The Project Gutenberg eBook of Nick Tappoli

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Title : Nick Tappoli

Author : J. C. Heer

Release date : February 9, 2019 [eBook #58848]

Language : German

Credits : Produced by The Online Distributed Proofreading Team at
http://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK NICK TAPPOLI ***

  

Anmerkungen zur Transkription

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist so ausgezeichnet . Im Original in Antiqua gesetzter Text ist so markiert .

Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches .

Cover

Nick Tappoli

Roman

von

Jakob Christoph Heer

61.–70. Tausend

Signet

Stuttgart und Berlin
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger
1922


Alle Rechte,
insbesondere das Übersetzungsrecht, vorbehalten

Für die Vereinigten Staaten von Amerika:
Copyright, 1920, by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger
Stuttgart und Berlin


[5]

Vorwort

Vor etlichen Jahren überreichte mir eine inzwischen verstorbene Zürcher Dame in zwei Heften ihre Lebensbeschreibung wie die ihres Mannes, der ihr bereits im Tod vorangegangen war. Die alte, aber stets noch lebhafte »Frau Nick Tappoli« äußerte dabei die Hoffnung, daß mich die bewegten Schicksale, die in den Aufzeichnungen enthalten sind, zur Gestaltung eines Romans anregen möchten. Nun habe ich als Schriftsteller immer das Gefühl gehabt, daß für uns eigentlich nur die Stoffe gut und dankbar sind, die ohne äußeres Dazutun aus der eigenen Seele keimen und wachsen. So ließ der Roman der »Nick Tappoli« auf sich warten, und die Anregerin selber hat also die Erfüllung ihres Wunsches nicht mehr erlebt.

In der langen Öde der Kriegszeit aber, die sich allem friedlich dichterischen Schaffen so furchtbar feindlich erwies, geriet ich wieder einmal über die beiden Manuskripte und suchte in ihrer Bearbeitung Vergessen von den wehen Eindrücken der Weltbegebenheiten. So entstand der Roman doch. Inwieweit nun das Werk das geistige Eigentum der Verstorbenen ist, inwieweit ich den Stoff ausgebaut und gerundet habe, möge vor den Lesern nicht erörtert werden; es genüge die Feststellung, daß [6] ich die etwas merkwürdigen Linien der Handlung getreu aus den Heften der Zürcher Dame übernommen habe und mir nur an ihrer Vereinfachung gelegen sein ließ. Ich machte dabei die alte Erfahrung, daß die Wirklichkeit des Lebens viel freier und willkürlicher mit den Menschenschicksalen spielt, als es die dichterische Phantasie in einer nach künstlerischen Gesichtspunkten aufgebauten Erzählung wagen darf. Der Leser möge es entschuldigen, wenn er Spuren davon auch im Buche noch findet.

Bei dem teilweise Zürcher örtlichen Gepräge des Buches liegt mir noch an der Erklärung, daß ich darin alles, was auf bekannte Lebende oder Verstorbene deuten könnte, nach bestem Wissen und Gewissen ausgemerzt habe. Das beliebte Spiel, die Vorbilder der Gestalten eines Romans auszuforschen, hätte in diesem Fall keinen Sinn und würde nur zu falschen Vermutungen führen.

Möge »Nick Tappoli« aufgenommen werden als das, was das Buch ist: ein mitten aus der Flut des Lebens geschöpftes Beispiel menschlichen Ergehens, ein Zeugnis, wie Kraft und Unvermögen, Irrtum und Erkenntnis uns den Weg bereiten.

J. C. Heer


[7]

1

Das Städtchen Eglisau an der Steilhalde des Oberrheins bildet den Zugang zum Rafzerfeld, einem rechtsrheinischen Lappen Schweiz inmitten badischen Gebietes. Nur durch die holzverschalte Brücke, an deren Sprengwerk ein Wald von Stämmen verwendet worden ist, hängt es mit der Landschaft von Zürich zusammen, der es im fünfzehnten Jahrhundert durch friedlichen Kauf einverleibt worden ist. Vom Mittelalter an bis zum Aufkommen der Eisenbahnen hat der Ort auf dem in heller Bläue einherwogenden Strom viele muntere Bilder gesehen: in den Weidlingen, den langen, schmalen Kähnen, die mit großer Sicherheit über Wirbel und Klippen hinweggleiten, die Kaufleute und das fahrende Volk, das von Konstanz her auf die Zurzacher und Basler Messe zog, und auf den Flößen, welche die mächtigen Alpentannen für den Schiffbau nach den Niederlanden führten, allerlei Reisende, die um billiges Geld die Welt sehen wollten. Selten wohl glitt ein Fahrzeug an Eglisau vorüber; ein jedes fast machte kurzen Halt, und die Insassen ließen sich den Rotwein des Städtchens munden, das wie der Vogel in sein Nest mitten in Weinberge hineingebettet liegt.

Als aber hüben und drüben in den Ländern am Rhein Eisenbahnen entstanden, erlosch der Verkehr auf dem [8] Strom allmählich. In den sechziger Jahren lag schon ein Hauch des Stillstandes und der Vergessenheit über dem Städtchen. Mit verwitterten, doch blumenumrankten Lauben schauten seine hochgebauten, einander überragenden Firsten auf das lichte Band des Stromes. Bei der Brücke erhoben sich der stattliche Barockbau der Kirche mit dem in einer roten Zwiebel endigenden Turm und dicht daneben das große, weißgetünchte Pfarrhaus, vor dem der Fluß in Wogen und Strudeln quirlt. An Kirche und Pfarrhaus vorbei windet sich die von Zürich und Schaffhausen führende Straße in mäßiger Steigung durch das Städtchen empor. Da standen ein paar alte Gasthöfe mit kunstreichen Schildern, der »Hirsch« mit einer von Eichensäulen getragenen Laube und die »Krone« mit den gotischen Fensterreihen, auch Bürgerhäuser mit patrizischem Schmuck, Wappen, Namen, weit in die Straße vorspringenden Wasserspeiern, und da und dort ein Kramladen mit bauchigem Fenstergitter. In dieser Gasse und einigen anderen lag noch ein Abglanz reichsstädtischen Wesens über der kleinen Stadt, verlor sich aber weiterhin bald in die Bilder bäuerlicher Behäbigkeit.

Wie bescheiden sich indessen die Schicksale Eglisaus mehr und mehr gestalten, einige Vorzüge blieben ihm doch: die schöne Lage am gewaltigen Wogenzug des jungen Stromes, die fruchtbaren Felder, die prächtigen Wälder an beiden Ufern, vor allem aber der an heißer Halde gewachsene Wein, der die Sommersonne eingefangen hat und im Glas einen milchweißen Stern wirft, und die köstlichen Forellen und Salme, die beim Wasserrad [9] der Schiffsmühle oberhalb der Brücke mit großen Senknetzen aus dem Strom gehoben werden. Wegen dieser Annehmlichkeiten war das Städtchen von jeher ein beliebtes Ziel der von Zürich ausfliegenden Naturfreunde und Feinschmecker, besonders in goldener Herbstzeit, wenn der Duft des Sausers, des gärenden Weinmostes, durch die Gassen wehte und durch die Brücke Tag und Nacht das Schellenklingeln der Weinfuhrwerke ging.

Fast mehr noch als die Gasthöfe wußte Pfarrer Salomon Tappoli, Bürger von Zürich, der damals in Eglisau amtete, von Gästen zu erzählen, ein ebenso leutseliger wie geistreicher Kopf, der dem Leben einen künstlerisch-sonnigen Gehalt abgewann und die Besuche aus seiner Vaterstadt in launiger Geselligkeit um sich scharte.

Zu jener Zeit hatte das Städtchen aber auch noch einen berühmten Messerschmied, Meister Martin Junghans. Wer von ihm geschaffene Werkzeuge besaß, Messer und Scheren, Zirkel und Schublehren, auf denen die Marke »Junghans«, ein fröhliches Gesicht mit Zipfelmütze, eingestempelt war, der durfte sie sehen lassen. Sie waren bester Stahl, sorgfältige Arbeit. Sie lobten den Feinschmied von Eglisau und waren auf den Schweizer wie süddeutschen Märkten vorteilhaft bekannt. Gewiß hätten sie eine noch größere Verbreitung gefunden, wenn Martin ein ebenso gewandter Kaufmann wie Handwerker gewesen wäre und ihren Ruf ausgenützt hätte. Er verlangte jedoch aus angeborener Bescheidenheit für die Werkzeuge nie so viel, wie es der fast eigensinnigen Gewissenhaftigkeit seiner Arbeit entsprochen [10] hätte, und das Städtchen mit seinen Nachbardörfern war für die Erzeugnisse Meister Martins auch kein genügendes Absatzgebiet. Als Händler selber auf die auswärtigen Märkte zu ziehen, widerstrebte seinem ehrenfesten Wesen, und mit den Wiederverkäufern, welche die Waren wohl rasch und mit Vorteil los wurden, sie aber bei ihm lange schuldig blieben, hatte er manchen redlichen Verdruß.

Warum es Martin Junghans nie recht zu Klingendem brachte, lag aber wohl am meisten an seiner großen Familie. Das vom Vater ererbte stattliche Haus an der Obergasse, eines der ältesten und höchsten des Städtchens, mit geräumiger Werkstatt und kleinem Laden, gewährte ihm und den Seinen zwar reichlich Raum, aber der Tisch war manchmal für den dutzendköpfigen Haushalt etwas knapp. Er bestand aus den Eltern, den beiden Gesellen und acht Kindern. Doch waren gerade diese in ihrer blühenden Gesundheit der Stolz des Schmieds. Unparteiisch teilten sie sich in ein Vierblatt von Knaben und Mädchen, und ebenso unparteiisch schlugen sie zu je vier im Aussehen dem großen, blonden, blauäugigen Vater und wieder zu je vier der kleinen, dunkelhaarigen und schwarzäugigen Mutter nach; ihm vor allem die beiden ältesten Söhne, Friedrich und Ulrich.

Wie es in großen Familien der Fall ist, erzogen sich die Kinder von selber; die Jungen am Beispiel des Vaters, die Mädchen an dem der Mutter, die neben dem Hauswesen eine kleine Landwirtschaft mit Weingarten und Acker besorgte. Gleich hinter dem Haus lagen die Grundstücke, stiegen bergan und verloren sich an der freien Anhöhe. Rechtschaffen müd konnten darin die [11] Glieder werden. Wollte sich aber einmal der Faden der Erziehung nicht von selber geben, sprang ein mutwilliges Böcklein aus Reih' und Glied, so half Vater Martin Junghans nach und züchtigte es. Das geschah selten, aber dann mit treuherzigem Zorn, männlicher Festigkeit, und von der Mutter ließ er sich nicht in den Arm fallen.

Diese betrübliche Vaterpflicht hatte er unlängst an Ulrich, seinem zweiten, bald zwölfjährigen Sohn erfüllt, der sich als Ziel für heimliche Schießübungen die blinden Rundscheiben eines Nachbarhauses ausersehen hatte.

Nun bemerkte er im Wesen des Knaben eine Änderung, die ihm zu denken gab. Der sonst gutgeartete, offene und geschickte Junge, wegen seiner geistigen Lebhaftigkeit beinahe sein Liebling, verschloß sich ihm, der Mutter, den Geschwistern und wurde ein Eingänger und Eigenbrötler. Schwer ließ sich sagen, was er in den Sinnen trug. Hatte der Vater den Buben wegen der paar Scheiben doch zu scharf gestraft? – Meister Martin war darüber nicht ohne innere Unruhe, doch ließ er es gewähren, daß sich der Junge oft bergwärts davonschlich, hinauf in die stillen Felder und Wälder, die sich in breiter Ebene über der Stromhalde ausdehnen. Noch war es ja keine Übeltat, wenn ein Knabe gern allein seiner Wege streifte, und gelegentlich war schon wieder ein Wort mit ihm zu sprechen.

In der Tat war Ulrich über der Züchtigung eine wehe Kränkung ins Gemüt gefahren. In seinem Einsamkeitsdrang vertrieb er sich die Zeit mit allerlei knabenhaften Gedanken über das menschliche Leben, Werden, Sein und Vergehen. In den Adern floß ihm aber das Blut [12] des Vaters, den es nie lange beim bloßen Sinnen litt. Die Hände mußten etwas zu tun haben. Er zertrümmerte alte Baumstrünke, um sie nach ihrem Inhalt zu durchforschen, wühlte in Fuchs- und Dachshöhlen und baute in die Quellenläufe Wasserräder aus Weiden und Schindeln; endlich suchte er dadurch einen Ausweg aus seinem Groll, daß er sich auf eine Erfindung warf, und zwar auf die eines Flugzeuges, was damals noch kein so landläufiger Gedanke war wie in unseren Tagen.

Als Werkstätte diente ihm eine Hütte, die sich Holzhauer im Winter zur Zuflucht erbaut hatten. Sie stand durch einen Waldstreifen vor neugierigen Blicken geschützt, vom Städtchen ziemlich entfernt, am Strom. Dahinauf trug er aus einer Bucht Weidenzweige, Binsen und Schilf und flocht sich daraus mit einer Geschicklichkeit, die eines Korbmachers würdig gewesen wäre, zwei Flügel, die, wenn er sie aufstellte, doppelt so hoch wie er selber waren. Der Sattler lieferte ihm um gute Worte und wenig Geld einen alten Gürtel und starken Zwirnfaden, mit denen er die Schwingen zusammenfügte, und lederne Handriemen, die er an die Flügel nähte, damit er sie zu bewegen vermöge.

In tiefer Heimlichkeit war die Maschine fertig geworden. Strahlenden Auges betrachtete er sie und sah sich in seinen Träumen bereits durch die Lüfte schweben. Sein Ehrgeiz war, den Rhein zu überfliegen. Die Eglisauer sollten nun sehen, daß er mehr könne als Schrot in alte Fenster schießen. Vor allem aber wollte er den Vater beschämen, die Erfindung um eine große Summe Geldes verkaufen und ihm den Betrag schenken. Bei [13] diesem Gedanken klopfte ihm das Herz fast zum Zerspringen. –

Eines Sommertags arbeitete er mit Mutter und Geschwister im Weinberg; nun aber die Glocke aus dem Städtchen herauf vier Uhr meldete, durfte die Jugend baden gehen.

Er tat vor der Mutter, als ob auch er diese Absicht hätte, löste sich aber bald aus der Schar der übrigen Knaben und stieg berghinan. Die große Stunde war da, wo er den Wert seiner Erfindung beweisen wollte. Mit jeder Faser seiner Sinne glaubte er daran.

Aus der Waldhütte schleppte er die Flügel an eine Stelle der Stromhalde, an der ihn nicht leicht jemand beobachten konnte, und hielt von einem zerbröckelnden Felskopf Ausschau. Wenn er in den Rhein flöge! Das wäre nicht schlimm. Als vortrefflicher Schwimmer war er in den Wellen daheim. Wie ärgerlich aber! Am Fuß des Abhangs, halb hinter Weidenbäumen verborgen, badete an einer seichten Stelle eine kleine Schar Schulmädchen in weißen Hemden. Zwei davon erkannte er aus der Höhe: seine Schwester Marie und ihre jüngere Freundin, das Pfarrerstöchterlein Nick; denn so dunkle Haarschöpfe wie die beiden hatte sonst niemand im Städtchen. Ihnen über die Köpfe hinwegfliegen? Was entstände für ein Geschrei! – Nein, es war doch klüger, zu warten und den wilden Eifer zu zähmen. Wie eine Ewigkeit erschien ihm die halbe oder ganze Stunde, während der die Mädchen sich noch im Wasser tummelten.

Endlich kleideten sie sich unter den Uferweiden an. [14] Eines die Arme in die des andern gehängt, gingen sie mit lässigem Singsang gegen das Städtchen zurück und ließen auf ihren Rücken die Badhemden in der Sonne trocknen.

Nun war sein Augenblick da.

Mit wildem Herzpochen hängte er sich den Gurt der Flügel über den Nacken und schlüpfte mit den Armen und Händen in die Bänder. Das Gesicht heiß und kühl, die Stirne vor Erregung schweißtriefend, rannte er, die Schwingen hinter sich schleppend in jähem Anlauf über den Felskopf hinaus.

Was half ihm sein verzweifelter Mut? – Es ging ihm wie damals noch allen, die fliegen wollten. Die schöngebauten Flügel machten keinen Schlag. Über den Fels hinab stürzte er auf die mit wenig Gras bewachsene Geröllhalde, hilflos kollerte er mit den Flügeln den Abhang hinunter, dann warf ihn die wachsende Sturzkraft mitten in ein Gebüsch von Schwarzdorn und Brombeerstauden. Sie hielten seinen weiteren Fall auf.

Unbewußt hatte er bei dem Sturz einen Schrei ausgestoßen.

Die heimwärts schreitenden Mädchen blickten sich um, kamen eilends zurückgelaufen und spähten ängstlich in das Gestrüpp. Marie, die Schwester, schrie entsetzt auf: »Mein Gott, du bist es, Uli!«

Es war nicht leicht, dem in die Dornen Gefallenen Hilfe zu bringen; im Kreise stand das Schärchen jammernd um den unglücklichen Flieger, den die Schnallen seiner halbgebrochenen Flügel an jeder Bewegung hinderten, und begriff nicht recht, was vorgefallen war.

[15]

Zuerst packte Nick zu. Mit einem Taschenmesserchen begann sie die Ranken und Dornen wegzuschneiden und war dabei so eifrig, daß sie sich selber das blaugetupfte Kleid zerriß und die Arme blutig kratzte.

Einmal begegneten sich die Augen des Hilflosen und die ihrigen, und mitten in den brennenden Schmerzen überraschte er sich bei dem Gedanken: »Wie schön ist die Nick!« Das lag an ihren dunklen Augen und ihren vom Eifer der Arbeit geröteten Wangen.

Übrigens leistete ihr Messerchen so kleine Dienste, daß er ihretwegen noch lange in den Stauden hätte liegen bleiben können; aber der Auflauf der schreienden Mädchen war aus der Ferne von Rebleuten bemerkt worden. Sie eilten herbei und hatten mit ihren kräftigen Hackmessern und Scheren Uli, dem das Blut übers Gesicht lief, bald aus den Dornen und Banden los. Doch errieten sie so wenig wie die Mädchen, auf welche Weise er in diese üble Lage geraten war.

Erst Pfarrer Tappoli, der irgendwo am Strom der Anglerei obgelegen hatte, löste das Rätsel. Obgleich ihn der stöhnend daliegende Knabe dauerte, glitt ihm doch ein Lächeln um den Mund: »Der neue Schneider von Ulm!«

Das verstand nun Ulrich nicht; er merkte aber doch, daß das Wort irgend etwas Närrisches andeutete. Vor Scham vergaß er einen Herzschlag lang seinen Schmerz.

Eine Schulter war ihm verrenkt, ein Fuß gebrochen.

Die Leute banden die beiden zerzausten Weiden- und Schilfflügel zu einer Tragbahre zusammen. Auf den Schwingen, die ihn hätten über den Rhein führen sollen, [16] wurde der tollkühne Junge, der sich jetzt am liebsten in die Erde verkrochen hätte, unter mancherlei Geleit ins Städtchen gebracht. Neben der Bahre lief die schlanke Nick, unbewußt hielt sie die dunklen Lichter in die geängstigten blauen Augen des Verunglückten gerichtet.

Noch vor dem Städtchen kam, was Ulrich am meisten fürchtete: die Begegnung mit dem Vater. Das Gesicht bleich vor Zorn, trat der breitschultrige Schmied mit dem blonden Vollbart an den Knaben heran. Jemand von den Seinen in aller Leute Mund und Gespött! Das war mehr, als Junghans ertrug. Ehe er aber die Lauge seiner Wut ausschütten konnte, erkannte der Pfarrer das herannahende Gewitter, nahm ihn auf die Seite und sprach mit ihm von altem gutem Einvernehmen und davon, daß man einen Bubenstreich nicht gar zu ernst nehmen dürfe; den mißlungenen Flugversuch Ulis um so weniger, als der Junge ja den Versuch nicht aus böser Absicht oder niedriger Denkart, sondern aus einer lebhaften Einbildungskraft unternommen und der Übermut seine Strafe bereits in sich selber gefunden habe.

Meister Martin ließ sich halbwegs beruhigen, beherrschte den Zorn und versetzte nur: »Jetzt wird mein Uli entweder etwas ganz Rechtes oder etwas ganz Schlechtes. Wer solche Jugendstreiche begeht, findet den goldenen Mittelweg nie!«

»In Uli liegt bloß das ganz Rechte. Keine Bange, Meister,« erwiderte der Pfarrer in klingendem Brustton.

Die Männer hatten das alte Haus in der Obergasse erreicht und den Verwundeten in die Stube getragen. Da es nichts mehr zu gaffen gab, zerstreuten sich die [17] Neugierigen. »Wir haben in Eglisau wohl schon manche seltsame Leute erlebt,« plauderten sie, »sogar einmal einen, der den ewigen Umgang studierte und darüber irrsinnig geworden ist; aber einen, der fliegen wollte, doch noch nie.« Ein paar Alte hatten aus den Kalendern noch die Geschichte des Schneiders von Ulm im Gedächtnis. Die lief nun durch das Städtchen. »Albrecht Berblingen hieß er und verfertigte nicht bloß Kleider, sondern auch Kinderwägelchen, sowie künstliche Arme und Füße für Verstümmelte. Am 30. Mai 1811 wollte er mit einer selbsterfundenen Maschine im Beisein vieler Zuschauer von der Stadtmauer in Ulm die Donau überfliegen, fiel aber elendiglich in den Fluß. Der König, der eben in der Stadt weilte, schickte dem Narren zwanzig Louisdors zum Trost, der Schneider jedoch wurde darüber nur noch verrückter. Er ließ sich für ein Wachsfigurenkabinett nachbilden und wurde neben anderen berühmten Persönlichkeiten als Spottgestalt in allen deutschen Städten ausgestellt. Damit brachte er viele Schande über die ehrsame Schneiderzunft und seine gesamte Vaterstadt.« So ging die Erzählung.

Einige sagten: »Die Geschichte des Schneiders ist im Schwabenland geschehen. Bei uns in der Schweiz, wo wir klüger sind, weiß bis auf Uli Junghans jedes Kind, daß man das Fliegen den Vögeln überlassen muß. Wenn wir Eglisauer nun bloß seinetwegen nicht auch in den Kalender kommen!« Die meisten aber waren froh, daß in dem stillen Städtchen wieder einmal etwas geschehen war, worüber man bei der Rebenarbeit ausgiebig sprechen, sich sittlich entrüsten und eine Familie bemitleiden [18] konnte. »Der unglückliche Meister Martin! Was wird der noch an seinem zweiten Buben erleben! Und es sind doch rechtschaffene Leute, der Schmied und sein Weib.« –

In der Kammer lag Ulrich während der schönen Sommerszeit. Über das Ende des Schragens lief auf einer Holzrolle ein Seil, das ihm durch ein freihängendes Steingewicht den gebrochenen Fuß streckte, und von der Decke hing wieder ein Strick, an dessen Handhabe er sich notdürftig emporrichten konnte, doch der zerquetschten Schulter wegen nur unter Schmerzen.

Hie und da sahen Mutter, Geschwister, Verwandte und Bekannte nach ihm, und wer aus dem Städtchen kam, erzählte ihm die Geschichte des Schneiders von Ulm. »Hätte ich um den Albrecht Berblinger früher gewußt,« stöhnte er, »so wäre mir der Gedanke an das Fliegen nie gekommen und ich läge nicht so elend darnieder.« Nein, auf seinem unseligen Abenteuer schwebte nicht einmal der Reiz des noch nie Dagewesenen. Und jetzt hatte er schon so oft von Berblinger gehört, in alten Kalendern sein marktschreierisches Bild gesehen, daß er, wenn man ihm davon sprach, die blauen Augen und den blonden Kopf nur noch trübselig und ergebungsvoll gegen die Wand wendete. Noch mehr als unter der närrischen Geschichte aber litt er unter dem grolligen Benehmen des Vaters, an dem er doch mit der Leidenschaft des jungen Herzens hing.

Meister Junghans ärgerte und schämte sich bis auf die Knochen, daß einer seiner Jungen mit dem Gaukler von Ulm im gleichen Atemzug genannt wurde und wohl [19] den Vergleich sein Leben lang tragen mußte. So ungehalten war er darüber, daß er nie in die Kammer des Dulders trat, sich nur gelegentlich bei der Mutter nach seinem Befinden erkundigte, und auch dann noch in einem Ton, als ob er sich mit der Nachfrage etwas an seiner Mannesehre vergebe.

Unter der zürnenden Art des sonst gutherzigen und gerechten Vaters litt nun die gesamte Familie, Ulrich oft bis zu heißen, heimlichen Tränen.

Da war es ihm ein großer Trost, daß neben manchen ihm gleichgültigen Leuten zuweilen auch die schlanke, schmale Nick Tappoli mit dem bildsaubern Köpfchen an seinem Lager erschien. Nie kam sie mit leeren Händen. Sie brachte ihm ein paar Blumen aus dem Pfarrgarten, Frühäpfel oder Pfirsiche, oder aus dem Fruchttrog weiche, gedörrte Birnen, die von weißem Fruchtzucker überlaufen wie Honig schmeckten. Oft mit seiner Schwester Marie, oft allein saß sie bei ihm und plauderte. Und wenn er einmal in Schmerzen zuckte, blinzelten ihm ihre dunklen Augen ermunternd zu: »Wenn du nicht hättest fliegen wollen, so könnte ich auch nicht so dasitzen, dich bemitleiden und bemuttern. Und das ist mir doch ein großes Vergnügen!«

Nick, das heißblütige Wesen, sah Uli fast so gern wie er sie, und er merkte es mit jubelnder Seele.


[20]

2

Nick, die mit ihrem eigentlichen Namen Monika hieß, war das Nesthäkchen des Pfarrhauses, ein hageres, zartes Geschöpf, doch von lachender Frische, mit dunkeln Augen und krausen Locken, noch eckig und zehnjährig kinderhaft in ihren Bewegungen, aber in allem, was sie tat, voll heimlichen Feuers. Fragte man sie, was sie im Leben werden wolle, erwiderte sie mit nachdrücklichem Ernst: »Eine Mutter!«

An dieser Antwort war nun nichts Besonderes. Wie viele kleine Mädchen mögen so denken und reden! Das Besondere war das warme Zugreifen, mit dem Nick den mütterlichen Trieb betätigte. Wenn die Frauen des Städtchens in den sonnenheißen Reben arbeiteten, sammelte sie die kleinen Kinder im Pfarrhof und von der Höhe des Studierzimmers hatte Tappoli Gelegenheit, ihr Pflegerinnentalent zu beobachten und darüber zu lachen. Namentlich aber hatte es ihm ein Streich der Jüngsten angetan.

Jenseits der Rheinbrücke hauste eine Korberfamilie im Blachenwagen. Die Frau kam nieder und zwar mit Zwillingen. In einer Kiste, die der Mann eilig bei einem Krämer geholt hatte, ruhten die beiden Kindlein auf Stroh. Sie sehen, heimlaufen und den Leuten für die Kleinen heimlich das Kopfkissen vom eigenen Bett bringen, [21] war bei Nick eins. Darauf aber kam das schlechte Gewissen. Nick war nun jeden Morgen die erste, die aufstand, machte ihr Bett selbst und ließ sich von der Mutter die feurigen Kohlen unverdienter Lobsprüche auf das Haupt legen. Als aber die Wäsche gewechselt wurde, kam das Verschwinden des Kissens an den Tag. Noch schwieg die Schelmin, bis die Mutter ein armes Weib, das beim Vater vorgesprochen hatte, des Diebstahls verdächtigte. Da beichtete das Kind.

Die Mutter mochte schelten, Tappoli liebte den Schlingel. Gewiß auch die andern Kinder, den Gymnasiasten Dietrich, der dann und wann über Sonntag mit Freunden aus Zürich herüberkam, und Julie, die Erstgeborene, die in der Haushaltung schon eine große Stütze der etwas kränkelnden Mutter bildete; aber er spürte, wie Nick ein seelisch tieferes Leben führte als die beiden.

Sein besonderes Wohlgefallen an der Jüngsten stammte aber noch aus einer anderen Quelle. Ihr Anblick erinnerte ihn stets an seine Vorfahren, um des Glaubens willen vor dreihundert Jahren aus ihrer Heimat vertriebene Locarnesen, die sich durch den Hochwinter der Alpen schlugen und in Zürich eine zweite Heimat fanden. Allmählich hatten sich die Tappoli verdeutscht, sich mit der Stadt aufs innigste verwachsen, ihr manchen Magistraten und Kriegsmann von Ruf, namentlich aber viele Pfarrer gestellt. Er selber liebte Zürich mit warmem Bürgerstolz, doch gefiel ihm, daß irgendein Zug im Wesen Nicks, vor allem der in alemannischen Landen ungewöhnlich feine Gesichtsschnitt, das südliche Blut der Voreltern wieder zur Erscheinung brachte. Das Krausköpfchen [22] zu belauschen, die späte, seltene Blume aus der Stammheimat jenseits der Berge, bildete die besondere Würze seines pfarrherrlichen Stillebens.

Als Nick nun Tag um Tag zu dem seit seinem Unfall immer noch leidenden Ulrich Junghans lief, fragte er sie einmal: »Und hast du über ihm deinen Freund Gerold von Jaberg ganz vergessen?« Sie sperrte die dunkeln Augen groß auf. »Nein, ich gehe und lade ihn ein, daß er am Sonntag wieder einmal zum Tanz kommt!«

Am Sonntagabend durfte sich die Jugend im Pfarrhaus tollen. Der Pfarrer, der einen artigen Verkehr zwischen Knaben und Mädchen für ein Stück Erziehung ansah, setzte sich auf den Tisch, stellte die Beine auf das Brett eines Stuhls, blies auf der Flöte Tanzmelodien, schlug mit dem rechten Fuß den Takt dazu, und die Kinder tanzten nach Herzenslust durch die Stube. Kam Dietrich mit seinen Freunden zu Besuch und fehlte es an ein paar Mädchen, dann rief man aus dem Städtchen Unterstützung herbei, darunter Marie Junghans, die drei Jahre älter, doch nicht viel größer als Nick war. Und nun fand sich auch Gerold von Jaberg, sonst ein schüchterner und zurückhaltender Junge, der sich an seinen Vater zu klammern liebte, seit einiger Zeit in dem harmlosen Kreise heimisch.

Sein Vater, Doktor Bruno von Jaberg, mit dem er sonst auf einem Schlößchen bei Konstanz wohnte, ein reicher und feingebildeter Mann, übte im Gebiet des Oberrheins den Beruf des Altertumsforschers aus. Dabei war ihm Eglisau ein angenehmer Standort mitten in einer Gegend, in der es mancherlei Geschichtliches zu [23] entdecken und nachzuweisen gab: keltische Grabhügel und Lager, die Spuren einer römischen Brücke über den Rhein, auch von Wachttürmen an den Ufern, altalemannische Siedlungen und Schutzwerke und mittelalterliche Reste. Deswegen nahm er, von Gerold begleitet, jeden Sommer ein paar Wochen Quartier im Städtchen. Das Volk, das für seine Forschungen nur mäßiges Verständnis zeigte, betrachtete den Gast, der in der Hand die Doppelhacke und über der Schulter die Sammlerbüchse trug, als einen vornehmen Kauz, um so mehr, weil er und seine Frau getrennt lebten, er am nahen Bodensee, sie irgendwo fern am Meer. Wer aber mit dem leichtergrauten Fünfziger, in dessen Zügen ein leises Leiden stand, näher in Berührung kam, lobte seinen menschenfreundlichen Sinn, sein Verständnis für die bäuerliche Welt, und manche behaupteten, es sei mit dem adeligen Herrn leichter als mit manchem Gemeindepräsidenten oder Säckelmeister zu verkehren. Pfarrer Tappoli hörte ihn gern von seinen Ausgrabungen erzählen, und sie verplauderten beim Wein oft eine Abendstunde miteinander.

So kam es, daß sich auch die Kinder Gerold und Nick gut kannten. Beim Tanz im Pfarrhaus wurde durch sie seine Neugier nach dem Knaben lebendig, der hatte fliegen wollen. Er wünschte ihn zu sehen, und der Vater gab seiner Bitte nach; er kaufte zur Ausrede bei Meister Junghans ein schönes Messer und fragte dann höflich nach Ulrich. Dem Schmied schwoll die Zornader auf der Stirn, am liebsten hätte er ihm geantwortet: »Was geht Sie der dumme Streich Ulis an? Er ist mein Junge!« [24] Es lag aber etwas Zwingendes in der schlichten Vornehmheit des Käufers, und mit verdüstertem Gesicht führte der Schmied ihn und Gerold an das Lager des Leidenden. Ulrich aber sah nur den eigenen Vater, und sein Herz wallte über vor Freude, daß sich der Gekränkte endlich einmal bei ihm blicken ließ.

Jaberg, Vater und Sohn, unterhielten sich eine Weile mit ihm und erbaten sich sogar die Erlaubnis, wieder vorsprechen zu dürfen. Der stille Gerold, der an dem jugendlichen Abenteurer einen besonderen Gefallen fand, kam nun fast so häufig zu Ulrich wie die Nick, und manchmal saß das Dreiblatt stundenlang über prächtigen Knabenbüchern, die er mit sich brachte, beisammen.

Schon konnte Ulrich mit aufgebundenem Arm an einem Stock wieder um das Haus hinken. Da kam der Vater Gerolds wieder zu Meister Junghans. »Aus den Kenntnissen Ihres Sohnes«, begann er, »habe ich gemerkt, daß das Städtchen eine sehr gute Volksschule besitzt. Und da sich die beiden Knaben in ihrer Eigenart so schön ergänzen, will ich Gerold zulieb über Herbst und Winter in Eglisau bleiben, damit er hier mit Ulrich die Schule besuche. Ich selber kann ja hier gerade so gut über meiner Gelehrtenarbeit liegen wie daheim in Kreuzlingen. Was tut ein alleinstehender Alter nicht für seinen einzigen Sohn?«

Meister Junghans merkte wohl, wie viel Anerkennung für seinen Sorgenbuben in der Rede Jabergs lag, doch mißfiel sie ihm völlig. Was sollte Uli, dem er für alle Zukunft eine strenge Zucht zugedacht hatte, gleichsam als Belohnung für die Lächerlichkeit, die er über das [25] Haus gebracht hatte, der Kamerad eines Adeligen werden? Das hieß doch nur, ihm noch mehr Mücken in den Kopf setzen und ihn verderben. Auch regte sich der republikanische Stolz des Schmieds. Wenn man wissen wollte, was von den Edelleuten zu halten ist, brauchte man nur die Schweizer Geschichte zu lesen. Wie hatten sie von jeher das Landvolk gequält! Indessen war im Wesen Jabergs etwas so Untadeliges, daß er seine Bedenken verschwieg. Er konnte es ja doch nicht verhindern, daß der Gelehrte im Städtchen blieb und der Junge die Schule besuchte! Und es handelte sich auch nur um das letzte halbe Volksschuljahr: dann gingen die Wege der Knaben von selber wieder auseinander, mußte der seine den Jungschmiedeschurz anziehen.

Zwischen Ulrich und Gerold waltete nun eine gute Knabenfreundschaft, doch nicht ohne heimliche Schmerzen für jenen.

Er merkte, daß Nick, die während der Krankheit sein Entzücken gewesen war, mehr zu Gerold als zu ihm neigte. Wenn es zwischen Knaben und Mädchen zu einer Schlacht mit Schneeballen kam, lief sie sicher in die Wurfbahn Jabergs, und wenn sie der rücksichtsvolle Junge versehentlich einmal scharf ins Gesicht traf, so heulte sie nicht, sondern lachte ihn bloß mit blitzenden Augen und weißen Zähnen an, eilte kühn auf ihn los, und er war höflich genug, sich von ihren geschwinden Mädchenhänden niederringen und von Kopf zu Fuß mit Schnee einreiben zu lassen.

Das offenbare Einverständnis zwischen den beiden nahm aber Ulrich weniger seinem Freund als Nick übel. [26] Wie flatterhaft sind die Mädchen! Das überlegte er sich oft mit einem Seufzer, mußte sich aber selber zugestehn, daß ihn Gerold in allem übertraf, was einem Knaben in den Augen der Mädchen Wert geben konnte. Der etwas aufgeschossene Junge war einen Zoll größer als er, hatte ein feines Gesicht mit zartroten Wangen, braune, sinnige Augen und war nicht nur durch die guten Kleider, die er trug, sondern auch durch Sitte und Wohlanstand allen Knaben des Städtchens voran. Das stach Nick natürlich in die Augen.

Ulrichs eigene Vorzüge lagen an anderer Stelle: im raschen Begreifen, im eindringlichen Erfassen dessen, was ihnen der Lehrer bot. Da kam ihm der immerhin ansehnlich begabte Gerold nicht gleich, nahm vielmehr oft mit bescheidenem Lächeln seine Hilfe in Anspruch, und gerade dieses bittende Lächeln tat ihm an Jaberg so wohl, daß er für ihn durchs Feuer gegangen wäre und ihm die Freundschaft Nicks mit wehmütigem Verzicht gönnte.

So kam der Frühling. Wasserreich und blau strömte der Rhein, der im Winter klein und grün dahingeflossen war.

Da lud Doktor von Jaberg die Knaben zu einem Ausflug ins Rafzerfeld ein. Es war ein Tag in Blau und Gold, der Himmel hoch. Er führte sie hinaus durch die grünenden Felder, über denen die Lerchen schmetterten, auf den letzten Hügelzug des Schweizerlandes, von dem drei alte, sturmzerzauste Föhren hinein ins badische Gelände grüßen. In der Nähe war der Heidenbühl, eine von den andern leicht abgetrennte Kuppe, aus [27] deren Namen und Form der Forscher eine alte Grabstätte erkannt hatte, die er gelegentlich mit ein paar Arbeitern untersuchen wollte. »Ich vermute, es sind große Steinkammern darin, in denen unsere Urahnen ihre Häuptlinge mit Wehr und Waffen begraben haben,« erklärte er. »Wie Wohnhäuser haben sie die letzten Stätten der Toten eingerichtet und ihnen am Jahrtag des Dahinscheidens Wildbret an den Hügel gelegt, Honigbier in Schalen gegossen, damit sie sich erquicken, und Feuer angezündet, damit sich ihre Seelen wärmen können. Auch Blumen haben sie ihnen gebracht. Also besaßen schon die längst vergangenen Heiden feine Herzen und feines Gemüt.«

Während der Doktor so sprach, begegnete er dem verlorenen Blick Ulis und spürte wohl, wie sich die Einbildungskraft des Knaben an seinen Worten entzündete. Als sie vom Heidenbühl gegen das Dorf Wil hinunterschritten, das mit breiten Dächern aus einem Obstbaumwald hervorschaute, fragte er: »Was für einen Lebensweg willst du einmal einschlagen?« »Es wird mir nichts übrig bleiben, als bei meinem Vater Schmied zu werden,« erwiderte Ulrich etwas bedrückt. »Wenn du aber die Wahl hättest?« fragte Jaberg. »So würde ich studieren,« blitzte es aus der Seele des Jungen, »und Geschichtskundiger werden wie Sie!« Dafür hatte Jaberg nur ein Lächeln.

Am andern Tag trat er wieder einmal in die Werkstatt und Stube des Meisters Junghans. »Ich gedenke Gerold durch das Gymnasium von Konstanz laufen zu lassen, und da ich den günstigen Einfluß sehe, den Ihr talentvoller [28] Ulrich auf ihn ausübt, so würde ich mich freuen, wenn auch er diesen Bildungsgang genießen dürfte. Sind Sie einverstanden, Meister Junghans, so übernehme ich auch für Ulrich die Gymnasialbildungskosten. Er soll auf meinem Schlößchen leben und gerade wie Gerold behandelt sein.«

Der Vorschlag war für Vater Junghans eine volle Überraschung, verlegen fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. Es ging ihm gegen den Handwerkerstolz, daß einer seiner Söhne und damit er selbst eine Wohltat aus fremder Hand und namentlich von einem adeligen Herrn annehmen sollte. Das Anerbieten schien ihm für den Unnützen, dem er das Flugabenteuer immer noch nicht recht verziehen hatte, des Guten zu viel. Und er achtete auch nicht groß darauf, wie die Augen Ulrichs baten und flehten.

Er verlangte ein paar Tage Bedenkzeit. »Es ist eine Sache, die man nicht übers Knie brechen kann.«

Als Jaberg gegangen war, wandte er sich an die Mutter: »Was braucht Uli als künftiger Schmied Gymnasialbildung! Ich fürchte, die Schule verdirbt ihn bloß für die Arbeit.«

»Ist es denn nötig, daß alle unsere vier Buben wieder Schmiede werden? Genügt es nicht, daß du Friedrich nach Winterthur in die Lehre gegeben hast?« ereiferte sich die Mutter. »Gibt es denn wirklich ohne Handwerk kein Glück in der Welt, und beleidigen wir nicht Gottes Vorsehung, wenn wir Uli ein Tor verschließen, das sich ihm ohne unser Dazutun aufgeschlossen hat?« Die zarte, schwarzhaarige Frau wehrte sich für die Jugendrechte [29] des Knaben wie eine Löwin für ihr Junges, und Meister Junghans, der sonst sein Wort als unanfechtbar und unwiderruflich betrachtete, fand an ihren kampfbereiten Augen Wohlgefallen. »Du kleines Weib, was verstehst denn du von den Dingen der Welt! Uli hat mich nun einmmal durch seinen Flug in die Brombeerstauden erschreckt.« Die tapfere Frau rief den Pfarrer zum Bundesgenossen auf, und Tappoli, der sich an allem freute, was der Spießbürgerlichkeit und dem staubigen Alltag zuwiderlief, brachte Ulrich auf das Konstanzer Gymnasium.

So nahm die törichte Fliegerei für den Knaben doch noch ein gutes Ende.


[30]

3

Ulrich wohnte mit Gerold und dessen Vater in dem Schlößchen, das mit vier großen Pappeln vor dem Giebel auf der Höhe von Kreuzlingen steht und über Konstanz, den Bodensee und den Rhein hinausblickt. Jeden Morgen wanderten die Freunde mit ihren Büchern hinab in die Stadt. Gerold, der wohl wegen des Adelstitels, aber auch wegen seines liebenswürdigen Wesens von den Mitschülern viel umworben war, hielt mit niemand treuere Freundschaft als mit dem Gespielen von Eglisau, der, aus härterem Stoff geschaffen, die größere geistige Spannkraft besaß und in seinen Gedanken tiefer grub. Der junge, weichgeartete Edelmann, der nur durch eine rührende Pflichttreue und hingebenden Fleiß mit dem begabteren Freunde Schritt zu halten vermochte, sah ihn oft mit leistraurigem Lächeln an. »Gott, wär' ich so frisch und stark wie du! Mein Vater hat wohl Recht, wir leiden unter dem alten Blut.«

In der feinen Seele Gerolds wohnte aber noch ein Schmerz, über den er nicht sprach, den Uli jedoch ahnte: das Leid darüber, daß sich die Eltern geschieden hatten. Jedes Jahr zweimal verbrachte er die Ferien bei der Mutter, die auf einem Gute bei Lübeck in ihrer Heimat lebte. Dann kam er jedesmal etwas bedrückt an den Bodensee zurück. Was war es für ein herbes Knabenlos, [31] die Mutter zu entbehren, wenn er beim Vater weilte, den Vater, wenn er bei der Mutter zu Besuch war! Er liebte beide zärtlich. An diesem Zwiespalt lag es wohl, daß aus seinem sonst rüstigen Wesen stets etwas wie ein stummes Leiden sprach.

Desto mehr fühlte Uli sich verpflichtet, Gerold ein herzlicher Kamerad zu sein, und durfte sich getrösten, daß er die Wohltaten, die ihm Doktor von Jaberg in väterlichem Wohlwollen erwies, an den Freund nach bestem Vermögen heimzahle. Er verlebte auf dem Schlößchen zwei schöne Jahre, und als die hellsten Lichter darin erschienen ihm die Wandertage, an denen sie mit Vater Jaberg die Gestade und Städtchen des Bodensees und des Oberrheins durchstreiften. Aus der Wärme seines Wesens und der Fülle seines Wissens plauderte der Gelehrte mit ihnen. »Mir ist der Bodensee ein Heiligtum, ein Urherd menschlicher Kultur, die Stätte, an der sich die frühesten Schicksale Mitteleuropas begeben haben.«

Für seine Studien hätte er sich keinen eifrigeren Schüler wünschen können als Ulrich. Und der Junge nährte nur den einen Wunsch, daß ihm das Leben stets so freundlich gesinnt bleiben möge wie in den Konstanzer Tagen.

Als er sich dabei überraschte, lag ihm aber vom letzten Besuch im Elternhause her schon ein tiefer Kummer in der Brust. Der Vater war an einem hartnäckigen Husten erkrankt, die Backenknochen stachen ihm unheildrohend hervor, er fiel aus den Kleidern, und sein schöner blonder Bart begann bereits zu ergrauen.

Bald besuchte Ulrich die Eltern wieder. Da fand er [32] den Vater, der bis dahin aus lauter Liebe zu den Kindern in den Fragen der Erziehung fast zu streng gewesen war, plötzlich von einer Milde, die ihn erschreckte. In einem Zug tat ihm das veränderte Wesen, die herzliche Güte des Leidenden wohl und weh.

Als er den Eltern gute Nacht bot, hielt ihn die Mutter zurück. »Wir haben mit dir Ernstes zu sprechen, Uli. So sehr wir die Güte des Herrn von Jaberg gegen dich schätzen und uns deiner vortrefflichen Zeugnisse freuen, so kann von deinem Gymnasialbesuch doch nicht weiter die Rede sein. Du mußt in die Werkstatt treten und den Vater entlasten. Wir haben uns lange gegen den Gedanken gesperrt und Friedrich heimrufen wollen, aber sein Meister gibt es nicht zu. Also müssen wir uns an dich halten. Wie schmerzlich es dir sein mag, armer Bub, so kennst du nun deine Pflicht! In einer so großen Familie wie der unsern muß eins dem andern helfen und Opfer bringen. Und du hast ja nicht nur den hellen Kopf für die Studien, sondern auch die ebenso geschickten Hände für die Arbeit. In Gottes Namen füg dich drein.« Der blasse, hüstelnde Vater nickte. »Ja, so ist's leider, Uli. Ich hätt's dir besser gegönnt!«

Dem Knaben verschlug die elterliche Eröffnung die Sprache. Im Bett weinte er still und heiß. Es war ihm unendlich schwer, den Traum aufzugeben, daß er sich ähnlich wie Doktor von Jaberg den Wissenschaften widmen könne und sein Name einmal von den Erfolgen einer gelehrten Laufbahn umglänzt werde. Ihm war, diese Nacht lege seine Jugend in Trümmer, eine blühende Welt, deren Schönheit er erst jetzt begriff, da sie für [33] ihn unterging. Am Morgen jedoch trat er gefaßt vor die Eltern: »Also werde ich Schmied und kehre bloß nach Konstanz zurück, um mich von Gerold und seinem Vater zu verabschieden.«

Die Aussprache mit diesen beiden ging leichter, als er sich gedacht hatte. »Auch bei uns liegen Pläne vor, die tiefer in mein Leben eingreifen,« erzählte ihm Gerold. »Die von meinem Vater kürzlich veröffentlichten ›Wanderstudien aus der Vorgeschichte des Bodensees‹ haben ihm mancherlei Anerkennung eingetragen. So die Einladung der mit reichen Mitteln ausgerüsteten Prähistorischen Gesellschaft in Kopenhagen, daß er zur Heranbildung junger dänischer Forscher in Jütland und auf den benachbarten Inseln ähnliche Untersuchungen alter Kulturreste und Denkmäler veranstalte wie am Bodensee. Der Antrag lockt ihn; es gibt dagegen nur das einzige Bedenken, daß ich mich wegen meines Bildungsganges von ihm trennen muß. Ich habe ihm aber gesagt, daß ich gern wieder eine Weile bei meiner Mutter leben würde. So wird es wohl kommen, vom stillen Gut Mecklenhof aus werde ich das Gymnasium in Lübeck besuchen und meinen Vater, der dem dänischen Ruf folgt, nur noch dann und wann sehen. Ich habe mir über diese Wendung deinetwegen Gedanken gemacht, Ulrich. Ich wollte dich einladen, mit mir in den Norden zu ziehen; doch ein Schweizer Junge würde es dort oben vor Heimweh kaum aushalten. So bitter für uns das Scheiden ist, – das Schicksal, das dich in die Werkstatt zwingt, erleichtert es mir, vom schönen Konstanz hinwegzugehen. Im übrigen werde ich gelegentlich wohl [34] wieder in die Gegend kommen. Und wir bleiben Freunde.«

Herzlich waren auch die Abschiedsworte des Doktors: »Ulrich, wenn du je im Leben Anstoß findest und weißt nicht, wo aus und ein, so wende dich an mich.«

An kühlem, sonnigem Morgen gab Gerold dem Schulgenossen das Geleit über die Höhen am Untersee. Stahlblau lag das Gewässer im Frühlingsfrieden und der unendlichen Stille des weitgespannten Himmels. Zum erstenmal und wohl unter dem Eindruck der bevorstehenden Trennung sprach er ausführlich von seinen Eltern. »Beide sind so herrliche Menschen, daß ich nicht weiß, wen höher stellen, Vater oder Mutter. Sie sind aber zu weit auseinander geraten, als daß sie sich je wieder die Hände reichen könnten. Die Mutter, eine groß und lebhaft begabte Frau, mochte ohne das gesellschaftliche Leben der Städte nicht auskommen. Die schonungsbedürftigen Nerven des Vaters ertrugen es nicht. Darüber entstand unter den Gatten Streit. Die Mutter trotzte und verlebte einen Winter allein bei Freunden in Berlin. Dort lernte sie einen berühmten Sänger kennen; es ereignete sich, was den Vater zur Scheidungsklage bewog. Seither leben sie beide einsam. Und ich, das Kind ihres ersten Jahres, bin das zwischen ihnen hin- und hergeworfene Opfer.«

Gerold schwieg, erst nach einer Weile setzte er hinzu: »Warum ich davon sprach, Ulrich? – Ich meine, du solltest nicht so furchtbar traurig sein über die Wendung in deinem Leben. Du hast doch Eltern, die einig sind!«

Ulrich war es, das Herz Gerolds sei dem seinen noch [35] nie so nahe gewesen wie in dieser Stunde. Sie versprachen sich, wie weit das Leben sie jetzt auch auseinander führe, miteinander einen Briefwechsel zu unterhalten, und unvermerkt waren sie auf ihrer Morgenwanderung über die Höhen nach dem Schlößchen Arenenberg gekommen. Sie plauderten nicht mehr, sondern hielten stille Ausschau über das liebliche Gelände, über die von blauen Wassern eingefaßte Insel Reichenau, die anmutigen Burgenhügel des Hegaus, und der letzte Blick Ulrichs hing an dem aus breiter Ebene ragenden Konstanzer Münster. Er wußte, die Tage, die er im Bannkreis des ehrwürdigen Bauwerks verbracht hatte, würden zu den schönsten seines Lebens zählen.

Von der Reichenau herüber kreuzte der Dampfer, der Augenblick des Abschieds war da. In stummer Erschütterung trennten sich die Freunde.

Die wunderschöne Fahrt rheinab bis nach Schaffhausen und die weite Straße von da nach Eglisau legte Ulrich in düsteren Träumen zurück. Als der Abend über die Giebel hereindämmerte, schlenderte er umschauhaltend die Hauptgasse des Städtchens hinab auf die Rheinbrücke. Die Betglocke läutete. Aus der Kirche traten zwei Mädchen und schauten auf den Strom, das Kind des Mesners, das er stets mit einer plattgedrückten Zwetschge verglich, und neben ihr Nick, die von jeher gern beim Läuten half. Bei ihrem Anblick ging ihm ein Stich durchs Herz, er hätte ihr Grüße von Gerold bestellen können, aber er dachte: »Bah, der Flattervogel!« und ging mit mürrisch-linkischem Gruß vorüber. Er brachte aber das Bild der Zwölfjährigen lange nicht [36] mehr aus dem Sinn, die dunkeln Blitzaugen, die langen Wimpern, das weiche, krause Haar, das sich kaum bändigen ließ, die roten Wänglein und die noch viel rötern Lippen. Er suchte es zu vertreiben, indem er an die vielen hübschen Mädchen dachte, die er in Konstanz gesehen hatte, sein Herz aber schrie: »Schöner als Nick ist keine!«

Um sechs Uhr am andern Tag stand er in einem von Friedrich zurückgelassenen Lederschurz neben dem Altgesellen Thomas und dem jungen Sebastian, einem recht geschickten Arbeiter, doch lockern Vogel, in der Werkstatt.

Er konnte kaum mehr als Lehrjunge gelten. Die selbständige Herstellung eines dreiteiligen Taschenmessers mit Klinge, Säge und Ahle war ihm schon aus den Knabenjahren her ein geläufiges Spiel. Nur ein paar Schläge auf dem kleinen Amboß, und von dem im Kohlenfeuer rotglühend gemachten Stahlband fielen bereits Klinge um Klinge, ebenso Ahle um Ahle, Sägeblatt um Sägeblatt, Feder um Feder, Platine um Platine, die Bleche für die Fächer des Messers. Rasch formten sich ihm die Bäckchen, die versilberten Kleinstücke, die das Heft vorn und hinten einfassen, und dieses selbst, aus einem Kuhhorn geschnitten und zwischen Holzzangen geradegepreßt. Der Bohrer quirlte, der Niethammer schlug, – das Messer war zusammengestellt; und was daran noch roh, matt und unvollkommen erschien, das erhielt am surrenden Schleifstein und auf den Schmirgelscheiben jenen Glanz, die Glätte und Feinheit, mit der ein neues Stück in der Auslage lockt.

Nicht minder leicht liefen ihm Sensen und Scheren aller Art aus der Hand; er besaß die spitzen Finger des [37] Vaters, die von selber zweckmäßig und sicher tasteten, griffen, hantierten, und das Gefühl für die Genauigkeit des Schaffens. Die Arbeit aber verrichtete er mit einer solchen Trockenheit und Verbissenheit, daß den andern die Lust zu Gesprächen mit ihm verging. Indessen verstanden sie sein unliebenswürdiges Wesen und trugen es ihm nicht weiter nach. Der Vater freute sich aufrichtig seiner zähen, wenn auch mürrischen Tüchtigkeit und übersah das Gedrückte in seinem Wesen.

Die Mutter blickte tiefer in Ulrichs Seele. Als er an einem Regensonntag gelangweilt in der Stube saß, fragte sie: »Warum langst du denn nie mehr zu deinen Gymnasialbüchern? Du könntest doch für dich selber manches daraus lernen!« »Ich habe sie auf der Esse verbrannt,« erwiderte er finster. Da wußte sie, wie es um ihn stand. Sie lächelte ihm aber zu: »So furchtbar traurig solltest du nun doch nicht sein. Wie sind der Vater und ich deiner Hilfe froh! Wenn wir schon fast nicht wissen, woher das Geld nehmen, haben wir doch den Plan, daß er zur Heilung seines Hustens etliche Wochen in die Berge gehen soll. Das dürfen wir nur wagen, weil du dich so tapfer in die Stränge stellst!«

Und als der Vater dann verreiste, lief das Geschäft auch ohne ihn. –

Im Hochsommer überraschte Gerold von Jaberg den Schmied mit seinem Besuch. »Jung Siegfried war ein stolzer Knab'!« rief er dem Freunde zu, der vom Feuer der Esse umsprüht, von Qualm und Dampf umwirbelt vor einem Steinbecken stand, in dem er ein paar weißglühende Eisen kühlte. »Ich kann dir die Hand nicht [38] reichen,« erwiderte Ulrich, »aber in einer Viertelstunde bin ich zu deiner Verfügung.« Er warf sich in den Sonntagsstaat und versäumte Gerold zu Ehren ein paar Stunden der Arbeit. Sie schwärmten hinaus nach den drei einsamen Föhren der Grenze und dem Heidenbühl und blickten von dort miteinander ins Hochgebirge, das Gipfel an Gipfel, Haupt an Haupt, ein geheimnisvoll leuchtender Silberkranz im fernen Süden stand.

Gerold erzählte ihm, daß sein Vater nun tatsächlich nach Dänemark und er selber in die Gegend von Lübeck übersiedeln werde und sie schon morgen abzureisen gedächten. In einem ländlichen Gasthaus hielten die Freunde Einkehr, und so lieb nun dieser letzte Besuch Gerolds gedacht war, merkte Ulrich doch, wie die Augen des jungen, schönheitssinnigen Edelmannes verlegen und mißbilligend auf seinen Werkhänden ruhten, auf den vom Feuer und kalten Wasser herrührenden Rissen, aus denen sich der Ruß auch mit Seife und Bürste nicht entfernen ließ. Er war zu stolz, sich zu entschuldigen, wurde aber über den Blicken Gerolds selber verlegen und fühlte, wie ihre Wege nicht nur nach den äußeren Schicksalen, sondern auch nach der seelischen Entwicklung auseinanderliefen: der seine hinein in die derbe Arbeit, derjenige Gerolds in die geistige Verfeinerung. Fast still legten sie den Weg ins Städtchen zurück.

So kam, von keinem gewollt, das Ende der schönen Knabenfreundschaft, und ein paar Briefe, die sie später noch wechselten, waren nur der Ausklang der gemeinsamen Jahre.


[39]

4

Ulrich vergaß nie, daß er Gymnasiast gewesen war, und die Mitgesellen, gegen die er allmählich freundlicher wurde, achteten seine Bildung, Thomas namentlich. Der nun zu einem alten Männchen verschrumpfte Hagestolz hatte in jungen Jahren so viel von deutschen und österreichischen Landen gesehen, daß er eine Menge Mundarten durcheinander sprach. Sogar hinüber nach England in die Fabrikstädte Manchester und Birmingham war er gekommen und zwei Jahre in Paris in einer Werkstatt für chirurgische Instrumente tätig gewesen. Wie wenn er dem Meisterssohn Trost bringen sollte, erzählte er ihm oft von den Aufenthalten in der weiten Welt und ließ dabei den halbverlorenen Blick in wiedererwachtem jugendlichem Glanz aufleuchten. Ulrich merkte aus den Reden des Alten wohl, daß es etwas ganz besonders Schönes um die Wanderjahre eines Handwerksburschen sein müsse. Auf die Zeit, da er selber Länder und Völker sehen würde, freute er sich tiefinnerlich, und der Gedanke daran leuchtete über dem Beruf, den er hatte unfreiwillig ergreifen müssen, wie ein Stern, der einen nächtlichen Wanderer hinein ins Morgenrot führt.

Der Vater war aus den Bergen zurückgekehrt, braungesengt von der Sonne und in guter Gesundheit. Am [40] Abend umjubelte ihn die Kinderschar, und am Morgen ging er kräftig ans Werk. In die Wiedersehensfreude aber mischten sich bald die sorgenvollen Gespräche der Eltern, wie das Geld, das der Genesungsaufenthalt gekostet hatte, ersetzt und auf Martini der Zins für eine Schuld bezahlt werden solle, die von altersher auf dem Haus lastete.

In großer Verlegenheit richtete der Vater einen Brief an Hans Bütschi, einen durch eine Fuhrhalterei reich gewordenen Verwandten in Zürich, und betraute den Sohn mit der Aufgabe, ihm das Darlehensgesuch zu überbringen.

Für Ulrich ein saurer Gang durch den trüben Vorwintermorgen! Doch nahm ihn der derbe Fuhrhalter freundlich auf, gab ihm, nachdem er den Brief durchgelesen hatte, ohne Zögern den gewünschten Betrag, sagte ihm einiges Artige über seinen Wuchs und seine Erscheinung, zeigte ihm den Stall voll starker Zugpferde und hielt ihn zum Mittagessen fest. Ulrich wurde um ihn heimisch und freute sich schon, seines heiklen Auftrages so leicht ledig geworden zu sein. Bei Tisch aber machte die sonst ansprechende Frau, die von dem Darlehen erfahren haben mochte, ein böses Gesicht. Vielleicht glaubte der Mann ihr ein Zugeständnis schuldig zu sein, denn er wandte nun das Blatt und führte anzügliche Redensarten über den Meister Martin. Im Grund sei es doch bedenklich, wenn ein Handwerker in den Vierzigen wegen eines Zinses noch das Entgegenkommen anderer bedürfe. Wiewohl er ihn als geschickten und fleißigen Mann gelten lasse, trage Vetter Martin doch Scheuleder neben den [41] Augen. Wäre Ulrichs Vater wirklich klug, hätte er sein Geschäft schon vor zwanzig Jahren von Eglisau nach Zürich verlegt. Da gediehen jetzt in Martins Beruf Leute von jenseits der Grenze prächtig und schlügen ihn mit minderer, aber auf den Schein geschaffener Ware auf allen Märkten.

Ulrich saß wie auf glühenden Kohlen. Trotz seinem Hunger würgte er die guten Bissen hinunter, und am liebsten hätte er dem Verwandten das Geld zurückgegeben; aber er dachte an die Not der Eltern und schwieg in tiefer Beklemmung.

»Dein Vater hat halt auch schon bei seiner Heirat einen Fehler gemacht,« fuhr Bütschi fort. »Ein Geschäftsmann kann nicht einfach sagen: Die gefällt mir! Er muß auf ein Weib sehen, das einen Einsatz in den Betrieb bringt. Was hat aber deine Mutter beigestoßen? – Sei du einmal gescheiter, Uli!«

Da stürzten dem starken Jungen plötzlich die Tränen hervor. Das Eßgeschirr von sich abstoßend, erwiderte er mit leidenschaftlicher Glut: »Nein, auf meine Mutter lasse ich nichts kommen. Auch der Vater nicht. Wißt ihr, was er von der Mutter spricht? Wenn von Eglisau den Rhein hinunter bis nach Basel ein schönes Mädchen neben dem andern stände und er könnte sich aus ihnen sein Weib wählen, so würde er doch nicht rasten und nicht ruhen, bis er aus den Tausenden heraus wieder sein schwarzhaariges treues Bethli gefunden hätte. So hat mein Vater die Mutter lieb, und er hat Recht: er hätte auf Erden kein besseres Weib finden können!«

Die Frau des Fuhrhalters sah ihren Gast, der seine [42] Eltern so männiglich verteidigte, groß an. Er senkte aber den Kopf nicht. Während auf seinen Wangen zwei klare Tropfen perlten, hielten seine treuherzigen blauen Augen den ihrigen Stand, sie wandte den Blick ihrem Manne zu und sagte mit hochrotem Gesicht: »Der Uli gefällt mir!« Bütschi lenkte nun auch ein. Was er gesprochen habe, sei nicht bös gemeint, sondern nur eine Lebensbetrachtung, die ihm unglücklicherweise von selber gekommen sei, als er von der Not des ihm sonst lieben Vetters gehört habe.

Umsonst aber versuchte das Ehepaar, Ulrich wieder in eine gute Stimmung zu bringen; den weiten Weg vorschützend, drängte er zum Aufbruch. Die Fuhrhaltersfrau, die jetzt eine große Zuneigung für ihn bekundete, zwang ihm noch ein mit viel Fleisch besetztes Schinkenbein und einen gewaltigen Bissen Brot als Zehrung auf. Als ihn aber die Verwandten unter der Haustür mit vielen Grüßen an die Eltern verabschiedet hatten, warf er Bein und Brot dem großen Hofhunde hin, der vor dem Pferdestall im Stroh lag. So wütete die Empörung über die den Eltern zugefügte Schmach in seiner jungen Seele.

Er schlug nicht gleich den Heimweg ein, sondern besah sich die Stadt, in der er schon als ganz kleiner Bub einmal gewesen war und seither nicht wieder. Ihre lebensvollen Bilder beruhigten ihn, mit bereitem Herzen nahm er ihre Eindrücke in sich auf. Unter den Bögen beim Rathaus fand er sich vor einem schönen Messer- und Instrumentenladen. Da suchte er zu erfahren, ob die Waren besser seien als die seines Vaters. Auf Ehre, [43] sie waren schlechter gearbeitet! Aber vielleicht hatte der Fuhrhalter doch Recht, es einen Fehler des Vaters zu nennen, daß er aus lauter Heimatliebe mit seinem Geschäft in dem kleinen Städtchen am Rhein geblieben sei. Der Gedanke kam ihm zwar wie eine Versündigung am Elternhaus vor, aber er verließ ihn nicht wieder.

Zürcher Kantonsschüler mit bunten Kappen gingen an ihm vorbei. Nein, nicht nach ihnen spähen! Wozu das Leid um die Schule neu erwachen lassen? Sie mußte ja ein begrabener Traum bleiben.

Die Stadt regte ihn so an, daß er an den Heimweg erst dachte, als ihn die einfallende Abendkälte und die rötlich aufflammenden Lichter dazu vermahnten.

Schon war er über den nächsten Hügel gelaufen. Da pustete aus dem Tunnel hervor ein Eisenbahnzug, die Lokomotive mit glühenden Augen, die Wagen mit hellerleuchteten Fenstern. Er begann sich den wunderbaren Bau einer Lokomotive zu überlegen. Was war Stephenson für ein Genie gewesen! Er kam sich selber lächerlich vor, daß er sich an die unendlich schwerere Erfinderaufgabe einer Flugmaschine herangewagt hatte, an die geheimnisvollen Flügel, nach denen sich die Menschheit seit Jahrtausenden umsonst sehnte. Mit Recht lag noch der stille Spott der Heimat auf ihm. Und doch! Nachdem sich ihm der Weg eines Altertumsforschers verschlossen hatte, winkten ihm, dem jungen Mechaniker, vielleicht in der Linie des Erfindertalentes Erfolg, Ehren und Geld.

Geld! – Unter dem Eindruck der Rede Bütschis, der über den Vater geringschätzig herfahren zu dürfen geglaubt [44] hatte, schrie sein Herz zum erstenmal nach dem harten, klingenden Metall. Das Geld besaß ja die unheimliche Macht, seinen Besitzer vor den Ungerechtigkeiten und Bosheiten der Welt zu schützen, ihm vor ihr Ansehen und Ehre zu geben, selbst wenn er sie wesenshalber nicht verdiente.

Je tiefer er in die Nebel und in die Stille der Winternacht hineinschritt, desto stärker erhitzte sich die Einbildungskraft des einsamen Wanderers. In der Überspannung seiner Seele sah er nicht einmal, wie in den ländlichen Wohnungen allmählich die Lichter erloschen. Im Schweiße des Angesichts lief er. Seine Gedanken waren bei dem Wort des Fuhrhalters: »Sei du einmal gescheiter, Uli!« Zum erstenmal in seinem Leben dachte er mit bewegter Seele über die Liebe, das Heiraten und die Ehe nach. Je mehr er darüber grübelte, desto geheimnisvoller, wunderbarer und heiliger erschien ihm die von der Natur gesetzte Bestimmung des Menschen, daß er in zarter Sehnsucht sich eine Gesellin suchen muß und nicht Ruhe und Frieden findet, bis er mit derjenigen herzeinig ist, nach der seine Sinne wund und selig trachten. Nein, das war gewiß nicht der Zweck der Liebe, daß der Mann durch das Weib ein Betriebskapital in das Geschäft erhalte; der Zweck lag unendlich tiefer, so tief verborgen, daß kein menschliches Denken hinabzudringen vermochte in den Willen der Natur. Sie hatte wohl die Liebe geschaffen, damit immer diejenigen Menschen zusammenkommen, die miteinander schöne, edle und begabte Kinder erschaffen können, und damit sich das Menschengeschlecht vervollkommne, bis auf [45] Erden nur noch herrliche Geschöpfe wandeln, jedes verschieden vom andern, jedes aber auch Gottes Ebenbild. Der Gedanke gefiel ihm, und wie eine lichte Wahrheit umstrahlte es seine Seele: Die Liebe steht höher als Geld und kann mit ihm nicht gemessen werden; und wer sie dennoch mit Geld messen will, wie der Fuhrhalter, der ist wie ein Gottesleugner und tritt das Heiligste des Lebens mit Füßen.

Nein, gescheiter als sein Vater wollte er in Liebesdingen nicht sein, sondern sich ein Weib wählen, daß auch er einmal freudig bekennen könne: »Und wenn die schönsten Jungfrauen von Eglisau bis Basel in einer Reihe ständen, so rastete und ruhte ich nicht, bis ich aus den Tausenden wieder mein Bethli fände.« Eine weite Sehnsucht erfüllte seine Brust, und prüfend dachte er an alle Mädchen, die er kannte. An der stets stolzer werdenden Monika Tappoli wollte er in seinen Gedanken vorübergehen. Sie stand aber wie lebendig vor seinen Augen: mit fast überschlankem Leib, erdbeerfrischen Lippen, zwei Nasenflügeln, denen man immer ansah, was sie dachte, und lachenden, dunklen Augen. In ihre krausen Locken brauchte sie nur eine Mohnblume zu stecken, dann war sie hold wie das Märchen aus dem Wald.

Als er sich einmal den Schweiß aus der Stirne wischte, fiel es ihm ein, daß er nach den Stunden, die er gegangen war, daheim sein mußte, und merkte, daß er vor lauter Lebensüberlegung durch den Nebel in die Irre gegangen war. Er lief bis in das nächste Dorf. So weit er die Umrisse zu erkennen vermochte, kam es ihm bekannt vor: [46] vielleicht hatte er es einmal auf einem seiner Knabenstreifzüge gesehen; er wußte aber doch nicht, wo er war. Sich verschnaufend spähte er die Straße auf und nieder, aber niemand schritt daher. Schweren Herzens entschloß er sich, durch Rufe die Leute in einem der Häuser zu wecken.

»Was steht denn zu nachtschlafender Zeit noch für ein Maulaffe unten?« rief der Bauer, von dem er nur die weiße Zipfelmütze sah, ärgerlich aus dem obern Stockwerk hinab. »Ich bin verirrt und möchte bloß gerne wissen, wie das Dorf heißt,« gab Ulrich zurück. »Glattfelden, du Narr, schon mehr als tausend Jahre!« rief der Bauer hinab und schlug das Fenster zu.

Doch der verspätete Wanderer wußte jetzt Bescheid. Quer über den Berg, und in einer Stunde war er daheim. Als seine erschöpften Schritte durch die hohle Brücke hallten, schlug es auf der Kirche Mitternacht. Ihm aber war, er habe auf seinem einsamen Heimweg im Nebel ein Jahr durchlebt, sehe klarer in sein Schicksal und fasse mit seinen Füßen erst recht festen Grund in der Erde, über die er nun doch bald fünfzehn Jahre gewandelt war.

In der Stube der Eltern brannte noch Licht. Sehnsüchtig erwarteten sie ihn und hatten keine Ahnung, was für wunderschöne, hohe und tiefe Gedanken ihm Weggesellschaft geleistet hatten. Von den abschätzigen Äußerungen des Verwandten über sie beide verriet er ihnen kein Wort, sondern überließ sie der reinen Freude, daß sie für kurze Zeit einer drückenden Sorge freigeworden waren.

[47]

Im Winter konnten die Eltern Hans Bütschi das Geld zurückbezahlen. Der Vater brachte es ihm selber in die Stadt. In der Meinung, Ulrich habe daheim seine anzüglichen Redensarten verraten, entschuldigte sich der Fuhrhalter bei Meister Martin wegen seiner damaligen üblen Laune. So kam der Vater hinter das Geheimnis, das Ulrich für sich hatte behalten wollen. Als er zurückgekehrt war, sprach er mit ihm darüber. »Vor allem bin ich froh, daß du der Mutter nichts von der Beleidigung verraten hast.« Und von der Stunde an schenkte er dem Jungen sein volles Vertrauen, behandelte ihn wie einen Erwachsenen, und wenn er in Stube oder Werkstatt etwas zu beraten hatte, duldete er es, daß der Sohn sein bescheidenes Wort in das der Eltern hineinwarf.


[48]

5

Schon war wieder ein Jahr vorübergegangen. An der Rheinhalde weinten die Schosse der frischgeschnittenen Reben und schwellten die Weidenkätzchen.

Da gehörte Ulrich Junghans zu den Armbrustschützen des Städtchens, einer Gesellschaft halbwüchsiger Jugend, die in der Sonntagsfrühe auf einer Wiese am Stromufer mit Bogen und Pfeil in eine Lehmscheibe schoß. Als das »Absenden« kam, das Preisschießen, wurde ihm die beste Gabe zuteil, das von Pfarrer Tappoli gestiftete, schön eingebundene Buch »Lienhard und Gertrud«. Die es ihm vom Gabentisch reichte, war Nick, und ein leises, wohlgefälliges Lächeln spielte ihr dabei um den Mund. Auch wurde er von der Gesellschaft, unter Übergehung einiger reicher Bauernburschen, zum Säckelmeister gewählt. Das Amt war eine jugendliche Ehre, an der sich nicht am wenigsten die Eltern erfreuten. Sie bewies, daß ihm das Städtchen den törichten Flug in die Brombeerstauden verziehen hatte und Zutrauen in seine Redlichkeit setzte.

Noch schöner fügte es sich im Winter, am Bächtoldstag, dem zweiten Januar, an dessen Abend sich die Jungen und Mädchen je nach Neigung und Freundschaft zusammenfinden und einander bei allerlei Spielen die ersten Zeichen der Neigung geben. In der alten geräumigen [49] Stube des Kirchenpflegers und Ehegaumers Jakob Angst waren er und Nick mit einem Dutzend anderer jungen Leute zusammen und saßen eben bei dem Pfänderspiel »Fischlein in den Teich«. Ob es nun aus Zerstreutheit, Übermut oder Absicht geschah, – die sonst hurtige Monika ließ sich von allen am häufigsten fangen und wurde Ulrich, der den Schlingenkünsten des Fischers entging, einen Kuß schuldig. Rot und verlegen wandte sie sich zu ihm hin: »Wenn es wenigstens nicht in der Stube sein müßte!« »Dann gehen wir in den Flur hinaus,« erwiderte er; »aber den Kuß will ich.«

Sie seufzte, folgte ihm unter dem Lachen der andern, und kaum war die Türe hinter ihr zu, küßte sie ihn voll lieblicher Verwirrung, doch mit zusammengepreßten Lippen und flüchtig. Vor Enttäuschung zog er das Gesicht finster. Da stotterte sie: »Uli, ich will ehrlich sein, aber mach die Augen zu.« Er gehorchte, und sie gab ihm mit warmem Mund einen treuherzigen, süßen Kuß. Nun wußte er nicht, wie es kam, er erwiderte ihn und spürte, wie ihre Lippen dabei einen Herzschlag lang leisdurstig an den seinen hingen. »Komm,« drängte sie und mit hochroten Gesichtern traten sie wieder in die Stube. Dann und wann aber glitten ihre Augen noch mit vergnügtem Blinzeln zu ihm hinüber.

Er wußte kaum mehr, was um ihn vorging. Nachdem Nick durch die Magd des Pfarrhauses abgeholt worden war, ging auch er heim, schloß vor Seligkeit kein Auge und spürte immer noch ihren Mund auf dem seinen. Das wonnige Gefühl verließ ihn den ganzen Winter nicht wieder. Eltern und Geschwister wunderten sich [50] über die Güte und Verträglichkeit des Jungen, der vorher oft ein schwer zu behandelnder Groller gewesen war. Besonders lieb begegnete er der Schwester Marie. Vielleicht weil ihm das Herz überfloß, vielleicht weil er hoffte, daß sie ihm eine Brücke hinüber zu Nick schlage, vertraute er ihr sein Erlebnis und seine Liebe.

Sie aber antwortete ihm: »Uli, du tust mir leid. Ein Kuß aus einem Pfänderspiel verpflichtet zu nichts, und ich verwundere mich deines Mutes, die Gedanken zu Nick zu erheben. Wohl gebärden sich der Pfarrer und seine Familie gegen uns, als gehörten sie völlig zum Städtchen, heimlich sind sie aber doch stolze Zürcher Bürger, die sich für besser halten als das Landvolk. So liegt es ihnen nun einmal im Blut. Noch ein Jahr, dann kommt Monika in eine welsche Schule, nachher als Fräulein zu Verwandten in Zürich, ins Theater und auf Bälle. Da wird sich der Zünfter oder der junge Pfarrer, der sie heimführt, schon finden. Die Gedanken von Nick weg, Uli, damit es dir nicht das Herz bricht, wenn es kommt, wie ich dir darlege.«

So Marie, und keiner glaubte er mehr als ihr. Die Schwester war selber ein feines, gescheites Mädchen und besaß die gleiche schlicht überzeugende Art wie die Mutter. Er ließ den Kopf hängen.

Das Leben hatte aber für ihn stets wieder einen Trost. Und jetzt war er schon Konfirmand. Ein strenggläubiger Pfarrer hätte wohl keine Freude an ihm gehabt, denn wie von selber war er durch sein religiöses Nachdenken in mancherlei Widersprüche hineingeraten. Zum Glück für den Zweifler aber war Tappoli einer der [51] milden Pfarrherrn, die den Nachdruck weniger auf die dogmatischen Lehrsätze als auf den dichterischen und sittlichen Feingehalt des Christentums legen. Da vermochte ihm auch Ulrich zu folgen. Als Tappoli im Laufe des Unterrichts auf seine Lieblingsgestalt in der Entwicklung der christlichen Religion, den Apostel Paulus, zu sprechen kam und dem verdorbenen, schlemmenden Rom die Märtyrerkraft des Urchristentums gegenüberstellte, erlebte Ulrich bei ihm wahre Weihestunden innerer Erhöhung. Es empörte ihn, daß es unter den Mitkonfirmanden einige Lümmel gab, die während der Stunden Tappolis, der in der Zucht kein Meister war, zotige Verse unter den Bänken umherboten. Mit der Kraft des jungen Schmieds schuf er aus eigener Machtvollkommenheit Ruhe in den Reihen, und Tappoli spürte seinen guten Einfluß auf die übrigen. Als sie sich einmal unter der Kirchentür begegneten, gab er ihm einen dankbaren Blick. »Es ist doch jammerschad', daß du nicht deinen Gymnasialstudien hast leben können, ich hätt's dir so sehr gegönnt.« Da schlug das Herz Ulis in Feuer und Flammen für den Pfarrer, und seine Gedanken spielten aufs neue um Nick.

Nun war er feierlich in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen.

Er trat aus der Bogenschützengesellschaft aus und wurde Mitglied des Rhein-Fahrvereins, der unter der Führung militärisch ausgebildeter Pontoniere die Lust und Freude an der Rheinschiffahrt pflegte. Jeden Abend probte er mit den andern, meist gesundkräftigem Bauernblut, in den langen, schmalen Kähnen die Fahrt über die [52] Klippen, Sturzwellen und Wirbel des Stromes, der gerade ober- und unterhalb der Brücke aufgeregt über etliche nur beim kleinsten Wasserstand im Winter dem Auge sichtbare Querriffe dahinfloß. Es war eine Unterhaltung des Städtchens, fast die einzige, daß Jung und Alt, namentlich aber die weibliche Jugend, aus den Fenstern der Brücke oder den grünumrankten Lauben der Häuser den Spielen der braunen Gesellen in lebhafter Neugier zuschauten. Leise oder laute Ausrufe der Angst, des Beifalls und der Bewunderung begleiteten ihre Geschicklichkeit und Kühnheit. Denn ungefährlich waren die Übungen nicht, und in traurigem Gedenken stand, daß die »krumme Röhre«, ein starker Wirbel unterhalb der Brücke, einmal drei Jünglinge verschlungen hatte, einen Gekenterten und zwei, die ihm zur Rettung in die Tiefe nachsprangen. Seither waren die Wasserratten etwas vorsichtiger, aber im Übermut der Jugend kam es doch hie und da vor, daß sich einer über die Kante des Bootes schleudern ließ und in den Fluten versank. Atemlose Spannung! Dann tauchte er ein gut Stück weiter unten im Strom wieder auf, schüttelte sich und schwamm ans Ufer. So auch Ulrich. Aus einem Wirbel emporschnellend landete er unmittelbar vor Monika, die mit ein paar Gespielinnen aus den Fenstern des Pfarrhauses auf die Übenden schaute. Ihre dunkeln Sterne blitzten ihn an, und ihr kleiner, roter Mund schalt: »Das tust du nicht wieder, Uli! Herrgott, kannst du einen in Schrecken jagen.« Er lachte: »Und wenn mich jetzt der Rhein behalten hätte? Was dann?« Da rief sie unwillig: »Geh, du Häßlicher!«

[53]

Nun war er selig überzeugt, daß sie ihn liebe. Mit den andern trieb er die Schiffe zum Ufer, im weichen Mondlicht der Sommernacht ruhten die Burschen, in den angebundenen Weidlingen sitzend, von der Arbeit aus, und mit doppelter Lust warf er seine metallene, bildsame Stimme in ihre Heimatlieder und ließ sie über den beglänzten Strom und die dunkelragenden Umrisse des Städtchens klingen.

Stets hatte er bei seiner Arbeit etwas Schönes zu denken, jeden Tag war er seines Lebens froh. Um so mehr, da es auch den Eltern gut ging. Friedrich, der Älteste, hatte die Lehrjahre bei Meister Benninger in Winterthur hinter sich und stand als gutbezahlter, geachteter Arbeiter in einem Atelier in Zürich. Alle vierzehn Tage kam er, ein hoch- und straffgewachsener junger Mann mit blauen Augen und blondem Schnurrbart, zu Fuß aus der Stadt ins Elternhaus auf Besuch und blieb vom Samstag spät bis zum Montag im Morgengrauen daheim. Jedesmal brachte er dem Vater den Rest des Zahltages, der ihm über das Kostgeld hinaus geblieben war, wie eine selbstverständliche Schuld. So faßte auch Meister Martin die Beiträge Friedrichs zu den Kosten des Haushaltes auf, aber nicht knauserig schob er ihm jedesmal ein hübsches Sackgeld zurück und gab auch Uli das übliche Zweifrankenstück.

Die Sonntagsmorgenspaziergänge mit dem ältern Bruder, der ebenso klar, doch nüchterner als er in die Welt blickte, waren für ihn stets ein schönes Erlebnis, ebenso der Mittagstisch, den die stille Mutter zu Ehren der tapfern Söhne merkbar reichlicher als früher deckte. [54] Am Nachmittag liebte es Meister Martin, mit ihnen unter die Leute zu gehen und in einer Gartenwirtschaft Einkehr zu halten. Friedrich wußte, daß er die bescheidene Zeche zu bezahlen hatte; nicht etwa, weil der Vater geizig gewesen wäre, sondern weil es ihm wie eine freundliche Lebensquittung erschien, daß er sich schon von einem seiner Söhne konnte bewirten lassen. Am Abend setzten sich Vater und Mutter unter die achtköpfige blühende Kinderschar, die blonden und schwarzen, sie stimmte Lied um Lied an, und wenn die hellen Gesänge verklungen waren, legte Meister Martin den Arm über die Schulter der kleinen Frau mit den glücklichen, schweigsamen Augen und sagte: »Man kann weit laufen, bis man eine so zufriedene und einträchtige Familie findet. Wir haben es uns aber auch sauer werden lassen.«

Die Eltern rühmten ihr Glück nie vor anderen, sie hätten befürchtet, es damit zu verscherzen; aber im stillen flüsterten sie heimlich von Wohlfahrt und Gedeihen.

Da brachte der Herbst eine unerwartete Veränderung in die Familie. Durch das Städtchen schwälte der Duft des jungen Weines, Fuhrwerk um Fuhrwerk kam von Schaffhausen, Hallau und dem Rafzerfeld her und führte in grünbemalten Fässern, aus deren Spundloch Georginen- und Asternsträuße ragten, den Sauser durch die Brücke. Tag und Nacht hörte das Pferdegeklingel nicht auf, und auch das Städtchen wimmelte von Käufern, meist Gastwirten aus Zürich, die seine wohlgeratene Traubenernte begehrten.

Die Geldkatze aus Otterfell über den Leib, trat einer [55] auch zu Meister Martin herein. »Ich bin Jakob Weriker, der Meisenwirt von Zürich, und hätte mit Euch, wenn Ihr wollt, zwei Geschäfte. Das eine betrifft die paar Saum 1 Wein, die Ihr zu verkaufen habt, sie würden mir zur Vervollständigung einer Ladung dienen, das andere Euere älteste Tochter.« Meister Martin zog das Käppchen und machte ein bedenkliches Gesicht, nicht wegen des Weines, den zu veräußern er bereit war, sondern wegen Marie. »Ja, was soll's denn mit dem Kind?« fragte er. »Darf ich die Tochter sehen?« erwiderte Weriker. »Ihr werdet vom Zunfthaus zur Meise in Zürich noch nie etwas Nachteiliges gehört haben.«

1 Altes Maß, anderthalb Hektoliter.

»Nein, gewiß nicht,« versetzte Junghans, »ich weiß, daß es die Einkehr der Ratsherren und der vornehmen Leute in der Stadt ist.«

»Also,« lächelte der Wirt.

Sein Auftreten gefiel Meister Martin, es spiegelte sich darin Wohlhabenheit, Selbstbewußtsein, aber auch ehrbare Zuverlässigkeit. Neugierig, was nun folgen würde, rief Junghans Marie herbei.

Sie kam, grüßte den Wirt anstandsvoll und so bescheiden, als hätte sie noch nie in einem Spiegel gesehen, wie ihr das Gesicht hübsch aus den glatten, schlichtgescheitelten Haaren hervorleuchtete. Die braunen Rehaugen fragten ängstlich und neugierig, was denn wohl der Fremde von ihr wolle. Er fragte sie manches aus ihrem jungen Leben, und sie gab kurze, klare Antworten. Weriker fand ein wachsendes Gefallen an ihrer ebenso [56] gescheiten wie treuherzigen Art. Auf seinen Wunsch trat auch die Mutter herzu, und in großer Spannung saß das Ehepaar dem stattlichen Zunftwirt gegenüber.

»Ja, lieber Meister und Frau,« hob er an, »Eure Marie hätte ich gern als Aufwärterin in die Meise.«

»Niemals!« fuhr Meister Martin empor. »Niemals!« wiederholte Frau Elisabeth wie ein Echo. »Nein, wir geben kein Kind in ein Gasthaus. Bemüht Euch nicht weiter.« In ihren Gesichtern stand die Entrüstung über das Ansinnen.

»Ich war auf diese Ablehnung gefaßt,« erwiderte Weriker unbeirrt. »Herr Pfarrer Tappoli, der nie nach Zürich kommt, ohne in die Meise zu schauen, hat mir zuerst den Namen Eurer Tochter genannt, aber mich auch auf Euren Widerstand vorbereitet. Doch wollte ich das Mädchen einmal sehen. Nun hat ihr Eindruck meine Erwartung übertroffen. Eure Marie ist gerade das, was ich bedarf: ein gesundes, rechtschaffenes Wesen, rasch von Verständnis, anmutig, doch nicht auffallend von Gesicht. Das brave, einsichtige Landmädchen, das in ein Zunfthaus taugt.«

»Wenn wir aber nicht wollen!« grollte Meister Martin. »Zu jedem Handel müssen doch zwei sein.« »Darüber jetzt ein Wort,« versetzte Weriker ruhig und zäh. »Es gibt genug reiche Bauern und Müller, die mir noch ein stattliches Geld zahlen würden, wenn ich ihre Töchter nur in meine Stuben aufnähme, aber daraus habe ich mir nie ein Geschäft gemacht, sondern stets die Mädchen gewählt, wie sie sich für mein Haus eignen. Warum würden Bauern und Müller noch gerne Geld bezahlen? [57] Meine Frau und ich halten unsere Aufwärterinnen wie eigene Töchter. Im Umgang mit unsern Gästen erlernen sie Lebensart, erwerben sich gute Formen und hören auch manches Ernste, was sie bildet. Liebeleien gestatten wir aber nur, wenn wir überzeugt sind, das Mädchen finde dabei sein Glück. Das ist der alte Ruf der Meise. In den vielen Jahren, da ich auf der Zunft sitze, ist noch jede zu einer guten Heirat gelangt und hat, wenn sie aus dem Haus trat, bereits eine schöne Aussteuer besessen. Die besorgen unsere Stammgäste, die grundsätzlich kein Trinkgeld geben, statt dessen aber für die aufwartende Tochter ein Sparkassenheft führen. Und so sage ich bloß: Stellt Euch der Marie nicht in den Weg für ihr künftiges Glück, denkt an die reichen Bauern.«

Junghans und seine Frau blickten sich fragend an. Der Vorschlag Werikers ließ sich doch hören.

»Also überlegt's Euch, Meister und Frau,« versetzte er selbstsicher. »Ich fahre jetzt nach Schaffhausen und Hallau, dann komme ich wieder und bitte um Eure Antwort. Die Angelegenheit drängt etwas, die Tochter, die durch Marie ersetzt werden soll, will heim, sie ist mit einem angesehenen Handelsmann verlobt.« Als er gegangen war, setzte sich das Ehepaar ratlos an den Tisch, Meister Martin das Kinn in der Hand. Marie aber glänzten die Augen auf und blühten die Wangen. »Ja, Vater, ja, Mutter, ich will! Mir schien es schon lange ein Unrecht, daß ich Euch nicht verdienen helfe. Quält Euch nicht mit Befürchtungen. Ich weiß, was ich Euch schuldig bin.« Und mehr als ihr Mund sprach ihr braunes, [58] lieblich ernstes Gesicht, das leichtsinniger Gedanken nicht fähig war.

Meister Martin besprach sich mit Pfarrer Tappoli und nahm den Weg nach der Stadt unter die Füße. Als er am Abend todmüde heimkam, erzählte er: »Für Marie und uns ist wirklich das Glück zum Dach hereingefallen, daß sie auf dem Zunfthaus dienen darf.«

Sie fand dort ihr Brot.

Ulrich aber sah in der Ferne schon die Zeit seiner Wanderschaft vor sich und freute sich darauf, ohne recht zu wissen warum. Er durchstreifte, allerdings nur auf der Karte, die Länder Europas, Osten und Westen, Norden und Süden, fuhr bald den Rhein oder die Donau hinab, oder zog über den Gotthard nach Italien, oder über den Jura nach Frankreich hinein. Oft sprach der Vater mit ihm andeutungsweise, dann offener und klarer über die sittlichen Gefahren der Wanderschaft, über Weggefährten, Herbergen, Gesellenleben und die Versuchungen durch junges Weibsvolk. Obgleich sich Ulrich für einen gescheiten jungen Mann hielt, gestand er sich, daß er doch eigentlich von den verführerischen und schlechten Dingen draußen in der Welt noch wenig wisse.

Das bekräftigte ihm auch Thomas, der alle deutschen Mundarten durcheinander sprach. »Das Schlechtest aber, was Gott erschaffen hat, das soan's schon d'Weibsleut. Himmi Sakrament, Donnerwetter! Läus' haben ist nichts, aber so' nen weibischen Anhang, den man nimmi losbringt. Schön und liab soans z'erst, aber nahi? – Wenn du der Simson wärst, du kimmst net dagegen an. [59] Die luderige Delila hat dir halt's Haar abg'schnitten, wie's schon in der Bibel steht, die Katz hat si an dei Buckel krallt, und du kannst kratzen und schreien, es hilft dir nichts. Und du bist grad einer, Uli, auf den's Weibsvolk losgeht wie d'Schnackenmucken auf das frische Blut.«

Den jungen künftigen Wandersmann überlief eine Gänsehaut. Wenn er sich aber ruhiger Überlegung hingab, war ihm, er brauche nicht vor den Künsten der Weibsbilder zu bangen. Versuchte ihn eine, so würde er an Nick Tappoli denken, und die andere könnte mit ihrem Zauber gehen.


[60]

6

Im Pfarrhaus aber war tiefe Sorge eingekehrt.

Im Vorfrühling hatte Tappoli seinen Amtsbruder in Rafz, der einer auswärtigen Beerdigung beiwohnte, vertreten müssen. Regen, Schnee, Graupeln und jagender Sturm überraschten ihn auf dem Weg nach dem entlegenen Dorf, in durchnäßten Kleidern predigte er und kam schlotternd und fiebernd wieder heim. Lungenentzündung! Nach einigen Wochen gab sie sich. Da fuhr der kaum Genesene trotz der Bitten der Seinen zum Sechseläuten nach Zürich, das ihm von jeher am Herzen gelegen hatte. Dort tafelte er, die rote türkische Mütze auf dem Kopf, mit seiner lieben Kämbelzunft 2 bis in den Morgen hinein und hielt ihr eine ausgezeichnet schöne Rede, kam aber wieder schwer erkrankt in das Städtchen zurück. Als er der Familie Junghans einen Gruß von Marie ausrichten wollte, der es gut gehe, hatte er einen Ohnmachtsanfall. Wohl erholte er sich davon, mußte aber einen Vikar bestellen.

2 Zunft zum Kamel, ursprünglich Handelszunft.

Nur bei einer Hochzeit im Maien waltete er noch einmal selber des Amtes. Der Bräutigam war Doktor Felix Hartmann von Eglisau, der es in Magdeburg als Arzt zu großem Ansehen gebracht hatte, die Braut eine geborene polnische Gräfin Livia Schimanoska.

[61]

Da es sich um so vornehme Gäste handelte, die zudem im Pfarrhaus einen Imbiß einnehmen sollten, war auch Nick mit heißer Seele bei der Begebenheit. Schon festlich geschmückt drängten sie und Julie die Gesichter an die Fenster, um die Wagen aus der Brücke anfahren und das Paar die mit Teppichen belegte Treppe hinauf in die reich mit Blumen geschmückte Kirche gehen zu sehen. Besonders auf die junge Frau setzten sie große Erwartungen, auf die Gräfin, die einen Fürsten hätte heiraten sollen, aber mit dem Arzt entflohen war und nun in der Fremde, verlassen von den Ihrigen, den großen Schritt des Lebens unternahm.

Zu ihrem Leidwesen dauerte der Hochzeitsbesuch im Pfarrhaus nur eine Stunde. Dann erhoben sich die Gäste und warfen sich in Reisekleider. Nick aber war es, an diesem Tag habe sie die Romantik, das Märchen des Lebens berührt, und lange noch sannen und spannen ihre Gedanken um die schöne Begebenheit. Ein paar Jährchen noch, dann würde auch sie den Myrtenkranz und den zarten Schleier tragen und dem größten Geheimnis des Lebens entgegengehen. Sie durchmusterte die Reihe der jungen Männer, die ihr gefielen, und stieß auf die Gestalt des Messerschmiedes Ulrich Junghans; ihre Sinne aber standen auf einem Mann, der geachtet in der breiten Öffentlichkeit wirkte, und ihre Hoffnungen auf das Glück der Welt waren nicht klein.

Zunächst jedoch hauste im Pfarrhof die Sorge. Der Vater wurde stets kränker und brachte den Vikar nicht mehr los, der ihm viel Verdruß bereitete.

Ferdinand Bürsteler war ein sonderbarer und unfertiger [62] Heiliger, seine fleischige Gestalt erinnerte jedermann daran, daß er der Sohn eines reichen Metzgermeisters vom Lande war, und wie sehr er sich bestrebte, geistliche Würde zu zeigen, blieb etwas Unstimmiges in seiner Kleidung und seinem Benehmen gegen die Menschen. Er suchte sich durch einen freundlichen Verkehr mit der Jungmannschaft des Städtchens beliebt zu machen und gab sich so volkstümlich wie sie. Sie aber verlor dadurch den wünschbaren Abstand gegen ihn, ja die Frechern stellten sich mit ihm ohne weiteres auf das vertrauliche Du. Er spürte zwar das Ungehörige darin, war aber in seiner bodenlosen Gutmütigkeit nicht wehrhaft genug, sie von sich abzuschütteln. Besser als unter dem richtigen Namen kannte man ihn im Städtchen unter dem Spottwort »Ferdi Wiederum«, denn er pflegte in seinen Predigten die Pausen des Gedächtnisses mit der Wendung »Wiederum sage ich euch« auszufüllen, im nämlichen Gottesdienst ein dutzendmal. Überhaupt die Predigten! Mit einförmiger, dröhnender Stimme trug er sie vor, legte das Pathos dahin, wo es nicht hingehörte, und schlug mit der Faust dann und wann auf das Kanzelbrett. Jedermann im Städtchen lachte über den derben »Ferdi«. Aus dem Gelächter wurde aber eine schlecht versteckte Feindseligkeit, und würdige Männer sagten es ihm ins Gesicht, daß er gescheiter hinter die Fleischerbank seines Vaters als auf die Kanzel treten würde.

Die Not wegen des Vikars war im Pfarrhause groß, plötzlich wuchs sie zur Verzweiflung an.

Die Pfarrerin trat an das Lager ihres Mannes und [63] meldete ihm unsicher: »Draußen steht ein junges Paar und will deinen Segen erbitten – der Vikar und Julia!«

»Was sagst du?« fuhr der Abgezehrte empor, und seine Augen loderten mit letzter Kraft.

Sie erbleichte über seinen Zorn, nahm seine Hand und flüsterte: »Leider Gott, du Lieber, es muß sein. Sie lieben sich, – ich fürchte, ein Einspruch käme schon zu spät.«

»Das ist ja ein Nagel zu meinem Sarg!« ächzte er und sank trostlos auf das Lager zurück. »Zu spät!«

Tage vergingen. Ehe er das Paar zu sich herantreten ließ, mußte Bürsteler seinen Vater zu Hilfe rufen. Der dicke, gutmütige Metzgermeister kam mit reichen Geschenken für die Braut und die Schwiegermutter. Indem er die Bewegung des Geldzählens machte, sagte er, wenn Ferdinand sich nicht für das geistliche Amt eigne, so ständen ihm, dem einzigen Sohne, noch genug andere Wege offen, durch die Welt zu kommen. Er brachte zuerst die Pfarrerin auf seine Seite, und in einem Gefühl grenzenloser Demütigung gab der durch die Krankheit widerstandsunfähig gewordene Tappoli die öffentliche Verlobung zu.

Nun aber war er ein völlig gebrochener Mann. Umsonst suchte ihm die Gattin die Vorteile der Verbindung auseinanderzusetzen. »Nicht einmal eine Aussteuer beansprucht Vater Bürsteler, er schafft sie der Julia selber an. Das ist in unsern Verhältnissen eine große Wohltat.« Es war ein Wesenszug der stillen Frau, um deren Gesundheit es selber nicht am besten stand, daß sie nichts so sehr wie den Frieden des Hauses schätzte. Seinetwillen [64] wollte sie manchmal Dinge unter einen Hut bringen, die sich stets so fremd blieben wie der feine Pfarrer und der derbe Vikar. Sie suchte auch Nick mit der Verlobung zu versöhnen, aber das heftige Mädchen bebte vor Empörung. Die Geschenke des künftigen Schwagers wies sie mit verletzendem Stolz zurück und lebte nur noch ihrem sterbenden Vater.

»Jetzt halte du, Monika, den Namen der Tappoli höher in Ehren als deine Schwester, sonst wüßte ich selbst im Jenseits meines Leides kein Ende,« flüsterte er in einem seiner lichten Augenblicke.

»Ja, Vater – ja – ja – ja!« stammelte sie inbrünstig und umklammerte seine hager gewordenen Hände mit leidenschaftlicher Kraft.

Nach ein paar Tagen kam der Todeskampf über ihn.

Es war ein Sturm- und Schneetag, als man Pfarrer Tappoli beerdigte. Der unwillkommene Schwiegersohn hielt eine leidliche Rede auf ihn, dann stieg ein alter weißbärtiger Dekan auf die Kanzel und sprach besser.

Unter der Menge Leidtragender, der gesamten Gemeinde, die im Schneegestöber auf dem Kirchhof stand, befand sich auch Ulrich, der tief um seinen Religionslehrer trauerte. Seine Augen waren auf Monika gerichtet. Im langen, schwarzen Trauergewand erschien sie ihm noch schlanker als sonst, in ihrem Gesicht, das keine Farbe mehr hatte, stand ein tränenloser, wie zu Marmor erstarrter Schmerz, der neben dem heftigen Weinen und Schluchzen der übrigen Familienangehörigen erschütternd wirkte. Ulrich durfte in dieser leidvollen [65] Stunde nicht daran denken, daß er sie liebe, nur weinen hätte er mögen vor Mitleid mit ihr.

Ferdinand Bürsteler, der durch den Tod des Pfarrers vom Vikar zum Verweser vorgerückt war, namentlich aber seine Braut und die verwitwete Pfarrerin hofften, daß er zum ständigen Geistlichen des Städtchens ernannt werde und sie ungestört im lieben Haus bleiben dürften, durch das noch der feine Geist des Verstorbenen ging. Damit sich der Ruf Ferdinands im Städtchen bessere und die Bürger etwas Achtung vor ihm bekämen, nahmen ihn Braut und Mutter in eine strenge Erziehung. Sie kamen aber mit ihren wohlmeinenden Bestrebungen zu spät. Die Kirchenpflege richtete eine Zuschrift an ihn, sein Entlassungsgesuch, das er in Wahrheit gar nicht eingereicht hatte, sei genehmigt, und legte dazu ein Zeugnis über seine Tätigkeit im Städtchen, das nach dem Grundsatz gehalten war, man solle dem fliehenden Feind goldene Brücken bauen. Mochte eine andere Gemeinde sehen, wie sie mit ihm fertig würde.

Als er sich vom ersten Staunen darüber erholt hatte, nahm er es nicht mehr schwer und begriff nicht, daß Julia und die Mutter heiße Tränen über das höhnische Benehmen der Pflege vergossen, merkte aber, daß die blasse Nick über diese Wendung hochaufatmete. Am liebsten hätte er die junge, feine Schwägerin auf den Händen getragen, aber da gab es nichts zu drehen und zu deuten, sie war, wenn auch verhalten, seine unversöhnliche Feindin.

Eine Kalesche führte Bürsteler mit seiner Braut aus dem Städtchen ins liebliche Oberland, wo sein Vater [66] wohnte, und hinter ihnen öffnete Monika die Fenster des Hauses, um die Vorfrühlingswinde durch die Räume strömen zu lassen.

»Du bist boshaft,« schalt die Mutter. »Alle Achtung vor Ferdi! Er hat ganz im stillen die vielen alten Bücherrechnungen des Vaters bezahlt. Woher hätten wir das Geld genommen?«

Die betroffene Nick spürte, wie die Armut ins Haus zog und sie durch den vorzeitigen Tod des Vaters selber ein Vöglein auf dem Ast geworden war. Die Unbesorgtheit des Vaters in Gelddingen, die kleine Besoldung, der viele Besuch! Daran lag's! Ausgeträumt war der Plan eines Bildungsjahres im Welschland; die kleine Vermögenshinterlassenschaft reichte nur, um Dietrich durch die begonnenen Studien zu bringen. Sie und die Mutter aber mußten froh sein, wenn sie als Kostgeberinnen eines künftigen Verwesers im alten Heim bleiben durften. Nur dieses nicht räumen müssen!

Im Städtchen wußte man, wie es um die verwaisten Pfarrersleute stand. Die Kirchenpflege kam, zu Ehren des verstorbenen Tappoli, den stillen Wünschen der Witwe entgegen und richtete wieder eine Verweserei ein. Dabei dachte sie auch rücksichtsvoll an Nick. Obwohl sie noch etwas zu jung war, hätte man sie im Städtchen gern als Pfarrersfrau gesehen; man hoffte, einem kommenden Verweser werde es von selber einfallen, dem schönen, gescheiten Mädchen die Hand zu reichen.

Leider wußte Nick der Behörde für die gute Absicht wenig Dank. Als sie durch die Mutter Wind davon bekam, lächelte sie stolz: »Die Kirchenpflege verheiratet [67] mich nicht, das besorge ich schon selber.« »Nick, Nick! Hochmut kommt vor dem Fall,« schmälte die niedergedrückte Frau, die oft ihre Not mit dem siebzehnjährigen Trotzkopf hatte. –

Die Pfarrerin war zur Hochzeit Ferdinands und Julias in dessen Heimat gefahren, Monika mit der Begründung zurückgeblieben, daß jemand zu Hause sein müsse, wenn allenfalls ein neuer Verweser einrücke.

Und er kam – Glorian Rollenbuz! In der brennenden Sonne des Mittags trat er im Winterüberzieher, ein blaues, wollenes Tuch um den Hals, fast ärmlich, ins Pfarrhaus. Der Unterton jedes seiner Worte flehte: »Verzeihen Sie mir tausendmal, daß ich auch auf der Welt bin.« Das nicht mehr junge Männchen mit dem ausgedorrten, pergamentenen Gesicht mutete Nick sogleich komisch an. Als er den dunkeln Filz ablegte, erschien darunter eine dicke, schwarze Mütze, ähnlich der Beulenkappe, die man kleinen Kindern aufsetzt, damit sie sich im Fall nicht verletzen. Er bat um Entschuldigung, daß er sie wegen seiner reizbaren Kopfnerven nicht ablege, der größte Feind seiner Geistesarbeit sei die Luft. Im Vorbeigehen zeigte sie ihm die schöne Bibliothek ihres Vaters, aber er sagte, vor Bedauern zitternd, die Klassiker seien ihm zu modern, er lese überhaupt nur Schriften, die vor der Erfindung der Buchdruckerkunst entstanden seien. Allmählich merkte Nick, daß er im Haupt- oder Nebenberuf Privatgelehrter war.

Als die Mutter von der Hochzeit ihrer Ältesten heimkehrte, war sie überrascht, Monika so hellauf zu finden.

»Ach, wenn du unsere Heuschrecke siehst,« lachte die [68] Tochter, »so vergeht auch dir jede Traurigkeit! Ich glaube, Gott hat uns den Verweser eigens ins Haus geschickt, damit ich wieder fröhlich sein lerne.«

Das Herz der Pfarrerin war aber noch von der Hochzeit voll und mußte sich selber zuerst entladen, ehe sie Anteil an Glorian Rollenbuz faßte: »Und denke dir, Nick, jetzt ist das Paar auf seiner Hochzeitsreise unterwegs nach Paris. Julia in Paris! So weit bringst du es mit deinem Stolz im Leben nicht!«

»Lieber aufs Altjungfernried als mit Ferdinand nach Honolulu!« spottete Nick.

Die Mutter wandte sich von ihr ab und warf durch die Türspalte einen neugierigen Blick nach dem Verweser.

In dem Polsterstuhl, in dem schon ihr seliger Mann seine Predigten studiert hatte, saß das Männchen und hatte das Tageslicht durch eine über das Fenster gezogene Wolldecke abgeblendet. Auf seinem Kopf ruhte die dicke Mütze, über die Stirn war ein großer grüner Lichtschirm, vor die Augen eine mächtige Hornbrille gespannt – dies eben gab ihm das Heuschreckenhafte, von dem Nick gesprochen. Um den Hals hatte er das blaue Wolltuch geschlungen, der Rest seiner Leiblichkeit steckte in einem alten Schlafrock und Schlurfpantoffeln. Auf dem Boden lagen an die hundert Kartonschachteln alphabetisch geordnet, in allen Fächern staken etliche beschriebene Zettel.

Mit einem Seufzer schloß Frau Tappoli die Tür. Ihr war der luft- und sonnenscheue Sonderling zuwider, Nick aber mußte etwas an dem stillverrückten Menschen [69] finden. Sie war geradezu seine Freundin. Dankbar weihte er sie in seine gelehrte Tätigkeit ein, für die er sich Pergamente und Folianten aus mancherlei Ländern kommen ließ. Das Werk, an dem er arbeitete, trug die Überschrift »Die Grundzüge des Ökumenischen Konzils«. Zehn Jahre schon beschäftigte es ihn angestrengt, bereits war es auf fünf Bände angewachsen, er rechnete aber auf noch zehn Jahre und noch fünf Bände, bis die »Grundlinien«, seine Lebensarbeit, vollendet seien, und seufzte dazu: »Wenn es die Kopfnerven nur aushalten!«

»Werden die Bände aber auch gekauft werden?« fragte Nick, seinen Gelehrtenfleiß bewundernd und in leisem Mitleid. »Gekauft? – Wohin denken Sie?« erwiderte er, nicht ohne Selbstbewußtsein. »Ich bin keiner jener armseligen Schriftsteller, die ihre Bücher gern in vielen Händen wüßten. Die ›Grundlinien‹ sind nur für Bibliotheken bestimmt, und ihre Veröffentlichung kostet ein Heidengeld. Dafür haben wir aber in Basel unsere Familienstiftung Rollenbuz.«

Hatte Nick vermutet, daß Herr Glorian heimlich ein armer Schlucker sei, so belehrten sie seine Mitteilungen über die Stiftung vom Gegenteil. Schelmisch fragte sie: »Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, ohne daß Sie böse werden? Sie sind mit den Kleidern etwas schäbig dran. Wenn wir aus der Stiftung neue kauften und Ihren gesamten alten Plunder ins Armenhaus verschenkten!« »Liebes Fräulein,« erwiderte er, »diese Dinge liegen tief unter meiner Art. Wenn aber Sie an die Stiftung schreiben wollten?« »Das will ich!« rief [70] sie; »aber werden Sie mir hinaus durch die frische Luft zu einem Schneider oder Schuhmacher folgen?« »Nein, das geht nicht,« stotterte er, »die Luft, die Kopfnerven!« und blickte sie hilflos an wie ein Kind. »Dann könnte ich ja die Handwerker hieher rufen,« meinte sie.

»Fräulein Tappoli, Wohltäterin!« rief er. »Gott hat Sie erleuchtet.« Und Glorian Rollenbuz kam zu neuen Kleidern.

Er war wieder nicht der Pfarrer, den das Städtchen bedurfte. Über seine Predigten ließ sich nicht urteilen. Der Stubenhocker sprach mit einer Flüsterstimme, die niemand verstand. Die Kirchenpflege trug aber doch Bedenken, ihn so einfach wegzuschicken wie Ferdinand Bürsteler. Sein Lebenswandel war einwandfrei, und sie wollte das Städtchen vor den Nachbargemeinden nicht in den Ruf bringen, daß es unverträglich gegen die Geistlichen sei. Wie weit ein Pfarrstreit führen konnte, dafür gab es ein Beispiel nicht fern vom Rhein. In jenem Ort hatten sich die Bürger wegen der Wahl eines Geistlichen so entzweit, daß sie ihrer Meinung über ihn auch sichtbaren Ausdruck gaben. Diejenigen, die sich seiner freuten, steckten rotangestrichene Pfähle zu ihren Reben, die Gegner aber, zum Zeichen der Trauer, schwarze. Von ferne sah man aus den Farben des Weinbergs, wie sich jeder einzelne Bürger zum Geistlichen stellte. Ein solches Kalenderstücklein durfte sich in Eglisau nicht ereignen, und man fand sich mit Glorian ab.

Es kam aber drei Sonntage nacheinander vor, daß niemand seiner unverständlichen Stimme lauschte als Frau Tappoli, Monika, der Vorsänger und der Küster. [71] Da betrübte er sich selber, und nachdem er ein halbes Jahr lang die Leute aus der Kirche gepredigt hatte, nahm er freiwilligen Abschied von dem Städtchen. Nick tat es schier leid um den Sonderling.

Und wiederum erschien ein Verweser. Der sang aber so laut und falsch, daß sich der Vorsänger beleidigt von den Gottesdiensten zurückzog. Nick rettete den Gemeindegesang, indem sie den jungen Geistlichen bat, sich auf das Predigen zu beschränken, und führte mit ihrer hellen Stimme selber die Kirchenlieder an.

Im Verkehr mit den mancherlei Verwesern erweiterte sie ihre jugendliche Menschenkenntnis, und in der Bemutterung der Käuze, deren jeder an einer anderen menschlichen Unvollkommenheit litt, überwand sie die herbe Trauer um den zu früh verstorbenen Vater.


[72]

7

Mehr als ein Jahr war seit dem Tode Tappolis vergangen. Schon roch es in der Luft wieder nach Frühling. Der Rhein wälzte die mächtigen Fluten der Schneeschmelze daher, entwurzeltes Strauchwerk und gebrochene Bäume.

Da kam Marie wieder einmal ins Vaterhaus. Streng an ihre Stelle gebunden, war sie ein seltener Gast; aber jedesmal, wenn sie erschien, schaute ihr Lenzsonne aus den Augen, sah man ihr an, daß es ihr auf dem Zunfthause gut ging. Sie brachte dem Vater Erspartes: »Die paar Goldstücke stammen von Hochzeiten und anderen Gesellschaften.« Er nahm das Geld befriedigt hin, sagte aber: »Wenn du einmal heiratest, Marie, so gebe ich es dir wieder. Ich führe über jeden Franken Buch, und keines soll zu kurz kommen.« »Wie magst du vom Heiraten reden!« lachte sie auf. »Mir ist wohl genug!«

Ulrich weidete sich an dem frischen Bild der Schwester, und als sie wieder gegangen war, fehlte sie ihm an allen Ecken und Enden.

Nachdem er seine Spaziergänge durch die Welt lange nur auf der Landkarte gemacht hatte, rückte nun seine Wanderzeit heran. Da ergriff auch der Vater das Wort zu seinen Plänen. »Ich meine halt, zuerst solltest du dich nach Deutschland wenden. Als junger Guckindiewelt [73] bist du dort wenigstens unter einem ehrlichen Volk, und tüchtige Feinschmiede gibt es fast in jeder Stadt. Ich will dir nur einen nennen, Melchior Finkler in Nürnberg, neben dem ich auf meiner eigenen Wanderschaft in Köln über ein Jahr gearbeitet habe. Er ist ein goldlauterer Mann und sein Atelier, wie ich genügend weiß, berühmt. Wenn ich mich deinetwegen an ihn wendete?«

Dem Zwanzigjährigen wollte es nicht gefallen, daß ihn der Vater auch noch in der Fremde zu gängeln versuchte; doch war ja Nürnberg eine altschöne Stadt und kein Winkel, aus dem er, wenn er wollte, nicht rasch wieder in die Welt hinaus gelangte. Um dem Vater die gute Laune nicht zu verderben, ließ er ihn an Meister Finkler schreiben.

Die achtungsvolle Antwort des Nürnberger Schmiedes lautete, daß ihm der Sohn seines lieben früheren Freundes jederzeit willkommen sei, daß er ihm schöne Arbeit zuweisen und ihn nach Vermögen im Handwerk fördern werde. Damit war die Stadt an der Pegnitz sein nächstes Ziel geworden, und mit dem Vater kam er überein, daß der erste Mai der Aufbruchtag sein solle.

Als die jugendfrohe Gesellschaft des Rhein-Fahrvereins, der seine Übungen auf dem Strom schon wieder aufgenommen hatte, von dem bevorstehenden Auszug Ulrichs in die Fremde vernahm, wollte sie ihren Obmann und zweiten Oberfahrer nicht aus der Heimat wandern lassen, ohne ihm ein Abschiedsfest zu bereiten. Sie verabredeten zu seinen Ehren auf den letzten Sonntag im April eine Stromfahrt mit bekränzten Schiffen, [74] die vom Rheinfall bis zum Städtchen Kaiserstuhl ging. Jeder sollte dazu seine Herzallerliebste einladen oder sonst ein Mädchen, das ihm wohlgefiel. Führte man die Kähne in der Nacht zum Rheinfall, so konnte man sie bald nach Sonnenaufgang in den Strom lassen, erreichte Kaiserstuhl gegen Mittag und hielt dort in der Krone gemeinsame Mahlzeit; nachher tanzte man ein paar Stunden mit den Mädchen, und die Bauernburschen kamen und holten Leute wie Boote, die wegen der starken Strömung nicht auf dem Fluß selber zurückgeschafft werden konnten, wieder nach Eglisau zurück.

Das war der Plan des ländlichen Festes. Ulrich tat es wohl, daß ihn sein lieber Verein mit einer so schönen Ehrung bedachte. Was aber das Mädchen betraf, das er einladen wollte, gab's keine Wahl. Nick Tappoli! Sie sah dann doch, wie geachtet er unter der Jungmannschaft war.

Sie hatten sich schon lange nicht mehr begegnet, und wenn er sich ihr Bild vorstellen wollte, so sah er sie stets in dunkelm, langem Trauerkleid, das Gesicht umwallt von einem schwarzen Schleier wie am Beerdigungstag ihres Vaters, blaß und versteinert im Schmerz, fremd und heilig. Die Erinnerung beklemmte ihn. Er hatte das Gefühl, es richte sich eine unsichtbare Schranke zwischen ihm und ihr empor. Er fühlte aber die Notwendigkeit, über die Wünsche seines Herzens mit ihr zu sprechen, bevor er auf die Wanderschaft ging. Doch erschien es ihm leichter, durch einen feurigen Ring zu laufen, als sie aufzusuchen und von der Leber weg mit ihr zu reden. Nun gab ihm die Fahrt den Vorwand, er besiegte das [75] zaghafte Herz und warf sich am Abend in das neue, teure Kleid, das ihm in Nürnberg als Sonntagsstaat dienen sollte.

»Wohin, Gehasi?« fragte die Mutter mit einer biblischen Wendung. »Zu Nick Tappoli!« »Ei tausend, Uli, du nimmst aber das Ziel hoch!« Sie betrachtete ihren großen, stattlichen Jungen mit herzinnigem Wohlgefallen; es schien ihr kein schlechtes Zeichen für seine Zukunft zu sein, daß er als Gesponsin für die Fahrt gleich das angesehenste Mädchen begehrte. Über seine Keckheit verwundert, rief sie ihm unter der Türe nach: »Mit Glück, Uli!«

Vor dem im Dämmerlicht stehenden Pfarrhause fiel Ulrich aber der Mut doch fast in die Schuhe, seine feste Hand zitterte ein wenig, als er die Glocke zog. Aus dem Oberstock steckte Nick selber den Krauskopf heraus. »Sie sind es, Herr Junghans!« Er fühlte sich etwas befremdet von der Anrede. Warum hatte sie nicht gesprochen: »Du bist es, Uli?« Nun aber kam sie mit leuchtenden Augen die Treppe herunter und streckte ihm freimütig die Hand entgegen. »Sie bringen mir gewiß Neuigkeiten von Marie. Wie geht es ihr?« damit führte sie ihn in die gemütliche Stube hinauf, um deren Fenster sich eine Asklepia mit dunkelgrünen Blättern und großen, roten Blumenglocken rankte.

»Von Marie weiß ich nichts Neues,« stotterte er. »Ich komme in eigener Angelegenheit zu Ihnen, Fräulein Tappoli. Der Fahrverein …« »Ja, der soll zu Ihren Ehren eine schöne Frühlingsfahrt planen –« nahm sie ihm lebhaft das Wort aus dem Munde.

[76]

Da trat gerade die Pfarrerin herein, die wie die Tochter in einfachem Schwarz ging, und ihre Gegenwart kam Ulrich eben recht. Er brachte sein Anliegen vor.

Die überraschte Nick wechselte mit der Mutter einen Blick; der Wunsch, an der Fahrt teilzunehmen, stand ihr im Gesicht. Unbedenklich antwortete die Pfarrerin: »Wie bald müssen wir vielleicht das Städtchen verlassen, und es ist kaum zu denken, wie wir an einem Ort leben, an dem wir den Rhein nicht mehr sehen. Nimm also die freundliche Einladung des Herrn Junghans nur an, so wirst du eine schöne Erinnerung an den Strom deiner Jugend mehr haben.«

Da freuten sich Ulrich und Nick, die Frau Pfarrer aber ging und ließ sie allein.

»Ich habe eben das Zimmer für einen Verweser gerichtet,« plauderte Nick. »Was ist unser Haus für ein Taubenschlag geworden! Jetzt hat aber die Kirchenpflege beim Antistes Vorstellung erhoben, wie das religiöse Leben der Gemeinde gelitten habe. Der würdige Vorsteher der Landeskirche hat der Behörde nun schon auf nächsten Sonntag einen Geistlichen in Aussicht gestellt, von dem er des Lobes voll ist. Der Verweser heißt John Wildholz, es ist ein in Indien geborener Schweizer.«

»Wenn der unsere leere Kirche sieht!« versetzte Ulrich. »Und am nächsten Sonntag wird sie wegen unseres Ausfluges noch leerer sein als sonst.«

»Gott, wie freue ich mich auf die Fahrt!« jubelte Nick. Sie zerlegte ihm mit leichter Hand einen Lederapfel. »Nicht wahr, die Früchte haben sich wundervoll [77] erhalten?« Ihr Gespräch trug nun doch das Gepräge schöner Kameradschaftlichkeit. Auch von ihm war das Gefühl der Enge gewichen. Nach einer Weile kam ihm aber zu Sinn, sein Besuch habe lang genug gedauert, und er wollte aufbrechen. Sie jedoch hielt ihn zurück und fragte ihn mancherlei wegen seiner Wanderpläne. »Was hat es ein junger Mann so schön,« rief sie, »und ich Ärmste muß einen schrulligen Verweser nach dem andern hüten!« Als er ging, leuchtete sie ihm mit einer Kerze bis unter die Haustüre und drückte ihm mit einem lieblichen Lächeln die Hand. Da zuckte die seine in der ihren.

Er mochte noch nicht auf seine Kammer gehen. Glückselig stand er am Rhein. Leis sang der Strom sein Lied, und über den dunkeln Giebeln wandelten die Frühlingssterne. Er trat auf die Brücke und lehnte sich in ein Fenster der Holzverschalung. Was sein erregtes Blut wünschte, rauschten die Wellen: »Sie liebt dich! Sie wird dir kein Nein geben, wenn du sie um ihre Hand fragst. Und wenn sie ihr Ja spricht, so wirst du nicht drei Jahre in der Fremde bleiben. Nur zwei! Nein, auch das wäre noch zu lang. Nur eines!« – »Nick – Nick,« rauschten und sangen die Wellen. »Monika Tappoli – Monika Tappoli!« Er hatte diesen Abend mit ihr einen guten Anfang gemacht, und ein ebenso gutes Ende dazu würde sich finden. In seliger Spannung brachte er die Woche hin.

Auch Nick lebte in der Vorfreude der Fahrt und rüstete dafür ein weißes Wollkleid. Durch ihre Freude zuckte aber eine kleine Unruhe, die Frage, ob wohl Ulrich Junghans [78] sie liebe. Seine suchenden Augen, das Zucken seiner Hand beim Abschiede ließen es vermuten. Wenn ja, – wie sich dann zu ihm stellen? In der Freundschaft mit der treuherzigen Marie war allerdings stets eine Neigung für den Bruder einhergelaufen, aber von einer Neigung zu einer Lebensliebe war doch noch ein weiter Schritt. Ihr hatte für die Zukunft stets etwas Studiertes vorgeschwebt, oder etwas Stadtzürcherisches wie der Sohn eines Seidenindustriellen, der ihr bei der schönen Hochzeit gegenübergesessen. Auch hatte sie ihrem Vater ja versprochen, daß sie den Namen Tappoli hoch in Ehren halten und nicht billig hingeben werde.

Sie wurde aus sich selber nicht klug, sie sagte sich: »Um mich ernstlich zu verlieben, bin ich noch zu jung; hoffentlich ist Uli auch nur aus Freundschaft zu mir gekommen und denkt selber nicht daran, sich über die Wanderjahre hinaus an eine Liebe in der Heimat zu binden.« Damit wollte sie ihre Sorge hinter sich werfen.

Da kam aber der junge Bauer Rudolf Heller, der zweite Obmann des Vereins, zu ihr ins Pfarrhaus und teilte ihr mit, die Gesellschaft habe beschlossen, dem um den Verein recht verdienten Ulrich Junghans zum Abschied einen Gedenkring zu stiften. »Wir freuen uns so sehr, Fräulein Tappoli,« fuhr Heller fort, »daß Sie bei der Fahrt sind. Wir möchten Sie bitten, Uli den Ring in unserm Namen zu überreichen. Es sieht vornehmer und feierlicher aus, wenn es statt unsereinem ein junges Fräulein tut; und ich bin kein Sprecher.«

Das Blut stieg ihr in die Wangen, der Anreiz des [79] Erlebens ging ihr durch die Seele, und nachdem Heller genug den Hut vor ihr gedreht und um den Dienst gebettelt hatte, übernahm sie das kleine Amt.

Nun mußte sie aber erst recht wieder an Ulrich denken. Noch nie hatte die Gesellschaft einem Mitgliede einen Ring oder sonst ein Andenken geschenkt. Es mußte doch etwas Besonderes an dem jungen Schmied sein. Nun ja! Seit der Verein bestand, war kein so guter Geist, so viel schöner Wille und Eintracht unter den Mitgliedern gewesen wie während des ganzen Jahres, in dem er die Obmannschaft geführt hatte. Darum die Fahrt, dafür der Ring! Wenn er doch nicht nur ein Schmied wäre! Dann wäre ihr gewiß keiner als Freier willkommener als er. –

Der Samstag vor der Fahrt war gekommen, ein herrlicher Frühlingstag. Weiche Lüfte hatten an den Halden des Rheins die Obstblüte geweckt, und die Natur bot bereits ein maienhaftes Bild. Die Mädchen suchten in Feld und Wald Blumen, flochten sie im Schulhaus zu Kränzen und waren eben im Begriff, sie um die drei langen Kähne zu winden, die ein Stück oberhalb der Brücke am Ufer lagen.

Da kam ein Fremder vom Städtchen her, eine hohe Gestalt in schwarzem Kleid, ließ die blaudunkeln Augen forschend durch die Gesellschaft gehen und trat auf Nick zu: »Ich irre mich wohl nicht, daß ich Fräulein Tappoli vor mir habe. Darf ich mich vorstellen? Ich bin John Wildholz, der neue Verweser, und habe von der Frau Pfarrer gehört, daß Sie hier mit den Vorbereitungen für ein Fest beschäftigt sind.« Dunkle Locken umgaben [80] das wuchtige Haupt, sein Blicken und Lächeln hatte etwas ungemein Reines und Hohes.

In die Gestalt Monikas, die sich sonst nicht überraschen ließ, kam etwas Linkisches, und sie mußte die passende Antwort suchen.

Der Mann mit dem leisen skeptischen Zug im Gesicht und den glänzenden, geheimnisvoll tiefen Augen erschien ihr wie ein höheres Wesen. Den andern Mädchen ging es ebenso, die Arbeit stand ihnen zwischen den Fingern still, und von der einen zur nächsten flüsterte sich's: »Der neue Verweser! Was für eine vornehme Gestalt!«

Er bat Monika, ihm ihre Gespielen vorzustellen, die ja seine künftigen Pfarrkinder seien, und hatte für jede ein wohlabgewogenes Wort. »Nun aber lassen Sie sich von mir nicht weiter stören! Ich mache jetzt gern einen Spaziergang den Rhein entlang.«

»Wir sind fertig,« erklärte ihm Nick. »Wenn es Ihnen angenehm ist, begleite ich Sie.«

Dankbar nahm er an. »Der Oberrhein ist mir doch von den vielen Naturbildern, die ich kenne, eines der liebsten,« plauderte er. »Seine Klarheit und Durchsichtigkeit und der gewaltige Wogendrang haben mir schon, als ich noch ein Knabe war, einen unvergeßlichen Eindruck gemacht. Was wird Ihnen morgen für eine prachtvolle Fahrt beschieden sein!«

»Sie aber werden, fürchte ich, gerade wegen des Festes vor einer ziemlich leeren Kirche predigen müssen,« versetzte Nick.

»Ich bin nicht so ehrgeizig, daß ich gleich am ersten Sonntag ein volles Gotteshaus erwarte,« antwortete [81] er schlicht. »Ich will zufrieden sein, wenn ich mir nach und nach das Vertrauen der Gemeinde erwerbe.«

Sie gab ihm einen bewundernden Seitenblick. »Also schon in Ihren Knabenjahren waren Sie an unserm Rhein? Ich vermutete, Sie seien erst vor kurzer Zeit aus Indien in die Schweiz zurückgekehrt.«

»Nein, doch nicht,« erwiderte er. »Ich habe in Zürich und Basel studiert. Und vorher war ich schon mit zwölf und mit siebzehn Jahren in der Heimat, beide Male etliche Monate, und kam schon damals mit der Mutter an den Oberrhein. Sie liebte ihn, wie ihr Geburtsland überhaupt. Auf der letzten Rückfahrt nach Indien sprachen meine Eltern davon, sich nach einiger Zeit endgültig in die Schweiz zurückzuziehen und uns Söhnen die Leitung des blühenden Kaufmannsgeschäftes in Kalkutta zu überlassen. Gott hat es anders gefügt. Zwei Tagreisen vor unserm Ziel geriet unser Dampfer in einen Wirbelsturm, bei rabenschwarzer Nacht ging er unter. Als am Morgen ein anderes Schiff die Unglücksstätte absuchte und die Überlebenden sammelte, waren die Eltern und ein sechsjähriges Schwesterchen Opfer des Unglücks geworden. Wir drei Brüder fanden uns an schwimmenden Schiffsteilen klebend wieder und erreichten Kalkutta. Meine seelische Erschütterung über den Verlust der Eltern aber war so groß, daß man mich gesundheitshalber bei einem Missionar, einem Schweizer namens Eberhard, unterbrachte. Im Verkehr mit ihm beschloß ich, selbst Geistlicher zu werden, und zwar im Dienst der armen, ungebildeten Hindus. Als blutjunger Prediger zog ich durch die weiten Landschaften, [82] fiel aber in den Reisdörfern der Malaria anheim. Da gab es nur eine Rettung: die Schweiz! So bin ich im Vaterland Pfarrer geworden.«

Still ging Nick neben dem Erzähler und lauschte seiner warmen Rede. Dann und wann suchte ihr Blick seine von einer herrlichen Stirne überragten Augen, die, wenn er in sich versonnen ging, einen leis schwermütigen Ausdruck annahmen, sich aber, wenn er das Wort ergriff, in helles Feuer verwandelten. Nein, er war kein Fremder, nach Art und Seele stand er fest auf dem heimatlichen Boden; aber das ferne, fremde Land hatte ihm doch etwas Besonderes gegeben, einen geheimen Zauber des Wesens, der ihn hoch über all die bisherigen Verweser des Städtchens stellte.

Auf einem weiten Umweg durch Felder und Wälder erreichten sie das Pfarrhaus wieder.

Aus den Fenstern schaute schon Frau Tappoli nach ihnen aus. »Nick, nun rasch zu Nacht gegessen und zur Ruh gegangen!« ermahnte sie die Tochter. »Um zwei Uhr mußt du schon wieder aus den Federn sein, und es wäre zu töricht, wenn du dir den morgigen Tag im vorhinein durch zu wenig Schlaf verdürbest.«

Die Hand Nicks ruhte zum Gutenachtgruß in derjenigen des neuen Gastes, er wünschte ihr herzlich Glück zu der Fahrt, und ein Strahl seiner dunkeln Augen traf sie.

Schlafen! – Ja, die Mutter hatte schon Recht! Aber Nick sah stets das zwingende Leuchten in den Augen des neuen Verwesers, stets hörte sie seine weiche, biegsame Stimme. Bis an den Morgen hätte sie am liebsten seiner [83] Erzählung gelauscht, sogar die Rheinfahrt leicht dahingegeben, wenn sie dafür ihn hätte predigen hören, – als ob nicht noch genug Sonntage kämen, wo ihr dieser Genuß beschieden sein würde.

Stunde um Stunde hörte sie schlagen, sie dachte nur an ihn und nicht mehr an Junghans. Ihr war, sie sei erst am Einschlafen. Da kam die Mutter an die Türe und rief gedämpft: »Nick, aufstehen! Es ist höchste Zeit!«

Eine Weile später schlüpfte Nick aus dem Pfarrhause. Da stand draußen schon Ulrich, erwartete sie und erkundigte sich, ob sie einen genügend dicken Mantel und ein warmes Kopftuch für den kühlen Morgen bei sich habe.

Seine Stimme klang ausgeruht, frisch und unternehmungsfroh.


[84]

8

Etliche mit je zwei Pferden bespannte Leiterwagen führten die Gesellschaft und die Kähne durch die Nacht. Ulrich versuchte ein harmloses Geplauder mit der neben ihm sitzenden Nick. Sie blieb aber einsilbig. Er schob es auf den zu kurzen Schlaf und schwieg rücksichtsvoll. Ihr war es eine Wohltat. Fröstelnd wand sie sich tiefer in ihren warmen Mantel und spann an ihrem nächtlichen Traum weiter. Wie ist das Menschenherz sonderbar! Wir leben Jahre mit andern, wir glauben sie zu lieben. Da tritt ein bisher Unbekannter hervor und ist uns in einer Stunde so viel, daß die bisherigen wie Schatten versinken. Ist es nicht ein schlechtes Herz, das dieser Umwandlung fähig ist? –

Aus ihrem Halbschlummer weckte sie ein Lied.

»Wie herrlich strahlt der Morgenstern!
O, welch ein Glanz geht auf vom Herrn,
Wer wollte sein nicht achten!«

sangen Burschen und Mädchen.

Nick schaute in ein überwältigend schönes Bild. In funkelndem Glanze hob sich der Tagstern über eine dunkle Waldwand empor. Sieghaft schwebte er durch das Morgenrot, in dessen Widerschein die Erde wie ein blühendes, glühendes Mohnfeld von unendlicher Weite [85] erschien. Eine Wegbiegung! Unter den Blicken lag der Rhein, wie ein Strom rotbrennender Rosen.

Jetzt waren sie am Rheinfall angekommen. Im Frühlicht bot er ein eigenartig sanftes Schauspiel. Es war, wie wenn Scharen weißer Schwestern in sanften Flügen nieder- und aufwärts reigten, eine leis die andre ziehend, alle geheimnisvoll verkettet und verbunden. Nur das Knattern, Brausen und Donnern verriet die ungeheure Wucht der Wogen. Der erste Sonnenstrahl fiel auf den Sturz und spannte einen Regenbogenschimmer darüber hin.

Beim Inselschlößchen Wörth wurden die Weidlinge von den Wagen ins Wasser gesetzt. Die Burschen steckten ihre Fahnen darauf, und die Mädchen ordneten die Blumengewinde. Etwas steif stand Nick daneben, sie hätte nicht zugreifen können, und in der scharfen Kühle bebten ihr die Zähne. Wo blieb Junghans? – Da holte er sie in das Schlößchen zu einem Frühstück, dampfendem Kaffee und heißer Milch. »Er hat doch stets die besten Einfälle!« riefen die andern Mädchen. In der Wirtschaft entstand ein Sturm um den Morgenimbiß. Er aber bemühte sich weiter um Nick, ließ sich von einem Knecht Decke und Wärmflasche reichen, schenkte ihm für den kleinen Dienst freigebig ein neues Frankenstück und hüllte sie auf ihrem Sitz im Kahn vom Scheitel bis zu den Füßen in das linde, dicke Tuch, daß ihr nur das Gesicht aus dem Rahmen schaute wie einer Nonne.

Dankbar stieg in ihr ein Gefühl molligen Umsorgt- und Geborgenseins auf. Von all den Burschen war der frische, treuherzige Ulrich derjenige, der am aufmerksamsten [86] und umsichtigsten zu seiner Begleiterin sah. Und sie hatte die ganze Nacht, den ganzen Morgen nur an John Wildholz gedacht! Was war der ihr aber gerade noch über den Weg gekommen vor der Fahrt, auf die sie sich so sehr gefreut hatte? Ohne seine Dazwischenkunft wäre sie mit sich selber herzeinig geworden und mit Ulrich, über dessen Liebe in ihr kein Zweifel mehr obwaltete. Wie wäre sie für immer geschützt und geborgen bei dem treuen starken Manne, sie, die fast mittellose Waise, die vielleicht bald vom Rhein ziehen mußte und nicht wußte wohin.

Starke Arme trieben die wogenden Kähne hinaus in den Strom. Nick saß zuhinterst, im dritten, neben ihr stand Ulrich und überwachte und leitete die Ausfahrt.

Nun hatten die Boote die Mitte erreicht, tanzten flußab, und wie ein weißes Donnerwetter verschwand hinter ihnen der Rheinfall. Um die Wasser flimmerte das junge Buchenlaub der Stromhalden. Ein Heimatlied ertönte aus frischen Kehlen. Wohltätig breitete die höher steigende Sonne ihre Strahlen über die Flut, Kopftücher fielen, Mäntel verschwanden, helle Sommerkleider wurden sichtbar, Strohhüte mit breiten Rändern wiegten sich auf den blonden und braunen Scheiteln der Mädchen, fröhlicher wurden die Gesichter, heller das Gespräch und Lachen. Auch Nick schlüpfte aus Decke und Mantel wie der Schmetterling aus der Puppe. Sie trug einen schöngeschwungenen Strohhut und ein Kleid mit einem schmiegsamen Mousseline-Einsatz, der ihren schlanken Hals und Nacken auf das zarteste umgab. Sieghaft hatte sie die Beklemmungen des Frühmorgens überwunden, [87] und wenn Ulrich sie auf ein Naturbild aufmerksam machte, hatte sie dafür ein dankbares, zustimmendes Lächeln.

Aus dem Grund der tiefblauen Flut tönte ein siedendes Geräusch, das Wandern des Kieses, da und dort glitten die Boote über silberne Wirbel, die mannigfaltig gekrümmt in die Tiefe hinabstiegen, in mächtigen Schwällen drängten die Wasser wieder empor, brodelten und schlugen weiße Wellen. Geheimnisvoll war das Tierleben mit leisen und lauten Tönen lebendig. Aus den hellen Buchenschlägen am Ufer riefen die Sänger des Waldes, in lichten Gruppen alter Eichen hatten die geselligen Reiher ihre Nester gebaut, und mißbilligend schauten sie auf den Einbruch der Menschen in ihr stilles Reich. Am Rande fischte der Storch, Schwärme von Wildenten ließen die Weidlinge dicht an sich herankommen, stoben mit erschrecktem Schnattern empor und flüchteten in Zickzackreihen stromabwärts. Am Himmel kreiste der Weih und warf seine Stimme in die Stille der Landschaft, als riefe er: »Ich bin der König.« Eisvögel schwirrten wie blaue Lichter in der Sonne, weiß- oder gelbbäuchige Bachstelzen wippten auf den Ufersteinen. Da und dort sprangen kleine Fische aus der Flut: hinter ihnen jagte der Hecht, glänzte weiß auf und schnappte die ermüdete Beute, ein Bild des ewigen Kampfes im Strom. Still aber im Frühlingsfrieden lagen die Uferlandschaften und atmeten den Hauch der Menschenferne. Bald links, bald rechts stellte sich ein einsames Gehöft auf die Halde, und wo der Uferrand flach war, sah man die Umrisse und Giebel altertümlicher Bauerndörfer. [88] Aus ihren Kaminen stieg der blaue Rauch in die Luft, und von fernher zitterten Glockentöne. Dann nahmen hohe Stromhalden den Blick wieder gefangen, in Einsamkeit wallte der Fluß.

Ein Freudenruf ging von Boot zu Boot, wie von selber begann die Gesellschaft das Lied zu singen: »Unsere Berge lugen ins Land!«

Der Rhein hatte sich unbemerkt nach Süden gewandt, den herrlichen Schneebergen entgegen, von denen er kam. In überirdischer, leuchtender Schönheit schwebten sie mit ihren Silberschildern herein in den Rahmen der grünen Ufer, über dem Strom standen sie, als würde er in sie hineinfließen. Sie zogen sich in leiser Bewegung bald rechts-, bald linkshin wieder hinter die Ufer zurück und gaben im Flußausschnitt andern glänzenden Schneegestalten Raum, bald den Häuptern des Glarner Hochgebirgs, bald den Alpen des Vierwaldstätter Sees und dem Urirotstock mit seiner fern herüberstrahlenden Firnwanne. Wieder waren es die Glarner Alpen, wieder die Berge des Gotthards. Nun aber leuchteten die Spitzen des Berner Oberlandes, Wetter- und Finsteraarhorn, Jungfrau, Mönch und Eiger zwischen die Waldborde herein, je nur eine Spitze auf einmal, jede aber wie ein Traum der schönheitsdurstigen Weltseele. Und selber ein Wunder der Schöpfung wallte der Rhein in die unendliche Pracht.

Nick war hingerissen. Wenn jetzt nur niemand spricht, nur niemand mich stört, daß ich die Bilder für mein ganzes Leben erfassen kann! Lange ließ Ulrich die Träumerin gewähren und hielt stumm Ausschau über [89] die Schiffe. Als er ihr aber wieder die blauen Augen zuwandte, brach sie selber das Schweigen. Sie sagte begeistert: »Wie kann ich Ihnen danken, Herr Junghans, daß ich durch Ihre freundliche Einladung so viel Unvergeßliches sehen darf.« Er überlegte einen Augenblick, ein mutiges Lächeln spielte um seinen Mund. »Ich bin ja so glücklich, daß Sie meiner Bitte gefolgt sind. Aber Nick, wir wollen doch zum Du unserer Jugend zurückkehren. Alle Burschen und Mädchen hier sind unter sich Freunde und brauchen gegeneinander das Du. Nur wir nicht!« Ja, das hatte sie auch schon bemerkt. Sie wurde rot und streckte ihm die Hand hin: »Also – Uli!« Auf dem Gesicht stand ihm die Freude.

Von den fernen Schneebergen überleuchtet entfaltete sich eine neue Landschaft. Auf schmaler Landzunge erhob sich ein altersgraues, hölzernes Kirchlein, um das sich die Wellen sänftigten wie Tiere, die sich zu Füßen ihres Herrn legen. Dahinter ragten aus Baumkronen eine alte Abtei und die Doppeltürme eines Münsters. Es war ein Bild, als sei hier ein Jahrtausend stillgestanden. In mancherlei Windungen, wie wenn er den alten Mönchstraum liebkosen wollte, wand sich der Rhein um die Stätte, rechtshin, linkshin, und seine Wellen sangen ein Lied wie das Gebet jenes irischen Glaubensboten, der im Schilf kniend die Weisung des Engels empfing, hier dem Evangelium einen Acker zu bereiten. – Doch was war das? Aus einem der vergitterten Fenster der Abtei reckte ein altes Weib, die grauen Haare aufgelöst, erregt die Hände und rief unverständliche, häßlich klingende Worte auf das junge Volk in den Kähnen hinab.

[90]

»Die Abtei ist jetzt ein Irrenhaus,« erklärte Ulrich gedämpft. Sie sahen noch mehr der unglücklichen Gestalten, die das Schicksal zerbrochen hatte, und fuhren still und stiller vorüber und verbargen die Scheu des Frohen vor dem Gram stumm in der Seele. Erst nach einer Weile versetzte Monika aus tiefem Nachdenken: »Vielleicht waren sie einst so glücklich wie wir!« Ein Schatten lag über ihrem Gesicht.

Nun aber glitten die Boote von der Stätte des Grauens hinweg, ein langgestreckter Bergrücken verschlang die Bilder der Alpen, ein niedriges Fischerdorf, umsponnen von Netzen, kam und ging. Wolken von Schwalben schwirrten über dem Strom und verdunkelten ihn fast, durch grüne Auen trippelte von der Linken ein Fluß daher und begrub seine eigenen kleinen Wasser in den großen des Rheins.

Frohes Leben waltete in den Schiffen. Da und dort wurde von den Paaren Zwischenimbiß gehalten, und jedes tauschte, was es besaß, freudig mit den Nachbarn. Nick und Uli ließen sich ein paar Äpfel aus dem Pfarrgarten munden. »Findest du nicht auch, daß unsere Leute sehr artig und lieb zusammen sind?« plauderte er. »Nie habe ich unsere Jugend so wohlgetan beisammen gesehen,« bestätigte sie; »es soll ein wenig dein Verdienst sein.«

Er tat, als überhörte er ihr Wort, und spähte nach vorn. Die Weidlinge wogten in eine Waldschlucht hinein. Linkshin verrieten weiße Wellen verborgene Felsen im Strom. Nun war er ganz Fahrer. »Anziehen!« rief er den Leuten seines Bootes zu. Unter ihren kräftigen [91] Ruderschlägen überholte er eilig das mittlere, erreichte mit dem Schnabel des seinen das vorderste, und mit kühnem Sprung setzte er vom einen ins andere hinüber.

»Rechts – rechts – rechts!« ertönte sein rascher, ruhiger Befehl, und nun war er selber mit stämmigen Armen an einem der Ruder. Wohl tanzten und klatschten die Schiffe in dem Gewild, aber sie vermieden die gefährlichste Strecke der weißen Schäume, und nach etlichen Augenblicken des Herzklopfens sahen die Mädchen die gefährlichen Riffe und sausenden Strudel hinter den Kähnen liegen. Sanfter fuhren die Boote auf den sich glättenden Wellen und ordneten sich wieder in der gewohnten Reihenfolge. Ulrich wischte sich den Schweiß von der Stirne und kehrte zu Monika zurück. »Wir haben die Jüngsten ins erste Schiff gestellt,« erklärte er, »es sind schon tapfere Burschen, aber in den Gliedern doch noch nicht zäh genug, um durchzuhalten. Darum bin ich vorgefahren.«

Nick schaute ihn groß und freundlich an. Was war er für ein mutiger, besonnener Mensch, selber noch jung und doch in seinem Obmannamt der Überlegene, dem die Ältern wie die Jüngern gehorchten, – ein Schmied und Schiffer, der nicht nur daheim in der Werkstatt den Mann stellte, sondern gewiß auch im Leben sein eigenes Schicksal und das seiner Nächsten kräftig und glücklich durch die Wogen führte!

Noch sann sie. Da wogten die Weidlinge aus dem engen Waldtal hinaus, heimatlich wurde die Gegend, aus dem sonnigen Rebgelände winkte das Städtchen, und die gesamte Gesellschaft sang das Lied: »Wenn [92] weit in den Landen wir zogen umher!« Im Nu schossen die Schiffe an den ersten Häusern vorüber und der Brücke entgegen, aus deren Öffnungen so viele Köpfe und Hände grüßten, als die Räume zu fassen vermochten. Weiße Tüchlein wehten, Päckchen, die an ausgeworfenen Schnüren bereit gehalten waren, fielen in die Kähne und schütteten einen Segen von Bretzeln und anderm Gebäck unter das junge Volk. Wie Pfeile schossen die Kähne zwischen den Jochen der Brücke hindurch, und es wiederholten sich von der andern Seite der mächtigen Bretterröhre die Grüße und Gaben.

Am Ende des Städtchens, aus dessen Stockwerken überall sonntagsfreudige Menschen winkten, wehte am Ufer eine Fahne: das Zeichen, daß man anlegen möge. Neugierig fuhren die Schiffer herzu. Große Überraschung! Der Gemeinderat hatte an die Gesellschaft gedacht und ließ ihr eine Spende Wein reichen, jedem Paar eine von Spinnweb bedeckte Flasche. Das Geschenk hob die Stimmung.

Die Schiffe tanzten wieder in den Strom hinaus. Hinter einer Krümmung des Flusses entschwand das Giebelgewirre. Da hörte Nick das Wort: »Dort geht ja unser neuer Verweser!« Eine Blutwelle stieg ihr ins Gesicht, sie sah ihn. Er kam wohl eben vom Gottesdienst und schritt hochhäuptig und gelassen den gleichen Feldweg, den sie gestern abend miteinander gegangen waren. Nun bemerkte er die Fahrenden, hörte ihre Zurufe, stellte sich ans Ufer und erwiderte ihre Grüße mit leutseliger Höflichkeit. Schon hatten die Weidlinge den einsamen Spaziergänger überholt, aber um Nick hatte seine [93] Erscheinung wieder den gleichen Gedankenzauber wie gestern gewoben. Sie sah die Frühlingswälder nicht, an denen die Kähne vorüberschwebten, auch nicht die alte malerische Mühle am Uferwinkel, neben der ein Flüßchen in den Rhein hineinplauderte, und als Ulrich das Wort an sie richtete, schrak sie zusammen.

Er merkte, daß er sie aus einer andern Welt gerissen hatte, sie jedoch faßte sich rasch und lächelte ihn an: »Gelt, ich bin ein zerfahrenes Ding, im wogenden Kahn träumt sich's so schön!« Da war er schon wieder zufrieden.

Der Rhein verbreiterte sich, mit den Rudern half die Mannschaft den Schiffen durch die schwache Strömung nach. Aber nun sammelte sich der Fluß wieder zu lebhaftem Gewoge, es winkte der altersgraue, mächtige Turm von Kaiserstuhl, eine Brücke warf sich über den Strom. Geruhsame Zollwächter, links schweizerische mit roten, rechts deutsche mit grünen Aufschlägen, genossen das seltene Schauspiel, daß wieder einmal Boote mit fröhlichem Volk auf dem Rhein fuhren, und das an der Uferhalde klebende Städtchen eilte zu Haufen herbei, um die fröhlich landende Gesellschaft zu begrüßen.

Ein Zug ordnete sich. Bald saß die Jugend im Saal des altstattlichen Gasthauses zur Krone an den im Hufeisen angeordneten Tischen und ließ sich als Vorspeise ein mit grüner Petersilie überstreutes, knusperiges Fischgericht schmecken. Auf einer kleinen Empore stimmten ein paar Geiger ihre Instrumente und weckten in den Herzen der Mädchen die Vorfreude am Tanz, der ihnen doch am gesamten Feste als das Wesentlichste erschien.

Nick saß zwischen Ulrich und Heller, dem jungen [94] Manne, der bei ihr wegen des Ringes vorgesprochen hatte und als der kommende Obmann galt. »Wie die Präsidentin!« lachte sie übermütig. »Aber so kommt's, wenn man die Eingeladene des Obmanns ist.«

Schon war die erste Eßlust gestillt. Die bedienenden Mädchen brachten den edlen Wein, den der Gemeinderat von Eglisau dem Verein hatte überreichen lassen. Er perlte in den Gläsern und warf den blinkenden Stern.

Da erhob sich Rudolf Heller, gebot Ruhe und sprach: »Lieber Obmann, werte Fahrer und Eingeladene! Ich weiß am besten selber, daß ich ein schlechter Redner bin, und Ihr wißt ja ohne meine Worte, wem das heutige Festchen gilt. Unserm scheidenden Obmann Ulrich Junghans. Seit drei Jahren gehörte er als treues und eifriges Mitglied unserm Verein an, im letzten als Oberfahrer und Obmann. Seit der Verein besteht, blühte er nie wie unter seiner Führung. Ihr Jungen, nehmt Euch an ihm für die Zukunft ein Vorbild! Dann steht es um unsere Gesellschaft immer gut. – Was wir aber bei deinem Abschied empfinden, lieber Freund, das will nicht ich mit meiner kleinen Rednergabe dir sagen, sondern das hat auf meine Bitte deine Nachbarin zur Rechten, Fräulein Monika Tappoli, übernommen. Zuerst aber stoßen wir auf dein Wohl an und wünschen dir glückliche Wanderschaft!«

Nein, Rudolf Heller war kein Redner, stoßweise kamen ihm die Gedanken vom Mund, aber seine schlichten Worte wurden so redlich aufgenommen, wie sie gemeint waren.

Die Gläser klangen zusammen, am hellsten um Ulrich. Als sich aber die Gesellschaft beruhigt hatte, saß er [95] mit rotglühenden Wangen. Ihn freute die Liebe und Treue, mit der seine Freunde an ihm hingen, und durch seine Seele jubelte der Gedanke: Was hast du für eine schöne Heimat! Sein Herz aber zitterte den Worten Monikas entgegen, die ihm mit keiner Silbe verraten hatte, daß eine Verabredung hinter seinem Rücken getroffen worden war. Heimlich tat er vor ihr Abbitte, daß ihn im Kahn ihre Zerstreutheit gekränkt hatte. Er wußte ja jetzt, was ihr durch den Kopf gegangen war: der Auftrag des Vorstandes.

Da rief Rudolf Heller: »Ich erteile das Wort Fräulein Monika Tappoli!«

Im Saal wurde es mäuschenstill. Denn von ihr erwartete jedermann etwas besonders Schönes.

Unter dem üppigen, dunkeln Kraushaar blühten ihr die Wangen, ihre dünnen Nasenflügel bebten, und einen Augenblick erschrak sie über ihre eigene Stimme. Nun aber hatte sie sich in der Gewalt. Schön ausgeschliffen fielen ihr die Strophen vom frischroten Mund:

»Leb wohl, du kleine Stadt am Rhein! –
Du wanderst nun hinaus,
Du fragst den goldnen Sonnenschein:
»Wo ist das Glück zu Haus?«
Und sieh, du bist sein guter Gast,
Er hat sich dir gesellt.
Doch wenn du es verloren hast,
Das Glück der fremden Welt,
So klopft bei dir in jeder Nacht
Die Heimat sorgend an
Und hält bei dir getreue Wacht,
Wie es die Mutter einst getan.
[96] Sie flüstert: »Du mein junges Blut,
Wie ist's um dich bestellt?
Wo blieb dein froher Jugendmut
Im Spiel der weiten Welt?«
Des Städtchens traute Giebel stehn
Verträumt am Rebenhang,
Du siehst im Rhein die Wellen gehn,
Hörst ihren Nachtgesang.
Am Strom hörst du vor Tau und Tag
Ein helles Arbeitslied,
Der eignen Werkstatt Hammerschlag,
Was fehlt dir, junger Schmied?
Du fährst empor: Im Morgenrot
Wie steht die Fremde leer!
Dein Herz schreit auf nach Mutterbrot,
Es schlägt dir heiß und schwer.
Was träumst du armer Junge noch,
Wenn fremdes Glück zerbricht?
Die Heimat hält die Treue doch,
Nein, sie vergißt dich nicht.
Wir geben dir das Unterpfand,
Wir Jugendvolk vom Rhein:
Du wirst daheim im Vaterland
Der stets Willkommne sein!«

Nick hatte das Gedicht mit steigender Wärme gesprochen und während der letzten Strophe die kleine Kapsel geöffnet. Nun nahm sie daraus den Ring und las mit fester, klarer Stimme: »Ulrich Junghans, unserm verdienten Obmann und Oberfahrer, der Rheinfahrverein Eglisau.« Unter der lautlosen Stille der andern steckte sie ihm den Reifen an den Finger, und nun brach der zustimmende Ruf der Gesellschaft los.

Die Freude strömte in das Gesicht des überraschten [97] Ulrich. Er sollte nun selber eine Rede halten, aber er brachte nur hervor: »Ich danke Euch allen!« Wenn er weiter gesprochen hätte, wären ihm die Tränen gekommen. Nur an Nick wandte er sich noch: »Dir danke ich besonders. Das Gedicht wird mir in der Fremde ein schöner Anhalt bleiben. Wie konntest du auch so etwas aussinnen?« Seine Augen glänzten, den Ring am Finger ging er, halbtrunken vor Glück, unter den Freunden umher und drückte jedem die Hand.

Die Verse hatten aber auch den andern gefallen. Viele verwunderten sich, daß man nicht nur aus der Ferne, sondern auch aus dem bescheidenen Heimatstädtchen etwas Liedhaftes sagen könne. »Woher hat's nur die Nick?« »Von ihrem Vater! Für seine Sechseläutenzunft in Zürich, den ›Kämbel‹, hat er oft Verse gedichtet,« sagte Rudolf Heller. »Sie müssen ins Protokoll!« Ein paar Mädchen kamen und schrieben sie ab. – Nach bescheidenem Widerspruche ließ es Nick geschehen.

Nun aber wurden Stühle und Tische aus dem Saal geräumt. Die Geigen und eine Trompete setzten ein, die Paare walzten, und Nick wie Ulrich waren froh, der allgemeinen Aufmerksamkeit entronnen zu sein, und machten ein paar Runden miteinander. Nachher kam für ihn die Höflichkeitspflicht, es auch mit den übrigen Mädchen zu tun. Nick setzte sich auf eine Bank an der Wand und schaute in das lebhafte Treiben. Stets aber kamen wieder Burschen und baten sie um einen Tanz.

»Gern, aber erst später,« erwiderte sie jedem.

Die Enttäuschten zogen sich zurück. Ulrich kam wieder.

[98]

»Sonderbar, das Tanzen liegt mir nicht,« gestand sie. »Ich muß dabei an so viele Abendstunden mit meinem Vater denken, der es mich gelehrt hat. Ebenso mag ich den Burschen nicht immer Abschläge erteilen. Wenn wir ein Viertelstündchen ins Freie gingen?«

Ulrichs Herz pochte hoch, er bot ihr den Arm und führte sie aus dem Saal, durch die von einem uralten Wachtturm beherrschte Gasse das Städtchen hinab und hinaus auf die Rheinbrücke, an deren Enden die Zöllner Posten standen. Nick dachte, er wolle nur nach den Weidlingen sehen, und in der Tat stand er eine Weile und schaute in den Strom, aus dem die wasserfeuchte Luft kühl und erfrischend emporstieg, und in die dahinterragenden, von einem zarten Duft umwobenen Schwarzwaldberge. Dann aber zog er sie leise mit sich gegen das deutsche Ufer, an dem auf klippigem Hügel das Dorf Hohenthengen die grauen Giebel reckt.

Sie fragte: »Wird man uns nicht vermissen?«

»Wo denkst du hin?« erwiderte er. »Dafür sind sie zu eifrig im Tanzen drin.«

Er dachte in diesem Augenblick überhaupt nicht mehr an den Verein, sondern die Seele erbebte ihm in dem Vorsatz, Nick seine Liebe zu erklären. Es wäre die Krönung des wunderschönen Tags, und was für ein Glück trüge er auf der Wanderschaft im Herzen, wenn sie ihn ihrer Zuneigung vergewisserte!

Der Zollwächter am deutschen Ufer, ein Graubart, der mit gelangweiltem Blick vor dem Schloß Röthelen saß, erwiderte freundlich ihren Gruß, und die Augen wurden ihm hell. Was für ein schönes, frisches Paar!

[99]

Ulrich schwenkte mit Nick von der Straße ab und bog links in einen Feldweg dem Ufer entlang.

Sie fragte: »Wohin gehen wir denn?«

»Ich will dir die Ruine Weißwasserstelz am Strom zeigen,« antwortete er, »sie liegt nicht weit von hier. Ich war einmal mit Doktor von Jaberg und Gerold dort; die Gegend hat viele merkwürdige Altertümer.«

Eine Weile sprachen sie von Gerold, dem seit etlichen Jahren entschwundenen gemeinsamen Freund; aber Nick spürte, daß die Gedanken Ulrichs nicht bei der Sache waren. Der Atem ging ihm schwer.

Das stille Sprießen des Frühlings umgab sie, Millionen weißer Sterne standen und beteten zur Sonne: »Wir danken dir, Urheilige, daß wir blühen und scheinen dürfen.« Aus der Schweiz herüber rief der Kuckuck mit durchdringend hellem Klang, und wenn er schwieg, so antwortete der aus dem Schwarzwald. Die Waldpfade, durch die Ulrich seine Begleiterin führte, waren so verwachsen, als ob hier nur alle hundert Jahre eine leichtfüßige Fee durchstreife, um nachzusehen, ob die Welt noch stehe. Doch nein, so menschenleer war die Wildnis nicht. Sie kamen in einem Tälchen an die Guggimühle: graues Gemäuer wie ein Stück Frühmittelalter, doch bewohnt.

»Und hier muß auch Weißwasserstelz sein,« unterbrach Ulrich das Schweigen. »Dort auf dem Waldhügel am Rhein liegt die Burg, nur sieht man sie vor den Tannen nicht, bis man mit der Stirn daranstößt.« – Sie schritten empor.

Waldumsponnen stand die Ruine in Lenzduft, [100] Sonne und Einsamkeit, und von den grünen Wogen umspielt erhob sich im Rhein noch ein zweites Schlößchen: Schwarzwasserstelz, hoch und schlank wie eine gotische Kapelle.

»Wie wunderschön ist die Stätte,« rief Nick, »wie märchenhaft die Stimmung, die Wald und Efeu um die gebrochenen Mauern und Portale verbreiten und die Reste der viereckigen und runden Türme!«

Den Hut in der Hand setzte sie sich auf eines der gestürzten Trümmerstücke, ruhte mit schlanker, biegsamer Gestalt und atmete den Traum des alten Burgmärchens in sich ein. An den dunkeln Kanten des Gemäuers brach sich das Blau des Himmels, aus jäher Tiefe flimmerten die Wellen des Stroms, auf dem Gestein sonnten sich mit listigen Äuglein und geöffneten Mäulchen die Eidechsen, und durch die geschwärzten Bogen herein flatterten kleine blaue Schmetterlinge, wie dem Grab entstiegene Seelchen, die sich noch einmal an der warmen Luft freuen wollen. Einige Föhren, die zuhöchst auf die Mauern gestiegen waren, breiteten ihre Schirme wie Fahnen der Vergessenheit aus. Das gesamte Bild bat: Stört mich nicht! Nach Sturm und Kampf bin ich der selige Todesfriede derer, von denen man nicht mehr spricht; zu unruhvoll sind mir eure Herzen, ich mag nur Sonne, Wind, Wetter und das Schlummerlied des Stromes. – So empfand Monika die Stimmung.

Ulrich aber sah nur sie, den Sonnenflimmer auf ihrem Haar, ihren tiefroten Mund und die junge, leisbebende Brust. Er setzte sich stumm zu ihr hin. Jetzt oder nie!

[101]

Vor seinem Blick erbangend löste sie selber das Wort aus: »Uli, du bist so verändert. Ist dir nicht gut?«

»Gib mir die Hand, Nick,« bat er. »Ich kann nicht fortgehn ohne deine Liebe.« Das Wort stockte ihm, seine starke Gestalt erzitterte.

»Gott, das ist's!« stöhnte sie. Ihr Gesicht deckte sich mit Todesblässe, dann stieg ihr eine Flamme in die Wangen. Statt ihm die Hand zu reichen, hob sie den Arm vor die Augen, wie wenn sie ohne seinen Anblick überlegen wollte. Sie dachte an ihren Vater, wie sie den von ihm übernommenen Namen in Ehren halten müsse, irgend woher aus dem Hintergrund ihrer Seele raunte eine Stimme: »Ulrich ist doch nur ein Schmied!« Und plötzlich sah sie vor sich das vergeistigte Gesicht des Verwesers Wildholz.

Ulrich aber nahm ihre Hand. »Nick,« keuchte er krampfhaft, »Nick, laß mich nicht ohne dein Ja in die Fremde gehn! – Um Gottes willen, du schweigst?«

»Ich kann dir das Ja nicht geben,« erwiderte sie hilflos, die Augen von ihm gewandt. »Laß uns zurückgehen, Uli!«

Schmerzliche Stille waltete zwischen ihnen. Sie saß gesenkten Hauptes wie in Martern. Zuerst kam in sein Gesicht wieder Leben.

»Dann will ich wissen,« rief er, »warum du mich nicht magst, obwohl du mich's heute noch glauben ließest!«

»Ich habe dich stets gemocht, Uli,« antwortete sie zitternd, »und mich dir heute mit gutem Sinne anvertraut. Schreib mir einen Brief von deiner Wanderschaft, und ich will dir antworten.«

»Ein Mädchen weiß doch gewiß im ersten Herzschlag, [102] ob es Ja oder Nein sprechen will,« trotzte er halb wehvoll, halb höhnisch.

»Nun denn – Nein!« versetzte sie leise und fest.

»Nick, wozu dann das Gedicht und das falsche Spiel von heute?« fragte er zornig.

Da wich das Blut aus ihren roten Lippen, sie warf den Kopf zurück und versetzte stolz: »Auf diese Beleidigung erst recht Nein. Daß du's nur weißt, Ulrich, ich habe mein Herz schon vergeben!« Härter, als sie wollte, fiel das Wort.

Er taumelte ein paar Schritte, schlug die Arme über die Brust ineinander und schaute todesfinster vor sich hin. Sie setzte sich auf einen Baumstamm und weinte in die Hände hinein. Nach einer Weile der Stille fragte er sanft und traurig: »Nick, ist es dein letztes Wort?«

»Ja,« stöhnte sie.

Sie stand auf und schlug aus eigenem Antrieb den Rückweg ein, zitternden Fußes, Tränen auf den Wangen, das Herz voll Leid. Er folgte ihr in einiger Entfernung. Vor der Brücke wartete sie auf ihn. Der alte Zollwächter sah ihnen kopfschüttelnd nach.

Die Gesellschaft in der Krone tanzte noch. Nick und Ulrich gaben sich große Mühe, den Riß, der zwischen ihnen entstanden war, zu verdecken, aber die Worte, die sie miteinander wechselten, klangen kalt und erzwungen. Beim Abendbrot hielt Ulrich sogar eine Rede. Er war sonst ein guter Sprecher, doch jetzt waren ihm alle die schönen Gedanken, die er gefaßt hatte, entschwunden; seelenlos und stockend sprach er über dies und das, schloß mit einer plötzlichen Wendung und setzte sich.

[103]

Kopfschüttelnd machten die Burschen ihre Bemerkungen. Er aber wußte am besten, daß er die Gesellschaft enttäuscht hatte. Einige gerieten auf den guten Einfall, das Lied anzustimmen: »Wohlauf noch getrunken, den feurigen Wein!« Er sang es trotzig mit.

So kam der Aufbruch, die nicht allzulange Wagenfahrt nach dem Heimatstädtchen. Das entzweite Paar war froh, daß die Gesellschaft Sang um Sang in die blaue Frühlingsdämmerung steigen ließ. Nick hüllte sich in ihren Mantel, nicht nur vor dem kühlen Wind, sondern ebensosehr aus dem Wunsche, möglichst wenigen Blicken zu begegnen.

Die meisten der jungen Leute hatten für sich zu tun. Die vom Tanz ermüdeten Mädchen lehnten sich an die Schulter oder Brust ihrer Partner, viel Liebesgeflüster erwachte unter den Sternen der klaren Nacht. Nick aber blieb stumm, und Ulrich atmete erleichtert auf, als das Städtchen seine schüchternen Lichtstrahlen im Rhein spiegelte, die Fuhrwerke die steile Straße gegen die Brücke hinunterfuhren und der Verein der Heimat zum Gruße das letzte Lied sang. Drüben hielten die Wagen, und er begleitete Nick bis zur Türe des Pfarrhauses. Da kam der Abschied. Die Hand des einen zitterte in der des andern.

»Ich will nicht fragen, wer dein Auserwählter ist,« stieß er bitter hervor. »Aber gewiß ist keiner auf der Welt, der es mit dir so gut meint wie ich.«

Sie wollte ihm trotzig antworten. Statt dessen versetzte sie demütig: »Sei mir nicht bös, Uli, ich wünsche dir ja doch für deine Wanderschaft und dein gesamtes [104] Leben das allerschönste Glück!« Fast wären ihr die Tränen wieder hervorgebrochen. Sie entzog ihm die zuckende Hand und schlüpfte in die Türe.

Er ging langsam zu den andern Burschen am Rhein zurück und half ihnen beim Laternenschein die Boote von den Wagen laden. Nun war die letzte Arbeit des Tages getan, und er wollte für die Reise Abschied von den Freunden nehmen.

»Ich fahre morgen noch nach Zürich, um das Wanderbuch zu holen, und am Dienstag früh geht's in die weite Welt. Also lebt wohl!«

»Nein,« erwiderten die andern, »am Dienstag früh um fünf Uhr wollen wir uns hier beim Brückeneingang sammeln. Wir singen dir noch ein paar Lieder, damit das Städtchen merkt, daß ein Rechter von dannen geht, und nachher geben wir dir das Geleit – jeder, soweit er kann und mag.«

Er hätte gern darauf verzichtet.

Als er heimwärts schritt, war er froh, daß in der Stube der Eltern kein Licht mehr brannte. Am liebsten hätte er den Ring der Jungmannschaft vom Finger gezogen und in den Rhein geworfen, damit ihn kein Andenken an den heutigen Tag erinnere. Er erschrak aber über den treulosen Gedanken.

Wie kam ihm nun das Wandern recht! Draußen in der Fremde würde er sich die Liebe zu Nick von selber aus dem Kopf schlagen und die Schmach vergessen, die sie ihm durch ihre Weigerung angetan hatte.


[105]

9

Nick erwachte am Morgen nach der Rheinfahrt mit einem trüben Gefühl. Sie mochte die Frühlingssonne nicht sehen und den Schlag der Vögel nicht hören. Am liebsten hätte sie sich in eine dunkle Ecke verkrochen. Sie dachte an die Liebesnot Ulrichs, an ihre Weigerung, an sein tiefes Leid. Warum hatte sie ihn abgewiesen? Doch nur wegen John Wildholz und seiner blaudunkeln Augen! Vielleicht fand er aber gar keinen Gefallen an ihr?

Noch saß sie beim Morgenbrot und sann vor sich hin. Da trat die Mutter in die Stube. »Ich glaube, der Verweser ist verlobt,« sagte sie. »Auf seinem Schreibtisch steht das Bild eines jungen Mädchens, und er legt davor jeden Morgen eine frische Blume, gestern und heute.« Nick spürte, wie das Luftschloß in ihr zusammenstürzte. Die Mutter fuhr fort: »Nun aber erzähle du. Du hast mehr erlebt als ich. Wie war die Fahrt?«

»Oh, der Rhein!« begann Nick mit tapferer Selbstverleugnung. »Wunderschön!«

»Deinem Gesicht sieht man nichts davon an. Man könnte eher glauben, du seiest bei einer Beerdigung gewesen!«

Vor dem scharfen Mutterauge brach die künstliche Fassung der Tochter zusammen. »Mutter,« rief sie [106] beklommen, »ich habe gestern die größte Torheit meines Lebens begangen! Ulrich Junghans hat mir seine Liebe gestanden – und ich habe ihn von mir gestoßen.« Sie neigte sich auf den Tisch hernieder und verbarg ihr Gesicht im Arm. Sie schluchzte.

Der Pfarrerin fiel es nicht ein, ihr Kind zu trösten. »Allerdings war's eine große Dummheit, Nick! Wie konntest du? – Schon für den Vater war Ulrich stets eine Herzfreude, und wie er dich einladen kam, habe ich selber gedacht, er sei ein ausnehmend gewinnender Junge. Dem sieht man ja von weitem das gute Vorwärtskommen an, und bei den Mädchen wird er nicht lange betteln müssen. Nein, wo der hingelangt, betteln sie ihn an. Bist du blind, Nick? – Du denkst nie daran, wie armselig eine Pfarrerstochter dasteht, wenn der Vater gestorben ist und die Besoldung ausbleibt. In Wahrheit bist du eine arme Maus, und wenn der neue Pfarrer sich selber hier einen Haushalt gründet, so hast du hier weniger Rechte als eine Maus.«

Da hob Nick den Kopf: »Willst du mich denn ganz zerschmettern, Mutter?«

Die Pfarrerin erwiderte etwas besänftigt: »Nein, Kind, aber wenn eine wie du das Glück mit Füßen tritt, darf man ihr schon die Augen öffnen. Mit dem einzigen Menschen, der dir helfen könnte, deinem Schwager, bist du überworfen, und die Verwandten in der Stadt, auf die du heimlich zählst, haben sich von uns zurückgezogen, seit die guten Weine im Keller ausgegangen sind.«

»Nun ist's genug, Mutter,« versetzte Nick. Sie erhob sich.

[107]

»Was willst du tun?« fragte die Pfarrerin.

»Ich will versuchen, Ulrich Junghans einen Brief zu schreiben, damit er weniger böse auf mich ist.« Sie empfand die scharfen Worte der Mutter wie eine wohlverdiente Züchtigung. Wie war sie gestern gegen den wohlmeinenden Uli verblendet gewesen! Sie begriff sich schon heute nicht mehr.

Zuerst trat sie in das Zimmer des Verwesers, der im Unterricht weilte, besah sich das Mädchenbild, das auf einer kleinen Staffelei stand, und war davon enttäuscht. Es zeigte ein landläufiges, ziemlich breites Gesicht, nicht hübsch, nicht häßlich, umrahmt von glattgestrichenem Haar. Sein Reiz lag in den großen, frommen Augen. Was man von ihrem Kleid, einer Art religiöser Tracht, sah, deutete auf eine Missionarin. Wie die Marke des Photographen sagte, war das Bild in Kalkutta aufgenommen worden, und als Nick es wendete, las sie: »Ihrem im Herrn innigstgeliebten John Wildholz seine treue Christine Eberhard.«

Sie war also die Tochter des Missionars, bei dem er einige Jahre zugebracht hatte.

Nick neigte ernüchtert den Kopf. Sie begriff den Geschmack des Verwesers nicht, er kam ihr selber weniger verehrungswürdig vor. Ihre Schwärmerei für ihn war dahin. Welche Grausamkeit des Lebens! Wenn sie das Bild vor der Fahrt gesehen hätte, dann –

Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende, sie stieg in ein Kämmerchen empor, in dem sie als Kind ihre Schulaufgaben gelöst hatte und das noch immer ihr Zufluchtsort war, wenn sie ungestört sein wollte. Schwalben [108] flogen durch das geöffnete Fenster aus und ein. Der geplante Brief aber geriet ihr nicht. Die erste Fassung fand sie zu zerknirscht, die folgende gequält, sie stolperte stets wieder darüber, daß sie Ulrich erklärt hatte, ihr Herz sei bereits vergeben, – und war zu stolz, sich selber der Lüge zu zeihen. Bogen um Bogen schrieb sie, doch gegen Abend gab sie es verwirrt und traurig auf.

»Dann geh doch selber zu Uli,« riet ihr die Mutter.

»Er ist in Zürich, und ich weiß nicht, wann er heimkommt,« versetzte Nick. »So tief demütige ich mich auch nicht.« –

Ein stiller Zwist lag nun zwischen der Pfarrerin und ihrer stolzen Tochter. Das Abendbrot, zu dem John Wildholz erschien, wurde Nick, die von der Fahrt erzählen sollte, zur Qual. Sie zog sich früh zurück. Im Tagesgrauen erwachte sie aus schweren Träumen durch ein Volkslied, das, von einem Dutzend Männerstimmen gesungen, aus der Brücke zu ihr heraufklang.

»Hier in weiter, weiter Ferne,
Wie's mich nach der Heimat zieht;
Lustig singen die Gesellen,
Doch es ist ein falsches Lied,
Doch es ist ein falsches Lied.«

Jetzt geht er, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie sprang ans Fenster, durch den Laden rief sie: »Uli – Uli!«

Sie horchte umsonst! Die Schritte der Jungmannschaft, deren Gestalten sie in der Dämmerung eben zu erkennen vermochte, entfernten sich, Sang und Klang verging in den Worten:

[109]

»Andre Städtchen, andre Mädchen
Kommen freilich zu Gesicht;
Ach, wohl sind es andre Mädchen,
Doch die eine ist es nicht,
Doch die eine ist es nicht!«

Nick warf sich hin. Sie hätte gestern abend Ulrich doch noch aufsuchen sollen. Nun gaben ihm ihre Gedanken das Geleit. Sie sah ihn, wie er, einen halben Kopf größer als seine Freunde, frisch, stark, sehnig, am hohen, glänzenden Hut den Levkoien- und Rosmarinstrauß, aus der Heimat schritt. Im nächsten Dorf verabschiedeten sich wohl schon etliche seiner Begleiter, im übernächsten die meisten, und nur die letzten Getreuen gingen mit ihm bis nach Schaffhausen. Dort ein Imbiß, ein Klingen mit den Gläsern, ein Händeschütteln. Das war das Ausschenken. Nun wanderte er allein, nun warf er den letzten langen Blick über die Grenze ins Vaterland zurück. Und er gedachte noch einmal aller seiner Freunde, die ihn mit soviel Ehren aus der Heimat entlassen hatten. Sie aber hatte ihm den Abschied verbittert, ihrer gedachte er mit zornvoller Seele …

Leere Tage kamen in ihr Leben. Sie wären ihr noch schattenhafter dahingegangen ohne die Gegenwart des Verwesers. Seit sie wußte, daß er verlobt war, versuchte sie ihm knapp und kühl zu begegnen, er aber bewies ihr stets eine große, mit feiner Herzlichkeit gepaarte Achtung, der sie nicht zu widerstehen vermochte. Aus jedem seiner Worte spürte sie, wie ihm daran gelegen war, ihr seelisch näher zu kommen. Er lud sie zu seinem täglichen Spaziergang ein, und es schien ihm einen Genuß zu bereiten, [110] mit ihr durch die stillen Felder und Wälder am Rhein zu gehen.

»Fräulein Tappoli, damit wir gegenseitig klar sehen,« begann er eines Tages, »will ich Ihnen bekennen, daß ich in Indien ein Mädchen zurückgelassen habe, mit dem ich still verlobt bin. Diese Liebe ist mir heilig. Sie ist mir aber kein Hemmnis, Ihnen in ehrlicher Freundschaft meine Teilnahme entgegenzubringen. Ich freue mich, Ihre frische Tätigkeit zu beobachten, und wie Ihnen stets ein Sonntag von Gedanken dabei mitläuft.« Leuchtende Güte stand in seinen Augen.

Das freimütige Wort gefiel Nick.

Er aber fuhr fort: »Der Zufall hat mir ein Blatt in die Hand gespielt, in dem der junge Lehrer Hans Weber die prächtige Rheinfahrt vom Sonntag schildert. Da las ich auch das Gedicht, das Sie dem scheidenden jungen Schmied Ulrich Junghans widmeten. Er muß ein tüchtiger Mensch sein!«

»Die Strophen sind ohne mein Vorwissen in die Zeitung gekommen,« erwiderte Nick mit verhaltener Heftigkeit. »Es tut mir sehr leid!«

»Nun, möge nichts Schlimmeres geschehen,« begütigte sie Wildholz. »Aus den Versen schaut ein helles, liebes Menschenkind. Das ist genug. Sie haben mich aber auf die Frage geführt, ob der junge Mann, dem sie gelten, Ihrem Herzen nahe steht?«

Das Blut stieg ihr ins Gesicht. »Herr Verweser, lassen Sie mir mit der Antwort Zeit,« – mehr vermochte sie nicht zu erwidern.

[111]

Er drang nicht weiter in sie. Sie aber lernte ihn von Tag zu Tag höher schätzen.

Der bald leis schwermütige, bald feurig schwungvolle Mann brachte sich sowohl als Prediger wie als Lehrer zu Ansehen. Sie selber spürte: ihr Vater hatte den vollwertigen Nachfolger gefunden, sogar einen, der ihn an hinreißender Kraft des Wortes übertraf. Doch war ein großer Unterschied zwischen den religiösen Auffassungen der beiden Männer. Der Vater hatte, von einem fast künstlerischen Humanismus durchdrungen, das Sonnige des Lebens so gut wie seine Schatten gesehen; Wildholz aber, der aus der Mission hervorgegangene strenggläubige Christ, legte den Nachdruck auf die Schwäche und Sünde der Menschheit und ihr tiefes Erlösungsbedürfnis. Dafür fand er aus mystischer Kraft heraus glühend düstere, für Nick fast unheimliche Töne, die aber die Leute mächtig ins Gotteshaus rissen.

Durch die Predigten wie durch die gemeinsamen Spaziergänge von seiner alles begreifenden Güte überzeugt, faßte Nick Zutrauen zu Wildholz, kam aus eigenem Drang einmal auf seine Frage zurück und gestand ihm die Aussprache mit Ulrich Junghans in den Ruinen von Weißwasserstelz. Dabei verschwieg sie ihm freilich, daß es gerade sein, des neuen Verwesers, Erscheinen im Städtchen gewesen sei, das einen Zwiespalt in ihre Seele getragen habe, und schob alle Schuld, daß sie die treue Hand des jungen Schmiedes ausgeschlagen, auf die Verwirrung des Augenblicks und einen ihr hinterher selbst nicht mehr verständlichen Mädchentrotz.

John Wildholz sah ihr mit warmer Freundschaft tief [112] in die Augen. »Ich merkte, daß Sie leiden, Fräulein Nick. Fehler aber, die man einsieht, soll man nicht alt werden lassen. Wenn Sie die herzliche Überzeugung haben, daß der junge Mann Ihrer wert ist, so schreiben Sie ihm einen aufrichtigen Brief, wie es um Sie steht. Um seinet- wie Ihretwillen! Was geschieht sonst? – Sie beide begraben die erste, heilige Liebe; mit hungerndem Herzen geht er, gehen Sie andere Lebensverpflichtungen ein und vermehren in der Welt nur die große Zahl der Unglücklichen, die am Tag mit leerer Seele lachen und in der Nacht um ein verlorenes Glück weinen.« Sein Blick ruhte teilnahmstief und doch mit schwerer Mahnung in ihrem Gesicht. »Sie dürfen nicht den Pakt mit dem staubigen Alltag schließen, Fräulein Nick, Sie sind dafür ein zu wertvolles Menschenkind.«

Seine Nachdrücklichkeit brachte sie in Verlegenheit. Sie wußte schon, daß sie den Brief nie schreiben werde, nicht sowohl wegen ihres eigensinnigen Stolzes, den sie manchmal selber beklagte, als aus dem Gefühl, sie habe sich durch ihre erregten Worte auf Wasserstelz jede gute Rückkehr zu Ulrich Junghans abgeschnitten.

Schweigend ließ der Verweser sie gewähren, er tat, als spüre er ihren inneren Kampf nicht. Sie wurden immer bessere Freunde. Im Städtchen liefen die Anspielungen, sie sei mit ihm verlobt, ja es gab Neugierige, die sie unmittelbar fragten: »Darf man bald Glück wünschen?« So war für sie viel Bittersüßes an dem schönen Verkehr mit Wildholz, und vielleicht litt auch er unter heimlichen Schmerzen.

Da kam die Wendung. Die Bewohner des Städtchens [113] drängten, daß der die Herzen ergreifende Redner als Geistlicher berufen werde, bevor eine andere Gemeinde ihn mit ihren Versprechungen hinweglockte, und die Kirchenpflege trug ihm schon gegen den Herbst das Amt des Pfarrers an. Er bat um ein paar Tage Bedenkzeit – und lehnte die Berufung ab. Niemand begriff es, am wenigsten Nick.

Die Weinlese jauchzte an den Ufern des Rheins. Da gingen sie miteinander durch den buntprangenden Wald und ruhten unter mächtigen, alten Buchen, durch deren Kronen der letzte Sonnenschein spielte. Nick merkte, wie es im Innern des Verwesers kämpfte. Plötzlich fragte er abgerissen: »Haben Sie eigentlich den Brief an Ulrich Junghans geschrieben?«

Sie erschrak und schüttelte stumm den Kopf. Er sagte: »Ich gehe nicht gern von Ihnen ohne den Gedanken, daß Ihnen eine schöne Zukunft winkt. Warum versäumen Sie Ihr Glück?« Er sah sie warm besorgt an. Seine Stimme zitterte leise. »Wie froh wäre ich, wenn ich Ihnen selber etwas sein könnte, aber unsere Wege trennen sich. Sie wissen, schweren Herzens habe ich den Antrag der Kirchenpflege abgelehnt. Ich habe mich entschlossen, eine Studienfahrt ins heilige Land zu unternehmen. In acht Tagen werde ich schon in Italien sein, und bin ich zurück, hoffentlich in meinem religiösen Glauben bestärkt, vertieft und gereift durch den Wandel auf den Spuren des Herrn, so kommt wohl auch meine Braut Christine Eberhard in die Heimat und wir finden die Pfarre, auf der wir unsern Hausstand gründen können.«

[114]

Nie vorher hatte Wildholz von dem Reiseplan gesprochen, Nick war davon völlig überrascht.

Und wieder begann er: »Ich wollte, ich wüßte um Ihren Weg, Fräulein Nick, und daß es Ihnen gut ginge. Ich sorge mich um so mehr um Sie, da Sie ja doch nicht mehr lange im alten, lieben Pfarrhaus bleiben können. Die Kirchenpflege hat nach meiner Ablehnung die Berufung eines Pfarrers beschlossen und bereits einen Kandidaten in Aussicht, der Weib und Kind besitzt.«

Nick schrak zusammen. Sie schritten beschwerten Gemütes aus dem abendgoldenen Wald. Da sagte sie plötzlich, wie aus einem Traume heraus: »Sie haben nach meinem Weg gefragt, Herr Wildholz. Er liegt für mich klar. In die Welt hinaus, das Brot verdienen, warten und sehen, ob nach zwei oder drei Jahren jener wieder kommt, dessen Hand ich verworfen habe, und ob er mich noch will. Es ist seltsam, schreiben kann ich ihm nicht.«

Schon hatte er eine Entgegnung auf den Lippen, aber sie waren an die Rheinhalde gekommen, an der die Winzer ihren Segen einbrachten. Im blauen Dunst des Abends führten die Bauern mit ihren Ochsengespannen die Kufen nach den Keltern, da und dort stand noch eine fleißige Schar an die Weinstöcke hingebückt, Volkslieder erklangen, Jauchzer gingen über den Strom, und freudige Hände streckten dem Paar die duftigen blauen und goldgelben Früchte entgegen. Wildholz und Nick nahmen dankend an. Sie aber spürte mehr die Wehmut als die Freude des Herbstabends, ihr Herz antwortete [115] nicht auf die Gesänge, sie dachte nur an den Abschied von ihrem Freunde. –

Als er für die weite Reise ins Morgenland von ihr Abschied nahm, bebte seine Hand, mit brechender Stimme sagte er: »Behüt' Sie Gott, liebe Nick!« Ihr war im Augenblick, da er gehe, müsse sich etwas Besonderes ereignen; aber als sein Fuhrwerk hinein in die Brücke rollte, geschah nichts weiter, als daß eine wunderbare Klarheit in ihre Seele kam: Er hat dich geliebt! Darum drängte er so stark auf den Brief an Uli, darum schlug er die Berufung aus! Die Reise, von der er früher nie gesprochen hatte, tritt er an, um dich vergessen und jener Christine Eberhard treu bleiben zu können. Was ist er für ein starker Mann!

Mit gefalteten Händen ließ Nick die Tränen über das Gesicht hinunterlaufen, ihre Seele wurde wund um ihn. In ihre Wehmut und Zerknirschung mengte sich aber auch ein Gefühl des Stolzes, daß sie dem ernsten, tiefreligiösen Mann etwas hatte sein können, daß er sie geschätzt, ja im stillen geliebt hatte, der Arme, Unfreie, der sein Herz an die bescheidene Missionarin wohl nur hingegeben hatte, weil ihm auf der fernen Station eine andere Liebe nicht möglich gewesen war. Wildholz litt darunter, war jedoch zu vornehm, um untreu zu sein.

Unter Gewissensbissen aber dachte sie an Ulrich Junghans und sich selbst. Wie flatterhaft war ihr Herz! Erst wies es Uli schroff zurück, dann blutete es um ihn, darauf schwärmte es für Wildholz. Wenn es so um die Festigkeit ihrer Liebe stand, war es schon klüger, nicht an Uli zu schreiben. In aufdämmernder Selbsterkenntnis [116] sah sie in der Unsicherheit ihrer Gefühle einen verhängnisvollen Charakterfehler, und sie ahnte, daß sie einen schweren Weg gehen werde.

Schon in den nächsten Tagen trat der neue Pfarrer mit Frau und halbwüchsiger Tochter ins Haus, und obgleich sie es nicht an Höflichkeit fehlen ließen, merkten Frau Tappoli und Nick, die sie durch die Räume und den Garten geleiteten, aus den behaglichen Gebärden und Gesprächen, wie stark sich die Neulinge schon als die Herrenleute des Besitzes fühlten. Welch trauriger Abend nachher! Und was nun? –

Die Mutter beschäftigte sich mit dem Gedanken, in der Stadt eine Pension für Studenten einzurichten, und der Plan gefiel auch Nick. Indessen gelangte er nicht zur Ausführung. Ferdinand Bürsteler, der seit einem Jahr den Rock des Pfarrers ausgezogen und in der Heimat eine Baumwollspinnerei gekauft hatte, kam eigens zu Besuch, um der Schwiegermutter und der Schwägerin den Plan auszureden. Der gutmütig-stolze Industrielle wollte die nächsten Verwandten seiner Frau nicht in erwerbender Stellung sehen. Als besten Gegengrund schob er die schwache Gesundheit der Mutter vor und war bereit, sie sowohl wie Nick in sein Haus aufzunehmen.

Nick mochte nun einmal die fleischige Gestalt Ferdinands nicht, und ehe sie sich's versah, hatten sie schon wieder Händel miteinander. Er gab den Versuch, sie zu versöhnen, nicht gleich auf, begleitete sie nach dem Einbruch der Nacht noch zu einer Besorgung ins Städtchen und versuchte dabei, seinen Arm in den ihren zu schieben. Sie aber lachte ihn spöttisch aus: »Ich werde schon für [117] den sorgen, der mich führt,« und machte sich frei. Bürsteler mußte es selber einsehen: es gab kein Auskommen zwischen ihnen. Die Mutter entschloß sich, in die Familie des Schwiegersohnes einzutreten, in der ihr bereits ein Enkelkind blühte; Nick aber wollte mit Verwandten in Zürich beraten, vor allem mit ihrem Vormund, dem Tierarzt Tappoli, einem jüngern Bruder ihres Vaters, der sich freilich bis jetzt wenig um sie gekümmert hatte.

Den Bewohnern des Städtchens tat es leid, die letzten Glieder der Pfarrersfamilie zu verlieren, die mit ihnen ein Vierteljahrhundert Freude und Sorge geteilt hatte. Manche der Bürgersleute kamen noch ins Pfarrhaus, um sich von Mutter und Tochter zu verabschieden, und sie kamen nicht mit leeren Händen. »Was fangen wir nur mit all den Geschenken an,« rief Nick, »den Töpfen voll Honig, den Säcken voll gedörrter Zwetschgen, Äpfel- und Birnschnitzen, den Würsten und Schweinskinnbacken?« Dabei standen ihr aber die Augen voll Tränen.

Sie verbrachte eine wehe Abendstunde am Grabe ihres Vaters. Nachbarn besorgten unter wehmütigen Betrachtungen das Ausräumen des Hausrates. Ein herzzerreißendes Bild, die trauten Möbel auf der Straße, die letzte Rast im verödeten alten Heim. In die Brücke hinein schwankten zwei Wagen, ein größerer und ein kleinerer. Jener führte die Witwenausstattung der Mutter ins Oberland, dieser die für Nick ausgeschiedenen Stücke nach Zürich. Als die Sonne durch den Nebel brach, folgten ihnen in einem Chaislein die beiden schwarzgekleideten Frauen. Aus vielen Fenstern und Türen winkten letzte Grüße, seine Abschiedslieder [118] rauschte zwischen den hohen Borden herauf der Rhein, noch einmal grüßte das Städtchen mit den steilen Firsten und blumengeschmückten Lauben. Als es hinter der Uferhöhe den Blicken entschwand, hüllte sich Nick trotz der wärmenden Sonne tiefer in ihren dunkeln Schal.

Der Neunzehnjährigen war, die Jugend sei für sie abgetan.


[119]

10

Am Frühnachmittag erreichten Mutter und Tochter Zürich. Den Hausrat Nicks stapelten sie bei einem Verwandten, einem ehrsamen Schuhmacher, auf den Dachboden. Nachher machten sie sich auf den Weg zu ihrem Vormund Bernhard Tappoli. Sie hatte ihn von ihren Kinderjahren her in angenehmer Erinnerung, den lebensfrohen Tierarzneischüler, der stets mit einem Vorrat von Feuerwerk in die Weinlese kam und es unter dem Jubel der Jugend über dem Rhein abbrannte. Doch auch ein anspruchsvoller Gast war er gewesen. Aus den Körben voll Trauben, welche die Bauern ins Pfarrhaus schenkten, hatte er die schönsten herausgenascht, den Apfelküchlein der Mutter unbescheiden zugesprochen, den Weg ins Speckkämmerlein genommen, so oft es ihm gefiel, und zum stillen Verdruß der Eltern heimlich manche verkorkte Flasche im Keller erbrochen. Ihr aber war er stets ein fröhlicher und gefälliger Kamerad gewesen. Wenn er nun an jene häufigen Besuche dachte, an so manches Geldstück, das der Vater Nicks ihm zugesteckt hatte, so mußte er sie liebreich aufnehmen, und es fiel ihm umso leichter, als er in den dazwischenliegenden Jahren durch einen Handel mit Bauland, den er neben seinem Berufe betrieb, ziemlich reich geworden war. Er wohnte in der Nähe der Eisenbahn, in einem Anwesen, [120] in dem sich Einst und Jetzt stießen. Das schöne, alte Haus, das er sich erheiratet hatte, war umgeben von häßlichen Schuppen und Baracken.

Die Pfarrerin brachte der Familie zwei von den Honigtöpfen, die ihr gute Nachbarn zum Abschiede geschenkt hatten, und erregte damit bei Schwägerin und Tochter Freude. Das Einvernehmen dauerte bis nach dem Vieruhrkaffee, bei dem die Süßigkeit reichlich herhalten mußte. Dann kam Onkel Bernhard von einer Überlandfahrt nach Hause. »Herrgott, bist du groß und schön geworden!« rief er Nick entgegen. Er hatte aber nicht an die Empfindlichkeit seiner Tochter Babette gedacht, die, ein paar Jahre jünger als Nick, durch ein sonderbar ältliches Gesicht entstellt war. Die Eifersüchtige lief mit einem wütenden Blick auf den Vater aus der Tür, und ihre Mutter strafte ihn mit stummem Vorwurf. Er plauderte indessen unbefangen weiter und lud Nick zum Bleiben ein. Sie fühlte aber doch schon, daß sie in dieser Familie auf keinen Anhalt rechnen durfte.

Sie begleitete die Mutter, die noch an diesem Abend ins Oberland fahren wollte, auf den Bahnhof. Dort wurden sie von Dietrich, dem Studenten, erwartet. Er bat um einen Zuschuß zu seinem Taschengelde, das nach des Vaters Tode noch schmäler geworden war als zuvor. Die Pfarrerin gab ihm das letzte Entbehrliche. Was er vom Vormund sprach, war wenig ermunternd. Onkel Bernhard stecke so in Berufs- und andern Geschäften drin, daß er für die Anliegen der Verwandten keine Zeit finde; ein Geld- und Glücksjäger, besitze er von den Tappoli nur noch die liebenswürdigen äußeren [121] Formen. Im Augenblick der Trennung wandte sich die Mutter aufschluchzend an Nick: »Ärmste! Wenn du dich nur mit deinem Schwager Ferdinand vertrügest! Er ist doch der einzige, der auch für dich ein Herz hat. Was wirst du in der Stadt Bitteres erleben! Ich darf nicht daran denken.«

Als Nick allein in die Familie Bernhards zurückkehrte, war ihr, sie trüge in sich die Schwere der ganzen Welt.

Am andern Morgen machte sie mit dem häßlichen Babettlein Einkäufe in der Altstadt. Da war sie mit dem Vater als Kind etliche Male gegangen, viele Erinnerungen erwachten, sie fühlte sich in den Gassen, Straßen und Plätzen nicht fremd, und der Blick in das Leben und Treiben hob ihren Mut. Nur die Empfindung, daß die junge Verwandte sie nicht möge, verdarb ihr die Stimmung. Sie wollte sich lieber einmal ein paar Stunden ungestört in der Stadt ergehen.

So schlenderte sie am Nachmittag allein der Limmat entlang und sah den Färbern zu, die aus schweren Kähnen vorgebeugt ihre Tücher darin wuschen. Sie kam zu dem wie ein italienischer Palast über den Fluß hinausgebauten Rathause, und bald flog ihr Blick hinüber zum Zunfthaus der Meise. Da gelüstete es sie, die Freundin Marie Junghans zu begrüßen und sie zu fragen, wie es denn ihrem Bruder Ulrich gehe. Sie wagte es nicht, ohne weiteres in die Wirtsstube hinaufzusteigen. Unschlüssig stand sie auf der Brücke, schaute bald hinab in die Wasser, auf denen sich eine Schar Möwen schaukelte, bald hinauf zum schweren Turm des Sankt Peter, an dessen Ziffernblatt die riesigen Uhrzeiger wanderten. [122] Da kam der Dreiuhrschlag vom Turm. Ein unerwartetes Schauspiel begab sich. Die Möwen hoben sich schreiend über das Wasser empor, zogen mit scharfem Flügelschlag über Nicks Kopf nach den hellen, großen Fenstern der Meise und haschten durch die Luft geworfene Brotbrocken. Die sie fütterte, war Marie in ihrer Rafzerfeldertracht.

»Nick, Nick!« rief sie, kam auf die Straße heruntergeeilt und holte die Freundin hinauf in die große, eichengetäfelte Zunftstube. »Gerade zur rechten Zeit kommst du. Von drei bis fünf Uhr ist es bei uns immer still, nur der alte Literaturprofessor sitzt noch über seinen Kollegienheften in einer Ecke, geht aber auch bald.«

In der Tat erhob sich dort alsbald ein borstenhaariges Männchen, das die eine Schulter höher als die andere trug. Marie stellte ihm die Freundin vor. »Tappoli!« versetzte er und ließ hinter großen Brillengläsern die Augen sprühen. »Wie viel schöne Stunden habe ich mit Ihrem Vater verbracht!« Seine Blicke glitten wohlgefällig über Nick, dann aber lachte er väterlich Marie zu: »Ja, unser Rotbrüstchen haben wir lieb.« Ein herzliches Einverständnis schien zwischen dem Alten und Marie zu bestehen.

Nun war er gegangen. »Sind alle deine Gäste so lieb zu dir?« fragte Nick.

»Ich erlebe manches Schöne,« erwiderte Marie, »gerade mit dem Professor. Seine Vorträge hält er meist erst mir und nachher den Studenten. Ich habe aber auch sonst unter den Gästen gute Freunde, sie sorgen sich um mich wie um ein eigenes Kind.«

[123]

»Und bist du in einen verliebt?« forschte Nick.

»Wo denkst du hin? – Es ist mir wohl genug so.«

Ja, man sah ihr das gute Ergehen an. Gesicht und Gestalt waren fein erblüht, die ländliche Tracht ihrer Heimat, die roten Querstreifen im Mieder, die silbernen Röschen darumher und die blühweißen, gestreiften Ärmel stimmten wunderhübsch zu ihrer schlichten Erscheinung, die an die stillen Landschaften draußen erinnerte, an die Frische des Waldes, den Duft der Scholle, den Sonnenschein über den Hügeln. Kein Wunder, daß sie jedermann gefiel und daß die Gäste sie verwöhnten. Kaum eine andere Gestalt hätte in das Zunfthaus besser gepaßt als sie, wie ein Bild fügte sie sich darein und half mit, der Meise das ehrenfeste Wesen zu geben, in dem sich viele gebildete Zürcher wohlfühlten.

Die beiden Freundinnen sprachen ungestört über die kleinen Ereignisse der Heimat. Nach einiger Zögerung aber fragte Nick unsicher: »Wie geht es denn Uli?«

Ein Schatten flog über das Gesicht Maries. »Er steht immer noch in Nürnberg und befindet sich dort gut. Doch wundere ich mich über deine Frage. Du darfst es mir nicht übel nehmen: es schmerzt auch mich, daß er deinetwegen so unglücklich auf die Wanderschaft gegangen ist. Aber du konntest nicht anders, da du dein Herz schon vergeben hast, und deswegen bin ich dir über die Abweisung doch nicht böse. Er fragt in jedem Brief, wer wohl der Bevorzugte sei. Die Mutter meinte Wildholz, und so habe ich es ihm geschrieben; aber nun ist ja der Verweser auch wieder gegangen.«

Nick wußte nicht, wohin blicken vor Verlegenheit. Sie [124] nahm Maries Hand. »Dir will ich die Wahrheit bekennen. Mein Herz ist so frei wie je. Was ich Uli auf seine Werbung erwiderte, war die größte Lüge meines Lebens. Warum ich sie begangen habe, weiß ich selber nicht. Seine Erklärung kam mir wie ein Überfall. Daß ich aber noch frei bin, kannst du ihm schreiben.«

»Nein, Nick,« erwiderte Marie nachdenklich. »Wenn dir daran gelegen ist, tue du es selbst. Doch wozu? – Es sei denn, du schriebest ihm, du habest dich eines Bessern besonnen.«

Nick schwieg, seufzte und starrte vor sich hin. Da kam ein Gast, und sie verabschiedete sich.

»Wenn du Zeit hast,« bat Marie, »komm wieder zu mir.«

Die frühe Dämmerung fiel in die Stadt. Nick machte noch Besuche bei Verwandten und wurde gut aufgenommen, aber die Menschen, die so oft die Gastfreundschaft des Pfarrhofes in Eglisau genossen hatten, kümmerten sich nicht eigentlich um die Not ihres Lebens, um ihre Zukunft, sie sagten nur: »Wer wüßte dir bessern Rat als der Vetter Tierarzt?« Der ältere Onkel gab ihr ein Goldstück. Nun brannte sie das Geschenk. Wie billig ist es, sich mit etwas Geld von einer Herzenspflicht loszukaufen! Mit schweren Gedanken schritt sie wieder hinaus in das öde Quartier der Schuppen und Magazine. Sie dachte fast sehnsüchtig an Ulrich Junghans. Sonderbar! Der bescheidenen Messerschmiedsfamilie ging das Leben so blühend auf, das ihre aber verengte und verdunkelte sich mehr und mehr. Fröstelnd wandelte sie im raschelnden Nordwind. Kein sicheres Dach, kein [125] sicheres Ziel. Sie, Nick Tappoli, die, solange der Vater gelebt, nichts von Sorgen gewußt hatte!

Am folgenden Tage gab sie dem Onkel Bernhard auf einem Geschäftsgange nach einem Bauerngehöft außerhalb der Stadt das Geleite. Sie merkte, daß sich in seiner Brust etwas wand, das er nicht gern zur Sprache brachte. Erst als sie ein gut Stück gegangen waren, begann er: »Ja, Nick, das Leben ist hart, und man kann nicht immer wie man will. Sonst würde ich dich herzlich gern im Haus behalten, schon aus Dankbarkeit für die vielen schönen Tage am Rhein. Du hast aber wohl bemerkt: das Babettlein hat Launen. Und ich kann den Frieden des Hauses nicht aufs Spiel setzen. Was nun anfangen? Du mußt selbständig werden. Mit deinen guten Umgangsformen taugst du wohl am besten als Verkäuferin. Nun habe ich deinetwegen mit meinem Freund, dem Spielwarenhändler Jean Groß an der Strehlgasse gesprochen. Er ist bereit, dich während des Weihnachtsmarktes als Aushilfe anzustellen. Es ist wenigstens eine leichte und saubere Arbeit.«

Er schwieg und wartete, was sie antworten werde. Sie ließ schweigend den Kopf sinken und ging etwas langsamer.

Da nahm er wieder das Wort: »Selbstverständlich lasse ich dich nicht im Stich. Du kannst mir, wenn du in Verlegenheit bist, stets um Geld schreiben, und ich werde es dir besorgen. Bloß dürfen Frau und Tochter nichts davon merken. Damit dich deine Schrift nicht verrät, gebe ich dir Briefumschläge mit, auf denen mein Name gedruckt ist. Dann glauben sie, es handle sich um [126] eine geschäftliche Sache, und forschen nicht weiter nach dem Inhalt.«

»Ein so unfreier Mann bist du?« hätte Nick gerne gefragt, sie sagte aber nur: »Behüt' dich Gott, Onkel, ich gehe gleich in den Spielwarenladen.« Sie würgte das Weh der Verlassenheit, das in ihr aufsteigen wollte, hinunter, mietete sich kurz entschlossen bei einer Frau Gugolz ein und stellte sich mutig hinter den Ladentisch.

Die Krämerei, für die sie nie Neigung besessen, ging ihr leichter, als sie erwartet hatte, sie entdeckte dafür ein Talent in sich. Unter dem Besitzer aber litt sie, sowohl unter seiner Erscheinung wie seiner Art. Er wußte seine Vorteile gut zu wahren. Mit scharfem Auge überblickte er den Gang seines Geschäftes, aber es war an dem breitbrüstigen Mann etwas abstoßend Weibisches, namentlich an der zu hohen, sich oft überschlagenden Stimme. Dazu besaß er die üble Gewohnheit, die Angestellten mit »Du« anzusprechen und aus dem Namen irgendeinen Schnack zu machen. Nick hatte das Gefühl, er möge sie wohl leiden, jedesmal aber ging ihr ein Stich durch die Brust, wenn er ihr zupiepte: »Pfarrerstöchterlein, da bediene du!« Wozu das schmerzvolle Hervorheben ihrer Abkunft? Ihre Bitten waren umsonst. Er protzte mit ihr gerade vor den vornehmern Kunden. Zum Glück blieb er jeden Nachmittag bis gegen vier Uhr aus. In einer Gesellschaft, der auch Onkel Bernhard angehörte, spielte er um hohe Einsätze Karten und handelte um Häuser und Grundstücke. Sie hörte manches darüber flüstern.

Die Stunden seiner Abwesenheit waren für sie stets [127] die Schönsten. Ihr rascher, höflicher Verkehr gefiel den Käufern und Käuferinnen, für die Kinder, die kamen, fand sie das rechte Wort und setzte ihnen den Gebrauch der Spielzeuge auseinander, der Puppen klein und groß, der gesamten Tierwelt, der Kirchen und Häuser, der Wägelchen und Boote, der grünen Pappeln und der Heere von Bleisoldaten. Dabei wurde sie für einen Augenblick selber wieder Kind, erregte Gefallen und machte für Jean Groß ein gutes Geschäft. Gegen Weihnacht wuchs der Andrang der Kaufenden, der Ladenschluß schob sich immer weiter hinaus, und dann war noch wieder Ordnung in die wirr aufgehäuften Waren zu bringen; aber wenn sie endlich mit müden Füßen durch die dunkeln Gassen heimwärts huschte, beherrschte sie doch ein schönes Gefühl. Wie manche frohe Mutter hatte sie tagsüber gesehen, wie viele strahlende Kinderaugen!

Je näher das Fest herankam, desto weniger ließ die Überanstrengung sie zum Denken kommen, und in ihrer Abspannung schmerzte es sie auch nicht so tief, daß die verschiedenen Glieder der Familie Tappoli ihren Dienst mißbilligten und sich von ihr zurückzogen. Wenn die Verwandten ihr die Möglichkeit nicht schufen, nach dem Ansehen ihres Namens zu leben, so sollte man sie doch selber ihr Brot verdienen lassen! Sie tat es ja in Ehren. Mit dem Onkel Tierarzt hatte sie auch keine Verbindung mehr. Die gedruckten Briefumschläge, von denen er gesprochen, hatte sie absichtlich vergessen, und vielleicht auch er. Selbst mit ihrem Bruder, dem blaubemützten, hübschen Studenten, lockerte sich das Verhältnis. Jedesmal, wenn er gekommen war, hatte er sie um Taschengeld [128] gebeten, bis sie ihm die eigene Armut gestand. Nun sprach er kaum mehr bei ihr vor.

Jean Groß lud sie ein, in seiner Familie Christbotin zu sein, die den Gästen den lichtergeschmückten Baum übergebe. Am Festtag schwirrte und surrte ihr der Kopf noch vom stürmischen Dienst am Vorabend, aber nachdem sie am Morgen den Gottesdienst in irgendeiner der großen Kirchen besucht und sich am Nachmittag mit Hilfe des Brautschleiers ihrer Mutter ein Festkleid gerichtet hatte, machte sie sich, in ihren Kapuzenmantel eingeschlagen, durch den Winterabend auf den Weg nach dem Hause außerhalb der Stadt. Der Schnee lag hoch, weich und rein, und an den dunkeln Wassern der Limmat standen die alten, mächtigen Platanen wie verzaubert in Weiß. Die Glocken klangen feierlich durch den Abend, und die einherhuschenden Menschen blickten heiter und geheimnisvoll. Irgend etwas Schönes mußte wohl auch sie erleben, sie wußte nur nicht was. Sie schritt über einen Steg, hinauf zwischen alten, halbländlichen Gebäuden, Gärten, Rebbergen und erreichte das Haus des Kaufmanns.

»Ah, da ist ja unser Pfarrerstöchterlein!« begrüßte sie Jean Groß mit seiner unangenehmen Stimme, ließ sie lange in einem Warteraum sitzen und rief sie erst, als ihr die frohe Stimmung fast vergangen war, zu dem Lichterbaum in ein gut bürgerliches Gemach, in dem alte Möbel und steifleinene Ölporträts von fünfzig oder hundert Jahren her den überkommenen Wohlstand verkündeten. Was sollte sie? – Keine Kinder, denen sie die von ihr vorbereitete Ansprache hätte halten können; [129] lauter jüngere und ältere Erwachsene, denen mehr die Gier nach Geschenken im Gesicht stand als eine feierliche Bewegung der Seelen, in der Mitte der dicke Kaufmann mit seiner kleinen, üppigen Frau – er mit schimmernden Edelsteinen auf der Hemdenbrust, sie mit vielen goldenen Ringen an der Hand. Irgendeine alte Tante stimmte im Nachbarzimmer am Klavier ein Weihnachtslied an, die Gesellschaft versuchte zu singen, fand aber nach der ersten Strophe schon die Worte nicht mehr, und das Lied drohte wie ein mißratener Kuchen auseinanderzugehen. Da erinnerte sich Nick, wie oft sie, wenn der Vorsänger heiser war, daheim den Kirchengesang gerettet hatte, erhob ihren hellen Alt, etwas voreilend gab sie den andern den Text in den Mund, und das Lied konnte zu Ende gesungen werden. Ermutigt wollte sie nun doch ihre Worte sprechen, aber der Hausherr unterbrach sie: »Das Nötige sage ich selber,« und begann fistelnd: »Dank meiner geschäftlichen Erfolge bin ich in der Lage, meiner Gattin und weitern Angehörigen auch dieses Jahr wieder eine schöne Weihnacht zu bereiten. Sie brauchen sich nicht mit Reimen und Gesang zu behelfen, sondern ich habe, wie die Geschenke beweisen werden, allen Beteiligten Sachen von Wert zu bieten.« Die Rede, die humoristisch sein sollte, wurde ein sterbenslangweiliges Selbstlob, verhaltene Ungeduld stieg auf die Gesichter. Und dann kam endlich die Bescherung.

Nick wußte kaum, was mit sich selber anfangen, sie erschien sich unsäglich töricht und überflüssig. Zuletzt wandte sich Jean Groß an sie: »Hier ist auch ein Geschenk für dich, Christkind und Pfarrerstöchterlein. Und [130] hier der Lohn. Wenn du dich auf den nächsten Weihnachtsmarkt meldest, so stelle ich dich wieder als Gehilfin an. Sagen wir also auf Wiedersehen!«

Erst jetzt merkte sie, daß sie vom Feste entlassen war. Wozu hatte man sie gerufen? Und sie wäre den Abend so gern in Licht und Glanz fröhlich mit den Fröhlichen gewesen. Vielleicht aber hatte Groß an Lohn und Geschenk noch ein Besonderes für sie in das Päckchen gelegt, was er seinen Gästen nicht verraten wollte. Als sie wieder auf dem menschenleeren Wege unter den Platanen dahinschritt, nestelte sie das Röllchen, das ihren Lohn enthielt, im Schein einer Straßenlaterne auseinander. Es enthielt gerade so viel Einfrankenstücke, als sie Tage bei den Spielwaren beschäftigt gewesen, keines mehr, keines weniger, nichts dafür, daß sie beim Aufräumen oft bis Mitternacht an der Arbeit geblieben war. Den schönen Schleier der Mutter hatte sie umsonst zerschnitten. Aber das andere Päckchen? Es kam daraus eine Sammlung jener Wasserdirggel zum Vorschein, die mit ihren aufgedruckten Modellen von Männlein und Fräulein, Haustieren und Wild, Vögeln und Fischen anspruchslosen Kindern ein Bilderbuch ersetzen, aber kaum des Essens wert sind. »Der Geizhals, der elende!« entfuhr es ihr. »Ach Uli, Uli, wie war ich verblendet!« Da wurde sie von nahenden Schritten aufgeschreckt, lief zitternd vor Kälte in ihre Kammer, und vor dem Bild des Vaters begrub sie ihr Gesicht in beide Hände. »So mitleidslos also spielt die Welt! Und das ist Weihnachten, das Fest der Liebe!«


[131]

11

Nick hatte es bei der Witwe Gugolz gut getroffen. Ihre Vermieterin war eine herbe und wortkarge Frau in ordentlichen Verhältnissen, sie hatte das junge, alleinstehende Wesen nur bei sich aufgenommen, damit sie noch jemand neben sich in der Wohnung habe. Mit unaufdringlicher Mütterlichkeit sah sie zum Wohl des jungen Fräuleins. Das durch die Geräte und Bilder aus dem Elternhaus heimelig gewordene Zimmer unter dem Dach war luftig und hell und blickte auf einen alten, etwas vernachlässigten Garten, der wie ein Inselchen zwischen Häusern und Häuschen eingeklemmt lag. Da huschten die Amseln unermüdlich durch das verschneite Gesträuch, und die Spatzen pudelten sich auf den versilberten Ästen der Bäume.

Nick saß am Fenster und überlegte. Wie nun weiter das Brot verdienen? Gab es für sie nichts Besseres als die Krämerei? Ihr Sinn stand auf irgendeiner Beschäftigung, bei der sie ihre geistigen Werte hätte zur Geltung bringen können. Dabei überschlich sie aber eine Unsicherheit. Wohl war ihr der Vater ein anregender Lehrer gewesen, aber ihr Wissen war doch nicht derart, daß es sich in einen Verdienst hätte umprägen lassen. Sie konnte sich nicht verhehlen: es war zu wenig eigentlicher Schulsack dabei, man hatte es damit im frohsinnigen [132] Pfarrhaus nie streng genommen, überhaupt vergessen, sie für den Kampf ums Brot auszurüsten. Wie angeflogen kam ihr ein sonderbarer Gedanke. Wenn sie einmal jene Frau Doktor Livia Hartmann besuchte, die geborene polnische Gräfin, deren Trauung die letzte Amtshandlung ihres Vaters gewesen war! Vielleicht wüßte ihr die vornehme Frau guten Rat. Doch nein, die stand ja hoch über den Kleinigkeiten des Lebens, und es war so bitter, die Notlage zu bekennen. Sie ging zu Herrn Groß, erbat sich ein Zeugnis, wandte sich damit an den Besitzer eines angesehenen Weißwarengeschäfts, der eine Verkäuferin suchte, und kam bei ihm unter.

Sie war wieder in ihrem hübschen Dachstübchen. Da stieg der Postbote mit schwerem Tritt die steilen, ausgelaufenen Treppen empor. Er brachte ihr ein verspätetes Weihnachtspaket von der Mutter. Darin lag als Geschenk Ferdinand Bürstelers ein Zwanzigfrankenstück. Die Gabe rührte sie. Das Geld überhob sie einer großen Sorge; es wäre ihr bitter gewesen, Frau Gugolz mit einem Teil der Monatsrechnung warten zu lassen, und ein Mädchen, das auf sich hält, hat doch stets noch besondere Ausgaben.

Mit der mütterlichen Sendung war ein Brief von John Wildholz eingetroffen; er schrieb ihr von Zeit zu Zeit über die Erlebnisse seiner Reise, nicht gerade ausführlich, aber teilnehmend um ihr Ergehen besorgt. Bei sich selber war sie ja sicher, daß er nur ihretwegen in die Ferne gegangen war, einer unausgesprochenen Liebe wegen, die nicht sein durfte. Was halfen ihr aber die Briefe des mit einer Andern Verlobten? Freudiger [133] hätte sie von Ulrich Junghans ein paar Zeilen empfangen. Sie machte sich auf den Weg zu Marie. Sie mußte, bevor das Jahr zu Ende ging, noch etwas von ihm hören.

Die Freundin hatte wohl recht gesegnete Weihnacht hinter sich. Sie sprach nicht davon, aber Leuchten und Lachen stand in ihren Augen. Nick wagte deshalb die Bitte, daß sie ihr einmal einen Brief von Ulrich zeige. Marie schaute sie verwundert an, zögerte einen Augenblick und sagte: »Gut denn! Ich gebe dir alle, es steht nichts drin, was du nicht wissen dürftest. Sie mögen dir meine Unterhaltung ersetzen. Wir erwarten diesen Abend große Gesellschaft, da habe ich viel mit den Vorbereitungen zu tun.« Sie holte das Bündel Briefe. »Mögen sie dir helfen, daß du den Weg zurück zu ihm findest. Das ist mein Neujahrswunsch für dich!«

Monika verbrachte den Abend daheim über den Briefen, und je länger desto stärker war ihr, sie wandere mit Ulrich durch das altprächtige Nürnberg.

»Bis Ulm kam ich also ohne Abenteuer,« erzählte er. »Dort auf der Herberge aber geriet ich in die Gesellschaft eines österreichischen Tischlers und eines bayerischen Zinngießers. Sie waren leichtes Blut, ihre Beutel noch leichter. Schon im Tal der Brenz verlegten sie sich aufs Fechten. Um jeden Verdacht einer Barschaft von mir abzulenken, tat ich mit. Ich spielte bald den Aufpasser gegen den Büttel, bald pochte ich selber an die Türen und sagte mit gezogenem Hut den Spruch: ›Es bittet ein armer Handwerksbursche um einen Zehrpfennig‹. Kannst du dir deinen Bruder Uli bettelnd vorstellen? [134] Nun, ich bin dann doch als ein anständiger Mensch in Nürnberg eingewandert.

»In der Herberge fegte ich den Staub aus Haar und Kleid. Am Abend suchte ich Meister Melchior Finkler auf, der nahe am Wall in einer alten Gasse wohnt. Durch ein halboffenes Portal sah ich in einen kleinen, wohlgepflegten Garten. Im Hintergrund stand er selber ruhsam unter der Tür, in weißem, lockigem Haar und Vollbart, das Pfeifchen im Mundwinkel, das buntbestickte Sammetkäppchen über die hohe Stirn zurückgeschoben, die Daumen zu beiden Seiten des Schurzfelles eingesteckt. Je näher ich kam, desto besser gefiel mir der breite, stattliche Mann. Als ich ihm den Brief des Vaters überreichte, empfing er mich mit großem Wohlwollen, ebenso die Frau Meisterin und die beiden Töchter. Nur von dem Kämmerlein, das man mir anwies, war ich enttäuscht. Es ist ein Gelaß unter dem Dach, durch dessen Luken ich die Sterne wandern sehe. Doch geht es ja dem Sommer entgegen.

»Bereits bin ich an unsern Werktag gewöhnt. Und meine Arbeit freut mich. Melchior Finkler ist in Nürnberg der angesehenste Messerschmied, besonders bekannt für chirurgische Instrumente. Zum Neid einiger älteren Gesellen bin ich in dieser Abteilung beschäftigt und freue mich darüber, obgleich die Werkzeuge, die mir während des Entstehens durch die Hände gehen, genug an menschliche Not und Krankheit erinnern. Die trüben Gedanken aber, die sich daran knüpfen könnten, verscheuche ich am besten in den Plauderstunden mit meinem einzigen Freund, dem Mitgesellen Janos Szedesky, einem Ungarn. [135] Um sieben Uhr läutet die Glocke zum Frühstück. Es besteht aus Haferbrei und einem großen Stück Brot. Bis zum Mittagessen arbeiten wir durch. Da gibt es gut und genug. Die Meistersleute sind würdige, gutmütige Menschen, doch verknöchert und erstarrt in ihren Ansichten, die Töchter Margret und Emmeline, von Stadt und Welt abgeschieden aufgewachsen, haben schon einen Stich ins Altjüngferliche. Ohne je von einem jungen Manne beachtet worden zu sein oder die Spur einer Liebe erlebt zu haben, müssen sie einmal recht hübsch gewesen sein. Noch jetzt haben sie rote Wangen, glänzende Augen, stattliche Zöpfe, Emmeline sogar ein Grübchen im Kinn, und wenn beide auch ganz im Hauswesen aufgehen, so besitzen sie doch Vorzüge. Vom Morgen bis zum Abend stillfroh tätig, sind sie rührend höflich und dienstfertig gegen die Eltern, unter sich und gegen jedermann.

»Mit den Eltern, die mich gern wie einen Sohn im engern Kreise halten möchten, bilden sie die Umgebung, in der ich meine Abende, Sonn- und Feiertage verbringe, allerdings manchmal mit einem tiefen Heimweh nach dem Rhein.

»Die Töchter sind dankbar, wenn ich ihnen aus der Heimat erzähle, und irgendwoher wissen sie, daß auf den Alpen der Schweiz gejodelt wird. Nun soll auch ich jodeln! Und zuweilen singe ich in meiner luftigen Kammer ein Volkslied von daheim und einen Reigen dazu, freilich nicht gerade aus voller Brust, denn ums Singen ist mir nicht, wenn ich an Monika denke.«

Hier stutzte die einsame Leserin, und ein Seufzer [136] ging über ihre Lippen. Aber sie war gleich wieder bei dem Brief.

»Nun jodeln heimlich auch die Mädchen,« fuhr Uli fort, »sie tun es wie Kanarienvögel, die nicht recht zu singen wagen. Den Eltern aber ist es unheimlich, daß durch mich ein so leichtsinniger Geist ins Haus gefahren ist. Auch sonst geht seit meiner Anwesenheit eine merkbare Veränderung mit den Mädchen vor, sie werden lebhafter, sie besinnen sich plötzlich, daß sie Augen haben zu sehen, Ohren zu hören. So wenn wir am Sonntag gegen Abend den Spaziergang um das Tor machen, wie die Nürnberger ihre gesamte Stadtumwallung mit Mauern und Türmen nennen. Bisher ließ sich die Familie auf dem Spaziergang fast nur von der hochwichtigen Frage des Grüßens bewegen: wen, wie stark und ob man den Bekannten so und so die Ehre des Stillstehens erweisen wolle oder nicht. Vor Grüßen, Gegrüßtwerden, Vor- und Nachbetrachtungen über die Grüße haben die Leute gar keine Zeit, sich ein wenig an der Stadt zu freuen. Ich aber finde meine Kurzweil in der Betrachtung der grauen runden Türme, der Wehrgänge mit ihren Dächern, des vielen blühenden Grüns und der hübschen Gärtchen in den Gräben. Meine Art gefällt den Mädchen. Auch sie fangen nun an zu beobachten, haben Teilnahme für vieles Schöne und genießen in der eigenen Heimat Entdeckerfreuden wie Schulkinder. Am Samstag schmieden sie Pläne für den Sonntag, in aller Schüchternheit vertreten sie ihre Wünsche vor den Eltern, und ich erlebe nun mit ihnen die Freuden eines Forschers, bald in der Stadt selber, [137] bald draußen vor den Toren. Die Eltern aber fallen über unsere Gänge von einer Verwunderung in die andere, ich komme ihnen unheimlich wie ein Zauberer vor, daß ich die bisher wunschlosen Töchter in so neugierige Menschenkinder habe umwandeln können.

»Ja, liebe Marie, was es in Nürnberg Herrliches zu sehen gibt! Da ist die Lorenzokirche. Am Portal geraten die kunstvollen Steinbilder fast ins Handgemenge, und im Innern steht der ›gegossene Stein‹, ein zierliches, schlankes Sakramentshäuschen, so wunderbar, daß die Sage entstanden ist, die alten Meister hätten die Steine nicht gemeißelt, sondern die geheimnisvolle Kraft besessen, sie weich zu machen und in Formen zu gießen. In der Nähe der Kirche ist der Jugendbrunnen. Für mich sind die sieben nackten Mädchengestalten, aus deren Brüsten die Wasserstrahlen springen, lustig anzusehen; meine Begleiterinnen aber wenden jedesmal schamvoll den Kopf hinweg, sprechen von etwas anderem und drängen gegen die Pegnitz hinunter. Da gewähren das Flüßchen, die hölzernen Stege, die gemauerten Brücken, die Gerbereien und sonngebräunten Holzhäuser mit den vielen sich in der Luft schneidenden Giebeln ein sehr schönes Bild, und mehr noch, was jenseits der Brücken liegt: der Markt, das Rathaus, die Sebalduskirche, die Burg.

»Doch nein, ich kann dir nicht alles schildern. Häufig muß ich auf meinen Wanderungen an einen Mann aus unserer Jugend denken, an Doktor von Jaberg. Wie hat er mir auf seinen Forschungen am Rhein für so vieles am Weg die Augen geöffnet! Das merke ich hier [138] und glaube den Schwestern Finkler kein schlechter Führer durch ihre Heimatstadt zu sein.

»Ich stieg mit ihnen auf die Burg, die uralt und gewaltig auf die Stadt hinschaut, und wir traten in das düstere Gefängnis, in dem die eiserne Jungfrau aufgestellt ist. Ich studierte lange an einer lateinischen Inschrift herum: Atris patratis sunt atra theatra parata. Mit meinem Latein aus Konstanz brachte ich unter einigem Zögern den Sinn heraus: ›Für dunkle Taten sind dunkle Bühnen bereit.‹ Seit dieser kleinen Übersetzung halten mich Margret und Emmeline für den gescheitesten Menschen, der in Nürnberg herumläuft.

»Wir haben auch schon einen Ausflug über die Stadt hinaus gemacht, hinaus ins Knoblauchland. Da liegt der Dutzendteich, ein großer, dunkler Weiher mit ärmlichen Schwarzföhren im Hintergrund. An den Wassern fanden wir einen Mietkahn. Den Schrecken hättest du sehen sollen, als ich sie einsteigen ließ, die Seligkeit, als das Boot unter meinen Ruderschlägen dahinglitt und ich für sie Seerosen pflückte. Sie bekamen vor Freude purpurne Wangen, Emmeline, die mir überhaupt näher steht, war fast schön. Einmal über das andere rief sie: ›Gott, wie herrlich ist das Leben! Warum haben wir es so lange verträumt und verschlafen!‹ Am Montag fand ich einen Strauß Rosen in der Dachkammer. Es war ihr Dank.

»Und nun, liebe Marie, hast du vielleicht schon etwas gemerkt. Gott sei's geklagt: beide Schwestern Finkler sind mir gewogener, als ich wünsche, schmücken sich heimlich ein wenig für mich und geben mir jede auf ihre [139] Art ihre Verliebtheit zu verstehen – Emmeline durch schüchterne Begegnungen in der Stadt, Margret, indem sie mir im stillen stets etwas von den Leckerbissen zusteckt, welche die Meistersfamilie hinter dem Rücken der Gesellen verzehrt.

»Und die Eltern? Sie schauen dem veränderten Wesen ihrer Töchter mit großer Überraschung zu. Aus den freundlichen Worten, mit denen Meister Finkler oft von unserm Vater spricht, und aus der feinen Arbeit, die er mir zuweist, schließe ich, daß ich ihm als Schwiegersohn willkommen wäre. Er denkt wohl, daß das vortrefflich eingerichtete Atelier einen genügenden Ausgleich gegen den Altersunterschied von fünf bis sieben Jahren bildete, der zwischen den Töchtern und mir besteht. Die Zurückhaltung aber, die ich sowohl gegen Margret wie Emmeline übe, legt er sich vielleicht dahin aus, daß ich selber noch unsicher sei, welche von beiden mir besser gefalle. Daß ich aber von keiner etwas wissen will, das ahnt er in seinem ebenso großen wie verhaltenen Handwerkerstolz nicht.

»In der Tat kümmere ich mich, seit ich von Monika Tappoli den Nasenstüber erhalten habe, um die Weiblichkeit nicht mehr, sondern lasse es mir an der Freundschaft mit Janos Szedesky, meinem Nebenarbeiter, genügen. Doch über den lieben, guten Menschen später einmal. Mein Brief ist ja wahrhaftig schon recht lang geworden!« –

Bewegt legte Nick den Brief zur Seite, und ehe sie es sich versah, hatte sie schon das zweite Schreiben Ulrichs in der Hand:

[140]

»Die beiden Fräulein Finkler sind stets gleich lieb und gütig zu mir. Ich aber habe gegen sie ein schlechtes Gewissen, denn ich werde niemals eine von ihnen beglücken. Ich will einmal etwas Junges, – alt wird man von selber. Auf den Gedanken geriet ich durch ein Mädchen, das mir kürzlich auf dem Henkersteg begegnet ist. Ich merkte gleich, daß Nick Tappoli doch nicht alles in meiner Seele totgeschlagen hat, was das Weibliche betrifft. Das Mädchen ist hübsch schlank, hat ungemein weiches, blondrotes Haar, ein Gesicht wie Pfirsichblust und braune, strahlende Augen, dazu etwas so Einfaches und Anheimelndes, als käme sie aus unserer Heimat. Indessen ist Kätchen Dormann eine Lehrerstochter aus einem Nachbardorf von Nürnberg. Sonst weiß ich von ihr bloß, daß sie jeden Mittwoch und Samstag in die Stadt kommt, um Einkäufe zu besorgen. Gesprochen habe ich sie noch nie; aber es ist meine Erholung, daß ich ihr an diesen Tagen über den Weg laufe und den Hut vor ihr lüfte. Ich habe den Eindruck, sie mag es leiden; sie sieht mich jedesmal neugierig an und nickt ein bißchen. Gerade dieses stille Sichverstehen gefällt mir, ich werde noch lange warten, bis ich ein Wort an sie richte. Wenn aber die Fräulein Finkler um dieses Spiel wüßten, wie wären sie totunglücklich!

»Wie ich dir schon früher schrieb, hab' ich hier nur einen Vertrauten unter den auf meine Arbeit neidischen Gesellen Janos Szedesky, und wir sind so gute Freunde, daß einer vom andern alles weiß, auch die kleinen Liebesangelegenheiten. Er ist ein wenig älter als ich, hat auch schon mehr Welt gesehen, und ich lasse mich von ihm [141] in vielen Dingen beraten. Du solltest mal den Mann sehen, seine vornehme Beweglichkeit, die sprühenden Augen, das edle Gesicht, den schwarzglänzenden, in nadelfeine Spitzen gezogenen Schnurrbart. Er ist um den halben Kopf kleiner als ich, von fast zierlicher Gestalt und voll ungarischen Heimatstolzes. Am Sonntag kleidet er sich wie in seinem Land, den Rock über die Brust mit Kordeln verschnürt, statt der Knöpfe schimmernde Maria-Theresia-Taler. Er sieht dann aus wie ein Baron, und alle Mädchen schielen nach ihm. Nun, er darf auftreten. Er kommt aus einem guten Haus, sein Vater besitzt eine kleine, gutgehende mechanische Werkstatt in Debreczin, und er selber arbeitet in Deutschland nur, damit er später die väterliche Unternehmung erweitern und in die Höhe bringen kann. Schon im nächsten Frühling will er sich wieder heimwärts wenden. Scheinbar immer fröhlich, hat er im Untergrund doch einen schönen Lebensernst, und wie gerne er mit Mädchen scherzt, vergißt er nie, daß daheim eine Jugendfreundin auf ihn wartet.

»Seit meiner Knabenfreundschaft mit Gerold von Jaberg habe ich nie wieder einen Kameraden so geliebt wie Janos Szedesky. Wir mögen in den freien Stunden nicht ohne einander sein. Er ist musikalisch, spielt die Laute wie ein Künstler, und am Abend lerne ich es von ihm. An den Sonntagen aber wandern wir hinaus in die Dörfer, ja bis in die hübschen Täler der fränkischen Schweiz, sind überall wohlgelittene Gäste und verleben miteinander eine wunderschöne Sommerszeit. Die Schwestern Finkler aber hassen ihn, weil ich jetzt häufiger [142] mit ihm als mit ihnen ausgehe, sie würden ihn am liebsten aus Haus und Werkstatt vertreiben; doch ist der Meister zu klug, sich einen so guten Gesellen zu verscherzen. Wie komme ich nun wohl weiter mit den beiden zurecht? Und mit Kätchen Dormann?« –

Familienangelegenheiten, die noch in dem Brief standen, überschlug Nick und suchte mit etwas hastenden Fingern die Antwort auf diese Fragen in seinem letzten, knapp vor der Weihnacht geschriebenen Brief.

»Das Scheiden von Nürnberg liegt leider in der Luft,« schrieb er. »Je mehr ich mit Janos ging, desto mehr hoffte ich, die Meisterstöchterlein würden von ihrer Verliebtheit geheilt. Umsonst! Sie haben miteinander das Dach meiner Kammer so ausgestopft und ausgefüttert, daß ich auch im Winter darin nicht friere. Halb bemitleidete ich die närrischen, gütigen Geschöpfe, halb lächerte mich ihr Wettkampf. Die Eltern gaben mir durch stumme Blicke den Wink, es sei jetzt Zeit, daß ich mich für eine von ihnen entscheide. Margret verlor die Geduld, sie wurde gegen mich wortkarg und ausfällig, Emmeline, die noch hoffte, stets zuvorkommender. Schon stand die Stadt im ersten Schnee, und beim ›Schönen Brunnen‹ verkauften die Marktweiber allerlei Wintergrün. Sie hängte mir als Überraschung für den Sankt Nikolaustag Tannreiser, Tannzapfen, Mistelbüsche mit weißen Beeren und rotbackige Äpfel an die Decke der Kammer. Nun stieß aber Margret dazu; unter den Schwestern, die sich sonst in Gehorsam, Sanftmut und Ergebenheit überboten, kam es zu heftigem Auftritt, wohl dem ersten in ihrem Leben. Margret schrie: ›Du [143] hast ihn mir abspenstig gemacht!‹ Sie ging auf Emmeline los, als wolle sie mit ihr handgemein werden, und hochatmend standen die beiden in einer Ecke, als die Meistersleute und ich dem Lärm nacheilten. Die Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen. ›Das müssen wir an unsern Töchtern erleben!‹ Finkler verlor die Würde und fluchte und tobte gegen mich: ›An allem sind Sie schuld, Ulrich! Bekennen Sie endlich, welche gilt, Margret oder Emmeline?‹

»Ich fiel schier an die Wand. ›Drunten in der Stube wollen wir den Streit austragen, Herr Finkler,‹ stotterte ich. So geschah's. Ich sprach von den vielen Wohltaten, die ich in seiner Familie genossen habe, von der hohen Achtung, die ich für die Herzensgüte und die häuslichen Tugenden der Töchter hege, – ›aber‹, fügte ich an Monika Tappoli denkend hinzu, ›mein Herz ist bereits vergeben, ich habe eine Liebe in der Heimat zurückgelassen.‹ Melchior Finkler wurde kreidebleich. ›Und meine Töchter?‹ fragte er. ›Sie, Ulrich, würden doch einmal Haus und Atelier erben.‹ Er merkte aber, daß ich damit nicht zu bestechen war, zitternd vor Zorn kündigte er mir schon auf den Morgen die Stelle und sagte mir noch einiges Derbe über die Hinterhältigkeit, mit der ich in seine Familie getreten sei.

»Ich ging, meine Werkzeuge zusammenzulegen, und erzählte Szedesky, daß ich wandern werde. Da antwortete er: ›Teremtete! Wir wollen zusammenbleiben, Freund Schweizer, ich kündige die Stelle auch. Schreibe mir ein Wort, und in vierzehn Tagen bin ich, wo du bist!‹ Seine Kündigung brachte Meister Finkler außer Rand [144] und Band. ›Seid Ihr alle verrückt?‹ schrie er. Als ich mich am Morgen verabschieden wollte, versetzte er bedrückt: ›Gehen Sie in Ihre Kammer und ziehen Sie wieder den Werktag an. Ich kann weder Sie noch Szedesky entlassen und will den Reißausteufel in meiner Werkstatt nicht. Von jetzt an sind Sie in Ihrer Abteilung Vorarbeiter!‹

»Ich könnte also mit der Abklärung, die mein Verhältnis zu den Meistersleuten gefunden hat, zufrieden sein, aber am Tisch sitz' ich wie in einen Schraubstock gezwängt. In den Augen der Frau stehen die stummen Vorwürfe, und die Töchter benehmen sich wieder so einträchtig, so dienstfertig, so hoffnungslos und gottergeben wie damals, als ich ins Haus trat, – arme Blumen, die das Blühen verlernt haben, weil doch nie ein liebendes Auge auf sie blickt. Gegen mich sind sie vollkommen scheu. Sie tun mir leid, ohne daß ich ihnen helfen kann. Deswegen stehen meine Sinne stets auf Wanderschaft, nur nicht gerade jetzt. Der Sturm umzuckert manchmal vom Abend zum Morgen die Stadt mit Schnee, daß ich nicht mehr weiß, ist es Nürnberg oder ein Märchen.

»Auch von Kätchen Dormann, von der ich dir einmal geschrieben habe, kann ich ruhig scheiden, ja sogar mit einer schönen Erinnerung. Sie trug eines Abends an ihren Einkäufen recht schwer. Ich anerbot mich, ihr den Korb abzunehmen. Etwas zögernd erlaubte sie es. ›Nur über die Stadt hinaus,‹ sagte sie, ›dann kommt mir aus meinem Heimatdorf ein junger Mann entgegen.‹ Ihr Erröten verriet das weitere, aber auf dem Wege verwickelten [145] wir uns in ein Gespräch, als ob wir uns seit Jahren kennten. Sie erzählte von ihrem Freund. ›Ich habe ihm von Ihnen gesprochen. Weit davon, eifersüchtig zu werden, freute er sich, daß ich auch noch einem andern gefalle als ihm, und äußerte den Wunsch, Sie einmal zu sehen. Nun können Sie sich ja guten Abend sagen!‹

»Ich lernte in ihm einen jungen Bauern kennen, der mir achtungsvoll begegnete und mich vieles aus unserer Heimat fragte. Er und Kätchen sind wie für einander geschaffen, und es wäre ein großes Unrecht, da auch nur mit einem Gedanken stören zu wollen. Nun ist das Paar öffentlich verlobt, und wenn ich Kätchen in der Stadt sehe, so lacht mir selber das Herz über dem innigen Glück, das ihr in den Augen steht. Auch ihren Bräutigam habe ich schon ein paarmal wieder begegnet, mit ihm und Szedesky schöne Stunden verbracht, und wir haben dem Paar versprochen, daß wir, ehe wir scheiden, es einmal mit unsern Lauten auf seinem Dorf besuchen und ihm Schweizer und ungarische Volkslieder vorsingen werden.

»Möchte jeder Liebestraum, der keine Wahrheit werden kann, so schön zerrinnen wie der meine von Kätchen Dormann! Ich spüre, es ist mehr Glück als Schmerz dabei. Frei werde ich im Frühling mit Janos von Nürnberg scheiden. Frei? – Nein, liebe Schwester. Ich muß noch so häufig an die Nick denken. Oft meine ich, ich hätte die Liebe zu ihr überwunden und begraben, aber plötzlich wallt das Weh um sie wieder in mir auf, brennt wie Feuer, und ich kann es so wenig fassen wie [146] bei meinem Abschied von daheim, daß sie mir verloren sein soll!« –

Nick drängten sich die Tränen in die Augen, die klare Schrift Ulis verschwamm ihr vor den Blicken. Mühsam las sie weiter: »Im übrigen alle Achtung vor Nick! Es gefällt mir, daß sie sich nicht von ihrem Schwager Bürsteler durchfüttern läßt, sondern den Kampf mit dem Leben aufnimmt. Das ist tapfer und bezeugt, daß sie den Stolz nicht nur im Kopf, sondern auch in der Seele hat. Doch wozu so viel von ihr schreiben? – Da ziehen ja in meinen Träumen nur die Jugendtage am Rhein wieder herauf, und ich muß fast heulen vor Heimweh. Manchmal kommt es mir wie ein Trost vor, daß sie zu dir von einer Notlüge gesprochen hat, es ist mir dann, ich müßte, wenn ich einmal heimkehre, doch noch ein ernstes Wort mit ihr reden. Ich habe aber auch meinen Stolz, und in manchen Stunden denke ich: Nein, ein zweites Mal will ich von ihr nicht abgewiesen werden; es ist wohl klüger, ich frage sie nicht wieder.«

Nick ließ den Brief sinken und sprang empor. »Uli, wie kannst du so denken!« rief sie. »Ich habe dich ja lieb und immer lieber!«

Seine Briefe hatten sein liebes Bild neu in ihr erwachen lassen. Es schien ihr urgesund, wie er über Menschen und Dinge urteilte. Er war ein Mann, der mit hellen Augen vorwärts kam, und plötzlich sah sie ihn wie leibhaftig vor sich: groß, frisch, straff und in den Kleidern wohlgetan. Was Wunder, wenn sich die Mädchen in seine forschenden Kinderaugen verschauten! Gottlob, in Nürnberg waren seine weiblichen Erlebnisse harmlos [147] abgelaufen. Konnte das aber nicht von einem Tag zum folgenden anders werden?

Da kamen von den Türmen der Stadt mächtig und feierlich die Klänge der Neujahrsglocken und rissen sie aus ihren Gedanken empor. Von der Straße tönten jubelnde Stimmen zu ihr herauf, Frau Gugolz pochte an ihre Tür und reichte ihr die Hand: »Ein gesegnetes 1867, Fräulein!« Nick erwiderte ihre Glückwünsche. Als die Hauswirtin gegangen war, öffnete sie in starker Bewegung das Fenster, schaute hinauf zum Sternenhimmel und hielt in sich selber Andacht. »Lieber Gott,« betete sie, »erhalte mir meinen Uli. Gib mir die Kraft, daß ich meinen törichten Stolz besiege und mein Herz dem seinen in einem Brief offenbaren kann.«

Freudige Raketen stiegen aus den Gassen in die dunkle Nacht, frohe Lieder tönten von fernher, und jede Seele hoffte, daß ihr das Jahr ein besonderes Glück bringe.

Bald aber herrschte wieder der Alltag. Nick stand am Ladentisch des Weißwarengeschäftes Wasmer in altertümlicher Gasse, und in die Einförmigkeit ihres Lebens fiel als einzige Abwechslung, daß ihr Marie um die Fastnachtszeit wieder einen Brief Ulrichs zeigte, diesmal aus Heidelberg.

Er meldete seinen Auszug aus Nürnberg und von fröhlicher Kreuz- und Querfahrt mit Janos Szedesky durch die deutschen Lande. Dörfer, Schlösser, Städte schilderte er und das Treiben der Menschen. Nach dem Lied »Andre Städtchen, andre Mädchen« lebte er mit dem Ungarn. Doch das gehörte wohl zu frischen, jungen [148] Männern von Ulrichs Schlag, und solange einer über die kurzweiligen Abenteuer so frei und froh wie er an die Schwester schrieb, war wohl für die tiefere Herzensliebe keine Gefahr.

Nun aber wandten sich die Freunde von Heidelberg nach dem Rhein. Von den Rheinländerinnen jedoch hatte Nick schon genug gehört: wie schön sie seien mit ihren blonden Zöpfen und blauen Augen, wie lieb und zutunlich, wenn ihnen ein Bursche gefiel, – so lieb, daß mancher sein Lebtag den Heimweg nicht wieder gefunden habe. Wenn nun auch Uli sein Herz am grünen Strom verlor?

Zu manchen Stunden überfiel sie eine gewaltige Angst um ihn. Sie mußte ihm schreiben.


[149]

12

Auf ihrer Frühligsfahrt waren Ulrich und Janos nach Mainz gelangt, und schon bei der ersten Umschau hatten sie Stellung gefunden. Es war in der altbekannten Instrumentenfabrik Appelius Vater und Sohn, die damals etwa dreißig Arbeiter beschäftigte und sich durch die Tatkraft des jüngeren Herrn in schönem Aufschwung befand. Nicht nur von deutschen, sondern auch von ausländischen Ärzten, Kliniken und Hospitälern liefen die Bestellungen ein. Die eben zugewanderten Mechaniker erhielten feine, fast künstlerische Arbeit, wie sie ihren Fähigkeiten entsprach, gute Löhne und sogar hohe für die Überstunden, die sie Abend um Abend leisteten. Vom Montag früh bis am Samstag spät standen sie am Schraubstock, am Sonntag aber verwandelten sich die bescheidenen Schmiede vom Werktag in wohlausgerüstete junge Herren. Wo das Paar hinkam, durfte es sich blicken lassen: Szedesky in seiner geschmeidigen Tracht, Ulrich im gut bürgerlichen Kleid, den Gedenkring des Rheinfahrvereins von Eglisau am Finger. In ihrer Lebensführung weder knauserig noch verschwenderisch, machten sie ihre Entdeckungsfahrten durch die Stadt oder noch lieber hinaus auf das Land, hinauf und hinunter am Rhein. Sie lebten wie die Vögel im grünen Wald, und allerlei harmlose Eroberungen fielen [150] ihnen leicht. Schon die Gegensätzlichkeit ihrer Erscheinung lenkte die Aufmerksamkeit der Mädchen auf sie: den blonden, hochgewachsenen Schweizer mit dem urdeutschen Gesicht und den zierlichen, dunkeln Ungarn, den sie meistens für einen Franzosen hielten. Wie gern sich aber die beiden Freunde am Sonntag mit ein paar lachenden Rheinländerinnen im Tanze drehten und wieviel junge Freude ihnen blühen mochte, – am Montag früh waren sie mit klaren Köpfen an der Arbeit.

Schon im Mai erkannte Appelius die Tüchtigkeit Ulrichs dadurch an, daß er ihn als ersten Vorarbeiter in eine neugeschaffene Abteilung des Geschäftshauses stellte, und für Szedesky hatte er einen ähnlichen Plan. Als er ihm aber davon sprach, erwiderte der Ungar, daß er höchstens noch einige Wochen in Mainz bleiben könne. Sein Vater, der selbst eine aufblühende kleine Fabrik besitze, rufe ihn dringlich in die Heimat zurück. »Das tut mir aber leid,« versetzte der betriebsame Geschäftsherr und beriet sich nun mit Junghans. »Wir haben auf der Weltausstellung in Paris eine Sammlung unserer Werkzeuge dargelegt und rechnen darauf, daß sie uns rasch neue große Bestellungen einträgt. Könnten wir wohl aus der Schweiz noch ein paar Arbeiter beziehen, die durch eine ebenso vorzügliche Lehre gegangen sind wie Sie? Auch möchte ich mich jetzt schon nach einer reifen Kraft umsehen, die mir einmal Szedesky ersetzt.«

Ulrich sprach von seinem Bruder Friedrich. »Indessen ist er der ältere und wird nur in eine Stelle eintreten wollen, die wenigstens so gut wie die meine ist.«

Appelius strich sich den Spitzbart, sann und sagte: [151] »Schreiben Sie Ihrem Bruder doch, daß er komme. Ich werde ihn gut unterbringen!«

Ulrich wandte sich mit dem Anliegen zuerst an den Vater, fügte dem Briefe eine Wertsendung bei, die aus seinen Ersparnissen in Mainz bestand, und bat die Eltern, nach Belieben über das Geld zu verfügen; er werde den Abgang für sich selber bald wieder ersetzt haben. Nach mehr als einer Woche kam die Antwort des Vaters, daß er sich mit Friedrich besprochen habe und beide mit dem Vorschlag einverstanden seien. Durch den Brief klang ein verhaltener Stolz auf seine lebenstüchtigen Söhne, auch von Marie schrieb er freudig, wie sie von ihren Gästen geachtet sei und sich eine hübsche Aussteuer verdiene; so liege auf der Familie offenbar der Segen der Arbeit und treuen Zusammenhaltens, und er dürfe mit der Mutter in ein schönes Alter hineinblicken. Der Brief ergriff Ulrich. Ja, daß den Eltern ein sorgenloses, lichtes Alter beschieden sei, dazu wollte er nach Kräften helfen!

Es dauerte aber noch drei Wochen, bis Friedrich seine Kündigung ausgedient hatte und hergereist war. In dieser Zeit wußte Ulrich nicht: war seine Freude größer, daß der Bruder kam, oder der Schmerz darüber, daß er seinen Freund Janos verlieren sollte. Er mochte aber nicht in den Getreuen dringen, daß er bleibe. Wenn der Freund die Laute schlug, so spürte er aus den sehnsüchtigen Melodien der Zigeunermusik, wie sehr sich Szedesky heim in seine Pußten sehnte. Niemand konnte vom Vaterland so schön und feurig sprechen wie er. Am liebsten hätte er Ulrich dorthin mitgenommen, um ihm [152] die Reize der Donaulandschaften zu zeigen, von denen er behauptete, sie seien noch herrlicher als die Ufer des Rheins. Indessen war es ja schon Friedrichs wegen undenkbar, daß Ulrich jetzt Mainz verließ, aber das Versprechen mußte er Janos geben, daß auch er im Laufe der nächsten Jahre einmal nach Ungarn kommen und dort sein Gast sein werde. »Noch lieber mein Mitleiter in der väterlichen Fabrik!« rief Szedesky. Und je näher der Scheidetag kam, desto mehr spürten sie die Stärke ihrer Freundschaft.

Da machten sie, zunächst jeder für sich, in Dingen der Weiblichkeit Entdeckungen, Ulrich nämlich diejenige, daß in dem Haus, in dem sie Quartier hatten, zwei der lieblichsten Mädchen der Stadt Mainz wohnten. Es waren die Töchter des Hausbesitzers Alwin Römer, der den ersten Stock innehatte, während die Mechaniker im dritten hausten. Die Schwestern hießen Lotte und Lutz und waren im Gegensatz zu Margret und Emmeline Finkler in Nürnberg noch sehr jung: die ältere höchstens einundzwanzig, mit braungoldigem Haar, die jüngere wohl noch nicht neunzehn und sonnblond, – Rheinländerinnen, wie von ihnen das Lied singt, heiter, ungezwungen, doch von einem feinen Stolz, und ihre lebhaften Gesichter so rein, als wäre noch nie ein Schatten darüber geflogen.

Die Freunde hatten die Hausgenossinnen nicht früher entdeckt, weil sie selber ihre Wohnung schon morgens vor sechs Uhr verließen und erst am späten Abend wieder heimkamen. Die Mädchen aber sah man meistens um die Mittagszeit. Nur um ihren erfrischenden Anblick [153] genießen zu können, ließen sich die Freunde, die bisher auswärts gegessen hatten, das Mittagbrot von der Hauswirtin verabreichen. Jeden Tag hatten sie nun die Augenweide der reizenden Nachbarinnen, die ihre achtungsvollen Grüße freundlich erwiderten. Zu einem Gespräch kam es indessen zunächst nicht, der Verkehr beschränkte sich auf das stille Wohlgefallen der Jugend an der Jugend.

Anderer Art war die Entdeckung Szedeskys. Bei einer chirurgischen Einrichtung hatte er in Frankfurt Hilfe geleistet und kehrte mit der Meldung zurück, daß er dort eine Landsmännin kennen gelernt habe. »Feurige Künstlerin vom Zirkus, unheimlich schönes Weib, eine Tierbändigerin, und sie selbst hat Augen wie Tiger und Teufel! Am Sonntag sehe ich sie wieder.« Er lud Junghans ein, ihn zu dem Stelldichein mit der Artistin und nachher in die Vorstellung des Zirkus zu begleiten. Ulrich war sofort dabei. In seinem Leben hatte er noch keine große Kunstreiterei gesehen, und was der Freund halb in Bewunderung, halb in Ablehnung von der Landsmännin erzählte, reizte seine Einbildungskraft. Der Sonntag erschien, auf der Fahrt in die Nachbarstadt sprach Janos noch einmal von Werra Barensky, diesmal unmißverständlich warnend: »Wenn das schöne Weib schon meine Landsmännin ist, so ist sie doch nichts Gutes. Sie ist wie ein Raubtier: prächtig für die Augen, aber nachher – gehen und vergessen!«

Vor einem der vornehmsten Gasthöfe Frankfurts sagte er: »Da wohnt sie!«

»Donnerwetter, so vornehm!« entfuhr es Junghans. [154] »Ich habe geglaubt, die fahrenden Leute wohnen in ihren Wanderwagen.« Szedesky lächelte ein wenig und drehte die langen Spitzen des Schnurrbartes. »Hervorragende Artistinnen sind bezahlt wie erste Sängerinnen, leben wie Fürstinnen und finden alles noch zu schlecht. Ihre Bildung aber ist der volle Gegensatz zu ihren Ansprüchen.«

Sie traten in das Hotel, ließen sich anmelden, und die Ungarin erschien in der Begleitung eines noch sehr jungen Mädchens. In einem Sonderzimmer machten die Freunde bei einem Abendbrot, das sich Janos ein hübsches Geld kosten ließ, mit den Damen nähere Bekanntschaft. Offenbar freute sich Werra Barensky, daß sie sich mit ihrem Landsmann wieder einmal in der Heimatsprache ergehen konnte, während Ulrich, der von ihrem Gespräche nichts verstand, sich als ziemlich überflüssiger Gast erschien. Aber was war die Barensky für ein wundervolles Weib! Das wie aus Libellenflügeln gewobene Kleid umspannte einen nur mittelgroßen, aber herrlich ebenmäßigen Körper, das Gesicht war von offenen, angenehmen Linien, durch Leib wie Antlitz ging ein verhaltenes Spiel von Leben bis hinaus in die Fingerspitzen, und jedes Glied, jede Faser atmete geschmeidige Kraft. Dieser Ausdruck ließ sie zunächst älter erscheinen, als sie war; erst als Ulrich schärfer hinsah, entdeckte er die Jugendlichkeit ihrer Züge, spürte aber vor allem das Fremde an ihr, am stärksten, wenn sie bei ihrem warmem Lachen die prächtigen Zähne im blutroten, üppigen Munde blitzen ließ. Dann erschien das Raubtier, das Tigerhafte, von dem Szedesky erzählt hatte.

[155]

Er nahm zunächst mit der Gesellschaft des jungen Mädchens vorlieb, eines nicht weniger sonderbaren Geschöpfes: schmal, farblos, nächtlich, die gelben Augen manchmal wie blind, im nächsten Augenblick aber von einer Leuchtkraft wie goldene Sterne, von denen ein Wolkenschleier hinweggeglitten ist; und die Nixen des Rheins tauchten plötzlich in seiner Vorstellung auf.

Sie erzählte ihm in schlechtem Deutsch, daß sie Bulgarin sei, aber den englischen Künstlernamen Mab führe und bei der Barensky die Stelle einer Gesellschafterin und Schülerin einnehme. Mit drolliger Lebhaftigkeit sprach sie von jungen Wölfen und Löwen, die sie aufziehe.

Plötzlich spürte Ulrich, daß die Augen der Barensky sanft und sinnend auf seinem Gesicht ruhten. Sie nickte ihm leise zu, und in ihre Züge trat etwas Mädchenhaftes, eine Zartheit, von der er sich betroffen fühlte. Sie begann sich mit ihm in fremdklingendem Deutsch zu unterhalten. »Als Freund von Landsmann meiniges sein Sie auch mein Freund! Sehr schön, daß Sie heute abend unsere Vorstellung besüchen.« Er erzählte ihr, daß er noch nie einen Zirkus gesehen habe. Darüber lachte sie kindlich auf. »Was für ein merkwürdiger Mann! – Woher kommen Sie?« »Aus Mainz, aber eigentlich aus der Schweiz.« Sie schwieg, und er merkte, daß ihr sein Vaterland ein böhmisches Dorf war, mehr und mehr aber auch, daß die unheimliche Person kein Hehl aus ihrem Wohlgefallen an ihm machte und es darauf anlegte, ihn in ihre Netze zu ziehen.

Als sich die Freunde endlich verabschiedet hatten und [156] durch das abendliche Frankfurt nach dem Zirkus hinausschlenderten, schob Janos seinen Arm unter den des in stummer Verwirrung neben ihm Schreitenden. »Hättest ihr nicht verraten sollen, wo du wohnst, Ulrich! Wenn sie nun nach Mainz kommt, dich suchen?« Jetzt erkannte auch Ulrich seine Unvorsichtigkeit und erschrak. Szedesky aber tröstete ihn lachend: »Nun, das Satansweib kennt viele Männer, hat dich wohl morgen schon wieder vergessen.«

Der Zirkus Tempelmann war zu jener Zeit gewiß eines der größten und schönsten Unternehmen seiner Art, aber Ulrich wohnte der Vorstellung ohne sonderliche Teilnahme bei, der Besuch eines Volksstückes im Stadttheater von Nürnberg hatte ihn tiefer angeregt. Die bemalten Gesichter und die Späße der Clowns widerten ihn an, auch die Vorführungen der Raubtiere durch Werra Barensky in einem inmitten der Arena aufgebauten runden Zwinger stießen ihn ab. »Wie viel sind die königlichen Geschöpfe wohl gequält worden,« dachte er, »bis sie sich unter die Peitsche der Herrin fügten!« Als sie die Löwen, die Tiger und Leoparden durch- und übereinanderspringen und endlich zu ihren Füßen kauern ließ, sah er in den diamantenen Augen und dem siegreichen Lächeln nur die Pose der Artistin. Ein anmutiger Drahtseilakt der kleinen Mab aber, die jetzt mit ihren goldglänzenden Augen von fast märchenhafter Schönheit war, hatte seinen vollen Beifall, und nachher gefiel ihm die Barensky als Begleitdame der ersten Reiterin weit besser als in der Rolle der Bändigerin. Herrlich spielten ihr in einem grünen Jagdkleid die Glieder. [157] Dann und wann warf sie einen grüßenden Blick zu ihm und Szedesky empor, und sie erwiderten ihn gemessen.

Nach der Vorstellung traten ihnen am Ausgange die beiden Künstlerinnen, die im letzten Teile nicht beschäftigt waren, wie zufällig entgegen, und sogleich wandte sich Werra Barensky an Mab mit dem Vorschlage, die Herren noch an den Bahnhof zu begleiten. Das kam nun Szedesky und Ulrich nicht gelegen, aber sie konnten den Vorschlag unmöglich ablehnen. Wie von selber fügte es sich, daß Szedesky mit Mab vorausging und sich mit ihr in eine lebhafte Unterhaltung verwickelte. Junghans folgte ihnen mit Werra Barensky auf dem Fuß.

Als sie ein Stück gegangen waren, drängte sich ein Bettler an sie heran. Sie standen still, Ulrich wie sie zogen die Börse, sie schenkte dem alten, kränklichen Mann sogar ein Goldstück. Durch den kurzen Aufenthalt bildete sich ein ziemlicher Abstand zwischen ihnen und dem vordern Paar. Da spürte Ulrich plötzlich, wie die Begleiterin leise seine Hand ergriff. »Ich Sie sehr liebe,« flüsterte sie, den Mund nahe an seinem Ohr, und er erzitterte unter dem Hauch ihres Atems. Sie blickte sich rings um, die Straße war bis auf die beiden Voranschreitenden menschenleer. »Schenken Sie mich ein Kuß!« bettelte sie, und durstig riß sie ihn an sich. »Wir müssen uns wiedersehen,« hauchte sie in glühender Sinnlichkeit. »Wann Sie wiederkommen zu mir?« »Ich weiß nicht, wann ich mich wieder frei machen kann,« stotterte er, und das waren die letzten Worte ihres kurzen Zwiegespräches. Denn das andere Paar trat ihnen wieder entgegen, und zuviert schritten sie nun in das [158] helle Licht des Bahnhofs. Die Artistinnen blieben bis zum Abgange des Zuges. Eine wilde Erregung hatte sich Ulrichs bemächtigt, und wenn er Werra Barensky ins Gesicht blickte, sah er darin nichts mehr vom Raubtier, nur das zärtlich liebende Weib, ein wunderschönes, durstiges Weib.

Im Zug beichtete er Janos sein Erlebnis. Der Freund war darüber bestürzt und bat ihn dringend, mit ihm fortzufahren in seine ungarische Heimat. Ulrich aber erwiderte bedrückt: »Ich kann doch meinen Bruder Friedrich, der herkommt, nicht im Stich lassen, auch Appelius nicht.«

Das Abenteuer in Frankfurt wurde eine schwere Sorge für sie beide und warf seine Schatten noch in die folgenden Tage. Daß Ulrich die Erinnerung daran etwas abschütteln konnte, dazu half ihm am meisten der Anblick der lieblichen Schwestern Römer. Nachdem sich der Verkehr mit ihnen eine Weile nur auf den Gruß beschränkt hatte, der freundlich gegeben und freundlich erwidert wurde, kam er mit ihnen dann und wann in ein kleines Gespräch. Er erfuhr daraus, daß sie mit großer Liebe einen Garten draußen vor der Stadt pflegten, den sie jeden Morgen und oft am Nachmittag aufsuchten. Gerade der ländliche Zug an den jungen Städterinnen gefiel ihm ungemein. –

Nun stand der Tag bevor, da Friedrich in Mainz einrücken, Janos aber scheiden mußte; doch war die Vereinbarung getroffen, daß die beiden sich kennen lernen und einen Tag miteinander verbringen sollten.

Schon war Szedesky aus dem Geschäft Appelius [159] ausgetreten und besorgte in der Stadt einige Einkäufe, Nötiges für die Reise und Geschenke für die ferne Freundin und die Eltern. Da hatte Ulrich ein höchst unangenehmes Erlebnis. Als er zum Mittagessen gehen wollte, trat ihm Mab entgegen. In ihrem alten Filz, in schlecht sitzendem, verschossenem Mantel und den roten Juchtenstiefeln sah sie aus wie ein Junge aus dem Wagen fahrender Leute, ihr Gesicht gelbäugig und nächtlich. Mit einem erstickten Aufschrei trat sie auf ihn zu und stammelte irgend ein Wort der Erlösung, das auf deutsch bedeuten mochte: »Endlich gefunden!« Erschrocken blickte er sich um, ob ihn etwa ein Bekannter in der Gesellschaft des sonderbaren Geschöpfes sehe. In gebrochenem, doch schnellem Deutsch, das zwitscherte und zischte und von dem er nicht alles verstand, erzählte sie ihm, daß Fräulein Barensky immer noch ungeduldig des versprochenen Besuches harre, daß die Herrin sie eigens von Wiesbaden, wo jetzt der Zirkus stehe, herübergeschickt habe, um ihn in Mainz auszukundschaften, und ihm ihre dringende Bitte nach einem Wiedersehen ausrichten lasse. Sie überreichte ihm die gedruckte Karte der Herrin sowie ein paar Eintrittskarten und bettelte ihn flehentlich an, daß er nun allein oder mit dem ungarischen Freund ja recht bald komme. »Werra Barensky sonst sehr gut zu mir, aber jetzt wegen Herr sehr böse.«

In furchtbarer Beklemmung hörte ihr Ulrich zu und erwiderte wenig. Nein, nur nicht die Bekanntschaft mit dem wilden Weib erneuern! Er war kein Meister der Verstellung, aber die Not zwang ihn zur Lüge. »Wie [160] gern würde ich Fräulein Barensky wiedersehen,« erwiderte er, »gewiß auch mein Freund; aber wir stehen beide vor der Abreise, schon morgen geht es aus den Toren von Mainz. Mir selber handelt es sich um wichtige Familienangelegenheiten, die keinen Aufschub erleiden. Und mein Freund will ohne mich auch nicht mehr bleiben. Also richten Sie Fräulein Barensky mein lebhaftes Bedauern aus, meine Grüße und die Versicherung, daß ich mich stets mit Dank an den schönen Abend in Frankfurt erinnern werde.«

»Aber vielleicht heute abend, Herr!« Die schlanke Mab sah ihn trostlos an, um ihren schmalen Mund zuckte das Weinen. Fast ließ er sich davon rühren, aber rechtzeitig kam ihm ein rettender Gedanke. Er stand in einer alten Gasse still und deutete auf ein Haus, das er selber nicht kannte. »Ich wohne hier,« sagte er schnell, »und leider kann ich Ihnen keine andere Auskunft geben.« Damit bot er ihr in wilder Aufregung die Hand und schlüpfte aufs Geratewohl in die Tür. Wie ein Dieb, dachte er. Doch geriet das Unterfangen. Durch einen langen, halbdunkeln Gang kam er auf einen Hof und durch einen folgenden Flur wieder auf eine Straße. So entwich er der Versucherin.

Szedesky erwartete den ungewohnt lange Ausbleibenden neugierig. Als ihm Ulrich das Erlebnis erzählte, tat er in seiner Sprache einen bestürzten Fluch: »Was du der gottlosen Fledermaus gesagt hast, ist recht. Aber nun auch wirklich abreisen, sobald es geht! Du kennst noch nicht das Weib, das Halbtier. Wenn sie merkt, du bist noch in Mainz, dann …« Er machte eine Bewegung, [161] wie wenn er nach jemand mit einem Revolver oder einer Pistole zielte. Auf dem Gesicht stand ihm die Sorge um den Freund.

Unendlich hatte sich Uli auf die Ankunft Friedrichs gefreut. Nun lag eine Wolke über dem Wiedersehen. Und was dächten wohl die Seinen oder Nick, wenn sie ihn in eine so abenteuerliche Geschichte verstrickt wüßten?


[162]

13

Nick stand hinter dem Ladentisch und erlebte die Einförmigkeit und die Verdrießlichkeiten eines fast nur von Damen besuchten Geschäfts. Welche Geduld braucht es oft den Käuferinnen gegenüber! Ja, die jungen, die schlanken, die hübschen hatten bald herausgefunden, was ihnen stand; umso schwerer trafen die von der Natur Verkürzten, Häßlichen die Wahl. Es lag nicht an ihren schiefen Schultern und verzwängten Gestalten, wenn ihnen die Stoffe nicht saßen, sondern an der Verkäuferin, die ihre Wünsche nicht besser begriff. Manchmal mußte Nick die Zähne zusammenbeißen, um gegen die Eitelkeiten, Launen, Quälereien und die kleinliche Gesinnung der Kundinnen standhalten zu können.

Ein Männergesicht – und die Damen waren höflich. Sobald der Inhaber des Geschäfts, Georg Wasmer, im Laden anwesend war, bezähmten sich auch die Unleidlichen. Er verstand sich bewunderungswürdig auf den Verkehr mit Frauen aller Kreise und Stufen, für jede hatte er ein gewinnendes Lächeln und ein angemessenes Wort. Nick mochte den frischen Vierziger wohl, nicht nur seiner angenehmen, aufgeräumten Erscheinung wegen, sondern weil er im Gegensatz zu dem dicken Spielwarenhändler Jean Groß auch den Ladentöchtern höflich begegnete und jeder nach ihrem Können seine Wertschätzung [163] bewies. Auch ihr. Ja, ohne es die andern merken zu lassen, bevorzugte er sie und lud sie bald in seine Familie ein, die in bürgerlich gemütlichen Räumen über dem Geschäft wohnte. Zunächst jeden Sonntag zum Mittagessen. Die Frau war so lungenkrank, daß es schien, sie werde den Frühling nicht überleben. Auf ihrem feinen Gesicht stand schon ein Glanz aus einer andern Welt, und ihre Augen leuchteten engelhaft. Daneben war nur ein einziger Junge, Hiob, zu dessen lebhaftem Wesen der vom Großvater überkommene, geduldige Name wenig paßte. Nick mochte beide, Mutter und Sohn. Die zarte Kranke schloß sich wie ein Efeu, der seinen Stamm sucht, an sie. Die Gesellschaft der jungen Ladentochter tat ihr sehr wohl, schon deswegen, weil der Gatte sich nicht sonderlich um die Familie kümmerte und als ein geselliger Mensch die Abende häufiger auswärts als daheim verbrachte. Es war deshalb für Nick nur eine halbe Überraschung, als die Frau sie nach ein paar Wochen einlud, das Zimmer bei Frau Gugolz aufzugeben und völlig zu ihr überzusiedeln. Georg Wasmer unterstützte den Plan, und mit einigen Bedenken ging Nick darauf ein. Aber das Gefühl, in der Welt nicht mehr ein einsamer Flattervogel zu sein, verband sich ihr wohltätig mit dem, daß sie durch manche Handreichung, Vorlesen und Geplauder das Los der Kranken erleichtere, die sich ihre Dienste lächelnd gefallen ließ. Hiob, der Knabe, schloß sich mit seinem lebhaften Wesen an sie an, und zum großen Trost der Leidenden blieb der Hausherr jetzt öfter als sonst am Abend daheim, spielte mit Nick Schach, sang mit ihr ein Lied oder besah sich [164] mit ihr die Nachbildungen von Stichen alter Meister, deren großer Freund er war. Manchmal waltete in dem Familienkreis eine so frohe Stimmung, daß selbst die stets schwächer werdende Frau darüber ihr Elend vergaß.

Bei seiner Neigung zum Künstlerischen gehörte Wasmer einer kleinen dramatischen Gesellschaft an, die unter der Leitung des ehemaligen Komikers Lackelmann vom Stadttheater auf einer der Stuben des Zunfthauses zur Meise ein Spiel einstudierte. Nick mußte ihn in die Übungen begleiten, und da es ihr nicht an Talent fehlte, war sie in jugendlichen Rollen bald ein geschätzte Mitglied der kleinen Liebhaberbühne.

Dabei sah sie gewöhnlich auch Marie und begegnete in ihren Augen einem fragenden Blick: »Hast du jetzt Uli geschrieben?«

Nein, das hatte sie immer noch nicht getan. So oft sie die Freundin erblickte, empfand sie Gewissensbisse. Über Nichtigkeiten versäumte sie das Größte, das ihr oblag.

Auf dem Heimweg plauderte ihr Wasmer einmal von Marie. »Ihre Heimatgenossin hat ein merkwürdiges Glück. Durch ihre Einfachheit tut sie es allen an. Unter einer Menge junger, tüchtiger Männer kann sie nur wählen, und daß sie dabei keinen Fehlgriff tut, dafür sorgt ihr besonderer Beschützer, der alte Literaturprofessor, der sie wie ein Vater überwacht.«

Nick fand nicht gleich eine passende Erwiderung, sie dachte nur: Gewiß ist daher die milde Heiterkeit in das früher herbe Gesicht Maries gekommen und die Würde, [165] mit der sie jedem Gast sicher begegnet; sie hat nun einmal die gefällige Art ihrer Familie.

Wasmer mißverstand ihr Schweigen. »Wenn Sie nur wollen, Fräulein Tappoli,« versetzte er geheimnisvoll, »so sind Sie bei mir nicht lange Ladentochter, sondern finden auch Ihr Glück, ein größeres noch als Ihre Freundin!« Im Schein einer Straßenlaterne ließ er den Blick mit selbstsicherem, wohlgefälligem Lächeln über ihre Gestalt gleiten. Ihr aber war der Ton, mit dem er gesprochen hatte, aufgefallen, irgendeine warnende Stimme gegen ihn erhob sich in ihr.

In der dramatischen Gesellschaft, in der es auch ein paar junge Herren gab, regte er sich jedesmal heimlich auf, wenn sie mit einem von ihnen in einer Liebesrolle zusammenspielte oder sich sonst von ihnen durch ein harmloses Gespräch unterhalten ließ. Auf dem Heimweg wußte er stets etwas Unvorteilhaftes über die Betreffenden, während es sonst nicht in seiner verträglichen Art lag, über andere abzusprechen. Indessen war sein Benehmen im übrigen tadellos. Für viele kleine Zeichen des Wohlwollens mußte sie ihm still dankbar sein. Ein vornehmer Mensch war er gewiß, dafür hielt ihn auch jedermann in der Stadt. –

Blauer Himmel und weiße Wolken über den Giebeln kündigten den Frühling an. Nach Feierabend wäre Nick oft gern in die frische Luft hinausgewandert; aber es war nun zur Gewohnheit geworden, daß sie diese Stunden bei der Kranken verbrachte. Als Anerkennung dafür gab ihr Wasmer am »Sechseläuten« den Nachmittag frei. Glückselig wanderte sie durch die von freudigem Lenzvolk [166] belebte Stadt und sah den festlichen Umzug der Zünfte. Mit Bannern, Wappentieren und den Abzeichens ihres Handwerks zogen sie fröhlich und würdig durch die Gassen. Unter den mit roten Armbinden und hohen Zylinderhüten geschmückten Herren, die das Fest leiteten, befand sich auch Wasmer. Das Gesicht jugendlich hell, den rötlichen Schnurrbart keck gestrichen, sah er im Feierkleid wie ein Weltmann aus, und das Amt bewies sein öffentliches Ansehen. Mehr aber fesselte es Nick, als rotbemützt die Gesellschaft zum »Kämbel« vorüberzog, die stattliche Zunft, der ihr Vater angehört hatte. Die Erinnerungen an ihn flossen durch ihre Seele, wie er unter diesen Männern freudig mitgetan und als feinsinniger Redner an ihrer Tafel den Vogel abgeschossen hatte. Wenn er wüßte, wie bescheiden und abhängig seine Nick nun das Brot in der Heimatstadt verdienen mußte!

Es blieb ihr aber nicht lange Zeit zu Betrachtungen. Halb noch in Kindersinn, halb in gereiftem Lebensernst folgte sie im wonnigen Frühlingsabend dem Strom der bunten Gruppen und dem festlichen Volk an der Wasserkirche vorbei hinaus gegen den See, wo sich die Menschen wie eine Landgemeinde sammelten, die Zünfte im Ring um einen mächtigen Holzstoß. Vom See her winkten die eiligen Boote, von den Ufern die friedlichen Dorfschaften, und in die träumende Bläue stieg geheimnisvoll der Silberglanz des Hochgebirgs. Wie fröhlich die Menschen, wie herrlich die Welt! Leib und Glieder Nicks federten sich, sie spürte, wie jung sie noch war; das Wohlgefühl, die Kraft ihrer neunzehn Jahre durchwallte [167] sie, singen und jauchzen hätte sie mögen vor Lebenslust.

Schon senkte sich leise die Dämmerung auf das Lenzbild. Da erklang vom mächtigen Petersturm die Sechsuhrglocke. Aus dem Holzstoß lohten Flammen und Rauch empor und umwirbelten den Winter, die weiße Mannspuppe, die an hoher Stange hing. Er geriet in Brand, unter mächtigem Geknatter fuhr er in Stücken und Fetzen auseinander. Die Musikgesellschaften spielten, Zünfte und Volk, Jung und Alt sangen Frühlings- und Heimatlieder. Auch sie sang tapfer mit.

»Fräulein Tappoli!« klang ihr plötzlich eine etwas näselnde, doch freudige Stimme ans Ohr. Es war Glorian Rollenbuz, der frühere Verweser in Eglisau, der Gelehrte, der seit mehr als zehn Jahren die Grundzüge des Ökumenischen Konzils bearbeitete und noch lange nicht damit fertig war. Selbst diesen unverbesserlichen Stubenhocker hatten der Lenz und das Fest vom Ofen hinweggelockt, er war aber in dem vielen Volk an dem linden Abend die einzige Gestalt, die den Hals mit einem schweren Tuch umschlungen hielt. Rührende Freude sprach aus seinem pergamentenen Gesicht, er blieb bei ihr, und sie sahen zu, wie das Feuer, das rote Scheine auf die dunkel gewordenen Wasser warf, lohte und niederging. Als die Menge der Menschen auseinanderströmte, gab er ihr das Geleit bis zur Türe des Hauses Wasmer und hielt sie dort noch mit seinen Gesprächen fest. »Aber die frische Luft!« scherzte sie. Er seufzte nur, und als er merkte, daß sie gern ins Haus träte, stammelte er: »Darf ich wieder nach Ihnen sehen?«

[168]

»Gott, der Mensch ist verliebt in mich! Würde er sich sonst so der frischen Luft aussetzen?« Lachend und ärgerlich ließ sie diese Erkenntnis über sich ergehen. Was sollte sie mit Glorian anfangen?

Als Nick die Wohnung betrat, wurden ihre Gedanken rasch von diesem Wiedersehen abgedrängt. Frau Wasmer befand sich schlechter als sonst, sie hustete fast unaufhörlich. Nick mußte immer wieder in das Zimmer hinübereilen, um der nach Atem Ringenden den Kopf zu stützen.

Vielleicht war auch der Lärm des Sechseläutens an der ungünstigen Veränderung schuld. Er dauerte noch in der Nacht an. Von da- und dorther kamen die schmetternden Klänge der Musikgesellschaften, durch die Gassen hallten die Schritte der einander besuchenden Zünfte, und die Windlaternen, die ihnen dazu auf hohen Stangen leuchteten, warfen ihre phantastischen Scheine bis in das Krankenzimmer empor. Nick wagte es wegen der aufgeregten Leidenden nicht, zur Ruhe zu gehen. Gegen Morgen aber, als die Gassen stiller wurden, schlief die erschöpfte Frau tief ein. Nick wachte noch über einem Buch.

Da kam Wasmer von seiner Zunft heim, mit lustigen Augen und geröteten Wangen. Sie merkte gleich, daß er angetrunken war. Er setzte sich zu ihr, erzählte von den Herrlichkeiten des Zunftmahles und begann aus der »Zauberflöte« zu singen. »Ja, so ein Weibchen, ein allerliebstes Täubchen wünscht Papageno sich.«

Er versuchte Nick zu umarmen und zu küssen, sie wich ihm aber gewandt aus. »Herr Wasmer,« rief sie mit gedämpfter [169] Stimme, »sehen Sie doch lieber nach Ihrer kranken Frau!« Er versuchte sie einzufangen, doch vergeblich. Das Ende war, daß sie auf ihr Zimmer floh und ihn sich selber überließ.

Sie ärgerte sich lebhaft über den Vorfall und wollte Wasmer am andern Tag zur Rede stellen; aber erst am folgenden fand sich eine Gelegenheit dazu. »Da Sie vergessen haben, wer ich bin, gestatte ich mir, Ihnen meine Kündigung einzureichen,« erklärte sie blitzenden Auges. »Ach, Weinlaune!« antwortete er erblassend. »Was fällt Ihnen ein, Fräulein Tappoli! Machen Sie meine kranke Frau nicht todunglücklich, Sie sind ihr letzter Halt und Trost. – Und auch mich nicht. Auf der gesamten Welt meint es kein Mensch so gut mit Ihnen wie ich.« Das letzte kam ihm gepreßt und keuchend von den Lippen.

Nick ließ sich zum Frieden bereden, sie konnte es um so leichter, als die Kranke von den Gelüsten ihres Mannes nichts gemerkt hatte. Wasmer war nun auch wirklich gegen sie wieder der in Ehren liebenswürdige Geschäftsherr; aber sie vermied es, mit ihm allein zusammenzusein, und war vor ihm auf der Hut.

Sie hatte genug Sorgen mit dem verliebten Glorian. Jeden Abend stand die fröstelnde Gestalt im blauen Halstuch wie eine Schildwache vor dem Geschäft, wartete auf sie und wurde der Spott der Ladentöchter, der Kundinnen und der große Ärger des Inhabers. »Was soll die Vogelscheuche vor meiner Tür? – Haben Sie keinen besseren Geschmack, Fräulein?« höhnte er, und eines Abends trat er hinaus, vergaß seine sonstige Höflichkeit [170] und fuhr Glorian so an, daß der Erschrockene wie ein Hase davonlief und nie wieder als Eckensteher kam.

Nick mochte gegen den komischen Verehrer, der ihr zulieb die Scheu vor der Luft besiegte und seiner Arbeit an den Grundzügen des Ökumenischen Konzils so viele Stunden um ihretwillen entzog, nicht hart sein; sie gab ihm, freilich außer Sehweite des Geschäftes, dann und wann Gelegenheit, ihr zu begegnen und ein wenig mit ihr durch den Frühlingsabend zu wandeln. Viel machte sie sich aus dem schüchternen Freund nicht, aber sie fand doch Gefallen daran, den Bücherwurm wieder etwas zur Natur zurückzuführen. Dabei entging ihr jedoch nicht, daß die Blicke der Vorübergehenden manchmal an ihnen hängen blieben mit der stummen Frage: Was soll das ungleiche Paar, das frierende, mumienhafte Männchen und die blühende, geschmeidige Mädchengestalt? Daher mied sie, wenn sie mit Glorian ging, die Menschen nach Möglichkeit. Und wo war man einsamer als auf dem See? Wohl oder übel mußte er mit ihr in den Kahn steigen, hinaus ruderte sie ihn auf die dunkeln Fluten. Darüber glühten die Frühlingssterne, und der Duft ausbrechender Blüten strich in Schwaden über die Wasser. Ihre Gedanken aber schlugen manchmal recht verschiedene Wege ein. Während sich Glorian darüber beklagte, daß die Hauswirtin kein genügendes Verständnis für sein Lebenswerk und die damit verbundene Fächer- und Zettelwirtschaft habe, ließ Nick ihre Sinne durch die Welt wandern, am liebsten den Rhein hinab bis nach Mainz zu Ulrich Junghans. –

Ahnungslos stand sie eines Tages im Laden. Da [171] trat ein junger Mann herein, den sie einen Herzschlag lang für Uli selber hielt. Es war aber sein Bruder Friedrich, den sie weniger gut kannte. »Marie hat mich zu Ihnen geschickt, Fräulein Monika,« erzählte er. »Ich fahre morgen nach Mainz. Die Schwester meint, Sie hätten dem Bruder vielleicht etwas auszurichten.«

Nick erglühte, aber der Laden war nicht der geeignete Ort für eine Aussprache über ihre Herzensangelegenheit. Auch schien es Friedrich Junghans mit seiner Zeit dringlich zu haben. »Ausrichten?« stammelte sie. »Ja freilich, meine herzlichsten Grüße!« Schon begleitete sie den Wanderfertigen unter die Ladentür und wünschte ihm Glück auf die Fahrt. Da flüsterte sie ihm mit leuchtendem Lächeln noch zu: »Sagen Sie Uli, daß ich ihm bald einen Brief schreiben werde.«

Sie fühlte sich selber erleichtert, daß sie ihrer Liebe durch den freundlichen Besuch Friedrichs wieder einen Steg hatte bauen können. Uli werde nun schon verstehen, woran er mit ihr war, und die innere Gewißheit erfüllte sie, daß keine Rheinländerin mehr Macht über sein Herz besaß. Und fleißiger wallte das ihre hinab nach Mainz.


[172]

14

An einem Samstag, gegen Abend, sollte Friedrich mit dem Dampfboot dort eintreffen. Die Wiedersehensfreude bewegte Ulrich so tief, daß er sich von Appelius ein paar Stunden frei erbat und dem Ersehnten entgegenfuhr. In Oppenheim überraschte er ihn auf dem Deck. Friedrich, der sehr gut aussah, begann von daheim zu erzählen, wie es den gesamten Angehörigen wohl ergehe. Auch von Nick Tappoli. Ein inniges Glück verklärte das Gesicht Ulrichs über die Mitteilung, daß sie ihm einmal schreiben werde. Also gab es zwischen ihr und ihm ein Sichwiederfinden!

In der Ferne ragten die Türme von Mainz wie Schwerter in den Abendhimmel. Aus lichtgeränderten Haufenwolken sprühte die Sonne, und gerade diese Beleuchtung erinnerte daran, daß diese Stadt die goldene hieß. Überall in den Wassern und an den Ufern regte sich das Leben: Boote, mit fröhlichen Menschen besetzt, glitten von Gestade zu Gestade oder aus den grünen Fluten des Rheins hinein in die rötlichen des Mains, Lieder ertönten, von den Kirchen das friedliche Sonnabendgeläute. Am Landungssteg stand Szedesky in seiner Tracht und winkte herzlichen Willkomm.

So hatte Friedrich einen stimmungsvollen Einzug in die Stadt.

[173]

Am andern Morgen besichtigten die drei ihre Sehenswürdigkeiten, besonders den Dom, dessen wuchtiger Mittelturm fast in alle Straßen blickt. Ulrich kannte den etwas versteckten Eingang, durch die schönen und häßlichen Häuser, die ihn dicht umstellen und in denen gekauft, verkauft, geschustert und gehämmert wird. Wie still, wie kühl, wie erhaben erschien ihnen das Innere mit der Menge der Säulen! Noch nie hatte Friedrich so etwas Herrliches gesehen. Ulrich zeigte ihm die vielen Denkmäler, besonders dasjenige des mächtigen Kirchenfürsten Willigis, der als Wagnerssohn das Doppelrad seines Vaters im Wappen und dazu den Wahlspruch führte: »Willigis, Willigis, denk woher du kommen sis!« Der Spruch gefiel Friedrich, der zu sittlichen Betrachtungen neigte, ungemein. »Uli,« meinte er, »wir wollen auch nie vergessen, daß wir aus einem zwar einfachen, doch rechtschaffenen Elternhaus stammen.« Dem Jüngern aber fiel die Barensky ein, und ein Stich ging ihm durch die Brust. Mehr als eine Stunde weilten sie vor den Merkwürdigkeiten der Kirche, nicht am wenigsten vor dem alten Bilde, das darstellt, wie der Minnesänger Frauenlob von acht Mainzerinnen in einem mit drei Kronen geschmückten Sarge ehrenvoll zu Grabe getragen wird. Überall war Ulrich ein gewandter Erklärer.

Von den schönen Eindrücken beglückt, lachte Friedrich beim Mittagessen: »Nicht jeder hat eine so prächtige Aufnahme in einer fremden Stadt. Wie mancher Handwerksgeselle wird von niemand abgeholt, muß in einer schlechten Herberge schlafen und von Tür zu Tür Umschau [174] halten. Bei euch aber ist mit der Arbeitsstelle das schöne Quartier schon da!«

Am Nachmittag machten sie den Ausflug auf den Bichelstein, sahen weit hinein in die Rheinlande, bewunderten beim Dörfchen Zahlbach die Reste einer mächtigen römischen Wasserleitung, ließen sich wieder vom Leben der Stadt umrauschen und wandten sich über die Schiffsbrücke nach Kostheim hinüber. Sie traten in einen bei den Mainzern beliebten Wirtschaftsgarten, der gerade im Angesicht des türmereichen Bildes der Stadt lag und den Überblick über die stromherab und stromherauf ziehenden Schiffe gewährte. Noch berieten sie, wo sich niederlassen, um die Aussicht am vollsten zu haben. Da trat die Familie Römer in den Garten, Vater, Mutter und die beiden Töchter. Ulrich und Szedesky grüßten auf das höflichste, ihrem Beispiel folgte Friedrich. Den Mädchen aber sah man die Überraschung an, daß nun neben Ulrich plötzlich noch ein zweiter hochgewachsener Fremdling, fast sein Ebenbild, aufgetaucht war. Der Jüngere spürte die Pflicht, den Bruder vorzustellen, und Szedesky sagte den jungen Damen ein paar artige Worte des Abschieds. So kam man ins Gespräch. Dem Vater Römer lachte das Wohlgefallen an den frischen Männern aus den Augen, er lud sie ein, mit der Familie an demselben Tische Platz zu nehmen, und nach der flüchtigen Treppenbekanntschaft mit den Töchtern kamen die Freunde nun auch mit den Eltern ins Gespräch.

Dabei bildeten sich merkbar zwei Gruppen. Die Mutter und Lotte nahmen sich Friedrichs an, der die [175] Schüchternheit des Neulings noch nicht überwunden hatte. Szedesky und Ulrich aber saßen näher bei Vater Römer und der knospenhaften Lutz.

»Sie werden fünfundzwanzig sein,« wandte sich die Mutter wohlgefälligen Blicks an Friedrich. Als er die Richtigkeit ihrer Schätzung bestätigte, versetzte sie nachdenklich: »Unser einziger Sohn war mit Ihnen gleichalterig; leider haben wir ihn, als er Gymnasiast geworden war, verloren.« Es war, als suchte sie im Gesicht des jungen Mannes die Spur des Dahingegangenen. Lotte aber lenkte das Geplauder auf die schöne Musik, die den sich immer mehr belebenden Garten durchflutete, dann auf einen sich stromaufwärts arbeitenden holländischen Schleppdampfer. In der Tat bot das dunkelgeteerte Schiff, das eine Reihe von Kähnen schleppte, ein liebliches Bild. Um die kleinfenstrige, doch hübsch mit Vorhängen und Blumen geschmückte Wohnung auf dem Hinterteile saß eine Familie und hielt Feierabend. Die Kinder tanzten in weißen Hauben und in Holzschuhen Ringelreihen, auf dem flachen Dach thronte der weiße Spitzer und betrachtete sich die Welt. Über das Leben dieser Schiffersleute erging sich Lotte, und Friedrich bewunderte ihre bewegliche Geistesart.

Vater Römer aber scherzte zu Ulrich hinüber: »Sind denn in Ihrem Land alle jungen Leute so blond, so stattlich und groß wie Sie und Ihr Bruder?« »Das wohl nicht,« erwiderte der Schweizer, »in unserer Familie aber liegt's.«

Nun fragte ihn Römer manches nach Eltern und Heimat. Ähnlich hielt er es mit Szedesky. Lutz hörte [176] dem Gespräch aufmerksam zu. Einmal ruhte ihr Blick auf dem Ring, den Ulrich zu Ehren der Ankunft Friedrichs trug. »Ist der Reifen ein Altertum?« fragte sie. »Nein, aber doch ein Andenken.« Er zog ihn vom Finger und reichte ihn ihr hin. Sie las die Inschrift, gab Ulrich einen freudig überraschten Blick und bot den Ring dem Vater. »Alle Achtung!« versetzte Römer. »Das Stück ehrt Sie und Ihre Heimat.« Ulrich spürte wohl, wie sein Ansehen bei Tochter und Vater durch den Reifen gewachsen war.

Das Gespräch sprang auf das Geschäft Appelius über. »Ja, da sind Sie gut aufgehoben,« versetzte Römer und nickte. »Ich kenne Vater und Sohn. Es sind hervorragende Industrielle, wie Mainz ihrer mehr besitzen sollte. Dann erlebten wir das betrübende Schauspiel nicht, daß sich unsere Stadt in allen Betrieben von Frankfurt überflügeln läßt. Es ist aber einmal gegen die Mainzer Gemütlichkeit nicht anzukämpfen.« Wie er so sprach, machte er den Eindruck eines bei aller Jovialität ernst- und kernhaften Mannes.

In der Dämmerung ging die Gesellschaft gemeinsam über die Schiffsbrücke nach der Stadt zurück. Auf dem breiten, metallisch flimmernden Bande des Rheins kamen von weitem die hellerleuchteten Dampfer gezogen, die Sonntagsausflügler von Koblenz und Bingen kehrten zurück, und die hellen Gesänge der Fröhlichen schwebten stets vernehmbarer herüber. Es war ein Abend voll Lied und Lust, auch in den Herzen der jungen Gesellen.

Als sie in ihrem Quartier beisammensaßen, lächelte [177] Szedesky: »Es ist gut, daß ich gehe und mir daheim schon ein Mädchen weiß; sonst würde mir Lutz das Herz anzünden, nicht bloß für einen Tag, sondern für immer. Nun aber behalte du sie im Auge, Ulrich.« Überrascht erwiderte der Schweizer: »Das würde mir wohl nicht viel nützen!« worauf Janos stolz versetzte: »Wir sind ja auch nicht auf wilden Bäumen gewachsen.« Und in Friedrichs ehrlichem Gesicht stand ein verklärter Glanz der Freude über den Abend.

Um sechs Uhr am nächsten Morgen stellte Ulrich den Bruder bei Appelius vor, nachher nahm er sich die Stunde, um sich von seinem lieben Szedesky zu verabschieden. Ihr Gespräch war nicht mehr so fröhlich wie gestern, der Scheidende äußerte noch einmal Befürchtungen wegen der Barensky. Die letzten Augenblicke aber waren seinen Freundschaftsversicherungen vorbehalten: »Du bleibst mein Herzbruder, ich der deinige. Wenn es dir am Rhein nicht mehr gefällt, komm ins Ungarland!«

Nun war der Getreue davongefahren. Ulrich aber wurde wegen der Barensky von Sorgen nicht frei. Wo er stand und ging, fürchtete er eine neue Begegnung mit ihr oder Mab, sprach aber Friedrich, der jedem Abenteuer abhold war, nie von der zweifelhaften Bekanntschaft, und um sie zu vergessen, war es ihm eben recht, daß ihn das Geschäft stark in Anspruch nahm, die Überstunden oft bis um neun, mitunter sogar bis um zehn Uhr abends dauerten.

Die Abteilung Friedrichs war etwas weniger beschäftigt, um sieben Uhr hatte er Feierabend. Mit musikalischem [178] Talent probte er dann auf der Laute Ulrichs und wäre froh gewesen, der Bruder hätte ihm einigen Unterricht, nur ein paar Minuten im Tag, gegeben. Doch der blieb unlustig. Von weitem hatte er die Mab wieder gesehen.

Im übrigen aber lebte sich Friedrich angenehm in die neuen Verhältnisse ein. Fast Tag um Tag fügte es sich wie von selbst, daß er oft mit Uli, oft allein die Schwestern Römer sah. Jedesmal gab es ein zwang- und harmloses Gespräch. Die beiden Mainzerinnen freuten sich, daß ihm ihre Vaterstadt so gut gefiel. Schon war die Zeit des ersten Obstes da. Wenn die bräunliche Lotte und die sonnblonde Lutz von der Morgenarbeit in ihrem Garten kamen und mit den beiden ins Haus traten, so reichten sie ihnen aus den Körbchen von den Früchten dar, die eben reif geworden waren: Kirschen, Frühpfirsiche, Birnen oder Äpfel. Kam Ulrich später heim, rief ihm Friedrich entgegen: »Dort sind noch die Erdbeeren der Fräulein Römer für dich! Die meinen hab' ich schon geschmaust.« Die Gaben der Mädchen erschienen ihnen wie ein Segen für die Nacht, der vor bösen Träumen schützt. Selbst Ulrich wurde darüber wieder heller. Als er ihnen einmal begegnete, scherzte er: »Merkwürdige Gärtnerinnen sind Sie doch; nie ist eine Spur von Erde an Ihnen. Ernsthaft kann ich mir Ihre Arbeit nicht vorstellen.« Da verteidigten sich die Schwestern lebhaft: »Denken Sie denn, wir hätten kein Gartenhäuschen?« lachten sie hell. »Da hängen unsere Arbeitsschürzen. Kommen Sie und sehen Sie sich die wohlbestellten Beete an!«

[179]

Unerwartet wurde wenigstens Friedrich diese Freude zuteil. Als er am Abend von der Arbeit kam, traf er die Geschwister unterwegs, wie sie den Vater abholen wollten. Sie luden ihn leichthin zur Begleitung ein. Alwin Römer, der kräftige, kaum ergrauende Fünfziger, war eifrig am Graben; es sei seine Lieblingserholung, erklärte er. Als der Mechaniker ihn so munter hantieren sah, griff er selber auch zum Spaten und bewies, daß er mit dem Boden umzugehen wisse. Auf dem Heimweg erbot er sich, Tag für Tag ein Stündchen mitzutun. Vater Römer nahm seine Hilfe scherzend an, und da die Tage des Sommers genügend lang waren, erlebte Friedrich draußen stets einen schönen Feierabend. Auf dem Rückweg in die Stadt trat der Alte mit ihm zu einem Glas schäumenden Bieres in eine Gartenschenke und verstand sich mit dem erst kürzlich Zugewanderten auf das herzlichste.

War es nun Anerkennung für die Mitarbeit Friedrichs oder überhaupt Wohlwollen gegen die Brüder Junghans, er lud sie auf einen Sonntag zum Abendbrot im Garten ein. So gelangte auch Ulrich in das ihm bisher unbekannte Paradies der Schwestern Lotte und Lutz. Als die Brüder dort ankamen, trafen sich die beiden allein, die Eltern waren noch durch einen Besuch in der Stadt festgehalten. Die Mädchen wanderten nun mit ihnen durch das romantische Stück Erde, das an die mittelalterlichen Festungswerke der Stadt lehnte. Wohlgeordnet dehnten sich die Beete, und üppig standen die Obstbäume in alten verwachsenen Gräben. Über geborstene Mauern hin aber kletterte eine unberührte, [180] träumerische Wildnis. Schmale Wege wanden sich durch knorriges, zum Teil zermorschtes Baumwerk hinab in halbeingestürzte Keller und Gewölbe und stiegen die verwitterten Stufen an den Zinnen empor bis auf die Altane eines geborstenen Rundturms, von der sie die Stadt und den dahinter flimmernden Rhein überblickten. Es gab sich wie von selber, daß sich Friedrich mehr zu Lotte, Ulrich mehr zu Lutz hielt, und ebenso, daß sich auf den vielen Wegwindungen ein Paar vom andern verlor, bis sich die Schwestern durch Zurufe, die wie Glockentöne klangen, davon überzeugten, daß sie einander doch nahe seien. Es wurde nichts gesprochen, das nicht alle Menschen hätten hören dürfen, aber eine feinzarte Stimmung des Vertrauens lag über den paarweisen Gängen. Das Vierblatt fand sich auf den Mauern wieder, lagerte sich, als wären sie Geschwister, in der Sonne, und noch mehr als in der Stadt sprach im Grünen der rheinländische Mädchenzauber zu den Fremdlingen, die so Schönes erleben durften.

Die Eltern kamen. Auch durch ihre Gespräche klang die Wertschätzung, die sie den Hausgenossen entgegenbrachten. Erzählen und Lachen würzten das Mahl, und erst als die Sterne am Himmel emporzogen, wandte sich die Gesellschaft wieder in die Stadt. Sie trennte sich unter dem herzlichen Dank der Brüder, als bestände die Freundschaft von langem her, und goldig beglänzte die Erinnerung an den Abend den Werktag der beiden.

Ulrich aber hatte an einem der folgenden Tage einen großen Schrecken. »Rumpedidum trara!« scholl es durch die Straßen der Stadt, und Trompeten schmetterten. [181] Der Zirkus Tempelmann hielt mit einer buntflitternden Karawane von Kamelen, Elefanten, Bären, Pferden, Affen, Kunstreitern und Reiterinnen, Riesen und Zwergen, Negern und Arabern, einem langen Troß von Raubtier- und Bagagewagen Einzug in die Stadt. Gerade als die Brüder zum Mittagessen gingen, bewegte er sich mit viel Prunk und Lärm durch die Straßen. Die Fenster der Häuser flogen auf und besetzten sich mit neugierigen Köpfen, die Jugend stürzte sich ins Freie, und von der herzuströmenden Menge in ihrem Weg aufgehalten, mußten sich die Brüder den Zug wohl oder übel mitansehen.

Friedrich tat es halb mit Neugier, halb mit Verächtlichkeit; Ulrich aber war es, der Boden unter ihm habe sich in eine glühende Eisenplatte verwandelt.

Erst die schmetternden Herolde, ein Abstand, dann acht Reiter in roten Fräcken und roten, hohen Hüten, wieder ein Abstand, dann ein paar das Rad schlagende Clowns – und nun, auf weißen Zeltern mit perlmutterschimmernden Schabracken, in langen fließenden, silber- und golddurchwirkten Gewändern Werra Barensky und Mab, dahinter wieder ein Troß Reiter und Damen. Wenn nun eine der beiden den Kopf zur Seite wendete, so war Ulrich entdeckt! »Nur das nicht,« durchzuckte es ihn, doch auch mitten in der Angst der Gedanke: »Wunderbar schön ist das wilde Weib!« Sie wie Mab aber ritten ahnungslos vorüber, ein Alpdruck fiel von seiner Brust. Und Friedrich drängte: »Gehen wir! Was kümmert uns das Schwindelzeug!«

Im Heimlichen kümmerte es Ulrich schon. In der [182] Nacht, wenn alle Dinge schwärzer aussehen, als sie sind, weckte ihn die Furcht, die Barensky möchte in den Wochen, die der Zirkus in Mainz blieb, irgendwie erfahren, daß er noch in der Stadt stecke. Wenn nun das rücksichtslose Weib einmal plötzlich ins Haus drang, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen, daß er nie wieder zu ihr gekommen war, oder um die Mittagszeit plötzlich vor dem Atelier Appelius stand, – welche Schande, welche Schmach! In was für eine häßliche Geschichte war er doch aus bloßer Höflichkeit hineingekommen! Dabei fühlte er seine völlige Hilflosigkeit. In Dingen, die das Licht nicht zu scheuen brauchten, wußte er sich stets Rat; aber wenn er an Werra Barensky dachte, war ihm der Verstand wie vernagelt, blieb ihm nichts als ein ödes Bangen vor einer unangenehmen Überraschung. Auf seinem Lager seufzte er in schlafloser Sorge.

Da kam die Stimme Friedrichs zu ihm herüber, der in der gleichen Kammer schlief: »Uli, bist du auch wach?« Sie schlugen Licht, und der Jüngere sah, wie der Bruder aufrecht und mit fieberglänzenden Wangen auf dem Bett saß.

»Uli,« stieß Friedrich hervor, »ich bringe den Sonntag und die Lotte Römer nicht mehr aus dem Sinn! Tag und Nacht muß ich an sie denken.«

Der Stoßseufzer des Bruders lenkte Ulrich von den eigenen Schmerzen ab. Es mußte schon schlimm um Friedrich stehen, daß der Gesunde, Bedächtige, der wohl noch nie von einem Mädchen geträumt hatte, in fiebriger Verliebtheit den Schlaf nicht mehr fand. »Da gibt es nichts, als du fragst sie um ihre Hand,« versetzte er. – [183] »Bist du verrückt?« gab der Ältere zurück. »Ich die Lotte! Nein, so hoch darf ich die Gedanken gar nicht erheben. Aber einen schönen Tag möchte ich noch mit ihr verleben, dann von meiner Stelle scheiden und weit von Mainz suchen, wie ich mit ihrem Bild fertig werde.« – »Das kannst du noch, wenn sie wirklich Nein gesagt hat!« – »Da hast du eigentlich Recht,« seufzte Friedrich. »Aber das Fragen, das Fragen! Geht es dir nicht auch so mit der Lutz?«

»Fast,« erwiderte Ulrich. »Ehe ich sie aber um ihre Hand bitten kann, müßte ich noch einmal Nick Tappoli sprechen. Über die Nick geht mir doch keine!«

Da war Friedrich enttäuscht. Er warf sich auf das Bett zurück, und bald hörte Ulrich die regelmäßigen Atemzüge des Eingeschlafenen.

In der folgenden Nacht wiederholte sich ihr Gespräch. »Ich habe mich besonnen,« sagte Friedrich. »Als Dank für den schönen Sonntag im Garten sollten wir Lotte und Lutz zu einer Rheinfahrt einladen!« – »Das geht natürlich nicht, ohne daß wir den Vater Römer um Erlaubnis bitten!« warf Ulrich ein. – »Freilich,« seufzte Friedrich, und nun standen sie am Berg des Anstoßes. Durften sie es wagen, dem Alten ihr Anliegen vorzubringen? Darüber berieten sie nun den folgenden Tag, die folgende Nacht. Friedrich war sehr zaghaft; hinter der Jovialität des Vaters Römer, das wußte er, stak doch auch viel Stolz und Strenge.

»Ich will einmal mit Lutz sprechen,« löste Ulrich den Knoten, »und sie offen fragen.«

[184]

Die Gelegenheit gab sich. Lutz spitzte gelüstend den Mund. »O ja, eine Rheinfahrt! Wie herrlich! Wir dürfen dann zwar den Zirkus nicht besuchen, aber eine Rheinfahrt mit Ihnen ist viel schöner. Der Vater hat von Appelius sehr Erfreuliches über Sie gehört, jeder von Ihnen wäre imstand, selbständig eine Fabrik zu leiten. Da wird er nicht Nein sagen. Er darf es nicht!« setzte sie schelmisch hinzu.

Das wohlwollende Urteil des Herrn Appelius stärkte den Mut der Brüder. Wie zu einem hohen Fest angetan, standen sie vor der Römerschen Tür. Als sie aufging, warteten dahinter übermütig die Mädchen, und in das Zimmer Römers hinein erhielt jeder einen heimlichen Ermunterungspuff, Friedrich von Lotte und Ulrich von Lutz. Dieser machte den Sprecher.

Römer erwiderte trocken: »Sie haben so gute Advokatinnen angestellt, daß ich zu dem Sonntagsausflug bloß Ja und Amen sagen kann. Also machen Sie mit den Töchtern die Fahrt und bringen Sie dieselben wieder gesund zurück. Es ist das erste Mal, daß sie mit jungen Männern ausfliegen dürfen!«

Als die Mechaniker in ihr Quartier hinaufstiegen, wischte sich Friedrich den Schweiß von der Stirne, und ein Freudenruf von Lutz kam wie ein Glockenton leise die Treppe empor. Heimlicher Jubel der Jugend herrschte oben und unten im Haus.

Am Vorabend der Fahrt aber erlebte Ulrich noch etwas recht Ärgerliches, einen Brief der Werra Barensky, in dem sie ihm in ihrem falschen Deutsch schwere Vorwürfe machte, daß er Mab vorgelogen habe, er verreise, [185] und daß er sie nie besuche; er solle nun aber kommen, sobald als möglich!

Ulrich fand gerade noch Zeit, den Brief einzustecken, ehe Friedrich dazukam. Seine schlechte Laune verschlimmerte sich, als ihm die Hauswirtin mitteilte, ein merkwürdiges junges Wesen, wahrscheinlich vom Zirkus, habe den Brief gebracht. Wenn sich das nun über den Flur treppauf, treppab flüsterte!

Spät abends noch verließ er entgegen seiner Gewohnheit das Haus, ohne Ziel lief er durch die Stadt. Seine Gedanken waren nur bei dem Brief. Was sollte er mit einem Weib, dessen Bild auf riesigen gelben Papierbogen an allen Straßenecken klebte? Pfui Teufel! Wie eine Drohung aus der Hölle kam ihm der Brief vor. Welche Widerwärtigkeiten mußte er noch von der Artistin befürchten! Erst um Mitternacht kam er heim. Friedrich lag in tiefem Schlaf, eine frohe Stimmung auf dem Gesicht: vielleicht träumte er von Lotte Römer, vielleicht war es auch nur die Vorfreude auf die morgige Fahrt. »Könnte ich mit so gutem Gewissen schlafen wie du!« seufzte der Jüngere.


[186]

15

Das Doppelpaar trat den Ausflug an. Als das Schiff die Räder zu drehen begann, deckten leichte Schwaden von Nebel noch Strom und Ufer. Lotte und Lutz aber lachten schon frohmütig in den Tag. Bald goß aus wolkenlosem Himmel die Sonne ihre Strahlen über den Rhein. Sie schlüpften aus ihren Mänteln und waren in ihren duftigen Sommerkleidern wunderschön anzusehen: die kräftige Lotte im Braungold der Zöpfe wie die schlanke Lutz in ihrem hellen Blond, beide frisch wie der Morgen, die Augen voll jugendlicher Klarheit, die Herzen und Lippen bereit, sich zu freuen.

Dörfer und Städtchen, Burgen und Schlösser grüßten, die fruchtbare Ebene sonnte sich im Morgenstrahl, grüne Berge tauchten empor, und das Boot glitt hinein in die gesegneten, vielbesungenen Hügelufer. An den dunkeln Giebeln von Bingen vorbei warf der Strom sich in die Schlucht des Binger Lochs und kam ins Schäumen und Brausen, als wandle er auf den Spuren seiner Hochgebirgsjugend: an Klippen brach sich der Gischt, und die Wasserkühle wehte aufs Verdeck. Nun lachte der kleinen Gesellschaft Aßmannshausen entgegen. Das Gemüt wurde ihr weit vor Schönheit, sie einigte sich, hier auf der Rückfahrt auszusteigen und gegen Abend den Weg über die Niederwaldhöhe zurück nach Rüdesheim zu Fuß zu gehen.

[187]

Lotte und Lutz kannten die Ufer von Wanderungen mit ihrem Vater her recht gut und wußten aus der Erinnerung manches zu erzählen. An Friedrich hatten sie einen dankbaren Zuhörer. Ulrich aber blieb etwas geistesabwesend, denn der Gedanke an die Barensky ließ ihn nie völlig los, und der Ausflug der Eglisauer Jungmannschaft mit Nick strich ihm durchs Gedächtnis. »Die Überstunden! Sie arbeiten zu viel,« versuchte Lutz ihn aufzumuntern. Mit rosigen Fingern bot sie ihm einen geschälten Apfel an. Dankbar blickte er ihr ins Gesicht. Es ging ihm sonderbar, wenn er das frische Wesen sah. Nick oder Lutz? Darüber erwachte ein träumerischer Streit in seiner Seele. Wo waren die größeren Vorzüge? Nein, die stolze Nick mit dem Einschlag italienischen Blutes, das ihrem Gesicht eine so große Vornehmheit gab, konnte er nie vergessen; aber gewiß würde er auch bei Lutz, die deutsches Wesen so rein und innig verkörperte, ein volles, tiefes Glück finden.

In seinen Traum klang ein Wort, das Lotte an Friedrich richtete: »Es ist etwas Merkwürdiges an Ihnen beiden. Sie sind so einfach, so grad, als ob Sie sich gar keine Mühe gäben, etwas zu scheinen, und setzen sich doch überall in Ansehen.« Auf Friedrichs Gesicht glänzte die Freude über die Anerkennung des geliebten Mädchens. Lutz aber neigte sich zu Ulrich und flüsterte: »Das hat der Vater von Ihnen gesprochen.« Und den Männern wuchs der Mut.

Bald mit ihren eigenen vollen Herzen beschäftigt, bald mit der Schönheit der Landschaftsbilder, genossen die Paare die Fahrt. Hoch zur Linken grüßte die malerische [188] Ruine Rheinstein, hart am Strom winkte die baumumschattete Klemenskirche, die aus grauen Jahrhunderten erzählt, darüber die Ruine Falkenstein; dann der Flecken Lorch mit rundem Uferturm, hoch oben der Nollicht, auch ein Hort der Sage, Schloß Sonneck und Ruine Fürstenberg – eine Burg der andern so nah, daß man sich von ihren Zinnen zurufen könnte.

»Wer all die lustigen und traurigen Geschichten wüßte, die um die Mauern gehen,« meinte Lutz. »Bacharach, das alte, liebe Nest!« rief sie. »Da waren wir als Schulmädchen oft in der Weinlese. Die schöne Ruine ist die Wernerkirche und die Burg oben das Schloß Stahleck. Wie oft sind wir dort mit Buben und Mädchen herumgeklettert im bunten Herbst!«

Schon ragte aus dem von Dampfern, Kähnen und Flößen belebten Strom die Pfalz bei Kaub, der dicke Wachturm mit den vielen Seitentürmchen. Da erzählte Lutz mit aufquellender vaterländischer Begeisterung vom Rheinübergange Blüchers in der Neujahrsnacht 1814. Ulrich merkte: ihr Schulsack war nicht gering, und warmer Anteil für vieles bewegte ihr die Seele.

Vorüber waren die Spitzgiebel von Kaub, die runden und viereckigen Türme von Oberwesel, klippiger wurden die Uferhügel, über verborgene Felsen schäumte der Rhein; auf dem Schiff erhob sich das Lied von der Lorelei, und die Brüder fielen mit prächtigen Stimmen ein. »Lotte und ich können leider nicht singen,« gestand Lutz. »Schon in der Schule hat man uns gesagt, daß wir Spatzen seien.« Ulrich aber fand, in ihrer jungen Lieblichkeit sei sie auch ohne Gesang ein Lied.

[189]

In weitem Bogen zog das Schiff um den Felsen der Lorelei, Stromkühle und mittägliche Sonne spielten um das Schiff, stets fröhlicher wurden die Gesichter der Ausflügler. Wie herrlich war die Fahrt! Auf jedem Hügel stand ein Schloß, entweder in Ruinen oder mit hellglitzernden Fenstern, am Ufer lehnten die verträumten Kirchen. Überall Sagenstimmung. Aus den Rebbergen schimmerten Landhäuser und hielten ihre Fahnen empor. Das Dorf Kamp lachte aus üppigen Nußbäumen. St. Goar und St. Goarshausen kamen und gingen, das klosterreiche Boppard stellte seine lange Giebelreihe ans Ufer, dann Rhens – mit dem Königsstuhl, in dessen rechteckigem Kanzelbau die Kurfürsten den Kaiser kürten –, und über dem malerischen Städtchen Oberlahnstein ragte das prächtige, efeuumkränzte Schloß Stolzenfels mit Kapelle, Terrassen und Gärten, in anmutig bewegtem Gebirgsrahmen die schönste Burg am Rhein, der breit wie ein See an ihr vorüberwallt.

In Koblenz verließ die kleine Gesellschaft das Boot. Bis die Fahrt wieder rheinauf ging, hatte sie eine reichliche Stunde Zeit. Sie hielt Mittag in einem Wirtschaftsgarten, vor sich die uralte vierzehnbogige Brücke über die Mosel, die aus einem Hintergrund schöner Berge durch reiches Grün in den Rhein hervorfließt. Harmloses, inniges Glück lag auf den Gesichtern der Mädchen. Ulrich, selber verwirrten Herzens, flüsterte dem Bruder ins Ohr: »Jetzt fort mit den Bedenklichkeiten! Bitte heute noch Lotte um ihre Hand!« Der versonnene Friedrich wurde rot und nickte ihm zu.

Wieder fuhren sie durch die reichen, wechselnden [190] Bilder der Rheinlandschaft dahin, doch jetzt stromauf, und als sie das Boot in Aßmannshausen verließen, lag noch ein langer, schöner Abend vor ihnen.

Durch Waldesschatten stiegen sie hinauf gegen den Niederwald und dann auf den Aussichtsturm in der Höhe, unter sich flimmernde Buchen und Eichenkronen, den aus weiter Ferne heranwallenden, im Lichte golden erzitternden Strom, die stolz auf ihm daherziehenden Dampfer, die Burgen auf den Rebenhügeln und die fruchtbare Ebene mit den schimmernden Dörfern.

Aus den Augen Friedrichs blitzte die Entschlossenheit. Noch auf dem Turm gab er dem Bruder einen Wink, mit Lutz voranzugehen. Plaudernd zog der Jüngere die Ahnungslose hinweg und sagte, die andern würden schon nachkommen. Im Angesicht der herrlichen Landschaft schritten sie durch die Weinberge gegen Rüdesheim hinab und unterhielten sich über die Bilder am Weg. Plötzlich aber wandte Lutz den Kopf: »Ja, dort oben kommen sie, – doch wie langsam! Was haben sie nur? Beide senken die Köpfe, wie wenn sie Goldstücke suchten.«

Ulrich lächelte geheimnisvoll, Lutz aber erriet den Zusammenhang und rief übermütig: »Ich glaube, die beiden verloben sich! Das ist fein! Lotte hat Ihren Bruder schon lange lieb. Warum sind wir nicht dabei? Ich bin so furchtbar neugierig, wie sie sich benehmen. Sehen Sie, jetzt haben sie sich geküßt. Friedrich schlingt den Arm um die Hüfte Lottes. Jetzt kommen sie miteinander wie Hermann und Dorothea. Ist das nicht wundervoll?«

»Was aber wohl Ihr Vater dazu spricht?« fragte [191] Ulrich. Da flog ihr doch ein Schatten über das helle Gesicht, sie seufzte: »Es wird schon einen Kampf geben. Lotte hat aber doch Recht.«

Langsam und selbstvergessen kam das Liebespaar den Weg herabgestiegen. Als er das glückselige Gesicht des Bruders sah, wurde Ulrich von einer ihm unbekannten Rührung ergriffen, mehr noch, als Lotte seine Hand nahm. »Wer hätte heute morgen gedacht, daß ich dich am Abend Schwager nennen dürfe. Also du auf du! Ich will dir eine gute Schwester sein.« Sie gab ihm einen herzfrischen Kuß zur Besiegelung ihres Wortes und umarmte immer und immer wieder die Schwester. Friedrich gab Lutz ebenfalls einen Kuß, und Ulrich war nahe daran, seinerseits das Herz vollends an die Jüngere zu verlieren.

Von Bingen herüber kam aber schon das Schiff, das sie zur Heimfahrt benutzen wollten. Sie eilten nach Rüdesheim hinab und fuhren im goldenen Abendschein der eigenen Stadt entgegen. Nun aber ihre Türme zum Vorschein kamen, berieten die Schwestern doch in etwas bänglichem Flüsterton, wie sie dem Vater das Ereignis mitteilen sollten. Sie wurden einig, daß Friedrich und Ulrich zunächst, als hätte sich nichts von Belang ereignet, vor die Eltern treten und dann in ihrer Kammer warten sollten, bis eine von ihnen Friedrich in die Wohnung hinunterrufe. Kaum hatten sie den Plan verabredet, als das Boot in der Abenddämmerung das Ziel erreichte. Am Landungssteg holte das Ehepaar Römer die Gesellschaft ab. Friedrich hatte Herzpochen, Ulrich führte das Gespräch, erzählte von den Freuden des Ausfluges, und [192] unter der Tür bedankten sich beide schlechten Gewissens für die Ehre und das Vertrauen, das ihnen von den Eltern Römer erwiesen worden war.

Friedrich hoffte heimlich, er werde noch am Abend gerufen, aber er horchte umsonst nach dem Glockenton, mit dem die Schwestern ihre Zeichen gaben. Er und Uli mußten zur Ruhe gehen, ohne zu wissen, wie sich Vater Römer zu der Liebe seiner Ältesten stellte.

Am folgenden Tag wollte Friedrich fast verzagen. Als die Brüder aber zum Mittagessen hinaufstiegen, da streckte Lutz den Kopf aus der Tür und flüsterte ihm zu: »Du bekommst eine Einladung zum Nachtessen.« Ihr Lächeln verriet kaum getrocknete Tränen.

Die Verlobung war also beim Alten auf Widerstand gestoßen. Selbst die Brüder fanden es begreiflich. Sie waren doch nur als Gesellen in Mainz zugewandert, Friedrich dazu erst seit sechs Wochen, und nur ihre guten Stellungen bei Appelius gaben ihnen einiges Ansehen. Die Römer aber waren eine alte Bürgersfamilie, vielleicht nicht gerade reich, doch in Verhältnissen, die sie für die Zukunft der Töchter Ansprüche machen ließen.

Die beiden Überstunden von sieben bis neun Uhr erschienen Ulrich an diesem Tage furchtbar lang. Als er endlich in brennender Neugier das Haus betrat, wurde er von Lutz mit klingendem Lachen in die Wohnung gerufen und traf dort bei Wein, Kuchen und Obst ein stillglückliches Bild: Lotte Hand in Hand mit Friedrich und diesen in friedlichem Gespräch mit dem Vater der Braut. Die Wogen hatten sich geglättet. Auch er fand in dem Familienkreis herzliche Aufnahme.

[193]

Beim Anstoßen auf die Verlobung sagte Lutz schelmisch: »Auf Schmollis, Ulrich, wir sind ja jetzt Verwandte! Und von dem Fest bekomme auch ich ein Butterbrot. In vierzehn Tagen wollen Friedrich und Lotte zu euern Eltern in die Schweiz reisen und sich als Paar vorstellen. Da darf ich als Begleitdame mit und sehe, wie es in eurer Heimat ist, den jungen, wunderklaren Rhein und die weißen Schneeberge.«

Auch Ulrichs Sinne gaukelten über die Gestade der Jugend: er malte sich das Glück der Eltern aus, wenn Friedrich mit einer so schönen und feinen Braut daheim erschien, dazu die fröhliche Lutz. Die Schwestern würden von ihnen nicht enttäuscht sein: Vater und Mutter verstanden es, sich eine schlichte Würde zu geben.

Mehr noch als das Geplauder des lieben Mädchens an seiner Seite fesselte ihn das Gespräch, das Römer mit dem künftigen Schwiegersohn führte. Nachdem er seinen Widerspruch aufgegeben hatte, richtete er seine Gedanken mit väterlicher Wärme auf die Zukunft des Paares; doch war es ihm offenbar eine unangenehme Vorstellung, daß der Freier in abhängiger Stellung stand.

»Ich werde mit Appelius sprechen. Das Geschäft erweitert sich stetig. Erweiterungen kosten Geld, und vielleicht ist er froh, wenn ich einen Betrag in seine Werkstatt zuschieße, selbstverständlich gegen das Versprechen, daß er dir eine leitende Stellung einräumt.«

Als die Brüder spät in ihre Kammer hinaufstiegen, taumelte Friedrich vor Glück, er wiederholte immer nur die Worte: »Die Eltern, wie werden sie aufhorchen, daß es mir so gut geht!«

[194]

Am folgenden Tag trug das junge Paar schon die Ringe. Ulrich fand, daß er einige Beschwerde habe, die ganze Liebeslust Friedrichs zu teilen, war aber doch erstaunt, daß selbst Appelius in dessen sonst so bedächtigem Wesen eine Veränderung bemerkte.

»Was ist denn mit Ihrem Bruder?« fragte der Geschäftsherr. »Ich habe ihn eben ertappt, wie er still für sich in eine Ecke hineinlächelte. – Wie? – Der ist verlobt? Mit der ältesten Tochter Römers, dem reizenden Mädchen?« Die Neuigkeit gab dem gelassenen, nüchternen Mann einen Ruck. »Wenn es so steht, muß man allerdings Rücksicht walten lassen. Sagen Sie ihm, daß er sich in der nächsten Zeit nicht so scharf ans Geschäft zu binden braucht, die jungen Leute haben gewiß jetzt mit Besuch und anderem überreichlich zu tun. Nein, ich will es ihm doch gleich selber ausrichten und meinen Glückwunsch dazu. Die Lotte Römer! Das ist ein Wurf, Herr Junghans.«

Im Überschwange des Glücks meinte Friedrich, am schönsten wäre es, wenn sich Ulrich und Lutz auch noch als Paar zusammenfänden, und selbst Appelius machte einmal scherzhaft die gleiche Anspielung. Ulrich mußte aber heimlich immer an den Brief der Barensky denken, eine traumartige Furcht vor dem Weibe lastete auf ihm. Davon wollte er sich durch eine Aussprache mit Friedrich befreien; aber wenn er das lachende Glück in den Augen des Bruders sah, erschien es ihm wie ein großes Unrecht, die Freude der Liebenden durch ein Wort der Sorge zu stören. Er ließ es daher, fand aber auch den frohen Sinn nicht, um irgend heischende Wünsche mit der lieblichen [195] Lutz zu verbinden. Wenn es nur Friedrich gut ging und sich seine Träume schön erfüllten, zunächst auch der Heimatbesuch mit den Mädchen!

So oft aber seine Gedanken an den Oberrhein schweiften, schwebten sie auch um Nick. Es tat ihm doch in der innersten Seele wohl, daß sie ihm durch Friedrich herzliche Grüße geschickt und einen Brief in Aussicht gestellt hatte. Er überraschte sich sogar bei dem Plane, Nick mit ein paar Zeilen zuvorzukommen.


[196]

16

Seit Friedrich Junghans nach Mainz gezogen war, dachte Nick ruhiger an Ulrich. Der bedächtige ältere Bruder war dem jüngern doch ein Schutz vor mancherlei Abenteuern.

Nebenbei bemutterte sie ihren unbehilflichen Freund Glorian Rollenbuz. Dann und wann hielt sie Nachschau in seiner Wohnung und bat die Hauswirtin, etwas sorgfältiger zu dem großen Kind zu sehen; auch schrieb sie mit seinem Einverständnis an die Stiftung in Basel um eine neue Ausstattung für ihn, nahm ihm, als die neuen Kleider angelangt waren, die alten weg und freute sich, mit ihm wieder unter die Menschen treten zu dürfen.

In der Familie Wasmer stand es wie früher. Der lebensfrohe Mann, dem es sonst nicht an freundlicher Rücksicht gebrach, verbarg es kaum mehr, daß er den Tod seines Weibes herbeisehnte, und mit dem erhöhten Spürsinn der Sterbenden wußte die Dahinsiechende um die Stimmung des Gatten. Im letzten großen Seelenschmerz suchte sie Trost bei Nick. Ohne sprechen zu dürfen, stand der Gast des Hauses zwischen Mann und Weib. Ja, eines Tages fühlte Nick, daß sie das Vertrauen der Kranken nicht mehr besaß, daß die fieberglänzenden Augen in unausgesprochenem Verdacht, in [197] brennender Eifersucht und in ohnmächtigem Haß, je länger desto stärker, auf ihr ruhten.

Sie wußte sich unschuldig, war aber von der Wesenswandlung der Kranken doch schwer betroffen. Auf einmal verstand sie den Sinn des geheimnisvollen Lächelns, der verblümten Anspielungen und der Gefälligkeiten Wasmers, und ihre innere Stimme gab der Leidenden völlig Recht: er rechnete darauf, wenn die Kranke erst gestorben sein würde, Nick zu heiraten.

Ein herzlicher Zorn auf den treulosen Mann kam über sie. Wie eine Schande für sich selbst empfand sie seine Gedanken, überhaupt als ein abgründiges Vergehen an Ehre, Gewissen und dem, was einem Menschen heilig sein soll.

Ein kleines Ereignis machte der heiklen Lage ein Ende. Hiob, der Junge, der sonst wie an einer älteren Schwester an ihr hing, benahm sich auffällig abweisend gegen Nick. Nach dem Abendbrot kam es zwischen ihnen zu einer kleinen Auseinandersetzung. Da stampfte der Junge mit dem Fuß: »Ich folge Ihnen nicht mehr, Fräulein. Sie sind schlecht!« Zuerst erschrak sie über die Beleidigung, dann ging sie auf den Jungen los und faßte ihn kräftig an beiden Ohren, wie sie es im Scherz oft, im Ernst noch nie getan hatte. »Was sagst du?« Der Knabe schrie erbärmlich auf, wiederholte aber: »Sie sind schlecht, weil Sie meine zweite Mutter werden wollen! Ich weiß es.« Da ließ Nick ihn los. »Wer lügt so?«

Der Streit aber hatte die strohhalmschwache Frau herbeigelockt, die sich mit den abgezehrten Händen an der [198] Wand entlang tastete. Der Anblick der Schwerkranken gab der zornbebenden Nick die Fassung wieder. Mit unheimlicher Ruhe sagte sie: »An dem, was mir Hiob vorgeworfen hat, ist kein wahres Wort. Ich würde mich in die Erde hinein schämen, wenn auch nur ein Funke daran wäre. Diese Beruhigung kann ich Ihnen geben, Frau Wasmer. Ich danke Ihnen für alles Liebe, das Sie mir erwiesen haben, aber ich verlasse sofort das Haus und das Geschäft. Möge Ihnen das den Frieden geben!«

»Fräulein Nick!« kam es tonlos von den Lippen der Kranken. Sie wollte weiter sprechen, konnte es aber nicht. Und Nick trug das Häuflein flackernden Lebens auf das Schmerzenslager zurück.

Dann packte sie ihre Sachen und schickte sich an, die Wohnung zu verlassen. Auf der Treppe jedoch begann sie herzzerbrechend zu weinen, setzte sich auf eine der untersten Stufen, und das Gesicht mit den Händen bedeckend ließ sie ihrem wilden Schmerz den Lauf.

Da gingen Schlüssel und Klinke der Haustür, Wasmer kam heim. Sie schoß auf und floh an ihm vorbei hinaus in die Nacht. Sein verwunderter Ruf scholl ihr nach: »Fräulein Tappoli! – Nick! – Um Himmels willen, was ist denn los?« Sie aber lief. Zum Glück war es noch nicht spät, und nach einigem Umherirren fand sie wieder Unterkunft bei der Frau Gugolz. »Mir war doch, Sie kämen zurück,« lächelte die Alte. »Ich habe deswegen nie recht Lust gehabt, das Zimmer wieder zu vermieten.«

Am Morgen setzte sich Nick eben mit wehem Kopfe [199] hin, um ihrem Geschäftsherrn einen Brief zu schreiben. Da kam einer seiner Ausläufer und rief sie zu ihm. Wohl oder übel trat sie den schweren Gang an und traf ihn allein auf dem Kontor. Er empfing sie mit verlegener Feierlichkeit.

»Es ist schief gegangen, Fräulein Tappoli,« begann er. »Es sind Dinge an den Tag gekommen, die ich noch lange für mich behalten wollte, und ich muß alle Schuld auf mich nehmen. Meine Frau hat mir eine Falle gelegt. Sie selber sprach von Ihnen, als wäre es ihr Wunsch, daß Sie ihre Nachfolgerin werden sollten. Ihre und meine Gedanken schienen sich zu treffen. Da wandte sich ihr Sinn, – die glühende Eifersucht kam zum Ausbruch. Aber, Fräulein Tappoli …«

»Kein Wort mehr!« rief Nick. »Ich kann nur das eine erwidern: Nie – nie – nie!«

»Fräulein,« bat er dringlich, »überlegen Sie sich die Sache doch noch einmal zu Ihrem eigenen Vorteil. Wie viel kann ich Ihnen bieten! Sie Idealistin gehören in ein sicheres Haus, aber nicht hinaus auf den Markt. Da werden Wesen Ihrer Art mit der gleichen Kaltblütigkeit wie Hasenfelle verkauft.«

Nick unterbrach den Faden seiner Rede. »Wir haben uns nichts mehr zu sagen, Herr Wasmer. Lassen Sie mich in Frieden gehn!« Mit einer raschen Wendung verließ sie das Kontor. Eine Stunde später schickte er ihr den Lohn, dazu ein Zeugnis, dessen überreichliches Lob sein schlechtes Gewissen verriet.

Zu gewöhnlichen Zeiten hätte ihr weiteres Fortkommen ihr nicht viel Sorge bereitet, aber gerade jetzt [200] schlich durch den Hochsommer der Stadt ein unheimliches Gespenst. Die Cholera war von einem Durchreisenden aus Rom im Gasthaus zum »Schwarzen Weggen« eingeschleppt worden, und nun ereigneten sich da und dort Fälle. Man sprach davon, wenn sie sich weiter ausbreite, würden viele Läden schließen.

Auch ein anderes beunruhigte Nick. Sie war der Ansicht gewesen, Glorian Rollenbuz sei ein bescheidener Verehrer, der es nie wagen würde, das Wort »Liebe« auszusprechen. Nun erhielt sie von ihm aber einen brieflichen Eheantrag, der mit unverständlichen Stellen aus römischen und griechischen Klassikern belegt war und einen langen Beweis enthielt, daß er für das Gedeihen seines Lebenswerkes der Mithilfe eines sich um ihn sorgenden Weibes bedürfe. Wie ihm nun antworten, daß ihre Empfindung für ihn nur eine freundschaftliche Gesinnung sei, aber nicht die Liebe, die für den gemeinsamen Gang durchs Leben ausreiche?

Sie wurde des unangenehmen Briefes enthoben. Glorian kam selber die schmale Treppe zu ihr emporgestiegen – nicht aus eigenem Mannesmut, sondern angetrieben von einer großen, bei aller Magerkeit starkgebauten Dame, die dem armen, sonst immer frierenden Menschen den Angstschweiß ins Gesicht jagte. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis sich die Drei im Stübchen zurechtgefunden hatten: das knochige Frauenwesen im Riesenblumenhut mit weitausgespanntem Reifrock, einem Reisetäschchen aus orientalisch gemustertem Stoff und fransengeschmücktem Sonnenschirm, die Armsündergestalt Glorians, der sich tief in die Ecke stellte, und Nick [201] selbst, die nicht wußte, was werden sollte. Doch zuckte ihr durch den Kopf, der Unglücksmensch habe wohl den Angehörigen in Basel seine Heiratspläne verraten und die Dame mit der unheimlich großen, langen Nase sei gekommen, um sich als seine Verwandte mit ihr auseinanderzusetzen.

Leibhaftige Schwester Glorians sogar war Fräulein Rollenbuz! Nachdem sie das schwer betont hatte, versetzte sie in großer sittlicher Entrüstung: »Und Sie sind also das verdorbene Wesen, das seine Fangnetze nach meinem unschuldigen Bruder auswirft, das ihn mit unchristlichem, ja teuflischem Blendwerk aus seiner bisher makellosen Lebenslaufbahn herausreißen und in den Pfuhl eines sündhaften Wandels hinabziehen will!«

Zornglühend erhob sich Nick, um sich zu rechtfertigen. Aber bevor sie zu Wort kam, war Fräulein Rollenbuz im rauschenden Seidenrock emporgeschnellt, und mit langausgestreckten Armen kreischte sie: »Ich bin die Ältere, ich habe das Wort! Sie mögen mit Ihren gleißnerischen Wegleugnungen warten, bis ich gesprochen habe!«

Auch der zitternde Glorian machte einen Versuch, den Mund zu öffnen. »Henriette,« flehte er die Schwester an. Sie aber stieg wie eine Rakete über ihn. »Bruder, du verirrtes Schaf, statt in deiner halsstarrigen Betörung zu verbleiben, knie nieder und danke Gott, daß du noch eine liebe Schwester hast, die deine Unerfahrenheit gegen solche Fallstricke schützt und schirmt. Vor allem aber dulde ich von dir keine Unterbrechung der wohldurchdachten Worte, die ich nun sprechen will.« Da [202] schaute er erbarmungswürdig und gebrochen zu seiner Angebeteten hinüber.

Jeder Versuch Nicks, selber in die Angelegenheit einzugreifen, wurde von dem eckigen Fräulein mit empörten Handbewegungen im Nu erstickt. »Welch ein Mangel an Erziehung, eine lebenserfahrene Dame berichtigen zu wollen! Das wagt doch nur eine ungeschliffene Zürcherin und fällt bei Ihnen um so schwerer in Betracht, als Sie aus einem Pfarrhaus stammen. Wo sind die duftenden Blüten, die fromme Elternliebe Ihnen ins Herz gepflanzt hat? Versengt von der bösen Stadt Zürich, die in Basel keines guten Rufes genießt! Die Untugend wohnt an der Limmat. Sie selber sind zu einer Dienerin der Hoffart hinabgesunken. Standen Sie nicht in einem Laden, in dem Damenhemden mit durchbrochenen Einsätzen und roten Bändchen verkauft wurden?«

»Herrgott, die Baslerinnen werden auch nicht in Sack und Asche gehen!« rief Nick, welche die Predigt des Fräuleins allmählich lächerlich fand.

Schon schwebten aber die Hände der Henriette Rollenbuz wieder beschwörend über ihr. »Wir sprechen nicht von unserm tugendreichen Basel, sondern von Ihnen, der Pfarrerstochter, die sich heruntergelassen hat, unchristlich gewordenen Mädchen und Frauen diejenigen Gegenstände zu verkaufen, welche die Blicke gottloser Männer mit Wollust erfüllen. Daß Sie sich dabei selber in Leichtfertigkeit verstrickt haben, ist mir nicht verwunderlich; es erscheint mir aber doch als eine besondere Bosheit von Ihnen, daß Sie die Hände nach meinem bisher [203] tadellosen Bruder ausstreckten. Indessen wird Ihnen der Anschlag nicht gelingen: meine schwesterliche Liebe durchschneidet Ihre Netze, sie führt Glorian in die Obhut seiner Familie nach Basel zurück.«

»Und rettet ihn vor der Cholera!« rief Nick, deren Zorn einem blühenden Mutwillen gewichen war. Jetzt hob das Fräulein ihre Arme nicht mehr beschwörend empor. Ihre Gestalt steifte sich krampfhaft, ihr Wort brach ab, schreckensbleich saß sie mit offenem Munde da.

Nick aber fuhr ein Übermut in die Seele, daß sie sich selber nicht mehr begriff. Möglichst weit von ihrer Gegnerin entfernt stellte sie sich in die Ecke, stemmte die Daumen in die Ohren, fächerte mit den Fingern, riß die dunklen Augen groß auf und das Gesicht zu einer Fratze. So lief sie auf die Erstarrte los, nahm ein Stück ihres Kleides, blies es an und rief: »Sie, Unglückliche, spüren Sie es nicht? Ich selber bin die Cholera!« Ein erstickter Schrei – und ohne sich mehr nach Glorian umzusehen, riß Henriette Rollenbuz Schirm und Tasche zusammen. Treppab war sie verschwunden, und schlotternd folgte ihr Glorian. »Viel Glück in Basel!« rief ihm Nick die Treppe hinunter nach und schlug die Hände über dem Kopf zusammen: »Mein Gott, ist das eine verrückte Welt!«

Am Nachmittag noch zitterte ihr das Erlebnis mit Glorian und seiner Schwester als etwas Unbegreifliches durch die Sinne. Ihrer Freiheit froh, lief sie planlos hinaus vor die Stadt, lief und stieg von Menschen unbehindert, bis sie auf dem Gipfel des Ütlibergs stand. Dort begann sie in die Einsamkeit hinaus ein Lied zu [204] singen, und was ihr noch schwer in der Seele gelegen hatte, rollte mit den Tönen davon.

Der Tag war dunstig, die Aussicht verschwommen, gegen Abend aber hellte sich das Land zu herrlicher Klarheit, warm lag es in der sich neigenden Sonne: Stadt, See, Täler, Dorfschaften, grüne und weiße Berge, durch das milde Licht wunderbar miteinander verbunden. Welcher Friede!

Dort unten in der schimmernden Stadt aber wanden sich die Menschen in der Seuchenfurcht, dort kroch in hunderterlei Gestalten das Elend, der Wahn der menschlichen Leidenschaften. Nick brauchte nur an die abgezehrte Frau zu denken, die ungeliebt der Grube zuwankte, an den herzensrohen Mann, der sich schon zu Lebzeiten der Gattin das künftige Weib auslas, der sich einbildete, sie, Nick, müsse es sein, und dafür keine Anspruchsmittel als seine Wohlhabenheit besaß. Im Traum war ihr nie der Gedanke gekommen, ihr Dasein mit dem Wasmers zu vereinigen. Noch wahnsinniger aber erschien ihr die Vorstellung der Fräulein Rollenbuz, daß sie ihren Bruder für sich einfangen wolle. Diese Menschen hatten ja keine Ahnung, wie es in einer jungen Mädchenseele aussah. Auch quälte sie sich an dem Wort Wasmers: »Sie Idealistin, gehören in ein sicheres Haus, aber nicht hinaus auf den Markt. Da werden Wesen wie Sie mit der gleichen Kaltblütigkeit wie Hasenfelle verkauft.«

Der Ausspruch war für sie eine furchtbare Beleidigung. Sie fühlte sich stark genug, ihr Brot in Ehren zu verdienen, aber die beiden häßlichen Erfahrungen, die [205] ihre letzten Tage bewegt hatten, gaben ihr doch die Erkenntnis, daß sie bisher das Leben nicht dunkel genug betrachtet hatte, daß es viel trauriger war, gemeiner und grausamer, als sie sich's je hatte vorstellen können. In ihr Herz schlich sich die Furcht vor Gefahren, die sie nicht kannte. Lebhafter als sonst spürte sie das weibliche Anlehnungs- und Schutzbedürfnis. Daraus stieg die Erinnerung an Ulrich Junghans, den Freien, Starken, der wie kein anderer ein Weib zu schirmen berufen war. Sie begriff sich selber nicht, daß sie ihm nicht längst den versprochenen Brief geschrieben hatte. Jetzt wollte sie es tun! In ihrem Kopfe war das Schriftstück schon im Werden. Eine große Ruhe überkam sie. Der Frieden ihrer Seele stand im Einklang mit der Einsamkeit der abendlichen Natur und ließ sie in der daherwallenden Dämmerung ohne Angst den Waldweg hinab in die Wiesen und Felder und hinüber in den Lichtdunst der Stadt schreiten. Sie freute sich, daß der Ausflug für ihr inneres Besinnen nicht umsonst gewesen war, schrieb den Brief aber doch nicht mehr, sondern überließ sich dem frühen, tiefen Schlaf der Jugend.

Die Uhr ging wohl schon gegen Mitternacht. Da wurde sie von Frau Gugolz geweckt: »Fräulein Tappoli, schon zweimal ging die Klingel. Ich weiß nicht: will jemand etwas von mir oder von Ihnen? Es ist so unheimlich in der Cholerazeit!« Wieder ging schwach die Glocke, aber aus dem Fenster war niemand auf der durch eine Gaslaterne erhellten Gasse zu entdecken, und auf eine Anfrage, wer unten sei, kam keine Antwort zurück. Wieder aber regte sich die Klingel. Da holte die Alte ihre [206] Pfefferbüchse und stattete Nick wie sich selber mit einer Hand voll Gewürz aus, um es dem Bösewicht ins Gesicht zu werfen, der vielleicht drunten stand. Mit einer Kerze tasteten sie die Treppe hinab, Nick als die Mutigere voran. »Gott, Sie sind es, Frau Wasmer!« schrie sie leise auf und schickte Frau Gugolz wieder in die Wohnung empor.

Am Hauseingang lehnte kraftlos die Todkranke. Sie nahm Nicks Hand in ihre beiden. »Ich finde keine Ruhe und kein Sterben, bis Sie mir verziehen haben,« stieg es ihr rauh aus der hohlen Brust. »Ich habe eingesehen, daß mein Verdacht gegen Sie todungerecht war.«

»Ich danke Ihnen,« stotterte Nick, und da Frau Wasmer sich nicht bewegen ließ, zu ihrer Erholung ins Haus zu treten, brachte sie die Schwankende durch die finstere Nacht wieder heim.

Wie ein Spuk kam ihr nachher das seltsame Erlebnis vor. Sie war aber doch tiefglücklich, daß die von Gewissensbissen gequälte Frau vor ihrem Hinscheiden die blind wütende Eifersucht gegen sie aus der Seele getilgt hatte. –

Aus freiem Herzen schrieb sie Ulrich Junghans am andern Morgen den Brief, der die alte Freundschaft wieder anknüpfen und die Liebe reifen sollte.

»Lieber Uli!« lautete er. »Marie, die ich zuweilen sehe, erzählte mir so viel Freundliches von deinem Aufenthalt in der Fremde, daß auch ich oft meine Gedanken zu Dir hinüber wandern lassen muß. Seit ich durch den Tod meines Vaters die schöne Jugendheimat am Rhein verloren habe und hier in der Stadt das Brot selber [207] verdienen muß, sind meine Gedanken recht oft und nicht ohne Heimweh bei Dir. Ich sehe Dich stets noch, wie Du mit Deinen Flügeln in die Dornen fielst, aber auch, wie Du Dir von mir trotzig den Pfänderkuß erzwangst und als kühner Schiffer auf unserm Strom mit Wirbel und Woge fochtest. Leider mußtest Du dann zu dem Eindruck kommen, daß Du mir gleichgültig seiest. Die blitzdumme Antwort, die ich Dir auf Deine Herzensfrage gab, habe ich auf das innigste bereut, schon an dem Morgen, da Du auf die Wanderschaft gingst, und seither immer. Schiebe sie auf den Trotz und Stolz eines jungen Mädchens, das für Liebesfragen erst am Erwachen ist, und auf die große Verwirrung des Augenblicks. Nun war es mir aber eine tiefe Freude und Gewissensberuhigung, aus einem Brief, den Du noch in Nürnberg geschrieben hast und den mir Marie zeigte, zu sehen, daß Du mich doch nicht ganz verwirfst, wie Du nach meinem törichten Benehmen das Recht hättest. Dein Vorsatz, wenn Du einmal aus der Fremde heimkehrst, mit mir doch noch ein ernstes Wort zu reden, hat mir den Mut zu diesem Brief gegeben. – Aber was soll ich Dir schreiben? Nichts weiter, als daß ich Dir noch einen recht schönen Aufenthalt in der Ferne wünsche und daß Du, wenn Deine Zeit um ist, in Gesundheit und Segen in die Heimat zurückkehren und mir die Freude des Wiedersehens bereiten mögest.

Deine getreue Nick.«


[208]

17

Der Brief Nick Tappolis hob Ulrich weit über die Sorge des Tages hinaus und gab ihm die völlige Klarheit über seinen künftigen Weg. Wie schöne Gefühle ihn mit Lutz Römer verbanden, – seine echte, ursprüngliche Liebe war und blieb eben doch Nick, und nun sie ihm die Hand reichte, war ihm, sein Glück sei nicht weniger groß und rein als dasjenige Friedrichs. Er sprach aber mit dem von seinen eigenen Plänen Eingenommenen nicht darüber.

Ein Liedchen vor sich hinsummend stand er spät an der Werkbank und überdachte seine Antwort an Nick. Eine Stunde noch, und dann hatte auch er Feierabend. Da trat Appelius auf ihn zu, der noch auf dem Kontor gearbeitet hatte: »Eben sprach ein Bote vor, Sie möchten rasch heimkommen. Ihr Bruder sei ernstlich erkrankt. Es ist sonderbar: der Mann, den ich um fünf Uhr noch so gesund sah. Doch eilen Sie!«

Den Erschreckten trugen die Füße kaum, eine große Bangigkeit schnürte ihm die Brust. Als er den Schlüssel in der Haustüre drehte, kam ihm mit tränenüberströmtem Gesichte Lutz aus dem Flur entgegen, die heimlich auf ihn gewartet hatte.

»Ulrich, es ist etwas Furchtbares geschehen,« erzählte sie ihm und konnte fast nicht sprechen vor Schluchzen. [209] »Friedrich kam etwas früher als sonst heim. Lotte und ich machten mit ihm einen weiten Spaziergang den Rhein entlang und gingen im Rückweg zum Zirkus, um dort das Leben und Treiben zu sehen. Mitten unter den Menschen steht die Tierbändigerin Barensky. Mit einer kleinen Peitsche streicht sie Friedrich den Hut vom Kopf, schlägt sie ihm ins Gesicht und schreit meiner Schwester zu: ›So geht es einem Mann, der lügt!‹ und verschwindet unter den Leuten. Alles im Hui! Friedrich taumelte vor Schreck, sein erstes Wort war: ›Ich bin unschuldig, ich kenne das Weib nicht.‹ Um die ohnmächtige Lotte mühten sich Bekannte. Wir kamen heim, wie weiß ich zwar nicht. Der Vater war noch nicht da, wir schöpften Hoffnung, ihm die Sache verheimlichen zu können; als er kam, hatte er aber schon Wind davon. Friedrich, der sich vor ihm verteidigen wollte, verbot er die Wohnung und jagte ihn davon. Die Verlobung soll gelöst werden. Lotte fällt von einem Krampf in den andern. Nun, Ulrich, ja nicht etwa mit dem Vater zu sprechen versuchen, sondern hinauf zu Friedrich, der am meisten Trost bedarf von uns allen. Gute Nacht! Ich muß jetzt sehen, wie ich in die Wohnung hineinkomme, ohne daß der Vater es merkt!«

Ein zitternder Händedruck, und die leis Schluchzende verschwand.

Leichenblaß lehnte Ulrich an der Mauer. In diesem Augenblicke war ihm nur eines klar: die Barensky hatte Friedrich mit ihm verwechselt, ihm hatte sie den Streich zugedacht.

Als er ins Quartier kam, fand er Friedrich in jämmerlichem [210] Zustand. Der Getroffene saß, Haare und Kleider wirr, auf seinem Koffer und stöhnte in einem fort vor sich hin: »Ich bin unschuldig, ich kenne das Weib nicht!« Die Verwundung war übrigens nicht gefährlich, es handelte sich um einen handlangen, blutunterlaufenen Strich, der sich aus der Stirne quer über die Schläfe nach dem Ohr hinunterzog und bei sorgfältiger Pflege in etlichen Tagen wieder heilen konnte. Viel schlimmer war das innere Leid des Getroffenen über die zu Unrecht erlittene Schmach, das Gefühl eines jäh und unverdient über ihn hereingebrochenen Unglücks.

»Lottchen, du armes Lottchen!« stöhnte er, die Hände ineinander geklammert. »Nein, bei Gott, Römers haben diese Schande nicht verdient. Ich begreife, daß sie nichts mehr von mir wissen wollen – nein, ich begreife es nicht, ich bin unschuldig, das böse Weib ist verrückt. Uli, geh und schlag sie tot!« So klagte und wütete er bis ins Morgengrauen.

Der Bruder pflegte und tröstete ihn nach Vermögen. Als es Zeit gewesen wäre, ins Atelier zu gehen, war er, bis ins Herz erschüttert, selber auch arbeitsunfähig, und in tiefer Erschöpfung verbrachten sie gemeinsam die Stunden.

Als er aus dumpfem Halbschlummer erwachte, rüstete er sich und läutete zaghaft an der Römerschen Wohnung an. Die übernächtige Lutz gab ihm vor Schmerz halberstickten Bescheid: »Der Vater ist aufs Kontor gegangen, es ist vielleicht besser, wenn du ihn dort siehst. Ich habe aber keine Hoffnung, daß es etwas [211] nützt. Er war heute morgen ebenso außer sich wie gestern abend. Wir sind alle krank, der Arzt ist bei Lotte.«

Nun stand Ulrich im Kontor Römers. Der zornige Alte, dem die Ader hoch geschwollen auf der Stirne stand, ließ ihn wenigstens sprechen, und der blasse junge Mann beichtete das Erlebnis, das er auf das Anstiften Szedeskys mit der Barensky in Frankfurt gehabt hatte. Er schloß: »Das ist alles! Daß die Artistin mit mir einen Liebeshandel anfangen wollte, war nicht meine Schuld, und jedenfalls habe ich ihrem Wunsch nach einem Wiedersehn nie nachgegeben. Der Beweis dafür liegt darin, daß sie Friedrich mit mir verwechselt hat. Wenn aber jemand von uns beiden eine Schuld trifft, so bin ich es. Ich bitte Sie also, Herr Römer, die Liebe Friedrichs und Lottes nicht das Opfer des wahnsinnigen Weiberstreiches werden zu lassen. Mein Bruder ist völlig unschuldig!«

Der Alte erhob sich ächzend vom Lederstuhl, das Bekenntnis schien einigen Eindruck auf ihn gemacht zu haben, aber plötzlich wuchs sein Zorn wieder. »Junger Mann,« fuhr er auf, »Sie haben wohl keine Ahnung, wie schwer es mir geworden ist, die Hand meiner Ältesten einem Fremden zu überlassen. Ich tat es bloß, weil ich und meine gesamte Familie eine stille Freude an Ihnen beiden hatten, weil wir uns sagten, so etwas Quellenlauteres wie die beiden hochgeachteten Schweizer gebe es in der Welt nicht wieder. Wie steht es nun aber mit dieser Quellenlauterkeit? – Sie haben eben doch dem Teufel den kleinen Finger gegeben. Und er hat Ihre Hand genommen, allerdings statt der Ihren [212] die Friedrichs. Ich, meine Frau und meine Töchter sind in unserer Familienehre bloßgestellt – unerhört bloßgestellt.«

Sein Zorn wurde ein Keuchen. »Es gibt nur einen Ausweg,« brachte er endlich hervor, »den muß ich im Namen meiner tiefbeleidigten Familie von Ihnen fordern. Ihr Bruder und Sie verlassen die Stadt so schnell wie möglich. Wir sind für Sie tot. Ebenso Sie für uns. Das Geschwätz wird sich dann allmählich von selber verlaufen, und in ein paar Jahren kann Lotte noch mit einem anderen glücklich werden!«

Ulrich fand kein Wort und hätte doch aufschreien mögen vor Weh. »Was stehen Sie noch?« fuhr Römer empor. »Ich habe Ihnen nichts mehr als gute Fahrt zu wünschen!«

Ulrich spürte den Boden unter sich schwanken. Als er zurückkam, hob Friedrich den vom Arzt verbundenen Kopf. »Du brauchst mir nicht zu sagen, wo du warst, noch welchen Bescheid du erhalten hast, – ich lese es aus deinem grauen Gesicht. Wir sind hier im Hause und in Mainz überflüssig.« »Dazu hat Appelius auch noch ein Wort zu sprechen,« versetzte Ulrich schwermütig, »sonst – ja!«

Die Brüder verbrachten den Nachmittag untätig, selten fiel eine abgerissene Bemerkung zwischen ihnen. Jeder rückte von einem Stuhl zum andern, von Koffer zu Koffer, und wenn der eine stöhnte, seufzte auch der andere. Gegen Abend kam die Hauswirtin mit Tränen in den Augen und meldete: »Sie müssen leider ausziehen. Mir wären Sie ja noch lange recht, aber Herr [213] Römer wünscht es!« Da weinte Friedrich leise wie ein Kind. Der Jüngere aber machte sich auf den schweren Weg zu Appelius, erzählte ihm den Sachverhalt, und daß für ihn wie Friedrich des Bleibens in Mainz nicht mehr sei. Es wäre für sie eine große Wohltat, wenn er sie beide sofort entließe.

»Ich habe schon etwas von dem Auftritt gehört,« erwiderte der Geschäftsherr, »und bereits befürchtet, daß Sie mit diesem Anliegen zu mir kommen werden. Nun steht die Sache so, daß ich Ihren Bruder entlassen kann, obgleich er mir fehlen wird. Sie aber auf keinen Fall. Ich bitte Sie, nicht nur die vertragliche Kündigungsfrist innezuhalten, sondern überhaupt zu bleiben, bis ich Ersatz für Sie gefunden habe. Wie schwer das in unserm Beruf ist, wissen Sie wohl, ich rechne aber um so fester auf Ihr Entgegenkommen, als wir uns ja bis dahin gut verstanden haben und Sie bei mir stets der Bevorzugte waren. Wer weiß, vielleicht wird Ihnen Mainz und die Stellung auch wieder lieb. Mir scheint, man nimmt das gestrige ärgerliche Vorkommnis allerseits zu schwer. Daß Ihr Bruder kein Lebemann ist, sieht man ihm aus dem ehrlichen Gesicht. Nur hier in der Stadt könnte das Paar nicht bleiben, wie es der Traum Römers war, der mit mir darüber gesprochen und die besten Absichten für die jungen Leute gehegt hat.«

In Mainz gehalten, in der Stadt, in der er so Schönes und so Fürchterliches erlebt hatte! Es wollte Ulrich nicht in Sinn und Seele hinein. Es war aber für ihn wohl Ehrensache, daß er Appelius nicht im Stiche ließ, und für Friedrich ein Glück, daß wenigstens er, [214] der Erbarmungswürdige, sofort seine Straße ziehen durfte.

Der Bruder, der mit gesenktem Kopf im dunkeln Zimmer saß, nahm in seinem Herzweh die Nachricht seiner Entlassung fast gleichgültig auf. Nach einer Weile aber sagte er: »Die Lutz war auf einen Sprung da – hoffnungslos! Römer hat Lotte sogar schlagen wollen, weil sie auf der Verlobung bestand.« Er starrte, als suche er die Gedanken zusammen, und sah den Bruder plötzlich an: »Was weißt du denn von dem schlechten Weib? Lutz behauptet, du habest dem Vater –« Da unterbrach Ulrich den Bruder und beichtete ihm wie am Morgen Römer.

Eine Viertelstunde blieb Friedrich stumm, dann stöhnte er wie aus einem Traum: »Also du bist an dem gräßlichen Unglück schuld. Wäre es nicht hundertmal klüger und ehrlicher gewesen, du hättest mich rechtzeitig vor der Liebe mit Lotte gewarnt? Was für ein elender Duckmäuser bist du! Du hast Lotte und mich auf dem Gewissen!«

Friedrich gehörte zu jenen Naturen, die nur äußerst selten, dann aber fassungslos wild werden. Sein Schmerz wandelte sich in einen flammenden Zorn auf Ulrich. Aus ihm brauste die Wut, und unter seinen ungezügelten Vorwürfen verlor auch der Jüngere die Beherrschung. Böse Worte flogen hin und her, sie entzweiten sich tief und gründlich.

Da pochte es, die Hauswirtin kam und mahnte zur Ruhe. Ulrich fand sich selber wieder, sah aber, daß jeder Widerstand die Empörung Friedrichs nur reizte. So [215] packte er das Notwendige in das Felleisen, verließ den Wütenden und das Haus und übernachtete in irgendeinem Gasthofe, weit von der bisherigen Wohnung entfernt.

Am Morgen begab er sich zur Arbeit, um elf Uhr kam er mit einem Dienstmann ins Quartier, schnürte den Koffer und rechnete mit der Wirtin ab. Wo aber steckte denn Friedrich? – Da sagte ihm die Frau, daß der Bruder schon um neun Uhr mit seinen Sachen davongegangen sei, er habe von einem Zuge nach der Schweiz gesprochen, der um zehn Uhr abfahre.

Wirr im Kopf und schamvoll schlich der Jüngere die Treppe hinunter und dachte kaum daran, daß er an der Türe der Familie Römer vorübergehe.

Da legte sich eine kleine Hand in die seine. »Lutz!« stammelte er. »Leb wohl, Ulrich!« kam es wie ein bebendes Glöckchen zurück. Sie hob sich auf die Zehenspitzen und gab ihm mit schmerzerfülltem Gesicht einen zärtlichen Kuß. So schied er nicht ohne einen Sonnenstrahl aus dem Haus, und eine Rührung überkam ihn dabei, daß er hätte weinen mögen. Er ging auf den Bahnhof, um sich zu erkundigen, ob Friedrich wirklich abgereist sei. Der Schalterbeamte antwortete: »Ein junger Mann, der Ihnen fast so gleich sieht wie ein Ei dem andern, doch mit einem Hieb über die Schläfe, hat eine Karte nach Basel gelöst.«

Ulrich wandte sich auf die Straße zurück. Ohne Versöhnung, ohne Händedruck und Lebewohl, ein Grollender war Friedrich in die Heimat gefahren. Und sie waren doch bis an die gestrige Nacht gute und getreue Brüder [216] gewesen von Jugend auf. Er hätte mit der Abreise warten und sich mit ihm noch einmal in Ruhe aussprechen sollen. Wie stellte der Geflohene nun die schreckliche Verlobungslösung, den gräßlichen Absturz aus sonniger Höhe in die graue Enttäuschung vor den Eltern dar? Was müßten sie denken, die sich so sehr an ihren Söhnen gefreut und den Besuch einer feinen und lieblichen künftigen Schwiegertochter erwartet hatten? Und was würde Nick darüber hören, die sich gerade jetzt wieder so vertrauensvoll an ihn gewandt hatte? Gewiß verlor sie nun allen Glauben an ihn!

Jeder Gedanke des Verlassenen war ein Kummer. Er versank in einen Dämmerzustand, in dem es ihm gleichgültig war, wie die Tage kamen und gingen. Er hätte sich nicht erinnern können, ob gestern die Sonne schien oder Regen fiel, nicht urteilen, ob er jetzt ein gutes Quartier besaß oder ein schlechtes. Nur seine Arbeit verrichtete er mit starkem Willen. Dann und wann aber stieg aus seiner Niedergeschlagenheit eine wehe Wut, ein abgründiger Drang, die Barensky, die Verderberin so vielen Glücks, aufzusuchen und sie zu züchtigen.

Aus dunkelm Antrieb kam er auf einem Sonntagsabendspaziergang an dem Garten der Familie Römer vorbei, spähte durch die Hecke, sah die blassen Schwestern, die sich über den Beeten ergingen, und erschrak über das Aussehen Lottes. Es war, als habe eine schwere Krankheit ihre Jugendblüte gebrochen. Nun lief er heim und suchte sich den Knotenstock hervor, dessen er sich auf der Wanderschaft bedient hatte. Er schlug damit den Weg nach dem Zirkus ein, und in seinen Sinnen war ihm, [217] es dürfe nicht anders sein, als daß er jetzt die Barensky niederschlage. Da hörte er hinter sich seinen Namen. Als er sich wandte, war es Appelius, der ihn gegrüßt hatte und nun lachend fragte: »Finden Sie es am Sonntag nicht für nötig, Ihren Arbeitgeber zu grüßen?« Er lud den Verwirrten zum Abendbrot in einen Garten ein. Zu welchen Zweck, merkte Ulrich bald. Appelius erhob freundschaftliche Vorstellungen gegen ihn, daß er besser zu seiner Gesundheit sehen möge. »Sie haben eine grüne Gesichtsfarbe, Sie fallen aus den Kleidern. Wenn es mit Ihnen so weiter geht, geraten Sie ins Spital, und ich muß tatsächlich an Ersatz denken.«

Als sich der Geschäftsherr verabschiedet hatte, kam Ulrich selber die Einsicht, daß er im jetzigen Zustand zu schwach sei, die Rachepläne gegen die Verbrecherin auszuführen, und daß ihn Appelius durch seine Dazwischenkunft von einer grenzenlosen Torheit bewahrt habe.

Dann und wann blickte er in den Brief Nick Tappolis. Er erschien ihm wie ein strahlendes Licht aus der Ferne, als der einzige große Halt seines Lebens. Unzählige Male küßte er ihn. Er versuchte ihn zu beantworten, aber jedesmal war ihm das, was er geschrieben hatte, für sie nicht gut genug, seine Anläufe blieben in einem trüben Heimweh stecken, in dem er sich furchtbar nach ihr sehnte, zugleich aber die Ohnmacht spürte, feste Heimkehrpläne zu fassen und sie ihr mitzuteilen. Wie konnte er nach dem schmerzlichen Erlebnis Friedrichs ins Elternhaus treten und sich verantworten? Nein! Die Heimat war ihm verschlossen. Das wurde ihm klarer von Tag zu Tag.

[218]

Das Herz voll Elend schritt er eines Mittags nach dem Essen über den Flachsmarkt wieder den Werkstätten von Appelius zu. Da stockte ihm fast das Blut. In wallendem weißen Federhut und blauem Modekleid kam ihm die Barensky entgegen. Suchte sie ihn? Das glaubte er selber nicht. Die Begegnung war zufällig. Aber was nun? Sich wenden und ihr ausweichen? Nein! Er entschloß sich, stolz und ohne Gruß an ihr vorüberzugehen. Er straffte sich gewaltsam. Wie er sich ihr jedoch näherte, geschah ihm etwas Sonderbares. Der Boden verging ihm unter den Augen, ihm war, er schreite in einen schwarzen Abgrund hinein. Unwillkürlich schwankte er auf einen Laternenpfahl zu und hielt sich daran fest, sonst wäre er gefallen.

Sie stieß einen leisen Schrei aus und blieb stehen.

Ein kleiner Zusammenlauf von Leuten bildete sich, und Straßenjungen riefen: »Ein Betrunkener!« Ein Arbeiter aber, der Junghans kannte, trat entrüstet auf die Spötter zu und drohte ihnen mit Ohrfeigen: »Nein, der Herr ist krank!«

Da wandte sich die Barensky an den Mann: »Bitte, rufen Sie einen Wagen herbei. Ich will den Herrn in sein Quartier führen.«

Sei es nun, daß der Ohnmächtige keine Auskunft geben konnte, wo er wohne, oder verfügte es die Barensky von sich aus, – der Wagen fuhr hinunter zu jenem schönen Hotel am Rhein, in dem sie selber mit Mab wohnte.

Eine schwere innere Entzündung war im Ausbrechen; schon nach ein paar Stunden rang Ulrich in hohen Fiebern zwischen Leben und Tod.


[219]

18

Durch Zürich läutete das Totenglöcklein der Cholera. Da und dort hing an einer Haustüre der gelbe Zettel, daß darin ein Kranker liege; es gab Gäßchen, da hingen sie Haus an Haus. Die meisten Läden waren geschlossen, auch jeder Raum, in dem sonst die Leute zusammenkamen, und das öffentliche Leben erlosch vollends, seit nicht nur die Armen, sondern auch angesehene und wohlhabende Einwohner der Stadt der Seuche zum Opfer fielen. Einige starben sogar aus bloßer Furcht vor ihr. Wer über die Straße ging, hielt sich ein Riechmittel unter die Nase, der Freund grüßte den Freund nur noch von fern, und vor Besuchern verriegelte man das Haus. Mutige Männer holten die Leichen ab, doch kein Geleite folgten den Särgen auf die Friedhöfe, auch solchen Gestorbenen nicht, die andern Krankheiten erlegen waren.

Nick war also der Frage überhoben, ob sie der inzwischen dahingeschiedenen Frau Wasmer das Geleit geben wolle oder nicht.

Langweilig schlichen auch für sie die Tage. Am liebsten hätte sie wieder einmal ihre Jugendheimat am Rhein besucht, aber sie wußte schon: jetzt würde selbst der ehemalige Liebling des Städtchens schlecht aufgenommen. Überall auf dem Lande war eine mißtrauische und feindselige [220] Stimmung gegen alle Leute, die aus der Stadt kamen; an ein paar Orten waren solche sogar von den Weibern mit Steinwürfen zurückgetrieben worden.

Was nun? Sie stand am Fenster und schaute in die verödete Gasse hinab, in die der helle Nachmittagssonnenschein fiel, und auf den alten Garten zwischen den Giebeln. Die sich färbenden Früchte an ein paar Obstbäumen deuteten schon gegen den Herbst. Nicht einmal Glorian Rollenbuz holte sie mehr zu einem Spaziergang ab, der tat nun in Basel Buße für seine Liebesanwandlung. Und wo war John Wildholz geblieben? Auf einen Brief von ihr hatte er nicht mehr geantwortet. Warum nicht? –

Da ging der Klingelzug, und als sie sich über das Fenster vorbeugte, kam ein für den Ernst der Tage unzeitgemäß freudiger Ruf unter einem breitrandigen Sommerhut hervor. »Nick! Wenn du ein Stündchen Zeit hättest!« Sie erkannte die Stimme Maries. Es war das erste Mal, daß die Freundin nach ihr sah. Nick stülpte sich den Hut auf den Kopf, ging die Treppe hinab und rief der Wartenden zu: »Das ist aber eine liebe Überraschung!« »Wenn man nichts zu tun hat?« lächelte Marie. »Kein Gast läßt sich blicken. Mein Vorschlag ist, wir gehen an den See, mieten ein Boot und rudern uns so weit hinaus, wie die Cholera niemals fliegen kann, und dann erzähle ich dir – lauter Verliebtes und Verlobtes!« Schelmerei und Übermut sprühten aus ihrem frischen Gesicht.

Als sie durch mancherlei Gäßchen und Winkel das Wasser erreicht hatten und das Boot bestiegen, zog [221] Marie die leichten, durchbrochenen Handschuhe aus und griff zu den Rudern. Da rief Nick: »Ei, du trägst einen Ring – du bist verlobt!«

Marie, die auf diesen Augenblick gespannt hatte, lächelte selig: »Ich – und mein Bruder Friedrich auch! Meine Eltern bekommen jetzt einen Schwiegersohn und eine Schwiegertochter auf einmal ins Haus. Denke dir!« Sie ruderte aus der Limmat in den See, den eine leichte Brise kräuselte. »Wir müssen die Richtung gegen den Kirchturm von Kilchberg nehmen. Dort am Ufer wartet der Liebste auf mich. Er weiß, daß ich mit dir komme, und freut sich auf deine Bekanntschaft. Ich habe ihm schon manches von dir erzählt.«

»Wer ist's denn?« forschte die auf dem Hinterbrett sitzende Nick ungeduldig.

»Du kennst ihn nicht,« erwiderte Marie, verträumtes Glück im Gesicht. »Es ist ein Lehrer an den städtischen Schulen, Heinrich Keller mit Namen. Wenn du ihn siehst, wird zwar dein erster Gedanke sein, daß ich nicht stark auf Schönheit geschaut habe. Was tut's? Er ist ein rechter, tüchtiger Mann, von allen, die ihn kennen, geachtet. Das hat mir auch mein alter Professor gesagt. Heinrich stammt aus einfachen Verhältnissen, seine Eltern, die mich besucht haben, sind schlichte Bauersleute im Unterland, die Mutter trägt noch die Tracht, das rote Mieder der Wehntalerin. Brüder und Schwestern arbeiten ebenfalls auf dem Feld, er allein hat studieren können. Nur unter Entbehrungen, aber er hat sich durchgerungen und ist von einer kleinen Stelle auf dem Land so jung wie noch selten einer in die Stadt berufen worden. [222] Wir kennen uns nun schon ein Jahr, meine Liebe ist langsam gekommen, und mein Jawort habe ich ihm erst vor etlichen Tagen gegeben. In der anfänglichen Verwirrung wollte in den Häusern der Cholerakranken niemand die Ärzte unterstützen. Da tat er es, und dieser Mut hat mir so gefallen, daß ich ihm an jenem Abend das Ja gab, an dem er sich an die Spitze der Freiwilligen stellte. Du scheust dich hoffentlich nicht, mit ihm zusammenzutreffen: er ist sehr vorsichtig und hat, wenn wir ihm begegnen, einen weiten Verluftungslauf über die Berge hinter sich.«

Einen Augenblick gruselte es Nick doch, so nahe an die Seuche heranzutreten; aber sie wollte sich an Tapferkeit nicht von Marie übertreffen lassen, sie lachte nur: »Du fährst einen falschen Kurs, wir kommen nach Küsnacht statt nach Kilchberg. Darf ich einmal rudern?« Sie wechselten.

»Und dein Bruder Friedrich ist also auch verlobt?« regte Nick das Gespräch wieder an. »Er hält sich doch noch nicht lange in Mainz auf.« »Sechs Wochen,« erwiderte Marie, »es muß ihm wie Uli dort herrlich gut gehen.« Sie erzählte Nick, was sie von ihnen wußte, auch von den Schwestern Römer und der Absicht der Mädchen, mit Friedrich einen Besuch im Elternhaus zu machen.

Da bekam Nick rote Wangen. »Marie, ich habe Uli einen Brief geschrieben und ihn darin um Verzeihung gebeten, daß ich auf Weißwasserstelz so unartig gegen ihn gewesen bin. Lange habe ich mir das Schreiben sehr schwer vorgestellt, auf einmal aber ist es mir leicht gegangen.«

[223]

Marie gab ihr einen dankbar verwunderten Blick. »Gottlob, du stolzer Kopf! Hoffentlich weiß er jetzt, was er zu tun hat, und folgt nicht dem Drängen Friedrichs, die jüngere Schwester seiner Braut um ihre Hand zu bitten. Ich fände es nämlich so schön, wenn Ihr doch noch zusammenkämet! Was würden wir für gute Schwägerinnen, gelt Nick!« Die Freude dieses Gedankens ergoß sich über ihr Gesicht. Plötzlich aber rief sie: »Dort steht meiner!« und winkte nach dem Ufer.

Bald waren sie am Strand und saßen unter grünen Bäumen. Heinrich Keller sprach von seinem Waldgang und begegnete Nick mit großer Artigkeit. Nein, wegen seiner männlichen Schönheit hatte ihn Marie gewiß nicht genommen. Er hatte Borstenhaare, eine Stumpfnase, eine untersetzte Gestalt und einen Gang, als käme er eben vom Acker; doch gefiel Nick das Ländliche an ihm besser, als wenn man ihm auf hundert Schritte den Lehrer angesehen hätte. Überhaupt schien er ihr nicht so übel: seine verständige, ehrliche Art, seine breite Herzlichkeit, aus der zwar nie ein starker Funke, dafür aber eine biedere Rechtschaffenheit und ein lebenskluger Sinn sprach.

Während sich die Augen der Liebenden glücklich und immer aufs neue suchten, warf Nick den Fischen im See die Reste Brotes zu, die auf dem Tisch umherlagen. Sie wollte das sich küssende Paar nicht stören. Marie ging wohl mit dem Lehrer den sichersten Weg, den sich ein Weib in der Ehe wünschen mochte. Wenn dem jungen Mann Leben und Gesundheit blieb, war sie bei ihm für immer gut aufgehoben, in Bescheidenheit freundliche [224] Verhältnisse warteten ihrer, und seine Verständigkeit bürgte auch für ein schönes inneres Glück. Dennoch hätte Nick nicht an der Stelle der Freundin sein mögen! Sie seufzte leise auf! Sie hatte nun einmal keinen Geschmack für das Glück im Winkel. Auch die bloße Rechtschaffenheit und landläufige Klugheit genügte ihr nicht. Das Bild des Mannes, das ihr vor der Seele schwebte, war anders. Ecken und Kanten wollte sie an ihm dulden, aber irgend etwas Besonderes mußte er an sich haben, das ihn heraushob aus der Menge! Stunden mußte es geben, in denen seine Seele sprühte! Ja, an einem wirklich geistvollen Manne würde sie sogar eine Stumpfnase oder einen Buckel ertragen.

Sie spürte, daß sie einen schwereren Weg gehen würde als Marie, die das Glück da ergriffen hatte, wo es ihr einen Zipfel bot.

Das Paar trat Hand in Hand zu ihr an das Geländer des Gartens und sah selig in den schönen Abend, der das Hochgebirge über einer Burg von Wolken erscheinen ließ. Keller sprach aber bald von Heimkehr und der schweren Pflicht, die ihn am Abend erwartete. Nun ja, es war männliche Tapferkeit, die Leichen zu bergen!

Er ruderte die Mädchen in die Stadt zurück, und Nick verabschiedete sich mit den üblichen Glückwünschen von dem Paar. Maries Verlobung hatte doch einen starken Eindruck auf sie gemacht. Auf dem Stübchen ließ sie ihre Gedanken wieder zurückgleiten zu den Träumereien am See. Entsprach Ulrich Junghans dem Bilde des Mannes, wie sie es sich zurechtlegte? Besaß er das Besondere? Ja, ja! antwortete ihr Herz. Worin es [225] bestand, wußte sie freilich nicht so genau; aber schon, daß er in jungen Jahren Obmann des Rheinfahrvereins gewesen war, sich die Achtung und den Gehorsam der andern erzwungen hatte, bezeugte seine starke Männlichkeit. Wenn der einmal herangereift war, so wurde er auch ein Obmann und Oberfahrer im Leben! Dessen trug sie eine freudige Gewißheit in sich. Sehnsüchtig gedachte sie seiner und spannte der Antwort auf ihren Brief mit einer bis zum Herzpochen gesteigerten Ungeduld entgegen. Die Post aber kam und brachte nur das wegen der Seuche auf den kleinsten Umfang zusammengeschrumpfte Tagblatt. Sie wurde zornig vor Enttäuschung, sie erinnerte sich plötzlich, daß Marie von einer jüngern Schwester der schönen und feinen Braut Friedrichs gesprochen hatte. Wenn nun Ulrich – Nein! Dieses Gift, das schlimmer war als die Cholera, wollte sie nicht in sich aufkommen lassen: sie hatte an der kranken Frau Wasmer gesehen, wie die Eifersucht häßlich und ungerecht machen kann.

Da kam nach wenigen Tagen schon wiederum Marie, um sie zu einem Spaziergang abzuholen. Nick merkte gleich, daß auf dem Gesichte der Freundin nicht mehr die verklärende Sonne des Ausfluges nach Kilchberg stand. Hatte sich wohl zwischen ihr und Keller schon eine Uneinigkeit ereignet? – Marie aber fragte hastig: »Hat dir Ulrich geschrieben?« Die Blässe stürzte ihr ins Gesicht, als sie von seinem unerklärlichen Schweigen vernahm. »Was einem die beiden Brüder für Sorge bereiten!« seufzte sie. »Friedrich meldet, daß seine Verlobung mit dem Fräulein, von dem sie beide so viel Aufhebens [226] machten, zurückgegangen sei und er jetzt in Basel arbeite. Schon nach vierzehn Tagen zurückgegangen! Warum? Über die Ursache kein Wort! Und warum sind die Brüder nicht beieinander geblieben? Wir wissen es nicht! Uli, der seine Briefe so leicht schreibt, regt sich mit keiner Zeile weder gegen mich noch gegen die Eltern. Die sind auch furchtbar beunruhigt – es ist unverantwortlich!«

Da also stak der Kummer Maries. Und ein Geheimnis schwebte um das Schweigen Ulrichs. –

Sechs oder sieben Wochen herrschte die Cholera in der Stadt, dann ging sie, wie sie gekommen war, – man wußte nicht, ob von selber oder vertrieben durch die Kunst der Menschen. Die Bewohner atmeten erleichtert auf, die Riechfläschchen verschwanden, die alten Freunde drückten sich wieder die Hand, die Landleute kamen wieder zu Kauf und Verkauf, die Städter durften sich wieder aufs Land hinaus wagen, und über dem neuerwachten Leben vergaßen sie eine Menge guter Vorsätze, die sie während der Seuche für ihr zeitliches und ewiges Heil gefaßt hatten.

Nick war leidlich über die schlechte Zeit hinweggekommen und fand, als die Läden wieder aufgingen, Unterkunft als Verkäuferin in einer Schreibwarenhandlung beim Rathaus.

In diesen Tagen erhielt sie den ersehnten Brief von Uli. Er kam aus Köln. Sie öffnete ihn mit zitternden Händen.

Das Schriftstück war ihr aber eine niederschmetternde Enttäuschung. Es lautete:

[227]

»Meine liebe Nick! Dein Brief hat mir eine unendliche Freude bereitet, wie ein Heiligtum trage ich ihn auf der Brust. Leider war aber, als ich ihn erhielt, das Unglück schon im Zug. Mit bebender Feder schreibe ich den Meinen. Ich bin tiefer in die Dornen gefallen als damals, da ich mit den schilfenen Flügeln über die Rheinhalde hinunterstürzte und Du tapfer mit Deinem Sackmesserlein kamst, um mich aus den Brombeeren zu befreien. Jetzt kann mir niemand mehr helfen, doch klage ich nicht, denn ich bin an allem selber schuld. Ich werde nie das Wort mit Dir reden, das wir in Aussicht genommen hatten. Ich bin Deiner nicht mehr wert und muß Dich, an der mein Herz so viele Jahre hing, freigeben. Aus ist das Lied vom Oberrhein, man sieht mich dort nie wieder. Dir wünsche ich alles Himmelsglück in Dein ferneres Leben, was Dir ja bei Deinem schönen und lieben Wesen nicht fehlen kann. Auf mich rechne also nimmermehr, und findest Du einen Mann, der Dir gefällt, so nimm ihn, von mir unbeschwert. Leb wohl, Du süße Nick! Herztraurig

Dein Uli Junghans.«

Ihre Tränen fielen auf den Brief. Um Gottes willen, was war denn Uli geschehen, dem gesunden, starken, blauäugigen Uli! –

Sobald sie die Zeit fand, lief sie mit dem Brief zu Marie. Merkwürdigerweise war die Freundin von dem traurigen Bekenntnis des Bruders kaum überrascht. Als sie es gelesen hatte, versetzte sie bitter: »Seit sich die Verlobung in Mainz gelöst hat, ist Uli ganz vernagelt. Der Vater hat an Appelius, den früheren Geschäftsherrn [228] der Brüder, um Auskunft geschrieben. Und die Antwort? Nachdem Friedrich abgereist sei, habe Uli wohl noch eine Weile im Geschäft gestanden, sei aber langsam erkrankt und erst, nachdem er wochenlang gelegen, wieder erschienen, um Abschied zu nehmen. – Wie einen unartigen Schuljungen sollte man ihn strafen, daß er von Mainz fortgegangen ist, ohne uns Nachrichten zu geben!«

Heimlich wußte sie etwas mehr von Ulrich, als sie der armen, enttäuschten Nick gestand, und es war nicht nur Rücksicht auf die Freundin, daß sie den Rest verschwieg, sondern sie tat es, weil sie sich des Bruders schämte. In dem Briefe von Appelius war nämlich eine Stelle gewesen, die den Vater bewogen hatte, sofort Friedrich in Basel mit einem Besuch zu überraschen. Von dort hatte er die unerbauliche Neuigkeit zurückgebracht, daß schon seit längerer Zeit ein Komödiantenweib im Leben Ulrichs eine Rolle gespielt habe und auch schuld am Rückgang der schönen Verlobung Friedrichs in Mainz gewesen sei. Er schrieb also einfach aus schlechtem Gewissen nicht mehr und aus Furcht vor dem Züchtigungsbrief, der ihm vom Vater drohte, sobald sein Aufenthalt bekannt würde! Die erzürnte Familie war übereingekommen, mit niemand über die häßliche Wendung in Ulrichs Leben zu sprechen: wie eine Beleidigung der eigenen Ehre spürten es Eltern und Geschwister, daß der früher so brave Sohn und Bruder im Verkehr mit seinem Freunde, dem Ungarn, so tief gesunken war.

Wie sie, erlebte Nick um ihn schwere Tage und hatte oft die Augen voll heimlicher Tränen. Sie hatte so fest [229] an Uli geglaubt wie an Sonne, Mond und Sterne, und nun war durch seinen ebenso traurigen wie dunklen Brief etwas unendlich Schönes aus ihrer Seele gerissen, eine große Hoffnung, an die sie sich stets hatte klammern können, wenn ihr das Leben um sie her zu kalt und öde erschienen war. Sie merkte erst jetzt, wie viel er ihr in ihren Träumen und Seelengängen gewesen. Sie grübelte, was für eine Bewandtnis es wohl mit den Dornen haben könnte, in die er hineingefallen war. Sie mußte es aber aufgeben. Führt die Einbildungskraft nicht stets auf Vermutungen, die sich als falsch erweisen, wenn man die Wirklichkeit des Lebens erfährt? – Irgendein weites Mitleid mit ihm erfüllte ihre Seele, doch auch sie selber kam sich unsäglich arm vor. Wer liebte sie wahrhaft und tief? Einzig die Mutter, die sie selten sah. Nick fühlte es: sie stand jetzt allein in der Welt, sie war ein freier Vogel, der sich um niemand zu kümmern brauchte, den es aber manchmal in seiner Freiheit fror.


[230]

19

Lange war Ulrich in der Pflege der Werra Barensky an einer Gehirnentzündung darniedergelegen. Als er das Bewußtsein wieder erlangte, fiel ihm zuerst die Werkstatt des Vaters ein und der Altgeselle Thomas mit dem Wort von den Weibsleuten: »Wenn du der Simson wärst, du kimmst net dagegen an, die luderige Delila hat dir halt 's Haar abg'schnitten, d'Katz hat si an dei Buckel krallt, und du kannst kratzen und schreien, – es hilft dir nichts.« So war er nun in der Gewalt des gewissenlosen Weibes, und ehe er einen Plan zu überlegen vermochte, wie er sich daraus befreien könne, vergingen ihm die Sinne wieder. Als die Krankheit endlich wich, mußte er von neuem stehen und gehen lernen wie ein Kind, sogar essen und trinken. Auch seine Willenskraft blieb noch eine Weile gebrochen. Sonst wäre er gleich von ihr gegangen. Denn der Zorn, daß die Artistin seinen unschuldigen Bruder ins Unglück gestürzt hatte, blieb ihm.

Sie legte über ihre Tat eine Reue an den Tag, die so leidenschaftlich und ungezügelt war wie ihr gesamtes Wesen. Als er wieder etwas zu Kräften gelangte, warf sie sich verzweifelt über sein Lager. »Ulrich, wenn du willst, erschieße ich mich vor deinen Augen dafür, daß ich deinen Bruder geschlagen habe!« schrie sie, deren Deutsch sich im Umgange mit Ulrich überraschend schnell gebessert [231] hatte. »Glaubst du mir, daß ich mir eine Kugel in die Schläfe jage, wenn du es wünschest?« »Ja,« versetzte er ehrlich, »aber wem hülfe das? Es würde meinen Bruder nicht wieder glücklich machen.«

Da trat eine wilde Traurigkeit in ihr Gesicht. »Was muß ich denn tun?« Sie schleppte eine alte, unansehnliche Tasche aus Juchten herbei, an der selbst sie mit ihrer großen Kraft ziemlich schwer zu tragen hatte, und öffnete das kunstreiche Schloß. »Es ist, was ich von den Eltern ererbt habe.« Die Tasche war angefüllt mit goldenen Ringen, Spangen, Ketten, Herzchen, Fläschchen und Früchten, viele mit leuchtenden Steinen besetzt. Er verstand sich nicht auf den Wert von Schmucksachen, vermutete auch, daß einiges davon unecht sei; es war aber doch sicherlich ein großer Reichtum, den sie mit sich führte. »Ich will das Erbe dem Fräulein schenken,« sagte sie, »das durch meine Schuld so viele Schmerzen leidet.« »Das ist auch wieder verrückt!« erwiderte er. »Das Fräulein besitzt alles, wessen es bedarf, und was sie verloren hat, ist unersetzlich.«

Sie verzog den Mund schmerzvoll und biß sich in die Fingerknöchel. »Du bist ein Böser!« schrie sie. »Du hilfst mir nicht aus meiner Not!« Nein, er wehrte ihr nur, daß sie Friedrichs und Lottens Herzenswunden durch eine törichte Handlung neu aufriß. Ihre bittere, tatbereite Reue machte aber doch einen starken Eindruck auf ihn. Sie war kein schlechtes, sondern ein nur ihrem Triebleben unterworfenes Weib.

Sie teilte ihm mit, daß der Zirkus nach Köln übersiedeln werde. »Und du?« Er gestand ihr, daß er am [232] liebsten zu seinem Freund Szedesky nach Ungarn führe, da er nach dem Geschehenen doch nicht in Mainz bleiben könne. Sein Wort traf sie. Erst geriet sie in Wut, dann warf sie sich laut weinend zu seinen Füßen und raufte sich die Haare, die wie eine breite, dunkle Flut auseinanderfielen. »Erlebe ich denn nie etwas Gutes von dir!« stöhnte sie. »Du kommst nicht mit mir nach Köln? Kann ich dir denn gar nichts sein? Wie ein Bettelweib muß ich vor dir hinknien, während andere Männer für eine Stunde mit mir ihr Vermögen hinwürfen. Ich aber verlange nach keinem als nach dir! Selbst das Gräßliche habe ich nur aus Liebe zu dir getan.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen, es wäre ein Verbrechen,« ächzte er. – »Ihnen?« rief sie mit zuckenden Lippen und zitternder Stimme. »Warum nicht ›du‹, Ulrich?« Wie sie seinen Namen sprach, darin lag alle Zärtlichkeit, alles Flehen und Weh einer Weibesseele. »Verachtest du mich so tief?« – »Ja,« erwiderte er düster und wandte den Blick von ihr. – »Ulrich, Ulrich!« stöhnte sie herzerschütternd. – »Meine Welt ist nicht Ihre Welt,« stieß er hervor. »Ich mag das Zirkusleben nicht, immer hätte ich darin das Heimweh. Wir können uns doch nicht heiraten.« Das sprach er rauh und feindselig. – »Heiraten!« nahm sie ihm leise und träumerisch das Wort ab, wie wenn für sie darin ein wunderbarer Zauber läge, und lächelte einen Herzschlag lang verträumt. Dann erlosch das Licht in ihren Zügen. »Nein, Ulrich,« erwiderte sie lind, »ich bin ja schon glücklich, wenn ich deine Magd sein darf, und will [233] dir nichts in den Weg legen, wenn du es für notwendig hältst, mich wieder zu verlassen.«

Die wildesten Drohungen hätten ihn nicht eingeschüchtert, selbst ihr Revolver nicht. Aber ihre Demut und ihr wie Kinderweinen tönendes Flehen erschütterten ihn. »Ich muß jetzt zu meinem ehemaligen Geschäftsherrn gehen,« versetzte er unsicher und entzog sich ihr.

Nach Wochen schritt er zum erstenmal wieder durch die Straßen von Mainz, immer noch von der Krankheit geschwächt. Er dachte an Nick, von der er den hoffnungsvollen, schönen Brief auf der Brust trug. Wenn er nach dem Besuch bei Appelius einfach auf den Bahnhof ginge und fortführe, ohne Werra Barensky wieder zu sehen? – Das wäre die Rettung! Warum nicht? – Obgleich sie ihn mit Aufopferung gepflegt hatte, war keine Dankbarkeit gegen sie in seiner Seele.

Appelius empfing ihn förmlich und kalt. Als sich Junghans entschuldigen wollte, daß er ohne Anzeige ausgeblieben sei, und von seiner Krankheit zu sprechen versuchte, schnitt ihm der Herr, der für ihn so viel Wohlwollen besessen hatte, das Wort ab: »Ich weiß alles, – auch, von wem Sie sich haben pflegen lassen. Es ist eine Unbegreiflichkeit, über die wir nicht weiter sprechen. Hier ist Ihr Lohnguthaben. Wenn Sie nur noch unterschreiben – Guten Tag!« Ulrich stand noch und wollte sprechen. Appelius aber machte mit der Hand eine ungeduldige und verächtliche Bewegung.

Wie auf den Kopf geschlagen lief der Gekränkte umher. Ein wilder Schmerz, daß ihn Appelius so falsch beurteilte und für einen gemeinen Menschen hielt, wühlte [234] ihm in der Seele. Der Gedanke daran tötete ihn fast. Welche Schmach! Auch den Eltern und Geschwistern durfte er nicht mehr unter die Augen treten. Vielleicht hatte Nick durch Marie etwas über die Ursache der Verlobungslösung zwischen Friedrich und Lotte Römer gehört, vielleicht verachtete auch sie ihn! Er dachte nicht mehr an Abreise, nur noch an seine trostlose Verlassenheit. Immer schwärzer lief der Strom seiner Gedanken. Plötzlich fühlte er sich so ermattet, daß er an eine Hauswand lehnen mußte. Als er sich etwas erholt hatte, tappte er sich mit mühsamem Atem nach dem Hotel am Rhein. Wieder hielt er inne, ihm war, das Haus sei eine Hölle. Dann aber schritt er doch hinein.

»Meine Herrin ist Ihretwegen so traurig,« klagte ihm Mab, »daß sie heute abend nicht auftreten kann, wenn Sie ihr nicht noch ein liebes Wort schenken. Bitte, bitte Herr Junghans!« Ihre gelben Augen flehten. Da gab er sich einen Ruck, trat zu Werra Barensky hinein, küßte sie und sagte in dumpfer Willenslosigkeit: »Werra, ich komme mit dir nach Köln.«

Ihre Augen flammten licht empor, ihre Wangen röteten sich mädchenhaft, und mit einem wundersüßen Lächeln ergriff sie seine Hand: »Ich danke dir, Ulrich. Du weißt nicht, wie ich dich liebe. Was sind alle andern Männer gegen dich!« Wie verzückt hing ihr Blick an ihm. –

An einem goldigen Herbsttage reiste er mit Werra und Mab nach Köln. An den Ufern des Rheins jauchzte die Weinlese. Er hütete sich aber wohl, einen Blick aus dem Bahnwagen auf den Strom zu werfen: es hätte ihm [235] das Herz zerrissen, die Gegenden zu sehen, in denen er mit Friedrich und den Geschwistern Römer in so hoher Stimmung gegangen war. Ihm war, jeder Pfiff der Lokomotive führe ihn tiefer in einen Abgrund der Ehrlosigkeit hinein, aus dem es kein Auferstehen mehr gab. Handelte er an seinem Bruder Friedrich nicht wie Judas? Werra Barensky aber streichelte ihm in sprühend guter Laune die blassen Wangen und sagte ihm die süßesten Worte, die über Weibslippen gehen.

In Köln wohnten sie in einem Hotel nahe dem Dom. Die Wünsche Werras erfüllten sich. Was Ulrich selber nie gedacht hatte, – er lernte das wilde, schöne Weib lieben. Nicht aus der Gemeinsamkeit der Seelen, aber aus den heißen Sinnen der Jugend, deren drängende Kraft ihm doppelt wiedergekehrt zu sein schien. Es war doch etwas Herrliches um ihren geschmeidigen Raubtierleib, um ihre zitternde Hingabe. Nächte erlebte er voll düsterer Glut, Tage mit allen Schauern der Reue und der Selbstvorwürfe …

Wenn er am Morgen aus dem Gasthof auf den Platz trat, starrte er auf den Dom. Mit unbegreiflicher Macht zog ihn der reine, erhabene Bau an, der über das Gewimmel der Giebel und Häuser und Menschen wie heilig in das Blau der Lüfte stieg; er hatte aber auch stets das Gefühl, der Dom sei sein besonderer Feind, der ihm in stummer Beredtsamkeit seine Lebenssünde vorwerfe.

Was hatte das herrliche Bauwerk, das Felsengebirge aus Menschenhand, im Lauf der Jahrhunderte gesehen? Die Schwingen der Weltgeschichte hatten es umbraust, Geschlecht um Geschlecht war unter ihm zusammengebrochen. [236] Aber in wie viel Straßen, Gassen und Gäßchen die Gipfel des steinernen Gebirges geheimnisvoll hinunterblickten, – an seinen Quadern war gewiß nie ein schlechterer und gemeinerer Mensch dahingewandert als er, Ulrich Junghans von Eglisau! Dennoch trat er eines Tages in die dämmerigen, zauberisch ergreifenden Hallen. Ein Sonnenstrom wallte durch die hohen Fenster herein, und die schöne Weise des Dreimal Heilig, von hellen Knabenstimmen gesungen, schwebte durch den Raum. Im tiefsten Herzen ergriffen lauschte er und geriet in eine so weiche Stimmung, daß sich ihm die Tränen in die Augen drängten. Plötzlich gedachte er Nicks, ihr reines Bild stand so klar wie eine Erscheinung vor ihm. Im Gefühl seiner Nichtswürdigkeit stürzte er ins Freie, ging in ein Gasthaus, in dem er sich vor Werra sicher fühlen konnte, und schrieb der Freundin seiner reinen Jugendtage in Wehmut und Zerknirschung den trostlosen Brief.

Auch den Eltern Nachricht von sich zu geben, empfand er wie eine klemmende Pflicht. Oft setzte er sich zum Schreiben hin, aber dann stand er wieder auf. »Nein bei Gott, so schlecht bin ich noch nicht, daß ich meinen ehrlichen Eltern eine Lüge vorsetzen könnte. Und die Wahrheit darf ich ja nicht melden!«

In seiner Seele schlugen sich beim Gedanken an Werra Barensky Liebe und Haß eine Schlacht. Wie kulturlos war das Weib bei allem äußern Schein und Glanz, wie unwissend und ungebildet! Jedem ihrer Einfälle ließ sie freien Lauf. Die entgegengesetztesten Eigenschaften kamen an ihr zum Vorschein. Sie war [237] verträglich, treu, gütig, mitleidig, freigebig, aber auch roh, hochmütig, grausam; bei dem übrigen Zirkusvolk eher gefürchtet als beliebt, aber doch geachtet und von einzelnen, denen sie Wohltaten erwiesen hatte, sogar verehrt. Ihre Schülerin Mab, das seltsame Wesen, das im gleichen Augenblick sehr häßlich und sehr schön sein konnte, folgte ihr treu wie eine Hündin, obgleich ihr Werra zuweilen den Schuh oder die Peitsche über den Kopf schlug. Die Kleine sagte ihm oft, kein Weib sei so gütig wie ihre Herrin. Namentlich war es Werra gegen die Tiere, für die Pflege eines kranken opferte sie die Nächte, und es war ihr ein wilder Schmerz, wenn eines abgetan werden mußte. Auf ihrem Zimmer hatte sie stets irgendeine junge Wildkatze um sich, Löwchen oder Tigerchen, oft bis in ein Alter, wo es nicht mehr ungefährlich war. Ulrich selbst mochte die drolligen, immer zum Spiel aufgelegten Geschöpfe, aber daß er die Zärtlichkeiten und Liebkosungen Werras mit ihnen teilen mußte, stieß ihn manchmal ab. Sie schien keinen rechten Unterschied zwischen Mensch und Tier zu kennen.

Besaß sie ein Gefühl für das ungeheure Opfer an Ehre, das er ihr gebracht hatte? – Gewiß! Nie erlaubte sie sich eine Launenhaftigkeit gegen ihn, ihre Liebe demütigte sich bis zur Unterwürfigkeit, und umsonst wünschte er sich einen großen Streit mit ihr, damit er einen Vorwand hätte, sie für immer zu verlassen. Im Gegenteil, es schien, als ob das Schicksal ihn stets enger mit Werra zusammenschmieden wolle. Jubelnd teilte sie ihm mit, daß sie sich von ihm Mutter spüre. Die Wonne darüber verklärte ihre Augen, Gesicht, Seele, [238] streifte jede Wildheit von ihr ab und erlosch auch nicht, wenn sie nun hie und da einer Vorstellung fernzubleiben genötigt war. Jedermann wunderte sich über die strahlende Laune des sonst leicht reizbaren Weibes, über ihre Güte gegen die Umgebung. In die einsamen Gedanken Ulrichs hinein aber ragte die Neuigkeit wie etwas Furchtbares. Tag und Nacht grübelte er darüber nach. Am liebsten wäre ihm gewesen, er hätte vermuten dürfen, ein anderer sei der Vater des werdenden Kindes; er hatte jedoch nicht das geringste Recht, die Treue Werras in Zweifel zu ziehen. Wie aber, wenn sie forderte, daß er wegen des Kindes mit ihr die Ehe eingehe? Die Sorge war überflüssig. Als er ihr einmal vorsichtig davon sprach, lachte sie ihn mit dem Übermut ihres Mutterglückes aus. »Junge oder Mädchen, – wenn du einmal von mir fortgehst, werde ich es doch erziehen wie ein Fürstenkind und ihm so viel Liebe schenken, daß es die deine nicht vermißt. Nur eines möchte ich an dir noch erleben, Ulrich, nämlich daß du wieder einmal so warm lachen magst, wie ich es in Frankfurt von dir gehört habe!«

Er schob sein schlechtes Aussehen und seine Bedrücktheit auf die schiefe Lage, in der er sich befand. »Ich war in meinem Leben nie Müßiggänger und bin nicht imstande, den ganzen Tag durch die Gassen zu laufen; wollte ich aber als Arbeiter in eine Messerschmiede, so müßte ich wegen der Wanderschaft des Zirkus unter irgendeinem windigen Vorwand schon wieder kündigen, ehe ich mich in der Werkstatt recht umgesehen hätte.« Werra begriff wohl nur halb, daß er nach seiner Herkunft [239] und Erziehung eines geordneten Lebens bedurfte; um aber seinen Arbeitsdrang zu befriedigen, besprach sie sich mit Tempelmann. Ulrich kam als Mechaniker im Zirkus unter und fand in dem weitläufigen Unternehmen Tag um Tag Beschäftigung genug.

So wurde er selber Mitglied des merkwürdigen Wandervolkes, aus dem sich eine Kunstreiterei zusammensetzt, einer Welt, die nicht besser, nicht schlechter ist als die übrige: wie sie durchzuckt von den Leidenschaften der Liebe, der Eitelkeit, des Neides, wie sie bewegt vom Schrei der Freude, von den heimlichen Tränen des Leides, aber beglänzt von der Romantik der fahrenden Kunst. Er folgte dem Unternehmen wintersüber durch ein paar Städte des rheinischen Industriebezirkes, verkehrte aber mit den Artisten so wenig wie möglich und tat seine Pflicht in stiller Vornehmheit. Nie hatte ihn Werra aufgefordert, daß er den Vorstellungen beiwohne, doch mengte er sich dann und wann unter die Zuschauer; denn es bereitete ihr stets eine kindliche Freude, wenn sie ihn während des Spiels unerwartet im Hintergrund einer Galerie entdeckte.

Auch fand er in dem buntgemischten Völklein einen treuen Freund. Es war der Clown William, der die Zuschauer jeden Abend durch seine Purzelbäume und Luftsprünge, seine bodenlose Dummheit und seine glänzenden Witze zu dröhnendem Lachen hinriß. Im bürgerlichen Leben führte er den ehrsamen deutschen Namen Traugott Meister, und wie er zwei Namen besaß, lebte er eine Art Doppeldasein: Steckte er im Narrenkleid, das Gesicht häßlich übermalt, so brodelte er in [240] Übermut; hatte er aber die Maske abgestreift, so fiel ihm, wie er selber behauptete, nie ein Witz ein, er war dann ein stiller Mensch mit einem auffallend geistvoll geschnittenen Gesicht. Als der Sohn armer Bergmannsleute in Oberschlesien hatte er sich den Sprachwissenschaften widmen wollen und schon ein Jahr Universität hinter sich. Dann waren ihm die Mittel ausgegangen, er hatte sich aus Not zum Zirkus gewandt, trieb aber in den freien Stunden, die ihm der Beruf ließ, seine Studien eifrig weiter und lebte der schönen Überzeugung, daß er sich doch noch den Doktortitel erringen werde. Wegen seiner ruhigen Art, den Menschen zu begegnen, war er von Artisten und Artistinnen wohlgelitten, auch mit Werra Barensky und Mab befreundet. Mit dem Mechaniker verband ihn vor allem die Sehnsucht nach der Rückkehr in die bürgerliche Welt, und als ihm Junghans einmal das Herz öffnete, verstand er die Qual des abwegs Geratenen überraschend fein.

»Nein, Sie dürfen nicht bei der Barensky bleiben,« beredete er Junghans. »Das ist kein Leben für einen ehrbaren Schweizer. Sie gehen in dieser Luft langsam zugrunde. Sie müssen die Gelegenheit benützen, da sie durch ihre Mutterschaft so mild und nachgiebig geworden ist. Schnell den Schnitt ziehen und fort! Sonst werden Sie lebenslang nicht wieder aus ihren Netzen kommen.«

»Wie danke ich Ihnen,« erwiderte Junghans. »Ja, jetzt! Ich sehe das so klar wie Sie!« Auch ihm schien es ein Leichtes, sich von Werra Barensky zu befreien: sie freute sich ja ihres Zustandes so innig, daß sie auf jeden seiner Wünsche einging. Um des keimenden Wesens [241] willen versuchte sie sogar, freilich kunstlos genug, der Freude an ihrem Zustand durch Lieder Ausdruck zu geben. Über ihrem Glück war er ihr zur Nebensache herabgesunken, und in allem, was er ihr an Liebe erwies, erschien ihr nichts so wertvoll wie sein Unterricht im Lautenspiel. Jetzt von ihr und aus der ihm verhaßten Welt des Artistentums fliehen! Wie wollte er aufatmen, wenn er einmal das ehrlose Verhältnis, das ihn bis zum Lebensüberdruß niederstimmte, hinter sich hatte!

Es ging ihm aber merkwürdig. Bereit, die Mutter zu verlassen, vermochte er sich nicht von dem noch ungeborenen Kinde zu trennen. War ihm der Gedanke an das Geschöpfchen zuerst eine Widerwärtigkeit gewesen, so beschäftigte er sich jetzt häufig mit ihm. Vielleicht aus dem Beispiel Werras, vor allem aber aus einem Eindruck im Zirkus. Er ertrug den Anblick kaum mehr, wie sie mitten unter den zähnefletschenden, fauchenden Raubtieren stand oder das prächtige Haupt in den Rachen eines Löwen legte. Das Herz erzitterte ihm vor Angst um das Wesen unter ihrer Brust; die Gefahr, in der es bei den Dressuren schwebte, weckte seine Liebe zu dem Kinde. Durfte er einfach von Werra gehen und es ihr überlassen? Dann bekam es zu Gespielen junge Panther und Löwen, dann wuchs es in der Zirkusluft, vielleicht verwöhnt, aber so ungebildet, kulturlos und wild wie seine Mutter auf, hatte nichts um sich als das lärmende, glänzende, hohle Leben des Artistentums und trug wohl selber bald den bunten Flitter, frühreif und mit dem traurigen Blick der Kinder, die nicht in Natur und Ruhe haben aufwachsen können.

[242]

Der Gedanke bemächtigte sich seiner immer stärker. Wohl hatte er sich weit von dem ehrbaren Lebenswandel seiner Jugend entfernt, aber so tief wollte er nicht sinken, daß er auch noch ein unschuldiges künftiges Wesen ins Verderben riß, sein eigenes Blut. Da stände er ja vor sich selber und vor Gott doppelt als Verbrecher da. Die hohen Verantwortungsgefühle, die ihm Pfarrer Tappoli während der Konfirmationsstunden in die Brust gelegt hatte, wurden wieder in ihm lebendig, aus geheimnisvoller Tiefe spürte er: sein Kind durfte er nicht lassen. Wenn er es aber nicht ließ, was dann? – Dann gehörte er, so lange er lebte, der Barensky als wilder Gatte an, und die Erziehung des Kindes würde doch eine verfehlte.

Eine grenzenlose Traurigkeit über die Wendung, die sein Leben genommen hatte, überfiel ihn. Aus den Städten irrte er hinaus in die Felder, Wälder, Heide, dachte an die Menschen, die ihm lieb gewesen waren, an Vater, Mutter, Geschwister, und wenn er an das Bild Friedrichs kam, so war ihm, er verdiente es, daß ihn der Bruder niederschlüge wie einen Hund. Wenn er aber Nick im Geiste vor sich sah, die ihm so lieb geschrieben hatte und die nun für ihn doch unerreichbar geworden war, so wäre er am liebsten einsam auf der Heide gestorben. Wie ein Grauen lastete auf ihm das Schweigen gegen die eigenen Angehörigen.

Traugott Meister blickte tief in Ulrichs Kummer. »Sie müssen fort, sonst gehen Sie an sich selber zugrunde. So lange ich als Artist bei Tempelmann bleibe, werde ich ein scharfes Auge auf die Barensky und das Kind halten und Sie von jeder Veränderung unterrichten. [243] Wie leicht ist es möglich, daß es Ihnen doch noch gelingt, ihr das Kind zu entziehen und es in einer Bürgersfamilie unterzubringen. Denken Sie, daß das Weib einige Zeit nach der Geburt doch wieder eine Liebschaft eingeht, daß der bevorzugte Mann an dem Kinde ein Mißfallen findet und sie selber seiner überdrüssig wird. Ein solcher Rückfall in ihre alte Lebensart ist bei der Barensky doch sehr leicht möglich! Dann schreibe ich Ihnen.«

Schon war es Frühjahr geworden, und der Zirkus stand in Bremen. Die junge Mutter jauchzte Ulrich mit strahlenden Augen zu: »Das Kind lebt in mir. Ich spüre seinen Herzschlag, ich merke seine Füßchen.« Sie traf Vorbereitungen, um sich für ein paar Monate vom Zirkus zurückzuziehen. Da sprach er vom Scheiden. Tränen traten ihr in die großen, dunkeln Augen, aber sie machte ihm keine Vorwürfe, das Muttergefühl hatte ihre Widerstandskraft völlig gebrochen. »Nur noch ein wenig bleibe, Ulrich!« Als er wieder zu ihr kam, lag sie in Weinkrämpfen auf dem Teppich. »Clown William war bei mir. Ich weiß, daß du gehen mußt. Du verdirbst neben mir. Das will ich aber nicht, – nie, nie, Ulrich!«

Ein paar Tage später fuhren sie gemeinsam von Bremen nach Hamburg. Sie wollte in dieser Stadt das Kind erwarten. Sie lachte und weinte im gleichen Atemzug, sie lachte dem Geschöpfchen entgegen, das sie unter dem Herzen trug, und weinte mit der gleichen Zärtlichkeit um den Geliebten. Sie wußte wohl, daß er nie mehr zu ihr zurückkehren würde.

Er reiste von Hamburg nach Berlin weiter. Als der [244] Zug abfuhr, stand sie auf dem Bahnhof, senkte das Haupt in schütterndem Schmerz und hob den Arm vor die Stirn. So entglitt ihm das Bild. Hatte er das Weib geliebt oder gehaßt? – Wohl beides miteinander!

Warum er nach Berlin fuhr, war ihm selber nicht klar. Vielleicht nur, um mit seinem verunreinigten Selbst unterzutauchen im Menschengewoge der großen Stadt. Lieber wäre er heimgefahren zu Nick, aber zwischen der Heimat und ihm lag es wie Feuerlohen, durch die sich nur ein Mann mit einem guten Gewissen wagen durfte.


[245]

20

In Berlin fand er in einer Werkstatt, die ein paar hundert Schritte hinter dem Potsdamer Platz lag, Unterkunft als Messerschmied. Da wollte er wenigstens so lange bleiben, bis ihm Traugott Meister Nachricht von der Geburt des Kindes gab. Und nachher? – Das lag ihm selbst im Dunkeln. Vielleicht zu Szedesky reisen.

Er hatte geglaubt, wenn er nur einmal von der Barensky und dem Zirkus los sei, so finde er von selber wieder Lebensglauben und Lebensglück. Dem war aber nicht so. Wohl hätte er in Berlin Gelegenheit genug gefunden, wieder eine Liebschaft anzuknüpfen, aber es ging ihm wie den gebrannten Kindern mit dem Feuer. Dann und wann dachte er an die Barensky, aber viel häufiger an Nick. Seine Seele trauerte um die Verlorene und schrie nach ihr; sie weinte nach der Heimat, die Kraft aber fand er nicht, den Eltern einen Brief zu schreiben. Wohl gerade, weil er in schmerzender Scham eine große natürliche Pflicht versäumte, gab es für ihn kein Aufatmen.

Ende Juni erhielt er von Traugott Meister ein paar Zeilen aus Hamburg: »Werra Barensky ist mit einem prächtigen, gesunden Jungen zu uns zurückgekehrt. Das Kind ist Ulrich getauft. Leider besteht vorläufig keine Hoffnung, daß sie es aus den Händen geben würde. [246] Jedermann vom Zirkus, hinab bis zum geringsten Knecht, muß in ihr Hotel kommen und es bewundern.«

Das erste Gefühl Ulrichs war, auch er sollte hinfahren und seinen Sohn sehen. Dann aber ließ ihn Werra Barensky sicher nicht mehr los. Nein, seine Freiheit mußte er sich bewahren! Unter Schmerzen besiegte er die Regung. Seine Gedanken aber waren unablässig bei dem Kinde. Die Furcht, daß die ungebildete Mutter seine Erziehung vernachlässige und er ihm nicht helfen könne, quälte ihn Tag und Nacht. Vielleicht weil er von seiner Stellung befriedigt war, vielleicht weil die Bilder der großen Stadt dann und wann die mancherlei Gewissensbisse in seiner Brust wohltätig überfluteten, blieb er aber doch in Berlin.

Schon ging es auf Weihnachten. Die Stadt lag im Schnee. Da riß ihn eine Drahtnachricht von Traugott Meister aus seiner seelischen Dumpfheit empor: »Lübeck. Kommen Sie. Werra Barensky durch Unglücksfall tot, Ihr Kind frei.«

Jäh erregt warf Ulrich sich in den Zug, ihm war, er könne die paar Stunden Fahrt nicht überleben. Er bildete sich ein, die Barensky sei wohl durch ein wildes Tier zerrissen worden, wie einst ihr Vater von einem Eisbären. Ihr Tod erschien ihm wie ein Gottesgericht, verdient durch den verhängnisvollen Peitschenhieb in Mainz und dadurch, daß sie ihn aus seinen ehrsamen Verhältnissen in ein schmachvolles Abenteurerleben hineingezwungen hatte. Der Haß gegen das Weib war in ihm doch stets größer gewesen als die Liebe, ihr Tod befreite ihn von einer unerhörten Last. Niemand trennte [247] ihn mehr von dem Sohn, er war Herr über das Schicksal des Jungen. Der Gedanke erfüllte ihn mit freudiger Ruhe. Was aber nun? Es erschien ihm als der einzige gute Ausweg, daß er mit dem Kinde in ein fremdes Land gehe, denn in die Heimat wagte er sich aus Scham mit ihm nicht. Was würden die braven Eltern und Geschwister sagen, was Nick, wenn er mit dem lebendigen Zeugen seiner Schmach vor sie hinträte? – Sobald wie möglich wollte er einen Brief an Szedesky schreiben, in dem er ihm die Erlebnisse des letzten Jahres freimütig bekannte, ihn fragen, ob er Arbeit für ihn in seiner Fabrik habe und ob es Gelegenheit gebe, den Knaben bei einer guten Frau unterzubringen, wo er ihn dann und wann sehen und seine Entwicklung überwachen könne.

Am Bahnhof in Lübeck holte ihn Traugott Meister ab. »Nun hat sich ja für Sie der Knoten wunderbar gelöst,« empfing er den Freund, »ich wollte, das Schicksal hätte den meinen ebenso gründlich durchschnitten. Die Mab hat Werra Barensky erschossen.« Ulrich fuhr zurück. »Die Mab?« – »Unglücksfall oder Verbrechen?« fuhr Meister fort. »Niemand kann's wissen. Die beiden knallten sich gestern gegen Abend zur Unterhaltung in einem Gasthofzimmer hohle Glaskugeln von den Köpfen, – ein neuer Trick für die Arena, in dem sie sich seit einiger Zeit übten. Da ereignete sich der verhängnisvolle Schuß. Als auf den Schreckensschrei der Kleinen die ersten Zeugen zu dem Unglück kamen, kniete sie über Werra Barensky, die, mitten in die Stirne getroffen, auf dem Boden lag. In wildem Jammer rief sie unausgesetzt: »Meine Herrin, meine Herrin!« Die Sterbende [248] gab noch Lebenszeichen und jammerte leise nach ihrem Kind. Im ersten Augenblick glaubte jedermann an einen unglücklichen Zufall. Bald aber tuschelte es sich unter dem erschrockenen Artistenvolk herum, es handle sich um Liebesrache. Mab soll Beziehungen zu einem jungen Griechen gehabt haben, der in einem Handelshaus tätig ist. Die Barensky fand aber auch Gefallen an dem schwarzen Krauskopf, er gab ihren Lockungen nach, die Kleine überraschte die beiden, – und nach ein paar Tagen fiel der Schuß. Jetzt ist Mab in Untersuchungshaft.«

Meister führte Junghans in einen Zirkusschuppen. Da lag die Leiche der Werra Barensky schon im Sarg. Auf ihrer Stirne war ein roter Tupf sichtbar, nichts weiter, und das blasse Gesicht sprach noch lebhaft von ihrer kraftvollen Schönheit. Ulrich aber hatte nur wieder das Gefühl, es sei ein Gottesgericht ergangen, und fand darin etwas wie Versöhnung mit der Toten, die so unselig in sein und anderer Leben eingegriffen hatte.

Nun aber zu dem Kind! Er traf es wohlversorgt in dem Hotel, in dem Werra gelebt hatte und verunglückt war. Schon halbjährig saß es in seiner mit Spitzentüchern reich ausgestatteten Wiege, an Fremde gewöhnt streckte es ihm gleich lächelnd die Ärmchen entgegen. Und siehe da, es war ein schönes, wohlgebildetes Kind, es hatte tiefblaue Augen, nur das ansprossende dunkle Haar verriet den Einschlag des mütterlichen Blutes. Vom ersten Augenblick an hatte er den vergnüglich lallenden Buben unsäglich lieb und fühlte sich durch seinen Anblick von einem Lebensmut beseelt wie in den Tagen, da er die Barensky noch nicht gekannt hatte. [249] Seinetwegen nahm er Quartier im Hotel, und noch am gleichen Abend schrieb er einen langen, herzbewegten Brief an Szedesky. –

Er kam von der Beerdigung der jählings Abgeschiedenen, die nun in fremder Erde ruhte. Von den vielen seltsamen Bildern des erschütterten Zirkusvolkes, das einer der Seinigen die letzte Ehre gegeben hatte, hinweg schlenderte er in der sich früh neigenden Wintersonne durch die von sieben schlanken Kirchhelmen überragte alte Stadt, besah sich etwas zerstreuten Sinnes die farbenfreudigen Häuser aus Backsteinen, die ihn an die heimatlichen Kachelöfen erinnerten, die Gassen mit den reichen, bunten Mauern, Erkern, Säulen, Gesimsen, den engen, hohen Fenstern und den treppenförmig aufgebauten Giebeln. Als aber der Sonnenschein wich, die flammende Winterabendröte des Nordens um die Türme schwebte und dann in grünen und violetten, unheimlichen Tönen erlosch, trat er zu einer Erfrischung in das alte Zunfthaus der Schiffergesellschaft. Er setzte sich einsam an einen Tisch und betrachtete die merkwürdige Einrichtung, an der seit mehr als dreihundert Jahren nichts geändert worden war, die erhöhten Plätze der Älterleute, die Wappen und Schnitzwerke, die von der Decke niederhängenden Schiffsmodelle und die fremdländischen Kuriositäten.

Da spürte er plötzlich den Blick eines vornehmen, etwas blassen jungen Mannes, der in der Nähe saß, forschend in seine Züge gerichtet. »Himmel, das ist ja Gerold von Jaberg!« durchzuckte es ihn. Sein erster Trieb war, den Jugendgenossen zu begrüßen, aber die [250] blitzschnelle Erinnerung, in was für einer heiklen Lebensangelegenheit er in Lübeck weilte, ließ ihn davor zurückschrecken. Um Gottes willen, wenn ihn Jaberg nur nicht erkannte! Er saß noch eine Weile qualvoll da, rief dann dem zudienenden Mädchen: »Fräulein, bezahlen, bitte.« Nur die drei Worte – Jaberg stand auf, trat an ihn heran, ergriff freudig seine Hand. »Und du bist es also doch, Ulrich! Sprich, was führt dich nach Lübeck?«

»Wanderschaft,« erwiderte Junghans betroffen. »Und dich?«

Jaberg, dem ein hübscher Schnurrbart gewachsen war, setzte sich in alter Freundschaft zu ihm hin. »Noch dasselbe wie vor zehn Jahren, als wir miteinander auf das Gymnasium in Konstanz gingen. Meine Mutter wohnt hier in der Nähe auf dem Gut Mecklenhof. Wenigstens zu Weihnachten, oft auch in den Sommerferien besuche ich sie. Was treibt man aber im Winter? Man unternimmt eine Schlittenfahrt in die Stadt, dreiviertel Stunden. Sonst lebe ich als Mediziner in Leipzig. Mein Vater ist leider gestorben, mitten in seinen dänischen Forschungen. Doch jetzt erzähle du – nein, einen bessern Vorschlag, wir gehen miteinander in den Ratskeller, setzen uns in eine Ecke, speisen und erneuern die gemeinsamen Erinnerungen an Eglisau und das Rafzerfeld. Du siehst doch, wie ich mich über unser Wiederfinden freue!«

Ja, das mußte sich Ulrich gestehen, Gerold war nicht mehr der Junge, der beim Abschied etwas verlegen die rußigen Risse in seinen Händen betrachtet hatte, sondern [251] der offene Freund wie in den schönsten Tagen ihrer Jugendzeit, und er durfte sich ihm nicht entziehen.

Sie hatten in der weitgewölbten, von mächtigen Pfeilern gestützten Kellerhalle die schirmende Ecke gefunden, der Wein perlte in den Römern, das Gespräch über die Jugendtage floß. »Wie, Nick Tappoli ist in Zürich Verkäuferin!« rief Gerold. »Sie war mein Knabentraum, überhaupt eines der feinsten Mädchen, die ich je kennen gelernt habe.« Ulrich wurde bei den Worten sonderbar ums Herz, ein tiefes Heimweh kam über ihn, je länger desto mehr faßte er das alte Freundesvertrauen zu Jaberg. Von seltsamem Erleben ging ihm der Mund über. Was er gelitten hatte, was er hoffte, schüttete er in ergreifender Erzählung aus und hatte an Gerold einen verständnisvollen, warmbeseelten Zuhörer. Als sie den Keller verließen, war Mitternacht schon vorüber. »Ich bleibe in der Stadt«, versetzte Jaberg, »und statte dir morgen einen Besuch ab. Vielleicht kann ich dir beim Ordnen der merkwürdigen Angelegenheit irgendeinen Dienst leisten.« Als Ulrich unter schimmernden Nachtsternen durch die totenstillen Gassen heim in seinen Gasthof ging, spürte er die große Herzenserleichterung, daß er sich endlich einmal mit einem Vertrauten über seine wirren Erlebnisse hatte aussprechen können. Der Abend blieb ihm wohl in unvergeßlicher Erinnerung.

Die Hilfe Jabergs konnte er in der fremden Stadt brauchen. Der junge Mann mit dem bekannten, geachteten Namen führte ihn bei den Behörden ein, die sich der Angelegenheiten der Barensky bemächtigt hatten. [252] Die Bemühungen, sich einwandfrei in den Besitz des Knaben zu setzen, waren mit mehr Widerständen verbunden, als Ulrich vorausgesehen hatte. Da die Künstlerin außer dem Juwelenschatz ein ziemliches Vermögen hinterlassen hatte, vermuteten die Beamten, hinter seinen Wünschen eine eigennützige Absicht und forderten peinvolle Aufschlüsse über seine Beziehungen zu der Artistin, sogar der unglücklichen Mab stellte man ihn gegenüber. Nach etwa acht Tagen hatte er es erreicht, daß man ihm das Kind übergab. Das Vermögen der Barensky aber blieb in amtlicher Verwahrung, die Behörden wollten abwarten, ob nicht noch andere Ansprüche geltend gemacht würden. Das Wesentliche für Ulrich war, daß ihm die freie Vatergewalt über den Sohn zugesprochen worden war.

Unterdessen war die Antwort von Szedesky eingegangen. »Herzbruder!« begann der Brief. In schlechtem Deutsch enthielt er ein freudiges Willkommen für Ulrich wie für sein Kind. »Ich habe die Liebe meiner Jugend zum Weib genommen, und sie hat mir ein Söhnchen geschenkt. Warum soll sie nicht gleich zwei Jungen Mutter sein? Und du bist ihr nicht fremd. Oft habe ich zu ihr gesagt: Teufel, wo ist mein Freund geblieben? Ich wußte fast sicher: in den Krallen der Barensky, Tigertier verfluchtes! Ich habe geseufzt: Armer Ulrich! und den Abend in Frankfurt in die Hölle gewünscht. Aber gottlob, das wilde Weib ist jetzt tot. Grüß Gott, Ulrich, im schönen Ungarland!«

Junghans leuchteten die Augen über den Zeilen. Was ist es Herrliches um echte Männerfreundschaft!

[253]

Auch die Jabergs kamen ihm noch zustatten. Bei einem Besuch, den er auf dem Gut Mecklenhof machte, berieten sie, wie die weite Reise mit dem Kleinen am leichtesten einzurichten sein möge. »Wir haben hier auf dem Gehöft eine junge Knechtsfrau, Polin, die vor ein paar Monaten ein Kind geboren hat. Ich glaube, sie würde sich vortrefflich als Wärterin während der Eisenbahnfahrt eignen. Nur müßtest du ihr wieder für die Rückfahrt sorgen.« »Was tut's!« erwiderte Uli. »Ich habe in Berlin sparsame Monate gehabt.« Nach einigen Bedenken ließ sich das Weib gewinnen.

Ein paar Tage nach Neujahr hatte Ulrich auch seine Geschäfte in Berlin geordnet, und es kam die Abreise zudritt von Lübeck. Auf dem Bahnsteige standen zum Abschied Gerold Jaberg und Traugott Meister und schüttelten ihm die Hand. Sie gingen gemeinsam in die Stadt zurück. »Junghans ist einer der edelsten Menschen, die mir je begegnet sind,« plauderte Meister. »Unter uns Männern fast ein weißer Rabe,« erwiderte Jaberg. »Wie selten sorgt sich einer um sein uneheliches Kind!«

Ulrich aber fuhr mit seiner nicht alltäglichen Begleitung bald in guten, bald in schlechten Zügen dahin. Das Kind saß zufrieden auf dem Schoß der kleinen, dicken Wärterin und wollte ihr stets in die schwarzen Kirschenaugen greifen, als wären sie Spielzeug. Er aber dachte: Eine Mutter sollte der Uli doch wieder haben! Seine Gedanken kreisten um die ferne Nick. Plötzlich aber schüttelte er den Kopf so heftig, daß die Polin ihn verwundert anblickte. Wie durfte er sich in seinen Sinnen [254] noch an Nick heranwagen? Wenn sie um seinen Buben wüßte, hätte sie für ihn ja doch nur das Herz voll kalter Verachtung. Er hatte erlebt, was kein Weib verzeiht. Und ihm war, durch das Rollen des Zuges gehe eine wehmütige Melodie von verscherzter Liebe. Ein Blick aber in die leuchtenden Kinderaugen – und das Herz schlug ihm höher. Sein Leben hatte nun doch einen großen Zweck!


[255]

21

Nick verkaufte Schreibwaren und empfand es als besonderen Reiz ihrer Stellung, daß viel frohe Jugend in den Laden kam. Was waren die Mädchen glücklich, die mit ihren sechzehn oder achtzehn Jahren noch auf den Schulbänken sitzen durften! Bei ihrem Anblick regte sich in ihr oft eine leise Bitterkeit darüber, daß man im fröhlichen Pfarrhaus in Eglisau an ihr so wenig für ein Stück gründlicher Bildung getan hatte. In ihrem Wissensdurst wäre sie jeder Klasse vorangeflogen, und was hätte aus ihr werden können! Zum mindesten eine vortreffliche Lehrerin. Die Anfechtungen gingen aber vorbei. Manches schwungvolle Gespräch der jungen Menschen tat ihr wohl. Ein paar harmlose Verehrer, Gymnasiasten und Studenten, beichteten ihr die heimlichen Schul- und Lebensschmerzen und steckten ihr Gedichte eigener Schöpferkraft zu. Und auf dem Platz, an dem das Geschäft lag, sah sie manchen Ausschnitt aus den Bildern der Stadt, nicht nur, wie die Polizei in schwarzglänzenden Tschakos und mit breiten roten Epauletten gemessenen Schrittes vor der Hauptwache auf und niederschritt und etwa einen auf dem Bettel ertappten Handwerksburschen einbrachte, sondern auch, wie die Väter des Kantons zu ihren Sitzungen in das altehrenfeste Rathaus traten.

[256]

Unter den stattlichen und würdigen Herren des Großen Rates befand sich seit einiger Zeit auch ihr Schwager Ferdinand Bürsteler, der an fleischiger Leiblichkeit noch zugenommen hatte.

Eines Tages trat er in den Laden, entdeckte sie, kam nun dann und wann auf eine Viertelstunde zu ihr herein und berichtete ihr in breiter Gutherzigkeit mancherlei, was sie fesselte oder nicht. Leider aus der Familie nicht viel Erfreuliches. Der Schwester und ihren Kindern ging es zwar gut, aber die Mutter kränkelte, und der Bruder, der blutjunge Pfarrer, der hinten im Gebirge saß, war eben im Begriff, mit einem hübschen Webermädchen eine törichte Ehe einzugehen.

Jedes Vierteljahr besuchte Nick Mutter und Schwester im Oberland, sonst stand sie einsam im Leben und mußte über die Freundschaft mit Marie Junghans froh sein, die ihr noch am meisten das Gefühl einer Angehörigkeit gab.

Marie war aus der »Meise« ausgetreten, sie nähte in Eglisau die Aussteuer, kam aber zuweilen in die Stadt. Einmal fragte Nick bei ihr nach Ulrich. Die Freundin schüttelte aber traurig den Kopf. »Wozu über den Verlorenen sprechen?« seufzte sie. »Ich habe jedoch zwei Anliegen an dich. In den Frühlingsferien findet unsere Hochzeit daheim statt. Da bitte ich dich, daß du mir Brautjungfer seiest. Das andere betrifft die Wohnung, die wir mieten wollen. Sie liegt am Zürichberg im ersten Stock eines alten Bauernhauses mit Sonne, Luft, Aussicht, ist aber für unsern Zweck um ein Zimmer zu groß. Wenn du dieses von uns mietetest?« Sie wurden einig.

[257]

Die Hochzeit im heimischen Städtchen nahm einen schönen Verlauf, doch war ein verhaltenes Leid dabei. Ulrichs Name kam über keine Lippe, aber im Stummen fragten alle Herzen: Wo mag der Verirrte weilen? – Maries Vater, der würdige Messer- und Zirkelschmied, dem bereits graue Fäden durch den Bart liefen, hatte beim Mittagessen im »Hirsch« etwas so Nachdenkliches, daß er einen dauerte. Den Alten schmerzte es tief, daß im Kranz seiner acht, nun zum größten Teil erwachsenen Kinder ein Sohn fehlte. Am Abend wollte er doch einen Tanz mit der immer noch rabenschwarzen Mutter wagen, sie aber erwiderte: »Ich meine, wir überlassen es den Jungen!« An dieser Antwort war auch nur die Verschollenheit Ulrichs schuld.

Nick ließ sich von der Gegenwart Friedrichs fesseln. Immer wieder schweiften ihre Blicke über die Gestalt des starken, gesunden, blonden Mannes, in dessen blauen Augen die unbeirrbare Rechtschaffenheit stand. Gerade wie er war Uli gewesen, nur von merkbar stärkerer seelischer Flugkraft.

Nun wohnte sie bei dem jungen Ehepaar am Zürichberg. Schon am ersten Tag hätte sie nicht mehr hinab in die Stadtgasse zurückkehren mögen. Hier war die Luft so frisch, die Stille der Nacht so groß, und wenn sie am Morgen erwachte, entbot ihr aus weiter Ferne der Urirotstock mit dem weißen Firnfeld den Gruß. Auch besaß Marie eine recht hübsche Einrichtung, das Geschenk der Stammgäste, die sie in treuherziger Bescheidenheit und mütterlichem Zusorgen bedient hatte. Der alte Professor, der sich gern auf der Höhe erging, [258] sah dann und wann nach der jungen Frau, und mancher Sonntagsspaziergänger gab mit freundlichem Zuruf Zeugnis, was für ein achtungsvolles Andenken sie bei ihren ehemaligen Gästen genoß.

Wenn sie den gleichen Weg wie die Freundin einschlüge, dachte Nick; wenn auch sie als Tochter in ein Zunfthaus träte? Da war doch mehr zu verdienen denn als Ladnerin! Marie aber redete es ihr aus. »Das habe ich tun dürfen mit meinem glatten Haar und meiner Einfachheit. Aber Nick Tappoli mit dem vornehmen italienischen Gesicht, den blitzenden Augen und dem Krauselhaar, – nein, nein, du kämest mit den Männern in endlose Geschichten hinein!«

Nick ließ sich belehren. Aber der Anblick des glücklichen jungen Ehepaares, mit dem sie nun das Leben teilte, rief immer wieder innere Kämpfe in ihr wach. –

In dieser Unruhe ihrer Seele fand sie einen ihr verloren gegangenen Freund wieder.

Nach den Überlieferungen ihrer Jugend besuchte sie dann und wann am Sonntagmorgen den Gottesdienst, bald in der, bald in jener Kirche. Neben der religiösen Erbauung hatten die Predigten für sie noch den besonderen Reiz, daß sie gern Gehaben, Kraft und Schwung der verschiedenen Geistlichen beobachtete und untereinander verglich, ein Spiel, das sie heimlich schon in der Heimat am Rhein getrieben hatte. Nun wollte sie wieder einmal den Gottesdienst eines schon silberweißen, ehrwürdigen Geistlichen besuchen, von dem der Vater stets mit Wärme als einem gesinnungslautern Vorbild für alle Pfarrer gesprochen hatte.

[259]

Da, welche Überraschung! Auf die Kanzel stieg nicht der alte, zittrige Dekan, sondern eine junge, weltmännische Gestalt – kein anderer als John Wildholz, mit dem eine so feine und schöne Freundschaft sie verbunden hatte. Seit seinem Abschied von ihr war seine Erscheinung noch edler, eindrucksreicher geworden, in den blaudunklen Augen flammte ein noch stärkeres Feuer, und auf dem männlich schönen, doch vom Denken schon zerarbeiteten Gesichte lag ein fast bedrückender Ernst. So war auch seine Predigt ein strenges Gericht über den Leichtsinn und die Oberflächlichkeit der Menschen, ein herzergreifender Mahnruf zur Buße – für Nicks Empfinden zu streng, aber vorgetragen mit einer Glut, einer Überzeugungskraft, einem Schmelz der Sprache, daß es die Seelen bis in die letzten, verborgensten Falten erschütterte und jeder vor seinem Worte in den Staub niederknien mußte. Verhaltenes Weinen und Schluchzen ging durch die Kirche.

Nach dem Gottesdienste blieb eine Schar der Zuhörer am Ausgange stehen, um dem Geistlichen, der eine so zauberhafte Gewalt über Sinne und Herzen besaß, noch einmal in das durchgeistigte Gesicht zu blicken. Nick, die von ihm nicht bemerkt zu werden wünschte, folgte zwar ihrem Beispiel, stellte sich aber bescheiden hinter die andern. Er kam, nachdem sich die Kirche völlig entleert hatte, etwas blaß und erschöpft, wie selber noch ergriffen von der die Gemüter aufwühlenden Rede, in Begleitung seiner Frau. Nick erkannte sie gleich wieder nach dem Bilde, das auf dem Schreibtische des Verwesers gestanden hatte. Das harte Gesicht mit [260] dem dünnen, über der Stirne glattgestrichenen Haar und dem schmallippigen Mund erschien ihr in der Wirklichkeit noch reizloser. Wie damals schon, und mehr noch, war sie enttäuscht von der Wahl des geistig so hochstehenden Mannes.

Sie besuchte nun dann und wann seine Predigten, in denen er mit erschütternden Tönen in Leid und Schuld des Lebens griff und mit dunkler Glut das Gemälde des menschlichen Erlösungsbedürfnisses schuf. Als sein Auge wieder einmal über die Gemeinde dahinflog, traf es das ihrige, unbewußt suchte sein Blick sie wieder – er erkannte sie, und nun war es eine Weile, als spreche er eigens zu ihr. Es gab keinen Grund, daß sie den Vielbewunderten und Verehrten nicht wieder begrüßte. Als er nach dem Gottesdienste mit der Gattin dem Pfarrhause zuschritt, trat sie zu ihm heran und spürte wohl, wie lebhaft in ihm die Erinnerung an ihre ehemalige Freundschaft aufwachte, an ihre einsamen Gänge durch Feld und Wald. Die Frau blieb bei der Vorstellung steif und kühl, doch nahm Nick seine Einladung zu einem Abendbesuch unbedenklich und freudig an. Welches Glück, mit ihm wieder einmal Seele zu Seele sprechen zu dürfen! –

In hochgespannter Erwartung stapfte sie durch Dämmerung und Schnee. Sie dachte, daß um Wildholz wohl noch mehr Besuch geschart sein werde, traf aber das Ehepaar allein, und wieder fiel ihr der Gegensatz der beiden Menschen auf: des vornehm gütigen Pfarrers, der die Feierlichkeit des Redners von sich gestreift hatte, und der kalten Frau, die ein weißes [261] Diakonissenhäubchen trug und fast jeden Satz mit dem Worte begann: »Es spricht der Herr.« Wildholz plauderte mit Nick von den Wochen am Oberrhein, dabei spürte sie aber die Augen der Pfarrerin wie zwei stechende Flammen auf sich gerichtet. »Sie haßt mich,« durchzuckte es sie. In der Tat begann die Pfarrerin unter Seufzen so deutlich und anzüglich von der Sünde des Hochmutes zu sprechen, die ungescheut durch die Stadt wandle, daß sich der Gast wohl oder übel betroffen fühlen mußte. Ging sie denn in ihrem dunkeln Wollrock nicht einfach genug? Und das krause Lockenhaar, das den besonderen Anstoß der Pfarrerin zu erregen schien, hatte ihr doch Gott gegeben, und es war nichts Künstliches daran.

Wildholz ahnte die Qual Nicks, gab aber seiner Frau umsonst bittende Blicke. Jene verlor ihre Offenheit, das froh begonnene Gespräch wurde verlegen und gezwungen, eisige Kälte waltete bei dem von der Pfarrerin mit harter Stimme gesprochenen Tischgebet, und nachher würgte Nick jeden Bissen hinunter. Da bereitete Wildholz der unerfreulichen Stunde ein Ende. In verhaltener Erregung und willensscharf wandte er sich der Gattin zu: »Christine, ich gebe Fräulein Tappoli noch das Geleit. Um neun Uhr bin ich wieder zurück.« Sie wagte keinen Widerspruch, wurde aber kreidebleich vor Ärger. Als Nick ihr die Hand bot, wußten beide: es war das letztemal, kein Wiedersehen war zwischen ihnen möglich. –

Die Nacht lag sternenlos über der Stadt, der Wind pfiff um die Häuserecken, und wo ein paar Menschen unterwegs waren, bedeckte der aufgewirbelte Schnee [262] rasch wieder ihre Spur. Geraume Weile gingen Wildholz und Nick schweigend, ihr standen die Tränen nahe.

Bei einer Baumgruppe hielt er den Schritt an. »Fräulein Tappoli,« begann er mit bewegter Stimme. »Was wir heute erlebt haben, ist uns beiden ein Schmerz. Völlig kann ich ja das Betragen meiner Frau nicht entschuldigen, aber doch ein wenig. Dazu bin ich Ihnen aber eine Erklärung schuldig, die Sie um Gottes willen nicht mißverstehen mögen. Als meine Frau und ich einander auf entlegener Missionsstation kennen lernten, waren wir junge Menschenkinder, außer ihren Eltern die einzigen Europäer, einander verbunden durch den jugendlichen Eifer für das Gotteswort. Wie eine heilige Märtyrerin erschien sie mir. Daraus entstand unsere Liebe, unsere Verlobung. Später, als ich wieder unter die Menschen des eigenen Erdteils trat, erkannte ich ja schon, wie bescheiden ich in der Wahl meiner Braut gewesen war. Hätte ich aber die Treue verletzt, so hätte ich nicht mehr bestehen können vor meinem Gott. Und nur einmal kam ich in die große Gefahr, daß ich in seelenbezwingenden Schmerzen an den Ungott der Treulosigkeit verloren gehe. Sie ahnen es: – in Eglisau neben Ihnen!«

Einen Augenblick schwieg Wildholz, übermannt von der Erinnerung. Aber er faßte sich und fuhr fort: »Wie ich dann selbst meiner Herr geworden bin, haben Sie miterlebt. Ich wies die Berufung des Städtchens zurück und begab mich auf die große Reise, die ich ohne meinen innern Kampf wahrlich unterlassen hätte. Daß mich dabei Ihr Bild begleitete, sagten Ihnen wohl [263] meine Grüße von da und dort. Den Schluß der langen Fahrt bildete, daß ich meine in die Heimat übersiedelnde Braut in Southampton abholte. Ein paar Stunden nach Ankunft des Schiffes saßen wir in einem Garten am Meer, ich schrieb Ihnen etliche Zeilen und bat sie, Ihren Gruß darunter zu setzen. Sie haben den Brief nie erhalten, aber er gab mir und ihr den Anlaß, daß wir von Ihnen sprachen. Im Triebe, das Gewissen vor meinem künftigen Weib zu entlasten, habe ich wohl unvorsichtig viel von Ihren Vorzügen gesprochen, – kurz, ich denke nur unter Schmerzen an jenen Abend zurück. Nun aber, Fräulein Tappoli, wissen Sie, warum der heutige so schrecklich frostig ausgefallen ist, daß wir wohl beide eine Wiederholung gern vermeiden. Ich hoffte, es sei mit der Billigung meiner Frau wieder eine Freundschaft zwischen uns möglich. Leider nein! Und weil mich die Verantwortung für die Einladung trifft, die so kränkend für Sie verlaufen ist, bitte ich Sie herzlich: Verzeihen Sie ihr!«

Nick war von dem Bekenntnis ihres früheren Freundes zu verwirrt, um auch nur ein Wort sprechen zu können. Sie gingen wieder ein Stück Weges durch Wind und Schnee. Da erst versetzte sie: »Wenn es Ihrer Frau eine Beruhigung ist, sagen Sie ihr, daß ich ihr den Abend nicht nachtragen werde.«

Wildholz atmete auf: »Und nun eine Frage. Aus meinen inneren Kämpfen in Eglisau erinnere ich mich an den Namen Ulrich Junghans. Mein Verzicht auf Sie wurde mir damals erleichtert durch Ihr Geständnis, daß Sie den jungen Mann lieben, obschon Sie ihm auf [264] seine Werbung mit einem Nein geantwortet haben. Haben Sie den Brief einmal geschrieben, zu dem ich Ihnen riet?« »Den Brief habe ich geschrieben,« erwiderte Nick schwer, »aber Ulrich Junghans ist für mich und die Seinen doch draußen in der Welt verschwunden. Ich weiß nichts von ihm.«

»Wir sind alle Kämpfende, darum gibt es für uns keinen Halt als den des allerdemütigsten Glaubens,« versetzte Wildholz nach einigen Schritten, wie aus einem Selbstgespräch heraus. »Wie tief fühle ich Ihre Vereinsamung mit, Fräulein Tappoli! Und dennoch drängt gerade sie mich zu einer Bitte, die mir so schwer fällt wie noch keine in meinem Leben, und die vielleicht noch nie ein Pfarrer getan hat.« Er ergriff zitternd ihre Hand. »Wen sähe ich lieber in meiner Kirche als Sie? Aus welchem Gesicht käme mir mehr als aus dem Ihren Trost, daß ich mit meinen Predigten nicht bloß in den Wind säe? Aber ich bitte Sie: besuchen Sie künftig einen anderen Gottesdienst als den meinen – ersparen Sie mir den neuen Kampf.«

Er wandte sich in mächtiger Bewegung plötzlich von ihr ab. »Behüt' Sie Gott, Fräulein Tappoli,« rief er ihr nach, und im nächsten Augenblicke verschwand seine hohe, vornehme und düstere Gestalt im Schneegestöber und in der Dunkelheit. Die erschütterte Nick jedoch hatte ihn verstanden. Auf ihrem Stübchen verbrachte sie die halbe Nacht schlaflos. Was hatte sie mehr begehrt, als daß ihr die von Christlichkeit überfließende Pfarrersfrau am Sonntagabend ein Plätzchen im Schein ihrer Lampe gönne und sie aus den Gesprächen mit dem [265] Pfarrer ein tröstliches Licht hinaus in den Werktag der Woche tragen dürfe. Ihr, der nach Wohlwollen Durstenden, wäre die Freundschaft des Pfarrers eine reine und erfrischende Quelle gewesen! Und doch erfüllte es sie mit einem dankbaren Glücksgefühle, daß sie damals in Eglisau Wildholz etwas gewesen war, daß er ihretwegen innerlich hatte kämpfen müssen und daß der so tief ernste Mann sie auch jetzt noch als eine Gefahr für seinen Seelenfrieden betrachtete. Das sprach für ihren inneren Wert. Wie einfach und bescheiden ihr Lebensweg war, – einmal mußte ihr doch ein Herzensfrühling erblühen.

Nie aber kreuzte sie wieder die Spur des Geistlichen, unter dessen düster glutvollen Predigten die halbe Stadt in den Staub kniete. –

Dafür schenkte ihr das Schicksal ein anderes Wiedersehen, das eine neue Wendung in ihr Leben bringen zu wollen schien.

In den Laden, in dem sie nun bald zwei Jahre Angestellte war, kam ein junger Fremder, gewählt von Erscheinung, doch im weltklugen Gesicht einen leis leidenden Zug, am Finger den Ring des Verlobten. Sie sehen und lächeln war eins. »Wir sind wohl alte Bekannte, Fräulein,« versetzte er. »Wir gingen in Eglisau miteinander eine Weile zur Schule, ich allerdings eine Klasse über Ihnen, was mich indessen nicht hinderte, Ihnen dann und wann ein Schneeballgefecht anzubieten.«

»Ah, Herr von Jaberg!« rief Nick erfreut. Sie schüttelten sich die Hände. »Wie kommen Sie denn nach [266] Zürich?« »Sie sehen, ich bin verlobt,« erwiderte er leichthin. »Damit hängt's zusammen. Ich will hier meinen Doktor machen.« – »Und Ihre Braut?« forschte Nick. »Sie lebt in München. Vielleicht erzähle ich Ihnen einmal unsere Geschichte. Sie ist außergewöhnlich.«

Und die alte Freundschaft war wieder geknüpft.


[267]

22

Jaberg kam nun dann und wann in den Laden, kaufte eine Kleinigkeit und plauderte je nach Gelegenheit mit ihr. Seine guten Formen und seine unaufdringliche Liebenswürdigkeit gefielen, niemand nahm Anstoß an seinem guten Einvernehmen mit Nick. Obgleich es an einem Verlobten überraschen mochte, holte er sie einmal nach Geschäftsschluß ab und gab ihr bis an ihre Wohnung am Zürichberg das Geleite, ein ritterlicher Mann, dem sie sich wohl anvertrauen durfte. Vor dem Hause fragte er: »Was sind es für Leute, bei denen Sie wohnen?« – »Eine Lehrersfamilie,« erzählte sie, »die Frau ist meine Freundin Marie, die Tochter des Messerschmieds Junghans in Eglisau.« Der Name gab Jaberg einen leisen Ruck. »Die Schwester Ulrichs, des Abenteurers?« rief er. – »Wissen Sie etwas von ihm?« Ihr gesamtes Wesen kam in Bewegung.

»Gehen wir noch ein wenig im Mondschein,« schlug er vor. »Im Grunde wollte ich von einer Begegnung, die ich mit Ulrich Junghans in Lübeck hatte, nicht sprechen, ich scheue mich Ihnen gegenüber doppelt, weil Sie seiner Schwester so nahe stehen, ich mag kein Unheil in einen Kreis ahnungsloser Menschen zu tragen.«

Je mehr er in Gewissensbedenken zögerte, desto [268] stärker lief das Zittern der Spannung durch ihre Gestalt. »Sie dürfen auf meine Verschwiegenheit zählen,« versetzte sie ernst. Da ergriff er ihre Hand. »Vertrauen gegen Vertrauen, Monika.« Sie schaute ihm in die Augen: »Sicher, Jaberg!«

Der volle Mond stand auf dem Waldrücken, wandelte großleuchtend im Dunkelblauen und zeichnete das Gewebe seiner Schatten auf den weißen Weg. Jaberg erzählte: »Er bestellte sich ein kleines Abendbrot. Ich denke: Was ist das für ein eigenartiger Sprachklang hier im Norden? – Erinnerungen erwachen, ich fühle: der Mann ist Schweizer. Eine Wendung des Kopfes: ich sehe die kräftig und fast senkrecht gebaute Schläfe, die kantige Nase und den Mundwinkel. Eins – zwei – drei! Der Vorhang vor dem Gedächtnis ist gefallen, ich weiß: es ist Ulrich Junghans, mein gescheiter Ulrich, der mich in der Volksschule von Eglisau und im Gymnasium von Konstanz hat mitreißen müssen. Neugier und Teilnahme erwachen – noch ein Wort von ihm, ich eile auf ihn zu. Nie habe ich einen Menschen so zusammenfahren sehen wie ihn, aber die alte Freundschaft gab sich dann doch rasch wieder.«

Nick unterbrach den Erzähler mit keiner Frage. Nach einer halben Stunde schloß er: »Jetzt befindet sich also Ulrich mit dem Buben bei seinem Freund in der ungarischen Stadt Debreczin. Von dort hat er mir aus Dankbarkeit für die kleinen Dienste, die ich ihm in Lübeck habe leisten können, noch zweimal geschrieben. Es geht ihm gut, er lebt im Haushalt Szedeskys, die Buben der beiden sind Spielkameraden. Die Frau soll ein natürlich [269] kluges, friedfertige Wesen sein; sie hat noch eine jüngere Schwester, und Szedesky sähe es am liebsten, Ulrich würde sein Schwager. Aber Junghans schreibt, für sein gesamtes Leben habe er vom Weibsvolk genug.«

Nick hielt schwer atmend den Schritt inne. »Ich gehe Ihnen zu schnell?« versetzte Jaberg. »Nur einen Augenblick,« bat sie matt. Um ihren Mund zuckte etwas Trauriges und Bitteres. Dahin also ist es mit Uli gekommen: – ein uneheliches Kind! Nur des einen Gedankens war sie fähig. Plötzlich senkte sie den Kopf und begann laut zu weinen. »Um Gottes willen, was ist Ihnen?« fragte Jaberg erschrocken. »Ich habe Uli so lieb gehabt,« stöhnte sie. Er merkte, wie unvorsichtig er gesprochen hatte. Er bot ihr den Arm und trat mit ihr langsam den Rückweg an. »Nun brauchen Sie Junghans doch nicht ganz zu verwerfen,« tröstete er sie. »Wie bald ist sein Schicksal einem jungen Mann in den Garten gewachsen! Monika, ich bin auch nicht besser als er! Sonst wäre ich nicht verlobt.«

In trüber Verwirrung nahm sie, ohne seinen letzten Worten Beachtung zu schenken, Abschied von ihm und schlüpfte ins Haus. Sie sprach Marie von Kopfschmerz, ließ das Essen unberührt und begab sich zur Ruhe, schlief aber nicht, bis die Vögel den Tag ansangen. In ihr wütete die Empörung über Ulrich. Während ihrer Jugend hatte der Vater nur einmal ein Uneheliches zu taufen gehabt, und das kam von einem Landstreicher, der im Feld über eine Blödsinnige hergefallen war. Seither hatte sich ihr die Vorstellung eines unehelichen Kindes stets mit etwas Tierischem und Gräßlichem verbunden, [270] mit einer gottlosen Gemeinheit, die abgrundtief unter der Würde eines anständigen Menschen lag. Diese Gemeinheit hatte also Uli begangen. Da hatte er allerdings Ursache zu schreiben, daß er schlimmer in die Disteln und Dornen gefallen sei als in seiner Jugendzeit! Da verstand sie es, daß er verschollen sein wollte und den Seinen auch nicht mehr mit einem Brief unter die Augen zu treten wagte.

Mitten in der Nacht begann sie wieder herzzerbrechend zu weinen, es waren aber keine Tränen um Ulrich, sondern einfach das jugendheiße Weh über die Schlechtigkeit der Welt, das Aufschluchzen der erkennenden Seele, wie traurig es um die Menschen bestellt ist. Recht hatte Pfarrer Wildholz mit seinem: »Wachet und betet – der Böse geht um!« Stundenlang überließ sich Nick ihrer Schwermut. Als sie am Morgen in die Stadt hinunterstieg, kam ihr aber der sonderbare Gedanke: Obwohl ich erwachsen bin und vor den Kampf ums Brot gestellt, weiß ich vielleicht doch vom Leben noch nicht genug, um seine Erscheinungen richtig und gerecht zu beurteilen.

Schon an einem der nächsten Abende wurde sie von Jaberg wieder an der Ladentür erwartet. In seiner brüderlichen Art sagte er: »Monika, ich habe einen kleinen Eingriff in Ihr Leben versucht. Die Pension Bretscher, in der ich wohne, gehört unbedingt zu den feinsten der Stadt. Sie wird von der Witwe eines Professors des Hebräischen geführt. Und wir Studenten alle verehren in der Frau Professor unsere hochgebildete mütterliche Freundin. Sie liebt uns als ihre Söhne, [271] und ich besonders habe bei ihr einen Stein im Brett. Nun will das Fräulein, das ihr bisher als Stütze gedient hat, wegen ihrer angegriffenen Gesundheit von der Stelle ausscheiden, und da habe ich mir gestattet, Sie der Frau Professor als Nachfolgerin in Vorschlag zu bringen.«

Nick war aufs höchste überrascht. »Darum also!« rief sie. »Die Dame war heute im Laden und hat sich von mir bedienen lassen. Silberweißes Haar mit Locken, etwas hageres Gesicht, aber gerötete Wangen, vor Jahren gewiß eine Schönheit!«

»Und Sie haben ihr vorzüglich gefallen,« versetzte Jaberg, »sie wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen.« – »Und was für ein Gedanke hat Sie bei Ihrer Anregung geleitet?« – »Lauter gute Wünsche für Sie,« gab er zurück. »Ich kann mich nicht damit abfinden, Sie in einer Stellung zu sehen, in der Sie alle Welt bedienen müssen. Und Ihr weiter, einsamer Heimweg! Ich weiß zwar wohl, daß man in der Schweiz über diese Dinge freier als bei uns denkt. Nun sind aber meine Ansichten deutsch, ich fasse es zum Beispiel nicht, wenn ich mir bei einer Einkehr von einem Mädchen einen Wein vorsetzen lasse und man erzählt mir, sie sei die Tochter eines Gemeindepräsidenten oder reichen Müllers und bloß im Wirtschaftsgewerbe tätig, um etwas Schliff zu erlangen. Das gibt es bei uns nicht. Nach unserer Meinung gehört ein junges Mädchen in den Schutz eines Privathauses und einer mütterlichen, lebenserfahrenen Frau.«

Die Wangen Nicks röteten sich. Was Jaberg sprach, [272] ging an ihren Stolz. »Ich habe mein Leben stets der guten Sitte angemessen geführt,« erwiderte sie mit verhaltener Heftigkeit. »In meinen bisherigen Stellungen –«

»Nein, jetzt keine Verteidigungsrede!« unterbrach er sie ungezwungen lachend. »In meinem Innern sind Sie besser verteidigt, als Sie es jemals selber könnten. Ich streite mit Ihnen auch nicht, ob nun Sie Schweizer oder wir Deutsche mit den Ansichten über junge Mädchen im Recht sind, – ich weiß vom Leben genug, um sowohl mit Pharisäern als Zöllnern verträglich zu sein. Für Sie erscheinen mir nur die besten Verhältnisse gut genug. Diese bietet Ihnen unsere Pension. Wir sind fünfzehn junge Herren, elf Schweizer, vier Deutsche, gerade Ihre Landsleute aus angesehenen Familien. Die Gesellschaft zerfällt in Gruppen von Freunden, die Gruppen selber aber sind sich wieder freundschaftlich verbunden, und über der gesamten Schar schwebt der gute Geist der Frau Professor. Was kann es nun für Sie Reizenderes geben, als unter der Führung der feinen Frau für die jungen, angeregten Leute zu sorgen und als gleichberechtigtes Glied mitten darin zu sein? Es wird viel Gehaltvolles gesprochen, im Sommer gibt es gemeinsame Ausflüge, im Winter ziehen wir gebildete Nachbartöchter bei und tanzen. Daß Sie sich zur Geltung bringen werden, dafür ist durch Ihre eigene Art gesorgt, dafür werde aber auch ich einstehen. Denn ein kleiner Eigennutz war dabei, als ich Sie Frau Bretscher vorschlug. Ich möchte in der Gesellschaft gern Ihr erster Freund sein und auf dieses Recht erst verzichten, wenn [273] ich sehe, daß Sie mit einem der Herren eine hoffnungsreichere Freundschaft eingingen, die Ihnen eine schöne Zukunft gestaltete. Dann würde sich niemand mehr freuen als ich!«

Nun mußte Nick den Plan Jabergs ernst nehmen, aber sie wandte doch ein, daß sie der Stellung nicht gewachsen zu sein fürchte.

Er lachte sie aus: »Seit wann sind Sie kleinmütig! Es gibt doch ein Lernen und Sicheinleben. Die Hauptsache ist, daß Sie der Frau Professor gefallen haben!«

Sie gingen ein paar Schritte schweigend. Da fragte Nick unvermittelt: »Jaberg, warum leben Sie denn nicht in München neben Ihrer Braut? Sie wollten mir einmal die Geschichte Ihrer Verlobung erzählen!«

»Wenn Sie es wünschen – nun gut,« erwiderte er. »Sie heißt Konstanze von Lipönen und wuchs auf dem Rittergut Mecklenhof bei Lübeck auf, wo ich von Jugend an meine Ferien verbrachte. Sie ist eine Verwandte von mir, und unsere Verlobung ist ein ebenso verrücktes Schicksalstück, wie daß der brave Ulrich Junghans einer Löwenbändigerin ins Garn gegangen ist. Ja vielleicht noch verrückter, denn Ulrich besaß wenigstens die Nerven, seine Lilith auszuhalten, ich aber nicht, um meine Konstanze zu ertragen. Also ist mein Fall schwerer als der seine!«

»Wie, hieß das Weib, mit dem Uli ging, Lilith?« fragte sie.

»Nein! Ich nenne sie nur so nach einer morgenländischen Sage, die erzählt, daß Adam schon eine Frau gehabt habe, ehe ihm Gott die Eva zur Gefährtin gab. [274] Jene hieß Lilith, was bedeutet: die Unholde; denn sie war von den Tieren geboren, und unter den Zaubermitteln, durch die sie ihn beherrschte, besaß sie den bösen Blick. Wie die Lilith roh und doch bestrickend, mit Augen, die wundersüß träumen und plötzlich blutgierig aufblitzen können, so denke ich mir die Tierbändigerin, in deren Netze Ulrich fiel. Nicht er hat das Weib gesucht, sondern sie ihn, und hat sich seiner erst bemächtigen können, als sie Verbrecherin an seinem Bruder und Ulrich durch ihre Schuld ein todkranker Mann geworden war. Nie habe ich so tief in den Abgrund Weib geblickt wie an jenem Abend im Rathauskeller in Lübeck, da mir Ulrich seine Erlebnisse mit der Ungarin erzählte. Aber er wurde mir dabei wieder so lieb, wie er mir als Junge auf der Schulbank gewesen war.«

»Mir scheint, die Männer verzeihen einander schlechte Abenteuer leicht.«

»Weil Ulrich so furchtbar um sein Kind gelitten hat, halte ich ihn sogar für einen der besten Menschen, die mir je vor die Augen getreten sind.«

»Es war doch seine selbstverständliche Pflicht, sich des Kindes anzunehmen!« rief Nick mit blitzenden Augen.

»Selbstverständlich?« lachte er. »Wie weltunerfahren sind Sie noch, Monika! Ulrich ist, wie er an seinem Kinde gehandelt hat, verglichen mit hundert anderen, ein Edelmann.«

»O, ich bin froh, daß ich jetzt die Wahrheit über ihn weiß,« entgegnete sie schmerzlich, »daß ich an ihn nur mehr wie an einen Gestorbenen denken darf. Am liebsten würde ich auch seinen Namen nicht mehr hören. [275] Vielleicht weil ich ein Weib bin, kann ich über ihn nicht so großzügig urteilen wie Sie. Wenn ich ehrlich sprechen soll, habe ich für die wüste Geschichte doch nichts weiter als Abscheu.«

»Sie sind vierundzwanzig,« versetzte Jaberg kühl. »Da liebt man noch die sittliche Entrüstung. Sie steht Ihnen wunderbar. Aber wenn Sie die Geschichte meiner Verlobung hören, die ich Ihnen leider diesen Abend nicht mehr erzählen kann, so ist sie ein ähnliches Beispiel menschlichen Irrtums wie die Ulrichs. Wir sind Sünder samt und sonders. Ich begreife wohl, daß Sie jetzt den Jugendtraum mit ihm nicht fortsetzen mögen, aber das Leben führt wohl auch Sie noch zu einem milderen Urteil, – vielleicht lernen Sie ihn sogar wieder lieben!«

»Nie – nie!« wollte sie rufen, aber der treuherzige Blick, mit dem Jaberg ihr die Hand drückte, ließ sie verstummen.

»Genug für heute!« schloß er, da sie gerade vor der Wohnung Nicks am Zürichberg angelangt waren. »Schlafen Sie wohl und überlegen Sie meinen Vorschlag. Aber nicht zu lange, wenn ich bitten darf, denn warten kann die Frau Professor nicht!«

Und damit trennten sie sich. –

Einen ganzen Berg Gedanken hatte Nick jetzt still für sich zu bewältigen. Am meisten beschäftigten sie Jabergs Aussprüche über Ulrich. Sie dachte mit heißem Verdruß an den Ungetreuen, aus dem Hintergrund ihrer Gedanken trat aber immer deutlicher auch die Frage, ob es ihm ebenso ergangen wäre, wenn sie ihn [276] mit ihrem Jawort aus der Heimat hätte ziehen lassen. Ein Gefühl der Mitschuld an seinem Niedergange stieg in ihrem Innern auf. Aber der freimütige Brief, den sie ihm nach Mainz schrieb, hatte ihn ja auch nicht zur Besinnung gebracht! Und der Gedanke Jabergs, ihre Liebe könnte sich später doch wieder Uli zuwenden, sie die Nachfolgerin einer Tierbändigerin werden, erschien ihr völlig unfaßbar. Nein, für sie gab es nichts, als Uli vergessen – vergessen!

Wegen ihrer Übersiedelung in die Pension Bretscher beriet sie sich mit Frau Marie Keller, die ihr freundschaftlich zuriet, obwohl es ihr leid war, die Hausgenossin zu verlieren, mit der sie sich immer traulicher verbunden gefühlt hatte. Nur war zwischen Nick und ihr in der ganzen Zeit ihres Zusammenwohnens nie mehr der Name Ulrich gefallen. Die Ausziehende trug das Geheimnis mit sich fort, daß sie von ihm mehr als die Schwester wußte.


[277]

23

Nun waltete Nick in dem hübsch eingerichteten Studentenheim im Universitätsviertel. Die Anforderungen, welche die neue Pflicht an sie stellte, waren groß, das Sicheinleben nicht leicht, aber ihr rascher Blick für das Notwendige, ihr guter Wille fanden Anerkennung, und sie fühlte sich in der neuen Umgebung beglückt. Jaberg hatte kein Wort zu viel gesagt. Wie wesensverschieden die Männer waren, die hier aus und ein gingen, – die feine Mütterlichkeit der Frau Professor glich alle Gegensätze aus, und der Ton der jungen Leute unter sich war vortrefflich: höflich, lebhaft, froh, bisweilen von strahlender Fröhlichkeit. Nick stellte sich unparteiisch mit allen gut und freute sich, Zeugin der anregenden Tischgespräche sein zu dürfen, die sich über alle Gebiete menschlichen Wissens ausdehnten, über Kunst, Literatur und Naturkundliches wie über Fragen des akademischen und öffentlichen Lebens.

Gerold von Jaberg war einer der stillsten im Kreis. Dem Manne, der gern und herzlich unter vier Augen sprach, lag die gesellschaftliche Unterhaltung weniger gut, aber wenn sich die andern mit der Frage an ihn wandten: »Was sagen Sie als Mediziner zu der Sache?« gab er ihnen seinen runden Bescheid. Schweigend anerkannten sie sein gediegenes Wesen. Und Nick lauschte [278] wissensbegierig auf alle; sie lebte in einer Welt, die ihrem innersten Wesen entsprach.

Die Art, wie Jaberg sich ihr gegenüber gab: ein bißchen als der Erfahrenere, der Überlegene, doch offen und wahrhaftig, gefiel ihr. Dadurch, daß er verlobt war, waren ihrer Freundschaft von vornherein Grenzen gezogen. So fand auch Frau Professor Bretscher um so weniger dabei, als sie den untadeligen Charakter Jabergs kannte, und gönnte ihm die unschuldige Freundschaft mit dem Hausfräulein schon deswegen, weil er sich, wie der feine Leidenszug in seinem Gesichte verriet, in vielen Lebensgenüssen Schonung auferlegen mußte.

Hie und da fragte er Nick: »Kommen Sie auch genügend an die frische Luft?« und wandte sich an Frau Professor Bretscher: »Leihen Sie mir Fräulein Tappoli zu einem Lauf, nur für eine Viertelstunde!« Auch zu größeren Unternehmungen zog er sie bei, fast immer in Gesellschaft der anderen Studierenden. Oft ging's nach dem Abendbrot noch mit Nachbarstöchtern zu einer Mondscheinfahrt auf den See, einmal durch die Nacht zum Sonnenaufgang auf den Ütliberg, und bald war es zur Regel geworden, daß die Pensionäre den Sonntag auswärts verbrachten. In Gruppen zogen sie oft schon am Samstagnachmittag in die Berge, manchmal gab's in den Gasthöfen vor dem Schlaf ein Tänzchen, hie und da übernachtete man im Heu einer Sennhütte, erreichte am andern Tag ein schönes Ziel, kam am Abend todmüde nach Hause, und die gesamte Woche war's einem leicht und wohl.

Überall stand Nick unter dem ritterlichen Schutze [279] Jabergs, und das geschwisterliche Verhältnis mit ihm wurde ihr eine Quelle reiner Freuden. Sie mußte oft an sich halten, daß sie ihre Lebenslust nicht wie ein Singvogel durchs Haus jubelte; auf den Alpmatten und den Gipfeln aber ließ sie ihrer Liederfreude freien Lauf und war schon wegen ihrer glockenhellen Stimme, welche die andern sicher zu führen vermochte, ein geschätztes Mitglied der Gesellschaft.

Es war im Hochsommer. Da standen sie ihrer vier Paare auf dem schmalen Gipfel des Großen Mythen und schauten in den Morgenstern, der in strahlendem Glanze über dem fernen Säntis aufgegangen war. Der Himmel wölbte sich hoch und hell, ein paar Wölkchen spiegelten sich wie rosenrote schwimmende Inseln in den noch blaudunkeln Seen. Die Spitzen der Berner Oberländer Berge begannen im ersten Sonnenstrahl zu glühen, die übrigen Höhen aber ruhten noch wie weiße schlafende Seelen. In den Tälern regte sich nah und fern verlorenes Morgenläuten. Die wunderbare Stimmung überwältigte Nick. Unvermittelt ergriff sie die Hand Jabergs und flüsterte ihm zu: »Ich muß Ihnen doch noch einmal danken, daß Sie mich in Ihren Kreis gezogen haben. Wie könnte ich so Schönes erleben ohne Sie?« Und in hellem Jubel rief sie in den strahlenden Morgen hinaus: »Gott, wie hast du die Welt herrlich geschaffen – die Welt und das Leben!«

Er sah sie glücklich an. »Ich wußte, daß es Ihnen bei uns wohl sein würde, und den Vorteil haben auch wir. Der Aufenthalt in der Pension ist jetzt noch angenehmer als früher, für mich namentlich.« Wie ein Knabe [280] lächelte er in sich hinein, und es herrschte zwischen ihnen ein Einverständnis wie wunschlose Liebe.

Wenige Tage nach dem schönen Ausflug aber merkten Nick und die Frau Professor, daß er Sorgen habe. Der leidende Zug in seinem Gesicht vertiefte sich, und er war wortkarg. Mütterlich wandte sich Frau Bretscher an Nick: »Ich gebe Ihnen von vier Uhr an frei. Gehen Sie mit dem armen Jungen spazieren! Vielleicht schüttet er Ihnen seine Schmerzen aus, und es wird ihm besser!« Schon die Vorfreude des gemeinsamen Wanderns gab ihm neuen Glanz in die Augen.

Nick benutzte den Weg, um nach Marie und dem Neugeborenen zu blicken. Da sagte die junge Frau verwundert: »Du wirst ja von einem Tag zum andern schöner!« »Es geht mir auch gut,« lachte Nick, erzählte eine Weile, sprang dann aber auf: »Entschuldige die Kürze meines Besuchs, ich gehe mit Jaberg nach dem Forsthaus Adlisberg.«

Droben im Walde legte er ihr frei, was ihn bedrückte: »Ich habe einen Brief von meiner Braut erhalten. Konstanze will es erzwingen, daß ich meine Studien wieder nach München verlege. Folge ich ihrem Rufe nicht, droht sie, dauernd zu mir nach Zürich zu kommen. Das eine wie das andere aber wäre mir ein Leid.«

»Wie sonderbar!« stieß Nick hervor.

»Darf ich Ihnen jetzt unsere Geschichte erzählen,« fuhr er fort, »die Tragödie einer schlecht belohnten Rettung? – Da muß ich Sie wieder hinaufführen auf jenes Rittergut Mecklenhof, von dem ich Ihnen bereits gesprochen habe. Uralt liegt es da, Herrenhaus, Ställe, Scheunen, einer [281] Klosteranlage ähnlich ins Viereck gebaut, über dem starken Tor eine rostige Wetterfahne, am Turm der efeuumrankten Kapelle eine alte Uhr, die meines Erinnerns nie gegangen ist. Über die ungleich hohen und schwer bemoosten Hohlziegeldächer ragt, ein neueres Werk, ein leichter eiserner Turm. An seiner hohen Spitze klappert ein Windrad wie ein zierliches Gebilde der Luft und pumpt das Wasser für das Gehöft hinauf in einen Behälter. In der Ferne drehen ein paar Windmühlen langsam ihre Flügel, und bei hellem Wetter sieht man die Türme von Lübeck. Das Reizendste aber: durch die hohen Kornfelder, die im Winde wogen, ziehen die weißen Segel auf Wasserläufen, die dem Auge verborgen bleiben, zumal wenn das Korn reif ist – ein entzückendes Bild. Nun noch die grünen Wälle, mit denen die Buchenforste in die Landschaft schneiden, und die weißstämmigen Birken, die vereinzelt oder in Gehölzen beisammen ihre Äste und Zweige in geheimnisvolle Moortümpel senken. Alles durchblüht von roter Heide. – Da habe ich mit Konstanze von Lipönen Jahr um Jahr die Ferien verlebt.

»Als Kind ein Wildfang, wuchs sie sich zu einem bildschönen Mädchen aus: biegsame Gestalt, weißes Gesicht, Auge und Mund wie das Märchen, dazu reiches aschblondes Haar, das sich, wenn es niederfiel, bis unter die Knie in Locken ringelte. Stets war auch etwas Rotes an ihr, entweder in Haar oder Kleid: Heide, Mohn, Rosen, je röter desto lieber. Bei dem herrlichen Geschöpf brachen auch eine glühende Phantasie, eine reine, kräftige Singstimme und ein unverkennbares dramatisches [282] Talent durch. Das war die Wendung ins Unglück. Niemand in der großen Familie wollte sie verstehen, besonders nicht mein Onkel, ihr Vormund, ein straffer Gutsherr, dem es als das schönste Lied erscheint, wenn auf dem Hof recht viele Pferde wiehern, Kühe brüllen, Schweine grunzen und Gänse schnattern oder draußen in den Brüchen ein brünstiger Hirsch schreit. ›Ihr sollen die Mücken ausgetrieben werden!‹ sagte er. ›Arbeiten soll sie!‹ Sie wurde der festknochigen derben Wirtschafterin beigegeben und stand nun vom Morgen zum Abend bei den Milchtöpfen, bei Eiern und Kuchen, Gänserupfen und Wurstmachen. Stets aber wieder stach sie der Teufel, sie trat unter die Knechte und Mägde der Leutestube, spielte die wahrsagende Zigeunerin, daß sich die einen krumm lachten und die andern zusammenschauderten, oder verkroch sich in die Ställe und auf die Böden, sang und blieb der Arbeit fern. Nun wußte mein Onkel, daß die größte Strafe für sie der sonntägliche Kirchenbesuch und das Vorsprechen auf andern Gütern war. Die Tanten und Muhmen schleppten sie überallhin mit, wo es recht sittlich, fromm und langweilig zuging. Doch siehe da! Die junge Dame streckte eines Tages dem Pastor die Zunge heraus, und wenn die Damen mitten im Klatschen waren, rief sie: ›Ich kenne auch eine Geschichte!‹ Boshaft die Anwesenden mit den Abwesenden verwechselnd, erzählte sie aus den Liebschaften eines Rittmeisters, daß eine von ihnen ohnmächtig zusammensank. Nichts war ihr heilig. Als eine alte Superintendentin erbaulichen Zirkel hielt, brach sie plötzlich mit einem Volkslied aus der Lüneburger Heide [283] los, das sonst nur die Männer in den Mund nehmen, und auch die nicht vor Damen. ›Woher dieses gräßliche Lied?‹ fragte die Tante entsetzt. ›Vom Schweinemeister,‹ lachte Konstanze. So machte sie sich gesellschaftlich unmöglich.

»Im Zorn ließ sich der Onkel beigehn, das doch schon große Mädchen zu züchtigen. Von da an verübte sie Streich über Streich, lief heimlich vom Gut fort und kehrte manchmal auch nachts nicht heim. Einmal sogar drei Nächte lang. Nur den Jagdhunden war es zu danken, daß man sie überhaupt wiederfand, draußen in einem seit mehr als hundert Jahren angebauten Torfmoor, in einer Gegend mit tiefen Wasserstellen und trügerischen, schwankenden Brücken aus Binsen, auf die sich nicht einmal der Jäger hingetraut. Ein Leiternwerk mußte über den Sumpf gebaut werden, um die Halbverhungerte zu holen. Sie geriet nun in den Verdacht, nach Selbstmord zu trachten, und in der Tat hat sie noch oft mit dem Leben gespielt. Ich sah selber, wie sie bei einem rasenden Sturm die dünnen, außerhalb des Gerüstes angebrachten Sprossen des Wasserturms bis zum Windrad hinaufstieg, wie die lange, schmale Spitze sich unter dem Druck des Sturmes und der menschlichen Last weit seitwärts bog, als müsse sie brechen. Da sang sie in den Lüften Lied um Lied! Der Hof lief zusammen, es war aber eine Unmöglichkeit, sie herunterzuholen, man mußte warten, bis sie freiwillig wieder zur Erde stieg. Die Frauen fielen vor Schrecken in Krämpfe, der Onkel wurde vor Furcht, daß sie plötzlich zerschmettert zu seinen Füßen liege, krank. Als er sich wieder erhob, [284] waren er und alle Angehörigen einig, daß Konstanze mit Irrsinnsanlagen behaftet sei, und man sprach davon, ihr eine Wärterin zu geben.

»Nur ich erhob dagegen Einwände. ›Woran Konstanze leidet, das ist einfach ihre ungesättigte und unterdrückte Einbildungskraft, der Hunger nach Welt. Laßt sie einmal ein Jahr reisen! Wenn ihr es nicht selber mit ihr tun wollt, sorgt ihr für einen passenden Anschluß. Hilft das nicht, so steckt sie in Gottesnamen in eine Musikschule, damit sie sich die Brust aussingen kann, und laßt sie zur Bühne gehn. Das Theater ist für die Familie so ehrenvoll wie das Irrenhaus!‹

»Der Mecklenhof bekreuzte sich vor meinem wohlgemeinten Rat. Konstanze aber merkte, daß ich sie mit andern Augen betrachtete als die übrigen. Sie lachte oft: ›Du bist der einzige gescheite Mensch auf dem Gut.‹ Sie wurde mir sehr zugetan, ohne daß eine Liebschaft zwischen uns entstand.

»Die Wärterin aber kam, ein kräftiges, willensstarkes Weib, mit dem Gesicht einer Schleiereule und der Neigung für Rheinwein, ein Geschöpf, das den entwickelten Schönheitssinn Konstanzes empfindlich verletzte.

»Was tat diese? – Sie legte sich ins Bett, das Gesicht gegen die Wand, stand Tage, Wochen nicht wieder auf, klagte, wenn man sie dazu zwingen wollte, über Schmerzen in den Gliedern, gab vor, daß sie nicht gehen und nicht stehen könne, und ihr Gesicht, namentlich auch ihre Hände wurden so blaß und kraftlos wie die einer wirklich Kranken. Ärzte kamen, ein Halbjahr verging, irgend etwas mußte geschehen. Der Onkel tat das [285] Törichteste, was er tun konnte, er steckte sie mit der Wärterin in eine Privatheilanstalt. Der Arzt des Unternehmens war für jeden Leidenden und jeden Tag mit einem Sonderbetrag bedacht, fand also seinen Vorteil dabei, wenn er die Kranken nicht gesund werden ließ, und dieses Schicksal drohte auch Konstanze. Sie merkte es, und als ich sie im letzten Sommer besuchte, bat sie mich auf den Knien, für ihre Befreiung zu sorgen. ›Oder dann laß mir wenigstens das Taschenmesser da, damit ich die Wärterin umbringe, die ich hasse wie den Tod!‹ Ich erkannte leicht, daß die Zeugnisse des Arztes, welche die geistigen Störungen Konstanzes beweisen sollten, haltlos waren. Als der Onkel gegen meine Vorstellungen taub blieb, beschloß ich ihre Entführung aus dem für sie unerträglichen Haus. Die Geschichte verlief sehr einfach und am hohen, hellen Nachmittag. Ich schmuggelte etliche Flaschen Rheinwein in ihr Zimmer, kneipte mit der Wärterin und warf ihr ein Pulver ins Glas. Eine halbe Stunde später duselte sie ein. Der Gärtner, den ich mit einer Banknote bestochen hatte, rückte eine Leiter, auf der er die Schlingrosen an der Hauswand säuberte, ans Fenster und ging mit seinen Gesellen wie sonst zu Bier und Rettich. Der Augenblick der Flucht war da. Nachdem Konstanze der schnarchenden Wärterin übermütig mit Kohle einen Schnurrbart ins Gesicht gezeichnet hatte, gewannen wir über die Leiter hinab das Freie, im Schutz überhängender Bäume das an einem Wasserlauf bereitgestellte Boot und überwanden das letzte Hindernis, den Staketenhag, der um das Gebiet der Anstalt lief. Kein Ruf, kein Hundegebell, nicht die [286] Spur einer Verfolgung! Wir erreichten ein Städtchen. Jeden Augenblick einer polizeilichen Einmischung gewärtig, erwarteten wir den Schnellzug, der uns nach München brachte.«

»Und Sie waren der Entführung fähig, Jaberg!« rief Nick in höchster Überraschung.

»Leider Gottes!« erwiderte er halb mit einem Lachen, halb mit einem Seufzer. »Die Strafe folgte der Tat auf dem Fuß. Ich fuhr aus Freude über die gelungene Flucht mit Konstanze in einer Wagenabteilung erster Klasse die lange Nacht mit ihr ungestört allein. Ich konnte vor Aufregung nicht schlafen. An meiner Schulter, an meiner Brust aber schlummerte, das aschblonde Haar halb gelöst, die Befreite, im Gesicht einen rührenden, seligen Ausdruck des Geborgenseins. Nach ein paar Stunden schlug sie die Augen auf. Eine verträumte, süße Zärtlichkeit lag darin, dann kam etwas Lechzendes in ihre Züge, ich spürte, wie ihre Lippen nach den meinen zuckten. Da geschah, was nicht hätte sein sollen. Wir verlobten uns – ein Unsinn! Die Wahrheit: sie trug die größere Schuld als ich! Und darum ist kein Mensch so gut imstande, zu verstehen, wie Ulrich Junghans gegen sein besseres Wissen und Wollen der ungarischen Tierbändigerin erlag.«

»Wie furchtbar!« flüsterte Nick vor sich hin.

»München!« fuhr Jaberg in seiner gelassenen Art fort. »Wir eilten von einem berühmten Arzt zum andern, um einer Wiedereinbringung der Geflüchteten in die Anstalt mit einer Menge prächtiger Gesundheitszeugnisse begegnen zu können. Wir blieben jedoch unbehelligt, [287] wohl weil die Leitung den größern Vorteil darin sah, unliebsames Aufsehen zu vermeiden. Auch mit dem Mecklenhof glättete sich die Angelegenheit. Schadenfroh schrieb mir der Onkel: ›Jetzt siehe du zu, wie du mit dem Kobold fertig wirst.‹ Jedenfalls hatte ich Recht, daß meine Braut in kein Krankenhaus gehörte. Sie war in München so gesund wie das Wild im grünen Klee, nahm auch gleich am Konservatorium ihre Musikstudien auf, und als sollten alle Vergnügungen der Stadt in einem Atemzug genossen sein, schleppte sie mich von Kunstsammlung zu Kunstsammlung, von Theater zu Theater, von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Schwabing bis nach Nymphenburg und Bogenhausen hinaus. Doch was sie an Musik und anderer Unterhaltung spielend ertrug, war für mich ein Übermaß.

»So kam's, daß mich ein Nervenstoß über den Haufen warf. Wie ein Fallsüchtiger lag ich in einer Art Starre Tage, Wochen unter unsäglichen Schmerzen. Den Morgen, den Abend, die Nacht bereute ich das Abenteuer der Verlobung. Konstanze sah selber halb ein, daß meine Kräfte nicht ausreichten, um mit ihr nach ihrem Stil zu leben, und erlaubte mir in einem Anfall von Großmut, mich von ihr zu trennen und meine Studien in Zürich weiterzuführen. – Aber jetzt?«

Verdüstert schwieg Jaberg. Nick sprach auch nicht. Jedes mit seinen Gedanken beschäftigt, schritten sie den schmalen Waldweg, über dem sich Tannen und Buchen wie eine Laube wölbten.

Da griff er wieder zum Wort: »Meine Lebenskraft und die meines künftigen Weibes stehen in keinem Verhältnis [288] zueinander. Wo fehlt es mir? Ich bin nicht krank, mein Leiden besteht einzig darin, daß ich der Sprosse eines alten, ausgeschöpften Geschlechts bin, dessen Haudegenzeit leider längst vergangen ist. Statt Ackerbau, Jagd, Krieg trieben die Jaberg der letzten Jahrhunderte Diplomatie, Kunst und Wissenschaft, heirateten statt kräftiger Bäuerinnen oder Zigeunerinnen verfeinerte Weiber, – und ich bin das bedauernswerte Endergebnis dieser Zucht.«

»Aber Jaberg,« unterbrach Nick seine Selbstverhöhnung mit tadelndem Ton. »Sie übertreiben!«

»Nicht im mindesten,« erwiderte er ruhig. »Ich kenne mich selbst. Ein Fehler war auch, daß ich mich dem ärztlichen Studium zugewendet habe. Um mir selber helfen zu können, tat ich es, habe aber damit nur das Gegenteil erreicht, eine quälerische Selbstbeobachtung. Und bei wie vielem kann ich nicht mittun, was sonst ein Studentenherz erfreut! Zeche ich einmal wie die andern, so leide ich darunter eine Woche. Überhaupt, ich bin nicht so jung, wie ich sein sollte. Meine Stimme raschelt wie der Herbstwind im Wald, mein Kopf ist ein Stoppelfeld: etliche Jahre noch, und ich kann mich mit meiner Tonsur als Mönch einkleiden lassen.«

»Aber denken Sie an unsere schönen Bergwanderungen,« mahnte Nick. »Wie waren Sie da stets frisch!«

»Ja, die Natur!« versetzte er aufatmend. »Bei ihr Lebenszuflucht zu suchen, war seit Jahren mein Traum. Den Doktor wollte ich mir erringen, aber dann auf einem kleinen Gute Landwirt werden. Nun hat mir aber die Verlobung mit Konstanze diesen einzig vernünftigen [289] Weg abgeschnitten. Nie wird sie Bäuerin. Ihre Welt ist der Konzertsaal, das Theater, die Gesellschaft – Orte, vor denen mir graut. Und der Schrecken von Mecklenhof ist selbstverständlich immer noch kein Vorbild der Weibessanftmut, sondern der leibhaftige Eigensinn. Bis zu Tränen wird sie zornig, wenn ich bei ihren Zerstreuungen nicht mittun kann. Folge ich ihrem leidenschaftlichen Ruf nach Wiedervereinigung, – was geschieht? Bald wird man mich als kranken Mann in eine Heilanstalt bringen müssen.«

Auf allerlei Wegen waren sie durch die Jung- und Hochwälder des Zürichbergs gegangen und ruhten nun beim Forsthaus auf waldumschlossener Wiese. In breiten Wellen lagen Tal und Hügel der östlichen und nördlichen Landschaften vor ihnen bis hinaus zur altersgrauen Kyburg, stilles Bauernland mit stillen Dörfern. Im nahen Tann piepten die Meisen, aus dem Buchenwald herüber pochte der Specht.

Nick blieb still. Das Bekenntnis ihres Freundes hatte sie erschüttert, zugleich war in ihr etwas Unglückliches erwacht, ein heißer Verdruß. In Jaberg hatte sie stets den Mann gesehen, an dessen Charakter kein Stäubchen klebte. Nun war er nach seiner eigenen Beichte einem Weib erlegen, das für ihn nur ein Lebensunglück werden konnte. Irgendein Frauenmund winkte, – herein fielen die Männer und zerbrachen sich das künftige Leben. Und was waren das für Weiber draußen in der Welt, die den ersten günstigen Zufall benutzten, um die Männer an sich zu reißen?

Den Waldsteig herauf kam ein Wanderer, der sang:

[290]

»Und ist es nicht das Röselein,
So ist es doch das Nägelein.
Was sagst du, Herz, dazu? –«

Überall das Gleiche! Wenn es die eine nicht war, war es die andere, wenn nicht die Lilie so die Schattenblume. Wie abgründig hatte Gott die Menschen erschaffen, Mann wie Weib!

Ein artiges Wirtsmädchen kam, Jaberg bestellte sich Weißwein, Brot und Speck und für Nick Kaffee mit Kuchen. Nun war es doch ein freundliches Ruhen in der Abendsonne und unter den grünen Bäumen, die ihre Schatten schräg und lang über die Wiese warfen. Die Stimmung Nicks wurde auch wieder besser.

Da spürte sie, wie die Augen Jabergs in geheimer Zärtlichkeit auf ihr ruhten. Das Blut stieg ihr in die Wangen, und unruhig flüsterte sie: »Wir werden gehen müssen.« Sie kam nicht mehr auf seine Beichte zurück. Was hätte sie dazu sagen können? Und er selber hatte auch keine Lust, noch weiter von Konstanze zu sprechen.

Wie still war der Abend im Forst! Nur eine Wildtaube hörte man gurren. Auf dem schmalen Fußwege ging er hinter Nick. Er pflückte einen Halm und ließ ihr die Spitze an die Wange streichen. Wie wenn sie eine Fliege davonjagen wollte, fuhr sie mit der Hand über das Gesicht, erst beim dritten Male merkte sie den Scherz. Sie wandte sich um und lachte: »Mir scheint, Ihnen ist leichter geworden.«

»Wenn man mit Ihnen geht!« gab er ebenso lachend zurück. Dann wurde es wieder still zwischen ihnen. Als sie die Höhe erreichten, tanzten doch noch goldene [291] Sonnenfunken im Wald. Nach einer Weile sagte er mit leiser Verdrießlichkeit: »Jetzt kommt schon wieder die Stadt.« Sie pflückte Blumen, um damit den Abendtisch zu schmücken.

Da legte er seine Hand in die ihre. Mit einem ängstlichen Blick ließ sie ihn gewähren, sie wußte nicht, was werden sollte. »Was haben Sie für eine kühle Hand!« flüsterte er. »Nick, den ganzen Weg habe ich geträumt, wie schön es wäre, wenn Sie meine Frau würden! Ich habe Sie ja schon als Junge geliebt, und jetzt, als ich Sie nach Jahren wiedersah –« Sie stand bis ins Herz verlegen vor ihm, fand sich aber sofort: »Geträumt – es ist gut, daß Sie selber so sprechen. Noch besser wäre es, Sie erzählten mir Ihre Träume nicht. Die müssen ja doch Träume bleiben, – deutlich genug haben Sie selbst mir das heute erklärt.« Leise entzog sie ihm die Hand.

Da nahm er sie wieder und drückte einen Kuß darauf. »Verzeihen Sie mir, Nick,« bat er zerknirscht, hatte aber im nächsten Augenblick schon wieder das liebe Jungengesicht, dem niemand zu zürnen vermochte. »Ich weiß wohl, daß es ein Märchen ist. Es geht mir nicht so gut wie dem armen Heinrich, dem Rittersmann, der am Aussatz gestorben wäre, hätte sich nicht eine reine Jungfrau bereit erklärt, ihr Blut für ihn dahinzugeben. Aber ich darf doch das Märchen träumen, ich sei der Aussätzige und Sie das Mädchen, das wie durch ein Wunder mein eigen wird und mir mit ihren linden Händen über die Stirne und Lider streicht, bis sich die erregten Nerven wie Hunde niederlegen müssen. Sie haben ein so schönes Talent, zu beruhigen!«

[292]

»Und Konstanze von Lipönen?« erwiderte sie bitter.

Nun stand er wieder auf dem Boden der Wirklichkeit. Mit düsterm Ernst entgegnete er: »Nick, Sie sind grausam.«

Unterdessen waren sie aus dem Walde getreten. In Goldrauch lagen zu ihren Füßen Stadt und See, die Wasser belebt von Booten und Segeln. Nick liebte sonst das Bild, aber jetzt beachtete sie es kaum. In ihrer Seele wogte nur das Empfinden, daß zwischen Jaberg und ihr etwas anders geworden sei, daß er in ihr das Weib sehe, sie in ihm den Mann, und daß ihr auf den Ton der Geschwisterlichkeit abgestimmter Verkehr in dieser Form nicht mehr aufrechterhalten werden könne. Die Wendung tat ihr leid. Es war ja nicht denkbar, daß sich daraus etwas Ersprießliches gestalte, sondern wahrscheinlich, daß darüber die feine Freundschaft in die Brüche ging.

Nur einmal kam Jaberg auf das Gespräch ihres Spazierganges zurück. Er teilte ihr erleichtert mit, seine Braut habe sich beruhigen lassen und eine gleich ihr künstlerisch begabte Freundin verschönere ihr jetzt den Münchener Aufenthalt. Auch waren die großen Ferien da, die er im Norden verbringen wollte. Sein Abschied war ein herzliches: »Auf Wiedersehen, liebe Nick!« –

Nun spann sie ihrerseits das Märchen der Liebe. Der Gedanke, daß eine ererbte Schwäche an Jabergs Wesen hafte, beschwerte sie nicht, es kam sogar ihrer innersten Anlage entgegen, daß er der weiblichen Fürsorge bedurfte, und in ihrer Seele lag eine große Klarheit, daß keine wie sie es verstehen würde, ihm das Leben ruhig [293] und wonnig zu machen. Plötzlich aber zerriß sie die Goldfäden der Träumerei. Was wollte sie neben Konstanze, die auf Jabergs Treue Anspruch erhob und zu diesem Anspruch berechtigt war?

Ohne daß er ihr ein Versprechen gegeben, schrieb Jaberg ihr ein paarmal von Mecklenhof, später von der Insel Borkum. An seinen Briefen durfte sie sich freuen, treues Gedenken atmete daraus, Naturlust und feiner Humor. Gegen Ende der Ferien blieb lange ein Brief von ihm aus, dann kam er selber mit dem leise aufjauchzenden Gruß: »Gottlob, da bin ich wieder bei Ihnen, Nick!« Als sie ihrer Freude Ausdruck gab, ihn so frisch und munter zu sehen. entgegnete er: »Vor vierzehn Tagen war es nicht so. Konstanze kam auf die Insel, und ihre Ansprüche an meine Gesellschaft warfen mich wieder auf den Schragen. Nur der glücklichen Vorempfindung, Sie wiederzusehen, verdanke ich es, daß ich so rasch hochgekommen bin!«

Lange war es wieder still zwischen ihnen, und es hätte scharfer Augen bedurft, um das besondere Einverständnis, das sie verband, aus dem täglichen Verkehr herauszumerken. Das Pensionsleben ging seinen Lauf. Nick erfüllte ihre Pflichten in Frohsinn. Es war so schön unter den vielen jungen Leuten, die sich ihre Ferienerlebnisse erzählten und, als sie damit zu Ende gekommen waren, Winterpläne entwarfen. Auch stand vom Herbst an eine vorzügliche Schauspieltruppe in der Stadt, die Theaterlust beherrschte die Pension, manche Eintrittskarte wurde Nick zuteil, und ein besonderer Genuß war ihr stets der Heimweg im sachte [294] herabgleitenden Schnee. Die jungen Freunde besorgten und beschützten sie, und die Weihen einer Jungfrau von Orleans, einer Emilie Galotti oder einer Desdemona gingen ihr durch die Seele.

So kam der erste Hausball. Da schlug mitten in die fast ausgelassene Heiterkeit der Jugend ein jäher Blitz.

Schon war die Mitternacht vorüber, als Jaberg hinausgerufen wurde, da ein Herr ihn sofort zu sprechen wünsche, und nach einer Viertelstunde ängstlichen Harrens wurde auch Nick in das Zimmer gebeten, in dem sich Jaberg mit dem Fremden besprach. Da erfuhr sie, daß dieser, ein mit Jaberg befreundeter Arzt aus München, soeben eiligst von dort gekommen war, um ihn so schnell wie möglich zu seiner Braut zurückzuholen. Konstanze habe aus seinen Briefen herausgefühlt, daß er ihr mehr und mehr entgleite, gestern sei ihr das plötzlich zu einer unumstößlichen Gewißheit geworden, und in ihrer ungestümen Art sei sie auf den Bahnhof gelaufen, um sogleich zu ihm nach Zürich zu fahren; da aber in den nächsten Stunden kein Zug in die Schweiz fällig gewesen, sei sie nicht etwa im Warten zu ruhiger Besinnung gekommen, sondern immer aufgeregter geworden, bis sie sich auf einmal einer rasch hereinfahrenden Lokomotive entgegengestürzt habe – zweifellos in der Absicht, den Tod unter ihren Rädern zu suchen. Durch die Geistesgegenwart eines beherzten älteren Herrn an diesem schrecklichen Vorhaben gehindert, sei sie ohnmächtig zusammengebrochen und liege nun im Spital, wo sie in heftigen Fiebern jammernd nach ihrem Bräutigam verlange. Das einzige, was sie [295] retten könne, so schloß der Arzt, sei Jabergs sofortiges Kommen.

Ernst und bleich sah dieser bald versunken vor sich hin, bald schmerzerfüllt und flehend in die Augen Nicks, als ob er von ihr Rat und Rettung erwarte.

Da erhob sich diese und ergriff mit festem Druck seine Hand. »Leben Sie wohl,« sagte sie leise, aber entschieden. »Es gibt keinen anderen Weg für Sie. Helfen Sie der Armen!«

Mit diesen Worten verließ sie ihn und begab sich auf ihr Zimmer. Noch klang die fröhliche Tanzmusik durch das Haus, doch fand Frau Bretscher den Augenblick, ihr zu folgen. In höchstem Erstaunen teilte sie ihr mit, daß Jaberg soeben mit dem Fremden aus dem Hause gegangen sei und ihr durch das Mädchen einen verschlossenen, hastig geschriebenen Zettel habe überreichen lassen. »Liebe Frau Professor!« stand darauf. »Ich muß fort, für immer. Nick wird Ihnen alles erklären. Der Festigkeit dieses herrlichen Mädchens verdanke ich, daß ich die meine wiedergefunden habe. Leben Sie wohl, verehrte Frau! Wegen meiner Sachen schreibe ich Ihnen aus München. Allezeit Ihr dankbarer Gerold von Jaberg.«

In wenigen Sätzen gab Nick der herzlich teilnehmenden Frau die nötigste Auskunft und bat sie, Näheres auf den kommenden Tag zu verschieben; jetzt aber möge sie zu den Gästen zurückkehren und Jabergs plötzliche Abreise mit einer Familienangelegenheit begründen, ihr eigenes Fernbleiben mit Kopfschmerz entschuldigen.

Allein geblieben, schritt Nick noch lange in ihrem [296] Zimmer auf und ab, in das nur noch kurze Zeit das Geräusch des Balles heraufdrang: die Gäste mochten doch das Gefühl haben, daß der Zwischenfall ein für den allgemein beliebten Jaberg unerfreulicher gewesen sei, und beendigten das Fest früher, als Nick erwartet hatte.

Sie fragte sich immer wieder, ob es denn wahr sei, was in dem Briefchen Jabergs gestanden hatte: daß ihre Festigkeit ihm die seine wiedergegeben habe. Und in ihrem Nachsinnen darüber wurde ihr klar, was für eine Bedeutung ihre Freundschaft mit Jaberg für sie haben sollte. In aufdämmernder Selbsterkenntnis hatte sie einst in der Unsicherheit ihrer Gefühle einen verhängnisvollen Fehler ihres Charakters gesehen – jetzt war sie darüber hinausgewachsen in der strengen Schule des Lebens, jetzt hatte sie diese Unsicherheit überwunden und sah ihren Weg klar vor sich.

Und in einem heiteren Morgentraume ging sie Hand in Hand mit Ulrich Junghans durch die Gefilde ihrer Kindheit.


[297]

24

In eingehendem Gespräche setzte Nick am nächsten Tage der Frau Professor auseinander, was für Beziehungen zwischen ihr und Jaberg bestanden hatten. Im tiefsten Grunde ihrer Seele sei sie dem Schicksal dankbar, daß es dem Schwanken ihrer Gefühle ein Ende gemacht und sie zur Klarheit geführt habe. Zum ersten Male sprach sie mit der verständnisvollen Frau auch über Ulrich Junghans und machte kein Hehl daraus, daß es vor allem das uneheliche Kind des Jugendfreundes sei, das ihr den Weg zu ihm zurück verschließe.

Da glitt ein feines Lächeln über die ernsten Züge der Frau Bretscher, und mit ihrer sanften Stimme, die Nick schon oft wohlgetan hatte, sagte sie ruhig: »Ich verstehe das gut, liebe Monika, und an Ihrer Stelle würde ich wahrscheinlich ebenso fühlen. Ich weiß auch nicht, ob ich an Ihrem Platze klug und großherzig genug sein würde, um den Vorstellungen einer lebenserfahreneren Freundin Raum zu geben. Es handelt sich aber in dieser Angelegenheit doch um Vorurteile, über die ein edler Mensch sich hinwegsetzen kann und muß. Glauben Sie nicht, daß ich irgendeiner Zügellosigkeit das Wort reden will, – Sie kennen mich ja gut genug, um mich hierin nicht mißzuverstehen. Ich meine aber, daß es nichts Schöneres gibt für ein Menschenherz, [298] als einem Verirrten auf den rechten Weg zurückzuhelfen, den er so gern wieder einschlagen möchte – und den er einschlagen würde, wenn ihn die Scham über seine Verirrung nicht hinderte. Dafür aber, daß er eine hilfreiche Hand verdient, gibt es doch wohl keinen besseren Beweis als eben diese Scham. – Und weiter,« fuhr sie nach einer Pause fort, in der sie die sinnende Miene Nicks mit stiller Freude beobachtete, »weiter, liebe Monika: Soll denn das Büblein, das aus dieser wilden Ehe geboren ist, lebenslänglich die Schuld seiner Eltern büßen, an der es doch so ganz unschuldig ist? Liegt nicht auch da für ein edles Frauenherz eine schöne, eine wunderschöne Aufgabe?«

Mit diesen Worten erhob sich die Frau Professor und reichte der immer noch versunken Dasitzenden beide Hände. Nick ergriff sie, herzliche Dankbarkeit in den großen dunklen Augen, und stand gleichfalls auf. »Hätte ich Sie doch schon früher kennen gelernt, Frau Professor,« sagte sie einfach. »Da wäre mir wahrscheinlich mancher Irrtum und mancher Irrweg erspart geblieben. Aber wer weiß, wozu auch die gut gewesen sind – für mich wie für Ulrich.«

»Sicherlich waren sie das,« bestätigte Frau Bretscher. »Nun aber sagen Sie mir: was wollen Sie tun, um den Faden wieder aufzunehmen, der zwischen Ihnen und dem Jugendfreunde zerriß?«

»Darüber will ich mit seiner Schwester beraten,« gab Nick ohne Zaudern zurück.

In der Tat ging sie noch an diesem Tage zu Marie Keller, die ein Töchterchen in den Armen wiegte. [299] Sie bewunderte das halbjährige, wohlgedeihliche Kind, wie es das Mutterherz erfreute, bei einer günstigen Wendung des Gespräches aber führte sie jenen Namen, der so lange unausgesprochen zwischen ihnen geblieben war, endlich wieder einmal über die Lippen.

Die kräftige Marie sank mit ihrem Kinde in einen Stuhl zurück. Mit wenigen Worten, deren Kälte Nick ins Herz schnitt, tat sie den Bruder ab. »Die Eltern vergrämen sich in Sorge um ihn, nach all den übeln Gerüchten haben sie selber von ihm nichts mehr gehört, und alle Versuche, von seinem Aufenthalt etwas zu erfahren, sind vergeblich geblieben. Wir müssen fast wünschen, daß er irgendwo ein nicht allzu böses Ende gefunden habe. Wenn die Eltern nur diese traurige Gewißheit hätten!«

Nun wurde Nick die Anwaltin Ulrichs, und sogleich merkte Marie, daß die Freundin mehr um den verschollenen Bruder wußte als die eigene Familie. »So sprich doch – um Gottes willen erzähle! – Was weißt du durch Jaberg von ihm?«

Nick hielt nicht hinter dem Berge und gestand der überraschten Frau Keller alles und jedes, was sie von Ulrich wußte.

»Ein Kind – ein uneheliches Kind – von der wilden Frau!« schrie Marie auf, daß selbst die Kleine auf ihrem Arm unruhig wurde und zu weinen begann. »Nun verstehen wir! – Nein, so kann er freilich nicht heimkommen, der Taugenichts! – Das ist eine Schande für die Familie!«

»Wenn ich aber Ulrich für mich heimrufe,« trotzte [300] Nick, »wenn ich seinem Jungen Mutter werden will?«

»Nie – nie darfst du das tun!« empörte sich Marie, die über die Enthüllungen Nicks an Leib und Seele zitterte.

Es war ein Glück, daß in diesem Augenblick Lehrer Keller, der aus der Nachmittagsschule kam, zu den beiden aufgeregten Jugendfreundinnen trat. Sein Erscheinen beruhigte die fassungslos gewordene Marie. Zwar auch er war mächtig überrascht, daß durch Nick plötzlich hellscharfes Licht in das Dunkel fiel, das bisher das Schicksal seines ihm unbekannten Schwagers Ulrich umgeben hatte, aber er nahm die Tatsachen leichter als seine bebende Frau. Er bat sich die Freiheit aus, Nick bis zu ihrer Pension zurückbegleiten zu dürfen. Sie wählten dafür einen weiten Umweg und besprachen den Lebensgang Ulrichs noch einmal eingehend. Beim Abschied sagte er in seiner trockenen Art: »Ja, liebe Nick, ich glaube doch, daß Sie den geplanten Brief schreiben dürfen. Schon schwierigere Dinge sind in der Welt ins Blei gebracht worden. Mag die Familie Junghans sich jetzt entsetzen vor Scham, – wenn Uli und sein Kind einmal dastehen, so siegt ja doch die Stimme der Natur und des Blutes. Bei meiner Marie werde ich zuerst dafür besorgt sein!«

Unter der Adresse, die ihr aus Jabergs Erzählung fest in Erinnerung geblieben war, schrieb nun Nick an Ulrich Junghans in Debreczin den Brief, wie sie sich ihn zurechtgelegt hatte. Ohne Angabe, woher sie seinen Wohnsitz kenne, legte sie ihm einfach die Pflicht nahe, seinen um ihn tiefbesorgten Eltern ein Lebenszeichen [301] zu geben. »Am besten aber würde es sein, wenn Sie sich zu einer Reise in die Heimat entschließen könnten.«

Ein einfaches »Auf Wiedersehen!« vor ihrer Namensunterschrift war das einzige, woraus Ulrich erkennen mochte, daß auch ihrerseits ein herzliches Willkommen seiner warte. Es schien ihr deutlich genug.

Eine Woche hatte sie nun Zeit, sich das Gesicht Ulrichs auszumalen, wenn ihn ihr Brief überraschte, wenn sich der aus freiem Entschluß Verschollene von der Heimat entdeckt sah. War es ihm ein Schrecken oder eine Freude? Vielleicht beides zusammen.

Da sprach unerwartet Marie für einen Augenblick in der Pension Bretscher vor. »Liebe Nick,« sagte sie etwas beschämt. »Ich muß dir nun doch für den Brief an Uli danken. Er hat den Eltern in Eglisau geschrieben. Bei ihnen herrscht unbeschreibliches Glück darüber, daß er Direktor einer großen mechanischen Werkstätte ist und daß er sie bald einmal zu besuchen gedenkt. Davon, daß du ihm einen Stoß gegeben hast, steht in seinem Brief kein Wort, die Eltern sind also überzeugt, sein Schreiben und seine Heimkehr kommen aus freiem Entschluß, und freuen sich darüber um so mehr. Mein Mann und ich stören sie in dem Glauben nicht. Und auch, was den Jungen betrifft, mischen wir uns nicht ein. Uli soll das selber mit Vater und Mutter ausmachen. Mein Mann hat mir über meine Ansichten in diesen Dingen den Kopf so gründlich gewaschen, daß ich jetzt lieber den Mund halte. Neugierig bin ich bloß, ob Uli den Jungen mit in die Heimat bringt.«

[302]

Marie verließ Nick mit freudestrahlenden Augen, und diese selber trug ein Glück im Herzen, daß sie oft an sich halten mußte, um nicht das Haus mit ihren Liedern zu erfüllen. Manchmal klopfte ihr aber auch das Herz heftig, dann, wenn sie sich ein Bild zu machen suchte, wie sich wohl das Wiedersehen zwischen ihr und Ulrich gestalte. Warum schrieb er ihr nicht im voraus eine Zeile? –

So waren wieder vierzehn Tage vergangen. Da kam Maries Mädchen als Botin und überbrachte ein Briefchen: »Liebe Nick! Neuigkeiten von Uli. Komm vorbei. Ich möchte Dir etwas zeigen. Gelt, Du kommst, so geschwind es Dir möglich ist? Marie.«

Nick legte die Bitte der Frau Bretscher vor. »Selbstverständlich. Sie gehen sofort zu Ihrer Freundin,« entschied diese nach kurzem Besinnen. »Ich verstehe Sie und folge Ihrer Freude teilnehmend, doch auch in der Vorahnung, daß wir Sie, liebe Monika, bald verlieren werden. Aber jetzt Glück auf den Weg!«

Als Nick in die Lehrerwohnung trat, hielt ihr Marie ein Bild hin. »Schau einmal!« sagte sie mit schelmischem Blick und beobachtete die Freundin mit verhaltener Neugier. Auf dem Bilde war ein Kind zu sehen, mit edel geschnittenen Zügen und tief dunkeln Augen, ein Kind, dessen Geschlecht aus der Kleidung noch nicht zu erkennen war, das aber wohl ein Knabe sein mußte, da es mit kräftigem Händchen einem stattlichen Schaukelpferd in die Mähne griff.

Nur ein Herzschlag: – »Der kleine Uli!« rief Nick. »Der kleine Uli! Wie herzig!«

[303]

Sie hatte es aber kaum gesagt, als die Tür des Nebenzimmers aufgerissen wurde. Ein großer, bärtiger, gebräunter Mann stürmte herein. Froh, frisch, gesund, mit blanken Augen und ausgebreiteten Armen eilte er auf sie zu: »Nick – Nick!«

Ihm antwortete ihr jauchzender Ruf: »Ja, Ulrich, da bin ich!« Und sie sank an seine Brust.

Marie aber hatte das Zimmer heimlich verlassen. Die beiden sollten allein sein in der Stunde ihres endlichen Sichwiederfindens.

[304]

Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart


[305]

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[306]

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Schwarz, Rudolf, Der Elends-Esel und andere sonderliche Geschichten. 1.–3. Taus. 30.–
Seidel, Heinrich, Reinhard Flemmings Abenteuer zu Wasser und zu Lande. Gesamt-Ausgabe. 1.–10. Taus. 72.–
Seidel, Heinrich, Leberecht Hühnchen. Gesamt-Ausgabe. 132.–149. Taus. M. 65.–, das 150. Taus. in Leinenband 90.–
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Seidel, Heinrich, Vorstadtgeschichten. Gesamt-Ausgabe. 2. Reihe. 5.–9. Taus. [310] 45.–
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Heimatgeschichten. Gesamt-Ausgabe. 2. Reihe. 4.–8. Taus. 45.–
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Liebestrank. Roman. 32.–41. Taus. 36.–
Montblanc. Roman. 16.–22. Taus. 70.–
Du Schwert an meiner Linken. Ein Roman aus der deutschen Armee. 54.–58. Taus. 46.–
Stark wie die Mark. Roman. 36.–40. Taus. 38.–
Der weiße Tod. Roman. 41.–50. Taus. 70.–
Die letzte Wahl. Roman. 7. u. 8. Taus. 36.–
Sudermann, Hermann, Es war. Roman. 86.–93. Taus. 135.–
Geschwister. Zwei Novellen. 41.–45. Taus. 42.–
Jolanthes Hochzeit. Erzählung. 37.–41. Taus. 22.–
Der Katzensteg. Roman. 151.–165. Taus. 48.–
Das Hohe Lied. Roman. 88.–95. Taus. 150.–
Die indische Lilie. Sieben Novellen. 29.–33. Taus. 34.–
Litauische Geschichten. 61.–70. Taus. 95.–
Frau Sorge. Roman. Mit Jugendbildnis. 231.–250. Taus. 80.–
Im Zwielicht. Zwanglose Geschichten. 42.–46. Taus. 22.–
Trojan, Johannes, Das Wustrower Königsschießen und andere Humoresken. 4. u. 5. Taus. 6.–
Vockeradt, Emma, Wanderer im Dunkeln. Roman. 30.–
Vogt, Martha, An schwarzen Wassern. Zwei Novellen. 25.–
Voß, Richard, Alpentragödie. Roman. 18.–23. Taus. 84.–
Aus meinem Reisebuch. Skizzen u. Stimmungen. 6.–8. Taus. 40.–
Du mein Italien! Aus meinem römischen Leben. 4.–6. Taus. 40.–
Richards Junge (Der Schönheitssucher). Roman. 7.–11. Taus. 110.–
Wagner, H. G., Der Aufrechte. Ein Buch von gestern, heut und morgen. 1.-3. Taus. [311] 45.–
Holger Korreland. Die Komödie eines Überflüssigen. 1.–3. Taus. 52.–
Am Tore der Zukunft. Novellen und Skizzen. 1.–3. Taus. 45.–
Wilbrandt, Adolf, Adams Söhne. Roman. 3. Taus. 19.–
Adonis und andere Geschichten. 3. Taus. 30.–
Meister Amor. Roman. 3. Taus. 30.–
Das lebende Bild und andere Geschichten. 3. Taus. 30.–
Dämonen und andere Geschichten. 3. u. 4. Taus. 30.–
Der Dornenweg. Roman. 5. Taus. 18.50
Erika – Das Kind. Erzählungen. 3. Taus. 18.–
Fesseln. Roman. 3. Taus. 17.50
Franz. Roman. 3. Taus. 18.–
Die glückliche Frau. Roman. 4. Taus. 17.50
Fridolins heimliche Ehe. 4. Taus. 17.–
Schleichendes Gift. Roman. 3. Taus. 17.50
Hermann Ifinger. Roman. 8.–10. Taus. 30.–
Irma. Roman. 3. Taus. 17.50
Hildegard Mahlmann. Roman. 4. Taus. 18.–
Ein Mecklenburger. Roman. 3. Taus. 17.50
Opus 23 und andere Geschichten. 2. Taus. 17.50
Die Osterinsel. Roman. 6. Taus. 18.50
Vater Robinson. Roman. 3. Taus. 17.50
Familie Roland. Roman. 3. Taus. 30.–
Die Rothenburger. Roman. 12.–14. Taus. 30.–
Der Sänger. Roman. 4. Taus. 24.–
Die Schwestern. Roman. 2. u. 3. Taus. 17.50
Sommerfäden. Roman. 2. u. 3. Taus. 17.50
Am Strom der Zeit. Roman. 2. u. 3 Taus. 30.–
Die Tochter. Roman. 2. u. 3. Taus. 30.–
Vater und Sohn und andere Geschichten. 2. Taus. 17.50
Villa Maria. Roman. 3. Taus. 17.50
Große Zeiten und andere Geschichten. 3. Taus. 30.–
Wildenbruch, E. v., Schwester-Seele. Roman. 27.–31. Taus. 60.–
Wohlbrück, Olga, Die neue Rasse. Roman. 11.–15. Taus. 60.–
Wolff, Johanna, Schwiegermütter. Kleine Geschichten. 4. u. 5. Taus. 25.–
Worms, C., Aus roter Dämmerung. Baltische Skizzen. 2. Taus. 45.–
Demetrius. Roman. 1.–3. Taus. 45.–
Schloß Mitau. Bilder aus Kurlands Vergangenheit. 4.–6. Ts. 90.–
Die Stillen im Lande. Drei Erzählungen. 2. Taus. 45.–
Thoms friert. Roman. 3. u. 4. Taus. 55.–
Überschwemmung. Eine baltische Geschichte. 2. Taus. 45.–

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