.
„Bitte, warten Sie bis ich komme; das wird sehr lustig werden,“ sagte er.
Peredonoff lud ihn ein, doch gleich mitzukommen, aber Wolodin sagte, daß er was vorhabe: es war ihm auf einmal zum Bewußtsein gekommen, daß es unanständig wäre, niemals was vorzuhaben. Peredonoffs Worte hatten ihn darauf gebracht und er überlegte, daß es für ihn ganz angebracht wäre, auf eigene Faust Fräulein Adamenko zu besuchen und ihr zu erzählen, daß er neue sehr hübsche Entwürfe für Bilderrahmen gezeichnet hätte und ob sie die sich nicht ansehen wolle. Außerdem glaubte er, daß ihm Nadeschda Wassiljewna Kaffee anbieten würde.
Wie gedacht so getan. Dann hatte er sich noch etwas ausgedacht, etwas sehr Schlaues; er würde Nadeschda Wassiljewna den Vorschlag machen, ihrem Bruder Unterricht in der Tischlerei zu erteilen. Nadeschda Wassiljewna glaubte, daß es Wolodin um einen Verdienst zu tun sei und erklärte sich sofort einverstanden. Es wurde beschlossen, daß er für 30 Rubel monatlich in der Woche je zwei Stunden zu geben habe. Wolodin war entzückt, — sowohl über den Verdienst, als über die Möglichkeit, Nadeschda Wassiljewna oft zu sehen.
Peredonoff kam wie immer mürrisch nach Hause. Warwara war bleich von der durchwachten Nacht und brummte:
„Du hättest gestern sagen können, daß du nicht kommen würdest.“
Peredonoff wollte sie ärgern und erzählte, daß er bei Martha gewesen sei. Warwara schwieg still. Sie hatte ja den Brief der Fürstin in Händen. Wenn er auch gefälscht war, immerhin ....
Beim Frühstück sagte sie schmunzelnd:
„Während du dich mit der Martha herumgetrieben hast, habe ich in deiner Abwesenheit eine Antwort von der Fürstin erhalten.“
„Was hast du ihr denn geschrieben?“ fragte Peredonoff.
Sein Gesicht wurde lebhaft vor lauter Erwartung.
Warwara sagte lachend:
„Sei doch kein Narr, du hast mir doch selber befohlen, ihr zu schreiben.“
„Was schreibt sie denn?“ fragte Peredonoff erregt.
„Da ist der Brief; lies ihn selber.“
Warwara wühlte in allen Taschen, als suchte sie den irgendwohin gesteckten Brief. Endlich hatte sie ihn und gab ihn Peredonoff. Er schob seinen Teller beiseite und verschlang gierig jede Zeile des Briefes. Jetzt hatte er ihn durchgelesen und wurde sehr froh. Endlich ein klares und bestimmtes Versprechen. Irgendwelche Zweifel kamen ihm nicht. Er aß schnell zu Ende und ging den Brief seinen Bekannten und Freunden zu zeigen.
Schnell und lebhaft ging er zum Garten der Werschina. Diese stand wie fast immer am Pförtchen und rauchte. Sie war sichtlich erfreut: früher mußte man ihn immer hereinbitten, jetzt kam er ohne Aufforderung. Die Werschina dachte bei sich:
„Da sieht man es, er ist mit der Martha spazieren gefahren, mit ihr längere Zeit zusammengewesen und kommt schon wieder gelaufen. Vielleicht will er um sie anhalten?“ dachte sie freudig erregt.
Peredonoff enttäuschte sie sofort, er zeigte ihr den Brief.
„Sehen Sie,“ sagte er, „Sie haben immer gezweifelt. Die Fürstin hat doch geschrieben. Bitte, lesen Sie doch!“
Die Werschina blickte mißtrauisch auf den Brief, blies einige Male Rauch darauf, lächelte schief und fragte schnell und leise:
„Wo ist der Umschlag?“
Peredonoff erschrak. Er überlegte, daß Warwara ihn mit dem Brief hätte betrügen können, wenn sie ihn ganz einfach selbst geschrieben hatte. Man mußte sich so schnell als möglich nach dem Umschlag erkundigen.
„Ich weiß nicht,“ sagte er, „ich will nachfragen.“
Er verabschiedete sich eilig von der Werschina und kehrte schnell nach Hause zurück. Er mußte so bald als möglich über den Ursprung dieses Briefes Klarheit haben; der plötzliche Zweifel quälte ihn entsetzlich.
Die Werschina blieb an der Pforte stehen und blickte ihm nach; sie lächelte schief und rauchte eifrig ihre Zigarette, so als hätte sie eine Arbeit bis zu einem bestimmten Termin zu vollenden.
Peredonoff sah erschreckt und verstört aus, als er nach Hause kam. Schon im Vorzimmer schrie er mit heiserer, aufgeregter Stimme:
„Warwara, wo ist der Umschlag?“
„Was für ein Umschlag?“ fragte Warwara und ihre Stimme zitterte.
Sie blickte ihn niederträchtig an, und wäre rot geworden, wenn sie sich nicht geschminkt hätte.
„Der Umschlag zu dem Brief von der Fürstin,“ erklärte Peredonoff und sah erschreckt und wütend auf Warwara.
Warwara lachte gezwungen.
„Ich habe ihn verbrannt,“ sagte sie, „was sollte ich sonst mit ihm anfangen. Soll ich die Umschläge aufbewahren und mir eine große Sammlung anlegen? Für Umschläge gibt keiner einen Groschen. Nur für leere Bierflaschen bekommt man in den Wirtschaften Geld.“
Peredonoff ging ärgerlich im Zimmer auf und ab und knurrte:
„Es gibt allerhand Fürstinnen. Das kennt man. Vielleicht wohnt diese Fürstin hier.“
Warwara stellte sich so, als könne sie garnicht verstehen, woran er eigentlich zweifelte. Doch war ihr recht unbehaglich zumute.
Als Peredonoff am Abend am Garten der Werschina vorbeiging, hielt diese ihn an.
„Hat sich der Umschlag gefunden?“ fragte sie.
„Ja,“ antwortete Peredonoff, „Warja sagt, sie hätte ihn verbrannt.“
Die Werschina lachte und die grauen, leichten Rauchwölkchen ihrer Zigarette zitterten leise in der stillen Abendluft.
„Merkwürdig, wie unvorsichtig Ihr Schwesterchen ist,“ sagte sie, „so ein wichtiger Brief und ohne Umschlag. Man hätte doch am Poststempel sehen können, woher der Brief kommt und wann er abgeschickt wurde.“
Peredonoff war sehr ärgerlich. Vergebens bat ihn die Werschina, hereinzukommen, vergebens versprach sie ihm, aus den Karten wahrzusagen, — Peredonoff ging.
Dennoch zeigte er seinen Freunden den Brief und prahlte damit. Seine Freunde glaubten ihm.
Er selber wußte nicht recht, sollte er glauben oder nicht. Für jeden Fall beschloß er, am Dienstag mit seinen Rechtfertigungsvisiten bei den Honoratioren der Stadt zu beginnen, denn am Montag soll man nichts Neues unternehmen, weil es ein Unglückstag ist.
Kaum war Peredonoff gegangen, um Billard zu spielen, da fuhr auch schon Warwara zur Gruschina. Lange überlegten sie und beschlossen endlich, die Sache wieder gut zu machen, durch einen zweiten Brief. Warwara wußte, daß die Gruschina Bekannte in Petersburg hatte. Durch deren Vermittlung konnte es nicht schwer fallen, einen am Ort gefälschten Brief hin- und wieder zurückzubefördern.
Die Gruschina wollte genau so, wie das erstemal, die Sache nicht übernehmen. Aber sie stellte sich nur so.
„Liebste Warwara Dmitriewna,“ sagte sie, „schon dieser erste Brief lastet schwer auf meinem Gewissen und ich fürchte mich sehr. Wenn ich den Schutzmann in der Nähe meines Hauses sehe, so zittre ich am ganzen Leibe, wie wenn er es auf mich abgesehen hätte und mich ins Gefängnis abführen wollte!“
Eine geschlagene Stunde suchte Warwara sie zu überreden, versprach ihr Geschenke und gab ihr ein wenig Geld im voraus. Endlich gab die Gruschina nach. Man beschloß folgendes zu tun: zunächst würde Warwara erzählen, daß sie eine Antwort an die Fürstin geschickt hätte, um ihr zu danken. Dann sollte nach einigen Tagen ein Brief kommen, welcher wieder nur angeblich von der Fürstin stammte. In diesem Briefe würde es noch deutlicher ausgesprochen sein, daß einige Stellen vakant wären, daß man sich schon jetzt für Peredonoff verwenden wolle, wenn er sich nur schnell zur Trauung entschließen würde. Diesen Brief sollte die Gruschina schreiben, genau so, wie den ersten, man würde ihn kouvertieren, eine Siebenkopekenmarke daraufkleben und ihn in einen zweiten Umschlag stecken, welcher an die Freundin der Gruschina in Petersburg adressiert war. Diese hatte dann weiter nichts zu tun, als ihn in einen Briefkasten zu werfen.
Jetzt gingen die Gruschina und Warwara in eine kleine Papierhandlung ganz am Ende der Stadt und kauften schmale Briefumschläge und farbiges Postpapier. Vorsichtshalber bestand die Gruschina darauf, daß ein Papier genommen wurde, welches nur noch in einigen Exemplaren vorhanden war und man kaufte den ganzen Vorrat. Die schmalen Kouverts hatte man gewählt, um den gefälschten Brief leichter in einen andern Umschlag schieben zu können.
Als sie wieder zu Hause waren bei der Gruschina, verfaßten sie den Brief. Dieser war nach zwei Tagen fertig abgeschrieben und wurde nun parfümiert. Die nachgebliebenen Umschläge und Briefbogen verbrannten sie, um alle Beweisstücke aus der Welt zu schaffen.
Die Gruschina schrieb ihrer Freundin, an welchem Tage sie den Brief in den Postkasten zu werfen hatte, — er sollte an einem Sonntage ankommen: der Postbote würde ihn dann in Peredonoffs Gegenwart abgeben und das wäre ein Beweis mehr für die Echtheit des Briefes.
Am Dienstag bemühte sich Peredonoff, recht früh vom Gymnasium fortzukommen. Ein Zufall kam ihm zu Hilfe: es war die letzte Stunde in jener Klasse, deren Tür auf den Korridor hinausführte, ganz nahe von der Stelle, wo die Uhr hing. Dort hielt sich der Pedell auf, ein braver Reserveunteroffizier, welcher zu bestimmten Zeiten zu läuten hatte. Peredonoff schickte ihn ins Lehrerzimmer nach dem Klassenjournal und stellte die Uhr um eine Viertelstunde vor — niemand hatte es bemerkt.
Zu Hause bestellte Peredonoff sein Frühstück ab und sagte, daß er erst spät zu Mittag kommen würde, er hätte einen wichtigen Gang vor.
„Man wirft mir Steine in den Weg, ich muß sie forträumen,“ sagte er böse und dachte dabei an die vermeintlichen Intrigen seiner Feinde.
Er zog seinen nur wenig benutzten Frack an, er war ihm zu eng geworden und drückte: denn sein Körper hatte an Umfang zugenommen, während der Frack ein wenig eingeschrumpft war. Daß er keinen Orden im Knopfloch hatte, ärgerte ihn. Die andern wurden dekoriert, — sogar Falastoff von der Volksschule, — nur ihn hatte man übergangen. Das war alles die Mache des Direktors: nicht ein einziges Mal hatte er ihn vorgeschlagen. Freilich in der Rangliste rückte er auf, das konnte der Direktor nicht verhindern, aber was hat man von einem Rang, den kein Mensch sieht. Wenn die neue Uniform eingeführt sein wird, erst dann würde man es sehen können. Es war doch gut, daß die Achselstücke daran den Rang bezeichnen sollten, aber nicht das Verdienst. Das ist von Wichtigkeit: Achselstücke wie bei einem General mit einem Stern darauf. Jedermann auf der Straße wird sehen können, daß er Staatsrat ist.
„Ich muß mir bald die neue Uniform bestellen,“ dachte Peredonoff.
Erst unterwegs dachte er darüber nach, wen er zuerst besuchen solle.
Am wichtigsten schien ihm für seine Lage der Landrat und der Staatsanwalt zu sein. Mit ihnen hätte er beginnen sollen. Oder sollte er zum Adelsmarschall. Aber gerade diese drei als erste aufzusuchen, schien ihm sehr gewagt. Der Adelsmarschall Weriga — ein General, der binnen kurzem Statthalter werden wollte und der Landrat und Staatsanwalt — diese unangenehmen Repräsentanten von Polizei und Gericht.
„Zuerst will ich die kleineren Beamten aufsuchen“, dachte Peredonoff, „und mich in ihre Art finden, schon dort werde ich sehen können, was man von mir hält, wie man über mich redet.“ So beschloß er denn, den Bürgermeister als ersten zu besuchen. Wiewohl jener nur Kaufmann war und bloß eine Kreisschule besucht hatte, so kam er doch überall hin und alle kamen zu ihm; außerdem genoß er in der Stadt ein großes Ansehen und hatte in anderen Städten und sogar in der Residenz recht vornehme Bekannte.
Entschlossen richtete Peredonoff seine Schritte zum Hause des Bürgermeisters.
Das Wetter war trübe. Die Blätter fielen müde und kraftlos von den Bäumen. Peredonoff war etwas aufgeregt.
Im Hause des Bürgermeisters roch es nach frischgewachsten Dielen und noch, kaum bemerkbar, nach etwas anderem, etwas Süßem, Eßbarem. Alles im Haus war still und traurig. Die Kinder, ein Gymnasiast und ein Backfisch („Ich halte ihnen eine Gouvernante,“ pflegte der Vater zu sagen) verhielten sich ruhig in ihren Zimmern. Dort war es gemütlich, hell und fröhlich, die Fenster gingen in den Garten, die Möbel waren sehr bequem, außerdem die verschiedensten Spiele im Zimmer und draußen.
Im oberen Stock waren die Empfangszimmer. Da war alles vornehm und kalt. Die Mahagonimöbel schienen ins Riesenhafte vergrößerte Puppenmöbel zu sein. Gewöhnlichen Sterblichen boten sie eine äußerst unbequeme Sitzgelegenheit, versuchte man nämlich, sich recht bequem zu setzen, so war es nicht anders, als ließe man sich auf einen Stein fallen. Der melancholische Hausherr hingegen saß auf seinem gewohnten Stuhl und schien sich sehr wohlzufühlen.
Der Archimandrit — ein häufiger Gast im Hause des Bürgermeisters — pflegte diese Sessel und Sofas „Seelenretter“ zu nennen. Hierauf entgegnete das Stadthaupt:
„Weibische Verweichlichung, wie Sie das in anderen Häusern finden werden, dulde ich nicht: da sitzt man auf Sprungfedern, alles gibt nach unter der Last des Körpers, wie kann das gesund sein! Im übrigen sind auch die Aerzte gegen zu weiches Sitzen.“
Jakob Anikiewitsch Skutschaeff, das Stadthaupt, begrüßte Peredonoff auf der Schwelle seines Empfangszimmers. Er war groß, wohlbeleibt und hatte kurzgeschorenes, schwarzes Haar; er verstand es, würdig, doch gleichzeitig liebenswürdig zu sein und verhielt sich herablassend zu Leuten mit geringem Einkommen.
Nachdem Peredonoff sich einigermaßen zurechtgesetzt und auf die einleitenden Begrüßungsworte geziemend geantwortet hatte, sagte er:
„Ich komme in einer dringlichen Angelegenheit zu Ihnen.“
„Ich will mit Vergnügen mein Möglichstes tun. Womit kann ich dienen?“ erkundigte sich der Hausherr.
In seinen schlauen, schwarzen Augen war ein leises Mißtrauen zu sehen. Er dachte, Peredonoff sei gekommen, um ihn um Geld zu bitten und er beschloß, ihm in keinem Fall mehr als 150 Rubel zu leihen. Eine ganze Reihe von Beamten waren Skutschaeff größere und kleinere Summen schuldig. Skutschaeff forderte niemals ausstehendes Geld zurück, verweigerte aber säumigen Schuldnern jedes weitere Darlehen. Das erstemal gab er immer gerne, je nach den Vermögensverhältnissen des Bittstellers und nach dem Bestande seiner eigenen Kasse.
Peredonoff sagte: „Jakob Anikiewitsch, Sie sind Bürgermeister und somit der eigentliche Repräsentant unserer Stadt; in diesem Sinne habe ich mit Ihnen zu sprechen.“
Skutschaeff setzte eine erhabene Miene auf und machte eine leichte Verbeugung.
„Ueber mich werden in der Stadt unglaubliche und einfach erlogene Klatschgeschichten verbreitet,“ sagte Peredonoff mürrisch.
„Fremde Mäuler kann man nicht stopfen,“ sagte der Hausherr, „und dann, was haben die alten Basen in unsern Gefilden anderes zu tun, als ihre Zunge zu rühren.“
„Es wird erzählt, daß ich nicht in die Kirche gehe und das ist gelogen,“ fuhr Peredonoff fort, „denn ich gehe regelmäßig zur Kirche. Zum Eliasfest mußte ich zu Hause bleiben, weil ich Bauchschmerzen hatte.“
„Es stimmt,“ bestätigte der Hausherr, „dafür kann ich stehen, habe ich Sie doch selber des öfteren im Gottesdienst gesehen. Im übrigen bin ich nicht oft in Ihrer Kirche. Ich fahre meist ins Kloster. Das ist so eine Familiensitte bei uns.“
„Auch sonst klatscht man allerlei,“ sagte Peredonoff, „z. B. soll ich meinen Schülern unanständige Geschichten erzählen. Das ist Lüge. Es kommt ja vor, daß man in der Stunde mal einen Scherz macht, um den Unterricht zu beleben. Ihr eigner Sohn ist ja mein Schüler. Hat er Ihnen etwa derartiges erzählt?“
„Es stimmt,“ sagte Skutschaeff, „sowas hat er mir nie erzählt. Die Bengel sind zwar sehr schlau, — was ihnen nicht paßt, erzählen sie auch nicht. Freilich mein Sohn, steckt noch ganz in den Kinderschuhen, aus purer Dummheit hätte er was erzählt, aber etwas Derartiges habe ich nie von ihm gehört.“
„Nun sehen Sie, in den älteren Klassen wissen sie sowieso schon alles,“ sagte Peredonoff, „aber selbst dort nehme ich kein unflätiges Wort in den Mund.“
„Das versteht sich,“ antwortete Skutschaeff, „das Gymnasium ist kein Jahrmarkt.“
„Bei uns sind die Leute aber so,“ klagte Peredonoff, „was nie gewesen ist, verbreiten sie, als sei es wirklich geschehen. Aus diesem Grunde bin ich zu Ihnen gekommen, — Sie sind der Bürgermeister.“
Skutschaeff fühlte sich sehr geschmeichelt, daß man sich an ihn wandte. Er begriff nicht recht, warum ihm das alles erzählt wurde und was er dabei tun konnte, tat aber aus politischen Gründen so, als sei ihm alles vollständig klar.
„Und dann ist da noch eine andere Geschichte,“ fuhr Peredonoff fort, „es wird mir verdacht, daß ich mit Warwara zusammenlebe, sie sei gar nicht verwandt mit mir, sondern einfach meine Geliebte. Bei Gott, sie ist meine Kusine, allerdings im vierten Grade; die darf man heiraten und ich werde sie heiraten.“
„So, so, unbedingt,“ sagte Skutschaeff, „die Hochzeit macht allem Klatsch ein Ende.“
„Früher konnte ich nicht,“ sagte Peredonoff, „es war ganz unmöglich; sonst hätte ich mich schon trauen lassen. Sicherlich.“
Skutschaeff machte ein nachdenkliches Gesicht, klopfte mit seinem weißen, dicken Finger auf die dunkle Tischdecke und sagte:
„Ich glaube Ihnen. Wenn es sich so verhält, wie Sie sagen, ist es ein ganz ander Ding. Jetzt glaube ich Ihnen. Denn auch ich muß gestehen, es berührte so merkwürdig, wie Sie da mit Ihrer Freundin, um mich so auszudrücken, zusammen hausten. Dann muß man noch in Betracht ziehen, daß die Kinder ein schlaues Volk sind; alles Schlechte begreifen sie sofort und nehmen es an. Das Gute muß ihnen beigebracht werden, während das Schlechte ihnen von selbst anfliegt. Und darum sage ich, berührte mich Ihr Verhältnis merkwürdig. Und doch andererseits was geht es mich an! Ein jeder kehre vor seiner Tür. Ich weiß es wohl zu schätzen, daß Sie sich zu mir herbemüht haben, denn ich bin ein schlichter Mann und habe nur eine Kreisschule besucht. Immerhin genießt man einiges Ansehen in der Gesellschaft, bin ich doch heuer zum drittenmal Bürgermeister geworden und mein Urteil wird nicht gering geschätzt in den besseren Kreisen unserer Stadt.“
Skutschaeff redete darauf los und seine Gedanken verwirrten sich. Es schien ihm, als wolle sein eigener Redeschwall kein Ende nehmen. Da brach er kurz ab und dachte betrübt:
„Es ist so, als füllte man eine leere Flasche aus einem leeren Faß. Es ist eine Plage mit diesen gelehrten Herren,“ dachte er, „absolut nicht zu begreifen, was sie eigentlich wollen. Was in den Büchern steht, ist ihnen sonnenklar, stecken sie aber mal die Nase an die Luft, so wissen sie nicht ein und aus und bringen noch andere Leute in die Tinte.“
Mißvergnügt ob dieses Nichtverstehens stierte er Peredonoff an; seine sonst lebhaften Augen blickten trübe und sein Körper schien wie von einer Last zusammengedrückt. Er war nicht mehr der rührige, energische Mann von früher, sondern ein blöde gewordener Greis.
Auch Peredonoff war still geworden, als hätten ihn die Worte des Hausherrn verwirrt, dann zwinkerte er mit den Augen, was merkwürdig trübselig aussah, und meinte:
„Sie sind Bürgermeister, also können Sie doch sagen, daß das alles erlogen ist.“
„Das heißt, was meinen Sie eigentlich?“ fragte Skutschaeff vorsichtig.
„Eben dieses,“ erklärte Peredonoff, „wenn zum Beispiel gegen mich Anzeige erstattet wird, daß ich nicht zur Kirche gehe oder so was, und man sich gegebenenfalls bei Ihnen danach erkundigt.“
„Das läßt sich machen,“ sagte der Bürgermeister, „da können Sie sich unbedingt auf mich verlassen. Gegebenenfalls werde ich für Sie einstehen, und warum sollte man für einen Ehrenmann nicht einstehen. Wir können Ihnen zum Beispiel — wenn es nötig sein sollte — eine Ehrenadresse von der Stadtverwaltung übermitteln. Das geht alles. Oder wir verschaffen Ihnen den Titel eines Ehrenbürgers beispielsweise, — warum denn nicht, wenn es Ihnen nützt; alles das können wir.“
„Ich kann mich also auf Sie verlassen,“ sagte Peredonoff dumpf, als habe er auf eine peinliche Frage zu antworten, „es ist nämlich wegen des Direktors, der schadet mir, wo er nur kann.“
„Was Sie nicht sagen!“ ereiferte sich Skutschaeff und wackelte mitleidig mit dem Kopf, „das ist ja nicht möglich, da hat man Sie bei ihm verdächtigt. Es scheint jedoch, daß Nikolai Wassiljewitsch ein äußerst gewissenhafter Herr ist; ohne Grund wird er keinem was zuleide tun. Das sehe ich doch an meinem Sohne. Er ist ein strenger, aber gewissenhafter Mann. Er wird nie ein Auge zudrücken und bevorzugt niemanden; mit einem Wort: er ist sehr gewissenhaft. Es ist garnicht anders möglich, man hat Sie bei ihm angeschwärzt. Was haben Sie denn für Differenzen?“
„Wir sind in vielen Dingen anderer Meinung,“ erklärte Peredonoff, „außerdem beneiden mich die Kollegen im Gymnasium. Alle wollen im Dienst aufrücken. Nun hat die Fürstin Woltschanskaja versprochen, gerade mir eine Inspektorstelle zu verschaffen. Und darum all der Haß und Neid.“
„So, so,“ sagte Skutschaeff zurückhaltend, „übrigens ist es nicht gut, bei trockener Kehle zu plaudern. Wollen wir ein wenig frühstücken und ein Schnäpschen dazu trinken?“
Skutschaeff drückte den Knopf der elektrischen Glocke.
„Famose Einrichtung das,“ sagte er zu Peredonoff, „Sie sollten einen andern Beruf wählen.“
Indessen erschien das Dienstmädchen, eine grobknöchige, massive Person. Skutschaeff bestellte bei ihr einen Imbiß und starken Kaffee. Sie lächelte verlegen und ging. Ihre Schritte schienen merkwürdig leicht im Verhältnis zu ihrer Körperfülle.
„Einen anderen Beruf,“ wandte sich Skutschaeff wieder an Peredonoff. „Beispielsweise der geistliche Stand. Wenn ich es mir recht überlege, so müßten Sie einen ganz vortrefflichen, ernstdenkenden Priester abgeben. Dazu könnte ich Ihnen leicht verhelfen. Ich habe nämlich gute Bekannte in der höheren Geistlichkeit.“
Skutschaeff nannte die Namen einiger Bischöfe und kirchlicher Würdenträger.
„Nein, ich will nicht Priester werden,“ antwortete Peredonoff, „mir ist der Weihrauch zuwider. Mir wird übel davon und der Kopf schmerzt.“
„In diesem Fall könnte man zur Polizeikarriere raten. Es ist lohnend,“ riet Skutschaeff, „werden Sie doch Landkommissar. Darf man erfahren, welchen Rang Sie bekleiden?“
„Ich bin Staatsrat!“ sagte Peredonoff mit Würde.
„Was nicht gar!“ rief Skutschaeff aus, „sagen Sie doch bitte, so weit kann es ein Lehrer bringen! Und nur weil er die Kinder erzieht? Ja, die Wissenschaft hat was zu bedeuten. Uebrigens gibt es ja viele, welche der Wissenschaft feind sind, und doch, es ist unmöglich, ohne Bildung vorwärtszukommen. Zwar habe ich nur eine Kreisschule besucht, aber ich bestehe darauf, daß mein Sohn in die Universität kommt. Es ist eine bekannte Tatsache, wie schwer die Jungen im Gymnasium vorwärtskommen; mit der Peitsche wollen sie getrieben sein, nachher geht es ganz von selber. Wissen Sie, ich prügle ihn niemals, ist er aber träge oder hat sonst irgend etwas auf dem Kerbholz, so fasse ich ihn an den Schultern und führe ihn ans Fenster, — von dort sieht man die Birken in unserem Garten. Dann frage ich nur: siehst du, was dort wächst? Ich sehe, Papachen, — sagt er — ich will’s nicht wieder tun. Und in der Tat, das hilft, der Junge nimmt sich zusammen, als hätte er wirklich eine Tracht Prügel bekommen. O diese Kinder, diese Kinder!“ seufzte Skutschaeff und schloß damit seine Rede.
Peredonoff saß bei Skutschaeff gute zwei Stunden. Nach Erörterung der geschäftlichen Angelegenheiten wurde ein gründliches Frühstück eingenommen.
Skutschaeff machte die Honneurs mit nachdrücklicher Würde, als handle es sich um etwas sehr Wichtiges und das gehörte zu seinem Wesen. Ueberall suchte er schlaue Nebengedanken anzubringen. Der Glühwein wurde in großen Kaffeetassen serviert, als wäre es Kaffee und der Hausherr nannte ihn einen kleinen Mokka. Die Schnapsgläser waren ohne Fuß, er hatte ihn fortschleifen lassen, damit man die Gläser nicht hinstellen konnte.
„Das bedeutet: bei mir muß alles auf den Zug geleert werden,“ erklärte er.
Noch ein Gast kam: der Kaufmann Tischkoff, ein kleines, graues Männchen. Er war sehr munter und launig, trug einen langen Rock und merkwürdige Stiefel, die großen Flaschen nicht unähnlich sahen. Er trank sehr viel Schnaps, wußte auf jeden Unsinn gleich einen Reim und schien sehr zufrieden mit sich zu sein.
Peredonoff schien es endlich angebracht, aufzubrechen; er verabschiedete sich.
„Warum so eilig?“ sagte der Hausherr, „bleiben Sie noch ein wenig.“
„Wenn Sie bei uns bleiben, helfen Sie die Zeit vertreiben,“ sagte Tischkoff.
„Nein, ich muß gehen“, antwortete Peredonoff geschäftig.
„Er muß gehn, seine Schwester zu sehn,“ sagte Tischkoff und zwinkerte mit den Augen.
„Ich habe zu tun,“ sagte Peredonoff.
„Hat jemand viel zu tun, so kann er billig ruhn,“ entgegnete Tischkoff ohne zu zögern.
Skutschaeff begleitete Peredonoff ins Vorhaus. Zum Abschiede umarmten und küßten sie sich. Peredonoff war sehr zufrieden mit diesem Besuch.
„Der Bürgermeister hält meine Kante,“ dachte er und fühlte sich viel sicherer.
Skutschaeff kehrte zu Tischkoff zurück und sagte:
„Es wird viel geklatscht über den Mann.“
„Klatscht man über den Mann, so ist es, weil er was kann,“ reimte Tischkoff und flott füllte er sein Schnapsglas mit Englisch-Bitter.
Es war klar, daß es ihm auf den Sinn der Rede nicht ankam, er griff die Worte nur auf, um sie zu reimen.
„Er ist ein anständiger Kerl und auch im Trinken nicht faul,“ fuhr Skutschaeff fort und füllte sein Glas ohne auf Tischkoffs Reimerei zu achten.
„Ist er im Trinken nicht faul, so hat er ein wackres Maul,“ rief Tischkoff fröhlich und leerte sein Glas auf einen Zug.
„Daß er sich die Mamsell da aushält, will nichts besagen!“ meinte Skutschaeff.
„Die schmutzige Mamsell bringt Flöhe ins Bettgestell,“ antwortete Tischkoff.
„Wer vor Gott nicht sündigt, sündigt auch vor dem Kaiser nicht.“
„Sündig sind unsere Triebe, wir schätzen die freie Liebe.“
„Er will seine Sünde gutmachen und sich trauen lassen.“
„Läßt man sich vom Pfaffen trauen, prügelt man hernach die Frauen.“
Das war Tischkoffs Art so zu reden, wenn es sich um Dinge handelte, die ihn nichts angingen. Er wäre schon längst allen langweilig geworden, doch hatte man sich an ihn gewöhnt und beachtete sein Geschwätz garnicht; ab und zu kam es vor, daß man ihn einem fremden Gast sozusagen vorsetzte. Ihm selbst war es ganz einerlei, ob man ihm zuhörte oder nicht; es war ihm einfach unmöglich, die Worte anderer nicht in seinen Reimereien zu verdrehen, und darin wirkte er mit der Pünktlichkeit eines aufgezogenen Uhrwerks. Wenn man seine zerfahrenen, unstäten Bewegungen beobachtete, konnte man leicht zum Glauben kommen, daß man es nicht mit einem lebendigen Menschen zu tun habe, sondern mit einem, der schon längst gestorben war oder überhaupt nicht gelebt hatte, und in der ganzen Welt nichts sehen und hören konnte als klingende tote Worte.
Am nächsten Tage besuchte Peredonoff den Staatsanwalt Awinowitzkji.
Das Wetter war noch immer trübe. Der Wind wehte in heftigen Stößen und wirbelte große Staubmassen durch die Straßen. Es dämmerte, und es war so, als käme das matte, durch einen dichten Wolkenschleier abgetönte Tageslicht gar nicht von der Sonne her. Die Straßen waren wie tot, nichts rührte sich und man konnte glauben, daß die baufälligen Häuser ganz ohne Sinn und nutzlos daständen, so hoffnungslos verfallen waren sie und so schüchtern erzählten sie vom bettelhaften, traurigen Leben innerhalb ihrer Mauern. Ab und zu sah man Leute gehen, — sie gingen ganz langsam, als hätten sie kein Ziel vor sich, als wären sie kaum imstande eine dumpfe Müdigkeit zu überwinden, welche nur nach bleiernem Schlaf verlangte. Nur die Kinder, diese ewigen, lebendigen Gefäße göttlicher Freude auf Erden, waren lebhaft und spielten und tummelten sich. Aber auch sie waren mitunter von einer traurigen Trägheit befallen, und ein wesenloses, graues Gespenst schien sie mit furchtbaren Augen anzustarren und aus ihren Gesichtern die Freude zu nehmen. Durch die öden Straßen, vorbei an den verfallenen Häusern ging Peredonoff. Der Himmel schien verschwunden, die Erde unrein und unfruchtbar, und eine unklare, bange Furcht begleitete seine Schritte. Er konnte im Ewigen keinen Frieden finden, keine Freude am Irdischen, denn er wußte die Welt nur mit seinen halberstorbenen Augen zu betrachten, wie ein Dämon, welcher sich in grauenhafter Einsamkeit am Entsetzen und an der Trauer zu Tode quält.
Seine Gefühle waren stumpf geworden und sein Leben ein verlöschendes, glimmendes Feuer. Alles, was ihm zum Bewußtsein kam, wandelte sich in unkeusche, niedrige Sinnlichkeit. An den Dingen, die ihn umgaben, bemerkte er nur das Unregelmäßige und daran hatte er seine Freude. Wenn er an einem geraden, saubern Straßenpfosten vorbeiging, so bekam er Lust, ihn zu beschmutzen oder ihn schiefzustellen. Er lachte vor Vergnügen, wenn man in seiner Gegenwart etwas verunreinigte. Die sauber gekleideten Gymnasiasten verachtete er und behandelte sie schlecht. Er pflegte sie abgeleckte Hunde zu nennen. Die Unordentlichen waren ihm eher verständlich. Er hatte keine Beschäftigung, welche er besonders liebte und für keinen Menschen eine tiefere Zuneigung, daher kam es, daß die Natur nur einseitig auf sein Gefühlsleben wirken konnte; sie knechtete ihn. Aehnlich verhielt er sich zu den Menschen, mit denen er verkehrte. Besonders zu den Fremden oder wenig Bekannten, denen er so ohne weiteres nicht grob begegnen durfte. Glücklich sein bedeutete für ihn nichts tun, sich ganz zurückziehen und den Leib mästen. — Und jetzt muß ich, ob ich will oder nicht, so dachte er, herumlaufen und Erklärungen abgeben. Wie langweilig das ist! Wie unangenehm! Und wenn man doch wenigstens dort, wohin er ging, Zoten erzählen könnte, aber nicht einmal das war möglich.
Das Haus des Staatsanwaltes schürte und kräftigte Peredonoffs dumpfe, quälende Angst. Und in der Tat — das Haus sah böse und drohend aus. Das spitze Dach hing düster über den Fenstern, welche dicht über dem Boden angebracht waren. Der Bretterbeschlag des Hauses und das Dach hatten einmal fröhliche, helle Farben gehabt, jetzt war der Anstrich von Wetter und Wind düster und grau geworden. Die Pforte war massig und unverhältnismäßig groß, sie überragte das Haus, als sollte sie ein Bollwerk gegen feindliche Angriffe sein und war immer fest verriegelt. Eine klirrende eiserne Kette diente als Schloß und ein wütender Hund im Hofe bellte rauh und abgerissen jeden Vorübergehenden an. Rings um das Haus waren unbebaute Plätze, Gemüsegärten und weiterhin einige elende Hütten. Das Haus selbst lag an einem sehr großen sechseckigen, ungepflasterten und mit allerhand Unkraut bewachsenen Platze. Dicht vor dem Hause stand ein Laternenpfahl, der einzige auf dem ganzen Platze.
Peredonoff stieg langsam und widerwillig die vier rohgezimmerten Stufen zum Hausflur empor, der mit einem zweiseitig abfallenden Bretterdach gedeckt war, und faßte einen schwarz angelaufenen Messinggriff. Dicht über ihm schrillte anhaltend die Glocke. Dann hörte man schleichende Schritte. Irgend jemand schlich auf Zehenspitzen ganz leise an die Tür und blieb da stehen. Er spähte wohl durch irgend eine von außen nicht sichtbare Spalte. Jetzt wurde am Schloß gerasselt, die Tür tat sich auf und auf der Schwelle stand ein schwarzhaariges, mürrisches Weib mit argwöhnisch lauernden Augen.
„Was wünschen Sie?“ fragte sie.
Peredonoff antwortete, er hätte ein Anliegen an Alexander Alexejewitsch. Das Weib ließ ihn eintreten. Als er die Schwelle überschritt, murmelte er schnell eine Beschwörungsformel. Es war gut, daß er sich damit beeilt hatte, denn kaum hatte er seinen Ueberzieher abgelegt, da hörte man schon im Gastzimmer die scharfe, wütende Stimme Awinowitzkjis. Die Stimme des Staatsanwalts wirkte immer erschütternd, — anders redete er überhaupt nicht. So schrie er auch jetzt schon aus dem Empfangszimmer mit seiner bösen, scheltenden Stimme einige Begrüßungsworte — er freue sich sehr, daß Peredonoff ihn endlich mit seinem Besuche beehre.
Alexander Alexejewitsch Awinowitzkji war ein düsterer Mensch, als hätte er schon von Natur aus eine besondere Veranlagung zum Richten und Anklagen. Obwohl sein Körper von einer ans Wunderbare grenzenden Widerstandskraft war, — Awinowitzkji pflegte im Flusse von einem Eisgang bis zum andern zu baden, — schien er doch schmächtig zu sein. Ein sehr dichter, bläulich-schwarzer Bart mochte diesen Eindruck noch erhöhen. War der Staatsanwalt auch nicht gerade gefürchtet, so fühlte man sich doch in seiner Gegenwart befangen. Das hing damit zusammen, daß er unermüdlich irgend jemanden beschuldigte oder mit Sibirien und Zwangsarbeit drohte.
„Ich habe mit Ihnen zu sprechen,“ sagte Peredonoff verlegen.
„Eine Selbstanklage? Haben Sie gemordet? ein Haus angesteckt? die Post beraubt?“ schrie Awinowitzkji böse und ließ Peredonoff in den Saal eintreten. „Oder sind Sie das Opfer eines Verbrechens. Das ist mehr als möglich in unserer Stadt. Unsere Stadt ist ein gemeines Nest, die Polizei darin aber noch gemeiner. Ich wundere mich nur, daß hier auf dem Platz vor meinem Hause keine Leichen umherliegen. Ich bitte, setzen Sie sich! Also was führt Sie zu mir? Sind Sie ein Verbrecher oder das Opfer eines Verbrechens?“
„Nein,“ sagte Peredonoff, „ich habe nichts Derartiges auf dem Gewissen. Der Direktor würde sich wohl freuen, mir was nachsagen zu können, aber ich habe nichts verschuldet.“
„Sie kommen also mit keiner Anklage?“ fragte Awinowitzkji.
„Nein, keineswegs,“ murmelte Peredonoff ängstlich.
„Nun, wenn es nichts Derartiges ist,“ sagte der Staatsanwalt mit geradezu wütender Betonung der einzelnen Worte, „so kann ich Ihnen wohl einen kleinen Imbiß anbieten.“
Er nahm die Tischglocke und schellte. Niemand kam. Awinowitzkji packte die Glocke mit beiden Händen und läutete wie ein Unsinniger, dann warf er die Glocke auf den Boden, trampelte mit den Füßen und brüllte dazu mit wütender Stimme:
„Malanja, Malanja! Rindvieh! Teufel! Bestie!“
Man hörte jemand langsam herankommen; der Sohn Awinowitzkjis, ein Gymnasiast, trat ein. Es war ein kräftiger, schwarzhaariger Junge von etwa 13 Jahren. Sein Auftreten machte einen sichern und selbständigen Eindruck. Er verbeugte sich leicht vor Peredonoff, hob die Glocke auf, stellte sie auf den Tisch und erst dann sagte er ruhig:
„Malanja ist im Gemüsegarten.“
Awinowitzkji beruhigte sich sofort. Er blickte seinen Sohn zärtlich an, was eigentlich garnicht zu seinem bärtigen, bösen Gesicht passen wollte, und sagte:
„Sei so gut, liebes Kind, lauf zu ihr und bestell einen kleinen Imbiß.“
Der Knabe ging fort, ohne sich zu beeilen. Der Vater blickte ihm nach. Ein stolzes, freudiges Lächeln spielte um seine Lippen. Erst als der Junge über die Schwelle ging, verdüsterte sich Awinowitzkjis Gesicht wieder, und er brüllte mit fürchterlicher Stimme, so daß Peredonoff zusammenfuhr:
„Schneller!“
Der Junge begann zu laufen. Man hörte, wie er die Türen aufriß und hinter sich zuschlug. Der Vater horchte und lächelte freudig mit seinen dicken roten Lippen, dann begann er zu reden und seine Stimme klang hart und böse:
„Mein Erbprinz. Strammer Junge, was? Wie weit wird er’s bringen, he? Was meinen Sie? Ein Dummkopf kann er sein, aber niemals ein Feigling, ein Lappen, ein Schurke — niemals.“
„Ja, was denn,“ murmelte Peredonoff.
„Die Leute unserer Zeit sind ein Zerrbild auf das menschliche Geschlecht,“ tobte Awinowitzkji, „Gesundsein halten sie für eine Gemeinheit. Ein Deutscher hat das Unterhemd erfunden. Diesen Deutschen würde ich nach Sibirien verbannen. Wenn ich mir das vorstelle, mein Wladimir im Unterhemd! Den ganzen Sommer über läuft er im Dorf barfuß und da soll er ein Unterhemd tragen! Er bringt es fertig, aus dem Schwitzbad nackt im härtesten Winter ins Freie zu laufen, sich im Schnee zu wälzen, und der soll ein Unterhemd tragen! Hundert Stockschläge sollte man jenem Deutschen aufzählen.“ — Von diesem Deutschen, der das Unterhemd erfunden hatte, lenkte Awinowitzkji auf andere Verbrecher ab.
„Die Todesstrafe, mein Bester, ist keine Barbarei,“ schrie er. „Die Wissenschaft hat nachgewiesen, daß es Leute gibt, welche als Verbrecher geboren werden. Damit, lieber Freund, ist alles gesagt. Man muß sie vertilgen, aber nicht auf Staatskosten erhalten. Zum Beispiel so ein Verbrecher! Fürs ganze Leben ist ihm ein warmer Winkel im Zuchthaus gesichert! Er hat gemordet, Häuser angesteckt, genotzüchtigt, — nun muß der steuerzahlende Bürger für den Unterhalt dieses Schurken sorgen! Keine Rede, es ist viel gerechter, ihn zu hängen und außerdem ist es billiger.“
Der runde Tisch im Speisezimmer war gedeckt. Auf dem weißen, roteingekanteten Tischtuch standen einige Teller mit fetten Würsten und anderen gesalzenen, geräucherten und marinierten Gerichten; dann waren da eine Reihe von Flaschen und Karaffen von verschiedener Größe und Form, gefüllt mit allerhand Schnäpsen und Likören. Alles das war ganz nach Peredonoffs Geschmack, und sogar eine gewisse Unordnung in der ganzen Einrichtung behagte ihm.
Der Hausherr fuhr in seinen Anklagen fort. An das Essen anknüpfend, gedachte er vernichtend der Kolonialwarenhändler und redete dann, Gott weiß warum, über die Erbfolge.
„Die Erbfolge ist eine ausgezeichnete Einrichtung!“ schrie er darauf los. „Den Bauern zum Herrn machen ist dumm, lächerlich, unsittlich und sinnlos! Das Land liegt brach, die Städte füllen sich mit Geldgierigen; Mißernten, Flegelhaftigkeit und Selbstmorde sind die Folge, — gefällt Ihnen das etwa? Unterrichten Sie den Bauer, wieviel Sie wollen, nur lassen Sie ihn nicht im Stande aufrücken. Die Landbevölkerung verliert sonst ihre besten Leute und wird immer ein niederträchtiges Pack bleiben, während der Adel andererseits durch den Zufluß dieser unkultivierten Elemente leidet. Im Dorfe taugte so ein Bauer mehr als die andern, den Adel hingegen erniedrigt er zu etwas Grobem, Unritterlichem, Unvornehmem. In erster Linie lebt er für den Erwerb, für seine alltäglichen Leibesinteressen. Jawohl, mein Lieber, die Kasten waren eine weise Einrichtung.“
„Ja,“ sagte Peredonoff böse, „auch unser Direktor ermöglicht jedem Lümmel den Eintritt in das Gymnasium. Wir haben sogar einfache Bauern, gar nicht zu reden von der Unmenge von Bürgerlichen.“
„Das hört sich ja nett an!“ rief der Hausherr.
„Es gibt so eine Bestimmung, daß man nicht jeden beliebigen aufnehmen soll; er tut doch was er will,“ klagte Peredonoff, „fast ohne Ausnahme nimmt er jeden auf. ‚Das Leben bei uns in der Stadt,‘ sagt er, ‚ist billig, und wir haben sowieso wenig Schüler.‘ Was ist denn dabei, daß es wenig sind. Es wäre besser, wenn es noch weniger wären. Mit der Korrektur der Hefte wird man sowieso nicht fertig. Kein vernünftiges Buch kann man lesen. Und die Jungen wenden wie mit Absicht die knifflichsten Worte an, — immerwährend muß ich im orthographischen Wörterbuch nachschlagen.“
„Trinken Sie einen Schnaps,“ schlug Awinowitzkji vor, „was wollen Sie eigentlich mit mir besprechen?“
„Ich habe Feinde,“ murmelte Peredonoff und betrachtete traurig sein Gläschen mit dem gelben Schnaps, statt es auszutrinken.
„Das Schwein hier hatte keine Feinde,“ antwortete Awinowitzkji, „doch ist es geschlachtet worden. Greifen Sie zu, es war ein vortreffliches Schwein.“
Peredonoff langte sich ein Stück Schinken und sagte:
„Ueber mich werden allerlei Gerüchte in Umlauf gesetzt.“
„Das kennen wir, was Klatschgeschichten anlangt, gibt es keine schlimmere Stadt!“ rief der Hausherr aufgebracht. „Eine nette Stadt das! Man kann ja tun was man will, gleich grunzen es alle Schweine.“
„Die Fürstin Woltschanskaja hat versprochen, mir eine Inspektorstelle zu verschaffen, und hier setzt der Klatsch ein. Das kann mir doch schaden. Und alles aus purem Neid. So auch der Direktor, er hält keine Disziplin im Gymnasium, — die Schüler von auswärts, welche in Pensionen leben, rauchen, trinken, laufen jeder Schürze nach, und die Kinder unserer Stadt sind um nichts besser. Er selbst ist schuld an dieser Zuchtlosigkeit, aber er macht mich verantwortlich dafür. Es ist möglich, daß man mich bei ihm angeschwärzt hat. Aber wenn diese Klatschgeschichten weitere Verbreitung finden, wenn sie der Fürstin zu Ohren kommen!“
Peredonoff teilte in langer, verworrener Rede seine Befürchtungen mit. Awinowitzkji hörte zu und rief manchmal wütend dazwischen:
„Halunken sind sie! — Schufte! Idioten!“
„Ich bin wirklich nicht Nihilist,“ sagte Peredonoff, „es wäre doch komisch. Ich habe eine Dienstmütze mit der Kokarde, nur pflege ich sie nicht immer zu tragen, — aber er trägt bisweilen auch einen Hut. Daß das Porträt Mizkewizschs bei mir hängt, ist begründet durch meine Vorliebe für seine Verse, nicht aber für seine revolutionäre Tätigkeit. Außerdem habe ich sein Journal, die Glocke, gar nicht gelesen.“
„Sie haben gründlich vorbeigehauen,“ sagte Awinowitzkji rücksichtslos, „Herzen war der Herausgeber der Glocke, nicht Mizkewizsch.“
„Das ist wieder was anderes,“ sagte Peredonoff, „Mizkewizsch hat auch eine Glocke herausgegeben.“
„Ich weiß es nicht. Sie müssen es drucken lassen. Eine wissenschaftliche Entdeckung. Sie werden berühmt werden.“
„Das darf man nicht drucken,“ sagte Peredonoff ärgerlich, „und ich darf keine verbotenen Bücher lesen. Außerdem lese ich sie auch nicht. Ich bin Patriot!“
Nach endlosen Beschwerden, in denen Peredonoff sein Herz ausschüttete, begriff Awinowitzkji so viel, daß irgend jemand bestrebt sein müsse, Peredonoff auszunützen, und zu diesem Zweck allerhand Gerüchte über ihn verbreitete, um ihn dadurch einzuschüchtern und so den Boden allmählich für einen Erpressungsversuch vorzubereiten. Daß diese Gerüchte ihm, dem Staatsanwalt, noch nicht zu Ohren gekommen waren, erklärte er sich daraus, daß der Erpresser äußerst geschickt nur in Peredonoffs nächstem Bekanntenkreise zu wirken wußte, — denn er bezweckte ja nur, Peredonoff allein auszubeuten. Awinowitzkji fragte:
„Haben Sie Verdacht auf jemanden?“
Peredonoff dachte nach. Ganz zufällig fiel ihm die Gruschina ein; dunkel erinnerte er sich an jenes kürzlich geführte Gespräch, welches er mit der Drohung abbrach, er werde sie denunzieren. Daß er eigentlich der Gruschina gedroht hatte, verwirrte sich in ihm zu einer düstern Vorstellung von Denunziation im allgemeinen. Sollte er jemanden angeben, oder sollte er selber angegeben werden, — das war ihm nicht klar, und er machte auch gar keine Anstrengung, sich genauer daran zu erinnern, — so viel stand fest: die Gruschina war ihm feind. Schlimm genug war es, daß sie dabei gewesen war, als er den Pissareff versteckt hatte. Jetzt mußte er ihn wo anders hintun.
Peredonoff sagte:
„Es gibt hier eine gewisse Frau Gruschina.“
„Ich weiß, ein erstklassiges Luder,“ entschied Awinowitzkji kurz.
„Immerwährend kommt sie zu uns,“ klagte Peredonoff, „überall schnüffelt sie. Sie ist geizig und will alles haben. Vielleicht möchte sie Geld von mir dafür, daß sie mich nicht angibt wegen des Pissareff. Oder vielleicht will sie mich heiraten. Ich will ihr aber nichts zahlen, und ich habe eine andere Braut; mag sie immerhin denunzieren, ich bin unschuldig. Es ist nur unangenehm, wenn daraus eine Geschichte entstehen sollte, denn das könnte mir bei der Ernennung schaden.“
„Sie ist eine bekannte Gaunerin,“ sagte der Staatsanwalt. „Sie fing hier an gewerbsmäßig zu wahrsagen und es gab Dumme genug, welche zu ihr gingen. Da sagte ich der Polizei, sie möchte ihr das Handwerk legen. Dieses eine Mal waren sie ausnahmsweise klug und befolgten meinen Rat.“
„Sie wahrsagt auch jetzt noch,“ sagte Peredonoff, „noch neulich hat sie mir Karten ausgelegt, sie redete von einem weiten Weg und von einem Kronsbrief.“
„Sie weiß genau, wem sie was sagt. Warten Sie nur, jetzt knüpft sie die Schlingen und wird später Geld fordern. Kommen Sie dann direkt zu mir. Ich werde ihr hundert aufzählen lassen,“ schloß Awinowitzkji mit seiner beliebten Redensart. Doch durfte man dies nicht wörtlich nehmen; dieser Ausdruck bedeutete nur: einen scharfen Verweis erteilen.
So versprach Awinowitzkji Peredonoff beizustehen; dennoch war dieser, als er vom Staatsanwalt fortging, von einem dumpfen Angstgefühl beherrscht, welches durch die lauten drohenden Reden Awinowitzkjis nur bestärkt worden war.
Nun machte Peredonoff täglich vor dem Mittagessen eine Visite, — mehr als eine konnte er wegen der ausführlichen Erklärungen, die er jedesmal geben mußte, nicht erledigen. Am Abend ging er in der Regel Billard spielen.
Wie immer pflegte er den einladenden Handbewegungen der Werschina zu folgen, und wie immer mußte er anhören, wie Rutiloff seine Schwestern lobte. Zu Hause suchte ihn Warwara zu bereden, die Trauung zu beschleunigen, — aber er konnte keinen festen Entschluß fassen.
Natürlich, so dachte er manchmal, wäre es vorteilhaft, Warwara zu heiraten, — wie aber, wenn mich die Fürstin plötzlich im Stich läßt? In der Stadt, dachte er, wird man dann auf meine Kosten lachen, — und dieses Bedenken hielt ihn vom entscheidenden Schritt zurück.
Der Neid seiner Kollegen, welcher eher in seiner Einbildung als tatsächlich vorhanden war, die Intrigen irgend eines Unbekannten und der Umstand, daß ihm die unverheirateten Frauen nachstellten, alles das gestaltete sein Leben traurig und kummervoll; und auch das Wetter war ganz danach: mehrere Tage hindurch war es trübe, kalt und regnerisch. Peredonoff fühlte, wie mißlich sich sein Leben gestaltete, — aber dann dachte er an den in Aussicht stehenden Inspektorposten und damit mußte sich alles zum besten wenden.
Am Donnerstag machte Peredonoff beim Adelsmarschall seine Aufwartung. Das Haus des Adelsmarschalls erinnerte an eine vornehme Villa in den Villenkolonien von Petersburg, welche Sommer und Winter bewohnt werden konnte. Die Einrichtung des Hauses war nicht gerade luxuriös, doch schienen manche Gegenstände allzu neu und ein wenig überflüssig zu sein.
Alexander Michailowitsch Weriga erwartete Peredonoff in seinem Kabinett. Er tat so als beeilte er sich, seinem Gast entgegenzugehen und als wäre er bloß durch einen Zufall daran verhindert worden.
Weriga hielt sich ungeheuer stramm, selbst wenn man in Betracht zog, daß er ausgedienter Kavallerieoffizier war. Es wurde ihm nachgesagt, daß er ein Korsett trage. Sein glattrasiertes Gesicht war gleichmäßig gerötet, als hätte er es geschminkt. Sein Haar war ganz kurz geschoren, — ein bequemes Mittel, um den Effekt der Glatze zu mildern. Die Augen waren grau, liebenswürdig und kalt. Im Verkehr war er gegen alle äußerst zuvorkommend, in seinen Ansichten streng und entschieden. Allen seinen Bewegungen merkte man den gewesenen Soldaten an und außerdem kleine Hinweise darauf, daß er Gouverneur zu werden beabsichtigte.
Peredonoff saß ihm gegenüber am eichengeschnitzten Schreibtisch und berichtete:
„Ueber mich werden allerhand Gerüchte in Umlauf gesetzt, daher wende ich mich als Edelmann an Sie. Man erzählt über mich Dinge, Exzellenz, welche absolut unwahr sind.“
„Ich habe nichts Derartiges gehört,“ antwortete Weriga und liebenswürdig-erwartungsvoll lächelnd, richtete er seine grauen, aufmerksamen Augen auf Peredonoff.
Peredonoff sah geflissentlich in eine Ecke und redete:
„Ich bin niemals Sozialist gewesen, und wenn es gelegentlich vorkam, daß ich ein Wort zuviel gesagt habe, so ist es zur Genüge damit entschuldigt, daß ein jeder junge Mensch mal über die Stränge schlägt. Jetzt habe ich nicht einmal Gedanken in dieser Richtung.“
„Sie waren also sehr liberal?“ fragte Weriga mit einem liebenswürdigen Lächeln, „nicht wahr, auch Sie wünschten eine Konstitution. Wir alle wollten, als wir jung waren, die Konstitution. Darf ich Ihnen anbieten?“
Weriga schob Peredonoff ein Zigarrenkästchen hin. Peredonoff war zu schüchtern, um „Ja“ zu sagen und dankte; Weriga steckte sich eine Zigarre an.
„Natürlich, Exzellenz,“ gestand Peredonoff, „hatte auch ich als Student meine Gedanken, aber schon damals war es mir um eine andere Konstitution als im üblichen Sinne des Wortes zu tun.“
„Nämlich?“ fragte Weriga mit einem Anflug von Unzufriedenheit im Tone.
„Es sollte eine Konstitution sein, aber ohne Parlament,“ erklärte Peredonoff, „im Parlament zanken sie sich doch nur.“
Werigas graue Augen leuchteten in stillem Entzücken.
„Eine Konstitution ohne Parlament!“ sagte er sinnend. „Wissen Sie, das ist praktisch!“
„Aber auch das ist lange her,“ sagte Peredonoff, „jetzt wünsche ich nichts Derartiges.“
Erwartungsvoll blickte er Weriga an. Weriga blies eine dünne Rauchwolke durch die Lippen, schwieg eine Zeitlang und sagte dann gemessen:
„Sie sind Pädagoge, nun habe ich in meiner Stellung auch mit den Schulen unseres Bezirkes zu tun. Welchen Schulen geben Sie von Ihrem Standpunkte aus den Vorzug: den Kirchenschulen oder den sogenannten Bezirksschulen?“
Weriga strich die Asche von der Zigarre und fixierte Peredonoff liebenswürdig, doch fast allzu aufmerksam. Peredonoff wurde verlegen, stierte in die Ecke und sagte:
„Die Bezirksschulen müssen stramm gehalten werden.“
„Ja, ja, strammer,“ sagte Weriga abwartend.
Und er blickte auf seine glimmende Zigarre, so als bereite er sich vor, einer langen Erörterung zuzuhören.
„Die Lehrer dort sind Nihilisten,“ sagte Peredonoff, „und die Lehrerinnen glauben nicht an Gott. Sie schnauben sich sogar in der Kirche.“
Weriga blickte schnell auf und sagte lächelnd:
„Na wissen Sie, ab und zu ist das notwendig.“
„Ja, aber manche trompeten geradezu, so daß alle Sänger lachen,“ meinte Peredonoff böse. „Das tut sie mit Absicht. Diese Skobotschkina ist so eine Person, läuft in einer roten Bluse herum. Manchmal trägt sie sogar einen Sarafan.“ [8]
„Das ist freilich nicht schön,“ sagte Weriga. „Doch tut sie es eher aus Mangel an Erziehung. Ich erinnere mich gut an diese Lehrerin. Sie hat absolut keine Manieren, ist aber eine tüchtige Lehrkraft. In jedem Fall ist das, was Sie sagen, nicht schön von ihr. Man muß es ihr zu wissen geben.“
„Dort in den Schulen geht es sehr frei zu,“ fuhr Peredonoff fort, „ohne jede Zucht. Gestraft wird überhaupt nicht und Bauernkinder kann man nicht nach demselben Muster erziehen wie die Adeligen. Geprügelt müssen sie werden.“
Weriga blickte ruhig auf Peredonoff, dann, als käme ihm die Taktlosigkeit dieser Bemerkung erst jetzt zum Bewußtsein, senkte er seinen Blick und sagte kalt, fast im Tonfall eines Gouverneurs:
„Es muß gesagt werden, daß ich an Schülern der Distriktsschulen vortreffliche Eigenschaften bemerkt habe. Es steht über allem Zweifel, daß die weitaus größere Zahl außerordentlich fleißig und gewissenhaft ist. Natürlich kommen, wie überall, Vergehen vor und infolge der Unbildung des Milieus kann es geschehen, daß diese Vergehen recht grob zum Ausdruck kommen, um so mehr als in der Landbevölkerung Rußlands das Gefühl für Pflicht, Ehre und Achtung fremden Eigentums nur wenig entwickelt ist. Die Schule hat die Pflicht, solche Vergehen streng zu bestrafen. Wenn alle Mittel einer inneren Einwirkung erschöpft erscheinen, oder wenn das Vergehen besonders groß ist, so wäre es natürlich geboten, um das betreffende Kind nicht ganz verwildern zu lassen, zu den allerstrengsten Maßnahmen zu greifen. Dieses hat aber auf alle Kinder Bezug, auch auf die von Adel. Im allgemeinen stimme ich mit Ihnen darin überein, daß die Erziehung in den genannten Schulen viel zu wünschen übrig läßt. Madame Steven hat in ihrem — à propos sehr interessanten Buch — Sie kennen es doch? ...“
„Nein, Exzellenz,“ sagte Peredonoff verlegen, „ich fand noch keine Zeit dazu. Ich habe soviel im Gymnasium zu tun. Aber ich werde es lesen.“
„Nun, das ist nicht so dringend notwendig,“ sagte Weriga liebenswürdig lächelnd, als erteile er Peredonoff die Erlaubnis, das Buch nicht zu lesen. „Also, besagte Frau Steven erzählt sehr entrüstet, wie zwei ihrer Schüler, junge Leute von 17 Jahren, vom Bezirksgericht zu körperlicher Züchtigung verurteilt wurden. Stolz seien sie, diese Jungen, und — beachten Sie wohl — wir alle hätten uns gequält, solange diese schmähliche Strafe über sie verhängt gewesen sei. Später wurde dann das Urteil abgeändert. Ich kann nur sagen, anstelle der Frau Steven hätte ich mich geschämt, diese Geschichte in ganz Rußland zu verbreiten: stellen Sie sich nur vor, man hatte diese Jungen verurteilt, weil sie Aepfel gestohlen hatten. Bemerken Sie recht: für einen Diebstahl! Da schreibt sie noch, es wären ihre besten Schüler gewesen. Aber Aepfel können sie stehlen! Wirklich, eine vortreffliche Erziehung! Man sollte doch lieber gleich eingestehen, daß man das Eigentumsrecht nicht anerkennt.“
Erregt erhob sich Weriga und machte einige Schritte, aber er faßte sich gleich wieder und setzte sich.
„Sollte ich Inspektor der Volksschule werden, so will ich andere Saiten aufziehen,“ sagte Peredonoff.
„Haben Sie etwas in Aussicht ?“ fragte Weriga.
„Ja, die Fürstin Woltschanskaja versprach mir ihre Protektion.“
Weriga machte ein liebenswürdiges Gesicht.
„Es wird mir angenehm sein, Ihnen Glück wünschen zu dürfen. Ich zweifle nicht daran, daß Sie die Sache vortrefflich leiten werden.“
„Nun wird in der Stadt über mich allerhand verbreitet, Exzellenz, — es ist nicht ausgeschlossen, daß das Bezirksamt davon Kenntnis bekommen könnte; das würde meine Ernennung verhindern und tatsächlich bin ich unschuldig.“
„Haben Sie jemand in Verdacht, der diese Gerüchte aufgebracht hat?“ fragte Weriga.
Peredonoff wurde ganz verlegen und murmelte:
„Wen sollte ich in Verdacht haben? Ich weiß keinen. Man redet nur so. Eigentlich kam ich zu Ihnen, weil diese Gerüchte mir im Dienst schaden können.“
Weriga überlegte, daß es ihm gleich sein könne, von wem das Gerede ausginge: er war ja noch nicht Gouverneur. Er nahm nunmehr wieder die Rolle des Adelsmarschalls auf und hielt eine Rede, die Peredonoff ängstlich und niedergeschlagen anhörte:
„Ich danke Ihnen für das Vertrauen, das Ihre Schritte zu mir lenkte, um meine Vermittlung (Weriga wollte sagen „Schutz“, aber er enthielt sich dieses Ausdrucks) zwischen Ihnen und der Gesellschaft in Anspruch zu nehmen, der Gesellschaft, in welcher, Ihren Informationen zufolge, Ihnen nicht wohlwollende Gerüchte laut geworden sind. Von diesen Gerüchten ist mir nichts zu Ohren gekommen und es muß Ihnen tröstlich sein, daß die Verleumdungen über Sie nicht gewagt haben aus der Hefe der städtischen Gesellschaft emporzudringen und ihr Dasein — um mich so auszudrücken — in niedriger Verborgenheit führen. Es ist mir eine Genugtuung, daß Sie, — wiewohl Sie berufsmäßig im Dienste stehen, — dennoch gleichzeitig auch die Bedeutung der gesellschaftlichen Meinung so hoch einschätzen, und die Würde des Ihnen anvertrauten Amtes als Erzieher der Jugend, eines von jenen, deren geheiligter Fürsorge wir, die Eltern, unser kostbarstes Gut anvertrauen: unsere Kinder, die Erben unseres Namens und unseres Standes. Als Beamter haben Sie Ihren Vorgesetzten in Gestalt Ihres hochzuverehrenden Direktors, als Glied der Gesellschaft und als Edelmann haben Sie das vollste Recht, auf die Anteilnahme des Adelsmarschalls zu rechnen, in allen Fragen, welche Ihre Ehre und sowohl Ihr menschliches, wie gleicherweise Ihr Standesbewußtsein berühren.“
Während des folgenden Teiles seiner Rede stand Weriga auf und während er sich mit den Fingern seiner rechten Hand fest auf den Rand des Schreibtisches stützte, blickte er Peredonoff mit einem nichtssagend-liebenswürdigen und aufmerksamen Gesichtsausdruck an, wie man etwa eine größere Volksmenge betrachtet, wenn man vor ihr eine wohlwollende Rede als Vorgesetzter halten muß. Auch Peredonoff war aufgestanden. Er hatte seine Hände über dem Bauch gefaltet und blickte verdrießlich auf den Teppich zu den Füßen des Hausherrn. Weriga sprach:
„Ich weiß es auch darum zu schätzen, daß Sie sich an mich gewandt haben, weil es bei den Angehörigen des vornehmen Standes besonders angebracht erscheint, daß sie stets und in jeder Lage in erster Linie dessen eingedenk sind, daß sie von Adel sind, daß sie diese ihre Zugehörigkeit zum bezeichneten Stande hochhalten, nicht nur in bezug auf die damit verbundenen Rechte, sondern auch im Hinblick auf die sich hieraus ergebenden Pflichten und auf die Ehre des Edelmannes. Der Adel in Rußland steht, wie Ihnen natürlich bekannt ist, vorwiegend im Staatsdienst. Streng genommen müßten alle staatlichen Aemter, mit Ausnahme der ganz unwichtigen und niedrigen, in den Händen des Adels vereinigt sein. Der Umstand, daß Leute verschiedenen Standes in kaiserlichen Diensten stehen, ist mit Ursache für eine so unerwünschte Erscheinung wie jene, welche gegenwärtig Ihre Ruhe trübte. Verleumdung und Klatscherei sind die Waffen gesinnungsloser Leute, welche nicht in edlen, ritterlichen Traditionen erzogen wurden. Und ich hoffe, daß das allgemeine Urteil klar und unzweideutig zu Ihren Gunsten entscheiden wird, auch bitte ich Sie, sich völlig auf meinen ungeteilten Beistand in dieser Angelegenheit verlassen zu wollen.“
„Meinen ergebensten Dank, hohe Exzellenz,“ sagte Peredonoff, „so darf ich denn auf Ihren Beistand rechnen.“
Weriga lächelte liebenswürdig, blieb aber stehen und deutete damit an, daß die Unterredung beendet sei. Nach seiner langen Rede fühlte er plötzlich, daß sie garnicht am Platz gewesen wäre und daß Peredonoff nichts weiter als ein ängstlicher Streber nach guten Stellen war, ein Streber, der Schutz suchend über jede Schwelle stolpert. Er entließ ihn mit kalter Gleichgültigkeit, die er diesem Menschen gegenüber wegen seines unordentlichen Lebenswandels immer empfunden hatte.
Ein Diener half Peredonoff in seinen Ueberzieher. In irgend einem Zimmer wurde Klavier gespielt. Peredonoff dachte bei sich, daß das Leben in diesem Hause vornehm sei: stolze Leute, die sich hoch einschätzten. „Er will es zum Gouverneur bringen,“ dachte Peredonoff mit ehrfürchtiger und neidischer Bewunderung.
Auf der Treppe traf er die von einem Spaziergang heimkehrenden zwei Söhnchen des Adelsmarschalls mit ihrem Hauslehrer. Peredonoff betrachtete sie mit stumpfer Neugierde.
Wie sauber sie sind, dachte er, sogar in den Ohren kein Schmutzfleckchen. Und munter sind sie, dabei gut geschult und wie auf Draht gezogen. Vielleicht, dachte er, werden sie niemals geprügelt.
Und Peredonoff sah ihnen böse nach, während sie geschwind die Treppe hinaufstiegen und fröhlich plauderten. Auch das verwunderte Peredonoff, daß der Hauslehrer sie wie seinesgleichen behandelte; er drohte nicht und schrie sie nicht an.
Als Peredonoff nach Hause kam, saß Warwara im Gastzimmer und las ein Buch. Das kam selten vor. Sie blätterte in einem Kochbuch, das einzige, was sie mitunter in die Hand nahm. Das Buch war alt, abgegriffen und hatte einen schwarzen Einband. Der schwarze Einband fiel Peredonoff in die Augen und verstimmte ihn.
„Was liest du da?“ fragte er böse.
„Was? Als ob du nicht weißt was, — das Kochbuch,“ antwortete Warwara. „Ich habe keine Zeit, mich mit Albernheiten abzugeben.“
„Warum liest du im Kochbuch?“ fragte Peredonoff entsetzt.
„Was heißt — warum? Ich will kochen, für dich natürlich, du mäkelst ja immer,“ sagte Warwara und lächelte stolz und selbstbewußt.
„Aus diesem schwarzen Buch will ich nichts essen!“ erklärte Peredonoff bestimmt, riß das Buch aus Warwaras Händen und trug es ins Schlafzimmer.
Ein schwarzes Buch! Danach wird gekocht! dachte er mit Entsetzen, das fehlt noch gerade, daß man mich ganz offenkundig mit dem schwarzen Buch behext! Dieses fürchterliche Buch muß vernichtet werden, dachte er, ohne auf Warwaras wütendes Gezeter zu achten.
Am Freitag ging Peredonoff zum Vorsitzenden des Kreisamtes.
Hier im Hause wurde nachdrücklich betont, daß man schlicht und recht leben und zum Wohle der Allgemeinheit arbeiten müsse. Eine ganze Reihe von Gegenständen diente dazu, eine Art von ländlicher Einfalt zu betonen: so hatte ein Sessel eine Lehne in Form eines Krummholzes und kleine Beile als Armstützen, ein Tintenfaß war in ein Hufeisen hineingespannt, ein imitierter Bauernschuh aus Porzellan diente als Aschenbecher. Im Saale standen auf Tischen, Fensterbänken, sogar auf dem Fußboden eine Reihe von kleinen Maßen, welche mit verschiedenen Getreideproben gefüllt waren, und hie und da lagen Klumpen von grobem Bauernbrot, die an Torfstücke erinnerten. Im Gastzimmer konnte man Zeitungen und Modelle von landwirtschaftlichen Maschinen sehen. Im Arbeitszimmer standen riesige Bücherschränke, gefüllt mit nationalökonomischen Werken und Abhandlungen über die Schulfrage. Auf dem Schreibtisch lagen Papiere, gedruckte Rechenschaftsberichte, Pappschachteln mit Karten verschiedener Größe. Alles war staubig und kein einziges Bild hing an den Wänden. Dem Hausherrn Iwan Stepanowitsch Kiriloff konnte man anmerken, wie er bemüht war, einerseits liebenswürdig — europäisch liebenswürdig — zu erscheinen, ohne doch andererseits seiner Würde als Vorsitzender des Kreises etwas zu vergeben. Er war ein Original voller Widersprüche, gleichsam wie aus zwei Hälften zusammengelötet. Seine ganze Einrichtung zeugte davon, daß er viel und vernünftig arbeitete. Sah man ihn selber, so konnte man glauben, daß er seine Tätigkeit im Kreisamt mehr als Sport und nur vorübergehend betriebe, während seine eigentlichen Interessen weitab davon lägen, in irgend einer Richtung, wohin er mitunter seine lebhaften, doch teilnahmlosen bleifarbigen Augen richtete. Es war so, als hätte jemand seine lebendige Seele in einen länglichen Kasten gesperrt und gegen eine seelenlose, doch nervöse, arbeitsame Unruhe eingetauscht.
Er war klein von Wuchs, mager und jugendlich, so jugendlich und rosig, daß man ihn mitunter für einen Knaben halten konnte, der einen falschen Bart trug und sich mit ziemlichem Geschick wie ein Erwachsener zu betragen verstand. Seine Bewegungen waren charakteristisch und rasch. Wenn er sich mit jemandem begrüßte, machte er flinke Verbeugungen und viele Kratzfüße, und glitt geschwind einher auf den Sohlen seiner tadellosen Halbschuhe. Seinen Anzug hätte man ein Kostümchen nennen können: ein graues Jackettchen, ein nicht gestärktes Vorhemdchen aus Batist mit einem Liegekragen, eine blaue, zur Schleife gebundene Krawatte, enganliegende Beinkleiderchen und perlgraue Strümpfchen. Auch seine gemessen-höfliche Art und Weise zu reden war nicht immer gleich: er unterhält sich voll Würde und mit einmal spielt ein kindliches Lächeln um sein Gesicht, oder eine ungelenke, knabenhafte Bewegung erinnerte an sein Doppelwesen, dann nach einem Augenblick ist er wieder ruhig und zurückhaltend höflich.
Seine Frau machte einen stillen, maßvollen Eindruck und schien älter als er zu sein. Einigemal während Peredonoffs Anwesenheit ging sie durch das Arbeitszimmer und zog bei ihrem Manne Erkundigungen über verschiedene Angelegenheiten aus dem Bezirksamt ein. Ihr Hausstand war nicht gerade geordnet, — immerfort kamen Leute in Geschäften und immerfort wurde Tee getrunken. Auch Peredonoff wurde gleich nach seiner Ankunft lauwarmer Tee und Weißbrot auf einem Teller gereicht.
Schon vor ihm war ein anderer Gast gekommen. Peredonoff kannte ihn, — aber schließlich wen kannte man in diesem Städtchen nicht! Man verkehrte mit jedermann, es sei denn, daß man sich mit diesem oder jenem verzankt hätte.
Es war der Bezirksarzt Georg Sjemenowitsch Trepetoff, ein kleiner Mann — er war noch kleiner als Kiriloff — mit einem finnigen, unbedeutenden Vogelgesicht. Er trug eine dunkle Brille und blickte immer auf den Fußboden oder zur Seite, als falle es ihm schwer sein Gegenüber anzusehen. Er war ungeheuer ehrlich und gab keine Kopeke für wohltätige Zwecke aus. Alle kaiserlichen Beamten verachtete er aus tiefstem Herzen: kaum daß er ihnen bei etwaiger Begegnung die Hand reichte, am Gespräch beteiligte er sich in solchen Fällen prinzipiell nicht. Dafür galt er für einen hellen Kopf — wie auch Kiriloff —, wiewohl er nur wenig wußte und als Arzt untüchtig war.
Er hatte sich vorgenommen, sein Leben so einfach als möglich zu gestalten; — zu diesem Zweck studierte er die Gepflogenheiten der Bauern sich zu schnauben oder den Kopf zu kratzen und mit dem Handrücken den Mund zu wischen, im stillen ahmte er diese Sitten nach, — die endgültige Vereinfachung seines Lebens verschob er aber immer auf den nächsten Sommer.
Auch hier wiederholte Peredonoff die ihm seit den letzten Tagen geläufig gewordenen Klagen über den städtischen Klatsch und jene Neider, welche seine Beförderung zum Inspektor verhindern wollten. Kiriloff fühlte sich im ersten Augenblick geschmeichelt, daß Peredonoff sich an ihn wandte. Er sagte:
„Ja, nun sehen Sie, welcherart unsere Provinzgesellschaft ist. Ich habe immer gesagt, die einzige Rettung für denkende Menschen ist, sich fest zusammenzuschließen, — und es freut mich, daß Sie zur selben Erkenntnis gekommen sind.“
Trepetoff grunzte böse. Kiriloff sah ihn ängstlich an. Trepetoff sagte verächtlich: „Denkende Menschen!“ und grunzte wieder. Dann — nach einem kurzen Schweigen — sprach er mit hoher, gekränkter Stimme:
„Ich wußte nicht, daß denkende Menschen Anhänger des Klassensystems sein können.“
„Aber Georgi Sjemenowitsch,“ sagte Kiriloff unsicher, „Sie ziehen nicht in Betracht, daß es nicht immer vom Menschen selber abhängt, welchen Beruf er wählt.“
Trepetoff grunzte verächtlich, wodurch er den liebenswürdigen Kiriloff ganz aus der Fassung brachte und hüllte sich in unnahbares Schweigen.
Kiriloff wandte sich an Peredonoff. Als dieser aber von einem Inspektorposten zu reden begann, wurde er unruhig. Es schien ihm, als ziele Peredonoff darauf ab, Inspektor seines Bezirkes zu werden. Im Bezirksamt aber reifte der Plan, einen eigenen Schulinspektor zu kreieren, welcher vom ganzen Bezirk gewählt und vom Ministerium der Volksaufklärung bestätigt werden sollte.
In diesem Falle wäre Inspektor Bogdanoff, der bereits drei Schulbezirken vorstand, in eine der benachbarten Städte übergesiedelt und die Leitung der Schulen dieses Bezirkes wäre einem neuen Inspektor anvertraut worden. Zu diesem Amte hatte man schon den Vorsteher des Lehrerseminars der ganz nahe gelegenen Stadt Safat ausersehen.
„Ich habe glücklich eine Protektion,“ redete Peredonoff, „nun sucht mir der Direktor den Weg zu verlegen und die andern auch. Alles Mögliche verbreiten sie über mich. Im Falle man bei Ihnen Erkundigungen einziehen sollte, bitte ich Sie, im Auge zu haben, daß diese Gerüchte Lügen sind und ich bitte auch, diesen Lügen keinen Glauben zu schenken.“
Kiriloff antwortete rasch:
„Ich habe wirklich keine Zeit, Ardalljon Borisowitsch, mich mit den Klatschgeschichten der Stadt zu befassen; ich habe so viel zu tun, daß ich nicht weiß, wo mir der Kopf steht. Würde mir meine Frau nicht helfen, so könnte ich die Arbeit einfach nicht bewältigen. Ich komme nirgends hin, sehe niemanden und höre nichts. Doch bin ich fest davon überzeugt, daß all das, was über Sie geredet wird, — ich habe, wie gesagt, nichts Derartiges gehört —, daß das elender Klatsch ist. Die Besetzung des in Frage stehenden Postens hängt indes nicht von mir ab.“
„Man wird sich bei Ihnen erkundigen,“ sagte Peredonoff.
Kiriloff blickte ihn verwundert an und sagte:
„Natürlich wird man sich bei mir erkundigen. Die Sache ist aber die, daß wir ....“
In diesem Augenblick kam Frau Kiriloff herein und sagte:
„Bitte auf einen Augenblick!“ Kiriloff ging zu ihr ins Zimmer. Sie flüsterte besorgt:
„Ich glaube, es ist besser, diesem Subjekt nichts davon zu sagen, daß wir Krassilnikoff wünschen. Dieser Kerl kommt mir verdächtig vor, er wird noch Geschichten machen.“
„Glaubst du?“ flüsterte Kiriloff eilig. „Es könnte sein. Fatale Sache!“
Er griff mit den Händen an den Kopf. Seine Frau sah ihn besorgt-teilnehmend an und sagte:
„Es ist vielleicht besser, ihm überhaupt nichts zu sagen, — als wäre gar keine Stelle vakant.“
„Ja, ja, du hast recht,“ flüsterte Kiriloff, „es ist so peinlich, aber ich muß hin.“
Er lief ins Gastzimmer zurück, machte ununterbrochen Kratzfüße und überhäufte Peredonoff mit Liebenswürdigkeiten.
„Im Falle also, wenn .....“ begann Peredonoff.
„Seien Sie ganz unbesorgt, ich will es mir merken,“ sagte Kiriloff schnell; „außerdem ist diese Frage noch nicht endgültig entschieden.“
Peredonoff begriff garnicht, um welche Frage es sich eigentlich handelte und fühlte sich sehr beunruhigt, Kiriloff fuhr aber fort:
„Unsere Schulen sollen ein festes Netz bilden. Aus Petersburg haben wir uns einen Spezialisten kommen lassen. Den ganzen Sommer über haben wir gearbeitet. 900 Rubel hat es uns gekostet. Es muß alles zum Landtag vorbereitet werden. Die Arbeit ist sehr sorgfältig ausgeführt, — alle Entfernungen sind berechnet, alle Schulfragen sind berücksichtigt worden.“
Und Kiriloff erzählte lang und breit vom Schulnetz, d. h. von der Einteilung des Distrikts in so kleine Bezirke mit einer Volksschule in jedem, daß die Entfernung vom Dorf zur Schule immer nur eine geringe war. Peredonoff begriff nichts, und seine düsteren Gedanken verfingen sich in den Wortmaschen des Kiriloffschen Redenetzes, welches dieser gewandt vor ihm ausbreitete.
Endlich verabschiedete sich Peredonoff und ging hoffnungslos und traurig von dannen. In diesem Hause, dachte er, will man mich nicht begreifen, nicht einmal anhören. Der Hausherr redet von unverständlichen Sachen. Trepetoff grunzt böse und die Hausfrau geht und kommt, ohne mir die geringste Beachtung zu schenken. Merkwürdige Leute leben in diesem Hause! dachte Peredonoff. Ein verlorener Tag!
Am Sonnabend wollte Peredonoff den Chef der Landpolizei aufsuchen. Zwar hat er nicht soviel zu bedeuten, wie der Adelsmarschall, dachte Peredonoff; aber er kann einem eher schaden als die anderen und doch wieder — wenn er nur will — einem beistehen mit seinen Aussagen bei der vorgesetzten Behörde. Die Polizei ist eine wichtige Einrichtung.
Peredonoff nahm aus einer Hutschachtel seine Dienstmütze. Er beschloß, fortan nur diese Mütze zu tragen. Der Direktor kann es sich erlauben mit einem Hut herumzugehen, er ist bei den Vorgesetzten gut angeschrieben, er aber — Peredonoff — muß sich seine Beförderung zum Inspektor erst erwerben; es ist nicht gut, sich nur auf die Protektion zu verlassen, man muß auch bestrebt sein, allerorts im besten Lichte zu erscheinen. Schon seit einigen Tagen, noch bevor er angefangen hatte, die Honoratioren zu besuchen, hatte er daran gedacht, aber wieder war ihm, rein zufällig, der alte Hut unter die Hände geraten. Jetzt ergriff er Gegenmaßregeln: er schleuderte den Hut auf den Ofen, — so war es ausgeschlossen, daß er ihn wieder aufsetzte.
Warwara war ausgegangen. Klawdja, das Dienstmädchen, wusch die Fußböden in den Empfangszimmern. Peredonoff ging in die Küche, um sich die Hände zu waschen. Auf dem Tisch lag eine blaue Papierdüte, aus der einige Rosinen herausgefallen waren. Es war ein Pfund Rosinen gekauft worden, um sie in das Teebrot einzubacken. Peredonoff fing an, die schmutzigen, nicht gereinigten Rosinen zu essen und verschlang schnell und gierig das ganze Pfund. Er war vor dem Tisch stehen geblieben und schielte nach der Tür um von Klawdja nicht ertappt zu werden. Dann rollte er die Papierdüte sorgfältig zusammen, brachte sie unter dem Rock in das Vorzimmer und steckte sie in eine seiner Manteltaschen, um sie später auf der Straße fortzuwerfen, und so alle Spuren zu vertilgen. Er ging. Sehr bald vermißte Klawdja die Rosinen, erschrak, suchte sie überall und fand sie nicht. Warwara kam nach Hause, hörte von den verschwundenen Rosinen und machte Klawdja die heftigsten Vorwürfe: es stand ihr fest, daß das Mädchen die Rosinen aufgegessen hatte.
Auf der Straße war es windig und kein Mensch war zu sehen. Einige Wolken verdeckten die Sonne. Die Pfützen begannen zu trocknen. Der Himmel leuchtete in matten Farben. Aber Peredonoff war traurig.
Unterwegs ging er beim Schneider an. Vorgestern hatte er bei ihm eine neue Uniform bestellt. Er sollte sich mit der Arbeit beeilen.
Als Peredonoff an der Kirche vorbeiging, nahm er die Mütze ab und bekreuzigte sich dreimal. Das machte er so augenfällig als möglich, damit alle Vorübergehenden sehen sollten, wie der künftige Inspektor an der Kirche vorbeiging. Früher hatte er das nie getan, jetzt empfand er es als Notwendigkeit. Vielleicht geht ein Spion hinter ihm her oder irgend jemand steht an der Straßenecke oder hinter einem Baum und beobachtet ihn.
Der Chef der Landpolizei wohnte am andern Ende der Stadt. Vor der Pforte, die weit aufgetan war, stand ein Schutzmann; das war eine Begegnung, die Peredonoff seit den letzten Tagen mit Angst erfüllte. Auf dem Hofe hielten sich einige Bauern auf; auch sie sahen ungewöhnlich aus, sie waren so merkwürdig still und schweigsam. Der Hof war schmutzig. Einige mit Bastgeweben verdeckte Bauernwagen standen umher. Auch im dunklen Vorhaus stand ein Schutzmann, ein kleiner, schmächtiger Mensch, der pflichtbewußt und betrübt aussah. Er stand regungslos da und hielt ein Buch in schwarzem Ledereinband unter dem Arm. Ein zerzaustes Mädchen kam barfuß aus einem Nebenzimmer gelaufen, half Peredonoff aus seinem Ueberzieher und führte ihn dann ins Besuchszimmer, wobei sie immerfort wiederholte:
„Bitte treten Sie ein. Sjemön Grigorjewitsch wird gleich kommen.“
Das Empfangszimmer war sehr niedrig. Peredonoff fühlte sich bedrückt. Die Möbel waren dicht an die Wände gerückt. Der Fußboden war mit schlichten Hanfmatten bedeckt. Rechts und links hinter den Wänden hörte man Geflüster und verschiedene Geräusche. An der Tür standen blasse Frauen und skrophulöse Kinder, sie hatten gierige, blanke Augen. Manchmal konnte man einige Worte der geflüsterten Unterhaltung verstehen:
„Hast du gebracht ...“
„Wohin soll ich’s tragen?“
„Wohin befehlen Sie, daß ich es hinlege?“
„Von Sidor Petrowitsch Jermoschkin.“
Der Polizeichef kam. Er knöpfte an seinem Uniformrock und lächelte süßlich.
„Verzeihen Sie, daß ich auf mich warten ließ,“ sagte er und umfaßte Peredonoffs Rechte mit seinen mächtigen Fäusten, „ich hatte einige Geschäfte zu erledigen. So ist unser Dienst, da gibt’s kein Aufschieben.“
Sjemön Grigorjewitsch Mintschukoff war ein großer, starkknochiger, schwarzhaariger Mann; er hatte eine unbedeutende Glatze, hielt sich ein wenig krumm; und die Hände hingen ihm herunter, wie zwei Bretter. Er lächelte oft und machte dabei ein Gesicht, als hätte er etwas Verbotenes, doch Schmackhaftes gegessen, das er just verdaute. Seine Lippen waren sehr rot und schwulstig, seine Nase massiv, sein Gesichtsausdruck sinnlich und aufmerksam, aber dumm.
Die ganze Umgebung hier machte Peredonoff befangen. Er murmelte unzusammenhängende Worte, saß in seinem Sessel und war bemüht, seine Mütze so zu drehen, daß der Polizeichef die Kokarde daran bemerken mußte. Mintschukoff saß kerzengrade ihm gegenüber an der andern Seite des Tisches, er lächelte süßlich, und seine riesigen Hände glitten langsam über die Kniee, schlossen sich und öffneten sich wieder.
„Man schwatzt Gott weiß welchen Unsinn,“ sagte Peredonoff, „nichts Derartiges ist vorgekommen. Ich selber könnte denunzieren. Ich habe nichts auf dem Gewissen, aber von ihnen wüßte ich Dinge zu berichten. Ich will nur nicht. Hinter dem Rücken wird man verleumdet und ins Gesicht lachen sie einem. Sie werden zugeben, daß das bei meiner Stellung äußerst peinlich ist. Ich habe Protektionen, da wirft man mir Steine in den Weg. Man beobachtet mich durchaus überflüssiger Weise, man verliert Zeit dabei und belästigt mich. Wohin ich nicht gehe, die ganze Stadt spricht davon. Ich hoffe sehr, daß Sie im Falle einer Anfrage auf meiner Seite stehen werden.“
„Aber gewiß, das ist doch natürlich, mit dem größten Vergnügen will ich das,“ sagte Mintschukoff und streckte seine Fäuste vor; „wir in der Polizei müssen das doch am besten wissen, ob Grund zu Verdächtigungen vorliegt oder nicht.“
„Mir kann es natürlich Wurst sein,“ sagte Peredonoff böse, „mögen sie schwatzen, ich fürchte nur, daß es mir im Dienst schaden könnte. Die Leute sind schlau. Achten Sie nicht darauf, was man so redet, zum Beispiel der Rutiloff. Was kann man wissen, er gräbt vielleicht einen Gang unter die Sparbank. Das wäre doch ein Frevel sondergleichen.“
Mintschukoff dachte zuerst, Peredonoff wäre betrunken und schwatze einfach Unsinn. Nach einigem Anhören begriff er jedoch, daß Peredonoff irgend jemanden anklage, der ihn verleumdet hätte, und Gegenmaßregeln zu ergreifen bittet.
„Grünschnäbel sind sie,“ fuhr Peredonoff fort, dabei dachte er an Wolodin, „und halten große Stücke von sich. Andern stellen sie nach und haben die schmutzigsten Geschichten auf dem Gewissen. Man sagt wohl, Jugend kennt keine Tugend. Manche sind auch Angestellte der Polizei und tun doch genau dasselbe.“
Und er redete lange von den dummen, grünen Jungen, scheute sich aber, Wolodins Namen zu nennen. Die bei der Polizei Angestellten hatte er aber erwähnt, um Mintschukoff damit anzudeuten, daß er auch von ihnen Ungünstiges berichten könne. Mintschukoff verstand das so, als rede Peredonoff von zwei jungen Polizeibeamten, von denen er wußte, daß sie jungen Mädchen den Hof machten. Die Verlegenheit und die Angst Peredonoffs wirkten unwillkürlich ansteckend auf Mintschukoff.
„Ich will die Sache in die Hand nehmen,“ sagte er besorgt, dachte einen Augenblick nach und lächelte dann wieder süßlich. „Da hab ich zwei junge Beamte, sie sind noch ganz grün. Glauben Sie mir auf Ehre und Gewissen, den einen stellt seine Mama noch in den Winkel.“
Peredonoff lachte abgerissen.
Inzwischen war Warwara bei der Gruschina gewesen. Da erfuhr sie eine sensationelle Neuigkeit.
„Liebste Warwara Dmitriewna,“ begann die Gruschina eifrig, als Warwara kaum über die Schwelle ihres Hauses getreten war, „ich habe eine Neuigkeit für Sie, — Sie werden starr sein.“
„Was für eine Neuigkeit?“ fragte Warwara schmunzelnd.
„Nein, denken Sie nur, was für elende Geschöpfe auf der Welt herumlaufen! Was die sich für Sachen ausdenken, um ihr Ziel zu erreichen.“
„Ja, worum handelt es sich denn?“
„Na, warten Sie, ich will es erzählen.“
Die schlaue Gruschina bewirtete indes Warwara zuvor mit Kaffee, dann trieb sie ihre Kinder auf die Straße hinaus. Die Aelteste war eigensinnig und wollte nicht gehen.
„Du verdammtes Luder!“ schrie die Gruschina.
„Selbst Luder!“ antwortete das freche Göhr und stampfte mit den Füßen.
Die Gruschina packte das Mädchen an den Haaren, zerrte es auf den Hof und verschloß die Haustür.
„Ein eigensinniges Balg,“ beklagte sie sich, „es ist ein Elend mit diesen Kindern. Ich kann mit ihnen nicht fertig werden. Einen Vater müßten sie haben.“
„Heiraten Sie, dann ist auch der Vater da,“ meinte Warwara.
„Gott weiß, liebste Warwara Dmitriewna, wen man da auf den Hals bekommt. Er wird die Kinder noch mißhandeln.“
Das Mädchen war inzwischen auf die Straße gelaufen und warf von dort aus eine Handvoll Sand auf die Mutter, deren Haar und Kleider ganz beschmutzt wurden. Die Gruschina steckte ihren Kopf zum Fenster hinaus und schrie:
„Wart du nur, Satansbalg, Prügel sollst du kriegen. Komm nur nach Hause. Ich will dich lehren, verdammtes Luder.“
„Selbst Luder! Böses Vieh!“ schrie das Mädchen auf der Straße, hüpfte auf einem Bein und drohte der Mutter mit ihren kleinen, schmutzigen Fäusten.
Die Gruschina schrie sie an:
„Wart du nur!“ und schloß das Fenster. Dann setzte sie sich ruhig hin, als wäre nichts geschehen und sagte:
„Ach richtig, ich wollte Ihnen eine Neuigkeit erzählen. Ich habe es total vergessen. Beunruhigen Sie sich nicht, teuerste Freundin, es wird nichts aus der Geschichte.“
„Ja, was denn eigentlich?“ fragte Warwara erschreckt, und die Kaffeetasse klirrte in ihrer Hand.
„Wissen Sie, im Gymnasium wurde in die fünfte Klasse ein Schüler aufgenommen, Pjilnikoff mit Namen. Er soll aus Ruban stammen, und man sagt, seine Tante hätte in unserem Kreis ein Gut gekauft.“
„Das weiß ich,“ sagte Warwara, „ich habe ihn gesehen. Er kam mit der Tante zu uns. Er ist so geschniegelt und sieht wie ein Mädchen aus, und wird immerwährend rot.“
„Liebste Warwara Dmitriewna, das ist es ja gerade, wie sollte er nicht wie ein Mädchen aussehen, — es ist ja ein verkleidetes Fräulein!“
„Nein, was Sie sagen!“ rief Warwara.
„Das ist mit Absicht so eingefädelt, um Ardalljon Borisowitsch einzufangen,“ sprach die Gruschina eilig, mit den Händen fuchtelnd und froh erregt, daß sie eine so wichtige Neuigkeit weitergeben konnte. „Wissen Sie, dieses Fräulein hat einen Vetter, ein Waisenkind; der war tatsächlich Schüler in Ruban. Die Mutter des Fräuleins nun ließ ihn aus der Schule austreten und dem Fräulein wurden seine Papiere gegeben, um in unser Gymnasium eintreten zu können. Ist es nicht verdächtig, daß man ihn zu einer Frau in Pension gegeben hat, wo keine andern Schüler sind? Da lebt er so schön für sich, und man dachte wohl, daß die Sache nicht herauskommen wird.“
„Und wie haben Sie es erfahren?“ fragte Warwara ungläubig.
„Liebste Warwara Dmitriewna, alle Welt spricht davon. Plötzlich wurde Verdacht geschöpft: alle Jungen betragen sich wie Jungen, dieser ist so still, schleicht einher, wie ein nasses Huhn. Und sieht man erst sein Gesicht an, ein fixer Bengel scheint es zu sein, so rosig, so vollbrüstig. Er ist so bescheiden, seine Kameraden haben es schon bemerkt, kaum sagt man ihm ein Wort, so wird er rot. Das ist auch sein Spitzname: Mädchen. Sie wollen sich über ihn nur lustig machen und wissen gar nicht, daß es wirklich so ist. Und stellen Sie sich vor, wie schlau sie vorgingen: nicht einmal die Pensionsmutter weiß etwas.“
„Woher haben Sie es denn?“ wiederholte Warwara.
„Liebste Warwara Dmitriewna, was erfahr ich nicht alles! Ich kenne doch jedermann. Das wissen doch alle, daß dort im Hause ein Junge lebt, der ebenso alt ist, wie dieser. Warum sind sie nicht zusammen ins Gymnasium eingetreten? Man sagt, er sei den Sommer über krank gewesen, müsse sich ein Jahr erholen und wird dann wieder zur Schule kommen. Aber das ist alles Unsinn, — das ist ja gerade der bewußte Gymnasiast. Und andrerseits ist bekannt, daß dort ein junges Mädchen war. Man erzählt, sie habe geheiratet und sei jetzt im Kaukasus. Das ist wieder eine Lüge, sie ist überhaupt nicht fortgefahren, sondern lebt hier als Knabe verkleidet.“
„Mir ist die Berechnung dabei unklar!“ meinte Warwara.
„Wie, was für eine Berechnung!“ sagte die Gruschina lebhaft, „einen von den Lehrern wollen sie einfangen, es gibt doch Junggesellen genug darunter, oder sonst irgend einen andern. Als Knabe kann sie die einzelnen in ihren Privatwohnungen besuchen und weiß Gott was alles tun.“
Warwara sagte erschreckt:
„Ein abgelecktes Mädel!“
„Und wie noch!“ pflichtete die Gruschina bei, „schön wie ein Bild. Nur jetzt im Anfang tut sie so schüchtern; das wird sich geben mit der Zeit; sie wird alle in der Stadt hier umgarnen. Und, stellen Sie sich vor, wie schlau sie sind: kaum hatte ich von der Sache Wind gekriegt, versuchte ich sofort mit seiner — soll heißen mit ihrer — Pensionsmutter zu sprechen; man weiß ja schon gar nicht, wie man sich ausdrücken soll.“
„Pfui Deibel — Gott verzeih mir — welche Gemeinheit!“ sagte Warwara.
„Zur Vesper ging ich in die Kirche, sie ist nämlich sehr fromm. Olga Wassiljewna — sag ich — warum haben Sie denn heuer nur einen Pensionär? Da kommen Sie doch nicht auf Ihre Kosten — sage ich. Sie antwortet: wozu brauche ich mehr. Es ist so eine Wirtschaft mit mehreren. Ich sage darauf: aber Sie haben doch früher immer zwei, drei Jungen gehabt. Darauf sie — stellen Sie sich nur vor, liebste Warwara Dmitriewna — ja, sagt sie, sie hätten schon so eine Vereinbarung getroffen, daß Saschenka allein bei ihr leben solle. Sie sind nicht arm — sagt sie —, haben etwas mehr gezahlt; sie fürchten nämlich, daß er mit andern Jungen zusammen verwildern würde. Wie finden Sie das?“
„So ein Pack!“ sagte Warwara aufgebracht. „Haben Sie ihr denn gesagt, daß er ein Mädchen ist?“
„Ich sagte ihr also —, passen Sie nur auf — sage ich — Olga Wassiljewna, daß man Ihnen kein Mädchen für einen Knaben unterschiebt.“
„Und was sagte sie?“
„O, sie dachte, daß ich nur scherze und lachte. Dann sagte ich eindringlicher, — liebste Olga Wassiljewna, sag ich, wissen Sie auch, daß es tatsächlich ein Mädchen sein soll. Aber sie glaubt nicht, — Unsinn — sagt sie — wie soll das ein Mädchen sein; ich bin doch Gott sei Dank nicht blind, sagt sie.“
Diese Geschichte beunruhigte Warwara. Sie war der festen Ueberzeugung, daß es sich so verhielte und daß man ihr ihren Geliebten wegpaschen wolle. Sie hielt es für dringend notwendig, das verkleidete Fräulein so schnell als möglich zu entlarven. Lange berieten sie, wie sich das wohl am besten machen ließe, kamen aber vorläufig zu keinem Entschluß.
Zu Hause verdarb die Geschichte mit den verschwundenen Rosinen endgültig Warwaras Laune.
Als Peredonoff kam, erzählte sie ihm eilig und aufgeregt, daß Klawdja ein Pfund Rosinen gestohlen hätte, es aber nicht gestehen wolle.
„Und sie versucht sich noch herauszureden,“ sagte Warwara gereizt; „vielleicht sagt sie, hat der Herr die Rosinen aufgegessen. Du seiest aus irgend einem Grunde in die Küche gegangen, während sie die Dielen scheuerte, und habest dich dort ungewöhnlich lange aufgehalten.“
„Durchaus nicht lange,“ sagte Peredonoff böse; „ich wusch mir nur die Hände und habe die Rosinen nicht einmal gesehen.“
„Klawdjuschka, Klawdjuschka!“ schrie Warwara, „der Herr sagt, daß er die Rosinen überhaupt nicht gesehen hat, — also hattest du sie schon früher irgendwohin versteckt.“
Klawdjas vom Weinen gerötetes Gesicht erschien in der Türspalte.
„Ich habe Ihre Rosinen nicht genommen,“ schrie sie weinend; „ich werde andere kaufen, aber genommen habe ich sie nicht.“
„Kauf nur, kauf nur!“ rief Warwara böse, „ich habe keine Lust, dich mit Rosinen zu füttern.“
Peredonoff fing an zu lachen und rief:
„Djuschka hat ein Pfund Rosinen geklommen.“
„Man tut mir unrecht!“ schrie Klawdja und schlug die Tür zu.
Beim Essen konnte Warwara nicht umhin, die Geschichte von Pjilnikoff zu erzählen. Sie überlegte garnicht, ob es ihr schaden oder nützen könnte, wie Peredonoff die Sache aufnehmen würde, sondern redete einfach aus Bosheit.
Peredonoff war bemüht, sich Pjilnikoffs Erscheinung zu vergegenwärtigen, konnte sich aber nicht recht an ihn erinnern. Er hatte bisher diesem neuen Schüler nur geringe Aufmerksamkeit zugewandt und verachtete ihn, weil er stets sauber gekleidet und in den Stunden aufmerksam war, auch lernte er gut und war dem Alter nach der jüngste in der fünften Klasse. Warwaras Erzählung rief in ihm eine häßliche Neugierde wach. Unkeusche Gedanken regten sich in seinem langsam arbeitenden Hirn ...
Ich werde zur Vesper in die Kirche gehen, dachte er, und mir dies verkleidete Mädchen ansehen.
Plötzlich kam Klawdja hereingelaufen, warf triumphierend die zusammengefaltete blaue Papierdüte auf den Tisch und rief:
„Sie haben mich beschuldigt, ich hätte die Rosinen gegessen. Und das hier? Ich brauche Ihre Rosinen garnicht!“
Peredonoff erriet sofort, worum es sich handelte; er hatte ganz vergessen, die Düte auf der Straße fortzuwerfen, und Klawdja hatte sie jetzt in seiner Manteltasche gefunden.
„Teufel auch!“ entfuhr es seinen Lippen.
„Was soll das, woher kommt das?“ fragte Warwara.
„Das habe ich in des Herrn Manteltasche gefunden,“ antwortete Klawdja schadenfroh. „Er selber hat die Rosinen gegessen und lenkt den Verdacht auf mich. Man weiß doch, daß der Herr zu naschen liebt, aber warum wälzt er die Schuld auf andere, wenn er selber ...“
„Jetzt hör aber auf,“ sagte Peredonoff ärgerlich. „Warum lügst du so? Du hast mir die Düte in die Tasche gesteckt, ich habe nichts genommen.“
„Wie sollte ich sie Ihnen in die Tasche stecken, da sei Gott vor!“ sagte Klawdja verwirrt.
„Wie durftest du fremde Taschen untersuchen?“ fuhr Warwara auf. „Du suchtest da wohl nach Geld?“
„Ich untersuche garnicht fremde Taschen,“ sagte Klawdja grob. „Ich wollte den Mantel bürsten, weil er ganz beschmutzt war.“
„Und was hattest du in der Tasche zu suchen?“
„Die Düte ist von selber herausgefallen, ich habe nicht in den Taschen gesucht,“ rechtfertigte sich Klawdja.
„Du lügst, Djuschka,“ sagte Peredonoff.
„Ich heiße nicht Djuschka, was habt Ihr Euch über mich lustig zu machen!“ schrie Klawdja. „Der Teufel hol Euch! Ich werde die Rosinen kaufen, dann könnt Ihr daran ersticken! Selbst freßt Ihr sie auf, und ich muß sie ersetzen. Und ich werde sie ersetzen, — Ihr habt, scheint’s, kein Gewissen und keine Ehre im Leibe, und sowas nennt sich Herrschaft!“
Klawdja ging weinend und schimpfend in die Küche. Peredonoff lachte abgerissen und sagte:
„Die ist mal wütend.“
„Laß sie nur kaufen,“ sagte Warwara; „wenn man ihnen durch die Finger sieht, fressen einen diese verhungerten Bestien kapp und kahl.“
Und noch lange nachher wurde Klawdja damit geneckt, daß sie ein ganzes Pfund Rosinen aufgegessen hätte. Das Geld dafür wurde ihr vom Lohne abgezogen und allen Gästen die Geschichte als Kuriosum erzählt.
Der Kater, als hätte ihn das Geschrei angelockt, kam längs den Wänden aus der Küche herangeschlichen, setzte sich zu Peredonoffs Füßen und starrte ihn mit bösen, gierigen Augen an. Peredonoff bückte sich, um ihn zu fangen. Der Kater fauchte wütend, zerkratzte Peredonoffs Hand und verkroch sich unter den Schrank. Von dort schielte er hervor, und seine länglich-grünen Pupillen funkelten.
Wie ein Gespenst, dachte Peredonoff mit Grauen.
Warwara dachte die ganze Zeit über an Pjilnikoff und sagte:
„Du solltest doch lieber am Abend ab und zu deine Schüler, die in Pensionen leben, besuchen, statt Billard zu spielen. Sie wissen genau, daß die Lehrer nur selten kommen, und der Inspektor kommt manches Jahr überhaupt nicht; was Wunder, wenn sie allerhand Unfug treiben, Kartenspielen und Rauchen. Geh doch z. B. zu diesem verkleideten Mädchen. Aber erst wenn es spät ist und sie voraussichtlich zu Bett geht; du kannst sie dann entlarven.“
Peredonoff überlegte sich die Sache und lachte laut auf.
Warwara ist ein schlaues Weib, dachte er, von ihr kann man lernen.
Zur Vesper ging Peredonoff in die Kirche des Gymnasiums. Er stand hinter den Schülern und beobachtete aufmerksam wie sie sich betrugen. Einige — so schien es ihm, — schwatzten, pufften einander, lachten, flüsterten und kicherten. Er merkte sich ihre Namen. Doch waren ihrer so viele, daß es ihm etwas schwer fiel, alle Namen zu behalten, und er ärgerte sich über sich selber, daß er nicht daran gedacht hatte eine Bleifeder und Papier von Hause mitzunehmen, um die Schuldigen zu notieren. Ihm tat es weh, daß die Schüler sich so schlecht betrugen und daß niemand dieses zu beachten schien, obgleich der Direktor und der Inspektor mit ihren Frauen und Kindern in der Kirche waren.
In Wirklichkeit verhielten sich die Gymnasiasten still und bescheiden, — manche bekreuzigten sich gedankenlos, — sie dachten vielleicht an Dinge, welche der Kirche fernliegen, — andere wieder beteten andächtig. Ganz selten kam es vor, daß einer seinem Nachbar etwas zuflüsterte, zwei, drei Worte nur, fast ohne den Kopf zu wenden, — und jener antwortete dann ebenso kurz und leise, oder machte nur eine kleine Bewegung, zwinkerte mit den Augen, zuckte die Achseln oder lächelte. Diese kleinen Unregelmäßigkeiten, die vom Gehilfen des aufsichthabenden Lehrers gar nicht bemerkt wurden, gestalteten sich in Peredonoffs erregter, doch stumpfer Auffassung zu Exzessen gröbster Natur. Auch wenn Peredonoff innerlich ruhig war, verstand er nicht — wie übrigens alle groben Menschen — scheinbar unbedeutende Ereignisse richtig zu werten: entweder übersah er sie vollständig, oder er maß ihnen eine viel zu große Bedeutung bei. Jetzt aber, wo Furcht und Erwartung ihn heftig erregten, gehorchte ihm sein Gefühl noch weniger und ganz allmählich wandelte sich ihm die Wirklichkeit zu einem Wahngebilde feindlicher und böser Erscheinungsformen.
Aber auch früher, — was bedeutete ihm sein ganzer Beruf? Doch nicht mehr als eine umständliche Vorrichtung möglichst viel Papier vollzuschreiben und mit gelangweilter Stimme Dinge vorzutragen, die vielleicht einmal das Anrecht darauf gehabt hatten, lebendig genannt zu werden.
Während seiner ganzen pädagogischen Tätigkeit hatte es Peredonoff in der Tat nie erfaßt, — und er hatte auch nie daran gedacht, — daß auch die Schüler Menschen sind, genau solche Menschen, wie die Erwachsenen. Nur jene Gymnasiasten, denen schon der Bart keimte und die nach geschlechtlichem Verkehr verlangten, erkannte er als gleichberechtigt an.
Nachdem er die hinteren Reihen beobachtet hatte und viele traurige Eindrücke gesammelt hatte, ging er ein wenig vor. Da stand rechts ganz am Ende einer Reihe Sascha Pjilnikoff, er betete andächtig und kniete oft nieder. Peredonoff beobachtete ihn genau, und besondere Freude bereitete es ihm, wenn Sascha auf den Knieen lag, als wäre er bestraft, und auf die glänzenden Altartüren schaute mit einem sorgenvollen, bittenden Ausdruck im Gesicht mit flehenden, traurigen Augen, die von langen, tiefschwarzen Wimpern beschattet waren. Er war bräunlich und schön gewachsen, — dieses konnte man besonders dann sehen, wen er so ruhig und grade kniete, als wüßte er, daß ihn jemand scharf beobachtete. Seine Brust war hoch und breit und Peredonoff glaubte mit Sicherheit annehmen zu können, daß Pjilnikoff ein Mädchen sei.
Nun beschloß Peredonoff endgültig, heute noch nach der Vesper in die Pension zu gehen, wo Pjilnikoff lebte.
Man ging aus der Kirche. Den Leuten fiel es auf, daß Peredonoff nicht wie sonst einen Hut, sondern seine Dienstmütze mit der Kokarde trug. Rutiloff fragte lachend:
„Warum renommierst du neuerdings mit der Kokarde, Ardalljon Borisowitsch? Da kann man sehn, wie ein Mensch die Beförderung zum Inspektor erstrebt.“
„Müssen die Soldaten jetzt vor Ihnen Front machen?“ fragte Valerie mit geheuchelter Einfalt.
„Was für Dummheiten!“ sagte Peredonoff böse.
„Du begreifst auch gar nichts,“ sagte Darja, „doch nicht die Soldaten! — Die Schüler werden jetzt Ardalljon Borisowitsch viel höher achten als früher.“
Ludmilla lachte. Peredonoff beeilte sich, von ihnen Abschied zu nehmen, um ihren boshaften Bemerkungen zu entfliehen.
Um Pjilnikoff aufzusuchen, war es noch zu früh und nach Hause wollte er nicht. Peredonoff ging durch die dunklen Straßen und überlegte, wo er noch etwa eine Stunde zubringen könne. Es gab so viele Häuser, in manchen brannte Licht, und aus den geöffneten Fenstern hörte man hie und da Stimmen. Die heimkehrenden Kirchgänger gingen durch die Straßen und man hörte, wie Pforten und Türen aufgetan und wieder zugeschlagen wurden. Ueberall lebten fremde, feindlich gesinnte Leute, und manche von ihnen brüteten vielleicht gerade über einem Anschlag gegen ihn — den Lehrer Peredonoff.
Vielleicht wunderte sich dieser oder jener bereits darüber, daß Peredonoff zu so später Stunde allein durch die Straßen ging und wohin er ging. Es schien Peredonoff, als würde er von jemand, der hinter ihm herschliche, beobachtet. Ihm wurde unheimlich. Er beschleunigte seine Schritte und ging ziellos weiter.
Er dachte daran, daß wohl in jedem Hause so mancher gestorben war. Und alle, die in diesen alten Häusern an die fünfzig Jahre gelebt hatten, sie alle waren gestorben. An einige von den Verstorbenen konnte er sich noch erinnern.
Wenn ein Mensch stirbt, so sollte man sein Haus gleich verbrennen, dachte Peredonoff traurig, sonst ist es zu unheimlich.
Olga Wassiljewna Kokowkina, bei der der Gymnasiast Sascha Pjilnikoff in Pension lebte, war die verwitwete Frau eines Rentmeisters. Ihr Mann hatte ihr eine Pension und ein kleines Haus hinterlassen; das Haus war ihr zu groß, und so vermietete sie zwei bis drei Zimmer. Sie liebte es, besonders Gymnasiasten als Pensionäre zu haben, und es hatte sich so gefügt, daß immer nette und bescheidene Jungen, die fleißig arbeiteten und den Gymnasialkursus auch absolvierten, bei ihr gewohnt hatten. In den andern Schülerpensionen war es meist anders; da lebten oft junge Leute, die von einem Gymnasium ins andere geschickt wurden und daher über eine nur mittelmäßige Bildung verfügten.
Olga Wassiljewna war eine ältere Dame; sie hielt sich sehr gerade, war groß von Wuchs und mager, hatte ein freundliches Gesicht, bemühte sich aber, es in strenge Falten zu legen. Sascha Pjilnikoff war ein netter, wohlerzogener Junge. Die beiden saßen am Teetisch. Heute war die Reihe an Sascha den Saft zu liefern, den er von zu Hause mitgebracht hatte und den man zum Tee zu essen pflegte. Daher fühlte er sich gewissermaßen als Gastgeber, bewirtete eifrig Olga Wassiljewna, und seine schwarzen Augen blitzten dabei vor Freude.
Es läutete, — und gleich darauf erschien Peredonoff im Speisezimmer. Die Kokowkina war erstaunt über den späten Besuch.
„Ja, ich wollte mir mal unsern Jungen ansehn,“ sagte er, „wie er hier lebt, was er treibt.“
Die Kokowkina bot Peredonoff ein Glas Tee an; er lehnte ab, denn es war ihm darum zu tun, den Jungen unter vier Augen zu sprechen und darum wünschte er im stillen, daß man mit dem Teetrinken bald zu Ende käme. Endlich war es so weit; man ging in Saschas Zimmer, aber die Kokowkina blieb und redete ohne Ende. Peredonoff fixierte Sascha, und der schwieg trotzig.
Nichts wird herauskommen bei diesem Besuch, dachte Peredonoff ärgerlich.
Die Magd bat die Kokowkina, für einen Augenblick herauszukommen. Sie ging. Sascha blickte ihr traurig nach. Seine Augen wurden matt und die langen Wimpern schienen das ganze Gesicht zu beschatten. Die Gegenwart dieses vergrämten Menschen war ihm äußerst peinlich. Peredonoff setzte sich neben ihn, legte den Arm ungeschickt um seine Schultern und ohne den Gesichtsausdruck zu verändern, fragte er:
„Nun Sascha, haben Sie heute brav gebetet?“
Sascha blickte verschämt und ängstlich auf Peredonoff, wurde rot und schwieg.
„Warum antworten Sie denn nicht?“ erkundigte sich Peredonoff.
„Ja!“ sagte Sascha nach langer Pause.
„Sieh mal an, was für rote Backen du hast,“ sagte Peredonoff. „Du bist ein Mädchen, gesteh es nur? So ein Schlingel!“
„Ich bin kein Mädchen,“ sagte Sascha und ärgerte sich über sein bisheriges trotziges Schweigen. Mit klingender Stimme fragte er: „Worin sollte ich einem Mädchen ähnlich sehn? Ihre Gymnasiasten sind schuld daran und necken mich so, weil ich nicht gemeine Worte in den Mund nehmen will: aber ich werde auf keinen Fall nachgeben und habe auch gar keinen Grund, Schweinereien zu reden, und außerdem gehört das nicht zu meinen Gewohnheiten.“
„Die Mama bestraft dich dann?“ fragte Peredonoff.
„Ich habe keine Mama,“ sagte Sascha, „meine Mama ist schon lange tot; ich habe eine Tante.“
„Na also die Tante wird dich bestrafen?“
„Natürlich wird sie mich bestrafen, wenn ich Schweinereien rede. Das ist doch nicht gut!“
„Woher soll es aber die Tante erfahren?“
„Ich will ja selber nicht,“ sagte Sascha ruhig, „die Tante kann es weiß Gott woher erfahren. Ich könnte mich zum Beispiel versprechen.“
„Welche Kameraden von Ihnen gebrauchen unanständige Worte?“ fragte Peredonoff.
Sascha wurde wieder rot und schwieg.
„Na — sagen Sie’s doch,“ bestand Peredonoff auf seinem Wunsch, „Sie sind verpflichtet, es mir mitzuteilen, da gibt es kein Verheimlichen.“
„Ach — niemand,“ sagte Sascha verlegen.
„Aber Sie haben sich doch eben noch beklagt!“
„Ich habe mich nicht beklagt.“
„Ja — wie können Sie das nur leugnen,“ sagte Peredonoff böse.
Sascha fühlte, daß er elend in die Falle gegangen war. Er sagte:
„Ich wollte Ihnen nur erklären, warum ich von einigen Kameraden Mädchen genannt werde. Aber klatschen will ich nicht.“
„Oho, warum denn nicht?“ fragte Peredonoff wütend.
„Es ist nicht anständig,“ sagte Sascha und lächelte gezwungen.
„Warten Sie nur, ich werde mit dem Direktor sprechen und dann wird man Sie zum Reden zwingen,“ sagte Peredonoff schadenfroh.
Sascha blickte auf Peredonoff und seine Augen funkelten zornig.
„Nein, bitte Ardalljon Borisowitsch, tun Sie das nicht,“ bat er.
Seine Stimme klang abgerissen und hart, so daß man heraushören konnte, wie schwer ihm das Bitten wurde und daß er lieber freche, drohende Worte gerufen hätte.
„Nein, ich werde es sagen. Dann werden Sie mal sehen, was das heißt, Schweinereien zu verheimlichen. Sie hätten sofort klagen sollen. Warten Sie nur, es wird Ihnen schlimm gehen.“
Sascha war aufgestanden und spielte ganz eingeschüchtert an seinem Gürtel. Die Kokowkina erschien.
„Ein wohlerzogenes Kind haben Sie da!“ sagte Peredonoff böse, „nichts zu sagen!“
Die Kokowkina erschrak. Eilig ging sie zu Sascha, setzte sich neben ihn (denn wenn sie erregt war, zitterten ihre Beine) und fragte ängstlich:
„Hat er was Schlimmes getan, Ardalljon Borisowitsch?“
„Fragen Sie ihn doch selber,“ sagte Peredonoff mit verhaltener Wut.
„Ja, was gibt es denn, Saschenjka, was hast du getan?“ fragte die Kokowkina und berührte Saschas Ellbogen.
„Ich weiß nicht,“ sagte Sascha und weinte.
„Was ist dir nur, was gibt es denn, warum weinst du?“ fragte die Kokowkina.
Sie legte ihre Hand auf des Knaben Schulter, zog ihn an sich und bemerkte gar nicht, daß ihm das unbequem war. Er war stehen geblieben, hielt das Taschentuch vor die Augen und schluchzte. Peredonoff erklärte:
„Man lehrt ihn im Gymnasium Schweinereien zu reden und er will nicht sagen, wer das tut. Er darf das nicht verheimlichen. Sonst lernt er doch selber alle Gemeinheiten und wird die andern in Schutz nehmen.“
„Aber Saschenjka, Kind, wie konntest du nur! Darf man denn das? Schämst du dich garnicht!“ sagte die Kokowkina verwirrt und ließ den Jungen los.
„Ich habe nichts Schlimmes getan,“ schluchzte Sascha, „dafür neckt man mich grade, daß ich niemals häßliche Worte sage.“
„Wer tut denn das?“ wiederholte Peredonoff seine Frage.
„Niemand tut das,“ rief Sascha verzweifelt.
„Sehen Sie, wie er lügt!“ sagte Peredonoff; „er muß gründlich bestraft werden. Er muß sagen, wer der Schuldige ist, sonst kommt die ganze Schule in Verruf und uns sind die Hände gebunden.“
„Verzeihen Sie ihm doch, Ardalljon Borisowitsch,“ sagte die Kokowkina; „er kann doch seine Kameraden nicht angeben? Denken Sie nur, wie sehr man ihm das verübeln würde.“
„Er ist dazu verpflichtet,“ sagte Peredonoff böse, „nur so läßt sich was dagegen tun, nur so können wir die entsprechenden Maßnahmen ergreifen.“
„Die Jungen werden ihn verprügeln,“ sagte die Kokowkina unsicher.
„Sie werden es nicht wagen. Wenn er feige ist, dann mag er es mir im Vertrauen sagen.“
„Lieber Junge, sag’s ihm im Vertrauen. Niemand wird erfahren, daß du es gesagt hast.“
Sascha schwieg und weinte. Die Kokowkina zog ihn an sich, umarmte ihn und flüsterte ihm lange etwas ins Ohr. Er schüttelte nur den Kopf.
„Er will nicht,“ sagte die Kokowkina.
„Ruten muß er kriegen, dann wird er schon wollen,“ sagte Peredonoff zornig, „bringen Sie mir eine Rute. Ich will ihn zwingen zu reden.“
„Aber wofür denn!“ rief Sascha.
Die Kokowkina stand auf und umarmte ihn.
„Jetzt hast du genug geheult,“ sagte sie freundlich, aber ernst, „niemand tut dir was zuleide.“
„Wie Sie wünschen,“ sagte Peredonoff, „in diesem Fall muß ich mit dem Direktor sprechen. Ich wollte die Sache unter uns abmachen, und es wäre für ihn vorteilhafter gewesen. Ihr Saschenjka ist wohl auch mit allen Hunden gehetzt. Wir wissen noch nicht, warum er eigentlich ‚Mädchen‘ genannt wird, — vielleicht hat es seinen ganz besonderen Grund. Vielleicht ist er es, der das Laster ins Gymnasium bringt.“
Peredonoff verließ das Zimmer und die Kokowkina begleitete ihn hinaus. Sie sagte vorwurfsvoll:
„Wie können Sie nur den Jungen mit solchen Sachen in Verlegenheit bringen. Es ist nur gut, daß er Ihre Worte gar nicht begreift.“
„Adieu, adieu,“ sagte Peredonoff böse, „ich werde mit dem Direktor sprechen. Der Sache muß man auf den Grund kommen.“
Er ging. Die Kokowkina kehrte zurück, um Sascha zu trösten. Er saß traurig am Fenster und sah auf den Sternenhimmel. Seine schwarzen Augen blickten schon wieder ruhig, doch seltsam traurig. Die Kokowkina streichelte seinen Kopf ohne ein Wort zu sagen.
„Ich bin selbst schuld daran,“ sagte er, „ich habe mich verschwatzt, und er hält jetzt fest daran. Er ist so grob. Kein einziger Schüler liebt ihn.“
Am darauffolgenden Tage bezogen Peredonoff und Warwara endlich ihre neue Wohnung. Die Jerschowa stand an der Pforte und schimpfte nach Kräften auf Warwara, und diese suchte ihr in nichts nachzustehen. Peredonoff hielt sich hinter dem Möbelwagen versteckt.
In der neuen Wohnung mußte ein Priester gleich beim Einzug ein feierliches Gebet verrichten. Denn Peredonoff hielt es für unerläßlich, seinen strengen Glaubensstandpunkt auch nach außen hin zu zeigen. Während der feierlichen Handlung wurde mit Weihrauch geräuchert, und der schwere Geruch versetzte Peredonoff in eine bedrückte, fast feierliche Stimmung.
Etwas sehr Merkwürdiges beunruhigte ihn nicht wenig. Von irgendwoher kam plötzlich ein eigenartiges, ganz unbestimmbares graues Tierchen gelaufen, ein gespenstisches, flinkes Tierchen. Es schien zu grinsen, zitterte und drehte sich immerfort um Peredonoff herum. Wenn er die Hand danach ausstrecken wollte, glitt es geschwind hinter die Tür oder unter einen Schrank und dann war es gleich wieder da, dieses graue, wesenlose, gespenstische Geschöpf und zitterte und machte Männchen.
Als die feierliche Handlung ihrem Ende entgegenging, besann sich Peredonoff und flüsterte eifrig Beschwörungsformeln. Das unheimliche Tier aber zirpte ganz leise, leise, rollte sich zusammen und verschwand hinter der Tür. Peredonoff atmete erleichtert auf.
Wie gut, wenn es für immer verschwunden wäre. Aber vielleicht lebt es ganz in dieser Wohnung, irgendwo unter dem Fußboden und dann wird es wiederkommen und wird ihn quälen. Peredonoff schauerte.
Warum gibt es diese dämonischen Wesen? dachte er.
Als das Gebet zu Ende war, und als die Gäste sich schon verabschiedet hatten, mußte Peredonoff immer noch daran denken, wo das gespenstische Tier sich versteckt haben könnte. Warwara war zur Gruschina gegangen; da machte sich Peredonoff auf die Suche und durchwühlte alle ihre Sachen.
Vielleicht hat Warwara es in die Tasche gesteckt und mitgenommen? dachte er, viel Platz braucht es nicht. Es kriecht in die Tasche und wird dort warten, bis seine Zeit gekommen ist.
Besonders eins von Warwaras Kleidern erregte seine Aufmerksamkeit. Es war ganz mit Spitzen und Bändern benäht und förmlich dazu geschaffen, um etwas darin zu verbergen. Peredonoff betrachtete es lange und untersuchte es, dann schnitt und riß er mit Hilfe eines Messers die Tasche heraus und warf sie in den Ofen, und dann zerschnitt und zerfetzte er das Kleid in lauter kleine Stücke. Dumpfe, absonderliche Gedanken marterten ihn und eine hoffnungslose Verzweiflung zerriß sein Herz.
Warwara kehrte bald zurück. Peredonoff machte sich noch mit den Kleiderfetzen zu schaffen. Sie dachte, er sei betrunken und schimpfte ihn. Peredonoff hörte lange zu, endlich sagte er:
„Was bellst du, Bestie! Du versteckst vielleicht einen Teufel in deiner Tasche, und ich muß wissen, was hier vorgeht.“
Warwara schäumte. Peredonoff war mit dieser Wirkung zufrieden; er suchte eilig nach seiner Mütze und ging ins Gasthaus Billard spielen. Warwara lief ihm ins Vorhaus nach und während Peredonoff seinen Mantel anzog, schrie sie:
„Du selber trägst einen Teufel in deiner Tasche! Ich habe überhaupt keine Teufel. Woher sollte ich ihn nehmen; etwa aus Holland unter Nachnahme verschreiben!“
Der recht jugendliche Beamte Tscherepin — just derselbe, von dem die Werschina erzählt hatte, unter welch merkwürdigen Begleiterscheinungen er durch die Fenster ihres Hauses gelauert hatte, — machte der Werschina den Hof, seit sie Witwe geworden war. Sie war nicht abgeneigt, ein zweites Mal zu heiraten, doch erschien ihr Tscherepin zu unbedeutend. Tscherepin war infolgedessen sehr aufgebracht. Er ging mit Freuden auf Wolodins Vorschlag ein die Pforte am Hause der Werschina mit Teer zu beschmieren.
Er war einverstanden, aber hinterher kamen die Bedenken. Wie, wenn man ihn ertappte! Das wäre peinlich, er gehörte doch immerhin zum Beamtenstande. Er beschloß, andere Personen mit dieser Angelegenheit zu betrauen. So kam es, daß er zwei Halbwüchslinge zweifelhaften Rufes mit je 25 Kopeken bestach und bei gutem Erfolg ihnen eine Gratifikation von je 15 Kopeken zusicherte; — in einer dunklen Nacht war die Sache geschehen.
Hätte jemand im Hause der Werschina nach Mitternacht ein Fenster geöffnet, so hätte er hören können, wie Leute barfuß über das Pflaster liefen, wie sie ganz leise flüsterten — und dann ein merkwürdig weiches Geräusch, als würde der Zaun einer Reinigung unterzogen; dann ein leises Klirren, dieselben Füße laufen eilig davon, immer schneller, immer schneller, in der Ferne ein unterdrücktes Lachen und lautes Hundegebell.
Aber niemand hatte ein Fenster geöffnet. Und am Morgen ... Die Pforte, der Gartenzaun, die Umfriedung des Hofes, alles war mit gelblichbraunem Pech besudelt. An der Pforte standen, ebenfalls mit Pech geschrieben, unanständige Worte. Alle Vorübergehenden staunten und lachten; die Neuigkeit verbreitete sich schnell, und viele Neugierige strömten herbei.
Die Werschina ging erregt im Garten auf und ab, rauchte, lächelte noch schiefer als sonst und brummte böse. Martha kam garnicht zum Vorschein, blieb im Hause und weinte. Marie, die Magd, war bemüht, das Pech abzuwaschen und zankte mit den neugierigen, spottenden Leuten, die gekommen waren das seltsame Schauspiel zu betrachten.
Noch am selben Tage hatte Tscherepin Wolodin die Namen der Täter genannt. Wolodin hatte es sofort Peredonoff weitererzählt. Sie beide kannten die Jungen, die schon wegen ihrer Streiche berüchtigt waren.
Als Peredonoff zum Billardspiel ging, suchte er unterwegs die Werschina auf. Es war ein trüber Tag. Die Werschina und Martha saßen im Salon.
„Man hat Ihre Pforte mit Pech besudelt —“ begann Peredonoff.
Martha wurde rot. Die Werschina erzählte hastig, wie sie am Morgen aufgestanden wären und bemerkt hätten, daß die Leute über ihren Zaun lachten, und wie Marie dann das Pech abgescheuert hätte. Peredonoff sagte:
„Ich weiß, wer es gemacht hat.“
Die Werschina blickte ihn an und verstand nicht.
„Woher wissen Sie das?“ fragte sie.
„Ich habe so meine Quellen.“
„Wer ist es denn, sagen Sie doch,“ fragte Martha erregt.
Sie sah ganz häßlich aus, denn ihre Augenlider waren vom vielen Weinen rot und geschwollen. Peredonoff antwortete:
„Schön, ich will es sagen, darum bin ich auch hergekommen. Diese Halunken müssen exemplarisch gezüchtigt werden. Sie müssen mir nur versprechen, daß Sie keinem verraten werden, wer Ihnen die Namen genannt hat.“
„Ja, warum denn eigentlich, Ardalljon Borisowitsch?“ fragte die Werschina erstaunt.
Peredonoff schwieg bedeutungsvoll, dann sagte er wie zur Erklärung:
„Es sind solche Schufte, daß sie mir den Hals umdrehen würden, wenn sie hören sollten, daß ich sie angegeben habe.“
Die Werschina versprach zu schweigen.
„Und Sie dürfen auch nicht sagen, daß Sie es von mir haben,“ wandte er sich an Martha.
„Gut, gut, ich werde schweigen,“ rief Martha schnell; denn es lag ihr daran, die Namen der Uebeltäter zu erfahren. Es schien ihr, daß man sie zu einer schimpflichen, harten Strafe verurteilen mußte.
„Nein, schwören Sie lieber,“ sagte Peredonoff vorsorglich.
„Also, bei Gott, ich werde keinem ein Wort sagen!“ beteuerte Martha, „sagen Sie nur schneller wer es war.“
Hinter der Tür aber horchte Wladja. Er war froh, daß er nicht ins Gastzimmer gegangen war: man hätte ihn sonst zum Stillschweigen verpflichtet, so konnte er es aber jedermann weitererzählen. Und er lächelte vor Freude, daß sich ihm hier eine Gelegenheit bot an Peredonoff Rache zu nehmen.
„Etwa um ein Uhr nachts ging ich gestern durch Ihre Straße nach Hause,“ erzählte Peredonoff; „plötzlich höre ich, jemand macht sich an Ihrer Pforte zu schaffen. Erst dachte ich, es wären Diebe. Was soll ich anfangen! Aber schon höre ich, wie sie fortlaufen und gerade auf mich los. Ich drückte mich an die Wand, daß sie mich nicht bemerken konnten. Aber ich habe sie erkannt. Der eine hatte einen Maurerpinsel, der andere einen Eimer. Es waren berüchtigte Schurken, die Söhne des Schlossers Ardejeff. Während sie vorbeilaufen, höre ich, wie der eine zum andern sagt: ‚Die Nacht war nicht umsonst. 55 Kopeken haben wir verdient.‘ Schon wollte ich einen packen, aber ich fürchtete mich, weil sie mir die Fratze mit Pech besudelt hätten, und außerdem hatte ich neue Kleider an.“
Kaum war Peredonoff gegangen, so begab sich die Werschina zum Polizeichef, um zu klagen.
Der Polizeichef Mintschukoff schickte einen Schutzmann nach Ardejeff und dessen Söhnen.
Die Jungen traten keck herein; sie dachten, daß man sie wegen früherer Streiche zur Rechenschaft ziehen wolle. Der alte Ardejeff hingegen war von vornherein davon überzeugt, daß seine Söhne wieder irgend eine Schweinerei begangen hatten. Der Polizeichef erzählte Ardejeff, was seinen Söhnen zur Last gelegt wurde. Ardejeff murmelte:
„Ich kann mit den Jungen nicht fertig werden. Tun Sie mit ihnen, was Ihnen recht erscheint; ich habe meine Fäuste an ihnen lahmgeschlagen.“
„Wir sind ganz unschuldig,“ sagte der ältere, Nil mit Namen, ein zerzauster rothaariger Bursche.
„Alles wälzt man auf uns, wenn so was passiert,“ sagte der jüngere weinerlich, er hieß Ilja, war auch zerzaust, aber blond; „einmal haben wir was Schlimmes getan und da wird alles auf uns geschoben.“
Mintschukoff lächelte süßlich, schüttelte den Kopf und sagte:
„Gesteht lieber!“
„Keine Spur,“ sagte Nil grob.
„Keine Spur? Wer hat euch denn 55 Kopeken für die Arbeit gegeben, he?“
Das verwirrte die Jungen. Daran erkannte Mintschukoff, daß sie die Schuldigen waren, und er sagte der Werschina:
„Natürlich sind sie es gewesen!“
Aber die Jungen leugneten auch jetzt noch. Man schleppte sie in eine Kammer und gab ihnen eine Tracht Prügel. Da gestanden sie. Aber den Namen des Auftraggebers wollten sie nicht verraten.
„Wir selber haben es uns ausgedacht.“
Man prügelte sie umschichtig, mit Muße; schließlich sagten sie, Tscherepin hätte sie bestochen. Dann überantwortete man sie ihrem Vater.
Der Polizeichef sagte zur Werschina:
„Nun haben wir sie gezüchtigt, soll heißen: der Vater hat sie gezüchtigt, und Sie wissen nun, wer Sie beleidigt hat.“
„Das laß ich dem Tscherepin nicht durchgehen,“ sagte die Werschina; „ich werde ihn verklagen.“
„Dazu kann ich nicht raten,“ sagte Mintschukoff bescheiden, „lassen Sie die Sache auf sich beruhen.“
„Nein,“ rief die Werschina, „diese Gemeinheit darf nicht ungestraft bleiben. Auf keinen Fall!“
„Vor allen Dingen haben wir keine Indizien,“ sagte der Polizeichef ruhig.
„Wie nicht! Die Jungen haben doch gestanden.“
„Das ist ganz einerlei. Vor dem Richter werden sie leugnen, und dort wird man sie nicht prügeln.“
„Wie können sie leugnen? Die Schutzleute waren doch Zeugen,“ sagte die Werschina schon etwas weniger sicher.
„Was sind das für Zeugen! Wenn man einem Menschen das Fell über die Ohren zieht, so gesteht er alles, auch Dinge, die er nie getan hat. Es sind natürlich Halunken, und man hat sie streng bestraft; durch das Gericht werden Sie aber sicher keine Genugtuung erhalten.“
Mintschukoff lächelte süß und blickte die Werschina ruhig an.
So ging sie denn höchst unzufrieden davon, kam aber nach einigem Nachdenken zum gleichen Resultat, daß es nämlich sehr gewagt wäre Tscherepin zu verklagen, und daß dadurch nur überflüssiges Gerede und ein großer Skandal entstehen würden.
Am Abend erschien Peredonoff beim Direktor in dringender Angelegenheit.
Der Direktor Nikolai Wassiljewitsch Chripatsch hatte eine ganze Reihe von Prinzipien, die außerordentlich bequem in sein Leben paßten. Darum fielen sie ihm auch keineswegs zur Last. Im Dienst erfüllte er mit Würde alle Vorschriften, die das Gesetz fordert, oder die die vorgesetzte Behörde diktierte, oder die vom allgemein gültigen, gemäßigten Liberalismus verlangt werden. So kam es, daß Eltern, Schüler und Vorgesetzte gleicherweise mit ihm zufrieden waren. Zweifelhafte Fälle, Unsicherheit, Hin- und Herschwanken kannte er nicht; wozu auch? man kann sich doch stets entweder an Bestimmungen des pädagogischen Konseils oder an Vorschriften der vorgesetzten Behörde halten. Ebenso regelmäßig und ruhig war er im persönlichen Verkehr. Schon seine äußere Erscheinung zeugte von Energie und Wohlwollen: er war nicht groß, untersetzt, lebhaft, hatte kluge Augen und redete selbstbewußt und sicher; kurz, er war ein Mensch, der sich seine Stellung selber geschaffen hatte und nicht abgeneigt war, im Leben noch weiterzukommen. In seinem Schreibzimmer standen sehr viele Bücher auf den Bücherbrettern; aus einigen fertigte er Auszüge an. Hatte er eine hinreichende Menge von Auszügen gesammelt, so ordnete er sie und schrieb alles mit eigenen Worten nieder. Das war dann ein Lehrbuch, es wurde gedruckt und verkauft; zwar nicht in übermäßig vielen Auflagen, aber immer noch recht günstig. Manchmal schrieb er gelehrte Abhandlungen über im Ausland erschienene Bücher. Diese Abhandlungen kamen in Fachzeitschriften zum Abdruck, waren allgemein geschätzt, aber durchaus überflüssig.
Er hatte viele Kinder, und jedes von ihnen, ob nun Knabe oder Mädchen, verfügte über irgend ein Talent: das eine schrieb Verse, ein anderes zeichnete, wieder ein anderes machte erstaunliche Fortschritte in der Musik.
Peredonoff sagte gereizt:
„Sehen Sie, Nikolai Wassiljewitsch, Sie belieben mich stets anzugreifen. Es ist möglich, daß man mich bei Ihnen verleumdet, ich habe aber garnichts auf dem Gewissen.“
„Entschuldigen Sie,“ unterbrach ihn der Direktor, „ich verstehe nicht, von was für Verleumdungen Sie zu reden belieben. Als Leiter des mir anvertrauten Gymnasiums pflege ich meine eigenen Beobachtungen zu machen, und ich hoffe doch annehmen zu dürfen, daß meine praktische Erfahrung ausreicht, um gerecht schätzen zu können, was ich höre und sehe, und das um so mehr, als ich aus Prinzip gewissenhaft und aufmerksam meinen Pflichten nachzukommen bestrebt bin,“ sprach Chripatsch schnell und deutlich, und seine Stimme klang trocken und klar, fast wie das Geräusch von Blechstangen, die gebrochen werden. „Was aber meine persönliche Ansicht über Ihre Leistungsfähigkeit betrifft, so kann ich nur wieder konstatieren, daß Sie Ihren dienstlichen Verpflichtungen nur mangelhaft nachkommen.“
„Ja,“ sagte Peredonoff verdrießlich, „Sie haben sich’s mal in den Kopf gesetzt, daß ich nichts tauge; und ich sorge mich Tag und Nacht um das Gymnasium.“
Chripatsch blickte erstaunt und fragend auf Peredonoff.
„Sie bemerken zum Beispiel nicht,“ fuhr Peredonoff fort, „daß sich ein großer Skandal im Gymnasium vorbereitet, — und keiner bemerkt das; ich allein bin der Sache auf die Spur gekommen.“
„Was für ein Skandal?“ fragte Chripatsch mit trocknem Spott und ging im Schreibzimmer auf und ab. „Das irritiert mich, obgleich ich, offen gestanden, nicht an die Möglichkeit eines Skandals in unserem Gymnasium glaube.“
„Sie wissen zum Beispiel nicht, wen Sie alles neu aufgenommen haben,“ sagte Peredonoff so schadenfroh, daß Chripatsch stehen blieb und ihn aufmerksam betrachtete.
„Die Neuaufgenommenen kenne ich alle,“ sagte er trocken. „Diejenigen, welche in die erste Klasse aufgenommen wurden, sind von keinem andern Gymnasium relegiert worden und der einzige Schüler, der in die fünfte Klasse kam, hat so vorzügliche Zeugnisse und Empfehlungen mitgebracht, daß eine gegenteilige Ansicht von vornherein ausgeschlossen erscheint.“
„Wohl, man hätte ihn bloß nicht zu uns, sondern in eine andere Anstalt geben sollen,“ sagte Peredonoff böse und scheinbar widerwillig.
„Ich bitte um eine Erklärung, Ardalljon Borisowitsch,“ sagte Chripatsch. „Ich hoffe, daß Sie damit nicht sagen wollen, daß Pjilnikoff in eine Korrektionsanstalt für minderjährige Verbrecher gehört.“
„Nein; man sollte vielmehr dies Geschöpf in ein Pensionat stecken, wo die alten Sprachen nicht gelehrt werden,“ sagte Peredonoff zornig und seine Augen funkelten böse.
Chripatsch steckte die Hände in die Taschen seines Hausrockes und blickte in grenzenlosem Erstaunen auf Peredonoff.
„Was für ein Pensionat?“ fragte er. „Wissen Sie denn nicht, welche Institute man so nennt? Und wenn Sie es wissen, wie dürfen Sie es wagen, eine so unziemliche Zusammenstellung vorzunehmen!“
Chripatsch war ganz rot geworden und seine Stimme klang noch trockner und härter als gewöhnlich. Sonst pflegten diese Anzeichen eines nahenden Zornesausbruches Peredonoff einzuschüchtern. Heute machte er sich nichts daraus.
„Sie glauben immer noch, daß es ein Knabe ist,“ sagte er und zwinkerte spöttisch mit den Augen, „es ist aber kein Knabe, sondern ein Mädchen, noch dazu was für eins.“
Chripatsch lachte kurz auf. Sein Lachen war hell und deutlich und klang gezwungen, aber er lachte immer so.
„Ha-ha-ha!“ stieß er deutlich hervor, hörte auf zu lachen, setzte sich in den Lehnstuhl und warf den Kopf zurück, als könne er die Lachlust nicht bezwingen. „Verehrtester Ardalljon Borisowitsch, in der Tat, Sie setzen mich in Erstaunen. Ha-ha-ha! Seien Sie bitte so liebenswürdig und teilen Sie mir mit, was Sie auf diese Vermutung gebracht hat, wenn nicht etwa Ihre Voraussetzungen, die dieses Resultat gezeitigt haben, ein Privatgeheimnis sind! Ha-ha-ha!“
Peredonoff erzählte alles, was er von Warwara gehört hatte und berichtete auch gleich von den schlimmen Eigenschaften der Kokowkina. Chripatsch hörte ihm zu und stieß bisweilen sein trocknes, deutliches Lachen hervor.
„Ihre Phantasie ist mit Ihnen durchgegangen, bester Ardalljon Borisowitsch,“ sagte er, stand auf und klopfte Peredonoff auf die Schulter, „viele meiner geschätzten Kollegen haben Kinder, ich selber habe Kinder, wir sind, gottlob! keine Säuglinge mehr und da glauben Sie wirklich, daß wir ein verkleidetes Mädchen für einen Jungen halten könnten?“
„Nun verhalten Sie sich so zu der Sache. Wenn aber was dahinter steckt, wer wird die Verantwortung tragen?“ fragte Peredonoff.
„Ha-ha-ha!“ lachte Chripatsch, „was für Folgen befürchten Sie denn?“
„Das Gymnasium wird zu einer Lasterhöhle,“ sagte Peredonoff.
Chripatsch wurde ernst und sagte:
„Sie gehen zu weit. Alles was Sie zu berichten wußten, gibt mir nicht die geringste Veranlassung Ihren Verdacht zu teilen.“
Noch am selben Abend machte Peredonoff einen eiligen Rundgang bei allen seinen Kollegen, angefangen vom Inspektor bis hinab zu den Gehilfen der Klassenordinarien und erzählte überall, Pjilnikoff wäre ein verkleidetes Mädchen. Alle lachten und glaubten ihm nicht; bei vielen regte sich aber doch ein leiser Zweifel, als er gegangen war. Die Frauen der Lehrer glaubten alle fast ohne Ausnahme daran.
Am nächsten Morgen gingen schon viele mit dem Gedanken in die Schule, daß Peredonoff vielleicht doch recht haben könnte. Offen sprachen sie es nicht aus, aber sie wußten Peredonoff nichts mehr zu entgegnen und beschränkten sich auf unklare, zweideutige Antworten: jeder von ihnen fürchtete für dumm gehalten zu werden, wenn er angefangen hätte, zu widersprechen und es sich hinterher doch herausstellen sollte, daß die Sache sich so verhielt. Viele hätten auch gerne die Ansicht des Direktors gehört, — er aber verließ heute, ganz gegen seine Gewohnheit, seine Wohnung nicht, ging nur mit starker Verspätung in die einzige Stunde, die er an diesem Tage zu geben hatte, blieb einige fünf Minuten und begab sich gleich wieder nach Hause ohne jemand begrüßt zu haben.
Endlich kurz vor der vierten Stunde ging der greise Religionslehrer — ein Priester — und noch zwei andere Lehrer unter irgend einem Vorwand in das Sprechzimmer des Direktors, und der Priester fing vorsichtig an über Pjilnikoff zu sprechen. Aber der Direktor lachte so sicher und herzlich, daß diese drei plötzlich ganz fest davon überzeugt waren, daß alles nur ein Gerede sei. Der Direktor ging aber schnell auf ein anderes Thema über, erzählte irgend eine Neuigkeit aus der Stadt, klagte über sehr heftiges Kopfweh und meinte, er werde wohl den geschätzten Schularzt Eugen Iwanowitsch konsultieren müssen. Dann sagte er in ganz harmlosem Ton, daß die Unterrichtsstunde heute sein Kopfweh arg gesteigert hätte, denn in der Klasse nebenan habe Peredonoff unterrichtet und seine Schüler hätten ungewöhnlich laut und oft gelacht. Dann lachte Chripatsch und sagte:
„In diesem Jahre verfolgt mich ein schlimmes Schicksal: Dreimal in der Woche habe ich neben der Klasse von Ardalljon Borisowitsch zu unterrichten, und stellen Sie sich vor, — ständig lachen seine Jungen. Man sollte meinen, daß Ardalljon Borisowitsch kein komischer Mensch ist, und doch erregt er immer die größte Heiterkeit.“
Und hier brach Chripatsch plötzlich ab, ging wieder auf ein anderes Thema über und verhinderte so, daß man ihm auf seine letzte Aeußerung über Peredonoff etwas antwortete.
Und in der Tat, in der letzten Zeit wurde in Peredonoffs Stunden sehr viel gelacht und nicht etwa deswegen, weil es ihm selber Freude gemacht hätte. Im Gegenteil, das Lachen der Kinder machte ihn nervös. Aber er konnte sich nicht enthalten durchaus überflüssige, unpassende Geschichten zu erzählen: bald war es irgend eine dumme Anekdote, bald neckte er diesen oder jenen von den stilleren Jungen. In der Klasse gab es stets Elemente, die jede Gelegenheit ergriffen Lärm machen zu können, — und Peredonoffs Witze begrüßten sie immer mit schallendem Gelächter.
Vor Schluß der Stunden schickte Chripatsch nach dem Schularzt, nahm seinen Hut und ging in den Garten, der zwischen der Schule und dem Flußufer lag. Der Garten war groß und schattig. Besonders die kleinen Gymnasiasten liebten ihn sehr. Während der Zwischenstunden tummelten sie sich hier nach Herzenslust. Daher liebten die Gehilfen der Klassenordinarien diesen Garten nicht, denn sie fürchteten, diesem oder jenem könnte was zustoßen. Chripatsch aber verlangte, daß die Jungen während der Pausen sich im Garten aufhielten. Das tat er, weil sich die Erwähnung dieses Umstandes besonders schön in den Rechenschaftsberichten ausnahm.
Chripatsch kehrte durch den Gang zurück. An der geöffneten Tür des Turnsaals blieb er mit gesenktem Kopfe stehen und trat dann ein. Alle sahen an seinem leidenden Gesichtsausdruck und an seinem schleppenden Gang, daß er Kopfweh hatte.
Die fünfte Klasse hatte eben Turnunterricht. Die Jungen hatten sich in eine Reihe aufgestellt, und der Turnlehrer, ein Unterleutnant des örtlichen Reserve-Bataillons, wollte gerade etwas kommandieren; als er aber den Direktor erblickte, trat er auf ihn zu. Der Direktor reichte ihm die Hand, blickte zerstreut auf die Schüler und fragte:
„Sind Sie mit den Jungen zufrieden? Geben sie sich auch Mühe? Ermüden sie nicht?“
Der Unterleutnant verachtete die Gymnasiasten im Grunde seiner Seele, denn seiner Ansicht nach hatten sie keine Spur von militärischem Drill und konnten ihn ja auch nicht haben. Wären es Kadetten gewesen, so hätte er unumwunden gesagt, was er dachte. Aber über diese kraftlose Bande lohnte es nicht, etwas Tadelnswertes jenem Menschen zu sagen, der über die Besetzung des Lehrpersonals zu entscheiden hatte. Darum lächelte er verbindlich, blickte den Direktor liebenswürdig und fröhlich an, und sagte:
„O ja, stramme Jungens!“
Der Direktor machte einige Schritte längs der Reihe, dann kehrte er wieder zum Ausgang zurück, blieb plötzlich stehen und fragte, als fiele es ihm just ein:
„Sind Sie mit unserem neueingetretenen Schüler auch zufrieden? Nimmt er sich zusammen? Wird er leicht müde?“ fragte er nachlässig und mißgestimmt, und griff mit der Hand an die Stirn.
Der Unterleutnant hielt eine kleine Abwechslung für angebracht, außerdem überlegte er, daß es sich um einen fremden Eindringling handle und sagte:
„Er ist ein wenig schlapp und wird rasch müde.“
Der Direktor hörte aber garnicht mehr, was er sagte und entfernte sich aus dem Saal.
Die frische Luft hatte Chripatsch scheinbar nicht wohlgetan. Nach einer halben Stunde kehrte er zurück, stand etwa eine halbe Minute an der Tür und betrat wieder den Saal. Man turnte an den Geräten. Zwei oder drei Schüler waren eben nicht beschäftigt, sie hatten das Kommen des Direktors nicht bemerkt und lehnten an der Wand, indem sie den Umstand ausnutzten, daß der Unterleutnant gerade in eine andere Richtung sah. Chripatsch trat auf sie zu:
„Aber Pjilnikoff,“ sagte er, „warum lehnen Sie so nachlässig an der Wand?“
Sascha wurde ganz rot, stellte sich stramm hin und schwieg.
„Wenn es Sie so anstrengt, dann ist es vielleicht besser, wenn Sie überhaupt nicht turnen,“ fragte Chripatsch streng.
„Ich bitte um Entschuldigung, ich bin garnicht müde!“ sagte Sascha erschreckt.
„Eins von beiden,“ fuhr Chripatsch fort, „entweder Sie bleiben überhaupt von den Turnstunden fort, oder ... Uebrigens kommen Sie doch nach Schluß der Stunden in mein Arbeitszimmer.“
Er entfernte sich eilig, und Sascha stand verlegen und erschreckt da.
„Hereingefallen,“ sagten ihm die Kameraden, „er wird dir bis zum Abend die Leviten lesen.“
Chripatsch liebte es, Verweise in längerer Unterredung zu erteilen, und die Gymnasiasten fürchteten nichts so sehr als diese Aufforderung ins Arbeitszimmer.
Nach Schluß der Stunden ging Sascha schüchtern zum Direktor. Chripatsch empfing ihn sofort. Er trat schnell vor Sascha, er rollte förmlich auf seinen kurzen Beinen, setzte sich dicht neben ihn, blickte ihn prüfend an und fragte:
„Sagen Sie doch, Pjilnikoff, ermüdet Sie der Turnunterricht wirklich? Sie sehen eigentlich gesund und kräftig aus, aber der Schein pflegt bisweilen zu trügen. Sind Sie vielleicht krank? Vielleicht ist es nicht gut, daß Sie turnen?“
„Nein, Herr Direktor,“ antwortete Sascha — und er wurde ganz rot und verlegen, „ich bin vollständig gesund.“
„Aber auch Alexei Alexejewitsch beklagte sich,“ entgegnete Chripatsch, „daß Sie eine schlappe Figur machen und schnell müde werden, und ich selber habe heute während der Turnstunde bemerkt, daß Sie matt aussahen. Sollte ich mich versehen haben?“
Sascha wußte nicht, wohin er sehen sollte vor dem durchdringenden Blick des Direktors. Er stammelte verlegen:
„Verzeihen Sie, ich werde nicht mehr ... ich war nur etwas faul. Ich bin wirklich ganz gesund. Ich werde versuchen eifriger zu turnen.“
Plötzlich, ihm selber ganz unerwartet, fing er an zu weinen.
„Sehen Sie,“ sagte Chripatsch, „Sie sind doch übermüdet: Sie weinen, als hätte ich Ihnen einen schlimmen Vorwurf gemacht. Beruhigen Sie sich doch!“
Er legte seine Hand auf Saschas Schulter und sagte:
„Ich habe Sie nicht gerufen, um Ihnen einen Verweis zu erteilen, sondern um die Sache aufzuklären .... Aber setzen Sie sich doch, ich sehe, Sie sind sehr müde.“
Sascha trocknete eilig mit dem Taschentuch seine Tränen und sagte schnell:
„Ich bin wirklich nicht müde.“
„Setzen Sie sich, setzen Sie sich,“ wiederholte Chripatsch und schob ihm einen Stuhl hin.
„Aber wirklich, ich bin nicht müde, Herr Direktor,“ beteuerte Sascha.
Chripatsch faßte ihn an den Schultern, drückte ihn auf den Stuhl, setzte sich ihm gegenüber und sagte:
„Wollen wir ruhig miteinander reden. Es wäre möglich, daß Sie sich über Ihren eigenen Gesundheitszustand täuschen: Sie sind in jeder Hinsicht ein strebsamer und tüchtiger Schüler, und ich kann es vollkommen begreifen, daß Sie nicht um Dispens vom Turnunterricht bitten wollen. Uebrigens, ich habe den Herrn Doktor gebeten heute herzukommen, weil ich mich gar nicht wohl fühle. Er kann dann gleich auch Sie gründlich untersuchen, wenn Sie nichts dagegen haben.“
Chripatsch sah nach der Uhr, und ohne auf eine Antwort zu warten, redete er mit Sascha über die jüngst verflossenen Sommerferien.
Bald darauf kam der Schularzt Ewgenij Iwanowitsch Surowzeff, ein kleiner, behender, schwarzhaariger Mann, der es vor allem liebte über Politik und städtische Klatschgeschichten zu reden. Er verfügte nicht gerade über hervorragende Kenntnisse, verhielt sich aber gewissenhaft zu seinen Patienten, zog Diät und geregelte Hygiene allen Medikamenten vor und so kam es, daß er einigen Erfolg hatte.
Sascha mußte sich entkleiden, Surowzeff untersuchte ihn von Kopf bis zu Fuß, konnte aber keine Anzeichen irgend einer Krankheit finden, während Chripatsch sich davon überzeugte, daß Sascha jedenfalls kein Mädchen sei. Wiewohl er das von vornherein geglaubt hatte, so hielt er diese ärztliche Untersuchung für angebracht, denn im Falle einer Anfrage der Schulbehörde hätte der Arzt ohne weitere Umstände ein entsprechendes Zeugnis ausstellen können.
Chripatsch entließ Sascha mit einigen freundlichen Worten:
„Nun wissen wir, daß Sie ganz gesund sind, und ich werde Alexei Alexejewitsch bitten, Sie in keiner Weise zu schonen.“
Peredonoff zweifelte nicht daran, daß seine Entdeckung des verkleideten Mädchens die Aufmerksamkeit der Schulbehörde auf ihn lenken und ihm außer der Rangerhöhung auch einen Orden einbringen würde. Diese Hoffnung spornte ihn dazu an, doppelt scharf auf das Betragen der Schüler zu achten. Schon seit einigen Tagen war das Wetter trübe und regnerisch, nur spärlich wurde das Billard besucht, — und so blieb ihm nichts anderes übrig, als sämtliche Schülerpensionen der Stadt zu inspizieren, ja, er suchte sogar Gymnasiasten auf, die bei ihren Eltern lebten. Peredonoff traf insofern eine Auswahl, als er nur schlichtere Familien besuchte: er ging hin, klagte über den mißratenen Sohn, der bekommt Prügel, — und Peredonoff ist zufrieden. So hatte er den Joseph Kramarenko bei dessen Vater, einem Bierbrauer, verklagt, — er hatte erzählt, daß Joseph während des Gottesdienstes in der Kirche Unfug treibe. Der Vater glaubte ihm aufs Wort und bestrafte den Sohn. Dasselbe Schicksal traf dann noch einige andere. Diejenigen Eltern, von denen er glaubte, daß sie ihre Kinder in Schutz nehmen würden, suchte er überhaupt nicht auf; auch fürchtete er, sie könnten sich bei der Schulbehörde beschweren. So besuchte er jeden Tag je einen Schüler in dessen Wohnung. Er trat als Vorgesetzter auf: räsonierte, traf Anordnungen, drohte. Aber es kam vor, daß die Pensionäre unter den Schülern, die sich als selbständige, junge Leute fühlten, ihm einfach grob begegneten. Einen Erfolg hatte Peredonoff zu verzeichnen: Frau Flawitzkaja, eine energische, schlanke Dame mit heller Stimme, prügelte auf seinen Wunsch ihren Pensionär, den kleinen Wladimir Bultjakoff, gehörig durch.
In den Unterrichtsstunden der nächstfolgenden Tage pflegte Peredonoff dann von seinen Taten zu berichten; er nannte keine Namen, aber die unglücklichen Opfer verrieten sich selber durch ihr gedrücktes, scheues Wesen.
Das Gerücht, Pjilnikoff wäre ein verkleidetes Mädchen, eilte auf Windesflügeln durch die Stadt. Die Rutiloffsche Familie erfuhr ganz zuerst davon. Ludmilla — sie war sehr neugierig — bemühte sich, jede Neuigkeit mit eigenen Augen zu sehen. Eine brennende Neugierde plagte sie Pjilnikoff kennen zu lernen. Es war unbedingt notwendig, sie mußte diesen verkleideten Schelm sehen. Mit der Kokowkina war sie bekannt. Eines schönen Abends sagte sie zu den Schwestern:
„Ich gehe mir das Fräulein ansehen!“
„Alles mußt du begaffen!“ rief Darja böse.
„Sie hat sich schön gemacht,“ bemerkte Valerie und lachte verhalten.
Es ärgerte die beiden anderen, daß sie nicht auf diesen Gedanken gekommen waren: zu dritt konnten sie unmöglich hin. Ludmilla hatte sich feiner angekleidet als sonst, — warum eigentlich, wußte sie selber nicht. Uebrigens hatte sie es gern, hübsche Kleider zu tragen und war in dieser Beziehung freimütiger als die Schwestern: die Arme ließ sie bloß, hatte einen tieferen Halsausschnitt, ihr Rock war kürzer, ihr Schuhwerk eleganter, die fleischfarbenen Strümpfe dünner und durchsichtiger. Zu Hause ging sie mit Vorliebe im Unterrock herum, trug ihre Schuhe über den bloßen Füßen, — und sowohl ihr Hemd als ihr Unterrock waren fast zu elegant.
Draußen war es kalt und windig, welke Blätter schwammen in allen Pfützen. Ludmilla ging schnell und spürte die Kälte kaum trotz ihres leichten Mantels.
Die Kokowkina und Sascha tranken Tee. Ludmilla musterte sie mit blitzenden Augen, — aber da gab es wenig zu sehen, sie saßen hübsch bescheiden am Tisch, tranken ihren Tee, aßen Weißbrot dazu und plauderten. Ludmilla küßte die Kokowkina und sagte:
„Ich komme in einer besonderen Angelegenheit zu Ihnen, liebste Olga Wassiljewna. Aber davon später. Erst möchte ich etwas Tee trinken um mich zu erwärmen. O — was sitzt denn da für ein Jüngling!“
Sascha errötete und machte eine ungeschickte Verbeugung; die Kokowkina stellte ihn vor. Ludmilla setzte sich an den Tisch und erzählte lebhaft einige Neuigkeiten. In der Stadt wurde sie gerade deswegen geschätzt, denn sie wußte alles und verstand nett und bescheiden zu erzählen. Die Kokowkina saß fast immer zu Hause, freute sich daher über diesen Besuch und machte die liebenswürdige Wirtin. Ludmilla plauderte lustig, lachte, sprang auf, um diesen oder jenen nachzumachen, und streifte dabei Sascha. Sie sagte:
„Sie müssen es doch einsam haben, liebste Freundin, immer nur zu Hause sitzen mit diesem kleinen Gymnasiasten. Besuchen Sie uns doch einmal.“
„O, das kann ich nicht,“ antwortete die Kokowkina; „ich bin viel zu alt, um Besuche zu machen.“
„Es handelt sich doch nicht um einen feierlichen Besuch,“ sagte Ludmilla zärtlich; „kommen Sie und bleiben Sie ein wenig, ganz wie zu Hause, das ist alles. Dieser Jüngling hier ist ja Gott sei Dank den Windeln entwachsen.“
Sascha machte ein gekränktes Gesicht und wurde rot.
„So ein Bengel!“ neckte Ludmilla und stieß ihn ein wenig in die Seite; „warum unterhalten Sie mich garnicht?“
„Er ist noch jung,“ sagte die Kokowkina, „und sehr schüchtern.“
Ludmilla sah sie an und lächelte:
„Ich bin auch verlegen,“ sagte sie.
Sascha lachte und sagte einfach:
„Was nicht gar, sind Sie verlegen?“ Ludmilla lachte aus vollem Halse. Ihr Lachen klang stets wie süße, leidenschaftliche Freude. Wenn sie lachte, wurde sie immer rot, ihre Augen blickten schelmisch und fast schuldbewußt und vermieden es, irgend einen aus der Gesellschaft anzusehen. Sascha verlor ein wenig die Fassung, dann rechtfertigte er sich:
„Nein doch, ich wollte damit nur sagen, daß Sie so fröhlich sind und nicht bescheiden, ich meine nicht, daß Sie unbescheiden sind.“
Aber er fühlte, daß sich das in Worten nicht so leicht wie etwa in einem Brief ausdrücken ließ, und das verwirrte ihn. Er wurde rot.
„Was er mir für Ungezogenheiten sagt!“ rief Ludmilla — und lachte, und wurde rot, „das ist doch wirklich allerliebst!“
„Sie haben meinen Sascha ganz verlegen gemacht,“ sagte die Kokowkina und blickte sowohl Sascha als Ludmilla freundlich an.
Ludmilla machte eine katzenartig wiegende Bewegung und streichelte Saschas Haar. Er lachte trotzig und hell, stieß ihre Hand leicht zurück und lief in sein Zimmer.
„Liebste Freundin, wissen Sie nicht einen Mann für mich?“ sagte Ludmilla ohne jeden Uebergang.
„Ich bin doch keine Kupplerin!“ antwortete die Kokowkina; aber man konnte an ihrem Gesicht sehen, daß sie mit größtem Vergnügen eine Heirat vermittelt hätte.
„Ja, was tut denn das?“ entgegnete Ludmilla, „bin ich etwa keine schöne Braut? Sie brauchen sich garnicht zu schämen, mich zu verheiraten.“
Ludmilla stemmte die Hände in die Seiten und tanzte vergnügt vor der Hausfrau.
„Gehen Sie zu!“ sagte die Kokowkina, „ein rechter Windbeutel sind Sie!“
Ludmilla lachte und sagte:
„Und wenn es nur vor lauter Langeweile wäre, suchen Sie mir einen Mann!“
„Was für einen wollen Sie denn haben?“ fragte die Kokowkina und lächelte.
„Er muß brünett sein, liebste Freundin, unbedingt muß er brünett sein,“ sagte sie schnell, „tief brünett. So tief wie ein Teich. Da haben Sie gleich eine Vorlage: — wie Ihr Pensionär, er muß ebenso schwarze Augenbrauen haben und ebensolche Augen, sein Haar muß bläulichschwarz sein und seine Wimpern ganz dicht, ganz dunkelschwarze Wimpern. Er ist ein hübscher, ein sehr, sehr hübscher Junge! Sehen Sie, — verschaffen Sie mir so einen.“
Bald darauf verabschiedete sich Ludmilla. Es wurde schon dunkel. Sascha begleitete sie.
„Aber nur bis zur Droschke!“ bat Ludmilla mit weicher Stimme und blickte Sascha zärtlich an. Er wurde rot und verlegen.
Auf der Straße wurde Ludmilla wieder lustig und begann den Jungen auszufragen:
„Sind Sie auch hübsch fleißig? Lesen Sie auch bisweilen?“
„Das tue ich wohl,“ antwortete Sascha, „weil ich sehr gerne lese.“
„Andersens Märchen?“
„Ueberhaupt keine Märchen, sondern allerlei andere Bücher. Ich liebe die Weltgeschichte und Gedichte.“
„Also Gedichte! Wer ist denn Ihr Lieblingsdichter?“ fragte Ludmilla streng.
„Natürlich Nadson,“ sagte Sascha aus tiefster Ueberzeugung, als wäre eine andere Antwort überhaupt nicht möglich gewesen.
„So, so!“ sagte Ludmilla aufmunternd. „Ich liebe auch Nadson, aber nur am Morgen, am Abend lieb’ ich es, mich schön zu machen. Und was ist Ihre liebste Beschäftigung?“
Sascha blickte sie freundlich an, plötzlich kamen Tränen in seine Augen, und er sagte ganz leise:
„Ich liebe so sehr zärtlich zu sein!“
„So ein zartes Pflänzchen,“ sagte Ludmilla und umfaßte seine Schultern, „er will zärtlich sein! Lieben Sie auch zu baden?“
Sascha lachte auf. Ludmilla forschte weiter:
„In warmem Wasser?“
„Ganz einerlei — in warmem und in kaltem,“ sagte der Junge verschämt.
„Und was für eine Seife lieben Sie?“
„Glyzerinseife.“
„Essen Sie gerne Weintrauben?“
Sascha lachte:
„Wie komisch Sie sind. Das sind doch ganz verschiedene Sachen und Sie fragen so, als wäre eins so gut wie das andere. Ich laß mich nicht so leicht hinters Licht führen.“
„Was hätte ich auch davon!“ sagte Ludmilla lächelnd.
„Ich weiß schon, daß Sie es lieben, einen zu necken.“
„Woher wissen Sie das?“
„Alle sagen es,“ meinte Sascha.
„Sieh mal an, Sie lieben also zu klatschen!“ sagte Ludmilla streng.
Sascha wurde rot.
„Da ist schon eine Droschke! — Droschke!“ rief sie laut.
„Droschke!“ rief auch Sascha.
Die Droschke holperte über das Pflaster und fuhr vor. Ludmilla nannte ihre Adresse. Der Kutscher dachte nach und verlangte 40 Kopeken. Ludmilla sagte:
„Wo denken Sie hin! Es ist doch ganz nah. Sie scheinen den Weg nicht zu kennen.“
„Wieviel wollen Sie geben?“ fragte der Kutscher.
„Just die Hälfte. Wählen Sie welche Sie wollen!“
Sascha lachte.
„Ein lustiges Fräulein!“ sagte der Kutscher und grinste, „legen Sie noch einen Fünfer zu.“
„Danke für die Begleitung, lieber Junge,“ sagte Ludmilla, drückte fest Saschas Hand und setzte sich in die Droschke.
Sascha lief nach Hause und dachte fröhlich an das fröhliche Mädchen.
Ludmilla kam sehr vergnügt nach Hause, sie lächelte und schien an etwas Lustiges zu denken. Die Schwestern erwarteten sie. Sie saßen im Speisezimmer an dem runden Tisch, über dem eine Hängelampe brannte. Auf dem weißen Tischtuch blinkte eine braune Flasche Sherry-Brandy aus Kopenhagen und hell glänzte ihr mit süßer Flüssigkeit behafteter Hals. Rings um die Flasche standen Teller mit Aepfeln, Nüssen und türkischer Marmelade.
Darja hatte einen kleinen Strich; ihr Gesicht war gerötet, ihr Haar zerzaust und sie war nur halb angekleidet. Sie sang sehr laut. Ludmilla hörte schon von weitem den vorletzten Vers des bekannten Liedchens:
Wo blieb die Flöte, wo das Kleid?
Die Lippen sind zum Kuß bereit.
Scham weicht der Furcht, Furcht weicht der Scham —
Das Hirtenmädchen schluchzt vor Gram:
Vergiß, was du gesehn!
Auch Larissa saß am Tisch, — vornehm und ruhig-freundlich, sie aß einen Apfel, den sie zuvor mit einem Fruchtmesser in Scheiben geschnitten hatte. Sie lachte:
„Nun, hast du sie gesehen,“ fragte sie.
Darja hörte auf zu singen und sah Ludmilla an. Valerie stützte ihren Kopf auf den Arm, steckte den kleinen Finger vor, neigte den Kopf und versuchte Larissas Lächeln nachzuahmen. Es gelang ihr schlecht, denn sie war schmächtig, subtil, und ihr Lächeln war unruhig. Ludmilla goß sich roten Kirschlikör in ein Gläschen und sagte:
„Dummheiten! Ein echter Bengel wie er sein muß, und er ist sehr sympathisch. Tief brünett, blitzende Augen, dabei unschuldig wie ein neugebornes Kind.“
Und plötzlich lachte sie hell auf. Die Schwestern sahen sie an, und dann lachten alle.
„Ach, es lohnt sich ja gar nicht zu sprechen, das ist so eine von Peredonoffs Verrücktheiten,“ sagte Darja, winkte mit der Hand und dachte dann eine Weile nach. Sie hatte ihre Arme auf den Tisch gestützt und hielt den Kopf gesenkt. „Wollen wir singen,“ sagte sie und begann mit durchdringender Stimme zu singen.
Aus ihrem Geschrei klang eine dumpfe, erzwungene Begeisterung. Hätte man einen Toten unter der Bedingung zum Leben erweckt, daß er immer nur singen dürfe, so hätte er ein ähnliches Geheul angestimmt. Die Schwestern waren schon längst an diese Art Musik gewöhnt; wenn Darja nicht mehr nüchtern war, sang sie immer so, und manchmal fielen die Schwestern ein und schrien mit Absicht recht laut und durchdringend.
„Die ist ins Heulen reingekommen!“ sagte Ludmilla spöttisch.
Nicht etwa, daß es ihr mißfiel, vielmehr wollte sie ihre Erlebnisse erzählen, und die Schwestern sollten zuhören. Darja unterbrach ihren Gesang und schrie sie an:
„Was geht es dich an, ich stör’ dich nicht.“
Und dann sang sie weiter gerade von derselben Stelle an, wo sie stehen geblieben war. Larissa sagte freundlich:
„Laß sie doch singen.“
„Meine wilden Leidenschaften
Finden nirgends ihre Ruh’ —“
sang Darja in den höchsten Lagen, wobei sie die Töne dehnte und hinauszog, wie etwa die gewöhnlichen Bänkelsänger es zu tun pflegen, um recht viel Rührung ins Lied zu legen. Es kam ungefähr so heraus:
Mei—ei—n—e—e wi——i—ild—e—en Lei—ei—ei—d—e—e—en—sch—a—a—ft—e—en.
Bei dieser Art zu singen wurden jene Silben ganz besonders betont, auf denen von Rechts wegen kein Ton lag. Die Wirkung war jedenfalls eine hervorragende: eine tödliche Schwermut hätte jeden uneingeweihten Zuhörer befallen.
O Schwermut, die du über Feld und Wald und über die gewaltige heimatliche Ebene einherziehst! O Schwermut, die du tausendfach im wilden Echo der Berge widerhallst, die du in matter, glühender Flamme das lebendige Lied in ein sinnbetörendes Seufzen wandelst! O tödliche Schwermut! O ihr geliebten, alten, russischen Gesänge! werdet auch ihr dahinsterben? ...
Plötzlich sprang Darja auf, stemmte die Hände in die Seiten und schmetterte ein fröhliches Tanzliedchen aus voller Kehle. Dazu tanzte sie und klatschte in die Hände:
„Geh, du Ritter, in den Wind, —
Ich bin eines Räubers Kind.
Bist so fein und säuberlich,
Geb dir einen Messerstich.
Brauche keinen stolzen Herrn —
Hab ein armes Blut so gern.“
Darja sang und tanzte, und ihre Augen starrten unbeweglich und schienen, wie der tote Mond, rings um sie Kreise zu ziehen. Ludmilla lachte aus vollem Hals, aber es war ihr unendlich schwer ums Herz, und sie zitterte vor Aufregung. War es verhaltene Freude oder die Wirkung des starken und süßen Likörs? Valerie lachte leise, — ihr Lachen klang gläsern —, und blickte neidisch auf die Schwestern: auch sie wäre gern lustig gewesen, und es war ihr doch gar nicht lustig zumute, — sie dachte, das sei so, weil sie die Jüngste, ein Nesthäkchen, ein Nachzügler sei, und darum wäre sie schwächlich und unglücklich. Und sie lachte so als müßte sie gleich weinen.
Larissa sah sie an und zwinkerte ihr zu, und da wurde Valerie plötzlich fröhlich und guter Dinge. Larissa stand auf, drehte die Schultern und im Nu drehten sich die vier Schwestern in tollem Wirbel bewußtloser Freude, plötzlich von toller, ausgelassener Lust ergriffen, und Darja sang dazu ein Tanzlied nach dem andern, eins dreister und frecher als das andere. Die Schwestern waren jung und schön — und ihre Stimmen klangen wild und hell; — die Hexen eines verzauberten Berges hätten ihre Freude an diesem Reigen gehabt.
Die ganze Nacht über hatte Ludmilla heiße, sinnliche Träume.
Bald träumte sie, sie läge in einem stark überheizten Zimmer, ihre Bettdecke gleitet auf den Fußboden und ihr fieberheißer Körper liegt nackt da, — und eine gleißende, ungeheure Schlange kriecht in das Gemach, kommt näher, näher, gleitet längs dem Holz in ihr Bett und umwindet ihre nackten, wunderschönen Beine ...
Dann wieder träumte sie von einem See; — und es war eine schwüle Sommernacht, schwarze Gewitterwolken krochen erdrückend langsam über den Himmel, — und sie lag nackt am Ufer des Sees und hatte einen glatten, goldnen Stirnreif im Haar. Es roch nach warmem, stehendem Wasser, nach Tang und stark duftendem Heu; und auf dem dunklen, unheimlich ruhigen Wasserspiegel schwamm majestätisch ein weißer, gewaltiger, königlich schöner Schwan. Er schlug das Wasser mit den Flügeln, zischte laut, kam heran und umfaßte sie, — es war so süß, so unsagbar wunderlich und tief ...
Und die Schlange und der Schwan, beide beugten ihre Gesichter über das ihre, und es war Saschas Gesicht, aber so bleich, so bleich mit seinen dunklen traurigen Augen, und die schwarzen Wimpern verdeckten eifersüchtig die Schönheit seines wunderbaren Blicks und sanken tief und schwer herab. Ihr schauderte ...
Dann träumte Ludmilla von einem prachtvollen Palast mit erdrückend niedrigen Gewölben, — starke, schöne nackte Männer drängten sich in den Hallen, aber herrlicher als sie alle war Sascha. Sie saß hoch auf einem Thron, und die nackten Männer kamen der Reihe nach und schlugen einander mit scharfen Peitschen. Und als man Sascha vor den Thron legte mit dem Kopf zu ihr gekehrt und als man ihn hart schlug, da lachte er hell und weinte, — und sie lachte auch, wie man manchmal im Traume lacht, wenn das Herz unruhig schlägt, — dann lacht man lange, ohne Aufhören, und es ist das Lachen des Selbstvergessens und des Todes ...
Als Ludmilla am Morgen nach diesen Träumen erwachte, fühlte sie, daß sie leidenschaftlich in Sascha verliebt war. Ein unbezwingliches Verlangen ergriff sie, zu ihm zu gehen, aber der Gedanke ihn in Kleidern zu sehen, war ihr unerträglich. Wie dumm, daß die Knaben nicht nackt herumlaufen! Wenigstens barfuß, wie die Gassenbuben im Sommer! Ludmilla sah sie gerne und nur deswegen, weil sie barfuß waren und weil auch ihre Beine manchmal bis hoch hinauf entblößt waren.
„Als wäre es eine Schande, einen Körper zu haben —,“ dachte sie, „daß sogar die Knaben ihn verdecken müssen.“
Wolodin gab regelmäßig seinen Unterricht im Hause des Fräulein Adamenko. Seine Hoffnungen, das Fräulein würde ihn gelegentlich zum Kaffee einladen, verwirklichten sich nicht. Er wurde stets gleich nach seiner Ankunft in die Stube geleitet, die für den Unterricht im Tischlern hergerichtet worden war. Mischa hatte eine Schürze um und wartete in der Regel, an der Hobelbank stehend, auf seinen Lehrer, nachdem er alles für die Stunde Erforderliche in Ordnung gebracht hatte. Er tat gehorsam alles, was Wolodin von ihm verlangte, aber er war nie recht bei der Sache. Um weniger arbeiten zu müssen, versuchte er bisweilen mit Wolodin zu plaudern. Aber Wolodin ging nicht darauf ein, denn er wollte gewissenhaft sein. Er sagte:
„Wollen wir mal erst zwei Stunden arbeiten, dann bleibt uns noch Zeit genug zum Plaudern. Dann — soviel Sie wollen, jetzt — an die Arbeit: die Arbeit steht an erster Stelle.“
Mischa seufzte ein wenig und arbeitete. Wenn aber die Stunde um war, so hatte er keine Lust mehr zu plaudern und schützte Schulaufgaben vor.
Bisweilen kam auch Nadeschda Wassiljewna in den Unterricht, um zu sehen ob Mischa fleißig war. Mischa bemerkte, daß Wolodin dann eher geneigt war, Gespräche zu führen, und zog daraus die entsprechenden Schlüsse. Wenn aber Nadeschda Wassiljewna bemerkte, daß Mischa nichts tat, sagte sie sofort:
„Mischa, sei nicht faul!“
Dann ging sie gleich und sagte im Vorübergehen zu Wolodin:
„Entschuldigen Sie, daß ich gestört habe. Er ist nicht abgeneigt, sich bisweilen gehen zu lassen, wenn man ihm nicht auf die Finger sieht.“
Dieses Benehmen von seiten Nadeschda Wassiljewnas berührte Wolodin zunächst peinlich. Dann aber tröstete er sich damit, daß es ihr unbequem sein mußte, ihn zum Kaffee aufzufordern, weil daraus Klatschgeschichten hätten entstehen können. Ferner, überlegte er, brauchte sie überhaupt nicht zum Unterricht zu kommen, weil sie aber kam, so war das ein Zeichen dafür, daß sie ihn nicht gerade ungern sah. Auch den Umstand erklärte Wolodin zu seinen Gunsten, daß Nadeschda Wassiljewna sofort damit einverstanden war, daß er ihrem Bruder Stunden geben sollte, und außerdem hatte sie sich mit seinen Gehaltsansprüchen gleich einverstanden erklärt. Peredonoff und Warwara ihrerseits unterstützten ihn in diesen Vermutungen.
„Es ist doch klar, daß sie in dich verliebt ist,“ sagte Peredonoff.
„Und wo könnte sie einen besseren Bräutigam finden,“ ergänzte Warwara.
Wolodin machte ein bescheidenes Gesicht und freute sich über seine Erfolge.
Eines schönen Tages meinte Peredonoff:
„Du gehst auf Freiersfüßen einher und hast eine schäbige Krawatte umgebunden.“
„Ich bin noch nicht verlobt,“ antwortete Wolodin überlegen, innerlich aber zitterte er vor freudiger Erwartung; „ich kann mir eine neue Krawatte kaufen.“
„Eine im Jugendstil,“ rief Peredonoff, „man muß sehen können, daß du es mit der Liebe hast.“
„Eine rote Krawatte,“ sagte Warwara, „recht bauschig muß sie sein und eine Nadel dazu. Es gibt schon ganz billige Krawattennadeln, mit Steinen, — fein wird das sein.“
Peredonoff dachte, daß Wolodin vielleicht kein Geld zu solchen Ausgaben hätte. Oder er wird sparen wollen und einen schlichten, schwarzen Schlips kaufen. Das wäre dumm, dachte Peredonoff, die Adamenko ist ein vornehmes Frauenzimmer; wenn er mit einer lumpigen Krawatte um sie anhalten geht, so wird sie sich gekränkt fühlen und ihm einen Korb geben.
Peredonoff sagte:
„Warum eine billige kaufen? Du hast neulich im Spiel einiges von mir gewonnen. Wieviel bin ich dir noch schuldig, einen Rubel vierzig Kopeken?“
„Mit den vierzig Kopeken hat es seine Richtigkeit,“ sagte Wolodin grinsend, „nur waren es zwei Rubel und nicht einer.“
Peredonoff wußte genau, daß es zwei Rubel waren, es wäre ihm aber angenehmer gewesen, nur einen zu zahlen. Er sagte:
„Du lügst, woher zwei Rubel?“
„Warwara Dmitriewna kann es bezeugen,“ beteuerte Wolodin.
Warwara sagte kichernd:
„Zahl nur, Ardalljon Borisowitsch, was du verspielt hast, — ich erinnere mich genau, es waren rund zwei Rubel und vierzig Kopeken.“
Peredonoff dachte, daß Warwara jetzt für Wolodin eintrete, also — meinte er — steht sie schon auf seiner Seite. Er wurde verdrießlich, nahm aus seinem Geldbeutel das Geld und sagte:
„Ist schon recht, meinetwegen zwei vierzig, ich will nicht streiten. Du bist ein armer Teufel, Pawluschka, da — nimm!“
Wolodin nahm das Geld, zählte es nach, machte dann ein gekränktes Gesicht, beugte seinen runden Kopf, streckte die Unterlippe vor und sagte mit blökender, zitternder Stimme:
„Sie, Ardalljon Borisowitsch, waren mir etwas schuldig, also haben Sie auch zu zahlen; daß ich aber arm bin, gehört garnicht hierher. Ich habe bisher noch keinen um ein Stück Brot gebeten, und Sie wissen, daß nur der Teufel arm ist, denn er ißt kein Brot; weil ich aber Brot esse, sogar mit Butter darauf, so bin ich auch nicht arm.“
Dabei beruhigte er sich, wurde rot vor Vergnügen, daß er so gelungen geantwortet hatte, und lachte, die Lippen vorschiebend.
Endlich beschlossen Peredonoff und Wolodin, den Heiratsantrag zu stellen. Sie hatten sich so vornehm als möglich angezogen und sahen feierlicher und dümmer als gewöhnlich aus. Peredonoff trug eine weiße Halsbinde, Wolodin eine bunte, rot mit grünen Streifen. Peredonoff überlegte so:
„Ich halte für dich an, meine Stellung ist also die solidere, die Gelegenheit ist äußerst festlich, so muß ich denn eine weiße Binde tragen; du bist der Bräutigam, also mußt du flammende Gefühle zur Schau tragen.“
Gezwungen feierlich nahmen Peredonoff und Wolodin im Empfangszimmer von Fräulein Adamenko Platz. Peredonoff saß auf dem Sofa, Wolodin in einem Lehnstuhl. Nadeschda Wassiljewna betrachtete erstaunt ihre Gäste. Die Gäste aber plauderten über das Wetter, über die neuesten Neuigkeiten und machten dabei ein Gesicht wie etwa Leute, die in einer kitzlichen Angelegenheit gekommen sind und nicht recht wissen, wie anzufangen. Endlich räusperte sich Peredonoff, machte ein ernstes Gesicht und sagte:
„Nadeschda Wassiljewna, wir haben ein Anliegen.“
„Ein Anliegen,“ sagte auch Wolodin, machte ein bedeutendes Gesicht und streckte die Lippen vor.
„Es handelt sich um ihn,“ sagte Peredonoff und zeigte mit dem Daumen auf Wolodin.
„Um mich,“ bestätigte Wolodin und wies ebenfalls mit dem Daumen auf die eigene Brust.
Nadeschda Wassiljewna lächelte.
„Wenn ich bitten darf,“ sagte sie.
„Ich werde für ihn sprechen,“ erklärte Peredonoff, „er ist bescheiden und kann keinen rechten Entschluß fassen. Aber er ist ein würdiger Mensch, er trinkt nicht, er ist herzensgut. Zwar bekommt er nur ein geringes Gehalt, aber das ist egal. Es handelt sich darum, wer was braucht; der eine braucht Geld, der andere einen Menschen. Warum schweigst du denn,“ wandte er sich an Wolodin, „sag doch etwas.“
Wolodin neigte den Kopf und stieß mit zitternder Stimme hervor, geradeso wie ein Schaf blökt:
„Gewiß, mein Gehalt ist nur gering. Aber zum Sattessen wird es immer noch langen. Gewiß, ich habe nicht studiert, bin aber so glücklich, daß ich jedem nur das gleiche Los wünschen kann, und etwas Schlechtes weiß ich mir nicht nachzusagen, — übrigens, da mag jeder selbst urteilen. Was mich anlangt, ich bin mit mir zufrieden.“
Er machte eine Handbewegung, beugte die Stirn, als hätte er die Absicht zuzustoßen und schwieg still.
„Also, das ist es,“ sagte Peredonoff, „er ist ein junger Mann und soll nicht als Hagestolz leben. Er soll heiraten. Der Verheiratete hat es immer besser.“
„Wenn man mit der Frau harmoniert, so gibt es nichts besseres,“ bestätigte Wolodin.
„Und auch Sie sind unverheiratet,“ fuhr Peredonoff fort. „Auch Sie müssen heiraten.“
Hinter der Tür hörte man ein leises Geräusch, kurze verhaltene Laute, — als seufze oder lache da jemand und als hielte er sich die Hand vor den Mund. Nadeschda Wassiljewna blickte streng auf die Tür und sagte kalt:
„Sie sind wirklich zu besorgt um mich,“ mit einer verletzenden Betonung des Wortes „zu“.
„Sie brauchen keinen reichen Mann,“ sagte Peredonoff, „Sie haben ja Geld genug. Sie brauchen einen, der Sie lieb hat und in allen Dingen Ihnen zu Gefallen ist. Außerdem kennen Sie ihn und müßten ihn verstehen. Sie sind ihm nicht gleichgültig, er Ihnen vielleicht auch nicht. So steht also die Sache: ich bringe Ihnen den Kaufmann, Sie haben die Ware, soll heißen: Sie selber sind die Ware.“
Nadeschda Wassiljewna wurde rot und biß sich auf die Lippen, um nicht laut auflachen zu müssen. Hinter der Tür hörte man wieder dieselben Töne. Wolodin hielt die Augen bescheiden gesenkt. Es schien ihm, daß alles nach Wunsch ginge.
„Was für eine Ware?“ fragte Nadeschda Wassiljewna vorsichtig, „verzeihen Sie, ich verstehe Sie nicht recht.“
„Wie, Sie verstehen nicht!“ sagte Peredonoff ungläubig. „Nun, ich will es geradeheraus sagen: Pawel Wassiljewitsch bittet Sie um Hand und Herz. Und auch ich bitte für ihn.“
Hinter der Tür fiel etwas zu Boden und kugelte sich prustend und stöhnend. Nadeschda Wassiljewna, ganz rot vor verhaltenem Lachen, blickte ihre Gäste an. Wolodins Antrag schien ihr komisch und frech zugleich.
„Ja,“ sagte auch Wolodin, „Nadeschda Wassiljewna, ich bitte Sie um Hand und Herz.“
Er wurde rot, erhob sich, machte einen energischen Kratzfuß auf dem Teppich, verbeugte sich und setzte sich. Dann stand er wieder auf, legte die Hand aufs Herz und sagte, das Fräulein schmachtend anblickend:
„Gestatten Sie, Nadeschda Wassiljewna, daß ich eine Erklärung abgebe. Da ich Sie sogar sehr liebe, so kann ich mir gar nicht denken, daß Sie diesen Gefühlen nicht entgegenkommen sollten.“
Er stürzte einen Schritt vor, warf sich auf die Knie und küßte ihre Hand.
„Nadeschda Wassiljewna, glauben Sie mir! Ich schwöre!“ rief er, hob eine Hand gen Himmel und schlug dann aus vollem Arm gegen seine Brust, daß es laut knallte.
„Aber ich bitte Sie! Stehen Sie doch auf!“ sagte Nadeschda Wassiljewna verlegen; „was soll das?“
Wolodin stand auf und kehrte mit gekränktem Gesicht auf seinen Platz zurück. Dort angelangt, preßte er beide Hände gegen die Brust und rief:
„Nadeschda Wassiljewna, glauben Sie mir! Bis zum Grabe bin ich mit ganzer Seele der Ihre!“
„Entschuldigen Sie,“ sagte Nadeschda Wassiljewna, „aber ich kann wirklich nicht. Ich habe meinen Bruder zu erziehen, hören Sie nur, wie er da hinter der Tür weint.“
„Ja, die Erziehung des Bruders scheint mir keineswegs ein Hinderungsgrund zu sein,“ erklärte Wolodin und streckte in gekränktem Stolz seine Unterlippe vor.
„Nein, in jedem Fall hat er da mitzureden,“ sagte Nadeschda Wassiljewna und stand eilig auf, „ich will ihn fragen. Bitte warten Sie einen Augenblick.“
Sie lief flink aus dem Empfangszimmer, und ihr hellgelbes Kleid rauschte. Sie packte Mischa, der hinter der Tür stand, an der Schulter, lief mit ihm bis zu seinem Schlafzimmer, blieb dort vom Lauf und vom verhaltenen Lachen schwer atmend an der Tür stehen und sagte mit abgerissener Stimme:
„Ist es denn ganz umsonst, wenn man dich bittet, nicht zu horchen. Ist es wirklich nötig, zu den allerstrengsten Maßregeln zu greifen!“
Mischa hatte ihre Taille umfaßt, preßte seinen Kopf in ihr Kleid und lachte und schüttelte sich vor Lachen und vor Anstrengung, es zu unterdrücken. Die Schwester schob den Jungen in sein Zimmer, setzte sich auf einen Stuhl neben der Tür und lachte.
„Hast du gehört, was er sich da ausgedacht hat, dein Pawel Wassiljewitsch,“ fragte sie; „komm mit mir ins Gastzimmer und untersteh dich zu lachen! Ich werde dich in ihrer Gegenwart fragen, und du darfst nicht ‚Ja‘ sagen. Hast du verstanden?“
„Ha—ha—ha,“ machte Mischa und nahm einen Zipfel seines Taschentuchs in den Mund, um nicht lachen zu müssen, aber es half nur wenig.
„Halt dein Taschentuch vor die Augen, wenn du lachen mußt,“ riet die Schwester und führte ihn an der Schulter ins Gastzimmer.
Dort drückte sie ihn in einen Sessel und setzte sich auf einen Stuhl dicht neben ihn. Wolodin machte ein gekränktes Gesicht und saß da mit gesenkter Stirn, just wie ein Schaf.
„Sehen Sie,“ sagte Nadeschda Wassiljewna und zeigte auf ihren Bruder, „der arme Junge! Ich konnte kaum seine Tränen stillen. Ich vertrete bei ihm Mutterstatt, und nun glaubt er, ich würde ihn verlassen.“
Mischa bedeckte sein Gesicht mit dem Taschentuch. Sein ganzer Körper bebte. Um sein Lachen zu verbergen, heulte er darauf los:
„Hu—hu—hu!“
Nadeschda Wassiljewna umarmte ihn, kniff ihn unbemerkt in den Arm und sagte:
„Wein doch nicht, Brüderchen, wein nicht so!“
Der unerwartete Schmerz trieb Mischa Tränen in die Augen. Er ließ das Tuch fallen und blickte seine Schwester böse an.
„Wie, wenn der Junge wütend wird,“ dachte Peredonoff, „und plötzlich beißt. Man sagt, der menschliche Speichel ist giftig.“
Er rückte näher zu Wolodin, um im Falle drohender Gefahr sich hinter ihm verstecken zu können. Nadeschda Wassiljewna sagte zum Bruder:
„Pawel Wassiljewitsch hat um meine Hand gebeten.“
„Um Hand und Herz,“ verbesserte Peredonoff.
„Und Herz —“ wiederholte Wolodin leise, aber mit Würde.
Mischa benützte wieder das Taschentuch, und vor Lachen schluchzend sagte er:
„Nein, du sollst ihn nicht heiraten; was soll denn aus mir werden?“
Wolodin sagte mit vor Aufregung zitternder Stimme:
„Es wundert mich, Nadeschda Wassiljewna, daß Sie Ihren kleinen Bruder um Erlaubnis bitten, er ist doch sozusagen noch ein unmündiges Kind. Und wäre er auch erwachsen, so könnten Sie auch in diesem Fall sich selbständig entscheiden. Der Umstand aber, Nadeschda Wassiljewna, daß Sie ihn sogar jetzt um Erlaubnis bitten, verwundert mich nicht nur, sondern setzt mich auch in Erstaunen.“
„Das ist doch geradezu komisch, so einen Bengel um Erlaubnis zu bitten,“ sagte Peredonoff verdrießlich.
„Wen sollte ich sonst bitten? Der Tante ist es gleichgültig; ihn muß ich aber erst noch erziehen, wie sollte ich Sie also heiraten können? Sie könnten ihn zum Beispiel zu streng behandeln. Nicht wahr, Mischa, du fürchtest dich doch vor diesem harten Mann?“
„Nein,“ sagte Mischa und schielte mit einem Auge aus dem Taschentuch hervor, „ich fürchte mich gar nicht vor ihm. Er darf mir nichts tun. Ich fürchte nur, daß Pawel Wassiljewitsch mich zu sehr verwöhnen wird und dir auch nicht erlauben wird, mich in den Winkel zu stellen.“
„Glauben Sie mir, Nadeschda Wassiljewna,“ sagte Wolodin und legte die Hand ans Herz, „ich werde ihn nicht verwöhnen. Ich denke so: einen Jungen soll man überhaupt nicht verwöhnen! Ist er satt und sauber gekleidet, so genügt das. Von Verwöhnen keine Spur. Ich kann ihn doch auch in den Winkel stellen und würde nicht daran denken, ihn zu verwöhnen. Ich kann noch mehr. Sie sind gewissermaßen eine Jungfrau, d. h. ein Fräulein, da ist es Ihnen naturgemäß unbequem, ich kann aber auch mitunter das Stöcklein zu Hilfe nehmen.“
„Jetzt wollen mich beide in den Winkel stellen,“ sagte Mischa weinerlich und benutzte wieder sein Taschentuch. „Seid Ihr so! und noch dazu mit dem Stöckchen! nein, das paßt mir gar nicht. Nein, nein, du darfst ihn nicht heiraten.“
„Da hören Sie es doch, ich kann beim besten Willen nicht,“ sagte Nadeschda Wassiljewna.
„Ihr Vorgehen kommt mir äußerst merkwürdig vor,“ sagte Wolodin, „ich komme Ihnen mit ganzem Herzen entgegen, ich kann wohl sagen, mit flammendem Herzen und Sie belieben so nebenbei Ihres Bruders wegen „nein“ zu sagen. Sie tun es Ihres Bruders wegen, eine andere der Schwester wegen, eine dritte gar weil sie einen Neffen hat und dann, Gott weiß, welcher Verwandten wegen, und so wird keine einzige heiraten wollen, auf diese Weise wird das Menschengeschlecht ganz aussterben.“
„Deswegen brauchen Sie sich nicht zu beunruhigen, Pawel Wassiljewitsch,“ sagte Nadeschda Wassiljewna, „bisher hat noch keine derartige Gefahr für die Welt bestanden. Ich will nun mal nicht ohne Mischas Zustimmung heiraten, und wie Sie bereits gehört haben, ist er nicht einverstanden. Es ist auch einigermaßen begreiflich, versprechen Sie ihm doch gleich mit den ersten Worten Prügel. Da könnten Sie mich am Ende auch schlagen!“
„Aber ich bitte Sie, Nadeschda Wassiljewna,“ rief Wolodin verzweiflungsvoll, „unmöglich glauben Sie, daß ich mir solche Roheiten werde zuschulden kommen lassen.“
Nadeschda Wassiljewna lächelte.
„Ich selbst habe keinerlei Bedürfnisse zu heiraten,“ sagte sie.
„Vielleicht werden Sie ins Kloster gehn?“ fragte Wolodin mit gekränkter Stimme.
„Oder in Tolstois Sekte und Mist führen,“ verbesserte Peredonoff.
„Warum sollte ich irgendwohin gehen?“ sagte Nadeschda Wassiljewna streng und erhob sich, „ich hab es hier sehr gut.“
Auch Wolodin war aufgestanden, streckte seine Lippen weit vor und sagte:
„Da nun Mischa aus seinen Gefühlen zu mir keinen Hehl gemacht hat, da ferner Sie — wie es zutage liegt — ihn um Erlaubnis bitten, so kommt es folgerichtig heraus, daß ich die Stunden bei Ihnen im Hause aufgeben muß, denn wie soll ich Unterricht erteilen, wenn sich mein Schüler so zu mir verhält!“
„Nein, warum denn?“ entgegnete Nadeschda Wassiljewna, „das ist wieder eine Sache für sich.“
Peredonoff dachte, es wäre vielleicht doch noch möglich das Fräulein umzustimmen und sie würde schließlich ihr Jawort geben. Er sagte finster:
„Nadeschda Wassiljewna, überlegen Sie sich die Sache. Man kann nicht gleich das Kind mit dem Bade ausschütten. Er ist ein guter Mensch, er ist mein Freund!“
„Nein,“ sagte Nadeschda Wassiljewna, „da gibt’s nichts weiter zu bedenken! Ich danke Pawel Wassiljewitsch für den ehrenvollen Antrag, kann ihn aber nicht annehmen.“
Peredonoff blickte böse auf Wolodin und stand auf. Er dachte: „Wolodin ist doch ein rechter Esel: er hat es nicht einmal verstanden, ein Fräulein in sich verliebt zu machen.“
Wolodin stand neben seinem Sessel mit gesenktem Kopf. Er fragte vorwurfsvoll:
„So ist es also wirklich aus, Nadeschda Wassiljewna? O weh! Und wenn es sich so verhält,“ — er machte eine Handbewegung — „dann wünsche ich Ihnen alles Gute. Das ist nun einmal mein trauriges Los. Ein Jüngling liebte eine Jungfrau, aber sie wollte ihn nicht. Gott weiß es! Nichts zu machen, ich werde weinen, und die Sache ist abgetan.“
„Einen tüchtigen Menschen wollen Sie nicht heiraten, und wer weiß, auf wen Sie hereinfallen werden,“ sagte Peredonoff belehrend.
„O weh,“ rief Wolodin noch einmal und wollte zur Tür gehen. Dann besann er sich eines andern, beschloß großmütig zu sein und kehrte zurück, um dem Fräulein zum Abschied die Hand zu reichen, ja selbst den Unglücksstifter Mischa bedachte er mit einem versöhnlichen Händedruck.
Auf der Straße brummte Peredonoff böse. Wolodin räsonierte ununterbrochen mit gekränkter, blökender Stimme.
„Warum hast du die Stunden aufgegeben?“ brummte Peredonoff. „Du bist wohl zu reich!“
„Ich habe doch nur gesagt, daß, wenn es sich so verhielte, ich zurücktreten müsse, und darauf hat sie geantwortet, daß das nicht nötig wäre. Da ich nun meinerseits nicht widersprochen habe, so kommt es heraus, daß sie mich gebeten hat zu bleiben. Und jetzt hängt es von mir allein ab; will ich, so kann ich „Nein“ sagen, will ich, so kann ich bleiben.“
„Unsinn „Nein“ zu sagen,“ sagte Peredonoff, „geh hin und mach so als wäre nichts gewesen.“
„Mag er wenigstens hier einen Vorteil haben,“ dachte Peredonoff, „er hat dann weniger Grund mich zu beneiden.“
Peredonoff war das Herz sehr schwer.
Wolodin schien ihm nicht recht geheuer, er mußte ihn auf Schritt und Tritt beobachten, daß er sich nicht mit Warwara zusammentäte. Dann war es auch nicht ausgeschlossen, daß die Adamenko sich über ihn geärgert hatte wegen seiner Vermittelung. Sie hatte Verwandte in Petersburg, denen könnte sie schreiben, und das hätte ihm vielleicht geschadet.
Und auch das Wetter war unfreundlich. Der Himmel war mit Wolken bedeckt, Krähen flatterten unruhig und schrieen so häßlich. Grade über Peredonoffs Kopf flogen sie und schrieen, als wollten sie ihn ärgern und ihm noch schlimmeres Unglück prophezeien. Peredonoff wickelte einen Schal um den Hals und dachte, daß es bei solchem Wetter leicht wäre sich zu erkälten.
„Was sind das für Blumen, Pawluschka?“ fragte er und zeigte dabei auf kleine, gelbe Blümchen, die hinter dem Zaun in einem Garten wuchsen.
„Das sind Eisenhütchen, Ardascha,“ antwortete Wolodin traurig.
Peredonoff fiel es ein, daß in seinem Garten sehr viele solcher Blumen wuchsen. So einen schrecklichen Namen hatten sie! Vielleicht sind sie giftig! Warwara wird eine Handvoll nehmen, sie als Tee aufkochen, um ihn damit zu vergiften, d. h. erst dann zu vergiften, wenn seine Ernennung bereits erfolgt ist, um dann mit Wolodin auf und davon zu gehen. Vielleicht hatten die beiden das schon längst verabredet. Woher sollte Wolodin sonst wissen, wie diese Blumen hießen.
Wolodin aber sagte:
„Gott mag sie richten! Warum hat sie mich beleidigt? Sie wartet wahrscheinlich auf einen Aristokraten und überlegt gar nicht, daß es auch unter den Aristokraten schlimme Leute gibt; sie wird einen heiraten, der sie unglücklich machen wird, und ein schlichter braver Mensch hätte sie so glücklich machen können. Ich werde in die Kirche gehen und eine Kerze für ihr Seelenheil stiften und für sie beten: füge es, Vater im Himmel, daß sie einen Trunkenbold heiratet, der sie prügelt, der bankerott macht und sie dann sitzen läßt. Dann wird sie sich meiner erinnern, aber es wird zu spät sein. Sie wird sich die Tränen aus den Augen reiben und sagen: dumm war ich, dem Pawel Wassiljewitsch einen Korb zu geben, er war ein prächtiger Mensch.“
Seine eignen Worte rührten ihn; er mußte weinen und trocknete mit dem Handrücken die Tränen, die aus seinen vorstehenden, schafigen Augen quollen.
„Schlag ihr in der Nacht die Fensterscheiben ein!“ riet Peredonoff.
„Ach nein, Gott sei mit ihr,“ sagte Wolodin traurig, „man könnte mich ertappen. Und dieser Satansbengel Gott erbarme dich, was habe ich ihm getan, daß er mir so den Weg vertritt. Habe ich mir nicht alle erdenkliche Mühe mit ihm gegeben, und er — Sie haben es ja selber erlebt — macht solche Sachen. Was ist das für eine Kreatur, was soll aus ihm werden, erbarmen Sie sich, sagen Sie doch?“
„Ja,“ sagte Peredonoff böse, „nicht einmal mit diesem Bengel konntest du fertig werden. Schöner Freier das!“
„Warum denn nicht,“ antwortete Wolodin, „natürlich ein Freier. Ich finde schon eine andre Braut. Sie soll nicht glauben, daß ich um sie trauern werde.“
„Ja, ein Freier,“ neckte Peredonoff, „noch dazu mit einer Krawatte. Wieviel Körbe hast du denn schon auf dem Buckel, Freier du!“
„Bin ich der Freier, so bist du der Brautwerber,“ sagte Wolodin überlegen, „du selber machtest mir ja Hoffnungen, aber die Braut hast du mir nicht verschafft; schöner Brautwerber das!“
So neckten sie sich gegenseitig; jeder versuchte dem anderen zuvorzukommen und gab sich den Anschein, als handle es sich um die wichtigste Sache von der Welt.
Nadeschda Wassiljewna hatte die Gäste hinausbegleitet und kehrte ins Gastzimmer zurück. Mischa wälzte sich auf dem Sofa und lachte. Die Schwester packte ihn an den Schultern, zog ihn an sich und sagte:
„Hast du ganz vergessen, daß es verboten ist zu horchen?“
Sie hob die Hände, um die kleinen Finger aneinanderzulegen, dann lachte sie laut auf, und die Finger fuhren wieder auseinander. Mischa stürzte auf sie zu, sie umfaßten sich und lachten sehr lange.
„Aber doch,“ sagte sie, „fürs Horchen mußt du in den Winkel.“
„Ach nein,“ sagte Mischa, „du mußt mir noch danken, weil ich dich von diesem Bewerber befreit habe.“
„Und wer hat wen noch befreit? Hörtest du nicht, wie jemand sich vornahm, dich mit dem Stöckchen zu schlagen! Marsch in den Winkel!“
„Nein, dann will ich schon lieber hier stehen,“ sagte Mischa.
Er stellte sich vor der Schwester auf die Knie und legte seinen Kopf auf ihren Schoß. Sie streichelte ihn und kitzelte ihn ein wenig. Mischa lachte und rutschte auf den Knien hin und her. Plötzlich rückte die Schwester weit fort und setzte sich aufs Sofa. Mischa blieb allein. Einige Zeit blieb er ruhig auf den Knien stehen und sah seine Schwester fragend an. Sie machte es sich bequem, nahm vom Bücherbrett ein Buch, als wolle sie lesen, und schielte auf den Bruder.
„Ich bin schon müde,“ sagte er kläglich.
„O, ich halte dich nicht, du hast dich von selber hingestellt,“ antwortete die Schwester und lächelte ihn an über den Rand des Buches.
„Du hast mich doch bestraft, verzeih bitte,“ sagte Mischa.
„Habe ich dir denn gesagt, daß du auf den Knien stehn sollst?“ sagte Nadeschda Wassiljewna und machte so, als wäre es ihr ganz gleichgültig, „was bettelst du denn in einem fort?“
„Ich werde nicht aufstehn, bevor du nicht verziehen hast.“
Nadeschda Wassiljewna lachte, legte das Buch zur Seite und zog Mischa an den Schultern zu sich heran. Er schrie auf und warf sich ihr entgegen, umarmte sie und rief:
„Pawluschkas Braut!“
Ludmillas Gedanken waren immer bei dem schwarzäugigen Knaben. Sie redete oft mit Verwandten und Bekannten über ihn, — manchmal zur unrechten Zeit. Fast in jeder Nacht träumte sie von ihm; sie sah ihn zuweilen wie er wirklich im Leben war — bescheiden und schüchtern, öfter jedoch in einer märchenhaften, phantastischen Umgebung. Von diesen Träumen pflegte sie zu erzählen, und bald kam es so weit, daß die Schwestern jeden Morgen fragten, wie Sascha ihr in der vergangenen Nacht im Traume erschienen wäre.
Ihre Gedanken waren immer bei ihm.
Am Sonntag bat Ludmilla ihre Schwestern, sie möchten die Kokowkina aus der Kirche abholen und recht lange aufhalten. Sie wollte mit Sascha allein sein, und ging darum nicht zur Kirche. „Sagt ihr, ich hätte mich verschlafen,“ trug sie den Schwestern auf.
Diese lachten über den Streich, waren aber natürlich mit allem einverstanden. Sie vertrugen sich überhaupt gut. Es konnte ihnen nur gelegen kommen, wenn Ludmilla sich mit dem Jungen abgab, denn so blieben die wirklichen Freier ihnen allein.
Sie taten, wie sie versprochen hatten, — und baten die Kokowkina nach dem Gottesdienst zu sich.
Unterdessen hatte sich Ludmilla ganz angekleidet. Sie trug ein hübsches, fröhliches Kleidchen und hatte sich mit angenehmem, weichem Flieder parfumiert. In die eine Tasche steckte sie ein noch nicht angebrochenes Odeurfläschchen, in die andere einen kleinen Zerstäuber; dann stellte sie sich hinter den Vorhang an ein Fenster im Salon, um von hier zu beobachten, ob die Kokowkina auch wirklich käme. Schon früher hatte sie beschlossen Odeur mitzunehmen, um den Gymnasiasten zu parfumieren; er sollte nicht immer nach ekligem Latein und nach Tinte und nach der Schule überhaupt riechen. Ludmilla liebte Parfums. Sie verschrieb sie sich aus Petersburg und brauchte sie oft und gerne. Sie liebte duftende Blumen. Ihr Zimmer strömte immer irgend einen Wohlgeruch aus; entweder roch es nach Blumen, oder nach Odeurs, oder nach Fichtenzweigen und frischem Birkengrün.
Da kamen die Schwestern und die Kokowkina mit ihnen.
Fröhlich lief Ludmilla zur Küche hinaus, durch den Gemüsegarten, durch das Pförtchen und von dort weiter durch ein Nebengäßchen, — um von der Kokowkina nicht gesehen zu werden. Sie lächelte schelmisch, während sie eilig zum Hause der Kokowkina ging und fuchtelte vergnügt mit ihrem weißen Sonnenschirm. Sie war froh über das schöne, warme Herbstwetter, und es schien, als verbreite sich ihre Fröhlichkeit überall wohin sie kam.
Das Dienstmädchen der Kokowkina öffnete ihr die Tür und meldete, die gnädige Frau wäre nicht zu Hause. Ludmilla lachte laut und scherzte mit dem rotbackigen Ding.
„Vielleicht ist es gar nicht wahr,“ sagte sie, „vielleicht versteckt sich die gnädige Frau vor mir.“
„Hi, hi, warum sollte sie sich verstecken!“ grinste das Mädchen, „gehen Sie doch ins Wohnzimmer und schauen Sie nach, wenn Sie mir nicht glauben.“
Ludmilla blickte in den Salon und rief schelmisch:
„Gibt’s hier überhaupt eine lebendige Seele? He, Gymnasiast!“
Sascha kam aus seiner Stube und freute sich, als er Ludmilla sah; und Ludmillas fröhliche Augen machten ihn noch vergnügter.
„Wo ist denn Olga Wassiljewna?“ fragte sie.
„Sie ist nicht zu Hause,“ sagte er, „sie ist noch nicht heimgekommen. Wahrscheinlich ist sie nach der Kirche zu Besuch gegangen. Ich bin erst vor kurzem zurück, — aber sie ist noch nicht da.“
Ludmilla tat so, als wäre sie sehr erstaunt. Sie fuchtelte mit ihrem Sonnenschirm und sagte überrascht:
„Wie kommt denn das? Alle sind doch schon zurück aus der Kirche. Sonst sitzt sie immer zu Hause, und plötzlich ist sie nicht da. Wahrscheinlich machen Sie so viel Lärm, mein Jüngling, daß sie es zu Hause nicht mehr aushält.“
Sascha schwieg und lächelte. Er freute sich über Ludmillas Stimme und über ihr helles Lachen. Er überlegte, wie er es am geschicktesten anstellen sollte, um sie nach Hause zu begleiten, oder sie zu veranlassen, noch einige wenige Minuten zu bleiben.
Aber Ludmilla dachte nicht daran fortzugehen. Sie blickte Sascha schelmisch an und sagte:
„Warum fordern Sie mich nicht auf, Platz zu nehmen, Sie liebenswürdiger junger Mann Sie? Ich bin ganz müde geworden. Darf ich mich ein Augenblickchen erholen?“
Lachend ging sie in den Salon, und ihre lebhaften, zärtlichen Augen schienen zu bitten. Sascha wurde verlegen und ganz rot vor Freude, — sie wollte bleiben!
„Wollen Sie, ich werde Sie bespritzen,“ fragte Ludmilla rasch, „wollen Sie?“
„Oho,“ sagte Sascha, „sind Sie so! Sie wollen spritzen; warum so grausam?“
Ludmilla lachte laut auf und lehnte sich in den Sessel.
„Bespritzen!“ rief sie, „der dumme Junge! er hat mich falsch verstanden. Ich will Sie doch nicht mit Wasser bespritzen, sondern mit Parfum.“
Sascha sagte komisch:
„O! mit Parfum! Ja warum denn?“
Ludmilla nahm aus ihrer Tasche den Zerstäuber; sie ließ das dunkelrote, goldverzierte Fläschchen vor Saschas Augen blitzen und sagte:
„Sehen Sie, ich habe mir einen neuen Zerstäuber gekauft.“
Dann nahm sie aus der anderen Tasche ein großes Flakon mit einer bunten Etikette, Pariser Parfum Poa-Rosa von Herlaine. Sascha fragte:
„Ihre Taschen sind aber tief!“
Ludmilla antwortete fröhlich:
„Na, mehr dürfen Sie nicht erwarten. Leckereien habe ich nicht mitgebracht.“
„Leckereien,“ wiederholte Sascha neckend.
Neugierig sah er zu, wie Ludmilla die Flasche öffnete, und fragte:
„Wie gießt man das ohne Trichter herein?“
„Den Trichter müssen Sie mir geben.“
„Ich habe doch keinen,“ sagte er verlegen.
„Ganz wie Sie wollen, aber den Trichter werden Sie mir doch geben,“ sagte Ludmilla eigensinnig.
„Ich könnte einen aus der Küche holen, der riecht aber nach Petroleum,“ sagte Sascha.
Ludmilla lachte herzlich.
„Ach Sie unpraktischer Junge! Geben Sie mir einen Flick Papier, wenn Ihnen das Papier nicht leid tut, — dann haben wir einen Trichter.“
„O in der Tat!“ rief Sascha fröhlich, „man kann ja einen Trichter aus Papier drehen. Ich will’s gleich holen.“
Sascha lief in seine Stube.
„Darf es aus einem Heft sein,“ rief er von dort.
„Ganz egal,“ antwortete Ludmilla fröhlich. „meinetwegen aus einem Buch, z. B. aus der lateinischen Grammatik; mir würde es nicht leid tun.“
Sascha lachte und rief:
„Nein, nein — lieber aus einem Heft.“
Er fand ein noch unbenutztes Heft, riß die mittlere Seite aus und wollte schnell wieder in den Salon laufen, — aber Ludmilla stand schon auf der Schwelle.
„Darf man eintreten, Herr Gastgeber?“ fragte sie schelmisch.
„Aber bitte, ich bin sehr erfreut!“ rief Sascha fröhlich.
Ludmilla setzte sich an den Tisch, drehte einen Trichter aus dem Papier und goß das Parfum mit besorgt geschäftiger Miene aus dem Flakon in den Zerstäuber. Der Papiertrichter war an den Stellen, wo ihn die Flüssigkeit berührt hatte, ganz dunkel geworden. Nur langsam floß die Flüssigkeit durch den Trichter. Ein warmer, süßer Rosenduft gemischt mit scharfem Spiritusgeruch verbreitete sich durch das Zimmer.
Ludmilla hatte die Hälfte des Flakons in den Zerstäuber gegossen und sagte:
„So, es wird langen.“
Dann schraubte sie den Zerstäuber zu, knüllte das feuchte Papier zusammen und rieb es zwischen den Handflächen.
„Riech doch,“ sagte sie zu Sascha und hielt ihm die Handfläche vor die Nase.
Sascha bückte sich, schloß die Augen und roch. Ludmilla lachte, schlug ihn leicht mit der Handfläche auf den Mund und ließ die Hand auf seinen Lippen liegen. Sascha wurde rot und küßte ihre warme, duftende Handfläche, sie zärtlich mit bebenden Lippen berührend. Ludmilla seufzte auf; ihr liebliches Gesichtchen wurde für einen Augenblick verlangend-hingebend, dann nahm es wieder den ihm gewohnten Ausdruck glücklicher Freude an.
„Jetzt paß aber auf, wie ich dich bespritzen werde,“ sagte sie und drückte den Gummiball.
Ein duftender Staub flog auf, er verteilte und verbreitete sich in der Luft und benetzte Saschas Kleider. Sascha lachte und drehte sich gehorsam, wenn Ludmilla ihn stieß.
„Riecht’s gut,“ fragte sie.
„Sehr angenehm,“ antwortete er fröhlich. „Wie nennt man dieses Parfum?“
„So ein Junge! Nimm doch die Flasche und lies,“ neckte sie ihn.
Sascha las die Etikette und sagte:
„Darum, ich dachte schon, weil es so stark nach Rosenöl roch.“
„Oel!“ sagte Ludmilla vorwurfsvoll und schlug ihn leicht auf die Schulter.
Sascha lachte und steckte seine Zungenspitze vor.
Ludmilla war aufgestanden und wühlte in Saschas Büchern und Heften.
„Darf man sehen?“ fragte sie.
„Aber gewiß,“ sagte er.
„Zeig doch, wo sind deine Nullen und Einer.“ [9]
Sascha antwortete gekränkt:
„So was habe ich bisher überhaupt nicht gehabt.“
„Na, das lügst du wohl,“ sagte Ludmilla bestimmt, „das ist einmal euer Schicksal Einer zu haben. Du hast sie versteckt, gesteh’s!“
Sascha lächelte und schwieg.
„Latein und Griechisch ist wohl was sehr Langweiliges,“ sagte Ludmilla.
„Nicht sonderlich,“ antwortete er; aber es war ihm anzumerken, daß ihn schon allein das Gespräch über Schulangelegenheiten langweilte.
„Es ist so langweilig zu ochsen,“ gestand er, „macht nichts, ich habe ein gutes Gedächtnis. Aber Rechenaufgaben zu lösen liebe ich.“
„Komm morgen nach dem Mittag zu mir,“ sagte Ludmilla.
„Danke, ich werde kommen,“ sagte Sascha errötend.
Es war ihm sehr angenehm, von Ludmilla eingeladen worden zu sein.
„Weißt du auch, wo ich wohne? Willst du kommen,“ fragte Ludmilla.
„Ich weiß. Schon recht, ich werde kommen,“ sagte er fröhlich.
„Aber komm bestimmt,“ wiederholte Ludmilla streng, „ich werde dich erwarten, hörst du?“
„Aber wenn ich zu viele Schulaufgaben haben sollte?“ sagte Sascha, mehr aus Gewissenhaftigkeit, als daß er tatsächlich um der Aufgaben willen nicht gekommen wäre.
„Ach, Dummheiten, komm nur,“ drängte Ludmilla, „man wird dir nicht das Fell über die Ohren ziehen.“
„Aber warum soll ich kommen?“ fragte Sascha lächelnd.
„Einfach darum. Du kommst. Ich habe dir einiges zu erzählen und zu zeigen,“ sagte Ludmilla, hüpfte und sang dazu, zupfte an ihrem Röckchen und spreizte ihre rosigen Fingerchen, „komm du mein Lieber, mein Goldner, mein Süßer.“
Sascha lachte.
„Erzählen Sie schon heute,“ bat er.
„Heute geht es nicht. Wie könnte ich heute erzählen? Dann wirst du morgen nicht kommen und sagen, du hättest keinen Grund gehabt, um zu kommen.“
„Also gut, ich werde bestimmt kommen, wenn man mir erlaubt.“
„Das fehlte noch! Natürlich wird man erlauben! Man hält dich doch nicht an der Kette.“
Als Ludmilla sich verabschiedete, küßte sie Sascha auf die Stirn und hob ihre Hand an seine Lippen, so daß er sie küssen mußte. Und es war ihm angenehm, die weiße, feine Hand noch einmal küssen zu dürfen, — und doch schämte er sich. Wie sollte man da nicht rot werden.
Als Ludmilla fortging, lächelte sie zärtlich und schelmisch. Sie kehrte sich einigemal um.
Wie lieb sie ist! dachte er.
Sascha war allein.
Sie ist so schnell gegangen! dachte er. Plötzlich hatte sie sich aufgemacht, und, kaum gedacht, ist sie schon fort. Wäre sie noch ein Augenblickchen geblieben! — dachte er und schämte sich, daß er es vergessen hatte, sie zu begleiten.
Könnte ich noch ein wenig mit ihr gehen, dachte er. Soll ich sie einholen? Vielleicht ist sie schon weit fort? Wenn ich schnell laufe, hole ich sie noch ein.
Vielleicht wird sie mich auslachen? dachte er. Oder vielleicht werde ich sie stören.
So konnte er sich nicht entschließen, ihr nachzulaufen. Ihm war es traurig zumute. Auf seinen Lippen lag noch die zärtliche Berührung ihrer Hand und auf seiner Stirn brannte ihr Kuß.
Sie küßt so süß, kam es ihm in den Sinn, wie ein liebes Schwesterchen!
Seine Wangen brannten. Er schämte sich und doch war ihm so leicht. Unklare Gedanken und Bilder gingen ihm durch den Kopf.
Wäre sie doch meine Schwester, träumte er, könnte ich zu ihr hin, sie umarmen, ihr ein liebes Wort sagen, sie rufen: Millachen, liebste! oder sie sonst mit einem besonderen Namen rufen, — z. B. Buba oder Heuschrecke. Und sie würde darauf antworten. O — wäre das schön!
Aber sie ist mir nur eine Fremde, dachte er traurig, sie ist sehr lieb, aber doch fremd. Sie kam und ging, und denkt gewiß nicht mehr an mich. Nur ein süßer Duft von Flieder und Rosen erinnert an sie und die Berührung der Lippen von zwei zärtlichen Küssen; — das Herz zittert, wenn ich daran denke, und schenkt mir einen schönen Traum, schön wie Aphrodite den Wellen entstieg.
Bald darauf kam die Kokowkina heim.
„Wonach riecht es so stark?“ sagte sie.
Sascha wurde rot.
„Millachen war hier,“ sagte er. „Sie waren aber nicht zu Hause; da blieb sie ein wenig, parfumierte mich und ging wieder fort.“
„Was für Zärtlichkeiten!“ sagte die Alte verwundert, „‚Millachen‘ zu sagen!“
Sascha lachte verlegen und lief davon. Die Kokowkina aber dachte bei sich, die Rutiloffschen Mädchen wären ganz besonders liebenswürdige junge Damen, alt und jung verständen sie zu bezaubern.
Gleich am Morgen des nächsten Tages freute sich Sascha beim Gedanken daran, ausgehen zu dürfen. Ungeduldig wartete er auf das Mittagessen. Nach dem Essen bat er ganz rot vor Verlegenheit, bis sieben Uhr zu Rutiloffs gehen zu dürfen. Die Kokowkina war erstaunt, ließ ihn aber gehen.
Sascha lief fröhlich davon. Er hatte sich sorgfältig gekämmt und sogar Pomade in die Haare getan. Er freute sich sehr und war ein wenig aufgeregt, als hätte er etwas Bedeutungsvolles, doch Schönes vor. Besonders angenehm war ihm der Gedanke daß er gleich bei der Begrüßung Ludmillas Hand küssen würde und sie ihn auf die Stirn; und dann, wenn er wieder nach Hause müßte, würden sie sich wieder küssen. Es ließ sich so wunderbar von Ludmillas feinen, schlanken Händen träumen.
Alle drei Schwestern begrüßten Sascha schon im Vorhause. Sie pflegten gerne am Fenster zu sitzen und auf die Straße zu sehen. So kam es, daß sie ihn schon von weitem kommen sahen. In stürmischer Fröhlichkeit umringten ihn die drei lustigen, eleganten, laut durcheinandersprechenden Damen, — und er fühlte sich gleich wohl in ihrer Mitte.
„Da ist er ja — der geheimnisvolle, junge Mann!“ rief Ludmilla fröhlich.
Sascha küßte ihr die Hand; er tat es sehr gewandt und mit sichtlichem Vergnügen. Gleich in eins küßte er auch den beiden andern Schwestern die Hand, — er konnte sie doch nicht übergehen, — und fand, daß auch dieses nicht unangenehm wäre, um so mehr, als ihn alle drei auf die Wange küßten; — Darja tat es laut und gleichmütig, als hätte sie ein Brett vor sich; Valerie küßte zart, — sie hatte die Augen gesenkt — es waren schlaue Aeuglein, — kicherte verschämt und berührte kaum mit ihren durstigen, fröhlichen Lippen die Wange, — ihr Kuß schwebte nieder wie eine zarte, duftige Apfelblüte; — Ludmilla küßte ihn glücklich, fröhlich und fest auf die Wange.
„Das ist mein Gast,“ erklärte sie mit Bestimmtheit und führte Sascha in ihr Zimmer.
Darja ärgerte sich darüber.
„Ist es dein Gast, so küß ihn auch allein,“ rief sie böse. „Hast da einen schönen Schatz gefunden! Keiner macht ihn dir streitig.“
Valerie sagte nichts, sie lächelte nur, — was konnte es für ein Vergnügen sein sich mit einem dummen Jungen zu unterhalten! Er konnte ja nichts begreifen?
Ludmillas Zimmer war geräumig, hell und freundlich. Vor den zwei großen Fenstern, die auf den Garten hinausgingen, waren nur leichte, gelbe Tüllvorhänge. Im Zimmer duftete es süß. Alle Gegenstände waren elegant und hell. Die Stühle und Sessel waren von einem goldgelben, von einem weißen Muster kaum sichtbar durchwirkten Stoffe bezogen. Ueberall standen Flakons mit Odeur oder wohlriechendem Wasser, kleine Kristallschälchen und Körbchen, Fächer und einige russische und französische Bücher.
„Heute Nacht habe ich von dir geträumt,“ erzählte Ludmilla lachend, „ich sah dich im Fluß bei der Stadtbrücke schwimmen; ich selber saß auf der Brücke und angelte dich.“
„Und sperrten mich dann in ein Glas?“ neckte Sascha.
„Warum in ein Glas?“
„Wohin denn sonst?“
„Wohin? Ich zauste dich gründlich an den Ohren und warf dich wieder zurück in den Fluß.“
Und Ludmilla lachte hell auf.
„ So sind Sie also!“ sagte Sascha. „Und was wollten Sie mir heute erzählen?“
Ludmilla lachte nur und sagte nichts.
„Sie haben mich also betrogen,“ erriet er, „und außerdem versprachen Sie, mir etwas zu zeigen,“ sagte er vorwurfsvoll.
„Ich werde dir zeigen! Willst du was essen?“ fragte sie.
„Ich komme eben vom Mittag,“ sagte er. „So betrügen Sie einen!“
„Ich hab’ es gerade nötig, dich zu betrügen. Aber du riechst ja nach Pomade?“ fragte sie plötzlich.
Sascha wurde rot.
„Ich kann Pomade nicht leiden!“ sagte Ludmilla geärgert. „So was Weibisches!“
Sie strich mit der Hand über sein Haar und gab ihm dann mit der fettigen Handfläche einen kleinen Klaps auf die Backe.
„Das darfst du nie wieder tun!“ sagte sie.
Sascha wurde verlegen.
„Gut, ich will’s nicht wieder tun,“ sagte er, „Sie sind furchtbar streng und parfumieren sich doch selber!“
„Zwischen Parfum und Pomade ist eben ein großer Unterschied, dummer Junge! Es ist doch gar nicht zu vergleichen,“ sagte Ludmilla belehrend, „ich habe nie Pomade gebraucht. Warum soll ich mir die Haare verkleben! Parfum ist doch ganz was anderes. Komm, ich werde dich parfumieren. Willst du? Mit etwas Flieder, — willst du?“
„Ich will,“ sagte Sascha und lächelte.
Es war ihm angenehm zu denken, wie die Kokowkina staunen würde, wenn er wieder parfumiert nach Hause kommen würde.
„Wer will?“ fragte Ludmilla noch einmal, nahm den Flakon mit Flieder in die Hand und blickte Sascha halb fragend und schelmisch an.
„Ich will,“ wiederholte Sascha.
„Will? Will, well — bell? Du bellst also?“ neckte Ludmilla.
Beide lachten fröhlich.
„Fürchtest du dich noch vor dem Spritzen?“ fragte Ludmilla, „weißt du noch, wie du gestern Angst hattest?“
„Ich hatte gewiß keine Angst,“ verteidigte sich Sascha eifrig.
Ludmilla lachte und neckte den Jungen. Dann parfumierte sie ihn mit Flieder. Sascha bedankte sich und küßte ihr die Hand.
„Außerdem laß dir die Haare schneiden!“ sagte Ludmilla streng, „was soll diese Lockenperücke! Willst du die Pferde auf der Straße scheu machen?“
„Schon gut; ich will sie mir schneiden lassen,“ erklärte Sascha, „aber warum sind Sie so entsetzlich streng? Ich habe ja noch ganz kurze Haare, kaum einen halben Zoll lang, und sogar der Inspektor hat mir noch nichts darüber gesagt.“
„Ich liebe es, wenn junge Leute ihre Haare kurz tragen; merk dir das,“ sagte Ludmilla wichtig und drohte mit dem Finger; „ich bin nicht dein Inspektor, und mir muß gehorcht werden.“
Von diesem Tage an kam Ludmilla oft zur Kokowkina, um Sascha zu sehen. Besonders in der ersten Zeit bemühte sie sich, nur dann zu kommen, wenn die Kokowkina nicht zu Hause war. Manchmal wußte sie es besonders schlau einzurichten — und lockte die alte Frau von Hause fort.
Einmal sagte ihr Darja:
„Wie bist du doch feige! Bist bange vor einer alten Frau. Geh doch hin, wenn sie zu Hause ist und nimm ihn mit zu einem Spaziergang.“
Ludmilla merkte sich den Rat, — und ging nun hin, wann es ihr paßte. War die Kokowkina zu Hause, so plauderte sie ein wenig mit ihr und ging dann mit Sascha spazieren, — in solchen Fällen pflegte sie ihn jedoch nur für kurze Zeit in Anspruch zu nehmen.
Ludmilla und Sascha wurden bald gute Freunde, — allein ihre Freundschaft war unruhiger, wenn auch zärtlicher Natur. Ohne sich dessen bewußt zu werden, weckte Ludmilla in Sascha frühreifes und unklares Verlangen und Begehren.
Es kam oft vor, daß Sascha Ludmillas Hände küßte, — ihre schmalen, schönen Hände, die von einer zarten, elastischen Haut umspannt waren, durch deren blaßrosa Gewirke weitverzweigte blaue Aederchen schimmerten. Und dann höher hinauf. Es war so leicht ihren graziösen, schlanken Arm zu küssen, man brauchte ja nur die breiten Aermel bis zum Ellenbogen hinaufzustreifen.
Mitunter erzählte Sascha der Kokowkina nicht, wenn Ludmilla dagewesen war. Er log zwar nicht, — aber er verschwieg es. Und wie hätte er auch lügen sollen, — das Dienstmädchen hätte plaudern können. Es wurde ihm nicht leicht, von Ludmillas Besuchen zu schweigen: ihr helles Lachen klang immer in seinen Ohren. Er wollte von ihr sprechen. Und doch, — es war so unbequem.
Auch mit den andern Schwestern wurde Sascha bald gut Freund. Er küßte ihnen allen die Hand und rief sie sogar bei ihren Kosenamen: Daschenka, Millachen, Vallichen.
Ludmilla traf Sascha eines Nachmittags auf der Straße. Sie sagte:
„Morgen hat die älteste Tochter des Direktors Geburtstag, — wird deine Pflegemutter hingehen?“
„Ich weiß nicht,“ sagte Sascha.
Und schon regte sich die freudige Hoffnung in seinem Herzen, vielleicht war es weniger Hoffnung als Wunsch, daß die Kokowkina ausgehen und Ludmilla gerade dann kommen würde, um mit ihm allein zu sein ...
Am Abend erinnerte er die Kokowkina an den Geburtstag.
„Fast hätte ich es vergessen,“ sagte die Kokowkina. „Ich werde hingehen. Es ist ein sehr liebes Mädchen.“
Und gerade, wie Sascha aus der Schule heimkam, machte sich die Kokowkina auf den Weg. Er freute sich beim Gedanken, daß er diesmal mit geholfen hatte, die Kokowkina zu entfernen. Und er war fest davon überzeugt, daß Ludmilla Zeit finden würde zu kommen.
So war es auch; — Ludmilla kam. Sie küßte ihn auf die Wange und reichte ihm ihre Hand zum Kusse. Sie lachte fröhlich, und er wurde rot. Ludmillas Kleider dufteten heute nach Rosa-Iris, ein schwerer, süßer Blumenduft: die sinnbetörende, lüsterne Iris — gelöst in zart duftenden Rosen.
Ludmilla hatte eine schmale in Seidenpapier gewickelte Schachtel mitgebracht. Durch das Papier schimmerte eine gelbe Reklamezeichnung. Sie setzte sich, legte die Schachtel auf ihre Knie und blickte Sascha schelmisch an.
„Magst du Datteln?“ fragte sie.
„Furchtbar,“ sagte Sascha und machte eine komische Grimasse.
„So, dann werde ich dich bewirten,“ sagte sie wichtig.
Sie öffnete die Schachtel.
„Iß!“ befahl sie.
Sie selber nahm eine Frucht nach der anderen aus der Schachtel und steckte sie Sascha in den Mund; und jedesmal mußte er ihr die Hand küssen. Sascha sagte:
„Aber meine Lippen sind ganz klebrig.“
„Das tut nichts, küß nur immer zu,“ antwortete Ludmilla fröhlich, „es kränkt mich nicht.“
„Dann küß ich doch lieber mit einem Mal,“ sagte Sascha und lachte.
Schon streckte er seine Hand nach den Früchten.
„Du wirst mich betrügen,“ rief Ludmilla, klappte rasch die Schachtel zu und gab ihm einen Klaps auf die Finger.
„Ach nein, ich bin ganz ehrlich, ich werde gewiß nicht betrügen,“ beteuerte Sascha.
„Ich glaub’ es nicht, ich glaub’ es nicht,“ wiederholte Ludmilla.
„Dann darf ich im voraus küssen,“ schlug er vor.
„Das geht eher,“ sagte Ludmilla fröhlich, „küß nur.“
Sie reichte Sascha ihre Hand. Er ergriff ihre schlanken Finger, küßte sie einmal und fragte, ohne die Hand loszulassen, schlau lächelnd:
„Werden Sie mich auch nicht betrügen, Millachen?“
„Bin ich denn eine unehrliche Person,“ sagte Ludmilla fröhlich, „ich werde dich nicht betrügen, küß nur zu! — unbedenklich.“
Sascha beugte sich über ihre Hand und küßte sie eifrig; gleichmäßig bedeckte er ihre ganze Handfläche mit Küssen, wobei er seine Lippen weit offen hielt, und es war ihm angenehm, sich einmal sattküssen zu dürfen. Aufmerksam zählte Ludmilla die Küsse. Beim zehnten sagte sie:
„Es ist gewiß unbequem im Stehen zu küssen; du muß dich bücken.“
„Dann will ich es mir bequemer machen,“ sagte er.
Er kniete nieder und fuhr ebenso eifrig in seiner Beschäftigung fort.
Sascha liebte zu naschen. Es hatte ihm sehr gefallen, daß Ludmilla ihm was mitgebracht hatte. Dafür liebte er sie noch inniger.
Ludmilla hatte Sascha mit sinnerregendem, süßem Odeur parfumiert. Dieser Duft setzte ihn in Erstaunen. Er war so eigen, aufregend, dunkel und doch hell, wie ein goldiges, frühes, sündiges Morgenrot hinter einer fahlen Dämmerung. Sascha sagte:
„Der Duft ist so merkwürdig!“
„Gieß dir mal auf die Hand davon,“ riet Ludmilla.
Sie reichte ihm ein häßliches, vierkantiges, grobgeschliffenes Fläschchen. Sascha sah sich die Farbe an, — es war eine grell-gelbe, lebhafte Flüssigkeit. Eine grobe, häßliche Etikette mit französischer Aufschrift, aus der Fabrik von Puiver. Sascha nahm den flachen Glasstöpsel, zog ihn heraus und roch. Dann tat er so wie er es bei Ludmilla gesehen hatte, — er legte die Handfläche fest auf die Oeffnung des Fläschchens, kehrte es geschwind um und stellte es dann wieder mit dem Boden nach unten beiseite; dann verrieb er die wenigen Tropfen der Flüssigkeit auf der Handfläche und roch daran, — der Spiritus war bald verflogen, nur der reine Duft war geblieben. Ludmilla blickte auf ihn in gespannter, erregter Erwartung. Sascha sagte unsicher:
„Es riecht ein wenig nach verzuckerten Wanzen!“
„Lüg doch nicht, ich bitte,“ sagte Ludmilla ärgerlich.
Auch sie schüttete sich einige Tropfen auf die Hand und roch daran. Sascha wiederholte:
„Wirklich, es riecht nach Wanzen.“
Ludmilla brauste zornig auf; ihr traten die Tränen in die Augen, — gab Sascha einen Schlag ins Gesicht und rief:
„Du unverschämter Bengel! Da, nimm das für die Wanzen.“
„Gut getroffen!“ sagte Sascha, lachte und küßte ihre Hand. „Was hat Sie so gekränkt, liebstes Millachen? Wonach riecht es denn, Ihrer Meinung nach.“
Ueber den Schlag ärgerte er sich nicht, — er war ganz bezaubert von ihrem Wesen.
„Wonach?“ fragte Ludmilla und faßte ihn am Ohrläppchen, „das will ich dir gleich sagen wonach, erst will ich dich gründlich am Ohr zausen.“
„O weh, o weh, Millachen, Liebste, ich werde nie mehr!“ flehte Sascha und krümmte sich vor Schmerz.
Ludmilla ließ das stark gerötete Ohr los, zog den Jungen zärtlich heran, nahm ihn auf den Schoß und sagte:
„Merk auf, — im Zyklamen lebt ein dreifacher Hauch, — das arme Blümlein duftet nach süßer Ambrosia, — das ist für die fleißigen Bienen. Du weißt doch, man nennt’s auch Schweinsbrod.“
„Schweinsbrod,“ wiederholte Sascha und lachte, „wie komisch!“
„Lach nicht, Wildfang,“ sagte Ludmilla, packte ihn am andern Ohr und fuhr fort: „Süße Ambrosia, über ihr summen die Bienen; — das ist des Blümleins Freude. Dann riecht es ganz zart nach Vanille; das ist aber nicht für die Bienen, sondern es ist für solche Dinge, die wir erträumen. Dies ist sein Wunsch: eine Blume und das Gold der Sonne über ihr. Und der dritte Hauch ist dieser: es ist der zärtliche, süße Duft des Körpers. Er ist für jene da, welche lieben, und dieses ist seine Liebe: das arme Blümlein in der glühenden Hitze des Mittags. Biene, Sonne und Glut, — verstehst du mich, Liebster?“
Sascha nickte schweigend. Sein ganzes Gesicht flammte, und die langen, dunkeln Wimpern zitterten. Ludmilla blickte träumend in die Ferne, ihre Wangen waren leicht gerötet. Sie fuhr fort:
„Das zarte und sonnige Zyklamen erfreut uns; es erregt in uns ein Verlangen, welches süß ist und davor wir erschrecken; es macht unser Blut flammend. Begreif es wohl, mein Sonnenprinz, es ist so tief, und süß, und weh; es ist, daß man weinen möchte. Begreifst du das? So ist dieses Blümlein.“
Und ihre Lippen neigten sich zu einem langen Kuß auf Saschas Mund.
Ludmilla blickte nachdenklich vor sich hin. Plötzlich zuckte ein schelmisches Lächeln um ihre Lippen. Ganz leise stieß sie Sascha fort und fragte:
„Liebst du rote Rosen?“
Sascha seufzte tief, öffnete die Augen, lächelte und flüsterte:
„Ja, ich liebe sie.“
„Die großen, roten?“ fragte Ludmilla.
„Alle liebe ich, die großen und kleinen,“ sagte er keck und sprang mit einer geschickten knabenhaften Bewegung von ihrem Schoß.
„Wirklich auch die roten?“ fragte Ludmilla zärtlich, und ihre helle Stimme zitterte vor verhaltenem Lachen.
„Ja, ich liebe sie,“ sagte er rasch.
Ludmilla lachte und wurde rot.
„Du liebst also die roten; du liebst Ruten, — o du dummer Junge; schade nur, daß niemand da ist, der dich verprügeln könnte,“ rief sie.
Beide lachten und wurden rot.
Diese notwendigerweise noch harmlosen Gefühlswallungen waren Ludmillas ganze Freude in ihrer Freundschaft zu Sascha. Sie erregten, — und waren doch so ganz anders als die groben und widerlichen Annäherungsversuche der Männer ...
Sie stritten, wer von ihnen der Stärkere wäre. Ludmilla sagte:
„Meinetwegen bist du der Stärkere. Es kommt aber nur darauf an, wer gewandter ist.“
„Ich bin auch gewandt,“ renommierte Sascha.
„Ach geh, du und gewandt!“ neckte Ludmilla.
Lange stritten sie noch. Endlich schlug Ludmilla vor:
„Wollen wir ringen!“
Sascha lachte und sagte selbstgefällig:
„Sie können nicht mit mir fertig werden!“
Ludmilla kitzelte ihn.
„Sind Sie so!“ rief er lachend, machte sich mit einem Ruck frei und faßte sie um die Hüften.
So kam es zu einer Balgerei. Ludmilla merkte sofort, daß Sascha stärker war. Mit Kraft allein konnte sie nicht gegen ihn aufkommen, daher wartete sie auf einen günstigen Augenblick und stellte ihm ein Bein, — er stürzte und zog Ludmilla im Fallen nach sich. Doch Ludmilla wußte sich geschickt zu befreien und drückte ihn zu Boden. Sascha rief verzweifelt:
„Das ist unehrlich!“
Aber Ludmilla kniete auf seiner Brust und drückte ihn mit den Händen zu Boden. Sascha suchte mit Gewalt freizukommen, doch Ludmilla kitzelte ihn wieder. Beide lachten unbändig. Vor lauter Lachen mußte sie ihn schließlich loslassen und blieb auf dem Boden liegen. Sascha sprang auf. Er war ganz rot geworden und sehr enttäuscht.
„Nixe!“ rief er.
Und die Nixe lag auf dem Boden und lachte aus vollem Halse.
Ludmilla nahm Sascha zu sich auf den Schoß. Das Ringen hatte sie erschöpft, jetzt blickten sie einander fröhlich in die Augen und lächelten.
„Ich bin zu schwer für Sie,“ sagte Sascha, „ich werde Ihre Knie plattdrücken, lassen Sie mich lieber neben Ihnen sitzen.“
„Das macht nichts, bleib nur,“ antwortete Ludmilla sanft, „du hast doch selber gesagt, daß du es liebtest zärtlich zu sein.“
Sie streichelte seine Stirn. Er schmiegte sich dicht an sie. Sie sagte:
„Du bist sehr hübsch.“
Sascha wurde rot und lachte.
„Was nicht gar!“ sagte er.
Dieses Gespräch über die Schönheit in Anwendung auf ihn selber verwirrte ihn; er hatte noch nie darüber nachgedacht, ob die Menschen ihn für hübsch oder für häßlich hielten.
Ludmilla kniff ihn in die Wange. Sascha lächelte. Auf der Wange war ein roter Fleck geblieben. Das sah hübsch aus. Ludmilla kniff auch die andere Backe. Sascha wehrte sich nicht. Er nahm nur ihre Hand, küßte sie und sagte:
„Kneifen Sie nicht mehr, es schmerzt doch, und auch Ihre Fingerchen werden hart werden.“
„Ach, es schmerzt ja gar nicht,“ sagte Ludmilla gedehnt, „seit wann schneidest du denn Komplimente?“
„Ich habe keine Zeit mehr, ich muß noch lernen. Seien Sie noch ein wenig lieb zu mir. Das wird mir Glück bringen, und ich werde im Griechischen die Note Fünf erhalten.“
„Du willst mich wohl forthaben!“ sagte Ludmilla.
Sie nahm seine Hand und streifte den Aermel seiner Jacke über den Ellenbogen hinauf.
„Wollen Sie mich schlagen?“ fragte Sascha verlegen und errötete schuldbewußt.
Aber Ludmilla war ganz in Betrachtung des Armes versunken; sie drehte ihn hin und her.
„Du hast sehr schöne Arme,“ sagte sie laut und fröhlich und küßte den Arm.
Sascha wurde ganz rot. Er wollte den Arm fortreißen, aber Ludmilla hielt ihn sehr fest und küßte ihn noch einigemale. Sascha wurde ganz still, und ein merkwürdiger Ausdruck legte sich um seine halblächelnden, purpurnen Lippen, — und eine Blässe flog über seine von dichten Wimpern beschatteten, glühenden Wangen.
Sie verabschiedete sich. Sascha hatte Ludmilla bis zum Gartenpförtchen begleitet. Er wäre auch weiter gegangen, aber sie erlaubte es nicht. Er blieb am Pförtchen stehen und sagte:
„Liebste, komm öfter zu mir, und bring mir was recht Schönes, Süßes mit.“
Dieses erste „Du“ aus seinem Munde klang Ludmilla wie ein zartes Liebesgeständnis. Sie umarmte ihn stürmisch, sie küßte ihn und lief davon. Sascha blieb wie betäubt stehen.
Sascha hatte versprochen zu kommen. Die verabredete Stunde war schon längst vorüber, — er kam nicht. Ludmilla wartete ungeduldig, sehnsüchtig — bange. Immer wieder lief sie ans Fenster, wenn sie draußen Schritte hörte. Die Schwestern lachten sie aus. Sie antwortete gereizt und erregt:
„Laßt mich in Frieden!“
Und dann machte sie ihnen die heftigsten Vorwürfe, weil sie lachten. Jetzt war es klar, — Sascha würde nicht kommen. Sie weinte vor Kummer und Enttäuschung.
„O weh, o weh, o der Kummer!“ neckte sie Darja.
Ludmilla flüsterte schluchzend, — und vergaß vor lauter Gram sich darüber zu ärgern, daß man sie neckte:
„Die alte, eklige Schachtel hält ihn fest; sie bindet ihn an ihre Röcke, damit er fleißig lernt.“
Darja sagte mitfühlend:
„Und er ist auch dumm genug und weiß sich nicht freizumachen.“
„Mit einem Baby sich einzulassen,“ murmelte Valerie verächtlich.
Beide Schwestern verhielten sich teilnehmend zu Ludmillas Kummer, obgleich sie sie neckten. Sie liebten alle einander, wenn auch nicht herzlich, so doch zärtlich: eine oberflächliche, teilnehmende Liebe! Darja sagte:
„Laß doch das Weinen; wegen eines grünen Jungen verdirbt man sich nicht die Augen. Es ist doch wirklich beinah, als steckte der Satan hinter dem Bengel.“
„Wer ist der Satan?“ rief Ludmilla heftig und wurde dunkelrot vor Zorn.
„Liebes Kind,“ antwortete Darja gelassen, „was hilft’s, daß du jung bist, nur ...“
Darja ließ den Satz unbeendet und pfiff schrill durch die Zähne.
„Unsinn!“ sagte Ludmilla und ihre Stimme hatte einen merkwürdig metallenen Klang.
Ein eigentümlich hartes Lächeln huschte trotz der Tränen über ihr Gesicht; ein Lächeln ähnlich einem grell auffahrenden Strahl der untergehenden Sonne durch letzte, müde Regenschauer.
Darja fragte empfindlich:
„Sag mir bitte, was ist an ihm interessant?“
Ludmilla antwortete nachdenklich und gemessen, — und dasselbe wunderliche Lächeln spielte um ihr Gesicht:
„Er ist schön! Und dann schlummert vieles in ihm, was noch nicht verausgabt ist!“
„Gott, wie billig!“ sagte Darja spöttisch. „Das dürfte bei allen Jungen zutreffen.“
„Es ist nicht billig,“ antwortete Ludmilla gereizt, „es gibt auch gemeine Jungen.“
„Ist er vielleicht rein?“ fragte Valerie; das Wort „rein“ sagte sie nachlässig und verächtlich.
„Du verstehst viel davon!“ rief Ludmilla heftig, aber sie faßte sich gleich und sagte leise und verträumt:
„Er ist unschuldig!“
„Was nicht gar!“ sagte Darja höhnisch.
„Er ist im schönsten Alter,“ sagte Ludmilla, „zwischen vierzehn und fünfzehn. Noch kann er gar nichts und versteht auch nichts, aber er ahnt alles, wirklich alles. Außerdem hat er keinen scheußlichen Bart.“
„Auch ein Vergnügen!“ sagte Valerie verächtlich die Achseln zuckend.
Sie wurde traurig. Sie kam sich selber schwach, klein und zerbrechlich vor, und beneidete die Schwestern, — Darja wegen ihres fröhlichen Lachens, und Ludmilla wegen ihres Kummers. Ludmilla sagte:
„Ihr wollt nicht begreifen! Ich liebe ihn nicht so, wie ihr es glaubt. Es ist besser einen Knaben zu lieben als sich in eine gemeine, bärtige Fratze zu vergaffen. Ich liebe ihn unschuldig. Ich will nichts von ihm.“
„Wenn du nichts von ihm willst, so laß ihn doch in Gottes Namen laufen!“ antwortete Darja grob.
Ludmilla wurde rot und etwas wie Schuldbewußtsein grub schwere Falten in ihre Stirn. Darja taten ihre Worte leid. Sie trat auf Ludmilla zu, umarmte sie und sagte:
„Sei nicht böse! wir wollten dich nicht kränken.“
Ludmilla brach in Tränen aus, schmiegte sich an Darjas Schulter und sagte traurig:
„Ich weiß, daß ich nichts zu erhoffen habe. Er soll nur lieb zu mir sein, ganz klein wenig lieb.“
„Wozu der Kummer!“ sagte Darja hart, ging in die Mitte des Zimmers, stemmte die Arme in die Seiten und sang laut:
„Diese Nacht, diese Nacht
Kam mein Liebster
Ins Kämmerlein ...“
Valerie schüttelte sich vor Lachen. Und auch Ludmillas Augen blickten fröhlicher und schelmisch. Sie lief schnell in ihr Zimmer, und parfümierte sich mit einem lüsternen, betäubenden Parfüm, dessen Duft sie sinnlich erregte.
Sie ging auf die Straße, ein wenig erregt, elegant und etwas aufdringlich in ihrer leichten, duftigen Toilette. Vielleicht treffe ich ihn, dachte sie. Und sie traf ihn.
„Halloh!“ rief sie vorwurfsvoll und freudig.
Sascha wurde verlegen.
„Ich hatte wirklich keine Zeit,“ sagte er bedrückt, „immer diese Aufgaben, immer dies Lernen; wirklich, ich habe keine Zeit.“
„Du lügst, mein Junge, — komm gleich mit!“
Er weigerte sich lachend, aber es war ihm anzusehen, daß er froh war, mitkommen zu dürfen. So brachte ihn Ludmilla glücklich nach Hause.
„Da ist er!“ rief sie triumphierend und führte Sascha in ihr Zimmer.
„Warte nur, jetzt will ich mit dir abrechnen,“ drohte sie und verriegelte die Tür, „niemand wird dich jetzt in Schutz nehmen.“
Sascha hatte die Hände auf den Rücken gelegt und stand verlegen in der Mitte des Zimmers, ihm war sehr eigentümlich zumute. Es roch nach einem ihm unbekannten, schweren Parfum. Alles schien so feierlich und süß, und doch war etwas in diesem Geruch, das ihm zuwider war, das die Nerven erregte, wie etwa die Berührung von kleinen, flinken, glatten Schlangen.
Peredonoff hatte eine Schülerwohnung besichtigt und kehrte jetzt heim. Ein plötzlicher Regenschauer überraschte ihn. Er überlegte, wohin er am besten gehen könne, um seinen neuen, seidenen Regenschirm der Nässe nicht auszusetzen. Jenseits der Straße erblickte er an einem kleinen, zweistöckigen Hause ein Schild mit der Aufschrift: Kontor. Notar Gudajewskji. Der Sohn des Notars war in der zweiten Klasse des Gymnasiums. Da beschloß Peredonoff hinzugehen und gleichzeitig den Schüler bei seinen Eltern zu verklagen.
Beide, Vater und Mutter waren zu Hause. Man empfing ihn sehr aufgeregt und geschäftig. Aber alles in diesem Hause wurde so betrieben.
Nikolai Michailowitsch Gudajewskji war nicht groß von Wuchs, kräftig gebaut, schwarzhaarig, mit einer Glatze auf dem Kopf, und trug einen langen, schwarzen Bart. Seine Bewegungen waren stets lebhaft und überraschend: er ging nicht, man konnte fast sagen: er kam wie ein Sperling angeschwirrt, und weder aus seinem Gesichtsausdruck noch aus seiner jeweiligen Stellung ließ sich entnehmen, was er im allernächsten Augenblick tun würde. So kam es z. B. vor, daß er mitten in einem Geschäftsgespräch ein Bein in die Luft schnellte, was weniger komisch wirkte, als daß es durch seine absolute Grundlosigkeit verblüffte. Zu Hause, oder wenn er zu Besuch war, pflegte er lange Zeit ganz ruhig zu sitzen, sprang dann plötzlich und ohne jeden ersichtlichen Grund auf, und ging eilig im Zimmer auf und ab, schrie, und stampfte mit dem Fuß. Wenn er auf der Straße ging, so kam es vor, daß er plötzlich stehen blieb, niederhuckte, sich setzte, oder einen Ausfall machte, oder sonst eine turnerische Bewegung ausführte, und dann wieder weiterging. Er liebte es in seinen Aktenstücken und Zeugnissen komische Randbemerkungen zu machen: z. B. statt einfach — Iwan Iwanowitsch Iwanoff wohnhaft am Moskauer Platz, im Hause der Frau Jermiloff — zu schreiben, wußte er von Iwan Iwanowitsch Iwanoff, welcher am Bazarplatze wohnhaft ist, also in jenem Stadtteil, der einem das Leben durch unerträglichen Gestank unmöglich macht usw. — zu berichten; mitunter erinnerte er daran, daß jener Mann, dessen Unterschrift er hierdurch bestätige, Besitzer von so und so viel Hühnern und Gänsen wäre.
Julia Petrowna Gudajewskaja war eine hochaufgeschossene, magere, dürre Person; sie war sehr leidenschaftlich, sehr sentimental und erinnerte in ihren Bewegungen, trotz der so ganz anders gearteten Größenverhältnisse, an ihren Mann: auch ihre Bewegungen waren unvermittelt, und gar nicht zu vergleichen mit den Bewegungen gewöhnlicher Leute. Sie pflegte sich sehr jugendlich und farbenfreudig zu kleiden, und bei ihren geschwinden Bewegungen wehten stets allerlei bunte Bänder mit denen sie ihre Frisur und ihre Kleider verschwenderisch zu schmücken liebte, in alle Richtungen.
Anton, — ihr Sohn, — ein flinker, hochaufgeschossener Junge, machte eine artige Verbeugung. Man führte Peredonoff in den Salon und er begann gleich gegen Anton Klage zu führen: er wäre faul, unaufmerksam, schwatze und lache während des Unterrichts mit seinen Kameraden, und mache während der Pausen dumme Streiche. Anton war sehr verwundert, — er hatte nicht geglaubt, ein so hartes Urteil zu verdienen, — und verteidigte sich mit Feuereifer. Auch die Eltern waren sehr erregt.
„Erlauben Sie mal,“ schrie der Vater, „sagen Sie ganz genau, was seine Unarten sind?“
„Nimm ihn nicht in Schutz,“ schrie die Mutter, „er hat sich anständig zu betragen.“
„Was hat er nun eigentlich verbrochen?“ fragte der Vater; dabei rannte er im Zimmer hin und her; rollte förmlich auf seinen kurzen Beinchen.
„So überhaupt,“ sagte Peredonoff finster, „er treibt allerhand Unsinn, balgt sich und hat es faustdick hinter den Ohren.“
„Ich habe mich nie gebalgt,“ rief Anton kläglich, „fragen Sie wen Sie wollen, — ich habe mich nie gebalgt.“
„Er vertritt einem den Weg,“ sagte Peredonoff.
„Schön,“ sagte Gudajewskji energisch, „ich werde ins Gymnasium gehn und den Inspektor fragen.“
„O Nikolaij, warum glaubst du denn nicht?“ schrie Julia Petrowna, „willst du, daß dein Sohn zum Verbrecher wird? Prügeln muß man ihn.“
„Unsinn! Unsinn!“ schrie der Vater.
„Ich werde ihn züchtigen, ja das werde ich!“ schrie die Mutter, packte Anton an der Schulter und wollte ihn fortschleppen: „komm nur, komm, mein Söhnchen, — in der Küche will ich dich züchtigen.“
„Du wirst es nicht tun!“ brüllte der Vater, und entriß ihr den Jungen.
Allein die Mutter gab nicht nach, Anton schrie verzweifelt, die Eltern stießen einander.
„Helfen Sie mir, Ardalljon Borisowitsch,“ schrie Julia Petrowna, „halten Sie diesen Lumpen fest, bis ich mit Anton abgerechnet habe.“
Peredonoff kam ihr zu Hilfe. Aber Gudajewskji befreite seinen Sohn mit einem starken Ruck, stieß seine Frau heftig zur Seite, stellte sich vor Peredonoff hin und rief drohend:
„Kommen Sie nicht näher! Wenn zwei Hunde sich beißen, mag der dritte fernbleiben! Unterstehn Sie sich!“
Der Schweiß floß ihm von der Stirn, seine Haare waren zerzaust, sein Gesicht ganz rot vor Zorn, und mit geballter Faust fuchtelte er in der Luft.
Peredonoff wich zurück und murmelte einige unverständliche Worte. Julia Petrowna lief wie ein Kreisel um ihren Mann herum und bemühte sich Anton zu fassen; der Vater deckte ihn mit seinem Rücken, zog ihn an den Händen bald nach rechts bald nach links. Julia Petrownas Augen funkelten und sie schrie:
„Ein Verbrecher wird er werden! Ins Zuchthaus wird er kommen! Nach Sibirien wird man ihn schicken.“
„Halt’s Maul!“ schrie Gudajewskji, „bell nicht, böses Scheusal!“
„O, der Tyrann!“ schrillte Julia Petrownas Stimme; sie sprang an den Mann heran und schlug ihn mit der Faust auf den Rücken, dann stürzte sie aus dem Zimmer.
Gudajewskji ballte die Fäuste und sprang gegen Peredonoff an.
„Sie sind hergekommen, um Zwietracht zu säen,“ schrie er, „Anton macht Dummheiten, — was? Sie lügen, er macht keine Dummheiten. Würde er sich schlecht betragen, so hätte ich es ohne Ihre Vermittlung längst erfahren. Mit Ihnen wünsche ich überhaupt nicht mehr zu reden. Sie schleichen durch die Stadt, und verstehen es vortrefflich, jeden dummen Esel zu betrügen und die Jungen zu prügeln. Wollen wohl Prügelmeister werden, — he! Hier sind Sie an den Unrechten gekommen. Sehr geehrter Herr, ich ersuche Sie, mein Haus zu verlassen!“
Während er so sprach, rückte er Peredonoff immer näher auf den Leib und hatte ihn schließlich in eine Ecke gedrängt. Peredonoff war sehr erschrocken und wäre froh gewesen, wenn er sich aus dem Staube hätte machen können. Im Eifer des Gefechts hatte Gudajewskji nicht bemerkt, daß er ihm den Weg vertrat. Anton hatte den Vater an den Rockschößen gepackt und versuchte ihn fortzuziehen. Der Vater schrie ihn an und schlug aus. Anton sprang geschickt zur Seite, ließ aber die Rockschöße nicht los.
„Loslassen!“ rief Gudajewskji, „Anton, hörst du!“
„Papachen,“ rief Anton und fuhr fort, den Vater zurückzuziehen, „du versperrst ihm den Weg.“
Gudajewskji sprang sofort zur Seite, — Anton hatte kaum Zeit, auszuweichen.
„Verzeihen Sie,“ sagte Gudajewskji auf die Türe weisend, „hier ist die Tür. Es liegt mir ferne, Sie zurückhalten zu wollen.“
Peredonoff schritt eilig aus dem Salon. Gudajewskji machte eine lange Nase hinter ihm her und hob ein Bein in die Luft, als hätte er ihn hinausgeworfen. Anton kicherte. Gudajewskji berief ihn zornig:
„Vergiß dich nicht Anton! Morgen noch fahre ich ins Gymnasium und sollte er die Wahrheit gesagt haben, übergebe ich dich der Mutter zur Züchtigung.“
„Ich habe nichts getan, er lügt,“ sagte Anton kläglich.
„Vergiß dich nicht, Anton!“ rief der Vater, „du darfst nicht sagen: er lügt, sondern: er hat sich versehen. Nur kleine Jungen lügen; erwachsene Leute können sich höchstens versehen.“
Unterdessen hatte Peredonoff in das halbdunkle Vorzimmer hinausgefunden, hatte seinen Mantel genommen, und war gerade bemüht, ihn anzuziehen. In der Erregung und Angst konnte er die Aermel nicht finden. Keiner kam ihm zu Hilfe.
Plötzlich öffnete sich eine Seitentür und Julia Petrowna kam hereingestürzt. Ihre Bänder rauschten und wehten, sie gestikulierte mit den Händen, hüpfte auf den Fußspitzen und flüsterte leidenschaftlich. Peredonoff konnte nicht gleich verstehen, was sie sagen wollte. „Ich bin Ihnen dankbar,“ begriff er endlich, „es war vornehm von Ihnen, daß Sie kamen, und Ihre Teilnahme ist vornehm. Sonst sind alle Menschen so gleichgültig, aber Sie haben es verstanden einem armen Mutterherzen nachzufühlen. Es ist unendlich schwer, Kinder zu erziehen; unendlich schwer! Sie haben gar keine Vorstellung davon, wie schwer es ist. Ich habe zwei Kinder und weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Er ist ein Tyrann, ein fürchterlicher, entsetzlicher Mensch, nicht wahr? Sie haben ja selber gesehn?“
„Ja,“ brummte Peredonoff, „es war sehr eigentümlich von Ihrem Mann. Das geht doch nicht, ich bemühe mich um das Kind, und er ...“
„O reden Sie nicht,“ flüsterte Julia Petrowna, „er ist ein fürchterlicher Mensch. Er will mich unter die Erde bringen, würde sich freuen darüber. Meine Kinder will er ins Verderben stürzen, meinen lieben, guten Anton. Aber ich, — ich bin die Mutter, das kann ich nicht dulden, und ich werde ihn doch züchtigen.“
„Er wird es verbieten,“ sagte Peredonoff, und machte mit dem Kopf eine Bewegung zum Salon hin.
„Aber er wird in den Klub gehen. Da kann er den Anton nicht mitnehmen. Ich werde so lange schweigen, — als wäre ich mit allem einverstanden, — bis er sich aufgemacht hat. Ist er fort, so werde ich den Jungen züchtigen und Sie werden mir dabei helfen. Nicht wahr, Sie werden mir doch helfen?“
Peredonoff dachte nach. Dann sagte er:
„Gut, aber wie soll ich wissen — wann?“
„Ich werde nach Ihnen schicken,“ zischelte Julia Petrowna freudig erregt, „verlassen Sie sich darauf, kaum ist er in den Klub gegangen, werde ich es Sie wissen lassen.“
Am Abend erhielt Peredonoff ein Briefchen von der Gudajewskaja. Er las:
„Verehrter Ardalljon Borisowitsch!
Mein Mann ist soeben in den Klub gegangen und bis ein Uhr nachts bin ich den Tyrannen los. Seien Sie so liebenswürdig und kommen Sie so schnell als möglich um mir bei der Züchtigung meines mißratenen Kindes beizustehen. Ich muß es in vollem Umfange anerkennen, daß man ihn aus erzieherischen Gründen strafen muß, solange er noch jung ist; später dürfte es erfolglos sein.
Ihre Sie aufrichtig hochschätzende
Julia Gudajewskaja.
P. S. Bitte kommen Sie recht bald, sonst geht der Junge zu Bett, und wir müßten ihn wecken.“
Peredonoff machte sich eilig auf den Weg. Um den Hals legte er sich einen warmen Schal und ging.
„Wohin gehst du bei nachtschlafender Zeit?“ fragte Warwara.
„Ich habe zu tun,“ sagte Peredonoff finster und stampfte hinaus.
Warwara überlegte betrübt, daß sie wieder eine unruhige Nacht haben würde. Könnte man ihn doch dazu bewegen, recht bald zu heiraten. Dann würde sie schlafen können in der Nacht, am Tage — wann sie nur wollte. Wie wundervoll wäre das.
Auf der Straße kamen Peredonoff Bedenken. Vielleicht ist das ganze nur eine Falle. Gudajewskji ist zu Hause. Beide werden mich packen und mich schlagen. Vielleicht ist es besser, ich kehre wieder um? Doch nein, bis zu ihrem Hause will ich gehen, — das Weitere wird sich dann finden!
Die Nacht war still, kühl und sehr dunkel. Sie umhüllte einen von allen Seiten, und man wagte seinen Fuß nur zögernd vorwärts zu setzen. Ein frischer Duft wehte von den Feldern herüber. Im Grase an den Zäunen raschelte es verstohlen und wisperte; alles ringsum war gespenstisch und unheimlich. Vielleicht verfolgte ihn jemand, schlich ihm nach? Alle Gegenstände verbargen sich im nächtlichen Grauen, als wäre in ihnen ein neues, dunkles Leben erwacht, das der Mensch nicht zu begreifen vermag und das ihm feindlich begegnet.
Peredonoff ging leise durch die Straßen und flüsterte:
„Es ist nichts zu sehen. Doch ich habe nichts Unrechtes vor. Was ich tue, tue ich aus Pflichtgefühl. So ist es.“
Endlich stand er vor dem Hause des Notars. Nur in einem Fenster war Licht, — sonst war alles dunkel. Ganz leise und vorsichtig stieg er die wenigen Stufen empor, die zum Flur führten. Er blieb stehen, legte sein Ohr an die Tür und horchte, — alles blieb still. Ganz leicht berührte er den Messinggriff der Glocke, — in der Ferne hörte man einen schwachen, zitternden Laut. Aber so schwach er auch war, — er erfüllte Peredonoff mit Entsetzen, als müßten alle feindlichen Mächte von diesem Laut erwachen, und dieser einen Tür, vor der er stand, zueilen. Peredonoff lief geschwind die Stufen hinab und drückte sich an die Mauer.
Einige Augenblicke vergingen. Sein Herz krampfte sich zusammen und arbeitete schwer.
Dann hörte man leise Schritte und das Geräusch einer geöffneten Tür, — Julia Petrowna spähte vorsichtig auf die Straße und in der Dunkelheit schienen ihre schwarzen, lüsternen Augen zu funkeln.
„Wer ist da?“ fragte sie laut flüsternd.
Peredonoff trat ein wenig vor und versuchte von unten durch den schmalen Türspalt zu blicken. Alles war dunkel und still. Dann fragte er ebenso flüsternd, — und seine Stimme zitterte:
„Ist Nikolaij Michailowitsch fort?“
„Er ist fort, er ist fort!“ flüsterte Julia Petrowna und nickte mit dem Kopf.
Peredonoff blickte sich ängstlich um und folgte ihr ins dunkle Vorhaus.
„Verzeihen Sie,“ flüsterte Julia Petrowna, „ich nahm kein Licht mit. Man hätte uns sehen können. Gerüchte verbreiten sich schnell.“
Sie ging voran und Peredonoff folgte ihr über einige Stufen in den Gang. Dort brannte ein kleines Lämpchen und beleuchtete matt die obersten Stufen. Julia Petrowna kicherte froh und leise, und ihre Bänder zitterten und raschelten von diesem Lachen.
„Er ist fort,“ flüsterte sie freudig, sah sich um und warf Peredonoff einen heißen, lüsternen Blick zu. „Ich fürchtete schon, er würde zu Hause bleiben, aus lauter Wut. Dann hielt er es nicht aus ohne sein Whistspiel. Auch das Dienstmädchen habe ich fortgeschickt, — nur Lieschens Kindermädchen ist geblieben, — sonst stört uns noch jemand! Die Menschen von heute sind ja so! ...“
Von Julia Petrowna wehte es heiß, und sie selber war heiß und dürr, wie ein glimmender Span. Sie faßte Peredonoff einigemal am Arm, und von dieser raschen, flackernden Bewegung schienen flinke, flackernde Flämmchen über seinen Körper zu gleiten.
Ganz leise, auf Zehenspitzen, schlichen sie durch den Gang vorbei, an einigen geschlossenen Türen und vor der letzten blieben sie stehen ...
Um Mitternacht ging Peredonoff heim. Jeden Augenblick konnte ihr Mann zurückkommen. Verdrießlich und traurig ging er durch die dunklen Straßen. Es schien ihm als hätte die ganze Zeit über jemand vor dem Hause gestanden, der ihm jetzt folgte. Er murmelte:
„Ich war da in dienstlicher Angelegenheit. Ich bin unschuldig. Sie selber wollte es so. Mich wirst du nicht hintergehn, — da bist du an den Unrechten geraten.“
Warwara schlief noch nicht, als er heimkam. Vor ihr lagen Karten ausgebreitet.
Peredonoff schien es, als hätte jemand durch die Tür schlüpfen können, während er eingetreten war ... Vielleicht hatte Warwara selber einen Feind eintreten lassen ... Peredonoff sagte:
„Du willst Karten legen, während ich schlafe? Das paßt mir nicht, gib die Karten her; du willst mich behexen!“
Er nahm die Karten und versteckte sie unter seinem Kopfkissen. Warwara grinste und sagte:
„Hanswurst! Ich versteh ja gar nicht zu hexen, wozu auch!“
Ihr Lachen ärgerte ihn und machte ihn bange: es bedeutet, dachte er, daß sie auch ohne Karten hexen kann. Dort unter dem Bett reckt sich der Kater und seine grünen Augen funkeln. Hexen kann man, wenn man im Dunkeln über sein Fell streicht, daß die Funken stieben. Dort unter dem Schrank treibt sich das schreckliche, graue gespenstische Tierchen um, vielleicht versteht Warwara es anzulocken, wenn sie in den Nächten so leise pfeift, daß man fast glauben könnte, sie schnarche nur.
Peredonoff hatte einen fürchterlichen, drückenden Traum: Pjilnikoff war gekommen, stand auf der Schwelle, winkte ihm und lächelte. Eine geheime Kraft trieb ihn zu ihm hin; er folgte ihm und Pjilnikoff führte ihn durch dunkle, schmutzige Straßen, der Kater lief ihm zur Seite und seine grünen, bösen Augen leuchteten ...
Die Absonderlichkeiten in Peredonoffs Benehmen machten den Direktor Chripatsch von Tag zu Tag besorgter. Er fragte den Schularzt ernstlich, ob Peredonoff nicht den Verstand verloren hätte. Der Arzt antwortete lachend, Peredonoff besäße überhaupt nichts, was sich verrücken ließe und aus purer Dummheit triebe er allerlei Merkwürdiges. Dann liefen Klagen ein. Erst vom Fräulein Adamenko: sie übersandte dem Direktor ein Heft ihres Bruders mit der schlechtesten Note für eine gutgeschriebene Arbeit.
Während einer Pause bat der Direktor Peredonoff in sein Sprechzimmer.
Wahrhaftig, man könnte meinen, er ist verrückt, dachte Chripatsch, als er die Spuren von Angst und Entsetzen in Peredonoffs stumpfem, finsterem Gesichte sah.
„Ich habe ein Anliegen an Sie,“ sagte er kalt und schnell. „Jedesmal dröhnt mir der Kopf, wenn ich neben Ihnen Unterricht zu erteilen habe, — weil in Ihrer Klasse so übermäßig gelacht wird. Darf ich Sie vielleicht ersuchen, Unterricht nicht vorwiegend heiteren Inhalts zu erteilen. Scherzen und nur scherzen, ja wie soll das enden?“
„Ich bin nicht schuld daran,“ sagte Peredonoff böse, „sie lachen von selber. Außerdem kann man nicht nur über das Tüpfelchen auf dem I und über Kantemirs Satyren reden; dann sagt man wohl ein überflüssiges Wörtchen und die ganze Bande grinst. Man hält sie zu locker. Strammer sollte man sie anfassen.“
„Es ist wünschenswert und sogar unbedingt erforderlich, daß die Arbeiten im Gymnasium mit Ernst betrieben werden,“ sagte Chripatsch trocken. „Dann noch eins.“
Er zeigte Peredonoff zwei Hefte und fuhr fort:
„Hier sind zwei Arbeiten zweier Ihrer Schüler aus ein und derselben Klasse, — die eine wurde von meinem Sohn geliefert, die andere — von Adamenko. Ich nahm Gelegenheit, die beiden Arbeiten zu vergleichen, und kann nicht umhin, die Bemerkung zu machen, daß Sie sich nicht aufmerksam zu Ihren Pflichten verhalten. Adamenkos Arbeit, die durchaus befriedigend ist, haben Sie mit der schlechtesten Note zensiert, während meines Sohnes Arbeit, die bedeutend schlechter ist, eine gute Note erhalten hat. Augenscheinlich haben Sie sich versehen, — dem einen Schüler die Note des andern gegeben und umgekehrt. Irren ist zwar menschlich, doch bitte ich in Zukunft, solche Versehen tunlichst zu vermeiden, denn sie erregen eine sehr begründete Unzufriedenheit, sowohl bei den Eltern, als bei den Schülern.“
Peredonoff murmelte einige unverständliche Worte ...
Aus Wut behandelte er seine Schüler in den darauffolgenden Stunden sehr schlecht, insbesondere die Jüngeren, die auf seine Klagen hin bestraft worden waren, so z. B. den Kramarenko. Der schwieg und wurde bleich — trotz seiner dunklen Gesichtsfarbe, — und seine Augen blitzten.
Kramarenko beeilte sich nicht nach Hause zu kommen, als die Stunden um waren. Er stand an der Pforte und sah sich die Leute an, die hinaus gingen. Als Peredonoff kam, folgte ihm der Junge in größerem Abstande, und wartete, bis die wenigen Passanten vorübergegangen waren.
Peredonoff ging langsam. Das trübe Wetter stimmte ihn traurig. Der Ausdruck seines Gesichtes wurde von Tag zu Tage stumpfer. Sein Auge schien bald etwas in der Ferne Liegendes zu suchen, bald irrte es unstät umher. Es schien so als suchte er etwas, das hinter den Dingen läge und darum verdoppelten sich diese Dinge in seinen Augen, wurden trübe und gespenstisch.
Wonach suchten seine Augen?
Nach Spionen. Sie waren überall versteckt, zischelten, lachten. Seine Feinde hatten ihm eine ganze Armee von Spionen auf die Fersen gehetzt. Manchmal bemühte er sich, sie alle abzufangen. Aber sie fanden immer noch Zeit zu entfliehen, — in einem Augenblick waren sie alle davon, als hätte sie die Erde verschluckt ...
Peredonoff hörte, wie ein fester, kühner Schritt auf dem Bürgersteige ihm nacheilte; er sah sich erschreckt um, — Kramarenko ging jetzt hart neben ihm und blickte ihn entschlossen und böse mit seinen flammenden Augen an. Er war bleich und schmächtig, und wie ein kleiner Wilder, der sich bereit macht, einen Feind zu überfallen.
Peredonoff zitterte vor seinem Blick.
Er wird mich beißen! — dachte er.
Er ging schneller, — Kramarenko blieb an seiner Seite; — er ging langsamer, — auch Kramarenko ging langsamer. Da blieb er stehen und knurrte ärgerlich:
„Was willst du von mir, Satansbengel! Warte nur, ich werde dich gleich zum Vater führen.“
Auch Kramarenko war stehen geblieben und hörte nicht auf Peredonoff anzublicken. Jetzt standen die beiden einander gegenüber auf dem Brettersteig einer menschenleeren Straße, dicht an einem grauen, zu allem Lebendigen sich jedenfalls sehr gleichgültig verhaltenden Zaune. Kramarenko zischte, am ganzen Leibe bebend:
„Schuft!“
Dann lachte er auf und wandte sich, um fortzugehen. Er machte etwa drei Schritte, blieb dann wieder stehen und wiederholte lauter:
„Schuft! Schweinehund!“
Dann spuckte er aus und ging seiner Wege. Peredonoff sah ihm böse nach und machte sich dann auf den Heimweg. Verworrene, trübe Gedanken quälten ihn.
Die Werschina rief ihn an. Sie stand hinter dem Zaun in ihrem Garten, hatte sich ein großes, schwarzes Tuch umgebunden und rauchte. Peredonoff erkannte sie nicht gleich. Im ersten Augenblick schien ihm ihre Gestalt drohend und unheilverkündend, — eine schwarze Hexe stand da, dunkler Rauch stieg von ihr auf, und sie murmelte Beschwörungsformeln. Er spuckte aus und schlug ein Kreuz. Die Werschina lachte und fragte:
„Was haben Sie nur, Ardalljon Borisowitsch?“
Peredonoff blickte sie stumpf an und sagte endlich:
„Ach, Sie sind es! Ich hatte Sie gar nicht erkannt.“
„Das ist von guter Vorbedeutung: Ich werde bald reich werden,“ sagte die Werschina.
Peredonoff gefiel das nicht: er wollte selber reich werden.
„Na ja,“ sagte er böse, „wozu brauchen Sie Reichtümer. Es langt schon, was Sie haben.“
„Ich werde das große Los gewinnen,“ sagte die Werschina und lächelte schief.
„O nein, ich werde es gewinnen,“ behauptete Peredonoff.
„Dann werde ich in der ersten Ziehung gewinnen, und Sie in der zweiten,“ sagte die Werschina.
„Das lügen Sie,“ sagte Peredonoff grob. „Das kommt überhaupt nicht vor, daß zwei Leute in derselben Stadt gewinnen. Ich sagte schon, daß ich gewinnen werde.“
Die Werschina merkte, daß er sich ärgerte, und hörte auf zu widersprechen. Sie öffnete das Pförtchen und lockte ihn herein:
„Warum stehen wir eigentlich hier. Kommen Sie doch herein. Murin ist eben da.“
Der Name Murin erinnerte Peredonoff an etwas sehr Angenehmes: Imbiß und Schnaps. Darum ging er mit.
Im Salon war es halbdunkel wegen der Bäume, die draußen dicht vor dem Hause wuchsen. Außer Martha, die heute besonders gut aufgelegt schien und sich ein seidenes Tüchlein mit einem roten Bande um den Hals gebunden hatte, war noch Murin da, — auch er schien gut gelaunt, — sein Haar war noch zerzauster, als es sonst zu sein pflegte, — und der schon ziemlich erwachsene Gymnasiast Witkewitsch: er machte der Werschina den Hof, weil er glaubte, daß sie in ihn verliebt wäre. Außerdem ging er mit dem Gedanken um das Gymnasium zu verlassen, die Werschina zu heiraten und dann ihr kleines Gut zu bewirtschaften.
Murin stand auf, um Peredonoff zu begrüßen. Er ging ihm mit übertriebener Höflichkeit entgegen, sein Gesicht strahlte, die kleinen Aeuglein blinkten vergnügt, — und das alles paßte durchaus nicht zu seiner ungeschlachten Figur, zu den zerzausten Haaren in denen hie und da kleine Strohhalme hängen geblieben waren.
„In Geschäften bin ich da,“ sagte er laut und heiser, „überall habe ich zu tun; bei dieser Gelegenheit verwöhnten mich die Damen hier mit einem Täßchen Tee.“
„Ach was, Geschäfte,“ sagte Peredonoff gereizt, „was haben Sie für Geschäfte? Sie sind nicht im Staatsdienst und verdienen sich das Geld einfach so. Da könnte ich ein anderes Liedchen singen.“
„Geschäfte sind eben nichts anderes als fremdes Geld,“ sagte Murin laut lachend.
Die Werschina lächelte schief und bat Peredonoff, Platz zu nehmen. Der Tisch vor dem Sofa war dicht bestellt mit Gläsern, Teetassen, Saftschalen und Tellern. Außerdem stand darauf ein silberner Filigrankorb, dessen Boden mit einer kleinen, weißen Serviette bedeckt war, auf der süßes Gebäck und Mandelkuchen lagen, — und eine Flasche Rum.
Witkewitsch hatte sich auf ein kleines, muschelförmiges Glastellerchen eine umfangreiche Portion Saft gelegt. Mit sichtlichem Vergnügen aß Martha ein Stück Kuchen nach dem andern; Murins Teeglas roch stark nach Rum und die Werschina bewirtete Peredonoff, doch er wollte nicht Tee trinken.
„Sie wollen mich vergiften,“ dachte er. „Es ist am bequemsten, einen so aus der Welt zu schaffen. Man trinkt und merkt nichts; es gibt ja auch süße Gifte, — dann kommt man nach Hause und verreckt.“
Er ärgerte sich darüber, daß man für Murin Saft gebracht hatte, und es nicht für nötig gehalten hatte, als er gekommen war, eine bessere Sorte auf den Tisch zu stellen. Denn, überlegte er, — sie haben allerhand Saft auf Lager, nicht nur Schellbeeren.
Es verhielt sich in der Tat so, daß die Werschina gegen Murin ganz besonders zuvorkommend war. Sie war zu der Erkenntnis gekommen, daß von Peredonoff nicht mehr viel zu erwarten wäre, und suchte daher schon seit einiger Zeit nach einem andern passenden Freier für Martha. Der halbverwilderte Gutsbesitzer war es müde geworden, sich um junge Damen zu bewerben, die ihm gar nicht entgegenkommen wollten und, weil ihm Martha gefiel, so folgte er den Aufforderungen der Werschina gerne.
Auch Martha war froh; — war es doch ihr einziger Gedanke, sich zu verloben, dann zu heiraten und ihren eigenen Hausstand zu haben. Darum machte sie verliebte Augen, wenn sie Murin sah. Dieser vierzigjährige Riese mit seiner groben Stimme und dem ein wenig einfältigen Gesicht, schien ihr das Vorbild aller männlichen Kraft, Schönheit, Güte und Ritterlichkeit zu sein.
Peredonoff bemerkte die verliebten Blicke, die Murin und Martha wechselten; er bemerkte es einfach aus dem Grunde, weil er erwartet hatte, daß Martha ihre Aufmerksamkeit ihm selber zuwenden würde.
Aergerlich sagte er:
„Da sitzt er, als wäre er ein Bräutigam und strahlt übers ganze Gesicht.“
„Vor lauter Freude,“ sagte Murin fröhlich und lebhaft, „weil ich meine Geschäfte so gut geregelt habe.“
Er warf den Damen einen verständnisvollen Blick zu. Beide lächelten freundlich. Peredonoff zwinkerte verächtlich mit den Augen und fragte:
„Du hast dich wohl verlobt? Wie groß ist die Mitgift?“
Murin sagte, ohne diese Fragen zu beachten:
„Natalie Aphanassjewna wird meinen Buben zu sich in Pension nehmen, Gott möge sie dafür segnen. Er wird hier wie in Abrahams Schoß leben und ich kann ganz ruhig sein, daß er nicht verdorben wird.“
„Er wird zusammen mit Wladja dumme Streiche machen,“ sagte Peredonoff mürrisch, „sie werden das Haus anzünden.“
„Er soll sich nur unterstehn!“ rief Murin energisch, „seien Sie ganz unbesorgt, verehrte Natalie Aphanassjewna: er wird sich so betragen, als wäre er auf Draht gezogen.“
Die Werschina wollte diesem Gespräch ein Ende machen, lächelte schief und sagte:
„Ich habe so ein Verlangen nach etwas Saurem.“
„Wollen Sie Preiselbeeren mit Aepfeln? Soll ich bringen?“ fragte Martha und sprang eilig auf.
„Ja vielleicht bringen Sie, bitte!“
Martha lief hinaus. Die Werschina sah ihr nicht einmal nach, — sie hatte sich daran gewöhnt, Marthas Diensteifer als etwas ganz Selbstverständliches hinzunehmen. Sie saß still und ganz zurückgelehnt auf dem Sofa, rauchte in dichten, blauen Wolken und verglich die beiden Männer miteinander, den mürrischen, stumpfen Peredonoff und den fröhlichen, lebhaften Murin.
Murin gefiel ihr bei weitem mehr. Er hatte ein gutmütiges Gesicht, Peredonoff konnte nicht einmal freundlich lächeln. Murin gefiel ihr überhaupt in allen Stücken: er war groß, kräftig gebaut, zuvorkommend, hatte eine angenehme, tiefe Stimme und begegnete ihr mit größter Ehrerbietung. Mitunter überlegte die Werschina, ob es nicht vorteilhaft wäre, wenn sie selber Murin heiraten würde. Solche Gedanken endeten aber immer mit einem großmütigen Verzicht ihrerseits zu Marthas Gunsten.
„Jeder wird mich zur Frau nehmen,“ dachte sie, vor allem, weil ich Geld habe, da kann ich wählen, wen ich will. Diesen jungen Mann da z. B. könnte ich ganz gut heiraten, und ihr Blick streifte wohlwollend das bleiche und gemeine, doch aber nicht unschöne Gesicht Witkewitschs. Der saß da, redete nur wenig, aß viel, blickte die Werschina an und lächelte gemein.
Martha brachte den Preiselbeersaft mit Aepfeln in einem irdenen Gefäß. Dann erzählte sie von einem Traum, den sie in der vergangenen Nacht gehabt hätte: sie wäre auf der Hochzeit einer Freundin gewesen; hätte Ananas und Pfannkuchen mit Honig gegessen und in dem einen Pfannkuchen einen Hundertrubelschein gefunden. Man hätte ihr aber das Geld fortgenommen, und sie wäre darüber in Tränen ausgebrochen. Dann wäre sie aufgewacht.
„Sie hätten das Geld unauffällig beiseite schieben müssen,“ sagte Peredonoff verdrießlich, „wenn Sie nicht einmal im Traum ihr Geld zu halten wissen, wie wollen Sie dann überhaupt wirtschaften?“
„Na an dem Gelde ist nicht viel verloren,“ sagte die Werschina, „träumen kann man doch weiß Gott von allem Möglichen.“
„Aber es tut mir so furchtbar leid, daß ich das Geld nicht behalten durfte,“ sagte Martha treuherzig, „denken Sie nur, ganze hundert Rubel!“
Ihr traten die Tränen in die Augen, und sie lachte gezwungen, um nicht weinen zu müssen. Murin suchte eifrig in seinen Taschen und rief:
„Es soll Ihnen nicht leid tun, teuerste Martha Stanislawowna, es soll Ihnen nicht leid tun. Wir wollen es gleich wieder gut machen.“
Er nahm einen Hundertrubelschein aus seiner Brieftasche, legte ihn vor Martha hin, schlug mit der Hand darauf und rief:
„Wenn ich bitten darf! Den soll Ihnen keiner fortnehmen.“
Martha freute sich, dann wurde sie plötzlich sehr rot und sagte verlegen:
„Aber Wladimir Iwanowitsch, ich bitte Sie; so war es doch gar nicht gemeint. Ich kann es nicht annehmen; wirklich nicht!“
„Tun Sie mir den Gefallen, und zürnen Sie mir nicht,“ sagte Murin lächelnd und ließ das Geld liegen, „lassen Sie doch den Traum zur Wahrheit werden.“
„Nein, nein; es geht wirklich nicht; ich schäme mich so, ich kann es unter gar keinen Umständen annehmen,“ weigerte sich Martha und blickte gierig auf die Banknote.
„Was zieren Sie sich, wenn man’s Ihnen doch gibt,“ sagte Witkewitsch, „es ist doch wirklich so, als wenn das Glück den Menschen in den Schoß fällt,“ und neidisch blickte er auf das Geld.
Murin hatte sich vor Martha hingestellt und bat sehr herzlich:
„Liebste Martha Stanislawowna, glauben Sie doch nur, ich geb’s von Herzen gerne; bitte, bitte nehmen Sie es doch. Und wollen Sie es nicht geschenkt haben, — so sei es dafür, daß Sie auf meinen Jungen acht geben werden. Was ich mit Natalie Aphanassjewna besprochen habe, bleibt so wie es ist, und dieses hier ist dann für Ihre Bemühungen um den Jungen.“
„Aber es ist doch viel zu viel,“ sagte Martha unsicher.
„Fürs erste Halbjahr,“ sagte Murin und machte eine sehr tiefe Verbeugung, „nehmen Sie es doch und bringen Sie meinem Jungen viel Liebe entgegen.“
„Nun, Martha, nehmen Sie es doch,“ sagte die Werschina, „und bedanken Sie sich bei Wladimir Iwanowitsch.“
Martha wurde rot vor Freude und nahm das Geld.
Murin dankte ihr zu wiederholten Malen.
„Machen Sie nur gleich Hochzeit,“ sagte Peredonoff wütend, „das wird billiger sein. So das Geld zum Fenster hinauszuwerfen!“
Witkewitsch mußte lachen, die andern taten, als hätten sie nichts gehört. Dann fing die Werschina an, von Träumen zu erzählen, — aber Peredonoff wollte nichts mehr hören und verabschiedete sich. Murin lud ihn zum Abendessen ein.
„Ich muß zum Abendgottesdienst in die Kirche,“ sagte Peredonoff.
„Ardalljon Borisowitsch ist neuerdings so eifrig im Kirchenbesuch,“ sagte die Werschina und lachte trocken.
„Das war immer der Fall,“ antwortete er, „ich glaube an Gott, nicht so wie andere Leute. Es ist möglich, daß ich im Gymnasium der einzige bin. Darum verfolgt man mich auch. Der Direktor ist ein Atheist.“
„Aber kommen Sie doch, wenn Sie einen freien Abend haben,“ sagte Murin.
Peredonoff knüllte seine Mütze und sagte böse:
„Ich habe überhaupt keine Zeit.“
Dann aber erinnerte er sich an die vorzüglichen Getränke und Speisen bei Murin und sagte:
„Am Montag kann ich kommen.“
Murin war entzückt und forderte auch die Werschina und Martha auf. Peredonoff sagte aber:
„Die Frauenzimmer sollen zu Hause bleiben. Sonst betrinkt man sich noch und läßt ein Wörtchen fallen, das die Zensur nicht passiert hat, und das ist unbequem in Gegenwart von Damen.“
Als Peredonoff gegangen war, sagte die Werschina schmunzelnd:
„Ein merkwürdiger Kauz, dieser Ardalljon Borisowitsch. Er möchte um alles Inspektor werden, doch scheint ihn Warwara an der Nase zu führen. Darum beträgt er sich so läppisch.“
Wladja kam heraus, — solange Peredonoff da war hielt er sich versteckt, — und sagte schadenfroh:
„Des Schlossers Söhne haben irgendwo erfahren, daß Peredonoff sie angegeben hat.“
„Sie werden ihm die Fensterscheiben einwerfen!“ meinte Witkewitsch und lachte.
Alles auf der Straße erschien Peredonoff feindlich und drohend. Ein Hammel stand an einem Kreuzwege und glotzte ihn stumpfsinnig an. Dieser Hammel erinnerte so auffallend an Wolodin, daß Peredonoff erschrak. Er dachte, Wolodin hätte sich in den Hammel verwandelt, um ihn zu verfolgen.
„Warum sollte das nicht möglich sein,“ dachte er, „woher können wir das wissen. Es könnte wohl möglich sein. Die Wissenschaft ist noch nicht so weit, aber dieser oder jener weiß es doch. Die Franzosen z. B. sind ein gebildetes Volk, und doch gibt es in Paris Zauberer und Magier.“
Ihm wurde bange.
Dieser Hammel da könnte ausschlagen, dachte er.
Das Tier blökte. Das klang gerade so wie Wolodins Lachen: häßlich, durchdringend, abgerissen.
Ein wenig weiter traf er den Gendarmerieoberst. Peredonoff trat auf ihn zu und sagte flüsternd:
„Geben Sie acht auf die Adamenko. Sie korrespondiert mit Sozialisten; sie ist vielleicht selber eine.“
Rubowskji schwieg und sah ihn erstaunt an.
Peredonoff ging weiter und dachte traurig: „Was läuft er mir immer in den Weg? Er beobachtet mich wohl, — und überall hat er Schutzleute aufgestellt.“
Die schmutzigen Straßen, die zerfallenen Häuser, der bewölkte Himmel, die bleichen, in Lumpen gehüllten Kinder — das alles mußte traurig stimmen. Eine tiefe Schwermut lastete auf ihm.
„Ein miserables Nest,“ dachte er, „und die Menschen hier sind böse und gemein; ich muß mich in eine andere Stadt versetzen lassen; da werden sich alle Lehrer demütig vor mir verbeugen, und die Schüler werden vor mir zittern und flüstern: der Inspektor kommt. Es ist eine ganz andere Sache, wenn man erst Vorgesetzter ist.“
„Der Herr Inspektor des zweiten Bezirkes im Gouvernement Ruban,“ flüsterte er, „der Herr Staatsrat Peredonoff, hochwohlgeboren.“ — Und weiter, — „man muß die Menschen nur zu nehmen wissen: Seine Exzellenz der Herr Direktor sämtlicher Volksschulen im Gouvernement Ruban, der wirkliche Staatsrat Peredonoff. Hut ab! Den Abschied einreichen! Fort! Wartet nur, ich will euch dressieren!“
Peredonoffs Gesicht wurde gemein und herrisch. In seiner spärlichen Einbildung hielt er sich für einen großen, mächtigen Herren.
Als er nach Hause kam und seinen Ueberzieher im Vorhause ablegte, hörte er im Speisezimmer das abgerissene, schneidende Gelächter Wolodins. Da wurde er mutlos.
„Er ist schon wieder da,“ dachte er, „vielleicht beredet er mit Warwara, wie sie mich umbringen sollen. Darum lacht er auch, er freut sich, daß Warwara mit ihm einer Meinung ist.“
Gereizt und traurig ging er ins Eßzimmer. Der Tisch war schon gedeckt. Warwara kam ihm besorgt entgegen.
„Bei uns ist was passiert,“ rief sie, „der Kater ist verschwunden.“
„Nanu!“ entfuhr es Peredonoff und Entsetzen packte ihn. „Warum habt ihr ihn laufen lassen ?“
„Ich kann ihn doch nicht mit dem Schwanz an meinen Rock binden!“ sagte Warwara ärgerlich.
Wolodin kicherte. Peredonoff dachte, daß der Kater vielleicht zum Gendarmerieoberst gelaufen wäre und dort alles, was er über ihn wußte, herschnurren würde, alles, z. B. wohin und warum er des Nachts ausgegangen war, — davon wird er schnurren und noch von anderen Dingen, die nie geschehen sind. Schrecklich! Peredonoff setzte sich an den Tisch, er hielt den Kopf gebeugt und zerknitterte das Tischtuch. Was er dachte war traurig und unheimlich.
„Es ist eine alte Geschichte, daß die Katzen aus der neuen Wohnung in die frühere zurücklaufen,“ sagte Wolodin, „weil die Katzen sich an das Haus gewöhnen, aber nicht an ihre Herren. Man muß eine Katze schwindelig drehen, wenn man sie in die neue Wohnung bringt, und den Weg darf man ihr auch nicht zeigen, sonst läuft sie unbedingt fort.“
Das beruhigte Peredonoff.
„Du glaubst also, daß er in die alte Wohnung zurückgelaufen ist?“ fragte er.
„Unbedingt, unbedingt,“ antwortete Wolodin.
Peredonoff erhob sich und rief:
„Darauf trinken wir eins, Pawluschka!“
Wolodin kicherte.
„Trinken wir eins,“ wiederholte er, „trinken kann man stets und gerne.“
„Aber der Kater muß wieder hergeschafft werden,“ bestimmte Peredonoff.
„So ein Schatz!“ antwortete Warwara lachend; „nach dem Essen will ich das Mädchen hinüberschicken.“
Das Essen wurde aufgetragen. Wolodin war ausgelassen, lachte und schwatzte. Sein Lachen klang Peredonoff genau so wie das Blöken jenes Hammels, den er auf der Straße getroffen hatte.
Warum führt er Böses gegen mich im Schilde? dachte Peredonoff. Was hat er nur davon?
Dann kam es ihm in den Sinn, Wolodin würde sich besänftigen lassen.
„Hör mal, Pawluschka,“ sagte er, „wenn du versprichst, nichts gegen mich zu unternehmen, werde ich dir wöchentlich ein Pfund Bonbons schenken; von der feinsten Sorte! Lutsch daran auf mein Wohl!“
Wolodin lachte auf; dann wurde er gleich wieder ernst, machte ein gekränktes Gesicht und sagte:
„Ich habe keineswegs im Sinne, dir zu schaden, Ardalljon Borisowitsch; außerdem will ich keine Bonbons, weil ich sie gar nicht mag.“
Peredonoff ließ den Mut sinken. Warwara sagte lachend:
„Laß doch die Dummheiten, Ardalljon Borisowitsch! Wodurch sollte er dir denn schaden?“
„Jeder Idiot kann einem was anhaben!“ sagte Peredonoff gedehnt.
Wolodin streckte seine Unterlippe vor, schüttelte den Kopf und sagte:
„Wenn Sie, Ardalljon Borisowitsch, so über mich zu denken belieben, so kann ich darauf nur erwidern: ich danke Ihnen bestens! Wenn Sie so über mich denken, was bleibt mir dann zu tun übrig? Wie habe ich das zu verstehen und in welchem Sinne?“
„Sauf Schnaps, Pawluschka, und gib mir auch einen,“ sagte Peredonoff.
„Nehmen Sie es ihm nicht übel, Pawel Wassiljewitsch,“ versuchte Warwara Wolodin zu beruhigen, „er redet nur so in den Tag herein. Er weiß ja selber nicht, was er spricht.“
Wolodin schwieg still, machte immer noch ein gekränktes Gesicht und goß Schnaps aus der Flasche in die Gläser. Warwara sagte:
„Wie kommt es nur, Ardalljon Borisowitsch, daß du den Schnaps trinkst, den er dir eingeschenkt hat? Er könnte ihn doch z. B. behext haben, — siehst du nicht, er murmelt etwas, seine Lippen bewegen sich.“
Peredonoff erschrak. Er ergriff das Glas, in welches Wolodin eben erst eingeschenkt hatte, spritzte den Inhalt gegen die Wand und murmelte hastig eine Beschwörungsformel.
Dann wandte er sich zu Wolodin, drohte ihm mit der Faust und sagte wütend:
„Ich bin schlauer als du!“
Warwara lachte aus vollem Halse. Wolodin sagte mit gekränkter, zitternder Stimme, — es klang tatsächlich wie ein Blöken:
„ Sie kennen allerhand Zaubersprüche, Ardalljon Borisowitsch, und benutzen sie auch; ich habe mich aber niemals mit der Magie abgegeben. Ich bin weder gewillt noch imstande, Ihren Schnaps und gleichviel was für Dinge zu behexen; hingegen scheint es mir nicht unmöglich, daß Sie selber mir alle Bräute forthexen.“
„Noch was,“ sagte Peredonoff böse, „was mach ich mit deinen Bräuten, da kann ich mir schon was Besseres aussuchen.“
„Geben Sie acht,“ fuhr Wolodin fort, „Sie sitzen im Glashause und werfen mit Steinen!“
Peredonoff faßte erschreckt nach seiner Brille:
„Was redest du da,“ brummte er, „deine Zunge geht wie ein Mühlrad.“
Warwara blickte Wolodin vorwurfsvoll an und sagte ärgerlich:
„Reden Sie keinen Unsinn, Pawel Wassiljewitsch; essen Sie Ihre Suppe, sonst wird sie kalt. Ein Schwätzer sind Sie!“
Im stillen dachte sie, daß Ardalljon Borisowitsch vielleicht recht daran getan hätte, sich zu verschwören. Wolodin schwieg still und aß seine Suppe. Es entstand eine kurze Pause. Dann sagte Wolodin mit gekränkter Stimme:
„Ich habe heute nicht umsonst geträumt, daß man mich mit Honig zuschmierte. Sie, Ardalljon Borisowitsch, haben mich beschmutzt.“
„Ihnen muß man noch ganz anders kommen,“ sagte Warwara böse.
„Was habe ich denn getan? Ich möchte es doch gerne erfahren. Mir scheint, ich bin durchaus unschuldig,“ sagte Wolodin.
„Sie haben ein niederträchtiges Maulwerk,“ erklärte Warwara. „Man soll nicht alles aussprechen, was einem auf die Zunge kommt: — alles zu seiner Zeit.“
Am Abend ging Peredonoff in den Klub; man hatte ihn zu einer Kartenpartie gebeten. Auch der Notar Gudajewskji war gekommen, derselbe über dessen Sohn Peredonoff noch vor wenigen Tagen eine scharfe Auseinandersetzung mit ihm gehabt hatte. Peredonoff erschrak, als er ihn sah. Gudajewskji verhielt sich aber ganz still und Peredonoff beruhigte sich wieder.
Man spielte lange und trank viel. Es war schon spät in der Nacht, als Gudajewskji plötzlich auf Peredonoff zustürzte, ihn ohne weitere Erklärung einigemal ins Gesicht schlug und ihm dabei die Brille zerschlug. Dann entfernte er sich ebenso plötzlich und verließ das Lokal. Peredonoff leistete nicht den geringsten Widerstand, stellte sich betrunken, ließ sich zu Boden fallen und schnarchte. Man rüttelte ihn auf und brachte ihn nach Hause.
Tags darauf sprach man in der ganzen Stadt von der Affäre.
Am selben Abend hatte Warwara endlich eine günstige Gelegenheit gefunden, um von Peredonoff den ersten gefälschten Brief zu entwenden. Die Gruschina hatte es als unbedingt erforderlich verlangt, damit bei einem etwaigen Vergleich der beiden Briefe keine Unterschiede zu finden wären. Sonst pflegte Peredonoff diesen Brief bei sich zu tragen, — heute aber hatte er ihn ganz zufällig vergessen: als er sich umkleidete, hatte er ihn aus der Rocktasche genommen und ihn unter ein Lehrbuch auf die Lade gelegt. Da war er liegen geblieben.
Warwara verbrannte ihn dann in Gegenwart der Gruschina.
Als Peredonoff spät in der Nacht heimkehrte, und als Warwara die zerbrochene Brille bemerkte, sagte er ihr, die Gläser wären von selber geplatzt. Sie glaubte es, und meinte die böse Zunge Wolodins wäre schuld daran. Auch Peredonoff glaubte an die böse Zunge Wolodins.
Uebrigens hörte Warwara schon tags darauf von der Gruschina alle Einzelheiten über die Prügelei im Klub.
Als Peredonoff sich am Morgen ankleidete, fiel ihm der Brief ein, er konnte ihn nirgends finden, und erschrak heftig. In wilder Aufregung schrie er:
„Warwara, wo ist der Brief?“
Warwara verlor die Fassung.
„Was für ein Brief?“ fragte sie und blickte Peredonoff erschreckt und böse an.
„Von der Fürstin!“ schrie Peredonoff.
Warwara hatte Zeit gehabt, sich zu sammeln. Sie lächelte gemein und sagte:
„Woher soll ich es wissen. Du hast ihn wohl in den Papierkorb geworfen und Klawdja wird ihn verbrannt haben. Such ihn doch selber. Vielleicht steckt er irgendwo.“
Peredonoff ging in trübster Stimmung in das Gymnasium. Die Unannehmlichkeiten von gestern Abend fielen ihm ein. Dann dachte er an Kramarenko: wie durfte sich dieser unverschämte Bengel unterstehen, ihn einen Schweinehund zu nennen. Das bedeutete mit andern Worten: der Schüler hat keinen Respekt vor ihm — dem Lehrer. Vielleicht hatte der Junge etwas Schlimmes über ihn in Erfahrung gebracht. Vielleicht wollte er ihn angeben.
Während des Unterrichts starrte ihn Kramarenko unentwegt an und lächelte. Das erregte Peredonoff noch mehr.
Nach der dritten Stunde wurde er zum Direktor gebeten. Ihm ahnte nichts Gutes, aber er ging.
Von allen Seiten waren bei Chripatsch Klagen eingelaufen. Noch heute morgen hatte man ihm von den Ereignissen des gestrigen Abends im Klub erzählt. Dann war gestern nach dem Unterricht der Schüler Wolodja Bultjakoff zu ihm gekommen, um sich über Peredonoff zu beschweren: auf Peredonoffs Angaben hin hätte ihn seine Pensionsmutter bestraft. Nun fürchtete der Junge einen zweiten Besuch Peredonoffs mit ähnlichen Folgen und hatte sich rasch entschlossen an den Direktor gewandt.
Mit seiner trocknen, scharfen Stimme machte Chripatsch Peredonoff Mitteilung von den Gerüchten, die zu ihm gedrungen waren, „es sind zuverlässige Quellen,“ fügte er hinzu, nämlich, daß Peredonoff die Schüler in ihren Wohnungen aufsuche und deren Eltern und Erziehern durchaus unzuverlässige Angaben mache über Betragen und Fortschritte der Kinder und außerdem verlange, man solle den Jungen züchtigen. Hieraus ergeben sich dann mitunter die unangenehmsten Konflikte mit den Eltern, wie z. B. gestern abend im Klub mit dem Notar Gudajewskji.
Peredonoff hörte wütend und doch geängstigt zu. Jetzt schwieg Chripatsch.
„Nun, was ist denn dabei,“ sagte Peredonoff böse, „er geht mit den Fäusten drauf los; ist das etwa schicklich? Er hatte nicht das geringste Recht dazu, mir in die Fratze zu fahren. Er geht nie in die Kirche, glaubt an einen Affen und will den Sohn zur selben Sekte bekehren. Man muß ihn denunzieren, — er ist Sozialist.“
Chripatsch blickte aufmerksam auf Peredonoff und sagte eindringlich:
„Das geht uns absolut nichts an; auch verstehe ich durchaus nicht, was Sie eigentlich mit der originellen Bezeichnung „an einen Affen glauben“ zu meinen belieben. Ich glaube, man täte gut daran, die Religionsgeschichte mit neu erfundenen Kultusformen nicht zu bereichern. Bezüglich der Ihnen widerfahrenen Kränkung aber würde ich es für ratsam erachten, die Sache vors Gericht zu bringen. Im übrigen täten Sie vielleicht gut daran, — Ihre Stellung in unserm Gymnasium aufzugeben. Das wäre der beste Ausweg, — sowohl in Ihrem eigenen Interesse als in dem des Gymnasiums.“
„Ich will Inspektor werden,“ entgegnete Peredonoff böse.
„Bis zu jenem Zeitpunkte aber,“ fuhr Chripatsch fort, „haben Sie Ihre merkwürdigen Spaziergänge einzustellen. Sie müssen doch zugeben, daß ein solches Betragen einem Pädagogen nicht geziemt, außerdem aber die Autorität der Lehrer bei den Schülern untergräbt. In die Schülerwohnungen gehn, um die Jungen zu prügeln, — das ...“
Chripatsch beendete den Satz nicht. Er zuckte nur mit den Schultern.
„Was ist denn dabei?“ entgegnete Peredonoff wiederum, „ich tue es doch zu ihrem Besten.“
„Ich bitte, wir wollen nicht streiten,“ unterbrach ihn Chripatsch schroff, „ich verlange von Ihnen ein für allemal, daß solche Sachen sich nicht wiederholen.“
Peredonoff blickte den Direktor böse an.
Man hatte beschlossen, heute abend den Umzug in die neue Wohnung festlich zu feiern. Alle Bekannten waren geladen. Peredonoff ging durch die Zimmer und sah nach, ob alles in Ordnung war, vor allem aber, ob nirgend Dinge wären, deretwegen man ihn hätte denunzieren können.
„Es scheint, alles ist in Ordnung,“ dachte er: „verbotene Bücher sind nicht zu sehen, die Lampen vor den Heiligenbildern brennen, die Kaiserbilder hängen am Ehrenplatze an der Wand.“
Plötzlich fiel es ihm ein, daß das Porträt Mizkewizschs an der Wand hing.
Da hätte ich schön hereinfallen können, dachte er erschreckt, nahm das Bild herunter und trug es ins Klosett. Dort vertauschte er es gegen das Porträt Puschkins, welches nun wieder in das Eßzimmer aufrückte.
Puschkin war immerhin hoffähig, dachte er, während er das Bild am Nagel befestigte.
Dann fiel es ihm ein, daß man am Abend Karten spielen würde, und er beschloß, die Karten zu besehen. Er nahm ein Spiel zur Hand, das nur einmal benutzt worden war und blätterte es durch, als suche er nach etwas. Die Gesichter der Bilder gefielen ihm nicht: sie hatten so merkwürdige Augen.
In der letzten Zeit war es ihm beim Spielen aufgefallen, daß die Karten so schmunzelten, wie Warwara es zu tun pflegte. Sogar irgend eine nichtswürdige Pik-sechs sah so unverschämt drein und watschelte unanständig daher.
Peredonoff nahm alle Karten, so wie sie gerade lagen, und stach den Bildern mit einer spitzen Schere die Augen aus, sie sollten nicht mehr so starren. Erst tat er es mit den vorhandenen alten Spielen, dann öffnete er zu gleichem Zwecke die noch nicht benutzten Spiele. Diese Arbeit verrichtete er ängstlich umherspähend, als fürchte er von jemand ertappt zu werden.
Zu seinem Glück hatte Warwara in der Küche zu tun und ließ sich im Wohnzimmer nicht blicken, — wie hätte sie auch eine solche Menge von Speisen unbeaufsichtigt lassen können: Klawdja hätte es sofort ausgenutzt. Wenn sie etwas im Eßzimmer brauchte, so schickte sie Klawdja. Jedesmal wenn das Mädchen eintrat, zuckte Peredonoff zusammen, versteckte die Schere in seiner Tasche und tat, als wäre er eifrig dabei, eine Patience zu legen.
Während nun Peredonoff auf diese Weise bemüht war, die Könige und Damen ihres Sehvermögens zu berauben, drohte ihm von ganz anderer Seite ein peinliches Ereignis.
Jenen Hut, den er seinerzeit in der alten Wohnung auf den Ofen geworfen hatte, um ihn ein für allemal loszusein, — hatte die Jerschowa gefunden. Sie kam zur Ueberzeugung, daß man den Hut mit Absicht dagelassen hatte: ihre früheren Mieter haßten sie, und da ist es doch sehr wahrscheinlich, dachte die Jerschowa, daß jene, um sich zu rächen, etwas in den Hut hineingehext haben, was zur Folge haben konnte, daß sich keine Mieter für die leerstehende Wohnung mehr fänden. Aergerlich und geängstigt brachte sie den Hut zu einem Weibe, welches im Rufe der Zauberei stand.
Diese betrachtete den Hut von allen Seiten, murmelte geheimnisvolle, düstere Worte, spuckte kräftig und sagte:
„Sie haben dir Uebles getan, so sollst du ihnen auch Uebles antun. Ein mächtiger Zauberer hat gehext, aber ich bin schlauer, — und will seine Kraft zähmen, daß er sich krümmen soll.“
Dann besprach sie lange den Hut und nachdem sie ein schönes Geldgeschenk von der Jerschowa erhalten hatte, befahl sie ihr, den Hut dem ersten rothaarigen Jungen, den sie treffen würde, mit der Weisung zu übergeben, ihn in Peredonoffs Wohnung abzuliefern und dann ohne sich umzusehn davonzulaufen.
Es traf sich so, daß der erste rothaarige Junge, den die Jerschowa traf, einer der beiden Schlossersöhne war, die etwas gegen Peredonoff im Schilde führten, weil er sie seinerzeit angegeben hatte. Der Junge erhielt einen Fünfer und machte sich ein Vergnügen daraus, dem Auftrage nicht nur gewissenhaft nachzukommen, sondern auch zum Ueberflusse unterwegs den Hut gehörig vollzuspucken. Im dunklen Vorhause bei Peredonoff traf er Warwara; er steckte ihr den Hut zu und lief so geschwind davon, daß sie ihn nicht erkennen konnte.
Während nun Peredonoff gerade dem letzten Buben die Augen ausstach, trat Warwara erstaunt und erschreckt ins Zimmer, und sagte mit vor Aufregung zitternder Stimme:
„Ardalljon Borisowitsch, sieh nur, was ich habe!“
Peredonoff blickte auf und das Wort erstarb ihm auf den Lippen. Denselben Hut, den er glaubte für immer losgeworden zu sein, sah er in Warwaras Händen, — bestaubt, verknüllt und in einem Zustande, der seine frühere Herrlichkeit nur ahnen ließ. Starr vor Entsetzen konnte er nur stammeln:
„Woher? woher?“
Warwara erzählte mit zitternder Stimme, wie sie den Hut von einem flinken Jungen erhalten hatte, der plötzlich vor ihr aufgetaucht war, um dann ebenso plötzlich zu verschwinden. Sie sagte:
„Das kann nur von der Jerschowa stammen. Sie hat den Hut besprechen lassen. Bestimmt!“
Peredonoff murmelte unverständliche Worte und seine Zähne schlugen hörbar aneinander. Die trübsten Befürchtungen und Vorahnungen quälten ihn. Traurig stand er auf und das kleine, graue gespenstische Tierchen lief flink hin und her, hin und her, und kicherte.
Die Gäste waren frühzeitig gekommen. Sie hatten viele Kuchen, Aepfel und Birnen mitgebracht. [10] Warwara empfing alles freudestrahlend, und nur um der guten Sitte zu genügen, sagte sie ein Mal ums andere:
„Aber ich bitte! Warum haben Sie sich so bemüht?“
Schien es ihr aber, als hätte dieser oder jener etwas Billiges oder Schlechtes gebracht, so ärgerte sie sich. Auch gefiel es ihr nicht, wenn zwei Gäste ein und dasselbe brachten.
Ohne viel Zeit zu verlieren, setzte man sich an die Kartentische. Man spielte an beiden Tischen das Pochspiel.
„Was ist denn das!“ rief die Gruschina, „mein König ist blind.“
„Und auch meine Dame ist geblendet,“ sagte die Prepolowenskaja und betrachtete aufmerksam ihre Karten, „und der Bube auch.“
Nun machten sich alle daran, ihre Karten zu untersuchen. Prepolowenskji sagte:
„Also darum schien es mir die ganze Zeit so, als wären die Karten rauh. Ich fühle und denke — hat der Kerl aber ein rauhes Hemd an, und nun kommt es heraus, daß es von diesen Löchern ist. Da hat er nun tatsächlich ein rauhes Hemd an.“
Alles lachte; nur Peredonoff blieb finster. Warwara sagte schmunzelnd:
„Sie wissen doch, — Ardalljon Borisowitsch hat immer so merkwürdige Einfälle!“
„Warum hast du es getan?“ fragte Rutiloff laut lachend.
„Wozu brauchen sie Augen?“ sagte Peredonoff bedrückt, „sie sollen nicht sehen.“
Alle lachten, nur Peredonoff blieb traurig und schweigsam. Es schien ihm, als schmunzelten und zwinkerten die geblendeten Bilder aus ihren Löchern, die sie statt der Augen hatten.
„Vielleicht,“ dachte er, „sehen sie jetzt mit den Nasenlöchern.“
Auch heute war ihm das Glück nicht hold, und die Gesichter der Könige, Damen und Buben schienen ihn höhnisch und böse anzustarren; die Pik-Dame knirschte sogar mit den Zähnen; wahrscheinlich war sie ungehalten darüber, daß er sie geblendet hatte.
Und als Peredonoff einmal vollständig verloren hatte, packte er das ganze Spiel und zerriß es wütend in lauter kleine Fetzen. Die Gäste wälzten sich vor Lachen. Warwara sagte schmunzelnd:
„So ist er immer; wenn er getrunken hat, wird er absonderlich.“
„Mit anderen Worten: wenn er besoffen ist?“ sagte die Prepolowenskaja giftig, „hören Sie nur, Ardalljon Borisowitsch, was Ihr Schwesterchen von Ihnen sagt.“
Warwara wurde rot und antwortete gereizt:
„Das ist Wortklauberei!“
Die Prepolowenskaja lächelte und schwieg.
Man nahm ein neues Spiel und spielte weiter. Plötzlich ertönte ein lautes Krachen, — eine Fensterscheibe sprang klirrend und ein Stein schlug hart vor Peredonoff zu Boden.
Unter dem Fenster hörte man leises Flüstern, Lachen und dann Schritte, die sich eilig entfernten. Alle sprangen erregt von ihren Plätzen; die Frauen kreischten, — wie sie es gewöhnlich immer in solchen Fällen zu tun pflegen. Man hob den Stein auf, betrachtete ihn sorgfältig und ängstlich, keiner aber wagte es, ans Fenster zu gehen; — erst schickte man Klawdja auf die Straße und als sie mitgeteilt hatte, daß kein Mensch zu sehen wäre, begaben sich alle ans Fenster und besahen die zerschlagene Scheibe. Wolodin sprach die Vermutung aus, ein Gymnasiast hätte den Stein geworfen. Das schien allen wahrscheinlich zu sein und man blickte Peredonoff bedeutungsvoll an. Peredonoff machte ein mürrisches Gesicht und brummte in den Bart. Die Gäste sprachen dann darüber, wie ungezogen und verwildert die Kinder von heute wären.
Die eigentlichen Schuldigen waren natürlich nicht Gymnasiasten, sondern die Söhne des Schlossers.
„Der Direktor hat sie dazu angestiftet,“ erklärte Peredonoff plötzlich, „er sucht ewig nach Händeln und weiß gar nicht mehr, was er sich ausdenken soll, um mir was anzuhaben.“
„Das hast du dir wunderbar ausgedacht,“ rief Rutiloff laut lachend.
Alle lachten, aber die Gruschina sagte:
„Ja, was denken Sie denn; er ist ein so boshafter und schlechter Mensch, daß man ihm alles zutrauen kann. Natürlich tut er es nicht selber, aber so beiläufig, durch seine Söhne z. B. gibt er einen kleinen Wink ...“
„Und daß er adelig ist, besagt noch nichts,“ blökte Wolodin dazwischen, „gerade von den Adeligen lassen sich solche Stückchen erwarten.“
Manche von den Gästen hielten das nicht für unmöglich, — und hörten auf zu lachen.
„Du hast Unglück mit Glas, Ardalljon Borisowitsch,“ sagte Rutiloff, „bald wird dir die Brille zerschlagen, bald ein Fenster zertrümmert.“
Dieser Witz hatte einen neuen Heiterkeitsausbruch zur Folge.
„Scherben bedeuten Glück,“ sagte die Prepolowenskaja verhalten lächelnd.
Als Peredonoff und Warwara zu Bett gingen, glaubte er, daß sie gegen ihn etwas im Schilde führe; er nahm alle Gabeln und Messer und versteckte sie unter dem Bett. Er lallte schon halb im Schlafe:
„Ich kenne dich; du willst mich heiraten und mich denunzieren, um mich dann los zu sein. Dann wirst du eine Pension erhalten und mich wird man in der Festungsmühle zu Brei zermahlen.“
In der Nacht träumte er unruhig. Lautlos neckten ihn fürchterliche Gestalten, — es waren lauter Könige und Buben, und sie schwangen drohend ihre Keulen. Sie flüsterten und suchten sich vor ihm zu verstecken. Ganz leise krochen sie unter sein Kopfkissen.
Aber dann wurden sie kühner und kamen wieder hervor. In unzähligen Mengen liefen sie immer rings um ihn herum und sprangen vom Bett auf das Kopfkissen, vom Kopfkissen auf den Boden und dann wieder aufs Bett. Sie zischelten und neckten ihn, schnitten entsetzliche, unheimliche Fratzen und verzogen den garstigen Mund zu widerlichem Grinsen. Peredonoff sah, daß sie alle nur klein und schmächtig waren; sie konnten ihn nicht töten; aber sie machten sich über ihn lustig, und ihr Erscheinen bedeutete Unglück. Darum fürchtete er sich und murmelte einige unzusammenhängende Sätze aus Beschwörungsformeln, die er als Kind beim Spielen gelernt hatte; dann fuchtelte er mit den Händen, um sie zu vertreiben, er schrie sie an mit heiserer, befehlender Stimme.
Davon erwachte Warwara und fragte ärgerlich:
„Warum brüllst du so; du läßt mich nicht schlafen?“
„Die Pikdame hat ein Zwillichtuch um und läßt nicht ab von mir,“ flüsterte er.
Warwara stand brummig auf und gab ihm einige Tropfen zur Beruhigung.
Im Lokalanzeiger des Städtchens erschien ein Aufsatz des Inhaltes, daß Madame K... die kleinen Gymnasiasten, die bei ihr in Pension lebten, Söhne aus den besten Adelsfamilien des Landes, zu schlagen pflege. Der Notar Gudajewskji trug diese Nachricht grollend von Haus zu Haus.
Dann tauchten auch andere, geradezu unglaubliche Gerüchte über das städtische Gymnasium auf: man erzählte von einem jungen Fräulein, das sich als Schüler verkleidet hätte, — und ganz allmählich kam es so weit, daß Pjilnikoff und Ludmilla zusammen genannt wurden.
Sascha wurde von seinen Kameraden damit geneckt; er machte sich nicht viel daraus, dann verteidigte er Ludmilla mit Eifer und versicherte, nie wäre etwas Derartiges vorgefallen, wie man ihr und ihm nachsagte.
Einerseits hatte das zur Folge, daß er sich schämte, Ludmilla zu besuchen, andererseits zog es ihn um so stärker hin: ein merkwürdiges Gefühl brennender Scham und höchster Lust erregte ihn, und erfüllte alle seine Gedanken mit verschwommenen, leidenschaftlichen Vorstellungen.
Peredonoff und Warwara aßen zu Mittag. Es war ein Sonntag. Jemand kam ins Vorhaus. Warwara schlich an die Tür und guckte durchs Schlüsselloch. Ganz leise kehrte sie wieder auf ihren Platz und flüsterte:
„Der Briefträger. Man muß ihm einen Schnaps geben; er hat wieder einen Brief.“
Peredonoff nickte schweigend, — wahrhaftig — um ein Gläschen Schnaps sollte es ihm nicht leid tun. Warwara rief:
„Kommen Sie herein, Briefträger!“
Er kam ins Eßzimmer, wühlte in seiner Tasche und tat so, als suchte er nach einem Brief. Warwara goß Schnaps in ein großes Glas und schnitt ein Stück von der Pastete ab. Der Briefträger schielte gierig danach. Peredonoff überlegte unterdessen, wem dieser Mensch so außerordentlich ähnlich sähe. Endlich fiel es ihm ein, — es war ja derselbe rothaarige, finnige Kerl, der ihm neulich noch über den Weg gelaufen war.
„Eine schlechte Vorbedeutung,“ dachte Peredonoff. Er ballte die Faust in der Tasche und drohte dem Briefträger heimlich.
Dieser hatte unterdessen den Brief gefunden und gab ihn Warwara.
„Für Sie,“ sagte er ehrerbietig, dankte für den Schnaps, leerte das Glas auf einen Zug, räusperte sich, nahm das Stück Pastete und ging.
Warwara drehte den Brief in ihren Händen und reichte ihn dann ungeöffnet Peredonoff.
„Lies; ich glaube, er ist wieder von der Fürstin,“ sagte sie schmunzelnd, „sie ist ins Schreiben reingekommen. Würde sie dir lieber eine Stelle verschaffen, statt zu schreiben.“
Peredonoffs Hände zitterten. Er zerriß den Umschlag und überflog den Brief. Dann sprang er auf und brüllte:
„Hurra! Drei Stellen sind vakant, ich brauche nur zu wählen. Hurra, Warwara, wir haben das Spiel gewonnen!“
Er tanzte und drehte sich ausgelassen im Zimmer. Sein Gesicht war rot, seine Augen blickten stumpfsinnig, und es schien, als drehe sich da eine merkwürdig große, aufgezogene Puppe. Warwara schmunzelte und sah ihm zu. Er rief:
„Nun kann’s losgehen, — wir machen Hochzeit!“
Er packte Warwara an den Schultern, drehte sich mit ihr um den Tisch herum und stampfte.
„Den Russischen!“ rief er.
Warwara stemmte die Arme in die Seiten und segelte los. Peredonoff hockte nieder und tanzte vor ihr her.
Wolodin trat ein und blökte fröhlich:
„Der Herr Inspektor in spe beliebt sich im Nationaltanze zu versuchen.“
„Tanz, Pawluschka!“ rief Peredonoff.
Klawdja stand an der Tür und sah zu. Wolodin rief laut lachend:
„Tanz, Klawdjuschka! Alle sollen tanzen! Der Herr Inspektor will unterhalten sein!“
Klawdja bewegte kokett die Schultern und quiekte laut. Wolodin tanzte flott vor ihr her, — bald hockte er nieder, drehte sich, bald sprang er auf und klatschte in die Hände. Besonders fein gelang es ihm, die Knie vorzuwerfen und unter dem Knie in die Hände zu klatschen. Der Fußboden dröhnte unter seinen Absätzen. Klawdja freute sich einen so geschickten Tänzer zu haben.
Man war müde geworden und setzte sich an den Tisch, während Klawdja fröhlich lachend in die Küche lief. Man trank Schnaps und Bier, zerschlug Gläser und Flaschen, schrie, lachte, küßte und umarmte einander. Dann liefen Peredonoff und Wolodin in den Sommergarten, — Peredonoff wollte mit seinem Briefe prahlen.
Im Billardzimmer waren einige bekannte Herren. Peredonoff zeigte ihnen den Brief. Ohne Zweifel — der Brief machte großen Eindruck. Man besah ihn voller Ehrfurcht. Rutiloff wurde blaß, murmelte etwas und spie aus.
„Ich war dabei, als ihn der Briefträger brachte!“ sagte Peredonoff. „Ich selber habe ihn geöffnet. Ein Betrug ist also ganz ausgeschlossen.“
In stummer Ehrfurcht sahen ihn die Freunde an. Ein Brief von der Fürstin!
Aus dem Sommergarten ging Peredonoff zur Werschina. Er ging gleichmäßig und schnell, schlenkerte mit den Armen und brummte vor sich hin; sein Gesicht war ganz ausdruckslos, — so ausdruckslos wie das einer Puppe, — nur in seinen Augen glimmte ein gieriges, halberloschenes Feuer.
Der Tag war heiß und klar. Martha saß in der Laube und strickte an einem Strumpf. Unklare, gottesfürchtige Gedanken bewegten sie. Zuerst mußte sie an ihre Sünden denken, dann aber richtete sich ihr Sinn auf erfreulichere Dinge, und sie gedachte der Tugenden; ihre Gedanken wurden traumhaft, nahmen Gestalt an, und in dem Maße, als die Möglichkeit sie in Worte zu fassen abnahm, nahmen sie an klaren, plastischen Linien im Traumgebilde zu. Die Tugenden erschienen ihr als große, weißgekleidete Puppen, die schön und glänzend waren, und ihr Belohnungen versprachen. In den Händen hielten sie klappernde Schlüsselbünde; sie waren mit Brauttüchern bekleidet.
Eine dieser Gestalten war besonders auffallend und glich den andern nur wenig. Sie versprach nichts, blickte vorwurfsvoll, und ihre Lippen bewegten sich, als stießen sie lautlose Drohungen aus; es schien, daß, wenn sie ein Wort aussprechen würde, etwas Schreckliches geschehen müßte. Martha erriet, daß diese Gestalt das Gewissen war. Diese merkwürdige, unheimliche Besucherin war ganz in Schwarz gekleidet, hatte schwarze Augen, schwarzes Haar, — und nun begann sie zu sprechen, — schnell, abgerissen, deutlich. Sie wurde der Werschina immer ähnlicher. Martha gab sich einen Ruck, antwortete irgend etwas auf die an sie gerichtete Frage, antwortete noch ganz im Halbschlaf — und wieder umfingen sie Träume.
War es nun das Gewissen oder die Werschina, die ihr gegenüber saß und schnell, deutlich, aber doch unverständlich erzählte und an etwas merkwürdig Duftendem rauchte, — dieses entschlossene, ruhige Wesen, das zu erwarten schien, daß alles nach ihrem Willen geschähe? Martha versuchte, ihr gerade in die Augen zu blicken, konnte es aber nicht, — und jene lächelte eigentümlich, murmelte, und ihre Augen liefen hin und her und schienen entfernte, unbekannte Dinge zu suchen, vor denen Martha Angst hatte.
Eine laute Unterhaltung weckte sie.
In der Laube stand Peredonoff und begrüßte sich laut mit der Werschina. Martha blickte erschrocken auf. Ihr Herz klopfte, die Augen wollten nicht recht aufgehen, und ihre Gedanken verwirrten sich. Wo war das Gewissen geblieben? Oder war es nicht da? Hatte es überhaupt nicht da zu sein?
„Sie haben sozusagen geschlummert,“ sagte ihr Peredonoff, „Sie haben aus vollen Nüstern geschnarcht. Sie sind eine Schnarre.“
Martha verstand diesen Kalauer nicht, lächelte aber, denn sie hatte an dem Lächeln der Werschina gemerkt, daß von etwas gesprochen wurde, was komisch sein sollte.
„Man müßte Sie Lotte nennen und nicht Martha,“ fuhr Peredonoff fort.
„Warum denn?“ fragte Martha.
„Weil Sie so ‚laut‘ schnarchen.“
Peredonoff setzte sich auf die Bank neben Martha und sagte:
„Ich weiß eine Neuigkeit, etwas sehr Wichtiges.“
„Was für eine Neuigkeit? Wir werden uns freuen, näheres darüber zu erfahren,“ sagte die Werschina, und Martha beneidete sie im stillen um die vielen Worte, die sie gefunden hatte, um die einfache Frage: was denn? zu verkleiden.
„Raten Sie,“ sagte Peredonoff düster, triumphierend.
„Wie soll ich es erraten,“ antwortete die Werschina. „Sagen Sie es einfach, und wir werden Ihre Neuigkeit wissen.“
Peredonoff war es unangenehm, daß man nicht raten wollte. Er schwieg und saß stumpf und schwerfällig da, in ungeschickter Haltung, und blickte starr vor sich nieder. Die Werschina rauchte und lächelte schief, dabei bleckte sie ihre gelben Zähne.
„Warum sollten wir Ihre Neuigkeit erraten,“ sagte sie nach kurzem Stillschweigen, „ich werde Ihnen lieber aus den Karten wahrsagen. Martha, holen Sie geschwind die Karten.“
Martha erhob sich, aber Peredonoff hielt sie böse zurück.
„Bleiben Sie sitzen. Es ist nicht nötig. Ich will nicht. Wahrsagen Sie sich selber und lassen Sie mich in Ruh’. Auf Ihren Leisten werden Sie mich doch nicht umschlagen. Na — ich werde Ihnen eine Sache zeigen! Sie werden die Mäuler aufsperren.“
Peredonoff nahm rasch aus seiner Rocktasche seine Brieftasche, holte Brief und Umschlag hervor und zeigte beides der Werschina ohne es aus der Hand zu geben.
„Sehen Sie,“ sagte er, „hier ist das Kuvert. Und das ist der Brief.“
Er entfaltete den Brief und las ihn langsam vor. Aus seinen Augen blickte eine stumpfsinnige Freude befriedigter Bosheit. Die Werschina schäumte. Bis zum letzten Augenblick hatte sie nicht an die Geschichte mit der Fürstin geglaubt, und nun mußte sie einsehen, daß Marthas Angelegenheit endgültig verspielt war. Sie lächelte schief und gezwungen und sagte:
„Nun, — es ist Ihr Glück.“
Martha saß da, mit einem erstaunten, erschreckten Ausdruck im Gesicht und lächelte fassungslos.
„Hab’ ich’s gewonnen?“ sagte Peredonoff schadenfroh. „Sie hielten mich für einen Idioten, nun erweist es sich, daß ich der Klügere war. Sie redeten z. B. vom Kuvert, — da ist es. Nein, nein — die Sache hat ihre Richtigkeit.“
Er klopfte mit der Faust auf den Tisch, nicht zu stark und nicht laut, — und seine Bewegung und der Klang seiner Worte waren so merkwürdig gleichgültig, als wäre er ein Fremder — und ganz teilnahmlos für seine eigenen Angelegenheiten.
Die Werschina und Martha wechselten spöttisch-verlegene Blicke.
„Was sehen Sie einander so an!“ sagte Peredonoff grob, „da gibt es nichts zu sehn: es ist alles in Ordnung, ich heirate Warwara. Viele junge Dämchen haben mir nachgestellt.“
Die Werschina schickte Martha nach Zigaretten, — und Martha war froh, daß sie fort konnte. Als sie über die Kieswege lief, die mit buntem, herbstlichen Laub bedeckt waren, wurde ihr froh und leicht ums Herz. In der Nähe des Hauses traf sie Wladja, der barfuß ging, — da wurde sie noch fröhlicher und vergnügter.
„Er heiratet Warwara, jetzt ist es sicher,“ sagte sie lebhaft mit gedämpfter Stimme und zog den Bruder in den Flur des Hauses.
Peredonoff aber, ohne auf Marthas Rückkehr zu warten, verabschiedete sich plötzlich.
„Ich habe keine Zeit,“ sagte er, „ich muß heiraten, und nicht etwa Bastschuhe flechten.“
Die Werschina forderte ihn nicht einmal auf, zu bleiben und verabschiedete sich sehr kühl. Sie war außerordentlich aufgebracht: immerhin war doch bis zuletzt ein Schimmer von Hoffnung geblieben, daß Peredonoff Martha nehmen würde. In dem Falle hätte sie Murin geheiratet. Nun gab es aber nichts mehr zu hoffen.
Martha mußte es büßen! An diesem Tage weinte sie viel.
Als Peredonoff aus dem Garten trat, wollte er sich eine Zigarette anstecken. Plötzlich sah er einen Schutzmann, — der stand an einer Straßenecke und knackte Sonnenblumensamen. Peredonoff wurde traurig.
„Wieder so ein Spitzel,“ dachte er, „die suchen nur, wo sie einem am Zeuge flicken können.“
Er wagte es nicht, die Zigarette anzustecken, trat an den Schutzmann heran und fragte schüchtern:
„Herr Schutzmann, wenn ich fragen darf — ist das Rauchen hier erlaubt?“
Der Schutzmann grüßte mit der Hand an der Mütze und erkundigte sich zuvorkommend:
„Das heißt, Euer Hochwohlgeboren, wie meinen Sie das?“
„Ein Zigarettchen,“ erklärte Peredonoff, „ich meine: ist es erlaubt, ein Zigarettchen zu rauchen?“
„Diesbezüglich haben wir keinerlei Vorschriften,“ antwortete der Schutzmann ausweichend.
„Wirklich nicht?“ fragte Peredonoff eindringlich und seine Stimme klang traurig.
„Nein, Euer Hochwohlgeboren. Soll heißen, es ist nicht befohlen, Herrschaften, welche rauchen, aufzuhalten, und daß eine diesbezügliche Vorschrift erlassen wäre, ist mir unbekannt.“
„Falls dem so ist, laß ich es lieber bleiben,“ sagte Peredonoff unterwürfig. „Ich bin durchaus politisch unverdächtig. Ich werfe sogar die Zigarette fort. Ich bin nämlich Staatsrat.“
Peredonoff zerknitterte die Zigarette, warf sie fort und in der Befürchtung, er hätte vielleicht doch ein überflüssiges Wort gesagt, ging er schnell nach Hause. Der Schutzmann blickte ihm kopfschüttelnd nach, endlich kam er zu der Ueberzeugung, der Herr hätte wohl eins über den Durst getrunken; dabei beruhigte er sich und knackte wieder friedlich an seinen Sonnenblumensamen.
„Die Straße hat sich auf den Kopf gestellt,“ murmelte Peredonoff.
Die Straße führte bergan auf einen kleinen Hügel, dann senkte sie sich wieder und diese Biegung der Straße zwischen zwei kleinen Hütten zeichnete sich scharf ab vom blauen, traurigen Abendhimmel. Es war ein Armeleuteviertel, das in sich versunken schien, traurig und ganz ohne Hoffnung.
Die Aeste der Bäume hingen tief über die Zäune, drohend und spöttisch. An einem Kreuzweg stand ein Ziegenbock und stierte stumpf auf Peredonoff.
Plötzlich erschallte hinter einer Straßenecke Wolodins meckerndes Gelächter, er trat vor, um Peredonoff zu begrüßen. Dieser blickte ihn düster an und dachte an den Bock, der eben noch da gestanden und plötzlich verschwunden war.
„Natürlich verwandelt sich Wolodin in einen Bock,“ dachte er. — „Woher sonst die Aehnlichkeit, und außerdem kann man nicht unterscheiden, ob er meckert oder lacht.“
Diese Gedanken beschäftigten ihn so sehr, daß er gar nicht darauf hörte, was Wolodin erzählte.
„Warum schlägst du aus, Pawluschka,“ fragte er traurig.
Wolodin wies die Zähne, meckerte und antwortete:
„Ich schlage keineswegs aus, Ardalljon Borisowitsch, vielmehr begrüßte ich Sie mit einem Handschlag. Vielleicht ist es in Ihrer Heimat üblich, mit den Händen auszuschlagen, bei mir zu Hause indes tut man das nur mit den Füßen; aber die Menschen tun es nicht, sondern mit Verlaub zu bemerken, nur die Pferdchen.“
„Du stößt vielleicht mit Hörnern,“ brummte Peredonoff.
Wolodin fühlte sich gekränkt und sagte mit zitternder Stimme:
„Noch sind mir keine Hörner gewachsen, Ardalljon Borisowitsch; aber es ist möglich, daß Ihnen früher als mir Hörner wachsen werden.“
„Du hast eine lange Zunge und schwatzt immer drauf los,“ sagte Peredonoff böse.
„Wenn Sie das zu meinen belieben, Ardalljon Borisowitsch,“ entgegnete Wolodin eifrig, „so kann ich auch schweigen.“
Er trug eine gekränkte Miene zur Schau und warf die Lippe auf: trotzdem blieb er an Peredonoffs Seite, denn er hatte noch nicht zu Mittag gespeist und rechnete darauf, sich bei Peredonoff sattessen zu können: man hatte ihn nämlich am Morgen, in der ersten Freude über den Brief, eingeladen.
Zu Hause wurde Peredonoff mit einer wichtigen Neuigkeit erwartet. Schon im Vorhause merkte man, daß etwas Außergewöhnliches vorgefallen war, — denn in den Zimmern hörte man ein Hin und Her und erschreckte Ausrufe. Peredonoff glaubte, das Essen wäre noch nicht gerichtet: man hätte ihn kommen sehn, wäre erschrocken über die Verzögerung und beeilte sich nun. Es berührte ihn angenehm, daß man sich vor ihm fürchtete. Es erwies sich aber, daß etwas anderes geschehen war. Warwara kam in das Vorhaus gelaufen und schrie:
„Der Kater ist wieder da!“
Vor lauter Schrecken hatte sie Wolodin nicht gleich bemerkt. Sie war wie gewöhnlich unordentlich gekleidet: — eine fleckige Bluse über einem grauen, unsauberen Rock, breitgetretene Pantoffeln an den bloßen Füßen; das Haar zerzaust und schlecht gekämmt. Aufgeregt erzählte sie:
„Oh diese Irischka! Aus purer Bosheit hat sie das getan. Wieder kam irgend ein Knabe gelaufen und warf den Kater mitten ins Zimmer, und der Kater hat Schellen am Schwanz, — die bimmeln und lärmen. Jetzt ist er unter dem Sofa und will nicht heraus.“
„Was soll man da tun?“ fragte er.
„Helfen Sie, Pawel Wassiljewitsch,“ bat Warwara, „stochern Sie ihn unter dem Sofa heraus.“
„Wird besorgt, wird besorgt,“ kicherte Wolodin und ging in den Saal.
Der Kater wurde irgendwie hervorgezerrt und man nahm ihm die Schellen vom Schwanz. Peredonoff suchte nach Kletten und machte sich daran den Kater damit zu bewerfen. Dieser fauchte wütend und lief in die Küche.
Peredonoff war müde geworden von der Spielerei mit dem Kater und setzte sich in den Sessel, wie er es gewöhnlich zu tun pflegte: die Ellbogen auf die Armlehnen gestützt, die Hände gefaltet, die Beine übereinander geschlagen, das Gesicht verdrießlich und unbeweglich.
Den zweiten Brief der Fürstin bewahrte Peredonoff mit größerer Sorgfalt als den ersten: er trug ihn stets bei sich im Portefeuille, zeigte ihn aber jedermann und setzte dann eine geheimnisvolle Miene auf. Er achtete scharf darauf, daß keiner ihm den Brief entwenden konnte, gab ihn niemandem in die Hand und verwahrte ihn, wenn er ihn gezeigt hatte, sorgfältig in seinem Portefeuille, das er in eine Seitentasche seines Rockes steckte, den er dann fest zuknöpfte. Dabei blickte er streng und von oben herab auf die Leute, mit denen er sprach.
„Warum trägst du ihn immer bei dir?“ fragte Rutiloff zuweilen lachend.
„Für alle Fälle,“ erklärte Peredonoff finster, „wer kennt sich aus! Ihr stehlt ihn noch.“
„Du tust genau so, als lebten wir in Sibirien,“ sagte Rutiloff, lachte und klopfte Peredonoff auf die Schulter.
Peredonoff aber bewahrte seine durch nichts zu störende, hochmütige Ruhe. Ueberhaupt war er in der letzten Zeit aufgeblasener als gewöhnlich. Oft prahlte er:
„Nun werde ich Inspektor. Ihr könnt hier versauern; ich aber werde zwei Bezirke unter mir haben. Vielleicht auch drei. Oho!“
Er war fest davon überzeugt, daß er in kürzester Zeit die neue Stelle antreten würde. Dem Lehrer Falastoff hatte er mehr als einmal versprochen:
„Ich werde dich schon herausreißen, Freund!“
Das hatte zur Folge, daß der Lehrer Falastoff mit außerordentlicher Ehrerbietung zu Peredonoff aufblickte.
Peredonoff ging sehr oft zur Kirche. Er stellte sich auf einen sichtbaren Platz und bekreuzigte sich entweder viel öfter, als notwendig war, oder er stand ganz steif da und blickte stumpf vor sich hin. Manchmal schien es ihm, als versteckten sich Spione hinter den Säulen: von dort guckten sie vor und bemühten sich, ihn zum Lachen zu bringen. Er aber widerstand der Versuchung.
Das Lachen, — das leise Lachen, Gekicher und Geflüster der Rutiloffschen Mädchen klang Peredonoff in den Ohren, es wuchs manchmal ganz unglaublich an, als lachten diese hinterlistigen Mädchen dicht vor seinen Ohren, um auch ihn zum Lachen zu bringen, — ihn so zu vernichten. Aber auch dieser Versuchung widerstand Peredonoff.
Zuweilen erschien ihm das graue gespenstische Tierchen; er sah, wie es aus dem Weihrauch hervorschoß; seine kleinen Aeuglein blitzten in Flammen, und mit einem leisen Pfeifen schoß es durch die Luft, dann aber glitt es zu Boden und tummelte sich zu Füßen der Kirchenbesucher, machte sich über Peredonoff lustig und quälte ihn unablässig. Natürlich wollte es Peredonoff einen Schreck einjagen, damit er noch vor Schluß des Gottesdienstes die Kirche verlassen sollte. Er aber erriet diese hinterlistigen Absichten, und widerstand auch dieser Versuchung.
Die gottesdienstlichen Verrichtungen, — die nicht etwa allein dem Wortlaut nach oder durch die Zeremonien, sondern durch ihren tiefen, innerlichen Gehalt auf so viele Leute wirken, — waren Peredonoff ganz unverständlich. Darum fürchtete er sie. Der aufsteigende Weihrauch erschreckte ihn, — er sah nur die rätselhaften Rauchgebilde.
„Warum schwenkt er das Rauchfaß?“ — dachte er.
Die Gewänder der Geistlichen hielt er für grobe, lästig-bunte Lappen, und wenn er auf den reichgeschmückten Priester blickte, so ärgerte er sich, und ihn kam die Lust an, das Meßgewand zu zerreißen, die heiligen Gefäße zu zerschlagen. Die wirklichen Gebräuche und Mysterien schienen ihm böse Zauberei zu sein, zu dem Zwecke erfunden, das einfache Volk zu betören, zu knechten.
„Er hat die Hostie in den Wein gebrockt,“ — dachte er böse über den Priester, — „ein billiges Weinchen, sie betrügen das Volk, um mehr Geld für ihre Amtshandlungen herauszuschlagen.“
Das ewige Mysterium der Verwandlung gewöhnlichen Weines und Brotes zu einer Kraft, welche die Fesseln des Todes bricht, war ihm für immer verschlossen. Eine wandelnde Leiche! Eine unsinnige Verquickung seines Unglaubens an einen lebendigen Gott und an den Sohn mit seinem Glauben an die Zauberei!
Man ging aus der Kirche. Der Dorfschullehrer Matschigin, ein einfältiger, junger Mann, stand neben einigen jungen Mädchen, lächelte und plauderte flott. Peredonoff überlegte, daß es unpassend wäre, wie sich dieser junge Mann in Gegenwart des künftigen Inspektors gehen ließe. Matschigin trug einen Strohhut. Aber Peredonoff erinnerte sich, ihn einmal im Sommer vor der Stadt gesehen zu haben, und damals hatte er eine Dienstmütze mit der Kokarde getragen. Peredonoff beschloß, dies zur Anzeige zu bringen. Die Gelegenheit war günstig, denn auch der Inspektor Bogdanoff war anwesend. Peredonoff trat auf ihn zu und sagte:
„Ihr Matschigin da trägt eine Dienstmütze mit der Kokarde. Er will den Herren spielen.“
Bogdanoff erschrak, zitterte und sein graues Bärtchen erbebte.
„Das darf er nicht, er hat kein Recht es zu tun,“ sagte er bekümmert und zwinkerte mit den roten Aeuglein.
„Freilich hat er kein Recht dazu, und doch tut er’s,“ beklagte sich Peredonoff. „Man muß sie stramm halten, ich hab es Ihnen längst gesagt. Jeder klotzfüßige Bauer könnte sonst die Kokarde anlegen, und was sollte dabei herauskommen.“
Bogdanoff, dem Peredonoff schon früher einen Schreck eingejagt hatte, kam ganz aus der Fassung.
„Wie untersteht er sich nur!“ sagte er weinerlich. „Ich werde ihn sofort zitieren, sofort, und werde es ihm auf das Strengste verbieten.“
Er verabschiedete sich von Peredonoff und lief eingeschüchtert nach Hause.
Wolodin ging neben Peredonoff und sagte mit vorwurfsvoll meckernder Stimme:
„Er trägt eine Kokarde. Hat man schon so was gehört! Als ob er einen Rang hätte! Es ist unerhört!“
„Auch du darfst keine Kokarde tragen,“ sagte Peredonoff.
„Wenn ich es nicht darf, so tu ich es auch nicht,“ entgegnete Wolodin. „Das heißt, zuweilen trage auch ich die Kokarde, aber ich weiß doch, wo und wann ich es tue. Wenn ich zum Beispiel vor die Stadt gehe, so lege ich sie an. Mir macht es Vergnügen, und niemand kann es verbieten. Treffe ich aber ein Bäuerlein, so steh ich hoch in seiner Achtung.“
„Die Kokarde paßt nicht zu deiner Schnauze,“ sagte Peredonoff. „Außerdem pack dich bitte: du hast mich mit deinen Hufen ganz bestaubt.“
Wolodin schwieg gekränkt, blieb aber an Peredonoffs Seite. Dieser sagte besorgt:
„Auch die Rutiloffschen Göhren müßte man angeben. Die kommen nur in die Kirche, um zu schwatzen und zu lachen. Sie schminken sich, staffieren sich aus und gehen hin. Dabei stehlen sie Weihrauchwacholder und fabrizieren daraus ihre Parfums, — es riecht immer so verdächtig von ihnen.“
„Nein! Ist es möglich!“ sagte Wolodin, schüttelte den Kopf und glotzte stumpf vor sich hin.
Ueber die Erde glitt der Schatten einer Wolke und Peredonoff fürchtete sich. In den Staubwolken, im Winde huschte das graue, gespenstische Tierchen. Wenn sich das Gras vor dem Winde bewegte, glaubte Peredonoff das Tierchen liefe da durch, dann biß es ihn und verschwand wieder.
„Warum wächst das Gras auf den Straßen?“ dachte er. „Das ist Unordnung. Man muß es ausjäten.“
Der Ast eines Baumes bewegte sich, krümmte sich, wurde schwarz, krächzte und flog auf. Peredonoff fuhr zusammen. Er schrie wild auf und lief nach Hause. Wolodin folgte ihm ängstlich. Seine Augen quollen vor und blickten stier. Mit der einen Hand hielt er den steifen Hut, mit der andern fuchtelte er mit seinem Stöckchen.
Noch am selben Tage ließ Bogdanoff Matschigin kommen. Bevor Matschigin in das Haus des Inspektors trat, blieb er auf der Straße stehen, den Rücken zur Sonne gekehrt und versuchte mit den fünf Fingern das Haar zu glätten, den eignen Schatten gewissermaßen als Spiegel benutzend.
„Junger Mann, was fällt Ihnen ein? Was tun Sie da für Sachen?“ legte Bogdanoff los.
„Worum handelt es sich, wenn ich fragen darf,“ fragte Matschigin zuvorkommend, drehte den Strohhut zwischen den Fingern und wippte mit dem linken Bein.
Bogdanoff forderte ihn nicht auf Platz zu nehmen, denn er hatte die Absicht, ihn gehörig vorzunehmen.
„Was ist das nur, was ist das nur, junger Mann, Sie tragen eine Kokarde? Wie konnten Sie nur den Diensteid schwören? Was?“ fragte er, sich zu einem strengen Ton zwingend und das graue Bärtchen böse schüttelnd.
Matschigin wurde rot, antwortete aber keck:
„Was ist denn dabei? Habe ich nicht das Recht, es zu tun?“
„Sind Sie denn ein Beamter? Was? Ein Beamter?“ ereiferte sich Bogdanoff. „Ein schöner Beamter — das! Was? Der Abc-Registrator! Was?“
„Es ist das Abzeichen meines Lehrerberufs,“ sagte Matschigin keck und lächelte plötzlich süß, weil ihm die Bedeutung seines Lehrerberufs zum Bewußtsein kam.
„Nehmen Sie ein Stöckchen in die Hand, ein Stöckchen; da haben Sie ein Abzeichen Ihres Berufs,“ riet ihm Bogdanoff und schüttelte mißbilligend den Kopf.
„Aber das geht doch nicht, Sergeji Potapjitsch,“ sagte Matschigin mit gekränkter Stimme, „was ist denn ein Stöckchen! Jedermann kann ein Stöckchen tragen, die Kokarde aber fördert das Prestige.“
„Was für ein Prestige, was? Was meinen Sie eigentlich? Was für ein Prestige?“ wetterte Bogdanoff, „wozu brauchen Sie ein Prestige, was? Sind Sie etwa jemandes Vorgesetzter?“
„Aber ich bitte Sie, Sergeji Potapjitsch,“ bewies Matschigin eindringlich, „bei der Dorfbevölkerung, die doch nur geringe Kultur besitzt, bedeutet das eine unbedingte Zunahme der Hochachtung, — in diesem Jahr grüßten sie alle viel tiefer.“
Matschigin streichelte selbstgefällig sein rothaariges Schnurrbärtchen.
„Es geht nicht, junger Mann, es geht ganz und gar nicht,“ sagte Bogdanoff wehmütig und schüttelte den Kopf.
„Erlauben Sie doch, Sergeji Potapjitsch, ein Lehrer ohne Kokarde ist dasselbe wie der britische Löwe ohne Schwanz,“ versicherte Matschigin; „einfach eine Karikatur.“
„Was tut denn der Schwanz zur Sache? Was? Was soll das mit dem Schwanz? Was?“ redete Bogdanoff aufgeregt. „Die Politik gehört nicht hierher, was! Ist es Ihre Sache, sich um Politik zu kümmern? Was! Um Gotteswillen, junger Mann, tun Sie mir den Gefallen und legen Sie die Kokarde ab. Es geht einfach nicht. Es geht nicht. Gott verhüte es, daß jemand davon erfährt.“
Matschigin zuckte die Schultern, er wollte noch etwas antworten, aber Bogdanoff ließ ihn nicht zu Worte kommen, — denn seiner Ansicht nach war ihm etwas Glänzendes eingefallen.
„Sehen Sie mal, zu mir sind Sie doch ohne Kokarde gekommen, — was! — ohne Kokarde. Sie fühlten also selber, daß es sich nicht schickt.“
Matschigin war um eine Antwort verlegen, fand sich aber schnell und sagte:
„Da wir Dorfschullehrer sind, so bedürfen wir auch eines Privilegiums für das Dorf, in der Stadt zählen wir sowieso zur Intelligenz.“
„Nein, junger Mann, es geht nicht; daß Sie es wissen!“ sagte Bogdanoff ärgerlich. „Es geht nicht, und wenn ich noch einmal davon höre, so sind Sie entlassen.“
Die Gruschina veranstaltete von Zeit zu Zeit kleine Abendunterhaltungen für junge Leute. Mit der Zeit hoffte sie sich einen Mann zu angeln. Aus Anstandsrücksichten lud sie auch ihre verheirateten Bekannten ein.
Ein solcher Abend wurde heute veranstaltet und die Gäste waren schon früh erschienen.
Im Gastzimmer der Gruschina hingen einige Bilder an den Wänden, die mit einem undurchsichtigen Mullstoff dicht verhängt waren. Uebrigens waren es keineswegs unanständige Bilder. Wenn die Gruschina mit einem verschlagenen, lüsternen Lächeln die leichten Vorhänge lüftete, konnten die Gäste nackte Weiber bewundern, die zum Ueberfluß noch schlecht gezeichnet waren.
„Was gibt es da zu sehen, — ein verwachsenes Weib,“ sagte Peredonoff verdrießlich.
„Absolut nicht verwachsen,“ verteidigte die Gruschina das Bild, „sie nimmt so eine Stellung ein.“
„Sie ist verwachsen,“ wiederholte Peredonoff. „Außerdem hat sie schielende Augen, ganz so wie Sie.“
„Sie verstehen nichts von der Kunst!“ sagte die Gruschina gekränkt; „es sind ausgezeichnet teure Gemälde. Die Künstler malen das mit Vorliebe.“
Peredonoff lachte laut auf: es war ihm eingefallen, was für einen Rat er Wladja in diesen Tagen gegeben hatte.
„Warum wiehern Sie?“ fragte die Gruschina.
„Der Gymnasiast Nartanowitsch wird seiner Schwester Martha das Kleid ansengen,“ erklärte er, „ich habe es ihm geraten.“
„Warum sollte er es ansengen, er ist doch kein Dummkopf!“ entgegnete die Gruschina.
„Natürlich wird er es tun,“ versicherte Peredonoff nachdrücklich! „Geschwister zanken sich immer untereinander. Als ich jung war, unternahm ich immer irgend etwas gegen meine Schwestern, — die kleineren prügelte ich und den älteren verdarb ich die Kleider.“
„Das ist nicht überall so,“ sagte Rutiloff, „ich zanke mich nie mit meinen Schwestern.“
„Was tust du denn mit ihnen, — du küßt sie wohl?“ fragte Peredonoff.
„Du bist ein Lump und ein Schwein, Ardalljon Borisowitsch. Ich werde dich ohrfeigen,“ sagte Rutiloff sehr ruhig.
„Ich kann solche Scherze nicht leiden,“ antwortete Peredonoff und rückte zur Seite.
„Er bringt es wirklich fertig, mich zu schlagen,“ dachte Peredonoff. „Er hat so ein boshaftes Gesicht.“
„Sie besitzt nur das eine schwarze Kleid,“ fuhr er fort von Martha zu erzählen.
„Die Werschina wird ihr ein neues machen lassen,“ sagte Warwara mit neidischer Bosheit. „Zur Hochzeit wird sie ihr die ganze Aussteuer herrichten. Eine Schönheit, vor der die Pferde scheu werden,“ murmelte sie leise und blickte schadenfroh auf Murin.
„Auch für Sie ist es höchste Zeit, Hochzeit zu machen,“ sagte die Prepolowenskaja. „Worauf warten Sie noch, Ardalljon Borisowitsch?“
Das Ehepaar Prepolowenskaja hatte schon eingesehen, daß Peredonoff nach dem zweiten Brief fest entschlossen war, Warwara zu heiraten. Sie selber aber glaubten an die Echtheit des Briefs und behaupteten, daß sie immer auf Warwaras Seite gestanden hätten. Es hatte für sie keinen Zweck, sich mit Peredonoff zu entzweien, — denn es war vorteilhaft, mit ihm Karten zu spielen. Und Genja, da war nichts zu machen, mußte eben warten, — bis sich ein anderer Freier finden würde.
„Natürlich müssen Sie sich trauen lassen,“ sagte Prepolowenskji, „das ist ein gutes Werk und wird der Fürstin gefallen. Es wird der Fürstin angenehm sein, wenn Sie heiraten, und das wird ihr auch gefallen, sintemal Sie ein gutes Werk verrichten, und dann ist alles in Ordnung. Und — man nehme die Sache wie man will — es ist immer ein gutes Werk und wird der Fürstin gefallen.“
„Ich bin ganz derselben Meinung,“ sagte die Prepolowenskaja.
Prepolowenskji war ins Reden hereingekommen und konnte nicht an sich halten, weil er aber bemerkte, daß alle nach und nach von ihm fortgegangen waren, setzte er sich neben einen jungen Beamten und erklärte ihm dieselbe Sache.
„Ich bin entschlossen, mich trauen zu lassen,“ sagte Peredonoff, „wir wissen nur beide nicht, wie das anzufangen ist. Etwas muß doch geschehen, ich weiß nur nicht was.“
„Da ist nichts besonders dabei,“ sagte die Prepolowenskaja, „wollen Sie, ich und mein Mann werden Ihnen alles einrichten. Sie brauchen sich um gar nichts zu kümmern.“
„Gut,“ sagte Peredonoff, „ich bin einverstanden. Es muß nur alles reichlich und anständig eingerichtet werden. Ums Geld soll es mir nicht leid tun.“
„Seien Sie unbesorgt, Sie werden zufrieden sein,“ sagte die Prepolowenskaja.
Peredonoff fuhr fort, Bedingungen zu stellen:
„Manche Leute kaufen aus Geiz schmale, silbervergoldete Ringe, ich will das aber nicht, es müssen echt goldene sein. Und ich möchte sogar statt der Trauringe Trauarmbänder bestellen, — denn das ist teurer und vornehmer.“
Alle lachten.
„Armbänder gehen nicht,“ sagte die Prepolowenskaja flüchtig lächelnd, „es müssen Ringe sein.“
„Warum denn?“ fragte Peredonoff geärgert.
„Man tut es eben nicht.“
„Man tut es vielleicht doch,“ sagte Peredonoff ungläubig. „Ich werde den Popen fragen. Der muß es besser wissen.“
Rutiloff kicherte und gab den Rat:
„Bestell dir doch Traugürtel, Ardalljon Borisowitsch.“
„So viel Geld habe ich doch nicht,“ antwortete Peredonoff und merkte nicht, daß man sich über ihn lustig machte. „Ich bin kein Bankier. Ich träumte bloß vor einiger Zeit, daß ich in einem Atlasfrack getraut wurde, und wir beide trugen goldene Armbänder. Und hinter uns standen zwei Schuldirektoren, die hielten die Kränze über uns und sangen Halleluja.“
„Ich habe heute auch etwas Interessantes geträumt,“ erklärte Wolodin, „ich weiß nur nicht, was es bedeuten soll. Ich saß auf einem Thron und hatte eine Krone auf dem Kopf, vor mir wuchs aber Gras, und im Grase weideten Lämmer, lauter Lämmer, lauter Lämmer, bäh—bäh—bäh. Und die Lämmer gingen hin und her, schüttelten so mit den Köpfen und machten immerzu: bäh—bäh—bäh.“
Wolodin ging durch die Zimmer, schüttelte den Kopf, warf die Lippen auf und meckerte. Die Gäste lachten. Wolodin setzte sich wieder, blickte alle fromm an, zwinkerte vor Vergnügen mit den Augen und lachte, wie er es immer tat, mit seiner blökenden, schafsähnlichen Stimme.
„Nun, und was weiter?“ fragte die Gruschina und zwinkerte ihren Gästen zu.
„Nun, es waren eben lauter Lämmer, lauter Lämmer, und ich wachte auf,“ schloß Wolodin.
„Ein Schaf hat die Träume eines Schafes,“ brummte Peredonoff, „ein gefundenes Fressen für dich: Hammelkönig.“
„Ich aber hatte einen Traum,“ sagte Warwara mit einem schmutzigen Lächeln auf den Lippen, „der läßt sich in Gegenwart von Herren nicht erzählen; — Ihnen allein will ich ihn erzählen.“
„O, liebste Warwara Dmitriewna, das ist ja ganz mein Fall,“ antwortete die Gruschina, lächelte und zwinkerte allen zu.
„Erzählen Sie ungeniert,“ sagte Rutiloff, „wir sind bescheidne Leute, genau so wie Damen.“
Auch die übrigen, anwesenden Herren bestürmten Warwara und die Gruschina, sie sollten erzählen; die beiden aber sahen einander an, lachten gemein und erzählten nichts.
Man setzte sich an die Kartentische. Rutiloff versicherte allen, daß Peredonoff vortrefflich spiele. Peredonoff selber glaubte es. Aber heute, wie auch sonst immer, verlor er, Rutiloff dagegen gewann. Darüber war er sichtlich erfreut und redete lebhafter als gewöhnlich.
Das graue, gespenstische Tierchen quälte Peredonoff. Es versteckte sich irgendwo ganz in seiner Nähe, guckte zuweilen vor, entweder unter dem Tisch oder hinter dem Rücken eines der Anwesenden und versteckte sich wieder. Es schien, als erwartete es irgend etwas. Es war schrecklich.
Sogar vor den Bildern auf den Karten fürchtete sich Peredonoff. Die Damen immer zu zweit nebeneinander.
Wo ist denn die dritte? — dachte er.
Stumpfsinnig betrachtete er die Pik-Dame und drehte die Karte um, — denn die dritte konnte sich vielleicht hinter dem Hemd versteckt haben.
Rutiloff sagte:
„Ardalljon Borisowitsch guckt seiner Dame hinters Hemd.“
Alle lachten laut.
Zwei ganz junge Polizeibeamte saßen etwas abseits und spielten Schwarzen-Peter. Das Spiel ging rasch vor sich. Der Gewinnende lachte vor Freude und zeigte seinem Partner eine lange Nase. Dieser aber ärgerte sich.
Es roch nach warmen Speisen. Die Gruschina bat ihre Gäste in das Eßzimmer. Alle gingen hinüber, stießen einander und genierten sich. Irgendwie nahm man Platz.
„Essen Sie, meine Herrschaften,“ bewirtete die Gruschina, „essen Sie, meine Freunde, schlagen Sie sich die Bäuchlein voll, bis zum Halse hinauf.“
„Es gereicht der Wirtin zur Ehre, wenn ihre Pirogge gegessen wird,“ rief Murin fröhlich.
Der Anblick der Schnapsflaschen tat ihm wohl; auch freute er sich, daß er im Spiel gewonnen hatte.
Eifriger als alle andern aßen Wolodin und zwei junge Beamte, — sie suchten sich die besten und größten Stücke aus und verschlangen den Kaviar mit wahrem Heißhunger. Die Gruschina lachte gezwungen und sagte:
„Pawel Iwanowitsch ist betrunken und hat doch scharfe Augen. Er läßt das Brot liegen und macht sich an die Pastete.“
Als hätte sie für ihn den Kaviar gekauft! Und unter dem Vorwand, sie müsse die Damen mit diesen schönen Sachen bewirten, stellte sie sie recht weit von ihm fort. Wolodin aber ließ sich die Laune nicht verderben und begnügte sich mit dem, was man ihm gelassen hatte: er hatte sich beeilt, gleich im Anfang recht viel vom Allerbesten zu essen, so daß ihm jetzt alles gleich sein konnte.
Peredonoff blickte auf die Kauenden, und es schien ihm, daß alle über ihn lachten. Warum denn? Worüber denn? Wütend aß er alles, was ihm gerade unter die Finger kam; er aß unappetitlich und gierig.
Nach dem Essen wurde wieder gespielt. Doch bald wurde es Peredonoff langweilig. Er warf die Karten auf den Tisch und sagte:
„Daß euch der Teufel hole! Ich habe kein Glück! Wie langweilig! Warwara, komm, — wir gehen nach Hause.“
Gleichzeitig mit ihm erhoben sich auch die andern.
Im Vorhaus bemerkte Wolodin, daß Peredonoff einen neuen Spazierstock hatte. Er betrachtete ihn grinsend von allen Seiten und fragte:
„Ardascha, warum sind denn die Finger hier zur Faust geballt? Was bedeutet das?“
Peredonoff nahm ihm ärgerlich den Stock aus den Händen, hielt den Griff, der eine aus Ebenholz geschnitzte Faust darstellte, an Wolodins Nase und sagte:
„Du verdientest eine saftige Ohrfeige.“
Wolodin machte ein gekränktes Gesicht.
„Mit Verlaub, Ardalljon Borisowitsch,“ sagte er, „ich pflege Brot mit Saft zu essen, keineswegs aber Ohrfeigen mit Saft.“
Peredonoff hörte nicht auf ihn, wickelte sich den Schal vorsorglich um den Hals und knöpfte seinen Mantel fest zu. Rutiloff sagte lachend:
„Warum packst du dich so ein, Ardalljon Borisowitsch? Es ist doch warm.“
„Gesundheit geht über alles,“ antwortete Peredonoff.
Auf der Straße war es still; die Straße hatte sich zur Nacht gleichsam niedergelegt und schien ganz leise zu schnarchen. Es war dunkel, feucht und traurig. Am Himmel zogen schwere Wolken. Peredonoff brummte:
„Die Dunkelheit! und wozu?“
Er fürchtete sich nicht, denn er ging mit Warwara und nicht allein.
Bald darauf fing es an zu regnen, ein feiner, rascher, anhaltender Regen. Alles war still geworden, und nur der Regen murmelte irgend etwas, zudringlich und schnell, als verschlucke er sich daran, — undeutliche, traurige und langweilige Sachen.
Peredonoff fühlte in der Natur die Spiegelung seiner eignen Traurigkeit, seiner Furcht, unter der Larve ihrer Feindseligkeit zu ihm, aber für jenes innere Leben der ganzen Natur, das einer äußerlichen Bestimmung nicht unterliegen kann, für jenes Leben, das allein imstande ist, eine tiefe, unantastbare, aufrichtige Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und der Natur herzustellen, für dieses Leben hatte er kein Gefühl. Darum erschien ihm auch die Natur ganz durchdrungen von kleinlichen, menschlichen Gefühlen. Verblendet durch Selbsttäuschungen, durch seine verschlossene Lebensführung, hatte er kein Verständnis für das dionysische, elementare Entzücken, das sich an der Natur berauscht, sie einsaugt. Er war blind und jämmerlich, wie es viele von uns sind.
Das Ehepaar Prepolowenskji hatte es auf sich genommen, die Hochzeitsfeierlichkeiten auszurichten. Die Trauung sollte in einem Dorfe stattfinden, das etwa 6 Werst vor der Stadt lag: denn für Warwara mußte es peinlich sein, sich in der Stadt trauen zu lassen, nachdem sie schon so viele Jahre mit Peredonoff zusammengelebt hatte, unter dem Vorwand, sie wäre seine Kousine. Der Tag der Trauung wurde geheim gehalten: die Prepolowenskjis hatten das Gerücht verbreitet, die Trauung würde am Freitag stattfinden; in der Tat aber sollten die beiden am Mittwoch im Laufe des Tages getraut werden. Man hatte das getan, damit die neugierigen Städter nicht hinauskämen. Warwara schärfte es Peredonoff immer wieder ein:
„Versprich dich nicht, Ardalljon Borisowitsch, wegen der Trauung, sonst kommen sie noch und werden die Feier stören.“
Das zu den Feierlichkeiten erforderliche Geld gab Peredonoff nur widerwillig und sich über Warwara lustig machend. Bisweilen holte er seinen Stock, dessen Griff die geballte Faust darstellte und sagte zu Warwara:
„Küß diese Faust, dann sollst du Geld haben. Küßt du sie nicht — so gibt’s kein Geld.“
Warwara küßte die Faust.
„Was ist denn dabei; die Lippen werden davon nicht platzen,“ sagte sie.
Der Termin der Trauung wurde bis kurz vor dem festgesetzten Tage sogar vor den Marschälen geheim gehalten, damit sie davon nicht weiter sprächen. Zuerst wurden Rutiloff und Wolodin gebeten Marschäle zu sein, — beide erklärten sich mit Vergnügen einverstanden. Rutiloff erwartete, eine amüsante Anekdote zu erleben, und Wolodin schmeichelte es außerordentlich, eine so hervorragende Rolle bei einem so wichtigen Ereignis spielen zu dürfen. Dann aber kam Peredonoff der Gedanke — ein Marschal wäre für ihn zu wenig. Er sagte:
„Für dich, Warwara, langt einer; ich aber brauche zwei, einer wäre zu wenig, — denn es ist schwer, über mir die Hochzeitskrone zu halten; ich bin ein großer Mensch.“
So bat Peredonoff noch Falastoff Marschal zu sein. Warwara knurrte:
„Was Teufel soll denn der? Zwei sind schon da.“
„Er trägt eine goldene Brille; so ist es vornehmer,“ sagte Peredonoff.
Am Morgen des Hochzeitstages wusch sich Peredonoff, wie gewöhnlich, mit warmem Wasser, um sich nicht zu erkälten, und dann verlangte er Schminke:
„Ich muß mich jetzt jeden Tag schminken, sonst wird man noch denken, ich wäre hinfällig, und wird mich nicht zum Inspektor ernennen.“
Warwara tat es um ihre Schminke leid, doch mußte sie sie hergeben, — und Peredonoff färbte sich die Backen. Er murmelte:
„Auch Weriga schminkt sich, um jünger auszusehen. Ich kann mich doch nicht mit weißen Backen trauen lassen.“
Hierauf sperrte er sich im Schlafzimmer ein und beschloß — sich zu zeichnen, damit Wolodin sich nicht unterschieben konnte. Auf die Brust, auf den Bauch, auf die Ellenbogen, und sonst auf verschiedene Körperteile schmierte er mit Tinte den Buchstaben „P“.
Man müßte auch Wolodin zeichnen, aber wie soll man das anfangen? Wenn er es bemerkt, wird er es wieder abreiben, dachte Peredonoff bekümmert.
Dann kam ihm der Gedanke, es wäre so übel nicht, wenn er sich ein Korsett anzöge, denn möglicherweise würde man ihn für einen Greis halten, wenn er zufällig gebeugt dastehen würde. Er verlangte von Warwara ein Korsett. Doch erwies sich, daß Warwaras sämtliche Korsetts ihm zu eng waren, — kein einziges ließ sich schließen.
„Man hätte es früher kaufen müssen,“ brummte er ärgerlich. „An nichts denken sie.“
„Welcher Mann trägt denn ein Korsett,“ antwortete Warwara, „keiner tut es.“
„Weriga trägt eins,“ sagte Peredonoff.
„Weriga ist eben ein Greis; aber du, Ardalljon Borisowitsch, bist gottlob ein vollblütiger Mann.“
Peredonoff lächelte selbstgefällig, blickte in den Spiegel und sagte:
„Natürlich, ich werde noch anderthalb Jahrhunderte leben.“
Der Kater nieste unter dem Bett. Warwara sagte lächelnd:
„Auch der Kater niest, das heißt also: es stimmt.“
Doch Peredonoff wurde plötzlich verdrießlich: Er fürchtete sich vor dem Kater, und sein Niesen erschien ihm als eine böse List.
Das fehlte noch, daß er mir etwas vorniest, dachte er und kroch unter das Bett, um den Kater zu verjagen. Dieser miaute wild, schmiegte sich an die Wand und plötzlich schlüpfte er mit einem lauten Miauen unter Peredonoffs Händen durch, aus dem Zimmer hinaus.
„Holländischer Teufel!“ schimpfte Peredonoff böse.
„Das ist er: ein Teufel,“ rief auch Warwara, „er ist ganz verwildert, er läßt sich nicht einmal streicheln, — als wäre der Teufel in ihn gefahren.“
Die Prepolowenskjis hatten schon früh am Morgen die Marschäle benachrichtigt. Gegen zehn Uhr versammelten sich alle bei Peredonoff. Die Gruschina war gekommen und Sophie mit ihrem Mann. Ein Schnaps und Imbiß wurde gereicht. Peredonoff aß nur wenig und überlegte traurig, wie er es anstellen sollte, um sich noch mehr von Wolodin zu unterscheiden.
Er hat sich Locken brennen lassen wie ein Schaf, dachte er gereizt und plötzlich fiel es ihm ein, daß auch er sich auf eine besondere Art frisieren lassen könnte. Er stand auf und sagte:
„Trinkt und eßt, mir soll’s nicht leid tun; ich werde unterdessen zum Friseur gehen und mich spanisch frisieren lassen.“
„Wie ist denn das — spanisch?“ fragte Rutiloff.
„Du wirst ja schon sehen.“
Als Peredonoff gegangen war, sagte Warwara:
„Immer hat er neue Einfälle! Ueberall sieht er Teufel. Er sollte weniger Schnaps trinken, der verfluchte Säufer!“
Die Prepolowenskaja lächelte verschmitzt und sagte:
„Wenn ihr getraut seid, wird Ardalljon Borisowitsch eine Stelle bekommen und dann wird er sich beruhigen.“
Die Gruschina kicherte. Sie amüsierte sich über das Geheimnisvolle dieser Hochzeit und brannte darauf, irgend einen großen Skandal in Szene zu setzen, nur ohne sich selber dabei die Finger zu verbrennen. Unter der Hand hatte sie gestern abend einigen ihrer Freunde Ort und Stunde der Trauung genannt. Und heute in aller Frühe hatte sie den jüngsten Sohn des Schlossers kommen lassen, ihm einen Fünfer gegeben und ihm aufgetragen, am Abend vor der Stadt zu warten, bis die Neuvermählten angefahren kommen würden, um dann in ihren Wagen Schmutz und Papierfetzen zu werfen. Der Schlossersohn war zu allem bereit und schwor, er würde nichts verraten. Die Gruschina aber erinnerte ihn:
„Den Tscherepin habt ihr doch verraten, als man euch Prügel gab.“
„Wir waren halt Esel,“ sagte der Schlossersohn, „aber jetzt könnte man uns aufhängen, ganz egal.“
Und zur Bekräftigung seines Eides aß der Junge ein Häufchen Erde. Dafür gab ihm die Gruschina noch drei Kopeken.
Im Frisiersalon wünschte Peredonoff den Inhaber selber zu sprechen. Es war ein junger Mensch, der vor kurzem die städtische Schule absolviert hatte und oft Bücher aus der Volksbibliothek lieh. Er war gerade dabei, einem Gutsbesitzer, den Peredonoff nicht kannte, das Haar zu schneiden. Als er mit seiner Arbeit fertig war, trat er an Peredonoff heran.
„Laß ihn erst gehen!“ sagte Peredonoff böse.
Der Gutsbesitzer zahlte und ging.
Peredonoff setzte sich vor den Spiegel.
„Haarschneiden und frisieren,“ sagte er. „Ich habe heute eine wichtige Sache vor, eine besonders wichtige, — und darum sollst du mich spanisch frisieren.“
Der Lehrjunge, er stand an der Tür, platzte aus. Der Meister blickte ihn streng an. Er hatte noch nie Gelegenheit gehabt, spanisch zu frisieren und er wußte auch nicht, was eine spanische Friseur sei, ob es die überhaupt gäbe. Wenn der Herr es aber verlangte, so mußte man annehmen, daß er weiß, was er will. Der junge Friseur wollte seine Unbildung nicht verraten. Er sagte höflich:
„Bei Ihrem Haarwuchs, mein Herr, ist das unmöglich.“
„Warum ist es unmöglich?“ fragte Peredonoff beleidigt.
„Ihre Haare haben eine schlechte Nährung,“ erklärte der Friseur.
„Soll ich sie etwa mit Bier begießen?“ brummte Peredonoff.
„Aber, ich bitte Sie, warum denn mit Bier!“ antwortete der Friseur und lächelte liebenswürdig, „Sie müssen es in Betracht ziehen, daß, wenn man sie nur ein wenig schneiden soll und da außerdem sich eine gewisse Solidität auf Ihrem Haupte kund tut, es keineswegs zur spanischen Frisur langen dürfte.“
Peredonoff war ganz niedergeschlagen, daß er nicht spanisch frisiert werden konnte. Er sagte betrübt:
„So schneide mir die Haare wie du willst.“
Vielleicht, dachte er, hat man es dem Friseur gesteckt, daß er mich nicht auf diese besondere Art frisieren soll. Ich hätte zu Hause nicht davon sprechen sollen. Wahrscheinlich war Wolodin, während er würdig und gemessen durch die Straßen gegangen war, als Hammel durch die Hintergäßchen gelaufen, und hatte sich mit dem Friseur „berochen“.
„Befehlen der Herr zu spritzen?“ fragte der Friseur, als er die Haare geschnitten hatte.
„Mit Reseda und recht viel,“ forderte Peredonoff, „hast du mich irgendwie zurechtgestutzt, so mach es wenigstens mit Reseda wieder gut.“
„Ich bitte um Entschuldigung, Reseda führen wir nicht,“ sagte der Friseur verlegen, „aber vielleicht ist Ihnen Opoponax gefällig?“
„Nichts kannst du ordentlich tun,“ sagte Peredonoff traurig, „so spritz denn ganz gleich womit.“
Gereizt kam er nach Hause. Es war ein windiger Tag. Die Pforte wurde vom Winde auf und zu geschlagen, gähnte und lachte. Peredonoff sah das und wurde traurig. Wie sollte man hier durchfahren? Indes, alles machte sich von selbst.
Drei Wagen waren vorgefahren, man mußte sich rasch hineinsetzen und abfahren, sonst hätten die Fuhrwerke Neugierige angelockt, die hätten sich gleich versammelt und wären nachgefahren, um sich die Trauung mit anzusehen. Man setzte sich und fuhr ab: Peredonoff und Warwara, die Prepolowenskjis und Rutiloff, die Gruschina mit den beiden anderen Marschälen.
Auf dem Stadtplatz wirbelte der Staub. Peredonoff hörte Geräusche, gleichsam Axtschläge. Kaum sichtbar erhob sich, wuchs aus dem Staube eine hölzerne Wand. Eine Festung wurde gebaut. Bauern in roten Hemden liefen still und drohend hin und her.
Die Wagen sausten vorüber, — die furchtbare Erscheinung blieb weit zurück und verschwand. Peredonoff sah sich entsetzt um, aber es war nichts mehr zu sehen, — und er konnte sich nicht entschließen, zu jemand von dieser Erscheinung zu sprechen.
Den ganzen Weg über fühlte sich Peredonoff tief bedrückt. Alles starrte ihm feindlich entgegen, überall erhoben sich die drohenden Vorzeichen. Der Himmel umwölkte sich. Der Wind stürmte entgegen und seufzte schwer. Die Bäume wollten keinen Schatten geben, hatten den ganzen Schatten in sich gesogen. Dafür wirbelte der Staub längs der Straße, wie eine lange, durchsichtig-graue Schlange. Die Sonne verkroch sich aus einem unbekannten Grunde hinter den Wolken, — wollte sie etwa heimlich beobachten?
Der Weg schlängelte sich durch hügeliges Land, — unerwartet tauchten hinter den Hügeln Sträucher, Wälder, Felder und Bäche auf. Ueber die Bäche führten dröhnende, hölzerne Brücken.
„Der Vogel Auge flog vorüber,“ sagte Peredonoff verdrießlich und starrte in die blendende, neblige Ferne des Himmels. „Er hat ein Auge und zwei Flügel, und weiter hat er nichts.“
Warwara schmunzelte. Sie glaubte, Peredonoff wäre schon am frühen Morgen betrunken. Aber sie widersprach ihm nicht, sonst — dachte sie, — könnte er sich ärgern und wird sich nicht trauen lassen.
In der Kirche standen, versteckt hinter einer Säule, die vier Schwestern Rutiloff. Peredonoff hatte sie zuerst nicht bemerkt, später aber, schon während der Trauung, als sie ihren Hinterhalt verlassen hatten und vorgetreten waren, sah er sie und erschrak. Sie taten übrigens nichts Schlimmes, verlangten nicht — er hatte das befürchtet, — er solle Warwara fortjagen und eine von ihnen nehmen. Sie lachten nur die ganze Zeit. Und ihr anfangs leises Gelächter wurde immer lauter, klang immer drohender in seine Ohren, wie das Gelächter der wütenden Furien.
Außer zwei, drei alten Weibern, die von irgendwoher gekommen waren, waren keine fremden Leute in der Kirche. Es war gut so, denn Peredonoff betrug sich läppisch und sonderbar. Er gähnte, murmelte vor sich hin, stieß Warwara, beklagte sich, daß es nach Bauern röche, und über den Gestank des Weihrauchs und der Wachslichter.
„Deine Schwestern lachen die ganze Zeit,“ brummte er zu Rutiloff gewandt, „sie durchbohren einem die Leber mit ihrem Gelächter.“
Außerdem beunruhigte ihn das graue, gespenstische Tierchen. Es war schmutzig, ganz bestaubt und versteckte sich immer unter den Gewändern des Priesters.
Der Gruschina und Warwara erschienen die kirchlichen Gebräuche lächerlich. Sie kicherten ununterbrochen. Die biblischen Worte, die Frau müsse ihrem Manne anhangen, gaben ihnen Anlaß zu besondrer Lustigkeit. Auch Rutiloff kicherte, — er hielt es für seine Pflicht immer und überall die Damen zum Lachen zu bringen. Wolodin hingegen betrug sich gemessen und würdig; er bekreuzigte sich und bewahrte im Gesicht einen tiefsinnigen Ausdruck. Die kirchlichen Gebräuche waren für ihn nichts anderes, als Bestimmungen, die erfüllt werden mußten, er glaubte, daß die Erfüllung dieser Bestimmungen eine gewisse innerliche Bequemlichkeit förderte: man geht an Feiertagen zur Kirche, betet, — und ist gerecht; man sündigt, bereut — und ist wiederum gerecht. Wie gut und bequem! Um so bequemer, als man durch nichts verpflichtet war, außerhalb der Kirche sich um kirchliche Angelegenheiten zu kümmern, vielmehr sich an ganz andere, praktische Lebensregeln halten mußte.
Die Trauungszeremonien waren eben beendet, man war noch nicht aus der Kirche heraus, — da ereignete sich etwas Unvorhergesehenes. Lärmend drang in die Kirche eine betrunkene Gesellschaft, Murin mit seinen Freunden.
Murin, wie gewöhnlich, zerzaust und schmutzig, umarmte Peredonoff und schrie:
„Bruder! Uns bleibt nichts verborgen. Wir sind doch Freunde, die kein Wasser trennen kann, und du — Kerl — hast uns nichts gesagt.“
Man hörte Ausrufe:
„Der Lump, — er hat uns nicht eingeladen!“
„Jetzt sind wir doch hier!“
„Wir haben es doch erfahren!“
Die Neuangekommenen umarmten und beglückwünschten Peredonoff. Murin sagte:
„Wir haben etwas zu lange gesoffen, sonst hätten wir euch von Anfang an beehrt.“
Peredonoff stierte finster vor sich hin und antwortete nicht auf die Glückwünsche. Wut und Furcht schnürten ihm die Kehle.
Alles spionieren sie aus, dachte er betrübt.
„Ihr solltet euch wenigstens die Stirn bekreuzigen,“ sagte er wütend. „Sonst, — wer mag es wissen, — habt ihr noch böse Hintergedanken.“
Die Gäste bekreuzigten sich, lachten und spotteten gotteslästerlich. Die jungen Beamten taten sich darin ganz besonders hervor. Der Küster verwies es ihnen vorwurfsvoll.
Unter den Gästen befand sich einer mit einem roten Schnurrbart, ein junger Mensch, den Peredonoff nicht einmal kannte. Er erinnerte ganz außerordentlich an einen Kater. Vielleicht hatte sich ihr Kater in diesen Menschen verwandelt? Nicht umsonst prustete dieser junge Mann so auffällig, — er konnte seine tierischen Gewohnheiten nicht lassen.
„Wer hat es Ihnen gesagt?“ fragte Warwara die ungebetenen Gäste böse.
„Gute Leute taten es, junge Frau,“ antwortete Murin, „aber wer es eigentlich war, das haben wir schon vergessen.“
Die Gruschina bewegte sich unruhig hin und her und zwinkerte mit den Augen. Die Gäste lachten nur, verrieten sie aber nicht. Murin sagte:
„Ganz egal, Ardalljon Borisowitsch, wir fahren alle zu dir und du wirst Sekt schmeißen, sei kein Filz. Das geht doch nicht, — Freunde die kein Wasser trennt, — und du wolltest alles so hinterrücks abmachen.“
Als Peredonoffs nach der Trauung aus der Kirche kamen, ging die Sonne unter, und der ganze Himmel stand in Feuer und Gold. Das gefiel Peredonoff nicht. Er murmelte:
„Da hat man Gold draufgepappt, ganze Stücke, daß es beinah herunterfällt. Hat man je so eine Verschwendung gesehen!“
Vor der Stadt erwarteten sie die Schlossersöhne mit einer Bande von Straßenjungen, sie liefen und brüllten. Peredonoff zitterte vor Angst. Warwara schimpfte, spuckte auf die Jungen, drohte ihnen mit der Faust. Die Gäste und Marschäle lachten.
Man kam angefahren. Die ganze Gesellschaft wälzte sich mit lärmendem Johlen und Schreien in die Wohnung Peredonoffs. Man trank erst Sekt, dann Schnaps, und dann setzte man sich an die Karten. Die ganze Nacht durch wurde getrunken. Warwara war betrunken, tanzte und jubelte. Auch Peredonoff triumphierte, — es war ihnen doch nicht gelungen, ihn mit Wolodin zu vertauschen.
Wie immer wurde Warwara von den Gästen zynisch und ohne Achtung behandelt; sie glaubte, es wäre so in der Ordnung.
Nach der Hochzeit änderte sich das häusliche Leben bei Peredonoffs nur wenig. Nur, daß Warwara sicherer und unabhängiger mit ihrem Mann verkehrte. Es schien, als hätte sie nicht mehr den Respekt vor ihm, — doch fürchtete sie ihn aus alter Gewohnheit. Auch Peredonoff schrie sie mitunter an, wie er es von früher gewohnt war, zuweilen prügelte er sie sogar. Aber auch er begann ihre größere Sicherheit ihm gegenüber zu spüren. Das erfüllte ihn mit bittrer Traurigkeit. Es schien ihm, daß, wenn sie ihn nicht mehr so wie früher fürchtete, dies daher käme, daß in ihr der verbrecherische Vorsatz erstarkt war, ihn abzuschütteln, um ihn dann mit Wolodin zu vertauschen.
Man muß auf der Hut sein, dachte er.
Warwara triumphierte. Zusammen mit ihrem Mann, machten sie Besuche bei den Damen der Stadt, sogar bei den weniger Bekannten. Bei dieser Gelegenheit entfaltete sie einen komischen Stolz und sonderbare Ungeschicklichkeit. Ueberall wurde sie empfangen, in vielen Häusern allerdings mit großer Verwunderung.
Für die Besuche hatte sie sich rechtzeitig einen Hut machen lassen bei der tüchtigsten Hutmacherin des Ortes aus der Hauptstadt. Die grellen, großen Blumen, in aufdringlicher Fülle angebracht, entzückten Warwara.
Ihren ersten Besuch machten Peredonoffs bei der Frau des Direktors. Von dort fuhren sie zur Frau des Adelsmarschalls.
Am selben Tage, als Peredonoffs sich anschickten, ihre Besuche zu machen (das war bei Rutiloffs natürlich schon längst bekannt), — machten sich die Schwestern auf den Weg zu Warwara Nikolajewna Chripatsch, einfach aus Neugierde, um zu sehen, wie Warwara sich benehmen würde.
Bald darauf kamen Peredonoffs. Warwara knixte tief vor der Frau Direktor, und ihre Stimme zitterte mehr als gewöhnlich, als sie sagte:
„So sind wir denn gekommen. Ich bitte um Ihre Gunst und Freundschaft.“
„Sehr angenehm,“ sagte die Frau Direktor gezwungen und bat Warwara, auf dem Sofa Platz zu nehmen.
Warwara setzte sich mit sichtlichem Behagen auf den ihr zugewiesenen Platz, breitete ihr rauschendes, grünes Kleid weit aus und begann zu reden, bemüht, ihre Verlegenheit hinter einer übergroßen Herzlichkeit zu verbergen:
„Ich war die ganze Zeit über eine Mamsell, da bin ich nun eine Dame geworden. Wir sind Namensbasen, — Sie heißen Warwara und ich heiße Warwara, — und wir haben nicht miteinander verkehrt. Als Mamsell saß ich meist zu Hause, — aber warum soll man immer hinter dem Ofen hocken. Nun werden ich und Ardalljon Borisowitsch offener leben. Wir bitten, uns die Ehre zu geben, — wir waren bei Ihnen, Sie werden zu uns kommen, der Musjö zum Musjö, die Madame zur Madame.“
„Aber man spricht davon, daß Sie nicht mehr lange hier bleiben werden,“ sagte die Frau Direktor. „Ich ließ mir sagen, daß Ihr Mann versetzt werden wird.“
„Ja, bald wird ein Papier kommen, dann werden wir fahren,“ antwortete Warwara. „Bevor das Papier nicht gekommen ist, müssen wir hierbleiben und uns des Lebens freuen.“
Warwara hoffte selber auf den Inspektorposten. Nach der Trauung hatte sie der Fürstin einen Brief geschrieben. Eine Antwort war noch nicht gekommen. Sie hatte beschlossen zu Neujahr noch einmal zu schreiben.
Ludmilla sagte:
„Wir dachten alle, Ardalljon Borisowitsch, Sie würden das Fräulein Pjilnikoff heiraten.“
„Ach was,“ sagte Peredonoff böse, „wie sollte ich jede beliebige heiraten. Ich brauche Protektionen.“
„Aber immerhin, wie verhält es sich denn mit Mademoiselle Pjilnikoff?“ neckte Ludmilla. „Sie haben ihr doch den Hof gemacht. Hat sie Ihnen einen Korb gegeben?“
„Ich werde sie noch aufs Glatteis führen,“ brummte Peredonoff verdrießlich.
„Das ist die Idée fixe von Ardalljon Borisowitsch,“ sagte der Direktor und lachte trocken.
Peredonoffs Kater war ganz verwildert, er fauchte, hörte nicht, wenn man ihn rief, — und war durch nichts anzulocken. Peredonoff fürchtete sich vor ihm. Manchmal murmelte er Beschwörungsformeln.
Aber kann das helfen? dachte er. Der Kater hat eine zu starke Elektrizität im Fell, — das ist eben das Unglück.
Einmal kam er auf den Gedanken, den Kater scheren zu lassen.
Gedacht — getan. Warwara war nicht zu Hause, — sie war zur Gruschina gegangen und hatte sich ein Fläschchen Kirschlikör in die Tasche gesteckt, — so konnte ihn niemand stören. Peredonoff band den Kater an eine Schnur, — aus einem Taschentuch drehte er ein Halsband, — und führte ihn zum Friseur.
Der Kater miaute wild, sprang nach rechts, nach links, stemmte sich entgegen. In seiner Verzweiflung warf er sich einigemal auf Peredonoff, — aber Peredonoff hielt ihn mit seinem Spazierstock fern. Die Gassenjungen liefen in Scharen hinterdrein, schrien und lachten. Die Vorübergehenden blieben stehen. Man steckte die Köpfe zum Fenster hinaus. Peredonoff schleifte den Kater an der Schnur und ließ sich durch nichts aus der Fassung bringen.
Endlich war er beim Friseur und sagte:
„He, rasieren Sie mal den Kater, aber ganz glatt.“
Die Jungen waren in Haufen vor der Tür stehen geblieben und krümmten sich vor Lachen. Der Friseur war beleidigt und wurde rot. Er sagte, — und seine Stimme zitterte leise:
„Entschuldigen Sie, mein Herr, das ist nicht unseres Amtes. Zudem habe ich nie einen rasierten Kater gesehn. Das wird wohl die neueste Mode sein, die noch nicht bis zu uns gedrungen ist.“
Peredonoff hörte ihm zu in blödem Nichtverstehen. Er rief:
„Charlatan! Sag lieber — ich kann es nicht!“
Dann ging er wieder, den unnatürlich schreienden Kater hinter sich herzerrend. Unterwegs dachte er betrübt, daß überall und immer alle Welt über ihn lache, keiner wolle ihm behilflich sein. Der Kummer schnürte ihm die Brust.
Peredonoff, Wolodin und Rutiloff waren in den „Garten“ gekommen um Billard zu spielen. Der Marqueur berichtete verlegen:
„Heute kann nicht gespielt werden, meine Herren.“
„Und warum nicht?“ fragte Peredonoff gereizt, „ wir — sollen nicht spielen dürfen.“
„Es verhält sich nämlich so, ich bitte um Entschuldigung, daß keine Bälle da sind,“ sagte der Marqueur.
„Hast sie durchgebracht, Halunke,“ hörte man hinter der Lette den Buffetier schreien.
Der Marqueur zuckte zusammen und bewegte plötzlich die roten Ohren, gleichsam eine hasenartige Bewegung, und flüsterte:
„Man hat sie gestohlen.“
„Nanu! wer hat sie gestohlen?“
„Unbekannt — wer, —“ meldete der Marqueur. „Es ist kein Mensch da gewesen, und plötzlich sind die Bälle verschwunden.“
Rutiloff kicherte und rief:
„Nette Anekdote — das!“
Wolodin zog ein gekränktes Gesicht und machte dem Marqueur Vorwürfe:
„Wenn man bei Ihnen die Bälle zu stehlen beliebt, Sie aber sich unterdessen irgendwo anders aufzuhalten belieben, die Bälle also sozusagen verschwunden sind, so hätten Sie die Pflicht gehabt, unverzüglich neue Bälle zu beschaffen, damit wir spielen können. Wir kamen und wollten spielen; wenn aber keine Bälle da sind, — womit sollen wir dann spielen?“
„Schwatz nicht, Pawluschka,“ sagte Peredonoff, „einem wird auch ohne dich übel. Such die Bälle, Marqueur! Wir müssen unbedingt spielen; unterdessen bring zwei Pullen Bier.“
Man trank Bier. Es war aber doch langweilig. Die Bälle ließen sich nicht finden. Man schimpfte einander, schalt den Marqueur. Dieser schwieg schuldbewußt.
Im Diebstahl glaubte Peredonoff eine neue feindliche Intrige sehen zu müssen.
Warum? dachte er betrübt und verstand nicht.
Er ging in den Garten und setzte sich auf eine Bank, die dicht am Teiche stand, — hier hatte er noch nie gesessen, — und stierte stumpfsinnig auf das mit Entengrün bezogene Wasser. Wolodin setzte sich neben ihn, teilte seinen Kummer und blickte mit seinen Schafsaugen auf den Teich.
„Warum liegt dieser schmutzige Spiegel hier, Pawluschka?“ fragte Peredonoff und wies mit dem Stock auf den Teich.
Wolodin bleckte die Zähne und sagte:
„Das ist kein Spiegel, Ardascha; das ist ein Teich. Sintemal es eben windstill ist, spiegeln sich in ihm die Bäume; darum sieht es so aus, als läge hier ein Spiegel.“
Peredonoff sah auf. Hinter dem Teich war ein Zaun, der den Garten von der Straße trennte. Peredonoff fragte wieder:
„Warum sitzt der Kater auf dem Zaun?“
Wolodin blickte in dieselbe Richtung und sagte kichernd:
„Er war, er ist nicht mehr.“
Tatsächlich lebte der Kater nur in Peredonoffs Einbildung, — ein Kater mit weitaufgerissenen, grünen Augen, — sein verschlagener, unermüdlicher Feind. Wieder mußte Peredonoff an die Bälle denken.
Wer braucht sie? Hatte das graue, gespenstische Tierchen sie aufgefressen? War es darum heute nirgends zu sehen, — dachte er. — Es hat sich vollgefressen, hat sich irgendwohin gewälzt und schläft jetzt.
Niedergeschlagen schlich Peredonoff nach Hause. Der Abend war im Erlöschen. Ein Wölkchen zog irrend am Himmel, schlich heran, — Wolken gehen so leise, — hielt Umschau. Auf seinen dunklen Rändern spielte ein rätselhafter, tiefer Glanz. Ueber dem Flüßchen, das zwischen Garten und Stadt floß, zitterten die Schatten der Häuser und Gebüsche, sie flüsterten, suchten irgend jemand.
Und auf den Straßen dieser düstren, ewig feindlichen Stadt begegneten nur böse, spöttische Menschen. Alles verband sich zu einer allgemeinen Feindseligkeit gegen Peredonoff, — die Hunde lachten ihn aus, und die Menschen kläfften ihn an.
Die Damen der Stadt erwiderten Warwaras Besuch. Einige waren aus fröhlicher Neugierde schon nach zwei, drei Tagen gekommen, um Warwara in ihrer Häuslichkeit zu sehen. Andere wieder ließen eine Woche und mehr verstreichen. Und manche kamen überhaupt nicht, — so zum Beispiel die Werschina.
Peredonoffs erwarteten täglich mit größter Ungeduld die Gegenbesuche und zählten nach, wer noch nicht gekommen war. Ganz besonders ungeduldig erwarteten sie den Direktor und dessen Frau. Sie warteten und regten sich ungeheuer auf, — denn wie, — wenn die Chripatschs überhaupt nicht kämen!
Es verging eine Woche; sie waren nicht gekommen. Warwara wütete und schimpfte. Peredonoff kam vor lauter Erwartung in eine gequälte Stimmung.
Seine Augen waren ganz stumpf geworden, als wären sie erloschen; und manchmal schien es — es wären die Augen eines Toten. Eine sinnlose Furcht marterte ihn. Ohne jeden ersichtlichen Grund fürchtete er sich plötzlich vor diesen und jenen Gegenständen. Ihm war der quälende Gedanke gekommen, man wolle ihn erstechen; er fürchtete sich vor allem Geschliffenen und versteckte Messer und Gabeln.
Vielleicht, — dachte er, — sind sie besprochen und verhext. Man könnte zufällig in ein Messer rennen.
„Wozu hat man Messer?“ sagte er zu Warwara. „Die Chinesen essen doch mit Stäbchen.“
Aus diesem Grunde wurde eine Woche lang kein Fleisch gebraten, — man begnügte sich mit Kohl und Grütze.
Um sich an Peredonoff für die, vor der Trauung ausgestandenen Aengste zu rächen, bekräftigte ihn Warwara hie und da in der Ueberzeugung, daß seine Befürchtungen nicht grundlos wären. Sie sagte ihm, er hätte viele Feinde, und wie wäre es auch möglich, daß man ihn nicht beneiden sollte? Mehr als einmal ängstigte sie ihn damit, daß man ihn sicher denunziert und ihn bei den vorgesetzten Behörden und bei der Fürstin angeschwärzt hätte. Sie freute sich, wenn er sich augenscheinlich fürchtete.
Für Peredonoff schien es festzustehen, daß die Fürstin mit ihm unzufrieden war. Warum hatte sie zur Trauung weder ein Heiligenbild, noch Salz und Brot geschickt? Er dachte: man muß ihr Wohlwollen verdienen; aber wodurch? Durch eine Lüge etwa? Sollte er Klatschgeschichten verbreiten, jemanden denunzieren? Alle Damen lieben den Klatsch, — man müßte sich über Warwara etwas Unanständiges ausdenken und der Fürstin davon schreiben. Sie wird lachen und ihm eine Stelle verschaffen.
Aber Peredonoff brachte es nicht fertig so einen Brief zu schreiben, auch fürchtete er sich, an die Fürstin selbst zu schreiben. Und bald vergaß er diesen Einfall.
Die gewöhnlichen Gäste bewirtete Peredonoff mit Schnaps und ganz billigem Portwein. Für den Direktor hatte er aber eine Flasche Madeira für drei Rubel gekauft. Peredonoff hielt diesen Wein für etwas außerordentlich Kostbares, verwahrte ihn im Schlafzimmer, zeigte ihn nur den Gästen und sagte:
„Für den Direktor.“
Einmal, als Rutiloff und Wolodin bei Peredonoff waren, zeigte er ihnen den Madeira.
„Diese äußerliche Betrachtung mundet nicht,“ sagte Rutiloff kichernd. — „Gib uns lieber davon zu trinken.“
„Was nicht gar!“ antwortete Peredonoff böse. „Was soll ich dann dem Direktor anbieten?“
„Der Direktor wird Schnaps trinken,“ sagte Rutiloff.
„Ein Direktor trinkt keinen Schnaps; für einen Direktor schickt es sich, Madeira zu trinken,“ sagte Peredonoff nachdrücklich.
„Wenn er aber doch gerne Schnaps trinkt,“ beharrte Rutiloff.
„Das fehlte noch! ein General wird nie Schnaps mögen,“ sagte Peredonoff sicher.
„Immerhin, gib nur her,“ drängte Rutiloff.
Peredonoff brachte die Flasche eilig fort und man hörte, wie das Schloß am Schränkchen, in dem er den Wein verwahrte, knirschte. Als er wieder zurückkam, wechselte er das Thema und sprach von der Fürstin. Er sagte verdrießlich:
„Die Fürstin! Auf einem Bazar hat sie mit faulen Aepfeln gehandelt und den Fürsten geködert.“
Rutiloff lachte laut und sagte:
„Seit wann treiben sich Fürsten auf Bazaren herum?“
„Einerlei. Sie hat ihn angelockt,“ sagte Peredonoff.
„Das denkst du dir aus, Ardalljon Borisowitsch,“ widersprach Rutiloff. „Das ist nie vorgekommen. Die Fürstin ist eine angesehene Dame.“
Peredonoff blickte ihn wütend an und dachte: er verteidigt sie; er steckt mit ihr unter einer Decke. Die Fürstin hat ihn behext, wenn sie auch noch so weit von hier fort ist.
Aber das kleine, gespenstische Tierchen tummelte sich; es lachte lautlos und zitterte an allen Gliedern vor lauter Lachen. Es erinnerte Peredonoff an viele schreckliche Sachen. Aengstlich blickte er sich um und flüsterte:
„In jeder Stadt befindet sich ein geheimer Gendarmunteroffizier. Er geht in Zivil, dient oder handelt irgendwo oder tut sonst was; aber in der Nacht, wenn alles schläft, zieht er seine blaue Uniform an und geht stracks zum Gendarmerieoffizier.“
„Warum denn in Uniform?“ erkundigte sich Wolodin sachlich.
„Zum Vorgesetzten darf man nicht in Zivil. Dafür wird geprügelt,“ erklärte Peredonoff.
Wolodin kicherte. Peredonoff beugte sich dicht zu ihm und flüsterte:
„Manchmal lebt er sogar in anderer Gestalt. Man glaubt — es ist ein simpler Kater, — keine Spur! Es ist der Gendarm. Vor dem Kater kann man nichts verbergen, er hört und hört alles.“
Endlich, nach anderthalb Wochen, machte die Frau Direktor ihren Gegenbesuch. An einem Wochentage um vier Uhr kam sie — schön gekleidet, liebenswürdig, nach süßen Veilchen duftend, — zusammen mit ihrem Manne, angefahren, — für Peredonoffs ganz unerwartet: diese hatten Chripatschs aus irgend einem Grunde an einem Feiertag und viel früher erwartet. Alles ging durcheinander. Warwara war halbangekleidet und ungewaschen in der Küche. Sie lief schnell, sich zurechtzumachen, während Peredonoff die Gäste empfing und den Eindruck eines Menschen machte, der eben erst aufgewacht ist.
„Warwara kommt gleich,“ murmelte er, „sie kleidet sich um. Sie kochte gerade. Wir haben ein neues Mädchen, die kann noch nichts, sie ist eine dumme Gans.“
Bald darauf kam Warwara, nachlässig gekleidet; ihr Gesicht war rot und erschreckt. Sie gab den Gästen ihre feuchte, unsaubere Hand und sprach mit vor Aufregung zitternder Stimme:
„Verzeihen Sie, daß ich warten ließ, — wir wußten nicht, daß Sie an einem Wochentage kommen würden.“
„An Feiertagen fahre ich nur selten aus,“ sagte Madame Chripatsch, „da sind so viele Betrunkene auf den Straßen. Mögen die Dienstboten diesen Tag für sich haben.“
Es entspann sich eine notdürftige Unterhaltung, und die Liebenswürdigkeit der Frau Direktor ermunterte Warwara ein wenig. Die Frau Direktor behandelte Warwara etwas von oben herab, doch freundlich, — wie etwa eine reumütige Sünderin, zu der man freundlich sein muß, an der man sich aber noch beschmutzen kann. Sie gab Warwara einige Verhaltungsmaßregeln über Kleidung und Einrichtung, aber nur gesprächsweise.
Warwara gab sich alle Mühe, der Frau Direktor zu gefallen, aber ihre roten Hände und die geplatzten Lippen zitterten noch vor Schrecken. Das genierte die Frau Direktor. Sie bemühte sich, noch liebenswürdiger zu sein, aber ein unwillkürlicher Ekel befiel sie. Durch ihr ganzes Verhalten gab sie es Warwara deutlich zu verstehen, daß ein näherer Verkehr zwischen ihnen ausgeschlossen war. Da dies aber in sehr zuvorkommender Form geschah, so verstand es Warwara nicht und lebte im Glauben, sie und die Frau Direktor würden gute Freunde werden.
Chripatsch erinnerte in seinem Verhalten an einen Menschen, der sich ganz deplaziert vorkommt; aber gewandt und männlich suchte er das zu verbergen. Den Madeira trank er nicht: er wäre es nicht gewohnt, um diese Stunde Wein zu trinken. Man redete über die städtischen Neuigkeiten, über den bevorstehenden Wechsel im Bezirksgericht. Es war aber nur zu deutlich zu merken, daß er und Peredonoff in zwei einander feindlich gegenüberstehenden Gesellschaftsschichten verkehrten.
Sie blieben nicht lange.
Warwara war froh, als sie wieder gingen: nun, sie sind gekommen und sind bald gegangen. Sie zog sich um und sagte fröhlich:
„Gott sei Dank, sie sind fort. Ich wußte ja gar nicht, was ich sprechen sollte. Es ist schon so, wenn man jemand nur flüchtig kennt, so weiß man gar nicht, von welcher Seite man anpacken soll.“
Dann fiel es ihr ein, daß die Chripatschs sie beim Fortgehen nicht eingeladen hatten. Das verwirrte sie zuerst; dann dachte sie:
„Sie werden eine Einladung schicken, wann man sie besuchen darf. Diese Herrschaften haben ihre besonderen Stunden. Ich müßte eigentlich Französisch kläffen lernen. Auf Französisch kann ich nicht a und b sagen.“
Zu Hause sagte die Frau Direktor zu ihrem Mann:
„Sie ist eine ganz traurige, hoffnungslos tief stehende Person; es ist ganz unmöglich, sie als seinesgleichen zu betrachten. Nichts in ihr entspricht ihrer sozialen Stellung.“
Chripatsch antwortete:
„Sie steht ganz auf einer Stufe mit ihrem Manne. Ich erwarte es mit Ungeduld, daß er versetzt wird.“
Nach ihrer Verheiratung verlegte sich Warwara aufs Trinken. Sie trank mit der Gruschina oft zusammen. Einmal, — die Prepolowenskaja war gerade anwesend, und Warwara hatte einen leichten Rausch, — verschwatzte sie sich, als sie vom Brief erzählte. Zwar hatte sie nicht alles gesagt, immerhin aber recht deutliche Andeutungen gemacht. Der schlauen Sophie genügte das vollkommen, — wie Schuppen fiel es ihr von den Augen.
Wie bin ich nur nicht gleich darauf gekommen! machte sie sich den stillen Vorwurf.
Unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählte sie der Werschina von den gefälschten Briefen, — und so ging es wie ein Lauffeuer durch die Stadt.
Wenn die Prepolowenskaja Peredonoff traf, so konnte sie nicht umhin, ihn wegen seiner Leichtgläubigkeit auszulachen. Sie sagte:
„Wie sind Sie doch einfältig, Ardalljon Borisowitsch.“
„Ich bin nicht einfältig,“ antwortete er, „ich bin Kandidat der Universität [11] .“
„Nun ja — Kandidat; aber wem es gerade einfällt, der haut Sie übers Ohr.“
„Das tue ich selber, daß ich die Leute übers Ohr haue,“ verteidigte sich Peredonoff.
Die Prepolowenskaja lächelte verschlagen und wich aus. Peredonoff konnte nichts verstehen, — wie kam sie nur darauf? Aus Bosheit! dachte er, alle Menschen sind mir feind.
Und er drohte hinter ihrem Rücken mit der Faust.
Nichts hast du gewonnen, versuchte er sich zu beruhigen.
Aber die Angst quälte ihn.
Der Prepolowenskaja schien es, als wären diese Andeutungen zu wenig. Andererseits wollte sie ihm nicht reinen Wein einschenken. Was sollte ihr an einem Streit mit Warwara liegen? Von Zeit zu Zeit richtete sie anonyme Briefe an Peredonoff, in denen sie deutlicher wurde. Aber Peredonoff verstand noch immer nicht.
Einmal schrieb sie ihm:
„Sehen Sie zu, ob jene Fürstin, die Ihnen die Briefe geschrieben hat, nicht hier am Orte lebt.“
Peredonoff glaubte, die Fürstin selber wäre gekommen, um ihn zu beobachten. Wahrscheinlich hat sie sich in mich vergafft und will mich Warwara abspenstig machen.
Diese Briefe erschreckten und ärgerten Peredonoff. Er setzte Warwara zu:
„Wo ist die Fürstin? Man sagt, sie wäre hier.“
Warwara, sich rächend für alles Frühere, quälte ihn mit Andeutungen, feigen, bösen Ausreden und Sticheleien. Gemein lächelnd, sagte sie mit falscher Stimme, wie man etwa dann spricht, wenn man wissentlich lügt und auf kein Vertrauen rechnen kann:
„Wie soll ich wissen, wo die Fürstin jetzt lebt.“
„Du lügst! Du weißt es!“ sagte Peredonoff ganz entsetzt.
Er wußte nicht, ob er dem Sinn ihrer Worte glauben sollte oder dem verräterischen Tonfall ihrer Stimme, — und das ängstigte ihn, wie alles, was er nicht begreifen konnte. Warwara entgegnete:
„Wieso denn! Vielleicht ist sie aus Petersburg fortgefahren, — sie hat mich doch nicht um Erlaubnis zu fragen.“
„Aber vielleicht ist sie wirklich hier?“ fragte Peredonoff eingeschüchtert.
„Vielleicht ist sie wirklich hier,“ ahmte ihn Warwara nach. „Sie hat sich in dich vergafft und ist hergekommen, um sich an dir sattzusehen.“
Peredonoff rief:
„Du lügst! sie hat sich nicht in mich vergafft?“
Warwara lachte laut und boshaft.
Von jenem Tage an achtete Peredonoff aufmerksam darauf, ob er nicht irgendwo die Fürstin sehen würde. Manchmal schien es ihm, als blickte sie durch die Tür oder zum Fenster herein! — sie beobachtet ihn, horcht auf jedes Wort, sie tuschelt mit Warwara.
Die Zeit verging, aber die von Tag zu Tag erwartete Ernennung Peredonoffs zum Inspektor traf nicht ein. Auch hörte man privaten Erkundigungen zufolge nichts von einem vakanten Posten. Peredonoff wagte es nicht, bei der Fürstin selber anzufragen, — denn Warwara erschreckte ihn stets damit, sie wäre eine sehr angesehene Dame. Und er hatte das Gefühl, es würden ihm die größten Unannehmlichkeiten daraus entstehen, wenn er es versuchen würde, an sie zu schreiben. Er wußte zwar nicht, was man ihm antun könnte, wenn die Fürstin ihn verklagen würde, aber gerade das war ihm besonders furchtbar. Warwara sagte:
„Kennst du denn die Aristokraten nicht? Warten, — sie tun selber alles, was nötig ist. Wirst du sie aber daran erinnern, — so wird sie das kränken, und das ist noch viel schlimmer. Sie haben ihre eigene Ehre! sie sind stolz, sie lieben es, wenn man ihnen vertraut.“
Und Peredonoff glaubte noch immer. Aber er ärgerte sich über die Fürstin. Zuweilen dachte er, daß sie ihn denunziert hätte, um sich ihrer Versprechungen zu entledigen. Oder ihn denunziert hätte aus lauter Eifersucht: sie war in ihn verliebt, und er hatte Warwara geheiratet. Darum, dachte er, umringt sie mich mit Spionen, die mir überall folgen und mich so beengen, daß ich keine Luft und kein Licht habe. Nicht umsonst ist sie so vornehm. Sie kann alles, was sie will.
Aus Wut verbreitete er über die Fürstin die unglaublichsten Geschichten. Er erzählte Rutiloff und Wolodin, er wäre früher ihr Liebhaber gewesen, und sie hätte ihm große Summen Geldes gegeben.
„Ich habe alles vertrunken. Was zum Teufel sollte ich damit anfangen! Sie hatte mir versprochen, mir eine Pension bis zum Lebensende zu zahlen. Aber sie hat mich betrogen.“
„Hättest du das angenommen?“ fragte Rutiloff und kicherte.
Peredonoff schwieg. Er verstand die Frage nicht. Dafür antwortete Wolodin für ihn, als verständiger, solider Mann:
„Warum sollte er es nicht nehmen, wenn sie doch reich ist? Hat sie ihr Vergnügen an ihm gehabt, so mag sie auch zahlen.“
„Wenn sie noch schön wäre!“ sagte Peredonoff betrübt. „Sie ist aber sommersprossig und hat eine Stülpnase. Das einzige war, daß sie gut zahlte, sonst hätte ich mich nicht einmal entschließen können, dies Luder anzuspucken. Sie muß meine Bitte erfüllen.“
„Du lügst, Ardalljon Borisowitsch,“ sagte Rutiloff.
„Ich lüge nicht. Etwa das, daß sie mir Geld gegeben hat? Glaubst du, ich hätte es umsonst getan? Sie ist eifersüchtig auf Warwara, und darum verschafft sie mir nicht die Stelle.“
Peredonoff schämte sich nicht einmal, wenn er davon sprach, daß die Fürstin ihm Geld gegeben hatte. Wolodin war ein gläubiger Zuhörer und merkte gar nicht, in was für dumme Widersprüche Peredonoff sich verwickelte. Rutiloff widersprach wohl, dachte aber, daß es ohne Feuer keinen Rauch gibt: irgend etwas, dachte er, hat Peredonoff mit der Fürstin gehabt.
„Sie ist älter als der Köter eines Popen,“ sagte Peredonoff zuversichtlich, als wäre es etwas ganz Sachliches; „erzählt es nur keinem weiter, — kommt es ihr zu Ohren, so geht es mir schlecht. Sie schminkt sich und spritzt sich Tau in die Adern, um jung zu bleiben. Man sieht es ihr auch nicht an, daß sie alt ist. Sie ist aber schon hundert Jahre alt.“
Wolodin schüttelte nur den Kopf und schmatzte mit den Lippen. Er glaubte alles.
Am folgenden Tage nach diesem Gespräch mußte Peredonoff in einer Klasse die Krjiloffsche Fabel „Der Lügner“ lesen lassen. Und einige Tage hintereinander fürchtete er sich über die Brücke zu gehen, — mietete ein Boot und ließ sich hinüberfahren, — die Brücke hätte ja unter ihm einstürzen können. Er erklärte Wolodin:
„Was ich über die Fürstin erzählte, ist wahr. Aber die Brücke könnte es nicht glauben und wird darüber einstürzen.“
Das Gerücht über die gefälschten Briefe verbreitete sich in der Stadt. Die Gespräche darüber waren für die Bürger unterhaltend und erheiternd. Fast alle lobten Warwara und freuten sich, daß Peredonoff betrogen worden war. Und alle die, welche die Briefe gesehen hatten, versicherten hoch und teuer, sie hätten alles von Anfang an gewußt.
Besonders groß war die Schadenfreude im Hause der Werschina: obwohl Martha Murin heiraten sollte, so war sie doch immerhin von Peredonoff verschmäht worden. Die Werschina hatte eigentlich die Absicht gehabt, Murin für sich zu nehmen, nun mußte sie ihn Martha abtreten; Wladja hatte seine guten Gründe, warum er Peredonoff nicht leiden konnte, und freute sich über dessen Mißgeschick. Obgleich es ihm nicht angenehm war, daß Peredonoff nun doch im Gymnasium blieb, so wurde das Unbehagen darüber bei weitem durch den Umstand aufgewogen, daß Peredonoff so glänzend „hereingelegt“ worden war. Außerdem hatte sich in den letzten Tagen unter den Schülern das Gerücht verbreitet, als hätte der Direktor dem Schulbezirksinspektor mitgeteilt, Peredonoff wäre nicht mehr zurechnungsfähig, als würde bald eine Untersuchung deswegen eingeleitet werden und Peredonoff müßte dann die Schule verlassen.
Wenn Warwara mit ihren Bekannten zusammentraf, so machte man grobe Witze, und gab ihr frech und unverholen zu verstehen, daß man um die Fälschungen wußte. Sie lächelte nur gemein, gab nichts zu, verteidigte sich aber auch nicht.
Andere wieder deuteten der Gruschina an, daß man um ihre Teilhaberschaft an den Fälschungen wußte. Sie erschrak und lief zu Warwara, um ihr Vorwürfe zu machen, weil sie die Sache ausgeplaudert hatte. Warwara sagte schmunzelnd:
„Reden Sie keinen Unsinn. Ich habe zu keinem Menschen davon gesprochen.“
„Woher weiß man es denn?“ fragte die Gruschina heftig. „Ich bin doch nicht so dumm, daß ich es jemandem erzählen werde.“
„Auch ich habe es nirgends erzählt,“ beteuerte Warwara unverschämt.
„Geben Sie mir den Brief zurück,“ verlangte die Gruschina. „Fängt er erst an zu vergleichen, so wird er schon an der Handschrift merken, daß es eine Fälschung ist.“
„Mag er’s doch wissen!“ sagte Warwara ärgerlich. „Was soll ich mich mit dem Esel abgeben.“
Die schielenden Augen der Gruschina blitzten. Sie schrie:
„Sie haben gut reden. Sie sitzen im Trockenen. Mich wird man aber ins Gefängnis sperren. Aber wie Sie wollen, — ich muß den Brief zurückhaben. Es gibt ja auch eine Ehescheidung.“
„Ach, lassen Sie doch!“ antwortete Warwara frech, und stemmte die Arme in die Hüften, „meinetwegen können sie es öffentlich anschlagen; der Brautkranz fällt einem nicht so leicht vom Kopf.“
„O, wenn Sie das glauben!“ schrie die Gruschina, „so ein Gesetz gibt es nicht, daß man auf einen Betrug hin heiraten darf. Wenn Ardalljon Borisowitsch die ganze Sache bei seinen Vorgesetzten anhängig macht, und bis zum Senat geht, so wird die Ehe geschieden.“
Warwara erschrak und sagte:
„Warum regen Sie sich so auf, — ich werde Ihnen den Brief verschaffen. Da gibt es nichts zu fürchten, — ich werde Sie nicht verraten. Bin ich denn so ein Rindvieh? Ich habe doch eine Seele im Leibe.“
„Ach! gehen Sie mit Ihrer Seele!“ sagte die Gruschina grob, „beim Hunde und beim Menschen, es ist ein Dunst. Da gibt’s keine Seele. Solange man lebt, solange ist man.“
Warwara beschloß, den Brief zu stehlen, wenn es auch sehr schwer fiel. Die Gruschina trieb sie zur Eile. Es gab nur eine Hoffnung, — den Brief zu entwenden, wenn Peredonoff betrunken war. Er trank aber viel. Oft kam er angeheitert ins Gymnasium, und führte schamlose Reden, die sogar die allerbösesten Jungen mit Ekel erfüllten.
Einmal kam Peredonoff betrunkener als sonst vom Billard nach Hause: die neuen Bälle waren „begossen“ worden. Von seiner Brieftasche trennte er sich aber nicht; — nachdem er sich nachlässig entkleidet hatte, stopfte er sie unter das Kopfkissen.
Er schlief unruhig, aber fest, und redete im Schlaf, — und das, was er im Traume sagte, handelte von etwas Fürchterlichem, Bedrückendem. Warwara war in tausend Aengsten.
Einerlei, — ermunterte sie sich, — wenn er nur nicht aufwacht.
Sie versuchte es, ihn aufzuwecken; sie stieß ihn in die Seiten, — er brummte nur etwas, fluchte dann laut, wachte aber nicht auf.
Warwara zündete eine Kerze an und stellte sie so, daß das Licht Peredonoff nicht in die Augen fiel. Zitternd vor Furcht stand sie auf und langte mit der Hand unter Peredonoffs Kopfkissen. Die Brieftasche lag ganz nah, aber immer wieder entglitt sie ihren zitternden Fingern. Das Licht brannte trübe. Die Flamme flackerte. Längs der Wand über das Bett krochen unheimliche Schatten, — kleine, böse Teufel trieben ihr Wesen. Die Luft war stickig und ganz unbeweglich. Es roch nach abgestandenem Schnaps. Das Schnarchen und die irren Reden des Betrunkenen erfüllten das ganze Zimmer. Alles, alles war wie ein wirklich gewordener, schwerer Alp.
Mit zitternden Fingern nahm Warwara den Brief aus der Tasche, und schob diese wieder an ihren alten Platz.
Am Morgen suchte Peredonoff sofort nach dem Brief; er konnte ihn nicht finden, erschrak und schrie:
„Wo ist der Brief, Warja?“
Warwara suchte ihre Angst zu verbergen und sagte:
„Woher soll ich das wissen, Ardalljon Borisowitsch? Du zeigst ihn aller Welt, da hast du ihn wahrscheinlich bei dieser Gelegenheit verloren. Vielleicht hat man ihn dir gestohlen. Du hast ja so viele Freunde, mit denen du die Nächte durch trinkst.“
Peredonoff dachte, seine Feinde hätten ihm den Brief entwendet; am ehesten Wolodin. Schon hat er den Brief in Händen, später wird er sich alle Papiere aneignen, auch die Ernennung, und wird Inspektor werden, und Peredonoff wird als trauriger Bettler sein Leben fristen.
Peredonoff beschloß sich zu verteidigen. Er stellte alltäglich lange Schriftstücke zusammen, in denen er seine Feinde denunzierte: die Werschina, die Rutiloffs, Wolodin, seine Kollegen, die — so schien es ihm — auf denselben Posten reflektierten. Am Abend pflegte er diese Schriftstücke zu Rubowskji zu bringen.
Der Gendarmerieoffizier wohnte in einer belebten Gegend, am Stadtplatz, in der Nähe des Gymnasiums. Aus den Fenstern konnten es die Leute sehen, wie Peredonoff zum Gendarmerieoffizier durch die Pforte ging. Peredonoff dachte aber, keiner hätte ihn bemerkt. Nicht umsonst trug er die Denunziationen stets am Abend hin, die Hintertreppe benutzend, durch den Kücheneingang. Die Papiere versteckte er unter dem Ueberzieher, und man merkte sofort, daß er etwas verbarg. Wenn er diesem oder jenem zum Gruße die Hand geben mußte, so hielt er die Papiere mit der linken Hand und glaubte, daß keiner etwas bemerken könne. Wenn man ihn fragte, wohin er ging, so log er, — außerordentlich ungeschickt, er selbst war aber mit seinen dummen Ausreden sehr zufrieden.
Er erklärte Rubowskji:
„Es sind Verräter. Sie stellen sich so, als wären sie Freunde; sie wollen einen aber betrügen. Das aber wissen sie nicht, daß ich Dinge von ihnen weiß, die sogar mit Sibirien viel zu gering bestraft wären.“
Rubowskji hörte ihm schweigend zu. Gleich die erste, augenscheinlich ganz sinnlose Denunziation schickte er einfach an den Direktor, und so tat er es mit allen nachfolgenden. Der Direktor schrieb an den Schulbezirk, daß sich am Lehrer Peredonoff Zeichen von geistiger Gestörtheit bemerkbar machten.
Im Hause hörte Peredonoff überall ununterbrochene, fürchterliche, höhnische Geräusche. Traurig sagte er zu Warwara:
„Irgend jemand schleicht da auf den Zehenspitzen, — überall treiben sich bei uns Spione herum. Du verteidigst mich gar nicht, Warjka.“
Warwara konnte diese Phantasien Peredonoffs nicht begreifen. Bald machte sie sich darüber lustig, bald fürchtete sie sich davor. Sie sagte ängstlich und gereizt:
„Deinen betrunkenen Augen erscheint der größte Blödsinn.“
Besonders verdächtig schien Peredonoff die Tür zum Vorhause zu sein. Sie schloß nicht ganz. Eine Ritze zwischen den beiden Türflügeln deutete auf etwas, was sich dahinter verborgen hielt. War das nicht der Coeur-Bube, der da hervorlauerte? Irgend jemandes Auge blitzte, böse und durchdringend.
Der Kater verfolgte mit seinen weit aufgerissenen, grünen Augen jede Bewegung Peredonoffs. Zuweilen zwinkerte er ihm zu, zuweilen miaute er unheimlich. Augenscheinlich hatte er die Absicht, Peredonoff zu überführen, konnte es aber nicht und ärgerte sich darüber. Peredonoff vermied ihn nach Möglichkeit, aber der Kater war nicht fortzukriegen.
Das graue, gespenstische Tierchen lief unter allen Stühlen, in alle Winkel und quiekte. Es war schmutzig, widerwärtig, fürchterlich und stank. Es war doch klar, daß es ihm feindlich gesinnt war; nur um seinetwillen war es gekommen, denn früher war es nie und nirgends zu sehen gewesen. Man hatte es geschaffen, — und besprochen. Nun lebte es da, — ihn zu ängstigen, ihn zu verderben, dieses gespenstische, alles sehende Tier; — es verfolgt ihn, es betrügt ihn, es lacht ihn aus; — bald rollt es über den Boden, bald krallt es sich an einen Fetzen, ein Band, einen Zweig, eine Fahne, eine Wolke, ein Hündchen, in die Staubwirbel auf den Straßen, und überall kriecht und läuft es ihm nach, — ganz zerquält hat es ihn, ganz ermattet mit seinen schaukelnden, unruhigen Bewegungen. Würde ihn nur jemand davon befreien, mit irgend einem Wort, oder mit einem plötzlichen, starken Schlag. Aber er hat keine Freunde; niemand wird ihn retten; er muß selber listig und schlau sein; es vernichten, noch bevor es ihn umgebracht hat.
Peredonoff erfand ein Mittel: er bestrich alle Böden mit Leim, da mußte das graue Tierchen ankleben. Die Schuhsohlen klebten wohl an und Warwaras nachschleppende Kleider, aber das graue, gespenstische Tierchen rollte vergnügt und frei hin und her, und schüttelte sich vor Lachen. Warwara schimpfte böse ...
Peredonoff lebte ganz im Banne der aufdringlichen, schrecklichen Vorstellung, verfolgt zu werden. Er selbst vertiefte sich immer mehr in die Welt seiner unheimlichen Wahnideen. Das zeigte sich auch deutlich an seinem Gesicht: es war eine unbewegliche Larve des Entsetzens.
Am Abend ging er nicht mehr zum Billard. Nach dem Mittagessen schloß er sich im Schlafzimmer ein, verbarrikadierte die Tür mit Stühlen und anderen Gegenständen, bekreuzte sich sehr andächtig, sprach Beschwörungsformeln her, und setzte sich dann an den Tisch, um Denunziationen zu schreiben; er denunzierte jeden, an den er sich gerade zufällig erinnerte. Aber er denunzierte nicht nur Menschen, — auch die Damen des Kartenspiels. Gleich, wenn er mit dem Schreiben zu Ende gekommen war, brachte er das Schriftstück zum Gendarmerieoffizier. Und so verbrachte er einen Abend nach dem andern.
Vor seinen Augen blinkten alle Figuren des Kartenspiels, als lebten sie, — die Könige, die Damen, die Buben. Auch die einfachen Karten lebten. Das waren Menschen mit Knöpfen: Gymnasiasten, Schutzleute. Das Aß — ist ein ganz Dicker, mit vortretendem Bauch, fast nur ein Bauch. Manchmal verwandelten sich die Karten in ihm bekannte Leute. Das Lebendige und diese sonderbaren Ausgeburten seiner Furcht vermengten sich zu einer Vorstellung.
Peredonoff war fest davon überzeugt, daß der Bube hinter der Tür steht und wartet, und daß dieser Bube über dieselbe Kraft und Macht verfügt wie etwa ein Schutzmann, er kann einen abführen in irgend eine fürchterliche Wachtstube. Unter dem Tische sitzt aber das graue, gespenstische Tierchen. Und Peredonoff fürchtete sich, unter den Tisch oder hinter die Tür zu blicken.
Die Achten waren lauter Wildfänge, die Peredonoff neckten, — das waren verwandelte Gymnasiasten. Sie hoben ihre Beine mit merkwürdig leblosen Bewegungen, wie zwei Zirkelhälften, — ihre Beine waren aber mit Haaren bewachsen und hatten Hufe statt der Füße. Anstelle der Schwänze wuchsen ihnen Ruten und die Jungen schwangen sie pfeifend hin und her und quiekten durchdringend bei jeder Bewegung. Das graue, gespenstische Tierchen grunzte unter dem Tisch und freute sich über die Lustbarkeit dieser Achten.
Peredonoff dachte wütend daran, daß das graue, gespenstische Tierchen sich nicht unterstehen würde einen Vorgesetzten etwa zu belästigen.
Man wird es nicht hereinlassen, dachte er voll Neid, die Lakaien werden es mit ihren Besen hinaustreiben.
Endlich konnte Peredonoff das böse und gemeine, piepende Gelächter des Tieres nicht mehr ertragen. Er holte ein Beil aus der Küche und zertrümmerte den Tisch, unter dem es saß. Das Tierchen piepte jämmerlich und gereizt, warf sich zur Seite und rollte davon. Peredonoff zitterte.
Es wird beißen, dachte er, schrie auf vor Entsetzen und ließ sich in einen Stuhl fallen. Aber das graue Tierchen war friedlich verschwunden. Nicht für lange ...
Manchmal nahm Peredonoff die Karten, und — mit einem bösen, haßerfüllten Ausdruck im Gesicht, — zerstach er mit seinem Federmesser die Köpfe in den Bildern. Besonders den Damen. Wenn er die Könige zerschnitt, blickte er ängstlich um sich, ob keiner es sähe, der ihn dann eines politischen Verbrechens anklagen könnte. Aber auch diese Maßregeln halfen nur für kurze Zeit. Wenn Gäste kamen, mußten neue Karten gekauft werden und bald fuhren die Spione in die neuen Karten.
Schon begann Peredonoff sich für einen heimlichen Verbrecher zu halten. Er bildete sich ein, daß er von seiner Studentenzeit an unter polizeilicher Aufsicht gestanden habe. Darum, dachte er, verfolgt man mich auch. Das entsetzte ihn und machte ihn hochmütig.
Ein Zugwind bewegte die Tapeten. Sie raschelten leise und bösartig, und leichte Halbschatten glitten über ihr buntes Muster. Da! Hinter der Tapete versteckt sich der Spion! dachte Peredonoff.
Böse Leute, dachte er traurig, nicht umsonst haben sie die Tapeten so lose an die Wand geheftet, damit der flache, geschmeidige und geduldige Bösewicht sich dahinter verbergen kann. Man kennt solche Beispiele von früher her.
Trübe Erinnerungen wurden in ihm lebendig. Irgend jemand versteckte sich hinter der Tapete, irgend jemand wurde erdolcht. War es nun mit einer Pfrieme oder mit einem Dolch?
Peredonoff kaufte sich eine Pfrieme. Als er nach Hause kam, bewegten sich die Tapeten ungleichmäßig, wie aufgeregt, — der Spion fühlte die Gefahr und wollte vielleicht irgendwohin fortkriechen. Ein Schatten flackerte auf, sprang an die Decke und drohte und zuckte dort oben.
Peredonoff kochte vor Wut. Weit ausholend stieß er mit der Pfrieme in die Tapete. Ein Zittern lief durch die Wand; Peredonoff brüllte triumphierend auf und begann zu tanzen, die Pfrieme in der Hand schwingend. Warwara kam herein.
„Warum tanzst du allein, Ardalljon Borisowitsch?“ fragte sie, mit dem gewohnten, stumpfen und gemeinen Lächeln auf den Lippen.
„Ich schlug eine Wanze tot,“ erklärte Peredonoff verdrießlich.
Seine Augen funkelten in wilder Freude. Doch eins war nicht gut: es roch so entsetzlich. Der erstochene Spion faulte und stank hinter der Tapete. Entsetzen und Jubel schüttelten Peredonoff: — er hatte einen Feind erschlagen.
Durch diesen Mord war sein Herz hart, ganz hart geworden. Denn der eingebildete Mord war in Peredonoffs Vorstellung ein wirklich geschehener Mord. Ein sinnloser Schauder hatte ihn gepackt und reifte in ihm die Bereitschaft zum Verbrechen. Und die unbewußte, dunkle, sich in den niedrigsten Instinkten seines Seelenlebens verbergende Vorstellung von einem bevorstehenden Morde, der quälende Drang zum Morde, dieser Zustand seiner ursprünglichen Bosheit, — knechtete seinen frevlerischen Willen. Noch geknechtet, — wie viele Geschlechter trennen uns vom Urvater Kain! — suchte sich dieser Drang Befriedigung im Zerbrechen und Verderben von allerhand Gegenständen, im Zuhauen mit der Axt, im Schneiden mit dem Messer, darin, daß er die Bäume im Garten fällte, damit der Spion nicht hinter ihnen vorgucken konnte. Und an dieser Zerstörungswut freute sich der uralte Dämon, der Geist der vorzeitlichen Verwirrung, das morsche Chaos, während die wilden Augen des wahnsinnigen Menschen ein Entsetzen widerspiegelten, nur vergleichbar dem Entsetzen fürchterlichster Qualen vor dem Tode.
Und immer wiederholten sich dieselben und dieselben Schrecken und quälten ihn.
Warwara machte sich gelegentlich lustig über Peredonoff und schlich an die Tür jenes Zimmers, in dem er saß und redete mit verstellter Stimme. Er bebte vor Furcht, ging leise, leise, um den Feind zu fangen, — und fand Warwara.
„Mit wem flüsterst du?“ fragte er sie bedrückt.
Warwara schmunzelte und sagte:
„Das scheint dir nur so, Ardalljon Borisowitsch!“
„Alles kann mir doch nicht nur scheinen,“ murmelte er traurig, „es gibt doch eine Wahrheit in der Welt.“
Ja! Auch Peredonoff suchte nach dieser Wahrheit, folgend der Gesetzmäßigkeit eines jeden bewußten Lebens, und dieses Suchen quälte ihn. Ihm war es unbewußt, daß er, so wie alle Menschen, nach der Wahrheit verlangte, und darum war seine Unruhe so verworren und düster. Er konnte die Wahrheit für sich nicht finden, und hatte sich verirrt und kam um.
Schon begannen die Bekannten Peredonoff mit der Fälschung zu necken. Mit der in unserer Stadt eigentümlichen Grobheit den Schwachen gegenüber sprach man in seiner Gegenwart von dem Betrug.
Die Prepolowenskaja fragte spöttisch lächelnd:
„Wann werden Sie eigentlich Ihre Inspektorstelle beziehen, Ardalljon Borisowitsch?“
Warwara antwortete der Prepolowenskaja für ihn, mit verhaltener Wut:
„Wenn die Ernennung eintrifft, werden wir fahren.“
Peredonoff wurde durch diese Fragen noch trauriger:
Wie soll ich denn leben, wenn man mir keine Stelle gibt? dachte er.
Er schmiedete immer neue Pläne zur Abwehr seiner Feinde. Er stahl aus der Küche das Beil und versteckte es unter dem Bett. Er kaufte sich ein schwedisches Messer und trug es stets bei sich in der Tasche. Immer schloß er sich ein. Zur Nacht legte er Schlageisen rings um das Haus, auch in die Zimmer, und sah dann nach, ob sich niemand darin gefangen hatte.
Diese Schlageisen waren natürlich so konstruiert, daß sich nie ein Mensch darin fangen konnte: sie klemmten wohl, hielten aber nicht fest, und man konnte mit ihnen auf und davon gehen. Weder hatte Peredonoff technische Kenntnisse, noch ein rasches Auffassungsvermögen. Als er sich von Morgen zu Morgen davon überzeugte, daß sich niemand gefangen hatte, glaubte er, seine Feinde hätten die Schlageisen verdorben. Und das erschreckte ihn wieder.
Peredonoff beobachtete ganz besonders scharf Wolodin. Oft ging er zu Wolodin, wenn er wußte, daß dieser nicht zu Hause war, — und stöberte bei ihm, ob er ihm nicht irgendwelche wichtigen Papiere gestohlen hätte.
Peredonoff begann zu erraten, was die Fürstin eigentlich wollte, nämlich, daß er ihr wieder seine Liebe zuwenden sollte. Sie war ihm widerlich und ekelhaft.
Hundertfünfzig Jahre ist sie alt, dachte er wütend.
Ja, alt ist sie, dachte er, aber wie mächtig ist sie doch! Und seinem Widerwillen paarte sich das Verführerische. Sie ist nur ganz wenig warm und riecht ein bißchen nach Leichen, — stellte Peredonoff sie sich vor und erstarb in wilden, wollüstigen Schauern.
Vielleicht kann ich mich mit ihr einigen, und sie wird sich erbarmen. Soll ich ihr einen Brief schreiben?
Und diesmal überlegte Peredonoff nicht lange und verfaßte einen Brief an die Fürstin. Er schrieb:
„Ich liebe Sie, weil Sie kalt und fern sind. Warwara schwitzt; es ist heiß, mit ihr zusammen zu schlafen; es weht von ihr, wie von einem Ofen. Ich wünsche mir eine kalte und ferne Geliebte. Kommen Sie hierher und entsprechen Sie meinen Wünschen.“
Er schickte den Brief ab und bereute es. Was wird da herauskommen? Vielleicht durfte ich nicht schreiben, dachte er, vielleicht mußte ich warten, bis die Fürstin selber kommt.
Dieser Brief war so zufällig geschrieben, wie Peredonoff vieles zufällig tat, — wie ein Toter, der durch äußere Gewalten bewegt wird, aber diese Gewalten gehen nur ungern daran, sich mit ihm abzugeben: — die eine Kraft spielt mit dem Kadaver und überläßt ihn dann einer anderen.
Bald erschien auch das graue, gespenstische Tierchen, — es tummelte sich lange Zeit um Peredonoff, wie auf einem Lasso, und neckte ihn immerzu. Und ganz lautlos war es geworden und lachte nur, am ganzen Körper bebend. Aber es flammte auf in trübgoldnen Funken, — das böse, zudringliche Tier, — es drohte und brannte in unerträglichem Triumphe. Und der Kater bedrohte Peredonoff, er funkelte mit den Augen und miaute unverschämt und drohend.
Worüber freuen sie sich? dachte Peredonoff betrübt und begriff plötzlich: das Ende ist nahe. Die Fürstin ist schon hier, nah, ganz nah.
Vielleicht in diesem Kartenspiel.
Unzweifelhaft, — sie ist es, — die Pik- oder die Coeurdame. Vielleicht versteckt sie sich auch im anderen Spiel oder hinter anderen Karten, und wer sie ist, — man weiß es nicht. Das Unglück wollte es, daß Peredonoff sie nie gesehen hatte. Warwara zu fragen, lohnte nicht, — sie würde doch lügen.
Endlich beschloß Peredonoff, das ganze Spiel zu verbrennen. Mögen sie alle verbrennen. Wenn sie ihm zum Trotz sich in die Karten verkriechen, so sind sie auch allein an allem schuld.
Peredonoff paßte eine Zeit ab, als Warwara nicht zu Hause war, und als der Ofen im Saal geheizt wurde, — und warf die Karten, das ganze Spiel, — in den Ofen.
Sprühend entfalteten sich nie gesehene, blaßrote Blumen, — und brannten, und ihre Ränder verkohlten. Peredonoff blickte voller Entsetzen auf diese flammenden Blumen.
Die Karten krümmten sich, warfen sich, bewegten sich, als wollten sie aus dem Feuer herausspringen. Peredonoff ergriff den Schürhaken und hieb auf die Karten ein. Kleine, grelle Funken sprühten auf, und plötzlich erhob sich mitten aus dem Feuertanz der bösen, blendenden Funken, — die Fürstin, — eine kleine, aschgraue Frau, ganz umschüttet von erstickenden Flammen: sie schrie durchdringend mit ihrem feinen Stimmchen, zischte und spuckte in die Glut.
Peredonoff stürzte zu Boden und brüllte auf vor Entsetzen. Dunkelheit umfing ihn, kitzelte ihn und lachte mit tausend raunenden Stimmen.
Sascha war ganz entzückt von Ludmilla, aber irgend etwas hinderte ihn daran, der Kokowkina von ihr zu erzählen. Als schämte er sich.
Manchmal fürchtete er sich vor ihrem Kommen. Sein Herz stand still, und unwillkürlich runzelte er die Brauen, wenn er ihren rosagelben Hut für Augenblicke an seinem Fenster aufleuchten sah. Dennoch erwartete er sie erregt und ungeduldig, und war traurig wenn sie lange nicht gekommen war. Die widersprechendsten Gefühle bewegten ihn, — dunkle, unklare Gefühle, — sie waren sündhaft, denn sie waren frühreif, — und sie waren süß, weil sie sündhaft waren.
Ludmilla war gestern und heute nicht gekommen. Sascha zerquälte sich in Erwartung und hatte schon aufgehört zu hoffen. Da kam sie. Er strahlte; er lief ihr stürmisch entgegen und küßte ihre Hände.
„Wo steckten Sie nur so lange?“ warf er ihr brummig vor, „zwei ganze Tage habe ich Sie nicht gesehen.“
Sie lachte und freute sich. Der süße, matte, würzige Duft japanischer Nelken strömte von ihr aus, als rieselte er aus ihren dunkelblonden Locken.
Ludmilla und Sascha gingen vor die Stadt spazieren. Sie hatten die Kokowkina aufgefordert mitzukommen, — sie wollte nicht.
„Ich alte Frau soll spazieren gehen,“ sagte sie, „mit euch kann ich nicht Schritt halten. Geht allein.“
„Wir werden dumme Streiche machen,“ lachte Ludmilla.
Die Luft war warm, still, erdrückend-zärtlich und erinnerte an Unwiderbringliches. Die Sonne, als wäre sie krank, flammte trübe und purpurn auf dem bleichen, müden Himmel. Welke Blätter lagen starr auf der dunklen Erde, tot ..
Ludmilla und Sascha stiegen abwärts in eine Schlucht. Da war es frisch, kühl, fast feucht, — zärtliche, herbstliche Müdigkeit breitete sich zwischen den schräg abfallenden Hängen.
Ludmilla ging voran. Sie hatte ihr Kleid geschürzt. Man sah ihre kleinen Schuhe und die fleischfarbenen Strümpfe. Sascha blickte zu Boden, um nicht über die Wurzeln zu stolpern, und sah die Strümpfe. Ihm schien es, als hätte sie nur Schuhe an, ohne Strümpfe. Ein heißes Gefühl und Scham wallten in ihm auf. Er wurde über und über rot. Der Kopf schwindelte ihm.
Wie im Versehen hinfallen zu ihren Füßen, dachte er, ihr den Schuh abziehen und das zarte Füßchen küssen.
Als fühlte sie Saschas heiße Blicke und seine ungeduldige Erwartung, kehrte sich Ludmilla lachend zu ihm:
„Du siehst auf meine Strümpfe?“ fragte sie.
„Nein, nur so,“ murmelte er verlegen.
„Ach, ich habe so furchtbar komische Strümpfe,“ sagte Ludmilla lachend, ohne auf ihn zu hören. „Man könnte denken, ich trage meine Schuhe auf dem nackten Fuß, — ganz fleischfarben sind sie. Nicht wahr, die Strümpfe sind sehr komisch?“
Sie kehrte ihr Gesicht zu Sascha und hob ihre Kleider.
„Sind sie komisch?“ fragte sie.
„Nein, sie sind schön,“ sagte Sascha, rot vor Verlegenheit.
Ludmilla heuchelte Erstaunen, sah ihn an und rief:
„Sag doch einer! Wohin der die Schönheit verlegt!“
Sie lachte und ging weiter. Sascha folgte ihr ungeschickt, stolperte allaugenblicklich und wußte nicht wohin vor Verlegenheit.
Sie hatten die Schlucht durchschritten und setzten sich auf einen vom Winde gebrochenen Birkenstamm. Ludmilla sagte:
„Oh wieviel Sand ich in den Schuhen habe; ich kann nicht mehr gehen.“
Sie zog den Schuh ab, klopfte ihn aus und blickte schelmisch auf Sascha.
„Ein schönes Füßchen?“ fragte sie.
Sascha wurde noch röter und wußte gar nicht, was er sagen sollte.
Ludmilla zog den Strumpf vom Fuß.
„Ein weißes Füßchen?“ fragte sie wieder, eigentümlich und schelmisch lächelnd. „Auf die Kniee! Küssen!“ sagte sie streng, und eine bezwingende Härte breitete sich über ihr Gesicht.
Sascha kniete schnell nieder und küßte ihren Fuß.
„Es ist angenehmer ohne Strümpfe,“ sagte Ludmilla, schob die Strümpfe in ihre Tasche und zog die Schuhe auf die bloßen Füße.
Und ihr Gesicht wurde wieder ruhig und fröhlich, als hätte Sascha nicht vor einem Augenblicke noch vor ihr gekniet und ihre nackten Füße geküßt. Sascha fragte:
„Liebste, wirst du dich nicht erkälten?“
Weich und bebend klang seine Stimme. Ludmilla lachte auf.
„Das fehlte noch! Ich bin doch daran gewöhnt; ich bin nicht so verzärtelt.“
Einmal war Ludmilla gegen Abend zur Kokowkina gekommen und bat Sascha:
„Komm zu mir; du mußt mir helfen ein kleines Regal zu befestigen.“
Sascha liebte es, Nägel einzuschlagen und hatte Ludmilla irgendwann versprochen, ihr bei der Einrichtung ihres Zimmers zu helfen. Auch heute war er gleich einverstanden und war froh, einen harmlosen Vorwand zu haben, um zu Ludmilla zu gehen. Und der unschuldige, etwas säuerliche Duft des extra-Mugnet, der von Ludmillas blaßgrünem Kleide wehte, beruhigte ihn.
Für die Arbeit hatte sich Ludmilla hinter dem Bettschirm umgezogen. Nun trat sie vor Sascha in einem kurzen aber sehr eleganten Röckchen, ihre Arme waren bis zu dem Ellenbogen frei, — die Schuhe trug sie an den bloßen Füßen, — parfumiert mit dem süßen, matten, würzigen Dufte japanischer Nelken.
„Oh, wie du elegant bist!“ sagte Sascha.
„Ach was, — elegant!“ sagte Ludmilla und zeigte lächelnd auf ihre Füße, „ich bin doch barfuß,“ sie sprach diese Worte gedehnt, verführerisch, verschämt.
Sascha zuckte nur mit den Schultern und sagte:
„Du bist immer elegant. Also los! An die Arbeit! Wo sind die Nägel?“ fragte er rührig.
„Warte doch ein wenig,“ antwortete Ludmilla, „sitz doch nur ein Augenblickchen neben mir. Es sieht fast aus, als kämest du nur in Geschäften, und als wäre es dir langweilig, mit mir zu sprechen.“
Sascha wurde rot.
„Liebste,“ sagte er weich, „wie lange Sie nur wollen sitze ich neben Ihnen, wenn Sie mich nur nicht fortjagen. Ich habe aber noch meine Schulaufgaben vor.“
Ludmilla seufzte leicht auf und sagte ganz langsam:
„Du wirst immer schöner, Sascha.“
Er wurde sehr rot, lachte und streckte die Zungenspitze vor.
„Was Sie sich ausdenken,“ sagte er. „Ich bin doch kein Fräulein, daß ich schöner werde.“
„Dein Gesicht ist wunderschön. Aber der Körper. Zeig ihn mir, — nur bis zum Gürtel,“ bat Ludmilla zärtlich und umfaßte seine Schultern.
„Was Sie sich ausdenken!“ sagte Sascha verschämt und empfindlich.
„Was ist denn dabei?“ fragte Ludmilla leichthin, „was hast du denn für Geheimnisse?“
„Jemand könnte hereinkommen,“ sagte Sascha.
„Wer denn?“ sagte sie ebenso leicht und sorglos. „Wir verschließen die Tür. Da kann niemand herein.“
Ludmilla lief rasch an die Tür und schob den Riegel vor. Sascha erriet, daß es ihr Ernst war. Kleine Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn. Er sagte ganz aufgeregt:
„Nein, nein, tun Sie es nicht.“
„Dummchen! warum denn nicht?“ fragte sie dringend.
Sie zog Sascha an sich und knöpfte seine Bluse auf. Sascha wehrte sich und griff nach ihren Händen. Sein Gesicht zeigte den Ausdruck des Schreckens, — und ein, dem Schreck ähnliches Gefühl der Scham überkam ihn. Und davon wurde er plötzlich ganz schwach. Ludmilla zog die Stirn in Falten und entkleidete ihn entschlossen. Sie schnallte den Gürtel ab und zog ihm irgendwie die Bluse herunter. Sascha wehrte sich immer verzweifelter. Sie drehten sich durch das ganze Zimmer und stolperten über Tische und Stühle. Ein süßer, reizender Duft wehte von Ludmilla, machte Sascha trunken und schwach.
Mit einem geschickten Stoß in die Brust brachte ihn Ludmilla zum Fallen. Er fiel auf das Sofa. Sie hatte sich an das Hemd geklammert, und ein Knopf riß ab. Schnell entblößte sie seine Schulter und wollte den Aermel vom Arm ziehen.
Sich wehrend schlug sie Sascha im Versehen mit der flachen Hand ins Gesicht. Er wollte sie natürlich nicht schlagen, aber der Schlag sauste aus vollem Arm, stark und schallend auf Ludmillas Backe. Ludmilla erbebte, taumelte, sie wurde blutrot, ließ aber nicht los.
„Böser, böser Junge! Du schlägst!“ rief sie atemlos.
Sascha war bestürzt, er ließ die Arme sinken und blickte schuldbewußt auf die weißen Striemen auf Ludmillas Backe; es waren die Spuren seiner Finger. Ludmilla benutzte seine Verwirrung. Schnell zog sie ihm das Hemd von beiden Schultern, daß es bis zu den Ellenbogen herunterglitt. Er kam wieder zur Besinnung, riß sich los, aber dadurch wurde es nur schlimmer, — Ludmilla zog an den Aermeln, und das Hemd fiel bis zum Gürtel herunter. Sascha fühlte die Kälte, und wieder stieg in ihm das unerbittliche Schamgefühl auf, daß ihm der Kopf schwindelte. Er war nackt bis an die Hüften.
Ludmilla hielt ihn fest am Arm; mit der freien Hand streichelte sie seine nackten Schultern und blickte in seine erstarrten, unter den dichten, schwarzen Wimpern merkwürdig flackernden Augen.
Und dann zitterten diese Wimpern, das Gesicht verzog sich zu einer lächerlich-kindischen Grimasse, — und plötzlich weinte und schluchzte er.
„Lassen Sie mich!“ rief er schluchzend. „Sie sind frech!“
„Das Baby klöhnt!“ sagte sie ärgerlich und verlegen und stieß ihn fort.
Sascha kehrte ihr den Rücken und wischte sich mit den Händen die Tränen aus den Augen. Er schämte sich, daß er geweint hatte. Er bemühte sich, an sich zu halten.
Ludmilla blickte heiß auf seinen nackten Rücken.
All die Herrlichkeit in der Welt! dachte sie. Alle diese Schönheit verbergen die Menschen voreinander — warum, warum?
Sascha krümmte verschämt den nackten Rücken, er bemühte sich, das Hemd anzuziehen, aber er verknüllte es nur; es krachte in den Nähten unter seinen zitternden Fingern und es war ihm auf keine Weise möglich, mit den Armen durch die Aermel zu schlüpfen. Dann nahm er die Bluse, — mochte das Hemd einstweilen so bleiben.
„O, Sie fürchten wohl für Ihr Eigentum. Ich werde Ihnen nichts stehlen,“ sagte Ludmilla, und ihre Stimme klang böse vor verhaltenen Tränen.
Heftig schleuderte sie ihm den Gurt zu und kehrte sich zum Fenster. Was sollte sie mit diesem albernen Jungen in seiner grauen Bluse! Eine widerliche Zierpuppe!
Sascha schlüpfte flink in die Bluse, brachte sein Hemd irgendwie in Ordnung und blickte schüchtern, unsicher und verschämt auf Ludmilla. Er sah, daß sie sich mit den Händen die Augen rieb. Leise trat er zu ihr und blickte ihr ins Gesicht. Und die Tränen, die über ihre Wangen rollten, lösten in ihm plötzlich das Gefühl zärtlichen Mitleids und vergifteten ihn. Er schämte sich nicht mehr, und er ärgerte sich nicht.
„Warum weinen Sie, liebste Ludmilla?“ fragte er leise.
Dann fiel ihm sein Schlag ein und er wurde plötzlich rot.
„Ich habe Sie geschlagen. Verzeihen Sie mir. Ich hab’ es nicht mit Absicht getan,“ sagte er bescheiden.
„Dummer Junge! schmilzst du, wenn du mit nackten Schultern dasitzt,“ sagte Ludmilla anklagend. „Du fürchtest dich wohl vor der Leidenschaft! Schönheit und Unschuld werden welken.“
„Warum ist denn das nötig?“ fragte Sascha mit verlegener Miene.
„Warum?“ sagte sie leidenschaftlich. „Ich lieb die Schönheit. Ich bin eine Heidin, eine Sünderin. Im alten Athen hätte ich geboren werden müssen. Ich liebe die Blumen, den Duft, die leuchtenden Gewänder, den nackten Körper. Man sagt, es gäbe eine Seele. Ich weiß es nicht. Ich habe sie nicht gesehen. Und was sollte ich damit? Ich möchte sterben wie eine Nixe, möchte hinschwinden wie ein Wölkchen vor der Sonne. Ich liebe den Körper, — den starken, geschmeidigen, nackten Körper, der den Genuß sucht.“
„Auch leiden kann er,“ sagte Sascha leise.
„Auch leiden! Auch das ist gut!“ flüsterte sie heiß. „Süß ist es, Schmerz zu haben — der Körper muß es nur fühlen; sehen muß man das Nackte und die Schönheit des Leibes.“
„Aber man schämt sich doch ohne Kleider!“ sagte Sascha schüchtern.
Ludmilla stürzte vor ihm auf die Knie.
„Lieber, mein Abgott, Knabe — göttlicher!“ flüsterte sie atemlos und bedeckte seine Hände mit Küssen, „für eine Minute, für eine Minute nur laß mich an deinen Schultern mich satt sehen!“
Sascha seufzte auf; er senkte die Augen, wurde rot, und ungelenk zog er die Bluse vom Körper.
Mit fiebernden Händen umschlang ihn Ludmilla und bedeckte mit wilden Küssen seine vor Scham bebenden Schultern.
„Siehst du, — wie gehorsam ich bin!“ sagte er und lächelte gezwungen, wie um durch einen Scherz seine Verlegenheit zu verbergen.
Ludmilla küßte eifrig seine Arme, von den Schultern bis zu den Fingerspitzen, und Sascha — erregt und ganz versunken in wollüstigen, quälenden Gedanken — wehrte ihr nicht. Ihre Küsse waren wie eine heiße Anbetung, als küßten ihre brennenden Lippen nicht einen Knaben, sondern den jugendlichen Gott, in bebender, geheimnisvoller Hingabe an seinen erblühenden Leib.
Hinter der Tür standen aber Darja und Valerie; sie guckten abwechselnd, einander ungeduldig stoßend, durch das Schlüsselloch und erstarben in heißen, wollüstigen Schauern.
„Es ist Zeit, daß ich mich ankleide,“ sagte Sascha endlich.
Ludmilla seufzte, — und mit demselben andächtigen Ausdruck in den Augen zog sie ihm Hemd und Bluse an, und diente ihm ehrfürchtig und vorsichtig.
„So bist du eine Heidin?“ fragte Sascha zweifelnd.
Ludmilla lachte fröhlich.
„Und du?“ fragte sie.
„Das fehlte noch!“ antwortete Sascha fest, „ich kenne den ganzen Katechismus auswendig.“
Ludmilla lachte aus vollem Halse. Sascha blickte sie lächelnd an und fragte:
„Warum gehst du denn in die Kirche?“
Ludmilla hörte auf zu lachen und wurde nachdenklich.
„Ja,“ sagte sie, „man muß doch beten. Etwas beten, etwas weinen, eine Kerze weihen, sich an Vergangenes erinnern. Und ich liebe das alles, — Kerzen, Ampeln, Weihrauch, Meßgewänder, Gesang, — wenn die Sänger gut singen, — die Heiligenbilder in den schönen, mit Bändern geschmückten Einfassungen. Ja, das ist alles so wunderbar. Und dann liebe ich noch ... Ihn ... weißt du .. den Gekreuzigten ...“
Die letzten Worte sagte Ludmilla ganz leise, fast flüsternd; sie wurde rot, als wäre sie schuldig und senkte die Augen.
„Weißt du, manchmal träume ich von ihm — er hängt am Kreuze, auf seinem Körper schimmern kleine Blutstropfen.“
Seit jenem Tage kam es oft vor, daß Ludmilla Sascha in ihrem Zimmer entkleidete. Erst schämte er sich bis zu Tränen, — doch gewöhnte er sich bald daran. Schon blickten seine Augen klar und ruhig, wenn Ludmilla ihm das Hemd herunterstreifte, seine Schultern entblößte, ihn streichelte und auf den Rücken klopfte. Und dann endlich entkleidete er sich selber.
Für Ludmilla war es ein angenehmes Gefühl, ihn halbnackt auf ihren Knien zu haben, ihn zu umarmen und zu küssen.
Sascha war allein zu Hause. Er erinnerte sich an Ludmillas heiße Blicke, wenn sie seinen Körper betrachtete.
Was will sie nur? dachte er.
Und plötzlich stieg ihm das Blut zu Kopf, und das Herz schlug ihm so weh. Dann wurde er ganz ausgelassen und fröhlich. Er warf den Stuhl zur Seite, schlug einige Purzelbäume, warf sich auf den Boden, sprang auf die Möbel, — und tausend sinnlose Bewegungen schleuderten ihn aus einer Ecke des Zimmers in die andere. Sein fröhliches, helles Gelächter schallte durchs ganze Haus.
In dem Augenblick kam die Kokowkina nach Hause; sie hörte den ungewohnten Lärm und trat in Saschas Zimmer. Verständnislos blieb sie auf der Schwelle stehen und schüttelte nur den Kopf.
„Was ist in dich gefahren, Saschenka!“ sagte sie, „toll doch mit deinen Freunden herum, aber nicht allein. Schäm dich, mein Lieber, — du bist kein Kind mehr.“
Sascha stand still, — vor Verlegenheit schienen ihm die Hände zu ersterben, — sie waren so schwer und ungelenk, — aber sein ganzer Körper zitterte vor Erregung.
Einmal kam die Kokowkina gerade dazu, als Ludmilla Sascha mit Bonbons fütterte.
„Sie verwöhnen ihn,“ sagte sie freundlich. „Er liebt sehr zu naschen.“
„Ja, und er schilt mich, — ich wäre ein freches Ding,“ beklagte sich Ludmilla.
„Das darfst du doch nicht, Saschenka,“ tadelte die Kokowkina zärtlich. „Warum schiltst du sie denn?“
„Ja — sie läßt mir keine Ruhe,“ sagte Sascha stockend.
Er blickte Ludmilla böse an und wurde puterrot. Ludmilla lachte laut.
„Klatschbase,“ flüsterte ihr Sascha zu.
„Du sollst nicht schimpfen, Saschenka,“ verwies ihn die Kokowkina. „Man darf nicht grob werden.“
Sascha blickte schelmisch auf Ludmilla und brummte leise:
„Ich tu’s nicht wieder.“
Und jedesmal, wenn Sascha kam, verschloß sich Ludmilla mit ihm in ihrem Zimmer; dann entkleidete sie ihn und steckte ihn in die verschiedensten Trachten. Hinter Lachen und Scherzen verbargen sie ihre süße Scham.
Zuweilen schnürte sie ihn in ihr Korsett und zog ihm ihre Kleider an. Im Dekolletee sahen Saschas nackte, volle, zartgerundeten Arme und seine vollen Schultern sehr schön aus. Er hatte eine gelbliche Haut, aber — was selten vorkommt: sie war gleichmäßig und zart in der Färbung. Ludmillas Röcke, Schuhe und Strümpfe, — alles paßte ihm vorzüglich und stand ihm ausgezeichnet. Wenn er ganz als Dame angekleidet war, setzte er sich gehorsam hin und spielte mit einem Fächer. So sah er tatsächlich einem Mädchen täuschend ähnlich, und er bemühte sich auch, sich dementsprechend zu geben.
Nur eins war lästig — Saschas kurze Haare. Ludmilla wollte ihm keine Perücke aufsetzen oder ihm einen falschen Zopf anstecken, — das kam ihr widerlich vor.
Sie lehrte ihn tiefe Knixe zu machen. Zuerst verbeugte er sich unbeholfen und verlegen. Aber er hatte die natürliche Grazie, wenn sich auch die eckigen, knabenhaften Bewegungen nicht abgewöhnen ließen. Errötend und lachend lernte er fleißig zu knixen und unsinnig zu kokettieren.
Zuweilen nahm Ludmilla seine nackten, schlanken Hände und küßte sie. Sascha duldete es ruhig und blickte lachend auf Ludmilla. Manchmal hielt er ihr die Hände an die Lippen und sagte:
„Küß.“
Aber ihm und ihr gefielen die anderen Trachten besser, die Ludmilla selber für ihn erfunden hatte: im Fischerkostüm mit nackten Beinen, oder barfuß im Chiton eines athenischen Jünglings.
Ludmilla kleidet ihn an und bewundert ihn. Sie selbst wird so blaß und traurig.
Sascha saß auf Ludmillas Bett, spielte mit den Falten des Chitons und baumelte mit den Beinen. Ludmilla stand vor ihm, blickte ihn an und ein glückseliger Ausdruck des Vergessens lag auf ihrem Gesicht.
„Wie dumm du bist!“ sagte Sascha.
„In meiner Dummheit ist so viel Glück!“ flüsterte Ludmilla erbleichend; sie weinte und küßte Saschas Hände.
„Warum weinst du denn?“ fragte er sorglos lächelnd.
„Mein Herz ist erfüllt von Freude. Die sieben Schwerter der Glückseligkeit durchbohrten meine Brust; — wie sollte ich nicht weinen?“
„Du bist ein Dummchen! wirklich ein Dummchen!“ sagte Sascha lachend.
„Und du bist klug!“ sagte Ludmilla plötzlich gereizt; sie trocknete ihre Tränen und seufzte schwer. „Begreif denn, dummer Junge,“ sprach sie mit leiser, überzeugender Stimme, „nur in der Sinnlosigkeit ist Glück und Weisheit.“
„Nun ja!“ sagte Sascha ungläubig.
„Man muß vergessen, sich selber vergessen, dann wirst du alles verstehen,“ flüsterte Ludmilla. „Glaubst du etwa, die weisen Leute brauchten zu denken?“
„Wie denn sonst?“
„Sie wissen. Es ist ihnen gegeben: nur zu sehn brauchen sie und alles ist vor ihnen enthüllt.“
Es war an einem stillen Herbstabend. Nur wenn der Wind durch die Zweige der Bäume strich, hörte man hinter dem Fenster sein leises Rauschen.
Sascha und Ludmilla waren allein. Sie hatte ihm das Fischerkleid mit rosa Seide angezogen; er war barfuß und lag auf einem niedrigen Ruhebett. Sie saß ihm zu Füßen, war selber barfuß und hatte nur ein Hemd an. Sie hatte Saschas Körper und sein Kleid parfumiert, es war ein schwerer, saftiger, fast zerbrechlicher Duft, wie ein regungsloser Geist, der in die Berge und ins fremdblühende Tal gebannt ist.
An ihrem Halse blitzten große, grelle Perlengeschmeide, goldene Filigran-Armbänder klirrten an ihren Händen. Ihr Körper duftete nach Iris, — ein atemraubender, körperlicher, erregender Duft, der träge Träume gebar und gesättigt war von langsam fließenden, verdunstenden Wassern.
Sie zerquälte sich, seufzte schwer, blickte ihm ins dunkle Gesicht und auf seine blau-schwarzen Wimpern und in die nächtigen Augen. Sie legte ihren Kopf auf seine nackten Kniee und ihre hellen Locken glitten über die bräunliche Haut. Sie küßte seinen Körper und der Kopf schwindelte ihr von dem starken, seltenen Duft, der sich mit dem Geruch des jungen Leibes mischte.
Sascha lag da und lächelte mit einem stillen, falschen Lächeln. Ein unklares Verlangen wurde in ihm groß und quälte ihn so süß. Und als Ludmilla seine Kniee und seine Füße küßte, erweckten diese zärtlichen Küsse in ihm quälende, träumerische Gedanken. Er wollte ihr etwas antun, etwas Liebes, oder ihr weh tun; etwas Zartes, oder etwas, davor man sich schämt, — aber er wußte nicht was. Sollte er ihre Füße küssen? Sollte er sie schlagen, viel und stark, mit langen, biegsamen Ruten? Sie sollte lachen vor Freude, oder schreien vor Schmerz.
Und beides, das eine, wie das andere war ihr vielleicht erwünscht, aber es war zu wenig. Was wollte sie denn? Da sind sie nun beide halbnackt, und ihren durch nichts gebundenen Körpern verbindet sich ein Verlangen und eine schützende Scham, — wo liegt nun das Geheimnis des Körpers? Wie bringt man sein Blut und seinen Leib ihren Wünschen und der eigenen Scham zum süßen Opfer?
Aber Ludmilla quälte sich und wand sich zu seinen Füßen, erbleichend unter ihren unmöglichen Wünschen, daß es ihr heiß und kalt wurde. Sie flüsterte voller Leidenschaft:
„Bin ich nicht schön? Sind meine Augen nicht flammend? Sind meine Locken nicht reich? Sei gut! Sei lieb zu mir, reiß die Geschmeide von mir, zerbrich meine Reifen!“
Sascha fürchtete sich, und unmögliche Verlangen marterten und quälten ihn.
Am frühen Morgen erwachte Peredonoff. Jemand blickte auf ihn aus riesigen, trüben, viereckigen Augen. Vielleicht war es Pjilnikoff. Peredonoff ging ans Fenster und goß Wasser auf das drohende Gespenst.
Alles war verhext und bezaubert. Das wilde gespenstische Tierchen quiekte; Mensch und Vieh blickten ihm drohend und tückisch entgegen. Alles war ihm feindlich; er stand einer gegen alle.
In den Unterrichtsstunden verleumdete er seine Kollegen, den Direktor, die Eltern der Schüler. Die Gymnasiasten hörten ihm mit Mißtrauen zu. Einige niedrig Gesinnte suchten ihm zu schmeicheln und drückten ihm ihre Teilnahme aus. Andere schwiegen trotzig, oder traten heftig für ihre Eltern ein, wenn Peredonoff sie angriff. Für diese Knaben hatte er nur böse, ängstliche Blicke, er umging sie, wo er nur konnte und brummte vor sich hin.
In anderen Stunden wieder unterhielt Peredonoff seine Schüler mit blöden Auseinandersetzungen.
Man hatte die Verse Puschkins gelesen:
„Warten Sie,“ sagte Peredonoff, „das muß man richtig verstehen. Hier haben wir eine Allegorie. Die Wölfe gehn paarweise: der Wolf und die gierige Wölfin. Der Wolf ist satt, sie ist hungrig. Die Frau muß immer nach dem Manne essen. Die Frau muß sich in allem dem Manne unterordnen.“
Pjilnikoff war fröhlich; er lächelte und blickte auf Peredonoff aus seinen trügerisch-reinen, tiefschwarzen Augen. Saschas Gesicht ärgerte und quälte Peredonoff. Der verfluchte Bengel bezauberte ihn mit seinem tückischen Lächeln.
Und ist er überhaupt ein Junge? Vielleicht sind es zwei: Bruder und Schwester, und es ist nicht herauszubringen — wer wo ist. Vielleicht kann er sich auch aus einem Knaben in ein Mädchen verwandeln. Nicht umsonst ist er immer so sauber, — denn um sich zu verwandeln, mußte er sich in allerhand Wässerchen waschen, — anders ging es doch nicht. Außerdem roch er immer nach Parfums.
„Womit haben Sie sich parfumiert, Pjilnikoff?“ fragte Peredonoff, „etwa mit Patschuli?“
Die Jungen lachten. Das kränkte Sascha; er wurde rot und schwieg.
Den einfachen Wunsch, zu gefallen, nicht ekelhaft sein zu wollen, — konnte Peredonoff nicht verstehen. Eine jede derartige Erscheinung, und sei es auch an einem Knaben, hielt er für gefallsüchtige Eitelkeit. Wer sich gut kleidete, der hatte — davon war er überzeugt — nur den einen Wunsch, ihm zu schmeicheln. Aus welchem anderen Grunde hätte er sich gut kleiden sollen? Sauberkeit und gute, elegante Kleidung waren ihm zuwider; Parfums waren für sein Empfinden ein Gestank; jedem Parfum zog er den Geruch eines frisch gedüngten Feldes vor, denn — so glaubte er — das ist der Gesundheit zuträglich. Sich schön kleiden, sich sauber halten, sich waschen, — das alles kostet Zeit, Mühe und Arbeit; und der Gedanke an jede Arbeit erschreckte Peredonoff und langweilte ihn. Wie schön wäre es doch, nichts zu tun! Nur essen, trinken und schlafen — nur das!
Saschas Kameraden neckten ihn damit, daß er sich mit Patschuli parfumiert hätte, und daß Ludmilla in ihn verliebt wäre. Er begehrte auf und antwortete heftig, — sie wäre in ihn nicht verliebt; das hätte sich Peredonoff einfach ausgedacht; er — Peredonoff — hätte um Ludmilla angehalten, sie aber habe ihm einen Korb gegeben, — darum wäre er jetzt wütend auf sie und verbreite über sie schlechte Gerüchte. Die Kameraden glaubten ihm, — man kannte doch Peredonoff! — aber sie hörten nicht auf, ihn zu necken; jemanden zu necken ist doch so angenehm.
Peredonoff erzählte hartnäckig jedem, der es hören wollte, wie verderbt Pjilnikoff wäre.
„Er hat sich mit Ludmilla eingelassen,“ sagte er. „Sie küssen sich so eifrig, daß sie schon einen Abc-Schützen geboren hat und mit dem anderen schwanger geht.“
Ueber Ludmillas Liebe zu einem Gymnasiasten redete man sehr übertrieben in der Stadt; man wußte darüber höchst alberne und unanständige Einzelheiten zu berichten. Doch niemand wollte es glauben: Peredonoff hatte die Sache zu sehr gepfeffert. Allein die Liebhaber am Necken — und deren gab es viele in unserer Stadt, — sagten Ludmilla:
„Warum haben Sie sich in den Bengel vernarrt? Das ist eine Beleidigung für unsere erwachsenen jungen Leute.“
Ludmilla lachte und sagte:
„Dummheiten!“
Mit frecher Neugierde blickten die Bürger Sascha überall nach.
Die Witwe des Generals Polujanoff, — sie war reich und stammte aus Kaufmannskreisen, — erkundigte sich nach seinem Alter und fand, daß er noch zu jung wäre; aber nach zwei Jahren würde man ihn zu sich bitten können, um zu seiner Erziehung beizutragen.
Zuweilen machte Sascha Ludmilla Vorwürfe, daß man ihn mit ihr neckte. Ja, es kam sogar vor, daß er sie schlug, aber dann lachte Ludmilla hell und fröhlich.
Um aber den dummen Klatschereien ein Ende zu machen und um Ludmillas Ruf nach dieser peinlichen Geschichte wiederherzustellen, wirkten sämtliche Rutiloffs und ihre zahlreichen Freunde, Verwandten und Bekannten eifrig gegen Peredonoff und führten den Beweis, daß das alles Ausgeburten der Phantasie eines Irrsinnigen wären. Die maßlosen Handlungen Peredonoffs brachten auch viele dazu, an diese Erklärung zu glauben.
In dieser Zeit wurde auch beim Rektor des Lehrbezirks wiederholt gegen Peredonoff Klage geführt. Vom Lehrbezirk wurde eine Anfrage an Chripatsch gerichtet. Dieser berief sich auf seine früheren Ausführungen und fügte hinzu, daß Peredonoffs längeres Verbleiben am Gymnasium direkt eine Gefahr bedeute, da seine seelische Krankheit deutlich bemerkbare Fortschritte mache.
Schon war Peredonoff ganz in der Gewalt seiner wilden Vorstellungen. Allerhand Erscheinungen schlossen ihn von der Welt ab. Seine irrsinnigen stumpfen Augen blickten unstät und blieben an keinem Gegenstande haften, so etwa, als wolle er durch sie durchsehen in die der Wirklichkeit entgegengesetzte Welt, und als suche er nach irgendwelchen Oeffnungen, um durchzusehen.
Wenn er allein war, redete er mit sich selber und stieß ganz sinnlose Drohungen aus:
„Ich werde dich töten! Dich erstechen! Dich einsperren!“
Und Warwara horchte und schmunzelte:
„Aergere dich nur!“ dachte sie schadenfroh.
Sie dachte, es wäre nur Wut; er errät, daß man ihn betrogen hat und ärgert sich. Den Verstand wird er nicht verlieren, — denn ein Dummkopf hat nichts, was er verlieren könnte. Und wenn er auch irrsinnig wird, — was ist dabei! — Der Irrsinn ist eine Unterhaltung für den Dummen.
„Wissen Sie, Ardalljon Borisowitsch,“ sagte Chripatsch einmal, „Sie sehen sehr krank aus.“
„Der Kopf tut mir weh,“ sagte Peredonoff finster.
„Wissen Sie, Verehrtester,“ fuhr der Direktor vorsichtig fort, „ich würde Ihnen doch raten, einstweilen nicht ins Gymnasium zu kommen. Sie sollten sich schonen, Ihren Nerven, die doch scheinbar stark mitgenommen sind, etwas Ruhe gönnen.“
Natürlich, dachte Peredonoff, das ist das allerbeste: nicht mehr ins Gymnasium gehen. Warum war er nicht schon längst auf diesen Gedanken gekommen! Er brauchte sich ja nur krank zu melden, zu Hause zu bleiben und abzuwarten, was werden würde.
„Ja, ja, ich werde nicht kommen, ich bin krank,“ sagte er erfreut zu Chripatsch.
Der Direktor hatte unterdessen ein zweites Mal an den Lehrbezirk geschrieben und wartete von Tag zu Tag auf die Ernennung einiger Aerzte zur Untersuchung. Aber die Beamten beeilten sich nicht. Dafür waren es Beamte.
Peredonoff kam nicht ins Gymnasium und schien ebenfalls etwas zu erwarten.
In den letzten Tagen hatte er sich ganz an Wolodin geheftet. Er fürchtete sich, ihn aus den Augen zu lassen, und dachte immer, Wolodin wolle ihm einen Schaden zufügen. Schon am frühen Morgen, wenn er aufwachte, dachte er traurig an Wolodin: Wo ist er jetzt? Was treibt er?
Manchmal erschien ihm Wolodin: Wolken zogen am Himmel, wie eine Lämmerherde, und unter ihnen tummelte sich Wolodin, den steifen Hut auf dem Kopf und lachte meckernd; auch im Rauche, der den Schornsteinen entstieg, war er zuweilen und verzog sich geschwind, alberne Grimassen schneidend und durch die Luft springend.
Wolodin aber dachte und erzählte es stolz, daß Peredonoff ihn sehr lieb hätte und ohne ihn nicht leben könnte.
„Warwara hat ihn betrogen,“ sagte Wolodin, „er sieht aber, daß ich ihm ein treuer Freund bin, darum hält er zu mir.“
Wenn Peredonoff aus dem Hause trat, um Wolodin aufzusuchen, kam ihm dieser schon entgegen, den steifen Hut auf dem Kopf, ein Spazierstöckchen in der Hand, fröhlich springend und lustig meckernd.
„Warum trägst du immer dein Töpfchen auf dem Kopf?“ fragte ihn Peredonoff einmal.
„Warum sollte ich das Töpfchen nicht tragen, Ardalljon Borisowitsch?“ entgegnete Wolodin fröhlich und verständig, bescheiden und anständig. „Die Mütze mit der Kokarde darf ich nicht tragen, und einen Zylinder aufzusetzen überlasse ich als Uebung den Aristokraten; uns steht das nicht an.“
„Du wirst noch in deinem Töpfchen überkochen,“ sagte Peredonoff verdrießlich.
Wolodin kicherte.
Sie gingen in Peredonoffs Wohnung.
„Wieviel Schritte man machen muß,“ sagte Peredonoff ärgerlich.
„Es ist nützlich, Ardalljon Borisowitsch, sich etwas Motion zu machen,“ versuchte Wolodin ihn zu überzeugen, „arbeiten, spazieren gehn, essen, — dann bleibt man gesund.“
„Nun ja,“ entgegnete Peredonoff, „du glaubst wohl, daß die Leute nach zwei bis dreihundert Jahren noch arbeiten werden?“
„Wie denn sonst? Ohne Arbeit gibt es kein Brot. Brot erhält man für Geld und das Geld muß man verdienen.“
„Ich will kein Brot.“
„Dann gibt’s auch keine Semmeln, keine Pastetchen,“ kicherte Wolodin, „und nichts wofür du dir Schnaps kaufen könntest, und du wirst nichts haben um dir ein Likörchen zu brauen.“
„Nein, die Menschen selber werden nicht arbeiten,“ sagte Peredonoff, „Maschinen werden alles tun; man dreht eine Kurbel, wie am Leierkasten, und fertig ... Aber es ist langweilig, lange zu drehen.“
Wolodin wurde nachdenklich, senkte den Kopf und warf die Lippen auf.
„Ja,“ sagte er grüblerisch, „das wird sehr schön sein. Nur werden wir das nicht mehr erleben.“
Peredonoff sah ihn wütend an und knurrte:
„Du wirst es nicht erleben, — ich wohl.“
„Das gebe Gott,“ sagte Wolodin vergnügt, „daß Sie zweihundert Jahre alt werden, und dreihundert auf allen Vieren kriechen.“
Schon antwortete Peredonoff nicht mehr mit einer Beschwörungsformel, — mochte kommen, was wollte. Er würde sie doch alle besiegen; nur die Augen hübsch offen halten und nicht nachgeben!
Zu Hause setzten sie sich an den Tisch und tranken zusammen. Peredonoff begann von der Fürstin zu erzählen.
In Peredonoffs Vorstellung wurde die Fürstin von Tag zu Tag um Jahre älter und fürchterlicher: gelb, runzelig und gebückt; sie hatte Hauer und war sehr böse.
„Sie ist zweihundert Jahre alt,“ sagte Peredonoff und blickte sonderbar traurig vor sich hin. „Und sie will, daß ich mich wieder mit ihr beriechen soll. Vorher wird sie mir keine Stelle verschaffen.“
„Sag doch einer, was die nicht alles will!“ sagte Wolodin kopfschüttelnd. „So ein altes Weib!“
Peredonoff phantasierte von Morden. Er sagte zu Wolodin, zornig die Brauen runzelnd:
„Dort hinter der Tapete liegt schon einer versteckt. Den andern werde ich aber unter dem Fußboden vernageln.“
Wolodin fürchtete sich nicht und kicherte.
„Riechst du den Gestank dort hinter der Tapete?“ fragte Peredonoff.
„Nein, ich rieche nichts,“ sagte Wolodin und kicherte und krümmte sich vor Lachen.
„Deine Nase ist verstopft,“ sagte Peredonoff. „Nicht umsonst hast du eine rote Nase. Er verfault dort hinter der Tapete.“
„Die Wanze!“ rief Warwara und lachte auf.
Stumpf und würdig blickte Peredonoff vor sich nieder.
Peredonoff, von Tag zu Tag unzurechnungsfähiger, schrieb Denunziationen gegen die Kartenbilder, gegen das gespenstische Tierchen, gegen den Hammel, — er, der Hammel, wäre ein Usurpator, hätte sich für Wolodin ausgegeben, trachtete nach einem hohen Posten, und wäre doch nur ein simpler Hammel; gegen die Waldschänder, — sie hätten alle Birken ausgerodet, es gäbe keine Birkenquasten mehr fürs Dampfbad, und ohne Ruten wäre es schwer, die Kinder zu erziehen; die Espen hätten sie aber stehen lassen, — und wozu wären die Espen gut?
Wenn Peredonoff auf der Straße Gymnasiasten traf, so erschreckte er die kleineren und brachte die größeren zum Lachen durch unflätige, schamlose Worte. Die größeren liefen ihm scharenweise nach und machten sich aus dem Staube, wenn sie einen der Lehrer kommen sahen, — die kleineren liefen vor ihm davon.
Ueberall sah er Gespenster und Gesichte; seine Halluzinationen entsetzten ihn in dem Maße, daß sich seiner Brust ein tolles, stöhnendes Gewinsel entrang. Das graue, gespenstische Tierchen erschien ihm bald blutbesudelt, bald in lauter Flammen; es schrie und brüllte, und sein Gebrüll dröhnte ihm in rasenden Schmerzen durch den Kopf. Der Kater schwoll an zu einer fürchterlichen Größe; er stampfte mit seinen Absätzen und wurde zu einem rothaarigen, schnauzbärtigen Ungetüm.
Sascha war nach dem Mittagessen fortgegangen und zur festgesetzten Zeit, um sieben Uhr, noch nicht heimgekehrt. Die Kokowkina wurde unruhig: wollte Gott es verhüten, daß er zu dieser verbotenen Stunde einem der Lehrer auf der Straße begegnete. Man würde ihn bestrafen, und ihr wäre das so peinlich. Bei ihr hatten immer bescheidene Jungen gelebt, die sich nie in der Nacht herumgetrieben hatten. Sie machte sich auf die Suche nach ihm. Wo sollte er anders sein, als bei Rutiloffs.
Ludmilla hatte, — als mußte es gerade heute sein, — es vergessen, die Tür zu verriegeln. Die Kokowkina trat ein und was sah sie?
Sascha steht vor dem Spiegel und fächelt sich mit einem Fächer. Ludmilla lacht aus vollem Halse und zupft die Bänder an seinem grellfarbigen Gürtel zurecht.
„Ach du lieber Gott! Dein Wille geschehe!“ rief die Kokowkina entsetzt, „was sind das für Geschichten! Ich bin ganz aus dem Häuschen, suche ihn überall, und er führt hier eine Komödie auf: Schande, Schande — sich in Weiberröcke zu kleiden! Und wie, schämen Sie sich nicht, Ludmilla Platonowna!“
Ludmilla — ganz überrumpelt — wurde im ersten Augenblick verlegen; aber sie faßte sich schnell. Fröhlich lachend umarmte sie die Kokowkina, setzte sie in einen Sessel und erzählte ihr eine rasch erfundene Geschichte:
„Wir haben zu Hause eine kleine Maskerade vor, — ich werde ein Junge sein, und er ein Mädchen, und das wird furchtbar lustig werden.“
Puterrot und erschreckt stand Sascha da, und die Tränen traten ihm in die Augen.
„Was für Dummheiten!“ sagte die Kokowkina ärgerlich, „er muß seine Aufgaben lernen und hat keine Zeit für Maskeraden. Was Sie sich ausdenken! Beliebe dich augenblicklich anzukleiden, Alexander, und marsch — nach Hause.“
Ludmilla lachte fröhlich und hell und umarmte die Kokowkina; die alte Frau dachte, daß das fröhliche Mädchen noch kindisch wie ein Backfisch wäre, und daß Sascha aus Dummheit froh wäre, allen ihren Launen gehorchen zu können. Ludmillas fröhliches Gelächter ließ die ganze Sache so kindisch und harmlos erscheinen, daß man darüber schlimmstenfalls etwas brummen durfte. Und sie schalt und machte ein böses und unzufriedenes Gesicht, — aber ihr Herz war schon wieder ganz ruhig.
Sascha kleidete sich schnell hinter dem Bettschirm um. Die Kokowkina ging mit ihm zusammen heim und schalt den Weg über auf ihn. Er schämte sich sehr, war erschrocken und sagte nichts zu seiner Rechtfertigung. Was wird es erst zu Hause geben? dachte er ängstlich.
Und zu Hause verfuhr die Kokowkina zum erstenmal mit aller Strenge: er mußte sich auf die Knie stellen. Aber schon nach fünf Minuten hatte sie Mitleid mit seinem kläglichen, schuldbewußten Gesicht und er durfte wieder aufstehen.
„So ein Geck! Auf eine Werst riecht man deine Parfums,“ sagte sie brummig.
Sascha machte einen geschickten Kratzfuß und küßte ihr die Hand; die Liebenswürdigkeit des bestraften Knaben rührte sie noch mehr.
Unterdessen drohte ein Unwetter über Sascha hereinzubrechen. Warwara und die Gruschina verfaßten einen anonymen Brief und schickten ihn an Chripatsch; sie behaupteten darin, der Gymnasiast Pjilnikoff wäre von Fräulein Rutiloff verführt worden; er brächte ganze Abende bei ihr zu und wäre dem Laster ergeben.
Der Direktor mußte an eine kurz vorher geführte Unterhaltung denken. Vor einigen Tagen hatte jemand auf einer Soirée beim Adelsmarschall die von niemand verstandene Bemerkung hingeworfen, eine junge Dame hätte sich in einen Halbwüchsling verliebt. Man hatte gleich wieder von anderen Dingen gesprochen: in Chripatschs Gegenwart hielt man es, nach dem stillschweigenden Einvernehmen wohlerzogener Leute, für außerordentlich peinlich, dieses Thema zu diskutieren, gab sich den Anschein, als wäre es unbequem, darüber in Gegenwart von Damen zu sprechen, und tat so, als wäre die Sache selber ganz unbedeutend und unglaubwürdig. Chripatsch merkte das natürlich; er war aber nicht so einfältig, um sich bei jemand zu erkundigen. Er war vollständig überzeugt, daß er bald alles erfahren würde, und daß auf diesem oder jenem Wege, immer aber noch rechtzeitig, eine Nachricht ihm zu Ohren kommen würde. Da kam dieser Brief, und das war die erwartete Nachricht.
Chripatsch glaubte keinen Augenblick an die Verderbtheit Pjilnikoffs, oder daß sein Verkehr mit Ludmilla irgendwie die Grenzen des Erlaubten überschritte.
Das alles, — dachte er, — hat seinen Grund in der dummen Erfindung Peredonoffs und wird genährt von der neidischen Bosheit der Gruschina. Dieser Brief aber, — dachte er, — beweist, daß unerwünschte Gerüchte in Umlauf sind; sie könnten doch ein schlechtes Licht auf das Ansehen des ihm anvertrauten Gymnasiums werfen. Darum müssen Maßnahmen getroffen werden.
Vor allem bat er die Kokowkina, ihn aufzusuchen, um mit ihr über die Tatsachen zu sprechen, die diese unerwünschten Gerüchte veranlaßt haben konnten.
Die Kokowkina wußte schon, worum es sich handelte. Man hatte es ihr noch deutlicher zu verstehen gegeben, als dem Direktor. Die Gruschina hatte sie auf der Straße erwartet, ein Gespräch mit ihr angeknüpft und erzählt, Ludmilla hätte Sascha von Grund aus verdorben.
Die Kokowkina war überrascht. Zu Hause überschüttete sie Sascha mit Vorwürfen. Ihr war die ganze Geschichte um so peinlicher, als doch alles sich fast vor ihren Augen abgespielt hatte und weil Sascha mit ihrem Einverständnis zu Rutiloffs ging. Sascha stellte sich so, als verstünde er nichts und fragte:
„Was habe ich denn Schlimmes getan?“
Die Kokowkina kam in Verlegenheit.
„Wie! Was du Schlimmes getan hast? Weißt du es nicht mehr? Ist es lange her, daß ich dich in Weiberröcken getroffen habe? Hast du es vergessen, du Schlingel?“
„Nun, Sie haben mich so getroffen. Ist denn etwas Schlimmes dabei? Dafür haben Sie mich doch schon bestraft! Und was ist denn dabei, — als hätte ich einen gestohlenen Rock angehabt!“
„Sag doch einer, sag doch einer! wie er sich ausredet!“ sagte die Kokowkina fassungslos. „Ich habe dich wohl bestraft, aber scheinbar zu wenig.“
„Dann bestrafen Sie mich mehr,“ sagte Sascha trotzig, mit der Miene eines unschuldig Gekränkten. „Damals verziehen Sie mir, und jetzt ist es zu wenig. Ich habe Sie nicht gebeten, mir zu verzeihen, — ich hätte den ganzen Abend auf den Knieen gestanden. Warum macht man mir jetzt noch Vorwürfe!“
„Mein Lieber, man redet schon in der ganzen Stadt von dir und deiner Ludmilla,“ sagte die Kokowkina.
„Was wird denn geredet?“ fragte Sascha treuherzig-neugierig.
Die Kokowkina kam wieder in Verlegenheit.
„Was geredet wird, — man weiß doch was! Du weißt es genau, was man über euch sagen kann. Da kommt wenig Gutes dabei heraus. Du treibst Unfug mit deiner Ludmilla, — das redet man.“
„Ich werde nicht mehr Unfug treiben,“ versprach Sascha so ruhig, als unterhielte man sich über das Hasch-hasch-Spiel.
Er machte ein unschuldiges Gesicht, aber es war ihm schwer ums Herz. Er versuchte die Kokowkina auszuhorchen, was denn eigentlich geredet würde, und fürchtete sich, vielleicht grobe Worte hören zu müssen. Was konnte nur über sie beide geredet werden? Die Fenster von Ludmillas Zimmer gingen in den Garten, von der Straße aus konnte man nichts sehen, und außerdem ließ Ludmilla immer die Vorhänge herunter. Und wenn jemand zugesehn hatte, wie hatte er es erzählt? Vielleicht mit peinlichen, rohen Worten? Oder wurde nur davon geredet, daß er oft hinging?
Am darauffolgenden Tage erhielt die Kokowkina die Vorladung zum Direktor. Die alte Frau kam ganz aus der Fassung. Zu Sascha sagte sie kein Wort und machte sich zur festgesetzten Stunde still auf den Weg. Chripatsch machte ihr sehr liebenswürdig und schonend Mitteilung von dem erhaltenen Brief. Sie brach in Tränen aus.
„Beruhigen Sie sich, wir beschuldigen Sie nicht,“ sagte Chripatsch, „wir kennen Sie zu gut. Allerdings werden Sie ihn künftighin strenger beaufsichtigen müssen. Jetzt sagen Sie mir nur bitte, was eigentlich vorgefallen ist.“
Als die Kokowkina vom Direktor nach Hause zurückkehrte, überschüttete sie Sascha mit neuen Vorwürfen.
„Ich werde es der Tante schreiben,“ sagte sie weinend.
„Ich bin unschuldig. Mag die Tante kommen. Ich fürchte mich nicht,“ sagte Sascha und weinte ebenfalls.
Am nächsten Tage ließ der Direktor Sascha zu sich kommen und fragte ihn kalt und streng:
„Ich wünsche zu wissen, mit wem Sie in der Stadt verkehren.“
Sascha blickte den Direktor verlegen, unschuldig und ruhig an.
„Mit wem ich verkehre?“ sagte er, „Olga Wassiljewna weiß es; ich besuche nur meine Kameraden und Rutiloffs.“
„Das ist es eben,“ setzte der Direktor sein Verhör fort, „was treiben Sie bei Rutiloffs?“
„Nichts Besonderes; nur so!“ antwortete Sascha unschuldig, „hauptsächlich lesen wir zusammen. Fräulein Rutiloffs lieben Gedichte sehr. Und ich bin immer um sieben Uhr zu Hause.“
„Vielleicht doch nicht immer?“ fragte Chripatsch und richtete auf Sascha einen Blick, den er durchdringend zu gestalten versuchte.
„Ja, einmal habe ich mich verspätet,“ sagte Sascha mit der ruhigen Offenheit eines harmlosen Knaben, „aber dafür bekam ich Schelte von Olga Wassiljewna; und dann bin ich nie wieder zu spät gekommen.“
Chripatsch mußte schweigen. Saschas ruhige Antworten verblüfften ihn. In jedem Fall mußte er ihn rügen, ihm einen Verweis erteilen, aber wie sollte er es tun und wofür? — ohne den Knaben auf böse Gedanken zu bringen, die er früher (Chripatsch glaubte das) nicht gehabt hatte, — ohne den Knaben zu kränken, — andererseits doch so, daß alles geschah, um die Unannehmlichkeiten zu vermeiden, die ihm in Zukunft aus diesem Verkehr erwachsen konnten.
Chripatsch überlegte, wie schwer und verantwortungsvoll doch die Pflichten eines Pädagogen wären, besonders, wenn man die Ehre hat, einer Lehranstalt vorzustehen. Ja, schwer und verantwortungsvoll sind die Pflichten eines Pädagogen! Diese banale Ueberlegung beflügelte seine erlahmenden Gedanken. Er begann zu reden, schnell, deutlich und langweilig. Aus dem hundertsten ins tausendste mußte Sascha hören:
„... Ihre erste Pflicht als Schüler, ist — zu arbeiten ... man darf sich nicht geselligen Vergnügungen hingeben, wenn diese auch sehr angenehm und ganz einwandfrei sein sollten ... in jedem Falle muß gesagt werden, daß ein Verkehr mit Altersgenossen für Sie ersprießlicher ist .. Man muß sein eigenes Renommee und das der Schule zu wahren wissen ... Endlich, — ich sage es Ihnen geradeheraus, — habe ich Grund zu der Annahme, daß Ihr Verhältnis zu den jungen Damen den Charakter einer zu großen Freiheit trägt, einer Freiheit, die bei Ihrem Alter unstatthaft ist, und die den allgemein anerkannten Regeln der guten Sitte nicht entspricht.“
Sascha mußte weinen. Es tat ihm so leid, daß man von der lieben Ludmilla denken und reden konnte wie von einer Person, mit der man unanständig und frei verkehren konnte.
„Mein Ehrenwort, es ist nichts Schlimmes vorgefallen,“ beteuerte er, „wir haben nur zusammen gelesen, sind spazieren gegangen, spielten, — nun ja — haben getollt, — und weiter sind gar keine Freiheiten vorgekommen.“
Chripatsch klopfte ihm auf die Schulter und sagte mit einer Stimme, die herzlich klingen sollte und traurig klang:
„Hören Sie mal, Pjilnikoff ...“
(Oder sollte er den Knaben Sascha nennen? Das ist zu unförmlich, und eine diesbezügliche Verfügung des Ministers ist noch nicht getroffen!)
„Ich glaube Ihnen, daß nichts Schlimmes vorgefallen ist. Immerhin täten Sie gut daran, Ihre häufigen Besuche einzustellen. Glauben Sie mir, — es wird besser sein. Das sage ich Ihnen nicht nur als Ihr Lehrer und Vorgesetzter, sondern auch als Freund.“
Sascha blieb nichts anderes übrig, als sich zu verbeugen, sich zu bedanken — und zu gehorchen. Zu Ludmilla kam er nur auf fünf oder zehn Minuten gelaufen, — bemühte sich aber doch, sie an jedem Tage aufzusuchen. Es war doch ärgerlich, sie nur so flüchtig sehen zu können, — und seinen Aerger darüber ließ er an Ludmilla selber aus. Es kam oft vor, daß er sie Ludmilka, dumme Gans, Eselin von Siloah nannte, oder daß er sie schlug. Darüber mußte Ludmilla lachen.
Durch die Stadt ging das Gerücht, die Schauspieler des Theaters wollten in der Bürgermuße ein Kostümfest veranstalten mit Preisen für die schönsten Kostüme für Herren und Damen. Ueber die Preise waren die übertriebensten Gerüchte in Umlauf. Es wurde erzählt, die Dame würde eine Kuh erhalten, der Herr — ein Fahrrad. Diese Gerüchte erregten die Gemüter. Jeder wünschte sich den Preis: es waren so solide Dinge. Voll Eifer nähte man an den Kostümen. Man gab viel Geld aus und ließ es sich nicht leid sein. Vor den besten Freunden verheimlichte man seine Pläne, damit die „glänzende Idee“ nicht vorweggenommen würde.
Als das gedruckte Programm über das Kostümfest erschien, — riesige Affichen, die an alle Zäune geklebt und jedem angesehenen Bürger ins Haus geschickt wurden, — erwies es sich, daß man weder eine Kuh, noch ein Fahrrad erhalten konnte, sondern die Dame sollte nur einen Fächer, der Herr nur ein Album bekommen. Das enttäuschte und verstimmte alle, die sich zum Kostümfest vorbereitet hatten. Man murrte. Man sagte:
„Es lohnte sich Geld auszugeben!“
„Es ist einfach lächerlich — solche Preise.“
„Man hätte es von Anfang an sagen müssen.“
„Nur bei uns kann man so mit dem Publikum umspringen.“
Trotzdem wurden die Vorbereitungen fortgesetzt: waren die Preise auch miserabel, so war es doch schmeichelhaft, sie zu erhalten.
Darja und Ludmilla nahmen weder zu Anfang noch später ein Interesse an der Preisverteilung. Was sollten sie mit einer Kuh! oder war ein Fächer etwas Besonderes! Und wer würden die Preisrichter sein? Was für einen Geschmack konnten sie — die Richter — entwickeln! Aber beide Schwestern waren entzückt von Ludmillas Einfall, Sascha als Dame auf das Kostümfest mitzunehmen, so die ganze Stadt zu hintergehen und es zu betreiben, daß er den Preis erhielte. Auch Valerie gab sich den Anschein, als wäre sie einverstanden. Eifersüchtig und schwächlich wie ein Kind, ärgerte sie sich: es war Ludmillas Freund, nicht ihrer, — aber sie wagte es nicht, mit den beiden älteren Schwestern Streit anzufangen. Sie sagte nur verächtlich lächelnd:
„Er wird es nicht wagen.“
„Das fehlte noch,“ sagte Darja resolut, „wir werden es so einrichten, daß niemand davon erfährt.“
Und als die Schwestern Sascha ihre Idee mitteilten, und als Ludmilla sagte:
„Wir werden dich als Japanerin verkleiden,“ da sprang und quiekte er vor Vergnügen. Mochte kommen was wollte, — und besonders, wenn keiner davon erfährt, — ihm sollte es recht sein, — wie sollte er nicht einverstanden sein! — das ist doch so furchtbar lustig, — alle hinters Licht zu führen.
Man beschloß auf der Stelle Sascha als Geisha zu verkleiden. Die Schwestern bewahrten ihren Plan als strengstes Geheimnis, — nicht einmal Larissa oder der Bruder wußten darum. Das Geishakostüm schnitt Ludmilla nach einer Etikette auf einem Korylopsisfläschchen zu: ein Kleid aus gelber Seide, auf rotem Atlas gefüttert, sehr lang und weit, wie ein Schlafrock; auf das Kleid stickte sie ein buntes Muster, — große Blumen in sonderbaren Linien.
Auch Schirm und Fächer fertigten die jungen Damen selber an, — der Fächer war aus dünnem, gemustertem japanischem Papier auf Bambusstäbchen gezogen, der Sonnenschirm aus rosa Seide ebenfalls an einem Bambusrohr. An die Füße zogen sie ihm rosa Strümpfe und hölzerne Pantoffelchen auf kleinen Brettern.
Auch die Maske für die Geisha bemalte die Künstlerin Ludmilla: ein gelbliches, aber liebes, schmales Gesichtchen mit einem leichten, starren Lächeln auf den Lippen, schrägliegende Schlitze für die Augen, und ein schmaler, kleiner Mund. Nur die Perücke mußte man sich aus Petersburg kommen lassen, — schwarze, glatt aufgekämmte Haare.
Man brauchte Zeit, um das Kostüm anzuprobieren, und Sascha konnte immer nur für Augenblicke kommen, nicht einmal täglich. Aber alles fand sich: Sascha lief in der Nacht davon, wenn die Kokowkina schlief, durchs Fenster. Alles ging glatt.
Auch Warwara rüstete sich zum Kostümfest. Sie kaufte eine Maske, die irgend eine dumme Fratze vorstellte, und um das Kostüm kümmerte sie sich nicht viel, — sie kleidete sich als Köchin, an die Schürze hängte sie sich einen Kochlöffel. Auf den Kopf setzte sie sich ein weißes Häubchen, die Arme ließ sie bis zu den Ellenbogen frei, schminkte sie gründlich — kurz sie war eine Köchin wie vom Herde gekommen, — und ihr Kostüm war fertig. Gibt man ihr den Preis — ihr soll’s recht sein, erhält sie keinen — auch gut.
Die Gruschina hatte beschlossen, sich als Diana zu kostümieren. Warwara mußte lachen und fragte:
„Werden Sie auch ein Halsband tragen?“
„Warum denn ein Halsband?“ fragte die Gruschina erstaunt.
„Aber wie denn,“ erklärte Warwara, „Sie haben doch beschlossen, als Hund zu kommen.“
„Welcher Unsinn!“ antwortete die Gruschina lachend, „doch nicht als Hund, sondern als die Göttin Diana.“
Warwara und die Gruschina kleideten sich zusammen in der Wohnung der Gruschina zum Feste an. Das Kostüm der Gruschina war außerordentlich oberflächlich: kahle Arme und Schultern, kahler Rücken, kahle Brust, die Füße steckten in leichten Pantoffelchen und waren bis zu den Knien bloß; im übrigen trug sie ein leichtes Gewand aus weißer Leinwand mit einem roten Besatz, auf dem nackten Körper, — ein kurzes Röckchen, dafür aber sehr weit und sehr faltig. Warwara sagte schmunzelnd:
„Nackicht!“
Die Gruschina antwortete gemein lächelnd:
„Dafür werden alle Mannsleute mir nachziehen.“
„Wozu denn die vielen Falten?“ fragte Warwara.
„Um darin Süßigkeiten für meine Göhren zu verstauen,“ erklärte die Gruschina.
Alles was die Gruschina so kühn den Blicken freilegte — war schön; — aber welche Widersprüche! Auf der Haut — Flohstiche, grobe Manieren, Worte von unerträglicher Gemeinheit. Auch hier — die in den Staub gezerrte Schönheit des Körpers.
Peredonoff glaubte, das ganze Fest fände nur statt, um ihn auf irgend etwas zu ertappen. Dennoch ging er hin, — aber ohne Kostüm, im gewöhnlichen Rock, — um selber zu sehen, was für böse Dinge man gegen ihn vorhätte.
Der Gedanke an das Fest unterhielt Sascha einige Tage. Dann aber regten sich in ihm Bedenken. Wie sollte er von Hause fortkommen? Besonders jetzt, nach all den unangenehmen Geschichten. Wie, wenn man es im Gymnasium erfährt: man würde ihn sofort exmittieren.
Noch neulich hatte zu ihm der Ordinarius, — ein junger Mensch, der so liberal dachte, daß er es nicht über die Lippen brachte, einen Kater einfach Wassjka zu rufen, dafür aber: der Kater Basil sagte, — bedeutungsvoll beim Verteilen der Zensuren bemerkt:
„Sehen Sie zu, Pjilnikoff! Seien Sie mehr bei der Sache.“
„Ich habe keine einzige Zwei,“ hatte Sascha sorglos geantwortet.
Aber der Mut war ihm doch gesunken. Was würde er noch sagen? Nein, nichts, er schwieg, sah ihn nur streng an.
Am Tage des Festes schien es Sascha, daß er nicht den Mut finden würde, hinzugehen. Es war doch schrecklich.
Nur dieses ein, — das fertige Kostüm, das bei Rutiloffs lag, — sollte es wirklich umsonst genäht worden sein? All die Mühe und Arbeit, — sollte sie wirklich umsonst gewesen sein? Ludmilla würde weinen. Nein, man muß gehn.
Nur die in den letzten Wochen erworbene Fertigkeit, Dinge zu verheimlichen, machte es ihm möglich, der Kokowkina seine Aufregung zu verbergen. Zum Glück ging die Alte früh zu Bett. Auch Sascha legte sich früh nieder, — vorsichtshalber entkleidete er sich, legte seine Kleider auf einen Stuhl vor die Tür und stellte seine Stiefel daneben.
Nun blieb noch das Schwerste, — unbemerkt sich aus dem Staube zu machen. Der Weg durchs Fenster war ihm von früher her vertraut, als noch die Anproben stattfanden.
Er zog sich eine helle Sommerbluse an, — sie hing im Kleiderschrank in seinem Zimmer, — leichte Hausschuhe, und vorsichtig kletterte er durch Fenster auf die Straße, nachdem er einen günstigen Augenblick abgewartet hatte; weder Stimmen noch Schritte waren in der Nähe zu hören.
Ein feiner Regen fiel vom Himmel. Auf der Straße war es schmutzig, kalt und finster. Aber Sascha glaubte, alle Welt müßte ihn erkennen. Er warf Mütze und Schuhe wieder durchs Fenster in seine Stube, krempelte sich die Hosen auf und lief in Sprungschritten barfuß über die vom Regen glitschigen, morschen Brettersteige. In der Dunkelheit ist ein Gesicht schwer zu erkennen, besonders das eines Laufenden, und man wird ihn, wenn er jemand treffen sollte, für einen einfachen Jungen halten, den man in einen Laden geschickt hat.
Valerie und Ludmilla hatten für sich selber nicht gerade originelle, doch aber farbenfreudige Kostüme angefertigt; Ludmilla war eine Zigeunerin, Valerie eine Spanierin. Ludmilla trug grelle rote Flicken aus Seide und Samt; die schmächtige, zerbrechliche Valerie schwarze Seide und Spitzen; in der Hand hielt sie einen schwarzen Spitzenfächer. Darja hatte für sich nichts Neues genäht, — noch vom vorigen Jahre hatte sie das Kostüm einer Türkin; das legte sie an.
„Es lohnt nicht sich was auszudenken!“ sagte sie entschieden.
Als Sascha angelaufen kam, machten sich alle drei Schwestern daran, ihn herzurichten. Die größte Sorge machte ihm seine Perücke.
„Wenn sie herunterfällt,“ wiederholte er ängstlich.
Man befestigte sie ihm mit Bändern unter dem Kinn ...
Das Kostümfest fand in der Bürgermuße statt; das war ein zweistöckiges, ziegelrot gestrichenes, kasernenartiges Steingebäude auf dem Bazarplatz. Gromoff-Tschistoplotskji, Regisseur und Schauspieler am städtischen Theater, war der Veranstalter des Festes.
Vor der Auffahrt, über die ein Kalikodach gespannt war, brannten Lämpchen. Das Volk auf der Straße kritisierte die zum Feste Anfahrenden oder zu Fuß Kommenden meist abfällig; dies war verständlich, denn auf der Straße konnte man von den Kostümen unter den Oberkleidern fast nichts sehn, und man urteilte in der Regel aufs Geratewohl. Die Schutzleute sorgten hinreichend für Ordnung auf der Straße; im Saale befanden sich aber als Gäste der Chef der Landpolizei und der Polizeileutnant.
Jeder Teilnehmer erhielt am Eingang zwei kleine Billette: das eine war rosa und galt dem schönsten Damenkostüm, das andere grüne — dem Herrenkostüm. Diese Billette konnte man den Würdigsten übergeben. Manche erkundigten sich:
„Darf man es für sich selber behalten?“
Anfangs fragte der Kassierer ganz erstaunt:
„Warum für sich selber?“
„Aber wenn ich nun mein Kostüm für das schönste halte,“ antwortete der Festteilnehmer.
Später wunderte sich der Kassierer nicht mehr über diese Fragen, sagte vielmehr mit sarkastischem Lächeln (es war ein spöttischer junger Mann):
„Ganz, wie es Ihnen beliebt. Behalten Sie, wenn Sie wollen, beide für sich.“
Die Säle waren nicht sehr sauber, und ein großer Teil der Anwesenden war schon zu Anfang betrunken.
In den engen Räumen, mit ihren verräucherten Wänden und Decken, brannten schiefe Lüster; sie waren übermäßig groß, schwer und schienen einem die Luft zu nehmen. Die verblichenen Portieren an den Türen sahen so aus, daß es widerlich war, sie zu streifen.
Hier und dort standen die Menschen in Gruppen; man hörte Ausrufe und Gelächter, — es galt jenen, die so kostümiert waren, daß sie die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenkten.
Der Notar Gudajewskji war als Indianer erschienen; im Haar hatte er Hahnenfedern, seine kupferrote Maske wies grüne, sinnlose Tätowierungen auf; er trug eine Lederjoppe, um die Schultern ein gewürfeltes Plaid und hohe, lederne Stiefel, mit grünen Troddeln. Er fuchtelte mit den Händen, sprang und ging im Turnerschritt, wobei er seine nackten, stark gebogenen Kniee weit vorwarf.
Seine Frau hatte sich als Aehre gekleidet. Sie trug ein buntes Kleid, das aus grünen und gelben Lappen zusammengeflickt war; nach allen Seiten starrte sie von Aehren, die sie überallhin gesteckt hatte. Diese kitzelten und stachen jeden, der ihr in die Nähe kam. Man zupfte und kniff sie. Sie schimpfte wütend:
„Ich werde kratzen!“ quiekte sie.
Ringsherum lachte man.
„Woher hat sie all die Aehren?“ fragte jemand.
„Sie hat im Sommer Vorrat gesammelt,“ antwortete man ihm, „jeden Tag war sie im Felde und hat gemaust.“
Einige bartlose Beamte, — die in die Gudajewskaja verliebt waren und denen darum schon früher mitgeteilt worden war, was sie anhaben würde, — begleiteten sie. Sie sammelten für sie Billette, — fast mit Gewalt, mit Grobheiten. Manchen, die weniger selbständig waren, nahmen sie die Billette einfach aus der Hand.
Aber es gab auch andere kostümierte Damen, die durch ihre Herren Billette für sich sammeln ließen. Andere wieder blickten gierig auf die noch nicht hergegebenen Zettelchen und bettelten darum. Man antwortete ihnen mit Grobheiten.
Eine verzagte Dame, die als „Nacht“ gekleidet war, — sie trug ein blaues Kleid und hatte ein gläsernes Sternchen und einen papierenen Halbmond an der Stirn, — sagte schüchtern zu Murin:
„Geben Sie mir Ihr Billettchen!“
Murin antwortete grob:
„Wer bist du! Dir ein Billett! Ungewaschenes Maul — du!“
Die „Nacht“ brummte böse und ging. Sie wollte zu Hause nur zwei oder drei Billettchen vorzeigen und sagen: seht, — die hat man mir gegeben. Aber bescheidne Hoffnungen sind immer erfolglos.
Die Lehrerin Skobotschkina war als Bärin erschienen, d. h. sie hatte sich einfach ein Bärenfell um die Schultern geworfen, und den Rachen des Bären wie einen Helm auf ihren Kopf über die gewöhnliche Halbmaske gestülpt. Im allgemeinen war das natürlich läppisch; ihrer massiven Struktur aber und ihrer saftigen Stimme stand das wohl an. Die Bärin schritt mit schweren Schritten einher und knurrte durch den ganzen Saal, daß die Flammen in den Kronleuchtern zitterten.
Vielen gefiel das. Sie erhielt nicht wenig Billette. Aber sie verstand es nicht, sie aufzubewahren, und einen findigen Begleiter, wie die andern, hatte sie nicht. Kleine Kaufleute hatten sie betrunken gemacht, aus lauter Mitgefühl für ihre Fähigkeit das Gebaren eines Bären so gut nachzuahmen. Man schrie:
„Seht nur, die Bärin säuft Schnaps.“
Die Skobotschkina konnte sich nicht entschließen, den Schnaps dankend abzulehnen. Sie glaubte eine Bärin müsse Schnaps trinken, wenn er ihr angeboten würde. Bald war sie betrunken; da stahlen ihr Darja und Ludmilla sehr geschickt mehr als die Hälfte ihrer Billette und gaben sie Sascha.
Durch seinen stattlichen Wuchs fiel ein alter Germane auf. Vielen gefiel es, daß er so kräftig gebaut war und daß man seine Arme sehen konnte, gewaltige Arme mit einer vorzüglich entwickelten Muskulatur. Ihm folgten hauptsächlich Damen, und rings um ihn tönte lobendes, wohlwollendes Geflüster. Im alten Germanen glaubte man den Schauspieler Bengalskji zu erkennen. Bengalskji war beliebt. Darum gaben ihm viele ihre Zettel. Man folgerte so:
„Wenn ich den Preis nicht erhalte, so mag ihn ein Schauspieler oder eine Schauspielerin haben. Erhält ihn einer aus unserer Gesellschaft, so quält er einen mit seinen Prahlereien zu Tode.“
Auch das Kostüm der Gruschina fand Beifall, — wie eben etwas Skandalöses Beifall findet. In dichten Scharen folgten ihr die Männer; sie lachten und machten unflätige Bemerkungen. Die Damen wandten sich ab und waren empört. Endlich trat der Polizeileutnant zur Gruschina und sagte, süß schmunzelnd:
„Gnädigste, Sie werden sich bedecken müssen.“
„Was gibt’s denn da? Man sieht nichts Unanständiges an mir,“ antwortete die Gruschina frech.
„Gnädigste, die Damen fühlen sich beleidigt,“ sagte Mintschukoff.
„ Der Teufel soll Ihre Damen holen,“ zeterte die Gruschina.
„Nein, bitte, Gnädigste,“ bat Mintschukoff, „haben Sie die Liebenswürdigkeit, wenigstens Ihre Brüstchen und Ihr Rückchen mit einem Taschentüchlein zu bedecken.“
„Wenn mein Taschentuch aber vollgeschneuzt ist?“ antwortete die Gruschina gemein lachend.
Mintschukoff aber beharrte:
„Wie es Ihnen beliebt, Gnädigste. Nur, — wenn Sie sich nicht bedecken, sehe ich mich gezwungen, Sie zu entfernen.“
Schimpfend und spuckend, ging die Gruschina in die Garderobe und breitete, mit Hilfe eines Dienstmädchens, einige Falten ihres Kleides über Rücken und Brust. Als sie in den Saal zurückkehrte, wenn auch etwas bescheidner in ihrem Ansehen, suchte sie doch wieder eifrig nach Anbetern. In plumper Weise scherzte sie mit allen Männern. Als deren Aufmerksamkeit aber in eine andere Richtung gelenkt wurde, ging sie ins Buffetzimmer, um Süßigkeiten zu stehlen.
Bald kehrte sie wieder in den Saal zurück, zeigte Wolodin zwei Pfirsiche, schmunzelte perfid und sagte:
„Darauf bin ich selber gekommen.“
Und sofort verschwanden die Pfirsiche wieder in den Falten ihres Gewandes. Wolodin bleckte erfreut die Zähne.
„Nun,“ sagte er, „dann gehe auch ich, — wenn es sich so verhält.“
Bald war die Gruschina betrunken und betrug sich außerordentlich laut, — sie schrie, fuchtelte mit den Händen, spuckte.
„Eine muntere Dame — die Diana,“ sagte man von ihr.
Das war das Kostümfest, zu dem die verdrehten jungen Damen den leichtsinnigen Gymnasiasten mitgenommen hatten. In zwei Droschken kamen die drei Schwestern und Sascha schon recht spät angefahren, — seinetwegen hatten sie sich verspätet.
Ihr Kommen wurde im Saal bemerkt. Besonders die Geisha gefiel vielen. Es ging das Gerücht, die Schauspielerin Kaschtanowa, — besonders der männliche Teil der Gesellschaft hatte eine Vorliebe für sie, — wäre als Geisha kostümiert. Daher erhielt Sascha sehr viele Billette.
Die Kaschtanowa war aber gar nicht gekommen, — am Vorabend war ihr kleiner Sohn schwer erkrankt.
Sascha, trunken von dem vielen Neuen was er sah, kokettierte ganz unglaublich. Je mehr sich die Zettel in der kleinen Hand der Geisha häuften, desto fröhlicher und mutwilliger blitzten die Augen der koketten Japanerin durch die schmalen Schlitze in der Maske.
Die Geisha hockte nieder, hob ihre schmalen Fingerchen, kicherte mit verstellter Stimme, spielte mit ihrem Fächer, klopfte damit diesem oder jenem Herren auf die Schulter, und versteckte sich dann hinter dem Fächer, und jeden Augenblick klappte sie ihren rosa Sonnenschirm auf und zu. Nicht sonderlich schlaue Handgriffe, — jedenfalls genügten sie, um alle die zu gewinnen, welche die Schauspielerin Kaschtanowa verehrten.
„Ich gebe mein Papier, — der Allerschönsten — dir!“ sagte Tischkoff und überreichte sein Billett mit einem jugendlichen Kratzfuß der Geisha.
Er hatte schon viel getrunken und war ganz rot; sein in einem ewigen Lächeln erstarrtes Gesicht und seine ungelenke Figur machten ihn einer Puppe ähnlich. Und immer reimte er.
Valerie sah Saschas Erfolge und beneidete ihn; sie hätte es zu gern gesehn, daß man sie erkannt hätte, daß ihr Kostüm und ihre schmale, schlanke Gestalt allen gefiele, und daß sie den Preis erhielte. Gleich fiel es ihr aber zu ihrem Aerger ein, daß das ganz ausgeschlossen war: die drei Schwestern hatten verabredet, Billette nur für die Geisha aufzutreiben, und ihre eigenen Zettelchen, die sie etwa bekommen sollten, ebenfalls der Geisha zu geben.
Im Saale wurde getanzt. Wolodin, stark angeheitert, tanzte den Kasatschek. [12] Der Polizeileutnant verbot ihm das. Er sagte fröhlich-gehorsam:
„Nun, wenn es verboten ist, so tue ich es auch nicht.“
Zwei Bürger aber, die seinem Beispiel gefolgt waren, und den Trepak tanzten, wünschten, nicht nachzugeben:
„Mit welchem Recht? Für meinen Fünfziger!“ riefen sie, wurden aber hinausgeführt.
Wolodin begleitete sie, verrenkte die Glieder, bleckte die Zähne und hopste dazu.
Fräulein Rutiloffs beeilten sich, Peredonoff aufzufinden, um sich über ihn lustig zu machen. Er saß allein, an einem Fenster und blickte mit irren Augen in die Menge. Menschen und Gegenstände schienen ihm sinnlos und aufgelöst, doch aber ihm feindlich zu sein.
Ludmilla, die Zigeunerin, trat auf ihn zu und sagte mit verstellter, tiefer Stimme:
„Mein lieber Herr, ich will dir wahrsagen.“
„Geh zum Teufel!“ rief Peredonoff.
Das plötzliche Erscheinen der Zigeunerin hatte ihn erschreckt.
„Guter Herr, mein goldner Herr, gib mir deine Hand. Ich sehe es an deinem Gesicht, — du wirst reich werden, du wirst ein hoher Vorgesetzter werden,“ bettelte Ludmilla und nahm einfach Peredonoffs Hand.
„Sieh zu, daß du mir nur Gutes sagst,“ brummte Peredonoff.
„O, du mein diamantner Herr,“ wahrsagte Ludmilla, „du hast viele Feinde, man wird dich angeben, du wirst weinen; unter einem Zaune wirst du sterben.“
„Ach du Luder!“ schrie Peredonoff und riß seine Hand los.
Ludmilla war mit einem Satz in der Menge verschwunden. Valerie löste sie ab, — sie setzte sich neben Peredonoff und flüsterte zärtlich:
„Ich bin eine span’sche Dirne,
Liebe dich wie nie zuvor, —
Dumm ist deine Frau im Hirne,
Mein geliebtester Signor.“
„Du lügst, dumme Gans,“ knurrte Peredonoff.
Valerie flüsterte:
„Das ist richtig,“ sagte Peredonoff, „wie soll ich ihr aber in die Augen spucken? Sie wird sich bei der Fürstin beklagen, und die wird mir keine Stelle verschaffen.“
„Wozu brauchst du eine Stelle? Du bist auch ohne Stelle lieb und gut,“ sagte Valerie.
„Ach, wie soll ich denn leben, wenn man mir keine Stelle gibt,“ sagte Peredonoff mutlos.
Darja schob Wolodin ein Briefchen in die Hand, das mit einer rosa Oblate verklebt war. Erfreut meckernd öffnete Wolodin das Kuvert und las den Brief; er wurde nachdenklich, — dann warf er sich in die Brust und es schien, als hätte ihn etwas aus der Fassung gebracht. Kurz und klar stand geschrieben:
„Komm Liebling, morgen um elf Uhr abends zu einem Stelldichein in die Militärbadstube. Deine dir ganz fremde J.“
Wolodin glaubte an die Aufrichtigkeit der Briefschreiberin, aber es fragte sich nur, — lohnte es überhaupt, hinzugehen? Wer ist diese J? Eine Jenny vielleicht? Oder fängt ihr Familienname mit dem Buchstaben J an?
Wolodin zeigte Rutiloff den Brief.
„Geh hin, natürlich geh hin!“ überredete ihn Rutiloff. „Sieh zu, was dabei herauskommt. Vielleicht ist es eine reiche Braut; sie hat sich in dich verliebt; aber ihre Eltern sind dagegen; darum will sie sich eben mit dir aussprechen.“
Aber Wolodin dachte lange, lange nach und beschloß, daß es nicht der Mühe wert wäre hinzugehen. Er sagte stolz:
„Sie wirft sich mir an den Hals! aber solche sittenlose Mädchen liebe ich nicht.“
Er fürchtete sich, dort verprügelt zu werden: die Militärbadstube war in einer ganz verrufenen Gegend, am äußersten Ende der Stadt.
Als die dichtgedrängte Menge sich in allen Räumen der Muße verteilt hatte, schreiend, übertrieben lustig, — hörte man an der Eingangstür des Saales lauten Lärm, Gelächter, ermunternde Zurufe. Alles drängte dahin. Es ging von Mund zu Munde, — eine furchtbar originelle Maske wäre erschienen.
Durch die Menge bahnte sich den Weg ein magerer, langer Mensch. Er trug einen geflickten, schmutzigen Schlafrock, hielt einen Birkenquast unter dem Arm und eine Kippe [13] in der Hand. Seine Maske war aus Karton geschnitten, — eine dumme Fratze mit einem spärlichen Backenbärtchen, auf dem Kopf trug er aber eine Mütze mit der Beamten-Kokarde des Zivildienstes. Ganz erstaunt wiederholte er fortwährend:
„Man sagte mir, hier wäre ein Maskenfest, und kein Mensch wäscht sich.“
Traurig schwenkte er seine Kippe. Die Menge folgte ihm, kam aus dem Staunen nicht heraus und freute sich harmlos über den gelungenen Scherz.
„Der bekommt den Preis,“ sagte Wolodin neidisch.
Er beneidete ihn, wie viele andere, gewissermaßen gedankenlos, unmittelbar, — er selber war gar nicht kostümiert; was also, sollte man meinen, hatte er für einen Grund, ihn zu beneiden? Matschigin dagegen war in einem seligen Entzücken: besonders die Kokarde freute ihn. Er lachte froh, klatschte in die Hände und sagte zu Bekannten und Unbekannten:
„Eine vortreffliche Kritik! Diese Beamten machen so viel Wesens von sich; sie lieben es, die Kokarde zu tragen und Uniformen; da haben sie nun die Kritik; — wirklich sehr geschickt!“
Als es heiß wurde, fächelte sich der Beamte im Schlafrock mit seinem Birkenquast Kühlung zu und rief:
„Die wahre Badstube!“
Alles lachte fröhlich. Die Zettelchen regneten in seine Kippe.
Peredonoff sah auf den hocherhobenen Birkenquast. Er glaubte, es wäre das graue, gespenstische Tierchen.
Es ist grün geworden — das Vieh! dachte er entsetzt.
Endlich begann man, die für die Kostüme verteilten Zettelchen zu zählen. Die Mußenvorsteher bildeten das Komitee. An der Tür des Schiedsgerichtszimmers versammelte sich eine gespannt wartende Menge. In den Sälen wurde es für kurze Zeit still und langweilig. Die Musik hatte aufgehört zu spielen. Die Gäste waren verstummt. Peredonoff wurde es unheimlich.
Aber bald fing man wieder an zu sprechen, man murrte ungeduldig, man lärmte. Jemand versichert, beide Preise kämen in die Hände von Schauspielern.
„Sie werden es sehen!“ hörte man jemandes entrüstete, zischende Stimme.
Viele glaubten es. Man war erregt. Jene, die nur wenig Zettel erhalten hatten, ärgerten sich schon darüber. Jene, die viele erhalten hatten, erregte die Möglichkeit einer vielleicht zu erwartenden Ungerechtigkeit.
Plötzlich bimmelte gell und durchdringend ein Glöckchen. Die Preisrichter kamen heraus: Weriga, Awinowitzkji, Kiriloff und die übrigen Vorstände. Wellenartig verbreitete sich eine verlegene Stille im ganzen Saal, — plötzlich war alles verstummt.
Awinowitzkji verkündete mit lautschallender Stimme:
„Das Album, als Preis für das beste Herrenkostüm, erhält, der größten Zettelanzahl zufolge, der Herr im Kostüm eines alten Germanen.“
Awinowitzkji hob das Album hoch und blickte böse auf die sich stauende Menge. Der urwüchsige Germane bahnte sich einen Weg. Er begegnete nur feindlichen Blicken. Man wollte ihm den Weg nicht freigeben.
„Stoßen Sie mich nicht, ich muß doch bitten!“ schrie weinerlich die zaghafte Dame in Blau mit dem gläsernen Sternchen und dem Papiermond an der Stirn, — die Nacht.
„Er hat den Preis erhalten und bildet sich ein, daß die Damen vor ihm auseinandertreten müssen,“ hörte man jemand böse zischen.
„Wenn Ihr mich doch selber nicht durchlaßt,“ antwortete der Germane mit verhaltenem Zorn.
Endlich war er irgendwie bis zu den Preisrichtern vorgedrungen und empfing das Album aus Werigas Händen. Die Musik spielte einen Tusch. Aber die Töne gingen unter in einem wüsten Gelärm.
Man hörte Schimpfworte. Man umringte den Germanen, stieß ihn und schrie:
„Die Maske herunter!“
Der Germane schwieg. Es wäre ihm ein kleines gewesen, sich durch die Menge durchzuschlagen, — aber augenscheinlich scheute er sich davor, seine Kräfte handgreiflich anzuwenden. Gudajewskji packte das Album, und im selben Augenblick riß jemand dem Germanen die Maske vom Gesicht. Die Menge brüllte auf:
„Es ist ein Schauspieler!“
Die Vermutung hatte sich bewahrheitet: es war der Schauspieler Bengalskji. Er rief ärgerlich:
„Nun ein Schauspieler! ist denn was dabei? Ihr selber gabt mir doch eure Zettel.“
Als Antwort ertönte wütendes Geschrei:
„ Ihr drucktet die Billette!“
„Soviel Leute sind gar nicht da, als Zettel verteilt wurden.“
„Er hat ein halbes Hundert in der Tasche gehabt.“
Bengalskji wurde feuerrot und schrie:
„Es ist gemein, das zu behaupten. Jedermann kann die Zettel nachzählen, — nach der Anzahl der Teilnehmer läßt es sich bestimmen.“
Unterdessen sprach Weriga zu den ihm zunächst Stehenden:
„Beruhigen Sie sich, meine Herrschaften, es ist kein Betrug vorgekommen; ich hafte dafür: die Zahl der Billette wurde beim Eingang kontrolliert.“
Endlich gelang es den Vorständen, zusammen mit einigen vernünftigen Gästen, die Menge zu beruhigen. Alles war gespannt, wer den Fächer erhalten würde. Weriga verkündete:
„Meine Herrschaften, die meisten Zettel für das Damenkostüm hat die Dame im Kostüm einer Geisha erhalten; ihr wurde der Preis zuerkannt, — nämlich ein Fächer. Geisha, ich ersuche Sie, vorzutreten, der Fächer gehört Ihnen. Meine Herrschaften, ich ersuche Sie um die Liebenswürdigkeit, der Geisha den Weg freizugeben.“
Die Musik spielte zum zweiten Mal einen Tusch. Die erschreckte Geisha wäre froh gewesen, wenn sie hätte davonlaufen können. Man stieß sie aber vor, ließ ihr den Weg und führte sie vor die Preisrichter.
Weriga überreichte ihr mit liebenswürdigem Lächeln den Fächer. Vor Saschas von Angst und Verlegenheit verschleierten Augen blinkte etwas Buntes und Reizendes. Man muß sich bedanken, — ging es ihm durch den Kopf. Er murmelte die gewohnten Höflichkeitsformeln eines gesitteten Jungen.
Die Geisha hockte nieder, sagte ein paar unverständliche Worte, kicherte, hob ihre Fingerchen, — und wieder ertönte ein wüstes Gejohl durch den Saal, es wurde gepfiffen, geschimpft. Alles drängte und stürmte zur Geisha.
„Hock nieder, gemeine Dirne!“ schrie die Aehre wütend und sträubte ihre Stacheln, „hock nieder!“
Die Geisha wollte zur Tür hinaus; man vertrat ihr den Weg. In der Menge, die die Geisha umtoste, hörte man böses Geschrei:
„Sie muß ihre Maske abnehmen!“
„Die Maske herunter!“
„Haltet sie! Fangt sie!“
„Nieder — die Maske!“
„Reißt ihr den Fächer fort!“
Die Aehre schrie:
„Wißt ihr auch, wer den Preis erhalten hat? Die Schauspielerin Kaschtanowa. Sie hat einen fremden Mann abspenstig gemacht, und erhält den Preis! Die rechtschaffenen Frauen bekommen nichts; eine feile Dirne erhält ihn!“
Sie warf sich auf die Geisha, quiekte durchdringend und ballte die mageren Fäustchen. Viele andere folgten ihrem Beispiel, — hauptsächlich ihre Begleiter.
Die Geisha schlug verzweifelt um sich. Es war eine wilde Hetze. Der Fächer wurde ihr entrissen, zerbrochen, auf den Boden geworfen, zerstampft. Wie besessen rannte die Menge — die Geisha mitten darin — durch den Saal; Zuschauer wurden über den Haufen gerannt. Weder Rutiloffs noch die Vorstände konnten bis zur Geisha vordringen. Die Geisha, kräftig und gelenkig, kratzte, biß, kreischte durchdringend. Die Maske hielt sie fest vor dem Gesicht, bald mit der rechten, bald mit der linken Hand.
„Man muß sie alle niederschlagen,“ winselte irgend ein besonders wütendes Dämchen.
Die betrunkene Gruschina versteckte sich hinter den andern, hetzte Wolodin und ihre übrigen Bekannten.
Matschigin hielt sich die blutende Nase mit der Hand, sprang vor und jammerte:
„Direkt mit der Faust in die Nase!“
Ein besonders wütender junger Mensch packte einen Aermel der Geisha mit den Zähnen und riß ihn zur Hälfte entzwei. Die Geisha rief:
„Hilfe! Hilfe!“
Auch die andern zerfetzten ihr Kleid. Hier und da sah man ihren bloßen Körper. Darja und Ludmilla machten verzweifelte Versuche, sich bis zur Geisha durchzudrängen, aber vergeblich. Wolodin hielt mit solchem Feuereifer die Geisha umklammert, — dabei kreischte er und verrenkte die Gliedmaßen, — daß er den andern, die weniger betrunken und weniger erbittert waren, hinderlich wurde: eigentlich strengte er sich gar nicht aus Bosheit an, nur aus Uebermut; er dachte nämlich, das ganze wäre ein gelungener Scherz. Den Aermel vom Kostüm der Geisha hatte er glücklich ganz abgerissen; er wand ihn sich um den Kopf.
„Das kann man brauchen,“ rief er kreischend, schnitt Fratzen und krümmte sich vor Lachen.
Mitten unter den vielen Leuten wurde ihm zu heiß; er sprang zur Seite, gebärdete sich wie ein Toller und mit wildem Geschrei tanzte er, von niemand behindert, auf den Ueberresten des Fächers.
Niemand war da, der ihn zur Vernunft hätte rufen können.
Peredonoff blickte voller Entsetzen auf ihn und dachte:
Er tanzt. Er freut sich über irgend etwas. So wird er auch auf meinem Grabe tanzen.
Endlich gelang es der Geisha, sich loszureißen, — die Männer, die sie umringten, konnten ihren geschickten Fäusten und scharfen Zähnen nicht standhalten. Wie ein Wind fegte sie aus dem Saal.
Im Gang stürzte sich die Aehre wieder auf die Japanerin und zerrte sie am Kleid. Die Geisha riß sich los, aber schon war sie wieder umringt. Die Hetze wurde fortgesetzt.
„Man zaust sie an den Ohren! An den Ohren!“ schrie jemand.
Irgend ein Dämchen hatte die Geisha am Ohr gepackt, zauste sie und ließ ein lautes, triumphierendes Geschrei ertönen. Die Geisha kreischte auf, hieb mit der Faust auf die Arme des bösen Dämchens und riß sich mit Mühe los. Endlich gelang es Bengalskji, der sich unterdessen in seine gewöhnlichen Kleider geworfen hatte, mit Gewalt bis zur Geisha vorzudringen. Er nahm die zitternde Japanerin auf den Arm, schützte sie mit seinem riesigen Körper und mit seinen Fäusten, so gut es gehen wollte, und — die Menge gewandt mit Ellenbogen und Beinen auseinanderschiebend — trug er sie hinaus. Man brüllte:
„Schurke, gemeiner Kerl!“
Man zupfte und schlug auf seinen Rücken ein. Er schrie:
„Ich erlaube es nicht, einer Frau die Maske abzureißen. Tut, was ihr wollt — ich erlaube es nicht.“
So trug er die Geisha durch den ganzen Gang. Der Gang mündete durch eine schmale Tür ins Eßzimmer. Hier gelang es Weriga, für einige Zeit die Nachstürmenden aufzuhalten. Mit der Entschlossenheit eines alten Militärs faßte er vor der Tür Posten, sie mit seinem Rücken deckend und sagte:
„Keinen Schritt weiter, meine Herrschaften.“
Die Gudajewskaja, raschelnd von den Ueberresten ihrer zerzausten Aehren, hüpfte gegen Weriga an, drohte ihm mit ihren Fäustchen und keifte:
„Fort von da! Durchlassen!“
Aber das bitterkalte Gesicht des Generals und seine entschlossenen grauen Augen hielten sie von Tätlichkeiten ab. In blinder Wut schrie sie ihren Mann an:
„Hättest du ihr wenigstens eine Ohrfeige heruntergehauen, — du hast geschlafen, Idiot.“
„Es war unbequem anzukommen,“ verteidigte sich der Indianer und fuchtelte sinnlos mit den Händen, „Pawluschka drehte sich mir immer unter die Arme.“
„In die Zähne hättest du ihr hauen sollen, aufs Ohr; geniertest dich wohl!“ schrie die Gudajewskaja.
Man drängte gegen Weriga. Gemeine Schimpfworte wurden laut. Weriga stand mutig vor der Tür und überredete die Zunächststehenden, ihr unwürdiges Betragen zu lassen.
Der Küchenjunge öffnete hinter Werigas Rücken die Tür und flüsterte:
„Sie sind fortgefahren, Ew. Exzellenz.“
Weriga trat zur Seite. Alles stürmte in das Eßzimmer, von dort in die Küche, — man suchte die Geisha, konnte sie aber nicht finden.
Bengalskji war, die Geisha auf den Armen, durch das Eßzimmer und durch die Küche gelaufen. Sie lag ganz ruhig an seiner Brust und sagte kein Wort. Bengalskji schien es, als hörte er ihr Herz stark schlagen. Ihre nackten Arme waren fest verschlungen; an ihnen bemerkte er einige Kratzwunden und in der Nähe des Ellbogens einen blau-gelben Fleck, der von einem Schlage herrührte.
Mit erregter Stimme rief Bengalskji der sich drängenden Dienerschaft zu:
„Rascher, einen Mantel, einen Schlafrock, ein Laken, irgend etwas — man muß die gnädige Frau retten.“
Irgend jemandes Mantel wurde Sascha über die Schultern geworfen, Bengalskji hüllte ihn notdürftig ein, und fort ging es über die enge Stiege, die spärlich von schwelenden Petroleumlampen erleuchtet war, hinaus auf den Hof, durch ein Pförtchen in eine Nebengasse.
„Demaskieren Sie sich; in der Maske wird man Sie eher erkennen; hier in der Dunkelheit ist es doch einerlei,“ sagte er recht unzusammenhängend, „ich werde es keinem Menschen sagen.“
Er war neugierig. Er wußte genau, daß es nicht die Kaschtanowa war, — aber wer war es denn?
Die Japanerin gehorchte. Bengalskji sah ein unbekanntes, brünettes Gesicht, in dem die Angst einem Ausdruck der Freude, der Gefahr entronnen zu sein, gewichen war. Mutwillige, schon vergnügte Augen blickten ihm entgegen.
„Wie soll ich Ihnen danken!“ sagte die Geisha mit klangvoller Stimme. „Was wäre mit mir geschehen, wenn Sie mich nicht herausgehauen hätten!“
Ein keckes Frauenzimmer, ein interessantes Weibsbild! dachte der Schauspieler, — aber wer ist sie? Offenbar eine Zugereiste, — denn Bengalskji kannte alle Damen der Stadt. Er sagte leise:
„Ich muß Sie so schnell als möglich nach Hause bringen. Nennen Sie mir Ihre Adresse, ich werde eine Droschke rufen.“
Das Gesicht der Japanerin wurde ängstlich.
„Es ist unmöglich! Es ist ganz unmöglich!“ flüsterte sie, „lassen Sie mich, ich finde den Weg allein.“
„Wie wollen Sie denn auf Ihren Bretterchen allein heimfinden, bei diesem schlüpfrigen Wetter; — man muß eine Droschke nehmen,“ entgegnete der Schauspieler fest.
„Nein, ich lauf schon allein; um Gotteswillen, lassen Sie mich,“ flehte die Geisha.
„Ich schwöre bei meiner Ehre, kein Mensch soll es erfahren,“ beteuerte Bengalskji. „Ich kann Sie nicht allein lassen; Sie werden sich erkälten. Ich habe die Verantwortung für Sie übernommen und kann einfach nicht. Sagen Sie schnell! — man könnte auch hier über Sie herfallen. Sie haben doch gesehen, — es sind ganz wilde Leute. Sie sind zu allem fähig.“
Die Geisha zitterte. Plötzlich stürzten ihr die Tränen aus den Augen.
„Furchtbar, furchtbar böse Menschen!“ sagte sie schluchzend. „Bringen Sie mich einstweilen zu Rutiloffs; ich werde bei ihnen übernachten.“
Bengalskji rief eine Droschke. Man setzte sich ein und fuhr davon. Der Schauspieler betrachtete genauer das bräunliche Gesicht der Geisha. Ein flüchtiger Gedanke blitzte in ihm auf.
Er erinnerte sich an den Stadtklatsch über die Rutiloffschen Damen, über Ludmilla und ihren Gymnasiasten.
„Oho, du bist ja ein Bengel!“ sagte er flüsternd, damit der Kutscher es nicht hören sollte.
„Um Gotteswillen,“ flehte Sascha kreidebleich.
Und seine bräunlichen Arme streckten sich unter dem nachlässig umgeworfenen Mantel mit flehentlicher Gebärde Bengalskji entgegen.
Dieser lachte leise und sagte immer noch flüsternd:
„Hab’ keine Angst, ich sag’s keinem. Meine Sache ist nur — dich in Sicherheit zu bringen, und weiter weiß ich von nichts. Allein, du bist ein ganz verzweifelter Bengel. Wird man zu Hause nichts erfahren?“
„Wenn Sie es nicht verraten, wird es niemand erfahren,“ sagte Sascha versöhnlich-zärtlich.
„Auf mich kannst du dich verlassen. Ich bin stumm, wie ein Grab,“ antwortete der Schauspieler. „War selber ein Junge; habe auch dumme Streiche gemacht.“
In der Muße beruhigte man sich allmählich — aber ein neues Unglück setzte allem die Krone auf.
Während im Gang die Hetzjagd auf die Geisha stattfand, sprang das flammende, gespenstische Tierchen über die Kronleuchter, lachte und flüsterte Peredonoff eindringlich zu, er müsse ein Streichholz entzünden, müsse es — das flammende aber unfreie Tierchen — über die düstren, schmutzigen Wände laufen lassen, und dann, wenn es sich an der Zerstörung gesättigt, das Haus, in dem so fürchterliche und unverständliche Dinge vorgingen, aufgefressen hätte, — dann würde es ihn — Peredonoff — ganz in Ruhe lassen. Und Peredonoff konnte seiner zudringlichen Versuchung nicht widerstehen.
Er ging in den kleinen Salon, der neben dem Tanzsaal war. Kein Mensch war zu sehen. Peredonoff blickte sich um, zündete ein Streichholz an, hielt es tief an den untersten Rand eines Fenstervorhanges und wartete, bis der Vorhang in Flammen stand. Das flammende Tierchen kroch geschmeidig, wie eine Schlange, an dem Vorhang empor; es piepte leise und fröhlich. Peredonoff ging aus dem Salon und schloß die Tür hinter sich. Keiner hatte die Brandstiftung gesehen.
Erst von der Straße aus sah man das Feuer, als das ganze Zimmer schon in Flammen stand. Das Feuer machte rasche Fortschritte. Die Menschen konnten sich retten, — aber das Haus brannte nieder.
Am nächsten Tage sprach man in der ganzen Stadt von nichts anderm als vom Skandal mit der Geisha und vom Feuerschaden. Bengalskji hielt Wort und verriet nicht, daß die Geisha ein Knabe gewesen war.
Sascha lief noch in derselben Nacht, nachdem er sich bei Rutiloffs umgekleidet und sich wieder in einen einfachen, barfüßigen Jungen verwandelt hatte, nach Hause, kletterte durchs Fenster und schlief ruhig ein. In der Stadt, die nur vom Klatsch lebte, in der Stadt, in der man über jedermann alles in Erfahrung brachte, blieb Saschas nächtliches Abenteuer ein Geheimnis. Für lange Zeit; natürlich nicht für immer.
Katharina Iwanowna Pjilnikowa, Saschas Tante und Erzieherin, erhielt gleichzeitig zwei Briefe über ihn, — vom Direktor den einen, von der Kokowkina den andern. Diese Briefe regten sie fürchterlich auf. Sie ließ alles liegen und fuhr sofort, trotz der im Herbst grundlosen Wege, von ihrem Gute in die Stadt.
Sascha war sehr froh, als sie kam, — er liebte sie. Die Tante hegte aber einen tiefen Groll gegen ihn. Er umarmte sie jedoch so selig, küßte ihr so froh die Hände, daß sie im ersten Augenblick nicht den nötigen strengen Ton finden konnte.
„Liebes Tantchen, wie ist es doch so gut, daß du gekommen bist!“ sagte Sascha und blickte ihr vergnügt in das volle, frische Gesicht, mit den so gutmütigen Grübchen in den Wangen, mit den geschäftig-strengen, braunen Augen.
„Warte nur mit deiner Freude; ich muß die Saiten straffer ziehen,“ sagte die Tante mit unbestimmbarer Stimme.
„Das macht nichts,“ sagte Sascha sorglos, „zieh sie straffer; wenn ich nur wüßte wofür; aber ich freue mich doch fürchterlich.“
„Fürchterlich?“ wiederholte die Tante unzufrieden, „über dich habe ich fürchterliche Dinge hören müssen.“
Sascha hob die Augen und blickte die Tante aus unschuldigen, erstaunten Augen an. Er klagte:
„Hier hat sich ein Lehrer Peredonoff ausgedacht, ich wäre ein Mädchen; er verfolgt mich damit; — außerdem hat mir der Direktor den Kopf gewaschen, weil ich mit Fräulein Rutiloffs verkehre. Als ginge ich hin, um zu stehlen. Was geht ihn das an?“
Genau so ein Kind wie früher, dachte die Tante zweifelnd. Oder ist er schon so verdorben, daß er seinen Gesichtsausdruck verstellen kann?
Sie schloß sich mit der Kokowkina in ein Zimmer und redete lange mit ihr. Traurig trennte sie sich von ihr und fuhr später zum Direktor. Ganz verstimmt und traurig kehrte sie heim.
Sascha mußte die härtesten Vorwürfe über sich ergehen lassen. Er weinte, beteuerte aber mit Feuereifer, alles wären nur Klatschereien und er habe sich nie irgendwelche Freiheiten in seinem Verkehr mit Fräulein Rutiloffs zuschulden kommen lassen. Die Tante glaubte ihm nicht. Sie schalt und schalt, weinte, drohte, sie würde ihn prügeln, gründlich prügeln, heute noch, — nur müsse sie zuvor diese jungen Damen gesprochen haben. Sascha schluchzte und beteuerte fortgesetzt, es wäre wirklich nichts Schlimmes vorgefallen, alles hätte man unglaublich übertrieben und erfunden.
Zornig und verweint machte sich die Tante auf den Weg zu Rutiloffs.
Katharina Iwanowna wartete im Salon bei Rutiloffs und regte sich auf. Sie wollte den Schwestern gleich von Hause aus die heftigsten Vorwürfe machen; böse, gehässige Worte brannten ihr auf der Zunge, — allein der gemütliche, hübsche Salon brachte sie ganz gegen ihren Willen auf friedlichere Gedanken und beruhigte sie.
Eine angefangene Handarbeit, Nippesfigürchen, gute Gravüren an den Wänden, sorgfältig gepflegte Blumen auf den Fensterbänken, nirgends ein Stäubchen, und dann etwas wie eine besondere Stimmung von friedlichem Zusammenleben, etwas, was in ungeordneten Hausständen niemals vorkommt, und von Hausfrauen außerordentlich geschätzt wird, — war es denn wirklich möglich, daß in dieser traulichen Umgebung ihr bescheidener Junge von den jungen Mädchen verführt worden war? Alle die Verdächtigungen, die sie über Sascha hatte lesen und hören müssen, schienen Katharina Iwanowna plötzlich so unglaublich töricht zu sein, — und, umgekehrt, wie wahrscheinlich klangen ihr nun Saschas Erklärungen darüber, was er bei Rutiloffs getrieben hatte: man hatte gelesen, geplaudert, gespielt, gelacht, gescherzt, — man wollte im Familienkreise eine kleine Maskerade veranstalten, aber Olga Wassiljewna hatte es nicht erlaubt.
Die drei Schwestern hatten aber doch einen gehörigen Schrecken gekriegt. Sie wußten noch nicht, ob Saschas Teilnahme am Kostümfest bekannt geworden war oder nicht. Aber sie waren zu dritt, und eine stand für die andre ein. Das ließ sie wieder Mut fassen. Sie hatten sich alle in Ludmillas Zimmer versammelt und berieten flüsternd. Valerie sagte:
„Man muß doch hingehen, — sie wartet. Wie unhöflich.“
„Das tut nichts. Mag sie sich abkühlen,“ antwortete Darja sorglos, „sonst fährt sie gleich wütend auf uns los.“
Alle drei hatten sich mit feucht-süßem Klematis parfumiert; — hübsch angezogen, ruhig, fröhlich, reizend wie immer, kamen sie in das Gastzimmer und erfüllten es mit ihrem liebenswürdigen Geplauder, mit ihrer Anmut und Fröhlichkeit.
Katharina Iwanowna war gleich bezaubert von ihrem netten, anständigen Aussehen.
Die haben wieder was entdeckt! dachte sie ärgerlich von den Pädagogen am Gymnasium. Dann überlegte sie, daß die Dämchen sich vielleicht verstellten und nahm sich vor, ihren Reizen nicht zu erliegen.
„Entschuldigen Sie, meine Damen, ich muß mich ernstlich mit Ihnen auseinandersetzen,“ sagte sie, bemüht, ihrer Stimme einen sachlich-trocknen Klang zu geben.
Die Schwestern baten sie Platz zu nehmen und schwatzten fröhlich durcheinander.
„Welche von Ihnen ist es denn? ...“ begann Katharina Iwanowna unsicher.
Ludmilla sagte fröhlich, mit der Miene einer liebenswürdigen Hausfrau, die sich bemüht, einem Gaste über eine Verlegenheit hinwegzuhelfen:
„Ich habe mich hauptsächlich mit Ihrem Neffen abgegeben. Wir haben in vielen Dingen dieselben Ansichten und denselben Geschmack.“
„Ihr Neffe ist ein sehr lieber Junge,“ sagte Darja, wie überzeugt, daß ihr Lob der Tante gefallen mußte.
„Wirklich, er ist sehr lieb, und so amüsant,“ sagte Ludmilla.
Katharina Iwanowna fühlte sich mit jedem Augenblicke unsicherer. Sie begriff mit einem Mal, daß sie eigentlich nur die geringsten Handhaben hatte, um Vorwürfe zu machen. Darüber ärgerte sie sich, — und Ludmillas letzte Worte gaben ihr Anlaß, ihrem Aerger Luft zu machen. Gereizt sagte sie:
„Sie amüsieren sich ... und er ...“
Aber Darja unterbrach sie:
„O, wir merken schon, — Peredonoffs alberne Erfindungen sind Ihnen zu Ohren gekommen,“ sagte sie mitleidig. „Aber wissen Sie denn nicht, daß er ganz verrückt ist. Der Direktor läßt ihn nicht ins Gymnasium. Man wartet auf einen Psychiater zur Untersuchung, dann wird er sofort vom Gymnasium entfernt.“
„Aber erlauben Sie,“ unterbrach sie ihrerseits Katharina Iwanowna, immer gereizter werdend, „mich interessiert nicht dieser Lehrer, sondern mein Neffe. Ich hörte, — bitte um Verzeihung, — daß sie ihn sittlich verderben.“
Und im selben Augenblick, nachdem sie den Schwestern im Jähzorn diesen entschiedenen Satz zugeschleudert hatte, dachte sie schon, — sie wäre zu weit gegangen. Die Schwestern blickten einander an mit der Miene so gut gespielter Empörung, so vollständigen Nichtverstehenkönnens, daß nicht Katharina Iwanowna allein sich hätte täuschen lassen, — sie wurden rot, und riefen alle gleichzeitig:
„Das ist nett!“
„Wie scheußlich!“
„Was für Neuigkeiten!“
„Gnädige Frau,“ sagte Darja kalt, „Sie wählen Ihre Worte nicht. Bevor Sie sich grober Redewendungen bedienen, wäre es angezeigt, in Erfahrung zu bringen, wie weit diese Wendungen angebracht sind.“
„Oh, das ist so verständlich!“ sagte Ludmilla lebhaft, mit der Miene eines gesitteten Mädchens, das gekränkt wurde und die Kränkung verziehen hat, „er ist Ihnen doch kein Fremder. Wie sollten diese dummen Gerüchte Sie nicht aufregen. Uns, — den Fernstehenden, — tat er leid, darum luden wir ihn ein. Hier in unserer Stadt macht man aus allem gleich ein Verbrechen. Die Leute hier, wenn Sie es nur wüßten, sind schrecklich, ganz schrecklich!“
„Schreckliche Leute!“ wiederholte Valerie leise mit ihrer klangvollen, zerbrechlichen Stimme und schüttelte sich, als hätte sie etwas Unsauberes berührt.
„Fragen Sie ihn doch selber,“ sagte Darja, „sehen Sie ihn sich an: ist er nicht ein ganzes Kind! Vielleicht sind Sie an seine Einfalt zu sehr gewöhnt, aber wir — die ihm Fernstehenden sehen es, — er ist noch ein vollständig, vollständig unverdorbener Knabe.“
Die Schwestern logen so sicher und ruhig, daß es nicht möglich war, ihnen nicht zu glauben. Und wie hätte es anders sein können, — ist doch die Lüge sehr oft der Wahrheit ähnlicher als die Wahrheit. Fast immer. Die Wahrheit kann doch unmöglich der Wahrheit ähnlich sehen.
„Natürlich, es ist wahr, er ist zu häufig bei uns gewesen,“ sagte Darja. „Aber wenn Sie es wünschen, lassen wir ihn nicht mehr über die Schwelle.“
„Heute noch gehe ich zu Chripatsch,“ sagte Ludmilla. „Was fällt ihm ein! Unmöglich glaubt er selber an diesen Blödsinn.“
„Nein, er scheint nicht daran zu glauben,“ gestand Katharina Iwanowna, „er sagt nur, es wären verschiedene böse Gerüchte im Umlauf.“
„Sehen Sie! Sehen Sie!“ rief Ludmilla erfreut, „natürlich kann er nicht daran glauben. Wozu denn die ganze Aufregung?“
Ludmillas fröhliche Stimme umstrickte Katharina Iwanowna. Sie dachte:
Es ist doch wirklich nichts passiert. Sogar der Direktor sagt, er glaube das alles nicht.
Lange noch zwitscherten die Schwestern um die Wette, um Katharina Iwanowna zu überzeugen, daß ihr Verkehr mit Sascha ganz harmlos wäre. Zur größeren Bekräftigung begannen sie ganz ausführlich zu erzählen, was sie zusammen mit Sascha getrieben hatten, — bei dieser Aufzählung kamen sie bald in die Brüche, — es handelte sich doch um so harmlose, einfache Dinge, daß es unmöglich war, sich an alles und jedes zu erinnern. Schließlich war Katharina Iwanowna ganz fest davon überzeugt, daß ihr Sascha und die liebenswürdigen jungen Mädchen unverschuldet einem dummen Klatsch zum Opfer gefallen waren.
Als Katharina Iwanowna sich verabschiedete, küßte sie alle drei Schwestern und sagte:
„Sie sind liebe, schlichte Mädchen. Anfangs dachte ich, — verzeihen Sie das grobe Wort, — Sie wären freche, zänkische Personen.“
Die Schwestern lachten fröhlich:
„Nein,“ sagte Ludmilla, „wir sind nur lustig und haben spitze Zungen; darum lieben uns hier manche Gänse nicht.“
Die Tante sagte zu Sascha kein Wort, als sie von Rutiloffs zurückkehrte. Er kam ihr ängstlich und verstört entgegen und blickte sie vorsichtig und aufmerksam an. Die Tante ging zur Kokowkina. Lange redeten sie, endlich beschloß die Tante:
„Ich gehe noch einmal zum Direktor.“
Noch am selben Tage ging Ludmilla zu Chripatsch. Erst plauderte sie im Salon ein wenig mit Warwara Nikolajewna, dann erklärte, sie, sie hätte ein Anliegen an Nikolaij Wassiljewitsch.
In Chripatschs Schreibzimmer wurde ein lebhaftes Gespräch geführt, — nicht darum eigentlich, weil die beiden einander viel zu sagen hatten, sondern weil beide zu sprechen liebten. Sie überschütteten einander mit schnell hingeworfenen Sätzen: Chripatsch mit seiner trocknen, knarrenden Schnellrednerei, Ludmilla mit ihrem zärtlich klingenden Geflüster. Fließend, mit der unwiderlegbaren Sicherheit einer Lüge, ergoß sich über Chripatsch ihre zur Hälfte erfundene Erzählung über ihr Verhältnis zu Sascha Pjilnikoff. Was sie hauptsächlich dazu getrieben hätte, wäre natürlich ihr Mitleid zu dem Knaben, den man mit so groben Verdächtigungen beleidigte, ihr Wunsch, Sascha die abwesende Familie zu ersetzen, — und, schließlich, er wäre so ein prächtiger, lustiger, einfältiger Junge.
Ludmilla weinte sogar; schnell und wunderbar reizend kullerten die kleinen Tränchen über die frischen Wangen, auf die verlegen lächelnden Lippen.
„Wirklich, ich habe ihn lieb gewonnen wie einen Bruder. Er ist so prächtig und gut; er weiß Güte so sehr zu schätzen; er hat mir die Hände geküßt.“
„Das ist natürlich sehr, sehr lieb von Ihnen,“ sagte Chripatsch einigermaßen verlegen, „und es macht Ihrem guten Herzen alle Ehre, aber der einfache Umstand, daß ich es für nötig hielt, die Verwandten des Knaben wegen der mir zu Ohren gekommenen Gerüchte zu benachrichtigen, geht Ihnen überflüssigerweise so nahe.“
Ludmilla überhörte, was er sagte und flüsterte weiter, aber schon im Tone eines bescheidenen Vorwurfs:
„Was ist denn dabei Schlimmes, — sagen Sie es mir bitte, — daß wir für einen Knaben Teilnahme empfinden, auf den sich Ihr grober, verrückter Peredonoff gestürzt hat, — wann wird man ihn endlich aus unserer Stadt entfernen! Sehen Sie es denn nicht, daß dieser Ihr Pjilnikoff noch ein ganzes Kind ist, — wirklich, ein ganzes Kind!“
Sie schlug ihre kleinen, hübschen Händchen zusammen, ihr goldnes Armbändchen klirrte, sie lachte zärtlich; — als müßte sie weinen, — nahm sie ihr Taschentuch, um die Tränen zu trocknen, und ein süßer Duft strömte Chripatsch entgegen. Ihm wurde so merkwürdig zumut; er wollte ihr sagen, sie wäre „wie ein Engel vom Himmel, — so schön“, und dieser ganze betrübliche Zwischenfall „ist unwert eines Augenblicks, des über alles teuren Grams“. Aber er hielt an sich.
Und Ludmillas schmeichelndes, rasches Geflüster plätscherte und plätscherte, und zerstäubte das schimärische Lügengebäude Peredonoffs. Man mußte nur vergleichen, — der irrsinnige, grobe, schmutzige Peredonoff, — und die lustige, elegante, freundliche, duftende Ludmilla.
Ob Ludmilla die volle, ungeschminkte Wahrheit sagte oder einiges dazu dichtete, — das war Chripatsch ganz gleichgültig, — er fühlte aber, wenn er ihr nicht glauben oder mit ihr streiten, oder irgendwelche Schritte tun, beispielsweise Sascha bestrafen würde, — daß er dann in die Klemme geraten würde und im ganzen Lehrbezirk blamiert wäre. Um so mehr, als diese Sache mit jener Peredonoffs in Verbindung stand, und als Peredonoff natürlich allgemein für unzurechnungsfähig galt. Und liebenswürdig lächelnd sagte Chripatsch zu Ludmilla:
„Es tut mir aufrichtig leid, daß das alles Sie so erregt hat. Ich habe mir keinen Augenblick erlaubt, gleichviel welche Hintergedanken betreffs Ihres Verkehrs mit Pjilnikoff zu haben. Ich schätze Ihre freundlichen und gütigen Gefühle, die Sie zu Ihren Schritten veranlaßt haben, sehr hoch, — und keinen Augenblick beurteilte ich die in der Stadt verbreiteten und bis zu mir gedrungenen Gerüchte anders als wie eine dumme, sinnlose Verleumdung, die mich aufs tiefste empört hat. Ich hielt mich um so mehr für verpflichtet, Madame Pjilnikoff davon zu benachrichtigen, als es möglich war, daß ihr viel entstelltere Mitteilungen gemacht werden konnten, — niemals beabsichtigte ich aber, — Sie irgendwie zu beunruhigen, und hatte nicht geglaubt, daß Madame Pjilnikoff sich zu Ihnen begeben würde, um Ihnen Vorwürfe zu machen.“
„Mit Madame Pjilnikoff haben wir uns vollständig ausgesprochen,“ sagte Ludmilla fröhlich, „lassen Sie aber Sascha unsretwegen in Ruh! Wenn unser Haus für Gymnasiasten so gefährlich ist, so werden wir ihn, wenn Sie es wünschen, nicht mehr einladen.“
„Sie sind sehr freundlich zu ihm,“ sagte Chripatsch unbestimmt. „Wir können nichts dagegen einwenden, daß er mit Erlaubnis seiner Tante in der freien Zeit seine Bekannten aufsucht. Uns liegt die Absicht fern, die Schülerwohnungen in Zellen zu verwandeln. Bevor übrigens die Angelegenheit mit dem Herrn Peredonoff noch nicht geregelt ist, wird es besser sein, wenn Pjilnikoff überhaupt zu Hause bleibt.“
Bald wurde die sicher vorgebrachte Lüge der Rutiloffs und Saschas durch ein schreckliches Ereignis im Hause Peredonoffs bekräftigt. Es überzeugte die Bürger endgültig davon, daß alle Gerüchte über Sascha und die Rutiloffs nur die Phantasien eines Irrsinnigen gewesen waren.
Es war ein trüber, kalter Tag. Peredonoff kehrte von Wolodin heim. Eine niederdrückende Angst quälte ihn.
Die Werschina lockte Peredonoff zu sich in den Garten. Wieder gehorchte er ihren magischen Bewegungen. Sie gingen in die Laube, über die feuchten, mit welken, dunklen Blättern bedeckten Wege. In der Laube roch es dumpf und feucht. Hinter den kahlen Bäumen sah man das Haus mit seinen geschlossenen Fenstern.
„Ich will Ihnen die ganze Wahrheit sagen,“ murmelte die Werschina, blickte rasch auf Peredonoff und wandte ihre schwarzen Augen gleich wieder zur Seite.
Sie trug eine schwarze Jacke und war in ein schwarzes Tuch gehüllt; zwischen den von der Kälte blauen Lippen hielt sie ihr schwarzes Mundstück und ließ den dunklen Rauch in dichten Wolken aufsteigen.
„Ich spucke auf Ihre Wahrheit,“ antwortete Peredonoff, „in hohem Maße spucke ich darauf.“
Die Werschina lächelte schief und antwortete:
„Sagen Sie nicht! Sie tun mir furchtbar leid, — man hat Sie betrogen.“
Schadenfreude klang aus ihrer Stimme. Böse Worte sprangen ihr von den Lippen. Sie sprach:
„Sie hatten auf Protektion gehofft, allein Sie waren zu vertrauensselig. Man hat Sie betrogen, und Sie haben ohne weiteres geglaubt. Jedermann kann einen Brief schreiben. Sie mußten wissen, mit wem Sie es zu tun haben. Ihre Gattin ist eine in den Mitteln nicht wählerische Persönlichkeit.“
Peredonoff konnte die gemurmelte Rede der Werschina nur schwer verstehen; in ihrer Weitschweifigkeit konnte er kaum einen Sinn finden. Die Werschina fürchtete sich, es laut und deutlich zu sagen: sagte sie es laut, so hätte jemand es hören können, Warwara hätte es erfahren, und es hätte Unannehmlichkeiten gegeben, denn Warwara wäre vor einem Skandal nicht zurückgeschreckt; sagte sie es deutlich, — so würde Peredonoff wütend werden, vielleicht würde er sie sogar schlagen. Man müßte ihm einen Wink geben, daß er es selber erriete. Aber Peredonoff erriet es nicht.
Es war ja schon früher vorgekommen, daß man ihm direkt ins Gesicht gesagt hatte, er wäre betrogen worden, er konnte aber auf keine Weise darauf kommen, daß die Briefe gefälscht waren, und dachte immer, die Fürstin selber betröge ihn, — führte ihn an der Nase herum.
Endlich sagte die Werschina gerade heraus:
„Sie glauben wohl, die Fürstin hat die Briefe geschrieben. Jetzt weiß es aber schon die ganze Stadt, daß die Gruschina sie gefälscht hat, im Auftrage Ihrer Gattin; die Fürstin weiß von nichts. Fragen Sie, wen Sie wollen; alle wissen es, — sie selber haben sich verplappert. Und dann hat Warwara Dmitriewna Ihnen die Briefe entwendet und verbrannt, damit es keine Beweisstücke gibt.“
Dunkle, schwere Gedanken wälzten sich durch Peredonoffs Hirn. Er begriff nur eins: man hatte ihn betrogen. Aber daß die Fürstin darum nicht wissen sollte, — nein, sie weiß es. Nicht umsonst war sie lebendig aus dem Feuer hervorgegangen.
„Das von der Fürstin lügen Sie,“ sagte er, „ich wollte die Fürstin verbrennen, konnte es aber nicht: sie hat die Glut totgespuckt.“
Plötzlich schüttelte ihn eine rasende Wut. Man hatte ihn betrogen! Wild hieb er mit der Faust auf den Tisch, sprang auf und ging eilig, ohne sich zu verabschieden, nach Hause. Erfreut blickte ihm die Werschina nach, und schwarze Rauchwölkchen lösten sich geschwind von ihrem dunklen Munde, fegten dahin und wurden vom Winde zerfetzt.
Peredonoff kochte vor Wut. Als er aber Warwara sah, befiel ihn eine quälende Angst, und er brachte kein Wort über die Lippen.
Ganz früh am Morgen des nächsten Tages legte er sich ein Messer zurecht, — ein kleines Gartenmesser in einer ledernen Scheide; vorsichtig trug er es in seiner Tasche. Den ganzen Vormittag über, — bis zu seinem frühen Mittagessen, — saß er bei Wolodin. Er sah zu, wie jener arbeitete und machte dumme Bemerkungen. Wolodin war wie immer froh, daß Peredonoff sich mit ihm abgab; seine Dummheiten hielt er für witzig.
Das gespenstische Tierchen tummelte sich den ganzen Tag über um Peredonoff. Nach dem Essen ließ es ihn nicht schlafen. Es hatte ihn ganz zerquält. Und dann, als er gegen abend einschlafen wollte, weckte ihn ein komisches Weib; Gott weiß, woher es gekommen war. Es hatte eine Stülpnase und war widerlich. Es trat an sein Bett heran und murmelte:
„Kwas [14] brauen, Pasteten backen, den Braten braten.“
Es hatte dunkle Wangen, aber seine Zähne blitzten.
„Geh zum Teufel!“ rief Peredonoff.
Das Weib mit der Stülpnase verschwand, als wäre es nie dagewesen.
Es wurde abend. Der Wind heulte dumpf im Schornstein. Ein langsamer Regen schlug leise und hartnäckig an die Fensterscheiben. Hinter den Fenstern war alles ganz schwarz.
Wolodin war bei Peredonoffs, — Peredonoff hatte ihn noch am Morgen gebeten, zum Tee zu kommen.
„Niemand hereinlassen. Hörst du, Klawdjuschka?“ schrie Peredonoff.
Warwara schmunzelte. Er brummte:
„Hier treiben sich Weiber herum. Man muß nachsehen. Eine hat sich zu mir ins Schlafzimmer gedrängt, — wollte sich als Köchin verdingen. Aber wozu brauche ich eine Köchin mit einer Stülpnase.“
Wolodin lachte, meckerte und sagte:
„Weiber pflegen auf den Straßen zu sein; zu uns haben sie aber nicht die geringsten Beziehungen, und wir werden sie nicht an unseren Tisch heranlassen.“
Alle drei setzten sich an den Tisch. Man trank Schnaps und aß Piroggen dazu. Es wurde mehr getrunken als gegessen.
Peredonoff war finster. Alles war für ihn sinnlos, unzusammenhängend, plötzlich, — wie ein Alp. Der Kopf schmerzte ihn fürchterlich. Eine Vorstellung kehrte hartnäckig wieder, — Wolodin war sein Feind. Sie wechselte ab mit dem aufdringlichen, schweren Gedanken: man muß Pawluschka totschlagen, ehe es zu spät ist. Dann werden alle feindlichen Listen offenbar werden.
Wolodin wurde schnell betrunken und schwatzte irgend etwas Unzusammenhängendes, um Warwara zu unterhalten.
Peredonoff war erregt.
„Jemand kommt da,“ murmelte er. „Laßt niemand herein. Sagt, ich wäre fortgefahren um zu beten; ins Schabenkloster.“
Er fürchtete, Besuch würde ihn stören. Wolodin und Warwara amüsierten sich; sie dachten, er wäre nur betrunken. Sie zwinkerten einander zu, gingen einzeln an die Tür, klopften, sprachen mit verstellten Stimmen:
„Ist der General Peredonoff zu Hause?“
„Dem General Peredonoff — der Stern mit Brillanten.“
Aber Peredonoff hatte heute kein Verlangen nach dem Stern.
„Nicht hereinlassen!“ schrie er. „Jagt sie zum Teufel. Sie sollen morgen früh kommen. Jetzt ist nicht die Zeit dazu.“
Nein, dachte er, heute muß ich fest sein. Heute wird alles klar werden. Aber noch sind die Feinde zu allem Möglichen fähig, um ihn desto sicherer umzubringen.
„Wir haben sie fortgejagt; sie bringen den Stern morgen früh,“ sagte Wolodin und setzte sich wieder an den Tisch.
Peredonoff fixierte ihn mit seinen trüben Augen und fragte:
„Bist du mein Freund oder mein Feind?“
„Dein Freund, dein Freund, Ardascha!“ antwortete Wolodin.
„Der Busenfreund ist soviel wert, wie die Schabe unterm Herd,“ sagte Warwara.
„Nicht Schabe, sondern Schaf,“ verbesserte Peredonoff. „Wollen wir trinken, Pawluschka, aber nur wir beide. Auch du, Warwara, — trink; wollen wir alle zusammen trinken, wir beide.“
Wolodin kicherte.
„Wenn auch Warwara Dmitriewna mit uns trinkt, so trinken wir nicht zu zweit, sondern zu dritt,“ erklärte er.
„Zu zweit,“ wiederholte Peredonoff mürrisch.
„Mann und Frau: eine Sau,“ sagte Warwara und lachte laut.
Bis zum letzten Augenblick vermutete Wolodin nicht, daß Peredonoff ihn ermorden wolle. Er meckerte, schwatzte Dummheiten, betrug sich läppisch, brachte Warwara zum Lachen.
Aber Peredonoff dachte den ganzen Abend an sein Messer. Wenn Wolodin oder Warwara sich ihm von jener Seite näherten, wo er das Messer verwahrt hatte, so schrie er sie wütend an, — sie sollten fortgehen. Einigemal zeigte er auf die Tasche und sagte:
„Hier, Freundchen, habe ich so ein Ding, daß du, Pawluschka, kreischen wirst.“
Warwara und Wolodin lachten.
„Kreischen kann ich immer, Ardascha,“ sagte Wolodin, „kräh, kräh! Es ist sogar sehr einfach!“
Rot im Gesicht, betäubt vom Schnaps kreischte Wolodin und schob seine Lippen vor. Er wurde immer gemeiner in seiner Art mit Peredonoff umzugehen.
„Man hat dich übers Ohr gehauen, Ardascha,“ sagte er wegwerfend-mitleidig.
„ Ich hau dich übers Ohr!“ brüllte Peredonoff auf.
Schrecklich und drohend schien ihm Wolodin. Er mußte sich verteidigen.
Schnell riß er das Messer heraus, stürzte sich auf Wolodin und stach ihn in den Hals. Das Blut spritzte im Bogen.
Peredonoff erschrak. Das Messer entfiel seiner Hand.
Wolodin röchelte und wollte mit den Händen an den Hals greifen. Es war ihm anzusehen, daß er zu Tode erschrocken war, immer schwächer wurde und die Hände nicht mehr bis zum Halse heben konnte. Plötzlich erstarrte er und fiel auf Peredonoff. Ein stoßweises Gewinsel entrang sich seiner Brust, als käme er an Atem zu kurz, — dann wurde er still. Vor Entsetzen winselte auch Peredonoff und dann, — nach ihm, — Warwara.
Peredonoff stieß Wolodin von sich. Schwer fiel er zu Boden. Er röchelte, zuckte mit den Beinen und starb. Seine starr hinaufgerichteten Augen verglasten.
Aus dem Nebenzimmer kam der Kater, roch am Blut und miaute böse. Warwara stand wie erstarrt. Auf den Lärm kam Klawdja gelaufen.
„Herr des Himmels! Mord! Mord!“ kreischte sie.
Warwara kam zur Besinnung und lief schreiend mit Klawdja zum Zimmer hinaus.
Die Kunde vom Geschehenen verbreitete sich schnell. Die Nachbarn versammelten sich auf dem Hof, auf der Straße. Lange wagte es keiner, ins Eßzimmer zu gehen.
Sie blickten hinein, flüsterten. Peredonoff starrte mit irren Augen auf den Leichnam; hinter der Tür hörte er Geflüster ... Eine stumpfe Angst schnürte ihm die Brust. Er hatte keine klaren Gedanken mehr.
Endlich faßte man Mut, man trat ein, — Peredonoff saß mürrisch da und murmelte unzusammenhängende, sinnlose Worte.
Ende.
[1] Ein nicht wiederzugebendes Wortspiel, denn für „Schwester“ und „Cousine“ gilt im Russischen ein Wort.
[2] Ein Gericht aus Graupen oder Reis mit Honig und Rosinen, welches bei einer Totenfeier zum Einsegnen in die Kirche gebracht und später gegessen wird.
[3] Kosename für „Martha“.
[4] Der Fünfer ist eine große russische Kupfermünze. Der abgeflachte Rüssel des Schweines erinnert daran; daher der Vergleich.
[5] Bedeutet, daß in dem betr. Hause ein Mädchen lebt, das noch zu haben ist. Im Bilde: die Männer sollen am Teer kleben bleiben.
[6] Ein russischer Mädchenname.
[7] Russisches Nationalkostüm.
[8] Russische Nationaltracht.
[9] Null ist die schlechteste Note, fünf die beste.
[10] Es ist in Rußland Sitte, Bekannten, die in eine neue Wohnung gezogen sind, ein Gastgeschenk zu machen.
[11] Entspricht dem deutschen Doktortitel.
[12] Russischer Nationaltanz; wird in sitzender Stellung getanzt, — die Beine werden vorgeworfen.
[13] Ein kleines, hölzernes Schöpfgefäß; wird in russischen Badstuben gebraucht, ebenso der Birkenquast.
[14] Säuerliches Getränk aus Schwarzbrot mit Malz.
M. Artzibaschew
Ssanin
Roman
Einzig autorisierte deutsche Übersetzung von
André Villard und S. Bugow
— 8. Auflage —
Geh. Mk. 5.—, geb. Mk. 6.50
Dieser Roman, der in Rußland eine sexuelle Revolution auslöste und bei Erscheinen der 2. Auflage wegen seiner beispiellosen Wirkungen konfisziert wurde, erregte auch in Deutschland gewaltiges Aufsehen. Fast einstimmig erkannte die deutsche Presse, und darunter namhafte Kritiker, den literarischen Wert und die außerordentlich hohe kulturgeschichtliche Bedeutung des Werkes an.
Kurt Aram schrieb in der „Frankfurter Ztg.“:
„Es wirkt fast wie tragische Ironie, daß dem Prediger der Kreutzersonate gerade in diesen Tagen dieser Gegner erwuchs, dessen „Ssanin“ die schärfste Reaktion gegen Tolstois Weltanschauung bedeutet. Gleich sind beide nur in ihrer leidenschaftlichen Einseitigkeit. Verdammt Tolstoi den Geschlechtsgenuß und rückt er um seinetwillen sogar der Ehe zu Leibe, so bedeutet für den jungen Ssanin der Geschlechtsgenuß das einzige, um dessentwillen zu leben sich lohnt. Darüber wird in unserem Roman sehr viel disputiert, und zwar durchaus nicht in frivoler Weise, sondern mit fast fanatischem, echt russischem Ernst. ... ein Buch von guter literarischer Qualität, dessen größter Wert jedoch sicherlich darin besteht, ein wichtiges Dokument zum Verständnis für den völligen Umschwung im Leben, Fühlen und Handeln der russischen Intelligenz abzugeben .“
Willy Rath urteilt im „Kunstwart“:
„Es zeigt sich, daß „Ssanin“ bestimmt keine Pornographie enthält, daß das Sexuelle darin nicht einmal gedanklich die Alleinherrschaft übt, sondern eine weitere, ganz geistige Anschauung den Ursprung bildet. Freilich bringt diese es mit sich, daß auch die Frage der Geschlechtsliebe höchst rücksichtslos erörtert und verwegen beantwortet wird; das Buch ist nur reifen Menschen in die Hand zu geben.“
Robert Saudek sagt in einem „Eine neue Kreutzersonate“ überschriebenen Feuilleton:
„ Seit Tolstois Kreutzersonate hat kein belletristisches Werk in Rußland eine ähnliche Wirkung ausgeübt. Bei der Lektüre dieses Buches, bei seiner Schilderung der Frauen hat man das Gefühl, als ob man am ersten Frühlingstag nach einem düstern Winter auf die Straße träte.“
Der Kritiker der „Berliner Morgenpost“ schrieb:
„Artzibaschew gehört seit seinem Ssanin zu den Dichtern, deren Name unumgänglich mit der Geschichte ihrer Zeit verknüpft ist. Selbst wenn er nicht durch seine künstlerischen Qualitäten zu einer der wichtigsten Erscheinungen in der modernen Literatur Rußlands geworden wäre, hätten ihm doch kulturhistorische Gründe bleibende Bedeutung gegeben. Man wird die gegenwärtige Epoche , also die, welche die revolutionäre ablöste, psychologisch und sozialistisch nicht beurteilen können, ohne den Ssanin als ihren charakteristischen Niederschlag in den Mittelpunkt der Betrachtung zu ziehen ... Die Personen und Charaktere gehen weit über das Einzelinteresse hinaus: sie stellen Menschheitstypen dar, deren äußere Charakterformen sich in jeweiligen Epochen anders spiegeln mögen, deren innere Wahrhaftigkeit und Treue aber unvergänglich bleiben wird ... Ssanin ist sicher für sein Land zu einem der revolutionärsten Werke der Weltliteratur geworden.“
Ferner erschien im gleichen Verlage:
M. Artzibaschew
Millionen
und andere Novellen
Einzig autorisierte deutsche Übertragung von
André Villard und S. Bugow
— 3. Auflage —
Geh. Mk. 5.—, geb. Mk. 6.50
Schon vor Erscheinen des „Ssanin“ trat Artzibaschew durch seine Novellen an die Spitze der jungrussischen Literatur. Er war der erste, der rein erotische Probleme zum Ausgangspunkt seines dichterischen Schaffens nahm. Mit tiefem psychologischen Verständnis zergliedert er die geistige Entwicklung der modernen Russen und baut dann auf der Grundlage seiner seelischen Analysen seine starke überschäumende Handlung auf. Prächtige Arbeiten dieser Art sind die beiden Novellen dieses Bandes: „Millionen“ und „Der Tod des Iwan Lande“. Mit gleichem Beifall wie Ssanin wurde dieser Novellenband aufgenommen, ja es mag Artzibaschews Künstlertum in diesen Erzählungen einen noch gesteigerten Ausdruck gefunden haben.
Ludwig Bauer schrieb u. a. in einer sehr anerkennenden Besprechung in den „Münchener Neuesten Nachrichten“: „Die erste Erzählung schildert uns die Leiden des Millionärs Mishujew, die zweite jene des Iwan Lande, eines wahren Christen, der an die Menschen glaubt. Diese beiden Seelen werden vor uns mit so behutsamer Hand ausgebreitet, wie nur Dichterhände es vermögen ... Die beiden Erzählungen könnten literarisch Anlaß zu noch manchem Tadel geben. Aber — was ist Literatur? Hier ist Besseres: Seele.“
Druck von Mänicke u. Jahn, Rudolstadt.
Anmerkungen zur Transkription
Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.
Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Offensichtliche Fehler wurden stillscheigend korrigert. Weitere Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme des russischen Originaltextes, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):