Title : Das Sternenkind und andere Geschichten: Naturgeschichtliche Märchen
Author : Carl Ewald
Editor : Hermann Kiy
Illustrator : Willy Planck
Release date : December 22, 2018 [eBook #58520]
Language : German
Credits
: Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
http://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der 1921 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert, abweichende Schreibweisen wurden dagegen beibehalten.
Die im Original g e s p e r r t gedruckten Passagen werden hier in kursiver Schrift dargestellt.
Das Sternenkind
und andere Geschichten
Im Verlag der Franckh’schen Verlagshandlung, Stuttgart , sind erschienen:
E. Thompson Seton
Bingo und andere Tiergeschichten.
Prärietiere und ihre Schicksale.
Tierhelden , die Geschichte einer Katze, zweier Wölfe usw.
Rolf , der Trapper.
Preis jedes Bandes gebd. M 19.50 .
Monarch , der Riesenbär.
Jochen Bär und andere Tiergeschichten.
Domino Reinhard , Lebensgeschichte eines Silberfuchses.
Preis jedes Bandes gebd. M 13.— .
Karl Ewald
Mutter Natur erzählt (Naturwissenschaftliche Märchen).
Der Zweifüßler und andere Geschichten.
Vier feine Freunde und andere Geschichten.
Meister Reineke u. andere Geschichten.
Das Sternenkind und andere Geschichten.
A. Th. Sonnleitner
Die Höhlenkinder im Heimlichen Grund.
Die Höhlenkinder im Pfahlbau.
Die Höhlenkinder im Steinhaus.
Eine Robinsonade auf kulturgeschichtlicher Grundlage, in der sich der Werdegang der Menschheit abspielt.
A. R. Bond
Bei den Helden der Technik
Ferienerlebnisse zweier Jungen in Neuyorks Wunderwelt der Technik.
Preis jedes Bandes gebd. M 19.50
Naturgeschichtliche Märchen
Von
Carl Ewald
Fünfter Band der autorisierten
deutschen Gesamtausgabe von
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Mit acht Tafeln und zahlreichen Abbildungen
von
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Siebzehnte Auflage
Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde
Franckh’sche Verlagshandlung, Stuttgart
1921
⁘
Alle Rechte, insbesondere auch das
Uebersetzungsrecht, vorbehalten.
Copyright 1921 by
Franckh’sche Verlagshandlung,
Stuttgart.
⁘
STUTTGARTER SETZMASCHINEN-DRUCKEREI
HOLZINGER & CO, STUTTGART
Wald und Heide | 5 |
Tante Eidergans | 14 |
Grabwespe und Goldwespe | 32 |
Irgendwo im Walde | 47 |
Das Sternenkind | 55 |
Das Johanniswürmchen | 67 |
Das Gold | 74 |
Sand | 140 |
Der kleine Hering | 166 |
Die Blumen | 185 |
Die vier Fürsten | 205 |
Die Blattlaus | 284 |
Es war einmal ein herrlicher Wald mit tausend ranken Stämmen und mit Saus und Sang in den dunkeln Kronen.
Ringsum dehnten sich Wiesen und Felder, und drüben hatte der Bauer sein Haus erbaut. Wiese und Feld boten einen guten Anblick dar in ihrem vollen Grün, und der Bauer war fleißig und dankbar für den Ertrag, den er heimbrachte. Der Wald aber stand wie ein großer Herr hoch über ihnen allen.
Während des Winters lag das Feld flach und elend unterm Schnee, die Wiese war ein einziger vereister See, und der Bauer verkroch sich in der Ofenecke; aber der Wald stand gleich rank und ruhig da mit seinen nackten Zweigen und ließ es stürmen und schneien, soviel es Lust hatte. Wenn’s Frühling wurde, dann grünten freilich Feld und Wiese, und der Bauer kam hervor und begann zu pflügen und zu säen. Der Wald aber erwachte zu solcher Herrlichkeit, daß niemand es beschreiben konnte; zu seinen Füßen standen Blumen, und auf seinen grünen Wipfeln lag die Sonne; aus dem kleinsten Strauch erscholl Vogelgesang, und allerorten duftete es und wogte es von festlichen Farben.
Da geschah es eines Sommertags, als der Wald mit seinen Zweigen um sich fächelte, daß ihm ein [S. 6] spaßiges braunes Ding vor Augen kam, das sich auf den Hügeln gegen Westen ausbreitete, und das er noch nie gesehen hatte.
„Was bist du für ein Geselle?“ fragte der Wald.
„Ich bin die Heide ,“ erwiderte das braune Ding.
„Ich kenne dich nicht,“ entgegnete der Wald, „und ich mag dich nicht leiden. Du bist so garstig und schwarz, gleichst weder Feld noch Wiese noch sonst irgend etwas, das ich kenne. Hast du Knospen, die aufspringen? Kannst du blühen? Kannst du singen?“
„Gewiß, gewiß,“ sagte die Heide. „Im August, wenn deine Blätter dunkel und müde werden, dann springen meine Blütenknospen auf. Und dann bin ich rot — rot von einem Ende zum andern und schöner als alles, was du je gesehen hast.“
„Prahlhans!“ sagte der Wald. Und dann sprachen sie nicht mehr zusammen.
Im nächsten Jahr war die Heide ein großes Stück den Hügel hinabgekrochen, auf den Wald zu. Der Wald sah es zwar, sagte aber nichts. Es schien ihm unter seiner Würde zu sein, sich mit solch garstigem Burschen zu unterhalten. In seinem Innern aber hatte er Angst. So machte er sich denn so grün und schön, wie er nur konnte, und ließ sich nichts anmerken.
Mit jedem Jahr aber, das verstrich, kam ihm die Heide näher. Sie hatte jetzt alle Hügel zugedeckt und lag dicht vor dem Bereich des Waldes.
„Scher dich weg!“ sagte der Wald. „Du bist mir im Wege. Gib acht, daß du nicht an meine Hecke rührst!“
„Ich geh drüber weg,“ war die Antwort der Heide. „Ich geh hinein in dich, ich fresse und zerstöre dich.“
Da lachte der Wald, daß alle seine Blätter bebten.
„Soso, also das ist deine Absicht!“ sagte er. „Wenn du’s nur fertig bringst! Ich fürchte, ich bin ein zu großer Happen für dich. Du glaubst wohl, ich bin dasselbe wie so ein bißchen Wiese oder Feld, worüber man im Nu hinwegspazieren kann. Aber ich bin der Mächtigste und Vornehmste in der ganzen Gegend, mußt du wissen. Ich will dir einmal mein Liedlein vorsingen, dann kommst du vielleicht auf andere Gedanken.“
Und der Wald begann zu singen. Alle Vögel sangen, und die Blumen erhoben ihre Köpfe und sangen mit. Das kleinste Blatt summte mit den andern, der Fuchs hielt inne mitten im Genuß eines fetten Huhns und schlug den Takt mit seinem buschigen Schwanz, und der Wind lief zwischen den Zweigen umher und bildete die Orgelbegleitung zu dem Liede des Waldes:
„Was sagst du nun?“ fragte der Wald.
Die Heide antwortete nicht. Aber im nächsten Jahr überschritt sie die Hecke.
„Bist du toll?“ rief der Wald. „Ich hab’ dir ja verboten, herüberzukommen.“
„Du bist nicht mein Herr,“ erwiderte die Heide. „Ich tu’, wie ich gesagt habe.“
Da rief der Wald den roten Fuchs und schüttelte die Zweige, so daß eine Menge Bucheckern und Eicheln hinabfielen und in seinem Pelz hängen blieben.
„Lauf in die Heide hinaus, lieber Fuchs, und leg die Samen dorthin!“ bat der Wald.
„Will sehn, was sich machen läßt!“ sagte der Fuchs und trabte davon.
Und es halfen Hase, Hirsch, Marder und Maus. Auch die Krähe unterstützte aus alter Freundschaft die Sache, und der Wind faßte ordentlich zu und rüttelte an den Zweigen, daß die Bucheckern und Eicheln weit auf die Heide hin flogen.
„So,“ sagte der Wald, „nun wollen wir mal sehn, was draus wird!“
„Ja, das wollen wir!“ meinte die Heide.
Es verging eine Zeit, der Wald wurde grün und wieder welk, und die Heide dehnte sich immer mehr aus. Man redete nicht mehr zusammen. An einem schönen Frühlingstage aber guckten rings im Heidekraut ganz winzige neugeborene Buchen und Eichen aus der Erde hervor.
„Was sagst du nun?“ fragte triumphierend der Wald. „Jahr auf Jahr sollen meine Bäume wachsen, bis sie groß und stark werden. Dann sollen sie ihre Kronen über dir zusammenschließen; keine Sonne soll scheinen, kein Regen soll auf dich herabfallen, und um deines Übermuts willen sollst du sterben.“
Aber die Heide schüttelte ernst ihre schwarzen Reiser. „Du kennst mich nicht,“ sagte sie, „ich bin stärker, als du glaubst. Niemals werden deine Bäume bei mir grünen. Ich habe die Erde unter mir fest wie Eisen gebunden, und deine Wurzeln können nicht hindurch. Wart nur bis zum nächsten Jahr! Dann sterben die kleinen Wichte, über die du jetzt so froh bist.“
„Du lügst,“ entgegnete der Wald. Und doch war er in großer Angst.
Im nächsten Jahr kam es, wie die Heide gesagt hatte. Die kleinen Buchen und Eichen gingen samt und sonders ein. Und nun folgte eine entsetzliche Zeit für den Wald. Die Heide dehnte sich immer weiter aus. Überall sah man Heidekraut statt der Veilchen und Anemonen. Kein junger Baum wuchs, die Sträucher verwelkten, die alten Bäume begannen am Wipfel abzusterben, daß es ein rechtes Unglück war.
„Hier im Walde ist’s nicht mehr gemütlich,“ sagte die Nachtigall. „Ich glaube, ich baue anderswo mein Nest.“
„Hier ist ja kaum noch ein ordentlicher Baum, wo man wohnen könnte,“ sagte die Krähe.
„Die Erde ist so hart geworden, daß man sich keinen anständigen Gang mehr bauen kann,“ murrte der Fuchs.
Der Wald wußte sich keinen Rat. Die Buche reckte ihre Zweige zum Himmel auf und flehte um Hilfe, und die Eiche krümmte die ihren in stiller Verzweiflung.
„Sing doch noch einmal dein Lied!“ sagte die Heide.
„Ich hab’ es vergessen,“ antwortete der Wald betrübt. „Meine Blumen sind verwelkt, und meine Vögel sind fortgeflogen.“
„Dann will ich singen,“ sagte die Heide. Und sie sang:
Die Jahre vergingen, und um den Wald war es immer schlechter bestellt. Die Heide dehnte sich weiter und weiter aus, bis sie das andere Ende des Waldes erreichte. Die großen Bäume starben ab und stürzten um, sobald der Sturm sie ordentlich anpackte. Dann lagen sie da und verfaulten, und das Heidekraut wuchs über sie weg. Nun war nur noch ein Dutzend von den ältesten und stärksten Bäumen übrig, aber sie waren alle hohl und hatten ganz dünne Wipfel.
„Meine Zeit ist um, ich muß sterben,“ sagte der Wald.
„Habe ich es dir nicht vorhergesagt!“ rief ihm die Heide zu.
Aber nun bekamen die Menschen einen großen Schreck, weil die Heide so ungestüm gegen den Wald vorging.
„Woher soll ich Bretter für meine Werkstatt nehmen?“ rief der Tischler.
„Woher soll ich kleines Holz bekommen, um mein Essen zu kochen?“ klagte die Frau.
„Woher sollen wir Brennscheite holen für den Winter?“ seufzte der alte Mann.
„Wohin soll ich im Frühling mit meiner Braut spazieren gehen?“ schalt der junge Mann.
Und die Menschen betrachteten eine Weile die armen alten Bäume, mit denen nichts mehr anzufangen war; und dann nahmen sie ihre Hacken und Spaten und liefen auf die Hügel hinauf, dahin, wo die Heide begann.
„Ihr könnt euch die Mühe sparen,“ rief die Heide, „in mir könnt ihr nicht graben.“
„Ach nein!“ seufzte der Wald. Aber er war jetzt so schwach, daß niemand mehr hören konnte, was er sagte.
Die Menschen kümmerten sich auch nicht darum. Sie hackten und hackten, bis sie durch die harte Schale hindurch waren. Dann fuhren sie Erde und Dünger herbei und füllten die Löcher damit aus, und dann pflanzten sie junge Bäumchen. Die pflegten [S. 13] sie und freuten sich ihrer und hüteten sie vor dem Winde, so gut sie vermochten.
Und Jahr auf Jahr wuchsen die kleinen Bäume. Wie helle, grüne Flecke standen sie mitten in dem schwarzen Heidekraut; und als eine Zeit vergangen war, kam ein Vögelchen und baute sein Nest in einem der Bäumchen.
„Hurra! Nun haben wir wieder einen Wald!“ riefen die Menschen.
„Gegen die Menschen kommt niemand an,“ murrte die Heide. „Da ist nichts zu machen. Also gehn wir weiter!“
Von dem alten Walde aber stand noch ein einziger Baum, der nur einen einzigen grünen Zweig am Wipfel hatte. Auf den setzte sich ein kleiner Vogel, und er erzählte von dem neuen Walde, der drüben auf dem Hügel emporwuchs.
„Gott sei Dank!“ sagte der alte Wald. „Was man selbst nicht fertigbringt, muß man den Kindern überlassen. Wenn sie nur tüchtig sind! Sie sehen ein bißchen dünn aus!“
„Du bist selber auch einmal so dünn gewesen,“ erwiderte der Vogel.
Dazu sagte der alte Wald nichts mehr, denn er war gestorben, und damit ist es auch mit unserer Geschichte aus.
Es war Winter.
Die Blätter waren verschwunden von den Bäumen und die Blumen von der Hecke. Und auch die Vögel waren fort, das heißt, die vornehmsten, die sämtlich nach dem Süden gereist waren.
Aber ein paar waren natürlich noch übrig.
Da war Freund Sperling und die flinke kleine Kohlmeise. Ferner der Rabe und die Saatkrähe, die noch einmal so schwarz und hungrig aussahen auf dem weißen Schnee. Und da waren auch noch einige andere, die lieber in den sauren Apfel beißen und im Norden bleiben wollten, anstatt sich auf die lange Reise zu begeben.
Unten am Strande war mehr Leben als im Sommer.
Da waren die Möwen, die sich überall in großen [S. 15] Scharen tummelten, wo Löcher ins Eis geschlagen waren. Und da waren die wilden Enten, die sich draußen im offenen Wasser aufhielten und schnatterten und tauchten und aufflogen, wenn die Flinten der Fischer knallten.
„Wie viele es sind!“ sagte der Sperling.
„Sie kommen aus dem hohen Norden,“ erklärte die Möwe „Aus Norwegen und von den Färöern. Da oben ist es viel kälter als hier. Sobald die geringste Veränderung in der Luft eintritt, fliegen sie wieder hinauf... Kennst du die beiden, die uns dort auf dem Eise entgegenkommen?“
„Woher sollte ich sie kennen?“ fragte der Sperling. „Ich bin in diesem Sommer geboren und möchte nur wünschen, daß ich wieder im Neste läge.“
„Das sind Eidergänse,“ erzählte die Möwe. „Sieh, nun kommt noch einer.“
Und so war es auch. Und das war ein sehr feiner Vogel. Sein Nacken war grün und Hals und [S. 16] Brust waren weiß mit einem rosigen Schimmer, seine Beine aber wunderschön gelb.
„Das ist das Männchen,“ sagte die Möwe. „Die beiden anderen sind Frauenzimmer und nicht so elegant, obwohl auch sie noch ganz gut aussehen.“
Die drei Eidervögel waren jetzt so nahe bei dem Sperling und der Möwe, daß diese hören konnten, wovon sie sprachen.
„Gnädige Frau,“ sagte der Kavalier, „ich verstehe nicht, was Sie hier auf dem Eise wollen. Gehen Sie mit hinaus auf das offene Wasser und amüsieren Sie sich mit uns.“
„Ich bleibe bei meiner Nichte,“ erwiderte die Eidergans.
„Und warum will das Fräulein nicht mit?“ fragte der Kavalier. „Im Sommer waren Sie auf unseren lieben Färöern die Froheste unter den Frohen.“
„Das war damals,“ entgegnete das Eidergansfräulein. „Jetzt bin ich auf andere und ernstere Gedanken gekommen.“
Der Kavalier versuchte noch eine Weile, sie zu überreden, aber ohne Erfolg. Dann flog er zurück über das Eis.
„Ist hier kein Felsen, Tante?“ fragte das Eidergansmädchen. „Ich sehne mich danach, zu heiraten und ein Nest zu bauen.“
„Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf, so ist es gerade kalt genug,“ warf der Sperling ein. „Und Felsen haben wir hierzulande nicht.“
„Man kann im Sande brüten,“ sagte die Möwe.
„Vielen Dank für Ihre Auskunft, gute Frau,“ sagte die Eiderganstante. „Aber es ist nur so ein [S. 17] Anfall, den meine Nichte hat. Sie ist jetzt drei Jahre alt und heiratsfähig.“
„Jesses,“ rief der Spatz. „Und ich bin diesen Sommer geboren und könnte mich schon auf der Stelle verheiraten, wenn es nur ein bißchen wärmer wäre.“
„Manche sind ja früher reif zur Heirat,“ sagte die Tante.
„Laß uns nach Hause nach den Färöern fliegen, damit wir uns verheiraten können, Tante,“ seufzte die junge Dame.
„In einem Monat, mein Kind,“ sagte die Tante. „Ich für mein Teil bedanke mich allerdings schönstens. Ich war siebenmal verheiratet und werde die Geschichte nicht mehr mitmachen. Aber ich will gern ein wenig mit dir schwatzen. Das ist unheimlich interessant.“
„In einem Monat sind die Bäume noch nicht grün,“ sagte der Sperling. „Wir sind ja erst im Januar.“
„Wir haben keine Bäume auf den Färöern, Mädchen,“ erwiderte die Tante. „Und wir brauchen auch keine.“
„Hat das Fräulein denn schon einen Bräutigam?“ forschte die Möwe.
„Noch nicht. Aber das kommt schon. Einen Bräutigam kann man immer bekommen. In den drei Jahren, seitdem sie am Leben ist, hat sie auf dem Meere getanzt und sich vergnügt.“
„Wenn sie nur den rechten finden möchte,“ sagte die Möwe.
„Die Mannsleute sind alle gleich, gute Frau,“ verkündete die Tante. „Sie machen einem den Hof und verheiraten sich; helfen vielleicht ein bißchen [S. 18] beim Neste mit und machen sich dann aus dem Staube und überlassen uns alles übrige.“
„Da bin ich nun anderer Meinung als die gnädige Frau,“ sagte die Möwe. „Mein Mann hat mir getreulich geholfen.“
„Und ich habe auch viele Fliegen von meinem Vater bekommen, als ich im Neste lag,“ erzählte der Sperling.
„Da seid ihr glücklicher daran gewesen als wir,“ sagte die Tante. „Keiner von meinen sieben Männern hat seine eigenen Jungen auch nur gesehen .“
„Jesses,“ rief der Sperling.
Doch das Eidergansfräulein fragte wieder: „Sollen wir nicht bald nach Hause nach den Färöern reisen?“
„Gott, wie interessant ist die Jugend,“ sagte die Tante und schlug mit den Flügeln.
Dann flogen sie aufs Wasser hinaus; aber am folgenden Tage kamen sie wieder, und so ging es Tag für Tag, bis in den Februar hinein. Die Sehnsucht des jungen Eidergansfräuleins, nach Hause zu kommen, wurde immer größer, und die Tante wurde nie müde, mit ihr darüber zu plaudern.
„Jetzt geht es, jetzt geht es!“ sagte sie. „Hier ist es so warm, daß es fast nicht auszuhalten ist.“
„Das ist ein wahres Wort,“ sagte der Sperling, den es fror, und der sich nach dem Frühling sehnte.
Eines Tages kam ein schmucker junger Eidergänserich heran und setzte sich aufs Eis neben die beiden Damen.
„Wenn er um dich anhält, so nimm ihn,“ flüsterte die Tante. „Er hat den grünsten Nacken, den ich seit vielen Jahren gesehen habe.“
„Möcht’ er doch nur um mich anhalten!“ flüsterte die Junge.
Und er hielt um das Fräulein an.
Nachdem er ein Weilchen dagesessen und von gleichgültigen Dingen geplaudert hatte, soweit der Anstand es erforderte — und der Anstand erfordert nicht so viel von Eidergänsen wie von Menschen —, fragte er die junge Dame, ob sie seine Frau werden möchte. Er fing an von Vogelfelsen zu sprechen und von niedlichen kleinen Eiern und dergleichen: aber sie ließ ihn gar nicht ausreden, sondern sagte „Ja“.
Und nun waren sie verlobt.
Er war furchtbar beredt und schwor, daß er ihr das ganze Leben lang treu sein, ein Nest für sie bauen, auf den Eiern für sie liegen und die Kinder von früh bis spät füttern wolle. Und sie nickte und konnte vor lauter Glück nichts sagen.
„Lügen sind es, Wort für Wort! Und doch, wie schön ist das!“ rief die Tante.
„Wie schrecklich,“ sagten der Sperling und die Möwe. „Die liebe junge Dame!“
„Unsinn!“ erwiderte die Tante. „Das ist nun mal unser Los. Meine sieben Männer haben ebenso gesprochen, und nicht einer von ihnen hat seine Versprechungen gehalten. Aber entzückend waren sie doch. Nur nicht so grün im Nacken wie der hier. Er ist wunderschön. Ich bin nahe daran, mich selbst in ihn zu verlieben.“
„Wann reisen wir?“ fragte das Eidergansfräulein.
„Morgen früh, Geliebte, wenn wir günstigen Wind haben,“ erwiderte der Bräutigam.
„Ich reise mit,“ sagte die Tante. „Erstens ist es passend so. Und dann ist es so hübsch, solch junges Glück mitanzusehen.“
Am nächsten Morgen reisten sie fort.
Es war noch dunkel, als die Abreise der Vögel begann. Tausende von Eidergänsen flogen in Scharen und Schwärmen, und immer neue Tausende kamen von allen Himmelsgegenden hinzu. Die Möwe und der Sperling erwachten von dem Gepiep und Gesang in der Luft.
„Nach Norden zu ziehen in so einer Kälte!“ rief der Sperling zitternd. „Es friert ärger als je.“
„Es ist Frühling in der Luft, wenn man liebt,“ sagte die Möwe.
Tag und Nacht hindurch reisten die Eidergänse nach Norden.
Es waren so viele Vögel, daß sie sich gar nicht untereinander auskannten; und je mehr Zeit verging und je näher sie dem Ziele kamen, desto mehr wuchs ihre Sehnsucht; und sie flogen, wie wenn ihnen die Flügel brannten. Die Tante wich nicht von der Seite der beiden jungen Liebesleute und war ebenso flink im Fliegen wie sie und so glücklich, als ob sie selbst zum achtenmal heiraten sollte.
Endlich erreichten sie dann die Färöerinseln, ihre Heimat.
Sie schrien und kreischten vor Freude, als sie die hohen Felsen aus dem Meere aufsteigen sahen, und die Flügel bekamen neue Kraft, so müde sie von dem langen Fluge auch waren. Sie stürzten sich auf die Klippen wie auf eine Beute, und bald war kaum ein Fleck vorhanden, wo nicht ein glücklicher Vogel saß und mit den Flügeln um sich schlug und aufschrie.
„Nun will ich euch ein gutes Brutplätzchen zeigen,“ sagte die Tante zu den beiden Jungen, die dasaßen und sich verliebt ansahen. „Kommt mit mir auf die andere Seite des Felsens.“
Da flogen sie mit ihr und kamen zu einer Stelle, wo der Mann, dem der Felsen gehörte, kleine Holzhäuser für die Vögel angebracht hatte. Es war gerade noch eines von ihnen frei, und das nahm der Bräutigam sofort in Besitz.
„Hier drinnen kannst du wirklich schön warm und gut auf unseren Eiern liegen, Geliebte,“ sagte er.
„Ja... und du,“ antwortete sie. „Du weißt doch, du versprachst mir, mir die Hälfte der Arbeit abzunehmen.“
„Ob ich es weiß,“ sagte er und küßte sie.
„Gott, wie entzückend ist das,“ rief die Tante.
„Übrigens mag ich gar nicht in der ekelhaften Kiste wohnen,“ sagte die Braut. „Ich hab’ mich so unbändig darauf gefreut, daß wir beiden Tang und Stroh und Heidekraut zusammenschleppen würden, so wie du es mir von dir und deiner vorigen Frau erzähltest. Und so will ich es auch haben.“
„Sei doch nur ruhig, liebes Kind,“ sagte er. „Wir werden natürlich die Kiste ein wenig ausfüttern müssen, aber wir wollen nur froh sein, daß ein Anfang da ist. Denk daran, wir haben ein langes Leben voller Arbeit und Glück vor uns, und wir wollen uns nicht überanstrengen.“
„Gott, wie er lügt,“ sagte die Tante und hob ihre Augen gen Himmel. „Aber wie schön hört es sich an!“
„Was sagst du?“ fragte das Fräulein.
„Ich sage, dein Bräutigam hat den wundervollsten grünen Nacken auf den Färöern,“ sagte die Tante. „Ich hätte Lust, hineinzubeißen. Aber jetzt will ich euch eurem Glücke überlassen.“
Dann flog sie schnatternd über den Felsen hernieder und plätscherte mit den anderen im Wasser. Die beiden Jungen machten sich nun daran, die Kiste mit allem, was sie auftreiben konnten, auszufüttern. Danach fand die Hochzeit statt in Herrlichkeit und Freuden, und viele Tausende von jungen Eidergänsen heirateten an demselben Tage.
„Gott behüte, wie lieblich ist es doch mit der Jugend,“ sagte die Tante, die mit einer Schar anderer alter Damen herumtrippelte und Hochzeitsvisiten machte.
Den jungen Leuten ging es gut, und sie waren sehr glücklich. Aber als die junge Frau ihr erstes Ei ins Nest gelegt hatte, gab es einen Wortwechsel.
Er wollte sie bestimmen, einen kleinen Ausflug mit ihm zu machen, als das Ei schon dalag; und sie hatte auch an und für sich nichts dagegen, obschon ihr schien, daß er sich ein wenig mehr über das schöne graugrüne Ei hätte freuen können.
„Ich spare meine Gefühle,“ sagte er. „So ziemt es sich für einen Mann. Komm nun.“
Doch da sagte sie, daß nicht die Rede davon sein könne, das Ei so offen liegen zu lassen. Sie müßten es mit etwas zudecken. Und sie rupfte sich ein paar feine Dunen unter dem Flügel aus und legte sie über das Ei. Aber als sie ihn bat, dasselbe zu tun, da schüttelte er entschieden den Kopf.
„Ich spare meine Federn,“ sagte er. „Du mußt [S. 23] noch vier Eier legen; und wenn du keine Federn mehr hast, so fange ich an. Dann will ich mich unseren Kindern zuliebe ganz kahl rupfen, wenn es sein muß.“
„Du himmlischer Vater, wie er dichtet!“ rief die Tante, die ein wenig abseits stand und das ganze mitanhörte. „Ich kenne es von meinen eigenen Männern. Sie sprechen kein wahres Wort; aber es erwärmt doch ein altes Herz, so etwas mitanzuhören.“
Die junge Frau begleitete nun ihren Mann zum Strande hinunter, wo eine beängstigende Lustigkeit herrschte.
Da waren alle Männer mit ihren Frauen und alle die alten Herren und Damen, die kein Nest mehr hatten. Sie tauchten und schwatzten und erzählten sich spaßige Geschichten. Die junge Frau hielt sich mehr für sich oder sprach mit den anderen jungen Frauen, die alle ein bißchen feierlich gestimmt waren. Und schon bald merkte sie, daß sie noch ein Ei legen sollte.
„Lieber Mann,“ sagte sie. „Komm, laß uns nach Hause gehen. Nun ist da wieder ein Ei.“
„Solch ein Unglück!“ sagte der Gemahl, der mitten in einer Quadrille mit ein paar jungen Mädchen vom vorigen Sommer war, die noch nicht ans Heiraten dachten.
Aber er folgte ihr doch zum Neste hinauf, und das Ei wurde gelegt. Sie rupfte sich noch mehr Dunen aus, er sprach schöne und bewegte Worte zu ihr; und dann mischten sie sich wieder unter das Leben draußen; denn er konnte nun einmal nicht zu Hause beim Neste bleiben.
Kaum waren sie jedoch auf halbem Wege, als die junge Frau spürte, daß es wieder schlecht ablief; und sie sagte es ihm.
„Dann mußt du lieber oben beim Neste bleiben,“ sagte er verdrießlich. „Dieses Umherrennen hier ist nicht sehr angenehm für mich und schädlich für die Gesundheit der Kinder.“
„Bleibst du denn bei mir?“ fragte sie.
„Ich werde nach dir sehen, sooft es mir möglich ist,“ sagte er.
„Wie? So hältst du deine Versprechungen mir gegenüber?“ rief sie und weinte kläglich.
„Liebstes Frauchen!“ tröstete er. „Ich kann dir ja doch nicht im geringsten behilflich sein beim Eierlegen. Meine Arbeit für unsere geliebten Kinder und für dich fängt erst an, wenn alle Eier gelegt sind und du ans Brüten kommst. Und dann natürlich später, wenn die lieben kleinen Geschöpfe auskriechen und gefüttert werden und lernen sollen, sich in der Welt zu benehmen. Für die Zeit sammle ich Kräfte, weißt du. Und dann lege ich mich auf die Eier, während du fröhliche Ausflüge machst und da unten mit den anderen spielst.“
„Hat man je so etwas gehört!“ rief die Tante. „Wie schön er zu sprechen weiß. Da hast du wirklich einen entzückenden Mann erwischt.“
Die junge Frau kehrte allein zum Neste zurück und legte das dritte Ei. Die Tante aber flog inzwischen mit dem Herrn Gemahl unten am Strande umher.
„Ich werde schon auf ihn aufpassen, du kannst ganz ruhig sein,“ hatte sie ihrer Nichte zugeflüstert.
Und dann kam das vierte Ei an die Reihe, und dann das fünfte.
Die Wöchnerin hatte sich alle Federn ausgerupft, die sie meinte entbehren zu können; und sie lagen wie ein schöner mausgrauer Wall um die Eier herum. Sie selbst aber lag über dem Ganzen und brütete und brütete. Im Anfang ging sie von Zeit zu Zeit zum Klippenrande hin und guckte zum Strande hinunter, wo der Mann sich mit den anderen Herren und den Damen, die keine Eier zu versorgen hatten, tummelte. Aber sie tat es seltener und seltener. Sie machte sich nichts mehr aus dem Essen und magerte ab; aber sie brütete und brütete unermüdlich. Die Tante kam täglich und hielt ein Plauderstündchen mit ihr.
Eines Tages kam auch ihr Mann und setzte sich ans Nest. Flott sah er aus mit seinem grünen Nacken und seinen glänzenden Augen.
„Na, wie geht es?“ fragte er.
„Ich verachte dich. Geh deiner Wege und laß dich nicht mehr vor mir sehen. Du hast mich mit den schönsten Versprechungen betört, und nicht eine davon hast du gehalten. Ich selbst habe mir alle die Dunen ausgerupft, die ich brauche. Tagaus, tagein liege ich hier allein, während du dich mit dem losen Pack unten am Strande vergnügst. Und keinen Bissen Essen hast du mir gebracht.“
„Tja—a,“ sagte er und scharrte mit seinen feinen, gelben Füßen in der Erde. „Ich würde dir gern hin und wieder eine kleine Muschel bringen, wenn dir das Freude macht. Aber nimm es doch nicht so tragisch. [S. 26] Glaubst du, ein Mann wägt seine Worte in der Verlobungszeit ab?“
„Pack’ dich!“ schrie sie. „Ich wünsche nicht, daß meine Kinder ihren unnatürlichen Vater zu sehen bekommen.“
„Na, mir liegt wirklich auch nichts daran, die kahlen Kleinen zu sehen. Und du bist wahrlich auch nicht mehr schön. So mager wie du bist und so voller kahler Flecke. Du bist gar nicht mehr das schöne Mädchen, in das ich mich verliebt hatte.“
Da wollte sie aus dem Neste auffahren und ihn Mores lehren, aber sie blieb wie angenagelt liegen und starrte auf einen Menschen, der den Kopf über den Rand des Felsens steckte. Ihr Gemahl flüchtete mit einem lauten Schrei und die Tante desgleichen. Aber der Mann kümmerte sich gar nicht um sie. Er kletterte ganz auf den Felsen hinauf und setzte einen großen Korb, den er bei sich hatte, neben das Nest.
„So ein wunderschönes Nest,“ sagte er. „Da sind ja Dunen für ein ganzes kleines Kissen.“
„Was willst du von mir?“ fragte die Eidergans.
„Ich will dir nichts Böses tun. Das wäre dumm von mir, wenn ich dir ein Leid antäte; ich selbst habe ja das Häuschen für dich aufgestellt. Ich will nur die Dunen aus deinem Neste haben.“
„Niemals!“ schrie die Eidergans und breitete die Flügel aus und klemmte sich so fest über dem Neste ein, wie sie nur konnte. „Was soll ich denn mit meinen Jungen anfangen?“
„Du kannst ja noch mehr Dunen aus deiner wundervollen Brust zupfen, Freundchen,“ sagte der Mann freundlich. „Geh weg und laß mich ohne [S. 27] Firlefanzen heran. Ich bin doch der stärkere, und das Nest gehört mir.“
Aber die junge Eidergans rührte sich nicht vom Fleck. Sie hackte mit dem Schnabel nach seinen Händen und schrie:
„Geh an den Strand und nimm meinen Mann und rupf ihm alle Dunen aus! Er verdient es wirklich nicht besser. Aber meine Dunen mußt du mir lassen.“
„Schwatz’ du nur, mein Putchen!“ sagte der Mann. „Die besten Dunen sind die, die eine Mutter sich aus der Brust rupft. Das wissen wir wohl. Und haben deine Jungen darunter zu leiden, so kommt es anderen Jungen zugute... kleinen Menschenkindern, deren Eltern die Mittel haben, ein ganz weiches Kissen zu kaufen.“
„Warte wenigstens, bis meine Kinder ausgekrochen sind!“ schrie die Eidergans verzweifelt.
„Ja gewiß!“ spottete der Mann. „Ich soll dich liegen und die Dunen besudeln lassen? Weg mit dir, und zwar geschwind!“
Er puffte sie aus dem Nest, nahm alle Dunen, legte sie in seinen Korb und ging weiter mit den Worten:
„Rupf’ dir nur mehr aus, wenn es für deine Jungen nötig ist. Was tut eine Mutter nicht für ihre Kinder!“
Die Eidergans flog an den Rand des Felsens und sah hinunter.
Da unten tummelten sich lustig die Eidervögel. Sie konnte deutlich ihren Mann und die Tante sehen, die sich ergötzten, wie wenn das Leben nur zum Vergnügen da sei. Und alle anderen machten es ebenso; keiner von ihnen hatte eine Ahnung davon, daß hier oben ein Mann umherging und alle Nester der kostbaren Dunen beraubte.
„Komm herauf und rupf dich!“ schrie sie. „Jetzt ist die Zeit gekommen, wo du deine Versprechungen einlösen kannst. Deine Eier liegen offen und kalt da, während du dich da unten vergnügst, du Elender.“
Aber ihre Stimme verhallte in dem Lärm, den der Sturmwind und die Brandung erzeugten. Niemand hörte ihren Schrei, und niemand sah ihre Verzweiflung. Da fiel es ihr ein, daß die Eier wirklich kalt wurden, während sie so dastand; und darum machte sie, daß sie zum Neste zurückkam.
Ein Ei fing schon an, entzweizugehen... Nun guckte ein winziges Schnäbelchen aus dem Loche in der Schale. Gleich war sie dabei, dem Gänschen beim Ausschlüpfen zu helfen. Einen Augenblick stand sie da und betrachtete es, so entzückend war es. Dann zupfte sie sich wie eine Rasende die letzten Dunen von der Brust und dem Bauche und stopfte [S. 29] sie darauf. Sie klagte nicht mehr, sondern dachte nur daran, ihren Kindern wieder ein warmes Nest zu schaffen.
Ein paar Tage darauf waren alle fünf Jungen ausgeschlüpft.
Die junge Mutter sah mit Stolz, wie prächtig sie waren. Sie streckten schon ihre Beine aus, die zwischen den Zehen wunderschöne Schwimmhäute hatten, gähnten, lüfteten die kleinen Flügel und schnatterten sogar ein klein wenig.
„Ihr sollt gleich an den Strand hinunter,“ sagte sie. „Ich bin überzeugt, auf dem ganzen Felsen hier gibt es keine schöneren Kinder. Aber trefft ihr euren gottvergessenen Vater, so seht nach der anderen Seite!“
Dann fing sie an, den Felsen hinabzusteigen, und die fünf Jungen folgten ihr so flink, daß es ein Vergnügen war, es anzusehen. Auf halbem Wege traf sie die Tante.
„Ich wollte gerade hinauf, um nach dir zu sehen,“ sagte die alte Dame. „Nein, was für fünf reizende Kinderchen du hast!“
„Ja — nicht wahr?“ sagte die Mutter und vergaß über diesem Lob ganz ihr Leid.
„Laß mich eins an mich nehmen, damit ich mit ihm herumspazieren kann,“ bat die Tante.
„Niemals!“ sagte die Mutter streng. „Ich weiß wohl, was du für ein Herumtreiber bist, liebe Tante. Meine Kinder gehören mir und keinem anderen, und sie bleiben bei mir.“
In diesem Augenblick fiel ein Schuß von oben her.
Es war ein dummer Schuß, den ein dummer [S. 30] Junge aufs Geratewohl abgefeuert hatte, weil er mit seines Vaters Flinte großtun wollte. Aber die Flinte war geladen, die Schrotkörner schlugen rings umher ein, und die Eidergansmutter fiel mit einem Schrei zu Boden.
„Meine Jungen! Meine Jungen!“ stöhnte sie.
„Denen geht es gut, allen fünfen,“ sagte die Tante. „Sei nur unbesorgt. Aber was ist dir?“
„Ich sterbe,“ ächzte die Mutter. „Ich bin ganz voller Schrotkörner und spüre deutlich, daß ich sterben muß. Ach, meine Kinder, meine Kinder!“
„Ihretwegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen,“ sagte die Tante. „Ich werde ihnen eine zweite Mutter sein und so gut für sie sorgen, als ob es meine eigenen Kinder wären.“
„Ach, Tante,“ rief die junge Mutter mit schwacher Stimme. „Du bist so furchtbar leichtsinnig. Ich habe ja selbst da oben gesessen und gesehen, wie du dich zwischen den Mannsleuten und den jungen Mädchen unten umhergetummelt und mit ihnen gescherzt hast. Wie könnte eine Mutter dir ihre Kinder anvertrauen?“
„Du irrst dich,“ sagte die Tante. „Wenn man Kinder hat, ist das anders. Leg’ du dich nur ganz ruhig hin und stirb.“
Und das tat die Eidergans auch.
Sie fiel um und konnte gerade noch einmal einen Blick auf ihre Jungen werfen. Aber die Tante wartete nicht einmal, bis sie ganz tot war. Sie vergaß alles, nur nicht, daß sie plötzlich fünf prächtige Kinderchen bekommen hatte, und machte sich auf der Stelle mit ihnen auf die Wanderung an den Strand. Sie wußte den kürzesten Weg, denn sie war ihn ja [S. 31] schon siebenmal mit ihren Jungen gegangen. Sie erleichterte den Kleinen den Weg und streichelte sie mit dem Schnabel und lobte und schalt sie, je nachdem sie es verdienten.
Als die Mutter ihre Augen schloß, waren ihre Kinder schon unten am Strande.
Rasch schwammen sie hinaus und begannen sofort zu tauchen, so daß es eine Lust war, es anzusehen. Die Tante bewachte sie und war vor Stolz ganz aus dem Häuschen. Ein alter Kavalier kam zu ihr hin und wollte sie zu einer Tour aufs Meer auffordern; aber sie versetzte ihm einen ordentlichen Hieb mit dem Schnabel.
„Sieht er nicht, daß ich Kinder habe, alter Flegel!“ rief sie. „Fort mit ihm, oder ich will ihn lehren.“
Und sie blieb bei den Kindern, bis sie sich selbst helfen konnten. Winter auf Winter reiste sie mit ihnen nach dem Süden und hörte mit an, wie die Männer um sie freiten und ihnen alles mögliche vor [S. 32] schwatzten, genau so, wie ihr Vater es bei ihrer Mutter getan hatte. Und dann wies sie ihnen gute Brutgelegenheit, machte Hochzeitsvisite und genoß auf dem ganzen Felsen Ehre und Ansehen, bis eines Tages ein Seeadler sie ergriff und auf der Stelle verschlang.
Der alte Pfahl stand unten im Garten.
Es gab freilich viele, die oft im Garten gewesen waren und den Pfahl nie gesehen hatten. Denn erstens war der Garten sehr groß. Es war so ein richtiger Garten mit einem ganzen Wald von Stachelbeersträuchern, mit grünen Rasenflächen und knorrigen Apfelbäumen, Kartoffeln und Kohl in langen Reihen, Rhabarber mit dicken, roten Stengeln, Spargelkraut mit wehenden grünen Spitzen, mit einem Gewirr von Blumen und einem ungeheuer langen Haselnußgang. Der Haselnußgang war so lang, daß, wenn ein großer Junge an dem einen [S. 33] Ende gegangen kam, er von dem andern Ende aus ganz klein aussah. Und zweitens stand der alte Pfahl so gut versteckt, daß Genie dazu gehörte, ihn zu finden.
Er stand nämlich in der allerhintersten Ecke des Gartens auf einer kleinen Anhöhe, dicht am Zaune des Nachbars.
Eigentlich war es allerdings gar keine Anhöhe ... Die Anhöhe lag drüben an der andern Ecke, nach dem Weg hin, und auf ihr standen ein Tisch und eine Bank und außerdem auch eine hohe weiße Flaggenstange. Aber der alte Pfahl stand auf einem Haufen von welken Blättern und Schutt und Steinen und andern Abfällen, die der Gärtner auf seiner Schiebkarre hierher gefahren hatte.
Da lagen zerbrochene Blumentöpfe und geknickte Blumenstöcke, verwelkte Pflanzen, die einmal vornehm gewesen, aber jetzt so vertrocknet und eingeschrumpft waren, daß man sie gar nicht mehr wiedererkennen konnte. Da lag ein alter Rechen, der nur noch einen Zahn hatte, und der war entzwei; und da lagen ein Spatenstiel ohne Spaten und ein Scharreisen ohne Schaft.
Und ringsum zwischen alledem wuchsen lange, dünne Grashalme, die sofort umknicken mußten, wenn der Wind über sie hinstrich. Aber das tat er nicht, denn die Büsche waren auf allen Seiten dicht miteinander verschlungen, so daß der Wind keinen Zutritt fand. Die Bäume aus dem Nachbargarten streckten ihre Zweige weit über den Zaun hin, so daß es in dem kleinen Winkel immer dunkel war. Bloß gerade in der Mitte der Anhöhe war ein Fleck, auf den die Sonne schien.
Auf diesem Fleck stand der Pfahl.
Er war jetzt so häuslich, wie so ein alter Pfahl nur sein kann. Aber im übrigen trat er niemandem zu nahe. Er sonnte seinen alten, runzligen Körper und neigte sich müde nach der einen Seite. Es war ganz deutlich, daß er fromm und gottergeben auf den Tag wartete, wo er umfallen und verfaulen würde.
Aber die Sträucher und das Gras ringsum konnten ihn nicht leiden, weil er mitten in der Sonne stand, während sie selbst im Schatten wuchsen.
„Das Leben hat doch gar keinen Sinn,“ sagte das Gras, das lang und dünn und blaß in die Höhe schoß. „Hier stehe ich und wachse und wachse und bedarf der Sonne und bekomme keine, während der [S. 35] abgestorbene, vertrocknete Bursche es sich im lieblichsten Sonnenschein wohl sein läßt!“
„Das alte Gespenst!“ rief der Fliederstrauch, dessen unterste Zweige sämtlich verdorrt waren, weil die Sonne fehlte. „Wenn er nicht so viel Takt gehabt hat, sich hinzulegen und zu sterben, dann sollte er seinen Leichnam wenigstens nicht in der Sonne zur Schau stellen. Wozu ist er zu gebrauchen? Was tut er? Treibt er Blätter und Blüten?“
Der Goldregen nickte mit allen seinen gelben Blüten, denn er war ganz derselben Ansicht wie der Fliederstrauch. Und die Nachtigall, die im Rotdorn wohnte, setzte sich nie auf den alten Pfahl. Sie hüpfte in den Sträuchern umher und flüsterte ihnen allerlei Schönes ins Ohr. Sie erzählte dem Goldregen, wie fein und anmutig seine Blüten herabhingen. Sie sang von dem Duft des Flieders und des Jasmins und sagte zum Rotdorn, nirgends in der Welt lasse es sich so warm und herrlich wohnen wie in seinen Zweigen. Für den alten Pfahl aber hatte die Nachtigall nie ein freundliches Wort übrig, hielt ihn vielmehr immer zum besten.
„Na, du alter, steifer Kerl!“ schrie sie. „Willst du nicht ein bißchen mit deinen Blättern fächeln — was? Oder sind deine Knospen vielleicht noch nicht aufgesprungen? Oder feierst du schon Herbst?“
Da lachten die Sträucher, daß alle ihre Blätter sich bewegten. Denn sie fanden die Nachtigall ungemein witzig. Und sie war auch der einzige Vogel, der hier im Winkel sein Nest baute.
Aber der alte Pfahl machte sich nicht viel aus all dem Spektakel. Er hörte jetzt auch nicht mehr besonders gut, so daß ihm vielleicht manches ent [S. 36] ging. Außerdem war er ja in dem Alter, wo man sich um das Gerede der Leute nicht bekümmert, wenn man nur seine behagliche Ruhe hat. Wenn sie alle durcheinander schrien, so daß man in dem Winkel kein Wort verstehen konnte, dann machte er ja allerdings eine bescheidene kleine Bemerkung zu seiner Entschuldigung. Aber gewöhnlich hörte das niemand außer dem Moos, das auf dem alten Pfahl wuchs.
„Herr Gott!“ murmelte er dann. „Laßt mich doch in Frieden hier stehen, bis ich falle. Ich tue ja keiner Katze was zuleide.“
Und kurz darauf sagte er, aber noch leiser:
„Unsereins ist ja auch einmal jung gewesen. Ein richtiger, schöner Baum war ich, jawohl! Damals hab’ ich Blätter und Blüten gehabt, und zwei Buchfinkenfamilien haben in meinem Wipfel gewohnt. Aber dann sollte ein Weg dahin, wo ich stand. Ich wurde gefällt, zugehauen und angestrichen — rot und weiß — und um die Beine herum geteert. Acht lange Jahre stand ich so im Zaune da. Das strengt an, jawohl!“
Eines Morgens im Sommer hing der alte Pfahl seinen Gedanken nach.
Es hatte zwei Tage lang geregnet, und am Fuße des Pfahls hatte sich eine kleine Pfütze gebildet. Große, schwere Tropfen fielen von den Sträuchern auf die welken Blätter hinab. Jeder von den langen, dünnen Grashalmen schleppte einen Tropfen und zerbrach fast vor Anstrengung. Aber nun war in der Frühe die Sonne hinter den Wolken hervorgekommen und schien mild und warm gerade auf den Pfahl.
„Gott sei Dank!“ sagte der alte Pfahl. „Das war zu viel Feuchtigkeit für so einen alten Herrn wie ich, der die Gicht und das Podagra hat.“
Im selben Augenblick spürte er etwas, das auf seinem Kopfe herumkrabbelte, und gewahrte einen behenden kleinen Gesellen, der auf ihm saß und in ein Loch hineinguckte, das der alte Pfahl noch aus der Zeit hatte, als er im Zaune stand.
Der Kleine hatte vier durchsichtige Flügel und sechs dünne Beine. Auf dem Kopfe hatte er zwei Fühler, mit denen schnupperte er an dem Loch, während er es umsprang und an allen Ecken und Kanten untersuchte.
„Mit Verlaub,“ sagte der Pfahl, „wonach gucken Sie?“
Der kleine Bursche antwortete nicht, sondern schnupperte weiter an dem Loch.
„Wer sind Sie?“ fragte der Pfahl wieder.
„Ich bin die Grabwespe,“ entgegnete der Kleine.
„Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen,“ sagte der Pfahl. „Vielleicht darf ich mich auch vorstellen: Ich bin der alte Pfahl!“
„Das bist du,“ erwiderte die Grabwespe. „Und zwar ein wunderschöner alter Pfahl!“
„Tausend Dank!“ rief der Pfahl vergnügt. „Ich bekomme wirklich recht selten etwas so Angenehmes zu hören. Alle meine Nachbarn schelten mich aus von früh bis spät.“
Hierzu hatte die Grabwespe nichts zu bemerken, sie kroch vielmehr ganz in das Loch hinein.
„Was suchen Sie eigentlich?“ fragte der Pfahl.
„Ich beabsichtige, mein Ei in dir zu legen,“ antwortete die Grabwespe.
Der alte Pfahl strahlte vor Vergnügen.
„Aha!“ sagte er. „Und dann kommen Sie mit Ihrem Gemahl, und während Sie brüten, singt er..“
„Dummes Zeug!“ schrie die Grabwespe.
„Entschuldigen Sie!“ sagte der Pfahl. „Ich dachte, es wäre so wie bei der Nachtigall.“
„Ist hier eine Nachtigall?“ rief die Grabwespe erschrocken und versteckte sich tief im Loche.
„Ja... im Rotdorn drüben,“ entgegnete der Pfahl. „Aber sie geruht nie, auf mir zu sitzen, darum brauchen Sie keine Angst zu haben. — Gefällt die Wohnung sonst der gnädigen Frau?“
„Ja, ich danke. Ich nehme sie. In fünf Minuten bin ich wieder hier.“
Damit flog sie fort, und der alte Pfahl war so vergnügt wie lange nicht.
„Wenn es auch keine Nachtigall ist, so ist es doch [S. 39] etwas ähnliches,“ sagte er zu sich selbst. „Ei ist Ei, und ich weiß nur so viel, daß ich jetzt ebensoviel wert bin wie der Rotdorn.“
Gleich darauf kehrte die Grabwespe mit einer Marienkäferlarve zurück, die sie mit vieler Mühe auf den Pfahl hinaufschleppte und in das Loch hineinsteckte. Der alte Pfahl sah ihr verwundert zu.
„Mich geht es ja zwar nichts an,“ sagte er. „Aber ich finde, Sie möblieren die Wohnung auf eine sonderbare Art.“
„Das ist für mein Junges,“ erklärte die Grabwespe. „Ich muß dafür sorgen, daß es etwas zu fressen hat, wenn es aus dem Ei schlüpft. Wenn ich eine Marienkäferlarve gefangen habe, so steche ich sie mit meinem Stachel, so daß sie ohnmächtig wird, und trage sie in das Loch hinein.“
„Wäre es nicht schöner, Sie stächen sie ganz tot?“ fragte der Pfahl.
„Wohl möglich. Aber dann würde sie verfaulen, siehst du. Und meine Kinder sollen frisches, gutes Fleisch bekommen.“
„Ich halte mich nicht darüber auf, daß Sie für die Familie sorgen,“ sagte der Pfahl, nachdem er ein wenig nachgedacht hatte. „Ich weiß ja auch, daß alle Tiere die reinen Straßenräuber und Banditen sind. Fressen sie nicht einander, dann fressen sie uns unschuldige Bäume und Pflanzen. Aber wenn Sie einem alten, einfachen Pfahl gestatten wollen, Sie noch mit einer Frage zu belästigen: Warum warten Sie nicht mit der Fütterung Ihrer Kinder, bis sie aus dem Ei kommen?“
„Dann bin ich tot und verschwunden,“ erwiderte die Grabwespe.
„Wie meinen Sie?“ fragte der Pfahl, der glaubte, falsch verstanden zu haben.
„Ich bekomme mein Kind nie zu sehen,“ sagte die Grabwespe. „Wenn ich das Haus mit Marienkäferlarven gefüllt habe, lege ich das Ei, und dann muß ich sterben. Das ist nun mal mein Schicksal.“
„Herrje!“ rief der Pfahl.
Die Grabwespe flog davon, und die Nachtigall, die auf dem Rande ihres Nestes saß, wollte sie wegschnappen. Aber da wurde sie von einem ihrer Kinder am Bein gezwickt.
„Ach, laß sie fliegen, Mütterchen, dann bist du lieb,“ bat das Junge. „Ich habe das ganze hier mitangehört. Denke dir, das arme Wesen bekommt sein Junges nie zu sehen. Laß sie fliegen, dann dürfen die andern meine nächste Fliege kriegen.“
„Du bist ein gutmütiger kleiner Dummkopf,“ sagte die Nachtigall, „und in zehn Minuten bereust du es. Aber eine sonderbare Geschichte ist es doch.“
Dasselbe meinten die Sträucher rings um den kleinen Hügel herum. Sie beugten sich über den Pfahl und guckten in das Loch hinein, wo die ohnmächtige Marienkäferlarve auf dem Rücken lag. Die Grashalme richteten sich auf und wünschten, noch länger zu sein, damit sie auch etwas zu sehen bekämen. Am allermeisten erstaunt waren sie alle darüber, daß so etwas Merkwürdiges gerade dem alten, morschen Pfahl passieren sollte.
Aber der stand mitten auf dem Hügel und hielt sich aufrecht, so gut er konnte, und war unsäglich stolz.
„Wäre ich eine vernünftige Nachtigall, so zupfte [S. 41] ich die Marienkäferlarve heraus und fräße sie,“ sagte die Nachtigall. „Aber es mag hingehn. Vorläufig ist ja genug Futter im Garten, und sie läuft mir nicht weg. Wollen sehen, was draus wird.“
Der Fliederstrauch nickte, und der Goldregen nickte, und der Rotdorn und der Jasmin auch. Denn sie waren alle derselben Ansicht wie die Nachtigall.
Und nun schleppte die Grabwespe noch eine ohnmächtige Marienkäferlarve herbei und steckte sie in das Loch hinein. Und so fuhr sie fort, den ganzen Nachmittag über, bis das Loch voll war.
„Jetzt flieg’ ich ein bißchen im Sonnenschein umher,“ sagte sie dann zu dem alten Pfahl. „Gleich bin ich wieder da und lege mein Ei, und dann leg’ ich mich selber hin und sterbe.“
Weg war sie, und die Sträucher flüsterten von ihr.
Doch da kam ein über die Maßen elegantes Bürschchen herbeigeflogen und setzte sich auf den alten Pfahl neben das Loch hin. Er hatte vier durchsichtige Flügel, sechs Beine und zwei Fühler, genau so wie die Grabwespe, aber sein ganzer Körper glänzte wie Gold und Silber. Der Pfahl betrachtete ihn vergnügt; er dachte, daß das nun schon der zweite vornehme Besuch an einem und demselben Tage sei, und meinte, nun seien bessere Zeiten angebrochen.
„Sie sind wohl im Sonntagsanzug?“ fragte er freundlich. „Womit kann ich Ihnen dienen?“
„Ich sehe mich nach einer Wohnung um,“ erwiderte der Fremde. „Du hast da ein nettes kleines Loch.“
„Allerdings,“ sagte der Pfahl bescheiden. „Es [S. 42] hat lange leer gestanden, und wenn Sie heut morgen gekommen wären, hätten Sie’s mit Vergnügen bekommen können. Aber jetzt hab’ ich es gerade vermietet, darum kann ich Ihnen leider nicht damit dienen.“
„Soso!“ erwiderte der Fremde. „Das ist ja recht ärgerlich. Wie heißt denn dein Mieter, wenn ich fragen darf?“
„Die Grabwespe ist’s. Frau Grabwespe. Den ganzen Tag über hat sie Nahrung für ihr Kind gesammelt. Wollen Sie so freundlich sein, hineinzuschauen, so werden Sie sehen, daß das Loch ganz mit ohnmächtigen Marienkäferlarven gefüllt ist.“
„Ja — wahrhaftig!“ rief der Fremde und lachte so unheimlich, daß der alte Pfahl einen Todesschreck bekam.
„Kennen Sie die Grabwespe?“ fragte er.
„Na, das ist ja einer meiner besten Freunde. Wir besuchen einander sehr oft.“
Als der Fremde das gesagt hatte, schlüpfte er ganz in das Loch hinein. Er blieb nur einen Augenblick darin; und als er wieder herauskam, glänzte er so, daß dem Pfahl die Augen ganz weh taten, und er lachte boshaft wie vorher.
„Wollen Sie nicht warten, bis die Grabwespe nach Hause kommt?“ fragte der Pfahl. „Sie erzählte, sie wolle nur ein bißchen ausfliegen, und muß gleich wieder hier sein.“
„Nein, danke,“ erwiderte der Fremde.
„Nicht? Darf ich dann fragen, von wem ich einen Gruß bestellen soll? Es wird der gnädigen Frau sicherlich leid tun, daß ihr der Besuch eines so vornehmen Herrn entgangen ist.“
„Ich bin kein Herr. Ich bin eine Frau. Und du brauchst der Grabwespe nichts zu sagen. Morgen früh komme ich wieder und werde sie dann sicherlich treffen.“
Damit flog sie weg. Und die Sträucher besprachen flüsternd all das Merkwürdige, das der alte Pfahl erlebte, und fanden ihn plötzlich interessant und nett.
„Er ist eigentlich ganz schön,“ sagte der Fliederstrauch. „Seht, wie großartig ihn das grüne Moos kleidet.“
„Ganz schön?“ unterbrach ihn der Goldregen. „Er ist wirklich hübsch, kannst du ruhig sagen.“
„Er hält sich wunderbar gerade, er sieht vornehm aus,“ sagte der Jasmin.
„Ehrwürdig ist er,“ fiel der Rotdorn ein. „Er hat gewiß eine Menge Seltsames erlebt, wovon er erzählen könnte, wenn er wollte.“
„Es sitzt sich herrlich auf ihm,“ rief die Nachtigall, die auf seiner Spitze saß und mit den Flügeln schlug. „Er ist viel, viel solider als die dünnen, schwankenden Zweige.“
Der alte Pfahl nahm sich diese Komplimente nicht weiter zu Herzen. Er dachte über den Besuch nach, den er gehabt hatte, und ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, daß etwas Arges im Gange sei.
Da kam die Grabwespe nach Hause.
Mit großer Mühe schleppte sie sich in das Loch hinein und legte ihr Ei. Als sie wieder herauskam, zitterte sie an allen Gliedern und konnte kaum sprechen.
„Sind Sie krank?“ fragte der Pfahl teilnehmend.
„Ich muß sterben,“ erwiderte die Grabwespe. „Und hör’ nun gut zu, was ich dir sage! Du bist ja ein guter alter Pfahl, der seinen Mitgeschöpfen kein Leid antun will. Ich habe in der ganzen Welt nur eine Feindin. Die dringt in mein Haus ein, wenn ich nicht da bin...“
„Halt!“ rief der Pfahl und zitterte vor Schreck, so daß die Hälfte seines Mooses auf die Erde hinabfiel und er auf der einen Seite einen großen Riß bekam.
Aber die Grabwespe ließ ihn nicht ausreden.
„Schweig still!“ sagte sie. „Ich hab nur noch einen winzigen Augenblick zu leben, und du mußt [S. 45] auf das hören, was ich dir erzähle. Die Goldwespe heißt mein Feind, und sie ist recht schön anzusehen — viel schöner als ich. Sie glänzt, als wäre sie aus Gold und Silber gemacht. Aber böse und träge ist sie. Sie selbst hat keine Lust, für ihre Jungen Nahrung zu suchen. Darum sucht sie sich das Loch, in das ich meine Eier gelegt habe, und legt die ihren daneben. Und dann fressen ihre Kinder all die Nahrung, die ich gesammelt habe, und mein Kind obendrein. — Du mußt mir versprechen, auf sie achtzugeben, wenn sie kommt. Und nun lebe wohl und vielen Dank für deine Freundlichkeit!“
Der alte Pfahl bekam noch einen Riß und konnte vor Schreck die Sprache nicht wiederfinden. In diesem Augenblick kam die Nachtigall und erwischte die Grabwespe. Die Sträucher schrien entsetzt auf, aber die Nachtigall entschuldigte sich aufs beste.
„Sie mußte ja sowieso sterben,“ meinte sie. „Sie war bereits tot. Aber ich gebe zu, es ärgert mich, daß ich den Schlingel von Goldwespe nicht erwischt habe.“
„I du mein Gott, i du mein Gott!“ jammerte der Pfahl. „Das war also die Goldwespe, die hier war. Und ich elender Pfahl habe sie hereingelassen! Dann ist das Unglück ja bereits geschehn... was soll ich nur anfangen, was soll ich nur anfangen!“
„Herr Gott!“ rief die Nachtigall, die noch an der Grabwespe schmatzte. Und „Herr Gott!“ sagten der Fliederstrauch, der Goldregen, der Jasmin und der Rotdorn, denn sie fanden alle, daß sie noch nie etwas so Fürchterliches erlebt hätten.
Der alte Pfahl war ganz gelähmt vor Kum [S. 46] mer und neigte sich mehr und mehr. Mit jedem Tag bekam er einen neuen kleinen Riß, und es war leicht zu sehen, daß es zu Ende mit ihm ging. Die Sträucher und die Nachtigall sprachen freundlich auf ihn ein und trösteten ihn, so gut sie konnten; denn sie meinten alle, es sei ein so lieber alter Pfahl. Einer von ihnen erdachte sich einen Plan, wie man sich an der Goldwespe rächen könnte. Die Nachtigall wurde dazu auserkoren, aufzupassen, wenn die Jungen des Räubers aus dem Ei gekommen sein könnten; dann sollte sie sie mit dem Schnabel herausziehen und fressen.
„Das werd’ ich tun!“ versprach die Nachtigall feierlich. „Ihr könnt euch auf mein Wort verlassen!“
Aber am Tage darauf, nachdem dieser Beschluß gefaßt worden war, entdeckte die Nachtigall plötzlich, daß es Herbst geworden sei. Keiner der Sträucher und der andern Vögel konnte es verstehen. Sie alle fanden, daß es noch der schönste Sommer sei. Aber die Nachtigall erklärte, man habe keine Insekten mehr zur Verfügung, die zu fressen sich lohnte. Noch vor dem Abend war sie mit ihren Jungen nach Süden geflogen, und die Sträucher hatten nichts anderes zu tun, als dazustehn und den Pfahl anzustarren und von dem Fürchterlichen zu schwatzen, das sich in seinem Innern vollzog.
Im nächsten Frühjahr flogen eine Menge niedlicher kleiner Goldwespen aus dem Loch hervor. Sie tummelten sich im hellen Sonnenschein und verschwanden dann in der Luft.
Der alte Pfahl stand noch eine Weile und wartete darauf, ob nicht doch auch das Junge der [S. 47] Grabwespe hervorkommen würde. Aber es kam nicht.
Da stürzte der Pfahl auf den kleinen Hügel hin und zerfiel in lauter morsche Stücke. Die Sträucher ließen ihre Blüten auf ihn herabrieseln, damit er ein anständiges Begräbnis bekam.
„Ein merkwürdiger alter Pfahl!“ sagten sie zueinander.
Und als die Nachtigall von ihrer Reise ins Ausland zurückkehrte und das Ende der Geschichte erfuhr, sang sie ein Liedchen auf dem Grabe des alten Pfahls.
Irgendwo im Walde lebte eine kleine Gesellschaft von guten Freunden ganz nahe beieinander.
Da war die Kornblume , die so stolz aussah, [S. 48] ohne es zu sein, und die Glockenblume , die so blau und bescheiden war. Da war die Nelke , mild und rot und fromm wie kein andrer, und ein Büschel Grashalme , die zwar grün waren, aber recht ärmlich und dankbar, wenn man sie überhaupt beachtete. Ferner war da ein wenig Moos , das auf einem alten Baumstumpf wuchs und für sich selbst sorgte, und dann der Haselnußstrauch , der der vornehmste von allen war, weil er so groß war, und vor allem weil der Hänfling sein Nest darin gebaut hatte.
Niemals kam es zu Streitigkeiten zwischen den Freunden.
Ein jeder kümmerte sich nur um sich und stand dem andern nicht im Wege. Am Abend, wenn das Tagewerk beendet war, lauschten sie dem Gesang des Hänflings. Oder es knarrte und knackte in den Zweigen des Nußstrauchs, was ebenso unheimlich war wie eine richtige Gespenstergeschichte. Oder die Grashalme flüsterten etwas ganz leise und ohne Sinn, aber auch das hört sich ganz schön an, wenn man müde ist und ein gutes Gewissen hat.
Erlebte einer der Freunde etwas Frohes, so freuten sich alle. Als die Knospen der Nelke und der Kornblume aufsprangen, gratulierte der Nußstrauch, der Hänfling schlug seinen längsten Triller, und die Grashalme verneigten sich ehrerbietig wie eine Deputation und vergossen jeder einen Tautropfen vor Rührung. Als die Hänflingsjungen aus dem Ei krochen, da waren alle Freunde so glücklich, als hätten sie selber Familienzuwachs bekommen.
Aus dem Walde erscholl das Rauschen der Kronen und der Gesang vieler Vögel, aber das ging die [S. 49] Freunde nichts an. Es geschah, daß ein Reh gesprungen kam oder ein Fuchs heranschlich, und einmal versteckte sich ein furchtsamer Hase unter dem Nußstrauch, während ringsum die Schüsse knallten und die Hunde bellten. Von solch einem Ereignis redeten sie viele Tage lang. Aber dann beruhigten sie sich wieder, und der Sommer ging hin.
Eines Morgens fühlte die Nelke sich nicht recht wohl.
Stengel und Blätter waren schlaff, und die Wurzeln taten ihr weh. Die Blüten saßen so sonderbar lose, wie ihr schien.
Als sie den andern ihr Leid klagte, erzählten die Kornblume und die Glockenblume, daß es ihnen genau so ginge. Auch die Grashalme sagten dasselbe; das konnte man freilich nicht recht mitrechnen, denn die waren immer derselben Meinung wie der, mit dem sie gerade sprachen. Das Moos sagte gar nichts, doch das hatte nichts zu bedeuten, denn es war auch niemand da, der es fragte.
„Wir brauchen Regen,“ sagte der Nußstrauch. „Sonst fehlt uns nichts. Mich stört es noch nicht, aber es kann noch kommen. Ihr seid so klein und zart; darum merkt ihr es zuerst.“
Die Grashalme nickten und fanden, das sei ausgezeichnet gesagt von dem Nußstrauch. Die andern ließen den Kopf hängen. Der Hänfling sang, so schön er konnte, um die kranken Freunde aufzuheitern.
Aber krank waren sie, und krank blieben sie; und mit jedem Tage wurde es schlimmer.
„Ich glaube, ich sterbe,“ sagte die Nelke.
Die Grashalme erwiderten ihr höflich, sie seien schon halb gestorben. Auch dem Nußstrauch ging es nicht gut, und dem Hänfling kam die Luft so schwül vor, daß er gar keine Lust zu singen verspürte.
Als sie sich am Abend unterhielten, hörten sie die gleiche Klage in dem Rauschen des großen Waldes, in dem Gebrüll des Hirsches, dem Bellen des Fuchses, dem Quaken des Frosches und dem Pfeifen der Maus in ihrem Loch. Auch der Förster und der Bauer, die vorübergingen, sprachen davon. Sie schauten zu dem blanken Himmel auf und schüttelten die Köpfe.
„Morgen wird’s auch wieder nicht regnen,“ sagte der Förster. „Meine kleinen Bäume gehen alle ein.“
„Und mein Korn wird versengt,“ seufzte der Bauer.
Am nächsten Morgen erschraken die Freunde ernstlich, als sie einander betrachteten.
Sie waren überhaupt nicht wiederzuerkennen, so sahen sie aus. Gelbe, hängende Blätter, welke Blüten und trockne Wurzeln. Nur das Moos sah noch aus wie sonst.
„Merkst du nichts?“ fragte der Haselstrauch.
„Gewiß merk ich was,“ erwiderte das Moos. „Aber man kann es mir nicht ansehn. Ich kann stehn und schon einen ganzen Monat tot sein und dabei aussehen, als ob ich noch ganz lebendig wäre. Ich kann nichts dafür.“
„Ich will doch mal hinauf und nach einer Wolke ausschauen,“ sagte der Hänfling.
Und er flog empor, so hoch hinauf, daß er für die andern vollkommen verschwand. Als er zu [S. 51] rückkam, erzählte er, es stehe eine Wolke weit, weit im Westen.
„Bitt sie, daß sie herkommt!“ flehte die Glockenblume mit matter Stimme.
Und der Hänfling flog wieder fort und kehrte nach einer Weile mit dem traurigen Bescheid zurück, daß die Wolke nicht kommen könne.
„Sie möchte wohl,“ sagte der Hänfling. „Es gefällt ihr gar nicht, da oben mit all dem Regen zu hängen. Aber sie muß warten, bis der Wind sie holt.“
„Lebt wohl!“ rief die Nelke müde. „Es war eine schöne Zeit, die wir miteinander verlebt haben. Nun kann ich nicht mehr.“
Und damit starb sie. Alle die Freunde sahen einander entsetzt an.
„Wir müssen dem Wind ein gutes Wort geben,“ sagte der Nußstrauch, in dem noch am meisten Leben war. „Sonst ist es aus mit uns allen.“
Am nächsten Morgen in der Frühe kam der Wind herbeigeschlichen. Er kam ganz sacht, denn auch er war der unleidlichen trocknen Wärme müde; aber seine Runde mußte er ja machen.
„Lieber Wind,“ sagte die Kornblume. „Bring uns eine kleine Wolke, sonst sterben wir allesamt.“
„Es ist keine Wolke da,“ erwiderte der Wind.
„Du lügst, Wind,“ sagte der Hänfling. „Weit drüben im Westen steht eine wunderschöne graue Wolke.“
„So—oo!“ sagte der Wind. „Ich bin augenblicklich Ostwind, da kann ich auch nicht helfen.“
„Dreh dich, lieber Wind, und bring uns die Wolke!“ bat die Glockenblume sehr beweglich. „Du [S. 52] kannst ja laufen, wohin du willst, und wir werden dir dankbar sein, solange wir leben.“
„Du kannst dich um die ganze Gesellschaft verdient machen,“ fiel der Nußstrauch ein.
„Um die ganze Gesellschaft,“ flüsterten die Grashalme.
„Schon möglich,“ sagte der Wind. „Aber ich bin nicht derjenige, für den ihr mich haltet. Ihr glaubt, ich sei mein eigner Herr, weil ich gesprungen komme und mich drehe und manchmal langsam laufe und manchmal schnell und manchmal mild bin und manchmal streng. Und doch bin ich nur ein Hund, der kommt, wenn sein Herr ruft.“
„Wer ist denn dein Herr?“ fragte der Hänfling. „Ich will zu ihm gehn, und wenn er am Ende der Welt wohnt.“
„Ja... wenn das so ginge!“ antwortete der Wind. „Mein Herr ist die Sonne . Auf ihren Befehl lauf’ ich meinen Weg. Wenn sie irgendwo so richtig scheint, dann laufe ich mit der warmen Luft in die Höhe und hole anderswo kalte Luft und fliege mit ihr längs der Erde hin. Ob im Osten oder Westen, kümmert mich nicht.“
„Das versteh’ ich nicht,“ sagte der Hänfling.
„Ich versteh’ es selbst nicht,“ entgegnete der Wind. „Aber ich tu es.“
Dann legte er sich. Und die Freunde ließen ihre Köpfe hängen und wußten keinen Rat.
„Da ist nichts zu machen, wir müssen sterben,“ rief die Kornblume.
„Habe ich den Winter hindurch hier gestanden, so werd’ ich doch wohl auch das aushalten,“ sagte der Nußstrauch. „Aber streng ist es.“
Und die Glockenblume und die Kornblume, die noch keinen Winter überstanden hatten, fragten sich erstaunt, ob er denn wohl noch schlimmer sein könne als das, was sie jetzt durchzumachen hatten. Und der Hänfling träumte vom Süden, wo er sich im Winter aufhielt, und die Grashalme hatten die Sache ganz aufgegeben.
„Reichen deine Zweige nicht bis zur Sonne?“ fragte die Kornblume den Nußstrauch.
„Kannst du nicht zur Sonne fliegen?“ fragte die Glockenblume den Hänfling.
Aber das konnten sie nicht, und die Tage verstrichen, und das Elend wuchs. Es war ganz still im Walde. Kein Vogel piepte, der Fuchs hielt sich in seiner Höhle, der Hirsch lag im Schatten und ließ ächzend die Zunge zum Halse heraushängen; und die Zweige der Bäume hingen gleichfalls herab, wie wenn ein Begräbnis im Gange wäre.
Die Glockenblume aber läutete mit all ihren Glocken, als wollte sie den Tod einläuten im Walde.
Wer es hörte, weiß man nicht recht; und keiner der Freunde sagte etwas. Aber dann hörten alle deutlich jemanden sprechen, und alle wußten sofort, daß es die Sonne war, die der Nußstrauch mit seinen Zweigen nicht erreichen und zu der der Hänfling nicht hinfliegen konnte, die aber die Klage der Glockenblume gehört hatte:
„Ich scheine, wie ich muß, und nicht, wie ich will; und ich kann euch nicht helfen. Keinen Fußbreit kann ich von meinem Wege abweichen, keinen Strahl kann ich nach meinem eignen Willen versenden.“
„Ich versteh’ es nicht,“ sagte der Haselnußstrauch.
„Ich ebensowenig wie du,“ erklärte die Sonne. „Aber so ist es nun einmal.“
„Und ich verstehe so viel, daß es mit der armen Kornblume aus ist,“ sagte die Kornblume, und im nächsten Augenblick war sie tot.
Dann kam die Nacht, und alle glaubten, daß dies ihre letzte sein würde.
Aber plötzlich hob die Glockenblume ihr krankes Köpfchen und lauschte. Ihr war, als hörte sie einen Laut, wie wenn ein Tropfen fällt... jetzt fiel noch einer... er schlug gegen ein Blatt auf... und noch einer... und noch einer...
Alle erwachten, als der Regen herabströmte.
Die armseligen Grashalme erhoben sich, das elende Moos bekam neuen Mut. Der Hänfling begann zu singen, obschon es finstre Nacht war. Der Haselnußstrauch bebte vor Freude, daß die jungen Hänflinge beinahe aus dem Nest gefallen wären.
Rings im Walde lebte alles auf. Die Nacht war voller Glück. Der Förster und der Bauer standen aus ihren Betten auf und trafen sich im Regen und drückten einander die Hand mit frohen Augen.
Es regnete die ganze Nacht und den folgenden Tag und die folgende Nacht und noch einen Tag. Manchmal regnete es ganz sacht und manchmal heftig. Die Erde trank mit durstigem Mund all das Wasser, und die Wurzeln sogen es begierig aus der Erde auf, und Blätter und Blüten entfalteten sich und standen aufrecht und munter da auf aufrechtem Stengel.
Dann kam der dritte Tag mit Sonne am blauen Himmel und mit Leben und Lustigkeit im Walde.
„Nun?“ rief der Wind und kam gesprungen, als wäre er noch nie in seinem Leben müde gewesen. „Seht ihr, ich hab’ euch den Regen gebracht!“
„Nun,“ sagte die Wolke, die hoch oben dahintrieb in weißem leichtem Gewand. „Seht ihr, ich hab’ euch Regen verschafft!“
„Nun?“ sagte die Sonne, und sie lachte dabei so mild und rund wie noch nie zuvor. „Habt ihr nun euren Willen?“
Die Freunde sahen einander verwundert an. Aber drüben saß der rote Fuchs mit seinem garstigen klugen Gesicht.
„So sind sie!“ sagte er. „Bittet man sie um etwas, so sind sie nie zu Hause. Aber sich den Dank zu holen, das vergessen sie nicht.“
Jedermann weiß, daß die Sterne am Himmel schwimmen wie die Fische im Wasser.
Ein Unterschied ist ja allerdings vorhanden.
Die Sterne fängt niemand. Auch schwimmen sie nicht hierhin und dorthin und auf und nieder wie die dummen Fische; sie folgen ihrer unveränderlichen Bahn bis in alle Ewigkeit.
Einem Stern fällt es im Leben nicht ein, eine kleine Sonntagsnachmittagstour zu unternehmen. Sonnen und Monde, Planeten und wie sie sonst heißen, Sterne ersten Ranges und Sterne, die nichts als Narrenpossen sind — bis auf unsre eigene, erbärmliche Erde herab... sie alle spazieren ordent [S. 56] lich und nett umher, wie es ihnen vorgeschrieben ist, ohne Extratouren.
Der Komet saust plötzlich heran und ist wieder verschwunden, ehe man sich vom Schrecken erholt hat; aber auch er tut nur das, was er muß, und weicht nicht einen Zoll breit aus seiner Bahn.
Darum ist es vielleicht ein wenig langweilig, ein Stern zu sein. Aber es ist auch wiederum sehr hübsch. Und außerordentlich feierlich. Und mancher muntre Dorsch könnte sich wünschen, nur halb so artig zu sein.
Obwohl so am Himmel alles schön ordentlich zugeht, passieren doch mitunter Dinge, die die Sterne in große Gemütsbewegung versetzen und sie ganz aus dem Konzept bringen würden, wenn dies Konzept nicht so ausgezeichnet wäre.
Da kann ich zum Beispiel hier etwas erzählen.
Es ist schon ungeheuer lange her. Aber was in alten Zeiten geschah, war ja viel unterhaltender als das, was heute geschieht. Und dann ist das Angenehme dabei, daß man darüber reden kann, ohne jemand zu kränken.
Eine Sonne spielte eine Rolle dabei. Nicht unsre eigne Sonne, die uns bescheint... wenn auch bei weitem nicht so oft, wie wir’s wohl wünschen möchten. Sondern eine andre Sonne in großer Entfernung. Denn ebenso wie es auch noch andre rote Kühe gibt als die des Pfarrers, so gibt es ja auch eine Menge Sonnen, die uns nie in die Augen stechen, und an die wir darum für gewöhnlich nicht denken.
Diese Sonne verlor eines Morgens ein Stück.
Sie war zwar so groß, daß sie den Verlust ver [S. 57] schmerzen konnte. Aber ein jeder will ja gern behalten, was er hat. Außerdem entstand da, wo das Stück gesessen hatte, ein Loch. Und das ärgerte die Sonne, die sonst in jeder Beziehung eine tadellose Sonne war und sich nicht gern am Himmel blamieren wollte.
Darum drehte sie sich wie besessen um ihre Achse. Auf die Art werden die Sterne rund, während andre Leute bekanntlich am leichtesten durch Stillsitzen und Faulenzen dick und rund werden. Und als sie sich ein paar tausend Jahre gedreht hatte, war der Schaden ausgebessert, und damit scheidet diese Sonne aus unsrer Geschichte aus.
Aber das Stück, das sich abgetrennt hatte, tanzte am Himmel hin, und von ihm handelt die Geschichte.
Es war kein dickes, hartes, eckiges Stück, wie es zum Beispiel von einem Teller abbricht, der verunglückt. Vielmehr war es ganz locker, luftig und leicht und wogte auf eine so muntere, leichtsinnige Art dahin, daß die artigen Sterne vor Schreck ganz außer sich gerieten.
„Gott erbarme sich!“ sagte einer.
„Was in aller Welt ist das?“ rief ein andrer.
„Hab ich den Verstand verloren?“ schrie ein dritter.
Doch das Stück tanzte weiter, ohne nach rechts oder links zu schauen, und hörte gar nicht auf ihre Worte.
„Er rennt gegen mich,“ sagte ein vierter Stern.
„Er bringt uns alle durcheinander,“ sagte ein fünfter.
„Er ist vollkommen ungesetzlich,“ fiel ein sechster ein.
Zuletzt faßte sich ein siebenter ein Herz und rief das Stück an.
„He... du da!“ rief er. „Wer bist du? Woher kommst du? Wohin willst du? Was denkst du dir denn dabei, hier so ohne Anstand umherzuschlendern?“
„Du fragst viel auf einmal,“ erwiderte das Stück.
„Wer bist du?“ fragte der Stern wieder. „Ich frage dich im Namen sämtlicher Sterne.“
„Ich weiß es wirklich nicht,“ sagte das Stück. „Ich bin gewiß nichts. Ich bin abgefallen und fühle mich so frei und froh, und das Leben erscheint mir so wunderschön. Es ist mir ganz gleichgültig, wohin ich komme, wenn ich nur immer weiter dahinsausen kann.“
„Habt ihr je so etwas gehört?“ rief der siebente Stern.
Nein, das hatten sie nicht.
Sprachlos starrten sie einander an. Eine solche Rede hatte man am Himmel noch nie vernommen, solange er bestand.
Als sie sich wieder ein wenig erholt hatten, begannen sie zu besprechen, was wohl dabei zu tun sei. Ihre Beratung dauerte lange. Es war ja nicht nur eine ernste, ungewöhnliche Sache, sondern es kam hinzu, daß jeder von ihnen auf seine Bahn achten mußte, und manchmal verstrichen mehrere hundert Jahre, bis sie sich wieder trafen.
Schließlich wurden sie sich darüber einig, was sie mit dem Frechdachs tun wollten. Eine große, ernste Sonne nahm das Wort und sagte:
„Hör’ mal, mein Kind. Wir haben folgendes beschlossen: Da du nun einmal am Himmel bist, wollen wir versuchen, einen ordentlichen, braven Stern aus dir zu machen. Du wirst natürlich selber einsehen, daß es besser für dich ist, eine feste, anständige Stellung zu bekommen, als dich so ins blaue hinein umherzutreiben.“
„Ich weiß nicht,“ sagte das Stück. „Was ist das: ein Stern?“
„Ein Stern ist das Größte in der Welt,“ sagte die Sonne. „Die Sterne wandeln vornehm und unabänderlich am Himmel dahin; sie sind erhaben über alles Gezänk und allen Lärm. Sie leuchten allen voran als gutes Beispiel von Festigkeit und Frieden und andern Tugenden. Ein solcher Stern kannst du werden, wenn du artig bist. Was bist du jetzt? Ein ganz unordentliches Geschöpf.“
„Das will ich auch bleiben,“ sagte das Stück. „Es geht mir gut, und ich amüsiere mich viel besser als ihr alle. Ich mache mir nichts daraus, jemandem zu leuchten, und habe keine Lust, ein gutes Beispiel zu sein.“
„Hat man je so etwas gehört!“ sagten die Sterne zueinander.
Nein, so etwas hatte man noch nicht gehört. Aber die Sonne sagte, der arme Kerl sei noch so jung und habe sich so lange frei und ledig umhergetrieben, daß man Nachsicht mit ihm haben müsse. Sie wolle darum nochmals den Versuch machen, ihn zur Vernunft zu bringen.
„Du wirst es bereuen, wenn du meinen Rat nicht befolgst. Ich will mich deiner Erziehung selber annehmen und rechne auf deine Dankbarkeit. [S. 60] Wenn du dich gut aufführst, mache ich dich vielleicht zu meinem Trabanten.“
Das Stück hörte nicht einmal zu. Es segelte lustig weiter und sang vor sich hin:
In diesem Augenblick kam es der Sonne zu nahe.
„Au... was ist das?“ rief das Stück.
Es fühlte sich von einer unwiderstehlichen, unbekannten Macht ergriffen. Es war, wie wenn eine gewaltige Hand es im Nacken packte und schüttelte.
„Was ist das... was ist das nur?“ schrie es erschrocken.
„Das ist die Schwerkraft,“ sagte die Sonne.
„Ich will weg... laß mich los!“ schrie das Stück.
„Das könnte ich gar nicht einmal, wenn ich auch wollte,“ erwiderte die Sonne. „Nun bist du fertig, lieber Freund.“
„Hilfe! Hilfe!“ schrie das Stück.
„Unsinn,“ sagte die Sonne. „Hier kann niemand helfen. Hör’ jetzt zu und tu, was ich sage; dann kommt das übrige von selbst.“
Jetzt war es dem Stück zumute, wie wenn die Sonne es an einer Schnur herumschwenkte. Sosehr es sich auch wehren mochte, es konnte nicht loskommen.
„Gar nicht so übel für den Anfang,“ sagte die Sonne.
„Es langweilt mich,“ meinte das Stück.
„Es ist niemals gar zu amüsant, vornehm zu sein,“ sagte die Sonne. „Und vornehm wirst du. Du fährst jetzt einfach fort, genau in dem Abstand um mich her zu laufen, den du jetzt hast, und der hunderttausend Meilen beträgt, wenn du dich für Zahlen interessierst.“
„Nein, das tu’ ich nicht,“ sagte das Stück.
„Es wird schon kommen,“ sagte die Sonne. „Zahlen sind tatsächlich das einzige, woran gebildete Sterne denken, und wovon sie reden. Es gibt Sterne, die nie weniger als eine Billion in den Mund nehmen. Es gibt Sterne, die mit so großen Zahlen rechnen, daß sie sie selbst nicht aussprechen können.“
„Ich mache mir nichts aus Sternen,“ sagte das Stück.
Aber die Sonne ließ sich nicht stören.
„Das war recht,“ sagte sie ermunternd. „So... es geht ja sehr gut... ho, ho... nicht zu hitzig ... immer gleichmäßig schnell.“
„Ich will los,“ schrie das Stück.
„Hör’ jetzt weiter,“ sagte die Sonne. „Du drehst dich nicht nur um mich, sondern auch um dich selbst ... stets, unaufhörlich... verstehst du?“
„Ich will nicht,“ schrie das Stück.
„Dann wirst du rund, mein Freund!“ erklärte die Sonne. „Du hast ja eine gräßliche Figur. So... so ist’s recht. Wenn du nur fleißig bist, kommt alles von selbst.“
Und nun war das Sternenstück so müde und verwirrt, daß es allen Widerstand aufgab.
Es lief und lief und wirbelte herum. Als sieben Millionen Jahre verstrichen waren, war es rund und niedlich, bloß an beiden Enden ein bißchen flachgedrückt, weil es sich am Anfang zu schnell gedreht hatte.
„Schön!“ lobte die Sonne. „Nun hast du dein Gesellenstück gemacht, und ich ernenne dich hiermit feierlich zu meinem Trabanten.“
„Vielen Dank!“ sagte das Sternenstück.
Und alle andern Sterne gratulierten. — — —
Aber da das Sonnenstück jetzt ein Stern geworden ist, so ist es notwendig, daß es einen Namen bekommt.
Alle Sterne haben Namen. Wer einen neuen Stern ausfindig macht, hat das Recht, ihm einen Namen zu geben; und da ich das Sternenkind ausfindig gemacht habe, so will ich es auch taufen.
Ich will es Peter nennen.
Die andern Sterne haben alle so hochtrabende Namen, die man schwer behalten oder jedenfalls nur aussprechen kann, wenn man tief Atem holt. Oder sie heißen Der Große Bär oder Der Stier oder haben sonst irgendeinen unverständlichen Namen.
Peter ist ein guter Name. Man kann auf einem Bein stehen und es mit geschlossenen Augen sagen, sooft die Leute es hören mögen. Und dieser Name ist auch sehr passend; denn alles in allem, sind die Sterne nichts andres als wir, und warum sollen sie also feinere Namen haben?
Man kann das auch daran sehen, wie es Peter später in der Welt erging.
Als er sich mehrere Millionen Jahre gedreht und der Welt als ein gutes Beispiel von Festigkeit und Frieden und allen sonstigen Tugenden vorangeleuchtet hatte, da hatte er seine leichtfertige Jugend ganz vergessen. Wenn ihn einer der andern Sterne daran erinnerte, so tat er, als ob er das gar nicht verstände.
Und als sich eines Tages ein andres Stück von einer Sonne loslöste und am Himmel umherwankte, genau so wie Peter es seinerzeit gemacht hatte, da war er genau so entsetzt und erbost, wie die andern es damals über ihn gewesen waren...
Aber dann passierte ihm etwas Fürchterliches.
Als Stern, der ausgelernt hatte, war er ein paar hundert Millionen Jahre lang gelaufen, als er plötzlich verschiedene sonderbare Flecke an sich entdeckte. Es war, als bildete sich an den Stellen eine Rinde.
„Was ist denn das?“ rief er.
Und als er bemerkte, daß er nicht mehr so stark leuchtete wie vorher, erschrak er ernstlich.
„Ich glaube, ich erlösche,“ sagte er.
Doch die Erde, die zu der Zeit gerade in seiner Nähe war, meinte:
„Im Gegenteil, lieber Kollege... du bist nur eingeschrumpft. Du bist im Begriff, ein gereifter Mann zu werden, der das Feuer in seinem Innern verbirgt. Du hast das ewige Scheinen satt, das sich ja ganz gut ausnimmt, aber zu nichts führt und auf die Dauer auch keinen Spaß macht.“
„Beileibe nicht!“ schrie Peter. „Meinst du, ich will so ein gräßlicher schwarzer Klumpen werden wie du? Ich will ein Stern sein und bleiben und [S. 64] als gutes Beispiel von Festigkeit und Frieden und allen sonstigen Tugenden voranleuchten.“
„Sieh da!“ sagte die Erde. „Der Fleck dort an deinem einen Pol wächst... und da kommt noch einer hinzu. In ein paar Millionen Jahren bist du ganz schwarz auf der Oberfläche, genau wie ich, und mußt dich damit begnügen, das Licht zurückzustrahlen.“
„Ich will nicht,“ schrie Peter.
„Daran läßt sich nichts ändern,“ sagte die Erde. „Was geschehen muß, geschieht. Ich habe meinerzeit auch geschienen, hab’ es aber Gott sei Dank überwunden.“
Peter fuhr fort zu schreien.
„Man wird vernünftiger mit den Jahren,“ sagte die Erde. „Laß die Jugend sich austoben, dagegen hab’ ich nichts. Aber reife Männer, wie du und ich, wir müssen doch sehen, etwas Ordentliches im Leben zuwege zu bringen. Wenn du wirst wie ich, so wirst du schließlich auch voller Tiere, Pflanzen und Menschen sein und dich als nützliches, geachtetes Mitglied der Gesellschaft fühlen.“
„Nie,“ sagte Peter.
„Wir wollen sehen,“ sagte die Erde. „Ich gehe jetzt meiner Wege. Wenn ich wiederkomme, bist du gewiß vernünftiger geworden. Lebe wohl so lange.“
Damit verabschiedete sich die Erde. Und Peter bekam immer mehr und mehr Flecken; er hörte schließlich auf zu protestieren.
Dreihundert Millionen Jahre darauf trafen Peter und die Erde auf ihrer Bahn wieder zusammen.
„Sieh, sieh,“ sagte die Erde. „Es ist gekommen, wie ich sagte. Wie schwarz du bist, und wie voll vom schönsten Gewürm! Das ist etwas andres, als am Himmel umherzurennen und zu leuchten.“
„Ich weiß nicht, was du meinst,“ sagte Peter. „Ich habe nichts mit den törichten Sternen zu schaffen. Ich bin sicherlich mehr wert als du. Ich bin der Mittelpunkt der Welt.“
„Ah, aus dem Loch pfeifst du!“ sagte die Erde.
So zankten sie sich eine Weile, wer besser sei, und gingen dann jeder seines Weges.
Die Jahre schwanden. Und als abermals dreihundert Millionen Jahre vergangen waren, fröstelte es Peter so seltsam.
„Es ist wohl kein Feuer mehr in mir,“ sagte er.
Er guckte zu seiner Sonne auf.
„Du scheinst auch nicht mehr so warm wie früher,“ sagte er.
„Das weiß ich wohl,“ entgegnete die Sonne. „Aber ich bin hinreichend entschuldigt; denn ich fange selber an, Flecke zu kriegen.“
„Was soll ich nur machen!“ seufzte Peter.
„Du sollst es machen wie ich,“ sagte der Mond, der gelb und grinsend dahersegelte.
„Und was tust du?“ fragte Peter.
„Ich lache über das Ganze,“ sagte der Mond. „Ich bin längst fertig mit all dem Unsinn von Mensch, Tier und Pflanze. Wozu führt das, möchte ich fragen? — Du bist auch mit allem fertig. Es wird nicht mehr lange dauern, so läufst du wie ich als gewitzter alter Kahlkopf umher und machst dich über all die Narrenpossen lustig.“
„Nie und nimmer!“ sagte Peter. „Nie werd [S. 66] ’ ich so ein alter, abgestorbener Kerl wie du. Ich will ein geachtetes, nützliches Mitglied der Gesellschaft sein und bleiben.“
„Guten Morgen,“ sagte der Mond.
Aber es erging Peter, wie der Mond vorhergesagt hatte. Sosehr er sich auch sträubte, er wurde kälter und kälter. Seine Bäume gingen ein, seine Tiere starben, immer weniger Lebewesen gab es auf ihm.
Zuletzt war er fertig.
Er war voller Berge und Täler, und kein lebendes Wesen war mehr auf ihm zu finden. Um ihn war keine Luft, und in seinen Seen und Gärten war kein Wasser. Der letzte Funke in ihm war erloschen, das letzte Leben erstorben. Wenn ein andrer Stern ihn beschien, so strahlte er das Licht zurück — das war alles.
Eines Tages begegnete er dem Mond.
„Verehrter Kollege,“ sagte dieser. „Es freut mich, daß du getan hast, was ich dir damals sagte, und mit all dem Plunder ein Ende gemacht hast.“
„Ich weiß nicht, was du meinst,“ sagte Peter.
Aber er war gut gelaunt und fühlte sich so wohl wie vorhin.
Er legte seinen gewohnten Weg zurück... um die Sonne und um sich selbst, grinste wie närrisch und sagte zu den andern Sternen:
„Daß es euch Spaß macht... daß es euch Spaß macht...!“
Er geht noch immer am Himmel dahin.
Wer ein gutes Fernglas hat, kann ihn sehen.
Es war Nacht, und der Himmel hing voller Sterne.
Der Hund schlief in seiner Hütte, die Katze auf dem Speicher und der Mensch in seinem Bette. Der Wind hatte sich zurückgezogen; wohin, wußte niemand. Wenn es sich in der Luft bewegte, so war es die Fledermaus, die lautlos auf ihren weichen Flügeln vorübertanzte. Raschelte es im Gebüsch, so war es die Maus oder der Igel, die zu nächtlicher Kurzweil unterwegs waren.
Aber die großen schwarzen Linden, die als schöne Allee bis zum Pförtchen standen, dufteten so süß und schwer, daß die Bienen in ihren Körben vor Sehnsucht nicht schlafen konnten.
Nur in einem einzigen Fenster im ganzen Hause war Licht.
Das Fenster stand offen, und auf dem Fenster [S. 68] brett saß das hübscheste Mädchen der Welt und schaute in den dunkeln, stillen Garten hinaus.
Ganz ruhig saß sie, und rings um die Scheiben wanden sich grüne Ranken, so daß sie einem Porträt glich, um das jemand einen Kranz gehängt hat.
Da begann die Nachtigall zu singen:
„Gitte... gitte... gitte... gitte... git.“
Es war bloß ein Triller, als wollte sie probieren, wie ihre Stimme in der Stille klang.
„Nun... Nachtigall?“ sagte das junge Mädchen.
Die Nachtigall erwiderte nichts. Da schlug das Mädchen in die Hände und sang, daß es durch den Garten hallte:
Und die Nachtigall antwortete sofort:
„Ja, du hast dein Teil im Trocknen, liebe Nachtigall,“ sagte das junge Mädchen. „Du denkst nur an dich.“
Dann beugte sie sich so weit, wie sie konnte, aus dem Fenster, sah mit ihren blanken Augen zu den großen Linden auf und sang:
Und kaum hatte sie ihr Liedchen zu Ende gesungen, als es in den Linden rauschte und sang:
„Wie schön!“ sagte das junge Mädchen. „Ich höre das gern. Aber was hilft es mir?“
Und die Nachtigall sang wieder, glücklich und lange, und die Linden dufteten süß und stark. Dem jungen Mädchen wurde schwer ums Herz.
Da fiel ihr Blick auf einen Rosenstrauch, der unter ihrem Fenster stand, und sie bemerkte ein Lichtlein, das auf einem der Blätter leuchtete. Vorsichtig umfaßte sie den Zweig und sah, daß das Licht von einem kleinen seltsamen Tier ausging, einem Wurm mit langen Haaren am ganzen Körper.
„Was bist du für eine?“ fragte sie.
„Ich bin das Johanniswürmchen,“ sagte das Tier. „Hast du meinen Schatz nicht gesehen?“
„Nein, das nicht. — Und du, hast du den meinen nicht gesehn?“
„Nein. Ich bin ja so unglücklich!“
Das Johanniswürmchen wand sich auf dem Blatte und leuchtete, daß einem die Augen davon weh taten.
„Herrgott, meine liebe Freundin,“ sagte das junge Mädchen. „Dir scheint es genau so zu gehn wie mir. Wenn du doch Flügel hättest und zu deinem Geliebten hinfliegen könntest!“
„Wer weiß, was das beste ist!“ erwiderte das Johanniswürmchen. „Dann würden wir vielleicht auseinander fliegen; — denn er hat Flügel, mußt du wissen. So sitze ich hier und leuchte, damit er mich finden kann.“
„Ach, leuchtest du deswegen!“ rief das Mädchen vergnügt. „Das ist ja dasselbe wie mit meinem Licht hinterm Fenster. Das steht auch da, damit mein Verlobter es von weitem sehen kann, wenn er kommt.“
„Mit Verlaub,“ fragte das Johanniswürmchen mit einem tiefen Seufzer. „Warum gehst du denn nicht zu deinem Bräutigam?“
„Gott behüte,“ sagte sie und bekam einen roten Kopf. „Das würde sich wenig für ein junges Mädchen schicken, mitten in der Nacht dem Verlobten nachzulaufen!“
„Soso,“ sagte das Würmchen, „ja, dann bist du eigentlich nicht besser dran als ich.“
„Erzähl’ mir ein bißchen von deinem Bräutigam,“ bat das Mädchen. „Ich habe Liebesgeschichten so gern. — Wie sieht er aus?“
„Ich habe ihn nie gesehn,“ war die Antwort.
„Du hast ihn nie gesehn!“ rief das Mädchen und schlug die Hände erschrocken zusammen.
„Nein, tatsächlich nicht. Und hast du den deinen denn gesehn?“
„Und ob!“ Das Mädchen lachte hell auf. „Das kannst du mir glauben. Er ist das schönste, herrlichste Wesen der Welt!“
„Ja, das ist mein Geliebter auch,“ entgegnete das Johanniswürmchen. „Wenn er mich nur wenigstens gesehen hätte!“
„Er hat dich auch noch nicht gesehn?“
„Nein, und darum leuchte, leuchte, leuchte ich, damit er mich ausfindig machen soll.“
„Das ist das Traurigste, was ich je gehört habe, [S. 72] “ sagte das junge Mädchen, und große Tränen rollten ihre Wangen hinab. „Arme, arme kleine Freundin!“
„Ach ja! Wenn wir nur nicht zu so vielen wären! Schau einmal in den Garten hinaus, dann wirst du sehn, wie es in allen Sträuchern leuchtet!“
„Ja,“ sagte sie, „nun seh’ ich es... fünf, sechs... sieben, acht, neun... aber da sind ja über zwanzig Johanniswürmchen!“
„Das ist das Traurige. Doch das ist das Los des Weibes. Auch du kannst doch nicht wissen, ob nicht andre ein Licht in ihr Fenster setzen und deinen Liebsten einfangen.“
„Du kennst meinen Liebsten nicht.“
„Ach, wenn ich nur meinen eignen kennte!“
Und das Johanniswürmchen wand sich und leuchtete, daß es beinahe entzweiging. Aber das junge Mädchen achtete gar nicht darauf. Sie lehnte den Kopf an den Fensterrahmen und schaute mit glücklichen Augen in den Garten hinaus.
„Mein Liebster denkt an niemand als an mich,“ sagte sie. „Kommt er nicht heute, so kommt er morgen. Dann gehn wir aus und machen Besuche... und ich nähe an meiner Aussteuer... Es dauert gar nicht mehr so lange, bis wir heiraten. Dann fahre ich im weißen Kleide und mit weißen Pferden vorm Wagen zur Kirche. Die Glocken läuten, die Orgel spielt, und der Pfarrer hält eine schöne Predigt. Und hernach fahren wir in unser Heim, in die reizendste kleine Wohnung, die du dir denken kannst.“
„Ja,“ erwiderte das Johanniswürmchen. „Bei uns geht es allerdings nicht so vornehm zu. So [S. 73] bald mein Bräutigam kommt, heiraten wir, und dann ist der Klimbim vorbei.“
„Ist der Klimbim vorbei, wenn man heiratet?“
„Ja, allerdings,“ sagte das Würmchen. „Dann ziehe ich noch einen Tag umher, lege meine Eier und sterbe.“
„Ach, Herrgott!“ sagte das junge Mädchen und weinte bitterlich. „Es ist so entsetzlich, das zu hören, wenn man selbst so froh ist. Könnte ich doch nur etwas für dich tun, du armes, liebes Johanniswürmchen. Aber nun muß ich zu Bett. Sonst hab’ ich morgen früh rote Augen, und das kann mein Schatz nicht leiden.“
„Ach ja,“ seufzte das Johanniswürmchen.
Das Mädchen schloß das Fenster und ließ den Vorhang herunter.
Aber das Johanniswürmchen leuchtete und leuchtete, bis die Sonne aufging und so hell erstrahlte, daß alles andre Licht auf der Erde erlosch.
*
*
*
Zwei Tage später ging das junge Mädchen am Abend mit ihrem Bräutigam im Garten spazieren.
Vor dem Rosenstrauch unter ihrem Fenster blieb sie stehen, bückte sich und nahm etwas auf.
Es war das Johanniswürmchen. Aber es lag tot in ihrer Hand mit seinen starrenden Haaren.
Sie erzählte nun ihrem Verlobten alles, was in jener Nacht vorgefallen war, als sie am Fenster saß und sich nach ihm sehnte. Und sie konnte nicht anders, sie weinte über das Schicksal des Johanniswürmchens.
„Das ist ganz richtig,“ sagte der Bräutigam. [S. 74] „So ist es dem Johanniswürmchen ergangen. Der Bräutigam ist schließlich gekommen, die beiden haben Hochzeit gehalten, und dann hat das Würmchen die Eier gelegt und ist gestorben. Das war ein karges Glück, nach dem man kein Verlangen zu haben braucht. Aber du und ich, wir haben etwas, wonach wir uns sehnen; denn wir werden viele, viele Jahre miteinander leben.“
Sie hielt immer noch das tote Tierchen in der Hand und betrachtete es. Sie dachte an die Nachtigall und die Lindenblüten, und ihr war, als stände ihr das Johanniswürmchen am nächsten von allen.
„Ich weiß nicht, wie das ist,“ sagte sie. „Aber mich dünkt, die Sehnsucht des Johanniswürmchens war genau so gut wie die meine.“
„Du bist ein liebes Mädchen,“ sagte er.
Das meint man ja immer von seiner Liebsten. Aber in diesem Falle stimmte es wirklich.
Weit, weit von hier liegt ein böses Land.
Es hat keinen fruchtbaren Boden, darin Getreide wachsen könnte und Gras und grüner Wald. In diesem Lande gibt es nur Steine, Steine und wiederum Steine. Hier und da zwischen dem Gestein ein bißchen armselige Erde und in der Erde verkrüppelte Weidenbüsche, dünne Halme, Moos und dergleichen.
Sonst aber nur Steine, soweit das Auge reicht. Mächtige Felsen, die zu den Wolken aufragen, und zwischen den Felsen tiefe, steile Klüfte und öde Täler, darin Bäche zwischen den Steinen dahinrinnen.
Nur drei Monate lang ist es dort Sommer.
Dann brennt die Sonne so stark, daß die Steine glühend werden. Armselige Blumen kommen aus der armseligen Erde hervor, und jämmerliche Insekten schwirren zwischen den Blumen umher. Aber gar bald wird es wieder Winter. Schnee stürzt herab, und Eis bedeckt die Bäche. Der Sturm rast, und von der Sonne sieht man fast nichts. Blumen und Insekten sind verschwunden.
Oben auf einem Felsgipfel hat der Adler sein Nest. Er fliegt weit umher, um Nahrung zu suchen; und manchesmal schreien seine Jungen wild vor [S. 76] Hunger, wenn er ihnen gar zu lange ausbleibt. Denn in dem bösen Lande ist nicht viel zu holen. In den Bächen schwimmen nur wenige Fische, und hin und wieder springt eilends ein Hase fort, wenn er sieht, daß kaum etwas Gras für ihn vorhanden ist, geschweige denn ein Kohlblatt. Zuweilen kommt ein Fuchs herbeigeschlichen, oder ein erschrockenes Mäuslein flieht von hinnen. Dann ist da der Bär, der den größten Teil des Winters in seiner Höhle verschläft. Und im Winter fliegen wilde weiße Seevögel schreiend übers Land hin, und reißende Wölfe kommen heulend herbei, mit heraushängender Zunge, und machen Jagd auf ein Renntier, das aus Leibeskräften läuft, bis es zu Boden stürzt.
Aber wenn es dort auch keine bunten Blumen und kein muntres Tierleben wie in den guten Ländern gab, so bargen die Felsen in sich doch seltsame Dinge.
Denn durch das Gestein gingen in die Kreuz und Quere so viele Metalladern wie nur in wenigen Ländern der Welt.
Da lag das schwere, graue Blei und das starke Eisen, das weiße Silber, das rote Kupfer und das schöne gelbe Gold. An manchen Stellen reichten die Adern bis an die Oberfläche und glitzerten in der Sonne, — falls sie schien.
„Das sollten die Menschen bloß wissen!“ sagte der Adler.
„Wer ist das: die Menschen?“ fragte das Gold, das neugierigste der Metalle, und kroch ganz aus dem Gestein hervor, um besser hören zu können. „Und was sollten sie wissen?“
„Die Menschen regieren die Welt,“ erwiderte [S. 77] der Adler. „Sie erlegen das stärkste Tier und sprengen den höchsten Berg, wenn es ihnen Spaß macht oder Vorteil bringt. Wie die Ameisen wimmeln sie über die ganze Erde hin; überall da sind sie zu finden, wo es ihnen gefällt. Und sind sie nicht zufrieden mit der Erde, wie sie ist, so arbeiten sie sie um.“
„Was sollten denn nun die Menschen wissen?“ fragte das Gold wieder.
„Zum Beispiel, daß du hier bist, mein Schatz!“ entgegnete der Adler. „Dann kämen sie gelaufen und nähmen dich fort.“
„Meinetwegen,“ sagte das Gold. „Ich habe ja gar nichts dagegen, ein bißchen in die Welt hinauszukommen. Wenn ich so daliege und funkle, so finde ich selber, daß ich schön bin, und daß sich viel aus mir machen ließe.“
„Ganz richtig! Die Menschen lieben dich über alles in der Welt. Du bist das Schönste, das sie kennen. Mit deiner Hilfe können sie bekommen, was sie wollen. Um dich zu gewinnen, arbeiten sie sich alt und grau und begehen die größten Verbrechen. Wer dich hat, ist reich und mächtig und wird geehrt. Wer dich nicht hat, ist nur ein Haderlump.“
„Ich habe Sehnsucht nach den Menschen,“ sagte das Gold. „Das sind offenbar Wesen, die etwas von den Dingen verstehen.“
„Und ich?“ fragte das Silber.
„Du hast auch deinen Wert,“ erwiderte der Adler. „Aber gegen das Gold kannst du nicht an. Ihm kommt keiner gleich, weder Kupfer, noch Eisen, noch Blei. Aber für euch alle haben die Menschen Verwendung; tausenderlei Dinge können sie aus euch [S. 78] herstellen. Wie gesagt, sie sollten nur wissen, daß ihr hier wäret!“
„Erzähl’ es ihnen,“ bat das Gold.
„Ja, sag’ es ihnen, sag’ es ihnen!“ riefen die andern.
„So töricht bin ich nicht,“ antwortete der Adler. „Wenn die Menschen nur wüßten, daß hier halb so viel Gold wäre, wie ich von meinem Horst aus schimmern sehe, so kämen sie zu Tausenden herbeigestürzt. Bevor eine Woche um wäre, würde es hier schwarz von Menschen sein. Das ganze Land würden sie umgraben und durchwühlen. Den Bären würden sie erlegen und mich desgleichen, wenn sie uns nur treffen könnten. Wir müßten in andere Gegenden entfliehen. Warum sollte ich all das Elend über uns bringen?“
„Das, was ein Elend für dich wäre, würde ein Glück für mich sein,“ sagte das Gold. „Und ein Glück wäre es wohl auch für die Menschen, da sie mich so hoch schätzen. Möchten sie doch nur kommen! Ich würde leuchten und glänzen, daß sie ihre Freude daran hätten.“
„Schon möglich,“ meinte der Adler. „Aber die Freude, die du ihnen bereiten könntest, wöge bei weitem nicht das Unglück auf, das du anstiften würdest.“
„Ich glaube dir nicht,“ sagte das Gold.
„Tu, was du willst!“ Der Adler schlug mit seinen breiten Flügeln. „Es spielt doch keine Rolle, denn hier sind keine Menschen, und es kommen auch keine hierher. Viele Meilen weit erstreckt sich das böse Land nach allen Seiten. Die Menschen würden vor Hunger und Durst umkommen, wenn sie hier [S. 79] her zögen. Aber es fällt ihnen ja auch nicht ein; denn sie wissen nichts von dem Schatze, der sich hier befindet.“
„Könnte man ihnen doch eine Botschaft senden!“ rief das Gold.
Der Adler antwortete nicht mehr, er war hoch in den Wolken entschwunden. —
Bald darauf stellten sich heftige Stürme und Regengüsse ein. Alle Bäche traten über ihre Ufer, alle Felsenspalten standen voll Wasser. Und als der Sturm sich legte, kam der Frost, härter als je. Das Wasser in den Spalten gefror bis auf den Grund; und an vielen Stellen wurden die Felsen gesprengt, so daß große Steine sich loslösten, ins Tal hinabrollten und zerschmettert wurden.
An einer Stelle kam auf dem Erdboden ein großer Klumpen Gold neben einen großen Klumpen Blei zu liegen. Als der Sommer anbrach, beschien die Sonne sie beide.
„Wenn doch ein Mensch kommen und mich finden möchte!“ sagte der Goldklumpen und glänzte mit der Sonne um die Wette.
„Auch ich will gefunden werden!“ rief der Bleiklumpen.
„Dich würde er nicht ansehen, wenn er hier wäre,“ sagte das Gold.
„Er sieht keinen von euch an, denn er kommt überhaupt nicht hierher,“ erklärte der Adler. „Ihr müßt euch damit begnügen, zu euerm eigenen Vergnügen zu glänzen.“
Und doch kamen Menschen.
Eines Tages zogen zwei Menschen in das böse Land ein. Sie hatten große, wirre Bärte und eine Flinte über der Schulter, hohe Stiefel und alte, verschlissene Kleider. Man konnte sehen, daß sie von weit her kamen und eilig marschiert waren; [S. 81] und von Zeit zu Zeit drehten sie sich um, als fürchteten sie, daß jemand sie verfolgen werde.
Es waren zwei Freunde, die sich auf der Flucht befanden.
Der ältere von ihnen hatte ein Verbrechen begangen und darum im Gefängnis gesessen. Dort sollte er noch viele Jahre bleiben. Aber der jüngere liebte ihn und konnte es nicht ertragen, daß es dem andern so schlecht gehen sollte. Er begann daher, darüber nachzusinnen, wie er den Freund befreien könne; und schließlich fand er einen Ausweg. Mit seiner Hilfe brach der Gefangene aus, und im Dun [S. 82] kel der Nacht flohen sie beide, um ein Land zu suchen, wo niemand sie kannte, und wo sie in Frieden zusammen leben konnten.
„Jetzt sind wir außer Gefahr,“ sagte der Jüngere und blickte sich in dem bösen Lande um. „Hier sieht es aus, als hätte noch keines Menschen Fuß dieses Land je betreten; und sicherlich wohnt hier niemand. Unsers Bleibens ist hier nicht, denn hier ist nicht gut sein. Aber ausruhen wollen wir heut nacht und Kräfte sammeln und morgen weiterziehen.“
Sie ließen sich in dem Tale, in dem sie gerade waren, nieder und blickten vor sich hin. Der Jüngere sammelte Moos und machte davon ein Kopfkissen für seinen Bruder.
„Leg’ dich schlafen!“ sagte er.
„Du bist ja gleichfalls müde,“ erwiderte der andre.
„Schlafe du zuerst,“ sagte nun der Jüngere. „Ich will inzwischen wachen.“
Der Ältere dankte ihm und legte sich zum Schlafe nieder. Doch kaum hatte er seine müden Augen geschlossen, als der andere einen lauten Schrei ausstieß. Der Ältere fuhr empor und griff nach seiner Büchse, in dem Glauben, daß die Verfolger ihnen auf den Fersen seien. Aber der Jüngere zeigte nur sprachlos auf eine Stelle dicht in der Nähe.
Dort lag der Goldklumpen.
Er war ja ziemlich groß und hatte einen schönen Glanz! Aber in den Augen der beiden Männer wurde er doch noch hundertmal größer und bekam einen viel, viel stärkeren Glanz. Eine Weile saßen [S. 83] sie schweigend da und starrten den Klumpen an. Dann sprangen sie auf und setzten sich jeder auf eine Seite des Goldklumpens. Sie rührten ihn mit den Händen an und versuchten, ihn in die Höhe zu heben; sie brachten es kaum fertig. Um zu sehen, ob nicht vielleicht eine Sinnestäuschung, ein Traumbild sie narrte, schlossen sie die Augen und öffneten sie dann wieder. Alle Müdigkeit war von ihnen gewichen, und ihre Gesichter leuchteten mit dem Gold um die Wette.
„Jetzt sind wir reiche Leute!“ sagte schließlich der Ältere.
Der andere lachte vergnügt.
„Zuerst wollen wir mein Verbrechen mit Gold büßen,“ fuhr jener fort. „Sonst werd’ ich nicht wieder froh werden. Und es wird doch noch genug übrig bleiben.... ein ungeheures Kapital. Wenn wir es vernünftig anwenden, können wir noch mehr verdienen... Wir werden die reichsten Leute der Welt, bevor wir sterben.“
„Ja,“ sagte der andre.
„Glaubst du, daß es in der Welt einen größeren Goldklumpen gibt als diesen?“ fragte der Ältere.
„Nein,“ erwiderte der Freund.
So redeten sie weiter miteinander. Meistens sprach der Ältere... der Jüngere gab nur einsilbige Antworten; er konnte die Augen nicht von dem Goldklumpen abwenden. Es wurde Nacht, und die kalten Sterne blickten auf sie herab.
„Einer von uns muß wachen,“ sagte der Ältere. „Hier ist’s öde und leer, aber jetzt steht mehr als das Leben, jetzt steht unser Glück auf dem Spiel. Und [S. 84] man kann nie wissen, ob nicht jemand kommen und uns unsern Schatz rauben will.“
„Schlaf du,“ entgegnete der Jüngere.
Da legte sich der Ältere nieder und schlief bald ein.
In den andern Nächten auf ihrer Flucht hatte der Jüngere stets seinen Mantel über ihn ausgebreitet. Heute tat er das nicht. Er sah gar nicht nach ihm hin, dachte nicht an ihn, sondern starrte bloß auf den Goldklumpen, der im Sternenschimmer noch größer und seltsamer aussah.
„Seht ihr, was ich gesagt habe?“ rief der Adler.
„Ich leuchte,“ fiel der Goldklumpen ein.
„Nach mir sieht niemand,“ jammerte der Bleiklumpen verzagt.
Und als die Nacht vorschritt und die Sterne immer heller strahlten und das Gold leuchtete und leuchtete, da ereignete sich etwas Seltsames und Furchtbares zugleich.
Der jüngere der beiden Männer erlebte eine innere Umwandlung. Niemand kann erklären, wie es zuging; er selber am allerwenigsten. Bis zu seinem Tode blieb es ihm ein fürchterliches Rätsel. Aber wie er da so saß und auf den Goldklumpen starrte, und wie er dann den Kopf wandte und seinen schlafenden Freund betrachtete, da erfüllte sich das Geschick an ihm von Minute zu Minute und von Stunde zu Stunde.
Er hatte seinen Freund ehrlich geliebt; und weil er ihn liebte, hatte er ihm vergeben, daß er ein Verbrecher geworden war. Er selber hielt seinen Pfad rein. So leid es ihm tat, als er die Tat [S. 85] des Freundes erfuhr — seine Liebe hatte alles überwunden. Um des andern willen hatte er ja selbst ein Verbrechen begangen, indem er ihm zur Flucht verhalf. Und er hatte alles geopfert, um dem Freund zu folgen. Auf der Wanderung hatte er ihn gestützt, wenn er müde war, bei ihm gewacht, wenn er schlief, ihn mit seinem Mantel bedeckt, wenn ihn fror.
Aber als er jetzt da so saß und den Freund und den Goldklumpen betrachtete, da entwich das alles, Stück für Stück, seinem Gedächtnis. Er wußte nichts mehr von seiner Liebe. Der, der da schlafend neben ihm lag, kam ihm auf einmal wie ein Fremder vor.... wie ein Fremder, mit dem er das Gold teilen sollte.
Wäre dieser Fremde nicht gewesen, so hätte der ganze Klumpen ihm ganz allein gehört.
„Seht ihr’s?... Seht ihn an!“ rief der Adler. „Das Gold verwüstet seine Seele.“
„Ich glänze,“ sagte der Goldklumpen.
Und immer verwirrter wurden die Gedanken des Mannes, während das Gold leuchtete, wie es noch nie geleuchtet hatte.
Er starrte auf seinen schlafenden Freund; und ein Gefühl des Hasses beschlich ihn. Wenn er auf das Gold sah, erschien ihm die Welt groß, hell und reich. Und wenn er den Freund ansah, dann wurde das Leben schwer und bitter und elend.
„Wie hübsch ich bin!“ sagte das Gold. „Ich liebe es, wenn mein Glanz sich in seinen Augen widerspiegelt.“
„Du bist entsetzlich,“ sagte der Adler.
„An mich denkt niemand,“ murrte der Bleiklumpen.
Da wurde es ganz schwarz vor den Augen des Jüngern.
Er stöhnte leise, griff sich an den Kopf und zitterte. Dann sprang er auf, setzte sich aber sofort wieder. Er tastete mit den Händen auf der Erde herum und bekam den Bleiklumpen zu fassen; schaudernd ließ er ihn wieder los, ergriff ihn von neuem, hob ihn hoch empor und zerschmetterte den Kopf seines schlafenden Freundes damit.
„Seht.... seht!“ schrie der Adler.
Dann erhob sich der Mann, nahm den Goldklumpen auf die Arme und verließ das Tal auf dem Wege, den er gekommen war. Schweren Schrittes ging er dahin, hin und her schwankend wie im Rausche. Das Gold lud er auf die Schulter; und die Sterne schienen darauf, so daß es fortfuhr zu leuchten, während er es forttrug.
Neben dem Toten lag der Bleiklumpen.
„Nun spielst du mit!“ rief der Adler. „So sind die Menschen.“
Aber er bekam keine Antwort; so entsetzt waren alle über das Geschehene.
Die Nacht verrann, und im Osten dämmerte der Tag.
Der Bär fand sich ein und fraß von dem Leichnam, und der Adler desgleichen. Nachher kam auch der Rabe herbei und fand eine Herrenmahlzeit an dem, was die andern übriggelassen hatten.
Der Regen peitschte, und der Sturm schlug das Gestein los, und es zerschmetterte und begrub die Gebeine des Toten. Bald war jede Spur von ihm [S. 87] verwischt, und das Land war böse und öde wie zuvor. Zwischen den Steinen aber lag der Bleiklumpen mit einem großen roten Fleck auf der einen Seite.
Einen Monat später kam ein Trupp Goldgräber in das böse Land. Es waren sieben Mann, die recht wunderlich aussahen. Sechs davon waren große, wilde Burschen mit mächtigen Bärten und einer Flinte auf der Schulter und mit Dolch und Pistole im Gürtel. Der siebente war ein kleiner armseliger Gesell; er war ihr Koch, Diener und Schuhputzer und stets bereit, alles zu tun, wenn er nur einen kleinen Anteil an dem Golde bekam.
Denn des Goldes wegen waren sie gekommen. Sie hatten den ungeheuren Goldklumpen gesehen, der in dem bösen Lande gefunden worden war; und jener Mann, der ihn mitgebracht hatte, verplapperte sich eines Tages in der Trunkenheit, so daß sie die Spur leicht finden konnten: Gleich am Tage ihrer Ankunft begannen sie mit der Arbeit. [S. 88] Sie schlugen ein Zelt auf und zündeten mehrere Feuer an; und dann zerstreuten sie sich im Tale; und ihre Hacken erklangen, während ihre Augen gierig zu Boden starrten.
„Hier!“ rief einer von ihnen.
Da liefen die andern hinzu; und sie sahen, daß da wirklich Gold war. Aber der, der es zuerst entdeckt hatte, wählte sich eine Stelle aus, die sein eigen war. Die andern suchten in einiger Entfernung, und alle fanden Gold.
Schwieg aber einer, während seine Hacke sich eifrig bewegte, so geschah das, weil er mehr gefunden hatte als die andern und Angst hatte, daß sie es ihm wegnehmen möchten.
„Seht ihr’s!.... Seht ihr’s!“ rief der Adler.
Und bald war noch mehr zu sehen. Denn Tag für Tag kamen neue Scharen.
Niemand konnte sagen, wie die Kunde von dem Golde verbreitet worden war; aber sie flog mit Blitzesschnelle über die Welt hin.
Aus allen Teilen der Erde kamen immer mehr und mehr Menschen in einem endlosen Aufzuge herbei. Alte und Junge, Männer und Frauen, Kranke und Gesunde, Reiche und Arme. Einige sprangen über Stock und Steine, und andre schleppten sich auf Krücken herbei. Manche kamen mit Pferd und Wagen, Vorräten und gedungener Mannschaft; andre hatten nichts als ihre Fäuste. Wie groß aber auch der Unterschied war — der Ausdruck ihrer Augen war der gleiche. In ihnen allen flackerte der Hunger nach dem Golde.
Sie hatten die Heimat verlassen und alles, was ihnen lieb war, und waren bereit, die größten [S. 89] Mühen und Gefahren zu überwinden, wenn sie nur Gold fanden. Der eine hatte eine Schuldenlast zurückgelassen und der andre ein einträgliches Geschäft. Der eine hatte alles verkauft, was er besaß, um sich das Reisegeld zu verschaffen; ein andrer hatte seinen Bruder bestohlen, um in das Goldland ziehen zu können.
Durch unwegsames Gebiet waren sie gezogen... durch dichte Wälder, Moore und Steppen, über Meer und Land. Viele blieben vor Erschöpfung und Entbehrung unterwegs liegen und kamen um, weil keine Hand sich regte, um ihnen zu helfen. Jeder der Gesunden fürchtete ja, er könne vielleicht eine Stunde zu spät kommen, und ein andrer könne den Goldklumpen finden, auf den man selber hoffte. So blieben die Kranken und Toten am Wege liegen; und keinem drückte Freundeshand die Augen zu.
Und als die Schar der Goldsucher das böse Land erreichte, da teilten sie es unter sich. Im Tale und auf den Felsen war bald ein Gewimmel wie in einem Ameisenhaufen. Den langen Tag hindurch hackten und gruben und wühlten die Leute mit zusammengebissenen Zähnen und stieren Augen. Unter ihnen waren solche, die an die Arbeit in Feld und Wald gewöhnt waren; sie ermüdeten nicht. Aber auch solche, die nie mit den Händen gearbeitet hatten: Lehrer, Priester und Gelehrte; denen erging es nicht so gut. Sie brachen bei der Arbeit zusammen und mußten dann als die Diener der andern ihr Dasein fristen.
Einige — und das waren die Klügsten — ließen die Goldgräber sich abrackern, soviel sie Lust hatten, und eröffneten selber eine Wirtschaft, [S. 90] eine Spielbank oder einen Laden. Sie meinten, das Gold werde dann schließlich doch zu ihnen kommen, und das tat es auch. Wenn einer Gold fand, so glaubte er, auf sein Glück trinken zu müssen; und oft vertrank er den ganzen Gewinn. Hatte aber einer keinen Erfolg gehabt, so mußte auch er trinken und verbrachte alle Habe, die er aus der Heimat mitgenommen hatte, oder trank auf Borg, solange der Wirt ihm Kredit gab.
Machte jedoch einer einen großen Fund und begann er dann nicht zu schlemmen und zu schwelgen, so hatte er weder Ruh noch Rast, sondern war wie ein gehetztes Tier im Walde.
Denn er kannte ja die andern Goldgräber und wußte, daß nur wenige von ihnen davor zurückschrecken würden, zum Dieb oder Mörder zu werden, bloß um den Goldklumpen zu bekommen. Darum wagte der glückliche Finder nicht einzuschlafen und seinen Schatz einen Moment aus den Augen zu verlieren. Wie ein Verbrecher mußte er des Nachts mit seinem rechtmäßigen Eigentum fortschleichen, um die nächste Stadt zu erreichen und den Klumpen in der Bank gegen gute Goldstücke umzutauschen. Und hinter ihm her schlichen Leute mit Revolvern in der Tasche und mit Mordgedanken im Sinne.... um ihm in einsamer Gegend aufzulauern und ihm das Gold zu entreißen.
Kein Tag verging ohne Revolverschüsse und Todesgeschrei, kein Tag, ohne daß ein Dieb gehängt wurde.
„Seht ihr’s!.... Seht ihr’s!“ rief der Adler. „Es ist gekommen, wie ich prophezeit habe. Überall, wo das rote Gold schimmert, erwächst Unheil [S. 91] und Verbrechen. Wer nichts findet, wird schlecht und mißgünstig. Und wer etwas findet, wagt nicht froh zu sein, aus Furcht, das Gefundene wieder einzubüßen.“
„Ich glänze!.... Ich glänze!“ rief das Gold.
„Wann kommt die Reihe an uns?“ fragte das Eisen. „Wir liegen hier, gewaltig und groß, und niemand schenkt uns Beachtung.“
„Wer wird euch beachten, wenn ich hier bin!“ erwiderte das Gold.
Der Adler sagte nichts, denn eine Kugel pfiff an seinem Kopfe vorbei. Er lüftete die Flügel und schwebte in großen Kreisen hoch über Schußweite empor. Erst als es Abend wurde, wagte er es, zu seiner Felsenspitze zurückzukehren.
Dort saß er und sah melancholisch über das Tal hin.
Als der kurze Sommer vorüber war, wurde es nicht besser. Die, die Glück gehabt hatten, waren fortgezogen, und auch der Gastwirt packte sein Zelt auf den Wagen und fuhr von dannen, reicher als alle andern. Aber viele blieben zurück.
Sie konnten die Hoffnung nicht aufgeben.
Der eine hatte etwas gefunden und meinte, es müsse noch mehr folgen. Der andre hatte nichts gefunden und hoffte dennoch. Ein andrer hatte seinen glücklich eroberten Schatz verpraßt und dann sein Tun bitter bereut und sich gelobt, verständiger zu sein, wenn das Glück ihm noch einmal hold wäre.
So gruben und gruben sie in der gefrorenen Erde, bis der Schnee sie eines Tages überraschte.
Doch noch ließen sie den Mut nicht sinken. Große Feuer flammten allerorten im Tale auf. [S. 92] Aber sie reichten nicht aus, um die Unglücklichen zu erwärmen. Der Schneesturm brauste, — aber sie fanden den Weg nicht mehr, der sie aus dem bösen Lande hinausführte.
Rings starben sie wie Fliegen, und die Leichen blieben unbegraben, während die Überlebenden wie wilde Tiere um einen Bissen Brot oder einen Schluck Branntwein kämpften. Und die wilden Tiere selber kamen und fraßen die Leichen vor den Augen der Lebenden... Wölfe und Füchse, Geier und Bären. Die Sperlinge kamen, wie sie immer dahin kommen, wo Menschen sind, sahen sich aber bitter enttäuscht. Denn sie fanden keine freundlichen Gärten vor, in denen sie Obst hätten stehlen können... keine Getreidefelder... keine Hausfrau, die der Vöglein gedachte, wenn sie mit den Ihren warm und wohlgeborgen im Hause saß.
Und wieder wurde es Sommer, und neue Scharen trafen ein aus allen Teilen der Welt.
Dieselbe Geschichte begann von neuem, nur grauenhafter und schrecklicher war alles. Denn jetzt war nicht mehr so viel Gold vorhanden; und das, was da war, war so in die Felsen eingekeilt und so gut verborgen, daß es ungeheure Mühe kostete, es zutage zu fördern.
Die Folge davon war, daß die Goldgräber noch mehr Enttäuschungen und Kummer erlebten als im vorigen Jahre. Viele gaben sich selbst den Tod und verwünschten sterbend diejenigen, die ihnen das böse Land als einen so glücklichen Ort geschildert hatten, wo sie sich nur zu bücken brauchten, um reich zu werden.
Als der Winter kam, lag das Land voller [S. 93] Leichen. Ein Einsamer schleppte sich mühsam über die Berge fort und kehrte in die Heimat zurück, wo er erzählte, daß kein Gold mehr zu finden sei.
Der Adler aber saß hoch auf seiner Felsenspitze und überschaute das ganze.
„Wo bleiben die Menschen?“ fragte das Eisen, als der Sommer wiederkehrte und das Land öde und leer war wie früher, bevor das Gold entdeckt wurde. „Adler in hoher Luft.... siehst du sie?“
„Gewiß!“ erwiderte der Adler. „Die, deren Leichen nicht hier im Tale verfault sind, wohnen in Ländern, wo es sich besser sein läßt als hier. Die, die durch das gefundene Gold reich geworden sind, haben sich in den schönsten Gegenden der Erde niedergelassen. Die, die arm geworden sind, schlagen sich durch, so gut es geht. Weit, weit von hier hab’ ich neulich auf meinem Fluge ein Land gesehen, wo man auch Gold gefunden hat. Dahin geht jetzt der Strom.... dort herrscht jetzt jenes grauenhafte Treiben, das ihr bei uns kennengelernt habt.“
Das böse Land sah aus, als wäre es von einem Erdbeben verwüstet. Die Erde war aufgerissen, die Felsen waren zerschmettert, Werkzeug und menschliche Gebeine lagen überall zerstreut, die Hütten waren eingesunken. Es konnte keinen häßlicheren Anblick geben als diese Ruinen der Goldgräberstadt. Das Moos, das auf den Steinen wuchs, und das armselige Gras, das sich wieder hervorwagte, jetzt, wo kein Fuß es niedertrat, die [S. 94] spärlichen Blumen und die Schmetterlinge, die einen Tag lang umherflogen und dann starben — sie alle sprachen davon, eine wie böse Zeit es gewesen.
„Ja.... das Land ist nicht wiederzuerkennen!“ schalt der Adler.
Und das Blei, das Eisen, das Kupfer und das Silber, die rings wirr umherlagen, seufzten und gaben dem Adler recht. Bei der wilden Jagd nach dem Golde waren sie hervorgewühlt und ausgegraben worden. Sie sehnten sich nach jener Welt, in die das Gold gewandert war, und wußten ihrer Sehnsucht keinen Rat.
„Wann kommt unsre Zeit?“ fragte das Blei.
„Was weiß ich davon?“ erwiderte der Adler. „Aber sie kommt einmal. Die Vernunft siegt immer erst zuletzt.“
„Ich sehne mich so sehr!“ rief das Blei.
„Du hast doch jetzt einen Vorgeschmack von den Menschen bekommen,“ sagte der Adler. „Mit dir hat jener erste Mann seinen Freund erschlagen, um den großen Goldklumpen für sich allein zu haben.“
„Ich sehne mich,“ rief auch das Eisen.
„Und was du gesehen hast, erschreckt dich nicht?“ fragte der Adler.
„Nicht im geringsten. Ich bin nicht wie das Gold. Ich mache die Menschen nicht verrückt, sondern ich mache sie stark. Ich bin selber stark und gar nicht eitel auf meinen Glanz; ich möchte nur Nutzen stiften. Als die Menschen hier waren, habe ich ja selber gesehen, was ich für sie bedeute. Überall war ich... in dem Spaten, mit dem sie nach dem Golde gruben, in der Büchse, in dem Topf, in dem sie ihr Essen kochten, in dem Messer, [S. 95] mit dem sie ihr Brot schnitten... ja selbst in ihren Stiefelsohlen, mit denen sie auf dem Felsen umhertraten. Ich bin gut, ich stifte Nutzen, ich darf mich in die Welt hinaus wünschen.“
„Das darfst du,“ sagte der Adler, „und du kommst auch hinaus. Das Gold wird dich holen. Für Gold bauen sie Bergwerke, um dich aus dem Felsen zu gewinnen, für Gold legen sie Eisenbahnen an, um dich dorthin zu fahren, wo du gebraucht werden sollst. Für Gold gewinnen die Menschen Eisen wie alles andere in der Welt. Warte nur... deine Zeit wird schon kommen. Als sie hier waren, da waren sie blind vor Goldhunger. Wenn sie einmal wiederkommen und mit ruhigen Augen dreinsehen, dann werden sie begreifen, daß auch du Reichtum für sie bedeutest, obschon du nicht leicht zu erringen bist.“
Dann schwiegen sie beide, und alles war still im Lande, Tag auf Tag, wie früher. Der Adler flog seinen Weg oder saß auf seiner Felsenspitze, die Gebeine im Tale verfaulten, und die Metalle brüteten über ihren Zukunftsträumen. Ein kurzer Sommer folgte auf den langen Winter, und ein Jahr löste das andere ab.
„Da kommt wahrhaftig ein Mensch!“ rief eines Tages der Adler.
„Er kommt, um mich zu holen!“ schrie das Eisen vergnügt.
„Und mich! Und mich! Und mich!“ riefen das Silber, das Blei und das Kupfer.
„Er sieht nicht danach aus, als ob er irgend etwas holen wollte,“ meinte der Adler. „Es ist ein [S. 96] uralter Mann... nur mühsam kommt er vorwärts, Schritt für Schritt... und er stützt sich auf einen Stock... er kann ja kaum die Beine vorwärtsbewegen.“
Und so war es wirklich.
Haupt- und Barthaar des Mannes waren weiß. Seine Augen waren tief eingesunken, und der Blick schweifte unstet umher. Sein Mund war müde und betrübt, seine Beine zitterten.
„Mich dünkt, ich habe diesen Mann schon einmal gesehen!“ sagte der Adler.
Langsam schritt der Mann im Tale vorwärts; schwer stützte er sich auf seinen Stock. Es sah aus, als suchte er etwas; denn er sah sich zwischen den Felsen um, berührte mit seinem Stock die Steine, blieb stehen und dachte nach.
„Hier muß es gewesen sein,“ sagte er vor sich hin. „Ich kenne ja die Stelle so gut... wachend und träumend hab’ ich sie vor mir gesehen.“
Nun setzte er sich auf einen Felsblock und sank ganz in sich zusammen. Der Adler reckte den Hals vor, starrte und lauschte. Und auch der Bach lauschte und das Metall im Felsen.
„Sieh! Sieh! Da ist ja der Bleiklumpen! Er ist noch immer rot von seinem Blute!“ sagte der Mann.
Da erkannte ihn der Adler, und er rief: „Es ist der jüngere von jenen beiden, die als die ersten Menschen unser Land betraten.“
Und nun wußten auf einmal alle im Lande, daß dieser alte Mann derjenige war, der vor vielen Jahren seinen Freund erschlagen hatte, um den großen Goldklumpen allein für sich zu behalten.
Aber der Mann erhob sich und starrte den Bleiklumpen mit verzerrtem Gesicht an.
„Keine ruhige Stunde habe ich seit jener furchtbaren Nacht gehabt,“ murmelte er. „Wachend und träumend habe ich mein Opfer vor mir gesehen. Das Gold hat mich nicht froh gemacht... das Essen hat mir nicht gemundet... kein Mensch hat mich zu trösten vermocht. Weder Arbeit noch Genuß haben mich das Geschehene vergessen lassen.“
Mit zitternder Hand streckte er seinen Stock vor und berührte den Bleiklumpen.
„Mit dem da hab’ ich’s vollbracht. Ich muß von Sinnen gewesen sein... das grauenhafte Gold hat in der einen Nacht einen andern, entsetzlichen Menschen aus mir gemacht. Im Augenblick war geschehen, was nie wieder gutzumachen war.“
Nun warf der Mann seinen Stock fort und suchte in seinen Taschen. Er nahm ein paar Goldstücke hervor und warf sie auf die Erde. Es waren fünf Dukaten, und jetzt leuchteten sie zwischen den Steinen.
„Ich habe alles mit mir genommen, was von meinem Reichtum übriggeblieben ist. Das andre habe ich verpraßt und verschenkt. Diese Goldstücke hier werfe ich wieder in das böse Land, aus dem sie gekommen sind... Verfluchtes Gold! Verfluchtes Gold!“
Dann warf er sich vornüber gegen den Bleiklumpen und zerschmetterte sein Haupt. Das Echo seines Schreies aber hallte durch das öde Tal hin:
„Verfluchtes Gold!.... Verfluchtes Gold!“
„Habt ihr’s gesehen? Habt ihr’s gehört?“ rief der Adler.
Die Sonne schien wieder auf das böse Land.
Eisen, Blei und Kupfer brüteten träumend vor sich hin, das Silber leuchtete matt und betrübt. Auf der Felsenspitze saß der Adler und blickte in die Welt hinaus. Das Moos grünte, der Bach war blau, und die Blumen waren so schön, wie sie es in ihrer Armseligkeit nur sein konnten. Der Fuchs schlich im Tale umher, ohne Nahrung zu finden. Die Gebeine der Goldgräber waren zerfallen und durch herabgefallene Felsstücke zerschmettert worden. Und den letzten Toten — den Jüngeren, der so alt geworden war — hatte der Fuchs selber mit verspeisen helfen.
Mitten in dem Tale lagen die fünf Dukaten.
Sie waren mit Erde bedeckt gewesen, aber der Regen hatte sie wieder reingewaschen. Nun glänzten sie und warfen die Sonnenstrahlen zurück, so daß man es fast nicht ertragen konnte, sie anzusehen.
„Ja — nun seid ihr also wieder hier!“ rief der Adler. „Geprägt und gestempelt seid ihr, und doch hat das alles jetzt gar keinen Zweck mehr. Ihr seid wieder den andern Metallen gleich — liegt in der Erde und wartet und sehnt euch. Aber ihr sehnt euch mehr als die andern. Denn ihr habt euch draußen in der Welt umgesehen und habt Geschmack bekommen an Gutem und Bösem.“
„Wir wollen wieder in die Welt hinaus!... Wir wollen fort!.... Wir wollen nach Hause!“ schrien die fünf Dukaten wirr durcheinander.
„Pah!“ erwiderte der Adler. „Von hier holt [S. 99] euch niemand fort. Ihr seid fertig, Kinderchen! Mit euch ist’s aus!“
„Erzählt uns ein wenig von der Welt, in der ihr wart!“ sagte das Eisen.
„Erzählt uns von den Menschen!“ bat das Blei.
„Glaubt ihr nicht, daß sie auch uns holen kommen?“ fragte das Kupfer.
„Ach, warum haben sie nicht an mich gedacht?“ rief das Silber. — „Bin ich nicht auch schön?“
„Die Menschen sind böse... die Menschen sind gut... Schweigt still und laßt mich erzählen! Ich habe mehr erlebt als du.“
Die fünf Dukaten schrien durcheinander.
„Hört nicht auf sie!“ mahnte der Adler. „Sie können euch nichts erzählen, was ihr nicht schon von mir wißt. Ich fliege hoch über der Welt und sehe alles.... nichts entgeht meinem Blick.“
„Teufel auch!“ rief der erste Dukaten. „Was kannst du denn aus der Luft sehen? Du kannst ja den Menschen nie nahekommen... du hast Angst vor ihnen!“
„Bist du etwa in ihrer Tasche gewesen?“ fragte der zweite Dukaten. „Hast du ihr Herz klopfen hören?“
„Hast du ihre Augen um deinetwillen strahlen sehen?“ fiel der dritte Dukaten ein. „Hast du sie toll gemacht vor Glückseligkeit?“
„Bist du je schuld daran gewesen, daß sie bis zum Tode verzweifelt waren?“ fragte der vierte Dukaten. „Haben sie je deinetwegen schlaflose Nächte gehabt?“
„Bist du etwa bei ihnen in ihrem stillen Kämmerlein gewesen?“ rief der fünfte Dukaten. „Hat [S. 100] ihre Hand dich gestreichelt, hat ihr Mund dich geküßt? — Nichts weißt du von den Menschen!“
„Erzählt!“ bat das Eisen flehentlich. „Erzählt doch alle, was ihr wißt... einer nach dem andern. Wir können nie genug hören... Wir sehnen uns so... Fangt an!“
„Ich mag das nicht mit anhören,“ rief der Adler.
Er lüftete die Flügel, blieb aber dennoch sitzen.
Und nun ergriff der erste Dukaten das Wort und erzählte:
„Ich bin einmal bei einem Gastwirt gewesen —“
„Nein, nein!“ rief das Eisen dazwischen. „Du sollst hübsch ordentlich mit dem Anfang beginnen, wir wollen uns nicht das geringste entgehen lassen. Du bist doch wohl mal ein Klumpen gewesen, hast mit im Berge gelegen?“
„Allerdings,“ gab der Dukaten zur Antwort. „Das ist aber schon sehr, sehr lange her. Mir ist seitdem so fürchterlich viel passiert, daß meine Kindheit mir fast aus dem Gedächtnis entschwunden ist. Ja... wart einmal... jetzt entsinne ich mich. Ich lag im Klumpen an einer wilden, öden Stelle. Ungefähr wie hier sah es aus. Je mehr ich mich umschaue, desto mehr scheint mir meine Heimat diesem Tale hier zu gleichen. Auch dort saß ein Adler auf der Felsenspitze... und es gab dort gleichfalls Silber und Blei und Eisen und Kupfer; nur lag es nicht so offen, der Boden war nicht so aufgewühlt wie hier.“
„Früher war’s hier auch anders!“ sagte der Adler. „Aber erzähle nur weiter!“
„Jetzt erinnere ich mich... neben dem Goldklumpen, der mich enthielt, lag ein Bleiklumpen. Und dann kamen zwei Männer, die fanden mich... ein alter und ein junger. Und der junge erschlug mit dem Bleiklumpen den alten... und trug mich und den ganzen Goldklumpen, in dem ich war, fort. Jetzt weiß ich wieder alles ganz deutlich... er hatte große Angst und lief und versteckte sich vor jedem Laut in der Luft.“
„Wir haben ihn gesehen!“ sagte der Adler.
„Wir haben ihn gesehen!“ fielen auch die andern ein.
„Du bist hier aus dieser Gegend!“ erklärte der Adler. „Du warst in dem ersten Goldklumpen enthalten, der von hier weggetragen wurde.“
„Herrgott!“ rief der erste Dukaten. „Dann sag’ ich auch allen guten Tag! Seid mir nicht böse, weil ich euch nicht wiedererkannt habe. Aber ihr wißt ja: wenn man so lange draußen in der weiten Welt gelebt hat....“
„Dann wird man ein feiner, großer Herr,“ fiel der Adler ein. „Das kennen wir. Aber weißt du auch, daß der Mann, der dich hierher getragen und dich und deine vier Geschwister von sich geworfen hat, derselbe war, der damals seinen Freund erschlug und den Goldklumpen aus diesem Lande mit sich nahm?“
„Nein, wirklich!“ rief der Dukaten. „Die Sache wird ja immer merkwürdiger. Ich hab’ ihn gar nicht erkannt.... die Menschen gleichen sich alle, und ich bin in so vielen Händen gewesen.“
„Allerdings!“ bestätigte der Adler.
Doch das Eisen bat: „Erzähle! Erzähle!“ Und [S. 102] das Blei und das Kupfer und das Silber stimmten mit ein.
„In der Stadt brachte der Mann den Klumpen auf die Bank,“ fuhr nun der Dukaten in seiner Erzählung fort. „Da bekam er viel, viel Geld dafür ... es wurde auf dem Tische aufgezählt: Papiergeld, Gold und Silber. Die Leute sagten, ein so großer Klumpen sei überhaupt noch nie gefunden worden.“
„Sie hatten recht,“ unterbrach ihn der Adler. „Ich habe viel gesehen, aber noch nie einen solchen Klumpen Gold. Er hat allerdings gleich, als er gefunden wurde, ein Menschenleben gekostet!“
„Laß doch den Dukaten erzählen!“ rief das Eisen ungeduldig dazwischen.
„Dann kam der Klumpen in die Münze,“ fuhr der Dukaten fort. „Ein gehöriger Haufe Goldstücke wurde aus uns... lauter funkelnagelneue Dukaten mit dem Bilde des Königs. Wir wurden in Rollen zu zehn und zehn gelegt und sorgfältig eingepackt. Dann wurden wir zur Bank getragen ... das heißt ich wurde von dem Mann, der mich trug, gestohlen. Er nahm mich, weil ich zu oberst lag... ich glaube, er nahm ein Goldstück von jeder Rolle.“
„Seht ihr!“ sagte der Adler. „Es kommt, wie ich prophezeit habe. Aus dem Golde entsteht nichts als Unglück und Verbrechen.“
„Am Abend hat er mich im Wirtshaus verspielt,“ erzählte der Dukaten weiter. „Gerade als er mich verloren hatte, kam die Polizei und verhaftete ihn wegen seines Diebstahls. Der, der mich gewann, spielte mit einer falschen Karte. Als die andern [S. 103] den Betrug entdeckten, entstand eine große Schlägerei. Schließlich einigte man sich dahin, mich in Branntwein umzusetzen. So gelangte ich in die Schublade des Wirtes. Gegen Morgen kam wieder ein Dieb und stahl mich.“
„Grauenhaft!“ warf das Eisen ein.
„Hab’ ich es nicht prophezeit?“ rief der Adler. „Und ich bin überzeugt, das ist noch nicht alles.“
„Gewiß nicht,“ fuhr der Dukaten fort. „Denn drei Tage darauf wurde der Dieb ergriffen. Und niemand meldete sich als mein Eigentümer... Der Wirt hatte wohl selber so viel auf dem Gewissen, daß er nichts mit der Polizei zu tun haben, sondern lieber seinen Verlust schweigend ertragen wollte. So wurde ich konfisziert und kam zusammen mit vielen andern Kameraden in die Kasse eines Armenhauses.“
„Nun kommt Ordnung in die Dinge,“ sagte das Eisen.
„Wart es ab,“ meinte der Adler.
Und der Dukaten erzählte weiter: „Der Rechnungsführer des Armenhauses stahl mich wieder und steckte mich in seine eigne Tasche. Aber da blieb ich nicht lange, denn er war arm und hatte viele Kinder und viele Rechnungen zu bezahlen. Darum weiß ich nicht, was später aus ihm geworden ist.“
„Aber was ist denn aus dir geworden?“ fragte das Eisen.
„Ich ging von Hand zu Hand. Etwas besonders Merkwürdiges ist mir dann nicht mehr widerfahren, bis ich hierher gelangte und auf die Erde geworfen wurde. Aber daß ich wirklich wieder in das Land meiner Kindheit zurückgekommen bin, das [S. 104] ist ja beinah das Merkwürdigste von allem! Und damit endigt dann auch wohl meine Geschichte. Denn von hier wird mich wohl niemand holen.“
„Sei froh, daß du Frieden gefunden hast,“ meinte der Adler. „Du hast dich genug in der Welt herumgetrieben.“
„Findest du? Ich kann dir versichern, daß ich sehr gerne wieder hinaus möchte. Ich bin rund und will rollen. Es ist so amüsant, etwas zu erleben, von Hand zu Hand zu gehen. Und es kümmert mich ja nicht, was die Menschen mit mir machen.“
„Dein Gewissen ist zusammen mit deinen Kanten abgeschliffen worden,“ sagte der Adler.
„Unsinn!“ rief das Goldstück. „Davon verstehst du nichts, du alter Adler. Aber sei doch so gut und nimm mich in deinen Schnabel und trag’ mich in die Welt hinaus! Dann kannst du mich irgendwo fallen lassen, wo Menschen sind... am liebsten mitten in eine Stadt... auf den Markt... Dann bin ich wieder im Leben drin.“
Doch der Adler gab ihm zur Antwort: „Bleib du, wo du bist; und laß sehen, ob Regen, Schnee und Eis nicht dein Gepräge verschleißen können, damit du wieder gut und unschuldig wirst, wie du es früher warst.“
„Meine Sehnsucht können sie mir nicht verschleißen,“ sagte der Dukaten.
Und das Eisen und das Blei und das Silber und das Kupfer seufzten und empfanden, wie wahr das sei.
„Der nächste Dukaten soll erzählen!“ sagte das Eisen.
„Wart’ bis morgen, dann bin ich tot,“ rief der Schmetterling, der zwischen den spärlichen Blumen umherflog. „Ich ertrag’ es nicht, noch mehr zu hören von diesen greulichen, garstigen Dingen.“
„Ihr solltet einfach gar nicht zuhören!“ sagte der Adler. „Ich habe euch ja schon erzählt, wie die Sache sich verhält... Was wollt ihr mit all den Einzelheiten? Die Menschen sind sich in der ganzen Welt gleich, darauf könnt ihr euch verlassen! Sind sie gut, so macht das Gold sie schlecht. Sind sie schlecht, so macht es sie nur noch schlechter. Ihr hättet euch damit begnügen können, was ich euch gesagt habe und was ihr selbst in der Nacht, als der erste Goldklumpen gefunden wurde, gesehen habt. Und froh solltet ihr sein, daß wir wieder unter uns sind, und solltet bitten, daß der Regen und der Sturm und der Winter das Unglück wieder gutmachen möchten, das die Menschen in der Zeit, als sie in unserem Tale hausten, angerichtet haben!“
„Wie du schwatzest!“ rief das Blei. „Bist du denn eigentlich so viel besser als die Menschen? Ich finde, du bist ein Räuber wie sie, wenn auch auf andre Art. Und was haben wir von den Menschen zu fürchten? Du hast allerdings allen Grund, Angst zu haben, trotz deines hohen Standorts und deiner breiten Flügel — aber wir ? Laß uns in Ruhe und kümmre dich um deine Jagd und deine Fahrt durch die Luft!“
„Hat man je so etwas gehört?“ sagte der Adler. „So ein Klumpen toten Metalls will mitreden und den Adler zurechtweisen. Was ist das Blei, und was bin ich? Ich will nicht länger bei euch sein. Erzählt euch, soviel ihr Lust habt. Ich kann eure Geschichten auswendig und mag sie nicht mehr hören.“
Damit breitete er seine gewaltigen Schwingen aus und stieg empor. Aber als kurz darauf der zweite Dukaten zu erzählen anfing, saß er dennoch wieder auf seiner Felsenspitze und hörte mit den andern zu.
„Ich kann nicht so amüsant erzählen wie mein Gefährte,“ begann der zweite Dukaten. „Denn ich habe nicht so viel bunte Dinge erlebt, obwohl das meiste traurig genug ist. Eigentlich habe ich ein recht trübes Dasein geführt, denn ich habe fast die ganze Zeit über in einer Truhe gelegen.“
„Höchst sonderbar,“ warf das Eisen ein. „Ich dachte, Dukaten müßten rollen. Was für Freude kann es einem bereiten, sie daliegen zu haben, wenn man sie nicht in Gebrauch nimmt?“
„Dahinter steckt irgend etwas,“ sagte der Adler. „Glaubt mir, es wird alles an den Tag kommen.“
„Na, bist du wieder da, alter Adler?“ rief der Bleiklumpen und lachte. „Aber laß uns hören, was uns der Dukaten zu erzählen hat!“
„Ich bin weder gestohlen noch geraubt noch durch falsches Spiel gewonnen worden. Geradeswegs bin ich von Hand zu Hand gegangen in Handel und Wandel, bis ich bei einem landete, der mich behielt. Ich wurde einem Handwerker ausbezahlt als Lohn für seine Arbeit. Aber nur einen einzigen Tag lang lag ich in seiner Schublade. Dann nahm [S. 107] er mich heraus, betrachtete mich lange und seufzte tief. Seine Frau stand weinend daneben, und sieben Kinder mit hungrigen Mündern waren um sie herum. Aber es half nichts. Er mußte mich forttragen zu einem alten Wucherer, der ihm Geld geliehen hatte. Die Möbel des Mannes bildeten die Bürgschaft; und wenn er nicht zahlte, so nahm der Wucherer die Möbel. Es war der letzte Termin, — und doch konnte ich die Schuld noch nicht ganz decken. Und der Mann mußte den Wucherer anbetteln, ihm zur Bezahlung des kleinen Restes, der noch übrig blieb, Aufschub zu geben. Der wurde ihm gewährt, wogegen er blutige Zinsen versprach. Die Geschichte endigte damit, daß der unglückliche Mann nicht zahlen konnte, alles verlor, was er besaß, und sich aus Kummer darüber, daß er den Seinen kein Brot schaffen konnte, erhängte. Ich hörte es ihn zu dem Wucherer sagen, daß er’s tun wollte, als er das letztemal bei ihm war. Und am nächsten Tage las der Wucherer es in der Zeitung, ohne eine Miene zu verziehen.“
„Schrecklich!“ Der Adler sagte es. „Und das nennst du nicht ein ebenso grauenhaftes Schicksal wie das deines Kollegen?“
„Ach was — Schicksal! Ein Dukaten hat kein Schicksal. Ich war ja nur ganz kurze Zeit bei dem Handwerker. Möchte man über alles gleich heulen, so würde man sich aufreiben. Aber es ist allerdings mein einziges großes Erlebnis, da ich von da an viele Jahre hindurch in der Geldtruhe des Wucherers liegen blieb. Trotzdem hab’ ich ja mancherlei vom Leben gesehen.“
„Erzähle!“ sagte das Eisen.
„Erzähl’! Erzähl’!“ riefen auch das Blei und das Kupfer und das Silber.
„Ja... seht ihr... jeden Abend und im übrigen auch sonst oft am Tage schloß er die Truhe auf .... sobald er allein war, versteht ihr, und sicher war, daß niemand ihn belauern konnte. Dann nahm er uns alle heraus und breitete uns auf seinem Tische aus. Viele, viele Dukaten waren es, und Scheine und Papiere, die ebensoviel wert waren wie rotes Gold.“
„Was?“ unterbrach das Blei den Dukaten. „Kann Papier ebensoviel wert sein wie Gold?“
„Und ob!“ erklärte der Adler. „Das wollt’ ich meinen. Ein kleines viereckiges Stück Papier kann ebensoviel wert sein wie tausend Dukaten. Man geht einfach zur Bank damit, und die tausend Dukaten werden einem sofort ausbezahlt. Das haben sich die Menschen so ausgedacht, damit sie nicht immer so viele schwere Goldstücke mit sich herumzuschleppen brauchen. Und wie behutsam gehen sie mit den Scheinen um! Gott gnade dem, der sie nachzumachen versucht. Er wird streng bestraft.“
„Erzähle weiter, Dukaten!“ sagte das Eisen. „Kann denn niemand dem Adler den Mund verbieten? Er muß fortwährend seinen Senf dazu geben, obwohl niemand ihn nach seiner Meinung fragt.“
Und der Dukaten fuhr fort: „Es war ja ganz nett, so auf dem Tisch liegen und sich ein wenig umsehen zu können. In guter Gesellschaft waren wir ja; denn was der Adler von dem Papiergeld erzählt, das ist ganz richtig. Es lag in Bündeln zusammengebunden, und wir Dukaten lagen ordentlich abgezählt in Rollen. Aber denkt euch: immer wieder [S. 109] löste der Wucherer uns auf und zählte uns nach. Es war ganz unglaublich, wie oft er es tat. Er hatte nämlich Angst, es könne einer von uns abhanden gekommen oder gestohlen worden sein. Und dann machte es ihm auch Spaß, sich davon zu überzeugen, wie viele wir waren. Ihr hättet bloß sehen sollen, wie seine Augen vor Freude strahlten, wenn er uns ansah. Und seine Hände zitterten, wenn er uns anrührte; sein ganzer Körper bebte wie im Fieber.“
„Hat er nie einen von euch ausgegeben?“ fragte das Silber.
„Nie,“ erwiderte der Dukaten. „Es kamen nur immer neue hinzu; aber kein einziger von uns gelangte wieder in die Welt hinaus, wenn wir erst einmal in seiner Truhe gelandet waren. Mochte es draußen noch so kalt sein, nie hatte er ein Scheit Brennholz im Ofen. Seine Kleider waren zerlumpt und fettig, seine Stiefel durchlöchert, sein Hemd schmutzig. Haar und Bart blieben ungeschoren und ungekämmt. Er gönnte sich kaum mehr als trocknes Brot und Wasser. Im tollsten Schneesturm ging er in seinem verschlissenen Rock bis ans andre Ende der Stadt, um einen Schilling zu verdienen.“
„Welche Freude hatte er denn nun von all seinem Gold?“ fragte das Eisen.
„Ja, sag’ es mir, wenn du kannst,“ entgegnete der Dukaten. „Ich weiß es nicht. Aber noch nie hab’ ich einen froheren Menschen als den alten Geizhals und Wucherer gesehn. Ich habe viele Menschen gesehn, die verzweifelt und unglücklich waren vor Hunger, Krankheit, Liebeskummer oder aus andern Gründen. Aber dieser alte Mann wußte nichts von [S. 110] Hunger; er hatte niemanden lieb, und er hatte keine Wünsche und keine Sehnsucht. Wenn er nur über seinem Golde saß, dann war alles gut.“
„Geschah ihm nie etwas?“ sagte der Adler. „Er starb wohl schließlich, da du ja doch von ihm fortkamst?“
„Ich erinnere mich, als ob es heute wäre, an etwas, was er erlebte,“ antwortete der Dukaten. „Allen andern Menschen wäre es nahe gegangen, aber er machte sich nichts daraus. Er schloß sich einfach ein, nahm seine lieben Dukaten vor und war gleich wieder froh wie immer.“
„Erzähle!“ sagte das Eisen.
„Seine Tochter kam häufig zu ihm — einmal wöchentlich wohl.“
„Also er hatte eine Tochter!“ rief der Adler. „Dann muß er doch einmal Mensch gewesen sein.“
„Davon weiß ich nichts. Das war vor meiner Zeit. Aber, wie gesagt, die Tochter besuchte ihn; und dann zankten sie sich, daß es grauenhaft anzuhören war. Manchmal schrien sie beide, manchmal war nur der eine von ihnen heftig, während der andere stöhnte und jammerte.“
„Hast du das mitangesehen?“ fragte der Adler.
„Das hab’ ich schön bleiben lassen. Ich habe niemanden gesehn, denn niemand durfte mich ja sehn. Sobald das geringste Geräusch auf der Treppe ertönte, wurden wir verwahrt, der Deckel wurde zugeschlagen und der Schlüssel aus dem schloß gezogen. Aber ich hörte sie alle, hörte sie klagen und um Aufschub bitten; und ich hörte auch drohen und schelten; aber das half alles nichts. Und ich vernahm die dünne, scharfe Stimme meines Herrn [S. 111] — ich hörte ihr immer gleich an, was der, mit dem er sprach, zu erwarten hatte.“
„Ich denke, du wolltest von der Tochter erzählen,“ sagte das Eisen.
„Ganz recht. Sie hatte sich gegen den Willen ihres Vaters mit einem armen Manne verheiratet. Er war im Elend gestorben, und nun war sie Witwe und hatte einen kleinen Sohn zu ernähren. Sie selber war auch nicht gesund — ich hörte sie oft hohl und heftig husten. Arbeiten konnte sie nicht recht, und so kam sie also zum Vater. Aber da kam sie an den rechten. Wenn sie bettelte und bat, schalt er sie in den ärgsten Worten, weil sie einen solchen Bettlerprinzen geheiratet habe; nun müsse sie selber sehen, wie sie fertig werde. Sie könne jeden Sonnabend kommen und die Zimmer fegen und wischen, wenn sie Lust habe, und zwar für denselben Lohn wie die Frau, die jetzt die Arbeit besorge, obwohl sie’s ja eigentlich für die Hälfte tun müsse, da er ihr Vater sei und sie ihm ihr Leben verdanke. Aber von dem Jungen wolle er nichts wissen. Vergebens bat sie, ob er ihn denn nicht wenigstens sehen wolle; und einmal brachte sie ihr Söhnchen auch mit, aber da wurde ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen. Und sobald sie fort waren, schloß der Alte seine Truhe auf und nahm uns hervor. Seine Greisenaugen glänzten vor Gier; und niemand hätte ihm angesehen, was soeben geschehen war.“
„Ist das nicht grauenhaft?“ rief der Adler. „Hab’ ich es nicht gesagt? Überall, wo das Gold ist, entsteht Sünde und Verbrechen.“
„Weiter, weiter!“ rief das Eisen.
„Zuweilen war es auch anders,“ fuhr der Dukaten fort. „Dann war sie ganz verzweifelt und drohte und schalt so sehr, daß der Alte Angst bekam oder sich wenigstens den Anschein gab, als fürchte er sich. Dann wurde seine Stimme ganz wehleidig, er schwur einen heiligen Eid, daß er ein armer alter Mann sei, der kaum trocknes Brot zu essen habe, und forderte sie auf, für ihn zu sorgen, sie, die jung und stark sei. Mochte es sich nun aber so oder so abspielen, das Resultat war immer das gleiche, daß sie nämlich nichts bekam. Und wenn sie dann schließlich fortging, nachdem sie mit der Faust auf den Tisch geschlagen und ihn verflucht hatte, dann war er außer sich vor Freude darüber, daß er sie genarrt hatte. Er sprang im Zimmer umher, lachte wie toll und schlug sich auf die Schenkel; und wenn er uns dann aus der Truhe nahm und uns klirren und leuchten ließ, so wollte seine Lustigkeit gar kein Ende nehmen.“
„Was ist denn schließlich aus ihm geworden?“ fragte der Adler.
„Mit der Zeit wurde er älter und älter. Seine Tochter starb, und ihr Sohn wuchs zu einem bösen Jungen heran. Von Zeit zu Zeit fand er sich auch bei dem Großvater ein und sprang nicht schlecht mit ihm um. Aber er bekam nicht mehr von ihm heraus als die Mutter. Der alte Geizhals schwur, ihn enterben zu wollen; aber der junge Bursche erklärte, er werde einst doch noch in den Besitz des Geldes gelangen; und dann werde er schon dafür sorgen, daß es unter die Leute käme. Schließlich wagte der Alte es gar nicht mehr, ihn hereinzulassen, seitdem er eines Tages bemerkt hatte, wie [S. 113] der Bursche der großen Truhe einen verdächtigen Blick zuwarf. Er hatte wohl Angst, ermordet oder beraubt zu werden; und dem jungen Mann war eine solche Tat ja gewiß zuzutrauen. Der Wucherer hielt denn auch oft Selbstgespräche, er wolle ein Testament aufsetzen und all sein Geld einer Stiftung vermachen, damit nur der Enkel es nicht bekäme. Aber er konnte sich dennoch nicht entschließen und dachte auch immer, es eile wohl nicht; so gesund, wie er sei, könne er noch viele Jahre leben.“
„Starb er denn?“ fragte der Adler.
„Gewiß. Die Menschen sterben alle. Aber ihn überkam der Tod auf seltsame Art; er hätte sich kein glücklicheres Ende wünschen können. Denn als er gerade eines Abends in uns wühlte, uns gegen den Tisch klirren ließ, um sich an unserm guten Klange zu erfreuen, uns gegen das Licht hielt, damit wir ordentlich funkelten, uns zählte und in Häufchen aufstellte und vor Freude wie ein Kind lachte — gerade in dem Augenblick sank sein Kopf auf den Tisch, und er war sofort tot.“
„Grauenhaft!“ rief der Adler. „Er war ein schlechter Mensch!“
„Schon möglich,“ sagte der Dukaten. „Ich halte keine Moralpredigt. Ich weiß nur, daß ich und meine Kameraden ihm Freude bereitet haben. Hätte er seiner Tochter nur ein paar von uns gegeben, so hätte er auch sie froh gemacht. Also Kummer brachten wir nur denen, die uns nicht hatten.“
„Wie grauenhaft du sprichst!“ sagte der Adler. „Wieviel Unglück hat der alte Wucherer über andre Menschen gebracht, bloß um seine Goldstücke einzusammeln!“
„Erzähle weiter!“ rief das Eisen dem Dukaten zu.
„Bei seinem Tode,“ fuhr dieser fort, „war kein Testament vorhanden, darum erbte der Enkel die ganze Herrlichkeit. Er äußerte nicht den geringsten Kummer über den Tod des Großvaters; und das tat auch sonst niemand, denn alle haßten den alten Geizhals. Er wurde auf dem Armenkirchhof begraben. Das passe am besten zu seiner ganzen Lebensweise, meinte der Enkel, und dann könne er sich im Grabe wenigstens nicht über unnütze Geldausgaben ärgern. Und nun kamen wir wirklich unter die Leute. Es begann ein Leben in Saus und Braus, so daß man in der ganzen Stadt darüber sprach. Ich meinerseits wurde an einen Weinhändler ausgegeben, der mich auf die Bank brachte. Dann kam ich zu einem Schneider und ging nun von Hand zu Hand, ohne etwas Besonderes zu erleben. Jetzt bin ich hier. Und wie soll ich von hier wegkommen? Denn hier ist es noch weniger amüsant als in der Truhe des alten Wucherers. Ich will zu Menschen — Menschen — Menschen!“
„Der schlechte Umgang hat dich verdorben,“ sagte der Adler.
Aber das Blei, das Eisen, das Kupfer und das Silber seufzten und dachten ebenso wie der Dukaten.
„Lieber Gott!“ sagte der Adler. „Wollt ihr wirklich noch mehr hören?“
„Ich kann nie genug hören!“ rief das Eisen. [S. 115] „Ich sehne mich nach der Welt und fürchte mich nicht vor ihr. Lieber möcht’ ich heute hinaus als morgen. Auch kann ich nicht einsehen, was ich mit all der Schlechtigkeit zu tun habe.“
„Du hast ja auch nichts damit zu tun,“ sagte der Dukaten, der seine Erzählung soeben beendigt hatte. „Aber du warst doch mit dabei.“
„Wo?“ fragte das Eisen.
„Du warst überall,“ erwiderte der Dukaten.
„Erzähle, ach, erzähle!“ bat das Eisen. „Du weißt gar nicht, wie ich mich sehne.“
„Du warst überall im Hause,“ sagte der Dukaten. „Die Menschen können gar kein Haus bauen ohne Eisen, Nägel, Schlösser, Riegel und Schlüssel. Das Messer, mit dem der alte Wucherer sein Brot schnitt, war aus Eisen. Und aus Eisen waren auch die Apparate, mit denen der Schneider des Geizhalses elende Kleider zugeschnitten und genäht hatte. Eisen war unter seinen Stiefeln und an der Spitze seines Stockes. Auch die Truhe, in der er uns aufbewahrte, war mit Eisen beschlagen... Überall, wo Menschen sind, ist das Eisen im Gebrauch.“
„Da seht ihr’s! Da seht ihr’s!“ rief das Eisen vergnügt. „Ich bin ebensoviel wert wie das Gold und tue nichts Böses.“
„Nicht?“ meinte der Adler. „Nun, dann laß dir sagen, daß auch die Pistole, mit der sie einander erschießen, und die Messer, womit sie einander totstechen, aus Eisen sind. Der Dietrich, mit dem der Dieb das Schloß aufbricht, ist gleichfalls aus Eisen.“
„Was kümmert das mich?“ rief das Eisen. „Mögen sie Gutes in Böses verkehren — bleibe ich nicht, der ich bin?“
„Was kümmert es uns?“ sagten die Dukaten.
„Die Menschen sind böse und gut. Was können wir dafür, was sie mit uns anfangen? Wir sind, wie wir sind, und sie nehmen uns alle. Das Gold ist am schönsten und kostbarsten, darum stiftet es am meisten Gutes und Böses. Das kann nicht anders sein. Der verdrossenste Adler der Welt kann nichts daran ändern.“
„Hörtest du nichts über mich?“ fragte das Blei.
„War ich denn gar nicht vorhanden?“ sagte das Kupfer.
„Und ich?“ fiel das Silber ein. „Ich glänze doch auch und bin fast ebenso schön wie das Gold.“
„Ihr wart alle da,“ erwiderte der Dukaten, „aber vom Eisen war am allermeisten vorhanden, und am angesehensten war das Gold.“
„Nun soll der nächste Dukaten uns etwas erzählen,“ schlug das Eisen vor. „Gott sei Dank, es sind noch drei übrig, da können wir uns noch auf drei ordentliche Geschichten gefaßt machen. Aber wir müssen uns sputen! Der Sommer geht zur Neige; und im Winter ist an Zuhörer nicht zu denken vor Sturm und Unwetter.“
„Ich will nichts davon wissen,“ sagte der Adler. Natürlich blieb er trotzdem und reckte den Hals, um besser hören zu können.
„Ich kann es nicht ertragen, noch mehr zu hören,“ sagte der Schmetterling, schloß seine Flügel und starb. Das hätte er allerdings auch sowieso getan, denn seine Zeit war um.
„Wie schrecklich!“ riefen die Blumen. „Gott [S. 117] sei Dank, daß wir bald verwelken und diese böse Welt verlassen werden!“
„Dummes Zeug!“ sagte das Eisen. „Mag verwelken, was verwelken will! Wir sind stark, und wir halten aus. Erzähle, Dukaten!“
„Was ich zu sagen habe, wird auch empfindsame Seelen nicht schrecken,“ begann nun der dritte Dukaten. „Denn das größte, was ich in meinem Leben erlebt habe, war so schön und rührend wie das schönste Gedicht.“
„Sollte man so was für möglich halten?“ unterbrach ihn der Adler. „Soweit ich die Welt durchsegelt habe, nie habe ich bemerkt, daß das Gold Gutes im Gefolge gehabt hätte.“
„Erzähle!“ sagte das Eisen zu dem Dukaten.
„Ja, wie die andern bin ich aus der Münze gekommen,“ fuhr der dritte Dukaten fort. „Wo ich früher, als ich noch Teil eines Goldklumpens war, gelegen habe, weiß ich nicht mehr, denn ich bin ungewöhnlich viel in der Welt umhergeworfen worden. Und wenn einem das passiert und man erlebt nichts Rechtes dabei, dann verliert man leicht das Gedächtnis. Jeden Tag sieht man neue Gesichter und bekommt einen neuen Herrn; und bevor man sich an ihn gewöhnt und Zeit gefunden hat, auf sein Leben und seine Gewohnheiten zu achten, ist man schon wieder weg und in der Tasche eines neuen. So ist es mir mehrere Jahre hindurch gegangen. Ich wanderte von Schublade zu Schublade und von Tasche zu Tasche. Gar nichts Merkwürdiges widerfuhr mir, bis das große Erlebnis meines Lebens kam.“
„Und das war?“ fragte das Eisen. „Handelte es sich um blutigen Mord?“
„Von all den Geschichten bist du schon ganz demoralisiert und denkst nur noch an Mord und Totschlag!“ salbaderte der Adler.
„In meiner Geschichte kommt kein Mord und auch sonst kein andres Verbrechen vor,“ sagte der dritte Dukaten. „Und die Tränen, die darin geweint werden, sind von anderer Art als die, die die Tochter des alten Wucherers weinte. Aber ihr könnt ja selber urteilen.“
Und alle hörten zu. Der Adler setzte sein mißtrauischstes Gesicht auf, und die Blumen hörten für eine Weile auf zu welken. Aber keiner war so interessiert wie das Eisen, das seine Neugier kaum bezähmen konnte.
„Auf meinem Wege aus einer Hand in die andere,“ erzählte der Dukaten, „war ich auch aufs Land gelangt, zu einem.... einem Pächter... ja, nun entsinn’ ich mich: der Geflügelhändler gab mich dem Pächter als Kaufgeld für mehrere fette Enten, die ganz grauenhaft schnatterten, als sie auf seinen Wagen geladen wurden. Der Pächter legte mich in seine Schublade, wo schon vierundzwanzig andre Dukaten lagen. Er zählte uns nach, und dann sagte er zu seiner Frau:
‚Nun sind die fünfundzwanzig beisammen. Da kann ich ja gleich in die Stadt fahren und dem alten Grafen meinen Zins entrichten. Morgen früh fahre ich zur Stadt.‘
Das tat er auch. Und in der Stadt ging er in ein vornehmes Haus zu einem vornehmen alten Herrn. Er verbeugte sich tief vor ihm, und der Herr [S. 119] gab ihm freundlich die Hand. Es war ein überaus schöner alter Mann mit weißem Haupt- und Barthaar; das Stehen fiel ihm schwer, darum saß er meist in seinem Lehnstuhl. Der Pächter zählte uns fünfundzwanzig Dukaten auf den Tisch, gab dem Herrn auf seine freundliche Frage Antwort, verbeugte sich wieder und verließ das Zimmer.
Sobald er draußen war, las der alte Herr weiter in dem Buche, das er vor sich liegen hatte; und erst als es Abend wurde, nahm er uns und legte uns in eine alte große Truhe, in der er sein Geld und seine Papiere aufbewahrte, und zwar in ein geheimes Fach. Während aber die andern gleich auf den Boden fielen, wurde ich in eine Spalte eingeklemmt, so daß ich fast ganz versteckt war. Und nun beginnt eigentlich erst meine Geschichte.“
„Du kamst wohl bald wieder heraus aus deinem Versteck?“ fragte das Eisen.
„Nein, eben nicht!“ war die Antwort. „Ich lag gut versteckt — ich glaube, ich habe nicht weniger als hundert Jahre so gelegen.“
„I du Barmherziger!“ rief das Blei. „Wie in aller Welt hast du denn dann überhaupt etwas erleben können? Wenn du hundert Jahre lang in einer Spalte eingeklemmt warst?“
„Wenigstens konntest du währenddessen nicht sündigen,“ meinte der Adler. „Ich fange an zu verstehen, daß deine Geschichte wirklich hübsch werden wird.“
„Ja, was ich hier erzähle, hab’ ich ja eigentlich erst hinterher erfahren,“ sagte der Dukaten. „Aber ich erzähle es so, wie es wirklich passiert ist. Denn [S. 120] weil ich da so versteckt lag, konnte ich ja weder hören noch sehen, falls nicht gerade Geld aus der Schublade genommen oder hineingelegt wurde, und das kam oft genug vor. Und dann merkte ich es natürlich auch, wenn die Truhe von einer Stelle zur andern bewegt wurde, ohne freilich zu wissen, was es zu bedeuten hatte. Ich verstand eigentlich erst alles an dem Abend.... Na, nun will ich aber das ganze erzählen, wie es sich zugetragen hat.“
„Erzähle!“ bat das Eisen.
„Der Graf, von dem ich schon erzählt habe, war sehr reich, sehr vornehm und hochbetagt. Seit langer Zeit nahm er nicht mehr teil am Leben, sondern saß in seinem Stuhl, las und erwartete ganz ruhig den Tod, denn er hatte ja längst seine Rechnung abgeschlossen. Und schließlich suchte ihn denn der Tod auch wirklich heim, und das Begräbnis war sehr groß. Alle Vornehmen im Lande nahmen daran teil, die Pferde waren mit schwarzem Tuch behangen und trugen silbernen Schmuck. Als das Begräbnis vorüber war, wurde das Testament in Gegenwart aller Erben geöffnet. Der Haupterbe der Güter und des großen Vermögens war der einzige Sohn des Verstorbenen, ein hochmütiger junger Herr, den niemand leiden mochte. Es nahmen denn auch alle alten Dienstboten sofort ihren Abschied, als der alte Herr in der Erde lag. Aber außerdem hatte der alte Graf allen denen, die seinem Herzen nahe gestanden hatten, Geschenke und Legate vermacht.“
„Was wurde aus der alten Truhe?“ fragte der Adler.
„Sieh mal an, wie genau du aufpaßt,“ sagte [S. 121] das Eisen spöttisch. „Du bist ebenso neugierig wie wir.“
„Die Truhe bekam eine junge Dame, die niemand von der Familie kannte,“ erzählte der Dukaten weiter. „Das heißt, der junge Graf kannte sie sehr gut. Sein Gesicht verfinsterte sich, als der Notar, der das Testament vorlas, ihren Namen nannte. Außerdem hatte ihr der alte Herr für jedes Jahr eine kleine Summe ausgesetzt. Der junge Graf hatte sie nämlich einmal betrogen. Er hatte ihr vorgeredet, er werde sie heiraten, und hatte sie aus dem Hause ihrer Eltern entführt, die brave, aber ganz einfache Leute weit unter seinem Stande waren. Dann hatte er sie verlassen. Der alte Graf aber hatte Wind von der Geschichte bekommen und seinen Sohn gezwungen, das Mädchen zu heiraten. Er hatte ihn auch dazu zwingen wollen, sie der Welt als Gräfin vorzustellen, doch das wollte sie nicht. Da er sie nicht mehr liebe, so sagte sie, und da er sie so schändlich betrogen habe, so wolle sie auch nicht Gräfin sein. Die Heirat wünschte sie nur um des kleinen Kindes willen, das sie erwartete. Und so wurde es auch. Gleich nach der Hochzeit trennten sie sich und sahen sich niemals wieder. Der alte Graf bot ihr Geld an, aber das wollte sie nicht nehmen. Sie werde schon für sich und ihr Kind sorgen, sagte sie. Oftmals schrieb er an sie oder ließ bei ihr fragen, ob sie etwas brauche. Einmal ließ er sich sogar, so krank und alt er war, zu ihrer Wohnung fahren. Aber sie war in eine andere Stadtgegend verzogen; und es glückte ihm nicht, sie wieder aufzuspüren. Nun bekam sie also die Truhe und etwas Geld, falls sie sie nur finden konnten.“
„Die Sache ist wirklich spannend!“ sagte das Blei. „Hat man sie gefunden? Schnell. Du siehst, wie ungeduldig wir sind.“
„Laß mich doch erst mal zu Atem kommen, es eilt doch gar nicht so. Wir werden ja wohl hundert Jahre hier liegen können, ehe ein Mensch kommt und uns findet.“
„Kann sein,“ sagte das Eisen. „Aber vielleicht kommt auch schon morgen ein Mensch hierher.“
„Allerdings hat man sie gefunden,“ erzählte nun der Dukaten weiter. „Die Polizei suchte in allen Winkeln der Stadt und entdeckte sie schließlich ganz draußen in einem Vorort. Dort lebte sie mit ihrem kleinen Knaben und ernährte ihn und sich durch Musikunterricht. Der Knabe war jetzt zwölf Jahre alt und sah wie ein richtiges Grafenkind aus. Aber er kannte seine Herkunft nicht. Sie meinte, es sei früh genug, wenn er es als erwachsener Mensch erführe, wer sein Vater sei. Nun, das Geld schlug sie wiederum ab, wie sie es schon immer getan hatte. Die alte Truhe aber nahm sie an, weil der alte Graf ja immer gut zu ihr gewesen war und getan hatte, was er konnte, um das Unrecht seines Sohnes wieder gutzumachen.“
„Und in der Truhe warst du?“ fragte das Eisen.
„Allerdings,“ erwiderte der Dukaten. „Aber das wußte niemand. Ich lag ja in meiner Spalte, wo ich die ganze Zeit über gelegen hatte. Alle die andern Dukaten, die vorher in derselben Schublade gewesen waren, waren jetzt fort, draußen in der Welt, ich aber saß gut fest. Es wurden Papiere in die Schublade hineingelegt, sie wurde auf- und zu [S. 123] gemacht, und die Klappen wurden gleichfalls geöffnet und geschlossen; doch an mich dachte niemand, weil niemand etwas von mir wußte. Manchmal dachte ich selber, daß ich nie mehr ans Tageslicht kommen werde oder wenigstens erst, wenn die alte Truhe auseinanderfallen würde. Und das hatte noch gute Weile; denn sie war aus starkem Eichenholz gemacht.“
„Du langweiltest dich also?“ fragte das Silber.
„Gewissermaßen ja. Manchmal ärgerte es mich natürlich, wenn ich daran dachte, wie meine Kameraden in der Welt herumrollten. Aber das war immer nur ein vorübergehendes Gefühl. Denn es war so gemütlich bei den beiden Menschenkindern. Alle Abend saßen sie zusammen in der Stube; und da die Klappe der Truhe immer heruntergeschlagen war, so konnte ich jedes Wort hören, das sie sagten; und durch die Spalte, in der ich lag, konnte ich ja auch ein wenig sehen. Oft, wenn das Licht auf die Truhe fiel, kam es mir wunderlich vor, daß sie mich nie an meinem Glanze entdeckten. Aber das war nicht der Fall. Jahr auf Jahr verging, der Knabe wuchs heran, und alles verlief gut.“
„Ich finde deine Geschichte sehr einförmig,“ sagte der Adler gähnend.
„Alles in allem, bist du der schlimmste von uns,“ entgegnete ihm das Silber. „Du kannst nie Spannung und Unglück genug kriegen.“
„Herrgott!“ rief das Eisen. „Laß doch den alten Adler sein, wie er will, und laß den Dukaten erzählen!“
„Jetzt kommt es,“ sagte der Dukaten. „Die Mutter des Jungen wurde nämlich krank. Sie hatte [S. 124] wohl zu viel gearbeitet, denke ich. Ich habe sie ja so oft husten hören, besonders des Abends, wenn sie im Bett lag. Denn die Truhe, in der ich mich befand, stand in derselben Stube, wo sie auf einem kleinen alten Sofa schlief. Sie hatten natürlich nicht die Mittel, um eine große Wohnung zu mieten. Es überraschte mich daher gar nicht, als sie eines schönen Tages auf dem Sofa liegen blieb, weil sie nicht die Kraft hatte aufzustehen. Für sie selbst aber war es eine unglückliche Überraschung und ebenso für ihren Sohn, der damals sechzehn Jahre alt war und sich noch nicht zu viele Gedanken über das Leben machte. So sind ja nun mal die Kinder.“
„Ach Gott ja!“ seufzte der Adler. „Es ist wahr! Wer von seinen Kindern Dankbarkeit erwartet, sieht sich arg enttäuscht.“
„Erzähle! Erzähle!“ rief das Eisen.
„Na,“ fuhr der Dukaten fort. „Die Verzweiflung war natürlich groß. Denn Geld hatten sie ja nicht im Hause; und als der Arzt kam, machte er ein sehr bedenkliches Gesicht und sagte, sie könne sich auf den Tod gefaßt machen; ein andrer Ausgang sei nicht zu erwarten. Es war ein schlimmer Anblick für mich, wie es ihr immer schlechter und schlechter erging. Denn ich hatte sie allmählich liebgewonnen. Oft wünschte ich, daß ich die Macht besäße, mich loszumachen und hinauszurollen und ihnen zu sagen: Hier bin ich, ich kann euch für eine kleine Weile helfen. Aber wie hätte ich das anfangen sollen? Ich mußte alles aus meinem unfreiwilligen Versteck mitansehen.“
„Nun weiß ich schon den Rest der Geschichte, [S. 125] “ sagte der Adler. „Eines Tages kamst du los und rolltest hervor; und dann wurde Wein gekauft, und die Frau erholte sich, und die Geschichte endigte in Herrlichkeit und Freude.“
„Nicht so ganz,“ erwiderte der Dukaten. „Die Frau starb vielmehr. Das ließ sich leider nicht verhindern. Und nun stand ihr Junge ganz allein in der Welt. Aber das ärgste war, daß sie ganz plötzlich bei einem heftigen Hustenanfall verschied, noch bevor sie ihrem Sohn etwas von seiner vornehmen Geburt erzählt hatte.“
„Waren denn keine Papiere vorhanden?“ fragte der Adler.
„Nun kommt es ja,“ sagte der Dukaten. „Gewiß waren Papiere da. Sie lagen in der alten Truhe, aber in einem geheimen Fach, von dem niemand außer der Verstorbenen und dem alten Grafen, der ja doch auch tot war, etwas wußte.... Es lag ja ganz dicht bei der Stelle, wo ich eingeklemmt war. Da lag ihr Trauschein und der Taufschein des Jungen mit seinem vollen Namen und dem Grafentitel und allem. Wenn sie früher das Fach öffnete und die Papiere herausnahm, so dachte ich gar oft in meinem Sinn, sie solle sie doch lieber an einen andern Ort legen, wo die Leute sie finden könnten. Denn man konnte ja nie wissen, was geschehen würde. Und sie hat wohl etwas ähnliches gedacht, denn sie schüttelte den Kopf und legte die Papiere wieder hinein, wobei sie vor sich hinmurmelte:
‚Nein nein nein! Wenn nicht sein Vater in sich geht und ihn aus freien Stücken aufsucht, dann ist es besser, daß sie einander nie treffen. Mein [S. 126] Junge wird schon durchkommen, wenn ich nur aushalte und für ihn sorgen kann, bis er für sich selbst zu sorgen vermag. Geld stiftet Gutes und Böses, dem Vater meines Jungen hat es Böses gebracht. Wäre er nicht als reicher Mann geboren worden, so wäre er vielleicht ein guter, tüchtiger Mensch geworden. Nun will ich dem Schicksal seinen Lauf lassen!‘
Vielleicht war das vernünftig von ihr gedacht, darüber möchte ich mich nicht weiter auslassen. Aber ich bin überzeugt, daß sie sich zuletzt eines andern besonnen hatte. Denn als sie sterben sollte und nicht mehr sprechen konnte, hob sie den Arm und wies auf die alte Truhe hin. Da ging ihr Sohn, der in ihrer letzten Stunde allein bei ihr war, zu der Truhe hin, nahm die Klappe herunter und zog die Schubladen heraus. Er reichte ihr verschiedene Gegenstände, die darin lagen; aber sie schüttelte den Kopf; denn das war es ja nicht, was sie haben wollte. Sprechen konnte sie nicht mehr. Und dann starb sie. — Es war hart für einen ehrlichen Dukaten wie ich, ganz in der Nähe sitzen zu müssen und doch nichts tun zu können. —
Aber nun hört weiter! Die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende. Die Frau bekam ein sehr ärmliches Begräbnis; denn es war ja kein Geld vorhanden außer dem Erlös aus dem Verkauf der Einrichtung, und der war sehr gering, außerdem waren auch noch Schulden aus der Zeit der Krankheit da. Der Arzt, der der einzige war, der die beiden etwas näher kannte, rief den jungen Mann zu sich und sagte ihm, fünfundzwanzig Goldstücke seien sein ganzer Besitz, wenn das Begräbnis und die Schulden [S. 127] bezahlt seien. Und so viel war nur deshalb übrig geblieben, weil der Arzt die alte Truhe für fünfzig Dukaten gekauft hatte, obwohl das alte Möbel bei weitem nicht so viel wert war, und er eigentlich gar keine Verwendung dafür hatte. Mit diesem Bescheide ging der junge Mann in die Welt hinaus. Der Doktor fragte ihn, ob er denn gar nichts von seiner Familie und seinen Vorfahren wisse, aber er konnte nur den Kopf schütteln. So mußte er eben versuchen, sich sein Leben zu zimmern.“
„Wohin kamst du denn nun?“ fragte das Eisen.
„Ich blieb, wo ich war. Ich saß immer noch eingeklemmt in dem Geheimfach, in dem die wichtigen Papiere lagen. Die Truhe wurde jetzt in dem Arbeitszimmer des Doktors aufgestellt und mit seinen Papieren gefüllt. Da stand sie ein, zwei, fünf Jahre lang; und ich saß fest, und die wichtigen Papiere waren schon ganz vergilbt.“
„Kommt denn nun nicht endlich die Hauptsache?“ rief der Adler.
„Gewiß, gewiß! Eines Abends wollte der Doktor etwas in der Truhe suchen. Er konnte es nicht finden und wurde sehr ärgerlich darüber; denn er war ein alter Hitzkopf, obwohl er ein gutes Herz hatte. Schließlich nahm er alles, was in der Truhe war, in Bausch und Bogen heraus und legte es auf Tische und Stühle rings in der Stube. Er zog alle Schubladen heraus, öffnete alle Klappen, leerte alle Fächer, und konnte trotzdem nicht finden, was er suchte.
‚Bin ich verrückt geworden? Oder blind? Oder was ist los?‘ rief er und gab im Eifer der Truhe einen tüchtigen Stoß. Hierbei aber geschah nichts [S. 128] mehr und nichts weniger, als daß ich mich aus der Ritze, in der ich so viele Jahre lang gesteckt hatte, loslöste. Ich fiel auf den Boden des Geheimfaches, und zwar fiel ich ein ziemliches Stück, denn das Fach war hoch. Bei dem Klange stutzte der Doktor und starrte die Truhe an.“
„Bei Gott! Das ist eine spannende Geschichte!“ sagte der Adler. „Spute dich, und erzähle weiter!“
Und das Silber, das Kupfer und das Eisen stimmten mit ein, und auch die vier andern Dukaten spitzten die Ohren nicht schlecht.
„Er fing nun an, in allen Schubladen und Fächern nachzusuchen,“ erzählte der Dukaten weiter, „fand aber natürlich nichts. Dann versetzte er der Truhe wieder einen ordentlichen Stoß, und da klirrte ich ja wieder in meinem Versteck, so daß er es deutlich hören konnte. Er fand auch ungefähr die Stelle heraus, wo ich saß, und drückte und zog und versuchte auf alle mögliche Weise, Eingang zu dem geheimen Fache zu finden; denn daß ein solches Fach vorhanden sein müsse, verstand er ja nun. Aber er fand nichts. Er stieß immer wieder an die Truhe, und jedesmal rollte und klirrte ich, so gut ich konnte; denn, offen gestanden, hatte ich nichts dagegen, wieder einmal in die Welt hinauszukommen und in Umlauf gesetzt zu werden. Und einmal fiel ich, als ich herumgerollt war, oben auf die geheimen Papiere... Ich hatte gleich daran gedacht, denn es mußte ja von nicht geringer Bedeutung sein, wenn sie an den Tag kämen; und wenn ich zu ihrer Entdeckung beitragen konnte, so hatte ich wenigstens alles getan, was man mit Fug und Recht von einem Dukaten verlangen konnte.
Auch der Doktor hatte den sonderbar gedämpften Laut gehört, womit ich das letztemal fiel; und da er kein dummer Kerl war, kam er auf einmal auf den Gedanken, daß Papiere vorhanden sein müßten. Er versuchte von neuem, ob er nicht eine Feder finden könnte; aber es gelang ihm nicht. Da setzte er sich auf einen Stuhl und dachte nach, wobei er die Truhe unausgesetzt betrachtete.
Da ging ihr Sohn, der in ihrer letzten Stunde allein
bei ihr war, zur Truhe hin,
nahm die Klappe herunter und zog die Schubladen heraus
Es fiel ihm ein, wer sie vor ihm besessen hatte; und er kam auf den Gedanken, daß in dem Geheimfach vielleicht Dokumente lägen, die für den jungen Mann, den Sohn der ehemaligen Besitzerin, von Wichtigkeit sein konnten. Und der Doktor vergegenwärtigte sich den jungen Mann, der schon damals sein Interesse wachgerufen hatte. Stolz hatte der Jüngling des Doktors Anerbieten, eine Dienerstelle bei ihm anzunehmen, abgeschlagen; und der Doktor hatte schon damals daran gedacht, ob nicht vielleicht ein Geheimnis über der Geburt des Jünglings schwebe.
Unser Doktor fackelte nicht lange, sondern holte Hammer und Brecheisen. Und ohne sich daran zu kehren, daß er die Truhe, die er einst für fünfzig Goldstücke erstanden hatte, zerstörte, schlug er sie so weit in Stücke, bis das Geheimfach zutage kam. Da lag ich nun, und da lagen ja nun auch die Papiere.“
„Höchst interessant!“ rief der Adler. „Ich habe wirklich schon lange nichts so Spannendes gehört.“
„Nahm er dich denn nun und gab er dich wieder in die Welt hinaus?“ fragte das Eisen.
„ Mich beachtete er zunächst überhaupt nicht,“ antwortete der Dukaten. „Er nahm vielmehr die Pa [S. 130] piere, setzte sich an den Tisch und las sie durch; und dann las er sie zum zweiten und dritten Male. Ich lag inzwischen da und glänzte und freute mich, glücklich meinem Versteck entronnen zu sein. Ich hatte auch gar keine Angst, übersehen zu werden; denn das passiert einem Dukaten nie. Und ich kann auch nicht sagen, daß ich mich gelangweilt hätte. Denn der Doktor las laut aus den Papieren vor, hielt laute Selbstgespräche und machte überhaupt kein Geheimnis aus den Dingen, die er da so auf einmal entdeckt hatte. Es waren ja auch durchaus keine unwichtigen Papiere, die er in Händen hatte. Da war der Trauschein, ein Beweis dafür, daß die verstorbene Musiklehrerin eine wirkliche Gräfin war, gesetzlich getraut mit einem der reichsten Adligen des Landes. Und da war auch der Taufschein, durch den offenbar wurde, daß ihr Sohn — jener junge Mann, der das Anerbieten des Doktors, Diener bei ihm zu sein, so stolz zurückgewiesen hatte — daß dieser junge Mann der rechtmäßige Erbe dieses Adligen war. Der alte Armenarzt lachte hell auf bei dem Gedanken, daß er beinahe einen wirklichen Grafen zum Diener bekommen hätte.
Aber es kam noch etwas ganz andres dazu, wodurch das Interesse des Doktors noch viel mehr gesteigert wurde. Es war ihm so, als hätte er gerade heute in der Zeitung etwas von jenem Grafen, also dem Vater des jungen Mannes, gelesen. Er sprang auf, um die Zeitung zu suchen. Wie eine Fliege in einer Flasche, so schwirrte er im Zimmer umher, konnte aber die Zeitungsnummer nicht finden. Da lief er, wie er ging und stand, auf die Straße hinunter und kaufte die Nummer der Zei [S. 131] tung. Atemlos kehrte er auf sein Zimmer zurück, faltete die Zeitung auseinander — und richtig: der Graf, der einst mit der armen Musiklehrerin vermählt gewesen war, war soeben, plötzlich und unerwartet, in Paris gestorben. Unverheiratet, so stand in der Zeitung. Und da stand auch, daß der Titel und die großen Besitzungen auf eine Nebenlinie übergingen.
Der Doktor sprang auf, lief im Zimmer umher und rieb sich vergnügt die Hände. Der Nebenlinie werden wir was pusten! dachte er. Hier ist ein rechtmäßiger Erbe. Der wird eines schönen Tages hervortreten und seine Ansprüche erheben. Aber auf einmal fiel ihm ein, daß er ja in Wirklichkeit gar nicht wußte, wo dieser Erbe steckte.
Als er so nachsinnend in der Stube herumlief, bemerkte er mich. ‚Bei dir kann ich mich für die Entdeckung bedanken,‘ rief er. ‚Dich werd’ ich aufbewahren und dem Erben geben, sobald wir ihn finden. Er soll dich in Ehren halten, weil er dir seinen Rang und sein Vermögen schuldet.‘ — Damit steckte er mich in seine Westentasche und fing von neuem an, darüber nachzudenken, was er tun sollte, um den jungen Grafen zu finden.“
„Hat er ihn gefunden... und hat der junge Graf dich in Ehren gehalten?“
Die Fragen regneten von allen Seiten auf den Dukaten nieder, der dann nach einer Weile fortfuhr:
„Es kam doch ein bißchen anders. Ich lag also in der Westentasche des Doktors und wartete auf die Ehre, die mir widerfahren sollte. Am nächsten Tage aber gab er mich aus Versehen einem seiner Patienten, einem armen Schreinergesellen.“
„Aach,“ rief der Adler. „Dann hören wir ja nicht das Ende der Geschichte.“
„Doch, das kriegt ihr trotzdem zu hören,“ sagte der Dukaten. „Der Schreinergeselle gab mich natürlich gleich aus, und so ging ich lange von Hand zu Hand, wie in alten Tagen, und wie es nun mal das Schicksal eines Dukaten ist. Ich erlebte nichts Besonderes bis zu dem Tage, wo der Mann, der mich gerade vor kurzem verdient hatte, am Tische saß und mit mir spielte, während seine Frau ihm etwas Merkwürdiges aus der Zeitung vorlas. Und was las sie vor? Die Geschichte des jungen Grafensohnes, die zugleich meine eigene Geschichte war. Wie die Papiere von dem alten Doktor gefunden worden waren, und wie er jahrelang die ganze Welt durchsucht hatte, bis er schließlich den Erben fand. Ausdrücklich stand dabei, daß die Entdeckung des Geheimfaches und der Papiere dadurch erfolgt sei, daß in der Truhe ein Dukaten klirrend aus einer Ritze hinabgefallen sei; dadurch sei der Doktor aufmerksam geworden, und er habe die Truhe zerschlagen. Und es stand auch da, daß man den jungen Grafen in einem fremden Lande als fleißigen, ordentlichen Mann gefunden habe, der sein Glück vollauf verdiente. Das erste, was er tat, war die Errichtung eines Grabdenkmals für seine Mutter. — Was die beiden Leutchen wohl gesagt hätten, wenn sie gewußt hätten, daß der Dukaten, der die Hauptrolle in dieser Geschichte spielte, vor ihnen auf dem Tische lag!“
„Das war eine großartige Geschichte!“ rief das Blei, und alle andern stimmten mit ein. Nur der Adler konnte sich nicht enthalten zu sagen:
„Gewiß, die Geschichte ist schön — jedenfalls schöner als die der andern Dukaten. Aber Gerechtigkeit ist selten in der Welt; sonst hättest du jetzt an der Uhrkette eines Grafen hängen müssen.“
„Man tröstet sich mit seinem guten Gewissen,“ erwiderte der Dukaten.
So ungeduldig sie auch alle darauf waren, zu hören, was die beiden letzten Dukaten zu berichten hatten, mußten sie doch lange warten.
Denn jetzt war der Winter in das öde Land eingezogen.
Es kamen Stürme und Schnee und Eis, und zwar diesmal ärger als je zuvor. Fuchs und Bär fror es in ihrem Winterversteck, die Vorräte der Maus gingen zur Neige, und auch der Adler litt unter der Kälte. Der Frost ging so tief in die Erde hinab, daß die Wurzeln der Gräser erfroren; und die Samen, die dalagen und auf den nächsten Sommer warteten, nahmen Schaden an ihren Keimen. Eisen, Blei, Silber und Kupfer lagen tief versteckt unter fußhohem Schnee... Die fünf Dukaten waren ganz verschwunden. Man hätte glauben sollen, daß sie nie wieder zum Vorschein kommen würden. Denn wenn der Sturm wütete, lösten sich oft große Felsblöcke, die auf das Tal herabstürzten, so daß mehr unter ihnen begraben werden konnte als fünf kleine Goldstücke. Aber eine Geschichte mag so lang sein, wie sie will, sie nimmt [S. 134] schließlich doch ein Ende. Und der Winter mag noch so streng sein, es folgt doch ein Sommer darauf.
Die Sonne kam wieder hervor, der Schnee schmolz, die Bäche tauten auf; und die Keime, die der Frost in der armseligen Erde verschont hatte, schossen auf und grünten, so gut sie konnten. Die Metalle kamen wieder zum Vorschein, rostig und mit Kies und Sand bedeckt. Und auch die fünf Dukaten lagen wieder da; und man konnte ihnen nicht ansehen, was über ihre Köpfe dahingegangen war. Ihr Glanz war unvermindert.
„Gold bleibt Gold!“ sagte der Adler. „Alles Echte hat Bestand. Darum ist das Gold das vornehmste von allen Metallen, weil es nie rostet und sich nicht abnutzt.“
„Das tue ich auch nicht,“ sagte das Silber.
„Du bist ja an den Kanten ganz angelaufen. Schlecht bist du nicht, aber vor dem Golde mußt du zurückstehen.“
„Ich bin der stärkste von uns allen,“ sagte das Eisen.
„Du Ärmster!“ rief der Adler. „Du bist schwächer als alle andern. Keinen beißt der Rost so wie dich. Im Handumdrehen bist du weg.“
„Warum zanken wir uns?“ warf das Blei ein. „Wie im vorigen Jahre liegen wir hier immer noch nutzlos da, während sich draußen die Welt schön und reich entfaltet. Laßt uns hören, was die Dukaten uns zu erzählen haben. Zwei sind noch übrig, die uns nichts berichtet haben. Schaut uns an, wie mitgenommen und mit Grünspan überzogen wir sind. Und dann schaut die Dukaten an, die draußen in der Welt gewesen sind, die der Adler schlecht nennt. Sie glänzen aufs schönste.“
„Ja ja, erzählt!“ rief das Eisen.
„Meine Geschichte will ich euch gern berichten,“ sagte der vierte Dukaten. „Obwohl ich mein Geschick mit vielen andern gemein habe.“
„Ist die Geschichte schön?“ fragte ein kleines, kümmerliches Stiefmütterchen, das sich gerade geöffnet hatte. „Sonst fürchte ich mich. Wißt ihr: als ich im vorigen Jahr als winziger Samen im Kopfe meiner Mutter lag, da habe ich den zweiten Dukaten so etwas Greuliches erzählen hören. Das habe ich nie verwinden können. Darum sind meine Stengel so dünn und meine Blätter so klein.“
„Ja, die Geschichten der Dukaten eignen sich nicht für Kinder,“ sagte der Adler.
„Verschont uns doch um des Himmels willen mit dem dummen Geschwätz!“ rief das Eisen ungeduldig. „Wir wollen die Dukaten erzählen hören. Wenn hier einer diese Geschichten aus der Welt und dem Leben nicht vertragen kann, so mag er gefälligst weggehen. Wir sind doch Männer, sollt’ ich meinen.“
„Ich rechne mich allerdings zu den Damen,“ erwiderte das Stiefmütterchen. „Aber ich werde den Herren Metallen nicht zur Last fallen.“
„Danke, sehr freundlich!“ sagte das Eisen spöttisch. „Dann kann der Dukaten also beginnen.“
„Wenn ich nur wüßte, was ich erzählen soll!“ sagte der Dukaten.
„Wir sind hier im Tale nicht verwöhnt,“ meinte das Eisen. „Hier geschieht nie etwas Besonderes. Erzähl’ nur darauf los!“
„Auch ich,“ begann der vierte Dukaten, „habe natürlich viele Besitzer gehabt. Es ist nun mal un [S. 136] ser Los, von Hand zu Hand zu gehen, wie schon meine verehrten Kollegen ganz richtig bemerkten. Wir können keinen Widerstand leisten; und wir können natürlich nicht im geringsten die Verantwortung übernehmen für das, was unsre Besitzer mit uns beginnen. Heute können wir in der Tasche eines ehrlichen Mannes liegen, und morgen in der eines Diebes. Das einemal kauft man Branntwein für uns, das andremal Rosen. Man fügt sich in sein Schicksal, ohne darum schlechter zu sein. Der Dukaten verliert seinen Wert nie, durch wessen Hände er auch gehen mag. Aber wenn sich das auch so verhält, so müßt ihr darum nicht glauben, daß ich ohne Gefühl bin. Auch ein Dukaten hat ein Herz wie andere Leute, und nicht alle unsre Herren sind uns gleich lieb. Von dem einen trennen wir uns betrübt, von dem andern mit Freuden. Die einen vergessen wir nie, die andern beachten wir kaum.“
„Das wäre also die Einleitung,“ rief das Silber. „Nun laß uns die Geschichte hören!“
„Unter allen meinen Besitzern,“ begann der vierte Dukaten, „war mir der liebste —“. Weiter aber sollte er nicht kommen in seiner Geschichte, denn der Adler unterbrach ihn von seiner Zinne mit dem Rufe:
„Da kommen Menschen!“
Ein Beben ging durch das öde Land.
Was für Menschen waren das, die da kamen? Und was wollten sie... Würde es gehen wie das letztemal, wo sie alles aufwühlten und niedertraten und dann wieder fortzogen und das Land öder und trauriger zurückließen, als es je gewesen? Oder kamen sie, um hier zu bleiben und im Lande [S. 137] zu wohnen und bessere Zeiten zu schaffen? Die Menschen könnten ja alles, pflegte der Adler zu sagen.
Jedenfalls war es vorbei mit dem Geschichtenerzählen der Dukaten. Weder die Schicksale des vierten noch des fünften Dukaten kamen je zu Ohren der andern Metalle und des Adlers und des Stiefmütterchens. Sie hatten ja nun alle andere Dinge im Kopfe.
„Die Menschen kommen natürlich, um die fünf Dukaten zu holen,“ sagte der Adler höhnisch. „Sie laufen bis ans Ende der Welt, um ein Stück Gold zu bekommen.“
Aber diesmal irrte sich der Adler.
Die Menschen, die jetzt kamen, sahen ganz anders aus wie der ungeordnete Haufe der Goldgräber, die vor Jahren im Lande gehaust hatten. Sie waren kräftig und arbeitstüchtig und kamen in geordnetem Trupp. An ihrer Spitze stand ein junger Ingenieur, der mit ruhiger Stimme Befehle erteilte, und dem die Leute ohne Murren gehorchten. Er sah sich im Tale um, beklopfte die Steine, steckte seinen Spaten hier und da hinab, prüfte die Metalle in einem kleinen Tiegel, den er mitgebracht hatte. Mit dem Resultat seiner Untersuchungen schien er außerordentlich zufrieden zu sein. Nachdem die Leute Zelte aufgeschlagen und sich mit den mitgebrachten Gegenständen so gut wie möglich eingerichtet hatten, rief er den ganzen Trupp zusammen und sagte:
„Wir sind hier an sehr, sehr reiche Eisenminen gekommen. Früher ist hier Gold gewesen, aber das ist weg. Jetzt ist hier noch Silber, Kupfer und [S. 138] Blei. Doch am reichlichsten ist Eisen vorhanden, und zwar so gutes Eisen wie an wenigen Stellen in der Welt. Der Mann, der dieses Land gekauft und uns hierher gesandt hat, wird steinreich. Und auch wir können ein schönes Stück Geld mit unserer Arbeit verdienen. Wir wollen gutes Muts sein und gleichmäßigen Fleiß anwenden, dann sollt ihr sehen, welch ungeheure Menge Eisen wir gewinnen werden.“
Die Leute riefen Hurra! und gingen an die Arbeit. Nach kurzer Zeit aber stieß einer von ihnen einen lauten Schrei aus:
„Gold! Gold! Gold!“
Alle zuckten zusammen, auch der junge Ingenieur, der soeben so ruhig und vernünftig gesprochen hatte, und alle liefen herzu. Aber der Adler schlug mit den Flügeln und rief höhnisch:
„Seht ihr... es kommt, wie ich gesagt habe! Jetzt sind sie wieder ganz aus dem Häuschen.“
Das Gold, das der Mann gefunden hatte, war nichts anderes als die fünf Dukaten. Der junge Ingenieur hielt sie in der Hand und betrachtete sie:
„Es sind nur fünf. Wahrscheinlich hat sie einer der Goldgräber früher hier verloren. Wer weiß: vielleicht ist er hier gestorben oder verunglückt. Das Gold regiert die Welt, im guten wie im bösen. Wir können es nicht entbehren. Das Gold setzt unser Minenwerk in Gang. Aber glücklich der, der sein Gold durch ehrliche, redliche Arbeit erwirbt... Glücklicher ist er als der, der es auf der Erde findet. Diese fünf Dukaten sollen den Grundstock zu einer Krankenkasse für diejenigen von uns bilden, die bei der Arbeit zu Schaden kommen.“
Hiermit waren alle einverstanden, und nun [S. 139] wurde der Minenbetrieb in Gang gesetzt. Die Hacken erklangen, und es trafen Maschinen ein, die vom Morgen bis zum Abend stampften und arbeiteten. Ein ganzes Dorf mit hohen Schornsteinen wurde gebaut; Eisenbahnen wurden angelegt, und niemand konnte das böse Land wiedererkennen.
„Nun geht es,“ rief das Eisen. „Hurra! Nun kommen wir in die Welt hinaus!... nun sind wir ebenso gut wie das Gold!“
„Das werdet ihr nie,“ sagte der Adler. „Mit einem kleinen Stück Gold kann man einen Berg Eisen bezahlen. Die Männer, die euch aus der Erde gewinnen, werden jeden Sonnabend von dem Ingenieur mit Goldgeld bezahlt. Aber jetzt will ich fortfliegen, denn hier wird es mir zu lebhaft.“
Damit flog er auf seinen breiten Schwingen in ödere Gegenden.
Die schwarze Erde und der weiße Sand kommen nicht so leicht ins Gespräch miteinander. Sie wohnen an verschiedenen Orten und sprechen verschiedene Sprachen. Nicht einmal im Traume begegnen sie sich; denn das Erdreich träumt von grünen Wäldern, roten Rosen und gutem, goldenem Getreide, der Sand aber träumt nur vom Sandhaargras und den wilden Wellen.
Zuweilen kommen sie einander nahe, ohne daß aber jemals eine rechte Gemeinschaft zwischen ihnen entstünde. Denn der Wind weht viel Sand über das Erdreich hin, und Fuchs, Hase, Buchfink und Maikäfer tragen an ihren Füßen, ohne darüber nachzudenken, Erde in den Sand hinaus. So vermischen sie sich, und mitten zwischen der richtigen Erde und dem richtigen Sande entsteht ein Stück, das weder das eine noch das andere ist. Magere Erde nennt es der Bauer, weil es ihm nicht so viel Ertrag bringt wie die Ackererde. Gute Erde nennt es der Fischer, weil es ihm mehr gibt als der Sand.
Aber da war einmal eine Stelle, wo das schwarze Erdreich und der weiße Sand sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, so daß sie sich unbedingt in die Augen sehen mußten. Da lernten sie auch zusammen sprechen, und es kam zu einem grauenhaften Spektakel zwischen ihnen.
Es ging so zu, daß da ein Mann war, der einst ein glückliches Leben auf der schwarzen Erde geführt hatte, dort, wo die Wälder und das Getreide und die Rosen wachsen. Doch dann war ihm etwas Böses widerfahren, so daß er es in seiner Heimat nicht mehr aushielt. Er meinte, den Rest seines Lebens da zubringen zu müssen, wo es wild und öde und unheimlich war. Darum erbaute er sich ein kleines niedriges Haus, so nahe am Strande, wie nur möglich, zwischen zwei Dünen, auf denen nur Sandhaargras und kleine Weidenbüsche und dergleichen armselige Pflanzen wuchsen. Vom Fenster aus konnte man über das weite Meer blicken, das manchmal ein ohrenbetäubendes Gebrüll erhob. Man konnte ein weites Stück am Strande entlanggehen, ohne ein Haus oder einen Garten zu sehen.
Nun war es so um den Mann bestellt, daß er sich trotzdem nach dem, was er verloren, sehnte. Darum hatte er sich einen kleinen Garten angelegt, der ihn viel Geld und Arbeit kostete. Von weit her ließ er schwere Fuhren Erde kommen, die die Pferde kaum durch den Sand ziehen konnten. Er pflanzte, säte und schützte die jungen Keime vor dem Sturm und der Kälte, die vom Meere herüberkamen. Nachdem viele Jahre verstrichen waren, hatte er das Ziel seiner Wünsche erreicht und konnte an schönen Sommertagen im Schatten seiner grünen [S. 142] Bäume sitzen, seine Rosen pflücken und an die großen Wälder von einst denken. Jetzt war er allerdings ein alter Mann. Aber das hat nichts mit der Geschichte zu tun. Der ganze Mann hat nur insofern etwas für die Geschichte zu bedeuten, als er den Garten angelegt und dadurch das Erdreich und den Sand einander so nahegebracht hatte, daß sie sich gegenseitig ihre Komplimente machen konnten.
Das geschah an der Südseite des Gartens, wo ein Bretterzaun stand, der aus den Planken gestrandeter Schiffe hergestellt war. Der Zaun war mit starken Pfählen eingerammt, doch unter den Brettern war eine kleine Öffnung, aus der das Erdreich hervorschaute und dem Sand in sein weißes Gesicht starrte.
Hier beginnt die Geschichte. Der, der sie erzählt, hat sie mit seinen eigenen Ohren mitangehört; denn er hat sowohl innerhalb des Bretterzauns im Schatten der Bäume gesessen, als auch draußen gelegen, wo der weiße Sand regiert. Und er hat selber das Loch unter dem Zaune gesehen und alle die seltsamen Wesen, die in dieser Geschichte auftreten.
Sobald am Morgen die Sonne aufging, begann die Erde allerhand anzügliche Reden, die den Sand ärgern sollten und es auch taten.
Wenn der Sand diesen Morgengruß hörte, gebärdete er sich wie verrückt und rief:
„Lieber Wind, lieber Wind! Nimm mich, heb’ mich, feg’ mich!“
„Mit Vergnügen!“ erwiderte der Wind.
Und dann fuhr der Sand wie ein Rasender gegen den Zaun; aber das half ihm nichts, denn [S. 143] der Zaun stand fest und wich keinen Finger breit; und wenn auch etwas Sand in den Garten hinabwehte, so lachte die Erde doch bloß darüber. Denn sie wußte, daß nach einem Weilchen der alte Mann mit seiner Schaufel kommen und den naseweisen Sand dahin zurückwerfen würde, von wo er gekommen.
Es dauerte nicht lange, so lief der Wind weiter, an andere Stellen, wo er auch zu tun hatte, oder legte sich in das Sandhaargras und flüsterte. Der Sand beruhigte sich dann auch wieder, lag mit sonderbaren, ärgerlichen Streifen und Runzeln da und dachte über die Dinge nach.
„Eigentlich weiß ich nicht, worauf du dir so viel einbildest,“ sagte er. „Warum sind deine Rosen und dein Gras besser als mein Sandhaargras? Hast du nicht meine kleinen Weidenbüsche gesehen? Und mein Mannstreu und meinen Strandkohl?“
„Singe mir etwas davon vor,“ erwiderte die Erde. „Warum singst du nicht ein Liedchen von deinem Reichtum?“
„Das kann ich nicht,“ sagte der Sand sehr traurig.
„Siehst du, das kannst du nicht!“ triumphierte das schwarze Erdreich und dehnte sich fett und üppig. „Das ist es eben. Vom Mannstreu und vom Sandhaargras kann man kein Liedchen singen. Es liegt keine Poesie darin. Von Rosen aber und grünen Bäumen, davon kann man singen. Die Vögel — —“
„Ich habe auch Vögel!“ rief der Sand. „Möwen und Seeschwalben und viele andere.“
„Das sind mir nette Kerle! Die singen doch nicht... die kreischen und schreien ja, daß sich [S. 144] ein anständiger Mensch die Ohren zuhalten muß. Und was für ein Leben führen sie? Die Eier schmeißen sie auf den nackten Sand, und dann legen sie sich selbst darauf. Keine Spur von einem Nest oder von irgendwelcher Gemütlichkeit! Die Jungen müssen, wenn sie kaum ausgewachsen sind, sich selber ihr Futter verschaffen. Das sind schöne Verhältnisse, muß ich sagen! Aber Gott behüte... arme Leute müssen ja mit allem zufrieden sein.“
„Sind deine Vögel denn besser?“
„Was faselst du da? Hier draußen ist freilich nicht viel los. Aber dort, woher ich stamme... da kannst du Vögel sehen, verehrter Freund! Sie singen, daß die Menschen stehenbleiben und lauschen ... Da gibt es Nachtigallen und Hänflinge, Zeisige, Drosseln und Finken. Sie bauen sich die niedlichsten Nester in den Büschen, füttern sie mit Daunen, Haaren und schönem Heu von der Wiese aus, so daß ihre Jungen wie Prinzen und Prinzessinnen darin leben können. Es geht ihnen sehr gut, verstehst du. Ich versorge sie ausgezeichnet, trage Beeren und Getreide für die, die es gerne fressen, und sie bekommen Fliegen und Würmer, soviel sie nur wollen.“
Der Sand lag da und dachte sich immer mehr und mehr in Wut und Ärger hinein. Als es Abend wurde, wehte und stob er zu seinem Privatvergnügen umher, häufte kleine Dünen auf und trug die Hügel an andere Stellen ab und benahm sich überhaupt, wie Sand sich zu benehmen pflegt. Dadurch besserte sich seine Laune allmählich.
„Wie du dich aufführst!“ rief die Erde. „Fliegst und stiebst umher. Eine ordentliche Pflanze könnte [S. 145] nie auf den Gedanken kommen, Wurzel in dir zu fassen, selbst wenn du ihr Nahrung bötest. Du würdest ja bald ihre Wurzeln bloßlegen und bald die ganze Pflanze begraben. Das gute Wasser läßt du durchsickern, als wäre es Schmutz... Du bist ein ganz leichtsinniger, unmöglicher Patron. Ich bin überzeugt, daß du selbst an deiner Armut schuld bist.“
„Ich bin, wie ich bin!“ erwiderte der Sand. „Ich liege still und fege umher, ganz wie es mir gefällt. Ich bin Herr über mein Gebiet wie du über deinen kleinen Fleck. Soweit du sehen kannst, herrsche ich längs des Meeres. Die Wellen spülen mich herauf, und die Wellen nehmen mich wieder. Der Wind trägt mich, und der Wind läßt mich fahren. Ich bin naß und bin trocken, wie es kommt.“
„Du solltest werden wie ich,“ sagte die Erde. „Schwer und fett und ruhig. Dann würden die Pflanzen in dir wurzeln, und du würdest reich werden.“
*
*
*
Es war Mai, und es war wunderschön in den Dünen. Vom Strande aus war nichts anderes zu sehen als Sandhaargras und dann das Häuschen des alten Mannes mit dem Garten; die bunten Krokus standen in Blüte, und alle Bäume und Sträucher trugen dicke Knospen. Aber auf der Seite der Dünen, die gegen den Wind geschützt war, glänzte und leuchtete es so von Stiefmütterchen, daß selbst die schwarze Erde ordentlich neidisch wurde.
„Ei,“ sagte sie, „ich glaube wirklich, du willst mir nachäffen. Die Blumen hast du wohl gestohlen? [S. 146] Wie in aller Welt sollte deinem dürren Schoße all die Pracht entsprießen?“
„Ja... da siehst du es!“ rief der Sand stolz. „So sehe ich aus, wenn ich blühe.“
„Recht nett,“ meinte die Erde. „Aber das ist ja nicht echt. Bevor der Monat um ist, ist der dünne Staat längst abgeblüht.“
Und so kam es auch. Die Stiefmütterchen waren bald wieder weg, und der Sand war von neuem betrübt. Er hatte ja freilich seine Weidenbüsche und das Sandhaargras und das Sandrohr, das seine Ähren trug, so gut es konnte, und das wirklich ein Halbvetter des gelben Getreides war. Aber das Erdreich lachte bloß über sie alle und sagte, sie wären nicht des Anschauens wert und täten für keinen Pfifferling Nutzen hier in der Welt.
„Was für häßliche Blätter sie haben!“ spottete die Erde. „Wie garstig blaugrau und steif die sind! Kann man den Leuten so etwas bieten?“
Und als der Sand dann die wunderliche Mannstreupflanze präsentierte, die wie ein ganzer kleiner Strauch dastand, steif wie eine Distel, blaugrau von oben bis unten mit hellblauen Blüten — da war nicht ein Baum im Garten, der nicht lachte, daß die Blätter zitterten.
„Soll das eine Blume sein?“ fragte die Erde.
Es half nicht einmal, als die Knospen der Strandrose aufsprangen, so klein und niedlich sie auch war mit ihren feinen Blüten. Sie wie auch unsrer lieben Frau Bettstroh wurden als erbärmliche, garstige Geschöpfe verworfen. Und während sie sich nach Kräften abmühten, um schön auszusehen, prangte der Garten so im Schmucke herr [S. 147] licher Blumen, daß alle Bienen und Schmetterlinge, die in die Nähe kamen, ohne weiteres zu diesen Gartenblüten flogen und die armseligen Sandblumen sich selbst überließen.
„Laßt sie fliegen, laßt sie fahren!“ sagte der Sand. „Ich habe meine Tiere, und die sind gut.“
„So — —?“ erwiderte die Erde. „Darf man, ohne indiskret zu sein, nach dem Namen fragen?“
„Mit Vergnügen. Wenn wir auch arm sind, so sind wir doch ehrlich und haben den Mut, uns zu unseren Ansichten und Namen zu bekennen. Da ist zum Beispiel — —“
„Entschuldige, wenn ich dich unterbreche,“ sagte die Erde. „Aber vergiß nicht den toten Goldbutt, den ich da unten sehe.“
„Ich werde an ihn denken,“ entgegnete der Sand, „und ich kann recht gut mit ihm anfangen, wenn es dir Spaß macht. Er gehört ja nicht mir an, sondern dem Meere. Aber darunter liegen hundert Fliegenlarven, die ihr Morgen-, Mittags- und Abendfutter von ihm bekommen und gut dabei gedeihen.“
„Das ist ja eine sehr hübsche Geschichte,“ sagte die Erde, „ich glaube bloß nicht, daß sie wahr ist.“
„Lieber Wind,“ rief der Sand, „sei so freundlich, den Goldbutt da unten einen Augenblick umzudrehen.“
„Stets zu Diensten,“ antwortete der Wind, und — eins, zwei, drei! war der Goldbutt umgedreht.
Mit den Fliegenlarven hatte es seine Richtigkeit, denn da wimmelten dicke, weiße Maden in Scharen, und sie sahen aus, als wären sie sehr är [S. 148] gerlich darüber, daß ihnen ihr fauliger Goldbutt fortgenommen war.
„Na,“ sagte die Erde, „die Maden sind also wirklich da. — Was weiter?“
„Dann sind da die Rüsselkäfer auf dem Sandhaargras; an denen ist auch kaum etwas auszusetzen. Und dort unten am Strande läuft meine Spinne; ihr Hinterkörper ist so groß wie eine Nuß. Du hast gewiß keine größeren in deinen grünen Wäldern, deren du dich so rühmst.“
„Gut,“ sagte die Erde. „Die Spinne mag passieren. Aber es ist mehr nötig, wenn du daran denken willst, es mit mir aufzunehmen.“
„Daran denke ich durchaus nicht,“ erwiderte der Sand. „Ich nenne dir bloß das, was ich habe. — Hast du schon meine Grabwespe gesehen und meine schwarzen Schmetterlinge mit den roten Flecken auf den Flügeln? Und ich habe auch einen kleinen Maikäfer, wenn dir der besser gefallen sollte. Ich bin durchaus nicht so arm, wie ich aussehe.“
„Das ist hübsch, daß du vergnügt bist. Genügsamkeit ist auch sehr nötig in deiner Lage, und ein paar Tiere hast du ja wirklich. Nur mußt du entschuldigen, wenn ich finde, daß sie sehr unansehnlich sind.. gelb und grau und weiß. Selbst deine Möwen, auf die du so stolz bist, haben keine Farbe.“
„Ich denke, sie sehen aus, wie es am besten für sie ist. Es mag ganz richtig von deinen Vögeln sein, daß sie grün und gelb und rot leuchten, da sie ja zwischen Bäumen und Blumen umherfliegen. Die meinen sind gezwungen, sich anders zu kleiden, wenn sie sich vor ihren Feinden schützen sollen. Sie müssen aussehen wie das Meer und der Strand, über [S. 149] den sie hinfliegen. Und meine Insekten müssen mir ähnlich sehen, wenn sie denen, von denen ihnen Gefahr droht, entgehen wollen. Ich finde, du, da du so klug bist, müßtest das begreifen können.“
„Das sage ich ja eben,“ sagte die Erde. „Du und die Deinen, ihr seid arm und klein und müßt euch danach einrichten. Unsereins ist besser gestellt und kann darum flotter leben.“
Da stob der Sand wütend auf.
„Was ficht dich das an?“ sagte das Mannstreu und hob seine steifen hellblauen Blüten. „Wir freuen uns des Lebens und wünschen uns kein besseres Los.“
„Laß die Erde nur reden!“ sagte die Möwe und flog auf ihren langen Flügeln daher. „Der Strand ist schön, und das Meer ist groß, und in den grünen Wäldern ist es drückend schwül.“
„Verlaß dich auf mich, verlaß dich auf mich!“ flüsterte das Sandhaargras. „Ich gehöre dir und niemand anderem.“
„Ich liebe dich, du gelber Sand,“ sagte das Sandrohr und nickte mit seiner Spitze. „Ich würde sterben, wenn ich nicht in dir wohnen könnte.“
Und der Wind fächelte, die Wogen erbrausten, und der Sand tröstete sich, so gut er konnte. Aber die Erde lag fett und eingebildet in dem kleinen Garten und wußte recht gut, daß die anderen sich im stillen doch ärgerten.
*
*
*
Es war Hochsommer und entsetzlich warm. Der alte Mann hatte seinen Brunnen geleert, um seinen geliebten Garten zu wässern. Müde und be [S. 150] kümmert saß er mit gebeugtem Rücken auf der Bank und sah, wie die Blumen ihre Blätter hängen ließen und wie bestaubt und durstig die Bäume waren.
„Ich kann nicht mehr tun, als ich tue,“ seufzte er. „Wir müssen auf den Regen hoffen. Kommt der nicht, bevor die Woche um ist, dann sterben wir alle.“
„Wie geht es?“ fragte der Sand. „Wie wunderschön warm es ist! Das ist das richtige für mich und die Meinen.“
„Das will ich glauben,“ sagte die Erde. „Ihr Bettler seid an alles gewöhnt. Wir, die wir ein ordentliches Leben führen, haben natürlich zu leiden.“
Da lachten der Sand und das Mannstreu, das Stiefmütterchen, die Spinne, die Möwe und alle die anderen.
„Nun ist die Reihe an mir,“ erklärte der Sand.
„Mag sein,“ entgegnete die Erde. „Wenn auch alles, was mein ist, verdursten und verdorren soll, so möchte ich doch nicht in deiner Haut stecken, du armer Schlucker. Ich habe doch wenigstens gelebt!“
„Sehr lebendig sehen die hängenden Blätter nicht gerade aus,“ spottete der Sand. „Du bist jetzt beinahe ebenso trocken wie ich... und du fängst an, ganz grau zu werden.... Wer weiß, vielleicht erlebe ich es noch, dich ebenso arm zu sehen wie die, die du immer verhöhnst.“
„Du verstehst es nicht besser,“ sagte das Erdreich. „Du hast nicht genug Poesie, um es zu begreifen. Ich aber bin sogar in diesen trockenen Zeiten voll [S. 151] Melodien und voll der merkwürdigsten Märchen. Du hast gar keine Ahnung von all der Herrlichkeit und Schönheit, die aus mir quillt. In mir spielen sich große Dramen ab, erschütternde, entsetzliche Begebenheiten, die mir genug zu denken geben, während ich auf den Regen warte, wohingegen du beständig grau und gleichförmig und weiß und gelb und langweilig bist. Dein Sandhaargras würde noch einmal so starr zu Berge stehen, wenn ich es dir erzählte.“
„Erzähle!“ bat der Sand.
„Was könnte es nützen? Du verstehst es ja doch nicht. Ich könnte dir von allen den seltsamen Blumen erzählen, die in mir wachsen, da drüben in meiner Heimat. Könnte dir erzählen, wie listig sie es anfangen, Bienen und Fliegen anzulocken und ihnen ihren Staub mit auf den Weg zu geben bis zur nächsten Blüte. Ich könnte erzählen von dem Duft, der meine Wälder erfüllt... von meinen Feldern mit dem Getreide, das sich golden und schwer zu Boden neigt, und mit den blauen Kornblumen und dem roten Mohn dazwischen... von dem Aufspringen der Knospen und davon, wie im Lenz alles empordrängt zum Licht und wie alle ganz außer sich sind vor Freude: Menschen und Tiere, Blumen und Bäume. Erzählen könnte ich von den Ameisen... Hast du auch Ameisen?“
„Ein paar im Sandhaargras,“ flüsterte der Sand ganz verschämt.
„Ha! Aber ich habe sie zu Millionen, siehst du. Sie bauen gewaltige Hügel unter den Bäumen und rennen Tag und Nacht umher... Die Ameisen führen ein so merkwürdiges Leben! Aber das weiß [S. 152] ja jedes Kind, so daß ich gar nicht davon reden mag.“
„Das ist alles recht gut und schön,“ sagte der Sand, „aber wo bleibt das Fürchterliche, das Erschütternde?“
„Was hältst du zum Beispiel vom Kuckuck?“ fragte die Erde. „Kennst du den?“
„Nein,“ war die Antwort.
„Natürlich — woher solltest du ihn auch kennen! Das ist ein überaus vornehmer und verwöhnter Vogel, der jährlich nur ganz kurze Zeit hier im Lande wohnt... nur die schönsten Sommermonate über. So vornehm ist er, daß er selbst gar kein Nest baut, sondern seine Eier in die Nester anderer Vögel legt. Und die fremden Vögel brüten die Eier aus, in dem Glauben, es wären ihre eigenen. Der junge Kuckuck stößt die anderen Jungen dann zum Neste hinaus und frißt und frißt, und die Pflegeeltern sterben manchmal schließlich vor Hunger und Kummer.... Ach, das ist eine grauenhafte Geschichte, die einen in einer Sommernacht wach halten kann. Und der Kuckuck ist mein , verstehst du, und das alles sind meine Vögel und meine grünen Wälder...“
„Ja, die Geschichte ist wirklich schrecklich. Gott sei Dank, daß ich keinen Anteil daran habe!“
„Aus dir spricht der bloße Neid. Du bist alles andere als interessant. Das weißt du, und das quält dich.“
Der Sand stob und wehte, als bekäme er es bezahlt; denn er fühlte, daß die Erde recht hatte, und das ärgerte ihn.
„Ist denn von euch niemand interessant?“ fragte [S. 153] er mürrisch und sah sich zwischen den Seinen um. „Ist von euch wirklich niemand interessant?“
„Darf ich...“ begann das Sandrohr.
Die Erde lachte laut auf, und der Sand blickte mißtrauisch auf die Pflanze, deren Wipfel sich ganz leise hin und her wiegten, und die recht grau und langweilig aussah.
„Das wird gewiß eine schöne Geschichte werden,“ höhnte die Erde.
„Hast du wirklich etwas zu erzählen, liebes Sandrohr,“ mahnte der Sand, „dann erzähle! Aber vergiß nicht, wie sie uns auslachen, wenn wir nicht interessant sind.“
„Die Geschichte ist sehr traurig,“ sagte das Sandrohr. „Aber wenn ihr sie hören wollt, so stehe ich zu Diensten.“
„Darf ich fragen, was für Personen darin auftreten?“ forschte die Erde.
„Nur eine Person.“
„Und wer ist das?“
„Das bin ich.“
„Hahaha!“ lachte die Erde. Und alle Blumen und Bäume im Garten vergaßen ihren Durst und lachten mit.
„Erzähle!“ sagte der Sand zornig. „Aber ist die Geschichte nicht gut, so fege ich über dich hin und begrabe dich.“
„Das wäre keine Strafe für mich,“ entgegnete das Sandrohr. „Im Gegenteil. Ich fühle mich sogar am allerwohlsten, wenn du über mich hinwehst. Aber nun hört zu!“
Der Sand lag ganz still da mit seinen feinen Runzeln und Falten, und auch die Erde lauschte. [S. 154] Die Spinne blieb auf ihren langen zottigen Beinen stehen, die Fliegenmaden krochen unter dem toten Goldbutt hervor, die Möwe stand auf einem Stein dicht am Ufer, und der Wind und das Sandhaargras hörten auf zu flüstern. Sie waren alle so gespannt darauf, ob das Sandrohr etwas zu erzählen wüßte, das die prahlerische Erde zum Schweigen bringen könnte.
Und dann begann das Sandrohr:
„Ihr müßt wissen, daß es eigentlich eine große Schande ist, wenn das Sandhaargras in dem Rufe steht, den Sand in den Dünen zu binden; denn das besorge ich weit mehr.“
„Da sehen wir es!“ rief das Sandhaargras verletzt.
„Ich finde, ihr habt keinen Grund zum Zanken,“ sagte die Erde. „Aber wenn die Krippe leer ist, beißen sich die Pferde.“
„Es ist so, wie ich sage,“ fuhr das Sandrohr fort, „und ich finde, ihr sollt es wissen, weil mein Schicksal so unglücklich ist. Wenn ich aus meinem Samen hervorwachse, dann versende ich meine feinen Wurzeln weit und tief durch den Sand hin. Da, wo ich heraufkomme, treibe ich einen kleinen Büschel von Blättern, und von ihm aus kriechen meine Wurzelstöcke weit, weit über den Sand hin, schlagen wieder feine Wurzeln, bauen neue Blattbüschel usw., solange ich lebe.“
„Das ist ja gewiß sehr interessant,“ sagte das Sandhaargras höhnisch. „Aber diese Geschichte hätte ich ebensogut erzählen können, denn ich mache es genau so.“
„Interessant kann man es nicht nennen,“ verkündete die Erde. „Aber es ist rührend. Die Vorstellung, daß das Sandrohr in dem kläglichen Sande wachsen und wachsen soll, ist geradezu herzzerreißend.“
Aber das Sandrohr fuhr fort, ohne sich um das Gerede der anderen zu kümmern:
„Ich liebe den Sand wie keiner von den anderen, die hier wohnen; und alles, was ich besitze und habe, ist für den schönen fliegenden, stiebenden Sand eingerichtet. Die Blätter in meinen Knospen sind so zusammengerollt, daß die Knospen steif und stechend scharf sind und den Sand leicht durchbrechen können. Meine Blätter sind stark und fest, und ich lasse sie stets zusammengerollt, damit ich den Saft in ihnen bewahren kann. Alle meine Atemlöcher sitzen auf der oberen Seite, und ich drehe dem Winde stets die untere Seite zu, damit er mir keinen Verdruß bereitet.“
„Gott behüte, wie die Person prahlt!“ rief das Sandhaargras.
„Ich finde, sie hat nichts zu prahlen,“ sagte die Erde. „Das alles ist ja so unendlich ärmlich, trist und kläglich.“
„Jetzt kommt das Traurige,“ begann das Sandrohr von neuem. „Seht, ich habe es nun schon so lange mit angehört, wie das Erdreich meinen wunderschönen Sand verhöhnt und zum besten hat, und ich weiß, daß der Sand am liebsten gute, tüchtige Erde sein und Blumen und Bäume hervorbringen möchte. Ich benutze daher mein ganzes Leben dazu, dem Sande zur Erreichung dieses Zieles zu verhelfen. Ich binde ihn mit meinen Wurzeln und Wurzel [S. 156] stöcken, wenn er auffliegen will; ich banne und binde ihn, obwohl das mein Unglück ist.“
„Warum?“ fragte die Erde. „Es müßte doch auch für dich ganz hübsch sein, wenn der Sand ruhig und fest wäre. Dann könntest du in aller Stille wachsen und gedeihen, und deine Blätter würden eine bessere, grüne Farbe bekommen.“
„Nein,“ sagte das Sandrohr, „gerade das kann ich nicht. Ich lebe und sterbe mit dem fliegenden Sand. Ich kann gar nicht gedeihen, wenn der Sand nicht über mich hinfegt. Sooft einer von meinen kleinen Blattbüscheln vom Sande bedeckt wird, durchfließt mich ein Strom von Mut und Lebenslust und Freude. Ich fühle mich doppelt stark und doppelt froh, versende neue Triebe und wachse, wachse, bis ich durch den Sand emporgekommen bin.“
„Und dann?“ fragte die Erde.
„Dann bleibe ich wieder stecken,“ erwiderte das Sandrohr. „Es ist, als würde meine Kraft gelähmt, nachdem ich mein Ziel erreicht habe. Still und verzagt warte ich darauf, daß der Sand wieder über mich hinfegt und mir neuen Lebensmut gibt.“
„Seltsam, höchst seltsam!“ rief das Sandhaargras.
„Ja,“ fuhr das Sandrohr fort, „so ist es nun einmal mit mir. Darum sage ich, daß mein Los so unendlich traurig ist. Unermüdlich arbeite ich daran, meinen geliebten Sand zu binden, und wenn das geschehen ist, muß ich sterben. Ich arbeite an meinem eigenen Tode. Ich arbeite für andere. Sandhaargras, Mannstreu und das bunte Stiefmütterchen treten an meine Stelle. Wenn die Düne fest wird, so daß man sich auf ihr ansiedeln kann, [S. 157] dann ist das in erster Linie mir zu verdanken. Darum säen die Menschen mich auch überall in den Sand, und ich tue meinen Nutzen und sterbe. Das ist meine traurige Geschichte. Es schneidet mir ins Herz, sie zu erzählen, aber ich habe es getan, damit die dumme fette Ackererde sieht, wie wir in der Düne leben und daß es jemand gibt, der den armen weißen Flugsand mehr liebt als sein Leben.“
„Mein liebes, liebes Sandrohr!“ rief der Sand und bedeckte im Nu alle seine Büschel.
„Vielen Dank!“ sagte das Sandrohr. „Nun bin ich glücklich.“
„Das ist wirklich eine rührende Geschichte,“ sagte die Erde. „Eine niedliche Geschichte für junge Mädchen von Liebe und Aufopferung. Aber wo bleibt das Grauenhafte, Spannende, Dramatische?“
Da vergaß der Sand das liebevolle Sandrohr, über das er eben erst so gerührt gewesen, und stob und flog wie ein Rasender.
„Wie böse du bist!“ sagte er. „Ich bin froh, daß ich dir nicht gleiche.“
„Hahaha!“ lachte die Erde. „Die Trauben waren dem Fuchs zu sauer.“
Der Sand sagte nichts, grämte sich aber entsetzlich. Und das Sandrohr hörte nichts, sondern wuchs unter dem Sande weiter.
Am nächsten Morgen ganz in der Frühe kroch eine kleine, unansehnliche Fliege dicht an der Stelle umher, wo das schwarze Erdreich unter dem Zaune hervorkam und wo der Sand in seinem Gram und seiner Bitterkeit lag.
„Ich will dir einen Gefallen erweisen, du lieber weißer Sand,“ sagte die Fliege.
„Du?“ fragte der Sand.
Und die Erde spottete:
„Herr Gott, ist es schon so weit mit dir gekommen, daß du dir von den Fliegen Dienste erweisen lassen mußt?“
„Kümmere dich um dich selbst!“ sagte die Fliege. „Ich weiß, was ich weiß. Du denkst darüber nach, ob sich denn nicht auch in dir etwas Interessantes abspielen sollte... etwas recht, recht Grauenerregendes, Unheimliches, um das dich die schwarze Erde beneiden könnte.“
„So ist es!“ seufzte der Sand.
„Gut. Ich werde dir helfen. Ich werde dir etwas zeigen, das ärger ist als das ärgste, worauf die Erde verfallen kann. Und es ist keine Geschichte, sondern etwas, das vor deinen Augen passiert. Aber du mußt gut acht geben und Geduld haben, denn es dauert eine Weile.“
„Ich will aufpassen wie ein Schießhund und bis zum Jüngsten Tage warten.“
„Kennst du die Grabwespe?“
„Und ob ich sie kenne! Wo sie so in mir wühlt!“
„Gib auf sie acht. Und gib auf mich acht.... Da kommt sie! Nun mache ich mich aus dem Staube. Sie kennt mich ja allerdings nicht, aber man kann nie wissen...“
Wupps! — war die Fliege verschwunden.
„Es mag so lange hingehen, bis es regnet,“ bemerkte die Erde. „Möglich, daß es noch interessant wird, obwohl das Gerede der Fliege nicht gerade vielversprechend war.“
Da kam die Grabwespe geflogen. Sie glich aufs [S. 159] Haar einer Hornisse mit den schwarzen Ringen auf ihrem gelben Rumpf und ihren klaren Flügeln. Sie setzte sich auf den Sand, kroch ein wenig umher, schnüffelte, bis sie eine Stelle gefunden hatte, die ihr gefiel, und fing dann an zu graben. Sie spreizte ihre vier Hinterbeine gewaltig und grub mit den beiden Vorderbeinen. Der Sand flog ihr in einem Strahl unter dem Bauche hervor. Und sie fuhr fort, bis sie ganz tief hinabgekommen war, wo der Sand fester wurde.
Alle Augenblicke kam die Wespe, mit einem kleinen Klumpen beladen, wieder an die Oberfläche, und dann grub sie weiter, und so fort, bis sie fertig war.
„Mit Verlaub, was tust du da?“ fragte das Sandhaargras.
„Ich baue eine Haustür für meine Jungen,“ erwiderte die Grabwespe. „Jetzt bin ich fertig. Da unten ist ein Loch, so groß wie eine Walnuß. Nun will ich etwas Futter holen, und dann lege ich das Ei.“
„Warte mal,“ rief das Mannstreu. „Der Gang fällt ein.“
„Das ist nur der äußerste lose Sand,“ sagte die Grabwespe. „Da grabe ich mich leicht hindurch, und die Stelle erkenne ich an der Senkung. Es ist recht gut, daß der Sand einfällt, dann weiß niemand, wo mein liebes Kind wohnt, und niemand kann ihm Schaden zufügen.“
„Ein Kind?“ rief die Erde höhnisch. „Das ist gerade der Rede wert. Bei mir haben die Tiere stets viele Kinder.“
„Ich lege sechs Eier,“ erwiderte die Grabwespe. [S. 160] „Ein jedes in sein Nest. Vierzehn Tage lang muß ich umherfliegen und Futter für alle sechs Jungen holen. Das ist alles, was ich fertigbringe.“
„Da siehst du es, du eingebildete schwarze Erde,“ sagte der Sand und legte sich in die untersten Runzeln. „Sechs Junge, und jedes von ihnen hat sein eigenes Haus. Das ist fein — was?“
„Ich warte auf das Grauenerregende,“ entgegnete die Erde.
Die Grabwespe war bereits fort, und nun kam die Fliege zurück.
„Da ist es!“ rief sie sogleich und lief zu der Stelle hin, wo das Nest war.
Aber sie ging nicht ganz bis dorthin, sondern beschrieb einen großen Bogen.
„Hat sie das Ei gelegt?“ fragte sie.
„Nein,“ sagte das Sandhaargras. „Aber gleich kommt sie wieder, und dann tut sie es. Und sie bringt dem Jungen auch Futter mit. Sie scheint eine ausgezeichnete Mutter zu sein.“
„Jeder sorgt für seine Kinder, so gut er kann,“ erklärte die Fliege. „Ich sorge für die meinen. — — Niemand darf übrigens erzählen, daß ich hiergewesen bin.“
Weg war sie schon wieder, denn die Grabwespe kam zurück und brachte eine gewaltige Spinne herbeigeschleppt. Sie setzte sich vor das Nest, holte ein wenig Atem, stach und biß noch einmal in die Spinne, um sicher zu sein, daß sie auch wirklich tot war, und fing dann an, sie in die Höhlung einzugraben. Als das erledigt war, kam sie wieder herauf. Das Mannstreu und das Sandhaargras, der Sand und [S. 161] die Erde, das Stiefmütterchen und die Möwe, die draußen auf dem Stein saß, starrten sie gespannt an.
„Nun habe ich mein Ei gelegt,“ sagte sie. „Und Futter für das Kind ist auch da, wenn es auskriecht, was es wohl bald tun wird, da die Sonne so schön auf das gesegnete Land herniederschaut. Mehr kann ich vorläufig nicht tun. Morgen bringe ich neues Futter. Ich bitte euch: Sagt niemand etwas davon, wo mein Kind liegt.“
„Nein!“ riefen sie alle.
Dann flog die Grabwespe wieder fort, und die Fliege kam zurück.
„Ich rieche, daß sie hier war,“ sagte die Fliege. „Nun heißt es arbeiten, solange es Zeit ist.“
Damit grub sie sich in die Höhle hinab und blieb lange unten. Als sie wieder heraufkam, glänzte sie vor Vergnügen.
„Was hast du getan?“ rief das Sandhaargras.
„Ich habe getan, was ich für meine Kinder tun konnte,“ erwiderte die Fliege. „Ich habe da unten sieben Eier gelegt.“
„Was, glaubst du, wird die Grabwespe dazu sagen?“ fragte das Mannstreu.
„Wie soll sie es erfahren?“ sagte die Fliege. „Da unten ist es kohlrabenschwarz wie die Nacht; man kann keine Hand vor Augen sehen.“
„Aber wenn nun die Jungen der Grabwespe ausschlüpfen, dann fressen sie deine Eier auf,“ warf das Sandhaargras ein.
„Die meinen kommen zuerst heraus,“ erwiderte die Fliege und rieb sich vergnügt die Fühler. „Dann fressen sie die Kinder der Grabwespe auf und tun sich gütlich an all dem schönen Futter... [S. 162] Ja, vorläufig liegt ja nur eine Spinne da unten, aber sie bringt wohl noch mehr.“
„Sie sagte es wenigstens“ erklärte das Sandhaargras.
„Das ist recht. Ihr glaubt nicht, wie gut es für Fliegenkinder ist, mit Spinnen großgefüttert zu werden. Es gibt doch noch Gerechtigkeit in der Welt.“
Die Fliege flog fort, und die anderen starrten einander an.
„Es ist eigentlich ein widerwärtiger Anblick,“ begann die Erde.
„Du solltest an deinen Kuckuck denken,“ erwiderte der Sand voller Hohn. „Wolltest du nicht das Grauenhafte, das spannende haben?... Ich finde, die Sache fängt sehr vielversprechend an.“
Und dann ermahnte der Sand die anderen, es möge sich keiner hineinmischen, was auch immer geschehen möge. Denn ihre Ehre stehe auf dem Spiele; es komme darauf an, sich gegenüber der eingebildeten Erde zu behaupten. Das versprachen sie denn auch feierlich, aber in der Nacht konnten sie alle vor Spannung nicht schlafen.
Erst am Mittag des folgenden Tages zeigte sich die Grabwespe. Diesmal hatte sie eine Schmetterlingslarve bei sich.
„Man hat so viel zu tun,“ sagte sie. „Das Ei hier in dem Loch ist mein jüngstes. Meine anderen Jungen sind schon ausgeschlüpft, darum gehen sie vor.“
„Du arbeitest dich ja ganz ab,“ sagte das Sandhaargras.
„Oh, man bringt eine ganze Menge zustande, wenn man muß. Wenn man nur die Beute er [S. 163] wischen kann. Aber hier hat man ja nicht viel Auswahl.“
„Ja, hier ist es grauenhaft ärmlich,“ zeterte die Erde.
„Ich will ja nicht klagen,“ sagte die Grabwespe. „Ich brauche etwa hundert Stück während dieser Zeit: Fliegen, Spinnen und Larven, wie es kommt; und die finde ich auch. Wenn nur niemand meine Nester ausfindig macht und den Kindern das Futter wegnimmt.“
„Wer sollte das tun?“ fragte das Sandhaargras. „Hast du viele Feinde?“
„Feinde haben ja alle ordentlichen Leute. Da ist zum Beispiel die Goldwespe, die faule Person. Die mag nicht selber Futter einsammeln und legt ihre Eier in meine Nester. Aber vor der habe ich in dieser Gegend allerdings weniger Angst. Die wird meiner Familie in den fruchtbaren Gegenden gefährlich. Aber dann ist da eine Fliege, die sich ebenso schändlich benimmt. Doch ich denke, ich habe das Nest so gut versteckt, daß sie es nicht findet.“
„Aha... das ist ja eine Art Kuckuck!“ warf die Erde ein.
„Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß es ein garstiges Geschöpf ist. Und wenn ich sie erwischen könnte, würde ich ihr schleunigst den Garaus machen.“
Dann grub die Grabwespe sich mit der Larve hinab, kam wieder herauf und flog davon. Bald darauf ließ sich die Fliege sehen, kletterte gleichfalls hinab und kehrte vergnügt an die Oberfläche zurück.
„Alles in Ordnung,“ erzählte sie. „Es geht ausgezeichnet.“
Über vierzehn Tage lang brachte die Grabwespe täglich Futter herbeigeschleppt.
„Gott sei Dank!“ sagte sie. „Das Kind hat Appetit. Es ist fast das gefräßigste von den sechsen. Ihr könnt euch keinen Begriff davon machen, wie es frißt.“
„Wie sieht es denn aus?“ fragte das Sandhaargras.
„Woher sollte ich das wissen? Da unten ist es ja kohlrabenschwarz. Ich bekomme meine Kinder nie zu sehen; aber ich kann wenigstens mit gutem Gewissen sterben, wenn ich sie so gut füttere. Und es ist klar, daß es tüchtige Geschöpfe sind, wenn sie so fressen.“
„Entsetzlich!“ rief das Mannstreu, als die Grabwespe fort war.
„Eine unheimliche Geschichte — was?“ sagte der Sand.
„Hm,“ erklärte die Erde, „ich leugne nicht, daß die Sache anfängt, spannend zu werden. Aber noch haben wir ja nicht das Ende gehört. Wir wollen erst einmal sehen, wie das sein wird. Niemand von uns weiß ja, was da unten in der Höhle vorgeht.“
Am fünfzehnten Tage kam die Grabwespe ohne Futter und auf sehr matten Flügeln geflogen.
„Nun kann ich nicht mehr,“ seufzte sie. „Und ich will hoffen, daß ich genug getan habe. Ich fühle deutlich, daß ich sterben muß.“
„Warte doch noch ein wenig, und sieh dir dein Kind einmal an,“ sagte das Sandhaargras.
„Das erlebe ich nicht mehr,“ erwiderte die [S. 165] Grabwespe. „Auch ich habe meine Eltern nie gesehen.“
Ein Weilchen saß sie noch da und betrachtete den Eingang zu der Höhle, glättete mit ihren letzten Kräften den Sand, um das Nest zu verstecken, streckte dann die Beine von sich und war tot.
„Es war eine gute Seele!“ predigte das Sandhaargras.
Doch das Mannstreu rief: „Da kommt die Fliege!“
„Nun werden wir den letzten Akt des Dramas erleben,“ sagte die Erde, die fürchterlich neugierig war, aber es ungern zeigen wollte.
„Ungeheuer spannend!“ meinte der Sand. „Viel, viel fürchterlicher als die Geschichte vom Kuckuck. Und dann ist es eben gar keine Geschichte, die man glauben oder nicht glauben kann, sondern es spielt sich alles unmittelbar vor unseren Augen ab.“
Als die Fliege die Grabwespe sah, fuhr sie erschrocken zurück.
„Habe keine Angst!“ sagte das Sandhaargras. „Sie ist tot. Und von deinen Schurkenstreichen hat sie nie etwas erfahren.“
„Spare deine Schimpfworte!“ entgegnete die Fliege. „Ich sorge für meine Kinder, wie wir alle es tun. Das ist das ganze. — Aber ich glaube, jetzt müssen sie bald zum Vorschein kommen.“
Alle starrten gespannt nach der Stelle, wo der Eingang zu der Höhle war, und nach kurzer Zeit begann es im Sande zu rascheln. Ein dünnes Beinchen tauchte auf... und noch eins... und noch vier, und dann stand eine neugebackene Fliege da, die niesen mußte und sich den Sand aus den Augen [S. 166] wischte und auf und davon flog, ohne ihrer Mutter auch nur guten Tag zu sagen.
„Das ist mein Sprößling!“ sagte die Fliege.
„Unverkennbar,“ sagte das Mannstreu. „Dieselben niedlichen Manieren.“
Und dann kam noch eine junge Fliege zum Vorschein und dann nacheinander noch fünf.
„Na,“ fragte der Sand, „was sagst du nun, meine liebe Erde?“
„Ich?“ erwiderte die Erde, als ginge das ganze sie nichts an. „Ich sage nur soviel: jetzt regnet es.“
Und so war es. Der Regen machte der Geschichte schnell ein Ende.
Hoch oben in Norwegen an einem breiten Fjord liegt ein kleines Fischerdorf. Die Häuser sind nur aus Holz und winzig und ärmlich. Auch die kleine Kirche ist aus Holz und hat keinen Turm. Dann ist da noch das Haus, in dem der Kaufmann wohnt, [S. 167] und das Haus des Doktors und das niedrige alte Pfarrhaus, und sonst nichts als Fischerhütten.
Felder sind nicht vorhanden. Rings sieht man nur nackte Felsen und dann den Fjord und dahinter das weite Meer. Am Strande sind die Boote in der Regel aufs Land gezogen, damit die See sie nicht forttreibt. Alle Bewohner des Dörfchens leben vom Fischfang, und wenn der Ertrag ausbleibt, dann herrscht Jammer und Elend.
In dem Jahre, in dem diese Geschichte beginnt, mußte man sehr lange auf den Hering warten.
„Kommt der Hering nicht, dann müssen wir verhungern,“ sagte die älteste Fischerfrau. „Ich bin nun zweiundsiebzig Jahre alt geworden, und noch nie ist es passiert, daß der Sommerhering so spät im August noch nicht da war. Niemand von uns hat ja noch Brot im Hause.“
Der Kaufmann betrachtete traurig die vielen, vielen Tonnen Salz, die er zum Einsalzen der Heringe gekauft hatte. Und er sah in seinen Büchern noch, wieviel Kredit er den Fischern gegeben hatte, und wurde noch trauriger.
„Kommt der Hering nicht, so mache ich Bankrott,“ sagte er.
„Kommt der Hering nicht, so reisen wir nach Amerika,“ sagten die jungen Fischer.
„Kommt der Hering nicht, so geschieht das um eurer Sünden willen,“ sagte der Pastor.
„Wenn der Hering in diesem Jahre nicht kommt, so liegt das daran, daß das Wasser nicht salzig genug ist,“ sagte der Doktor. „Oder daß es nicht warm genug ist; oder daß der Meeresboden nicht mehr für die Eier geeignet ist.“
Die Fischer hörten das und schüttelten den Kopf. Am meisten Glauben hatten sie zum Pastor und am wenigsten zum Doktor.
Aber da war ein uralter Fischer, der sehr selten das Wort ergriff und dem darum alle aufmerksam zuhörten, wenn er den Mund auftat.
„Ich will euch etwas sagen, Kinder,“ begann er. „Wenn der Hering nicht kommt, so hängt das damit zusammen, daß die Wale und Möwen und Dorsche ihn nicht hier hereintreiben.“
„Du bist selber ein Dorsch und ein Dummkopf, Ole,“ entgegnete der Doktor. „Die Wale und Dorsche und Möwen rennen dem Hering nach, genau so wie ihr . Wo der Hering ist, da seid auch ihr.“
„Ja, wenn der Doktor mir sagen kann, wo der Hering ist, dann werde ich sofort dorthin gehen,“ sagte Ole. „Soviel ich sehe, sind der Hering und ich augenblicklich nicht beisammen.“
Da lachten alle. Auch der Doktor stimmte mit ein, und Ole war ganz stolz darauf.
„Gebt acht auf das, was ich sage,“ fuhr er fort. „Sobald ihr die Wale und Möwen draußen am Strande zu sehen bekommt, dann habt ihr auch den Hering hier.“
Da stiegen alle auf den Gipfel des Felsens und starrten aufs Meer hinaus. Aber sie sahen an diesem Tage nichts und am folgenden ebensowenig, und so verging ein Tag nach dem anderen.
„Lasset uns zu Gott beten, daß er uns unsere Sünden vergibt!“ sagte der Pfarrer.
„Laßt uns zu Gott beten, daß er das Wasser salzig und warm und den Meeresboden geeignet macht, wie es dem Hering nottut,“ meinte der Doktor.
„Laßt uns zu Gott beten, daß er die Wale und Möwen auf die Jagd gehen läßt,“ sagte der Fischer Ole.
Und die einen beteten, während die anderen fluchten und schalten, und wieder andere weinten und jammerten, ein jeder nach seiner Natur. Aber Tag für Tag erstiegen die, die gehen und kriechen konnten, die Klippe, um auf das Meer zu schauen.
Und eines Tages gab der alte Ole, der dort oben ganz am Rande mit seinem Fernrohr stand, ein entsetzliches Gebrüll von sich.
„Da ist er, da ist er!“ schrie er.
„Kannst du ihn auf die Entfernung hin sehen, Ole?“ fragte der Doktor.
„Nein, aber ich sehe den Wal,“ erwiderte Ole. „Er stößt große Wasserstrahlen aus den Nasenlöchern aus, sie spritzen wie Springbrunnen hoch in die Luft. Ein Dutzend Strahlen habe ich zählen können. Nun tut, was ihr wollt. Ich gehe an den Strand und bringe meine Netze in Ordnung.“
„Warte ein wenig,“ sagte der Doktor. „Es eilt nicht so fürchterlich, Ole. Wenn der Hering hier ist, so weißt du ja, daß er hierbleibt, bis er seine Eier gelegt hat, und da auf jeden Hering mindestens 30000 Eier kommen, haben wir Zeit in Hülle und Fülle.“
Jetzt sahen sie alle, wie die Wale draußen ihre Wasserstrahlen in die Höhe stießen. Immer mehr und mehr sammelten sich zu einem gewaltigen Kreise. Jetzt sah man auch die schwarzen Rücken der Tiere... und Delphine und Thunfische sprangen hoch empor. In immer dichteren Schwärmen fanden sich auch die Möwen ein. Alle Augenblicke [S. 170] stürzte sich eine von ihnen ins Wasser und ergriff einen Hering, der der Oberfläche zu nahe gekommen war.
„Ja, da sind sie,“ sagte der Doktor.
„Ganz recht,“ fiel Ole nicht ohne Stolz ein.
Und dann zeigte er ihnen, wie das Wasser so sonderbar gleichmäßig und blank wurde und in seltsamen Farben glänzte. Das seien die Heringe, erklärte er, die in dichten Schwärmen dicht unter der Meeresfläche schwimmen.
Und die Leute sahen, wie an der Oberfläche beständig Luftblasen aufstiegen.
„Der Hering steht heuer hoch im Wasser,“ sagte Ole.
„Warum?“ fragte der Doktor.
„Weil die Luftblasen nicht gleich zerspringen,“ erklärte Ole. „Wenn sie das täten, sobald sie an die Oberfläche kommen, dann stände der Hering tiefer.“
„Es müssen entsetzlich viele Heringe sein,“ sagte der Pfarrer.
„Allerdings,“ war Oles Antwort. „Wir nennen es ja auch Heringsberg .“
„Wie groß mag der Berg denn sein, Ole?“ fragte der Doktor.
„Der Herr Doktor kann das ja selber ausrechnen. Der Schwarm reicht in der einen Richtung wohl ein paar Meilen weit und in der anderen auch. Und wenn wir fünf Faden in der Tiefe rechnen, dann sagen wir nicht zuviel. Vielleicht können Sie nun herausbekommen, wie viele Heringe es sind.“
Der Doktor rechnete eine Weile.
„Ich denke, es werden etwa 500 Millionen sein,“ sagte er dann.
„Nein, das glaube ich nicht,“ erklärte Ole entschieden.
„Dann würden wir ja alle in Heringen ertrinken,“ meinte der Pfarrer.
„Pah!“ entgegnete der Doktor. „Sehen Sie mal, wie die Möwen und Wale und Haie dort fressen. Und niemand sieht, was die Dorsche unter dem Wasser ausrichten; aber das sind gerade die allergefräßigsten von allen. Nicht der hundertste Teil von allen diesen Heringen gelangt in die Salztonnen des Kaufmanns.“
„Aber dann kommen ja neue,“ sagte der Pfarrer. „Sie sind ja so klug, Herr Doktor. Ich denke, Sie sagten, jeder Hering lege 30000 Eier. Wieviele davon werden denn groß?“
„Zwei,“ war die Antwort.
„Zweitausend?“ fragte der Pfarrer.
„Zwei,“ wiederholte der Doktor.
„I, das glaube ich nicht,“ sagte der Pfarrer. —
Dann ging man an den Strand. Die Boote wurden ins Wasser geschoben, und der Fang begann.
Man konnte sich nicht erinnern, daß der Ertrag je so reich ausgefallen war. Die Netze, die man aus dem Wasser zog, waren bis an den Rand gefüllt, so daß die Boote fast kenterten. Die Frauen arbeiteten vom Morgen bis zum Abend, um die Tiere aus den Maschen zu ziehen. Das ganze Dorf glänzte wie Silber vor lauter Heringsschuppen. Man sah und roch nichts als Heringe.
Aber das war gut, denn der Hering bedeutet Nahrung, Kleidung und Reichtum.
Es kamen Dampfer, bloß um die vielen tausend Tonnen mit gesalzenen Heringen abzuholen. Der Kaufmann verbrauchte all das Salz, das er hatte, und mußte sogar noch mehr holen lassen. Die Fischer bezahlten ihm ihre Schulden und kauften sich Branntwein und Tabak und Garn für neue Netze und Speck für den Winter und ein neues Tuch für ihre Frauen und alles, was ihr Herz begehrte.
Über einen Monat dauerte der Heringsfang. Als er zu Ende war, da waren alle fröhlich und guter Dinge.
„Gott hat euch eure Sünden vergeben!“ sagte der Pfarrer.
„Das Wasser hatte die richtige Wärme und war salzig genug, und der Meeresboden hatte die richtige Beschaffenheit,“ sagte der Doktor.
Aber Ole meinte: „Die Wale und Möwen sind zur rechten Zeit gekommen.“
Während nun der Kaufmann des Fischerdorfes alle die Taler zählte, die er verdient hatte, und während die Bewohner sich des guten Ertrages freuten, hatten sich die Heringe, die mit dem Leben davongekommen waren, wieder ins Meer begeben.
Doch vorher hatten sie auf dem Grunde des Fjords ihre Eier gelegt.
Es waren winzige Eierchen, die wie an Schnüren zusammengeklebt und an Steinen und Wasserpflanzen und allem, was sich sonst auf dem Boden des Fjords fand, befestigt waren.
Ihrer waren so viele, daß es ganz unmöglich gewesen wäre, sie zu zählen. Eine große Anzahl von ihnen wurde auch von dem kleinen Getier ge [S. 173] fressen, das da unten umherschwamm. Aber es blieben dennoch genug übrig, die in dem klaren stillen Wasser lagen und darauf warteten, ausgebrütet zu werden.
Und allmählich kamen die Larven. Das waren drollige Fische, die kein Maul hatten, aber zwei große Augen. An ihrem Bauch hing vom Ei her ein großer Sack. Sie waren durchsichtig und hatten keine Schuppen, und niemand, der sie kannte, wäre darauf verfallen, daß jemals Heringe daraus werden könnten.
Sobald sie aus den Eiern heraus waren, schwammen sie weg. Zuletzt waren nur noch zwei Eier übrig. Sie saßen aneinandergeklebt auf einem Stein, wo sie schon länger als einen Monat saßen, ohne begreifen zu können, was daraus werden sollte.
„Merkst du nichts?“ fragte das eine Ei.
„Doch,“ erwiderte das andere. „Es zieht an mir... es dauert nicht mehr lange.“
„Es ist auch wirklich Zeit,“ meinte das erste Ei. „Alle anderen sind schon weg, nur wir sind noch übrig.“
„Das kommt daher, weil wir am allertiefsten sitzen,“ entgegnete das andere Ei. „Hier ist es zu kalt, darum dauert es so lange mit uns.“
Dann saßen sie noch eine Weile nebeneinander, bis die Eier sich öffneten und zwei Heringslarven hervorkamen, die den anderen glichen, aber größer waren, weil sie so lange Zeit gebraucht hatten.
„Was nun?“ fragte die erste.
„Ja, was nun?“ sagte die andere.
Sie blickten mit ihren großen Augen durch das [S. 174] klare Wasser hin, soweit sie sehen konnten. Da glitten Dorsche vorüber und andere seltsame Tiere, vor denen sie große Angst hatten. Sie wußten nicht, wohin sie sich wenden sollten, und blieben dicht beisammen, genau so wie früher, als sie noch im Ei gelegen hatten.
„Ich glaube, das Leben ist nicht so leicht für einen kleinen Hering,“ sagte der eine.
„Wir müssen zusammenhalten,“ erwiderte der andere. „Wir sind ja Geschwister und wollen einander nie verlassen.“
„Es ist doch möglich, daß wir getrennt werden,“ sagte Nummer 1. „Ich finde, hier ist ein entsetzlicher Wellenschlag.“
„Mag sein,“ entgegnete Nummer 2. „Aber wir könnten uns doch wohl irgendwo in der Welt treffen.“
„Meinst du, daß wir uns erkennen würden? Alle Heringe der Welt gleichen einander. Das sagte mir meine Mutter, als sie mich legte.“
„Richtig, das sagte sie. Ach, erinnerst du dich an all das, was Mutter sagte? Sie erzählte von ihren langen Reisen und allen den Ängsten und Gefahren, die sie hat durchmachen müssen. Sie erzählte von den häßlichen Möwen und Haien und Walen und allen den anderen Tieren, die Jagd auf sie gemacht hatten und auch ihren Kindern nachstellen würden. Und von den Menschen, die den Heringen aufpaßten und sie in Netzen einfingen.“
„Ja, aber erst, wenn wir groß geworden sind,“ sagte Nummer 1.
„Entsinnst du dich nicht auch, was sie von allen den Tieren erzählte, die uns fressen würden, solange [S. 175] wir klein wären? Ich habe selber gesehen, daß das richtig war, was sie berichtete. Ich sah, wie viele, viele von unsern Schwestern gefressen wurden, sobald sie aus dem Ei kamen.“
„Ja, viele sind gefressen worden, während sie noch im Ei lagen,“ sagte Nummer 1.
„Wir wollen zusammenhalten,“ ermahnte Nummer 2. „Wenn unser nur mehr wären. Das Meer ist zu groß für zwei kleine Heringe wie wir.“
„Wir wollen uns ruhig hinauswagen, dann werden wir schon Gesellschaft finden,“ schlug Nummer 1 vor.
Da schwammen sie ins Meer hinaus, so gut sie es verstanden. Und so klein und schwach waren sie, daß sie, als sie sich kaum eine Meile vom Lande entfernt hatten, bereits glaubten, mitten im großen Weltmeer zu sein. Sie trafen andere Heringe und schlossen sich ihnen an.
Während sie so dahinschwammen und fraßen, was sie erwischen konnten, wuchsen alle die kleinen Geschöpfe und sahen immer mehr und mehr wie richtige Heringe aus. Ein Maul hatten sie schon nach ein paar Tagen bekommen, nachdem sie aus dem Ei geschlüpft waren. Sie waren auch nicht mehr durchsichtig und hatten jetzt Flossen und ganz kleine silbern glänzende Schuppen.
Doch die beiden, die im Ei zusammen auf demselben Stein gesessen hatten, blieben die ganze Zeit über nahe beisammen.
„Laßt uns hinaufschwimmen,“ sagte Nummer 1. „Ich möchte an die Oberfläche des Wassers, da sieht es so herrlich hell aus.“
Nun schwammen sie alle hinauf, kehrten aber [S. 176] schleunigst um, so sehr stach ihnen das Licht in die Augen; und von diesem Tage an gingen sie nie wieder an die Oberfläche, außer in dunkeln Nächten.
„Wohin schwimmen wir eigentlich?“ fragte Nummer 2.
„Ich folge der Wolke, die ich vor mir im Wasser sehe,“ erwiderte Nummer 1. „Das ist eine Nahrungswolke, wie du wohl merkst. Und ich mache mir nur etwas aus dem Fressen, bis ich recht groß und stark und dick bin.“
Nun schwammen sie auf die Wolke zu, die aus einer riesigen Schar winziger Tierchen bestand, die hin und her getrieben wurden vom Strom und Wind. Der Doktor oben im Fischerdorf nannte die Wolke „Plankton“ und erzählte dem Pfarrer und Ole, wie die Schar Tierchen sich im Mikroskop ausnehme.
„Das ist das beste Fressen für den Hering,“ sagte er.
Aber Ole wollte ihm das nicht glauben.
„Der Hering lebt vom Wasser,“ meinte er. „Wer hat je etwas anderes als Wasser im Magen des Herings gefunden?“ —
„Nimm dich in acht vor dem Dorsch da,“ sagte Nummer 1 und entwischte blitzschnell nach dem Grunde hin.
„Wo?“ rief Nummer 2. Aber da hatte ihn der Dorsch schon aufgefressen.
Nun stand der kleine Hering allein in der Welt da. Das heißt, Kameraden hatte er ja genug; denn während er wuchs und gedieh, wuchs auch der Heringsschwarm an. Der bestand jetzt schon aus vielen Tausenden. Aber dem kleinen Hering fehlte der, [S. 177] der von Anfang an sein Kamerad gewesen war, und das sagte er auch den anderen.
„Es ist nicht gut für einen kleinen Hering, allein zu sein,“ sagte er.
Aber nun war da ein alter, großer, fetter Hering, der aus Versehen unter alle die jungen geraten war.
„Ein Hering, der allein ist, ist kein Hering,“ sagte der Alte. „Erst wenn die Heringe sich zu einem ungeheueren Schwarm vereinigen, können sie hoffen, respektiert zu werden. Dann machen die Haie und Wale und Möwen und Dorsche Jagd auf sie, und die Menschen gehen auf den Heringsfang. Und die, die nicht gefangen oder gefressen werden, können hoffen, ihre Eier zu legen und zu entwischen und sich zu neuen Schwärmen zu vereinigen, um das Leben von neuem zu beginnen.“
„Das ist ein böses Leben,“ meinte der kleine Hering.
„Das Leben ist niemals gut,“ erwiderte der Alte. „Die Dorsche machen Jagd auf die Heringe und die Haie auf die Dorsche, und die Menschen machen Jagd auf die Haie.“
„Wer macht Jagd auf die Menschen?“ fragte der kleine Hering.
„Das weiß ich nicht,“ erwiderte der Alte. „Ein kleiner Hering fragt oft mehr, als zehn alte beantworten können. Aber du kannst ruhig sein: die Menschen haben ebensogut ihre Feinde wie wir.“
Dann schwammen sie weiter, und mit jedem Tage vergrößerte sich der Schwarm.
Bald zog er aufs offene Meer hinaus und fraß und fraß von dem Plankton, das überall wie eine [S. 178] Wolke wogte. Bald hielten sie sich an der Küste auf, wenn sich die Wolke dahin verzogen hatte.
Aber als auf diese Art ein halbes Jahr verstrichen war, da meinte der kleine Hering, er sei nun so groß geworden, daß er etwas anderes tun könne, als immer und immer fressen.
„Das Essen schmeckt mir nicht mehr recht,“ sagte er.
„Das kommt bloß daher, weil du satt bist,“ erklärte der Alte. „Ich denke auch, daß du jetzt groß genug bist, um Eier zu legen.“
„Wo soll ich das tun?“ fragte der kleine Hering.
„Im Fjord, wo du selber gelegt worden bist,“ erwiderte der Alte. „Ja, ich bin fünfmal da gewesen, so daß ich Bescheid weiß. Aber wir schwimmen erst dorthin, wenn wir dazu angepeitscht werden. Denn es ist eine lebensgefährliche Tour, die man nicht zum Vergnügen macht.“
Sie schwammen und schwammen. Doch da erhob sich ein heftiger Sturm.
„Auf den Grund, auf den Grund und ins Meer hinaus!“ rief der alte Hering. „Schließt euch um mich zusammen. Ich bin der stärkste und schwimme an der Spitze, die größten von euch folgen dicht hinter mir... so dicht ihr könnt, Seite an Seite und Kopf an Schwanz.... Dann sind wir gewissermaßen ein ungeheuer großer Fisch und kommen im Wasser rascher vorwärts.“
Sie taten, was der alte Hering sagte, und der ganze Schwarm zog ins Meer hinaus. Er hielt sich auch möglichst nahe am Boden, solange der Sturm dauerte. Als es aber wieder still wurde und sie em [S. 179] porstiegen, sahen sie einen riesigen Bartenwal ganz ruhig auf dem Wasser liegen.
Da erschraken die Heringe furchtbar. Der kleine Hering befand sich unmittelbar vor dem Schlunde des Wals und konnte sich nicht rühren, so gelähmt war er vor Angst.
„Du brauchst keine Furcht zu haben, mein kleiner Freund,“ sagte der Bartenwal. „Ich kann dich nicht fressen, wenn ich auch möchte. Ich habe keine Zähne, und obwohl ich das größte Tier des Meeres bin, muß ich mich von den allerkleinsten Geschöpfen ernähren, die im Plankton umhertreiben.“
„Genau wie ich,“ rief da der kleine Hering fröhlich.
„Nimmst du mir mein Fressen fort, dann scher dich zum Teufel!“ sagte der Bartenwal und schlug heftig mit dem Schwanz um sich, so daß der Heringsschwarm nach allen Seiten zerstreut wurde.
Aber sie kamen bald wieder zusammen, und der kleine Hering konnte nicht begreifen, warum der Bartenwal so böse gewesen war.
„Es frißt ja niemand von uns etwas,“ sagte er. „Ich habe schon lange kein Fressen in meinem Maule gehabt. Ich weiß nicht, was das ist, aber in mir reißt und jagt etwas. Ich will fort und will etwas erleben.“
„Du willst Eier legen, das willst du!“ sagte der alte Hering. „Und das wollen wir alle. Laßt uns jetzt machen, daß wir fortkommen. In Reih und Glied mit euch, Kinder, dann segeln wir nach dem Fjord.“
Von allen Seiten tauchten neue Heringe auf, und der Schwarm war fast zwei Meilen lang und [S. 180] ebenso breit. Das Wasser wallte und rauschte, wo er erschien.
Und hoch oben in der Luft kamen die Möwen schreiend von allen Seiten herbei. Sobald ein Hering sich der Oberfläche des Wassers zu sehr näherte, stürzten die weißen Vögel hinab und ergriffen und fraßen ihn.
„Es ist gut, wenn man recht tief unten schwimmt,“ sagte der kleine Hering und drückte sich zwischen die anderen.
In diesem Augenblick bekam er einen ungeheueren Stoß und flog beiseite. Ein gewaltiger Dorsch segelte durch den Heringsschwarm hindurch, ergriff einen nach dem anderen mit seinen spitzen Zähnen und verschlang sie.
„Ja, dies ist hier kein Kinderspiel,“ sagte der alte Hering. „Vielleicht möchtest du jetzt lieber nicht mit im Schwarm sein?“
„Nein, nein, ich muß vorwärts,“ erwiderte der kleine Hering. „Ich merke es in mir, daß ich nicht mehr umkehren kann.“
„Du hast recht,“ sagte der alte Hering. „Du könntest es nicht, wenn du auch Lust hättest. Hast du den Mut, die Nase über das Wasser zu stecken, so wirst du es sehen.“
Der kleine Hering tat es, zog sich jedoch schleunigst wieder zurück.
Die ganze Luft war voll von kreischenden Möwen, und ringsum, soweit der kleine Hering sehen konnte, sprangen Delphine und Thunfische, und die großen Wale sandten ihre Wasserstrahlen hoch in die Luft.
„Wir sind ja ganz eingesperrt,“ sagte der Hering erschrocken.
„Allerdings,“ entgegnete der alte Geselle. „Und guck nach vorn! An der Küste siehst du die Menschen mit ihren Netzen und Booten und den garstigen Salztonnen stehen, in die wir hineingesteckt werden sollen, wenn wir nicht entwischen.“
„Ich muß trotzdem vorwärts,“ erklärte der kleine Hering. „Ich weiß nicht, was es ist, aber vorwärts muß ich.“
„Das ist die Bestimmung der Natur,“ sagte der Alte. „Ihr kann niemand entrinnen, ob groß oder klein. Ein so mächtiges Tier gibt es in der ganzen Welt nicht, das seinem eigenen Trieb Trotz bieten könnte. Vorwärts mit euch Heringen... vorwärts, vorwärts!“
Und es ging vorwärts mit unwiderstehlicher Macht. Die Dorsche fraßen so manchen Hering, und die Möwen desgleichen, aber die Reihen schlossen sich immer wieder, und man sah gar nicht, daß es weniger geworden waren. Niemand dachte mehr an seinen Nebenmann, sondern jeder schwamm geradeswegs auf den Fjord zu.
„Das gibt heuer einen großartigen Fang,“ sagte Ole, der auf dem Felsen stand und hinausspähte.
„Ja, dies ist eine glückliche Küste,“ meinte der Doktor.
„Gott segnet uns trotz unserer Sünden,“ sagte der Pfarrer.
Da liefen alle an den Strand hinunter und setzten die Boote ins Wasser und warfen die Netze aus und taten einen schweren Zug nach dem anderen.
Aber der kleine Hering lag tief im Wasser, nahe am Grunde, und dachte gar nicht an die Gefahr, der er sich aussetzte. Und er legte Eier, zehn, zwanzig, hundert und tausend... bis er sie alle los war.
Und während des Eierlegens schwatzte er, genau so wie seine Mutter geschwatzt hatte. Ganz verworrene Dinge erzählte er, ohne sich darum zu kümmern, ob jemand ihn hörte:
„Ach, Kinderchen, Kinderchen... es ist so herrlich, in dem großen, weiten Meere zu leben und umherzuschwimmen. Die Möwen sind hinter uns her und die Haie und Dorsche und Thunfische und Menschen und viele andere böse Geschöpfe. Und doch läßt sich nichts in der Welt mit dem Leben eines Herings vergleichen. — — Ihr wißt nicht, wie schön es ist, hinter dem Plankton herzuschwimmen und Tag und Nacht zu fressen. Ihr wißt nicht, wie schön und still es da unten in den tiefen Gewässern ist, wenn oben die Wogen dahinrollen, wie herrlich es ist, in einer finstern, ruhigen Nacht an die Oberfläche zu schwimmen und seine Schuppen in dem schwachen Licht glänzen zu lassen. — Aber nichts war so schön wie die Reise hierher, um euch in die Welt zu setzen. Ich kann es euch gar nicht erklären, denn ich bekomme euch ja nie zu sehen und würde euch auch nicht erkennen, selbst wenn ich euch sähe. Der eine Hering gleicht dem andern.... Ihr wißt nichts von mir, und ich weiß nichts von euch. Ich habe auch erfahren, daß nur ganz wenige von euch am Leben bleiben. Wir waren bloß zwei von 30000 Geschwistern, und der eine von uns wurde gefressen, ehe er noch richtig ausgewachsen war. — [S. 183] Aber das macht nichts. Das Leben ist so schön, und der Hering ist das glücklichste Tier im ganzen Meere. Seht zu, daß möglichst viele von euch mit dem Leben davonkommen, und werdet zu schönen, blanken Heringen, die im Meere glänzen.“
Inzwischen hatte der kleine Hering alle Eier gelegt und war sterbensmüde davon geworden.
Er sah sich um und bemerkte, daß der ganze Schwarm zerstreut war. Viele waren gefangen, andere waren gefressen worden, und andere waren fortgeschlichen, nachdem sie die Eier gelegt hatten. Der ganze Meeresboden war mit Heringseiern bedeckt.
„Ja, ja,“ sagte der kleine Hering, „im nächsten Jahre gibt es wieder Heringe. Dafür stehe ich ein. Aber jetzt muß ich wahrhaftig sehen, ob ich nicht etwas zu essen kriegen kann.“
Er schwamm weg, ohne daß ihm jemand etwas zuleide tat.
Die Fischer hatten sich mit ihren Booten und Netzen zurückgezogen; die Haie und Dorsche waren anderswohin geschwommen, und die Möwen saßen auf den Felsen an der Küste und verdauten ihren Fraß.
„Ich bin entsetzlich müde,“ sagte der kleine Hering. „Aber es ist ja eigentlich nicht sonderbar, daß es einen mitnimmt, wenn man 30000 Kinder in die Welt setzt.“
Immer weiter fort schwamm er. Hin und wieder traf er auch ein paar Kameraden, aber er machte sich nichts daraus, mit ihnen zu schwatzen.
„Ich bin zu müde,“ sagte er.
„Ja, wir auch,“ riefen die Kameraden.
Länger als drei Monate hielt sich der Hering für sich und fraß und fraß. Dann begann er wieder zu Kräften zu kommen, und er sehnte sich nach Gesellschaft.
Er schloß sich einem andern Hering an, und bald kam noch einer und nach einer hinzu. Nach kurzer Zeit war wieder ein ganzer Schwarm beisammen. Eines schönen Tages trafen sie den alten Hering.
„Na, bist du auch gut davongekommen?“ fragte ihn der kleine Hering.
„So wie du,“ entgegnete der Alte. „Das Leben ist ein Lotteriespiel, nichts anderes, und der Hering ist der Gewinn. Diesmal ist meine Nummer nicht gezogen worden, aber das nächstemal werde ich kaum wieder so viel Glück haben. — Was nun? Wollt ihr schon wieder in den Fjord, um Eier zu legen, Kinder?“
„Das eilt wohl nicht so sehr,“ sagte der kleine Hering. „Laßt uns erst das Leben ein bißchen genießen und auf und ab schwimmen und fressen und uns darin üben, einen Schwarm zu bilden.“
„Ja, das wollen wir,“ riefen die anderen.
Und nun schwammen sie umher und vereinigten sich zu einem Schwarm und tauchten auf den Grund, um dem Sturm zu entgehen, und folgten dem Plankton.
„Ich finde, mir wird wieder recht wunderlich zumute,“ sagte der kleine Hering. „Das Essen schmeckt mir nicht mehr. Am meisten sehne ich mich nach dem Fjord, wo ich neulich Eier gelegt habe und wo ich selber als Ei gelegen habe.“
„Fort zum Fjord!“ kommandierte der alte He [S. 185] ring. „Richtet euch! Seite an Seite, Kopf an Schwanz! Es ist Laichzeit, wir müssen fort.“
Und sie zogen zum Fjord hin.
Da waren schon die Möwen und die Haie und die Wale und Dorsche, und am Strande standen der Pfarrer und der Doktor und Ole.
Aber ob der kleine Hering diesmal oder das nächste- oder übernächstemal gefangen wurde, das weiß ich nicht; denn ein Hering gleicht dem anderen.
Es war Frühsommer.
Mit den Anemonen und Veilchen war’s vorbei. Der wilde Rosenstrauch an der Hecke stand in voller Blüte, und die Butterblume am Grabenrand leuchtete über das ganze runde, gelbe Gesicht. Auch viele andere Blumen waren schon aufgeblüht, und die übrigen wollten ihnen gerade folgen. Das Getreide auf dem Felde stand hoch, und im Walde sangen die Vögel.
Die Landstraße entlang gingen drei Studenten.
Sie hatten die Mütze im Nacken, die Pfeife im Munde und den Stock in der Hand. Über der einen Schulter hing die Reisetasche, über der andern die Feldflasche. Sie marschierten im Takt und stampften auf, so daß eine Staubwolke sie einhüllte. Denn sie waren ja so jung, so jung...
Und dann sangen sie:
Als sie auf dem Hügel, just vor dem wilden Rosenstrauch, angelangt waren, stand der eine von ihnen still.
„Halt!“ sagte er.
Die beiden andern gehorchten, und der erste nahm die Mütze vom Kopf, bohrte den Stock in die Erde am Grabenrand und hängte die Mütze daran. Die andern folgten seinem Beispiel. Dann zog er mit den Zähnen den Kork aus seiner Feldflasche, schwenkte die Flasche hoch in der Luft und hielt eine Rede.
„Ein Hurra dem Frühling!“ begann er. „Er ist grün, er ist gut, und er gehört den fröhlichen Studenten. Im Frühling blühen die Schuljungen auf und werden Füchse. Und die Knospen des Waldes springen auf. Und die Rose, das Veilchen, die Nelke und das Maiglöckchen, sie alle blühen auf, um vor den Augen des Studenten zu leuchten und ihm Wohlgeruch in die Nase zu senden. Du wildes Röslein an der Hecke! Der Student weiß recht gut, daß du vor ihm errötest, und dankt dir. Hab’ Dank, du gelbe Butterblume, du tust, was in deinen Kräften steht! [S. 187] Und auch du hab’ Dank, du langsames Heidekraut, das noch nicht mitgekommen ist! Wir wissen, daß auch deine Zeit kommt, und danken dir. Euch allen danken wir. Hurra!“
Die drei Studenten nahmen einen tüchtigen Schluck aus der Flasche, und dann rief der, der die Rede gehalten hatte:
„Drei lange!“
Und alle schrien:
„Hur-ra-ah! Hur-ra-ah! Hur-ra-ah!“
„Drei kurze!“ lautete das nächste Kommando.
„Hurra! Hurra! Hurra!“ schrien sie.
„Allgemeiner Studenten-Frühlings-Jubel!“ befahl der erste.
Und nun veranstalteten alle ein solches Geschrei, daß die wilde Rose an der Hecke ihre Blüten schloß und die Lerche, die trillernd hoch in der Luft hing, vor Schreck in den Roggen hinabflog, wo sie ihr Nest hatte, und mäuschenstill dort sitzen blieb.
Darauf nahmen die Studenten noch einen Schluck aus ihren Flaschen; der, der vorher die Rede gehalten hatte, nahm zwei Schlücke, weil sein Hals am trockensten war. Dann setzten sie die Mütze auf, nahmen den Stock in die Hand und marschierten los, unter fröhlichem Gesang:
Als aber die Studenten den Hügel hinabgestiegen und so weit weg waren, daß man ihren Gesang nicht mehr hören und nichts als eine Staubwolke von ihnen sehen konnte — da scholl ihnen ein unbändiges Gelächter nach.
Es erklang von der Hecke und dem Graben bis übers Feld hin. Die wilde Rose lachte, daß sie einen Haufen Blätter verlor. Die Butterblume grinste übers ganze Gesicht, der Löwenzahn machte es ebenso, und die Glockenblume bebte vor Lachen so, daß alle ihre Glocken läuteten. Die vielen tausend Roggenhalme auf dem Felde schüttelten vor Heiterkeit die Ähren, und eine junge Kornrade, die noch in der Knospe stand, gluckste dermaßen vor Lachen, daß sie ihre Hülle sprengte und einen Tag zu früh aufblühte.
„Ist es nicht unbegreiflich, wie die Leute so dumm [S. 189] sein können?“ sagte die Rose, nachdem sie so lange gelacht hatte, bis sie nicht mehr konnte. „Da ziehn nun die drei Studenten hin und singen und schreien und glauben felsenfest, daß wir hier um ihretwillen stehen und uns putzen. Und dabei sind die Studenten noch die klügsten von allen Menschen.“
„Ja, dann muß es um die andern allerdings schlimm bestellt sein,“ meinte der Löwenzahn.
„Ich kann wirklich in der Morgenstunde nicht so viel vertragen,“ begann die Rose von neuem. „Lache ich noch einmal so stark, dann fallen alle meine Blätter ab. Und das geht nicht, denn heute ist das Wetter danach, Geschäfte zu machen.“
„Ja, ich bin bereit,“ sagte die Glockenblume und läutete mit ihren Glöckchen „Honig hab’ ich genug, und meine Staubgefäße springen auf, sobald ein Fliegenbein daran rührt.“
„Seht, wie ich all meine kleinen Blüten zusammengestellt habe!“ sagte der Löwenzahn vergnügt. „Hat einer von euch jemals einen so niedlichen Blumenkorb gesehen?“
„Den Kniff kennen wir,“ rief die wilde Möhre, die an der Hecke neben der Rose stand, in stolzer Haltung... „Ich mach’s ebenso... Wollt ihr einen Schirm sehen, der wert ist, daß man ihn anschaut? Ließe ich meine Blüten einzeln sitzen, so könnten sie lange warten, bis man sie entdeckte. Aber nun, denke ich, geht es. Ich bin auch auf den Einfall gekommen, mitten in meinem weißen Schirm eine rote Blüte anzubringen. Sie ist ganz unfruchtbar und nichts wert, es ist die reine Reklame. Die Tiere kommen und betrachten sich die Sache. Ja, man muß sehn, wo man bleibt, bei dieser gefährlichen Konkurrenz!“
„ Ich bin nicht für so einen offenen Laden,“ sagte das gelbe Leinkraut, das seine Blütenkrone dicht geschlossen hielt. „Ich lege keinen Wert darauf, daß Fliegen und dergleichen kleines Getier von der Straße in mich hineinrennen. Mein Honig ist nur für eine ordentliche Hummel feil, die die Kräfte hat, mich zu öffnen.“
„Zum Kuckuck mit all euren Kniffen!“ sagte die wilde Rose an der Hecke. „Ich habe so etwas Gott sei Dank nicht nötig. Ich habe ein altes, reelles Geschäft, das für jede anständige Person offen steht. Und meine Blüten sind so groß und schön, daß die Biene, die sie nicht sehen kann, auf allen ihren sechstausend Augen blind sein muß. Ich hab’ nicht einmal Honig abzugeben.“
„Wie?“ rief der Löwenzahn.
„Was sagst du?“ fiel die Kornrade ein.
„Ist es möglich?“ schrien die Nelke, das Labkraut und die Kamille.
Und das Leinkraut gähnte ein klein wenig vor Verwunderung und fragte:
„Was hast du denn den Bienen zu bieten?“
„Ich hab’ meinen Blütenstaub,“ erwiderte die Rose. „Den brauchen sie als Bienenbrot. Du weißt: für ihre Kinder. Und ich habe so reichlich davon, daß es nichts ausmacht, ob ein ganz Teil in die Binsen geht.“
Die Sonne am Himmel stieg und trocknete den Tau weg.
„Jetzt läute ich zum Zeichen, daß der Markt beginnt,“ sagte die Glockenblume.
Alle Blumen richteten sich auf und leuchteten und dufteten und gaben sich Mühe, gut auszusehen. Und [S. 191] von allen Seiten summten und surrten Fliegen, Bienen, Schmetterlinge und Hornissen, sowie eine Menge anderer Insekten herbei, die während der Nacht versteckt in ihren Nestern, unter großen Blättern oder an anderen Stellen gesessen hatten, wo es trocken und warm war.
Sie breiteten sich aus über die Hecke und den Grabenrand, flogen von einer Blüte zur andern und krochen in ihnen ein und aus. Und die Blüten leuchteten und dufteten und schrien durcheinander.
Die Glockenblume sang:
„Wir kommen, wir kommen!“ riefen die Bienen, und einen Augenblick darauf saß in jeder der Glockenblüten eine von ihnen. Sie tranken so viel Honig, wie sie konnten, und der Staub rieselte von den Staubgefäßen auf sie herab und blieb an den Haaren ihres Körpers hängen.
Und die wilde Rose an der Hecke sang:
Und das Leinkraut sang:
„Nur Geduld, Kinder!“ sagten die Hummeln. „Wir kommen der Reihe nach zu euch allen!“
„Diesen Weg!“ schrie der Löwenzahn. „Den besten Honig am ganzen Grabenrand gibt es bei mir. In dem gelben Laden hier unten im Grase — schräg gegenüber der wilden Rose. Hochverehrte Fliegen, wollt ihr nicht bei mir einkehren? Hier gibt es etwas für jeden... alle meine hundert Blüten sind bis an den Rand gefüllt. Diesen Weg, diesen Weg!“
Und die wilde Möhre hob ihren Schirm über die andern empor und sang ein- übers andremal denselben Vers:
„Hier ist mehr zu haben, als wir bewältigen können,“ sagte die Hornisse.
Und sie kroch in die eine Blüte hinein und aus der andern hinaus. Die Bienen trugen Blütenstaub und Honig in ihre Körbe heim und eilten von dannen, um noch mehr zu holen. Die Hummeln summten und brummten, die Fliegen kletterten und krochen, die Falter tanzten durch die Luft vom einen zum andern, breiteten ihre bunten Flügel aus und schlossen sie wieder.
So ging es den ganzen Tag. Die Blumen lockten und sangen unaufhörlich, und die Sonne schien munter auf das alles hernieder. Erst als sie hinterm Walde sank, flogen die Insekten heim, jedes zu seiner Zufluchtsstätte.
„Das war ein guter Tag,“ sagte die Rose. „Die Hälfte meiner Blüten ist leer von Staub. Noch solch ein Tag, und ich bin zufrieden.“
Die Glockenblume nickte, denn auch sie hatte gute Geschäfte gemacht. Der Löwenzahn beeilte sich, alle seine kleinen Blüten zu schließen, und die Möhre stand noch da und hielt ihren Schirm bereit für den Fall, daß eine verspätete Fliege vorbeikommen sollte.
Aber im Grase am Grabenrand lag eine große alte Hummel auf dem Rücken und trat mit allen sechs Beinen in die Luft.
„Ist dir etwas zugestoßen, liebes Kind?“ fragte die wilde Rose an der Hecke.
„Ach nein!“ sagte die Hummel. „Ich ersticke nur beinahe vor Lachen. Ich mußte an die Studenten denken, die heut früh vorbeikamen. Hahaha! Sie dachten, ihr leuchtetet und duftetet für sie .“
„Ja, das waren lächerliche Gesellen,“ meinte die Rose.
„Hahaha!“ lachte die Hummel wieder. „Keine Ahnung hatten sie, daß ihr es um meinet willen tut... und um der Bienen, Fliegen und Schmetterlinge willen. Der liebe Gott mag wissen, wie wir eure Honigläden finden sollten, wenn uns nicht unser Geruch zurechtwiese und ihr nicht ein ordentlich bemaltes Schild aufhängtet.“
Keine von den wilden Blumen sagte etwas, solange die Hummel am Grabenrand lag und lachte. Sobald sie sich aber erhoben hatte und heimgeflogen war, brachen alle in ein Gelächter aus, das ebenso heiter und gewaltig war wie dasjenige, das sie den Studenten nachgesandt hatten.
„Es ist ja nicht auszuhalten mit den Dummköpfen!“ meinte die Rose. „Man sollte doch glauben, daß so ein Tier mehr Verstand hätte als ein Studentlein, aber die Hummel bildet sich also auch ein, daß wir ihretwegen hier stehen!“
„Verzeiht, daß ich mich in die Unterhaltung einmische!“ sagte der Buchfink, der im Wipfel der wilden Rose saß. „Ich war auch heute morgen dabei, als die Studenten vorübergingen. Und ich versteh’ das ganze nicht recht. Wenn ihr euch nicht für die Studenten schmückt und nicht für die Bienen und die Schmetterlinge, ja... für wen zum Kuckuck tut ihr es denn?“
„Wir tun es natürlich um unser selbst willen, bester Fink!“ erwiderte die Rose.
„Erklär’ es mir!“ bat der Buchfink.
„Ich mag nicht,“ sagte die Rose. „Der Tau fällt, und ich muß schließen. Gut’ Nacht!“
Die Glockenblume läutete den Abend ein, der Löwenzahn schlief bereits am Grabenrand, das Leinkraut kniff die Lippen so fest zusammen, daß keine Hummel in der Welt sie voneinander trennen konnte, und die Mohrrübe nickte im Schlaf und sang:
Der Buchfink wiegte sich auf seinem Rosenzweig und ärgerte sich. Er grübelte und grübelte, konnte die Sache aber nicht herauskriegen, und einschlafen konnte er auch nicht.
In diesem Augenblick kam ein großer grauer Dämmerungsfalter über die Hecke angeschwirrt, nach dem Roggen hin, der mit dem Abendwind flüsterte. Und gleichzeitig gewahrte der Buchfink eine große, [S. 195] schöne Lichtnelke, die ihre Krone nach dem Dämmerungsfalter ausstreckte, und sang:
Nun sah der Buchfink, wie der Dämmerungsfalter sich auf die Blüte setzte und seinen langen Fühler in ihren Kelch hinabsenkte. Und als er all den Honig herausgesogen hatte, der vorhanden war, und mit den Flügeln wippend dasaß, da erscholl von drüben her genau der gleiche Gesang, den die Lichtnelke angestimmt hatte. Der Buchfink sah von drüben eine große weiße Blüte schimmern, und nun flog der Schmetterling hinüber und setzte sich auf sie.
„Lichtnelke,“ sagte der Buchfink. „Erzähl’ mir, wie das eigentlich zusammenhängt mit euch Blumen, Bienen und Schmetterlingen! Ich hab’ heute hier gesessen und alles mitangesehen und angehört, aber ich versteh’ kein Sterbenswörtchen von allem. — Was wollte denn der Dämmerungsfalter von dir?“
„Er hat von mir Honig bekommen,“ erwiderte die Lichtnelke.
„Gut, aber was hat er dir denn dafür gegeben?“
„Er hat meinen Blütenstaub mitgenommen,“ erklärte die Lichtnelke.
Aber der Buchfink schüttelte den Kopf.
„Ja, das mag für den Dämmerungsfalter recht gut und schön sein,“ meinte er. „Er hat das eine gekriegt und hat auch das andere gekriegt. Aber welches Vergnügen hast du denn von der Geschichte?“
„Sieh mal,“ antwortete die Lichtnelke, „jede ordentliche Blume hat zwei große Sorgen in ihrem Leben. Erstens muß sie ihre Samen bekommen, und zweitens muß sie sie wieder loswerden. Das verstehst du doch?“
„Und ob!“ sagte der Buchfink erfreut. „Das ist ja genau so wie bei uns. Zuerst kommt es darauf an, daß wir unsre Jungen kriegen, und dann müssen wir sehen, daß wir sie gut erziehen und in die Welt hinaussenden. Wir Vögel haben also dieselben Sorgen. Aber die dauern an, von der Geburt bis zu unserm Tode, und man wird mitunter recht mager davon!“
„Natürlich,“ erklärte die Lichtnelke. „Umsonst kriegt man in dieser Welt nichts. Aber wir wollten von meinen Eiern und nicht von deinen Jungen reden.“
„Also du hast auch Eier?“ fragte der Buchfink höflich.
„Allerdings,“ sagte die Lichtnelke. „Aus deinen Eiern entstehen Junge , aus den meinen Samen . Aber zuerst muß der Staub aus den Staubgefäßen auf sie fallen. Sonst kommt nichts dabei heraus. So ist’s mit mir, und so ist’s mit allen Blumen. Und die Bienen und Schmetterlinge und alle die andern Insekten tragen den Staub zwischen uns hin und her.“
„Aha!“ sagte der Buchfink mit einem Pfiff. „Nun fang’ ich an, die Sache zu verstehen. Sie kommen zu euch, um Honig zu holen, und sie nehmen den Blütenstaub mit!“
„Ganz recht!“ erwiderte die Lichtnelke. „Der Staub bleibt an den Haaren ihres Körpers hängen, an Flügeln und Beinen. Wenn sie dann zu einer [S. 197] andern Blüte kommen und in ihr nach Honig wühlen, so reiben sie den Staub von sich ab, er fällt auf die Eier, und aus den Eiern werden Samen.“
„Das ist famos eingerichtet,“ sagte der Buchfink. „Und alle die bunten Farben habt ihr also nur, um die Insekten anzulocken?“
„So ist es,“ war die Antwort der Lichtnelke. „Ich für mein Teil bin allerdings ganz weiß, wie du siehst. Ich spekuliere nur auf die Insekten, die des Nachts ausfliegen, und dafür eignet sich die weiße Farbe am besten, weil sie im Dunkeln am hellsten leuchtet. Am Tage ist mir der Wettbewerb zu groß; aber jetzt ist mir das Feld ganz überlassen.“
„Na — na,“ sagte die Nachtviole, die nicht weit davon stand und alles mitangehört hatte. „Ich zähle doch auch mit!“
„Ich kann dich nicht sehen,“ sagte die Lichtnelke. „Wo stehst du? Wie heißt du? Was für Farben hat deine Blüte?“
„Ich heiße Nachtviole, und meine Blüte ist braun, klein und häßlich.“
„Dann bist du nicht gefährlich für mich,“ meinte die Lichtnelke.
„Nu—uun, ich komme schon durch! Vor einem Weilchen flog ein großer Dämmerungsfalter geradeswegs in meinen Schoß. Ich hatte ihn mit meinem Duft angelockt, verstehst du... dem süßesten Duft der Nacht! So süß ist er, daß die Menschen mich aus dem Süden, wo meine Heimat ist, in ihre Gärten nach dem Norden verpflanzt haben. Ich hab’ mich aus dem Garten des Müllers hierher verirrt, und nun bleibe ich hier bei dir!“
Die Lichtnelke wollte antworten, aber die Nachtviole stimmte ein Lied an:
„Ja, wenn du mich nur wenigstens die Dämmerungsfalter behalten ließest, und dich mit den Nachtfaltern begnügtest,“ sagte die Lichtnelke. „Die meisten von ihnen verzehren nichts, sondern fliegen an dem schönsten Honig vorbei, als ob es Dreck wäre.“
„Es ist genug für euch beide vorhanden,“ sagte der Buchfink. „Deswegen keine Feindschaft. Ihr solltet bloß die Tagblumen sehen. Da herrscht Kampf ... das ist eine andere Sache, ihr könnt’s mir glauben! — — Aber nun höre, Lichtnelke, da ist doch noch etwas, was ich nicht verstehe. Warum laßt ihr nicht selber Staub auf eure Eier fallen? Ihr habt ja genug Staub, und das wäre doch viel, viel einfacher!“
„Ja — ich könnte das gar nicht, wenn ich auch wollte,“ erwiderte die Lichtnelke. „Ich habe gar keine Staubgefäße in meiner Blüte, nur Eier.“
„Herrgott, bist du ein Invalide?“ rief der Buchfink erschrocken.
„Nein, ganz und gar nicht,“ erwiderte die Blüte. „Aber wir Lichtnelken sind nun einmal so eingerichtet. Meiner Schwester drüben an der Hecke geht es ebenso. Aber auf der andern Seite des Weges, da stehen meine Brüder... siehst du das Weiße da drüben leuchten? Das sind sie. Die haben bloß Staubgefäße [S. 199] und keine Eier. Nun verstehst du wohl, daß wir genötigt sind, uns der Schmetterlinge zu bedienen.“
„Ja, aber die Rose und der Löwenzahn? Und die Butterblume und die Glockenblume? Ist es bei ihnen denn ebenso?“
„Nein,“ erwiderte die Lichtnelke. „Sie haben gleichzeitig Eier und Staub in ihren Blüten; sie könnten sich also allein behelfen, wenn sie wollten. Aber sie wollen nicht. Denn fremder Staub ergibt die größten, besten Samen, weißt du.“
„Wie merkwürdig das alles ist,“ sagte der Buchfink. „Da geht’s euch ja im Grunde ebenso wie uns Tieren. Ihr kämpft miteinander, um durchzukommen, kämpft für eure Nachkommen und so weiter.“
Die Lichtnelke nickte auf ihrem Stengel und sang ihr Liedchen, denn es kam gerade ein großer, grauer Schmetterling vorübergeflogen. Aber er flog weiter, und da sagte die Blume:
„O ja, so ist es. Aber ihr schreit und schlagt einander tot vom Morgen bis zum Abend. Wir stehen still, wo wir stehen, leuchten und duften und besorgen trotzdem unsern Kram. Also ein Unterschied ist doch vorhanden.“
Der Buchfink saß ein Weilchen schweigend da und dachte nach. Dann entdeckte er, daß es spät geworden war, und beeilte sich, sein Nest im Walde aufzusuchen.
Der Abend verstrich, und es wurde immer dunkler. Rings auf den Gehöften wurden die Lichter ausgelöscht, und auf den Wegen war niemand mehr zu sehen. Die Nachtviole duftete versteckt im Grase, der Roggen flüsterte mit dem Nachtwinde, und die weißen Blumenblätter der Lichtnelke leuchteten.
„Du... Roggen!“ rief die Lichtnelke. „Du bist so lang und reichst so hoch hinauf... kannst du nicht sehen, ob ein Dämmerungsfalter im Anmarsch ist?“
„Guck’ nicht aus nach dem Zeug... kenne nichts davon... kümmer’ mich nicht drum,“ erwiderte der Roggen.
Es klang weit über das Feld hin, denn alle die Roggenhalme antworteten gleichzeitig, und sie alle bogen ihre Ähren nach derselben Richtung; sie hielten immer gute Kameradschaft und waren stets der gleichen Meinung.
„Na, na,“ sagte die Lichtnelke. „Brauchst dich doch nicht so wichtig zu machen! Der Tag kommt wohl auch noch, wo du Verwendung für ein paar Bienen oder einen Schmetterling hast.“
„Nein, niemals... niemals... niemals!“ tönte es über das Roggenfeld hin.
„Sooooo?“ sagte die Lichtnelke verblüfft. „Dann versteh’ ich eigentlich nicht, was ihr mit euren Eiern und eurem Staub anfangt, wo ihr doch so viele seid. ... Ihr seid ja gewiß über hundert!“
„Wir sind eine Million!“ erwiderte der Roggen.
Und wieder klang es über das ganze Feld hin, so daß es im Walde widerhallte:
„Eine Million... eine Million... eine Million!“
Es dauerte eine Weile, bis die Lichtnelke ihre Fassung wiedergewann. So überwältigt war sie. Aber kurz darauf sagte sie demütig:
„Will mir nicht einer von euch erzählen, wie ihr es anfangt, wenn ihr euch nicht der Bienen und Schmetterlinge bedient? Aber wenn’s geht, nur [S. 201] einer! Ich bin eine einsame Lichtnelke, und mir wird immer ganz unheimlich zumut, wenn ihr alle zugleich sprecht!“
Einen Augenblick war es ganz still im Roggen, und die Lichtnelke wartete auf die Beantwortung ihrer Frage. Dann flüsterte einer von den Roggenhalmen, die zunächst standen:
„Für euch ist’s eine Kleinigkeit, die Insekten zu bewegen, euern Staub zu besorgen, denn ihr seid ja nur ein paar! Aber unser Geschäft ist zu groß dazu. Bei uns wird das ganze an einem einzigen Tage abgemacht, ja manchmal in ein paar Stunden! Wir bedienen uns der Kraft des Windes, weißt du?“
„Soooooo?“
„Was tun sie?“ fragte die Nachtviole, die voll Interesse zugehört hatte.
Die Lichtnelke erzählte es ihr, und beide waren ebenso klug wie zuvor. Aber dann flüsterte der Roggenhalm wieder:
„Wenn der Staub reif ist, wachsen alle unsere Staubgefäße aus der Ähre hervor. Das geht mit der größten Geschwindigkeit vor sich. Die Staubbeutel baumeln in der Luft, und es kommt darauf an, die Zeit zu benutzen. Wenn die Sonne recht milde scheint und keine Regenwolken am Himmel stehen, wenn es so gut wie ganz still ist, dann springen die Staubbeutel auf, und der Staub fällt heraus, wogt über dem Felde hin und her und fällt auf die Stempel.“
„Ihr seid ja die richtigen Großkaufleute,“ meinte die Lichtnelke.
„Da muß aber eine Menge Staub verlorengehen,“ sagte die Nachtviole.
„Allerdings,“ flüsterte der Roggenhalm. „Aber [S. 202] damit rechnen wir von vornherein, wir haben genug Staub zur Verfügung. Morgen fängt die Sache an... gebt acht, dann steht eine ganze Wolke über dem Felde.“
„Morgen ist unser Laden geschlossen,“ erklärte die Lichtnelke. „Wir müssen dir also auf dein Wort glauben.“
„Schade, daß der Buchfink nicht da ist,“ sagte die Nachtviole. „Er war so neugierig... hier hätt’ er was erfahren können!“
In dieser Nacht sprachen die Nachtblumen nicht mehr miteinander, sondern sie sangen ihre Lieder und besorgten ihre Honigläden; der Dämmerungsfalter und der Nachtfalter flogen hin und her. Der Roggen aber wogte und flüsterte.
Als der Morgen graute, schlossen die Nachtviole und die Lichtnelke ihre Blüten und schützten sich, so gut sie konnten. Und die Sonne ging auf, und ihre Strahlen pochten an die Türen der wilden Tagblumen.
„Heraus mit euch, ihr Siebenschläfer!“ riefen die Strahlen.
Und die wilde Rose an der Hecke und der Löwenzahn am Grabenrande, das Leinkraut, die Butterblume, die wilde Möhre und alle die anderen bekamen Tau in die Augen, und ihre Blüten entfalteten sich. Bienen, Hummeln, Fliegen und Schmetterlinge kamen hervor und summten in der Luft. Die Blumen dufteten und leuchteten, und der Markt war in vollem Gange.
*
Es wurde Herbst, und an der Hecke, wo die wilde Rose stand, sah es ganz anders aus als früher.
Es waren fast keine Blumen mehr da. Das heißt, sie waren da, aber sie blühten nicht mehr. Statt der gelben, roten, blauen und weißen Blumenblätter trugen sie jetzt graue und braune Früchte. Darin lagen die Samen und warteten auf die Zeit, da sie ganz reif sein und in die Welt hinaus wandern würden.
Es gab auch keine Schmetterlinge mehr, keine Bienen und Hummeln und nur sehr wenige Fliegen; diejenigen, die noch vorhanden waren, hatten matte Beine und Flügel. Der Roggen auf dem Felde war gemäht und in die Scheune eingebracht — die ganze Million Roggenhalme war verschwunden. Der Bauer war damit beschäftigt, das Stoppelfeld umzupflügen, und seinem Pfluge folgten schwarze Saatkrähen und weiße Möwen, die schrien und mit den Flügeln um sich schlugen, während sie die Larven aus der Erde hervorzupften.
Da kamen eines Tages die drei Studenten wieder des Weges, aber diesmal in umgekehrter Richtung, denn die Ferien waren vorbei, und es ging wieder an die Arbeit.
Oben auf dem Hügel, wo die wilde Rose stand, machten sie halt wie das letztemal. Sie bohrten die Stöcke in die Erde, hängten aber die Mützen nicht daran, denn es war windig und kalt. Sie nahmen auch keinen Schluck aus ihren Feldflaschen, denn sie waren leer.
Aber der, der damals die Rede gehalten hatte, sprach wieder ein paar Worte, und dabei streckte er den Ringfinger seiner rechten Hand in die Luft und hieß die Kameraden dasselbe tun.
Und an jedem der drei Finger saß ein schöner, [S. 204] glatter, goldener Ring. Denn die drei Studenten hatten sich alle drei in den Ferien verlobt.
„Es ist aus, Kameraden!“ sagte der erste. „Die gute Zeit ist vorüber, der Student muß zu den dicken, greulichen Büchern zurück, muß ochsen vom Morgen bis zum Abend. Die Blumen wissen’s und trauern mit uns. Seht euch um... all das ist weg, worüber wir uns so freuten, als wir das letztemal hier standen! Der Roggen ist vom Felde verschwunden, die Rose von der Hecke und der Wein aus der Flasche. Die Blumen sind verwelkt, der Sommer ist zu Ende! Habt Dank, ihr wilden Blumen, weil ihr’s dem Studenten erleichtert, die Nase wieder in die Bücher zu stecken. Ständest du noch duftend an der Hecke, du wilde Rose, so wäre es uns ja ganz unmöglich, in die dumpfe Stadt zurückzukehren. Habt alle Dank, weil ihr für den Studenten geblüht habt und für ihn verwelkt seid!... Vorwärts, Marsch!“
Und die Studenten ergriffen ihre Stöcke und zogen weiter. Aus der Ferne noch erscholl ihr Gesang herüber:
Die wilden Blumen lachten vergnügt hinter den Abziehenden her. Aber so laut wie das vorigemal war das Gelächter nicht. Denn alle hatten ja den Kopf voll von Samen, und sie mußten gut acht geben, daß die nicht zu früh abfielen.
„Sie sind unglaublich komisch!“’ sagte die wilde Rose. „Als wir blühten, da war’s um ihretwillen ... und jetzt verwelken wir auch um ihretwillen. [S. 205] Der Wald ist natürlich nur dazu da, damit sie Schatten finden und Brennholz und Spazierstöcke bekommen! Die Quelle rieselt, damit sie etwas zu trinken haben, und die Sonne scheint, damit ihre Verlobungsringe blitzen. Gott behüte, was für eingebildete Tröpfe doch die Menschen sind!“
Seht, nun ist die Erde weiß und grün, je nachdem der Winter gebietet oder der Lenz. Die Drossel flötet im Hain und der Kanarienvogel in seinem Käfig, der Rauch steigt vom Dach des Hauses auf, und die Kirchenglocke läutet das Ave ein. Der Einsiedler geht nachdenklich über die Wiese, und der Dichter macht Verse.
Aber einst war das anders. Wenn einstmals jemand auf der Erde einen Spaziergang unternahm, so kam nirgendwo ein Hund aus den Häusern, um [S. 206] ihn anzubellen. Denn auf der ganzen Erde gab es keinen einzigen Hund und kein einziges Haus.
Er hätte keinen Baum, keine Blume und keinen Grashalm angetroffen. Er hätte keinen Tropfen Wasser gefunden, um seinen Durst zu löschen.
Denn es war niemand auf der Erde — niemand und nichts. Wäre einer dagewesen, der einen Spaziergang hätte machen wollen, so hätte er das einfach gar nicht gekonnt. Denn die Erde war nichts als Dunst und Nebel, darum wäre er durch sie hindurchgeplumpst und in den Weltraum hinausgetanzt, wo die Sterne schwimmen.
Und das hätte ihm ja nicht gerade besonderes Vergnügen bereitet. Denn wenn er nicht rund gewesen wäre und schön geleuchtet hätte, würde er unter den Sternen eine recht üble Figur gemacht haben.
So war es.
Aber die Erde konnte wohl begreifen, daß es unmöglich so bleiben konnte. Es hatte keinen Sinn, daß nur Rauch bei der Sache herauskam. Darum nahm sie sich zusammen und tat ihr möglichstes. Aber sie mußte entsetzlich viel durchmachen, und es wurde eine strenge Zeit für sie, die sie nie vergessen kann, und deren Spuren sie noch heute trägt.
Durch Feuer und Wasser mußte sie hindurch.
Jahrtausendelang flog sie im Weltraum als Feuerkugel umher, und als sie schließlich von einer steinernen Rinde umgeben war, stürzte der Regen auf sie herab und hörte nicht auf, bis sie als ungeheurer Wassertropfen davonsegelte.
Währenddessen brach im Innern der Erde jeden Augenblick Feuer aus, durchdrang die Rinde, sprengte [S. 207] und spaltete sie die kreuz und quer, so daß die Stücke durcheinandergeworfen wurden.
„Meine arme, arme, liebe Erde!“ sagte die Sonne und warf ihr einen milden Blick zu.
„Was willst du dich um den Klumpen da kümmern,“ sagte einer der großen Sterne. „ Uns mußt du bescheinen, die wir dessen wert sind.“
„Für mich ist die Erde kein Klumpen,“ erwiderte die Sonne. „Sie ist ebensogut mein Kind wie ihr alle. Und sie ist das jüngste und steht darum meinem Herzen am nächsten. Es ist noch gar nicht so viele tausend Jahre her, da riß sie sich von mir los und zog in die Welt hinaus, um auf eigene Faust ihr Glück zu versuchen. Wenn sie sich nur wacker hält und nicht die Laune verliert, dann werde ich gewiß Freude an ihr erleben.“
Das hörte die Erde, und sie hielt aus.
Mit jedem Jahr, das verstrich, wurde die steinerne Rinde dicker, das Wasser sank nach und nach in die Erde hinein, und das Land tauchte auf. Aber die Rinde wurde so dick, daß das Feuer nicht hindurchbrechen konnte, wann und wo es ihm gefiel, sondern sich gehörig zusammennehmen mußte, wenn es Lärm machen wollte. Selbst da war die Drangsalszeit der Erde noch nicht zu Ende.
Es war keine Ordnung in dem Ganzen.
In Grönland war es zum Beispiel ebenso warm wie in Italien. Es wuchsen Pflanzen auf der Erde, aber wie seltsam waren sie! Da waren Farne und Schachtelhalme, so groß wie jetzt die höchsten Bäume im Walde sind. Und da waren auch Tiere, aber das waren sonderbare, unheimliche Bursche, wie man ihnen heutzutage nie begegnet, außer in den alten [S. 208] Märchen. Es gab Eidechsen, die waren 30 Ellen lang und schwammen im Wasser, und es gab Drachen, die durch die Luft flogen und greulich anzusehen waren.
Und auf einmal wurde es auf dem größten Teil der Erde ganz unsinnig kalt. Wohin man sah, lag Eis und Schnee, und Tiere und Pflanzen starben.
Aber da brach das Feuer wieder hervor, so gewaltig wie noch nie, und stürzte Berge und Täler um. Große neue Lande erhoben sich aus dem Meer, und die breiten Wogen des Meeres überfluteten das alte Land.
Niemand verstand, welches Ende das nehmen würde.
„Meine arme, arme, liebe Erde!“ sagte die Sonne.
Aber wie schließlich Ordnung in alles kam — das kann man in dem Märchen von den vier Fürsten nachlesen.
Eines Tages geschah es, daß zwei Fürsten über die Erde wanderten; sie gingen einander entgegen. Der eine kam von Norden, der andere von Süden. Beide waren groß, größer, als Menschen sind, größer als die Riesen in den Märchen. Ihre Häupter trugen sie königlich hoch, und ihre Füße setzten sie fest auf die Erde, als ob sie ihnen gehörte.
Der aus dem Norden kam, war der älteste. Er war ein alter Mann mit gewaltigem weißem Haar und Bart; zottig war seine nackte Brust, zottig waren seine Beine und Hände. Stark und wild sah er aus, und seine Augen waren kalt und streng.
Der von Süden kam, war jung, aber nicht weniger gewaltig als der andere. Sein Gesicht und seine Hände waren von der Sonne gebräunt, und seine Augen waren stark und mild wie die Sonne. Um die Schulter trug er einen Purpurmantel, um die Lenden einen goldenen Gürtel, in dem eine wunderbare rote Rose steckte.
Als die Fürsten einander aus weiter Ferne sahen, hielten sie einen Augenblick an, und dann schritten sie kräftig aus, als ob sie sich danach sehnten zusammenzutreffen. Aber als sie einander etwas näher gekommen waren, standen sie wieder still. Den Jungen durchschauderte es, als er dem Blick des Alten begegnete, und auf der Stirn des Alten sprang der Schweiß hervor, als der Junge ihn ansah.
Eine Zeitlang blieben sie so stehen. Dann setzten sie sich jeder auf einen Berg und starrten einander an.
Der Junge nahm zuerst das Wort.
„Du bist wohl der Winter ?“ fragte er.
Der Alte nickte.
„Ich bin der Winter, der Herr der Erde,“ erwiderte er.
Der Junge lachte, daß es in den Bergen widerhallte.
„Aha,“ sagte er. „Und ich bin der Sommer , der Herr der Erde.“
Eine Weile saßen sie da und maßen einander mit zornigen Blicken.
„Ich bin ausgezogen, um dich zu treffen und mit dir zu reden,“ sagte der Winter darauf. „Aber ich mag dich nicht leiden.“
„Meine Absicht war, dich zur Vernunft zu bringen,“ sagte der Sommer. „Aber ich kann deinen Anblick kaum ertragen, so häßlich bist du.“
„Sollen wir die Erde unter uns teilen?“ fragte der Winter. „Überall bist du zu finden mit deinem heißen Sonnenschein, du machst mein Eis schmelzen und pflanzest deine garstigen Blumen. Ich übe Vergeltung, wie du weißt. Ich ertränke deine Geschöpfe im Schnee und zerstöre deine Freude. Wir sind gleich stark... Wollen wir Frieden schließen?“
„Wie sollte das wohl zugehen?“ fragte der Sommer mißtrauisch.
„Ein jeder muß sich auf sein Gebiet beschränken,“ entgegnete der Winter. „Ich habe meine Eisburg im Norden, dahin kannst du niemals kommen; und du hast dein Sonnenschloß im Süden, dahin reicht meine Macht nicht. Da der eine den Anblick des andern nicht ertragen kann, können wir ja einen breiten, öden Gürtel zwischen unsre Reiche legen.“
„Nichts soll öde sein,“ sagte der Sommer. „Alles soll grün sein, soweit es in meiner Macht steht. Ich liebe es, von meinem Sonnenschloß über die Erde hinzuwandern, und ich will mein Licht und meine Wärme so weit in deine Eisfelder hineintragen, wie ich vermag. Ich kenne keine größere Freude als die, einen grünen Fleck in deinem Schnee hervorzuzaubern — und sollte es auch nur für einen Tag sein.“
„Wie eingebildet du bist, weil du augenblicklich Glück hast,“ erwiderte der Winter. „Aber du solltest bedenken, daß die Zeiten sich ändern können. Ich war einmal der Mächtigste, und ich kann es wieder werden. Vergiß nicht, daß ich aus der ewigen Kälte des Weltraums geboren bin.“
„Und ich bin das Kind der Sonne und war vor dir mächtig,“ sagte der Sommer stolz.
Der Winter ließ die Finger durch seinen Bart gleiten, und eine Lawine stürzte an den Hängen des Berges hinab.
„Uha!“ rief der Sommer, sich fester in seinen Mantel hüllend.
„Willst du meine Macht sehen?“ fragte der Winter.
Er hob seine Arme, und in demselben Augenblick verwandelte sich der Berg, auf dem er saß. Ein Sturm donnerte darüber hin, und der Schnee stürzte aus der Luft herab. Ein Bach, der munter den Hang hinablief, wurde plötzlich zu Eis; ein Wasserfall, der über dem Abgrund sang und toste, schwieg sofort, und das Wasser gefror zu langen Eiszapfen. Als es aufhörte zu schneien, war der Berg weiß vom Scheitel bis zur Sohle.
„Nun kommt die Reihe an mich,“ sagte der Sommer.
Er nahm die Rose aus dem Gürtel und warf sie auf den Berg, auf dem er saß, und sogleich schossen die herrlichsten Rosen aus dem Boden hervor. Sie nickten im Winde von den Felsenspitzen und füllten die Täler mit ihrem Duft und ihren Farben. In jedem Strauch saßen muntere Nachtigallen und sangen, und an den Stengeln der Blumen hingen schwere Tautropfen, die in der Sonne glitzerten.
„Nun?“ sagte der Sommer.
Der Winter beugte sich vor und starrte unverwandt auf die schönste der Rosen. Da gefror der Tautropfen, der unter der Blume hing. Der Vogel, der auf ihren Zweigen saß und sang, fiel steif zur Erde, und die Rose selber verwelkte.
„Nun?“ sagte der Winter.
Aber der Sommer erhob sich und sah mit seinen milden Augen den Berg des Winters an, dort, wo der Schnee am tiefsten lag. Und wohin er blickte, schmolz der Schnee, und aus der Erde brach eine große, schöne Weihnachtsrose hervor.
So konnten die beiden Fürsten zu keiner Einigung kommen.
Der Tag verstrich, es wurde Abend und Nacht. Der Mond beschien den prächtigen Schneeberg, der wie Diamanten glitzerte und glänzte. Drüben vom Berg des Sommers her erscholl der Gesang der Nachtigall, und der Duft der Rosen schwebte in den Raum hinaus.
*
Am nächsten Morgen, bei Sonnenaufgang, kamen zwei andere Fürsten just auf die Stelle zu gewandert, [S. 213] wo der Winter und der Sommer saßen und einander böse Blicke zuwarfen.
Der eine kam von Osten, der andere von Westen. Sie waren von kleinerer Gestalt als der Winter und der Sommer und nicht so stark und ehrfurchterweckend anzusehen. Aber groß waren sie doch, und man sah deutlich, daß es hohe, mächtige Herren waren. Denn sie gingen frei und stolz über die Erde hin und schauten ohne Scheu und Angst um sich.
Der von Osten kam, war der jüngere, ein blutjunger Mann, ohne ein Haar am Kinn. Sein Gesicht war weich und rund, der Mund lächelte ununterbrochen, und seine Augen waren verträumt und betaut. Sein langes Haar war mit einem Bande umwunden wie das eines Weibes. Er war ganz grün gekleidet. Das Band um sein Haar war grün und ebenso die Schleifen an seinem Fuß, und über der Schulter trug er an einem breiten grünseidenen Band eine Laute. Er wanderte so heiter und leicht dahin, als ob seine Füße die Erde nicht berührten, und die ganze Zeit trällerte er vor sich hin und spielte auf der Laute.
Der von Westen kam, war viel älter. Sein Haar und Bart waren graugesprenkelt, und er hatte Runzeln auf der Stirn. Aber er war schön anzusehen und prachtvoll gekleidet. Sein Mantel leuchtete rot, braun, grün und gelb, und während er der Sonne entgegenlief, breitete sich der Mantel aus und strahlte in allen seinen Farben. Er selbst starrte vergnügt in den Sonnenglanz hinein, als könnte er nicht genug davon bekommen. In der Hand trug er ein gewaltiges Horn. Als die bei [S. 214] den in der Nähe der anderen waren, verneigten sie sich tief vor ihnen. Der von Osten gekommen war, verbeugte sich besonders tief vor dem Sommer; der andere aber erwies dem Winter besondere Ehrfurcht.
Darauf setzten sich beide einander gegenüber auf einen Berg, und alle vier saßen eine Zeitlang schweigend im Kreise.
„Was seid ihr für Leute?“ fragte dann der Winter.
„Ich bin der Herbst ,“ sagte der, der von Westen gekommen war.
„Ich bin der Frühling ,“ erklärte der andere.
Der Winter sah sie scharf an und schüttelte den Kopf.
„Ich kenne euch nicht,“ sagte er.
„Ich hab’ eure Namen nie nennen hören,“ sagte der Sommer.
„Wir sind gekommen, um über die Erde zu herrschen,“ sagte der Frühling.
Aber da ergrimmte der Winter. Er hüllte sein [S. 215] Haupt in den furchtbarsten Schneesturm, der je über das Land gekommen war, und aus dem Sturme erscholl seine Stimme wie Donner:
„Geht eurer Wege, dahin, woher ihr gekommen seid! Wir kennen euch nicht und wollen nichts mit euch zu tun haben. Der Sommer und ich, wir sind die Fürsten der Erde, und es ist bereits einer zu viel. Kommen noch mehr hinzu, so wird es ewig Spektakel geben.“
„Wir sind nicht gekommen, um Spektakel zu machen, sondern um Frieden zu stiften,“ wandte der Herbst sanft ein.
„Zwischen dem Winter und mir ist kein Friede möglich,“ sagte der Sommer.
„Darum wollen wir euch voneinander trennen,“ meinte der Frühling. „Wir beide, die wir heute gekommen sind, wissen recht gut, daß wir nicht so viel Macht haben wie ihr. Wir beugen uns ehrerbietig vor euch, weil eure Gewalt größer, euer Reich stärker befestigt ist. Wir erkühnen uns nicht zu Eingriffen in euer Herrschbereich. Aber wir wollen bei euch bleiben und verhindern, daß ihr die Erde vernichtet.“
„Ja, könntet ihr das !“ rief der Sommer aus.
„Ja, das hätte Sinn,“ brummte der Winter.
„Wir können’s,“ erklärte der Herbst. „Wir verstehen euch beide, weil wir etwas von euch beiden in uns haben. Wenn ihr euch einander nähert, wird der eine von uns beiden zwischen euch treten; und das Land, wo wir sind, soll dann unser sein.“
„Ich lasse niemals von meiner Eisburg im Norden!“ rief der Winter.
„Ich dulde keinen fremden Fürsten in meinem Sonnenschloß im Süden!“ rief der Sommer.
„Das sollt ihr auch nicht,“ sagte der Herbst. „Dort, wo ihr in eurer ganzen Macht herrscht, soll niemand euch stören. Aber nun hört, was ich sagen will. Wenn ihr über die Erde hinzieht, werden der Frühling und ich stets zwischen euch sein, die Spuren dessen, der fortzieht, mildern und dem Kommenden den Weg bahnen. So wollen wir eine Weile herrschen, jeder zu seiner Zeit und ein jeder den vierten Teil des Jahres lang. Wir wollen einander folgen in einem Kreise, der nie durchbrochen, nie verändert wird. So kommt Friede und Ordnung in die Angelegenheiten der armen Erde.“
Als der Herbstfürst gesprochen hatte, schwiegen alle eine Weile und schauten vor sich hin. Der Winter und der Sommer mißtrauten einander, und keiner wollte das erste Wort sprechen. Aber der Frühling und der Herbst erhoben sich bald und verneigten sich vor den beiden andern Machthabern.
„Ich will das Tuch des Sommers ausbreiten,“ sagte der Frühling.
„Ich will das Ruhelager des Winters zurechtmachen!“ versprach der Herbst.
„Ich will Erde und Wasser von den Fesseln des Eises befreien und für deine Herrlichkeit vorbereiten, du holder Sommer,“ sagte der Frühling.
„Ich werd’ dich in die Ferse beißen,“ schrie der Winter.
„Und ich will deinem Sturm und Schnee Platz schaffen, gestrenger Winter,“ sagte der Herbst. „Aber zuerst will ich den Ertrag des Sommers unter Dach bringen.“
„Ich will dir meine letzten Sonnenstrahlen nachsenden und dir schöne Tage geben,“ gelobte der Sommer.
Wieder saßen die vier Fürsten schweigend da und starrten über die Erde hin.
Und wieder wurde es Abend und Nacht. Der Mond stieg auf den Schneeberg, die Rosen des Sommers dufteten, der Frühling summte und griff in die Saiten der Laute, der bunte Mantel des Herbstes flatterte im Winde.
*
Am nächsten Morgen erhob sich der Winter und stand hoch und gewaltig auf seinem Berge da. Da folgten die anderen Fürsten seinem Beispiel.
„Mag es denn so sein!“ verkündete der Winter. „Hunderttausend Jahre lang soll es so sein und nicht anders. Wenn diese Zeit abgelaufen ist, treffen wir uns wieder hier und reden miteinander darüber, wie es gegangen ist.“
Da verneigten sich die vier Fürsten voreinander und schritten über die Erde hin.
Der Winter saß auf den Bergen und starrte über das Tal hin.
Er wußte, jetzt mußte der Frühling bald da sein; [S. 218] und er spähte ängstlich nach ihm aus. Aber da war nichts anderes zu sehen als Schnee und Schnee und noch mehr Schnee, und er fing an zu glauben, daß der junge Frühling Angst bekommen habe.
Er lachte höhnisch und ließ seine Stürme die Zinnen der Berge umtosen. Wild fuhren sie über die Höhen dahin, knickten große Bäume im Walde und zerbrachen das Eis auf dem Flusse. Sie trieben die Eisschollen vor sich her, warfen sie auf die Wiesen und peitschten das Wasser zu Schaum auf.
„Holla,“ sagte der Winter, „nur immer sachte, Kinder, immer sachte!“
Er hieß die Winde sich wieder legen, und knurrend krochen sie hinter die Berge.
„Ich hatt’ euch gebeten, das Eis nicht zu zerschlagen,“ brummte der Winter. „Nun muß ich sehen, eure Dummheit wiedergutzumachen. Denn Land und Wasser sollen verrammelt sein, wenn der Windbeutel von Frühling mit seinem Leierkasten getrippelt kommt.“
Als die Nacht anbrach und die Sterne erglänzten, starrte der Winter mit seinen kalten Augen auf den Fluß, und im selben Augenblick legte sich wieder Eis auf das Wasser. Aber die Wellen brachen es auf der Stelle entzwei. Sie hüpften und tanzten und knickten die dünne Rinde, sooft sie über ihnen eine Brücke schlug.
„Was ist das ?“ fragte der Winter erstaunt.
In diesem Augenblick ertönte unten im Tal ein leiser Gesang:
Der Winter griff in seinen gewaltigen Bart und beugte sich vor, um zu lauschen. Nun ertönte der Gesang wieder und lauter:
Da sprang der Winter auf und starrte hinaus, die Hand über den Augenbrauen.
Dort unten im Tale stand der Fürst des Frühlings, jung und rank in seiner grünen Tracht, die Laute über der Schulter. Sein langes Haar flatterte im Winde, sein Gesicht war weich und rund, sein Mund lächelte unaufhörlich, seine Augen waren verträumt und betaut.
„Du kommst zu früh!“ schrie der Winter.
Aber der Frühling verneigte sich tief und antwortete:
„Ich komme, wie’s verabredet war.“
„Du kommst zu früh!“ schrie der Winter wieder. „Ich bin noch lange nicht fertig. Ich hab’ noch Tausende von Säcken mit Schnee, und meine Stürme sind so stark und herb, wie sie im Januar waren.“
„Das ist deine Sache und geht mich nichts an,“ sagte der Frühling ruhig. „Deine Zeit ist vorbei, und meine Herrschaft beginnt. Zieh in Frieden fort nach deinen Bergen!“
Da faltete der Winter seine starken, harten Hände und blickte den Frühling ängstlich an.
„Laß mir ein wenig Zeit!“ sagte er. „Ich bitte dich recht herzlich um eine kleine Frist. Gib mir [S. 220] einen Monat... eine Woche Zeit... gib mir bloß drei armselige Tage!“
Der Frühling antwortete nicht, sondern schaute über das Tal hin, als hätte er kein Wort gehört; und er löste das grüne Seidenband, an dem er die Laute trug.
Aber der Winter stampfte auf, daß die Berge erbebten, und ballte die Fäuste in gewaltigem Zorn.
„Geh’ fort, dahin, woher du gekommen bist!“ sagte er. „Oder ich wälze meinen Schnee über dich und begrabe dich so tief, daß du nie aus dem Tale herausfindest. Ich werd’ meine Stürme entfesseln, so daß deine jämmerlichen Töne in ihrem Brausen untergehen. Dein Gesang soll in deinem Halse gefrieren. Wo du gehst und stehst, werd’ ich deinen Spuren folgen. Alles, was du am Tage zum Leben erweckst, werde ich in der Nacht töten.“
Der Frühling erhob das Haupt und schritt durch das Tal hin. Er griff stärker in die Saiten der Laute, und jeder Baum im Walde beugte sich vor, um zu lauschen. Die Erde seufzte unter dem Schnee, die Wellen des Flusses standen still und horchten auf und sangen dann mit, während sie dem Meere entgegensprangen. Selbst der Winter verbiß einen Augenblick seinen Zorn in sich hinein und lauschte:
In langen, starken, feierlichen Tönen klang es durch das Tal hin, und von Hügeln und Bergen antwortete das Echo.
Aber der Winter schüttelte die gewaltigen Fäuste gen Himmel und schrie überlaut:
„Heraus mit euch, all meine starken Stürme! Heraus mit euch, heraus! Brecht herein über das Tal, schlagt alles nieder! Fegt über die Höhen hin, und zerbrecht jeden Baum im Walde! Werft die Berge um, wenn ihr könnt, und begrabt den grünen Gaukler unter ihnen!“
Und hervor brach der Sturm, und der Schnee kam. Es wurde ein entsetzliches Wetter. Die Bäume krachten, zerbrachen und sanken zu Boden, der Fluß trat über seine Ufer, der Schaum der Wellen spritzte bis hoch zum Himmel auf, und gewaltige Lawinen stürzten den Hang hinab.
Aber der Frühling ging singend durch das Tal, sein Gesang ertönte immer voller und stärker:
„Packt besser zu!“ schrie der Winter. „Brause, Sturm! Stürze, Schnee! Peitsche, Regen! Schlag’ nieder, Hagel!“
Und der Sturm brüllte lauter, und der Schnee stürzte herab. Es wurde so finster, als wären die Sonne und der Mond und Sterne erloschen. Große Felsblöcke rollten in das Tal hinab; die Berge bebten [S. 222] und spalteten sich. Es war, als ob die Welt untergehen wollte.
Aber durch das Dunkel leuchtete das grüne Gewand des Frühlings, und gewaltiger als Sturm und Donner tönte sein Sang. Erde, Luft und Wasser sangen mit; der elendeste Grashalm unterm Schnee, die Krähe im Walde, der Regenwurm in der Erde — sie alle nahmen nach besten Kräften daran teil. Selbst die Bäume, die unter dem Griff des Sturmes im Walde gestürzt waren, verkündigten in ihrer Todesstunde den Frühling:
Da ergab sich der Winter.
Der Sturm fuhr mit Geheul nach Norden über die Berge, und es hörte auf zu schneien. Der Fluß trat in sein Bett zurück. Nur hin und wieder hörte man noch ein Knacken im Walde, wenn ein Zweig, der vom Unwetter getroffen war, zu Boden fiel. Sonst war es ganz still.
Und dann begann es zu tauen.
Oft hatte der Schnee in der Sonne geglitzert und war froh darüber gewesen, aber das war eine andere Sonne als die, die jetzt auf ihn herabstarrte. Die Sonne, die jetzt am Himmel dahinwanderte, konnte den Schnee nicht leiden, und der Schnee war ihr nicht hold.
„Was in aller Welt willst du hier?“ fragte die Sonne, immer neugieriger starrend.
Und dem Schnee wurde ganz wunderlich zumut, und er wünschte sich weit fort. Er schmolz oben, so daß große Löcher entstanden, und er schmolz unten, so daß er plötzlich zusammenfiel und fast zu einem Nichts wurde. Überall unter ihm lief das Wasser in Bächen durch den Wald, den Abhang hinab, über die Wiese, in den Fluß hinein, der unverdrossen damit zum Meere strömte. Allerorten standen Wasserpfützen, große und kleine; langsam sickerten sie in die Erde hinab, während der Frost schwand. Aber manchmal mußten sie warten, denn die Erde konnte nicht so viel auf einmal trinken.
Und während es stärker und stärker taute und die Schneeschicht mit jedem Tage dünner wurde, stand der Frühling oben am Waldesrande, beugte sich zur Erde vor und sang:
Bei dem Gesang des Frühlings brachen hundert Schneeglöckchen aus der Erde hervor und leuchteten weiß und grün. Sie nickten mit ihren schweren Köpfen, und der Frühling nickte ihnen zu. Aber dann schritt er weiter, bis er nach einem Weilchen wieder stehen blieb und sang:
Sofort öffneten sie ihre Kronen und reckten sich, [S. 224] so kurz sie auch waren, denn sie waren ja stolz, weil sie sich unter den ersten befanden. Aber während die Schneeglöckchen noch in Scharen hervorkamen, stand der Frühling schon an einer andern Stelle und sang:
Und alle Weidenzweige bedeckten sich mit gelben Kätzchenblüten, die vergnügt hinübergrüßten zu Krokus und Schneeglöckchen. Und der Frühling winkte dem Pfefferstrauch, und der war im Nu mit hellroten Blüten bedeckt. Aber der Frühling bog die untersten Zweige beiseite und beugte sich tiefer zur Erde vor als vorher und sang so mild wie noch nie. Und das Veilchen entfaltete seine breiten grünen Blätter, um ihm zu zeigen, daß es bereit war.
Da schwamm der Nebel über das Tal heran. Niemand konnte sehen, woher er kam, aber er war nun einmal da und blieb viele Tage lang.
Das waren seltsame, stille Tage. Überall sickerte, rieselte, brodelte, siedete es in der Erde, sonst war kein Laut zu hören. Stumm glitt der Nebel die Hügel hinan, in den Wald hinein, und hängte schwere Tropfen an alle Zweige. Und die Tropfen fielen herab vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen.
So dicht war der Nebel, daß der Fluß ganz darin verschwand, so daß man ihn nur strömen hörte. Und die Hügel verschwanden auch und der Wald, so daß man nichts als die äußersten Bäume sah, und selbst [S. 225] sie erschienen als Schatten auf der grauen Nebelwand.
Aber dort, wo der Nebel am dichtesten war, war der Frühling. Und je dichter der Nebel wurde, desto stärker leuchtete das grüne Gewand des Frühlings hervor. Und während das Wasser sickerte und die Tropfen tropften und der Fluß dahinströmte, sang der Frühling:
Aber oben im Gebirge lag lauernd der Winterfürst. Er sah, wie der Schnee schmolz und verschwand; er sah die Blumen kommen und konnte nichts dagegen tun. Bis hoch in die Berge hinauf schmolz der Schnee, und er dachte, es werde ganz toll werden, wenn er nicht etwas unternähme.
Im Dunkel der Nacht schlich er ins Tal hinunter, am nächsten Morgen war Eis auf den Pfützen, und der Nebel hatte sich auf der Wiese als funkelnder Reif niedergeschlagen.
Aber als der junge Frühling das sah, lachte er bloß.
„Das hilft dir doch nichts,“ sagte er. Und er hob sein junges Antlitz zum Himmel und rief:
„Sonne!“
Sofort teilten sich die Wolken, und vor der Sonne schmolzen das Eis und der Reif. Dann versteckte die Sonne sich wieder hinter den Wolken, der Nebel schwamm von neuem über den Höhen, und allerorten brodelte, sickerte, rieselte und tropfte es. Schneeglöckchen, Krokus und Weide blühten, daß es eine Lust war, und das Veilchen streckte vorsichtig seine Knospen aus dem Erdreich hervor.
„Nun ist’s gut!“ sagte der Frühling.
Kaum war ihm das Wort entfahren, so kam ein munterer Wind über die Hügel herbeigesprungen.
Der schüttelte die Tropfen von den Zweigen der Bäume, daß sie in plätscherndem Regen zur Erde fielen. Dann fächelte er in dem alten, welken Grase auf der Wiese, bewegte die Fluten in dem Flusse und zerstreute den Nebel im Handumdrehen. Darauf machte er sich daran, die feuchte Erde zu trocknen, und verjagte die Wolken über die Berge. Dort oben blieben sie hängen und verbargen das zornige Gesicht des Winters. Aber Tag um Tag glitt die Sonne an einem blanken, blauen Himmel dahin, und es wurde warm im Tale:
Und als der Frühling dieses Liedlein gesungen hatte und es zum Gipfel der Felsen, auf den Grund des Flusses und an die Grenze des Tales tönte, da ereignete sich all das Folgende ungefähr gleichzeitig und mit einer solchen Geschwindigkeit, daß man es fast gar nicht erzählen kann.
Des Nachts war das Tal voll leisen Getöns. Aber niemand konnte etwas vernehmen, wenn er nicht das Herz voll grüner Triebe hatte.
Das waren die aufbrechenden Knospen. Winzige grüne Tüten rollten sich auf, Zweige streckten, Blüten entfalteten sich, Düfte wogten, und Gräser wuchsen.
Am Tage war manchmal Sonnenschein und manchmal Regen, aber immer war es gut. Und ein jeder, der Augen hatte zu sehen, sah, was da vorging.
Zuerst wurde der Waldboden ganz weiß von Anemonen, so weiß, daß der Winter, der durch eine Spalte in den Wolken herabspähte, einen Augenblick glaubte, es sei Schnee. Er freute sich so unbändig wie seit dem Februar nicht; aber als er seinen Irrtum gewahrte, schlich er sich zum letztenmal in einer Nacht in den Wald hinein und biß so vielen Blumen, wie er vermochte, die Kehle durch.
Aber für jede, die starb, kamen tausend neue hervor. Und mitten unter den Anemonen standen Lerchensporn und Lungenkraut mit blauen und roten Blüten — ganz nach Belieben, Sauerklee, der so zart war, daß er verwelkte, wenn man ihn nur anrührte, Schlüsselblume und Ehrenpreis, der klein, aber sehr, sehr blau und gar stolz war.
Die Wiese bekam einen funkelnagelneuen Grasteppich, der mit gelben Butterblumen- und Löwenzahntupfen geschmückt war. An den Gräben sah man einen Saum von hübschem lila Wiesenschaumkraut, und nach dem Flusse hin stand eine Schilfborte, die mit jedem Tage breiter und dicker wurde. Vom Grunde des Sees her wuchsen die dicken Seerosenstengel um die Wette nach der Oberfläche hin, und die Frösche, die den ganzen Winter über im Morast gehockt hatten, krochen heraus, streckten die Hinterbeine, schwammen an die Oberfläche und ließen ihr erstes Quorax! hören, so daß einem unbedingt weich ums Herz werden mußte.
Aber die Krähen, Spatzen und Buchfinken, die den Winter über im Tale ausgehalten hatten, veranstalteten einen Lärm, als hätten sie den Verstand verloren.
Sie rannten auf der Wiese umher, hackten auf [S. 228] die weiche Erde ein und nippten von dem Grase, obwohl sie recht gut wußten, daß sie sich den Magen daran verderben würden. Sie schlugen mit den Flügeln und brachten ein Hurra auf den Frühling aus, daß man hören konnte, sie meinten es ehrlich. Auch die Kohlmeise war dabei und der Zaunschlüpfer, so klein er auch war. Sie waren ja die ganze Zeit dagewesen wie die andern und hatten schlimme Stunden erlebt.
Und die Krähe wußte ganz und gar nicht, auf welchem Bein sie stehen sollte. Das Männchen fing an, mit dem Weibchen zu tändeln, mit dem es im vorigen Jahr und den ganzen Winter hindurch zusammen gewesen war und mit dem es sich noch im Februar tüchtig um einen toten Stichling gezankt hatte. Der Spatz setzte sich neben die Spätzin, steckte die Nase in die Luft und sang, als wäre er eine Nachtigall. Die Kohlmeise hatte das reine Frühlingsfieber. Sie schloß die Augen und erzählte dem Weibchen die abenteuerlichsten Märchen von leckeren Regenwürmern und fetten Fliegen, die einem geradeswegs in den Hals hineinflogen, ohne daß man einen Flügel zu rühren brauchte. Und der Herr Buchfink legte sich eine neue, flotte rote Hemdenbrust zu, so daß seine Frau sich vor Bewunderung nicht zu fassen wußte.
Aber das Zaunschlüpferweibchen, dessen Mann Weihnachten Hungers gestorben war, zupfte und putzte sich die Federn, damit es aussah wie eine schmucke junge Witwe.
Und der Frühling lachte und nickte allen freundlich zu.
„Ihr seid tüchtige Gesellen,“ sagte er. „Ihr habt [S. 229] Böses durchgemacht und verdient einen vergnügten Tag. Aber nun muß ich mein anderes Vogelvolk herbeiholen.“
Er wandte sich nach Süden hin, klatschte in die Hände und sang:
Da rauschte es in der Luft von tausendfachem Flügelschlag, und die Schar der Zugvögel fiel wie ein Heer in das Tal nieder. Jede Nacht zitterte die Luft vom Zug der Vögel, und jeden Morgen war des Gezwitschers kein Ende.
Da saß der Star und flötete in seinem schwarzen Frack, mit allen seinen Orden auf der Brust. Dort jagte die Schwalbe durch die Luft, drüben im Gesträuch hüpften Zeisig, Hänfling, Nachtigall und Mönch. Der Rohrsänger schlug seine Triller im Schilf am Flußufer in so rührender Weise, daß man darüber hätte weinen können. Die Drossel übernahm die tiefen Töne und der Stieglitz die hohen; der Kuckuck wagte seinen ersten Ruf, und der Kiebitz saß auf seinem Hügelchen und benahm sich wie ein Geck.
Aber der Storch schritt über die Wiese hin und ließ sich zu keinem Lächeln herab. Inzwischen war der Wald ganz ergrünt, aber die Blätter waren noch klein, so daß die Sonne zu den Anemonen hinab [S. 230] schauen konnte. Die Maiglöckchen versandten ihren Duft für die vornehmen Nasen und der Waldmeister für die andern. Die grünen Blüten der Buche baumelten von den neuen, dünnen Zweigen herab, Kirsche und Schlehe waren weiß vom Scheitel bis zur Sohle, Baldrian, Milchstern und Läusekraut taten ihr bestes. Das Täschelkraut, das das ganze Jahr blühte, ärgerte sich darüber, daß niemand ihm Beachtung schenkte, das Knabenkraut aber sah unheimlich-geheimnisvoll drein, weil es so sonderbare Knollen in der Erde hatte.
Tief im Buchengestrüpp, wo es am grünsten und schönsten war, saß ein verliebter Zeisig und hielt um seine Herzallerliebste an, die auf einem Zweige neben ihm herumhüpfte und ganz so aussah, als verstände sie keine Silbe von dem, was er meinte.
Er flötete:
Als er sein Lied zu Ende gesungen hatte, sah er das Weibchen an, und als es ihm nicht sofort antwortete, hackte er sie tüchtig mit dem Schnabel.
„Laß das!“ sagte sie da.
Als er sie dann aber nicht mehr hackte, sondern die Flügel hob, als wolle er auf und davon fliegen, da beeilte sie sich zu singen:
Nun flogen sie zusammen singend durch den Wald. Und kaum waren sie fort, als zwei andere Vögel kamen, sich auf denselben Zweig setzten und das gleiche Lied auf eine andere Art sangen.
Aber die Blätter der Buche wuchsen, und es kamen immer mehr und mehr. Dichter und dichter legten sie sich über den Wald, und eines schönen Tages war es der Sonne ganz unmöglich, ein Loch zu finden, durch das sie hinabgucken konnte.
Da bekamen die Anemonen einen großen Schreck.
„Schein’ auf uns, Sonne, oder wir sterben!“ schrien sie.
Sie riefen dem Winde zu, er solle die garstigen Blätter aus dem Wege fegen, damit die Sonne ihre lieben kleinen Anemonen sehen könne. Und der Buche riefen sie zu, sie solle sich schämen, daß so ein großer, starker Baum unschuldige Blumen töten wolle. Und den Frühling flehten sie an, ob er ihnen nicht in ihrer Not helfen wolle.
Aber die Sonne sah sie nicht, und der Frühling hörte sie nicht, die Buche schenkte ihnen keine Beachtung, und der Wind lachte sie aus. Ein solcher Jubel [S. 232] war in dem Tale, daß ihre Stimme darin ertrank, und sie starben, ohne daß es beachtet wurde.
Jeden Tag kamen neue Blumen, leuchtende, duftende. Jeden Tag wußten die Vögel ihrem Gesang noch einen Triller hinzuzufügen. Der Hirsch brüllte, noch bevor die Sonne aufging, auf der Waldwiese, und die Hindin antwortete und sprang dahin. Jede Sekunde schnellten die Fische im Wasser empor, und das Quaken der Frösche im Graben fand kein Ende. Die Schlange wand sich am Hügelrand hin und spielte mit ihrer Zunge; auf jeder Hecke saßen braune Mäuslein und schauten einander verliebt an. Selbst die Fliegen summten zärtlicher als gewöhnlich.
Als aber der Jubel auf seinem Höhepunkt war, da stand der junge Frühlingsfürst oben im Tal, wo das Gebirge es nach Norden einschließt, und er schaute über sein Reich hin. Seine Augen waren betaut und verträumt, und sein Mund lächelte unaufhörlich. Er knüpfte das grüne Seidenband, daran er seine Laute trug, über der Schulter, griff noch einmal in die Saiten und summte dazu. Es war ein wunderschöner Tag, an dem die Vögel ihren Gesang dämpften und die Blumen sich schlossen.
Und der Frühling beugte sich über ein blaues Blümlein hinab, das an seinem Fuße keimte, und sang wehmütig:
Dann zog er fort — nach Norden. Und wohin er seinen Fuß setzte, da schmolz der Schnee, und die Blumen blühten auf.
Als er aber an den letzten Punkt gekommen war, von wo er noch das Tal sehen konnte, wandte er sich um.
Und ganz im Süden, wo das Tal in der Ebene ausmündete, stand der Sommer, hoch und rank. Sein Gesicht und seine Hände waren von der Sonne gebräunt, seine Augen mild und warm wie die Sonne. Über der Schulter trug er einen Purpurmantel, um die Lende einen goldenen Gürtel. Darin saß eine wunderbare rote Rose.
Da neigte der Frühling sich tief und ging über die Berge davon.
Niemand hatte das Lebewohl des Frühlings und das Kommen des Sommers beachtet.
Die Vögel sangen, und die Fliegen summten. Die Mücken hopsten in der Luft herum, bis die Schwalbe den Ball für beendet erklärte; die Blumen dufteten, die Frösche quakten, der Hirsch brüllte auf der Waldwiese. Des Jubels war kein Ende.
Und während die Berge noch ergrünten, wo der Frühling seinen Fuß hingesetzt hatte, bis zu dem ewigen Schnee des Winters auf den Zinnen hin, stand der Sommerfürst eine Weile da und schaute auf das Reich, das der Frühling verlassen hatte.
Von seiner Gestalt ging ein so starker Sonnenglanz aus, daß es im Tale wärmer wurde, als es je [S. 234] gewesen war. Seine Augen leuchteten, sein Purpurmantel erstrahlte, der goldne Gürtel um seine Lenden flammte wie Feuer, die rote Rose im Gürtel glühte.
Dann hob er seine Hand, als wollte er Ruhe gebieten. Aber niemand beachtete ihn. Der Zeisig hüpfte mit seinem Schatz im Gebüsch umher, sah sie verliebt an und hackte mit dem Schnabel nach ihr. Die Fische spielten lustig im Wasser, die Wiese prangte in all ihrem Glanz, und der Wald stand in grüne Träume versunken.
Der Sommer hob lächelnd von neuem die Hand. Da das nichts half, runzelte er die Brauen, und sein Gesicht verfinsterte sich.
Und in demselben Augenblick trat ein Schleier vor die Sonne. Von Osten und Westen her kamen schwere Wolken langsam über die Hügel herauf, schwerer und schwärzer, als das Tal sie je gesehen hatte, mit seltsamen, dicken Rändern. Aus den Wolken rollte der Donner, in weiter Ferne und gedämpft, aber so, daß ein jeder seine Macht erkennen konnte.
Die Wolken kamen näher, und es wurde immer dunkler, blieb aber trotzdem warm. Im Walde mußte man glauben, daß es Abend sei. Der Wind bekam Angst, lief hinter die Hügel und legte sich. Die Luft wurde sonderbar drückend und schwer. Die Blätter der Bäume hingen schlaff herab, als wären sie krank, und die Blumen beeilten sich, ihre Kronen zu schließen. Niemand wußte, wo die Fliegen blieben, aber fort waren sie. Die braunen kleinen Mäuse vergaßen ihre verliebten Narrenspossen, saßen in ihren Stuben und pfiffen. Der Hirsch legte sich hinter [S. 235] den dichtesten Sträuchern nieder, die Frösche bekamen ihr Quorax in die verkehrte Kehle und verzogen sich nach dem Grunde, als ob der Winter vor der Tür stünde. Rings unterm Laube saßen die Vögel und starrten mit bangen Augen.
Und der Sommer war nicht länger Licht und Sonne. Während die Wolken sich zusammenzogen, erlosch der Glanz, der ihn umwogte. Schließlich stand er wie eine gewaltige schwarze Wolke in der Gestalt eines Riesen am Ende des Tales.
Da erbrauste es plötzlich über den Hügeln, daß alle den Atem verloren. Die Bäume neigten sich im größten Entsetzen, der Fluß hob sich und sprang davon wie ein Roß, das sich bäumt und wild wird.
Da klang es, als liefen tausend leichte Füße über die Erde hin... das waren die ersten Regentropfen. Im nächsten Augenblick stürzte der Regen herab, und jeder Laut ging unter in seinem Geplätscher.
Ein sehr starker Blitz folgte, so daß man alles sehen konnte, aber aller Augen wurden geblendet. Dann trat das tiefste Dunkel ein, und der Donner rollte, daß die Berge bebten.
Aber durch den Donner hindurch tönte die Stimme des Sommers, und niemand hatte je eine so starke Stimme vernommen:
„Ich bin es... der Sommer, der die Herrschaft über das Land übernimmt. Mein ist der Donner, der überm Tale brüllt. Hört ihr... das Echo rollt von den Bergen... die Erde dröhnt unter meinem Fuß... der Sommer kommt.“
Der Donner hörte auf, aber der Regen fuhr fort zu strömen. Aber durch ihn hindurch sprach die [S. 236] Stimme des Sommers, und noch nie hatte jemand eine so milde Stimme vernommen:
„Ich bin es... der Sommer, der die Herrschaft übernimmt. Was grün ist, soll noch grüner werden, das Schöne noch tausendmal schöner. Der Duft der Blumen soll süßer, der Klang des Vogelgetrillers tiefer und voller werden. Der Tag soll früher im Osten aufstehen und heller und wärmer sein, die Nacht kühl und still, und der Wonne am Morgen und des Friedens am Abend soll kein Ende sein.“
Als der Sommer so gesprochen hatte, während alles im Tale sich vorbeugte, lauschte und verstand, schwieg der Donner, und der Regen ließ nach.
Hoch und strahlend durchschritt der Sommerfürst sein Reich.
Wohin er kam, da teilten sich die Wolken und schwanden nach Ost und West hinter den Hügeln. Der Himmel wurde wieder klar, und die Wassertropfen, die an jedem Zweige und jedem Halme hingen, glänzten in der Sonne. Die Blüten öffneten sich, die Vögel kamen unterm Laub hervor, der Hirsch verließ sein Versteck und tauchte das Maul in das weiche Gras.
Aber als die letzte Wolke verschwunden war und die Sonne den letzten Wassertropfen weggetrocknet hatte, als jede Spur des Unwetters getilgt war, da war es doch nirgendwo so wie vor dem Gewitter im Tal.
Es kamen mehr Blumen und neue Blumen hervor, und ihr Duft war süßer und ihr Glanz größer, wie der Fürst des Sommers es verkündet [S. 237] hatte. Aber es war, als wären alle ernster geworden.
Sie wiegten sich nicht mehr so sorglos auf ihren Stengeln und versandten ihren Duft nicht mehr so verschwenderisch in alle Winde. Aber wenn eine Biene oder ein Schmetterling geflogen kam, reckten alle Blumen den Hals und leuchteten und dufteten doppelt so stark und riefen überlaut ihren Honig aus, damit die Insekten kommen und ihnen den Blütenstaub abnehmen sollten.
Und die Bienen hatten auch nicht so viel Zeit wie in den grünen Tagen des Frühlings. Ihre Königin zu Hause legte Hunderte von Eiern, und sie mußten Wachs ausschwitzen, Kammern bauen und Honig und Blütenstaub holen, daß sie beinahe dabei zugrunde gingen. Und es waren so viele Blumen da, daß sie nicht wußten, wohin sie sich wenden sollten. Im Walde berauschten sie sich an dem süßen Duft der Lindenblüte und des Geißblatts, auf dem Hügelhang flatterten sie geradeswegs in die rote Flamme des Mohns hinein. Keine von ihnen konnte die Blumenkörbe verschmähen, die Distel und Klette, Kamille und Löwenzahn ihnen hinreichten. Kamen sie an die Hecke, so rief der Holunder, wollten sie im Grase ausruhen, so bot die Winde ihnen ihren Kelch mit frischen Tautropfen auf dem Rande und Honig auf dem Grunde dar; flogen sie über den See hin, so lag die Seerose mit ihren weißen und gelben Blütenblättern da und nickte auf den stillen Wassern.
Und wie es den Blumen und Bienen ging, so ging es überall. Nirgendwo war es wie früher.
So viele Triller der Zeisig auch seiner Liebsten [S. 238] vorsang, so zärtlich er auch den Kopf auf die Seite legte, so hitzig er auch mit dem Schnabel nach ihr hackte — sie machte sich nicht das geringste daraus, sondern starrte stumm und ernst vor sich hin.
„Ich denke an das Nest,“ sagte sie schließlich.
„Ja natürlich!“ erwiderte der Zeisig und sah aus, als hätte er die ganze Zeit über an nichts anderes gedacht.
„Ja, aber es hat Eile !“ sagte sie. „Bevor die Woche um ist, haben wir die Eier.“
Da suchten sie sich einen Fleck, wo sie gern wohnen wollten, und machten sich einträchtig an die Arbeit.
Aber wenn sie nach einem Reis hinhüpften, für das sie Verwendung hatten, so hüpften bereits andere Vögel in derselben Absicht hin, und wenn sie einer Feder in der Luft nachflogen, so mußten sie sich beeilen, damit kein anderer sie ihnen wegschnappte. Erwischte der Zeisig ein wunderschönes langes Pferdehaar, so war es nie zu vermeiden, daß auch am anderen Ende einer zog, und flog die Frau Zeisig auf prächtig aussehendes Moos zu, das sie gestern erspäht hatte, so konnte sie sicher sein, daß die Nachbarin es schon am Morgen geholt hatte.
Denn alle Pärchen des Waldes waren ausgezogen, um ihre Aussteuer einzusammeln.
Schließlich hatten die beiden Zeisige glücklich ihr Haus gebaut, und die andern Vögel desgleichen. Im ganzen Walde war kein Strauch so arm, daß er nicht ein Nest in seinem Schoße trug. In jedem Nest lagen Eier, und auf den Eiern saß ein braves [S. 239] Vogelweibchen, das mit den schwarzen Augen wachsam um sich schaute und sich ganz fürchterlich langweilte. Von Zeit zu Zeit kam ihr Mann nach Hause mit einer Fliege, einem Regenwurm oder anderm guten Kindbettessen, wie er’s versprochen hatte, und wie es seine Pflicht und Schuldigkeit war. Und am Abend saßen alle Vogelmännchen getreulich am Rande des Nestes und sangen — jedes mit seinem Schnabel, rührend und hübsch, und die Weibchen meinten, es sei herrlich zu leben.
Aber oben in den hohen Bäumen lagen die Krähenweibchen auf den Eiern, und im Gebirge brüteten die Adlerfrauen.
Allerorten rüstete man sich auf den Empfang der Kinder, aber nicht überall gab es ein so trautes Familienleben wie im Gesträuch im Walde.
Zwar hatte der Fuchs seine Höhle tief im Hügel, wo seine Jungen so ruhig lagen wie in der Truhe der Großmutter. Aber die ängstliche Häsin warf ihre Häslein in den Graben und hatte keine Ahnung davon, wo in der Welt der unnatürliche Vater seinen Abendkohl verzehrte.
Und der Kuckuck flog unruhig hin und her und brachte seine Eier heimlich in den Nestern der andern Vögel unter, und er weinte bitterlich, weil er sich nie ein eigenes Heim bauen konnte. Der Schnecke ging es nicht viel besser; denn sie konnte nichts anderes tun als ein Loch in die Erde zu bohren, ihre Eier da hineinzustecken und sie dem lieben Gott zu überlassen.
Die braunen Mäuslein hatten ihre Stube voll von winzigen blinden Kinderchen, die sich keine zärtlicheren und fürsorglicheren Eltern wünschen [S. 240] konnten. Aber die Maulwurfsmadam unten in der Erde mußte ihren eigenen Schurken von Mann auffressen, sobald sie aus dem Wochenbett aufgestanden war, damit er die unschuldigen Kleinen nicht zur Vesper verspeisen sollte. Und die Mücken-Herren tanzten ungeniert in der Abendluft, als ob sie nichts Besseres zu tun hätten, während die ihnen angetrauten Frauen jede für sich und in großer Betrübnis Eier ins Wasser legten.
Aber der braune Frosch saß auf dem Grabenrande und rang die Hände in sprachlosem Entsetzen über die seltsamen Kaulquappen-Kinder, die er in die Welt gesetzt hatte.
Und die Sonne schien, und der Regen tropfte auf diejenigen herab, die behaglich unter Dach saßen, und auf die, die alles hinnehmen mußten, wie es kam. Die Frau Maulwurf rackerte sich als ehrenhafte Witwe ab für zwei, und die Häsin säugte ihre Jungen, damit sie möglichst bald zu Kräften kämen und dem Fuchs und Adler nicht in die Hände fielen. Der Kuckuck rief seinen Kummer zwischen die Stämme des Hochwaldes aus, die Mückenmutter ließ die Eier von hinnen segeln, da sie doch nichts mehr für sie tun konnte, worauf sie sich auf dem Ohre des Hirsches niederließ und sich nach der Anstrengung an einem Tropfen Blut ergötzte.
Aber der Sommerfürst war bei ihnen allen. Er wußte um die kleinste Mücke, und er vergaß keine Blume auf der Wiese.
„Es ist alles gut!“ sagte er.
Und mit jedem Tage, der verstrich, erstrahlte sein Purpurmantel herrlicher, der goldene Gürtel [S. 241] um seine Lende flammte, und die rote Rose im Gürtel erglühte.
*
Auf einmal ertönte ein gräßlicher Schrei im Walde. So gellend klang es, daß es ringsum ganz still wurde und alle lauschten.
Es war eine alte knorrige Eiche, die den Schrei ausgestoßen hatte. Sie stand mitten in einer Schar junger Buchen.
„Sommer, Fürst, komm mir zu Hilfe!“ schrie sie. „Siehst du denn nicht, daß die Buchen mich erwürgen? Eh’ du noch zweimal deinen Einzug im Tale gehalten hast, werde ich unter ihrem Schatten tot und begraben sein.“
„Ich sehe es,“ sagte der Sommer ruhig.
„Du siehst es?“ schrie die Eiche und rang verzweifelt ihre alten Zweige.
„Du siehst es und hilfst mir nicht? Weh mir, was für ein Fürst bist du?! Da war der Frühling wahrlich ein anderer, gnädigerer Herr. Im Walde war kein trockenes Holz, dem er nicht ein paar grüne Blätter gewünscht hätte.“
Aber der Sommerfürst sah gleichgültig auf die sterbende alte Eiche hin.
„Hab’ nie die Verantwortung übernommen für die grünen Versprechungen des Frühlings,“ erwiderte er. „Ich herrsche nach meinem eigenen Gesetz, und das Gesetz gebietet, daß du sterben mußt. Was soll ich mit so welkem Holz in meinen frischen Wäldern?“
Dann wandte er sich zu den Buchen und sagte: „Ich hab’ euch Kraft zu wachsen gegeben. Ich geb [S. 242] ’ euch doppelte, geb’ euch zehnfache Kraft. Beeilt euch und legt den alten Herrn zur Ruhe!“
Und die Buchen schossen empor und überschatteten die Eiche, so daß sie starb.
Aber auch andere brachten ihre Klage vor den Sommer. Jeden Tag, jede Stunde kam einer, der um Hilfe schrie.
Da war das Gras, das weinte, weil der Hirsch es fraß.
„Ich habe dich zahlreich gemacht wie der Sand am Meere,“ sagte der Sommer. „Ich habe dir Zähigkeit und rasches Wachstum, habe dir den Wind gegeben, auf daß er deinen Staub über die Wiese hinträgt. Für dich habe ich genug getan.“
Und da war der Hirsch, der brüllte, weil das beste Gras weg war. Zu ihm sagte der Sommer:
„Ich habe dir flinke Beine gegeben, daß du dahin springen kannst, wo das Gras im Walde am grünsten ist. Sind deine Beine müde geworden, so leg’ dich hin und stirb, und das Kalb der Hindin wird in deine Fußspuren treten.“
Da waren die Fische im Fluß, die untereinander die Eier und Jungen auffraßen und dem Sommer die Schuld gaben.
„Was wollt ihr von mir?“ fragte der Sommer. „Ich habe euch die Macht gegeben, Tausende von Eiern zu legen und abermals und abermals Tausende. Wie viele auch sterben, es werden immer Fische im Flusse sein.“ Und die Blumen kamen und seufzten, weil nicht genug Bienen da seien, ihren Staub zu tragen. Aber der Sommer sprach:
„Ich habe euch Honig geschenkt, den ihr den Bienen als Botenlohn geben sollt, und habe euch ge [S. 243] lehrt, ihn so anzubringen, daß sie den Staub als Zugabe nehmen müssen. Ich habe euch starken Duft und schöne Farben gegeben, womit ihr sie locken könnt. Ihr rufet sie, und sie kommen, und dem, der am meisten verspricht und am meisten hält, gehorchen sie am schnellsten.“
Aber sooft der Sommer gesprochen hatte, stets stellte sich wieder jemand ein mit Klagen und Beschwerden.
„Es gibt zu wenig Regenwürmer!“ schrie der Zeisig, der jetzt vier Junge im Nest hatte und ganz mager geworden war von all der Mühe und Arbeit, um Nahrung, herbeizuschaffen. „Wir hungern. Wir halten’s nicht aus!“
„Es gibt zu viele Vögel!“ jammerte der Regenwurm in der Erde. „Wenn man nur einen Augenblick zum Vorschein kommt, auf der Stelle wird man gefressen.“
„Befrei’ uns von dem Storch!“ baten die Frösche.
„Schaff’ mehr Frösche herbei, oder ich reise ab,“ schrie der Storch.
Und die Buche klagte, weil die Maikäfer ihre Blätter fraßen, und die Krähen konnten nicht genug Maikäfer kriegen. Die Bienen jammerten über die Blüten, wie die Blüten über die Bienen... sie meinten, es sei zu beschwerlich, des Honigs habhaft zu werden. Der Hase entrann dem Fuchs und fiel dem Adler in die Klauen. Die junge Esche an der Hecke rief den Himmel an um Beistand gegen das Geißblatt, das sie bis zum Wipfel umschlang.
Aber der Sommerfürst stand hoch und strahlend [S. 244] da und überschaute sein Reich. Sein Lächeln war hell, und in seinen starken Augen war kein Mitleid. Er hob die Hand, wie um ihnen Schweigen zu gebieten, aber niemand achtete seiner; der Lärm stieg an mit jeder Stunde, und das Land war voll von Geschrei und Jammer.
Da runzelte er die Brauen und rief die schweren, schwarzen Wolken hinter den Hügeln hervor. Sie kamen auf seinen Wink, die Angst lag wieder über dem Tal, und die Schreie verstummten. Der Donner rollte, daß die Berge erbebten, die Blitze flammten, und der Regen fiel.
Und durch das Unwetter tönte seine gewaltige Stimme:
„Wißt ihr nicht, daß auch ich ein Herr bin, streng wie der Winter, den ihr haßt? Er herrscht über den Tod, wie ich über das Leben. Wie er, verlange ich Gehorsam. Wie er zerschmettere ich den, der sich mir in den Weg stellt.
„Ihr habt mich für einen Spielmann gehalten wie den Frühling, der euch zum Leben und zur Sehnsucht erweckte und über die Berge davonging. Aber ich bin größer als der Frühling, denn ich habe eurer Sehnsucht Brot gegeben und euch dem Gesetz des Lebens unterworfen.
„Aber das Gesetz besteht darin, daß das Gesunde bestehen bleiben, das Kranke aber sterben soll.
„Darum habe ich meine Tage so lang gemacht, daß ihr grünen und wachsen sollt. Darum hab’ ich euch Macht und tausendfältige Kräfte gegeben, der kleinsten Mücke, wie dem größten Baum im Walde, damit ihr kämpfen und wachsen sollt. Und darum [S. 245] habe ich euch Kinder gegeben, damit ihr niemals sterben sollt.
„Und auf den, der dem Gesetz gehorcht und den Tag ausnutzt, liegt die Sonne meines Auges. Seine Kraft soll herrschen, und seine Kinder sollen seinen Namen durch die Zeiten tragen.
„Aber der, der versagt, muß sterben.“
Der Sommer schwieg, und der Donner rollte langsam über die Berge hin. Die Wolken trennten sich voneinander und schwanden; freundlich und klar leuchteten die Sterne, und von den Bäumen tropfte es herab, sonst war alles still.
Aber am nächsten Morgen erwachte das Tal zu wilderem Kampf und stärkerem Geschrei als zuvor.
Denn es war kein Vogel im Wald und keine Blume auf der Wiese, die nicht gehört und verstanden hatten, was der Fürst des Sommers sagte. Sie alle wußten, worauf es ankam, und rüsteten sich, bevor die Sonne aufging, zum Kampf ums Dasein.
Doppelt eifrig jagten der Zeisig und seine Frau im Gebüsch, doppelt fleißig gruben die braunen Mäuslein, doppelt stark leuchteten und dufteten die Blumen. Frau Maulwurf durchwühlte die Erde die kreuz und quer. Der Hirsch fand eine Wiese, auf der das Gras hoch und grün war. Die Buche trieb neue Zweige an Stelle derer, die die Maikäfer gefressen hatten, und die Esche streckte ihre Zweige durch das Geißblatt hindurch, um dem Sommer zu zeigen, daß sie am Leben sei.
Tausende starben, aber niemand hörte ihren Todesseufzer bei dem Lärm, den der Kampf der Lebenden mit sich brachte. Und es war, als ob [S. 246] immer mehr Leben entstände, sobald ein Leben erlosch.
Die jungen Zeisige hüpften aus dem Nest, fielen vom Zweig herab und flatterten wieder hinauf. Die Krähenkinder schrien in den Wipfeln, und die jungen Adler flogen vom Felsen herab, um ihre Flügel auszuprobieren. Der Star jagte die erste Brut aus dem Nest und legte nochmals Eier, der Frosch erlebte es, seine mißgestalteten Jungen in anständiger Verfassung zu sehen, bevor er vom Storch verspeist wurde.
Nie waren die Fische im Fluß so zahlreich, die Blätter der Buche so breit, das Gesträuch so dicht gewesen, nie hatten so viele Blumen an der Hecke gestanden.
Und der Sommer stand mitten in seinem Reich, groß, rank und strahlend.
„So ist es gut!“ sagte er.
Da wurde es Abend.
Die Krähen flogen von ihrem Klub in der alten, abgestorbenen Eiche nach Hause, die Vöglein im Gebüsch stimmten ihr Abendlied an, machten es aber kurz, denn sie waren müde. Die Blumen schlossen sich, und die Bienen verrammelten das Haus. Der Nachtfalter flog auf weichen grauen Flügeln dahin. Die Sterne glitzerten; immer mehr, immer größere kamen zum Vorschein.
Vorsichtig steckte der Nebel seinen Kopf heraus, spähend und lauschend. Und da es ganz still war, quoll er hervor, weiß und grau, wogend, lautlos. Bald lag er ruhig träumend da, bald tanzte er auf seine eigentümliche Art über die Wiese dahin. Er guckte in den Wald hinein, wo die Linde duftete, [S. 247] er glitt den Fluß hinab, der dahinrann und im Dunkel verschwand.
Aber vom Waldessaume her erscholl plötzlich ein langer, jubelnder Triller über das Tal:
„Gitte — gitte — gitte — gitte — gitte — gitte — gitt!“
Der Nebel stand still und lauschte. Der Hirsch hob den Kopf, die Vögel öffneten verschlafen die Augen und antworteten mit leisem Gepiep.
„Gitte — gitte — gitte — gitte — gitte — gitte — gitt!“
Die Nachtigall sang:
Ganz oben auf einem der Hügel im Westen stand der Herbstfürst und schaute mit seinen ernsten Augen über das Land hin.
Sein Haar und sein Bart waren graugesprenkelt, und seine Stirn hatte Falten. Aber schön war er doch, aufrecht und stark. Sein prächtiger Mantel leuchtete rot, grün, gelb, braun und flatterte im Winde. In der Hand hielt er sein Horn.
Er lächelte wehmütig und stand eine Weile da und lauschte dem Kampf, dem Gesang und dem Geschrei. Dann hob er das Haupt, setzte das Horn an den Mund und blies eine lustige Fanfare:
Alle Bäume im Walde erbebten von der Wurzel bis zum Wipfel; sie wußten selbst nicht, warum. Ein Frösteln überlief alle Vögel, und sie verstummten. Der Hirsch auf der Wiese hob erstaunt sein Geweih und lauschte. Die roten Blätter des Mohns flogen im Winde dahin.
Aber auf den Bergen, auf den kahlen Hügeln und tief im Moor erblühte das Heidekraut und leuchtete rot und schön in der Sonne. Und die Bienen flogen von den verblichenen Wiesenblumen fort und verbargen sich in den Erikafeldern.
Aber der Herbst setzte wieder sein Horn an den Mund und blies:
Der Sommerfürst stand still und hob die Augen nach Westen hin. Und der Herbst setzte das Horn ab und verneigte sich tief vor ihm.
„Sei mir willkommen!“ sagte der Sommer.
Er ging ihm einen Schritt entgegen, einen und nicht mehr, wie es sich für den Größeren ziemt. Aber der Herbstfürst kam über die Hügel hinab und verneigte sich abermals tief.
Hand in Hand gingen sie durch das Tal. Und von dem Sommer ging ein so strahlender Glanz aus, daß niemand des Herbstes gewahr wurde. Die Töne seines Hornes erstarben in der Luft, und alle hatten den Schauder, der sie vorher überlief, ver [S. 250] wunden. Die Bäume, Vögel und Blumen waren wieder zu sich gekommen, und sie rauschten, sangen und zankten.
Der Fluß rann dahin, das Schilfrohr flüsterte, und die Bienen holten sich im Heidekraut einen Sommerrausch.
Aber dort, wo die Fürsten auf ihrer Wanderung durch das Tal stillstanden, geschah es, daß das Laub auf der Seite, wo der Herbst stand, gelb wurde. Ein kleines Blatt löste sich von seinem Stengel, flatterte weg und fiel ihm zu Füßen nieder. Die Nachtigall sang nicht mehr, obwohl es Abend war, der Kuckuck schwieg und flatterte unruhig im Walde umher, der Storch streckte sich auf dem Nest aus und starrte gegen Süden.
Aber die Fürsten achteten dessen nicht.
„Sei mir willkommen!“ sagte der Sommer wieder. „Entsinnst du dich deines Versprechens?“
„Ich entsinn’ mich wohl,“ erwiderte der Herbst.
Der Sommer blickte über das Reich hin, wo der Lärm allgemach nachließ.
„Hörst du sie?“ fragte er. „Sie müssen sterben, und sie wissen es nicht. Nun nimm du sie milde auf.“
„Ich werd’ das Deine bergen,“ erwiderte der Herbst. „Behutsam will ich die Träumenden wecken, behutsam die zudecken, die unter der Erde schlafen. Dreimal werde ich sie vor dem Winter warnen.“
„Das ist gut,“ sagte der Sommer.
Eine Weile gingen sie schweigend einher, während die Nacht hervorquoll.
„Die Blütenblätter des Mohns sind abgefallen, als du dein Horn geblasen hast,“ sagte der Sommer. [S. 251] „Viele von meinen Kindern werden sterben, sobald ich das Tal verlasse. Aber Nachtigall, Kuckuck und Storch nehme ich mit mir.“
Wieder gingen die beiden Fürsten schweigend dahin. Es war ganz still, nur die Eule schrie in der alten, abgestorbenen Eiche.
„Meine Vögel sendest du mir nach,“ bat der Sommer.
„Ich werd’ keinen vergessen,“ erwiderte der Herbst.
Da hob der Sommer seine Hand zum Lebewohl und hieß den Herbst von dem Reiche Besitz ergreifen.
„Heute nacht gehe ich fort,“ sagte er. „Und niemand außer dir soll es wissen. Mein Glanz soll noch eine Weile im Tale zurückbleiben, damit das Schicksal derer, denen du den Tod bringst, gemildert wird. Und später, wenn ich in weiter Ferne bin und meine Herrschaft in Vergessenheit zu geraten droht, dann soll die Erinnerung an mich und die Sonne und die schönen Tage wach werden.“
Damit schritt er in die Nacht hinein.
Aber hoch vom Wipfel des Baumes flog der Storch auf langen Flügeln dahin, und der Kuckuck flatterte vom Hochwalde herbei, und die Nachtigall verließ das Gesträuch mit ihren ausgewachsenen Jungen.
Leises Flügelrauschen erfüllte die Luft.
Das Zeisigpärchen plauderte am Rande des leeren Nestes.
„Erinnerst du dich noch an den Tag, als ich um deine Hand anhielt?“ fragte er. „Ich hatte mich geputzt und hübsch gemacht, so gut ich konnte, und auch du warst lieb und schön. Die Buche war eben grün geworden... nie in meinem Leben habe ich den Wald so wunderbar grün gesehen!“
„Oh, wie du gesungen hast!“ rief sie aus. „Sing wieder so, dann nehm’ ich dich vielleicht wieder.“
Aber der Zeisig schüttelte den Kopf.
„Meine Stimme ist weg,“ sagte er.
„Weißt du noch — wie wir das Nest bauten?“ fragte sie bald darauf. „Wie warm und gemütlich es war! Nie wieder bekomm’ ich ein so hübsches Heim. Sieh nur, wie garstig es jetzt aussieht!“
„Das haben die Jungen getan,“ entgegnete er.
„Ja — aber entsinnst du dich noch des Morgens, als sie aus dem Ei schlüpften?“ fragte sie, und ihre kleinen schwarzen Augen strahlten. „Wie waren sie süß und nackt und braun! Keine Minute konnte ich sie verlassen, ohne daß sie schrien.“
„Und dann bekamen sie Federn!“ sagte er und richtete sich auf. „Stolze Zeisige waren sie alle vier. Erinnerst du dich noch an den Tag, als sie zum erstenmal aus dem Nest hüpften?“
Sie erinnerte sich. Sie gedachte noch anderer Dinge, und sie erinnerte ihn an alles. Und dann rückten sie näher aneinander und saßen schweigend da und gedachten alter Zeiten.
Und all den andern ging es ebenso wie dem Zeisigpärchen.
Die Blumen neigten sich zueinander und flüsterten von der goldenen Zeit, als jeder Kelch eine Biene beherbergte. So eifrig waren sie, daß der eine kaum abwarten konnte, bis der andere mit seiner Geschichte fertig war. Über die ganze Wiese tönte es hin:
„Weißt du noch? Weißt du noch?“
Die Fliegen und Bienen saßen den halben Tag schläfrig da und hatten vertrauliche Gespräche über die schönen Sommertage, an denen sie summend und brummend auf der Wiese regierten. Die Bäume schlugen mit den Zweigen gegeneinander und erzählten sich Märchen aus ihrer grünen Jugend. Die Schilfhalme streckten die braunen Kolben zusammen und erlebten das ganze noch einmal im Traum. Die braunen Mäuslein saßen in der Abendsonne an der Hecke und erzählten den Kindern ihre Liebesgeschichte.
„Weißt du noch? Weißt du noch?“
Mitten im Tale stand der Herbstfürst, das Horn in der Hand. Aber niemand sah ihn.
Da flog die Krähe mit heftigem Flügelschlag aus dem Walde und schrie:
„Vorbei — vorbei! Wie mögt ihr von den alten Dingen reden! Es ist ja doch alles vorbei — vorbei — vorbei!“
Das Echo klang von den Hügeln:
„Vorbei — vorbei — vorbei!“
Und das Echo flüsterte im Schilf und summte im Fluß. Alle verstanden es, daß der Sommer zu Ende war. Sie schwiegen; mitten in ihren [S. 254] Geschichten verstummten sie, lauschten und sprachen es nach:
„Vorbei — vorbei — vorbei!“
Und plötzlich sahen sie alle den Herbst, wie er in seinem bunten Mantel mitten unter ihnen stand. Mit bangen Augen starrten sie ihn und einander an.
Aber er setzte das Horn an den Mund und blies, daß es über das Tal hinklang:
Mit seinen ernsten Augen schaute der Herbst über das Tal. Aber als das letzte Echo der Töne verklungen war, hob er den bunten Mantel in der Sonne, nickend und lachend.
Und während der Himmel so hoch war wie nie zuvor und die Luft leicht und die See blau, während die Berge sich klar vom Horizont abhoben, unterwarf sich das Land gehorsam der Herrschaft des Herbstes.
Begonnen hatte es in der Nacht, als der Sommer fortzog. Ein gelbes Blatt hier, ein braunes Blatt dort, aber niemand hatte es beachtet. Jetzt ging es schneller, und während der Tag verstrich, kamen immer mehr Farben hervor und ein immer schärferer Glanz.
Die Linde wurde hell und die Buche bronze [S. 255] farben, aber der Holunder wurde noch schwärzer als vorher. Die Glockenblumen läuteten mit weißen Glocken wie vorher mit blauen, und der Kastanienbaum segnete alle Welt mit seinen fünf gelben Fingern. Der Vogelbeerbaum warf die Blätter ab, damit alle die wunderschönen Beeren bewundern sollten, von der wilden Rose her nickten Hunderte von Hagebutten, und der wilde Wein loderte über der Hecke in hellen Flammen.
Weich und grün wuchs das Moos, und die Pilze schossen in einer Nacht hervor. Sonderbare, weiche, blasse Burschen waren es, und giftig und neidisch sahen sie aus. Aber einige von ihnen hatten einen scharlachroten Hut auf dem Kopfe, und alle waren des Lebens von Herzen froh.
Aber der Zeisig konnte keine Fliege finden und beklagte sich jämmerlich darüber.
„So reise denn!“ sagte der Herbst. „Deine Zeit ist abgelaufen, und ich habe Vögel genug.“
Und fort zogen Zeisig, Hänfling und viele andere. Der Herbst aber setzte das Horn an den Mund und blies:
Und Amsel und Drossel schnatterten lustig im Gebüsch, das von Beeren leuchtete, und tausend Spatzen fielen mit ein.
In der Nacht war es ganz still. Der Hirsch ging lautlos über die Wiese und spähte mit erhobenem Geweih. Der Vogel saß irgendwo und [S. 256] schlief, das Köpfchen unter dem Flügel; der Wind getraute sich kaum, in dem vergilbten Laube zu flüstern. In ferner Ruhe funkelten die Sterne. Und dann fielen die Blätter.
Während sie sich von den Zweigen lösten, während sie die Luft durchschwirrten und zu Boden fielen, seufzten sie leise und erfüllten den Wald mit seltsamen Klagelauten. Aber niemand konnte sie hören, der nicht seine eigene Hoffnung hatte sterben sehen.
Aber am nächsten Morgen leuchteten die, die übrig geblieben waren, noch stärker, und sie lachten in der Sonne, als hätten sie sich nie so wohl gefühlt. Die Birke kokettierte im Moor, und die kleinen, kleinen Pflanzen an der Hecke bildeten sich viel ein auf ihre roten Blätter. Buche und Eiche änderten jeden Tag irgend etwas an ihrem Gewand, so daß es noch phantastischer wurde. Die fallenden Blätter flogen von dem einen Baum zum andern und blieben dort liegen, so daß das ganze schließlich ein einziger Wirrwarr war.
Aber am allerrotesten flammte der wilde Wein, und in der alten abgestorbenen Eiche machten die Krähen jeden Abend einen solchen Spektakel, daß man überhaupt nichts hören konnte. Die Drosseln gackerten, die Sperlinge schrien, und der Wind lief vom einen zum andern und fachte die gute Laune an. Hoch vom Himmel blickte die Sonne mild auf das alles herab.
Und der Herbst nickte vergnügt und ließ seinen bunten Mantel im Winde flattern.
„Ich bin der geringste der vier Fürsten und kaum Herr in meinem eigenen Lande,“ sagte er. [S. 257] „Ich diene zwei eifrigen Herren und muß ihnen zu Gefallen sein. Aber so weit reicht meine Macht denn doch, daß ich euch ein paar vergnügte Tage verschaffen kann.“
Und er setzte das Horn an den Mund und lud zum Feste ein. Und alle kamen.
Aber während die Lustigkeit auf ihrem Höhepunkt und das Land voller Lärm war wie in den schönsten Tagen des Sommers — da irrten sich zwei in der Zeit.
Das waren der Kirschenbaum und die Erdbeere.
Sie fanden, daß die Sonne so merkwürdig warm schien, und sahen, wie froh alle waren. Da vergaßen sie sich und öffneten vorsichtig ihre weißen Kronen. In demselben Augenblick aber erschauerten sie, denn es war ja kälter, als sie gedacht hatten.
Und als die feinen weißen Blüten sich in der Morgensonne entfalteten, da lachten all die bunten Bäume des Waldes sie aus. Die Krähen fielen vor Gelächter von den Bäumen herab, die Spatzen kreischten — und alle meinten, das sei das Allerköstlichste, was sie je erlebt hätten. Aber eine verspätete Biene machte sechstausend große Augen und bekam einen Schlaganfall, weil sie glaubte, sie habe den Verstand verloren.
Der Herbstfürst sah mit betauten Augen auf die Blüten herab und schüttelte den Kopf.
„Ihr armen kleinen Dummköpfe,“ sagte er wehmütig.
Aber der wilde Wein schlang seine warmen roten Arme um sie und sagte zu ihnen, sie seien lieb und gut.
Und die Blüten wuchsen und gediehen, und eine [S. 258] von ihnen trieb sogar eine winzige grüne Beere hervor. Und als die andern das sahen, hörten sie auf zu lachen und begannen nachzudenken. Die Erle blickte an sich herab und meinte, sie sei ja noch ganz grün, und die Birke wollte in die Erde versinken vor Scham über ihre Nacktheit. Der alte Frosch sagte plötzlich Quorax! und erschrak so darüber, daß er kopfüber im See verschwand. Der Sperling fühlte sich auf einmal gar einsam und sah sich liebevoll um unter den Töchtern des Landes.
Aber die Buche schüttelte eine Menge brauner Blätter ab und hielt die, die noch grün waren, krampfhaft fest.
„Es wäre ja möglich,“ sagte sie zu sich selbst und sandte im selben Augenblick drei frische Triebe in die Welt.
Aber in der Nacht, nachdem dies geschehen war, war eine gewaltige Unruhe auf den Gipfeln der Berge, wo der ewige Schnee im Frühling und Sommer gelegen hatte. Es klang, als wäre ein Gewitter im Anmarsch. Die Bäume bekamen Angst, die Krähen verstummten, und selbst der Wind hielt den Atem an.
Der Herbst beugte sich vor, um zu lauschen.
„Bist du toll?“ schrie eine heisere Stimme durch das Dunkel.
Der Herbst hob den Kopf und schaute in die großen, kalten Augen des Winters.
„Vergißt du die Verabredung?“ fragte der Winter.
„Nein,“ erwiderte der Herbst. „Ich vergesse [S. 259] sie nicht. Wenn sie aber sterben sollen, so vergönne ihnen noch einmal zu tanzen.“
„Hüte dich!“ schrie der Winter.
Die ganze Nacht hindurch rumorte und lärmte es in den Bergen. Es wurde so bitterlich kalt, daß der Star allen Ernstes daran dachte, einzupacken, und selbst der rote Wein erbleichte. Als die Sonne aufging, hingen die Kirschenblüte und die Erdbeerblüte tot an ihren Stengeln.
Von den fernen Berggipfeln leuchtete Neuschnee.
Da lachte der Herbst nicht mehr. Er schaute ernst über das Tal hin, und die Falten in seiner Stirn wurden tiefer.
„So mag es denn sein!“ sagte er.
Dann blies er in sein Horn:
Da entstand auf einmal eine große, große Emsigkeit im Lande. Denn nun verstanden alle, daß es zur Neige ging; und alle meinten, etwas vergessen zu haben oder mit irgend etwas nicht fertig geworden zu sein.
Rings im Gebüsch schrien die Sträucher überlaut: „Hol meine Hagebutten!“
„Vogelbeeren! Vogelbeeren! Schöne rote Vogelbeeren!“
„Schlehen! Schlehen!“
Und Drossel und Amsel stürzten sich auf sie und verschlangen die guten Beeren, um für die Reise etwas Zehrung zu haben. Die Spatzen verspeisten alles, was sie hinunterbekamen, und die Krähen verjagten die andern und hieben ein.
„Sputet euch!“ sagte der Herbst. „Weg mit dem Staat!“
Mohn, Glockenblume, Nelke und viele andere standen dürr und dünn wie Hölzer da, die Köpfe voller Samen. Der Löwenzahn hatte jedem seiner Samen einen niedlichen Fallschirm zugegeben.
„Komm, lieber Wind, und schüttel’ uns!“ bat der Mohn.
„Flieg mit meinem Samen fort, Wind!“ sagte der Löwenzahn.
Und der Wind beeilte sich, ihre Bitten zu erfüllen.
Aber die Buche ließ heimlich ihre zottigen Früchte auf den Pelz des Hasen fallen und eine auf den roten Rock des Fuchses. So trugen die beiden die Kinder der Buche in die Welt hinaus, ohne eine Ahnung davon zu haben.
„Sputet euch!“ sagte der Herbst. „Es ist keine Zeit zu verlieren.“
Die braunen Mäuse füllten ihre Stuben bis zur Decke mit Nüssen, Bucheckern und Eicheln. Der Igel hatte sich schon so dick gefressen, daß er die Stacheln kaum zurücklegen konnte, aber trotzdem schlich er die ganze Nacht umher, um noch mehr zu bekommen. Hase, Fuchs und Hirsch zogen unter ihren Pelzen reines, weißes Wollzeug an. Star, Drossel und Amsel sahen ihre Daunenhemden nach und übten die Flügel für die lange Reise. Die [S. 261] Spatzen waren neidisch, weil sie nicht mitdurften, auf die Krähen aber machte nichts Eindruck. Der Kiebitz saß gar elend auf seinem Hügelchen.
Aber die Fledermaus geriet ganz außer sich und hängte sich eines Abends an ihren eigenen Hinterbeinen tief im Innern eines hohlen Baumes auf.
„Geschwind!“ gebot der Herbst. „In einer Woche ist es aus!“
Die Sonne versteckte sich hinter der Wolke und kam viele Tage lang nicht zum Vorschein.
Es begann zu regnen. Der Wind wehte schärfer; er peitschte den Regen über die Wiese hin, jagte den Fluß, daß er schäumte, und pfiff unheimlich zwischen den Stämmen im Walde. Die Blätter fielen unaufhörlich.
„Das Lied ist aus!“ sagte der Herbst. Und er setzte das Horn an den Mund und blies:
So war es also vorbei. Und alles vollzog sich so schnell, daß man gar nicht klar darüber wurde, wie es anfing und wie es endete.
In Scharen verließen die Vögel das Land. Star und Kiebitz, Drossel und Amsel, sie alle zogen nach Süden. Jede Nacht hörte der Spatz ihr Pfeifen und Flügelrauschen in der Luft.
Jeden Morgen, bevor die Sonne aufging, fuhr der Wind durch den Wald und riß die letzten Blätter von den Bäumen. Jeden Tag wurde der Wind stärker, zerbrach große Zweige, fegte die welken Blätter in Haufen zusammen, trieb sie wieder auseinander und legte sie zuletzt als weichen, dicken Teppich über den ganzen Waldboden hin. Hier und dort hing ein vereinzeltes Blatt an einem Zweige, das sich sträubte und nicht sterben wollte. Aber es wurde ihm nur eine Galgenfrist bewilligt. Fiel es nicht heute, so fiel es morgen.
Der Igel verkroch sich so tief in ein Loch unter einem Steinhaufen, daß er zwischen zwei Steinen eingeklemmt sitzen blieb und weder vorwärts noch rückwärts konnte. Der Sperling bezog sein Nachtlogis in einem verlassenen Schwalbennest, die Frösche gingen endgültig auf den Grund des Teiches hinab, setzten sich im Morast zurecht, den Maulrand oben im Wasser, und warteten der Dinge, die da kommen würden. Die Wellen rissen die Seerosenstengel los und spülten sie weg, das Schilf zerbrach im Sturm und trieb mit der Strömung fort.
Der Herbstfürst starrte über das Land hin, um zu sehen, ob es kahl und öde war, auf daß sich die Stürme des Winters frei zu tummeln vermöchten und der Schnee sich niederlegen könnte, wo er Lust hatte.
Und es war so leer, daß die Sonne Tag um Tag später aufstand und früher zu Bett ging, weil sie fand, es sei nichts da, worauf sie scheinen könne.
„Nun komme ich!“ schrie der Winter von den [S. 263] Bergen. „Meine Wolken bersten von Schnee, und meine Stürme reißen sich los.“
„Ich habe noch einen Tag,“ sagte der Herbst.
Er ging über die Wiese, auf der das Gras schon gelb war; alle Blumen waren verschwunden mit Ausnahme des kleinen Tausendschönchens, das nie ein Ende finden kann. Dann ging er in den kahlen Wald hinein. Er sah nach dem Igel, lächelte den braunen Mäuslein zu, die hübsch ordentlich die Schalen aus der Stube trugen, wenn sie ein Nußgelage veranstaltet hatten, streichelte die starken Buchenstämme, fragte sie, ob sie dem Sturme standhalten könnten, und nickte den ewig vergnügten Krähen zu.
Dann blieb er vor der alten abgestorbenen Eiche stehen und blickte auf die Efeuranke herab, die ganz bis zum Wipfel emporkletterte und ihre grünen Blätter entfaltete, als ob es gar keinen Winter gäbe.
Und während er sie betrachtete, mit Augen, die mild und betaut waren, wie die des Frühlings, brachen die Efeublüten auf. Sie wiegten sich im Winde, gelb, grün und unansehnlich; und doch waren es ebenso richtige Blüten wie die, die im Reich des Sommers wuchsen.
„Nun kann ich meine Stürme nicht länger zurückhalten!“ schrie der Winter.
Der Herbst neigte sein Haupt und lauschte. Er hörte den Sturm über die Berge herabbrausen. Eine Schneeflocke fiel auf seinen bunten Mantel... und noch eine... und noch eine.
Zum letztenmal setzte er das Horn an den Mund und blies, gedämpft und wehmütig:
Dann ging er im Sturme fort.
Der Winter war auf den Bergen, aber sein Gesicht verdeckten schwere, dem Bersten nahe Wolken, die darauf lauerten, all die Bosheit freizulassen, die sie in sich trugen.
Von Zeit zu Zeit trennten sich die Wolken ein wenig voneinander, aber nur auf einen Augenblick. Und wenn das geschah, funkelten die schneebedeckten Gipfel in der Sonne, so daß man nichts anderes sehen konnte, und auch sie selbst vermochte man anzuschauen. Und selbst wenn der Sturm ganz wild über das Tal dahinfuhr, wenn der Fluß aufschäumte und die Bäume knackten und brachen und fielen, selbst dann lagen die Wolken schwer und dicht vor dem Gesicht des Winters.
Zuweilen lösten sich einige von ihnen im Nebel auf, der in das Tal hinabschwebte und es ganz [S. 266] ausfüllte. Aber das war ein anderer Nebel als der, den der Frühling über das Land legte. Aus ihm blühten keine Veilchen hervor, in seinem Schoß war keine Frucht geborgen, keine Sehnsucht und kein Leben. So kalt war er, als gäbe es gar keine Sonne hinter ihm.
Manchmal regnete es in dichten, endlosen Strömen, tagaus, tagein. Der Wind peitschte den Regen dem Hasen und Hirsch in die Augen, daß sie sich verstecken mußten, wo sie gerade konnten. Die braunen Mäuse konnten kaum die Nase vor ihre Tür stecken, und die Spatzen saßen zerzaust und verzagt unter den blattlosen Sträuchern. Aber die Krähen wiegten sich unentwegt auf den höchsten Zweigen und hielten den Schnabel steif in den Wind, damit der ihnen nicht unter die Federn blasen sollte.
Manchmal schneite es auch. Aber es war ein schlechter, schläfriger Schnee, der schmolz, sobald er zu Boden fiel.
In der Nacht heulte der Wind in den Bergklüften und die Eule im Walde. Die welken Blätter spielten Haschen und raschelten wie Gespenster, und die Zweige der Bäume bogen sich traurig hin und her, hin und her.
Und mochte es schneien oder regnen, oder mochte es bloß neblig sein, mochte es Tag oder Nacht sein, stets lag das Tal in gräßlichem Morast da, und in den Bergen lauerten die Wolken. Die welken Grashalme auf der Wiese schwankten verzweifelt im Winde. Die Wellen des Flusses liefen verbittert und kalt dahin.
Und eines Nachts fror es.
Auf dem Morast bildete sich eine dünne Rinde, die der Hirsch mit seinen Hufen durchbrach, aber der Hase lief darüber weg. Den träumenden Igel schauderte es, die Efeublüten verwelkten, und die Pfützen bekamen eine Eisdecke.
Und am nächsten Morgen, ganz in der Frühe, fiel eine dünne Schneeschicht über das Tal herab. Die Sonne leuchtete wieder, aber fern und kalt, und die Wolken verzogen sich.
Der Winter saß auf den Bergen — ein alter Mann mit weißem Haar und Bart. Zottig war seine nackte Brust, zottig Beine und Hände. Stark und wild sah er aus, und seine Augen waren kalt und streng.
Aber er war nicht zornig wie damals, als der Frühling ihn aus dem Tal verjagte und als der Herbst nicht schnell genug von dannen ging. Ruhig überschaute er das Reich, denn nun wußte er, daß es sein war. Und als er alles tot, leer und öde vorfand, griff er in seinen gewaltigen Bart und lachte barsch und vergnügt.
Aber alles im Lande, was Leben hatte, wurde von Entsetzen gepackt, als des Winters kalte Augen darauf ruhten.
Die dicke Rinde der Bäume erbebte, und die Sträucher schlugen vor Schreck die Zweige zusammen. Die Maus wurde schneeblind, als sie zur Tür herausguckte, und der Hirsch sah betrübt über die weißen Wiesen hin.
„Noch kann mein Maul das Eis zerbrechen, wenn ich trinken will,“ sagte er. „Noch kann ich den Schnee beiseite scharren und ein Büschel Gras [S. 268] finden. Aber wenn es noch eine Woche so weitergeht, dann ist es aus mit mir.“
Die Krähen, der Buchfink, der Spatz und die Kohlmeise hatten die Sprache ganz verloren. Sie dachten an die andern Vögel, die beizeiten fortgezogen waren, und wußten nicht, wohin sie sich in ihrer Not wenden sollten. Schließlich traten sie in einer Reihe vor, um dem neuen Herrn des Landes ihre untertänige Huldigung darzubringen.
„Hier kommen deine Vögel, mächtigster aller Fürsten!“ sagte die Krähe, in dem weißen Schnee umhertrippelnd. „Die andern haben das Land verlassen, als du dein Kommen ankündigtest! Aber wir sind geblieben, um uns dir zu unterwerfen. Sei uns ein gnädiger Herr, und gönn’ uns unser täglich Brot.“
„Wir beugen uns vor Ew. Majestät!“ sagte der Buchfink.
„Wir haben uns so sehr nach dir gesehnt!“ piepste die Kohlmeise und legte den Kopf auf die Seite.
Und der Sperling sprach es ehrerbietig den andern nach.
Aber der Winterfürst lachte sie höhnisch aus.
„Aha, ihr Allerweltsvögel!“ sagte er. „Jetzt kriecht ihr vor mir, im Sommer habt ihr euch gut unterhalten, im Herbst habt ihr euch dick und fett gefressen, und wenn der Frühling euch aufspielt, tanzt ihr wie die andern nach seiner Pfeife. Ich hasse euch, hasse euer Geschrei und Gekreisch, und die Bäume, auf denen ihr umherhüpft. Ihr alle wollt mir trotzen, und ich will euch treffen, wo ich kann.“
Und er erhob sich in all seiner Macht: „Ich habe meine eigenen Vögel, nun sollt ihr sie zu sehen bekommen!“
Er klatschte in die Hände und sang:
Und die Vögel des Winters kamen.
Plötzlich wurde es finster, und die Luft füllte sich mit kleinen schwarzen Pünktchen, die herabsanken und zu großen weißen Schneeflocken wurden. Sie fielen auf die Erde nieder, immer mehr und mehr, in unendlicher Mannigfaltigkeit. Weiß und stumm legten sie sich Seite an Seite, Schicht an Schicht. Und immer dicker wurde der Teppich über dem Lande.
Die Krähen und die andern suchten Zuflucht im Walde, während der Schnee fiel, und starrten mißmutig über das Tal hin. Kein Grashalm, kein Stein war mehr zu sehen. Alles war eine weiche, weiße Fläche. Nur die Bäume ragten hoch daraus empor, und durch die Wiese lief der Fluß dahin, schwarz vor Zorn.
„Auch dich kann ich bezwingen!“ sagte der Winter.
Und als es Abend wurde, gebot er dem Winde, sich zu legen. Da wurden die Wellen ganz klein [S. 270] und still, der Winter starrte sie mit seinen kalten Augen an, und das Eis baute seine Brücke von beiden Ufern her. Vergebens versuchten die Wellen, den Gesang des Frühlings anzustimmen. Ihre Stimme hatte keine Kraft. Vergebens riefen sie nach der Sonne des Sommers und dem frischen Winde des Herbstes. Niemand hörte ihre Klage, und sie mußten sich unter das Joch begeben.
Am nächsten Morgen war von dem Fluß nur eine schmale Rinne übrig, und als noch eine Nacht vergangen war, da war die Brücke fertig. Wieder rief der Fürst des Winters seine weißen Vögel herbei, und bald war die Schneedecke über den Fluß gebreitet, so daß man nicht mehr sehen konnte, was Land und Wasser war.
Aber keck ragten aus dem tiefen Schnee die Bäume auf, und in ihren Wipfeln schrien die Krähen. Tannen und Fichten hatten alle ihre Blätter behalten und waren so grün wie immer. Wo sie standen, da bildeten sie Deckung vor dem Frost und Schutz vorm Schnee, und der Buchfink und die andern Vögel fanden Zuflucht unter ihrem Dach.
Der Winter blickte sie zornig an.
„Könnt’ ich euch doch bändigen, könnt’ ich euch doch zerbrechen!“ schrie er. „Ihr bietet mir Trotz, ihr spottet meiner. Mitten in meinem Reiche haltet ihr Wache für den Sommer, und ihr gebt den verfluchten Schreihälsen, die die Ruhe in meinem Lande stören, eine Zuflucht. Mein Eis vermag sie nicht zu töten. Hätte ich bloß Schnee genug, euch darunter zu begraben, daß ihr mir wenigstens nicht in die Augen stechen könntet!“
Aber die Nadelbäume boten dem Zorn des Win [S. 271] ters Trotz und bewegten die langen Zweige im Winde.
„Du hast uns weggenommen, was du konntest,“ sagten sie. „Weiter reicht deine Macht nicht. Wir warten ruhig bessere Zeiten ab.“
Als sie das gesagt hatten, fiel der Blick des Winters plötzlich auf winzige Knospen rings an den Zweigen der Bäume. Er sah die Kätzchen des Nußstrauches, die nach dem Frühling dufteten. Er sah die braunen Mäuslein eine Trippeltour in den Schnee unternehmen und sah sie vor seinen Augen wieder in ihren warmen Stuben verschwinden. Deutlich hörte er den Igel an der Hecke schnarchen, und die Krähen schrien ihm fortwährend die Ohren voll. Durch das Eis sah er vom Grunde des Sees die Froschmäuler hervorragen.
Da packte ihn die Wut.
„Träume ich, oder wache ich?“ schrie er und griff mit beiden Händen in seinen Bart. „Hält man mich zum besten? Bin ich hier Herr oder nicht?“
Er hörte die Anemonen ruhig und leicht in der Erde atmen, und er vernahm, wie tausend Larven im Holz der Bäume munter und ungestört bohrten, als ob der Sommer im Lande wäre. Er sah die Bienen in ihrem sichern Nest umherkriechen und den Honig verteilen, den sie im Sommer eingesammelt hatten. Die Fledermaus sah er in ihrem hohlen Baum und den Regenwurm tief in der Erde. Überall, wohin er sich wandte, sah er Millionen von Eiern, Larven und Puppen, gut verwahrt und getreulich auf das Verschwinden des Winters harrend.
Da sprang er ins Tal hinab und ballte die [S. 272] Fäuste zum Himmel hinan. Sein weißes Haar und sein Bart flatterten im Winde, seine Lippen bebten, und seine Augen glänzten wie Eis.
Und er stampfte auf und sang mit seiner heiseren Stimme:
Er schrie es über das Land hin.
Und das Eis zerbrach und bekam lange Risse. Es klang wie Donner vom Grunde des Flusses her. Finsternis deckte das Land, wie wenn ein Gewitter im Sommer über dem Tale heraufzog, aber es war viel schlimmer — denn damals konnte man darauf rechnen, daß es bald vorbei sein würde, aber jetzt war keine Hoffnung mehr.
Dann brach das Unwetter los.
Der Sturm brüllte, daß keiner das Krachen der fallenden Bäume im Walde hören konnte, das Eis wurde in Stücke zerbrochen, und die Schollen türmten sich zu gewaltigen Eisbergen auf, aber das Wasser fror augenblicklich wieder zu. Der Frost biß so tief in die Erde hinein, wie er kommen konnte, und er biß alles Lebende tot, das er in der Erde vorfand. Der Schnee stob nieder auf Wiesen und Hügel, und im Schneegestöber verschmolzen Himmel und Erde.
So ging es viele Tage lang.
Die Spatzen wußten zuletzt nicht, ob sie lebendig oder tot waren, die Krähen verkrochen sich im Tannenwalde, stumm vor Hunger und Entsetzen. Der Hirsch hatte zwei Tage lang kein einziges Büschel Gras gefunden, und brüllend, vom Hunger gequält, sprang er durch den Wald. Frierend kauerten die Mäuse in ihren Stuben, der Buchfink erfror, der Hase lag tot auf der Wiese, und der Fuchs fraß den Kadaver und war dankbar dafür.
Und als das Unwetter endlich nachließ, war es kalt wie nie zuvor. Ringsum lagen gewaltige Schneewehen, und an den kahlen Stellen, wo der Schnee vom Winde fortgeweht wurde, war die Erde hart wie Stein. Jede Pfütze war bis auf den Grund zugefroren, See und Fluß waren vereist, und der Hirsch mußte am Schnee lecken, um seinen Durst zu löschen.
Allerorten herrschte Not.
Der Igel war so zusammengeschrumpft, daß in seinem Schlupfloch, das vorher für einen zu klein gewesen war, Platz für zweie war. Die Krähen zankten sich wie verrückt um die kleinste vertrocknete, vergessene Beere. Der Fuchs schlich mit schlaffem Bauch und bösen Augen umher. Und die braunen Mäuslein entdeckten mit Entsetzen, daß sie auf dem Grunde ihrer Vorräte angelangt waren. So viel hatten sie gegessen, um sich an den schlimmen Tagen warm zu machen.
Der Winter aber stand im Tale und schaute vergnügt aus. Er ging in den Wald hinein, wo der Schnee auf der Windseite bis zu den Kronen der Buchenstämme gefroren war, aber auf den Zwei [S. 274] gen der Tannen lag er so dick, daß sie bis zur Erde herabhingen.
„Seid ihr auch die Diener des Sommers, so müßt ihr euch doch darein finden, meine Livree zu tragen,“ sagte er höhnisch. „Und nun soll die Sonne euch bescheinen, und ich will mir einen schönen Tag nach meinem Herzen machen.“
Er hieß die Sonne hervorkommen, und sie kam.
An einem blanken blauen Himmel wanderte sie dahin, und alles im Tale, was noch Leben hatte, erhob sich ihr entgegen und bettelte sie um etwas Wärme an. Da war ein Sehnen und Seufzen tief in der Erde, tief in den Bäumen und tief im Flusse:
„Ruft den Frühling ins Tal zurück! Gib uns den Sommer wieder! Wir sehnen uns! Wir sehnen uns!“
Aber die Sonne hatte nur ein kaltes Lächeln als Antwort auf ihre Bitten. Sie blinzelte dem Reif zu, brachte es aber nicht fertig, ihn zum Schmelzen zu bringen; sie starrte auf den Schnee, konnte ihn aber nicht auftauen.
Tot und still lag das Tal unter seinem weißen Linnen da. Die Krähen schrien kaum im Walde.
„So gefällt mir das Land!“ erklärte der Winter.
Und der Tag ging zu Ende — ein schlechter, trister Tag, der ganz unterging in der großen, strengen Nacht, in der von tausend Sternen Kälte über die Erde herableuchtete. Der Schnee knirschte unter den Tritten des Hirsches, und der Sperling piepte im Schlafe vor Hunger. Das Eis dröhnte und bekam gewaltige Risse.
Und der Winter saß wieder auf seinem Berg [S. 275] thron und schaute froh über sein Reich hin. Seine großen, kalten Augen starrten, während er in seinen Bart brummte:
Die Tage verstrichen, und der Winter herrschte über das Land.
Die braunen Mäuse hatten die letzte Nuß gefressen und wußten keinen Rat für die Zukunft. Der Igel bestand nur aus Haut und Knochen, und die Krähen waren im Begriff, das ganze aufzugeben. Der Fluß lag tot unterm Eise.
Da ertönte plötzlich Gesang:
Da sprang der Winter auf und starrte in die Ferne, die Hand über den Brauen.
Unten im Tale stand der Frühling, jung und aufrecht in seinem grünen Gewande, die Laute über der Schulter. Sein langes Haar flatterte im Winde, sein Antlitz war weich und rund, sein Mund lächelte, und seine Augen waren verträumt und betaut.
Es vergingen hunderttausend Jahre, und der Tag kam, da die Fürsten nach ihrer Verabredung wieder zusammentreffen sollten, um voneinander zu hören, wie es ihnen ergangen war.
Im Dunkel der Nacht begaben sie sich jeder für sich zum Treffpunkt und setzten sich ganz wie das letztemal im Kreise nieder, ein jeder auf seinen Berg. Als die Sonne aufging, schien sie auf die vier hohen Herren in all ihrer Pracht und Macht.
Des Sommers Purpurmantel erstrahlte, und der goldne Gürtel um seine Lende und die rote Rose im Gürtel leuchteten. Der Lenz saß in seinem grünen Gewande da, spielte auf den Saiten der Laute und summte dazu. Der bunte Mantel des Herbstes flatterte im Winde, und der Schnee auf dem Berg des Winters glitzerte wie von Millionen Diamanten.
Des Sommers und des Winters Augen trafen einander zum erstenmal wieder nach den vielen Jahren. Der Schweiß sprang auf der Stirn des Winters hervor, und der Sommer hüllte sich schaudernd in seinen Mantel. Sie waren gleich stark und gleich stolz, aber die Augen des einen waren mild, die des andern kalt und streng. Zornig blickten sie einander an, als bittre, unversöhnliche Feinde.
Und auch der Frühling und der Herbst saßen einander gegenüber wie damals vor langer, langer [S. 277] Zeit, und auch ihre Augen trafen sich. Der Blick des Frühlings war betaut, träumerisch und jung wie immer, und der des Herbstes wehmütig und ernst.
Eine Weile saßen die Fürsten so da. Dann erhoben sie sich alle und verneigten sich tief, der Frühling und der Herbst aber am tiefsten, wie es dem Geringeren geziemt. Und als sie wieder saßen, ein jeder auf seinem Berge, und eine Weile geschwiegen hatten, da wandte der Herbst seinen ernsten Blick dem Sommer zu und fragte:
„Hab’ ich den Bund gehalten, den wir schlossen?“
„Das hast du!“ erwiderte der Sommer. „Du hast mir die Ernte geborgen. Ich danke dir.“
Und der Herbst wandte sich zum Winter und fragte:
„Hab’ ich getan, was ich versprach? Hab’ ich dir dein Bett zurechtgemacht? Hab’ ich auf der Erde Platz geschafft für deinen Sturm und deine Kälte?“
„Das hast du getan,“ antwortete der Winter verdrossen. „Aber stets hast du das Tal zu spät verlassen.“
Und der Frühling hob sein Antlitz zum Sommer auf und fragte:
„Hab’ ich nicht das Tuch für dich ausgebreitet, wie ich’s versprach? Hab’ ich nicht das Wasser vom Joch des Eises befreit und die Erde vom Frost? Hab’ ich nicht das grüne Waldzelt aufgeschlagen für dich?“
„Ja, das hast du getan,“ erwiderte der Sommer mild. „Ich bin dafür in deiner Schuld.“
Aber der Winter drohte dem grünen Frühling und schrie:
„Stets bist du zu früh gekommen, du Windbeutel! Nie konnt’ ich meinen Schnee bis auf den Grund ausschütten, nie waren meine Stürme schon müde geworden, wenn du mit deinem Leierkasten erschienst.“
„Ich habe getan, was ich tun mußte,“ erwiderte der Frühling und griff lächelnd in die Saiten der Laute.
Aber der Herbstfürst erhob sich und verneigte sich dreimal tief.
„Dann hat unsre Zusammenkunft ja der armen Erde Segen gebracht,“ meinte er. „Nun wollen wir Abschied voneinander nehmen, um uns nie wieder zu treffen. Einzeln werden wir unsern Gang über das Land fortsetzen bis ans Ende der Zeiten.“
Der Frühling erhob sich, verneigte sich dreimal, wie der Herbst es getan, und band die Laute über die Schulter. Aber der Sommer und der Winter blieben sitzen und schauten vor sich hin, als hätten sie noch etwas auf dem Herzen; und als der Frühling und der Herbst das sahen, setzten sie sich wieder, ein jeder auf seinen Berg, und warteten ehrerbietig.
Als eine Weile verstrichen war, hob der Winter sein weißes Haupt und sah vom einen zum andern.
„Nun will ich das aussprechen, was wir alle denken,“ sagte er.
Fragend wandte der Herbst sich ihm zu, und der Frühling band die Laute wieder los und spielte und summte. Aber der Sommer nickte beifällig.
„Wir sind Fürsten von Gottes Gnaden,“ sagte der Winter. „Wir haben die Erde unter uns verteilt, [S. 279] so daß ein jeder von uns den vierten Teil des Jahres über herrscht. Wir haben den Vertrag eingehalten, den wir miteinander geschlossen haben, aber das Land ist nicht mehr unser .“
„Das ist wahr,“ erklärte der Sommer.
„Wir sind nicht mehr Herren im Lande,“ versicherte der Winter. „Die Menschen haben die Macht an sich gerissen.“
Der Sommer nickte wieder, der Herbst beugte sein Haupt ein klein wenig vor, der Frühling aber summte seine Melodien und schaute über das Land hin, als ob er gar nicht zuhörte. Aber der Winter fuhr fort:
„Ich weiß nicht, woher sie gekommen sind. Sie müssen zu dem Gewürm gehören, das der Frühling aus der Erde hervorlockt mit seinem Gesang, und das der Sommer lebendig erhält. Aber so viel weiß ich: sie sind da, sie wimmeln auf dem Lande umher, und mit jedem Jahr werden es ihrer mehr und mehr.“
„Das ist wahr,“ sagte der Sommer.
Der Herbst nickte mit dem Kopf, aber der Frühling spielte und sang.
„So ist’s,“ sagte der Winter, „und ich kann ihnen nicht zuleibe. Sie sind mir zu klug, und sie sind jedesmal klüger geworden, wenn ich sie wieder zu sehen bekomme. Vergebens schick’ ich ihnen meine bitterste Kälte, meinen heftigsten Sturm. Sie haben Häuser gebaut, worin sie warm und geschützt sitzen und den Sturm wüten lassen. Sie zünden Feuer an, um sich warm zu halten, und sie haben sich dicke, wollne Kleider verfertigt... für Leib und Glieder, Hände und Füße. Und nicht [S. 280] genug damit! Die Tiere, die sie gebrauchen können, nehmen sie zu sich in die Häuser. Wälze ich meinen Schnee auf die Erde herab, so daß er bis zum Dach ihrer Häuser hinan liegt, so schieben sie ihn beiseite und bahnen sich Pfade und Wege hindurch. Verwandle ich das Wasser zu Eis, so schlagen sie das Eis in Stücke, wenn’s ihnen paßt, oder sie setzen Eisen unter ihre Füße und laufen darüber weg und machen sich obendrein ein Vergnügen daraus.“
„Es ist wahr,“ sagte der Sommer. „Die Menschen haben jetzt die Macht in Händen.“
Aber der Winterfürst hatte seine Klage noch nicht beendet.
„Die Menschen regieren über die Erde,“ sagte er. „Und sie wissen es und sind mir überall im Wege. Um mich so recht zu verhöhnen, haben sie ihr wichtigstes, vornehmstes Fest mitten in meine Regierungszeit verlegt. So frech sind sie!“
„Auch ich kenne sie,“ sagte der Herbst. „Und ich kann nicht leugnen, daß sie sich zu Herren der Erde gemacht haben, wenn sie mir auch nicht viel Schaden zufügen. Aber eigenmächtig sind sie, und die Ernte bringen sie ins Haus, manchmal vor und manchmal nach der richtigen Zeit.“
„Jawohl!“ schrie der Winter. „Darum kann ich sie auch nicht aushungern, weil sie ihre Scheunen mit Vorräten füllen. Aber wenn wir zusammenhalten, können wir sie bezwingen.“
Da ergriff der Sommer das Wort:
„Die Menschen haben die Macht, und wir können nichts daran ändern. Sie sind zu zahlreich und zu klug, wie der Winter ganz richtig sagte. Anfangs hab’ ich nichts gegen sie einzuwenden ge [S. 281] habt. Wie meine andern Geschöpfe liefen sie im Walde umher, jagten, kämpften und brachten ihre Kinder unterm Laube zur Welt. Sie gehorchten dem Gesetz des Lebens, das ich ihnen gegeben habe. Und ich habe ihnen ebensoviel Gutes gegönnt wie dem Hirsch, dem Sperling und dem Regenwurm.“
„Als ich sie das erstemal sah, hüllten sie sich in Felle und versteckten sich in Höhlen,“ sagte der Winter zornig.
„Das war ihr Recht,“ erwiderte der Sommer ruhig. „Ein jedes Wesen, das ich geschaffen habe, sucht Schutz vor deiner Bosheit, wenn es nicht aus dem Lande fliehen kann, während du herrschest. Aber die Menschen sind nicht mehr das, was sie waren. Jetzt jagen sie nicht mehr frei und keck im Walde. Ihr Angesicht ist blaß geworden, ihr Arm schwach, und sie sind hilflos. Jammergeschöpfe sind die Menschen geworden, und sie müßten sterben. Ich hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn der Winter sie alle töten würde. Denn sie herrschen nicht, weil sie die stärksten sind, sondern weil sie alle möglichen spitzfindigen Einrichtungen ersonnen haben. Das verleiht ihnen so große Macht auf Erden.“
„Laßt uns sie ausrotten!“ schrie der Winter.
„Das können wir nicht,“ entgegnete der Sommer. „Sie haben das Land ganz nach ihren Bedürfnissen umgeschaffen. Eine Anzahl meiner Tiere und Pflanzen haben sie ausgerottet, weil sie ihnen keinen Nutzen brachten und nicht gefielen; andere wiederum haben sich unter ihrem Einfluß vermehrt. Und alle, die in die Dienste der Menschen treten, werden krank und schwach wie sie. Sie werden [S. 282] abhängig von den Menschen, damit diese Nutzen von ihnen haben können; aber mit dem freien Leben, zu dem sie geschaffen wurden, ist es aus. Ich hasse die Menschen, wie der Winter sie haßt. Aber es gibt keinen Rat gegen ihre Herrschaft.“
Er schwieg. Mißmutig starrten die drei Fürsten vor sich hin. Nur der Frühling spielte glücklich auf den Saiten seiner Laute.
Da wandte der Winter sich ihm zu und sagte barsch:
„Du allein hast kein Wort gesagt. Was haben die Menschen dir Böses getan?“
„Sag’ es uns!“ erklärte der Herbst dringlich.
„Du hassest sie doch wohl wie wir?“ fragte der Sommer.
Der Frühling hob sein junges Antlitz und blickte sie an, als weilten seine Gedanken in weiter, weiter Ferne.
„Die Menschen?“ sagte er dann. „Sie tun mir nicht weh!“
„Ich halte das für eine deiner üblichen grünen Lügen!“ sagte der Winter spöttisch.
Aber der Frühling blickte vor sich hin mit seinen betauten, verträumten Augen, griff stärker in die Saiten und antwortete:
„Seht, wenn ich ins Tal komme, in die Saiten meiner Laute greife und dazu singe, wenn die Blumen dem Erdreich entsprießen, dann löst sich der Frost in den Herzen der Menschen wie in der kalten Erde. Dann singen sie und blühen und lachen, und Liebe und Wonne werden in ihren Seelen wach!“
Erstaunt blickten die drei Fürsten den Frühling an, aber er fuhr fort:
„Als ich das letztemal im Tale war, sah ich einen alten, alten Mann. Sein Haar war weiß und seine Augen matt. Seine Hände tasteten hilflos umher, und seine Beine konnten ihn kaum tragen. Aber als ich im Tale stand und in die Saiten meiner Laute griff, da richtete er auf einmal seinen krummen Rücken auf, und in seine Augen kam ein Glanz. ‚Der Wald wird grün!‘ sagte er. Und er ging hinaus und sprang auf seinen zitternden Beinen meinen Blumen nach, lauschte meinem Gesang und nahm mit den andern an meiner grünen Freude teil!“
Er schwieg. Keiner der andern Fürsten antwortete ihm. Lange saßen sie schweigend da und blickten über die Erde hin.
Und es wurde Abend und Nacht. Der Mond schien auf die Schneeberge, die Rosen des Sommers dufteten, der bunte Mantel des Herbstes flatterte im Winde, der Frühling griff in die Saiten der Laute und summte leise dazu.
*
Am nächsten Morgen erhoben sich die vier Fürsten in all ihrem Glanz und ihrer Macht, verneigten sich tief voreinander und schritten langsam über die Erde hin.
Es war zu der Zeit, als es Frühling werden sollte.
Der Winter hatte lange genug gedauert, und alle hatten ihn herzlich satt. Es hatte gefroren, und es hatte gestürmt, und es hatte geschneit nach Herzenslust, so daß man hätte meinen sollen, daß er selbst zufrieden sein müßte. Und außerdem stand es auch im Kalender geschrieben, daß er nun vorbei sein sollte.
Anemonen und Waldmeister hatten ihre Keime fertig und warteten bloß darauf, daß der Frost aus der Erde verschwände. Die neuen Blätter der Bäume lagen hübsch zusammengefaltet in den Knospen und sagten zueinander, nun könnten sie sich nicht länger halten. Der Buchfink hatte sich eine rote Brust zugelegt und hatte den Hals so voller Liebestriller, daß er beinahe daran erstickte.
Aber der Frühling kam nicht.
Dagegen kam der Star. Und er war verdrießlich, weil nichts in Ordnung war.
„Hat das etwa Sinn, einen hierher zu locken, wenn ihr noch nicht weiter seid?“ fragte er.
„Wer hat dich gelockt?“ fragte der Buchfink. „Du hättest ja bleiben können, wo du warst, statt in der Welt umherzurennen und zu sehen, wo der Tisch gedeckt ist. Unsereins, der hier den ganzen Winter über ausgehalten hat, verdient es auch, jetzt alles Futter zu bekommen.“
„Niemand hat je einen Finken satt gesehen, [S. 285] “ erklärte der Star. „Alles verschlingst du ohne Unterschied. Du erhebst dich nicht vom Tische, solange noch ein fauler Same übrig ist. Aber natürlich hast du eine Entschuldigung. Ich möchte dich auf deinen Flügelstümpfen nach Italien fliegen sehen.“
„Meine Flügel sind gut genug für mich,“ sagte der Buchfink. „Und es gefällt mir hier sehr gut!“
In diesem Augenblick schlug seine Stimme in Musik um, und er trillerte so rein und klar, daß alles im Walde den Kopf hob und lauschte.
Anemonen und Waldmeister krochen aus der Erde hervor und blühten auf. Die Buchenknospen schwollen, und die Keime der ganzen Welt regten sich, ohne daß man ihnen ansehen konnte, was aus ihnen werden würde. Der Bach sprang nach einer ganz anderen Melodie dahin als vorher. Und selbst der Star stieß muntere Laute aus und begann, Halme für sein Nest zusammenzutragen.
Der Frühling war da.
Und während die Tage verstrichen, die Sonne schien und der Regen fiel, quoll das Leben stärker und stärker hervor.
Die Buchenknospen sprangen auf in wunderschönem Hellgrün.
„Du erkältest dich,“ sagte die Eiche, die noch grau und garstig dastand.
„Nicht in meinem Alter,“ erwiderte die Buche und schaukelte vergnügt ihre grünen Zweige im Frühlingswinde. „Die Jugend kann unglaublich viel aushalten. Bedenke, ich bin fünfhundert Jahre jünger als du. Aber ein alter Knabe muß natürlich vorsichtiger sein.“
„Ich komme, ich komme,“ rief die Eiche. „Ich [S. 286] beeile mich ja, soviel ich kann. Es kam bloß so über mich.“
Die Fliegen begannen zu summen. Der Mistkäfer kam aus seinem Loch hervor. Die Bienen schwirrten zwischen den Blüten umher und unterhielten sich darüber, wie der Honig in diesem Jahr ausgefallen sei. Die Hummel beschloß, sich häuslich niederzulassen. Der Dachs erhob sich von seinem Winterlager und schlich nach der langen Fastenzeit schlottrig umher. Der Fuchs schnüffelte nach dem Hof des Bauern hin, ob er junge Hühnchen riechen könne. Die Fledermaus kam aus dem hohlen Baum hervor, wo sie den Winter über geschlafen hatte, und probierte ihre Flügel in der Abendluft. Die Krähen schrien, wie sie’s das ganze Jahr über taten, und in der Nacht heulten die Uhus. Es klang jämmerlich, aber sie meinten es nur gut damit.
Die alte Ameise öffnete den Hügel, setzte sich davor und rieb sich vergnügt die Kinnbacken.
„Guten Tag miteinander,“ sagte sie und grüßte in der Runde. „Es freut mich außerordentlich, euch alle zu sehen. Ich hoffe, ihr seid nett und fein, so daß es meinem vornehmen jungen Volk Freude machen wird, euch zu betrachten.“
„Da haben wir die verrückte Ameise,“ sagte der Buchfink. „Sie ist so sauer, daß niemand sie fressen mag. Ich glaube, das ist ihr zu Kopfe gestiegen.“
„Guten Tag, kleiner Buchfink,“ sagte die Ameise. „Hast du einen recht, recht schönen Triller für die jungen Königinnen? Ich habe ihnen von dir erzählt, während sie in ihren königlichen Eiern lagen, also darfst du mich nicht Lügen strafen.“
„Was in aller Welt bildest du dir ein?“ fragte die Buche.
„Guten Tag, guten Tag, liebe Buche!“ sagte die Ameise. „Wie fein du in diesem Jahre bist! Und wie schön dein Stamm ist! Das wird ja eine Lust für die Ameisen sein, an dir auf und nieder zu laufen.“
Die Buche lachte, und der Buchfink lachte, und der ganze Wald lachte.
Aber die Ameise schien sich nicht das geringste daraus zu machen.
Sie war die Älteste im Hügel. Darum kam sie als erste hervor und kommandierte die andern zur Arbeit. Im Augenblick wurden alle Türchen des Hügels geöffnet, und es wimmelte von Ameisen. Sie besserten aus, was im Laufe des Winters in Stücke gegangen war. Sie sammelten Nahrung ein, lüfteten und machten rein, und schließlich trugen sie die Puppen in den Sonnenschein hinaus.
Einige von den Puppen waren größer als die andern, und sie wurden von den Ameisen mit besonderer Ehrfurcht behandelt, denn es sollten Königinnen daraus werden. Und nach einer gewissen Zeit barst das Puppengehäuse, und nun wollte die Untertänigkeit kein Ende nehmen.
„Was ist das alles?“ sagte die größte der jungen Königinnen, um sich schauend.
„Das ist Ew. Majestät Welt!“ erklärte die alte Ameise. „Das alles ist geschaffen, um die hohe Seele Ew. Majestät zu erfreuen. Wenn Ew. Majestät geruhen, werde ich die vornehmsten Wesen vorstellen.“
„Stell’ vor!“ gebot die Königin.
„Da ist erstens die Buche, Ew. Majestät,“ sagte die Ameise.
„Ist sie mein?“ fragte die Königin.
„Sie ist für die Ameisen geschaffen, also in allererster Linie für Ew. Majestät. Auf ihrem Stamm läuft es sich angenehm glatt auf und nieder. Hier und da findet sich Moos, darin sind Milben und anderes Gewürm als Nahrung versteckt, falls Ew. Majestät geruhen sollten, das Frühstück im Grünen einzunehmen.“
„Sehr schön,“ sagte die Königin.
„Ew. Majestät geruhen zu beachten, daß die Buche grün ist,“ sagte die Ameise. „Sie hat die gleiche Farbe wie der allergrößte Teil der Natur. Grün ist nämlich so gut für die Augen — für die Augen Ew. Majestät. Ferner wollen Ew. Majestät den Buchfink beachten, der dort drüben im Busch seine Triller schlägt. Er und eine Menge andrer Vögel bilden die Hofkapelle Ew. Majestät. Die Musik ist so wunderbar gut für die Verdauung. Auch gut, um dabei einzuschlafen. Und dann für festliche Gelegenheiten. Zum Beispiel nun, da Ew. Majestät geruhten, das königliche Puppengehäuse zu verlassen und die Regierung zu übernehmen. Das nennt man Frühling!... Warum weiß ich nicht, aber der Name enthält zweifellos irgendeine Andeutung auf einen Vorgang in der Geschichte der Ameisen. Dann singen die Vögel besonders schön. Gleichzeitig kommen hübsche Blumen aus der Erde hervor. Die Knospen der Bäume springen auf... kurz, es ist ein wahres Volksfest zu Ehren Ew. Majestät. Und damit alle froh sein sollen, ist man auf so mancherlei verfallen. So [S. 289] zum Beispiel bekommen die Vögel ihre Jungen; andere, tieferstehende Insekten verlassen gleichfalls ihr Puppengehäuse in aller Dürftigkeit. Und noch vielerlei anderes.“
„Sehr schön,“ sagte die Königin. „Es geschieht ja alles, um mich zu ergötzen; und es ist möglich, daß es mir Spaß macht. Aber ich muß ja auch an mein Volk denken. Ist da nichts, das ihm Nutzen bringt?“
„Aber natürlich!“ erwiderte die alte Ameise. „Da ist ja die Sonne, und da sind alle die Tiere, die von den Untertanen Ew. Majestät gefressen werden. Aber besonders möchte ich Ew. Majestät Aufmerksamkeit auf zwei Geschöpfe lenken, die überhaupt keine andere Aufgabe in der Welt haben, als die, den Ameisen zu dienen; die hat der liebe Gott offenbar einzig und allein für uns geschaffen. Das sind die Tanne und die Blattlaus.“
„Wie verhält es sich mit der Tanne?“ fragte die Königin.
„Das ist ein sehr hoher Baum... Wenn Ew. Majestät in die Höhe sehen wollen, ein wenig nach links, dann werden Ew. Majestät ihn erblicken. Ew. Majestät werden bemerken, daß die Blätter der Tanne ganz anders sind als die andrer Bäume ... es sind spitze, harte Dinger, die Winter und Sommer über grün sind. Sie bilden das Bauholz, aus dem der überirdische Teil des Ameisenhügels gebaut wird.“
„Ich sehe es,“ sagte die Königin. „Und die Blattlaus?“
„Ja... die kann ich Ew. Majestät leider im Augenblick nicht zeigen. Sie kommt etwas später [S. 290] im Jahre... in wenigen Tagen wird sie hier sein, wenn die Sonne fortfährt zu scheinen. Es ist ein höchst sonderbares Tier, eigentlich ganz unbedeutend und nur bemerkenswert durch den Nutzen, den sie den Untertanen Ew. Majestät bringt. Sie ähnelt einem kleinen Klecks und tritt immer in großen Scharen auf, die auf der unteren Seite der Blätter sitzen, ganz dicht zusammen, manchmal sogar aufeinander. Die Blattlaus steckt ihren Rüssel in das Blatt hinab und saugt den Saft heraus. Etwas andres tut sie überhaupt nicht. Sie bewegt sich nur höchst ungern von der Stelle, denkt an nichts und tut nichts.“
„Und welchen Nutzen haben wir von dem dummen Tier?“
„Sehr großen, Majestät. Es ist unsere Kuh. Sie sondert einen außerordentlich wohlschmeckenden Saft ab, der unsere beste Nahrung bildet. Ew. Majestät haben ihn mehrmals verspeist, aber natürlich nicht darüber nachgedacht, woher er kam. Darum schätzen wir die Blattlaus sehr, beschützen sie gegen ihre Feinde und halten überhaupt unsere mächtige Hand über sie. Die Blattläuse sind unsere Haustiere, Ew. Majestät.“
„Laß mich eine Blattlaus sehen!“ sagte die Königin.
„Sobald sie hervorkommen, Majestät...“
„Ich will sie sofort sehen, sage ich!“
„Das ist leider unmöglich,“ erwiderte die alte Ameise. „Wie ich Ew. Majestät gesagt habe, vielleicht in ein paar Tagen...“
Aber die Königin beruhigte sich nicht dabei. Sie schrie und trat um sich und biß die alte Ameise, [S. 291] die flehentlich um Gnade bat und in ihrer Not schließlich in den Hügel hineinlief. Die Königin rannte ihr nach.
„Habt ihr je so etwas erlebt!“ sagte die Buche.
„Ich jedenfalls nicht,“ erwiderte der Buchfink. „Das Gewürm muß ja ganz den Verstand verloren haben. Sie glauben allen Ernstes, daß wir nur zu ihrem Vergnügen geschaffen sind.“
„Unglaublich!“ flüsterten die Anemonen.
Der Waldmeister sagte dasselbe. Die Tanne lachte, daß ihre Nadeln herabrieselten. Der eine erzählte es dem andern, und bald wußte es der ganze Wald, daß die Ameisen glaubten, die ganze Welt sei nur um ihretwillen da. Niemand konnte es begreifen. Und alle fanden es dumm und lächerlich.
„Es muß etwas dahinter stecken,“ sagte der Buchfink. „Wenn ich der alten Ameise begegne, werd’ ich versuchen, es herauszukriegen.“
Am nächsten Morgen in aller Frühe öffnete die Ameise den Hügel.
„Guten Morgen,“ sagte der Buchfink, der schon sein Morgenlied vorm Zweige seiner Liebsten gesungen hatte. „Du siehst mir nicht gerade rosig gelaunt aus, alter Freund.“
„Ja,“ klagte die Ameise, „ich hab’ gestern so fürchterliche Prügel von der Königin bekommen. Hätte ich mich nicht tief im Hügel versteckt, so glaube ich, daß Ihre Majestät mich totgeschlagen hätte.“
„Ich habe es wohl gesehn. Aber was war denn das auch für ein fürchterlicher Unsinn, den du der Königin erzählt hast! Du hast ihr ja weismachen wollen, die Ameisen seien die vornehmsten Tiere in [S. 292] der ganzen Welt, und alles sei nur um ihretwillen geschaffen.“
„Ich habe die reine Wahrheit gesagt,“ beteuerte die Ameise. „Und die bleibt bestehen, auch wenn es Ihrer Majestät beliebt, mich zu mißhandeln.“
„Du bist verrückt!“ sagte der Buchfink. „Der ganze Wald lacht über dich!“
„Lacht ihr nur! Was macht das, wenn ihr sonst nur euer Tagewerk verrichtet, uns zum Nutzen und zur Freude!“
„Nun redest du wieder ebenso verrücktes Zeug wie gestern.“
„Hör’ einmal, Freundchen. Ich will versuchen, es dir zu erklären, wie die Sache zusammenhängt. Die Königin schläft immer lange und gut, wenn sie jemand geprügelt hat, darum hab’ ich Zeit zu einem kleinen Morgenklatsch. Um so mehr, da sie noch nicht angefangen hat, Eier zu legen. Sind wir erst so weit, dann pfeift’s aus einem andern Loch.“
„Genau wie bei uns,“ bestätigte der Buchfink. „Erzähl’ nur. Wir kennen dich ja als braven Burschen. Und es würde uns nur freuen, wenn du auf deine alten Tage nicht ganz einfältig geworden bist.“
„Wir wollen also mit dir beginnen, lieber Buchfink,“ sagte die Ameise. „Es gefiel dir nicht, daß ich sagte, du sängest für uns. Für wen singst du denn, wenn ich fragen darf?“
„Für meine Liebste. Und für meine Jungen. Und zu meinem Vergnügen.“
„Gewiß, gewiß. Aber wo ist deine Liebste vom vorigen Jahr? Weg! Wo sind eure Jungen? Weg! Du heiratest, setzest Kinder in die Welt, steckst ihnen [S. 293] ein paar Fliegen in den Mund, lehrst sie ein bißchen mit den Flügeln schlagen, und dann ist’s vorbei. Du siehst sie nicht mehr. Du hast nicht das geringste mit den andern Buchfinken im Walde zu schaffen. Du bist frei und ledig, ein Vagabund, ein Künstler. Es ist keine Ordnung in dir. Du gehörst nicht zum soliden Bürgertum.“
„Gott behüte, das war ja eine ordentliche Predigt!“ warf die Buche ein.
„Ja... nun kommen wir zu dir, meine liebe Buche!“ sagte die Ameise. „Du stehst so groß und stolz da in deinem grünen Kleid und bildest dir wer weiß was ein. Du lachst mich aus, wenn ich dir sage, du seiest um der Ameisen willen da. Um wessentwillen denn sonst, he?“
„Um meiner selbst willen, denk’ ich,“ sagte die Buche.
„Gewiß, gewiß,“ erwiderte die alte Ameise. „Laß einmal sehn, was für eine Person du bist! Wo bleibt all dein grüner Staat im Herbst? Weg, verwelkt, fertig! Was machst du mit deinen Kindern? Du lässest sie rings um deinen Fuß niederfallen, wie’s gerade kommt, und lässest sie groß werden, ohne dich im geringsten um sie zu kümmern. Ob sie so dicht wachsen, daß sie einander ersticken, das ist dir vollkommen gleich. Im Sommer tust du dich dick in Grün, im Winter frierst du an den nackten Armen. Was bist du für ein Geselle? Eine leichtfertige Person, die fünf gerade sein läßt! Es ist keine Ordnung in dir!“
„Wie kann man so zur Buche sprechen!“ rief der Waldmeister dazwischen.
„Nun will ich mit dir reden, Waldmeister, [S. 294] “ sagte die Ameise. „Du bist anmutig, das bist du, weiß Gott! Es ist ein wahres Vergnügen, dich anzusehen. Es ist, wie wenn man zur Komödie geht. Aber wie lange dauert das mit dir? Wollen sagen: zwei Monate. Dann bist du fertig... tot, verstehst du! Du grünst, blühst, wirfst deine Samen ab und stirbst. Du lebst nicht einmal von einem Jahr zum andern, wie der Buchfink und die Buche. Du bist nichts als eine Vorstellung... der Vorhang geht auf, der Vorhang fällt... die Ameisen klatschen Beifall, weil du so lieb und nett warst. Aber zur soliden Bürgerschaft gehörst du wahrhaftig nicht! In dir ist noch weniger Ordnung als in den andern.“
„Auf die Art kannst du den ganzen Wald durchgehn,“ sagte der Buchfink.
„Allerdings kann ich das!“ erwiderte die Ameise. „Falls ihr noch nicht genug haben solltet.“
„Ob wir genug haben!“ sagte der Buchfink. „Aber willst du nun nicht so gut sein, uns zu erzählen, warum die Ameisen besser sind als wir?“
„Die Ameisen,“ erklärte die Alte, kreuzte dabei die Kinnbacken und blickte ernst vor sich hin, „die Ameisen sind das Meisterwerk unsres Herrgotts.“
Alle lachten, aber die Alte ließ sich nicht stören.
„Seht ihr,“ sagte sie. „Eine Ameise ist eigentlich gar nichts.“
„Nun fängst du an, vernünftig zu werden,“ meinte der Buchfink.
„Die einzelne Ameise ist gar nichts,“ sagte die Alte. „Sie hat ihren Platz im Ameisenstaat; und wenn sie stirbt, tritt sofort eine andre an ihre Stelle. Jede einzelne von uns hat ihr Amt, und [S. 295] wir alle arbeiten zum Besten des Ameisenstaates und zum Wohle der Bürger. Wer arbeitet, verdient sein täglich Brot und bekommt es. Den, der nicht arbeitet, schlagen wir kurzerhand tot.“
„Dann seid ihr euch also alle gleich?“ fragte der Waldmeister.
„Keineswegs. Wir dösen bloß nicht so einzeln herum wie ihr, ohne Ziel und Sinn. Darum verschwinden wir auch nicht aus der Welt und stehen nicht hilflos da wie ihr. Wir haben erstens unsre Königin, die uns regiert... das heißt, sie ist natürlich genötigt, die Etikette zu befolgen und sich an die Verfassung zu halten, sonst geht’s ihr schlecht. Der Sicherheit wegen haben wir am Anfang mehrere Königinnen. Die beste davon behalten wir, die andern wandern aus und bauen neue Hügel, oder wir schlagen sie tot. Ebenso machen wir’s mit den Männchen. Sobald die Königinnen Hochzeit gehalten haben, schlagen wir alle Männchen tot. Denn dann nützen sie uns nichts mehr, sondern fallen nur dem Staat zur Last.“
„Das ist ein lieblicher Staat!“ sagte der Buchfink. „Seinen Mann totschlagen... hat man je so etwas gehört! Darf ich fragen... hast du auch deinen Mann erschlagen?“
„Ich habe nie einen Mann gehabt,“ entgegnete die Ameise. „Ich bin nicht für die Ehe veranlagt. Freilich bin ich so eine Art Frauenzimmer, aber ich habe nie Zeit gehabt, an Liebesgeschichten zu denken, und hab’ mir nie etwas daraus gemacht. Ich bin Arbeiter und nichts andres. Und so sind die meisten von uns! Wir bauen den Hügel, und wir besorgen die Eier, die die Königin legt. Wir füt [S. 296] tern die Larven, bewegen die Puppen und sammeln Wintervorräte ein — kurz, wir erledigen alles, was in einem ordentlichen Staate zu tun ist. Wenn’s sein muß, können wir auch kämpfen. Einige von uns haben große Kinnbacken; das sind die Soldaten, und Gott helfe denen, die in ihre Finger fallen. Wir säen auch im Frühjahr und ernten im Herbst... aber was verstehen solch lose Existenzen wie ihr von alledem? Ich erzähle es bloß, damit ihr sehen könnt, daß das, was ich sage, wahr ist. Die Ameisen sind wirklich die vornehmsten Tiere von der Welt, und all ihr andern seid nur da, damit ihr uns Nutzen bringt und Vergnügen bereitet.“
„So ein Sklavenleben!“ sagte der Buchfink. „Hundertmal lieber ein freier Vogel unterm Himmel, als solch ein Rad in der Maschine wie du.“
„Oder eine gewaltige Buche im Walde,“ sagte die Buche.
„Oder eine duftende Blume,“ sagte der Waldmeister stolz.
„Bitte schön,“ erwiderte die Ameise. „Ein jeder nach seiner Natur. Wie solltet ihr uns verstehen können, da ihr auf einer so niedrigen Kulturstufe steht!“
„Was war das mit der Blattlaus?“ fragte der Buchfink.
„Du kannst sie selber fragen, wenn sie kommen,“ antwortete die Ameise. „Jetzt hab’ ich keine Zeit mehr, mit euch zu schwatzen.“
Und damit ging sie an ihre Arbeit. Die andern sprachen von ihr, lachten über sie und entfernten sich dann.
Eines Tages waren die Blattläuse da.
Es war nicht leicht zu sagen, woher sie gekommen waren. Sie saßen auf der untern Seite beinah sämtlicher Blätter eines Wacholderstrauchs, der dicht bei dem Ameisenhügel stand. Sie saßen so dicht, daß sie einander berührten; an einigen Stellen saßen sie übereinander, und die obersten steckten ihren Rüssel zwischen die andern hinab und sogen den Saft herauf.
Rings auf den Blättern lagen klare Tropfen. Die wurden von den Ameisen geholt und in den Hügel hinuntergetragen, wenn die Ameisen sie nicht unterwegs tranken. Aber wenn die alte Ameise das sah, bekamen sie Prügel. Denn es war die allerfeinste Nahrung, und niemand durfte davon genießen, mit Ausnahme der Königin und der Kavaliere während ihrer kurzen Lebenszeit.
„Darf ich Ew. Majestät die Blattlaus vorstellen?“ sagte die alte Ameise.
Und sie stieß leise an eine große Blattlaus, die ganz außen am Blattrande saß.
„Laß mich saugen,“ sagte die Blattlaus.
„Saug’ du nur, mein Engel,“ sagte die alte Ameise in ihrem allerliebenswürdigsten Tone... „Je mehr du saugst, desto besser. Die Ameisenkönigin wollte dich gerne sehen.“
„Laß mich saugen,“ sagte die Blattlaus.
„Respekt scheint sie nicht gerade zu haben,“ sagte die Königin. „Schlagt sie tot!“
„Geht nicht an, Ew. Majestät!“ erwiderte die Ameise... „Denn sie liefert den Saft, den Ew. Majestät morgens beim Aufstehn trinken... Sehen [S. 298] Sie, da liegt ein Tropfen... Wollen Ew. Majestät geruhen...“
Die Königin trank von dem Tropfen.
„Süperb!“ sagte sie. „Gib mir gut auf die Blattlaus acht. Jeder, der ihr das geringste Leid zufügt, soll totgeschlagen werden.“
„Sehr wohl, Ew. Majestät.“
Damit wandte sich die Königin der Blattlaus zu.
„Ich ernenne dich zu meiner Ober-Hof-Leib-Blattlaus,“ sagte sie und berührte sie dreimal feierlich mit ihrem Allerhöchsten Kinnbacken.
„Laß mich saugen,“ sagte die Blattlaus.
In diesem Augenblick brachte sie siebzehn kleine Blattläuse zur Welt. Die waren höchst unbedeutend und anfangs fast nicht zu sehen. Aber sie machten sich sofort daran, an den Blättern zu saugen, und der Königin kam es so vor, als könne sie sie geradezu wachsen sehen.
„Höchst interessant!“ sagte sie. „Es freut mich, daß der Bestand wächst. Wo befindet sich der Mann?“
„Es existiert kein Mann,“ sagte die alte Ameise.
„Was ist das für ein Gerede?“ sagte die Königin. „Sie muß doch wohl einen Mann haben, wenn sie siebzehn Kinder hat!“
„Nein, Ew. Majestät,“ sagte die Ameise. „Der liebe Gott hat es der Ameisen wegen so eingerichtet, daß sie keines Mannes bedarf. Die Männer haben ja im Grunde weiter keinen Zweck... ich erlaube mir, in aller Ehrfurcht daran zu erinnern, wie wir Ew. Majestät Mann gleich nach der Hochzeit erwürgt haben.“
„Daran solltest du mich lieber nicht erinnern! [S. 299] Mein lieber, guter Mann! Ich habe einen ganzen Tag über seinen Tod getrauert.“
„Gewiß, da sehen Ew. Majestät selber! Von den Liebesgeschichten hat man nur Kummer und Ungelegenheiten. Und so ein Haustier wie die Blattlaus dort... Ew. Majestät müssen wissen, daß nicht einmal ich jemals einen Liebsten gehabt habe.“
„Das fehlte gerade noch,“ sagte die Königin. „Was sollte eine Sklavin wie du mit einem Liebsten?“
„Sehr richtig, Ew. Majestät. Sie müssen wissen, daß die Mutter der Blattlaus im letzten Herbst einmal eine Art Mann gehabt hat. Wie das eigentlich mit ihm zusammenhing, weiß ich nicht. Aber verheiratet war sie also, und Eier legte sie auch, und dann starb sie. Damit nun den Ameisen keine Ungelegenheiten daraus erwachsen, kriegt die Blattlaus, die aus dem Ei gekommen ist, den ganzen Sommer über Junge, so daß stets genug von dem süßen Saft vorhanden ist für Ew. Majestät und für diejenigen Untertanen, denen Ew. Majestät einen Tropfen vergönnen. Zum Herbst, wenn wir keine Verwendung mehr für den Saft haben, dann heiraten die Kindeskinder der Blattlaus, soviel ich weiß, legen Eier und sterben, nachdem sie auf diese Weise für die Ameisen im folgenden Jahre gesorgt haben. Man kann nicht leugnen, es geschieht viel für die Ameisen.“
„Das ist wahr,“ sagte die Königin. „Gib mir nur gut auf meine Blattläuse acht! Jetzt geh’ ich hinein und leg’ noch mehr Eier. Das bin ich meinem Reiche schuldig.“
Damit stolzierte sie in den Hügel hinein. Die [S. 300] alte Ameise öffnete ihr ehrerbietig die Tür und ging dann an ihre Arbeit.
„Hast du je so etwas gehört?“ schrie der Buchfink.
„Nie in meinem Leben!“ sagte die Buche.
„Es ist unglaublich!“ erklärte der Waldmeister.
„Es ist gelogen,“ sagte die Tanne.
„Laßt uns hören, was die Blattlaus sagt,“ schlug der Buchfink vor. „Jetzt, wo die alte Ameise weg ist, kann man vielleicht die Wahrheit von ihr erfahren. — He, du... Blattlaus... was ist das für eine Geschichte mit den Ameisen und dir? Bist du die Kuh der Ameisen? Bist du allein ihretwegen auf der Welt?“
„Laß mich saugen,“ erwiderte die Blattlaus.
Da bettelten alle, die Blattlaus möchte ihnen doch den wirklichen Zusammenhang der Sache erzählen. Sie sagten ihr, sie müsse ihnen behilflich sein, denn die Ameisen müßten unbedingt wegen ihrer Eingebildetheit eine Lektion erhalten. Es gehe ganz und gar nicht an, daß solch kleines Gewürm sich auf Kosten aller andern Geschöpfe wichtig mache.
Aber soviel sie auch baten, flehten und drohten, es half alles nichts.
„Laßt mich saugen,“ war alles, was die Blattlaus sagte.
Dann wurde es Abend. Der Buchfink hatte seine letzte Weise für heute gesungen. Der Wind hatte sich gelegt, die Sonne war untergegangen, der Waldmeister stand und dachte darüber nach, daß er bald sterben müsse. Die Ameisen hatten die [S. 301] hundert Türchen des Hügels geschlossen, und es war ganz still im Walde.
Und selbst die Blattlaus hatte aufgehört zu saugen, weil sie nicht mehr konnte.
Und wie sie so dasaß, kam ein klarer Tropfen aus ihr hervor.
„Der ist für die Ameisen,“ sagte der Buchfink.
„Was kümmern mich die Ameisen?“ antwortete die Blattlaus.
„Was sagst du?“
„Ich sage: Was kümmern mich die Ameisen?“
„Und der Tropfen, den du auf das Blatt gelegt hast?... Da kommt noch einer...“
„Ich tu’, was kein andrer für mich tun kann,“ sagte die Blattlaus.
Einen Augenblick war es still im Walde.
Dann schrie der Buchfink es den andern zu, soweit er es vor Lachen konnte.
Und die Buche lachte, und der Waldmeister lachte, daß er daran starb... der eine erzählte es dem andern, und bald wußte es der ganze Wald, und er lachte und lachte und konnte nicht aufhören.
Bienenstock u. Ameisenreich
sind wundersame Tierstaaten, die ein vielgestaltiges Leben und außerordentlich Interessantes bieten
Reiche Anschauungen, klare, einfache und abgerundete Darstellungen des Lebens in beiden bieten die Werke:
Frank Stevens
Jeder Band geschmackvoll gebunden M 13.—
Der junge Leser der Werke lebt wirklich unter und mit diesen merkwürdigen Tieren, nimmt teil an ihren Freuden, Gefahren und Leiden und lernt so die wichtige Stellung der Bienen und Ameisen im Haushalte der Natur kennen.
Die „ Lehr- und Lernmittel-Rundschau “ sagt:
„Möge dieses Büchlein in allen Schüler- und Hausbüchereien Aufnahme finden, auf daß es in viele, viele Kinderhände gelange, um in der Seele der Kleinen die Liebe zur Natur zu wecken, dann wird ihnen diese werden, was sie sein soll: eine Lehrmeisterin und eine Quelle reinster Freude“.
„Die Reise ins Bienenland “ und „ Ausflüge ins Ameisenreich “ sind in jeder Buchhandlung zu haben. Wo eine solche nicht am Orte ist, wende man sich an den unterzeichneten Verlag.
Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde
Geschäftsstelle: Franckh’sche Verlagshandlung Stuttgart
Tier-Geschichten und Naturwissenschaftliche Märchen
Schönste Lektüre, von alt und jung begeistert aufgenommen.
Ernest Thompson Setons Tiergeschichten:
Bingo und andere Tiergeschichten — Prärietiere und ihre Schicksale — Tierhelden — Rolf, der Trapper.
Carl Ewalds Naturwissenschaftl. Märchen:
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Alle diese Bücher sind einzeln zu haben. Sie sind voll von originellen Bildern im Text und auf vielen Tafeln.
Preis jedes Bandes
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M 19.50
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Franckh’sche Verlagshandlung, Stuttgart