Title : Hüben und Drüben; Zweiter Band (2/3)
Author : Friedrich Gerstäcker
Release date : March 7, 2019 [eBook #59029]
Language : German
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Anmerkungen zur Transkription
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Neue gesammelte Erzählungen
von
Friedrich Gerstäcker.
Zweiter Band.
Leipzig,
Arnoldische Buchhandlung.
1868.
Leipzig,
Druck von Giesecke & Devrient.
Seite | ||
1. | Der verheirathete Doktor | 1 |
2. | Ruine Wildenfels | 70 |
3. | Herr Müller | 220 |
4. | Ein freundlicher Empfang | 311 |
Schon im Jahre 39 war Pittsburg, im Staat Pennsylvanien, eine größere Stadt, die sich besonders durch ihre Fabriken, Eisenwerke, wie überhaupt eine außerordentliche Gewerbsthätigkeit auszeichnete, und in der That seitdem so an Einwohnerzahl und Reichthum gewonnen hat, daß sie jetzt zu den Hauptplätzen der Union gerechnet werden darf.
Von allem Anfang an hatten sich eine Menge Deutsche dorthin gezogen, wie denn ja auch ganz Pennsylvanien vorzugsweise von unseren Landsleuten bevölkert ist. Haben sie sich doch sogar in ihrem Uebergang zur englischen Redeweise eine ganz eigene und merkwürdige Sprache gebildet: das sogenannte Pennsylvanisch-Deutsch, das sie freilich nur unter einander reden können, denn Amerikanern, wie der englischen Sprache nicht mächtigen Deutschen bleibt sie gleich unverständlich.
Ursprünglich ließ sich auch in diesem Staat eine große Zahl jener armen Teufel nieder, die im Befreiungskrieg der Union von deutschen Fürsten an die Engländer verkauft wurden, aber in der Mehrzahl viel zu klug waren, irgend welchen Heldenmuth gegen das für seine Unabhängkeit kämpfende Volk zu entwickeln. Sie desertirten oder ließen sich gefangen nehmen, wonach sie dann mit Vergnügen das Versprechen abgaben: in diesem Kriege nicht mehr gegen die Amerikaner zu dienen, und bald im Walde drin ihre kleine, freundliche Heimath gründeten. Abkömmlinge von ihnen findet man noch überall, besonders in Pennsylvanien, und sie sind sogar stolz darauf zu erzählen, daß ihre Vorväter zu den Freiheitskämpfern übergingen.
So leicht nun auch die Deutschen in den vereinigten Staaten die englische Sprache erlernen und mit den Amerikanern selber auf freundschaftlichem Fuße leben, so finden sie es doch — mit wenigen Ausnahmen — stets gemüthlicher, für ihre Geselligkeit die eigene Landsmannschaft aufzusuchen, und besonders ihre Abende unter Deutschen zuzubringen.
Das amerikanische und deutsche Leben läßt sich in der That nicht gut vereinigen, denn Beider Neigungen liegen zu weit aus einander, und schon die ent [S. 3] sprechenden Wirthshäuser kennzeichnen Beide auf das Entschiedenste.
Der Amerikaner ist rastlos in seinen Genüssen wie in seinem Geschäft, und kennt in beiden keine Ruhe. Er arbeitet rasch, aber ebenso ißt er auch, und verschlingt Mittags die Speisen weit eher, als daß er sie ordentlich verzehrt. Eben so wenig hält er sich beim Trinken auf, und so oft er auch über Tag einen Schenkstand besuchen mag, er setzt sich nie dazu , läßt sich sein Glas einschenken, stürzt es hinab und geht weiter.
Das verträgt der Deutsche nicht, weder daheim noch in Amerika, denn er will seinen Stuhl und seinen Tisch haben, um, was er genießt, auch in aller Ruhe und Gemüthlichkeit zu verzehren, und sich dabei gehörig auszusprechen. Sehr natürlich fühlt er sich — mit diesen Neigungen — in amerikanischen Wirthshäusern, in denen er auch meistens sein gewohntes Bier vermißt, nie recht wohl, und nur die ächt amerikanisirten Deutschen (beiläufig gesagt der widerlichste Menschenschlag von Renegaten, der sich auf der Welt nur denken läßt) affektiren die amerikanische Sitte und halten es für unter ihrer Würde, sich in ein deutsches Bierhaus zu setzen, in dem sie sich doch sonst wohl genug fühlten.
In Pittsburg gab es nun schon damals verschiedene derartige deutsche Lokale; den besten Ruf hatte aber jedenfalls der „Lindenbaum“, und verdiente ihn auch, obgleich er von keinem Wirth , sondern nur von einer Wirthin gehalten wurde.
Die „Wittwe Reuter “ war nämlich eine Frau noch in ihren besten Jahren, und verstand vollkommen einer solchen Wirthschaft vorzustehen. Vor einem halben Jahrzehnt nach Amerika, eben verheirathet, ausgewandert, hatte sie ihren Mann, wie sie kaum den Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt, an einem hitzigen Fieber verloren. Sie war damals erst 22 Jahre alt, aber von festem, entschlossenem Charakter, und außerdem nicht gewohnt, die Hände in den Schooß zu legen. Sie verzagte auch deßhalb in dieser schweren Lebenssorge nicht, sondern griff rüstig zu, um sich ihren Unterhalt selber und allein zu erwerben. Anfangs wusch und nähte sie für fremde Leute, dann trat sie als Wirthschafterin in ein sogenanntes Kost- oder Boardinghaus, und verdiente sich, mit rastlosem Fleiß und eiserner Sparsamkeit, endlich so viel, um selber ein ähnliches kleines Hotel, das gerade zum Verkauf ausgeboten wurde, übernehmen zu können.
Dort ging es ihr gut. Der Ruf, wie vortrefflich und reinlich bei ihr gekocht würde, verbreitete sich bald [S. 5] in Pittsburg, und da sie außerdem die besten Getränke zu verhältnißmäßig billigen Preisen ausschenkte, so konnte es nicht fehlen, daß sich ihr Geschäft hob und sie hübsches Geld dabei verdiente.
Besonders hatte sie in ihrem Haus eine Anzahl von gebildeten Landsleuten zu Gästen, die hier, aus sich selbst heraus und ohne Statuten oder Beiträge, eine Art von Klub bildeten, und jeden fremden Landsmann ebenfalls dorthin zogen. Gemischt war die Gesellschaft übrigens, das ließ sich nicht leugnen, aber nur in der Art, wie es in Amerika „gemischte Gesellschaften“ gibt. An Bildung, Sitte und Intelligenz paßten sie Alle zusammen, nur in ihren Beschäftigungen unterschieden sie sich allerdings bedeutender. So bestand denn auch die kleine Zahl von Stammgästen, die sich allabendlich dort zusammenfand, aus ein paar Aerzten, einem Apotheker, einem Advokaten, einem Bankbeamten und einem Geistlichen, auch ein Baron war dabei, der aber freilich das bescheidene Amt eines Zeitungsträgers bekleidete. Außerdem gehörten zwei Kohlenarbeiter dazu — daheim waren sie Dr. philosophiae gewesen, dann ein Schmied — der frühere Stallmeister eines Herzogs von —, der Redakteur des Pittsburger Beobachters mit zwei Setzern, wie noch ein paar junge Kaufleute — und der Klub [S. 6] wurde noch außerdem durch zeitweilige Fremde verstärkt.
So kamen dann und wann, wenn ihr Boot Pittsburg anlief, zwei Feuerleute eines der Ohio-Dampfer in den Klub, die ihr saures Brod zwischen Negern, Mulatten und Irländern hart genug verdienen mußten und in ihren blauen Matrosenhemden und schottischen Mützen — was wenigstens das Aeußere betraf — kaum recht in die Gesellschaft zu passen schienen. Aber es waren prächtige junge Leute — der Eine aus einer altadeligen deutschen Familie stammend, der Andere ein junger Advokat, und der englischen Sprache noch nicht mächtig genug, um hier schon zu plaidiren. — Und was that es dabei, daß sie in der schwersten und niedrigsten Arbeit ihren zeitweiligen Beruf gesucht? Sie verdienten sich ihr Brod ehrlich , und waren hier willkommener, als es mancher befrackte Herr mit Stern und Ordensband gewesen wäre.
Und lustige Abende wurden da verlebt, das ist gewiß, denn keine Etikette galt, kein steif gezwungener Ton konnte aufkommen, und doch herrschte Anstand und Sitte, und es wäre Keinem zu rathen gewesen, die zu verletzen — die Thüre des „Lindenbaumes“ würde sich ihm nie wieder geöffnet haben.
Zu den fleißigsten und ältesten Besuchern dieses [S. 7] wackeren deutschen Wirthshauses gehörte übrigens Dr. Peters, und die übrigen Gäste behaupteten auch, die Wittwe Reuter habe ihn mit als Inventar von dem früheren Eigenthümer überliefert bekommen. Peters war überhaupt in Pittsburg eine sehr bekannte Persönlichkeit, und seines trockenen Humors wegen überall gern gesehen — nur als Arzt schien er nicht besonders zu reussiren — er war nie sehr glücklich in seinen Kuren und hatte dabei eine etwas rauhe Manier mit seinen Kranken umzugehen, so daß ihm in der That sehr viele freie Zeit blieb, und seine Bekannten behaupten wollten, er habe die „Nachtklingel“ an seiner Thür nur für eigenen Bedarf anbringen lassen, um nicht ausgeschlossen zu werden, wenn er Abends spät aus seinem Wirthshaus käme.
Er lachte übrigens selber darüber, und konnte es auch recht gut mit ansehen, denn wenn ihm seine Praxis wenig einbrachte, so besaß er doch nicht allein ein kleines Kapital an baarem Gelde, sondern auch noch außerdem einen sehr vortheilhaften Antheil an verschiedenen benachbarten Kohlenminen. Das setzte ihn in den Stand, sorgenfrei zu leben, und er lebte auch in der That so, und daß er das Wirthshaus zum Lindenbaum so oft besuchte, war außerdem kein Zeichen einer Neigung zur Unmäßigkeit, oder zur [S. 8] Schwelgerei. Er lebte im Gegentheil gewöhnlich mäßig, und nur in fröhlicher Gesellschaft ließ er sich manchmal so weit hinreißen, mit einem kleinen „Spitz“ nach Hause zu gehen. Eigentlich betrunken hatte ihn noch Niemand gesehen.
Der Doktor war dabei ein seelenguter Mensch, und wer ihn näher kennen lernte, gewann ihn auch lieb; außerdem ging er gern und immer auf einen Scherz ein, selbst wenn er auf seine Kosten ausgeführt wurde, und konnte dann auf das Herzlichste mitlachen.
Uebrigens hatte er manche Eigenheiten — keine aber, die einem seiner Freunde je lästig werden durfte. So war er z. B. entsetzlich abergläubisch, und ließ manchen Spott deßhalb über sich ergehen, änderte sich aber nicht und nickte dabei nur immer geheimnißvoll mit dem Kopf, als ob er es doch besser wisse, als alle die Anderen. So hätte er sich nie zu dreizehn an einen Tisch gesetzt, nie an einem Freitag irgend eine wichtige Handlung begonnen; er stieg gewissenhaft jeden Morgen mit dem rechten Fuß zuerst aus seinem Bette, und was alte würdige Frauen mit Nägelabschneiden, Salat essen an gewissen Tagen, Eierschaalen zerdrücken und anderen dem ähnlichen Dingen vorschrieben, beobachtete er auf das Peinlichste.
Trotzdem hatte ihn ein Jeder lieb und seine Freunde besonders, die bald herausfühlten, daß er den „Lindenbaum“ nicht allein seiner guten Getränke, sondern mehr noch der hübschen Wirthin wegen frequentire, hegten die stille Hoffnung, daß er die doch undankbare ärztliche Beschäftigung bald an den Nagel hängen und dafür den „Lindenbaum“ mit der Frau Reuter übernehmen werde.
Grund genug hatten sie dafür, denn Peters war ein regelmäßiger Gast im Hause — ja mehr als das, er verplauderte auch manche müßige Stunde mit der jungen Wittwe, und wurde zuletzt sogar zu einer Art von Factotum im Hause. Die Frau hatte ihm nämlich oft geklagt, welche Noth sie mit ihren Büchern und besonders mit dem Einkauf ihrer verschiedenen Provisionen habe — wozu eine Frau auch eigentlich nicht recht paßt — und er nahm sich von da ab bereitwillig ihrer an. Nicht allein brachte er ihre Bücher in Ordnung und machte fast täglich die laufenden Einträge, sondern er zeigte ihr auch noch manche Verbesserung in ihrer Wirthschaft und gab ihr überdies durch seine große Bekanntschaft gute Quellen an, von wo sie ihre Provisionen und Getränke in bester Qualität und zu billigen Preisen bekommen konnte, ja verschaffte ihr sogar in mehreren Häusern einen [S. 10] neuen und höchst vortheilhaften Kredit. Er schien überhaupt — wie die böse Welt wissen wollte — viel mehr Talent zu einer culinarischen wie medicinischen Thätigkeit zu haben, und daß die Leute deßhalb eine Verbindung des Doktors mit der Wirthin prophezeihten, war wohl natürlich — und trotzdem fand sie nicht statt.
Aber weßhalb nicht? Er hatte sie gern; das leugnete er nicht einmal, und seinen ärztlichen Beruf aufgeben und eine Wirthschaft übernehmen? lieber Gott, da waren ganz andere Veränderungen in Situationen hier in Amerika vorgekommen, und kamen noch jeden Tag vor. Die Frau Reuter war ihm außerdem von Herzen gut, das konnte ein Kind sehen, und der Doktor — als rechtschaffener Mann in der ganzen Stadt bekannt — eine Parthie, wie sie sich dieselbe nicht besser wünschen konnte und wahrscheinlich auch nicht besser haben wollte, und trotzdem machte ihr der Doktor keinen Antrag und Jahr nach Jahr verging.
Dr. Peters schien sich aber selber nicht behaglich in dieser Lage zu fühlen; er gab allerdings den Besuch des Lindenbaums nicht auf und besorgte nach wie vor die Geschäfte der Wittwe auf das Pünktlichste, so daß er jetzt schon als regelmäßiger Buchhalter und Korre [S. 11] spondent derselben angesehen werden konnte, aber in seiner sonstigen Stellung zu ihr hatte sich nichts verändert, und nur sein eigenes Aussehen war nicht mehr so gut wie früher.
Sonst der behäbigste Mann in ganz Pittsburg, wurde er jetzt, ohne daß er es hätte an leiblicher Nahrung fehlen lassen, auffallend magerer, und das Schlimmste von Allem war, daß ihn auch seine frühere Jovialität — eine eigene Fertigkeit, sich über sich selber lustig zu machen — verließ. Er fing an melancholisch zu werden, und da er als Norddeutscher am allerliebsten plattdeutsch sprach, so paßte das gar nicht zu seinem ganzen übrigen Wesen.
Etwas lag ihm auf dem Herzen, und die übrigen Gäste, denen er anfing langweilig zu werden, begannen schon gemeinsam zu berathen, wie sie ihm seine alte fröhliche Laune zurückgeben könnten.
Die Seele der Gesellschaft war der Apotheker, ein noch ziemlich junger, aber gewandter Deutscher, der es in wenig Jahren möglich gemacht, hier ein ganz bedeutendes Geschäft zu etabliren. Er stak voller [S. 12] Witz und Laune, und hatte dabei bis jetzt den Doktor Peters zum treuen Verbündeten gehabt. Der aber schien ihm vollständig abhanden zu kommen, und den mußte er wiedergewinnen, koste es was es wolle.
Lange schon hatte er auch versucht, den Doktor zu einem Geständniß zu bringen. So sehr dieser aber das Herz sonst immer auf der Zunge trug, in dieser Angelegenheit hielt er es verschlossen, und Ohlers brachte trotz allen Anspielungen, ja selbst direkten Fragen nichts aus ihm heraus. Da kam eines Morgens Peters zu ihm in die Apotheke, wo er ausnahmsweise einmal ein Rezept verschreiben mußte, grüßte, trat an den Pult, rezeptirte, nahm dann seinen Hut und wollte die Apotheke wieder verlassen. — Es war Zeit geworden, daß er nach dem Lindenbaum hinüber ging.
„Hör einmal, Doktor,“ sagte der Ohlers, der ihn schweigend beobachtet hatte, und einen anderen, als den bisherigen Weg mit ihm einzuschlagen beschloß, „Du kannst mir einen Gefallen thun.“
„So? was ist es?“ sagte der Doktor ruhig.
„Du verstehst doch was vom Wein?“
„Nur ein Bischen — willst Du Wein kaufen?“
„Ich habe da eine Probe von Ungarwein geschickt bekommen,“ sagte Ohlers, „und möchte Deine Mei [S. 13] nung darüber hören. Hast Du einen Augenblick Zeit?“
Der Doktor sah nach der Uhr.
„Eine Viertelstunde vielleicht — wo ist er?“
„Oh gleich bei der Hand — Du Carl, bring doch einmal eine Flasche von dem Rothwein herauf, den ich gestern bekommen habe — kannst auch gleich den Limburger Käse mitbringen, er steht vorn links im Keller — Du riechst ihn schon.“
„Donnerwetter, Ohlers, hast Du Limburger Käse?“
„Und was für welchen,“ sagte der Apotheker — „direkt von Deutschland importirt — ich sage Dir, er stinkt durch’s Blech durch.“
„Kannst Du nichts davon ablassen?“
„Für die Wittwe? — hm, ich denke wohl; für mich allein ist’s doch zu viel — nun wir wollen einmal sehen, komm’ jetzt herein, Dein Rezept wird indessen gemacht.“
Der Doktor folgte, und Ohlers führte ihn in sein kleines Privatzimmer, das er sich sehr bequem und nett hergerichtet hatte. Ein Sopha stand darin mit zwei Lehnstühlen, ein kleines Regal mit verschiedenen feinen Liqueuren befand sich in der Ecke, und auf einem Seitentisch fehlte auch nicht eine Kiste mit [S. 14] guten Cigarren, auf die Ohlers überhaupt etwas hielt. Der Doktor kannte das Plätzchen auch gut genug, und hatte in früheren Zeiten manche Stunde hier mit dem Apotheker verplaudert — aber jetzt schon lange nicht mehr, denn seine Morgenstunden waren ausschließlich dem Lindenbaum gewidmet gewesen.
Trotzdem heimelte es ihn an, als er hinein trat, und wie er nun gar behaglich in der Sophaecke lehnte, mit dem ächten Limburger und einem Glas delikaten funkelndem Ungarwein vor sich, überkam ihn ein Gefühl so wie Heimweh, und er wurde ganz wehmüthig gestimmt. — Aber der Wein brachte ihn wieder zu sich.
„Junge, Junge,“ rief er, als er ihn erst vorsichtig und dann schon dreister gekostet hatte, „das ist ja ein ganz delikater Wein — wo hast Du den her?“
„Direkt von Pesth verschrieben, kostet auch ein schönes Geld, bis er hierher kommt — aber nicht wahr, der schmeckt?“
Der Doktor antwortete nicht — er that einen langen Zug und schob das Glas dem Freunde nur mit dem einen Worte wieder zu: „famos!“
Und jetzt der Limburger Käse — der Doktor thaute auf, und war lange nicht so heiter gewesen. Den Augenblick mußte der Apotheker benützen. Wie [S. 15] sein Freund nur eben ein paar Gläser getrunken hatte und das Feuer in den Adern spürte, sagte er treuherzig:
„Nun höre einmal Peters — jetzt beträgst Du Dich wieder wie ein anderer vernünftiger Mensch auch, was aber hat Dir die ganze Zeit über in den Knochen gesteckt, daß Du herum gegangen bist, als ob Dir die Petersilie verhagelt wäre.“
„Ach mein Junge,“ stöhnte der Doktor, und machte seinem Herzen durch einen schweren Seufzer Luft.
„Nanu?“ sagte Ohlers, „Du schneidst ja ein Gesicht wie ein Laubfrosch, wenn’s blitzt.“
„Ach Ohlers,“ seufzte der Doktor wieder, „laß uns von was Anderem reden — ich möchte gern auch einmal vergnügt sein.“
„Ja, das ist ja gerade die Sache,“ rief Ohlers, „weil ich Dich gern wieder vergnügt haben möchte , muß ich mit Dir reden, und Dir die Geschichte wie einen Zahn herausholen. Dir liegt was auf dem Herzen! herunter damit! wir sind jetzt allein, und daß ich es gut mit Dir meine, weißt Du.“
Der Doktor antwortete nicht — er trank und seufzte nur, aber Ohlers ließ ihn still zufrieden. Er war „angebohrt“ und die Dosis mußte jetzt erst arbeiten, ehe sie wirken konnte. Peters schien indessen [S. 16] nicht in gesprächiger Laune, der Limburger Käse mit dem kräftigen Schwarzbrod nahm seine Kinnladen außerdem in Anspruch. Ohlers mußte einen neuen Anlauf nehmen und beschloß dieses Mal gleich mitten hinein zu springen.
„Warum heirathest Du nicht“, sagte er plötzlich, und der Doktor sah ihn starr an, ja brachte das schon gehobene Glas Wein nicht einmal zum Munde.
„Ja, Du heirathest ja auch nicht,“ sagte er endlich.
„Das ist was Anderes,“ rief Ohlers entschieden — „ich bin achtundzwanzig, Du bist achtunddreißig Jahre alt — ich habe eine bestimmte Beschäftigung — Du hast keine —“
„Danke Dir, bin ich nicht Arzt?“
„Bah, so viel für Deine ganze Praxis,“ sagte Ohlers mit dem Kopfe schüttelnd, „Du hast ja nicht einmal Freude daran.“
„Das weiß Gott,“ stöhnte der Doktor wieder.
„Na, dann sei auch vernünftig,“ nickte ihm Ohlers zu und schenkte ihm sein Glas wieder voll, „und mache der Geschichte einmal ein Ende. Du bist bis über die Ohren in die Wittwe Reuter verschossen; sie ist Dir ebenfalls gut und wartet schon seit ein paar Jahren darauf, daß Du um sie anhalten sollst, weßhalb also nicht zugreifen? Du gäbest einen famosen [S. 17] Wirth und Ihr würdet Geld Hand über Hand verdienen.“
Wieder seufzte der Doktor, aber er trank doch diesmal wenigstens dazu, und sah dann eine ganze Weile stier vor sich nieder, so daß Ohlers endlich unruhig wurde.
„Hör einmal,“ sagte er nach einer Weile, „die Sache kommt mir bald bedenklich vor, und ich fange an zu glauben, daß doch am Ende etwas an dem Gerücht ist, von dem man in der Stadt hier munkelt.“
„An dem Gerücht? an welchem Gerücht?“ frug Peters.
„Daß Du nur deßhalb nicht um die Wittwe anhieltest, weil Du — schon verheirathet wärst.“
„Unsinn,“ brummte der Doktor, mit dem Kopf schüttelnd, „wer sagt denn das?“
„Wer sagt es nicht,“ meinte Ohlers, „denn sonst könnte man sich keinen Grund denken, der Dich abhielte, der Quälerei ein Ende zu machen. Wenn Du aber in Deutschland drüben schon eine Frau sitzen hättest, wäre das freilich was Anderes.“
„Ihr seid Alle mit einander nicht recht bei Trost,“ rief der Doktor, sich ganz in Gedanken selber wieder einschenkend, während er dabei die dichten Rauchwolken von sich blies, „ich verheirathet — ich wollte ich [S. 18] wär’s, dann führte ich nicht mehr so ein Hundeleben wie jetzt — aber’s geht nicht — es geht wahrhaftig nicht.“
„ Was geht nicht? Mensch, so rück endlich einmal heraus,“ drängte aber jetzt Ohlers. „Dir liegt was auf dem Herzen, das ist gewiß, und je eher Du’s herunter schüttelst, desto besser. Ist Dir dann zu helfen, so —“
„Mir ist nicht zu helfen,“ sagte der Doktor finster, „aber — wenn ich’s Dir auch erzählen wollte — Du lachtest mich einfach aus.“
„Ich lache Dich aus? Ist es denn so was Komisches?“ frug Ohlers gespannt.
„Komisch? Nein,“ sagte der Doktor, „aber — es ist etwas, was ihr nicht Alle begreift, was auch ein Zweiter und Dritter eigentlich begreifen kann , denn es steht mit jenem unbekannten Etwas in Verbindung, das uns umgibt, und das wir trotzdem mit unseren groben Sinnen nicht im Stande sind zu erfassen.“
„Ich verstehe kein Wort davon,“ sagte der Apotheker kopfschüttelnd.
„Na gut, Ohlers, Du sollst es wissen,“ nickte Peters endlich, zum Aeußersten entschlossen, „aber thu’ mir die einzige Liebe und lach nicht, denn die [S. 19] Sache ist wirklich nicht komisch, da sie mich elend und unglücklich macht mein ganzes Leben lang — glaubst Du an Ahnungen?“
„Ne,“ sagte Ohlers, entschieden mit dem Kopf schüttelnd, „nur an Congestionen nach dem Kopf. Glaubst Du dran?“
„Ja, Ohlers,“ sagte der Doktor feierlich, „und — ich habe alle Ursache dazu. Mein Großvater war ein Sonntagskind und verkehrte mit jener Welt, die uns anderen armen Sterblichen meist immer verschlossen bleibt. Du weißt aber, daß in der Natur nur zu oft Eigenschaften vom Großvater auf den Enkel theilweise übererben, und einen kleinen Theil der ihm verliehenen Gaben scheine auch ich von ihm bekommen zu haben.“
Ohlers wollte etwas erwiedern. Es lag ihm schon auf der Zunge, aber der Doktor war einmal im Gang — er durfte ihn jetzt nicht böse machen oder auch nur stören, und trommelte nur, um doch irgend eine Beschäftigung zu haben, mit den Fingern auf den Tisch.
„Nun siehst Du, Ohlers,“ fuhr Peters zutraulich fort, „so hat er den schwächsten Theil seiner Kraft auch auf mich vererbt — das Ahnungsvermögen. — Ich sehe nichts wirklich, wie er es gethan hat; ich kann mit jenen überirdischen Wesen und Kräften nicht [S. 20] selber in Verbindung treten, aber ich ahne sie, und ohne daß ich selber weiß, woher es kommt, erhalte ich oft Verkündigungen kommender Dinge, die in mein eigenes Leben eingreifen, und mich entweder vor einem Unglück warnen, oder mir auch im anderen Fall ein Glück erschließen.“
„Aber guter Peters.“
„Unterbrich mich nicht, Ohlers,“ sagte der Doktor, und leerte langsam sein Glas — „ich habe die Beweise dafür. Ohne einen Cent Geld kam ich nach Amerika, ein armer Teufel, wie sie sich hier zu Tausenden herumtreiben; englisch verstand ich fast gar nicht und die Deutschen wollten nicht krank werden, oder wenn ich einmal einen Patienten bekam, starb er mir unter den Händen weg. Es ging mir damals hundeschlecht, und ich hatte oft das Salz nicht zum Brod und noch weniger das Brod selber. Da wurden hier in der Nähe Kohlenbergwerke entdeckt, und was verstand ich von solchen Dingen, wie ich mich überhaupt nie um die Geologie bekümmert habe. Da war es mir eines Tages, als ob mir Jemand den Rock anzog, den Hut aufsetzte und den Stock in die Hand drückte — ich mußte hinaus in die Berge, ich mochte wollen oder nicht, und dort — ging ich direkt zu dem Platz, dem ich Alles verdanke, was ich auf der Welt [S. 21] habe. Ohne, wie gesagt, die Spur davon zu verstehen, wußte ich, hier liegen Kohlen, ein reicher Grundbesitzer in der Nachbarschaft, der mir als deutschem Doktor Alles zutraute, ging darauf ein, das Land, das ich ihm zeigen würde, gemeinschaftlich mit mir anzugreifen und das Geld zum ersten Betrieb herzugeben und der Erfolg übertraf in der That unsere kühnsten Erwartungen.“
„Aber was hat das Alles mit der Wittwe Reuter zu thun?“ rief der ungeduldig werdende Apotheker.
„Es sollte Dir nur einen Beweis liefern,“ sagte Peters, „daß ich wußte , wo die Kohlen lagen, oder daß mich vielmehr mein Ahnungsvermögen dorthin trieb, und ebenso weiß ich, was mir bevorsteht, wenn ich — der Wittwe Reuter meine Hand reiche.“
Ohlers schüttelte mit dem Kopf.
„Ich bin noch so dumm wie zuvor,“ sagte er, „mir klingt Alles vor den Ohren herum — Du weißt, was Dir bevorsteht, wenn Du die Wittwe heirathest? Und ist denn das gar so was Entsetzliches?“
„In dem Augenblick,“ sagte Peters feierlich, „wo ich mit ihr vor dem Friedensrichter stehe, trifft mich der Schlag!“
„Na nu setz mich mal an Land!“ rief Ohlers, [S. 22] mit der Hand auf den Tisch schlagend, „und das ist die einzige Ursache, weßhalb Du sie nicht heirathest?“
„Weil ich damit mein eigenes Todesurtheil unterschreiben würde,“ versicherte ruhig der Doktor.
Ohlers war aufgesprungen und lief eine Weile in dem engen Raum auf und ab. Er kannte ja auch den Doktor so genau, und wußte recht gut, wie entsetzlich schwer es war, ihn von einer seiner fixen Ideen abzubringen. Trotzdem versuchte er jetzt, den unglückseligen Gedanken durch alle nur erdenklichen Vernunftgründe zu bannen, aber ganz natürlich ohne den geringsten Erfolg. Der Doktor hörte ihn ruhig und lächelnd an, erwiederte aber auf Alles, was ihm Ohlers einwerfen konnte, mit der größten Unbeweglichkeit:
„Was hilft es, lieber Freund; es ist einmal Bestimmung, und wir können nicht dagegen ankämpfen.“
„Und daß Du die arme Frau selber damit unglücklich machst, genirt Dich auch nicht?“ rief Ohlers endlich, als letztes, verzweifeltes Mittel.
„Die arme Frau?“ frug der Doktor verwundert.
„Nun daß sie Dich liebt,“ fuhr aber Ohlers fort, „kann doch ein Blinder sehen; die ganze Stadt weiß es außerdem, und Du bringst sie, oder hast sie vielmehr schon in das Gerede der Leute gebracht, die natürlich nie an ein anständiges Verhältniß, sondern [S. 23] immer nur gleich am liebsten das Allerschlimmste glauben. Aber was kümmert das Dich; Du, mit Deiner fixen Idee im Kopf, daß Dich der Schlag rühren würde, — und der Kerl ist in den letzten Jahren hager geworden wie eine Latte, — besuchst sie Tag nach Tag, sitzest Stunden, ja ganze Morgen lang allein bei ihr, und machst die Sache nur noch immer schlimmer.“
„Du hast Recht,“ sagte der Doktor plötzlich, und jetzt ebenfalls von seinem Sitz aufstehend, „das muß ein Ende nehmen. Ich — sehe ein, ich bin es der Frau schuldig — sie kann es von mir verlangen.“
„Was denn?“ frug Ohlers neugierig, denn er glaubte jetzt wirklich, daß sein letztes Argument über Peters Bedenklichkeiten gesiegt hätte.
„Laß mich nur machen,“ sagte aber der Doktor, seinen Hut nehmend, „Du sollst mit mir zufrieden sein. Ich bin ein ehrlicher Mann, und will wie ein ehrlicher Mann handeln.“
„Und wohin gehst Du jetzt?“
„Zur Wittwe Reuter,“ sagte der Doktor, drückte sich den Hut in die Stirn und verließ die Apotheke.
Ohlers hatte noch in seiner Apotheke zu thun, mußte dem Doktor auch Zeit lassen, um seinen Entschluß auszuführen, war aber doch ganz entsetzlich neugierig geworden zu hören, wie die Sache abgelaufen, und konnte es kaum erwarten, bis er sich selber an Ort und Stelle überzeugen durfte.
Gegen Mittag lief er dann auch nach dem Lindenbaum hinüber — angeblich um dort zu essen, in Wirklichkeit aber, um von der Wittwe zu hören, wie Alles abgelaufen.
Peters war nicht da — sein Serviettenring, mit der Serviette drin, lag auf dem leeren Teller, und die Wittwe Reuter ließ sich ebensowenig sehen. Er frug das aufwartende Mädchen: „Die Frau sei oben auf ihrem Zimmer,“ lautete die Antwort — „nicht recht wohl“, wie sie hinzusetzte.
Ohlers stutzte. Das war keinenfalls ein gutes Zeichen, er selber aber viel zu wenig blöde, um sich mit solch’ dürftiger Nachricht zu begnügen. Er verzehrte sein Mittagbrod und trank sein Quart Bier dazu, wie gewöhnlich, dann ließ er sich Kaffee geben und las die Zeitung, bis die Gäste das Zimmer verlassen hatten, und sagte dann ohne Weiteres dem [S. 25] Mädchen, sie möchte ihn bei „der Frau“ einmal melden: er habe ihr etwas Wichtiges mitzutheilen.
Das Mädchen wollte erst nicht; sie behauptete, die Frau liege auf dem Bett und könne jetzt Niemanden sprechen; Ohlers ließ sich aber nicht abweisen, und verlangte, daß sie ihr wenigstens seinen Auftrag ausrichte und hinzu setze: „es sei des Doktors wegen.“
Das half. Das Mädchen ging hinauf und kam nach kaum zehn Minuten mit der Antwort zurück, Frau Reuter würde es angenehm sein, ihn zu sprechen.
Angenehm — die arme Frau hatte, als Ohlers hinauf kam, dicke, rothgeweinte Augen. Ohlers trieb übrigens nie „Gefühlspolitik“. Er war — so jung er sein mochte — durchaus praktischer Natur, und ohne sich deßhalb auch bei irgend welcher unnöthigen Sentimentalität aufzuhalten, sagte er gleich, sowie er nun in’s Zimmer trat:
„Entschuldigen Sie, Frau Reuter, daß ich mit der brennenden Cigarre zu Ihnen komme, aber ich wußte nicht, ob Sie Schwefelhölzchen oben hatten, und möchte gern etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen. War der Doktor da?“
„Ja, Herr Ohlers,“ sagte die Wittwe, die ihm winkte, einen Stuhl zu nehmen.
„Dank Ihnen,“ bemerkte Ohlers, sich setzend; „und was hat er Ihnen gesagt?“
„Herr Ohlers,“ rief die Wittwe.
„Bitte, geniren Sie sich nicht,“ erwiederte aber der Apotheker — „ich weiß doch Alles, und kann Ihnen sogar wahrscheinlich über Manches, was Sie nicht wissen, Auskunft geben.“
„ Sie könnten mir des Doktors räthselhaftes Betragen erklären?“ rief die Wittwe wirklich erstaunt.
„Alles,“ versicherte Ohlers ruhig, „wenn Sie mir nur vorher erzählen, was er gesagt hat. Daß ich es gut mit Ihnen allen Beiden meine, davon sind Sie doch hoffentlich überzeugt.“
„Ich glaub es, Herr Ohlers — ich glaub es,“ seufzte die arme Frau, „aber trotzdem kann ich Ihnen nicht viel erzählen. Er kam vor etwa anderthalb Stunden in einer sehr erregten Stimmung zu mir. Es schien mir fast, als ob er Wein getrunken hätte, und —“
„Und? Frau Reuter.“
„Und hat mir eine Menge von Dingen vorgesprochen, die ich gar nicht verstanden.“
„Das sieht ihm ähnlich — aber das Ende vom Liede?“
„Das Ende vom Lied war, daß er mir sagte, wie [S. 27] er mir von Herzen gut wäre, und wüßte, daß er Zeitlebens unglücklich bleiben müsse, aber — er könne mich nicht heirathen — das Schicksal wolle es nicht, und um mir nicht zu schaden, werde er mein Haus nicht mehr betreten.“
„Puffbohnen,“ sagte Ohlers erstaunt — ein Ausdruck, den er nur bei der größten Ueberraschung gebrauchte, „er will den Lindenbaum nicht mehr betreten? Unsinn, da müßte er verrückter sein, als wofür ich ihn bis jetzt selber gehalten.“
„Das waren seine eigenen Worte, Herr Ohlers.“
„Er ist wirklich übergeschnappt.“
„Und können Sie mir in der That einen Grund seines wunderlichen Benehmens nennen?“ frug die Frau, die von Herzen betrübt schien — „ich weiß es mir nicht zu erklären, denn böse ist er nicht auf mich — er war so gerührt, daß ihm die Thränen in den Augen standen.“
„Böse — weßhalb sollte er böse sein,“ brummte Ohlers; „nein, setzen Sie sich einmal dahin, Frau Reuter, und dann will ich Ihnen die ganze Mordgeschichte erzählen. Nachher können wir berathen, was jetzt mit dem Doktor anzufangen ist.“
Die Frau setzte sich in ängstlicher Spannung ihm gegenüber, und Ohlers erzählte ihr jetzt Alles aus [S. 28] führlich, was er heute Morgen mit dem Doktor verhandelt, und welchen Grund ihm dieser selber gegen seine Verheirathung angegeben habe. Daß er einfach an einer fixen Idee leide, blieb natürlich außer aller Frage; aber wie die jetzt heben, denn wirkliche Irrthümer kann man durch Thatsachen widerlegen, eine bloße Phantasie aber bietet nirgends einen festen Halt, bei dem man sie fassen könnte, und weicht jedem Griff elastisch aus.
Ohlers zerbrach sich den Kopf herüber und hinüber, aber sie kamen zu keinem Resultat, bis der kleine Apotheker endlich in die Höhe sprang und ausrief:
„Das hilft uns jetzt nichts, Frau Reuter, so viel seh’ ich ein, wir Beide werden mit der Geschichte nicht allein fertig, aber eine Frage müssen Sie mir vorher beantworten, damit ich wenigstens weiß, woran ich bin, und nachher verlassen Sie sich auf mich.“
„Was für eine Frage, Herr Ohlers.“
„Wollen Sie den Doktor heirathen?“
„Aber Herr Ohlers.“
„Thun Sie mir den einzigen Gefallen und zieren Sie sich nicht; dazu ist jetzt gar keine Gelegenheit und Veranlassung.“
„Aber Herr Ohlers, man sagt doch so etwas nicht so gerade heraus.“
„Gut, dann sagen Sie’s drum herum,“ meinte der Apotheker, „aber wissen muß ich’s, wenn ich Ihnen beistehen soll.“
„Und nachher machen Sie sich unten über mich lustig,“ sagte die Frau, die über und über roth geworden war.
„Herr du meine Güte,“ rief Ohlers, und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, „ist so eine Wittwe langweilig. Hier steht Jemand, der Ihnen und dem Doktor helfen will, denn der muß vor der Hand unter Vormundschaft gestellt werden. Wollen Sie also Frau Doktorin werden oder nicht?“
„Und Sie haben mich nicht zum Besten?“
„Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf.“
„Gut denn,“ sagte Frau Reuter entschlossen, „ich will Ihnen glauben und bedaure selber, daß Herr Peters eine so traurige — wie soll ich denn gleich sagen —“
„Zurückhaltung?“ ergänzte Ohlers.
„Nein,“ erröthete die Wittwe — „eine so traurige Idee gefaßt hat, die ihm vielleicht sein ganzes Lebensglück vergiftet. Was ich dazu beitragen kann, ihn zu heilen, will ich von Herzen gern thun.“
„Davon ist ja aber gar nicht die Rede,“ sagte Ohlers, „wollen Sie ihn heirathen ?“
„Sie sind ein schrecklicher Mensch, Herr Ohlers,“ seufzte die Wittwe — „von Zartgefühl haben Sie keine Spur.“
„Also nicht ?“ sagte Ohlers, und nahm seinen Hut.
„Ja denn, in des Himmels Namen, wenn Sie mir das Messer so auf die Brust setzen. Aber wie wollen Sie ihn von der unglücklichen Idee heilen?“
„Das weiß ich selber noch nicht,“ erwiederte Ohlers, „die Hauptsache ist, daß wir auf Ihre Unterstützung rechnen können, aber das Geseufze und Gestöhne hab ich satt, und wir wollen jetzt sehen, ob wir nicht wieder einen fidelen Menschen aus diesem Peters machen können.“
Ohlers entwickelte von dieser Zeit an eine ungemeine Geschäftigkeit, und hatte verschiedene geheime Unterredungen, besonders mit dem Advokaten Dulzig und dem Pastor Umbreit. Auch der Feuermann des Ohio-Dampfers, der junge Degmar, war in diesen Tagen nach Pittsburg gekommen. Er hatte sein Boot, auf dem er sich mit eisernem Fleiß ein paar hundert Dollar gespart, verlassen, und rüstete sich jetzt zu [S. 31] einem Jagdzug nach Missouri, wohnte und aß aber indessen, da seine Vorbereitungen jedenfalls ein paar Wochen in Anspruch nahmen, und er sich von seinen gehabten Strapazen und der schweren Arbeit doch auch erst einmal ordentlich ausruhen wollte, in der Zeit im Lindenbaum, und war von Ohlers bald in die ganzen Verhältnisse eingeweiht.
Erleichtert wurde ihnen die Sache allerdings dadurch, daß Dr. Peters in der That sein Wort hielt, und das Haus der Wittwe Reuter nicht mehr betrat. Er war überhaupt ein ganz anderer Mensch geworden: trübe, in sich gebrochen, ging er umher, keine Spur mehr von der früheren Laune und dem oft sprudelnden Humor; er sah dabei bleich und elend aus, und es war augenscheinlich, daß ihm ein geheimer Kummer am Herzen nage.
Auch die Frau Reuter hatte jetzt oft verweinte Augen, wenn sie ihrem Geschäft auch wacker, wie bisher, vorstand, und alle Versuche des Pastor Umbreit, dem Doktor einmal zum Herzen zu reden, blieben erfolglos. Er sprach sogar davon, daß er Pittsburg ganz verlassen wolle, um sich in der Nähe seiner Kohlenminen anzusiedeln, da seine Gegenwart dorten von Zeit zu Zeit nöthig sei — aber es dachte Niemand daran, ihn dort zu gebrauchen, und es war das nur [S. 32] eine Ausrede, um von Pittsburg — vom Lindenbaum fortzukommen. — Ging er freilich, so war die ganze Sache verdorben, und das mußte deßhalb unter jeder Bedingung verhindert werden.
Die vier Verbündeten, die sich übrigens das Wort gegeben hatten, keine Silbe des ganzen Verhältnisses gegen irgend Jemanden zu äußern, um weder ihren Freund, den Doktor, noch die wackere Frau zu compromittiren, hielten jetzt Konferenzen bei verschlossener Thüre, und Degmar, ein junger tollköpfiger Bursche und zu Allem fähig, machte da einen Vorschlag, über den selbst Ohlers stutzig wurde, und den Pastor Umbreit — sonst auch nicht der Letzte, wo es einen Scherz auszuführen galt — im ersten Augenblick auf das Entschiedenste verwarf.
Der Plan war allerdings kühn genug und bestand darin, den Doktor, der sich ja nur vor dem Moment der Trauung fürchtete, weil er die feste Idee hatte, der Schlag würde ihn in dem Augenblick rühren, zu verheirathen, ohne daß er selber etwas davon erführe, während er gegen das fait accompli nachher nicht das Geringste würde einzuwenden haben.
Das ging auf keinen Fall; die Trauung war eine zu heilige Sache, um damit irgend einen Scherz zu treiben, und außerdem nicht giltig, wenn die Be [S. 33] theiligten nicht bei vollem Bewußtsein ihr Jawort deutlich sprachen. Der Gedanke schon sei wahnsinnig, und sie brauchten keine weitere Zeit damit zu verlieren.
Degmar gab aber nicht nach.
„Es ist ja gar nicht nöthig,“ rief er aus, „daß wir ihn wirklich trauen; wir machen ihm nur weiß, daß er von einem Friedensrichter zusammengegeben sei, und die Frau besteht dann darauf, daß der Geistliche auch noch seinen Segen darüber sprechen müsse.“
„Dann müssen wir ihn erst verrückt machen, ehe er etwas Derartiges glauben würde,“ sagte Ohlers.
„Verrückt nicht, nur betrunken,“ lachte Degmar; „ich wette meinen Hals darauf, daß es ausführbar ist.“
„Thorheit,“ sagte Umbreit, „selbst die Frau Reuter würde dazu nie ihre Zustimmung geben, wollten wir selbst auf einen solchen tollköpfigen Gedanken eingehen.“
Ohlers war nachdenkend geworden. Gerade das Tolle dieses Planes sagte ihm zu, und er überlegte sich im Geist die mögliche Ausführung. Dulzig, der Advokat, war übrigens auch vollständig dagegen, da er keine Möglichkeit eines günstigen Erfolges sah, wie [S. 34] auch ebenfalls an Frau Reuters Zustimmung zweifelte. Die Verhandlung wurde zuletzt abgebrochen, und Umbreit erklärte, noch einmal einen Versuch zu machen, durch Vernunftgründe auf den Doktor einzuwirken — er hätte seine Vernunftgründe ebensogut einem Tisch vorpredigen können.
Nach der Berathung nahm Ohlers, ohne ein Wort zu sagen, Degmars Arm und führte ihn in das nämliche Hinterstübchen hinüber, wo er damals mit dem Doktor gesessen hatte. Ungarwein und Limburger Käse wurden auch heute wieder wie an jenem Tag herauf beschworen, und die beiden jungen Leute waren dabei so in ihre Unterredung vertieft, daß sie sogar das Mittagessen darüber versäumten — aber sie kamen zu einem Entschluß, da ihnen Niemand opponirte, und alle ihnen noch entgegen stehenden Schwierigkeiten hofften sie mit leichter Mühe zu besiegen.
Allerdings wollte Degmar nicht den „Pastor“ dabei haben, der ihnen, wie er fürchtete, noch einen Querstrich durch das Ganze machen könne. Ohlers aber, der seine Leute besser kannte, behauptete, ohne den nicht fertig werden zu können, und da er es selber übernahm, die Wittwe sowohl als den Geistlichen für ihren Plan zu gewinnen, fügte sich Degmar endlich auch in dieser Hinsicht.
Ohlers hatte sich übrigens, mit ein paar Gläsern Ungarwein im Kopf, die Sache viel leichter gedacht, als sie sich wirklich herausstellte. Wie er, noch an dem nämlichen Nachmittag, zur Frau Reuter hinüber ging, fühlte er doch, daß er zu einer solchen Aufgabe bei vollkommen klarem Verstande sein müsse, und verschob deßhalb den ersten Sturmlauf auf den nächsten Vormittag — aber selbst da wurde er abgeschlagen. Die Frau hörte kaum, um was es sich handelte, als sie sich auf das Entschiedenste weigerte, dazu ihre Hand zu bieten. Sie sei, wie sie jetzt offen und ohne Scheu gestand, dem Doktor recht von Herzen gut und würde sich glücklich fühlen, seine Frau zu werden, aber — sie könne, um das zu erreichen, nie zu einem solchen Mittel ihre Zuflucht nehmen, das sie später ja, wenn er es einmal erfahre, in der Achtung ihres Gatten herabsetzen, ja ihr seine Liebe ganz entziehen müsse.
Ohlers kratzte sich verlegen hinter den Ohren. Der Einwurf war so vernünftig und ehrlich dabei, daß all’ seine Spitzfindigkeiten scheel und nichtig dagegen erschienen, und nach einer Stunde vergeblichen Redens mußte er es in Verzweiflung aufgeben, die [S. 36] Hauptperson selber ihrem Plan zu gewinnen. Seine letzte Zuflucht blieb jetzt der Pastor, aber mit kaum besserem Erfolg. Umbreit gestand ihm allerdings zu, daß — wie er sich Alles ausgedacht — nichts Unrechtes oder Unehrenhaftes an der Handlung sei, da es ja überhaupt nur galt, einen unglückseligen Wahn zu besiegen, und beide betreffende Theile, aller Wahrscheinlichkeit nach, durch das Gelingen der List glücklich gemacht würden, aber er selber werde sich nie dazu verstehen, der Wittwe zuzureden. Früge sie ihn darum, gut, so werde er ihr das Nämliche sagen, was er jetzt Ohlers gesagt habe — aber weiter nichts — und dabei blieb es.
Degmar war außer sich und Ohlers hatte die größte Mühe, ihn von einem tollen Streich abzuhalten, da er es sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, der Wittwe einen Mann zu verschaffen. Er wollte auch absolut zum Doktor gehen und diesem die Wahl lassen, augenblicklich um die Hand der Frau Reuter anzuhalten, oder sich mit ihm zu schießen, und konnte nur mit der größten Mühe überzeugt werden, daß er dadurch, wenn er den beabsichtigten Bräutigam todtschieße, unmöglich seinen Zweck erreichen würde.
Der Doktor selber nahm aber ihre Aufmerksamkeit bald auf sehr ernste Weise in Anspruch, denn er wurde [S. 37] schwer krank und verfiel in ein nervöses hitziges Fieber, das ihn an den Rand des Grabes brachte. Erbärmliche Pflege hatte er außerdem gehabt, denn er wohnte in einem Privatlogis mit einer alten halbtauben Magd zur Aufwartung, die kaum dazu gebracht werden konnte, sein Zimmer rein zu halten, und sich um den Kranken wenig oder gar nicht bekümmerte.
Degmar wich in der Zeit fast nicht von des Doktors Seite. Er ließ sich seine Matratze hinüber schaffen und saß ganze Nächte bei ihm auf, und nur Ohlers und Dölzig, wie auch zu Zeiten Einer der übrigen Stammgäste aus dem Lindenbaum wechselten mit ihm ab, daß er sich manchmal die nöthigste und unentbehrlichste Ruhe gönnen konnte. Der Arzt, der ihn behandelte, zweifelte auch eine lange Zeit an seinem Wiederaufkommen; endlich aber siegte seine urkräftige Natur doch, und er erholte sich langsam.
Ohlers hatte ebenfalls manche Nacht an seinem Bett gewacht, und seinen tollen Phantasien gelauscht. Alles aber, was er in seinem besinnungslosen Zustand sprach, bezog sich nur immer auf den Lindenbaum und auf jenen bösen Feind, der seines Schicksals Fäden in der Hand hielt und mit seiner Keule bereit stand, um ihn — sowie er nur den Arm nach dem erhofften Glück ausstreckte — erbarmungslos damit zu Boden zu [S. 38] schlagen. Der arme Teufel fühlte sich, all’ seinen Reden nach, namenlos unglücklich, und oft in ruhigen Stunden liefen ihm die hellen Thränen an den Backen nieder.
Die Frau Reuter verbrachte indessen eine kaum minder schwere Zeit. Wie gern hätte sie ihn gepflegt, aber durfte sie es denn? hatte sie ein Recht dazu? Hundertmal stand sie auf dem Sprung, zu ihm zu eilen, aber eben so oft verwarf sie auch den Entschluß, und saß so eines Abends auch wieder, still weinend, in ihrer Kammer, als Ohlers zu ihr in’s Zimmer trat und ruhig sagte:
„Bitte, Frau Reuter, setzen Sie einmal Ihr Bonnet auf und kommen Sie mit mir.“
„Mit Ihnen, Herr Ohlers? wohin?“
„Wohin, zum Doktor natürlich — wollen Sie ihn nicht noch einmal sehen?“
„Oh du großer Gott, ist er denn wirklich so krank,“ rief die Frau, die Hände faltend.
„Wenn er’s überlebt, ist’s ein Wunder,“ sagte Ohlers, „ich glaub’ aber nicht, daß er’s noch bis morgen früh macht.“
„Aber was kann ich thun?“ rief die arme Frau in Verzweiflung.
„Jetzt gar nichts mehr,“ sagte der Apotheker, „als ihm vielleicht noch einmal die Hand drücken. Wären [S. 39] Sie früher meinem Rath gefolgt, hätten Sie sich und ihm das erspart.“
„Ach mein guter Herr Ohlers —“
„Setzen Sie Ihr Bonnet auf und kommen Sie; es ist keine Schande, daß Sie einen alten Freund, der so treu bei Ihnen die langen Jahre ausgehalten, auf seinem Sterbebett besuchen.“
„Ich gehe mit Ihnen, Herr Ohlers — ich gehe mit Ihnen,“ rief die Wittwe, aufgelöst in Thränen, und ohne weiter eine Silbe zu äußern, setzte sie ihr Bonnet auf, warf ihren Mantel um und schritt der Wohnung des Doktors zu.
Sie fanden Peters wirklich noch sehr leidend, aber doch nicht mehr besinnungslos, und als er die Frau erkannte, flog ein mattes Lächeln über seine bleichen Züge. Reden konnte er nicht, aber er drückte ihr still die Hand, und schloß dann die Augen, als ob er schlafen wolle. — Sie mußten ihn auch in Ruhe lassen und durften ihn besonders nicht aufregen. Als Ohlers aber die Wittwe nach Hause zurückbegleitete, erzählte er ihr, mit was sich des Kranken Phantasien die ganze Zeit beschäftigt, wie er sich elend und verlassen fühle, und doch nicht die alte Furcht vor einem eingebildeten Schreckbild bewältigen könne, bis er sie endlich so weit hatte, daß sie weinte, als ob ihr das [S. 40] Herz brechen müsse — dann empfahl er sich und ging wieder nach Hause.
Und der Doktor erholte sich wirklich. Degmar hatte — als das Schlimmste mit ihm überstanden war — Briefe aus New-York bekommen, die seine Anwesenheit dort nöthig machten. Er hielt sich aber nicht lange da auf, und als er zurückkehrte, fand er den Doktor wieder auf und munter, und außer einer etwas bleichen Gesichtsfarbe wohl aussehend. Aber er hatte den „Lindenbaum“ noch nicht wieder betreten — die Wittwe seit jenem Abende, an dem sie ihn besuchte, nicht wieder gesehen, und traf jetzt alles Ernstes seine Vorbereitungen, nicht allein Pittsburg, sondern überhaupt Pennsylvanien zu verlassen. Der Antheil an den Kohlenminen blieb ihm, und war in sicheren Händen, so daß er keine Uebervortheilung zu fürchten brauchte, und er selber hatte, wie er sagte, die Absicht, nach Arkansas überzusiedeln, und sich dort eine kleine Farm zu kaufen.
Seine Abreise war auf Montag in acht Tagen festgestellt, und Degmar, der jetzt wieder mehrere Konferenzen mit Ohlers hatte, zu denen zuletzt auch Pastor Umbreit gezogen wurde, schien seine Abreise nach Missouri auf den nämlichen Tag verlegt zu haben.
Zu dem Zwecke hatte er sich auch mit dem Doktor [S. 41] Peters verabredet, am Sonntag Abend vorher ihren gemeinschaftlichen Freunden einen Abschiedsschmauß zu geben, und der Doktor war damit vollkommen einverstanden. Es handelte sich nur noch darum: in welchem Lokal, denn anfangs weigerte er sich entschieden, diesen „Lebensabschnitt“ im Lindenbaum zu feiern. Ohlers aber und Alle, die er darüber sprach, erklärten ihm auf das Bestimmteste, daß er gar keinen andern Ort wählen könne , als den, wo sie schon so viele vergnügte Abende mitsammen verlebt, daß wenigstens Keiner von ihnen Allen einen andern besuchen würde, da sie nicht Willens wären, die Frau Reuter bis auf’s Blut zu kränken.
Degmar selber entschied sich ebenfalls für den Lindenbaum; er habe, wie er meinte, noch kein anderes Wirthshaus hier in Pittsburg betreten, und wolle damit nicht den letzten Abend anfangen; es sei auch schon alles dort bestellt, und wolle der Doktor absolut keinen Theil daran nehmen — und er begreife nicht, was er gegen den Lindenbaum habe — so möge er es auch selber dort absagen.
Der Doktor sah sich überstimmt — und ließ sich vielleicht gern überstimmen — zog es ihn doch selber noch einmal zum alten Platz, und Abschied von der Frau Reuter hätte er ja überdies nehmen müssen. [S. 42] Er konnte doch die Stadt nicht verlassen, ohne sie noch einmal gesehen zu haben.
Dabei blieb es also. Sonntag Abend um sieben Uhr sollten sie dort zusammen kommen — Montag Mittag ging der Dayton, ein kleiner guter Dampfer, den Strom hinab bis Cairo, an der Mündung des Ohio in den Mississippi, und auf dem wollten dann Beide zusammen Passage nehmen. In Cairo fanden sie nachher jeden Tag Gelegenheit, mit einem der Mississippidampfer entweder nach St. Louis gen Norden oder nach Arkansas gen Süden weiter zu fahren.
Der Sonntag kam, und in dem Hause der Frau Reuter herrschte eine ganz ungewöhnliche Thätigkeit, denn nicht allein wurde hergerichtet, was Speisekammer und Küche vermochten, sondern die Wirthin selber schien außerordentlich erregt und kam den ganzen Tag nicht von den Füßen.
Erst hatte sie dabei mit dem Herrn Ohlers eine lange Zusammenkunft, dann, nach der Kirche, mit dem Pastor Umbreit, der endlich auch einer günstigeren Auffassung der Sache gewonnen schien. Hatte er doch den Doktor selber ein paar Mal in seiner Krankheit besucht, auch einmal eine Nacht bei ihm gewacht und sich dabei wohl überzeugen können, wie schwer der unglückselige Wahn auf seinem Geist lag, und wie [S. 43] unmöglich es sein würde, ihn auf gewöhnlichem Wege zu bannen. Er selber weigerte sich allerdings auf das Entschiedenste, mit dem eigentlichen Plan irgend etwas zu thun zu haben — wenn auch nichts weniger als bigott, durfte er das schon seiner Stellung wegen nicht, der Gemeinde gegenüber, wie aber jetzt alles modificirt worden, hatte er wenigstens nichts mehr dagegen einzuwenden, und glaubte selber, daß es zum Guten ausschlagen könne, noch dazu, da ihm die Frau erklärte, sie sei dem Doktor wirklich von Herzen gut, und wolle selbst der Gefahr trotzen, ihren guten Ruf zu gefährden, nur um ihn wieder gesund und vielleicht glücklich zu machen.
So rückte der Abend heran, und eine der Hinterstuben des Hauses war für die heutige kleine Gesellschaft hergerichtet, damit sie nicht im gewöhnlichen Gastzimmer durch zufällig eintreffende Fremde gestört würden. Die Gesellschaft hatte es sich aber ausbedungen, daß Frau Reuter heute Abend selber an ihrem Tische präsidiren müsse, die beiden scheidenden Gäste saßen dann — der Doktor an ihrer Rechten und Degmar an ihrer Linken — Ohlers hatte seinen Platz neben dem des Doktors belegt, Pastor Umbreit saß der Wittwe gegenüber, am andern Ende der Tafel.
Ohlers hatte die Zettel geschrieben und die Plätze geordnet. Er war mit Degmar noch allein im Zimmer.
„Hören Sie einmal, Degmar,“ sagte er, als das Mädchen, das eben eine Anzahl Gläser herein gestellt hatte, wieder hinaus gegangen war, „wissen Sie wohl, daß ich jetzt verfluchtes Herzklopfen kriege? Es ist doch eigentlich eine verwünschte Geschichte, und wenn es schief geht, kann ich nur meine Apotheke verkaufen und auswandern, denn hier im Lindenbaum dürft’ ich mich nicht wieder blicken lassen.“
„Ach was schief gehen,“ lachte Degmar — „einen Hauptspaß giebt’s, und das Einzige, was mir leid thut, ist, daß ich morgen früh nicht die erste Scene mit erleben kann.“
„Ja,“ sagte Ohlers, „Sie haben gut lachen, Sie scheeren sich den Henker darum. Wenn hier was passirt, schultern Sie Ihr altes Schießeisen und verschwinden im Urwald, aber wir sitzen in der Falle drin, und nachher wär’ der Teufel zu bezahlen und kein Pech heiß.“
„Haben Sie Furcht?“ lachte Degmar.
„Furcht,“ sagte Ohlers verächtlich — „was heißt Furcht? Wenn ich mich fürchtete, käm’ ich heute dem Lindenbaum nicht zu nahe, und da liegt mein Couvert. Das Einzige, wovor ich mich wirklich fürchte, ist, daß ich mich blamire, und das wäre eine ganz nichtswürdige Pastete — ich würde hier in Pittsburg meines Lebens [S. 45] wahrhaftig nicht wieder froh. — Aber es kann jetzt nichts mehr helfen,“ setzte er mit einem Seufzer hinzu — „der Stein rollt, und wir müssen ihn eben laufen lassen.“
Der Stein rollte wirklich, denn in diesem Augenblick kam der Doktor selber, etwas verlegen zwar, da er sich hier so lange nicht hatte blicken lassen, aber doch vollkommen entschlossen, heute, am letzten Abend, noch ein fröhliches Gesicht zu zeigen, und Niemanden merken zu lassen, wie weh und unbehaglich ihm eigentlich zu Muthe sei. In Wirklichkeit war ihm aber ebenso zu Sinne, wie dem „Peter in der Fremde“ beim Auswandern, und er fürchtete sich selber vor einem Kreuzweg; aber es half jetzt einmal nichts: er hatte seinen Entschluß gegen alle seine Freunde ausgesprochen, die Vorkehrungen waren getroffen worden, und nach dem heutigen Abschiedsessen hätte er doch überdies nicht länger in Pittsburg bleiben können, ohne sich lächerlich zu machen. — Nur ein wenig rasch war es ihm selber vorgekommen — etwas zu rasch. Ein paar Tage würde er vielleicht noch zugegeben haben, aber der verwünschte Degmar trieb ja so und schien so entsetzliche Eile zu haben, daß er sich selber verleiten ließ, ihm die Zusage seines Mitgehens zu geben. Jetzt war es geschehen, an der Sache nichts mehr zu ändern — und es war auch vielleicht das Beste [S. 46] so, denn was hätte längeres Zögern überhaupt noch genützt.
Am Peinlichsten war ihm das erste Begegnen mit der Frau Reuter, denn er fürchtete, daß sie ihm Vorwürfe seines langen Ausbleibens wegen machen werde — aber nichts derartiges geschah. Sie war freundlich, ja herzlich gegen ihn wie immer, und frug ihn nur nach seiner Gesundheit, und ob er sich jetzt wohl und kräftig genug fühle, eine so weite Reise anzutreten.
Bald kamen auch die übrigen Gäste hinzu, und Peters, der die ganzen letzten Wochen ein wahres Einsiedlerleben geführt, schien etwas aufzuthauen, als er sich in dem alten befreundeten Kreise befand, und von Allen so herzlich begrüßt wurde. Aber Niemand von Allen spielte auch nur auf die baldige und beabsichtigte Trennung an. Es war, als ob sie nur einfach einmal hier, wie vor alten Zeiten, wieder zusammen gekommen wären, und keinen weiteren Zweck hätten, als sich zu amüsiren — wer dachte da an Abschiednehmen oder sonst etwas Trauriges.
Und jetzt wurde die Mahlzeit aufgetragen, und die Köchin hatte sich heute wirklich selber übertroffen, denn Alles, was Wald, Feld oder Strom bot, und sonst käuflich in der Stadt gewesen war, prangte auf der unter ihrer Last fast brechenden Tafel. Trotzdem [S. 47] blieb die Unterhaltung im Anfang sehr einsilbig, denn alle die Hauptpersonen, die sonst Leben und Bewegung in das Ganze gebracht, saßen heute still und mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, und mußten ordentlich geweckt werden, um nur eine an sie gerichtete Frage zu beantworten.
Der junge Degmar schien noch der Einzige, dem man eine innere Aufregung nicht anmerken konnte, und er wußte auch Ohlers zuletzt so aufzurütteln, daß er sich wenigstens gewaltsam zusammen nahm. War es doch den anderen Tischgästen schon aufgefallen, denn daß der Abschied des Doktors ihn nicht so niedergedrückt haben konnte, lag auf der Hand.
Der Doktor war der Stillste von Allen und augenscheinlich gerührt. Seine Nachbarin hatte ihn nach dem Verlauf seiner letzten Krankheit, nach seinen nächsten Plänen und Hoffnungen gefragt, und die Augen wurden ihm feucht, wenn er daran dachte, wie er ja all’ seinen Hoffnungen und Plänen entsagen müsse, nur des einen entsetzlichen Schreckbildes wegen, das sich drohend zwischen ihn und sein Glück stellte.
Jetzt endlich wurde aber Ohlers wieder warm. Er hatte das erste, unbehagliche Gefühl abgeschüttelt, und nur einmal in Gang gebracht, und er fühlte sich wieder er selber. Selbst den Doktor brachte er zuletzt mit seinen Späßen und Erzählungen zum Lachen, und [S. 48] je mehr der Wein den Gästen in die Köpfe stieg, desto lauter und lustiger wurden sie, und fingen zuletzt an, sich vortrefflich zu amüsiren.
Der Doktor selber hatte anfangs keinen Wein trinken wollen. Dagegen wurde aber augenblicklich Protest eingelegt, ja sein anwesender Arzt, Doktor Becker, erklärte sogar, daß er jetzt tüchtig guten und starken Wein trinken müsse, um wieder zu Kräften zu kommen und die letzten Nachwehen seiner Krankheit los zu werden.
Und der Wein schmeckte ihm — Ohlers trank ihm wacker zu, und sorgte dafür, daß sein Glas nie leer wurde — ein Toast nach dem andern wurde ausgebracht, und das Unglaubliche geschah: der Doktor fühlte sich so angeregt, daß er sang .
Jetzt hielt es aber Frau Reuter an der Zeit, sich zurückzuziehen; sie stand geräuschlos auf und verließ das Zimmer; die Mädchen wurden ebenfalls abgerufen und einem der Kellner oder barkeeper die Bedienung der Herren überlassen, und nun begann das eigentliche Gelage, das etwa bis um Mitternacht dauerte, und eine eigene Wirkung auf Dr. Peters auszuüben schien.
Anfangs war er ganz ausgelassen und lachte und erzählte und sang, Alles durcheinander — zuletzt fing [S. 49] ihm die Zunge an schwer zu werden. Ohlers mischte ihm ein Glas Limonade, die er auf einen Zug leerte; aber er wurde bald sehr schläfrig. Er setzte sich von der Tafel ab auf das Sopha, und schlug noch eine Weile mit dem rechten Fuß den Takt zu dem Gesang der Uebrigen — dann lag er ganz still, und zuletzt war er tief und fest eingeschlafen. Niemand bekümmerte sich auch die erste halbe Stunde um ihn, sobald aber Ohlers sah, daß der Kellner beschäftigt war neuen Weinvorrath herbeizuschaffen — und er selber gab ihm dazu noch verschiedene Aufträge — winkte er Degmar und Dölzig, und die drei faßten den Schlafenden auf — allerdings kein leichtes Stück Arbeit, und trugen ihn hinaus.
„Hallo, wo wollt Ihr mit dem Doktor hin?“ lachte Einer der Zechenden.
„Ihn zu Bett bringen — er liegt hier schlecht,“ sagte Ohlers, „wir sind gleich wieder da,“ und durch die Thür verschwanden sie mit dem Bewußtlosen.
Es konnte kaum sechs Uhr am nächsten Morgen sein, als Frau Reuter schon angekleidet unten im [S. 50] Gastzimmer war, und darauf sah, daß Alles wieder in Ordnung gebracht und gelüftet wurde. Auch Geschirr und Messer, Gabeln und Löffel revidirte sie ob nichts fehlte oder verkramt war, und ließ die Weinreste vom letzten Abend dann hinüber in ein besonderes Zimmer stellen.
Noch war sie damit beschäftigt, als Ohlers hereintrat, und eine Tasse Kaffee bestellte.
„Gehen Sie damit in’s Nebenstübchen, Herr Ohlers,“ sagte die Wittwe, „hier ist’s noch zu ungemüthlich — er soll Ihnen gleich gebracht werden.“
Die Wittwe folgte ihm dorthin, und wie er das Zimmer betrat, frug der Apotheker rasch und leise:
„Schläft er noch?“
„Fest und gut,“ lautete die Antwort, „aber ich sage Ihnen, Herr Ohlers, mir ist zu Muthe, als ob ich sterben sollte.“
„Unsinn,“ sagte der Apotheker. „Sie sollen jetzt erst anfangen zu leben — aber weiß Ihr Mädchen darum?“
„Natürlich; sie mußte es wissen — aber ich kann mich auf sie verlassen.“
„Desto besser: die kann uns also gleich helfen.“
„Helfen? mit was?“
„Sollen es gleich erfahren. — Aber da kommt [S. 51] der Kaffee — gehen Sie nur langsam voran; ich folge gleich nach.“
Ohlers ließ nicht lange auf sich warten; sobald er die Dienstleute unten wieder beschäftigt sah, stieg er die Treppe hinauf und öffnete leise die Thür des Zimmers, in welchem der Doktor lag.
Es war ein netter, freundlicher Raum — der Wirthin eigenes Schlafgemach, aber der Doktor war noch nicht erwacht. Er schnarchte leise, und Ohlers winkte der Frau, ihn nicht zu stören. Dann ging er in eines der nächsten Zimmer — hatte er sich doch gestern schon vortrefflich orientirt — und bat das auf dem Gang schon wartende Mädchen, das dort stehende Bett mit anzufassen und in das Schlafzimmer des Doktors zu tragen.
„Aber ich bitte Sie um Gotteswillen,“ rief Frau Reuter.
„Bst,“ flüsterte Ohlers wieder mit seinem alten Uebermuth, „verderben Sie uns nicht die ganze Geschichte — es muß sein, um die Täuschung zu vollenden. Nur leise und vorsichtig, denn wenn er aufwacht, ist Alles verdorben.“
Die Beiden trugen jetzt schnell und geräuschlos das Bett in die andere Kammer — aber der Doktor schlief noch fest; er athmete schwer und schien zu [S. 52] träumen, denn er hob einmal den Arm empor, ließ ihn aber wieder sinken, und Ohlers drückte sich rasch der Thüre zu. Der Schläfer erwachte aber noch nicht, und einen flüchtigen Blick im Zimmer umherwerfend ging der Apotheker noch einmal zu dem eben herein geschafften Bett, preßte und schob Decken und Kopfkissen durch einander, als ob Jemand die Nacht darin geschlafen hätte, und der Frau Reuter dann zuwinkend verließ er auf den Zehen das Gemach.
„Und was jetzt?“ frug die Frau, die ihm dort hinaus gefolgt war.
„Jetzt setzen Sie sich ganz ruhig vor Ihre Toilette,“ sagte Ohlers, „und warten bis er aufwacht. Lange kann’s nicht mehr dauern, denn er wird schon unruhig — das Uebrige wissen Sie. Ist er vollkommen munter, so klingeln Sie nur, wir kommen dann herauf, um Sie zu unterstützen.“
„Oh, wenn das gut abläuft,“ seufzte die Frau.
„Verlassen Sie sich nur ganz auf uns,“ lachte der Apotheker. „ Jetzt bin ich in meinem Element, denn das Einzige, wovor ich wirklich Angst hatte, war, daß ihm das gestrige — das viele Trinken schaden könne. Das ist nicht geschehen; er sieht wohl und munter und schläft sanft — alles Uebrige ist Nebensache.“
„Und Pastor Umbreit?“
„Kommt um zehn Uhr, machen Sie sich nur keine Sorge, beste Frau Reuter, wir Alle stehen Ihnen bei, und Sie haben nicht das Geringste für sich zu fürchten.“
„Wenn es nur erst vorüber wäre — oh hätte ich Ihnen doch nicht gefolgt, mich nicht überreden lassen.“
„Fort auf Ihren Posten,“ rief aber Ohlers, sie der Thür zuschiebend. „Sie verderben sonst Alles und haben sich dann die Folgen selber zuzuschreiben.“ — Damit glitt er die Treppe hinunter und die Frau ging mit schwerem Herzen in das Schlafzimmer zurück, setzte sich dort auf den Stuhl vor ihrem kleinen Toilettspiegel, und löste sich die Haare auf, die sie dann kämmte und wieder zu flechten anfing. Erst wie sie so weit war, warf sie eine kleine Porzellan-Pomadenbüchse auf den Boden nieder, rückte ihren Stuhl etwas laut zur Seite, hob sie auf und fuhr dann, ohne sich umzusehen, in ihrer Beschäftigung fort.
Und wie sanft schlief Peters indessen — er rührte sich nicht, und nur das tiefe, regelmäßige Athmen seiner Brust verrieth, daß er lebe.
Jetzt fiel die Pomadenbüchse auf die Erde, und er öffnete, wie erschreckt, die Augen, schloß sie aber gleich wieder, noch halb im Schlafe. — Jetzt wurde der Stuhl gerückt, und nach einer Weile hörte er, wie Jemand leise aber deutlich seufzte.
Doktor Peters war munter geworden, aber er hielt die Augen noch geschlossen, und überlegte sich nur im Stillen, wer denn in seinem Zimmer sein könne. Die Gedanken gingen ihm auch noch bunt und wirr durch den Kopf, denn mit der Erinnerung an seine letzte Krankheit und der damals genossenen Pflege verschwamm in diesem Moment der letztverflossene Abend, dessen Folgen er noch in seinen matten Gliedern fühlte. Er besann sich auch jetzt vergebens darauf, wie er nur möglicher Weise gestern Abend nach Hause gekommen sein könne, und mußte sich gestehen, daß er auch nicht die Spur mehr davon wußte. — Er war doch nicht etwa betrunken gewesen?
Wieder hörte er einen leisen Seufzer und öffnete jetzt entschlossen die Augen, denn er mußte doch wissen, wer hier in seinem Zimmer zu seufzen hatte. Wie er aber den Kopf drehte, sah er eine Frau vor einem ihm fremden Spiegel sitzen und sich die Haare machen — und das Zimmer — wo, um des Himmels willen, war er denn eigentlich?
Wieder schloß er die Augen und fing an sich ernstlich zu besinnen. Wohin konnte er denn nur gerathen sein? war er schon auf dem Dampfboote, das ihn nach Arkansas bringen sollte? — unmöglich, die Damenkajüte blieb dort vollkommen abgeschlossen, aber — er [S. 55] mußte jedenfalls geträumt haben. Wo wäre er in Wirklichkeit jemals aufgewacht und hätte eine Dame sich die Haare machen sehen.
Wieder der Seufzer. Ordentlich erschreckt fuhr er von seinem Lager empor und sah sich um — ein Bett mit Gardinen und diese halb zurückgeschlagen? Da drüben die Frau, die ihm den Rücken zudrehte, und ganz unbekümmert ihre Toilette machte — dazu vollkommen fremde, bunte Gardinen — an der Wand an verschiedenen Haken Frauenkleider — dem Doktor schwindelte es ordentlich, denn plötzlich kam ihm der furchtbare Gedanke, daß er wahnsinnig geworden wäre, und jetzt eine Menge von Dingen sähe, die gar nicht existirten, und möglicher Weise nicht einmal existiren konnten .
Zugleich aber erwachte der Gedanke in ihm, daß dies möglicher Weise eine Vision sein könne — ein Truggebild seiner Sinne, das schwinden würde, sobald er ordentlich erwache — oder wenn er wirklich schon jetzt wach wäre, das doch einem ruhigen Ueberlegen weichen müsse, und er beschloß deßhalb, die ihn umgebenden Bilder fest und genau seinem Geist einzuprägen, damit er später wenigstens, wenn Alles wieder verschwunden wäre, die Erinnerung daran bewahre.
Dort drüben waren zwei Fenster mit herunter [S. 56] gelassenen Gardinen, die wohl das Sonnenlicht hereinließen, aber das Zimmer von außen jedem neugierigen Blick abschlossen. Neben der Thüre stand ein Waschtisch mit einem Handtuch daneben, an der Wand hingen zwei Bilder, das eine ein Herr mit einem grünen Frack, der einen auffallend schmalen Kragen hatte, während das weiße Jabot weit vorstand — der Herr war auch sonderbar spitz frisirt, und in der hochgehobenen Hand hielt er einen Blumenstrauß. Die Dame, ein sehr hübsches jugendliches Gesicht, hatte eine Haube mit Spitzen auf, trug aber auch sehr altmodische Kleidung, wie man sie nur auf alten Familienbildern findet. Und das war noch nicht Alles — dort an der Wand stand noch ein anderes Bett, in dem augenscheinlich Jemand die Nacht geschlafen hatte. Die Decken waren noch Alle verschoben — wunderbar. Rechts an der Wand stand eine Kommode mit einer Anzahl vergoldeter Tassen und zwei großen hübschen Vasen — der Doktor rieb sich die Augen — das waren genau zwei solche Vasen, wie er sie einmal zum Geburtstag der Frau Reuter geschenkt hatte — und die Frau — war denn das nicht die Frau Reuter selber? — Er konnte ihr Gesicht von dort, wo er lag, nicht sehen, nicht einmal im Spiegel, vor dem sie saß, aber die ganze Gestalt paßte zu ihr — auch das volle, kastanienbraune [S. 57] Haar, das sie jetzt eben, zusammengeflochten auf ihrem Kopf, mit genau einer solchen Nadel befestigte, wie die Wirthin im Lindenbaum zu tragen pflegte.
„Merkwürdig,“ dachte der Doktor, fiel wieder zurück auf sein Kissen und starrte in die über dem Bett zusammengesteckten Gardinen hinauf. Wie der Blitz fuhr er aber auf’s Neue in die Höhe, denn noch einmal hörte er den Seufzer, und zwar so klar und deutlich, daß eine Täuschung seiner Sinne nicht mehr möglich schien.
„Oh du mein Gott,“ sagte er leise vor sich hin, aber die Töne waren zu dem Ohr der Frau gedrungen, und sich rasch umwendend — sie hatte ihre Frisur gerade beendet — sprang sie von ihrem Stuhl auf und rief:
„Dem Himmel sei Dank — Du bist wieder erwacht, Eduard?“
Eduard? Du? — Das war die Wittwe, wie er nur ihr Gesicht sah — aber die Anrede, der Ausruf? Er schloß wieder die Augen, denn er mußte träumen.
„Ach Eduard, welche Angst haben wir um Dich ausgestanden,“ sagte da die Stimme wieder, und der Doktor fuhr in die Höhe, als ob er einen Schuß bekommen hätte. Er richtete sich auf seinen Ellenbogen auf, und sah sich wild und verstört um.
„Ja, aber um Gottes willen,“ rief er — „Frau Reuter! Wie kommen Sie denn?“
„Oh Gott sei gepriesen! er kommt wieder zu Verstand,“ sagte die Frau mit gefalteten Händen — „er kennt mich,“ und rasch trat sie zu dem Glockenzug und läutete daran.
Der Doktor schüttelte mit dem Kopf. „Er kommt wieder zu Verstand!“ hatte sie gesagt, sollte er denn den schon einmal verloren gehabt haben? Unwahrscheinlich kam ihm das gar nicht vor, wenn er sich seine jetzige Situation überlegte, und er würde sogar weit eher geglaubt haben, daß er ihn noch gar nicht wiedergefunden. Aber jetzt wurden Schritte draußen laut: es klopfte an, und ehe er selber nur einen Entschluß fassen konnte, hatte die Frau schon die Thür geöffnet, und Ohlers, Degmar und Dölzig traten in’s Zimmer.
„Hurrah!“ rief Ohlers aus, wie er nun den Doktor sah — „wieder frisch und gesund: hab’ ich denn nicht recht gehabt? Ich wußte , daß es ihm nicht schaden würde, denn es war nur ein kalter Schlag.“
„Ein kalter Schlag?“ wiederholte der Doktor verdutzt, und sah nur noch, wie die Frau Reuter hinter den Herren das Zimmer verließ.
„Vor allen Dingen, Peters,“ sagte aber Ohlers feierlich, „haben wir Dir Abbitte zu thun, daß wir [S. 59] damals das, was Du eine Ahnung nanntest, bespöttelten und mißachteten.“
„Abbitte? Ahnung?“ rief der Doktor, „wollt Ihr mich wirklich verrückt machen, oder bin ich es schon?“
„Und solltest Du Dich wirklich nicht mehr auf die Vorgänge des gestrigen Abends besinnen?“ sagte Ohlers.
„Bester Ohlers,“ warf Degmar dazwischen, „das war genau so mit meinem Bruder, von dem ich Ihnen heute Morgen erzählt habe, und den ein ganz ähnlicher Anfall traf. Er erlangte nach kurzer Zeit seine vollständige Besinnung wieder, aber was unmittelbar dem Anfall vorausgegangen, die letzten drei oder vier Stunden waren seinem Gedächtniß vollständig entschlüpft, und keine Spur davon mehr in seiner Erinnerung zurückgeblieben.“
„Einen Anfall?“ rief Peters.
„Nun gestern Abend,“ sagte Ohlers ruhig, „wie Du erklärt hattest, daß Du nicht reisen würdest, und der Wittwe Reuter die Hand reichtest — gerade wie Euch der Friedensrichter als Mann und Frau zusammengab —“
„Als Mann und Frau?“ schrie Peters, und fuhr mit beiden Beinen aus dem Bett, ebenso rasch [S. 60] aber auch wieder, einen scheuen Blick im Zimmer umher werfend, zurück und sah die Freunde erstaunt, ja ordentlich verstört an. Plötzlich aber glitt ein Lächeln über seine gutmüthigen Züge, und dem Apotheker verschmitzt mit dem Finger drohend, sagte er:
„Ohlers, Du Schwerenöther, Du willst Dir gewiß einen Jux mit mir machen.“
Degmar konnte sich nicht mehr halten, er platzte gerade heraus, rief aber dabei:
„Nein, das ist zu komisch, jetzt weiß der nicht einmal, daß er verheirathet ist.“
„Hören Sie, Degmar,“ sagte Ohlers ernst, „da ist gar nicht viel Komisches dabei, und wir wollen wahrhaftig keine Zeit versäumen. Bleib nur noch im Bett liegen, Peters, deck Dich warm zu und warte einen Augenblick, ich will gleich nach dem Doktor Becker schicken, denn der Anfall könnte doch sonst am Ende ernstere Folgen haben.“
„Thun Sie das, Ohlers,“ sagte Dölzig, der den Doktor indessen ernst und fast traurig betrachtet hatte, „Degmar und ich bleiben indessen bei ihm.“
„Zum Doktor schicken? und weßhalb?“ rief aber Peters, indem er sich nach seinen Kleidern umsah, „ich bin so wohl wie ich je gewesen, und will aufstehen. Wenn Jemand zum Doktor gehen muß, kann ich’s [S. 61] selber thun; übrigens, wenn Ihr mich nicht verrückt machen wollt, so erzählt mir jetzt ruhig, was vorgegangen ist, und überlaßt dann das Andere mir. — Sie Dölzig sind der Vernünftigste von den Beiden, was ist mit mir seit gestern Abend geschehen, und wo bin ich hier?“
„Ich könnte Ihnen die letzte Frage gleich zuerst beantworten,“ sagte Dölzig ruhig, „aber lassen Sie uns lieber von vorn beginnen, denn ich fange jetzt an, selber zu glauben, daß jener merkwürdige Zufall Ihre Erinnerung für den Augenblick gestört oder doch umflort hat.“
„Merkwürdiger Zufall? welcher?“ sagte Peters.
„Erinnern Sie sich nicht mehr, gestern Ihren Entschluß geändert zu haben, nach Arkansas zu gehen?“
„Keine Silbe,“ rief Peters rasch.
„Auch nicht, daß Sie der Wittwe Reuter einen Heirathsantrag gemacht, als wir, Ohlers, Degmar und ich, mit Ihnen im anderen Zimmer waren, wohinein Sie uns selber riefen?“
„Ich?“ rief Peters erschreckt.
„Und daß wir dann meinen Nachbar, den Friedensrichter Buttler, holen ließen, und der Sie zusammengab?“
„Mich und die Wittwe?“ schrie Peters wieder in äußerstem Erstaunen.
„Und daß, wie er die Worte gesprochen, und Sie der früheren Frau Reuter, jetzigen Frau Doktor Peters die Hand reichten, ein plötzlicher Blutandrang nach dem Kopfe, oder Gott weiß was sonst, Sie erfaßt haben muß, denn Sie brachen zusammen, als ob Sie vom Blitz erschlagen gewesen wären.“
Der Doktor sah den Redenden stier an.
„Bei Gott!“ rief er, „und — ich glaube Sie haben Recht — ich fange wirklich an, mich zu besinnen.“ — Im Geist hatte er sich nämlich diesen immer gefürchteten Augenblick so oft herauf beschworen, und in seine Träume hinein verwebt, daß ihn die Erzählung desselben als Wirklichkeit gar nicht mehr so sehr überraschte. — „Merkwürdig! merkwürdig! Oh meine Ahnung! Siehst Du, Ohlers, habe ich damals nicht Recht gehabt — und Du lachtest?“
Ohlers mußte jetzt mit aller Gewalt, deren er fähig war, zurückhalten, daß er nicht in diesem Moment wirklich herausbrach, aber Dölzig kam ihm zu Hülfe und fiel rasch ein:
„Sie können sich unseren Schrecken denken. Von den übrigen Gästen waren noch einzelne da, die wir doch nichts wollten merken lassen, wir trugen Sie [S. 63] deßhalb rasch in Frau Reuters Schlafzimmer“ — der Doktor warf still und hochaufathmend den Blick umher — „und die Angst der armen Frau kann ich Ihnen gar nicht beschreiben,“ fuhr Dölzig fort — „aber Gott sei Dank, daß jetzt Alles so gut vorübergegangen ist. Sie sind wirklich mit einem blauen Auge davon gekommen, Peters.“
„Merkwürdig, merkwürdig“ sagte immer noch, leise vor sich hin mit dem Kopf schüttelnd, der Doktor, „und so wäre ich eigentlich verheirathet, ohne daß ich selber etwas davon wüßte.“
„Aber Sie sagten ja eben, daß Sie sich darauf besinnen.“
„Ja, aber nur dunkel, ganz dunkel, und wo ist die Frau Reu — wo ist meine Frau?“
„Draußen,“ sagte Ohlers, „und in Todesangst, daß der Anfall böse Folgen für Dich haben könnte.“
„Gute Frau,“ murmelte der Doktor leise vor sich hin, „aber Kinder — thut mir den Gefallen und geht auf einen Augenblick hinaus, daß ich aufstehe und mich ankleiden kann, mir schwindelt der Kopf noch; ich muß mich erst mit kaltem Wasser waschen, daß ich wieder ordentlich zur Besinnung komme. Sowie ich fertig bin, ruf ich Euch.“
Die Verbündeten waren froh, jetzt fortzukommen, [S. 64] denn Degmar besonders konnte sich kaum länger ernsthaft halten. Der Doktor aber stand auf, wusch sich und zog sich an, und wollte dann eben an der Klingel ziehen, als es wieder an die Thür klopfte.
„Herein.“
Es war Ohlers.
„Hör einmal, Peters,“ sagte der Apotheker, und legte dem Doktor seine Hand auf die Schulter, „ich habe eben mit Deiner Frau gesprochen.“
„Mit meiner Frau, Ohlers?“ flüsterte Peters, und ein leises Lächeln flog über seine Züge, „ich kann Dir gar nicht sagen, wie sonderbar das klingt.“
„Na natürlich ist Dir der Ehestand noch neu,“ meinte der Apotheker, „aber — Du kennst ja die Frauen. Mit der Civilehe ist es eine recht schöne Sache, aber wenn sie den Pfaffen nicht doch noch dabei haben, glauben sie, daß die Geschichte nicht ordentlich geleimt und verkittet wäre. Außerdem mit dem Zufall gestern Abend — wenn auch Alles in Ordnung ist — und so läßt sie Dich fragen, ob Du etwas dagegen hättest, wenn wir heute Morgen — nachdem Ihr doch nun vor dem Friedensrichter gestanden und die Sache eigentlich abgemacht ist — noch einmal die kirchliche Trauung vornähmen. Wir Alle wissen ja [S. 65] recht gut, daß es nicht nöthig ist, aber lieber Gott, die Frau beruhigt’s.“
„Ich habe auch nichts dagegen, Ohlers,“ sagte Peters freundlich, „ja ich will Dir aufrichtig gestehen, daß ich, während Ihr unten waret, schon selber daran gedacht habe, und Frau — und meine Frau darum bitten wollte. Das Verhängniß ist gesühnt — ich wußte , welcher Gefahr ich ausgesetzt war, und glaubte nie, daß sie so leicht an mir vorübergehen würde. Jetzt ist es geschehen, und es würde mir selber zur Beruhigung gereichen, nicht blos die dunklen, unbestimmten Umrisse meiner Trauung im Gedächtniß zu bewahren, sondern die feierliche Handlung auch bei vollem Bewußtsein noch einmal durchzumachen.“
„Bravo,“ sagte Ohlers, vergnügt in die Hände schlagend. „Umbreit ist schon unten, in einer halben Stunde kann Alles abgemacht sein, und weißt Du, was Ihr dann thut? Dann setzt ihr Euch auf den Dampfer Dayton und macht eine kleine Vergnügungstour nach Cincinnati oder St. Louis, oder wo Ihr sonst hin wollt, wir werden indessen schon hier zu Rechtens sehen, daß im Lindenbaum Alles seinen ruhigen Gang geht. Wie? hab’ ich Recht?“
„Guter Ohlers,“ sagte Peters, der tief gerührt schien, „mach und ordne Du Alles an, wie Du es [S. 66] willst, ich füge mich Dir ganz, denn ich weiß, daß Du es gut mit mir meinst.“
„Noch einmal Bravo,“ sagte der Apotheker, dem Doktor die Hand reichend, „und darauf kannst Du Dich verlassen, mein alter Junge, denn gerade weil wir es gut mit Dir meinen, haben wir Dir ja auch so zugeredet. Jetzt überlaß nur Alles mir — bleibe noch einen Augenblick hier oben, aber komm mit in das andere Zimmer herüber, denn Deine Frau muß sich auch ein wenig anziehen, und bis zum Frühstück soll Alles abgemacht sein.“
Ohlers hatte nicht zu viel versprochen; er trieb nach allen Seiten, und während die Frau ihre Toilette machte, richtete er in einem der Gastzimmer einen kleinen Altar her, an dem die heilige Handlung ohne Schwierigkeit und mit Anstand vollzogen werden konnte. Degmar besorgte indessen Blumen und sonstige Ausschmückung, Dölzig ging nach Haus, um seine Frau und Schwägerin, die eine zur Zeugin, die andere zur Brautjungfer abzuholen, und um halb elf Uhr führte er den kleinen Zug in feierlicher Prozession in das wirklich festlich hergerichtete Gemach hinüber.
Pastor Umbreit war dabei ebenfalls ein durchaus praktischer Mann, der sich nie lange bei der Vorrede aushielt. Die Trauungsrede, die er hielt, dauerte [S. 67] nicht länger als jede Trauungsrede eigentlich dauern sollte , etwa zehn Minuten, denn was ihnen der Geistliche sagen könnte, wissen die Brautleute schon außerdem, und haben es sich selber oft genug gesagt, und jetzt zum ersten Mal, nachdem sie die von Umbreit selber mitgebrachten Ringe gewechselt und der Segen über sie gesprochen worden, umfaßte Peters seine erröthende Frau, drückte einen langen Kuß auf ihre Stirn und flüsterte ihr zu, daß er sich recht — recht glücklich fühle, und sein ganzes Leben daran wenden wolle, sie ebenso glücklich zu machen, und ihr für ihre Liebe zu danken.
Nach der Trauung wurde ein gemeinschaftliches Frühstück eingenommen, dann ging Peters nach Hause, packte einen kleinen Koffer und schickte ihn auf den Dampfer Dayton. Vom Lindenbaum aus geschah ein Gleiches, und um ein Uhr Mittags, während das Gerücht der Trauung Pittsburg in Erstaunen setzte, und ehe noch irgend ein neugieriger Bekannter oder Stammgast anfragen und die Neuverlobten stören konnte, fuhren sie, nur von Degmar begleitet, den „schönen Strom“ hinab der „Königin des Westens“, Cincinnati, zu.
Drei Wochen blieben sie auf Reisen, und als Peters endlich mit seiner jungen Frau zurückkehrte, [S. 68] war er ein ganz anderer Mensch geworden. Er sah wirklich um zehn Jahre jünger aus, und mit der Gesundheit schien auch sein fröhlicher heiterer Sinn zurückgekehrt.
Von da an übernahm er die Wirthschaft, die sich bald zu einer der bedeutendsten in ganz Pittsburg hob, denn in dem Geschäft befand er sich wirklich in seinem Element. Auch seine abergläubischen Neigungen — wenn sie auch nicht schwächer wurden, nahmen doch nie wieder einen seiner Ruhe gefährlichen Charakter an. Aber er erfuhr auch nie, wie er damals von den Freunden überlistet worden — schon seiner wackeren Frau zu liebe beobachteten diese unverbrüchliches Stillschweigen. — Jetzt sind Beide todt. Die „Frau Doktorin,“ wie sie immer in der Stadt genannt wurde, starb vor etwa drei Jahren, und Peters überlebte sie nur um etwa zehn Monate, nachdem er ihr Andenken oft und oft gesegnet. Dadurch wurden auch die damaligen Verbündeten ihres Wortes entbunden, sie haben aber nie die gebrauchte List zu bereuen gehabt. Denn eine glücklichere Ehe als sie Peters mit seiner Frau die langen Jahre führte — hat es wohl kaum je gegeben.
In Wellheim, einem kleinen, reizend gelegenen Städtchen am Rhein, war heute die Lese beendet worden und so reichlich ausgefallen, daß allgemeiner Jubel im Orte herrschte. Die Sonne hatte auch den ganzen Sommer und Herbst tüchtig auf die vollen, prachtvoll gebräunten Trauben niedergebrannt, und man durfte auf einen Wein rechnen, der sich den besten Jahrgängen an die Seite stellen konnte. Was Wunder denn, daß man mit dem „alten“ Stoff aufzuräumen suchte, und die ziemlich zahlreichen Wirthshäuser in dieser Zeit von munteren Zechern gefüllt waren.
Wellheim lag unmittelbar am Ufer des herrlichen Stromes an einem außerordentlich sonnigen und günstigen Hang, und dicht darüber, so daß man es selbst bergauf bequem in einer halben Stunde erreichen konnte, stand eine jener alten, prächtigen Ruinen — [S. 70] früher die Geißel, jetzt die Zierde des Landes — und schaute mit ihren weiten öden Fensterhöhlen träumend auf das zu ihren Füßen ausgebreitete wunderschöne Thal hinab.
Schade freilich, daß das alte Schloß so gar verfallen und vernachlässigt war! Da auch dichtes Gebüsch umherwucherte und die alten, steinernen Treppen im Innern dem Einsturz drohten, so daß nur manchmal leichtsinnige junge Touristen das Wagstück versuchten, auf ihnen hinauf zu klettern und die Aussicht von da oben zu genießen, wurde die Ruine nur in seltenen Fällen einmal flüchtig von Fremden besucht. Die Bewohner von Wellheim kamen überdies nicht hinauf, und so wusch denn auch mit den Jahren der Regen den steilen, nie ausgebesserten Pfad, der zu der Ruine führte, so aus, daß es zuletzt ein eben solches Kunststück wurde, ihn zu erklimmen, wie die schon halbzerstörten Treppen im Innern des alten Schlosses zu besteigen.
Etwas hatte die Burg aber, wie so viele jener romantischen Stellen am Rhein: ihren Privat-Geist nämlich, und mit den Jahren, da man durchreisenden Engländern doch etwas erzählen mußte, bildete sich eine ordentliche kleine Sage aus.
Dieser zufolge sollte Hugo von Wildenfels, der [S. 71] letzte Raubgraf, der von hier aus in der „guten alten Zeit“ friedliche Bürger überfallen und geplündert hatte, endlich zu einem wunderbar schönen Burgfräulein am anderen Ufer des Rheins in Liebe entbrannt sein und beschlossen haben, seinem ruchlosen Leben zu entsagen. Ob er aber diesen guten und löblichen Vorsatz auch später gehalten haben würde, wenn er seinen Zweck, die Hand der Jungfrau, erreicht, weiß man nicht, denn er war jedenfalls zu spät gekommen. Kaiser und Reich nämlich, der ewigen Klagen müde, sandten ein paar helle Haufen von Rittern und Knappen gegen die Veste, in der sich Hugo von Wildenfels mit großer Tapferkeit vertheidigte. Schließlich jedoch, ob durch List oder Gewalt, sagt die Chronik nicht, drangen die Belagerer in die Burg und übten Vergeltung für jahrelangen Frevel. Während man den „rothen Hahn“ auf’s Dach derselben pflanzte, wurde der Raubritter gefesselt in seinen eigenen Hof geführt und dort, beim Schein der auflodernden Flammen, enthauptet, der Körper aber nachher nicht begraben, sondern in ein brunnenartiges Burgverließ geworfen, in welchem der Lebende viele unglückliche Opfer hatte verschmachten lassen.
Das war das Ende des tapferen Hugo von Wildenfels, das irdische wenigstens, denn es scheint, als [S. 72] ob ihn seine guten Vorsätze nicht im Grabe ruhen ließen. Zu gewissen Zeiten im Jahre sollte er wenigstens gesehen sein, wie er auf der hinausstarrenden Zinne seines verödeten Schlosses stand und den eigenen Kopf hoch in der Hand nach jener Burg hinüberhielt, in welcher die Auserwählte seines Herzens gewohnt. Ob er sich, indem er ihr den abgeschlagenen Kopf zeigte, damit entschuldigen wollte, daß er sein Wort nicht eingelöst und sie heimgeholt — und allerdings konnte ein solcher Fall als genügender Entschuldigungsgrund gelten — ob er, einem höheren Willen folgend, als abschreckendes Beispiel herumgehen mußte und deßhalb nicht die ewige Ruhe fand, man weiß es nicht. Soviel aber ist sicher, daß es keine alte und vielleicht auch wenige junge Frauen in Wellheim gab, die nicht fest daran geglaubt hätten, daß der kopflose Hugo von Wildenfels noch heutigen Tags — oder vielmehr Nachts — dann und wann erschien, und man hätte Manchen im Ort finden können, der bereit gewesen wäre selber zu beschwören, daß er das entsetzliche Gespenst mit eigenen Augen gesehen.
Uebrigens schien der Ritter seine alte, unheilvolle Thätigkeit jetzt wirklich eingestellt zu haben, denn wenn er sich einmal wieder auf seiner Zinne irgend einem Nachtwandler zeigte, so bedeutete das, wie man [S. 73] sich im Volk erzählte, jedesmal ein gutes Weinjahr, und die Kunde wurde darum immer mit Freuden begrüßt. Drehte sich doch die ganze Existenz der Leute um den Wein.
So war er auch heuer, und sogar zwei Mal, von zwei verschiedenen Leuten gesehen worden; und wie hatte er dabei seinen Ruf bewährt! Es gab gar nicht genug Gefäße im Orte, um nur den süßen Most zu fassen, und der alte Wein schlechterer Jahrgänge wurde um einen Spottpreis verkauft, nur um das Faß zu frischem Gebrauch frei zu bekommen.
Es dämmerte, und im „Burgverließ“, einer kleinen, aber sehr stark besuchten Weinschenke in Wellheim, hatte sich schon ein Theil der Stammgäste eingefunden, um dort, wie sie sich ausdrückten, „ihren Schoppen“ zu trinken. Das Wort „Schoppen“ ist freilich gefällig, denn es enthält gleich im Singular seinen Plural, und daß es nicht bei einem, auch wohl nicht bei drei und vieren blieb, ist sicher.
Trotz der wachsenden Beschäftigung in der Wirthsstube schien aber Rosel, des Wirthes liebliches Töchterlein, doch einen Augenblick Zeit gewonnen zu haben, auf den Hof hinaus zu eilen und ein paar Worte mit einem jungen Mann zu wechseln, der dort jedenfalls auf sie gewartet haben mußte. Sie fürchtete sich auch [S. 74] gar nicht vor ihm, sondern legte ihr Köpfchen ganz vertrauensvoll an seine Brust und litt es, daß er ihr wieder und immer wieder die Stirn küßte; aber es war ihr doch nicht freudig dabei zu Muthe, denn große helle Thränen standen ihr in den Augen und rollten dann schwer an den Wangen hinab auf ihr Mieder.
Endlich, während er ihr liebe und gute Worte zugeflüstert, wand sie sich aus seinem Arme.
„Ich muß fort, Bruno,“ sagte sie, sich mit der Schürze die verrätherischen Thränen abtrocknend, „Du weißt, der Vater will es nicht leiden, daß ich mit Dir spreche, und das Zimmer ist auch voller Gäste, so daß die Bärbel gar nicht mit ihnen fertig wird, und mehr kommen noch. Ein ganzes Boot voll ist den Nachmittag den Rhein hinaufgefahren, Alle wollten heut Abend bei uns einkehren.“
„Drei Tage hab’ ich Dich jetzt nicht gesehen, Rosel, und kaum drei Minuten kannst Du mir schenken,“ klagte der junge Mann; „das ist recht hart.“
„Aber Du weißt ja doch, daß es nicht von mir abhängt, Bruno,“ bat das Mädchen, „mir thut’s ja selber weh genug, aber kann ich es ändern? Leb’ wohl, ich bleib’ Dir gut, das ist sicher und Du hast mein [S. 75] Wort; nun hab’ Geduld, und vielleicht wird Alles noch besser, als wir denken.“
„Besser als wir denken,“ seufzte der junge Mann; „o, wenn ich Dich hier fortnehmen, wenn ich Dich zu meiner Mutter bringen dürfte, daß Du nur der Gesellschaft erst enthoben wärest!“
„Hab’ nur keine Sorge um mich, Bruno,“ lächelte das junge Mädchen wohl freundlich, aber zugleich auch recht wehmüthig, „ich bin hier schon gut genug aufgehoben. Schau’ nur, daß Du was schaffst und vor Dich bringst, ich halt’ treulich aus.“
„Und Dein Bruder —“
„Er ist nicht so schlimm, wie Du denkst,“ sagte das Mädchen treuherzig, „ein bischen roh wohl, lieber Gott, er hat sich lange in der Welt umhergetrieben, und daß ich den Menschen nicht heirathen will, den er mir zugedacht, mag ihm auch ein wenig in die Krone gestiegen sein, aber sie kennen die Rosel — er und der Vater — und wissen, daß sie, wenn sie ’mal was gesagt hat, nie im Leben davon abzubringen ist, mag’s nun biegen oder brechen.“
„Sie werden Dir so lange zureden —“
„Hab’ keine Angst, da zu dem Ohr geht’s hinein und zu dem wieder heraus; in’s Herz hinunter kommt nichts, verlaß Dich darauf. Aber jetzt muß ich fort, [S. 76] Jesus Maria, der da drinnen reißt mir noch die Klingel ab. Es sind gewiß mehr Leute gekommen. Leb’ wohl, Bruno —“
„Und wann seh’ ich Dich wieder?“
„Bist Du morgen Abend noch hier?“
„Ja, aber den ganzen Tag soll ich —“
„Sei morgen früh um neun Uhr auf dem Wege nach der Ruine, vielleicht mach’ ich’s möglich, daß ich ein halb Stündchen abkomme. Die Leut’ haben jetzt Werkeltags viel zu thun und da giebt’s bei uns mehr Zeit. So, schütz’ Dich Gott, Bruno,“ und ihm die Lippen zum Kuß hinhaltend, wand sie sich rasch aus seinem Arm und verschwand im Haus. Aber sie sollte nicht unbemerkt wieder in’s Schenkzimmer schlüpfen, denn ihr Vater, der eben mit einem großen Krug voll Wein aus dem Keller trat, stand im Flur und sagte finster:
„So? Hatt’ ich Dir’s nicht verboten, Dich mit dem adligen Hungerleider wieder einzulassen? und bist Du jetzt nicht draußen auf dem Hof bei ihm gewesen? Durch die Kellerluke hab’ ich Euch gesehen.“
„Was kann er dafür, daß er adlig ist, Vater!“ sagte das Mädchen; „wenn wir das kleine Von vor unserm Namen trügen, wär’ ich auch unschuldig daran.“
„Aber er hat nichts als seinen Dünkel im Kopf,“ brummte der Wirth, „und seiner Sippschaft sind wir ebenfalls ein Dorn im Auge.“
„Wenn er stolz wäre, hielt er doch nicht um die Wirthstochter an,“ sagte das Mädchen.
„Soll mich wohl noch bei dem Schreiber bedanken, daß er sich hier in ein warmes Nest zu setzen denkt?“ knurrte der Wirth, „und kurz und gut, ich leid’s nicht, daß Du zu ihm hältst. Er ist nicht stolz, Gott bewahre, und als ich ihm anbot, er sollte hier bei mir eintreten und die Wirthschaft lernen, was antwortete er da? Das dürfe er seiner Familie nicht zu Leide thun. Ei, zum Geier! sie haben das Brod kaum, was sie essen, und die alte, hochnäsige Baronin schleppt das alte, schwarze Seidenkleid schon so lange, daß man jeden Faden daran erkennen kann; aber versteht sich, Seide muß es sein und Spitzen drum herum und Blumen und Federn auf dem Hut. Kommt er mir noch einmal über die Schwelle, Gott straf’ mich, wenn ich ihm nicht schneller hinaushelfe, als er eingetreten ist.“
„Aber Vater —“
„Jetzt marsch, fort mit Dir, da drinnen sitzt die Stube voll Gäste und Du treibst Dich indessen draußen im Hof mit dem Lump herum; mach’, daß [S. 78] Du hineinkommst, und nimm den Krug mit — es ist guter.“
Rosel zögerte einen Moment; das Blut hatte bei den letzten Worten ihre Wangen verlassen und ein eigenes Feuer glühte aus den dunklen Augen des Mädchens — aber es war ja ihr Vater — sie durfte sich ihm nicht widersetzen. Nur mit einem schweren, recht aus voller Brust herausgeholten Seufzer nahm sie den Krug auf und ging an ihre Arbeit, während der Wirth, Paul Jochus, langsam und sich selber wenig genug um die zahlreichen Gäste kümmernd, in seine eigene Stube hinaufstieg und sich dort einschloß.
Paul Jochus hatte eigentlich eine recht lange Zeit keinen besonders guten Ruf in Wellheim gehabt, und gesellig verkehren mochten selbst jetzt noch nur Wenige mit ihm. Er war rauh in seinem Wesen und verschlossen, mit der üblen Angewohnheit dabei, daß er, wenn er mit Jemandem sprach, ihm nie in’s Auge, sondern immer bald auf die rechte, bald auf die linke Schulter sah. Außerdem blieb es in der kleinen Stadt, wo derartige Familienverhältnisse nicht geheim gehalten werden können, eine bekannte Thatsache, daß er seine verstorbene Frau, ein liebes, sanftes Wesen, stets roh und unfreundlich behandelt hatte, so daß sie [S. 79] sich, auch noch von Nahrungssorgen gequält, langsam aber sicher zu Tode grämte.
Es mußte damals in der That mit Paul Jochus’ Verhältnissen scharf bergunter gegangen sein; er hatte gespielt und viel Geld verloren und sich dann dermaßen dem Trunk ergeben, daß sämmtliche anständige Gäste sein Haus mieden und schon das Gerücht in der Stadt ging, das „Burgverließ“ würde nächstens von Gerichtswegen öffentlich versteigert werden, nur um die aufgelaufenen Schulden zu bezahlen.
Sein Sohn erster Ehe, Franz, war inzwischen draußen in der Fremde gewesen; er hatte sich mit der Stiefmutter nicht vertragen können, weil ihm diese das nicht wollte hingehen lassen, was sie bei dem Gatten nicht hindern konnte. Er war Künstler geworden, wie er sich nannte, als er zurückkam, Kupferstecher und Lithograph, und beabsichtigte, sich jetzt am Rhein niederzulassen.
Da starb die Mutter, und erst nach ihrem Tode mochte Paul Jochus wohl fühlen, was er an ihr gehabt, was er an ihr gesündigt, denn er ging eine Weile wie gebrochen umher und hatte dabei das Trinken fast ganz aufgegeben. Er sah auch wieder fleißig nach seiner Wirthschaft, und wenn auch noch immer nur sehr wenig Gäste bei ihm einsprachen, schien es doch [S. 80] als ob sich seine Umstände von Tag zu Tag wieder besserten. Vom Verkauf des Grundstücks war keine Rede mehr, ja sogar die aufgelaufenen Schulden wurden nach und nach abbezahlt, und da Rosel indeß herangewachsen war und dem Schenkzimmer selber vorstehen konnte, zog sie durch ihr freundliches Wesen bald wieder eine Menge Gäste in’s Haus, doch ohne sich je das Geringste gegen einen derselben zu vergeben. Ueberhaupt hatte das junge Mädchen trotz ihres zarten Alters etwas ungemein Bestimmtes in ihrem ganzen Wesen, und die Wellheimer wußten, was sie sagten, wenn sie die Rosel „ein wahres Prachtmädel“ nannten.
Wo nur der Jochus das viele Geld herbekam? So viel warf die Wirthschaft doch nicht ab, das konnten sie ihm recht gut nachrechnen, und in den letzten zwei Jahren hatte er sich ein Stück Weinberg nach dem andern gekauft. Einige sagten zwar, der Sohn habe Geld mit aus der Fremde gebracht; Andere wollten behaupten, der alte Jochus hätte eine Erbschaft gemacht — wo es aber auch herkam, von Jochus selber erfuhren sie es nicht, denn der war eher noch verschlossener als sonst, aber jetzt auch, was sich nicht läugnen ließ, ein vollkommen anderer und ordentlicher Mensch geworden. Wenn er mehr Geld hatte als [S. 81] früher, verthat und verpraßte er es nicht, sondern legte es auf vernünftige Weise an, und da er keiner Seele mehr etwas schuldete, brauchte sich auch Niemand darum zu kümmern, woher ihm seine Mittel flossen.
Franz, sein Sohn, war kurze Zeit bei ihm im Haus gewesen, und es hieß einmal, er wolle sich in Wellheim selber etabliren. Der kleine Ort würde ihm jedoch kaum Beschäftigung genug geboten haben, und wenn er je den Plan gefaßt, gab er ihn wieder auf. Er hatte sich auch gleich einen Compagnon mitgebracht, einen jungen Herrn aus Berlin, der sich immer fein kleidete, immer Glacéhandschuh trug und sich natürlich gleich nach den ersten vierundzwanzig Stunden sterblich in Rosel verliebte, ja, ihr sogar seine Hand anbot und von dem Bruder lebhaft dabei unterstützt wurde. Rosel mochte ihn aber vom ersten Augenblick an nicht leiden, denn er hatte etwas Freches und Spöttisches in seinem Wesen, und als er sogar noch zudringlich wurde, fertigte sie ihn so entschieden, auf nicht mißzuverstehende Weise ab, daß er seine Werbung nothgedrungen einstellen mußte.
Franz hatte danach einen heftigen Auftritt mit Rosel, und da sich die Geschwister überhaupt nicht recht vertragen konnten, siedelten die beiden jungen [S. 82] Männer nach Hellenhof, einer größeren Stadt, über, die etwa anderthalb Stunden von Wellheim entfernt, doch tiefer im Land, vom Rhein ab lag. Dort, hieß es, wollten sie sich niederlassen, und dort blieben sie auch, und nur sehr selten kam Franz noch manchmal nach Wellheim zum Besuch herüber, wobei er dann nie verfehlte der Schwester von seinem Compagnon vorzureden, wenn gleich immer vergeblich.
Der alte Jochus hatte sich indessen fast ganz von dem „Geschäft“ zurückgezogen, bei dem er fast nur noch den Einkauf des nöthigen Weines und das Keltern des eigenen besorgte. Sonst freilich saß er manchmal bis Mitternacht und noch länger bei den Gästen unten in der Stube, trank mit ihnen oder spielte Karten. Jetzt aber, seit er ordentlich geworden, zog er sich an jedem Abend auf seine Stube zurück und mußte dann auch jedenfalls gleich zu Bette gehen, denn man hörte ihn nie lange in seinem Zimmer.
Heute schien er sich noch früher loszumachen. Er war den ganzen Tag mürrisch und verdrießlich gewesen und hatte Stunden lang auf einem Stuhl in der Ecke gesessen und vor sich niedergestarrt. Es ging ihm jedenfalls etwas im Kopf herum, einem Menschen aber vertraute er’s nicht an, am wenigsten der Rosel, wenn er sie auch sonst lieb genug hatte. Diese wußte [S. 83] auch schon, daß solche böse Stunden — und jetzt öfter als früher — wohl manchmal über ihn kamen. Wenn man ihn aber dann in Ruhe ließ, gingen sie auch wieder von selber vorüber, und am nächsten Morgen geschah es dann nicht selten, daß er lustig im Haus herumpfiff und ein ganz anderer Mensch geworden schien.
Der Rosel war es deshalb recht lieb, daß er sich heute so früh abschloß. Der böse Geist, der in ihm stak, mußte eben austoben, nachher sah er die Welt wieder mit freundlicheren Augen an, und morgen ließ sich vielleicht auch ein vernünftiges und ruhiges Wort mit ihm über Bruno reden. Vor zehn Uhr stand der Vater doch nie auf, kam wenigstens, schon seit langen Monden, nie früher zum Vorschein, und um neun Uhr hatte sie ja Bruno auf den Weg bestellt. Da wollte sie mit ihm Rücksprache nehmen, und wenn möglich, einen Plan für ihr künftiges Leben fassen. Jetzt aber schüttelte sie alle die Gedanken ab, denn da drinnen gab’s wahrlich genug zu thun und Bärbel, das Schenkmädchen, und Caspar, ein armer Verwandter, den Jochus als angehenden Kellner ins Haus genommen, hatten alle Hände voll Arbeit.
Das Burgverließ, wie das Haus nach der Weinstube im ganzen Städtchen genannt wurde, war eines jener altmodischen geschnörkelten Giebelhäuser, wie man sie noch so häufig am Rheine findet. Es hatte kleine, enge, steinerne Treppen und oben ziemlich kleine Zimmer, einen mächtigen Keller aber unter dem Haus, und das Parterre ebenfalls gewölbt gebaut, mit einem großen Zimmer links vom Eingang, das als Schenkstube benutzt wurde, und einem kleinen rechts, welches früher das Wohnzimmer von Rosel’s Mutter gewesen und jetzt nur, in seltenen Fällen, als „gute Stube“ dienen mußte. Rosel hatte ihr Schlafzimmer oben, und die Dienstleute schliefen hinten hinaus.
Das Haus selber lag nicht unmittelbar am Rhein, sondern stieß vielmehr durch seinen Garten an ein kleines Haseldickicht, das, seiner nicht günstigen Lage wegen, noch nicht zu Weinbergen benutzt worden war und in einer engen Schlucht oder Delle fortlaufend, sich weiter oben an den eigentlichen Wald anschloß. In früheren Jahrhunderten hatte die Stadtmauer diesen Platz umgeben, und wenn sie auch jetzt an allen den Stellen, die sich vortheilhaft zum Bebauen zeig [S. 85] ten, fortgeräumt worden war und keine Spur mehr zurückgelassen hatte, so hatte man sich hier doch nicht die Mühe gegeben, die alten schweren Steine aus dem Wege zu schaffen. Die Mauer verwitterte allerdings mit der Zeit, aber das Geröll blieb liegen, und nur im Herbst war es über Tag ein Haupttummelplatz der Wellheimer Jugend, da dort eine Unmasse herrlicher Brombeeren wuchsen und die Haselnüsse ebenfalls ihre Anziehungskraft ausübten.
Doch Niemand kümmerte sich heute mehr um den kleinen Garten, den Rosel selber pflegte und auch trefflich in Stand hielt. Es war völlig dunkel geworden und wenn sich im heißen Sommer die Gäste auch manchmal ihren Schoppen hinaus in die freundliche Weinlaube nahmen und dort bis zehn oder elf Uhr im Freien saßen, so trat der Herbst doch schon zu kühl auf, um das jetzt noch zu gestatten.
So mochte es zehn Uhr geworden sein, und manche der älteren Stammgäste, die gewohnt waren zu rechter Zeit in’s Bett zu gehen, hatten das Burgverließ verlassen und ihren Heimweg angetreten. Dagegen war frischer Zuwachs gekommen und das Boot, von dem der alte Jochus schon zu Rosel gesprochen, von seiner etwas verspäteten Fahrt den Rhein herab zurückgekehrt. Das junge Volk hatte den Abend oben in [S. 86] irgend einer alten Ruine verbracht und auch wohl tüchtig dabei gezecht, aber versäumt, noch etwas für den Heimweg mit in’s Boot zu nehmen und natürlich auf der zweistündigen Fahrt wieder tüchtig Durst bekommen.
Es war eine lustige Reisegesellschaft aus Thüringen, auf einer Vergnügungsfahrt begriffen und mit eben gerade genug Geld in der Tasche, um den alten Vater Rhein zu besuchen und einmal auf ein paar Tage Arbeit und sonstige Scherereien zu vergessen. Sie sangen dabei ganz prächtige Lieder mit vollen melodischen Stimmen, und Rosel, die gar so gern singen hörte, setzte sich nicht weit von ihnen auf den Stuhl an’s Fenster und überließ der Bärbel jetzt vollständig das Bedienen der Gäste, deren Reihen sich freilich schon gedünnt hatten. Eigentlich fand man sonst um diese späte Stunde wenig Leben mehr in den Weinhäusern von Wellheim, aber gerade die jungen munteren Fremden mit ihren hellen Stimmen und prächtigen Liedern hielten auch heute manchen alten Knaben länger als gewöhnlich bei seinem Schoppen, und selbst als die Lieder verstummt waren, plauderte man noch zusammen.
Die Fremden wollten den morgenden Tag noch hier verbringen und erst gegen Abend stromab gehen; [S. 87] sie erkundigten sich deshalb, was es in der Nachbarschaft Sehenswerthes gäbe.
„Ei,“ rief da der Bäckermeister Bollharz, eine kleine kugelrunde Gestalt, der, wenn er lachte, gar keine Augen im Gesicht zu haben schien, weil sie vollkommen hinter den fettgepolsterten Backen verschwanden, „da müßt Ihr jedenfalls einmal unsere Ruine besuchen, die ist es schon der Mühe werth, und junges lustiges Volk wie Ihr seid, klettert auch wohl die alten Treppen hinauf, und von da oben hat man eine ganz wundervolle Aussicht.“
„Seid Ihr schon einmal oben gewesen, Meister Bollharz,“ lächelte Rosel, die sich die kleine unbeholfene Gestalt auf der schmalen, geländerlosen Treppe dachte.
„Gewiß bin ich, Jungfer Naseweis,“ nickte der behäbige Mann, „und das mehr als einmal, und noch dazu hinauf gelaufen wie ein Wiesel — das sind aber freilich so ein Jahrer dreißig her und jetzt, mit meiner Wohlbeleibtheit würde es auch nicht mehr so leicht gehen, keineswegs so geschwind. Steigt nur auf meine Verantwortung hinauf und stattet dem alten Nest einen Besuch ab — es liegt so jetzt öde und einsam genug zwischen den Büschen, und der alte Wildenfels muß schmähliche Langeweile haben.“
„Wer?“ frug einer der Fremden, „der alte Wildenfels? wohnt denn Jemand oben?“
„Wohnen? Gott soll uns bewahren, wer möchte in dem alten Eulenneste wohnen,“ sagte ein anderer der Gäste, der Stadtschreiber Mahler, indem er über seine Brille hinweg nach dem Fremden sah. „Hugo von Wildenfels, wie der letzte Bewohner jener Raubburg hieß, soll dort, der Volkssage nach, noch hausen und manchmal, den abgeschlagenen Kopf in der Hand, auf den Zinnen spazieren gehen.“
„Alle Wetter, das wäre interessant, dem zu begegnen!“ lachte einer der jungen Leute.
„Soll nur da hausen, Herr Stadtschreiber?“ sagte ein kleines graues Männchen, das etwas abseits von den übrigen an seinem Schoppen saß und bis jetzt ununterbrochen Wallnüsse dazu geknackt hatte; „ich dächte wir hätten hier in Wellheim doch genügend Beweise, daß er wirklich gesehen ist, denn die Achtbarkeit der Zeugen läßt sich nicht bestreiten.“
„Mein lieber Herr Registrator,“ rief ein junger Beamter, „wer hat ihn denn eigentlich gesehen? Ihr Vetter der Apotheker, und was das für ein Windbeutel ist, wissen wir Alle zusammen.“
„So?“ sagte das alte, etwas engbrüstige Männchen etwas gereizt, „und meine Schwägerin — Gott [S. 89] hab’ sie selig — hat wohl nicht vor jetzt drei Jahren fast den Tod vor Schreck gehabt, als sie eines Abends mit einer Gesellschaft von Hellenhof herüberkam und in ihrem Uebermuth noch einen Abstecher nach der Burg machte? Sie hat nachher sechs Wochen das Bett hüten müssen, so war ihr der Schreck in die Glieder gefahren.“
„Na,“ nahm da noch ein Anderer des Registrators Partie, ein pensionirter Steuerbeamter, der hier in Wellheim seine kleine Pension verzehrte, „ich dächte doch, wir hätten auch in diesem nämlichen Jahr Beweise genug, denn zweimal hat er sich da gezeigt und jedes Kind weiß, was für ein gutes Weinjahr das jedesmal verspricht. Der alte Gärtner Weber, dem gewiß Niemand nachsagen kann, daß er lügt, hat ihn selber das eine Mal gesehen, und das zweite Mal Ihr eigener Bruder, Rosel, der doch auch sonst nicht gerade abergläubisch ist.“
„Und ich glaub’s doch nicht,“ sagte Rosel, die beide Ellbogen mit den Händen haltend, lächelnd dem Gespräch zugehört hatte, „und wenn’s selber mein Bruder gesehen haben wollte.“
„Junges, übermüthiges Blut,“ sagte der alte Registrator, „glaubt nur immer das, was es selber sieht, und selbst das nicht immer, muß erst durch Schaden [S. 90] klug werden, und wenn ältere Leute etwas sagen so wird gewöhnlich darüber gelacht und gespottet.“
„Ach, bester Herr Registrator,“ erwiderte Rosel freundlich, „glauben Sie ja nicht, daß ich spotten wollte; nur die Geschichte von dem Ritter, der den Kopf unter dem Arme tragen soll, kommt mir so wunderbar vor, denn wenn dort oben noch etwas von dem alten Herrn von Wildenfels umgeht, so kann es doch nur der Geist desselben sein und nicht der Körper, und ein Geist kann doch wohl nicht mit abgeschlagenem Kopf umherwandern, denn wer wäre im Stande einem Schatten den Kopf abzuhauen.“
„Du redest gerade wie Du’s versteh’st, Kind,“ sagte der Registrator, ein alter Stammgast des Hauses, der auch bei der Rosel Pathe gestanden und sie oft auf dem Arme herumgetragen hatte, weshalb er sie auch noch immer Du nannte. „Der Schatten ist doch nur der Wiederschein des Körpers, und wenn man einem solchen den Kopf herunterschlägt, so kann ihn doch der Schatten nicht aufbehalten. Der Schatten wird natürlich nicht enthauptet, aber der Körper, und dadurch zugleich der Schatten.“
„Mein liebes Fräulein,“ bemerkte jetzt der alte Steuerbeamte, der ‚Herr Hauptcontroleur‘ in der Stadt betitelt wurde, da sich ein Mensch ohne Titel [S. 91] nicht gut denken ließ und nie im Leben hätte auf Pension Anspruch machen können, „Sie werden gewiß nicht leugnen wollen, daß es Dinge auf Erden giebt, die unser Verstand zu schwach ist zu begreifen, und daß wir durchaus noch nicht mit unseren Seelenkräften im Klaren sind, in wie weit wir mit einer anderen Welt in Verbindung treten können. Auch soll man Gott nicht versuchen, liebes Fräulein,“ setzte der Alte ernst hinzu, „und ein guter Christ hat an den Stätten, wo der Herr irrende Seelen zur Strafe umwandeln läßt, in der dafür bestimmten Nacht nichts zu suchen.“
„Lassen Sie’s sein, Herr Hauptcontroleur,“ lachte der Bäckermeister; „die Rosel ging auch nicht bei Nacht zu dem alten Schlosse hinauf. Bei solchen unheimlichen Geschichten ist uns Allen nicht geheuer, und es überläuft Einem schon ein ganz merkwürdiges Gefühl, wenn man einmal Nachts im Holze draußen nur einem ganz gewöhnlichen Menschen begegnet — viel weniger denn in einem solchen alten Raubschloß, wo früher so viele Unschuldige hingerichtet wurden und so viel Blut vergossen ist, einem derartigen Gespenst mit dem Kopf unter dem Arme. Ich bin auch nicht abergläubischer als Andere, aber ich glaube, mich rührte der Schlag vor Schreck, wenn mir einmal eine solche Gestalt in den Weg liefe.“
„Bah,“ sagte Rosel, verächtlich lächelnd, „Ihr urtheilt von Euch auf Andere, Meister Bollharz. Ich bin nur ein Mädchen, aber wenn es eine Wette gälte — ich ginge selber hinauf und bewiese Euch, daß Ihr Unrecht habt.“
„Hoho, Rosel,“ lachte der Bäckermeister, „das hab’ ich noch gar nicht gewußt, daß Sie auch prahlen können. Wenn ich Sie nun beim Worte nähme?“
„Ei, so thut’s!“ rief das junge Mädchen, während ihr in der Erregung des Augenblicks das Blut voll in Gesicht und Schläfe stieg — „was ich gesagt habe, habe ich gesagt.“
„Und Du wolltest jetzt bei Nacht allein hinauf in die Ruine gehen?“ rief der Registrator erschreckt. „Kind, versündige Dich nicht, denn schon ein solcher Gedanke ist gottlos.“
„Weil sie weiß, daß sie Niemand beim Worte nimmt,“ lachte der Bäckermeister. „He, Bärbel, gieb mir noch einen Schoppen — das ist aber wahrhaftig der letzte —“
Die jungen Fremden lachten — nicht über Rosel’s Anerbieten, sondern über den kleinen dicken Mann, der schon seit einer Stunde immer seinen ‚letzten‘ Schoppen bestellte, und doch nicht vom Fleck zu bringen war; das junge Mädchen aber, überhaupt heute [S. 93] Abend durch das Zusammentreffen mit Bruno und die harten Worte des Vaters gereizt, rief aus:
„Und wenn ich Euch nun beim Worte nähme, Meister Bollharz? Ihr habt die zwei schönen großen Orangenbäume, die Ihr mir immer nicht verkaufen wolltet. Sollen die mein sein, wenn ich jetzt — in diesem Augenblick nach der Ruine hinauf und hinein gehe und Euch auf irgend eine Art ein Zeichen bringe, daß ich dort gewesen?“
„Mädel, bist Du des hellen Teufels?“ sagte der Registrator erschreckt.
„Bravo, mein Fräulein!“ riefen lachend die jungen Leute, die noch immer nicht an den Ernst der Sache dachten und sich nur über das verdutzte Gesicht des kleinen dicken Bäckers amüsirten — „er hat die Lust am Wetten schon verloren.“
„So, meine Herren?“ sprach der Bäcker, ebenfalls mit einer tüchtigen Schoppenladung im Kopfe, von seinem Stuhle aufspringend und mit der Hand auf den Tisch schlagend, „das hat er aber noch lange nicht. Die beiden Orangenbäume sollen Ihnen gehören, Rosel, wenn Sie jetzt — und es muß bald Mitternacht sein — dort hinauf gehen, und ich will mein Lebstag ein Lügner heißen, wenn ich sie nicht selber herunter schicke.“
„Gut,“ rief das junge Mädchen, entschlossen sich von ihrem Platze erhebend, „ich gehe, die Wette gilt.“
„Wenn Sie aber nicht hinaufgehen und wieder unverrichteter Sache herunter kommen?“ frug der kleine Bäcker, dem doch schon um seine vielleicht zu leichtsinnig versprochenen Orangenbäume bange wurde.
„Dann bekommen Sie von mir jenen Kuß,“ sagte das junge Mädchen — und während sich ihr Antlitz blutroth färbte, spielte doch zugleich ein spöttisches Lächeln um ihre Lippen — „um den Sie mich schon so oft gebeten haben.“
Ein schallendes Gelächter belohnte die Abfertigung des kleinen Mannes.
Meister Bollharz war aber jetzt auch böse geworden. „Gut, Sie kleiner Trotzkopf, Sie,“ sagte er, „jetzt wollen wir doch einmal sehen, ob die Sache mit Prahlen abgemacht ist. Wenn Sie hinauf in die Ruine gehen und hinein in den Burghof, wo der steinerne Tisch steht, und dort von den Schößlingen, die daneben aus dem Boden gewachsen sind, einen abschneiden und mit herunter bringen, daß ich mich morgen früh überzeugen kann, Sie sind wirklich oben gewesen, so haben Sie bis morgen Mittag die [S. 95] Orangenstöcke im Hause und ich thue Ihnen öffentliche Abbitte, Ihren Muth angezweifelt zu haben.“
„Topp!“ rief das Mädchen, „es gilt!“ und wandte sich rasch der Thür zu; der alte Registrator ergriff sie aber noch am Arm und rief halb bittend, halb ermahnend:
„Rosel, mach’ keinen dummen Streich! Dein Vater ist jetzt nicht hier, daß er’s Dir verbieten könnte, aber ich leid’s ebenfalls nicht, und wenn Du auf Deinem Trotzkopf bestehst, geh’ ich hinauf und weck’ ihn.“
„Nein, Jungfer Rosel,“ rief der Hauptcontroleur, „lassen Sie um Gottes willen den Muthwillen bei Seite. Wissen Sie nicht die Geschichte von dem jungen Mädchen, das auch Muth genug hatte und bei ähnlichem Anlaß auf den Kirchhof hinausgeschickt wurde, um eine Gabel in das Grab eines an dem Tage beerdigten Selbstmörders zu stoßen? In der Aufregung stieß sie aber die Gabel durch ihr eigenes langes Kleid in den Erdhügel, und als sie fort wollte und sich gehalten fühlte, glaubte sie wahrscheinlich es sei der Todte, und brach vor Schreck und Entsetzen selbst todt an dem Grab zusammen. Man soll mit solchen Dingen keinen Scherz treiben!“
„Ich treibe auch gar keinen Scherz, Herr Hauptcontroleur,“ sagte das junge Mädchen freundlich, doch [S. 96] bestimmt, „ich will mir die beiden Orangenstöcke verdienen, dem Meister Bollharz zur Strafe, weil er mir nicht zutraut, was er selber keine Courage hat auszuführen. Wo ich aber gehe und stehe, bin ich in Gottes Hand, oben in meiner Kammer, oder in der alten, öden Ruine, und da ich nicht zu fürchten brauche dort bösen Menschen zu begegnen, so habe ich auch wahrlich keine Angst vor etwa umgehenden Geistern, mit oder ohne Kopf. Lassen Sie mich los, Herr Registrator, ich weiß, Sie meinen es gut mit mir, allein es hilft Ihnen nichts; wenn die Rosel einmal was gesagt hat, so führt sie’s auch durch, und weder Sie noch der Vater könnten mich jetzt daran mehr hindern. Ehe Sie den wach kriegten, wäre ich übrigens schon den halben Weg oben auf dem Burgberg. Gott befohlen miteinander, in einer Stunde bin ich wieder da!“ Und ehe sie wirklich Einer daran verhindern konnte, oder überhaupt mit sich einig war, ob sie nicht blos Scherz trieb, sprang sie hinüber in das ‚gute Zimmer‘, wo sie Capuze und Umschlagetuch liegen hatte, nahm aus der Küche ein Messer mit und eilte flüchtigen Laufes die Straße hinab.
Die jungen Fremden fingen jetzt ebenfalls an, sich für das bildhübsche junge Mädchen zu interessiren, und ein paar von ihnen griffen schon nach ihren [S. 97] Hüten und erklärten, daß sie ihr wenigstens von Weitem folgen wollten, damit ihr nicht etwa irgend etwas zustoßen könne. Bäcker Bollharz aber, den es besonders ärgerte, daß Rosel ihn so vor der ganzen Gesellschaft mit dem angebotenen Kuß bloßgestellt, rief, mit der Faust auf den Tisch schlagend, dann gelte die Wette nichts; aber sie sollten sie nur laufen lassen, die käme von selber wieder, und zwar ohne Zeichen, dann könne das hochnäsige Ding aber auch ihren Kuß für sich selber behalten, wie er seine Orangenstöcke, die er schon seiner Frau wegen nicht einmal hergeben dürfe.
Eine merkwürdige Umwandlung hatte das Verschwinden des jungen Mädchens in der Gesellschaft hervorgebracht, eine eigenthümliche Spannung, denn man wußte nicht recht, ob man darüber lachen, oder um das junge, waghalsige Ding besorgt sein sollte. Der alte Registrator fühlte sich am unbehaglichsten; es kam ihm fast so vor, als ob er dem Mädchen hätte wehren sollen, einen so unweiblichen, ja fast leichtfertigen Schritt zu thun. Wenn ihr nun doch etwas zustieß, wenn sie am Ende gar den Tod hatte vor Schrecken, mußte er sich dann nicht die bittersten Vorwürfe machen, daß er dabei gesessen und den Leichtsinn geduldet hatte?
Die jungen Fremden erkundigten sich indessen nach der eigentlichen Sage der Ruine, die ihnen der Hauptcontroleur auch auf das Genaueste und Umständlichste erzählte, und sie erklärten dann, daß sie morgen früh noch vor Tag aufbrechen würden, um mit der Morgendämmerung selber oben zu sein und zu sehen, ob das junge Mädchen ihr Wort gelöst habe. Der alte steinerne Tisch im Burghof war nicht zu verfehlen, und dicht daneben sollte sie ja, zum Zeichen, daß sie dort gewesen, einen der aufwuchernden Schößlinge abschneiden oder abbrechen.
Bei der Sage der Ruine blieb es in dieser Stimmung aber nicht, denn es dachte natürlich jetzt Niemand daran fortzugehen, bis Rosel von ihrer nächtlichen Wanderung zurückgekehrt sei, und darüber mußte jedenfalls eine Stunde verstreichen. Der natürliche Ideengang der Gäste lenkte sich mittlerweile auf andere Sagen und Spukgeschichten, an denen der Hauptcontroleur, der sich in früheren Jahren viel an den wilden Grenzdistricten aufgehalten, besonders reich war. Hauptsächlich wurden solche Geschichten dabei hervorgehoben, bei welchen der Muthwille des Menschen keck die Geisterwelt herausgefordert und dann, versteht sich, immer den Kürzeren gezogen habe. Da war das alte Haus an der Grenze, in dem früher ein be [S. 99] rüchtigter Schmuggler gelebt, der bei einem Streifzug erschossen wurde und später in seiner eigenen Wohnung umging, daß es Niemand mehr darin aushalten konnte. O ja, ein junger, leichtfertiger Franzose erbot sich den Geist zu bannen, aber Morgens fand man ihn bleich und todt mitten in der Stube liegen, ohne das geringste Zeichen einer Verletzung an seinem ganzen Körper. Und dann der junge Bursch, der Nachts unter den Rabenstein gegangen war, um auch, in Folge einer tollen Wette, einem der am Tage Gehenkten den Stiefel abzuziehen. Der kam auch nicht zurück, und wenn er auch nicht todt blieb oder wahnsinnig wurde, hat er doch nie in seinem Leben wieder gelacht und ist von da an selbst wie eine Leiche herumgegangen, bleich und elend und sich verzehrend, bis er endlich, noch in der Blüthe seiner Jahre, starb, aber Niemandem erzählen wollte, was er draußen an jener furchtbaren Stätte gesehen.
Auch der alte Registrator wurde dadurch von seinen eigenen unbehaglichen Gedanken ab- und diesem Thema zugelenkt und wußte eine solche Menge haarsträubender Geschichten, daß die kecke Rosel auf ihrer nächtlichen Wanderung fast schon vergessen war, und das Schenkmädchen, die Bärbel, immer wieder frischen Wein herbeischaffen mußte, um die ausgetrockneten [S. 100] Kehlen zu erquicken. Und wie flink bediente heute das sonst etwas träge oder langsame Mädchen die Gäste, denn nicht um die Welt hätte sie eine der da drinnen erzählten Schauergeschichten versäumen mögen, wenn’s ihr auch manchmal wie mit einer Gänsehaut über den ganzen Körper lief.
„Jesus, meine Güte!“ sagte plötzlich der Hauptcontroleur, dem es indessen einmal eingefallen war, nach der Uhr zu sehen. „Es ist ja schon Eins vorbei und das Mädel, die Rosel, noch nicht zurück. Die hätte doch wahrlich keine Stunde gebraucht, um hin und her zu laufen; wenn ihr nur nichts passirt ist!“
Der alte Registrator war erschreckt von seinem Stuhle aufgesprungen. „Schon Eins vorbei,“ stöhnte er, „wahrhaftig, Ihr Leute, jetzt... jetzt wird mir auch nicht wohl bei der Sache. Wir hätten die tolle Dirne nicht sollen gehen lassen! Der Himmel verhüte, daß dem Kinde etwas geschehen ist, ich würde mein Lebtag nicht wieder ruhig.“
„Wir wollen ihr nach,“ rief einer der jungen Burschen. „Ist vielleicht eine Laterne im Haus, die wir mitnehmen könnten, wenn wir sie oben brauchen sollten? Der Mond scheint auch schon unterzugehen und wir finden sonst am Ende den Weg nicht.“
Die jungen Leute waren aufgesprungen und griffen [S. 101] schon nach ihren Hüten, und in der That hatte sich die ganze späte Gesellschaft erhoben, denn die Angst um das junge Mädchen verdrängte alle anderen Gedanken. Da öffnete sich plötzlich die Thür, und Rosel selber stand auf der Schwelle, ernst und still, mit leichenbleichen Zügen. In der Hand trug sie einen kleinen grünen Busch, den sie neben dem Bäcker auf den Tisch warf, und sagte ruhig:
„Da, Meister Bollharz, ist Euer Zweig; ich werde mir morgen oder heute, denn es ist wohl schon spät geworden, die Orangenstöcke holen. Ihr könnt nachsehen oben, gerad’ unter dem steinernen Tisch weg hab’ ich ihn abgeschnitten.“
„Aber Rosel, um Gotteswillen, wie siehst Du aus, Kind? Wie eine Leiche! Was ist Dir geschehen?“ rief der Registrator.
„Mir geschehen? was sollte mir geschehen sein!“ sagte das Mädchen, „nur müd’ bin ich geworden von dem weiten Weg. Bärbel, sieh’ gut nach dem Licht, wenn die Gäste fort sind, und schließ’ die Thür ordentlich; ich will schlafen gehen.“
„Aber Rosel, so erzählen Sie doch,“ bat jetzt der Hauptcontroleur, der sie mit ängstlichen Blicken betrachtet hatte, denn etwas Uebernatürliches mußte ihr [S. 102] begegnet sein, das Entsetzen stand ihr ja noch an der Stirne geschrieben.
„Morgen, morgen,“ sagte das junge Mädchen ruhig. „Heute ist’s schon zu spät geworden und es wird Zeit, daß wir schlafen gehen. Gute Nacht mitsammen,“ und eines der schon fast niedergebrannten Lichter vom Tisch aufgreifend, verließ sie damit das Zimmer und stieg langsam in ihr eigenes Kämmerchen hinauf.
Wir müssen zu dem Augenblick zurückkehren, wo Rosel, noch mit Trotz und keckem Muth im Herzen, aus dem Hause sprang, um ihren einsamen Weg anzutreten. Still lachte sie vor sich hin, wenn sie sich schon im Geiste das erstaunte und verblüffte Gesicht des Meister Bollharz ausmalte, sobald sie ihm das Wahrzeichen brachte und er nun sein Wort halten und ihr die ihm so an’s Herz gewachsenen wundervollen Stöcke ausliefern mußte. Schenken wollte sie ihm dieselben wahrlich nicht, das war die gerechte Strafe, für das große Maul, das er immer führte und für seine ewige Wichtigthuerei.
Im Anfang hatte sie auch leichten, bequemen Weg. Die breite Chaussee, die nach Hellenhof führte, lief dicht unter dem Hügel hin, auf welchem die Ruine lag, und erst von dort ab, wo sie jene verlassen mußte, begann für sie die unbequeme Bahn, den ausgewaschenen, verwachsenen Pfad hinan, vor dem sich mancher Fußgänger schon am hellen Tage scheute.
Der abnehmende Mond stand freilich noch am Himmel, aber leichtes Gewölk jagte dann und wann darüber hin und warf seine wunderlichen Schatten auf die Erde nieder. Furcht kannte sie trotzdem nicht, und ebensowenig glaubte sie an die tollen Märchen des alten, gutmüthigen Registrators und des verschrobenen Hauptcontroleurs und gar nun des Stadtschreibers, der so voll von Aberglauben stak, daß er nichts im Leben that, ohne vorher den Kalender dabei um Rath zu fragen. Seine Nägel schnitt er sich nur am Freitag und würde ebenso leicht daran gedacht haben, sich den Hals ab-, als die Hühneraugen bei abnehmendem Monde auszuschneiden. „Unberufen“ war bei ihm das dritte Wort, und wenn er Morgens auf’s Rathhaus ging und ihm unglücklicher Weise ein Bauer mit einem Schwein begegnete, so bog er auch sicher in die nächste Straße ein oder kehrte, wenn das nicht möglich war, lieber wieder um, selbst beim [S. 104] schlechtesten Wetter den weitesten Umweg nicht scheuend, ehe er sich der Gefahr und den unausbleiblichen Folgen eines solchen Zusammentreffens ausgesetzt hätte.
Sie lachte still vor sich hin, als sie an all’ die tausend Rücksichten dachte, die der alte Stadtschreiber im Leben nahm, und wie er sich wohl betragen würde, wenn er jetzt, um ziemlich Mitternacht, den einsamen Weg zu der Ruine einschlagen sollte. Er wäre freilich wohl durch keine Summe Geldes zu bewegen gewesen, ein derartiges Wagstück zu unternehmen.
Wie stille und öde die Straße war, und was für große dunkle Schattenflecke die daranstehenden Wallnußbäume darüber warfen! Keine Menschenseele ließ sich blicken; die schliefen jetzt Alle in ihren warmen Betten und verschlossenen Häusern und — da hätte sie auch hineingehört. Was für eine tolle Idee es von ihr gewesen war, mitten in der Nacht den einsamen Gang zu thun, und nur aus Muthwillen, oder vielleicht aus Trotz, um den Meister Bollharz zu ärgern! Und was der Vater wohl morgen dazu sagen werde, wenn er es erfahre, und natürlich erfuhr er’s, war doch morgen gewiß die ganze Stadt voll davon. Rosel erschrak ordentlich bei dem Gedanken, denn das war ihr bis jetzt noch nicht eingefallen, daß sie nun Tage [S. 105] lang in aller Welt Mund sein würde. Unwillkührlich blieb sie mitten auf der Straße stehen; durfte sie sich, als junges, unbescholtenes Mädchen dem aussetzen? Wenn sie früher daran gedacht, hätte sie es sicher nicht gethan, jetzt war es freilich zu spät, denn kehrte sie nun wieder um, so wurde sie von der ganzen Gesellschaft ausgelacht, und das Gerede wäre doch das nämliche geblieben.
„Nun läßt sich nichts daran ändern,“ sagte sie trotzig vor sich hin, als sie wieder, aber langsamer als früher, vorwärts schritt. „Ich hätte mir’s vorher erst ordentlich überlegen sollen, aber das Alles kam so schnell. Wer denkt auch gleich daran, daß die Welt in Jedem ’was Böses findet, ich wahrlich nicht, und der Vater wird schon auch nicht so arg böse sein; mag er doch den Meister Bollharz ebenfalls nicht leiden, und auf den war’s ja doch gemünzt. Und die Frau Bollharz, wie wird die wüthend werden, wenn sie die Orangenstöcke herausgeben muß! Von der kriegt’s der Meister ordentlich, das ist sicher, geschieht ihm aber recht, dem alten verliebten Fleischklumpen dem.“
Da lag die Ruine. Wie sie eben um eine Biegung der Straße trat, konnte sie die alten Mauerreste deutlich erkennen, und ordentlich wunderlich sah es aus, wie der Mond jetzt gerade von der einen stehengeblie [S. 106] benen Thurmmauer verdeckt wurde und sein helles Licht durch die enge Schießscharte derselben warf.
„Ich muß wirklich ein wenig rascher gehen,“ flüsterte sie vor sich hin, während sie ihren Schritt beschleunigte, „oder der Mond kommt hinter die Berge, und dann reiß ich mir im Dunkeln auf dem Rückwege mein ganzes Kleid in den häßlichen Büschen entzwei. Daß der Mond auch gerade heute so früh untergeht!“
Sie hatte jetzt die Stelle erreicht, wo der alte Burgweg von der Straße rechts abbog und sich, von hier aus noch allmählich, dann aber immer steiler den Hügel hinanzog, bis endlich oben, dicht unter den frühern Ringmauern, eine ordentliche Treppe in den Felsen gehauen war, die mit zwanzig oder fünfundzwanzig Stufen auf die höchste Kuppe hinaufführte.
Der Hügel selber war meist mit Haselnußstauden, Birken und jungen Buchen bewachsen; Nadelholz stand nur vereinzelt dazwischen, und in früheren Jahren hätte man recht bequem bis zu den eingehauenen Stufen selbst reiten können. Jetzt aber war der Weg, wie schon erwähnt, lange vernachlässigt und seit ihn einmal ein Wolkenbruch fast zerstört, nicht wieder ausgebessert worden, so daß die Romantik der alten Zeit (wenn man sich wirklich zu ihr hinauf arbeiten wollte) schon hier unten am Hügel begann und sich [S. 107] steigerte, je höher man daran emporklomm. Rosel kannte ihn aber trotzdem, denn oft schon hatte sie, besonders mit ihrer seligen Mutter, den Weg gemacht; der armen Frau war damals wohl recht weh um’s Herz gewesen, an dem so vieler Gram und so viele Sorge nagten, und Stunden lang hatte sie dann oben auf dem Hügel gesessen und auf das freundliche Bild zu ihren Füßen hinausgeschaut, ohne selbst freundlich davon berührt zu werden. Nur still vor sich hin geweint hatte sie dort, und Rosel, den Kopf an ihre Schulter gelehnt, neben ihr gesessen und ihren Arm um sie geschlungen.
Der Gedanke an die verlorene Mutter füllte jetzt allein ihre Brust. Sie achtete kaum auf die Beschwerden des Wegs, und immer wieder dachte sie der lieben Dulderin, die so gut, so unendlich gut mit ihr gewesen und die sie doch so früh hatte in ihr Grab legen müssen. Und wie war Alles seitdem anders in ihrem Haus geworden; besser wohl als früher, denn Noth und Sorge kannte sie nicht mehr, auch trank der Vater nicht mehr, was der armen Mutter so manche bittere Thräne gekostet. Er war freundlicher als früher, thätiger in seinem Geschäft; die aber gerade, deren tägliches Gebet das immer gewesen, hatte es nicht erleben dürfen, und nie, nie wieder sollte sie in die [S. 108] treuen guten Augen schauen und ihr Haupt an das Herz legen können, das für sie so warm geschlagen.
Sie fühlte bei den Erinnerungen den rauhen felsigen Boden nicht, über den sie klomm, und hatte die Felsentreppe auf der Höhe erreicht, ehe sie es selber dachte. Jetzt aber verlangte der Augenblick wieder vollständig sein Recht, denn hoch über ihr ragten die dunklen unheimlichen Mauern empor, und wenige Minuten später sollte sie den Platz betreten, von welchem in den Köpfen der Menschen dort unten so viele schreckliche Geschichten spukten.
Bah, was war es denn? ein alter verlassener Steinhaufen, weiter nichts. Die Menschen, die ihn früher belebten, gute oder böse, schlummerten lange den ewigen Schlaf, und Gott würde ihnen wahrlich nicht gestatten, wenn sie schon zu Lebzeiten die Welt geärgert, auch noch nach dem Tode, noch nach Jahrhunderten, herumzugehen und Schrecken und Entsetzen zu verbreiten.
Rüstig erklomm sie die ersten Stufen, allein plötzlich hielt sie horchend inne. Unten im Thal, in Wellheim, von wo der frische Ostwind gerade herüberstrich, schlug die alte Stadtuhr. Deutlich konnte sie den Ton der Glocke hören und zählte die Schläge: acht, neun, zehn, elf, zwölf. Es war gerade Mitternacht [S. 109] und sie lächelte trotzig vor sich hin, als sie an die verrufene und gefürchtete Geisterstunde dachte. Kaum aber hob sie den Fuß, um die letzte Höhe zu erklimmen, als sie wieder, und diesmal erschreckt, aufhorchte, denn ihr war es plötzlich, als ob sie unter sich eine menschliche Stimme gehört hätte.
Waren ihr etwa einzelne Gäste aus ihres Vaters Hause gefolgt? Nein. Deutlich erinnerte sie sich von der letzten Höhe einen Blick hinab auf die vom Mond hellbeschienene Straße geworfen zu haben, wo sie jeden dunklen Gegenstand sofort hätte erkennen müssen, aber nichts regte sich dort, und so rasch wie sie den Gang erklommen, würde Niemand im Stand gewesen sein, ihr zu folgen. Todtenstille lag auf der Welt; ihr Ohr mußte sie getäuscht haben, und mit der Ueberzeugung klomm sie rasch die wenigen Stufen noch empor, die sie von der Kuppe trennten.
Und da stand die alte Raubburg unmittelbar vor ihr, mit ihren zackigen ausgebrochenen Mauern, dem alten Thurmrest, in welchem das entsetzliche Verließ seine Opfer hielt, mit den epheuumrankten Söllern und den hohlen Fensteraugen, und dort auf der breiten Zinne, auf die jetzt noch das helle Mondlicht fiel, sollte der Volkssage nach jener blut- und beutegierige Raubgraf seine Strafe abwandern und seinen Kopf, dort [S. 110] drüben über den Rhein hinüber, der anderen Veste entgegenhalten.
Rosel blieb einen Moment stehen, theils um Athem zu schöpfen, die hohen Stufen waren ihr sauer geworden, theils um sich erst wieder zu orientiren, denn es kam ihr sonderbar vor, wie fremdartig der sonst so bekannte Platz bei dem ungewissen Licht des Mondes aussah. Aber dort drüben befand sich ja gleich der Eingang in den Hof, da das eigentliche Hauptthor durch niedergestürztes Mauerwerk unpassirbar geworden, und in dem Hofe selber stand jener alte, riesige, steinerne Tisch, auf einem einzigen, ziemlich roh behauenen Pfeiler ruhte die runde Platte, wo früher wahrscheinlich Hugo von Wildenfels im Sommer freie und offene Tafel hielt und zechte und bankettirte, während unten im Thurm seine Opfer wimmernd verschmachteten.
„Recht wär’s ihm schon, wenn er umgehen müßte bis zum jüngsten Tage,“ murmelte Rosel vor sich hin, indem sie jetzt rasch der kleinen Pforte zuschritt, „verdient hätt’ er’s tausendfach, wenn nur die Hälfte von dem wahr wäre, was man sich erzählt, aber mir dürft’ er doch nichts thun, so viel ist sicher,“ setzte sie, ein frommes Kreuz schlagend, hinzu, „das litte der liebe Gott nicht.“
Sie hatte die kleine Eingangspforte erreicht, blieb aber doch, so muthig sie auch immer sein mochte, einen Moment auf der Schwelle stehen und blickte scheu in den inneren, öden Raum, auf dem schon die Mondesdämmerung lag, da die Mauern das Licht der schräg fallenden Strahlen abhielten. Aber er war vollkommen leer, kein Hauch regte sich darin, und Rosel, fast selber nur wie ein Schatten, schritt rasch und geräuschlos auf den deutlich erkennbaren Tisch zu, um den herum, durch hineingewehten Samen vielleicht, einige junge Buchenschößlinge Wurzel geschlagen hatten und im Sommer lustig Blätter trieben. Sogar unter dem Tisch hatte sich ein einzelner solcher Trieb herausgearbeitet, und diesen wollte sie nehmen, denn dadurch konnte sie am bestimmtesten denn Platz bezeichnen, so daß kein Zweifel möglich blieb.
Rosel trug das Messer, das sie aus der Küche mitgenommen, noch in ihre Schürze gewickelt, und niederkauernd kroch sie unter die Platte, um das zähe Holz leichter abschneiden zu können, als es ihr plötzlich mit einem jähen Schreck in’s Herz stach, denn in dem öden Raum sprach plötzlich eine Menschenstimme und deutlich hörte sie die Worte:
„Er wird nicht mehr hier sein, wir haben ihn zu lange warten lassen.“
Im ersten Moment war es, als ob das sonst so beherzte Mädchen in sich zusammenbrechen wolle, und nur mit Mühe unterdrückte sie einen lauten Angstschrei, der sie dann jedenfalls verrathen hätte. Fast krampfhaft klammerte sie sich an die Säule des Tisches an, der seinen Schatten schützend über sie breitete, und suchte vor allen Dingen die zu erkennen, die hier ihr nächtliches Wesen trieben und keinesfalls eine Ahnung haben konnten, daß sie belauscht wurden. Aber sie sollte nicht lange im Zweifel bleiben. Zwar war sie noch nicht im Stande, die Gestalten deutlich zu unterscheiden, nur daß es zwei Männer waren, die durch dieselbe Pforte den innern Raum betraten, sah sie; da sagte plötzlich eine andere dritte Stimme, die ihr das Blut stocken machte, denn es war die ihres eigenen Vaters:
„Na, zum Henker auch, wo habt Ihr Beiden Euch denn heut’ Nacht herum getrieben, daß Ihr nicht zur bestimmten Zeit hier sein konntet? Seit neun Uhr hocke ich nun schon hier oben in dem öden Nest, den Fledermäusen und Eulen zur Gesellschaft.“
„Wir konnten nicht früher kommen, Vater,“ erwiderte der Eine der Neugekommenen, ihr eigener Bruder, „gerad’ heute war rein der Teufel in Hellenhof los, und wir hätten jedenfalls Verdacht erregt, [S. 113] wenn wir früher den Platz verließen. Die Stadt schwärmte von Menschen, und Feuerwerk wurde überall losgebrannt, so daß wir gar keine Straße frei behielten. Ich hab’s mir gedacht, daß Dir die Zeit lang geworden.“
„Wirklich?“ knurrte der Vater wieder, „aber so macht wenigstens, daß Ihr jetzt herunter kommt. Was steht Ihr noch da oben?“
„Ich wollte erst ein Licht anzünden.“
„Ich habe Licht unten. Glaubt Ihr, daß ich die ganze Zeit im Finstern gesessen bin?“
Die beiden Gestalten schritten jetzt der nächsten Wand zu, in welcher sie zu verschwinden schienen; als sie aber die eine Stelle überschritten, auf die durch eine Mauerlücke das Mondenlicht fiel, erkannte Rosel deutlich den jungen Fremden, ihres Bruders Compagnon, für den Franz so oft um Rosels Hand angehalten. Was hatten die drei Menschen hier bei Nacht in der alten Ruine so Heimliches zu verrichten, daß sich Franz dazu von Hellenhof fortstehlen mußte? Weshalb scheuten sie das Tageslicht und das Auge der Menschen?
Rosel kauerte noch immer unter dem alten Tische; das Herz schlug ihr, als ob es ihr die Brust zersprengen wolle, und sie wagte nicht, sich zu rühren, [S. 114] aus Furcht entdeckt zu werden. Die Gedanken jagten sich ihr durch’s Hirn, und der erste war jedenfalls den Platz zu fliehen, sobald das unbemerkt geschehen könne, und, so rasch sie ihre Füße trugen, nach Wellheim zurückzukehren. Das sonst so besonnene charakterfeste Mädchen überließ sich indeß nicht lange diesem ersten, lähmenden Eindruck des Schreckes, und je mehr sie nachdachte, desto mehr schwand die Furcht vor irgend einer ihr selber drohenden Gefahr in der Angst um den Vater selbst.
Wohl kam ihr einmal der Gedanke, ihr Vater könne in Wellheim von ihrem Gang gehört haben und ihr gefolgt sein, aber eben so rasch mußte sie ihn verwerfen, denn hatte sie ihn nicht selber sagen hören, daß er schon seit neun Uhr ihren Bruder und jenen widerlichen Fremden hier vergebens erwarte? Weshalb? Was thaten sie hier im Dunkeln und war es etwas Gutes, das sie da mitsammen ausmachten? Sie fürchtete nein , denn dem fremden unheimlichen Menschen traute sie Alles zu, jedes Verbrechen, das er gewiß mit derselben kalten lächelnden Miene verübt hätte, wie er ihr seine faden Schmeicheleien sagte. Aber was konnten sie hier thun? Sie begriff es nicht; wenn sie nur im Stande gewesen wäre, ihnen zu folgen und sie zu belauschen!
Glücklicher Weise trug sie heute Abend ein dunkles Kleid und Crinolinen waren damals auch noch nicht Sitte, sie konnte sich also leicht in jede Ecke, in jeden dunkeln Winkel schmiegen; aber waren sie denn in der Ruine geblieben? Doch ja, es gab ja nur den einen Aus- und Eingang; sie kannte wenigstens keinen anderen, und dort an der Mauer waren sie verschwunden. Wenn sie ihnen dahin folgte, fand sie vielleicht ihre Spuren. Und wenn sie entdeckt wurde? Aber was konnte ihr von ihrem Vater und Bruder geschehen, war es ja doch nur die Sorge um die beiden ihr theuern Menschen, die sie antrieb, ihnen nachzuforschen.
Sie überlegte auch nicht lange; erst aber mußte sie sich das Zeichen sichern, das ihr in Armes Bereich stand; den kleinen schwanken Schößling schnitt sie ab, aber sie durfte ihn nicht mit sich tragen, das Rauschen seiner Blätter konnte sie verrathen. Sie glitt deßhalb zu der schmalen Pforte zurück, legte ihn dort außen an die Seite und schlich dann wieder auf den Zehen zu der Stelle, an welcher sie vorher die Gestalten aus den Augen verloren.
Wie dunkel das hier war und wie feucht und modrig es roch, als ob die Luft aus einem tiefen Erdgewölbe käme! Und war das nicht so? Erinnerte sie [S. 116] sich nicht von früher her, hier ein tiefes Loch gesehen zu haben, das weit hinein in die Erde ging, und vor dem sie sich immer gefürchtet hatte? Wenn sie jetzt hier einen Fehltritt that und hinabstürzte in diese grausenhafte Tiefe! Sie hielt erschreckt inne. Da war es ihr als ob sie von unten herauf Stimmen höre; sie konnte keinen einzelnen bestimmten Laut unterscheiden, doch es wurde dort unten gesprochen, und es mußte irgend einen Platz geben, auf dem sie ebenfalls dorthin gelangen konnte.
Vorsichtig und so geräuschlos als möglich fühlte sie sich weiter, und ihrer fast unbewußt hielt sie noch immer das Messer in der Hand, wie um sich gegen etwas Schreckliches zu schützen. Da plötzlich fand der rastend vorgestreckte Fuß keinen Grund mehr und an der Stelle niederknieend fühlte sie mit der linken Hand, daß dort etwas tiefer unten ein breiter Stein lag. War das eine Treppe? Vorsichtig trat sie hinab und fühlte sich weiter und Stufe nach Stufe legte sie so zurück, bis sie in der kalten Kellerluft ein Frösteln überlief. Jetzt aber war die Treppe zu Ende und ein schmaler feuchter Gang schien noch weiter hinab zu führen, doch wohin? Eine Strecke war sie ihm noch zitternd gefolgt, jetzt indeß wagte sie sich nicht weiter, denn immer steiler und schlüpfriger wurde der Paß, [S. 117] und sie schützte sich nur dadurch vor dem Ausgleiten, daß sie sich rechts und links mit den Händen an den nassen engen Mauern hintastete. Aber der Gang nahm kein Ende. Weiter getraute sie sich nicht; wenn sie nun den Rückweg nicht mehr fand und hier um Hülfe rufen mußte!
Da war es ihr, als ob sie einen schmalen Lichtstrahl an der Wand bemerke. Die Stelle konnte kaum noch drei Schritt von ihr entfernt sein, bis dahin wollte sie noch vordringen, aber weiter nicht; es schnürte ihr das Herz zusammen, daß sie kaum mehr athmen konnte. Wie steil und häßlich das hier nieder ging, und wie tief mußte sie schon unter der Erde sein! Doch jetzt hatte sie die Stelle erreicht, und als sie ihre Hand an die Wand legte, fiel ihr das Licht auf die Finger. Sie bog sich noch etwas weiter vor, um zu sehen, woher es käme, und erkannte plötzlich, daß der Strahl aus einem tiefen Gewölbe herausschimmerte, von dem sie nur eine dünne Mauer schied, aus welcher jedenfalls ein Stein herausgebrochen sein mußte.
Die Breite des Durchbruchs verhinderte aber immer noch, daß sie mehr als den oberen Theil des unterirdischen und jetzt matt erleuchteten Gewölbes erkennen konnte, und erst als sie sich mit den Händen anklammerte und dadurch emporhob, durfte sie einen [S. 118] Blick hinabwerfen. Aber selbst dann begriff sie noch nicht gleich, was da unten vorging, denn sie bemerkte wohl die drei Männer, die an einem Tisch standen, sie sah auch, daß der eine von ihnen, jener Fremde, mit einer Art von Maschine beschäftigt war, die vor ihm stand, allein, was sie trieben, begriff sie nicht und schaute nur neugierig und erstaunt in das Gewölbe hinab. Da unten die Männer schienen eifrig bei ihrer Arbeit und zwar der Fremde und ihr Bruder, während der Vater daneben stand, als ob er etwas erwartete. Jetzt wurde eine große Schraube, wie an einer kleinen Art Weinkelter, aufgedreht und der Fremde nahm dann ein Papier heraus, welches er dem alten Manne hinhielt, der es eine ganze Weile prüfend betrachtete und dann auch das Licht hindurch scheinen ließ. Endlich sagte er, indem er das Blatt dem Sohn hinreichte:
„Die werden ganz vortrefflich; viel besser, als ich erwartete, und ehe sie die herausfinden, können wir unser Schäfchen im Trocknen haben. Sind denn noch viele von den Oesterreichern da?“
„Noch wenigstens zehntausend Gulden,“ erwiderte der Fremde.
„Schade,“ sagte der Alte, „aber wir dürfen keine mehr davon ausgeben, denn sie haben in ganz Deutsch [S. 119] land Alarm damit geschlagen und in Holland kennt sie jedes Kind. Die mögen lieber ein paar Jahr liegen, bis der Lärm vorüber ist, nachher kann man’s immer wieder einmal damit versuchen, jetzt wär’s zu gefährlich.“
Der Rosel war es, als ob sie Jemand bei der Kehle habe und würge, so verging ihr der Athem, als ihr die Ahnung dessen kam, was da unten getrieben wurde — Banknotenfälschung, denn sie hatte in ihrem Leben zu viel mit Geld zu thun gehabt, um das nicht rasch zu begreifen und zu fühlen, wie fürchterlich, wie entsetzlich es sei.
„Mit den hessischen Noten,“ lachte der Fremde wieder, „ist es doch ganz famos gegangen, mit denen haben wir das beste Geschäft gemacht.“
„Ja,“ nickte der Alte, „und kein Teufel würde dahinter gekommen sein, wenn der eine Grundstrich am B ein klein wenig stärker gewesen wäre. Sollte sich dem nicht noch nachhelfen lassen?“
„Das geht nicht mehr,“ sagte der Andere kopfschüttelnd, „überdies ist jetzt auch der Verdacht darauf gelenkt, und wir dürfen uns keiner unnöthigen Gefahr aussetzen.“
Rosel hörte und sah nichts weiter, die Hände erschlafften ihr, sie sank in den steilen Weg zurück und [S. 120] kauerte sich dort minutenlang in Angst und bitterem Weh am Boden nieder. Aber hier konnte sie nicht bleiben, konnte das Schreckliche nicht länger mit ansehen, und sich gewaltsam emporraffend kroch sie mehr, als sie ging, den steilen, häßlichen Weg wieder hinauf, bis sie die gefährlichen Stufen erreichte. Auch diese kletterte sie hinan, fühlte ihren Weg zurück und stand kurze Zeit darauf wieder in der kalten, frischen Nachtluft im alten Burghof. Aber sie zögerte hier keinen Augenblick mehr; fort, nur fort von dem entsetzlichen Ort, war der einzige Gedanke, der sie erfüllte und ihr die Kraft gab, ihre Glieder zu gebrauchen. Fast mechanisch griff sie den draußen am Eingang liegenden Zweig auf, kletterte die Steinstufen hinunter und floh dann, so rasch sie ihre Füße trugen, den steilen, rauhen Pfad hinab.
Der Mond war indessen untergegangen und tiefe Nacht lag auf der Erde, doch sie achtete es nicht; ob die Büsche ihr Kleid faßten und zerrissen, ob ihr Fuß strauchelte und die tastenden Hände sich lange an häßlichen Brombeerranken blutig gerissen hatten — was fühlte sie davon? Nur vorwärts, vorwärts strebte sie, bis sie die breite Straße wieder erreichte und jetzt noch einmal scheu und entsetzt den Blick zurückwarf zu der alten Ruine, die das Verbrechen ihres Vaters barg.
Mit dem ebenen, glatten Weg wurde auch ihr Gemüth ruhiger, und während sie langsamer auf demselben hinschritt, suchte sie das Erlebte zu überdenken, zu sichten. Was sollte sie thun? Wie sollte, wie mußte sie handeln? Und Bruno — schaudernd barg sie das Gesicht in den Händen, sie konnte nicht mehr denken. Der Kopf wirbelte und brannte ihr, und ganz zusammengebrochen verfolgte das arme Kind seine einsame, öde Bahn. Sie bemerkte auch kaum, wie sie die Häuser wieder erreichte und nur mechanisch in die bekannte Straße einbog. Wie in einem wüsten Traum schritt sie dahin und öffnete endlich die Thür ihrer eigenen Heimath. Auch von den dort Versammelten sah sie kaum mehr als die undeutlichen Umrisse ihrer Gestalten, und erst oben auf ihrem Zimmer, als sie die Thür verriegelt und sich, wie sie war, in ihren Kleidern auf das Bett geworfen hatte, machte ein lindernder Thränenstrom ihrem gepreßten Herzen Luft.
Am nächsten Morgen war Rosel mit Tagesanbruch wieder auf und besorgte ihre Geschäfte wie gewöhnlich — aber wie bleich das sonst so frische Mädchen [S. 122] heute aussah und was für große, glänzende und ernste Augen es hatte! Bärbel drückte es fast das Herz ab vor Neugierde, um sie zu fragen, was sie gestern Nacht in der Ruine gesehen — denn gesehen mußte sie etwas haben — aber sie wagte es nicht, obgleich sie sonst auf ganz freundlichem Fuße mit ihrer jungen Herrin stand. Diese kam ihr heute gar so feierlich, so außergewöhnlich vor, daß sie alles that, was sie ihr nur an den Augen absehen konnte, und ihre Arbeit noch nie im Leben so flink und aufmerksam verrichtet hatte wie heute.
Wie ein Lauffeuer hatte sich indessen das Gerücht in der Stadt verbreitet, die Rosel aus dem Burgverließ sei um Mitternacht in der alten Ruine gewesen und habe dort zum Zeichen ihres Wagnisses einen Zweig aus dem Burghof abgeschnitten. Die jungen Fremden hatten auch richtig ihren Weg dorthin noch vor Tag angetreten und waren schon zum Frühstück mit der Nachricht zurückgekehrt, daß der abgeschnittene Zweig wirklich unter dem Tisch fehle und das beherzte Mädchen jedenfalls ihre Wette gewonnen habe. Natürlich fanden sie sich auch gleich früh im Burgverließ ein, um das Nähere aus Rosel’s eigenem Mund zu hören, denn das geheimnißvolle Wesen und besonders das bleiche Aussehen des Mädchens von [S. 123] gestern Abend hatte sie nur noch neugieriger gemacht. Doch Rosel ließ sich heut’ Morgen vor keinem Menschen sehen. Um halb neun Uhr aber nahm sie ihr Tuch und schritt, um den offenen Weg über die Straße zu vermeiden, durch den Garten hinaus und einen Pfad entlang, der zu der Hellenhofer Chaussee hinüberführte. Dieser folgte sie wieder, wie gestern Abend, bis der Fußweg rechts nach der Ruine abbog. Dort an den Büschen erwartete sie Bruno.
Der junge Mann sprang ihr freudig entgegen und rief, die Hand nach ihr ausstreckend: „O, wie gut und lieb es von Dir ist, Rosel, daß Du gekommen bist; wie sehnsüchtig habe ich Dich erwartet! — Aber um Gottes willen, Kind, wie bleich siehst Du aus? Bist Du krank, Rosel?“
„Nein, Bruno,“ sagte das arme Mädchen ruhig, indem sie den Kuß duldete, den er ihr auf die Lippen drückte, „mir fehlt nichts — im Körper wenigstens — aber auf dem Herzen liegt mir ’was recht schwer und bleiern, und nur um Dir das zu sagen, bin ich heraus gekommen.“
„Was hast Du, Herz?“ fragte der junge Mann besorgt, „ist der Vater wieder rauh mit Dir gewesen? O, habe nur noch eine kurze Weile Geduld, denn bald [S. 124] wird Alles gut werden. Gestern Abend erhielt ich noch eine recht freudige Kunde.“
„Nein, Bruno,“ unterbrach ihn ruhig das Mädchen. „Der Vater hat wohl gezankt, als er Dich bei mir im Hof gesehen, allein nicht mehr als immer, und das hätt’ ich mir auch nicht sehr zu Herzen genommen, trug ich’s ja für Dich.“
„Meine gute Rosel!“
„Aber was Anderes ist geschehen, Bruno,“ fuhr das Mädchen fast tonlos fort, „etwas Anderes, das ich Dir nicht vertrauen kann und darf, so gern ich’s auch möchte, und das — das mich zwingt, Dir heute — Lebewohl zu sagen für immer —“
„Rosel!“ rief Bruno erschreckt.
„Mißversteh’ mich nicht,“ sagte Rosel, während sie ihm die Hand, die er gefaßt hatte, überließ; „ich habe Dich noch so lieb wie früher — ja vielleicht noch lieber,“ setzte sie leise und kaum hörbar hinzu, „und hätte auch Deinetwegen Alles ertragen, Noth und Sorge mit Lust und Freuden, doch es hat nicht sein sollen — ich darf Dir nicht mehr angehören, und — wenn Du mich ein klein wenig lieb hast — so fragst Du mich nicht einmal weshalb.“
„Aber Rosel,“ sprach Bruno bestürzt, „nicht einmal fragen soll ich, weshalb? wo mein ganzes Lebens [S. 125] glück auf dem Spiele steht, ja während ich Dir gerade heute mit Jubel entgegenkam, denn ich kann Dir jetzt die frohe Kunde bringen, daß sich meine Aussichten mit Einem Schlage gebessert haben. Gestern Abend noch, als ich Dich zuletzt sprach, war mir das Herz zum Brechen schwer, und ich machte mir sogar selber Vorwürfe, Dein Geschick an das eines Armen fesseln zu wollen, der, ohne Vermögen, nicht einmal einen Platz hatte, wo er sein noch so kümmerliches Brod verdienen konnte. Das hat sich jetzt wunderbar rasch geändert, und wie ein Unheil selten allein kommt und immer noch andere im Gefolge mit sich bringt, so ist es ja auch gewöhnlich mit dem Glück. Als ich Dich gestern verließ und mir wieder und wieder ausmalen mußte, wie trostlos meine Aussichten im Leben seien, war mir so weh zu Muthe, daß ich viel lieber in den Rhein gesprungen wäre, um dem Elend mit einem Mal ein Ende zu machen. Aber wenn die Noth am größten, ist auch die Hülfe am nächsten, und wie ich endlich nach Hause und zu meiner Mutter zurückkehrte, fand ich einen großen, mit einem Dienstsiegel verschlossenen Brief vor, in dem mir angezeigt wurde, daß ich endlich meine Beförderung zum Actuar am hiesigen Criminalgericht erhalten habe.“
„Beim Criminalgericht!“ stöhnte Rosel und zog erschreckt ihre Hand aus der seinen.
„Nun, Herz, darüber hast Du doch nicht zu erschrecken,“ lachte der junge Mann, „denn es sichert ja unsere ganze Zukunft; aber das nicht allein — meine Mutter hatte am nämlichen Tage auch gute Kunde über einen in unserer Familie schon seit langen Jahren geführten Proceß erhalten, der ein kleines Vermögen betrifft und bis dahin unsere sämmtlichen Mittel fast aufgezehrt hat. Jetzt sind wichtige Documente aufgefunden worden, die unser Recht ganz außer Zweifel stellen und eine für uns günstige Entscheidung bald, recht bald hoffen lassen. Die Einwendungen, die Dein Vater bis jetzt also gegen unsere Verbindung — und vielleicht mit Recht — geltend machen konnte, fallen nun ganz, und schon in kurzer Zeit hoffe ich Dich heimzuführen, mein süßes, liebes Kind. Aber stehe nicht so todt und traurig bei der frohen Kunde da, mein Rosel; mir schnürt es sonst das Herz zusammen. Was hast Du nur, Mädchen? Du siehst mich ja so scharf und forschend an, als ob ich Dir plötzlich ganz fremd geworden wäre — oder Du am Ende gar meinen Worten nicht glaubtest. Hab’ ich Dich je belogen, Rosel?“
„Nein,“ hauchte das Mädchen, indem es plötzlich, [S. 127] wie scheu, den Kopf abwandte, „Dir glaub’ ich schon Alles, was Du sagst — Alles , denn Du bist gut und brav und ich — will zu Gott beten, daß er Dich einst so glücklich macht, wie Du es verdienst —“
„Und liegt es nicht in Deiner eigenen Hand, mein Herz?“ sagte der junge Mann, indem er sie lächelnd an sich zog. „Sieh’ mir nur wieder so froh und vertrauensvoll in’s Auge, wie Du es früher in schwererer Zeit gethan, und ich verlange ja nicht mehr vom lieben Gott, denn er hat mir da seinen Himmel schon auf der Erde gegeben.“
Rosel litt, daß er sie an sich preßte, ja sie lehnte selbst ihr Haupt wie müde an seine Schulter — aber es war nur ein Moment; dann wand sie sich wieder, nicht hastig, aber entschlossen, aus seinem Arm, und ihm voll in’s Auge sehend, während in dem ihrigen eine große Thräne glänzte und es vollständig füllte, sagte sie ernst: „Und doch muß es sein, Bruno; doch muß ich heute — jetzt — für immer von Dir Abschied nehmen und kann Dir nicht angehören.“
„Rosel, sprich nicht so!“ rief Bruno ängstlich. „Deine Worte klingen wie aus einem Traume heraus — so fremd und kalt, als ob sie gar nicht aus Deiner eigenen Seele kämen, und Dein Blick hat dabei etwas so Eisiges, daß er mir bis in’s innerste Mark hinein [S. 128] schneidet. Was ist denn seit gestern Abend so Entsetzliches geschehen, daß Du in den paar Stunden wie verwandelt bist? Hättest Du doch endlich den Plänen Deines Bruders nachgegeben?“
„Den Plänen meines Bruders?“ rief das Mädchen voller Verwirrung.
„Der Dir die Verbindung mit seinem Compagnon, dem jungen arroganten Menschen, aufnöthigte?“
„Eine Verbindung mit dem ?“ sagte Rosel schaudernd, „eher spränge ich selber in den Rhein.“
„Aber was sonst kann Dich so bewegt, so Deinen ganzen Sinn geändert haben?“
„Frage mich nicht, Bruno, frage mich nicht meinet-, nein auch Deinetwegen. Ich darf und kann Dir die Gründe nicht angeben, die mich zwingen, so und nicht anders zu handeln, wenn ich auch darum selber elend werden müßte. Nur Eines glaube mir: so treu wie ich Dir jetzt bin und immer war, so treu will ich Dir ewig bleiben, aber — ich werde nie heirathen. Was ich zu tragen habe, es soll allein geschehen, und nun leb’ wohl, Bruno. Halte mich nicht zurück; ein längeres Zusammensein mit Dir könnte mich wahnsinnig machen und zur Verzweiflung treiben, denn schon jetzt fühle ich es, wie die verrätherischen Worte nach den Lippen drängen. Leb’ wohl — schütze [S. 129] Dich Gott!“ Sie warf sich an seine Brust, umschlang ihn mit ihren Armen und preßte heiße Küsse auf seine Lippen; dann riß sie sich los von ihm — gewaltsam, als er sie noch länger festhalten wollte, und floh wie ein gescheuchtes Reh den Pfad hinab, der auf die Straße führte.
Bruno’s erster Gedanke war freilich, ihr zu folgen, aber aus den Büschen heraus erkannte er unten auf der Straße Menschen — was mußten die denken, wenn er hinter dem fliehenden Mädchen her geeilt wäre! Das Beste war, ihr Zeit zu lassen, daß sie die Stadt wieder allein erreichte, doch Abschied auf Lebenszeit hatte er nicht von ihr genommen und heute selber wollte er ihren Vater aufsuchen und ihm seine verbesserten Lebensaussichten vorlegen, denn von ihm ging — wie er nicht anders glauben konnte — jedenfalls der plötzliche Widerstand des Mädchens aus.
Langsam stieg er indessen zu der lange nicht besuchten Ruine empor; die frische Luft da oben that ihm wohl und lange lag er dort unter der epheuumrankten Mauer und schaute träumend hinab auf das friedliche Bild der kleinen Stadt, die mit ihren altersgrauen Dächern und rauchenden Schornsteinen zu seinen Füßen lag. Allein es ließ ihm keine Ruhe, denn nicht freundliche Gedanken waren es, die durch [S. 130] seine Seele zogen. Rosel — was um Gotteswillen konnte dem sonst so charakterfesten Mädchen durch den Sinn gefahren sein, daß es plötzlich über Nacht solche Idee gefaßt und sich und ihn unglücklich machen wollte?
Er stand auf und wanderte durch das alte Gemäuer, um der Gedanken ledig zu werden, aber es gelang ihm nicht. Selbst die steile, gefährliche Treppe kletterte er hinauf — vergebens. Aus der ganzen prachtvollen Aussicht heraus suchte und fand er nur das eine Haus, in dem sie wohnte, und seufzend stieg er die Stufen wieder hinab, um nach der eigenen Heimath zurückzukehren.
Rosel hatte inzwischen lange die Stadt erreicht und hörte, als sie das Haus, das sie auf demselben Wege wieder betrat, auf welchem sie es verlassen, daß ihr Vater auf sei und schon nach ihr gefragt habe. Er war in der Schenkstube gewesen, wo er von den zahlreich versammelten Gästen das nächtliche Abenteuer seiner Tochter erfuhr, und Bärbel flüsterte ihr, wie sie nur die Küche betrat, leise zu, sie möge sich vor dem Vater in Acht nehmen, der sei ‚fuchswild‘ geworden, als er von ihrem nächtlichen Spaziergang gehört.
„Es wird nicht so arg sein,“ hatte Rosel ruhig [S. 131] gesagt, während sie langsam die Treppe hinauf und in ihr Zimmer stieg, um sich das etwas wirr gewordene Haar frisch zu ordnen.
Kaum war sie damit zu Ende, als sie ein Geräusch an ihrer Thür hörte, und wie sie sich danach umdrehte, stand ihr Vater auf der Schwelle und sagte finster:
„Höre, Rosel, was hast Du denn die Nacht für dumme Streiche gemacht, he? Was soll denn das heißen? Schickt sich das für ein ehrbares und gesittetes Mädchen, wie Deine Mutter Dich, wie ich Dich erzogen habe?“
„Ich, Vater?“ sagte Rosel und sah den Mann fest und starr an.
„Ja, Du!“ sagte der Vater noch immer störrisch, aber ein eigenes, unbehagliches Gefühl beschlich ihn bei dem starren Blick. „Bist Du nicht bei Nacht allein in den alten Burghof der Wildenfels gelaufen?“
„Ja, Vater,“ sagte Rosel ruhig, „ich war oben.“
„Und wann?“
„In der Nacht, Vater.“
„Aber zu welcher Stunde?“
„Bleibt sich das nicht gleich?“
„Hm, ja, aber weshalb willst Du’s nicht sagen?“
„Ich will’s schon sagen, Vater. Es schlug gerade hier drunten in Wellheim zwölf Uhr, als ich die letzten steinernen Stufen hinauf stieg.“
„Und blos um einen Zweig abzuschneiden,“ rief der Vater erbost aus; „es ist wirklich zu toll für ein junges Mädchen, bei Nacht den einsamen, öden Weg zu machen.“
„Ich war nicht allein, Vater,“ sagte Rosel, ohne noch ihren Blick von ihm zu wenden, an dem der seine ebenfalls wie gebannt hing.
„Nicht allein?“ rief der Vater schnell, „und wer war bei Dir?“
„Gott,“ sagte das Mädchen, und ein schwerer Seufzer entrang sich dabei ihrer Brust.
„Schnack,“ rief der Alte unwirsch und blickte scheu zur Seite, „das heißt den Uebermuth auf’s Höchste getrieben, und wie leicht hättest Du ein Unglück nehmen können!“
„Auf der alten Burg, Vater?“ lächelte Rosel, aber die Worte klangen so unheimlich und der Vater, der sich vorgenommen haben mochte, sie tüchtig auszuzanken, wandte seinen Aerger einer anderen Seite zu.
„Der alte Narr, der Bäckermeister, hätte auch ’was Gescheidteres thun können als Dich da hinauf [S. 133] zu hetzen; aber ich habe ihm meine Meinung schon gesagt. Und der Registrator war gleichfalls dabei und hat’s gelitten?“
„Er konnt’ es nicht hindern.“
„Und weshalb haben sie mich nicht geweckt?“ rief der Alte, „ich hätt’s gehindert, das sei versichert.“
„Du schliefst schon so lange, Vater,“ sagte das junge Mädchen und sah ihn dabei wieder mit ihrem stechenden Blick an, „daß sie Dich gewiß nicht stören wollten.“
Paul Jochus blickte eine Weile vor sich nieder, er wollte noch etwas sagen, das war gewiß, aber er brachte es nicht über die Lippen, und sich plötzlich auf seinen Hacken herumdrehend, verließ er das Zimmer und warf die Thür in’s Schloß, daß die Scheiben klirrten.
Rosel kam den ganzen Tag über nicht in die Wirthsstube, so oft die Gäste auch nach ihr frugen, und der Vater ließ sie auch still gewähren; es war ihm selber recht, daß sie dem neugierigen Volk keine Rede stand. Er selber aber war desto geschäftiger heute in dem Raum, in dem er sich sonst nur dann und wann blicken ließ, und bediente seine Gäste auf das Sorgsamste. Ueber Mittag war die Stube ziemlich leer [S. 134] geworden und Paul Jochus hatte eben seine Mahlzeit an einem der Tische allein verzehrt und seinen Schoppen Wein dazu getrunken, als Bruno von der Haide in’s Zimmer trat und, auf den Wirth zugehend, ihn um eine kurze Unterredung unter vier Augen bat.
„Mein lieber Herr Von,“ sagte Jochus finster, ohne von seinem Platz aufzustehen, „ich glaube, wir können uns Beide die Mühe sparen, denn ich weiß wahrscheinlich schon, was Ihr Begehr ist.“
„Möglich, Herr Jochus,“ sagte der junge Mann ernst, „aber doch vielleicht nicht ganz. Es hat sich nämlich so viel in meinen Verhältnissen geändert, daß eine Verständigung dringend geboten ist; ich bitte Sie nur um wenige Minuten Gehör und die Entscheidung ist dann immer noch in Ihre Hand gegeben.“
Jochus schüttelte den Kopf. Es lag ihm indessen selbst daran, den ihm lästig werdenden Bewerber abzufertigen, was er hier, in offener Wirthsstube, nicht gut konnte; darum stand er auf, trank den Rest seines Weines aus und sagte:
„Na, so kommen Sie meinetwegen. Da drüben in der Stube sind wir ungestört, aber ich muß Sie von vorn herein bitten, es kurz zu machen. Sie sollen dann auch nicht lange auf meine Antwort zu warten brauchen.“
Damit ging er, von dem jungen Manne gefolgt, hinüber in die „gute Stube“ und Bruno theilte ihm hier mit wenigen Worten nicht allein die Aussicht auf das bald zu erlangende Vermögen mit, wozu der alte Jochus ungläubig lächelnd den Kopf schüttelte, sondern auch seine gestern erhaltene Bestätigung als Actuar beim hiesigen Criminalgericht, ein Posten, der allerdings noch immer wenig genug Gehalt einbrachte, doch eine sichere Staatscarrière in Aussicht stellte und dabei genügte, mit mäßigen Ansprüchen eine Frau zu ernähren.
Das spöttische Lächeln hatte sich aus dem Gesicht des Wirths verloren, als ihm der junge Mann den Beruf nannte, dem er von jetzt ab angehören würde, und er sagte, freundlicher, als er bis dahin noch je mit ihm gesprochen:
„Ei, sieh’ einmal an, Actuar beim Criminalgericht, also doch eine feste Stellung und nicht mehr das ewige Herumvagabundiren — und die Rosel ist Ihnen wirklich gut?“
Bruno seufzte recht aus vollem Herzen auf und sagte scheu:
„Bis gestern Abend noch war ich von ihrer innigen Liebe überzeugt, und glücklich in dem Gedanken, heute Morgen aber —“
„Heute Morgen? Wo haben Sie denn das Mädel heute Morgen schon gesprochen?“
„Sein Sie mir nicht böse, Herr Jochus, und auch der Rosel nicht, daß wir hinter Ihrem Rücken gehandelt, aber ich — ich mußte sie sprechen, ich mußte ihr sagen, was mir auf dem Herzen lag, und da — haben wir uns heute Morgen, um neun Uhr, es war schon heller lichter Tag und viele Menschen auf der Straße — am alten Burgweg gefunden.“
„Am alten Burgweg — so?“ sagte der Wirth, „und was meinte die Rosel da?“
„Sie war ganz verändert; sie sah todtenbleich aus und die Augen lagen ihr tief in den Höhlen.“
„Sie wissen, was das tolle Mädchen die Nacht für einen Streich gespielt hat?“
„Ich weiß es, jetzt wenigstens, heute Morgen wußte ich es noch nicht, oder ich würde sie darum gefragt haben, doch das kann sie nicht so aufgeregt haben, sie hätte mir es sonst gewiß gestanden.“
„Und was sagte sie weiter?“ frug der Wirth, aufmerksam werdend.
„Daß sie mir nicht mehr angehören könne und daß wir uns auf Nimmerwiedersehen trennen müssen.“
„Hm, und hatten Sie ihr vorher von Ihrer festen Anstellung gesagt?“
„Alles, aber ich konnte mir ihr sonderbares Benehmen nicht erklären, sie erschrak viel mehr darüber, als daß sie sich gefreut hätte.“
„Sie erschrak?“
„Ich kann mich getäuscht haben, jedenfalls befand sie sich in einer fürchterlichen Aufregung und versicherte mir dabei unter heißen Thränen, daß sie mir die Ursache ihres Betragens nicht erklären könne und dürfe.“
„Nicht dürfe — hm,“ brummte Jochus, „das ist allerdings wunderbar, und gestern Abend sagte sie nichts davon?“
„Keine Silbe, sie war ganz Liebe und Vertrauen und tröstete mich selber auf die Zukunft, der wir fröhlich entgegenharren müßten.“
Der Wirth ging zur Thür, öffnete sie halb und rief nach Bärbel, der er den Auftrag gab, Rosel herunter zu schicken, der Herr von Haide sei da. Indessen stand Bruno am Fenster und starrte hinaus, während der Wirth mit untergeschlagenen Armen im Zimmer auf und ab ging. Jedoch das Mädel kam nicht wieder und den Beiden wurde die Zeit lang. Endlich, als der Wirth schon einmal nach ihr rufen wollte, steckte die Bärbel den Kopf in die Thür und [S. 138] sagte: „Sie will nicht,“ drückte sie dann in’s Schloß und ging wieder an ihre Arbeit.
„Sie will nicht?“ wiederholte Paul Jochus erstaunt und blieb mitten in der Stube stehen.
Bruno hatte sich rasch umgeblickt, als sich die Thür öffnete; jetzt seufzte er aus tiefster Brust und flüsterte:
„Ich habe es fast gedacht — Gott nur weiß, was sie plötzlich gegen mich eingenommen haben kann — ich begreife es nicht.“
„Und hat sie Ihnen gar keinen Grund angegeben?“ frug der Wirth plötzlich und blieb vor dem jungen Manne stehen, „besinnen Sie sich einmal, gar keinen Wink nach irgend einer Richtung?“
„Keinen,“ sagte dieser kopfschüttelnd, „keinen wenigstens, den ich verstanden habe oder verstehen konnte, denn ihre Worte klangen dunkel und unheimlich; sie könnte und dürfte mir nicht mehr sagen, als daß wir scheiden müssen — scheiden für immer — das war Alles.“
„Hm,“ brummte Jochus, dessen Gesicht eine düstere Färbung angenommen hatte, mit festzusammengezogenen Brauen, „weiß der Henker, was dem Mädchen durch den Kopf gefahren sein kann, denn eigenwillig ist sie, wie der helle Teufel, und man hat [S. 139] oft seine liebe Noth mit ihr. Aber lassen Sie mich mit ihr reden, Herr von Haide — und ich denke, wenn Sie die Anstellung bekommen — wir wollen einmal sehen, es macht sich ja doch vielleicht noch Alles, und das Mädel vergißt vielleicht bis dahin auch die Grillen.“
„Wenn wir sie nur jetzt bewegen könnten, mich noch einmal anzuhören!“
„Jetzt ist nichts zu machen,“ sagte Jochus kopfschüttelnd, „erst muß ich selber noch einmal mit ihr sprechen. Sie kommen dann vielleicht einmal wieder vor oder ich schicke auch zu Ihnen hinüber.“
„Sollte es nicht am Ende doch mit ihrem nächtlichen Gang in Verbindung stehen?“ warf Bruno ein; „ich würde mir gar nichts weiter darüber gedacht haben, aber —“
„Ach was,“ lachte der Alte, doch das Lachen klang etwas erzwungen, „sie ist ja keiner Menschenseele unterwegs begegnet, na, und daß ihr kein Gespenst erschienen ist, ich dächte, darüber brauchten wir Zwei uns nicht zu beunruhigen. Ein dummer Streich war’s immer, und ich habe ihr auch schon tüchtig den Text darüber gelesen, denn für ein junges Mädel paßt es sich nicht, auf solche Art zu prahlen und bei Nacht und Nebel in der Welt herumzulaufen.“
„Sie hatten sie geneckt,“ sagte der junge Mann, „und bei ihrem Ehrgefühl gepackt; sonst hätte sie’s auch sicher nicht gethan.“
„Nun, es ist jetzt vorbei,“ sagte der Vater, „und nicht mehr zu ändern, geschieht aber hoffentlich nicht wieder.“
„Und Sie wollen mit ihr reden, Herr Jochus?“
„Ich habe es Ihnen versprochen, heute noch, oder wenn es heute nicht gehen sollte, spätestens morgen früh. Wir wollen sehen, was sich thun läßt, ein merkwürdiges Mädel ist’s freilich, mein lieber Herr Actuar, und einen Trotzkopf hat sie, wie keine Zweite.“
„Aber die Rosel ist so gut, so brav!“
„Das ist sie, ja,“ sagte Jochus und sah vor sich auf den Boden nieder, „gerade wie ihre selige Mutter, deren ganzen Charakter sie auch geerbt hat; arme Clara, wenn sie leben geblieben wäre!“
„Ich gehe jetzt, Herr Jochus,“ brach der junge Mann ab, „und überlasse Ihnen das Weitere. Wenn Sie mir aber erlauben, frage ich morgen Abend, falls ich zurück sein sollte, wieder bei Ihnen an, denn ich muß heute noch nach Hellenhof aus das Obergericht und weiß nicht, ob ich bis dahin wieder zurück sein kann.“
Der Wirth antwortete ihm nicht; er nickte nur, ganz in seine Gedanken vertieft, leise vor sich hin, ja, er bemerkte kaum, wie der junge Mann das Zimmer und das Haus verließ.
Rosel hielt sich den ganzen Tag auf ihrem Zimmer. Sie sei nicht recht wohl, ließ sie dem Vater sagen, der später noch einmal Bärbel zu ihr hinaufschickte. Gegen Abend kam ein Arbeiter und brachte die beiden großen Orangenstöcke vom Bäckermeister Bollharz. Rosel nahm aber die Stöcke nicht an; sie wollte sie nicht haben und beauftragte den Mann, der sie brachte, sie hinüber zum Registrator zu fahren, der auch ein großer Blumenfreund war. Er sollte nur eine Empfehlung von ihr ausrichten, sie bäte ihn, die Stöcke, ihr zum Andenken, zu behalten.
Paul Jochus hatte indessen unten keine Ruhe im Haus. Bald saß er, ganz gegen seine Gewohnheit, in der Wirthsstube hinter einem Schoppen Wein, bald lief er hinaus zu seiner Kelter, um nach der Arbeit zu sehen. Einmal war er auch sogar schon auf dem Wege nach Hellenhof gewesen, aber wieder um [S. 142] gekehrt, denn das eigenthümliche Benehmen des Mädchens ging ihm im Kopf herum, und er mußte mit ihr sprechen, um endlich zu erfahren, was es eigentlich bedeute.
Hätte er ein gutes Gewissen gehabt, so würde es ihn wohl wenig gekümmert haben, denn er ließ ja sonst Rosel immer ziemlich unbekümmert ihren eigenen Weg gehen, aber so quälten ihn tolle und, wie er sich immer noch einreden wollte, unmögliche Vermuthungen, quälte ihn ein unbestimmter Verdacht, und über den mußte er mit ihr in’s Reine kommen, denn die Gewißheit war immer noch besser als dieser drückende Zweifel, der ihn nicht mehr ruhen und rasten ließ.
Entschlossen kehrte er nach Hause zurück und stieg ohne Weiteres zu Rosel’s Zimmer hinauf, an das er klopfte.
„Wer ist da?“
„Ich bin’s, Rosel, ich muß ein Wort mit Dir sprechen.“
„Mir ist nicht recht wohl, Vater; der Kopf brennt mir so.“
„Ich geh’ gleich wieder fort, aber ich muß Dir etwas sagen.“
Einen Moment war Alles ruhig darin, dann wurde [S. 143] der Riegel zurückgeschoben, und Rosel stand, ihren Vater erwartend, mitten in der Stube.
Sie war völlig angekleidet, hatte auch nicht auf dem Bett gelegen, was vollständig unberührt in dem kleinen Alkoven stand, aber sie sah leichenblaß aus, und die Augen waren ihr noch vom vielen Weinen roth.
Der Vater streckte ihr die Hand entgegen, die sie zögernd nahm, und sagte dann mit weit mehr Herzlichkeit im Ton, als er lange zu ihr gesprochen:
„Was fehlt Dir, Kind? Wenn Du krank bist, weshalb schließt Du Dich ein und lässest nicht Jemanden zu Dir, der Dich pflegen kann?“
„Ich bin nicht krank, Vater.“
„Aber Du sagtest selber, daß Du Kopfschmerzen hättest, und siehst recht blaß und leidend aus. Vielleicht steckt Dir etwas Anderes in den Gliedern, und ich will lieber nach Doctor Bauer hinüberschicken, damit der einmal nachsieht.“
„Nein, Vater,“ sagte das junge Mädchen bestimmt, „das ist nicht nöthig, der Doctor kann mir nicht helfen.“
„Der Doctor kann Dir nicht helfen? — und wer sonst?“
Das Mädchen schwieg und sah scheu vor sich auf [S. 144] den Boden nieder, endlich sagte es so leise, daß die Worte kaum zu dem Ohr des Vaters drangen:
„Kein Mensch kann mir helfen, Vater.“
„Hm! das ist eigenthümlich,“ brummte der Wirth, der nicht recht wußte, was er darauf erwidern sollte. Er nahm seinen Hut ab, den er bis jetzt noch aufbehalten, und stellte ihn auf den Tisch, „kein Mensch kann Dir helfen? das wär’ ja — das wär’ ja was recht Curioses, wenn Einem etwas fehlte, ohne daß man sterbenskrank ist, und wobei einem kein Mensch helfen könnte. Darf ich’s denn erfahren, oder weißt Du’s am Ende selber nicht, Rosel, und hast Dir vielleicht irgend eine tolle Schrulle in den Kopf gesetzt?“
Das Mädchen schwieg wieder; es war augenscheinlich, daß sie im Innern mit sich rang, und mit der rechten Hand hielt sie ihr Herz, als ob es ihr weh thäte.
„Ich will Dir was sagen, Rosel,“ fuhr der Vater, dem das Schweigen peinlich wurde, fort, „daß Du den Weg gestern Nacht gemacht, war ein dummer Streich. Du hast Dich dabei erkältet, aus der heißen Stube in die kalte Nachtluft mit Deinem dünnen Kleid und dann nachher noch die Aufregung dazu, dort hinein in das alte, öde Gemäuer zu gehen, von [S. 145] dem so viel Mordgeschichten erzählt werden, das Alles mußte Dich angreifen und das Gescheidteste wäre gewesen, Du hättest Dich gleich zu Bett gelegt und warm zugedeckt und lieber den Tag darin ausgehalten. Aber was ich Dir sagen wollte, heute Mittag war — war der junge Herr Von bei mir, Du weißt schon. Weshalb bist Du nicht herunter gekommen, als ich Dich rufen ließ?“
„Weil ich schon Abschied von ihm genommen habe, Vater,“ sagte leise die Tochter.
„Du hast Abschied von ihm genommen?“ frug der Wirth erstaunt, „aber um Gotteswillen, weshalb denn? Da mag ein Anderer aus dem Mädel klug werden! Gestern Abend noch wart Ihr ein Herz und eine Seele, und heute Morgen —“
„Dazwischen lag die Nacht, Vater!“
„Die Nacht? und was hat er da gethan? Bist Du ihm draußen auf Deinem Wege begegnet?“ frug der Wirth rasch.
„Nein, Vater; seit gestern Abend habe ich ihn erst heute Morgen um neun Uhr wieder auf dem Weg gesehen. Aber ich begreife Dich selber nicht. Gestern grolltest Du ihm noch und warst böse, daß ich nur mit ihm gesprochen, und heute scheinst Du Deinen Sinn wieder geändert zu haben. Wie kommt das?“
„Weil ich mein Kind keinem adligen Hungerleider zur Frau geben wollte,“ sagte der Wirth finster. „Die Sache hat sich indessen jetzt geändert und er hat, wenn ich auch für die Geschichte mit der Proceßsache keinen Pfifferling geben möchte, eine feste und anständige Stellung im Leben bekommen. Wärst Du ihm also noch so gut gewesen, wie ich früher glaubte, so —“
„Und weißt Du, Vater, welche Stellung er erhalten hat?“ frug das Mädchen und sah ihren Vater ernst und forschend an.
„Nun, gewiß weiß ich’s,“ erwiderte dieser, durch den Blick fast wieder außer Fassung gebracht.
„Beim Criminalamt.“
„Ja wohl, und wenn er da tüchtig ist, so kann er’s schon rasch vorwärts bringen. Der Gehalt wird freilich nicht so übermäßig hoch sein, aber lieber Gott, wo man erst einmal sieht, daß wirklich eine feste Grundlage da ist, kann man auch schon eher ein wenig nachhelfen.“
„Und weißt Du auch, Vater,“ flüsterte Rosel, indem sie auf ihren Vater zuschritt und ihre Hand auf seinen Arm legte, „daß ich, wenn ich auch wirklich seine Frau würde, auch kein Geheimniß vor ihm haben dürfte und möchte?“
„Rosel!“ rief der Vater erschreckt, indem er dem [S. 147] großen und angstvollen Blick seines Kindes kaum zu begegnen wagte, „was sollen all’ die dunklen Reden? heraus mit der Sprache! Du hast etwas auf dem Herzen, und ich will und muß es wissen.“
„Es ist auch vielleicht besser so,“ nickte das arme Mädchen leise vor sich hin, „Du mußt es wirklich wissen, denn nur dann ist noch Hoffnung möglich, wenn überhaupt —“
„Aber was ist Dir nur?“
„So höre, Vater. Kurz vor Mitternacht stieg ich auf die Ruine hinauf, ich sollte zum Zeichen, daß ich oben gewesen, einen der im Burghof selbst ausgetriebenen Schößlinge mit herunter bringen. Ich ging zu dem alten steinernen Tisch, der dort in der Mitte steht, und gerade, als ich darunter kauerte, um meine Aufgabe zu erfüllen, hörte ich plötzlich Stimmen und zwei Männer — mein Bruder und jener fremde Mensch, betraten den innern Raum. Angst und Bestürzung, was sie dahin geführt, ließen mich für einen Augenblick nicht recht zu mir selber kommen, ich wußte nicht gleich, sollte ich vortreten, sollte ich mich verborgen halten —“
„Dein Bruder?“ sagte Paul Jochus wie erstaunt, aber er selber fühlte, daß jeder Blutstropfen sein Antlitz verlassen haben mußte.
„Gleich darauf kamst Du,“ fuhr das Mädchen jetzt in furchtbarer Erregung fort, „ich verstand aus Deinen Worten, daß Du schon lange auf die Beiden gewartet, und dann verschwandet Ihr zusammen hinter der Mauer.“
„Und dann?“ sagte der Vater, doch er wußte kaum was er sprach, denn seine entsetzlichste Ahnung war zur Wahrheit geworden.
„Dann folgte ich Euch,“ fuhr das Mädchen leise fort und durchlebte in diesem Augenblick noch einmal das ganze Entsetzen jener gräßlichen Stunde, „im Dunkeln tappte ich meine Bahn. Tief im Boden drin hörte ich Stimmen, steile Felsenstufen erreichte ich, die ich niederkletterte, ein abschüssiger schlüpfriger Weg lag vor mir und schon verließ mich der Muth, in dieser Finsterniß weiter vorwärts zu dringen, wo ich jeden Moment in irgend ein grausiges Gewölbe hinabstürzen konnte — da entdeckte ich dicht vor mir an der Wand einen Lichtschimmer; ich wagte mich noch die wenigen Schritte weiter vor und sah dann durch eine Oeffnung, die ein herausgebrochener Stein gelassen. O Vater, Vater, was um des Allerbarmers willen hast Du gethan? Was hab’ ich verschuldet, daß ich das Alles für Euch tragen muß?“
„Ich weiß nicht, wovon Du sprichst, was Du ge [S. 149] sehen, gehört haben willst,“ stammelte der Mann. „Thörichtes Kind, die Aufregung in dem alten Gemäuer hat Dir die Besinnung geraubt; wer weiß denn, wen die Lust getrieben, da oben in der alten Burg um Mitternacht herumzuwandeln und Gespenster zu spielen; ich habe in meinem Bett gelegen und der Franz sieht mir wahrhaftig auch nicht so aus, als ob er sich eine Nacht Schlaf abstehlen würde, um da oben in dem alten Gemäuer spazieren zu gehen.“
Rosel sah den Vater einen Augenblick fest und starr an. Konnte sie sich geirrt haben? Wie im Flug schoß der Gedanke durch ihre Seele, aber es war auch nur ein Moment. Im nächsten schon fühlte sie mit furchtbarer Sicherheit die Wahrheit des Geschehenen, und sich in leidenschaftlicher Heftigkeit an des Vaters Brust werfend, rief sie aus:
„Vater, lieber, bester Vater, noch ist es vielleicht Zeit; rette Dich selber, rette Deinen Sohn vor jenem nichtswürdigen Verführer, der Euch in sein Netz gezogen!“
Der Mann hatte fast unbewußt seinen Arm um sie geschlagen und hielt sie fest an sich gepreßt. Sie wollte das Antlitz zu ihm erheben, allein er hinderte es. Nicht jetzt durfte sie ihm in’s Auge sehen, wo Schreck, Angst und Trotz um die Oberherrschaft [S. 150] kämpften. Aber er vermochte es nicht über sich, dem eigenen Kind gegenüber eine wirkliche Schuld einzugestehen, nur Zeit wollte er gewinnen, um sich zu sammeln, um jede Spur einer Ueberraschung aus seinen Zügen zu verwischen, und dann erst, als er wenigstens glaubte, daß ihm das gelungen sei, ließ er sie los und sagte freundlich, ja herzlich:
„Du bist wirklich krank, mein armes Kind, ernstlich krank, und ich muß darauf bestehen, daß Du Dich in Dein Bett legst. Du sprichst wahrhaftig wie in Fieberphantasien.“
Rosel richtete sich auf und sah ihren Vater starr an.
„Also bist Du’s wirklich nicht gewesen, Vater?“ sagte sie dann und ein eisiges Lächeln zuckte um ihre Lippen, „den ich die Nacht oben in der alten Ruine gesehen habe?“
„Aber, liebes Herz, was soll ich Dir das noch zehnmal betheuern,“ sagte der Wirth, „ich habe die ganze Nacht geschlafen.“
„Und der Franz auch nicht?“
„Gewiß nicht, und wenn er oben gewesen wäre, so hätte er doch nie etwas Böses dort im Sinn gehabt.“
„Gott sei Dank!“ sprach das Mädchen mit einem aus tiefstem Herzen geholten Seufzer, „dann ist eine [S. 151] große Last von meiner Seele genommen und ich kann mir Ruhe vor meinem Gewissen schaffen. Jetzt darf ich auch wieder fröhlich sein und es kann noch Alles gut werden.“ Damit ging sie zu ihrem Kleiderschrank, nahm Hut und Tuch heraus und warf sich das letztere um.
„Und wohin willst Du noch heute Abend, Rosel?“ sagte der Vater scheu.
„Auf’s Criminalamt, Vater,“ sagte ruhig das Mädchen.
„Auf’s Criminalamt?“ rief Jochus erschreckt, „aber der Bruno ist ja noch gar nicht oben und heute erst auf’s Obergericht gegangen. Vor morgen Abend kann er, wie er mir auch sagte, nicht zurück sein.“
„Ich will auch nicht zum Bruno,“ erwiderte das junge Mädchen fest, indem sein Blick wieder auf den Vater traf, „sondern nur eine Anzeige oben machen, die wichtig genug ist.“
„Eine Anzeige, Rosel?“ frug der Wirth bestürzt
„Ja, Vater, droben auf der Ruine nämlich treibt eine Bande von Falschmünzern ihr Wesen. Gestern Nachts habe ich sie belauscht und ihre Maschine gesehen und ihre Reden gehört; ich geh’ dann gleich selber mit hinauf und zeig’ ihnen den Platz, wo’s hinabgeht, daß sie gar nicht mehr fehlen können; dort finden sie das ganze Nest.“
„Rosel,“ rief der Vater in Todesangst, „misch’ Dich nicht in solche Geschichten! Was weißt Du von Falschmünzern und derlei Dingen, und wenn Du auf’s Gericht mit einer solchen Klage kommst, glaubst Du denn nicht, daß es Dich und uns Alle in Ungelegenheiten bringen könnte?“
„Keinen unschuldigen Menschen, Vater, sei versichert,“ sagte das Mädchen ruhig. „Die Verbrecher mögen sich in Acht nehmen, aber uns kann nichts geschehen.“
„Und wenn — wenn Dein Bruder Franz nun doch —“ stotterte der Mann, „in jugendlichem Leichtsinn vielleicht — verführt —“
„Vater!“ schrie Rosel mit einem herzzerreißenden Ton des Jammers.
„Ich sag’ es ja nicht,“ sprach dieser erschreckt, „aber die Möglichkeit liegt doch vor — und Du möchtest doch Deinen eigenen Bruder nicht unglücklich machen wollen?“
„So soll ich nicht gehen?“,
„Nimm Dir Zeit,“ sagte Paul Jochus, „auf einen Tag kommt’s ja nicht an, ich will noch heute Abend nach Hellenhof hinüber und mit Franz sprechen; ich kann mir’s nicht denken, aber wir dürfen auch nicht die Möglichkeit außer Acht lassen. Morgen früh sage [S. 153] ich Dir dann Antwort, Rosel. Nicht wahr, bis dahin redest Du mit Niemandem darüber?“
„Nein Vater,“ erwiderte das junge Mädchen, indem sie ihr Tuch abwarf und wie gebrochen auf einen Stuhl sank. „Ich hätte auch heute zu Niemandem davon geredet,“ setzte sie fast tonlos hinzu, „es war eine leere Drohung, denn ich will — keine Vatermörderin werden.“
„Rosel!“ rief der alte Mann und wollte auf sie zueilen, allein sie streckte abwehrend den Arm gegen ihn aus.
„Laß mich, Vater, laß mich allein mit meinen Gedanken, geh’ zu Franz, geh’, so rasch Dich Deine Füße tragen, und bitt’ ihn um meinet-, um seiner seligen Mutter willen, daß er die Genossenschaft mit jenem Menschen aufgebe.“
Sie hatte das Gesicht mit ihren Händen bedeckt und ihr ganzer Körper zitterte. Der Vater stand vor ihr, er hätte noch so gern zu ihr gesprochen, doch er vermochte es nicht. Die Zunge klebte ihm am Gaumen, der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn, und scheu und zerknirscht nahm er seinen Hut und verließ das Zimmer.
Paul Jochus eilte wirklich, so rasch ihn seine Füße trugen, nach Hellenhof hinüber, denn was er schon seit heute Morgen im Geheimen befürchtet, war geschehen und es galt nun die Folgen der möglichen Entdeckung von ihren Häuptern abzuwenden. Er traf auch seine beiden Bundesgenossen, den Sohn und dessen Compagnon, zu Hause, aber in anderer Stimmung, als er selber sich befand. Jubelnd sprangen ihm die beiden jungen Männer entgegen, als er das Haus betrat, denn sie hatten ihn schon von oben kommen gesehen und ihm geöffnet, und wie sie nur erst wieder die beiden schweren Riegel vorgeschoben, um von keinem Unberufenen gestört zu werden, führten sie ihn in ihr kleines, abseit gelegenes und nur für besondere Zwecke bestimmtes Arbeitszimmer hinauf. Ja, in ihrer Ausgelassenheit bemerkten sie nicht einmal das niedergeschlagene Wesen des Alten, den sie überhaupt nicht zu Worte kommen ließen.
„Da sieh’ her, Vater,“ rief Franz ihm entgegen, indem er ihm zwei Fünfundzwanzig-Thalerscheine vorhielt, „der eine ist ächt, der andere unächt; nun sage selber, welches der ächte ist.“
„Welches der ächte ist, weiß ich nicht,“ erwiderte [S. 155] der Wirth, während er nur einen flüchtigen Blick auf die Scheine warf, „aber so viel weiß ich, daß wir entdeckt und verrathen sind und auch die letzte Spur unserer Thätigkeit vertilgen müssen, so lange es noch Zeit ist.“
„Alle Teufel!“ rief Brendel, der junge Berliner, aus, indeß Franz den Vater erschreckt anstarrte. „Haben sie einen unserer Unterhändler erwischt? Gewiß den holzköpfigen Meier.“
„Nein,“ sagte der Wirth, „die Polizei weiß zum Glück noch nichts von unserer Arbeit, oder ich hätte vielleicht nicht einmal Gelegenheit bekommen, Euch zu warnen, aber von anderer Seite sind wir beobachtet worden.“
„Von anderer Seite?“ sagte Franz erstaunt. „Das versteh’ ich nicht.“
„Rosel ist hinter unser Geheimniß gekommen.“
„Rosel?“
„Na,“ nickte Brendel, „wenn erst ein Frauenzimmer darum weiß, wär’s freilich Zeit, daß wir einpackten.“
„Aber wie um Gottes willen ist das möglich?“
Paul Jochus erzählte den ihm in der gespanntesten Erwartung zuhörenden jungen Leuten die Ergebnisse der gestrigen Nacht und seine heutige Unterredung mit der Tochter, verschwieg ihnen auch nicht, daß sie [S. 156] die Hand des jungen Adligen ausgeschlagen habe, weil er von jetzt ab beim Criminalamt angestellt sei und sie vor ihrem künftigen Mann kein Geheimniß haben könne und wolle.
„Bah!“ rief Franz verächtlich, „wenn weiter Niemand darum weiß, als Rosel, so hat’s noch keine Gefahr. Daß die uns nicht verräth, ist sicher, und jetzt wahrhaftig können wir die Sache nicht aufgeben, wo wir gerade Alles erreicht haben, was wir wollen. Die Banknoten sind so vorzüglich ausgefallen, daß sie der Finanzminister selber nicht von den ächten unterscheiden sollte. Wir wissen jetzt, daß wir’s machen können, und sollen nun mit diesem Bewußtsein die Flinte in’s Korn werfen, weil meine eigene Schwester Mitwisserin geworden ist? Es wäre reiner Wahnsinn, wenn wir’s thäten.“
„Du kennst die Rosel nicht,“ sagte der Vater ernst, „sie grämt und härmt sich schon jetzt die Seele aus dem Leibe.“
„Aber sie darf uns nicht verrathen,“ rief Franz rasch, „denn sie hat selber die Früchte unserer Arbeit mit genossen, also Theil an dem Betrug genommen. Daß sie deshalb dem langweiligen Jungen, dem Herrn von der Haide, den Laufpaß gegeben, war das Gescheidteste, was sie thun konnte, und wenn sie erst er [S. 157] fährt, daß wir eine Dame aus ihr machen können, wird sie selber mit der Sache einverstanden sein.“
Paul Jochus schüttelte den Kopf; er kannte das Mädchen besser.
„Das wird sie nicht, Franz,“ sagte er entschieden, „ich glaube, sie trüge lieber Hunger und Kummer, als die Mitschuld an etwas Derartigem.“
„Für so dumm hab’ ich sie nicht gehalten,“ sagte Franz verächtlich; „aber es bleibt sich gleich, wie sie darüber denkt, verrathen kann und darf sie uns nicht und wird es auch nicht, wenigstens nicht in der ersten Zeit, denn auf die Länge möchte ich selber keinem Weibermund vertrauen. Haben wir aber nur vierzehn Tage Zeit, so sind wir mit Allem fertig und brauchen nicht mehr zu arbeiten, und dann laß es unsere Sorge sein, uns aus dem Weg zu halten. Hier ist der Absatz der Noten in Masse ja doch nicht so leicht.“
„Wenn wir nur unsere Werkstätte wo anders hin verlegen und sie glauben machen könnten, daß wir es aufgegeben haben.“
„Das geht nicht,“ sagte Franz entschlossen, „und wo fänden wir wohl einen passenderen Platz? Indeß der ausgebrochene Stein muß heute Abend noch ersetzt werden, und würden wir selbst verrathen, so [S. 158] weißt Du doch, daß sie uns da unten nie erwischen könnten, denn den versteckten Ausgang kennt kein Mensch außer uns.“
Der Wirth stand unschlüssig am Tisch und betrachtete fast unbewußt das ihm vorgelegte Falsificat. Es war in der That meisterhaft gearbeitet und er selber nicht im Stande die ächte Note von der unächten zu unterscheiden. Auch das Papier ließ nichts zu wünschen übrig, und er zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie von diesen Noten eine Masse auf den Markt werfen könnten, ehe eine Entdeckung möglich würde. — Und selbst dann — wer wollte wissen oder verrathen, woher es stammte — aber Rosel? Er konnte den Blick nicht vergessen, mit dem sie ihn angesehen — er konnte die Worte nicht aus dem Gedächtniß bringen — „was hab’ ich verschuldet, daß ich das Alles für Euch tragen muß?“ — und er mußte auch des Versprechens gedenken, das er ihrer sterbenden Mutter gegeben.
Sein Blick flog über das betrügerische Papier hin in’s Leere und andere Bilder tauchten vor ihm auf.
„Nun, was sagst Du, Vater?“ frug Franz triumphirend, „kann es etwas Vollendeteres geben? Die österreichischen Noten lassen sich mit diesen gar [S. 159] nicht vergleichen, und doch haben sie drei volle Monate gebraucht, bis sie nur dahinter kamen. Wär’s nicht reine Sünde einen solchen Vortheil aus der Hand zu geben?“
Brendel hatte indessen mit untergeschlagenen Armen und zusammengezogenen Brauen am Fenster gestanden und hinaus gestarrt. Jetzt sagte er finster:
„Ich will Dir etwas sagen, Franz, je länger ich über die Geschichte nachdenke, desto weniger gefällt sie mir. Deine Schwester mag mich nicht leiden, so viel ist sicher — Gott weiß, aus welchem Grunde, denn eine so abschreckende Larve trage ich doch nicht mit mir herum — aber deutlich genug hat sie’s wenigstens gezeigt. Wenn sie also wirklich Jemanden verräth, so bin ich das, und unter den Umständen —“
„Aber sie kann Dich doch nicht allein verrathen, ohne ihren Vater und Bruder mit preiszugeben,“ rief Franz heftig aus, „und beim ewigen Gott, wenn die Dirne wahnsinnig genug wäre, das zu thun —“
„Sie wird Euch nicht geradezu verrathen,“ sagte Brendel finster, „aber es wird auf andere Weise an den Tag kommen, verlaßt Euch darauf.“
„Und ein Vermögen, das vor uns auf dem gedeckten Tische liegt, sollen wir aus reinem Muthwillen mit den Füßen von uns stoßen?“ fuhr Franz auf.
„Vielleicht doch nicht ganz,“ erwiderte Brendel; „wir wissen jetzt, wie die Sache gemacht wird, und haben alles Nöthige dazu; es gilt also nur einen anderen Schauplatz zu suchen, auf dem wir das Begonnene beenden können.“
„Und wie wollen wir alle Instrumente und Pressen transportiren, ohne Verdacht zu erregen? Weißt Du noch, welche Mühe und Arbeit es uns gekostet hat, das Alles heimlich in die Ruine zu schaffen? und viel schwieriger wäre es jetzt, es von da wieder wegzubringen.“
„Das weiß ich Alles und ich wollte lieber, daß die Mamsell — doch es ist Deine Schwester und damit abgemacht — Du kannst es mir übrigens nicht verdenken, daß ich lieber in Amerika oder sonst einer hübschen Gegend als im Zuchthaus sitze, und das blüht uns, sobald wir erwischt werden.“
„Das hat uns geblüht, solange wir die Arbeit begonnen,“ sagte Franz verächtlich, „aber sei nicht thöricht und folg’ nur dies eine Mal meinem Rath. Rosel hat einen Trotzkopf, ich weiß es, und ist dabei vom Vater so verzogen, daß sie gewöhnlich thut, was sie eben will — sonst wäre sie auch wahrhaftig nicht Nachts zur Ruine hinauf gegangen, aber sie ist auch klug genug, um zu wissen, wie weit sie gehen darf. [S. 161] Was sie nicht sagen will, behält die schon für sich. Der Vater muß jetzt mit ihr sprechen; er mag ihr meinetwegen versichern, wir hätten die Geschichte aufgegeben, brauchten aber etwa vierzehn Tage Zeit, um all’ die Spuren unserer früheren Arbeiten fortzuschaffen und zu vertilgen, wonach wir Beiden dann nach Amerika auswandern würden. Daß sie dann den Mund hält, darauf könnt Ihr Euch verlassen, und bis dahin sind wir mit Allem fertig und haben unser Schäfchen im Trockenen.“
„Das könnte gehen,“ sagte Brendel nachdenkend, „und was meinen Sie dazu, Jochus?“
„Ich glaube, der Franz hat Recht,“ nickte der Wirth, dem die Aussicht auf einen so raschen und reichen Gewinn zu verlockend entgegenwinkte, „darauf vorbereitet ist sie überdies schon, denn ich habe ihr ja gesagt, daß ich nur deshalb zu Dir herüberginge, Franz, um Dich davon abzubringen.“
„Aber glaubt Ihr auch gewiß, daß wir in vierzehn Tagen mit der ganzen Arbeit fertig werden?“
„Sicher, vielleicht noch früher,“ nickte Brendel, „denn die Nächte werden jetzt von Tag zu Tag länger, und sowie ein wenig rauhes Wetter einsetzt, sind wir dort oben ganz sicher vor Störung.“
„Gut! dabei bleibt’s!“ rief Jochus nach kurzem [S. 162] Besinnen, denn er hatte in dem Forträumen der Werkzeuge jetzt auch eine vollständige Entschuldigung, wenn Rosel seine Abwesenheit von daheim ja noch bemerken sollte. „Sind denn die Vorbereitungen soweit getroffen, daß wir gleich an die Arbeit gehen können?“
„Daran fehlt’s nicht,“ nickte Franz, „verschaffe uns nur noch bis morgen Abend die hier auf dem Zettel bemerkten Gegenstände, die Du dann gleich mit auf die Burg hinaufbringen kannst.“
„Und sollen wir uns also morgen Abend dort wieder treffen?“ frug Brendel, der seine Bedenken nicht vollständig abgeschüttelt zu haben schien.
„Jedenfalls,“ rief Franz, „denn Zeit dürfen wir nun auch nicht mehr versäumen; jede Stunde ist kostbar.“
„Meinetwegen denn,“ gab Brendel seine Zustimmung, „aber so recht behaglich fühle ich mich nicht mehr hier, das kann ich Euch gestehen, und am allerliebsten versucht’ ich mein Glück an einer anderen Stelle. Wenn Ihr’s freilich nicht anders haben wollt, so können wir uns auch einmal ein paar Wochen auf eine Weiberzunge verlassen, denn ändern läßt sich die Sache doch nicht mehr, dann aber hält mich auch nichts mehr in der Nachbarschaft und ich will Gott dan [S. 163] ken, wenn ich den Rhein erst gesund hinter mir habe.“
„Da geht unser neugebackener Actuar,“ lachte Franz, der einen Blick durch das mit grünem Draht verstellte Fenster geworfen hatte, „wenn der wüßte, was hier gebraut wird, welch’ glänzende Empfehlung könnte er sich damit beim Criminalamt schaffen!“
„Spotte Du auch noch!“ sagte Brendel, während er neben ihn trat — „und wie sich der Lump spreizt, als ob er schon Justizminister wäre! Lauf’ Du mir nur einmal in den Weg, wenn mir die Füße erst nicht mehr gebunden sind!“
„Der thut keinen Schaden,“ lachte Franz, „wenn sie Alle so unschuldig wären, könnten wir uns getrost hier häuslich niederlassen. Ueberhaupt dürfen wir uns über unsere Polizei nicht beklagen; sie scheint wirklich froh zu sein, wenn man sie nur selbst zufrieden läßt.“
Jochus hatte seinen Hut schon wieder genommen, um nach Hause zurückzukehren, aber er blieb noch in der Stube stehen und sah selbst dem vorübergehenden jungen Manne nach, bis dieser oben in der Straße verschwand.
„Hast Du den Zettel, Vater?“
„Ja — ich werde es besorgen. Um wie viel Uhr treffen wir zusammen?“
„Nicht später als neun,“ sagte Franz, „das Papier ist schon oben und wir können dann gleich beginnen. Also sprich mit der Rosel, sag’ ihr meinetwegen, wir wären zu Kreuz gekrochen und versprächen, es nicht wieder zu thun,“ lachte er bitter vor sich hin, „es wär’ auch nur erst ein Versuch gewesen — na, Du wirst’s schon machen.“
Paul Jochus erwiderte nichts; das Gute, was noch in ihm lebte, die Erinnerung an Rosel’s verstorbene Mutter, arbeitete noch in ihm, aber die Gier nach Geld war mächtiger und wich keinem Schatten mehr. Er mußte, wie er sich einredete, das Begonnene nun auch durchführen, und während er ohne Abschied das Haus verließ, legte er sich im Geiste schon die Lüge zurecht, mit der er sein eigenes Kind beschwichtigen wollte — nicht um sie zu beruhigen und ihr den Frieden wiederzugeben, sondern um seine eigenen schlechten Handlungen sicher zu stellen und die Entdeckung von sich abzuwenden.
Wie trübe verbrachte indessen die arme Rosel daheim die Zeit! Wie schwer, wie entsetzlich schwer war ihr das Herz heute, wo Alles gerade hätte so gut sein können, wo endlich ihr heißes Gebet erhört worden, [S. 165] wo der Geliebte eine feste Stellung errungen hatte und sie Beide dem Ziele ihrer Wünsche näher waren! Durfte sie jetzt noch daran denken, ihm jemals anzugehören? — Dazu hätte sich die stolze Familie vielleicht herbeigelassen, dem jungen Mann die Verheirathung mit einem braven, unbescholtenen Bürgermädchen zu gestatten. Aber hätte sie, die Tochter eines Verbrechers, es wagen dürfen, in das ehrbare Haus einzutreten, hätte sie wagen dürfen, sich Bruno’s Mutter an das Herz zu legen und ihr den theueren Namen zu geben, der ihre ganze Seele füllte? — nie! Wie eine Ausgestoßene kam sie sich selber vor, so rein von Schuld sie ihr eigenes Herz auch wußte, aber wenn sie auch nichts weiter gesündigt hatte, so war sie doch die stillschweigende Mitwisserin jener furchtbaren Schuld, die in ihrer Brust vergraben bleiben mußte, denn konnte sie den eigenen Vater — den Bruder in’s Zuchthaus liefern?
So verbrachte sie den Abend und horchte auf jeden Schritt im Hause, ob der Vater noch nicht zurückkehre und wenigstens einen Trost bringe, daß ihre Bitten und Thränen — ja die absichtlich darin versteckte Drohung einer Klage, gefruchtet hätten. Noch war es ja vielleicht möglich, Geschehenes ungeschehen zu machen, wenigstens dem rächenden Gesetz gegenüber, [S. 166] wenn sie es auch nie aus dem eigenen Herzen reißen konnte. Sie wollte auch gern, o wie gern, Alles allein geduldig tragen und nicht klagen und murren, wenn sie nur den Vater und Bruder vor dem Verderben bewahrt und einem ehrlichen Leben zurückgegeben hatte.
Endlich kam der Vater. Er wollte an ihrem Zimmer vorüber in sein eigenes gehen, aber sie ließ ihn nicht. Wie sie ihn draußen hörte, öffnete sie die Thür und sagte ängstlich:
„Wie ist es, Vater, warst Du drüben bei ihm?“
„Ja, Kind.“
„Und hast Du mit ihm gesprochen? o, komm’ herein und erzähle mir Alles, was er geantwortet hat.“
„’s ist Alles gut, Rosel,“ sagte der Wirth, indem er zu ihr in’s Zimmer trat und sie auf die Stirn küßte — er mochte ihr nicht dabei in’s Auge sehen, „ich hab’ mit ihm geredet, er hat’s eingesehen und wir wollen jetzt unser Möglichstes thun, um Alles, was noch von der Sache übrig ist, aus dem Weg zu schaffen. Noch weiß kein Mensch davon, als Du, und soll auch hoffentlich nie Jemand weiter davon erfahren.“
„Und der Fremde, was wird mit ihm?“ sagte [S. 167] Rosel und richtete sich rasch empor, um ihren Vater anzusehen.
„Er — er hat sich mit Franz gezankt,“ log der Vater, „weil er’s noch nicht aufgeben mochte. Als ihm der Junge aber erklärte, daß er mit der Sache nichts weiter zu thun haben wollte, meint’ er, dann ginge er nach Frankreich hinüber und versucht’s auf eigene Hand.“
„Laß ihn, Vater, o laß ihn gehen,“ bat das Mädchen, „sieh’, ich will arbeiten, daß mir das Blut unter den Nägeln vorspritzt. Ich kann arbeiten; ich hab’s von Jugend auf getrieben und nichts Anderes in meiner Jugend gelernt. Und wie gern thu’ ich’s,“ setzte sie mit wehmüthigem Lächeln hinzu, indem sie ihr Haupt an seine Brust lehnte, „wenn es dann nur ehrliches Brod ist, was wir essen. Es wird auch gehen, Vater, habe nur guten Muth; Du bist jetzt so gut, Du trinkst nicht mehr und stehst Deinem Geschäft so ordentlich vor, daß Dich alle Menschen d’rum lieb haben; wir müssen uns vielleicht ein Bischen einschränken, aber was thut das? Die Bärbel brauchen wir auch nicht mehr in der Schenkstube, sie ist ein gutes Mädel, aber doch lässig, und man muß ihr fast die halbe Arbeit noch einmal nachmachen, das kann ich auch allein verrichten, und pass’ einmal auf, Deine [S. 168] Gäste sollen sich gewiß nicht beklagen, daß sie langsam bedient würden.“
„Meine gute Rosel,“ sagte der Vater, denn die kindliche Sorgfalt der Tochter stach ihm wie ein Messer in’s Herz und die Scham vor sich selbst trieb ihm das Blut in die Schläfe, „Du bist ein braves Kind, ganz wie Deine selige Mutter, so gut und fromm.“
„O, denk’ recht oft an die selige Mutter, Vater,“ bat das junge Mädchens, sich fester an ihn schmiegend, „recht, recht oft, Du weißt ja, wie lieb sie Dich und mich gehabt und wie schwer ihr das Sterben wurde, weil sie mich zurücklassen mußte und sich so um mich sorgte; denk’ recht oft an sie! willst Du mir das versprechen, Vater?“
„Ja, Rosel, ich will’s,“ flüsterte der Mann und wandte den Kopf ab, denn er fühlte, daß er jetzt ihren Blick nicht ertragen hätte.
„Dann wird auch noch Alles gut werden,“ lächelte das Mädchen unter Thränen vor, „Alles, Du sollst auch nie von mir eine Klage hören. Das verspreche ich Dir, Vater, und Du weißt, daß ich halte, was ich Dir einmal versprochen.“
„Ich weiß es, Rosel — ich weiß es — Du bist so von klein auf gewesen, wie Deine Mutter selig — [S. 169] aber nun laß auch das Weinen sein, Kind. Leg’ Dich jetzt zu Bett und schlaf’ ordentlich aus, und zeig’ den Leuten morgen wieder ein freundlich und ruhiges Gesicht. Du glaubst gar nicht, wie sie heute nach Dir gefragt und sich um Dich gesorgt haben. Der alte Registrator war drei Mal da, um Dir für die Orangenstöcke zu danken, und der Stadtschreiber selber ist den Mittag eigens darum heraus gekommen, um sich zu erkundigen, ob Dir der Marsch gestern Abend nicht geschadet hätte.“
„Der gute alte Mann!“ sagte Rosel leise, „ja, Vater — morgen geh’ ich wieder in die Wirthschaft hinunter, und sei versichert, mit recht leichtem, fröhlichem Herzen. Es soll mir Niemand ansehen, wie weh mir heute zu Muthe gewesen ist und was für eine schwere Nacht ich gehabt habe. Und gehst Du auch jetzt schlafen?“
„Nein, ’s ist noch zu früh,“ sagte Jochus, „und ich werde noch ein wenig hinunter sehen, denn dem Bärbel allein möcht’ ich die Stube nicht überlassen. Also gute Nacht, Rosel; die Thür geht so oft unten, ich glaub’, es sind viele Leute da. Schlaf’ wohl, Kind.“ Und mit den Worten küßte er sie noch einmal auf die Stirn und stieg dann die Treppe hinab.
Am nächsten Morgen war Rosel mit dem ersten Hahnenschrei munter. Sie hatte in der That nicht zu viel versprochen, denn Niemand würde ihr angesehen haben, was sie in den letzten vierundzwanzig Stunden getragen — was sie noch still und allein im Herzen trug. Etwaige Fragen nach ihrem Abenteuer suchte sie durch Scherze und Neckereien abzulenken, denn schon die Erinnerung an jene Nacht schnürte ihr noch immer mit einem unheimlichen Gefühl die Brust zusammen, und sie mußte sich oft Gewalt anthun, um das Niemanden merken zu lassen.
So vergingen acht Tage; wohl hatte sie indeß bemerkt, daß der Vater wieder Nachts das Haus verließ, und ihn auch selber deshalb gefragt, sich jedoch vollkommen mit der Antwort begnügt, die er ihr gab: Es geschehe nur, um dem Franz zu helfen, Alles dort oben zu beseitigen, was später — wenn es je einmal zufällig entdeckt werden sollte — den geringsten Verdacht erwecken könnte. Noch glücklicher fühlte sie sich aber, als er hinzusetzte, jener Brendel packe nun auch schon seine Sachen zusammen und werde in acht oder spätestens zehn Tagen Hellenhof und das ganze Land verlassen, um nach Frankreich hinüber zu ziehen.
Nur den Menschen erst fort aus ihrer Nachbarschaft, aus dem Verkehr mit ihren nächsten Verwandten, und sie war überzeugt, daß dann noch Alles gut — recht gut werden konnte. Alles? Das arme Mädchen schüttelte traurig mit dem Kopfe. Alles konnte nicht mehr gut werden, denn für sich und ihr Glück sah sie keine Hoffnung. Bruno blieb ihr für immer verloren und schien sich auch selbst bereits in das Unvermeidliche gefügt zu haben, denn sie hatte ihn nicht allein seit jenem Morgen nicht gesehen, sondern wußte auch, daß er während der ganzen Zeit nicht wieder nach Wellheim herüber gekommen war, — aber sie dankte Gott dafür, denn es machte ihr die eigene Entsagung nur so viel leichter. Es war besser so; sie paßte auch nicht in die vornehme Familie, wenn es sich wirklich bestätigte, daß diese durch den Proceß ein Vermögen erworben hatte. So lange er arm gewesen, so lange sie die Aussicht gehabt, daß sie sich selber durch Fleiß und Arbeit im Leben forthelfen konnten, durfte sie den Gedanken hegen, — jetzt aber war das anders geworden, viel besser für ihn, und es schmerzte sie nur, wenn sie sich dachte, daß er sich doch wohl gar zu rasch und leicht in das Unvermeidliche gefunden.
Den einzigen Trost fand sie in der veränderten Stimmung des Vaters, den sie noch nie so heiter und [S. 172] vergnügt gesehen hatte als jetzt. Er pfiff den ganzen Tag im Hause herum, und wenn sie sich manchmal allein mit ihm befand, streichelte er ihr die Backen und versicherte sie, er würde nun auch nicht mehr lange in dem langweiligen Wellheim bleiben, sondern bald mit ihr in eine große Stadt ziehen und ein Hotel anlegen. Die Preise des Landes seien, wie er hinzusetzte, so bedeutend gestiegen, daß er seine Weinberge jetzt äußerst vortheilhaft verkaufen könne, und den Zeitpunkt wolle er benutzen, denn nach einem recht schlechten Weinjahr sinke auch der Werth des Landes wieder, und so hoch wie jetzt sei er noch nie gewesen.
Fort von Wellheim? — im Anfang hatte der Gedanke etwas Peinliches für sie, sie wußte eigentlich selbst nicht weshalb, aber rasch gewöhnte sie sich hinein und als sie sich Alles überlegte, schien es ihr das Beste, daß sie weit, recht weit von hier fortzögen in ein anderes Land und auch die Erinnerungen, die bösen trüben Gedanken zurückließen am Rheine; ja sie drängte jetzt sogar selbst den Vater, diesen Zeitpunkt zu beschleunigen, draußen in der Welt konnte es vielleicht doch noch besser werden.
Der alte Jochus schien auch wirklich Ernst zu machen, denn er verkaufte schon in dieser Woche einen Theil seiner Weinberge an einen frisch zugezogenen [S. 173] Weinbauer und stand sogar mit diesem im Handel um Haus, Garten und Wirthsgerechtigkeit.
Es waren indessen fast vierzehn Tage seit jener Nacht verflossen und das Wetter schon recht rauh und herbstlich geworden, was den Vater aber nicht verhinderte, sehr häufig nach Hellenhof hinüberzugehen. Einmal war er sogar die Nacht dort geblieben, wie er sagte. In der ganzen langen Zeit hatte sie nichts von Bruno gehört und gesehen; in der Stadt hieß es nur, seine Mutter würde ebenfalls hinüber nach Hellenhof ziehen und hätte sich dort drüben ein sehr hübsches Haus mit einem großen Garten gemiethet; also mußten sich ihre Vermögensverhältnisse doch bedeutend gebessert haben, oder wenigstens bald Aussicht dazu vorhanden sein.
Eines Tages war Rosel hinaus in den Garten gegangen, um sich noch einen hübschen Strauß zu pflücken, ehe es einwinterte, und wollte eben mit ihren Blumen in das Haus zurück, um sie in Wasser zu stellen, als plötzlich — das Blut trat ihr wie mit Einem Schlag zum Herzen zurück — Bruno neben ihr stand — keinen Schritt auf dem Kies des Gartens hatte sie vorher gehört.
„Rosel,“ sagte der junge Mann herzlich, indem er ihr die Hand entgegenstreckte, „bist Du mir bös, daß ich Dich überrascht habe?“
„Bös?“ sagte das Mädchen verwirrt, indem sich ihr Antlitz jetzt blutroth färbte, „bös bin ich Ihnen nicht, Herr von der Haide.“
„Ihnen — Herr von der Haide?“ wiederholte der Gekommene leise und traurig, und das freundliche, ja glückliche Lächeln, mit dem er sie eben noch begrüßt, wich aus seinen Zügen. „Bin ich Dir in den wenigen Wochen so fremd geworden, Rosel, daß Du mich Sie und bei dem kalten Namen nennst?“
Rosel schwieg eine kleine Weile; sie hätte gern gesprochen, aber es ging nicht, die Worte quollen ihr in der Kehle, und sie brachte keinen Laut über die Lippen. Endlich aber wurde sie ihrer Aufregung Herr und sagte leise:
„Es kann nicht anders sein, Herr von der Haide. Sie wissen es doch; ich habe ja auch schon Abschied von Ihnen genommen, und ich hatte geglaubt, Sie würden mir den Schmerz einer zweiten Begegnung ersparen.“
„Ich begreife Dich nicht, Rosel,“ rief Bruno bewegt aus; „wie ich noch verzweifelnd in das Leben und vor mir nur Noth und Entbehrung sah, hieltest Du treu und wacker zu mir, und nichts konnte Dich irre machen.“
„Noth und Entbehrung hätten uns auch nie getrennt,“ sagte das Mädchen scheu und fast lautlos.
„Aber was denn sonst, Herz?“ bat dringend der junge Mann, indem er ihre Hand ergriff, die sie ihm, aber nur widerstrebend ließ, „was, um Gotteswillen ist zwischen uns getreten, wo uns nicht einmal Noth und Entbehrung auseinander reißen konnten? Dein Vater war, als ich ihn das letzte Mal sprach, gut und freundlich gegen mich, und meine Mutter hat mich viel zu lieb, als daß sie, eines alten Vorurtheils wegen, das Glück ihres einzigen Sohnes zerstören sollte. Ich habe auch erst gestern wieder mit ihr über Dich gesprochen und fand zu meiner Freude, daß sie sich, in der Zeit meiner Abwesenheit, näher nach Dir erkundigt und von allen Seiten nur Gutes gehört habe. Ich begreife nicht, was geschehen sein kann, Dein Herz in so kurzer Zeit, ja in wenigen Stunden nur, von mir abzuwenden. Wie soll ich da noch Lust und Liebe zu meinem Beruf haben, wo mir die schönste Hoffnung, die ich daran knüpfte, in der Blüthe geknickt ist?“
Rosel schwieg noch immer — ein schwerer Seufzer nur hob ihre Brust und ganz in Gedanken zupfte sie die Blätter von einigen der Blumen, die sie eben noch mit solcher Sorgfalt gesammelt hatte.
„Ich wäre auch schon lange zu Dir herüber gekommen,“ fuhr der junge Mann bewegt fort, „denn diese Ungewißheit ließ mich nicht ruhen noch rasten, [S. 176] aber es gab gerade in den letzten Wochen so viel auf dem Criminalamt zu thun, daß ich kaum zu Athem gekommen bin. Ja ich mußte sogar, in einem wichtigen Verbrechen, dem wir auf die Spur gekommen sind, mit unserem Assessor eine Reise machen, die mich fast acht Tage von Hellenhof entfernt hielt. Gestern zurückgekehrt, hörte ich zu meinem Schreck, daß Dein Vater im Begriff stehe, Haus und Wirthschaft zu verkaufen und ganz von Wellheim fortzuziehen, und da litt es mich nicht länger. Ich mußte Dich sehen, und wenn ich auch für die Versäumniß vielleicht die ganze Nacht zu arbeiten habe. — Ist es wahr, Rosel — wollt Ihr fort von hier?“
„Ja,“ hauchte das Mädchen, „der Vater will wegziehen — ich weiß selber noch nicht wohin.“
Der junge Mann schwieg und ein bitteres Gefühl zog durch sein Herz, während er still vor sich nieder starrte.
„Ich weiß nicht,“ sagte er nach einer kleinen Weile, „was mir Deine Liebe rauben konnte — ich bin mir selber wenigstens keiner Schuld bewußt, denn nicht mit einem Gedanken habe ich an Dir gesündigt. Ich kann mir auch gar nicht denken, was Du dabei hast, mir den Grund zu verschweigen, denn Du bist sonst immer so wahr und offen gegen mich gewesen, [S. 177] wie ich auch nichts auf der Welt kenne, was ich Dir verschweigen möchte. Aber etwas hat sich zwischen uns gelegt — Gott weiß es, ohne mein Verschulden — und sicherlich auch ohne Deines, Rosel, und nur recht, recht traurig ist es, daß dies zwei Menschen soll für ihr ganzes Leben unglücklich machen.“
„Recht traurig,“ nickte Rosel leise vor sich hin, aber so leise, daß er wohl die Bewegung sah, doch die geflüsterten Worte nicht verstand.
„So sag’ mir nur noch das Eine, Rosel,“ bat Bruno herzlich, „ich will Dich nicht länger quälen, denn ich sehe, daß Dir meine Gegenwart nicht mehr so lieb ist, wie sie es früher war — nur die eine Frage beantworte mir noch — giebt es kein Mittel, durch welches ich das Verlorene wieder gewinnen kann? Ist es so vollständig unmöglich, das Hinderniß, das ich nicht einmal kenne, aus dem Weg zu räumen — soll ich nicht wenigstens hoffen dürfen, daß noch Alles gut werden kann?“
„Nein, Bruno,“ sagte das arme Mädchen tonlos und kopfschüttelnd, „ich habe keine Hoffnung mehr. Um das Eine nur aber bitt’ ich Dich,“ setzte sie fast ängstlich hinzu, als er matt ihre Hand losließ und sich von ihr abwandte, „wenn ich auch einmal fort bin von hier und Du mich nicht mehr siehst, denk [S. 178] ’ immer an mich und sei überzeugt, daß die Rosel gut und brav geblieben ist und Dich von Herzen lieb gehabt hat — willst Du mir das versprechen? — und Du darfst’s.“
„Ich will’s Dir versprechen,“ sagte Bruno, indem er ihr noch einmal die Hand reichte. „Und so sollen wir jetzt wirklich Abschied für’s Leben nehmen?“
„Für’s Leben, Bruno,“ sagte Rosel, während ihr ein paar große helle Thränen an den Wangen niederrollten und als Thau auf die Blumen fielen, die sie noch immer in der Hand hielt — „ich hätt’ Dir gern den Schmerz erspart, wenn es mir möglich gewesen wäre, aber Du hast’s ja selber so haben wollen.“
„Ich kann mir’s noch immer nicht denken,“ nickte der junge Mann betrübt vor sich hin, „es ist mir fortwährend, als ob wir Beide in irgend einem schweren, entsetzlichen Traume lägen und jeden Augenblick daraus erwachen müßten. Und doch ist’s wahr und wirklich! So leb’ denn wohl, Rosel,“ fuhr er fort, indem er einen leisen, kaum fühlbaren Kuß auf ihre Stirn hauchte, „ich will Dir den Abschied nicht schwer machen. Ich geh jetzt fort zu meinem Beruf und hetze, wie die ganze letzte Woche, hinter Raubmördern und Falschmünzern her und liefere die Verbrecher den Gerichten aus. Glückliche Menschen be [S. 179] komme ich nicht zu sehen, die ich neiden könnte, und da will ich versuchen, ob ich’s wenigstens vergessen mag. — Leb’ wohl, Rosel.“
Rosel war’s, als ob ihr Jemand mit einer eiskalten Hand das Herz zusammenpresse, und hätten Bruno nicht die Augen so voller Thränen gestanden, so mußte er sehen, wie blaß sie plötzlich bei seiner letzten Rede geworden.
„Hinter wem hetzest Du her?“ sagte sie fast tonlos, ohne die Hand loszulassen, die sie noch in der ihren hielt.
„Hinter einer Falschmünzerbande, Rosel,“ antwortete der junge Mann, „von der ich vorgestern selber das Glück hatte, einen der Agenten einzufangen. Ich freute mich damals darüber, weil ich dachte, daß es mir vorwärts helfen würde.“
„Und hat er gestanden?“
„Noch nicht, aber wir haben trotzdem allen Grund zu vermuthen, daß wir das Nest hier in der Nähe finden werden. So will ich denn wieder an meine Arbeit gehen. Lebe wohl, Rosel, und wenn ich Dich noch um Eines bitten darf, so — vergiß mich nicht ganz, denk’ manchmal an den Bruno, der es treu und ehrlich mit Dir gemeint hat und Dich lieben wird, so lange er lebt.“
Wie er noch einmal nach ihrer Hand griff, faßte er eine Blume, die aus dem Bouquet gefallen war; er hielt sie fest und sich dann rasch abwendend, schritt er, ohne sich auch nur noch einmal umzusehen, aus dem Garten.
Rosel war, als er sie verlassen, kaum eines Gedankens fähig, mitten im Wege stehen geblieben; die Blumen fielen aus ihrer Hand auf den Boden nieder, sie merkte es gar nicht. Sie that einen Schritt vorwärts, als ob sie ihm nacheilen möchte; sie wollte rufen, aber sie brachte keinen Laut über die Lippen, und lange, lange schon war er im Gebüsch verschwunden und außer Hörweite, als sie erst wieder die Kraft erlangte, sich zu bewegen.
Mit dieser Kraft kehrte aber auch das Bewußtsein ihrer Lage, das Entsetzliche des über sie hereinbrechenden Unglücks zurück, und Bruno selber, der Mann, den sie mehr als ihr eigenes Leben liebte, war der Träger desselben. Aber sie mußte ihren Vater sprechen, mußte ihn warnen und mit flüchtigen Schritten eilte sie in das Haus.
Ihr Vater war noch nicht da und, wie ihr Bärbel sagte, nach Hellenhof gegangen, hatte jedoch gesagt, daß er nicht lange ausbleiben würde. Sie wartete und wartete in peinlicher, verzehrender Ungeduld, doch [S. 181] er kam nicht. Sollte er wieder über Nacht ausbleiben? Der Abend dämmerte schon, indessen sie die einzelnen Minuten gezählt, die noch nie so langsam geschlichen waren, Paul Jochus ließ sich nicht blicken, und jetzt litt es sie nicht länger in dem alten Haus, wo es ihr war, als ob es über ihr zusammen brechen müsse. Sie warf Hut und Capuze über und eilte den weiten Weg nach Hellenhof hinaus.
Wohl schauderte ihr dabei, wenn sie daran dachte, daß sie auch jenem unheimlichen Fremden begegnen müsse, aber die Angst um den Vater überwog das Alles und fast athemlos erreichte sie, schon lange nach Dunkelwerden, das etwas abgelegene Gartenhaus, das ihr Bruder bewohnte. Kein Licht brannte darin, sie klopfte an die Thür, Niemand antwortete ihr, kein Zeichen, kein Laut verrieth, daß sich ein lebendiges Wesen in der Wohnung befände.
Wo waren sie Alle? In der Ruine? Sie hätte vor Angst und Entsetzen in die Kniee brechen mögen, aber es war keine Zeit, um sich irgend einer Schwäche hinzugeben, und noch einmal klopfte sie, stärker als vorher, und wartete auf Antwort.
Da öffnete sich in dem nächsten kleinen Haus ein Fenster, und eine Stimme rief von dort heraus:
„Da drin ist Niemand zu Haus.“
„Und wo ist der Besitzer?“ frug Rosel zurück, dabei so viel als möglich ihre eigene Stimme verstellend.
„Ja, das soll Unsereins wissen,“ lautete die mürrische Antwort, „wo sich das liederliche Volk herumtreibt! Nach Wellheim zum Wein wahrscheinlich, wohin sie alle Abende gehen, die Gott werden läßt,“ und das Fenster wurde wieder zugeschlagen, denn die Nachtluft war kalt und unfreundlich.
„Jeden Abend!“ nur das eine Wort fand einen Wiederklang in ihrem Herzen. Also waren sie jeden Abend fort, und ihr Vater dann auch nicht in Hellenhof gewesen! Was half es ihr da, wenn sie hier ihre Rückkehr erwarten wollte? Mit schwankenden Schritten machte sie sich auf den Heimweg.
Wohl gab es einen Platz, wo sie fürchtete sie treffen zu können — in der Ruine, und als sie Hellenhof wieder verließ, war sie sich ihrer Absicht noch nicht klar bewußt, ob sie auch das Letzte wagen sollte, sie dort aufzusuchen. In flüchtiger Eile verfolgte sie ihre Bahn, und fast unbewußt lenkte sie, als sie die Abzweigung des Weges erreichte, ihren Fuß der alten Burg zu. Unten am Hügel aber verließ sie ihr Muth. Einmal ja, einmal hatte sie den Schrecken des alten Gemäuers getrotzt, wo sie es nur von den albernen [S. 183] Phantasiegebilden abergläubischer Thoren bevölkert glaubte. Jetzt stiegen entsetzlichere Bilder vor ihrer Seele auf, als der alte Ritter von Wildenfels mit seinem kopflosen Rumpf, Bilder, die ihr das innere Mark gerinnen machten; ihnen Trotz zu bieten, wagte sie nicht.
Scheu, als ob sie den ganzen Spuk des alten Schlosses auf ihren Fährten wüßte, floh Rosel nach der Stadt zurück, mit der freilich schwachen Hoffnung, den Vater dort zu finden. Er war noch nicht zurückgekehrt, und immer noch, als Bärbel und die anderen Dienstleute schon lange in ihren Betten lagen, saß sie lauschend an dem nach dem Garten hinaus führenden Fenster und horchte auf das geringste Geräusch, bis ihr die Augen endlich vor Mattigkeit und Schwäche zufielen.
Und dort im Stuhl, fröstelnd vor Kälte, denn es hatte die Nacht scharf gefroren, erwachte sie, als eben der erste Sonnenstrahl auf die Wipfel der Bäume fiel. Dabei war ihr, als ob gerade eine Thür geschlossen würde. Sie fuhr empor und horchte — tiefe Stille lag auf dem ganzen Haus. War ihr Vater zurückgekehrt? Sie lauschte auf den Gang hinaus, ob sie irgend ein Geräusch hören könne, aber nichts regte sich, nur die draußen hängende Uhr hob aus und schlug [S. 184] Sieben. Sie warf sich ihr Umschlagetuch über die Schultern und trat auf den Gang hinaus. Die Mädchen mußten unten sein; sie konnte Niemanden hören, und vorsichtig schlich sie hinüber zu ihres Vaters Thür.
War er daheim? Leise klopfte sie zum ersten Mal an, und als keine Antwort erfolgte, stärker.
„Wer ist da?“ antwortete die Stimme des alten Jochus. „Bist Du es, Carl? Ich setz’ Dir meine Stiefeln gleich hinaus.“
„Ich bin’s, Vater.“
„Wer?“
„Ich, die Rosel.“
„Die Rosel? Alle Wetter, Mädel, was thust Du denn schon auf und was willst Du? Warte einen Augenblick, ich muß mich erst anziehen; ich mache Dir gleich auf.“
Rosel erwiderte nichts. Fest in ihr Tuch eingewickelt, stand sie draußen auf dem kalten Gang und horchte dem monotonen Ticken der Schwarzwälder Uhr. Es dauerte gar so lange, bis der Vater drin mit seinem Anzug fertig wurde. Jetzt endlich trat Jemand an die Thür, der Riegel wurde zurückgeschoben und Rosel stand auf der Schwelle. Fast unwillkürlich warf sie den Blick im innern Raum um [S. 185] her, vielleicht nur um zu sehen, ob sie allein wären, aber sie sah auch zugleich, daß das Bett des Vaters wohl ineinander gedrückt und die Decke zurückgeschlagen war, als ob es eben verlassen worden, doch das konnte sie nicht täuschen; das Bett war in dieser Nacht nicht berührt und der Vater jedenfalls erst am Morgen — vielleicht eben in diesem Augenblick — von seiner nächtlichen Wanderung zurückgekehrt.
„Aber Rosel,“ sagte Paul Jochus erstaunt, indem er sie kopfschüttelnd betrachtete, „was hat Dich denn so früh aus den Federn getrieben und weshalb weckst Du mich so zeitig? Ist etwas vorgefallen, oder bist Du selber krank?“
„Nein, Vater,“ sagte Rosel und es wurde ihr schwer, zu sprechen, denn der Athem versetzte ihr die Brust, „ich bin wohl — aber — willst Du mir eine Frage beantworten?“
„Recht gern, Kind,“ entgegnete der Wirth, allein der Blick, der die Tochter dabei traf, strafte die bereitwilligen Worte Lügen, denn er flog scheu und mißtrauisch über sie hin; „was hast Du nur?“
„Du weißt, was ich neulich mit Dir besprochen habe, Vater,“ fuhr Rosel fort, „wie Du mir versprochen hast, daß Du dem Franz helfen wolltest, Alles — dort oben — aus dem Weg zu räumen, daß [S. 186] das unselige Geschäft aufgegeben sei und jener Mensch, den uns des Himmels Zorn hierher gesandt, Hellenhof verlassen wolle. Ist das geschehen?“
„Aber, liebes Herz,“ sagte der Vater mit einem erzwungenen Lachen, „um das zu fragen, hättest Du doch wohl auch noch ein paar Stunden warten können.“
„Ist das geschehen, Vater?“ drängte die Tochter.
„Gewiß ist’s,“ sagte der Mann halb unwillig, „der Brendel ist freilich noch nicht fort; er mußte erst seinen Paß zum Visiren zum französischen Consul schicken, und das hat ihn etwas aufgehalten, doch morgen reist er ab.“
„Und in der Ruine ist keine Spur jenes — jener Arbeit zurückgeblieben?“
„Nein, Kind, Alles glatt und sauber.“
„Gott sei Dank!“ stöhnte Rosel aus voller Brust, „so will ich denn die Angst auch gern umsonst getragen haben.“
„Was hast Du nur, weshalb denn Angst und vor was?“
„Nichts, Vater,“ sagte das Mädchen freundlich, „wenn der Franz die böse Sache aufgegeben hat, so ist Alles gut und es betrifft nicht uns, sondern fremde Menschen.“
„Aber was denn, Kind?“ frug der Wirth, der sich doch nicht ganz sicher fühlen mochte, „so sag’ mir doch, was Du hast und um was Du besorgt warst?“
„Um nichts, Vater, und ich danke dem Himmel, daß es um nichts war.“
„Aber ich bitte Dich darum.“
„Ich möchte nicht gern das Vergangene berühren und Dir weh thun.“
„Du hast mich nun neugierig gemacht, und ein Geheimniß ist’s doch nicht.“
„Ich weiß es nicht, Vater, aber ich glaube es nicht. Der Bruno war gestern Nachmittag wieder hier im Garten —“
„Hm,“ sagte der Wirth, der jetzt die Aufregung des Mädchens zu errathen glaubte, bedeutend beruhigt, „so — und bist Du freundlich mit ihm gewesen?“
„Weshalb soll ich unfreundlich mit ihm sein?“ sagte Rosel traurig. „Er ist brav und gut und wir leiden Beide gleich viel; er wird auch nicht wiederkommen. Es war das letzte Mal.“
„Aber was — was hat denn das mit der Ruine zu thun?“ frug der alte Jochus kopfschüttelnd.
„Er ist jetzt beim Criminalamt, Vater,“ sagte [S. 188] Rosel, doch leise und scheu, „und da — da erwähnte er zufällig, daß sie —“
„Daß sie — was?“ rief Jochus rasch.
„Mir jagte es Anfangs, als ich es hörte, einen Schreck ein,“ sagte das arme Mädchen, „aber so hat das ja nichts mit uns oder mit dem Franz zu thun — sie sind einer Falschmünzerbande auf der Spur und Alles, um was ich Dich bitten wollte, ist: mach’, daß der fremde Mensch, der Brendel, bald von Hellenhof wegkommt, damit der Franz keine Gemeinschaft mehr mit ihm hält.“
Jochus war todtenbleich geworden, die Kniee zitterten ihm und er sank wie gebrochen in einen Stuhl.
„Vater!“ rief Rosel erschreckt und ein furchtbarer, entsetzlicher Verdacht stieg in ihr auf; „Vater, um Gotteswillen, hast Du mir in Allem die Wahrheit gesagt?“
„Was haben sie entdeckt?“ frug der Alte, der sie mit dem linken Arme von sich schob, mit harter, rauher Stimme, „sage mir Alles, Mädel, Du — Du weißt nicht, was davon abhängt.“
Rosel stand vor ihm, starr und thränenlos, sie brauchte keine Frage mehr an ihn zu thun, in diesen angstverzerrten Zügen lag die ganze Schuld und [S. 189] Sünde des Mannes, den sie hätte lieben und verehren sollen, nur zu deutlich vor ihr, und mit jetzt vollkommen ruhiger, aber eiskalter Stimme sagte sie:
„Was ich weiß, ist sehr wenig: einer Falschmünzerbande will man auf die Spur gekommen sein, deren Hauptsitz man hier in der Nähe vermuthet. Einer der Hehler oder Verbreiter ist vorgestern ertappt und verhaftet worden. Er hatte bis jetzt noch nicht gestanden.“
„Verhaftet — wo?“
„Ich weiß es nicht.“
„Durch wen?“
„Durch Herrn von der Haide,“ sagte das Mädchen kalt.
„Teufel!“ knirschte der alte Mann durch die Zähne, aber jetzt war auch keine Zeit mehr, Rücksichten zu nehmen oder etwas zu verheimlichen, was, wie er recht gut wußte, sonnenklar vor dem Auge der Tochter lag, denn ihr Blick ließ sich nicht mehr mißverstehen. Er sprang auf, fuhr rasch und hastig in seinen Rock, griff nach seinem Hut und eilte, ohne der Tochter Lebewohl zusagen, die Treppe hinab und durch den Garten hinaus auf den Weg nach Hellenhof.
Paul Jochus hatte schon lange das Zimmer verlassen, und Rosel stand noch immer am Fenster, wohin sie getreten, um ihm durch den Garten nachzusehen. Wußte sie doch genau, welchen Weg er nehmen würde und wohin ihn seine hastigen Schritte trugen. Und wie sonderbar war ihr dabei zu Muthe! Sie sah Alles, was um sie her vorging, aber es schien gar nicht zu ihr zu gehören oder mit ihr in Verbindung zu stehen.
Unten im Garten, gerade unter dem Fenster lag das große, prachtvolle Bouquet, das sie gestern noch selber gepflückt, und sie wunderte sich jetzt, was da vorgegangen sein konnte, daß man Jemandem in ihrem Garten Blumen gestreut hätte, ohne daß sie selber davon wisse.
Da ging Bärbel in den Garten, um vom Gemüsebeete etwas Petersilie zu holen. Was hatte die fremde Person, die so wunderbar in einen Regenbogenschein gekleidet war, in ihrem Garten zu thun? Sie wollte das Fenster öffnen, um ihr zuzurufen; allein sie vermochte es nicht mehr. Sie hob den Arm und brach dann, ehe sie nur den Fenstergriff erfassen konnte, lautlos und ohnmächtig, wo sie stand, zusammen.
Dort lag sie wohl eine Stunde lang, bis das Mädchen hinauf kam, um das Zimmer zu reinigen, denn die Thür stand nur angelehnt.
Bärbel schlug jetzt Lärm im Haus, aber Rosel kam rasch wieder zu sich, und es war, als ob sie gerade in dieser Betäubung der Sinne, in dem vollen Vergessen des Geschehenen wieder frische Kräfte gesammelt habe.
Man hatte sie auf ihr Bett getragen und wollte jetzt nach dem Doctor laufen; doch Rosel litt es nicht. Sie fühlte sich wieder vollkommen wohl; nur eine merkwürdige Schwäche sei über sie gekommen, als sie dort drüben im Zimmer habe aufräumen wollen. Das wäre eine Ohnmacht gewesen, weiter nichts und jetzt vorüber. Man sollte nur ihr Fenster ein wenig öffnen, daß die frische kalte Morgenluft herein käme, das würde ihr mehr helfen als alle Doctoren der Welt.
Wie stürmte indessen der sonst so ruhige Wirth, Paul Jochus, auf der Straße hin, die nach Hellenhof führte! Das Entsetzliche, das bis jetzt nur immer als Schreckbild vor seiner Seele gestanden, war geschehen — war endlich eingetroffen, ihre Arbeit verrathen — verrathen im letzten Augenblick, wo sie sich Alle am Ziel ihrer Wünsche und Hoffnungen sahen, [S. 192] und nur der eine Gedanke jagte ihn vorwärts, daß es vielleicht selbst jetzt noch nicht zu spät sei, dem größten Unglück, einem Ertappen auf frischer That, vorzubeugen. Wußte er doch recht gut, wie schwer es sein würde, überzeugende Beweise gegen sie beizubringen, wenn nichts Thatsächliches vorlag, um sie zu überführen.
Die Bauern, die ihm unterwegs begegneten und ihn kannten, blieben in der Straße stehen und sahen ihm erstaunt nach. Was hatte der Mann so zu laufen? War irgend wo ein Unglück geschehen? Einige riefen ihn an, er hörte sie gar nicht, oder achtete wenigstens nicht darauf, — aber er fühlte doch zuletzt, daß er sich, besonders in der Nähe der Stadt, nicht auffällig benehmen dürfe, und mäßigte seine Schritte.
Endlich hatte er die Außengebäude von Hellenhof erreicht und bog hier in einen Seitenweg ab, der nur zwischen Gärten hinführte und ihn, von wenigen Menschen gesehen, zu der Wohnung seines Sohnes bringen konnte. Aber dort lag Alles still; die Bewohner schliefen noch nach ihrer nächtlichen Arbeit, und er mußte eine ganze Weile an der Thür pochen, ehe er die Beiden so weit ermuntert hatte, daß sie ihm öffneten. Wie rasch war jedoch jede Müdigkeit vorüber, [S. 193] als sie die Schreckenskunde hörten, die er brachte! Einer ihrer Helfershelfer entdeckt und verhaftet! Wer und wo? Betraf es auch wirklich sie? Doch sie durften kaum daran zweifeln, denn durch den glücklichen Erfolg, den sie bis jetzt gehabt, übermüthig gemacht, waren sie leichtsinniger vorgegangen, als sie eigentlich gesollt.
Und was nun?
Der Gefangene — wer es auch sein mochte — hatte nach Aussage des Actuars noch nichts gestanden, und es war nicht wahrscheinlich, daß er das so rasch thun würde, denn nur durch standhaftes Leugnen konnte er sich vor Strafe sichern, oder diese doch jedenfalls erleichtern. Allein sie wußten nicht, welche Beweise gegen ihn vorlagen, und konnten das auch nicht erfahren, denn schon eine einfache Frage hätte den Verdacht auf sie lenken müssen. Wie lange Zeit blieb ihnen nun selbst, um nicht allein ihr Product in Sicherheit zu bringen, sondern auch jede Spur zu vertilgen, die einen Verdacht auf sie lenken konnte? Franz meinte, daß sie, was auch geschehen möge, unter jeder Bedingung die Nacht abwarten müßten; Brendel aber, den eine merkwürdige Unruhe erfaßt zu haben schien, drang darauf, auch keine Stunde länger zu versäumen und ohne Weiteres an die Arbeit zu gehen. [S. 194] Zwei Mal wären sie jetzt gewarnt worden, das dritte Mal geschehe es nicht, und vor Abend gedenke er wenigstens, Hellenhof weit genug im Rücken zu haben, um von den Aussagen keines Menschen mehr gefährdet zu werden.
Sie hatten ja auch weiter nichts zu thun, als die schon fertigen und noch in der Ruine liegenden Pakete mit Banknoten in Sicherheit zu bringen und die wenigen noch unvollendeten so weit zu zerstören, daß ein Erkennen des Fabricats daran unmöglich wurde. Alles Andere ließen sie dann stehen und liegen, und wurde es wirklich aufgefunden, nun was that’s? Das Gericht bekam nur den Beweis in die Hände, daß dort ein Vergehen gegen Paragraph So und So des Strafgesetzbuches stattgefunden, wer es aber begangen und wo sich Der jetzt befinde, könnte man aus den todten Werkzeugen nie errathen.
Franz sträubte sich noch. Er schlug vor, einen Spaziergang nach verschiedenen Seiten zu machen. Sie wollten sich trennen, um nicht zusammen gesehen zu werden, und sich dann mit der Abenddämmerung oder allenfalls schon Nachmittags in der Ruine treffen. Auf die wenigen Stunden könne es jetzt nicht ankommen, denn liege der geringste Verdacht gegen sie überhaupt vor, so würde man sie wahrlich nicht so [S. 195] lange unbelästigt gelassen haben, sie wären schon jetzt verhaftet worden. Brendel hatte indeß keine Ruhe; er drang mit seiner Meinung zuletzt durch, denn Paul Jochus selber fühlte sich von einer unsagbaren Angst überkommen, die ihm keine Ruhe ließ. Es wurde deshalb besprochen, gleich nach der Ruine aufzubrechen, und Jochus selbst sollte voranschreiten, während die beiden Compagnons indessen im Hause selbst Alles vernichteten, was bei einer Durchsuchung auch nur den geringsten Verdacht gegen sie erwecken oder einen solchen bestätigen könnte. Besonders hatten sie noch einige Probestiche verschiedener Noten im Besitz, die, als jetzt völlig werthlos, augenblicklich im Ofen verbrannt wurden. Ebenso vernichteten sie alle Papierproben, die zu Banknoten hätten benutzt werden können, und legten andere harmlose Arbeiten, die theils ganz, theils halb vollendet waren, absichtlich auf ihren Tischen aus, um einer etwaigen Untersuchung zu zeigen, womit sie beschäftigt wären.
Erst als sie das Alles beendet und sich genau überzeugt hatten, daß nicht das Geringste zurückgeblieben sei, was ihnen hätte gefährlich werden können, verließen sie das Haus, um dem vorangegangenen Wirth auf einem anderen Wege zu folgen, der durch die jetzt verlassenen Weinberge führte. Sie nahmen sich dabei [S. 196] Zeit. Jedenfalls würden sie sich mehr beeilt haben, wenn sie die Thätigkeit gesehen hätten, die sich heute Morgen im Criminalamt entwickelte.
Noch gestern Abend hatte man bei dem in Haft genommenen Menschen, der durch des jungen Actuars Umsicht aufgespürt worden, Haussuchung gehalten und in einem Winkel seiner Schlafkammer, unter einem Haufen alter Zeitungen und Papiere, ein kleines, fest zusammengebundenes Packet neuer preußischer Fünfundzwanzigthaler-Scheine gefunden, die augenblicklich durch einen reitenden Boten nach Hellenhof hinübergeschickt wurden. Die Banknoten waren aber so täuschend nachgeahmt, daß sie der Untersuchungsrichter nicht für gefälscht, sondern für gestohlen hielt und die Sache bis zur Geschäftsstunde ruhen ließ, weil um neun Uhr schon ein Verhör für den Inhaftirten angesetzt worden. Da Actuar von der Haide den Menschen, einen Wollhändler aus dem Nassauischen, zu verhören hatte, so ließ ihn sein Vorgesetzter ersuchen, um acht Uhr zu ihm zu kommen, um ihm das jedenfalls gestohlene Gut einzuhändigen.
Der junge Mann erschien und nahm die Banknoten in Empfang; jedoch seinerseits mit dem Verdacht, daß sie es weit eher mit einem Fälscher als [S. 197] einem gemeinen Dieb zu thun hätten, ging er, noch vor dem Verhör, mit einer der Noten zu einem ihm befreundeten Kupferstecher, um dessen Meinung darüber zu hören.
Dieser erklärte beim ersten Anblick die Banknote ebenfalls für ächt, holte aber doch eine alte Fünfundzwanzigthaler-Note, die er gerade besaß, hervor und verglich beide mit der Loupe, wonach er bald auf kleine, sonst fast nicht zu bemerkende Mängel aufmerksam wurde. Nach wenigen Minuten schon erklärte er, daß hier ein allerdings meisterhaft gearbeitetes Falsificat vorliege: die Note sei falsch.
Das Verhör sollte nicht lange dauern. Der Wollhändler, der sich in solcher Art durch die bei ihm gefundenen Noten überführt sah, gab nach kurzen Kreuzfragen die Wahrheit der Anklage zu und suchte jetzt nur alle Schuld von sich selber abzuwälzen. Er habe die Noten von einem Freund bekommen, um sie auszugeben, sagte er.
Und wie hieß der Freund, von dem er sie bekommen?
Der Mann zögerte mit der Antwort: er suchte Ausflüchte und nannte zuerst ein paar fremde Namen, aber es half ihm nichts. Er hatte sich schon zu weit verfahren, um noch zurück zu können, und gab endlich [S. 198] eine Person an, bei der das Herz des Untersuchenden stockte — Paul Jochus in Wellheim!
„Paul Jochus?“ rief der junge Actuar entsetzt aus.
„Der Wirth vom Burgverließ,“ bestätigte leise der Gefangene, und der Protokollant eilte, die wichtige Thatsache zu Papier zu bringen.
Einen Augenblick herrschte Todtenstille in dem weiten Verhörzimmer, und nur das Kritzeln der Feder zischelte, wie das Flüstern böser Geister in der Luft. Jetzt hatte der Protokollführer die Aussage niedergeschrieben und sah den Actuar an. Warum zögerte dieser, mit seinen Fragen fortzufahren? Warum schmiedete er das Eisen nicht, so lange es heiß war? Der junge Mann konnte nicht — die Zunge klebte ihm fast am Gaumen, und in wirren, wirbelnden Bildern jagten ihm die Ereignisse des vergangenen Tages an der Seele vorbei.
Deshalb hatte Rosel seine Hand ausgeschlagen, seine Werbung zurückgewiesen! Das war das entsetzliche Geheimniß, das sich zwischen sie gelegt, und seit jener Nacht — ja — seit jener Nacht erst, in der sie auf der Ruine gewesen, und dort — dort mußte sie es erfahren haben!
Endlich ermannte sich der Actuar wieder — er [S. 199] fühlte nur das Eine, daß er seine Pflicht thun müsse, was auch immer die Folgen davon sein mochten; er konnte und wollte sich derselben nicht entziehen. Und Rosel? — sie mochte um das Verbrechen gewußt haben, aber nie hatte sie Theil daran genommen, das fühlte er in jeder Faser seines Herzens; wie unglücklich sie dadurch geworden, davon war er ja selber Zeuge gewesen. Aber andere Gedanken jagten zugleich durch sein Hirn. Wer waren die Helfershelfer, die der Wirth gehabt haben mußte, denn der alte Jochus hatte dies Papier nie selber fabricirt — wer konnten sie anders sein als sein Sohn, der hier in Hellenhof ansässige Graveur und jener eingewanderte Künstler — der Mensch, der es gewagt hatte, sein Auge zu Rosel zu erheben? Er war von seinem Stuhl aufgestanden und ein paar Mal im Zimmer auf- und abgegangen, dann klingelte er. Einer der Gerichtsdiener kam herein und er flüsterte ihm leise einige Worte zu, worauf der Mann das Zimmer wieder verließ. Jetzt erst setzte der Actuar das Verhör wieder fort, das aber nicht mehr viel Wichtiges ergab, denn der Gefangene schien es für gerathener zu halten, sich so wenig als möglich an der Schuld betheiligt darzustellen, und wollte von keinen weiteren Noten wissen, die er je empfangen und verbreitet habe. [S. 200] Auch ob Paul Jochus, der Wirth, mit irgend wem in Verbindung stehe, wollte er nicht wissen. Er war in Wellheim gewesen, und der Wirth hatte ihm hier das Anerbieten gemacht. Wo der die Noten her habe, könne er nicht sagen. Er wollte oder konnte nichts weiter gestehen und mußte in seine Zelle zurückgeführt werden.
Es war zehn Uhr geworden, als der ausgesandte Bote zurückkehrte und dem Herrn Actuar meldete, die beiden Graveure Franz Jochus und Wilhelm Brendel seien nicht in ihrer Behausung, wohl aber wollte ein Weinbauer vor kaum einer halben Stunde gesehen haben, wie sie draußen von dem Weg nach Wellheim abgebogen und der Wildenfels-Ruine zugeschritten wären.
Jetzt durfte er seinen Verdacht nicht länger zurückhalten und ließ sich bei seinem Vorgesetzten melden, dem er die einzelnen Thatsachen mittheilte, ja selbst seine Neigung zu der Tochter des Paul Jochus nicht verschwieg und seine Befürchtung aussprach, daß jener nächtliche Besuch der Ruine ihr irgend etwas verrathen haben müsse, das sie unglücklich und elend gemacht, denn sie sei von der Zeit an wie umgewandelt gewesen.
Der alte Criminalrichter hörte ihm aufmerksam zu und nickte nur manchmal leise mit dem Kopfe.
„Und was gedenken Sie jetzt zu thun?“ frug er, als der junge Mann schwieg.
„Ich wollte Sie bitten, einen Anderen mit der augenblicklichen Untersuchung der Ruine zu beauftragen; in wenigen Stunden könnte es zu spät sein.“
„Aber es ist nicht möglich, daß die Herren schon irgend welchen Verdacht geschöpft haben; sie können nicht einmal wissen, daß ihr Bundesgenosse eingebracht ist.“
Der Actuar zögerte mit der Antwort, denn er mußte sich selber dadurch anklagen; er dachte dessen, was er gestern Abend mit Rosel gesprochen. Erst nachträglich war ihm aufgefallen, welchen Antheil sie gerade in dem Augenblick an einer Sache genommen, die ihr doch eigentlich so fern liegen mußte. Wer hätte es der Tochter verdenken wollen, wenn sie den Vater gewarnt; und wenn er jetzt dem Vorgesetzten seine Befürchtung verheimlichte, machte er sich dann nicht zum Mitschuldigen an dem Verbrechen?
Es war ein augenblicklicher Kampf zwischen Liebe und Pflicht, aber die Pflicht siegte, noch dazu, da er nur dadurch hoffen durfte, das ihm theure Mädchen von all’ jenen entsetzlichen Verbindungen zu befreien und dennoch für sich zu gewinnen.
Er erzählte dem Untersuchungsrichter sein gestriges [S. 202] Gespräch mit dem armen Mädchen und verschwieg nichts. Kaum aber hatte er geendet, als der alte Herr sich von seinem Stuhle erhob und rief:
„Sie haben Recht, Herr Actuar, und hier meine Hand, ich verstehe, welche Ueberwindung Ihnen das Geständniß gekostet haben mag, und verspreche Ihnen auch, daß Sie mit der Sache nichts weiter zu thun haben sollen. Ueberlassen Sie das Andere mir und senden Sie mir nur augenblicklich den Herrn Assessor Schüler herüber. Mit dem werde ich das Weitere besprechen.“
Jetzt entwickelte sich in dem alten Gebäude eine ganz merkwürdige Thätigkeit und es dauerte keine Viertelstunde, so wurden Leute nach allen Seiten ausgeschickt.
Drei berittene Gensd’armen trabten, so rasch ihre Pferde sie bringen konnten, den Weg nach Wellheim; ihnen folgten etwas langsamer drei andere in Begleitung einer kleinen Abtheilung Militär und mehrerer Polizeidiener. Assessor Schüler selber mit einem jungen Prakticanten fuhr in einem Einspänner den nämlichen Weg.
Zu gleicher Zeit wurde Polizei nach dem Hause der beiden Graveure Jochus und Brendel gesandt, sie trafen aber noch Niemanden daheim und postirten sich [S. 203] dann, ohne Lärm zu machen, in der Nachbarschaft. Die Gensd’armen waren direct vor das Wirthshaus zum Burgverließ geritten. Rosel stand gerade in der Thür, als sie hielten, und jeder Blutstropfen mußte ihr Antlitz verlassen haben, denn sie sah blaß aus wie eine Leiche. Aber jede Schwäche war auch von ihr gewichen, denn seit heute Morgen wußte sie, was kommen mußte. Daß es etwas früher kam, als sie erwartet haben mochte, konnte sie nicht überraschen. Sie beantwortete die Fragen nach ihrem Vater ruhig und gefaßt: er habe heute Morgen das Haus verlassen und sei noch nicht zurückgekehrt; wo er sich aufhalte könne sie nicht sagen, vielleicht drüben in Hellenhof, bei ihrem Bruder.
„Thun Sie Ihre Pflicht,“ sagte sie seufzend zu den Gensd’armen, die ihr das Bedauern aussprachen, das Haus besetzen zu müssen, „ich kann’s nicht hindern, und wenn ich’s könnte,“ setzte sie leise und scheu hinzu, „weiß ich nicht einmal, ob ich’s thäte.“
Damit ging sie in ihr Zimmer hinauf, setzte sich an’s Fenster und starrte still und schweigend, doch mit thränenlosen Augen, nach der alten Ruine hinauf, deren halbverfallenen Thurm sie von dort aus deutlich durch die Wipfel der Büsche und Obstbäume unterscheiden konnte.
Indessen verfolgten die drei Verbrecher ihre verschiedenen Bahnen, die sie an den Schauplatz ihrer Thätigkeit — und zwar zum letzten Male — zusammenführen sollten. Anfangs hatten sie sich völlig Zeit genommen und Brendel selber war in einem mäßigen Schritt, doch düster brütend vorwärts gewandert. Aber je länger er sich seinen alten Erinnerungen überließ, desto mehr trieb ihn die Angst vor Entdeckung weiter und zuletzt eilte er in einer solchen Hast vorwärts, daß ihm Franz kaum zu folgen vermochte.
„Zum Teufel,“ rief dieser endlich ärgerlich, „was hetzest Du denn nur so furchtbar heute Morgen? So eilig ist die Geschichte nicht, daß wir uns unnöthiger Weise den Athem aus der Seele laufen sollten.“
„Wir sind Thoren gewesen,“ knirschte Brendel zwischen den Zähnen durch, „daß wir uns so lange Zeit genommen haben, und mir hat geahnt, wie es noch Alles kommen würde.“
„Aber was ist denn eigentlich gekommen?“ rief Franz ärgerlich. „Sie haben irgend Jemanden dabei ertappt, falsche Banknoten auszugeben, das ist Alles, und was wollen sie machen, wenn er nicht gesteht? Indeß wirklich den schlimmsten Fall angenommen, [S. 205] daß er gestände, was er weiß, so verräth er doch unser Versteck nicht, das Niemand weiter kennt, als wir selber. Wie ich’s mir unterwegs überlegt habe, glaub’ ich, es wäre am Ende gar das Beste, wir ließen Alles dort oben ruhig, wie es steht, denn kein Mensch denkt an die alte Ruine, um dort Nachsuchung zu halten.“
„Und Deine Schwester kennt unser Geheimniß wohl nicht?“
„Du glaubst doch bei Gott nicht, daß die uns verrathen würde?“
„Ich will wünschen, daß wir uns nicht vom Gegentheil überzeugen,“ brummte Brendel, „aber so viel weiß ich gewiß, nicht eine Viertelstunde vertrau’ ich länger einer Weiberzunge. Macht Ihr, was Ihr wollt, mir kann’s recht sein; schon heut’ Abend jedoch bin ich auf dem Weg zur französischen Grenze.“
Franz hatte, wenn auch im ersten Augenblick durch die Nachricht überrascht, noch nicht so recht an eine wirkliche Entdeckung ihres verbrecherischen Treibens geglaubt, da sie ihm so lange und ungestraft gefolgt waren; durch Brendel’s Angst wurde er jetzt selber mit angstvoll. Die Möglichkeit eines Verraths ließ sich allerdings nicht leugnen, und doppelt schwer würde sie derselbe in einem Augenblicke betroffen haben, wo sie wirklich am Ziel ihrer Wünsche standen und ein be [S. 206] deutendes Capital meisterhaft gefertigter Noten in ihrem Besitz wußten. Jedenfalls war es deshalb vorsichtig gehandelt, diese wenigstens in Sicherheit zu bringen, vielleicht auch gerathen, sich selber eine kurze Zeit aus dem Weg zu halten, bis man erst gewiß wußte, daß der Sturm vorüber gebraust sei. Mit diesen Gedanken beschäftigt, erstieg er schweigend mit dem Gefährten den rauhen, buschbewachsenen Hügel, bis sie den Pfad erreichten, der hinaufführte.
Paul Jochus war noch nicht da, lange ließ er indeß nicht auf sich warten. Kaum hatten sie das Gewölbe betreten, als sie seinen Schritt und gleich darauf sein Zeichen hörten.
„Aber Vater, wo hast Du nur gesteckt?“ rief ihm Franz entgegen, „wir hatten fast noch einmal so weit als Du.“
„Dann müßt Ihr gelaufen sein,“ sagte der Alte mürrisch, „ich hielt mich noch unterwegs auf. Wie ich kaum die Büsche erreicht hatte und ein Stück hinangeklettert war, bis zu der Stelle, wo früher die hölzerne Bank stand und von wo aus man einen Theil der Chaussee übersehen kann, kamen plötzlich drei Gensd’armen im scharfen Trab die Straße gen Wellheim hinunter geritten.“
„Nun — und?“
„Und?“ brummte Jochus, „ich möchte wissen, weshalb die in so verdammter Eile waren und wohin sie wollten.“
„Hast Du’s denn nicht gesehen?“
„Wie konnt’ ich? Weiter ein Stück drunten verdecken die Büsche wieder die Aussicht. So weit ich sie sehen konnte, hielten sie die Straße.“
„Bah,“ sagte Franz verächtlich, „wer weiß, welchem armen Handwerksburschen ohne Wanderbuch sie auf der Fährte sind. Uns geniren sie hier nicht.“
„Etwas ist aber im Wind,“ sagte Brendel finster, „und es war vielleicht die höchste Zeit, daß wir an die Arbeit gingen. Was fangen wir aber mit der Presse an? Verstecken wir sie, wie wir’s früher bestimmt?“
„Gewiß,“ sagte Franz, „das Loch dazu ist ja schon lange gegraben und in einer halben Stunde haben wir Alles aus dem Weg.“
„Und der Kasten?“
„Muß mit hinein. Wir dürfen keine Spur zurücklassen. Theile nur indessen die Noten ab, Brendel, damit Jeder seinen Part bei sich verstecken kann. Du, Vater, hilf ihm und ich werde indessen das Grabgeschäft besorgen. Schade um die schöne Presse, sie muß hier total verrosten, doch es läßt sich eben nicht ändern. Fort dürfen wir sie unter keiner Bedingung schaffen, [S. 208] jetzt wenigstens noch nicht. Vielleicht findet sich im Winter und in den langen Nächten einmal Zeit und Gelegenheit dazu.“
Die drei Leute gingen nun rüstig an die Arbeit, denn es galt nur noch die letzten Spuren zu vertilgen, durch welche sie eine Entdeckung fürchten durften, und dann ihren Raub in Sicherheit zu bringen, ehe irgend ein Verdacht auf sie fallen konnte. Die Presse wurde in eine schon bereit gehaltene breite Grube langsam und vorsichtig hineingelassen, und während sich Brendel mit dem alten Jochus daran machte, die schon in Pakete gesonderten Noten in drei Theile zu scheiden und seinen Theil, so gut das eben ging, an seinem Körper zu verbergen, nahm Franz das kurze, schwere Beil und schlug die Beine von dem eichenen Tisch ab, der ihnen bis jetzt als Arbeitstafel gedient und dessen Heraufschaffen ihnen früher die größte Mühe gemacht. Es ging das nicht ohne Lärm ab und Brendel fühlte sich zuletzt durch das Hämmern so beunruhigt, daß er ärgerlich ausrief:
„Zum Teufel auch, ich wollte, Du hättest das alte Ding hier unten ruhig stehen und verfaulen lassen. Und wenn sie ihn einmal fänden, was läge daran?“
„Wenn sie den Tisch fänden, wüßten sie auch, daß noch mehr hier unten versteckt ist,“ sagte Franz [S. 209] störrisch, „aber seid Ihr denn noch nicht mit dem Abzählen fertig?“
„Gewiß, Deine Noten stecken hier in der Ledertasche.“
„Gut, dann geh’ Du indessen lieber einmal hinauf, Vater, und halte eine Viertelstunde Wacht; indessen machen wir die Geschichte hier fertig und in Ordnung. Laß Dein Packet nur so lange hier unten, es wäre ja doch möglich, daß ein oder der andere Fremde bei dem schönen Wetter hier heraufkletterte, und sicher ist sicher.“
„’s ist am Ende besser,“ sagte der Alte, „aber halte Dich dazu; wir haben schon eine Menge Zeit verloren und ich muß machen, daß ich wieder nach Wellheim komme.“
Noch während er sprach, verbarg er einen Theil der Packete, von denen jedes eintausend Thaler enthielt, an seinem Körper, legte dann die anderen unten in eine Ecke, um sie nachher mitzunehmen, und stieg langsam den steilen, schlüpfrigen Pfad hinauf, der in den Burghof hineinführte.
Einmal hielt er erschreckt inne, denn es war ihm fast als ob er oben ein Geräusch gehört hätte, regungslos stand er und horchte, doch es schien Alles ruhig. Nur hohl und dumpf klangen die Schläge des Beils von [S. 210] unten herauf, mit denen Franz jetzt die Stühle zertrümmerte, um sie ebenfalls in die Grube zu werfen, welche Brendel schon angefangen hatte, an der einen Seite auszufüllen. Dicht daneben hatte er noch ein kleines, aber ziemlich tiefes Loch gegraben und in dieses den Rest der noch nicht vollendeten Banknoten mit dem Spaten hineingestampft; dort unten mochten sie verfaulen, denn wenn sie jetzt ein Feuer anzündeten, so konnte sie vielleicht der aufsteigende Rauch verrathen.
Paul Jochus hatte indessen die steilen Treppenüberreste erreicht, die hinauf in’s Freie führten. Es war ihm wunderbar bänglich zu Muthe und er scheute sich an das Tageslicht hinaufzusteigen. Warum denn? Oft und oft hatte er den Weg gemacht und kannte doch wahrhaftig keine Furcht; es war nur ein sonderbares Gefühl, das ihn beschlich, und immer wieder horchte er auf’s Neue. Aber da unten wurde es ihm zuletzt, als ob er gar keinen Athem mehr holen könne; wie Blei lag es ihm auf der Brust, und er kletterte jetzt rasch die Treppe hinauf, um nur erst einmal an die frische Luft zu kommen.
In das kleine Gewölbe, das Paul Jochus jetzt betrat und das dicht an den Burghof stieß, fiel allerdings die Sonne noch nicht herein, denn die einzige [S. 211] dort eingebrochene Thür lag nach der Nordseite, es war jedoch hell genug darin, um sich umsehen zu können, und er athmete hoch auf, als er keinen Menschen hier erblickte; war es doch fast als ob er erwartet hätte, hier Jemanden zu finden. Plötzlich aber stieß er einen lauten Angstschrei aus, denn in dem Moment sprangen zwei dunkelgekleidete Gestalten durch die schmale Thür und warfen sich auf ihn. Jeder Flucht- und Widerstandsversuch war unmöglich, weil den Zweien noch Andere folgten. Soldaten sah er ebenfalls mit ihren blitzenden Helmen und Gewehren. Im Nu hatten sie seine Arme gefaßt und ihn an weiterer Flucht verhindert.
„Was wollt Ihr?“ schrie er absichtlich laut, „was habt Ihr vor? Seid Ihr Räuber und Mörder?“
Das Klopfen hatte unten aufgehört, aber immer mehr Menschen drängten in den engen Raum.
„Laternen her!“ rief der Assessor Schüler, der das Ganze leitete, „hier ist der Eingang zu dem Versteck. Klettere einmal einer mit einer Laterne voran. Ihr Uebrigen breitet Euch oben aus; ich brauche nur vier Mann mit mir, wir wissen nicht, ob der Bau nicht noch eine Nothröhre hat, durch welche die Schufte vielleicht ausfahren könnten. Vorwärts! Ihr kennt Eure Ordre.“
Paul Jochus war ein baumstarker Mann, und in gewöhnlicher Zeit würden vielleicht vier Leute kaum hinreichend gewesen sein, ihn zu überwältigen und zu halten: jetzt konnte ihn fast ein Kind niederwerfen. Er war wie gebrochen, und ließ Alles mit sich geschehen, sträubte sich auch nicht im Geringsten, als man ihm die Hände auf dem Rücken zusammenschnürte und so jeden Fluchtversuch abschnitt.
Da fielen draußen am Hügelhang rasch hintereinander zwei Schüsse, dann war Alles still und nicht einmal die in das Gewölbe Gestiegenen kehrten zurück.
Assessor Schüler kannte das alte Nest, in dem er sich schon als Knabe herumgetummelt, ziemlich genau. Er wußte auch, daß es unterwölbt sei, und war schon als Kind, wo man den Platz noch häufiger besuchte, überall darin umhergekrochen. Lagen auch lange Jahre dazwischen, so erinnerte er sich doch des Terrains noch deutlich genug und traf darnach seine Vorsichtsmaßregeln. Es schien ihm nämlich nicht unwahrscheinlich, daß die Verbrecher, wenn sie sich wirklich dort oben sollten eingenistet haben, auch schlau genug gewesen wären, irgend einen ihnen durch die verschiedenen Gänge gebotenen Vortheil zu benutzen; wohin diese auszweigten, wußte er freilich nicht.
Er begnügte sich indeß auch nicht damit, bloß die Burg selber geräuschlos zu ersteigen und zu besetzen, sondern er ließ den ganzen oberen Hügel, auf welchem sie stand, richtig bestellen, wie bei einer Treibjagd, so daß Soldaten mit scharf geladenen Gewehren immer etwa vierzig Schritt von einander an kleine Lichtungen oder Pfade postirt und einander noch in Sicht waren. Erst als er sich in dieser Hinsicht so viel wie möglich gesichert wußte, folgte er selber den vorangeschickten Polizeidienern und erhielt von diesen schon an der steinernen Treppe die Meldung, daß man einen kellerartigen Eingang, der nach unten führe, entdeckt habe und dort unten ein dumpfes Klopfen hören könne.
Nachdem man sich nun rasch überzeugt hatte, daß dies wirklich der einzige sichtbare Weg sei, der oben von der Burg aus in das Innere führe, wurde derselbe besetzt und der Assessor machte sich gerade selber bereit hinabzusteigen, als sie den Wirth langsam herauskommen hörten. Seine Gefangennahme erfolgte dann, wie vorher beschrieben, und Assessor Schüler säumte nun keinen Augenblick, um das Nest da unten selbst auszustöbern.
Das hämmernde Geräusch hatte gleich nach dem ersten Angstschrei des Gefangenen aufgehört. Todten [S. 214] stille herrschte und die matt brennenden Laternen warfen ein unheimliches Licht auf den schmalen, düsteren Gang; aber unaufhaltsam und so rasch es der schlüpfrige Boden erlaubte, drangen sie vor, als sie sich plötzlich an einem Loch sahen, in das weder Leiter noch Treppe hinabführte und dessen Tiefe sie auch in der Dunkelheit nicht erkennen konnten. Die Leute wußten sich aber zu helfen, denn daß sie auf dem richtigen Pfade seien, bewiesen die dem weichen Boden hier eingedrückten vielen Fußspuren. Einer der Polizeidiener knüpfte rasch ein mitgenommenes Seil an die Laterne und ließ sie in das Loch hinab, wonach sich dann bald herausstellte, daß es kaum zehn Fuß tief sei und unten weichen Boden habe. Wahrscheinlich hatte hier eine Leiter gelehnt, die bei dem ersten Alarm von den unten Befindlichen weggezogen worden, um den Verfolgern den Weg abzuschneiden.
Da hörten sie draußen die Schüsse.
„Ob ich’s mir nicht gedacht habe,“ brummte der Assessor. „Vorwärts, Leute, wir müssen hinunter. Wer springt dort zuerst hinab?“
Einer der jüngsten Polizeidiener ließ sich nicht lange bitten, denn auch sein Geschäft war Jagd, und was thut ein Jäger nicht, um dem verfolgten Wilde [S. 215] beizukommen? Er hob sich die Laterne ein wenig aus dem Weg und war mit Einem Satz unten.
„Geh’ ein kleines Stück vor, ob Du keine Leiter findest.“
„Hier liegt sie schon!“ rief der Mann, der mit der aufgenommenen Laterne nach vorn geleuchtet hatte.
„Her damit! Bravo, mein Bursch, das war gut gemacht, und nun hinunter mit Euch, Ihr Leute!“
Rasch ging es immer nicht, denn es war nachtdunkel dort unten, aber sie schienen hier auch den tiefsten Platz des Gewölbes erreicht zu haben. Ein schmaler Gang bog links ab und wenige Schritte weiter fanden sie sich in dem Gewölbe, das Paul Jochus vor noch nicht langer Zeit verlassen hatte und wo seine beiden Helfershelfer zurückgeblieben waren. Von diesen ließ sich jedoch nirgend mehr eine Spur erkennen.
Die halb zugeworfene Grube fanden sie, mit dem Werkzeug noch daneben, doch kein menschliches Wesen, und erst als Assessor Schüler selber die Laterne nahm und an den Wänden rings herumleuchtete, entdeckte er eine kleine Oeffnung, durch welche eben gebückt ein Mann kriechen konnte. Dort waren sie jedenfalls hinaus; ohne weiteres Zögern folgte er nach.
Die rings um den Hügel postirten Soldaten hatten indessen ihre Plätze mit dem Gefühl eines Jägers behauptet, der mitten im Wald angestellt ist, ohne zu wissen, von welcher Seite das Treiben kommt. Sie drehten das Gewehr in Anschlag, den Kopf bald nach der, bald nach jener Seite und fuhren fast erschreckt zusammen, wenn ein Eichhörnchen von Zweig zu Zweig sprang oder eine Maus im Laub raschelte, ja begriffen zuletzt nicht recht, was sie hier draußen eigentlich sollten: denn befanden sich die Verbrecher wirklich in der Ruine und wußten sie einen geheimen Weg zur Flucht, so würden sie doch nie in dieses Dickicht hineingekrochen sein. Allerdings kam es ihnen so vor, als ob sie irgendwo ein dumpfes Klopfen hörten, aber woher das tönte, ließ sich nicht bestimmen, und es konnte ebensogut von irgend einem Holzfäller herrühren, der weit im Walde drin an einem Baum hackte. Bald schwieg auch das und Todtenstille lag im Wald.
Der eine Soldat, ein Jägerbursch aus dem Spessart, stand etwa zehn Schritt über einer schmalen Felsplatte, wo er eine kleine, mit Heidelbeerbüschen überwachsene Lichtung unter sich hatte. Da, horch! was war das? Ein Fuchs, der vielleicht hier seinen Bau hatte und den schönen Morgen zu einem Spaziergange benutzen wollte? Unbewußt fast machte er [S. 217] sich schußfertig. Da wurde Moos bei Seite geworfen, das konnte ja doch kein Fuchs sein. Das Herz schlug wie ein Schmiedehammer in der Brust. Jetzt arbeitete sich eine dunkle Gestalt unter dem Felsen vor — das war ein Mensch und mit zwei Sätzen stand der Jäger unten auf der Platte.
„Halt oder ich schieße!“ schrie er und suchte sich festzustellen, allein der Flüchtige hielt nicht. Im Nu hatte er den freien Boden erreicht und wie ein flüchtiger Hirsch setzte er mitten in das Dickicht hinein. Er war aber an den richtigen Mann gekommen, denn der gelernte Jäger brauchte nicht lange, um wieder einen festen Stand zu bekommen, und ehe der Fliehende das schützende Dickicht erreichen konnte, fiel sein Schuß, bei dem der Getroffene in den Busch hineinschlug. Fast zugleich feuerte auch der ihm nächststehende Soldat, durch den Ruf aufmerksam, nach der Gestalt, die er ebenfalls durch die Büsche erkennen konnte, und von allen Seiten flogen die dort postirten Soldaten jetzt herbei, um Theil an der Verfolgung zu nehmen. Sie hatten aber leichte Arbeit, denn während zwei hinuntersprangen, um den Verwundeten aufzunehmen, bewegte sich das überhängende Moos und Gestrüpp noch einmal und ein bleiches, zitterndes [S. 218] Menschenbild kam daraus vorgekrochen, das nicht mehr den geringsten Widerstand leistete.
Es war Franz. Hinter sich die Verfolger, der Vater gefangen, der Freund erschossen, der Platz von Soldaten umstellt, auf den sie ihre letzte Hoffnung gesetzt, was hätte da noch ein verzweifelter Fluchtversuch genützt? Er war verloren und ergab sich, vollständig gebrochen, in sein Schicksal.
Der Verlauf des Processes nahm das allgemeine Interesse des Publikums in Anspruch, die Beweise waren jedoch zu klar, als daß auch nur einer der Gefangenen hätte wagen dürfen, zu leugnen. Nicht allein der ganze Vorrath gefälschter Noten war aufgefunden worden, sondern auch die Presse, die zu der Arbeit gedient. Das Urtheil für Paul Jochus und seinen Sohn lautete auf acht Jahre Zuchthaus.
Anders war es mit Brendel, der einen Kugelschuß in den Schenkel bekommen hatte und wochenlang lag, ehe er transportirt werden konnte. Man erkannte in ihm während der Untersuchung einen schweren, lang verfolgten Verbrecher, der einst in der unmittelbaren Nähe von Berlin einen frechen Raubmord verübt, und auf Requisition des dortigen Gerichts wurde er dahin abgeliefert.
Einer der Inhaftirten aber entzog sich der Strafe. Am fünften Tag der Untersuchung fand man Paul Jochus in seinem Gefängniß erhängt. Er hatte sich mit seinem Taschentuch an dem eisernen Gitter seines etwas hochgelegenen Fensters erdrosselt.
Das Weinhaus zum Burgverließ war mittlerweile von den Gerichten in Beschlag genommen worden und Rosel zu ihrem Pathen, dem alten Registrator gezogen.
Dorthin kam Bruno von der Haide, um sie aufzusuchen. Das Verbrechen des Vaters hatte die Liebe zu dem Mädchen nicht ertödten können, ja sie wuchs mit dem Unglück, das sie betroffen, aber er sah sie nicht wieder. Zweimal war er dort und zweimal ließ sie ihm sagen, daß sie ihn nicht sprechen könne. Als er zum dritten Mal kam, fand er einen Brief von ihr vor, in dem sie mit herzlichen Worten den letzten Abschied von ihm nahm.
Sie hatte sich in die Gesellschaft der Barmherzigen Schwestern aufnehmen lassen und war nach Lima in Peru gegangen.
Es giebt nichts Entsetzlicheres auf der Welt, als Morgens früh eine Wirthsstube zu betreten, in der am Abend vorher, vielleicht bis ein oder zwei Uhr in der Nacht, getrunken und geraucht worden, und wo der Raum noch nicht gelüftet und gereinigt ist.
Ein warmer, widerlicher Dunst liegt in dem Zimmer und versetzt besonders Dem ordentlich den Athem, der es eben aus der frischen Morgenluft betritt. Auf den begossenen klebrigen Tischen stehen schmutzige Gläser und geleerte Flaschen, auf der Erde zerstreut liegen angebrannte Fidibus und Cigarrenstummel, während die unordentlich umhergeschobenen Stühle überall den Weg verstellen und ein solches Gemach, wenn es dafür überhaupt einen Comparativ gäbe, noch ungemüthlicher machen. Kommt dann gar noch ein fauler Hausknecht dazu, der sich nicht einmal die Mühe nimmt, die Fenster zu öffnen, und mit [S. 221] seinem Besen den Staub und Sand umherwirbelt, dann ist ein solcher Ort gerade zum Verzweifeln, und wenn den Reisenden nicht das Wetter dazu zwingt, hält er sicher nicht darin aus.
Genau so sah es heute in dem sonst ziemlich eleganten Gastzimmer des „Hotel Müller“ in B. aus, als ein Fremder die Thür öffnete und, von den auf ihn eindrängenden und mit einer Staubwolke vermischten Dünsten eben nicht angenehm überrascht, auf der Schwelle stehen blieb.
„He, guter Freund“, sagte er zu dem nicht einmal nach ihm umschauenden Hausknecht, „wäre es Ihnen nicht vielleicht einerlei, wenn Sie bei Ihrer Beschäftigung ein paar Fenster öffneten. Ich dächte, frische Luft könnte diese Atmosphäre nur verbessern; glauben Sie nicht?“
Der Bursche, dem die Anrede galt, schlief augenscheinlich noch, er verrichtete wenigstens seine Arbeit mit halbgeschlossenen Augen und schien auch gar nicht zu hören, daß Jemand mit ihm gesprochen, nahm wenigstens nicht die geringste Notiz davon und kratzte ruhig weiter.
„Angenehm“, brummte der Fremde vor sich hin, that aber das, was ihm allein helfen konnte: er öffnete die Fenster nämlich selber und klingelte dann mit einer [S. 222] der auf den Tischen befindlichen Glocken, um irgend eine brauchbare Bedienung herein zu rufen. Zugleich band er sich einen Shawl, den er locker um den Hals trug, fester um die Kehle, denn es zog jetzt bös im Zimmer.
Das Läuten schien indessen keinen wesentlichen Erfolg zu haben. Der Hausknecht kümmerte sich gar nicht darum, und weiter ließ sich Niemand blicken. Erst als er den Versuch einigemal wiederholt hatte, steckte ein sehr niedliches Stubenmädchen den Kopf in die Thür und sagte:
„Na, ist denn Niemand hier, wo steckt denn der faule Kellner nun einmal wieder? He, Hans — habt Ihr ihn nicht gesehen?“
Die Frage galt augenscheinlich dem Hausknecht, auf den sie aber ebenso geringen Eindruck machte, wie das Klingeln vorher. Entweder hatte er sie nicht gehört, oder wollte er sie nicht hören, aber er kehrte ruhig weiter.
„Bitte, wecken Sie den Mann nicht“, sagte der Fremde ruhig, „er scheint im ersten Schlaf zu liegen. Wenn Sie nur so freundlich wären, mein Schatz, mir einen von diesen Tischen abzuwischen und dann eine Tasse Kaffee und ein Glas Cognac für mich zu be [S. 223] stellen, nachher brauchen wir jenen Biedermann nicht zu belästigen.“
„Ei du lieber Gott“, sagte das junge Mädchen, „es sieht ja aber noch gar zu erschrecklich hier aus. Ja freilich, wenn man Nachts bis halb drei Uhr auf den Füßen sein muß, dann verschläft man sich wohl auch einmal. — Sie sollen’s gleich haben.“
Dabei hatte sie ein feuchtes Wischtuch genommen, den einen Ecktisch abgeräumt und rein gewischt, einem Stuhl denselben Liebesdienst erwiesen, und diesen jetzt dem frühen Gast hinrückend, fuhr sie fort:
„Da, nehmen Sie Platz — und wie das hier zieht — aber Sie sollen gleich Ihren Kaffee haben, und dann wird auch der Platz hier rasch aufgeräumt. Wo nur der Mosje Louis steckt.“ Und mit den Worten verließ sie das Zimmer, um das Verlangte selber herbeizuholen.
Der Fremde schien gar nicht mehr zu hören, was sie ihm sagte, sondern nur mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt zu sein. Er hatte den Reisesack, den er trug, neben sich auf einen Stuhl gestellt, setzte sich an den Tisch, stemmte den Kopf in die Hand und sah still und düster vor sich nieder, veränderte auch seine Stellung nicht, bis das Mädchen mit Kaffee und Cognac zurückkam, Beides vor ihn hinsetzte und dann [S. 224] geschäftig daran ging, das Zimmer in Ordnung zu bringen. Der Hausknecht hatte indessen seine Arbeit ebenfalls beendet, und wollte gerade die Thür wieder schließen, als sein Blick auf den Fremden fiel. Er drehte wieder um, kam herein, ging auf diesen zu und sagte, während er sich mit dem linken Daumen am Hals kratzte und mit der rechten Hand auf die Füße des Reisenden zeigte, nur das eine Wort:
„Stiefel putzen?“
Dieser sah überrascht zu ihm auf.
„Ah, guten Morgen, Kamerad. Ausgeschlafen?“ lachte er.
„Auf der einen Seite“, brummte der Mann mit der rothen Schürze. „Stiefel putzen?“
„Hm“, meinte der Fremde, indem er einen Blick auf seine Fußbekleidung warf, der eine Bürste eben keinen Schaden gethan haben würde, „jetzt nicht, später. Kann man hier logiren?“
Das war eine Frage, die den Hausknecht nichts anging, und ohne sie deshalb einer Antwort zu würdigen, drehte er sich auf seinen Pantoffeln wieder um und schlappte aus dem Zimmer.
Der Fremde sah ihm nach und lachte still vor sich hin; andere Gedanken gingen ihm aber doch durch den Kopf, um sich lange mit dem faulen Bur [S. 225] schen zu beschäftigen. Er trank seinen Kaffee, stürzte den Cognac hinterher, nahm dann eine schon etwas stark gebrauchte Cigarrendose aus der Tasche und zündete sich mit einem Feuerzeug, das er ebenfalls bei sich führte, eine Cigarre an.
Das Stubenmädchen, ohne sich indeß dabei in ihrer Arbeit stören zu lassen, betrachtete sich den Fremden kopfschüttelnd, denn sie konnte nicht recht klug aus ihm werden.
Es war in der That eine etwas wunderliche Persönlichkeit, und wenn er auch anständig gekleidet ging, lag doch in seinem ganzen Wesen wieder etwas, das man hätte genial nennen können, das aber eigentlich an das Liederliche und Verkommene streifte. Er trug einen weiten leichten Paletot, wie ihn Künstler gewöhnlich tragen, einen breitrandigen, schwarzen, etwas zerdrückten Hut von feinem weichen Filz, gestreifte Beinkleider und lilla Glacéhandschuhe, aber seine Wäsche war nicht tadellos rein, und konnte nur vielleicht damit entschuldigt werden, daß er eben von der Reise kam. Trotzdem würde er entschieden anständiger ohne die unechte Tuchnadel ausgesehen haben.
Für den Mann ist jeder goldene Zierrath unpassend, aber entsetzlich, wenn er auch noch unecht ist, [S. 226] und kann eigentlich nur bei Weinreisenden entschuldigt werden.
Seinem Aussehen nach mochte der Fremde etwa in den Vierziger Jahren stehen; sein Alter ließ sich aber nicht genau erkennen, da der volle braune Bart und der breitrandige Hut das Gesicht ziemlich verdeckten. Im Bart selber zeigten sich aber schon kleine graue Flecke, die Schatten, die der sinkende Abend auf uns wirft, und nur seine Bewegungen waren noch lebendig und fast jugendfrisch.
Er hatte den Rauch in dichten Wolken ausgeblasen und ein paarmal auch den Kopf nach dem Mädchen umgedreht, als ob er sie anreden wollte, es aber immer wieder unterlassen. Da ging die Thür auf und „Mosje Louis“, der Kellner trat ein. Mosje Louis war in der That „jeder Zoll ein Kellner“.
Er erschien spät, aber er erschien seiner würdig, in vollem, nichts zu wünschen übrig lassendem Ornat, die schwarze Tuchjacke sauber abgebürstet, die großcarrirten Hosen nach dem neuesten Schnitt und sehr eng, die Wäsche untadelhaft, mit allem nur darauf anzubringenden Zubehör von Tuchnadel, Chemisett- und Hemdknöpfchen, Berloques, Kette und Ringen; und das Toupet. Es war in der That makellos und über beiden Ohren hoch und gelockt auflaufend, [S. 227] während gerade auf der Mitte des Kopfes eine wahre Chaussee von einem Scheitel schnurstracks hindurch bis hinten hinunter in die himmelblaue Halsbinde lief.
Schade, daß seine etwas stumpfe Nase nicht mit dem Ganzen harmonirte. Selbst dem geistreichsten Gesicht giebt außerdem ein in der Mitte gescheiteltes Haar stets einen „minder geistreichen Ausdruck“, um mich so artig wie möglich auszudrücken, und Mosje Louis besaß unglücklicher Weise nicht einmal ein geistreiches Gesicht. Er sah eigentlich schon, ohne künstliche Vorrichtung, von Natur etwas dumm aus. Aber jene glückliche Selbsttäuschung, die den Schwindsüchtigen mit frischer Lebenshoffnung erfüllt, half auch Mosje Louis über diese weit geringere Unbequemlichkeit des Lebens hinweg. Er selber hielt sich für schön, ja für unwiderstehlich, und sein kleiner Unterkellner, der leider jetzt im Bett lag und krank war, wollte sich über seine Witze immer vor Lachen ausschütten.
Mosje Louis erschien also, warf einen etwas erstaunten Blick auf den frühen Gast, einen schmachtenden auf das Stubenmädchen und sagte leise:
„Guten Morgen, Lieschen!“
„Guten Morgen, Herr Louis!“ erwiderte das junge Mädchen, ohne weiter Notiz von ihm zu nehmen. [S. 228] Sie war mit ihrer Arbeit gerade fertig geworden, überschaute das Zimmer noch einmal flüchtig und verschwand dann mit den Worten, bei denen sie auf den Fremden deutete: „halbe Kaffee und Glas Cognac!“ aus der Thür.
Herr Louis sah ihr freundlich zunickend nach, da er aber ihrem Blick nicht wieder begegnen konnte, nahm er sein sehr groß geblümtes rothseidenes Taschentuch aus der Jackentasche, schneuzte sich mit vielem Geräusch, trat dann, während sich der Fremde nach ihm umsah, auf diesen zu und sagte, indem er das Tuch wieder in die Tasche zwängte und sich die Hände lebhaft rieb:
„Guten Morgen!“
„Guten Morgen,“ sagte der Fremde kurz und musterte den Burschen von Kopf bis zu Füßen.
„Mit dem Frühzug gekommen?“
„Ja“.
„Sehr schöner Morgen.“
„Es hat gegossen, was vom Himmel herunter wollte.“
„So?“ sagte Herr Louis, über die Nachricht erstaunt, denn jetzt schien die Sonne, und er zog die Augenbrauen dabei so hoch hinauf und vorn zusammen, daß sie eine Verlängerung des Scheitels nach [S. 229] vorn herunter bis auf die Nasenwurzel herstellten. Er sah aber trotzdem nicht hübsch aus.
„Kann ich vielleicht — wenn es nöthig sein sollte, ein oder zwei Tage hier wohnen?“ brach der Fremde indessen die meteorologische Verhandlung ab.
„Es ist gerade noch ein Zimmer frei“, log Herr Louis, denn das halbe Haus stand leer; „erlauben Sie —“ und damit streckte er seine Hand nach dem Reisesack aus, um den Fremden vor allen Dingen einmal sicher zu haben.
„Bitte“, sagte aber dieser, indem er sein Eigenthum noch festhielt. „Vorher muß ich mich erst noch nach Einigem erkundigen, aber vielleicht sind Sie im Stande, mir Auskunft zu geben. Wissen Sie, wem diese Wirthschaft zu eigen gehört?“
„Wäre nicht übel, wenn ich es nicht wüßte“, lächelte Herr Louis etwas spöttisch und fuhr sich mit den gespreizten Fingern der rechten Hand durch die entsprechende Chausseeseite; „der Frau Josephine Müller.“
„Josephine Müller?“
„Zu dienen.“
„Ihr Mann ist todt?“ examinirte der Fremde weiter, und Herr Louis schoß einen raschen und forschenden Blick auf ihn, denn ein eigener Verdacht [S. 230] stieg in ihm auf, zögernd sagte er auch nur: „Ja!“
„Und ist sie zu Haus?“
„Nein — verreist, auf Besuch“, bemerkte Herr Louis, und fuhr sich durch die andere Chausseeseite — was zum Henker konnte der Fremde mit seiner Wirthin wollen, daß er sich nach dem Tod ihres Mannes erkundigte. Ueberdies war das eine sehr alte Geschichte und der Herr Müller schon seit sechs Jahren verschollen und damals mit einem Dampfer zu Grunde gegangen.
„Verreist — so —?“ sagte der Fremde gedehnt und, wie es schien, in seinen Erwartungen getäuscht; „weit?“
„Nein, nur zum Besuch aufs Land. Sie kommt morgen Mittag jedenfalls wieder.“
„In der That?“ rief der Fremde rasch und augenscheinlich erfreut; „dann seien Sie doch so gut und weisen Sie mir mein Zimmer an. Ich werde sie jedenfalls erwarten.“
Herrn Louis gefiel das nicht, aber gegen diesen direct ausgesprochenen Willen ließ sich auch nichts weiter thun. Er nahm also, da der Fremde aufstand, den Reisesack und ging, mit einer einladenden Verbeugung ihm zu folgen, voraus, beschloß aber doch, [S. 231] jedenfalls heute noch herauszubekommen, was der Fremde beabsichtigte, denn Herr Louis hatte selber eine Menge weitgreifender Pläne und dachte gar nicht daran, sie sich von einem „hergelaufenen Voyageur“, der mit dem Frühzug und nur mit einem Reisesack eintraf, kreuzen zu lassen. Der Mann trug ja nicht einmal einen Schirm.
Der Fremde schien aber nicht die geringste Notiz von des Oberkellners Gedanken oder Plänen zu nehmen, ging in sein Zimmer, zog seine Stiefeln aus und setzte sie vor die Thür, schloß sich dann ein, entkleidete sich und ging zu Bett, als ob es zehn Uhr Abends gewesen wäre.
Während der Fremde schläft, können wir uns indessen die Verhältnisse des Hotel Müller ein wenig betrachten.
Das Hotel hatte schon der Vater der jetzigen Wirthin innegehabt, bis sie sich in den „seligen Müller“, einen übrigens wackeren und thätigen Mann verliebte, diesen heirathete und nach des Vaters Tod das Wirthshaus „Zum goldenen Elephanten“ in das moderner klingende „Hotel Müller“ umwandelte. Caspar Müller, ihr damaliger Mann, brachte auch das jetzige Hotel durch seine unermüdliche Thätigkeit in „Schwung“, daß es bald das beste der Stadt [S. 232] wurde, und verdiente viel Geld dabei. Da war er einst genöthigt, um bedeutende Außenstände einzucassiren, nach London hinüber zu fahren. Ein sehr heftiger Sturm warf aber den Dampfer an die Küste; er strandete, und von sechsunddreißig Passagieren wurden nur drei gerettet. Caspar Müller aber blieb verschollen. Jene furchtbare Sturmnacht, die so viele Menschenleben kostete, hatte auch sein Schicksal besiegelt, und es wurde nichts weiter von ihm gehört.
Die Wittwe führte indessen das Geschäft fort, und unermüdlich, wie sie in demselben immer gewesen hatte sie ihm auch die Jahre allein und wacker vorgestanden. Aber sie fand zuletzt keine rechte Freude mehr daran, denn mit einem erworbenen Vermögen, von dem sie mit mäßigen Ansprüchen recht gut hätte leben können, sah sie keinen Grund, weshalb sie sich eigentlich noch länger unnöthiger Weise quälen sollte, und beabsichtigte deshalb, das Hotel unter guten Bedingungen zu verpachten. Bis das aber geschehen konnte — denn nichts zwang sie, diese Sache zu übereilen — wollte sie sich eine Haushälterin nehmen und hatte zu dem Zweck schon eine Aufforderung in den Zeitungen erlassen. Bis diese freilich eintraf, mußte ihr Oberkellner, Herr Louis, das Ganze leiten.
Herr Louis hatte unten im Wirthszimmer Kaffee getrunken und seinen eigenen Gedanken dabei Audienz gegeben, als Lieschen, das Stubenmädchen, hereinkam und den einen Tisch deckte, denn einige Stammgäste frühstückten gewöhnlich im Hotel Müller, wo sie mäßige Preise und ein vortreffliches Glas Wein fanden.
Herr Louis hatte gerade nichts zu thun; es war heute Morgen merkwürdig leer in der Weinstube; so, an dem Mädchen vorbeigehend, suchte er ihr unter das Kinn zu greifen und sagte:
„Nun, Schatz, wie geht’s?“ Lieschen parirte aber den Versuch, schlug ihm den Arm zurück und sagte schnippisch:
„Wie man’s treibt!“
„Nu, nu“, bemerkte Herr Louis beleidigt, „die Jungfer ist ja heute Morgen bei sehr übler Laune. Lieschen, Lieschen, Sie stehen sich sehr im Licht.“
„Ich? — daß ich nicht wüßte“, lachte das Mädchen, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen, indem sie mit geschickter Hand die Teller und Gläser auf dem Tisch ordnete; „ich denke mir immer, es ist noch nicht so weit, und ehe Sie das bekommen, wo Sie dahinter her sind, läuft wohl noch mancher Tropfen Wasser den Berg hinunter.“
„Wo ich dahinter her bin?“ rief Herr Louis, [S. 234] anscheinend sehr erstaunt, erröthete aber doch etwas, denn er hatte kein reines Gewissen.
„Na, thun Sie nur nicht so“, lachte Lieschen. „Sie glauben wohl, unsereins ist blind — aber zum Gratuliren wär’s doch wohl noch zu früh —“ und damit wollte sie sich rasch der Thür zu drehen, als ihr Herr Louis in den Weg trat. Es lag ihm aber nichts daran, dies Gespräch fortzusetzen, denn Lieschen hatte wirklich einen wunden Fleck berührt, und er sagte freundlich:
„Na, kommen Sie her, Kind, wir wollen uns nicht zusammen zanken, und Sie sollen auch nicht dabei zu kurz kommen, wie sich die Sachen hier gestalten. Also Frieden geschlossen, und zum Versöhnungszeichen essen Sie jetzt ein Vielliebchen mit mir, wer zuerst dem Andern morgen früh den guten Morgen abgewinnt.“
„Ja, ich hätte Zeit zu solchen Albernheiten“, rief aber das Mädchen; „die ewige Quälerei mit den Vielliebchen — allen Menschen bieten Sie’s an, und Keiner will — guten Morgen, Herr Louis — seh’n Sie, jetzt hätt’ ich’s Ihnen schon abgewonnen!“ und mit den Worten machte sie sich lachend von ihm los und warf die Thür hinter sich ins Schloß.
Herr Louis war beleidigt, aber es blieb ihm keine Zeit, seinem Unmuth Worte zu geben, denn mehrere Gäste kamen zu gleicher Zeit, die bedient sein wollten, und denen konnte er sich nicht entziehen. Lieschen mußte nachher ebenfalls herein, um mit aufwarten zu helfen, und gegen Mittag erschien auch der arme Teufel von Unterkellner, ein furchtbar magerer, aufgeschossener Bursch, der aus Aermeln und Hosen herausgewachsen war und jetzt einen unförmlich aufgeschwollenen Backen in ein rothbaumwollenes Tuch eingebunden trug. Es war gerade keine appetitliche Erscheinung, aber er konnte eben nicht entbehrt werden.
Eine kleine Anzahl von Gästen aß auch später hier zu Mittag, und das Diner war schon beendet, als der Fremde von heute Morgen wieder herunter kam und noch etwas zu essen verlangte. Er hatte es verschlafen, wie er sagte, ließ sich jetzt an einem kleinen Seitentisch besonders decken, bestellte eine Flasche St. Julien und gab sich dann dem Genuß der Speisen mit aller Ruhe hin.
Das Speisezimmer war geräumt, die noch vorhandenen Gäste waren nebenan in das Billardzimmer gegangen, um bei einer Partie ihren Kaffee zu trinken. Der Fremde saß auch bei seiner Tasse im Zimmer [S. 236] und rauchte seine Cigarre, während Herr Louis, dicht neben ihm, aus einem Teller voll Knackmandeln diejenigen Mandeln aussuchte, die durch ihren Umfang zu der Hoffnung eines Vielliebchens berechtigten. Er drückte sich auch nicht absichtslos um den Gast herum, denn er hielt die Gelegenheit für günstig, ihn jetzt ein wenig über seine Absichten auszuforschen. Hatte er doch selber kühne Pläne auf die Hand der noch immer rüstigen und sogar noch hübschen Wittwe — oder vielmehr auf das Hotel, bei dem er die Wittwe nur als Zugabe — gewissermaßen eine Formsache — heirathen mußte, und nicht die geringste Lust, hier einen möglichen neuen Heirathscandidaten so ohne Weiteres heran und ihm freie Hand zu lassen.
Es war aber mit dem Mann nichts anzufangen, er blieb einsilbig und suchte allen an ihn gestellten Fragen vorsichtig auszuweichen. Das aber bestärkte Herrn Louis nur noch mehr in seinem Verdacht, und er begann jetzt seinerseits einen neuen Operationsplan zu entwerfen. So viel hatte er schon herausbekommen, daß der Fremde wenig über die Verhältnisse des Hauses wußte, jedenfalls seit langen Jahren nicht in B. gewesen war. Trug er sich also wirklich mit solchen Plänen, wie Herr Louis fürchtete, so wollte er einmal [S. 237] versuchen, diese mit einem Schlag über den Haufen zu werfen und dann jedenfalls zu sehen, was der Herr für ein Gesicht dazu machte. Mißglückte es, nun so war es immer kein Unglück und nur ein Scherz gewesen, oder — der Fremde konnte ihn auch falsch verstanden haben. Herr Louis beschloß nämlich, der Wirthin einen zweiten Mann zu octroyiren.
Die Wirkung war aber nicht so mächtig, wie sie der eifersüchtige Kellner erwartet hatte. Der Fremde nahm die neue Nachricht ziemlich ruhig hin und fragte nur etwas erstaunt:
„Hm — ich glaubte, die Madame hieße noch Müller?“
„Du lieber Gott,“ meinte Herr Louis achselzuckend, „der Müller giebt’s gar viele. Ihr jetziger Mann führt denselben Namen.“
„Ja,“ sagte der Fremde, „das ist wahr. Ich heiße ebenso,“ und dampfte ruhig weiter.
Herr Louis wußte jetzt ebenso wenig, woran er mit dem räthselhaften Menschen war. Hatte er vielleicht eine Schuldforderung einzukassiren? Daß er die Frau vom Haus unter jeder Bedingung selber sehen wollte, sprach dafür. Das ließ sich vielleicht durch das Fremdenbuch herausbekommen — aber auch das mißglückte. Der Gast schrieb sich ein: „Müller, [S. 238] Particulier, Hamburg — zum Vergnügen,“ stand auf, zündete seine ausgegangene Cigarre wieder an und ging in sein eigenes Zimmer hinauf. Herr Louis aber blieb unten an dem Tisch sitzen und aß in Gedanken drei oder vier Vielliebchen mit sich selber.
Das hingeworfene Wort des Burschen war aber trotzdem auf fruchtbaren Grund gefallen, denn es schien dem Fremden doch nicht so ganz gleichgültig, ob Madame Müller wieder geheirathet habe oder nicht — wenn auch aus einem anderen Grund, als Herr Louis dachte.
„Hm, hm, hm,“ sprach er leise vor sich hin, indem er in seinem Zimmer auf und ab ging und, die Stirn in tiefe Falten gezogen, seinen eigenen — wie es schien, eben nicht angenehmen — Gedanken nachhing. „Das ist wieder ein Strich durch die Rechnung — also auf’s Neue verheirathet. Welches Interesse wird jetzt der neue Mann an dem alten Schwager nehmen, und wenn ich ihr nun auch meine ganze verzweifelte Lage vorstelle, da — speist mich der Herr Gemahl vielleicht aus verwandtschaftlichen Rücksichten mit fünf oder [S. 239] zehn Thalern ab, und meine letzte Hoffnung ist mir zu Grunde gerichtet.“
„Und meine arme Frau?“ fuhr er nach einer langen Pause fort, indem er, die Stirn an das Fensterkreuz gelehnt, durch die Scheiben auf die Dächer hinausstarrte. „Seit fünf Vierteljahren sitzt die jetzt in Breslau, während ich in der Welt herumfahre und Brot für uns Beide suche, wo ich mich selber kaum am Leben erhalten kann. — Eine verfluchte Einrichtung in der Welt, daß die eben Alles haben, die nichts brauchen, und die Alles brauchen, welche nichts haben. Hol’ der Teufel dieses socialistische System — wenn ich nur auf eine glückliche Idee fallen könnte, das Herz meiner unbekannten Schwägerin zu erweichen.“
Er warf sich mit diesen Worten in einen Lehnstuhl, das rechte Bein über das linke, stützte den Kopf in die Hand und starrte finster brütend auf die ihm gegenüber befindliche Wand. Sein Blick fiel dort auf ein Oelgemälde, das Brustbild eines Mannes, ohne aber im Anfang das Bild desselben in sich aufzunehmen. Nur wie in’s Leere starrte er wohl eine volle Viertelstunde darauf hin, bis das Portrait allmählich Farbe und Gestalt annahm, und seine eigenen Gedanken wieder zu seiner nächsten Umgebung zurückkehrten.
Das Bild stellte einen Herrn in einem blauen Frack mit blanken Knöpfen dar, der eine etwas steife Cravatte, einen aufgedrehten Schnurr- und kurzen Backenbart trug. Mit besonderer Sorgfalt war aber vorzüglich die gestickte Weste und die goldene Uhrkette gemalt, und die rechte Hand auch, etwas gewaltsam heraufgebracht, möglicher Weise um einen sehr schönen und großen Siegelring daran zu zeigen. Es war in der That kein großes Kunstwerk, aber eines von jenen Bildern, denen man trotz einer sehr mittelmäßigen Auffassung, ansieht, daß sie eine gewisse Aehnlichkeit haben.
Des Fremden Gedanken schienen sich aber doch nicht lange auf einen Punkt fesseln zu lassen. Er sprang auf und ging eine Weile mit untergeschlagenen Armen im Zimmer auf und ab — und dennoch fiel sein Blick immer wieder auf das Bild, das ihn anfing zu geniren. Es hatte eine Aehnlichkeit mit Jemandem, den er kannte, und er konnte nicht heraus bekommen mit wem. Es ist das gerade so, als ob wir uns auf einen bekannten Namen besinnen wollen und können nicht darauf kommen; was im Stande ist, einen Menschen den ganzen Tag zu quälen. Aber das Grübeln half nichts; die Gedanken peinigten ihn, und er beschloß, einen Spaziergang durch die Stadt [S. 241] zu machen. Eben trat er aus seinem Zimmer, als Herr Louis vorbeiging.
„Wollen eine kleine Promenade machen?“ sagte er verbindlich.
„Ja,“ lautete die etwas zerstreute Antwort, „aber — apropos, Oberkellner, wen stellt denn das Bild da drinnen vor?“
„Das Bild? Welches meinen Sie?“
Der Fremde schloß statt aller Antwort das Zimmer wieder auf und deutete auf das über der Commode hängende Oelgemälde.
„Ah, das!“ sagte Herr Louis, indem er sich im Zimmer umsah, „das ist eben der verschollene Herr Müller, der frühere Mann unserer Frau. Soll sehr ähnlich gewesen sein.“
„In der That?“ rief der Fremde, und wäre Herr Louis jetzt nicht selber in dem Anschauen des Bildes vertieft gewesen, so hätte ihm nicht entgehen können, daß diese Nachricht einen eigenthümlichen Eindruck auf den Gast machte. „Aber wie kommt das Bild des Wirths hier in ein Gastzimmer?“ fragte dieser endlich nach einer Pause.
„Dies Zimmer,“ sagte Herr Louis, „ist erst seit ein paar Tagen mit zu dem Hotel genommen; früher [S. 242] war es privat, und da Madame verreiste, blieben die Bilder noch vor der Hand hängen.“
„Und ihr jetziger Mann ist zu Haus?“ fragte der Fremde.
„Ihr jetziger Mann?“ sagte Herr Louis, der im ersten Moment ganz seine Lüge vergaß, „ja so — Sie meinen den jetzigen Herrn Müller. Nein — der ist auch verreist — eine Geschäftsreise nach Bordeaux, um Wein zu kaufen, wird aber auch in den nächsten Tagen zurückerwartet.“
„So?“ sagte der Fremde rasch, und schien merkwürdiger Weise ganz vergessen zu haben, daß er hatte ausgehen wollen, denn er setzte sich wieder in den Lehnstuhl und stellte den Hut neben sich. Dort blieb er auch sitzen, als Herr Louis schon lange das Zimmer verlassen hatte, zündete nicht einmal ein Licht an, und ging erst etwa gegen zehn Uhr in das Gastzimmer hinunter, um sein Abendbrot zu verzehren.
Es mochte halb elf Uhr sein, als er damit fertig war (die sämmtlichen Gäste hatten den Wirthsraum schon verlassen) und noch eine zweite Flasche Wein bestellte. Er begann diese, langsam an seinem Glase nippend — der Unterkellner lehnte mit verbundenem Gesicht zwischen dem Büffet und der Thür und schlief, die Serviette fest unter den linken Arm geklemmt, und [S. 243] Herr Louis stand an seinem Pult, notirte eben die zweite Flasche und erwog in seinen Gedanken, ob der Reisesack da oben auf Nr. 36 so viel werth sein möchte, wie die auflaufende Rechnung. Nebenbei überlegte er aber auch noch, weshalb der Fremde so überrascht gewesen sei, als er gehört habe, daß jener mythische zweite Herr Müller vereist sei, denn das hatte ihm doch nicht entgehen können.
„Herr Oberkellner!“
„Befehlen?“
„Bitte — trinken Sie nicht ein Glas Wein mit? Es schmeckt besser zu Zweien.“
Herr Louis machte nur eine der Einladung entsprechende Bewegung, nahm sich ein Glas vom Büffet, versetzte dabei dem jungen Burschen einen leisen Knuff, denn die Gelegenheit war zu günstig, und nahm dann neben dem Gast Platz. Bei einem Glase Wein ließ sich doch am Ende herausbekommen, was er eigentlich beabsichtige. Aber auch hierin sah er sich getäuscht, denn der Fremde schien sich auffallender Weise viel mehr für den todten, wie für den lebendigen Herrn Müller zu interessiren, und da Herr Louis recht gut wußte, daß es kein besseres Mittel gab — wenn alle anderen fehlschlugen — um Jemanden zum Erzählen zu bringen, als wenn man selbst damit beginnt, so [S. 244] theilte der Oberkellner jetzt dem Fremden Alles mit, was er selber über den „Seligen“ wußte.
„Er war vier oder fünf Jahre mit >der Frau< verheirathet gewesen,“ begann Herr Louis seine Erzählung, „und, wie Alle behaupten, sehr glücklich. Dann kam die unselige Reise. Der Dampfer scheiterte, von einem heftigen Sturme verschlagen, auf den Goodwinsands, und nur ein Theil der Mannschaft und Passagiere wurde gerettet. Doch das Alles hatte ja damals in den Zeitungen gestanden und war bekannt, nur Eines schien auch dem Fremden neu, daß nach mehreren Monaten nämlich noch ein paar Leute von eben demselben Schiff auftauchten, die man damals für mit verunglückt gehalten hatte. Diese waren nämlich in der Nacht von einem amerikanischen Schiff aufgefischt worden und mit nach New-York genommen, und sagten auch aus, daß noch ein anderer Schooner ebenfalls an der Stelle gehalten habe und beigedreht wäre — ob er es aber ermöglichte, noch Jemanden zu retten, wüßten sie natürlich nicht, und eine ganze Zeit lang sei dann das Gerücht gegangen, der „selige Herr Müller“ lebe noch, wäre in New-Orleans gelandet und würde mit dem nächsten Schiff zurückkehren. Aber es mußte doch nur ein bloßes Gerücht gewesen sein, denn Jahr nach Jahr verging und Herr Müller [S. 245] kam nicht wieder. Er war jedenfalls in jener Unglücksnacht mit der Mehrzahl der Passagiere zu Grund gegangen.“
Während Herr Louis das erzählte, hatte der Fremde den letzten Rest der Flasche geleert und machte Miene, aufzustehen. Damit war aber dem Oberkellner nicht gedient, der entweder selber heut Abend Appetit zu einem Glas Wein hatte, oder dabei noch etwas aus dem schweigsamen Mann herauszupressen suchte. Vor allen Dingen schickte er den Jungen zu Bett, holte dann selber noch eine Flasche Chateau Margaux herbei und wollte sich eben wieder an den Tisch setzen, als draußen auf der Treppe ein furchtbares Gepolter laut wurde. Aber es war nur der Unterkellner mit dem dicken Backen gewesen, der im Schlaf die Treppe herunterfiel. Unten raffte er sich wieder auf und erneute den Versuch, in sein Bett hinauf zu kommen, während Herr Louis dem Gast erzählte, was er für eine Noth mit dem Jungen habe.
Der sonst so schweigsame Gast thaute aber bei der dritten Flasche ordentlich auf, und fing an, Anekdoten, besonders aus dem Theaterleben, zu erzählen, daß sich Herr Louis vor Lachen ordentlich ausschütten wollte. Bei jeder Anekdote fiel aber Herrn Louis ebenfalls eine entsprechende — wenn auch aus einem anderen [S. 246] Wirkungskreis — ein, und es war zwei Uhr Morgens, ehe sich die beiden würdigen Leute, und zwar als die besten Freunde trennten. Von den früheren Verhältnissen des Trinkcumpans hatte Herr Louis aber eben so wenig zu hören bekommen, wie er vorher gewußt — trotz der fünf Flaschen Rothwein, die sie nach und nach mit einander ausgetrunken; und als Herr Louis zu Bett schwankte, ging der Fremde mit festen Schritten in sein Zimmer hinauf und wanderte dort wohl noch eine volle Stunde mit untergeschlagenen Armen auf und ab. Er konnte jedenfalls mehr vertragen als der Oberkellner.
Herr Louis erwachte am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen und außerdem noch mit einem unbestimmten Gefühl, daß er in dieser Nacht sehr fidel gewesen und der Fremde ein „famoser Bursche“ sei. Zwei Sachen drückten ihn aber dabei, und er hatte eine dunkle Ahnung, daß er sich mit ihm Du genannt und wußte nicht recht genau, ob er ein Vielliebchen mit ihm gegessen habe oder nicht. Aber er bezweifelte Beides wieder, als der Fremde zum Kaffee herunter kam und ihn sehr artig und förmlich „Herr Oberkellner“ nannte. Nachher ging er wieder hinauf auf sein Zimmer.
So verging der Tag und es neigte sich schon gegen [S. 247] Abend, als draußen vor der Küche ein kleines Intermezzo spielte. Lieschen nämlich, so kalt und gefühllos sie auch gegen die Aufmerksamkeiten des oft schwachen Herrn Louis blieb, und so schnippische Antworten sie seinen gewähltesten Redensarten entgegensetzte, besaß doch ein zartfühlendes Herz, das, wie das so oft in der Welt geschieht, einem Paar rothen Aufschlägen und überhaupt dem zweifarbigen Tuch nicht hatte widerstehen können. Der Sergeant Meier schien es mit Sturm erobert zu haben, und da sich die beiden jungen Leute bis dahin noch keinen eigenen Herd gründen konnten, begnügten sie sich vor der Hand mit dem des Hotel Müller; d. h. Lieschen steckte dem Geliebten, wo das nur immer verstohlen anging, aufgesparte Leckerbissen zu, und Sergeant Meier zehrte dann später in seiner eigenen Klause an diesen und seiner Liebe zu Elisabeth.
Die Abendstunde war dabei, als die passendste für derlei Ueberlieferungen, ausersehen worden, und die Sache schon eine lange Weile gut gegangen und unentdeckt geblieben. Heute wollte es aber Lieschen’s böser Stern, daß Herr Louis gerade in dem unseligen Augenblick den in die Küche führenden Gang betrat, als Sergeant Meier eben seinen Deputat-Topf unter den Mantel schob. Nach dieser Begegnung schien er [S. 248] aber ein längeres Zögern für unnöthig zu halten, grüßte den verdutzten Oberkellner steif und militärisch mit der Hand an der Mütze, machte rechtsumkehrt und verschwand durch die nächste Thür, während Lieschen in aller Verlegenheit über die Entdeckung nicht gleich wußte, ob sie sich ebenfalls entfernen oder bleiben sollte.
„So?“ machte aber Herr Louis, der seine Sprache wieder erlangte, als der handfeste Sergeant verschwunden war, ihren Zweifeln ein Ende; „das sind mir ja schöne Geschichten! Also das Essen schicken wir aus dem Haus, mischen uns in die Militärfrage, haben einen Sergeanten zum Liebsten und benutzen das Hotel Müller zu einer Speiseanstalt für verwahrloste Krieger?“
„Aber bester Herr Louis!“
„O ja, jetzt heißt es bester Herr Louis,“ fuhr aber der gereizte Oberkellner fort, indem er seine rechte Chausseeseite mit Gewalt zum Aufsträuben brachte „und sonst kann man kaum einen freundlichen guten Morgen über die Lippen bringen! Fräulein Lieschen — ich bedaure, diese Entdeckung gemacht zu haben.“
„Aber bester Herr Louis,“ fuhr das arme Mädchen fort, denn sie fürchtete jetzt nichts mehr, als daß es der beleidigte Oberkellner ‚der Frau‘ sagen würde, [S. 249] — „es war ja wirklich nur das erstemal und soll nie, nie wieder geschehen. — Ich hatte mir ja doch auch nur mein eigenes Abendbrot aufgehoben, weil ich gestern Abend nichts essen konnte.“
„Ihr eigenes Abendbrot, so?“ bemerkte aber Herr Louis spöttisch, „und das war wohl kein Truthahnbein, was aus dem Topf herausguckte?“
„Nichts wie ein Carbonadenknochen — wirklich, Sie können mir es glauben — und an dem überdies nur noch das halbe Fleisch!“ betheuerte das Mädchen. „Seien Sie doch nicht so häßlich; ich thue Ihnen ja auch Alles zu Gefallen, was ich nur kann.“
„Ja wohl,“ bemerkte Herr Louis, „nicht einmal ein Vielliebchen wollten Sie mit mir essen.“
„Ach, ich hatte in dem Augenblick gerade so viel zu thun. Warum sollte ich denn kein Vielliebchen mit Ihnen essen wollen; da ist doch gar nichts dabei. Wenn Ihnen das Freude macht, mit Vergnügen.“
Herrn Louis’ Herz schmolz. Selbst der Sergeant schwand in dem Augenblick in ein Atom zusammen. Während er noch unwillkührlich, wie ein dumpf nachgrollendes Gewitter, mit der linken Hand durch die entsprechende Chausseeseite fuhr, suchte die rechte schon in der Seite der Jackentasche ein paar gefangen ge [S. 250] haltene Knackmandeln, und mit den versöhnenden Worten: „Nehmen Sie sich nur um Gottes Willen in Acht, daß Ihnen die Frau nicht einmal bei einer solchen Militärversorgung in den Weg läuft,“ brach er die Mandel auf und reichte Lieschen die eine Hälfte des Zwillingspaares.
„Aber passen Sie auf, Herr Louis, ich gewinne es Ihnen ab.“
„Darauf riskir ich’s!“ versicherte der Oberkellner, indem er seine Hälfte auf den Kopf biß.
„Aber unten in der Wirthsstube gilt es nicht, Herr Louis,“ verwahrte sich Lieschen, „denn wo man seinen Dienst hat, kann man nicht an solche Sachen denken.“
„Topp,“ versicherte Herr Louis, äußerst coulant in allen solchen Bewilligungen, wo er erst einmal Jemanden fest in seinem Netz hatte.
„Frau Müller nicht zu Haus?“ sagte in diesem Augenblick eine Stimme, nach der sie sich etwas überrascht umsahen. Sie gehörte auch einer noch nicht alten Dame oder Frau — Herr Louis wußte nicht gleich, zu was er sie rechnen sollte, — die gerade durch die offene Hausthür trat und einen einfachen braunen Hut auf, und einen Shawl umhängen hatte.
„Nein — verreist,“ sagte er übrigens kurz, denn er wünschte in diesem Augenblick nicht gestört zu werden.
„Und wann kommt sie zurück?“ fragte die Fremde artig.
„Heute — Zeit unbestimmt.“ Damit wandte sich Herr Louis ab und wollte Lieschen eben noch eine Bemerkung mittheilen, als ihn eine andere Stimme ganz unerwarteter Weise an seine Pflicht mahnte.
„Nun, Louis — hören Sie denn nicht wie drinnen geklingelt wird? Was habt Ihr Beiden denn hier draußen zu stehen und zu schwatzen? Man darf doch nur den Rücken wenden — und es geht Alles drunter und drüber — Sie mein’ ich, Herr Oberkellner! Haben Sie mich verstanden?“
Herr Louis mußte es verstanden haben, denn die Aufforderung war gar nicht falsch zu verstehen, er selber aber über das plötzliche und unverhoffte Erscheinen der Frau, wie über die barsche Anrede — noch dazu vor dem Stubenmädchen — so verdutzt geworden, daß er im ersten Moment wie vor den Kopf geschlagen dastand. Die letzten Worte aber brachten ihn wieder zu sich selber.
„Bitte um Verzeihung, Madame,“ sagte er würdevoll, „wurde eben herausgerufen, da die Frau da — [S. 252] “ und er zeigte mit dem Daumen über die Achsel nach der Fremden, „Sie zu sprechen verlangte; Ich versäume nie meine Pflicht,“ und mit einer leichten, aber stolzen Verbeugung schwenkte er rechts ab und in die Wirthsstube hinein. Lieschen hatte schon den vorhergegangenen Moment benutzt, um in die Küche zu fahren und der Frau außer Sicht zu kommen.
Die Wirthin hatte sich indessen nach der Fremden umgesehen, der es natürlich nicht entgehen konnte, wen sie hier vor sich hatte. Mit einem leichten Gruß überreichte sie ihr auch, ohne weitere Worte, einen schon bereit gehaltenen Brief, den Frau Müller öffnete, flüchtig übersah, und dann die vor ihr Stehende von Kopf bis zu Füßen, musternd, etwas freundlicher als bisher, sagte:
„Kommen Sie mit hinauf auf mein Zimmer. Was wir mit einander zu reden haben, können wir doch nicht hier auf der Hausflur abmachen.“
Frau Müller war in der That noch eine rüstige, selbst hübsche Frau von stattlichem Aeußern, nur mit einem sehr entschiedenen fast männlichen Benehmen, wie es freilich ihre lange selbstständige und unabhängige Stellung mit sich gebracht, und die Fremde schien sich beim ersten Begegnen gedrückt davon zu fühlen. Das verlor sich aber bald, oder milderte sich wenig [S. 253] stens bei einer längeren Unterhaltung, die das Interesse Beider in Anspruch nahm.
Frau Müller suchte nämlich eine Wirthschafterin, und die eben eingetroffene Frau brachte ihr einen Empfehlungsbrief von einer Freundin, in dem sie ihr das beste Zeugniß gab und ihr Engagement warm befürwortete. Die Frau hatte oben im Zimmer, als sie nur eben Hut und Tuch abgelegt, den Brief noch einmal aufmerksam durchlesen und sagte dann, sich schon mit einem viel freundlicheren Gesicht zu der Fremden wendend:
„Also Sie haben Lust bei mir die Wirthschaft zu führen und glauben derselben vorstehen zu können? — Aber bitte, setzen Sie sich doch — Sie sind mir hier durch Frau Ludloff warm empfohlen worden.“
„Ich habe wenigstens den besten Willen,“ sagte die Fremde schüchtern, indem sie der Einladung Folge leistete.
„Und Ihr Name ist? — meine Freundin nennt Sie hier in dem Brief nur bei Ihrem Vornamen, Therese.“
„Wie der Ihrige — Müller!“
„Der Name ist allerdings ziemlich allgemein. Sie waren verheirathet?“
„Ich bin es noch,“ seufzte die Fremde, „aber mein [S. 254] Mann verließ mich vor fünfzehn Monaten schon, um irgendwo eine Beschäftigung für sich — eine Heimath für uns zu suchen und — kehrte nicht zurück — schrieb auch nicht, und ich kann jetzt nicht anders glauben, als daß ihn irgendwo ein Unglück betroffen hat. Bis jetzt ernährte ich mich auch mit weiblichen Arbeiten, denn Vermögen besaßen wir nicht — aber diese werden ja zu ärmlich bezahlt; meine Augen verhinderten mich außerdem, Abends bei Licht zu arbeiten, und ich sah bald, daß ich mich damit nicht am Leben erhalten konnte. Da rieth mir Frau Ludloff, die mich viel beschäftigt und sich stets sehr freundlich gezeigt hatte, mich an Sie zu wenden, und da sie selber glaubte, ich würde diese Stelle zu Ihrer Zufriedenheit ausfüllen können, so — wagte ich es, mich Ihnen vorzustellen. Wollen Sie einen Versuch mit mir machen, so werde ich gewiß Alles thun, was in meinen Kräften steht, mir Ihre Zufriedenheit zu erwerben.“
Ein eigener schmerzlicher Zug hatte sich über das Antlitz der Wirthin gelegt, als sie dem einfachen und doch so wehmüthigen Bericht der Fremden lauschte; schilderte diese doch auch einen Theil ihrer eigenen Geschichte, wenn sie selber auch nie mit Nahrungssorgen zu kämpfen gehabt. Aber sie wußte dafür um so besser, wie weh es thut, den Gatten zu verlieren [S. 255] und dann noch Monate — Jahre lang zu zweifeln, ob er wirklich verloren sei — zu hoffen, daß er wiederkehre, und dann seine Hoffnung immer und immer wieder getäuscht zu sehen. — Und was mußte die arme Frau Alles durchgemacht haben, die da still und in ihr Geschick ergeben vor ihr saß und sich ihren Weg durch dieses Leben allein und freundlos nun erkämpfen mußte. — Sie fühlte tiefes Mitleiden mit ihr und beschloß, sie jedenfalls anzustellen. Zeigte sie sich dann auch nicht gleich in allem Anfang recht geschickt für ihren neuen Dienst, so ließ sich ja Alles lernen, wenn man nur ein wenig Geduld mit ihr hatte.
„Und haben Sie lange in Breslau gelebt?“ fragte sie endlich, um in ihrer Entscheidung nicht zu rasch und voreilig zu scheinen.
„Nur zwei Jahre,“ lautete die Antwort, „mein Mann war früher Reisender; als wir uns aber verheiratheten, gab er das auf, um ein eigenes kleines Geschäft in Hamburg zu gründen. Wir hatten jedoch Unglück; ein Brand zerstörte Alles, was wir besaßen, ohne daß ein Stück versichert gewesen, und — wie das so geht,“ setzte sie zögernd hinzu, „ein Unglück kam zum anderen, bis es uns endlich — gänzlich ruinirte.“
„Wie hieß Ihr Mann mit Vornamen?“ fragte [S. 256] da die Wirthin, die bei dem letzten Bericht aufmerksam geworden war.
„Ferdinand,“ lautete die Antwort.
„Aus Danzig gebürtig?“
„Haben Sie ihn gekannt?“ fragte die Fremde erstaunt, „er war allerdings in Danzig zu Haus.“
„Ihn nicht,“ seufzte die Wirthin und schüttelte traurig mit dem Kopf, „aber hat er Ihnen nie erzählt, daß er einen Bruder gehabt?“
„Allerdings; doch wie es scheint, haben sich die beiden Brüder nie recht mit einander vertragen können; wenigstens keinen Verkehr mitsammen gehabt.“
„Weil —“ wollte ihr die Wirthin rasch erwidern; aber noch ehe sie weiter sprach, fiel ihr ein, daß sie der armen Frau mit ihrer Antwort wehe thun müßte; sie brach deshalb kurz und freundlich ab, „aber das sind Sachen, die uns jetzt zu fern liegen und der Vergangenheit angehören; nur daran haben wir uns noch zu halten, daß wir eigentlich Verwandte, und zwar ganz nahe Verwandte sind.“
„Wir Beide?“ rief die Fremde erstaunt.
„Allerdings,“ sagte die Wirthin; „unsere Männer waren Brüder, und oft habe ich den meinigen von seinem Bruder Ferdinand sprechen hören.“
„Du großer Gott!“ seufzte die Fremde — aber wie es schien, mehr erschreckt als erfreut, „davon hatte ich freilich keine Ahnung, und was müssen Sie jetzt von mir denken, daß ich mich da gerade in meiner bedrängten Lage an Sie gewandt.“
„Lassen Sie sich das um Gottes Willen keine Sorge machen,“ sagte die Wirthin gutmüthig. „Erstlich thaten Sie es unbewußt, und dann verlangen Sie ja auch von mir gar keine Unterstützung. Sie bieten mir Ihre Arbeit gegen einen entsprechenden Gehalt, und die Verwandtschaft soll da wahrlich kein Hinderniß sein — wenn Sie selber sich nicht gedrückt dadurch fühlen. Aber da thäten Sie großes Unrecht,“ setzte sie fast herzlich hinzu, „denn ich hoffe, daß wir uns recht gut mit einander vertragen werden. Keine weitere Einrede, Frau Therese,“ lachte sie, „denn den Namen Müller müssen wir bei Seite lassen, sonst gäbe es nichts als Verwirrung im Haus; und jetzt kommen Sie mit mir, daß ich Ihnen gleich Ihr Zimmer anweisen und einen kurzen Ueberblick über Ihre Pflichten geben kann, alles Uebrige machen wir dann später in Ruhe ab, wenn Sie erst einmal bei mir eingezogen sind.“
Sie ließ auch in der That keine Einrede gelten, führte die Schwägerin selber hinüber in das für sie [S. 258] bestimmte freundliche Gemach, ließ ihre Sachen aus dem Gasthaus holen, in dem sie abgestiegen war, und versprach ihr dann, die ersten Tage mit ihr Alles gemeinschaftlich zu besorgen, damit sie sich erst in das Haus eingewöhne, nachher würde es nicht die geringste Schwierigkeit haben, wenn sie es allein besorgen sollte. Sie erzählte ihr dabei, daß sie allerdings die Absicht gehabt habe, die ganze Wirthschaft zu verpachten und sich vollständig von allen Geschäften zurückzuziehen, denn eigentlich gehöre zur richtigen Führung eines solchen Anwesens ein Mann, und da sie nicht wieder zu heirathen gedenke, wäre sie doch gezwungen, es mit der Zeit aufzugeben. Bis sie aber Jemanden gefunden habe, der ihr auch wirklich convenire, wolle sie es doch lieber selber fortführen, denn einmal habe sie es von ihren Eltern überkommen, und dann auch werfe es wirklich einen zu guten Nutzen ab, um es eben unnöthiger Weise und aus freien Stücken aufzugeben.
Das besorgt, ging sie wieder in ihr Zimmer hinüber und ließ Herrn Louis zu sich heraufrufen, der aber dem Befehl nicht eher Folge leistete, bis er sich in seiner eigenen Kammer davon überzeugt hatte, daß sein Chemisette tadellos sei und sein Toupet nichts zu wünschen übrig lasse. Dann meldete er sich bei der Frau.
„Louis,“ redete ihn diese an, ohne seine Toilette auch nur eines Blickes zu würdigen, denn sie war gerade mit der Durchsicht einiger Papiere beschäftigt; „ich habe heute eine Wirthschafterin in’s Haus genommen, die an meiner Statt die Leitung des Hotels übernimmt, und deren Anordnungen Sie in jeder Weise folgen werden. Haben Sie mich verstanden?“
„Madame!“ sagte Louis, durch diese Eröffnung nicht unerheblich bestürzt, denn diese Wendung lief seinen eigenen Hoffnungen und Wünschen schnurstracks entgegen.
„Nun?“ sagte diese und wandte den Kopf nach ihm um, „haben Sie vielleicht etwas dagegen einzuwenden?“
„Ich?“ rief Herr Louis erschreckt, „bitte, Madame — wie kommen Sie darauf. Ich — ich hatte nur gehofft —“
„Was?“
„Daß ich — daß ich selber vielleicht im Stande sein würde —“
„Im Stande? Was? So reden Sie doch deutlich heraus, und machen Sie dann, daß Sie wieder hinunter auf Ihren Posten kommen. Was hatten Sie gehofft?“
„Daß ich selber im Stande sein würde, Ihr Vertrauen so weit zu rechtfertigen,“ brach jetzt Herr Louis mit einem verzweifelten Entschluß aus, „mir die Leitung Ihres Hauses anzuvertrauen, denn eine Dame —“ er stak wieder fest.
„Ihnen? So?“ sagte die Frau und wandte sich gegen ihn um, „und nicht einmal den Rücken kann man wenden, ohne daß Sie hinter dem Lieschen her sind und ihr mit Ihren Albernheiten keine Ruhe lassen.“
„Aber Madame —“
„Ich weiß Alles,“ unterbrach ihn aber die Frau. „Mit Ihrem dummen Vielliebchenessen, mit dem Sie Gott und die Welt quälen und mir jeden Monat beim Kaufmann eine Rechnung von ein paar Thalern für Knackmandeln auflaufen lassen — Und das Lieschen —“
„Aber Madame!“ rief jetzt Herr Louis noch einmal, denn die Beschuldigung mit dem Stubenmädchen traf ihn um so tiefer, weil sie nicht ganz unbegründet war, „glauben Sie denn wirklich, daß ich mich so wegwerfen würde, um mit der Mamsell ein Verhältniß anzuknüpfen? Nein, ich habe größeren Ehrgeiz, denn, die Knackmandeln ganz abgerechnet, die nun einmal bei einem anständigen Dessert nicht fehlen dürfen, [S. 261] trage ich die Ueberzeugung in mir, daß ich dem ersten Hotel der Welt würdig vorstehen könnte, und wenn ich bis jetzt alle die mir gemachten brillanten Anerbietungen von der Hand wies — wenn ich bis jetzt —“ und sein Auge haftete mit leidenschaftlicher Gluth auf der Wittwe, während er fast unwillkürlich mit dem rechten Fuß ausschritt und die rechte, etwas große und rothe Hand mit weit ausgespreizten Fingern gegen sie streckte, „selbst meinem Herzen einen unnatürlichen Zwang auflegte und da schwieg, wo meine ganze Seele —“ er stak fest, denn die Frau hatte sich ganz erstaunt nach ihm herumgedreht und ihr Blick brachte ihn vollständig aus dem Concept.
Wohl hatte er sich diese Rede, gerade den günstigen Zeitpunkt geduldig abwartend, oft und oft in seiner eigenen Stube und vor dem kleinen schmalen Spiegel einstudirt, aber dabei natürlich nur immer in sein eigenes unwiderstehliches Gesicht geschaut. Jetzt fand er sich aber der Wittwe selber gegenüber, und der Ausdruck ihrer Züge war dabei ein so wenig ermunternder, daß er den Faden vollständig verlor und gerade im entscheidenden Moment, wie schon erwähnt, gründlich stecken blieb.
„Sagen Sie mal, Louis,“ nahm da für ihn die Frau das Wort, seine poetische Rede mit einer höchst [S. 262] prosaischen Wendung unterbrechend, „Sie haben wohl heute zu Ihren Knackmandeln Rothwein getrunken? — oder sind Sie übergeschnappt? In beiden Fällen bleibt mir weder Zeit noch Lust, Ihren Unsinn anzuhören; haben Sie deshalb die Güte, sich wieder hinunter zu bemühen und Ihren Geschäften nachzugehen — wenn Sie es nicht vielleicht vorziehen sollten, sich in’s Bett zu legen. — Schon gut — Sie sehen, daß ich zu thun habe. Die neue Wirthschafterin heißt Frau Therese, und daß ich von ihr keine Klagen über Sie höre wie die bisherigen, — sonst müßte ich Sie Ihren übrigen brillanten Anerbietungen überlassen. Jetzt machen Sie, daß Sie hinunterkommen.“
Dieser letzte Befehl war zu deutlich, als daß er noch eine fernere Zögerung gestattet hätte, und Herr Louis, aus all’ seinen Himmeln gestürzt, und in einer Stimmung, in der er eine Welt hätte vergiften können, mußte wieder hinunter in das Gastzimmer und mit der Serviette unter dem Arm die Gäste fragen, ob sie zu ihrem Beefsteak Kartoffeln oder Salat wünschten.
Oben in der Stube auf Nr. 36, saß indessen der „Particulier Müller“ und brütete über einem großen Gedanken.
„Das ist meine einzige Rettung,“ flüsterte er leise vor sich hin, indem er, den Kopf in die Hand gestützt, in der Sophaecke saß und wieder das Bild anstarrte, „wir sind uns immer so ähnlich gewesen, daß wir oft mit einander verwechselt wurden — ich habe sogar einmal für meinen Bruder unschuldiger Weise Prügel bekommen. — Wenn ich jetzt vor sie hinträte — wenn ich ihr sagte: Josephine kennst Du mich nicht mehr? Bin ich Dir so ganz fremd geworden? Hast Du Deinen Caspar in den wenigen Jahren schon vergessen? — Dann ist sie nicht mehr im Stand an eine Täuschung zu glauben. Die Zeit drängt dabei. — Der neuen Banden wegen, die sie fesseln, müssen die alten vor der Welt geheim gehalten werden. Ich ehre ihr Unglück — ich bin erbötig, mit dem ersten Schiff Europa zu verlassen und ihr in einem fremden Welttheil die Ruhe, den Frieden zu sichern, aber — mir fehlen dazu die Mittel. Fünfhundert Thaler setzen mich dazu in Stand, den für Beide nothwendigen Schritt zu thun — fünfhundert Thaler sind für sie eine Kleinigkeit — ihre alte Liebe kommt dazu — [S. 264] Reue über das Geschehene, was glücklicher Weise nicht mehr zu ändern ist, und morgen — kehre ich zu meiner armen Frau zurück und beginne mit dem Geld ein neues Geschäft. Ich will ja arbeiten, wenn mir nur die Hände nicht mehr gebunden sind, wenn ich mich erst wieder frei bewegen kann. Ich will das alte leichtsinnige Leben abschwören, ich will ein ordentlicher, fleißiger Mann werden, und das hier soll der letzte leichtsinnige Streich sein, den ich mache, darauf gebe ich mir selber Hand und Wort.“
Er war aufgesprungen und lief wohl noch eine Viertelstunde mit raschen Schritten in seinem Zimmer auf und ab.
Die Wirthin war zurückgekommen; von dem Hausmädchen hatte er es gehört, und es galt jetzt, keine Zeit mehr zu versäumen. Der Boden brannte ihm unter den Füßen, und je eher er sich dieser ihm drückend werdenden Lage entzog, desto besser. Außerdem wußte ja auch der Kellner, daß er die Frau vom Hause sprechen wolle, und würde ihm sicher, auf den schmächtigen Reisesack hin, keinen längeren Credit bewilligt haben.
Was er zu thun hatte, wußte er auch genau, und um das Eisen zu schmieden, so lange es heiß war, klingelte er dem Oberkellner und bat diesen, ihn bei [S. 265] der Frau zu melden — wenn sie ihn nämlich heut Abend noch annehmen wolle, denn es war indessen fast neun Uhr geworden. Herr Louis, eben nicht in der Laune, die Frau heute Abend noch einmal aufzusuchen, schüttelte aber dazu mit dem Kopf. Sie hatte schon vorhin über Kopfschmerzen geklagt und das Stubenmädchen ihr eben Camillenthee hinaufbringen müssen. Bei Nachtzeit machte man auch keiner Dame einen Besuch, und hatte es so lange Zeit gehabt, so konnte er auch ebenso gut bis morgen früh warten.
Eigentlich war ihm das nicht unlieb, denn im andern Fall hätte er an dem nämlichen Abend fortgemußt, und so stand ihm noch ein gutes Souper mit ein paar Flaschen Wein und ein vortreffliches Bett die Nacht zu Gebot. Die ganze Rechnung ging doch jetzt in einem hin, und es verstand sich von selbst, daß er unter solchen Umständen keinen Pfennig davon bezahlte. Damit also einverstanden, fragte er nur den Kellner, wann er die Frau morgen früh sprechen könnte, und als dieser ihm sagte, daß sie schon um sieben Uhr aufstände und um halb acht fertig angezogen wäre, ging er jetzt selber in den Speisesaal hinunter, um sein Abendbrot zu verzehren.
Lieschen, die Kellnerindienste mit versehen mußte, [S. 266] wenn viele Gäste da waren und dann besonders das Essen zu überwachen hatte, war gerade beschäftigt, dem Particulier Müller ein Couvert aufzulegen, und dieser hielt die Weinkarte in der Hand und studirte eben die Sorten nach, als die neue Wirthschafterin in den Saal kam, um Lieschen zu der Frau hinauf zu beordern. Sie trat auch bis zum Tisch, und Lieschen’s Schulter berührend, theilte sie ihr leise die empfangene Ordre mit, als ihr Blick zufällig auf den Gast fiel, dessen Gesicht von dem vor ihm stehenden Lichte hell beschienen wurde. Sie sah ihn stier an und jeder Blutstropfen verließ dabei ihre Wangen, aber fast unwillkürlich drehte sie sich auch von ihm ab und schritt in demselben Augenblick dem Ausgang wieder zu, als Müller aufsah und eben nur noch ihre fortschreitende Gestalt erkennen konnte. Aber er erschrak — war das die Wirthin gewesen?
„Wer war die Dame,“ fragte er rasch Herrn Louis, der eben mit dem als Vorspeise bestellten Caviar zu seinem Tisch trat.
„Dame —“ sagte aber Herr Louis, verächtlich die Nase rümpfend, indem er einen Blick über die Achseln hinter ihr herwarf, „schöne Dame — das war die neue Haushälterin, die hier die Wirthschaft führen soll — eine schöne Wirthschaft, die das werden wird, [S. 267] und ich wenigstens beabsichtige in nächster Zeit mein Bündel zu schnüren. Denke gar nicht daran, jeder Gans allergehorsamsten Diener zu spielen.“
Herr Louis war gereizt, da aber die neue Haushälterin Herrn Müller nicht im Geringsten interessirte, so machte er sich über den Caviar her, bestellte sich eine Flasche Markobrunner und fühlte sich bald so behaglich, wie sich ein Mann unter solchen Umständen nur fühlen kann.
Die neue Wirthschafterin hatte indessen kaum mit dem ihr folgenden Mädchen den Gang erreicht, als sie stehen blieb und sie fragte, ob sie den Herrn kenne, dem sie eben das Gedeck aufgelegt.
„Gewiß“ lautete die Antwort, „er logirt ja seit ein paar Tagen bei uns und hat auf die Madame gewartet, die er wegen irgend etwas sprechen muß.“
„Und die Frau weiß noch nicht, daß er hier ist?“
„Wenn’s ihr Herr Louis nicht heute Abend gesagt hat. Es war ja schon spät, wie sie ankam. Kennen Sie ihn?“
„Ich? — nein“, lautete die ausweichende Antwort, „aber machen Sie nur, daß Sie zur Frau hinaufkommen; sie hat schon zweimal nach Ihnen verlangt.“
Das Mädchen sprang die Treppe hinauf und Therese blieb mit zitternden Knien unten auf der ersten Stufe stehen. Das war ihr Mann gewesen — unter Tausenden hätte sie ihn im Nu herausgekannt, und ein Irrthum blieb unmöglich. Aber was um des Himmelswillen wollte er hier? — weshalb hatte er sie so böswillig verlassen, ja ihr nicht einmal einen einzigen kleinen Brief, nicht ein Wort des Trostes gesandt, daß er noch lebe und daß es ihm gut gehe. Und weshalb war sie jetzt vor ihm geflohen? — wußte sie es doch selber nicht. Im ersten Augenblick hatte sie ihm an die Brust fliegen wollen, aber dann wieder trieb sie eben so rasch ein ganz eigenes scheues Gefühl von ihm zurück. Sie mußte sich ja erst fassen; sie mußte erst überdenken, was sie thun, wie sie handeln sollte. Und wenn sie jetzt zurückkehrte und auf ihn zutrat und sagte: „Ferdinand, wo bist Du so lange geblieben? Was hab’ ich Dir zu Leide gethan, daß Du mich in Kummer und Elend allein gelassen hast?“ — Aber das ging nicht — die vielen fremden Menschen um sie her. Und sollte sie ihn nicht anreden? Das durfte sie ja doch auch nicht, denn war er nicht möglicherweise selbst in diesem Augenblick auf dem Weg, um sie selber aufzusuchen, und freute er sich nicht vielleicht eben so sehr, sie wieder zu haben, wie ihr Herz [S. 269] ihm noch immer entgegenschlug, trotz allem Herzeleid was er ihr angethan?
Aber sie wollte jetzt nicht übereilt handeln. Er wohnte ja hier im Hause, diese Nacht verließ er dasselbe keinesfalls. Er hatte sie ja auch nicht einmal gesehen und konnte keine Ahnung haben, daß sie ihm so nahe wäre — o, wie weh ihr das im Herzen that, daß sie glauben mußte, er könne sie fliehen, wenn er um ihre Anwesenheit wüßte. — So wollte sie denn vor allen Dingen mit ihrer Schwägerin sprechen und diese um Rath fragen; das schien eine verständige, resolute Frau zu sein, und wenn er sie morgen aufsuchte, konnte sie ihm vielleicht am besten ins Herz reden, daß er sein armes Weib nicht gar so elend machte.
Sie war auch in der That nicht im Stande, dies Gefühl noch die ganze Nacht auf dem Herzen zu behalten, ohne sich ausgesprochen zu haben, und ging ohne Weiteres zu der Frau hinauf, um dieser ihre Entdeckung mitzutheilen.
Frau Müller war eben im Begriff, sich niederzulegen, denn sie fühlte sich von der heutigen Reise ermüdet und angegriffen. Nichtsdestoweniger hörte sie mit großer Aufmerksamkeit die Neuigkeit an und schüttelte nur dann und wann mit dem Kopf, denn [S. 270] sie konnte sich nicht denken, was den Mann veranlaßt haben mochte, sich um seine eigene Frau gar nicht mehr zu bekümmern, und hierher zu kommen. Daß sie sich nicht in der Person geirrt haben könne, betheuerte Frau Therese wieder und wieder, wenn sie auch nur einen einzigen Blick auf den Mann geworfen; es war nicht möglich und eben auch nicht wahrscheinlich. Lieschen wurde jetzt nach dem Fremdenbuch geschickt, aber das gab ihnen ebenfalls keinen Aufschluß: „Müller, Particulier, Hamburg, zum Vergnügen.“ Mit solchen Nachrichten beruhigt sich wohl die Polizei die alle „vergnügten“ Menschen als harmlos betrachtet, so lange sie nicht zu vergnügt werden und ihren Mitmenschen die Fenster einwerfen; aber den beiden Frauen konnte dieser Selbstbericht nicht genügen, ja, machte sie eher noch verwirrter. — War der Mann denn wirklich ein Particulier geworden? — Das Contobuch, das sich Madame ebenfalls heraufbringen ließ, bestätigte wenigstens, daß er in ein paar Tagen schon sehr viel Geld verzehrt — aber wo in aller Welt hatte er dann in der kurzen Zeit das Vermögen herbekommen, und weshalb war er nicht schon lange zu seiner Frau zurückgekehrt? — Es half nichts, daß sie sich Beide den Kopf darüber zerbrachen.
„Das Einzige, was wir thun können“, sagte die [S. 271] Frau endlich zu Theresen, „ist, daß wir erst einmal morgen früh hören, was er will. Ich lasse Sie dann wissen, wann er bei mir ist, und Sie bleiben so lange auf Ihrer Stube, bis ich Sie herüber rufe. Bis dahin aber halten Sie sich ihm lieber aus dem Weg und gehen deßhalb heute Abend nicht mehr in das Wirthszimmer hinunter.“ Dabei blieb es.
Herr Particulier Müller hatte indessen sein Abendbrot unten beendet, und wie das mit uns sehr häufig geschieht, daß wir, in welcher Lage wir auch immer uns befinden mögen, eine Art von Genugthuung, ja stiller Heiterkeit über uns kommen fühlen, wenn wir zu irgend einem festen Entschluß in einer wichtigen Angelegenheit gelangt sind, so kam es auch Herrn Müller vor, als ob ein drückendes Gewicht von ihm genommen wäre und er jetzt erst wieder, nach langer Zeit, frei aufathmen dürfe. Er beschloß also diesen „letzten Abend“ im Hotel — denn morgen um diese Zeit war er wer weiß wie weit — auch noch würdig zu feiern, und da ein Glas Wein, oder selbst eine ganze Flasche, bekannter Weise nicht schmeckt, wenn man sie allein trinken soll, so war er genöthigt, aus Mangel weiterer Bekanntschaft den stets bereiten Louis wieder zuzuziehen.
Unter anderen Verhältnissen würde indessen Herr [S. 272] Louis Bedenken getragen haben, dem fremden Gast — wenn er auch mit dem Nimbus eines Particulier umgeben auftrat — auf den schmächtigen Reisesack hin weiteren und gewissermaßen unbegrenzten Credit zu gestatten, denn seine Rechnung war schon ganz bedenklich aufgelaufen. Heute aber, in der gereizten Stimmung, in der er sich befand, und über düsteren, unheilsvollen Zukunftsplänen brütend, schien er nur zu sehr geneigt, kleine Hindernisse als nicht bestehend zu betrachten. Wenn die Welt zu Grunde gegangen wäre, was lag heute Herrn Louis daran, und wie konnte es ihm, von solchen Ideen erfüllt, da auf ein paar Flaschen Wein mehr oder weniger ankommen?
Außerdem war die Frau heute Abend unwohl und keine Gefahr also, daß sie noch einmal herunter kommen könne. So saßen denn die beiden würdigen Leute wieder bis Nachts zwölf Uhr bei ihrem Glas Wein, und da sich der Particulier Müller heute bei sehr guter Laune fühlte und Herr Louis zuletzt davon angesteckt wurde, so erzählten sie sich Anekdoten und lustige Streiche aus ihrem oder anderer Leute Leben, und wurden zuletzt so cordial zusammen, daß der Oberkellner endlich die unausweichlichen Knackmandeln zum Vorschein brachte und der Gast in höchst liebens [S. 273] würdiger Weise nicht eins, nein, einen ganzen Teller voll Vielliebchen mit ihm verzehrte.
Wenn der Particulier Müller aber auch bis tief in die Nacht hinein geschwärmt hatte, so war er doch trotzdem am frühen Morgen wieder auf, denn heute galt es, den entscheidenden Streich zu führen — länger hätte er sich auch überdieß nicht in dem Hotel halten können, und je früher am Morgen er damit begann, desto rascher kam er damit zu Ende. Eine Nacht durfte er keinesfalls noch nachher im Hause bleiben.
Am vorigen Abend schon hatte er sich von seinem Freund, dem Oberkellner, ein Rasirmesser geborgt, und wie es nur eben hell geworden war, um die Operation vorzunehmen, klingelte er um seinen Kaffee und etwas heißes Wasser, verschloß dann seine Thür und stutzte und rasirte sich seinen Bart genau so, wie ihn das Portrait über der Kommode trug. Auch die Haare ordnete er sich in ähnlicher Art, und als er sich nachher im Spiegel mit dem Bild verglich, mußte er sich selber eingestehen, daß die Aehnlichkeit eine [S. 274] vollkommene sei. Er konnte gar nicht verfehlen, den Eindruck zu machen, den er beabsichtigte.
Die einzige Schwierigkeit war jetzt, in das Zimmer seiner Schwägerin zu kommen, ohne dem Oberkellner vorher zu begegnen, denn Müller zweifelte keinen Augenblick daran, daß diesem die Aehnlichkeit mit dem Bilde ebenfalls auffallen müsse. Schlug der aber vor der Zeit Lärm, so war die Sache kein Geheimniß mehr und dann vollkommen werthlos; seiner Schwägerin wäre es nicht mehr eingefallen ihn abzukaufen. Uebrigens hatte er sich schon am vorigen Tag den Gang gemerkt, durch welchen er in das Zimmer der Frau gelangen konnte, ohne vorher die Treppe hinunter und an der andern Seite wieder hinauf zu steigen. Aber vorher mußte er sich melden lassen und dazu blieb ihm keine andere Person erreichbar als der Hausknecht. Nur ob er ihn dazu bewegen konnte, war die Frage, denn bis jetzt hatte er aus dem Burschen noch keine drei Worte herausbekommen. Doch der Versuch mußte gemacht werden.
Die Thurmuhr — eine eigene Uhr besaß Herr Müller schon lange nicht mehr — schlug eben acht, als er diesem würdigen Individuum klingelte. Bald darauf erschien er mit drei oder vier Paar Stiefeln unter den Armen, machte die Thür auf, rief herein: [S. 275] „Komme gleich!“ und verschwand dann wieder, um die betreffenden Fußbekleidungen an ihre entsprechenden Nummern abzuliefern. Nach einiger Zeit aber kehrte er wirklich, mit der Kleiderbürste in der Hand, zurück — denn was Anderes konnte man von ihm verlangen? — blieb in der Thür stehen und sagte, sich überall nach einem auszubürstenden Kleidungsstücke umsehend:
„Na, wo is es?“
„Wo ist was?“ fragte Herr Müller, der sich indessen sein rothseidenes Taschentuch vor das Gesicht hielt, damit der Bursche nicht sein verändertes Aussehen bemerken sollte.
„Nu, der Rock oder die Hose,“ erwiderte der Bursche, „oder soll ich Ihnen vielleicht einen Zahn ausreißen, denn Sie halten ja das Gesicht so fest zu.“
„Bitte, lieber Freund,“ sagte aber Herr Müller, „thun Sie mir doch den Gefallen und gehen Sie einmal hinüber zur Wirthin —“
„Geht mich nichts an,“ brummte aber der Hausknecht, indem er sich wandte, um das Zimmer wieder zu verlassen; „das ist dem Kellner, dem Mosche Luih seine Sache. Wenn ich ihn sehe, will ich ihn heraufschicken.“ Er stand schon wieder auf der Schwelle, [S. 276] aber der Fremde griff in die Westentasche, und das war eine Bewegung, die er nur zu gut kannte und der er noch nie im Leben hatte widerstehen können.
„Lieber Freund,“ wiederholte auch jetzt der Fremde, indem er ihm ein Fünfgroschenstück in die Hand drückte — es war das letzte, das er sein nannte — „hätten Sie wohl die Freundlichkeit, für mich hinüber zu gehen? Ich vertraue Ihnen die Bestellung lieber an.“
„Na, man ist ja kein Unmensch,“ sagte der Hausknecht, indem er das Geldstück besah und in seine eigene Tasche gleiten ließ, „und was soll ich drüben?“
Herr Müller trug schon seit gestern eine Karte bei sich, die er sich ebenfalls von dem Kellner erbeten. Auf dieser hatte er mit Fractur — um seine Handschrift nicht zu verrathen — den Namen „Caspar Müller“ geschrieben und die Karte dann in einem Couvert versiegelt.
„Hier, diese Karte,“ sagte er jetzt, das Papier dem Hausknecht gebend, „tragen Sie gleich zu Ihrer Madame hinüber und sagen Sie ihr, der Herr, dessen Namen da drinnen stände, wünsche sie augenblicklich zu sprechen, da er ihr etwas Wichtiges mitzutheilen habe. Verstanden?“
„Hm,“ sagte der Hausknecht und besah sich den [S. 277] kleinen Brief von allen Seiten, „da steht ja gar nichts oben drauf.“
„Ist auch gar nicht nöthig. Sie wissen ja doch, wem Sie es übergeben sollen.“
„Na, schön,“ erwiderte der Bursche, indem er das Couvert in seine Westentasche zu dem Fünfgroschenstück schob, „werde es nachher besorgen, wenn ich hier mit meiner Seite fertig bin.“
„Wenn Sie nicht gleich hinüber gehen, kann es mir nichts helfen,“ sagte aber Herr Müller ruhig, „dann seien Sie so gut und geben Sie mir den Brief und die fünf Groschen wieder — die mag dann das Hausmädchen verdienen.“
„Ne, das kann ich auch,“ meinte aber der jetzt gefügige Geselle, denn schon eingestecktes Geld wieder herauszugeben, ging doch unmöglich an; „wenn die Geschichte so eilig ist, mag sie ihn gleich haben, und Nummer 28 bis 19 muß eben warten, bis ich wiederkomme,“ und dabei drehte er sich auf dem Absatz herum und ließ Herrn Müller jetzt zwar nicht mit Zahnschmerzen, aber doch in einem Grad von Aufregung zurück, der ihm das Herz wie ein Hammer in der Brust pochen machte und den Angstschweiß auf die Stirn trieb.
Die Würfel waren aber auch jetzt gefallen; der [S. 278] Stein rollte, die Kugel war aus dem Lauf, und keine Macht der Welt konnte sie wieder zurückbringen. Der Name Caspar Müller bereitete die Frau auf Alles vor, was sie zu erwarten hatte, und seine eigene Erscheinung nachher mußte jedem etwa auftauchenden Zweifel ein Ende machen. Keinesfalls wies sie auch das einzige Rettungsmittel von der Hand, das er ihr bot. Was konnte ihr an den paar Hundert Thalern liegen, wo es ja den häuslichen Frieden ihres ganzen Lebens galt. Und doch war ihm nicht recht behaglich dabei zu Muthe, denn er dachte an seine eigene Frau — was diese dazu sagen würde, wenn sie es wüßte, dachte an den Betrug den er spielte, und mochte er ihn auch beschönigen wie er wollte, es blieb doch immer nur ein Raub, den er verübte.
Aber konnte er etwa anders? Zwang ihn denn nicht die baare, blanke Noth zu diesem Schritt, und hätte er nicht etwa gar stehlen müssen, um sich nur am Leben zu erhalten, wenn ihm dieser Versuch fehl schlug? — Stehlen? — Und war das hier etwa besser wie stehlen? einer armen, alleinstehenden Frau, die sich nicht zu rathen und zu helfen wußte, ja seiner eigenen Schwägerin eine Summe Geldes durch eine Lüge abzupressen? Er mochte den Blick nicht zu dem Spiegel aufheben, an dem er vorüberschritt, so schämte [S. 279] er sich vor sich selber, und unruhig horchte er wieder und wieder an der Thür, ob denn die Antwort noch nicht bald käme, daß er endlich von seinen peinlichen Gedanken und Selbstvorwürfen erlöst würde. Und immer wieder horchte er vergebens, denn so vollkommen vorbereitet die Wirthin auch auf den Empfang des Ferdinand Müller gewesen war, so unerwartet traf sie die Meldung des Namens ihres eigenen verstorbenen Mannes, und so bestürzt war sie darüber, daß ihre Bewegung nicht einmal dem sonst fast stumpfsinnigen Hausknecht entgehen konnte.
„Und was für Antwort soll ich auf Nummer 36 bringen?“ fragte dieser endlich, als die Wirthin noch immer wie gebannt auf den verhängnißvollen Namen starrte, „er wartet d’rauf.“
„Ich — ich werde ihn nachher rufen lassen,“ sagte die Frau, sich gewaltsam sammelnd, „aber jetzt — schicken Sie mir einmal gleich die neue Wirthschafterin herauf — hören Sie? Ich ließe sie bitten, den Augenblick zu mir zu kommen, ich hätte ihr — doch schon gut — sagen Sie ihr nur, daß sie augenblicklich kommt.“
Der Hausknecht drehte sich um, diesen neuen Auftrag auszuführen und dann seine übrigen Stiefel fertig zu putzen. Die fünf Groschen hatte er verdient [S. 280] und Nr. 36 jetzt weiter nichts zu thun, als eben zu warten, bis er gerufen würde. Wie blaß aber die Frau geworden war, als sie den Brief gelesen! was da wohl d’rin gestanden haben mochte — gewiß war Jemand gestorben, doch was ging das ihn an; er sollte die Wirthschafterin rufen, und war das geschehen, so hatte er auch mit der ganzen Geschichte nichts weiter zu thun.
Nur wenige Minuten vergingen bis Frau Therese bei ihrer neu entdeckten Schwägerin erschien, und was für wirre, peinigende Gedanken waren dieser indessen durch Herz und Hirn gezuckt und hatten ihr Brust wie Seele eingeschnürt, daß sie kaum athmen konnte. — Wenn sich die Frau nun gestern Abend geirrt — wenn sie, durch die Aehnlichkeit getäuscht, ihren eigenen Mann, den Caspar Müller, den sie die langen, langen Jahre für todt und verloren geglaubt, für den ihrigen gehalten hätte — wenn er jetzt wiederkommen — plötzlich zu ihr in’s Zimmer treten sollte. — Sie konnte den Gedanken nicht gleich fassen, denn zu plötzlich, zu überraschend schnell war das Alles sich gefolgt, und rathlos, die Hände gefaltet, den Kopf gesenkt, ging sie noch mit raschen Schritten in ihrem Zimmer auf und ab, als sich die Thür öffnete und ihre Schwägerin den Raum betrat.
„Sie haben mich zu sprechen gewünscht,“ sagte sie leise und sah sich scheu im Zimmer um, denn sie hoffte halb, halb fürchtete sie, ihren Gatten hier zu treffen, aber die Wirthin schob ihr nur die Karte hin und „Caspar Müller“ las sie verwundert. Sie wußte nicht, was sie daraus machen solle — wie das mit dem was sie erwartete zusammenhing — „Caspar Müller? Wer ist das? War das nicht Ihres Mannes Name?“
„ Meines Mannes,“ bestätigte die Frau, „und diese Karte hat mir der Fremde eben herübergeschickt, den Sie gestern Abend in der Wirthsstube gesehen und für Ihren Mann gehalten haben.“
„Diese Karte? — aber sein Vorname ist Ferdinand.“
„Und wissen Sie bestimmt, daß Sie sich nicht getäuscht? Die beiden Brüder sollen sich immer ähnlich gesehen haben, und nie, nie konnte ich bestimmte Nachricht von dem Tod meines Gatten erhalten. Er war nur verschollen, und wie Andere, die mit ihm todtgesagt gewesen, wieder nach einiger Zeit in Europa und in dem Kreis der Ihrigen erschienen, so kann ja auch er zum Leben zurückgekehrt und mir erhalten sein.“
Therese seufzte tief auf, aber mit dem Kopf schüt [S. 282] telnd, sagte sie leise: „Und wenn es Zwillingsbrüder gewesen wären, ich hätte sie von einander gekannt, wenn ich sie so gesehen, wie gestern Abend meinen Mann. O, Gott wollte ich recht von Herzen und auf meinen Knien danken, wenn Ihnen der Gatte zurückgegeben würde, aber der, den ich gestern Abend gesehen habe, war es nicht.“
„Und sind Sie davon fest und sicher überzeugt?“ fragte die Wirthin.
„Ich wollte den heiligsten und schwersten Eid darauf ablegen, aber“ fuhr sie fort, „wir haben noch ein anderes Mittel, uns zu überzeugen. Dort liegt noch das Fremdenbuch von gestern Abend und meines Mannes Handschrift. Hier —“ und sie nahm ihr Notizbuch aus der Tasche — „ist der letzte Brief, den ich von ihm erhalten habe. Sie selber besitzen doch auch noch jedenfalls die Unterschrift ihres Mannes aus früherer Zeit — vergleichen Sie die drei Proben mit einander, und Sie werden bald selber keinen Zweifel mehr hegen.“
„Sie haben Recht,“ rief die Wittwe rasch, indem sie ein kleines Ebenholzkästchen aufschloß und ein Packet Briefe herausnahm. „Die Unterschrift muß jeden Zweifel lösen, und jetzt werden wir gleich sehen, woran wir sind.“ Sie hatte mit den Worten schon [S. 283] einen Brief herausgenommen und geöffnet, aber die Schrift ihres verstorbenen Mannes hatte auch nicht die entfernteste Aehnlichkeit mit dem in dem Fremdenbuch eingetragenen Namen, während das Wort Müller in jeder Einzelheit mit der Handschrift von Theresens Gatten correspondirte.
„Sie sehen selber, daß ich Recht habe,“ sagte Therese, „es bleibt kein Zweifel mehr, es ist mein Mann; aber dann begreife ich nicht, wie er dazu kam, Ihnen diese Karte zu schicken, die er selber geschrieben haben muß.“
„Ich begreife es aber desto besser,“ sagte die Wittwe, deren Brauen sich finster zusammenzogen, während sie, beide Hände aus den Tisch gestützt, noch immer die Handschriften mit einander verglich, oder wenigstens darauf niederstarrte, „doch davon werden wir uns selber überzeugen, wenn wir den Herrn erst gesprochen haben,“ sagte sie plötzlich, indem sie sich wieder aufrichtete und ihre Briefe verschloß. „Bitte, liebe Therese, nehmen Sie ihren Brief wieder an sich und das Fremdenbuch vor der Hand mit auf Ihr Zimmer, das Sie auch nicht verlassen dürfen, bis ich Sie selber von dorther rufe. Wir wollen so wenig wie möglich fremde Menschen bei der Sache haben.“
„Aber mein Mann —“
„Schicken Sie das Hausmädchen hinüber auf Nummer 36 und lassen Sie den Herrn bitten, sich zu mir zu bemühen. Sagen Sie auch dem Mädchen, daß sie ihn gleich selber zu mir führt; er möchte den Weg nicht wissen, obgleich ich fast vermuthe, er hat sich schon danach umgesehen. Und dem Mädchen tragen Sie dann auf, augenblicklich wieder zu Ihnen zu kommen, damit sie mir hier nicht am Zimmer horcht. Es wäre vielleicht besser, Sie sähen sich selber nach ihr um, denn Sie können ja in Ihrem Zimmer hören, wenn sie dort vorbeigehen.“
„Und wollen Sie ihm sagen, daß ich hier, daß ich bei Ihnen bin?“
„Erst müssen wir vor allen Dingen erfahren, was ihn selber zu mir führt, danach werden wir unsere anderen Maßregeln zu ergreifen haben. Also vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe, und nun fort, denn ich fürchte fast, Herr Müller da drüben, welchen Vornamen er nun auch trägt, wird indessen ungeduldig geworden sein.“
Therese verließ das Zimmer, um die erhaltenen Befehle auszuführen, wenn sie auch noch immer nicht begriff, auf was das Alles hinauslaufen sollte. Weit rascher hatte dagegen die Wirthin des Fremden Ab [S. 285] sicht aufgefaßt, denn von Jugend auf gewohnt, mit einer Menge der verschiedensten Menschen zu verkehren, und diese nicht immer von ihrer Lichtseite kennen zu lernen, war schon lange bei allen zweifelhaften Fällen stets ihr erster Gedanke, daß das Ganze auf eine Gelderpressung hinauslief, und Erfahrung hatte sie gelehrt, wie sie unter zehn Fällen sieben- oder achtmal Recht gehabt. Und doch blieb ihr hierbei räthselhaft und unbegreiflich, auf welche Weise ihr Schwager — und daß er es sei, bezweifelte sie jetzt selber nicht mehr, seitdem sie die Handschriften miteinander verglichen — beabsichtigt habe, seine Rolle durchzuführen. Wenn er sich für ihren verstorbenen Mann ausgab, mußte er doch auch darauf gefaßt sein, dafür zu gelten, und dann jeden Tag fast eine Entdeckung des begangenen Frevels fürchten. — Daß Herr Louis aus ihm selber am besten bekannten Gründen ihr einen zweiten Mann angedichtet hatte, wußte sie ja gar nicht.
Doch Alles mußte sich ja bald zeigen, denn Müller, der indessen drüben auf Nr. 36 wie auf Kohlen gestanden und gewartet hatte, folgte der Einladung augenblicklich — das Mädchen konnte kaum Schritt mit ihm halten, und schon hörte sie ihn draußen auf dem Gang.
„Herein!“ Die Thür öffnete sich und die Wittwe, die völlig darauf gefaßt gewesen war, den beabsichtigten Betrug mit einem Blick zu durchschauen, stieß unwillkürlich einen leisen Schreckensschrei aus, als ihr Gatte — ihr Caspar, wie sie ihn zuletzt gesehen, wie sie ihn immer noch im Gedächtniß trug, auf der Schwelle stand und ihr die Hand entgegen streckte. Aber vorsichtig zog er mit der andern dabei die Thür hinter sich zu, denn das Mädchen brauchte von der Erkennungsscene nichts zu sehen, und mit langsamen Schritten kam er jetzt auf die Frau zu, die sich vor Schreck und Ueberraschung am Tisch festhalten mußte um nicht in die Knie zu sinken.
Herr Müller beging dabei einen Fehler. Er warf einen, wenn auch nur flüchtigen Blick durch das Zimmer, um sich zu überzeugen, ob Niemand Anderes zugegen wäre, aber er fiel damit aus der Rolle, denn den wirklichen Mann hätte in einem solchen Augenblick die Gegenwart von hundert Zeugen nicht gekümmert.
Zu jeder andern Zeit hätte auch die Frau wohl schwerlich diesen Mißgriff übersehen, aber dieser erste Moment der Ueberraschung war zu groß für sie gewesen und wirkte zu bewältigend. Als ob sie eine Erscheinung sähe, starrte sie ihn an, und Müller, dem [S. 287] der gemachte Eindruck nicht entgehen konnte, sah sein Spiel gewonnen. So auf die Frau zugehend und sie in seine Arme nehmend, sagte er leise und zärtlich:
„Josephine — kennst Du mich nicht mehr?“
Die Frau duldete die Umarmung; Wahrheit und Täuschung schien hier so eng verkettet, daß sie sich nicht im Stande fühlte, beide gleich von einander zu trennen. Wie stark auch die feste Ueberzeugung der letzteren gewesen sein mochte, das, was lebend und athmend vor ihr stand, rief mit der Erinnerung vergangener Zeiten Alles wieder wach, was die langen Jahre in ihrem Herzen todt und begraben gelegen, und ihren Kopf auf seine Brust legend, flüsterte sie:
„O, Caspar, Caspar, bist Du es denn wirklich? — ja, Du mußt es sein. Therese hat sich geirrt,“ fuhr sie fast leidenschaftlich fort. „Du heißt nicht Ferdinand, und die schwere, schwere Zeit, die ich durchlebt, ist jetzt vorbei. Jetzt bleibst Du bei mir und verläßt mich nie, nie wieder!“
„Therese — Ferdinand — nie wieder verlassen?“ Herrn Müller überkam bei den Worten ein ganz eigenes, unbehagliches Gefühl, denn während die ersten Namen den unbestimmten Verdacht einer Entdeckung in ihm wach riefen, war dieser leidenschaftliche Jubel, mit dem ihn die Frau umschlang, nicht die Empfin [S. 288] dung gewesen, auf die er seine ganze Hoffnung gesetzt. Die Frau mußte in dem ersten Glück des Wiedersehens ganz vergessen haben, daß sie schon wieder verheirathet sei. Auf diese Wendung gar nicht vorbereitet, wußte er auch in der That nicht gleich, wie er sich dabei benehmen sollte, und erwiderte nur, in aller Verlegenheit, desto feuriger die Umarmung.
„Und wo, um Gotteswillen, bist Du so lange gewesen?“ fuhr die Frau endlich fort, indem sie sich fast gewaltsam von ihm losmachte, und ihn auf Armeslänge von sich haltend, aufmerksam betrachtete, „wo warst Du, daß nicht eine Zeile von Dir mich erreichen und aufrichten konnte?“
„Ach, mein Herz,“ sagte Herr Müller, für diese Frage völlig gerüstet, „in jener Schreckensnacht, als ich auf einem Stück Holz im Meere schwamm, fischte mich ein Wallfischfänger auf und nahm mich mit auf seiner Tour in die Südsee. Die erste Nacht war ich bewußtlos, und später konnte er mich des schlechten Wetters wegen nicht mehr aussetzen. Oben im Eismeer aber froren wir ein — o, ich habe schreckliche Zeiten mit durchgemacht, und als wir endlich loskamen und ich ein anderes Schiff fand, das mich heimführen sollte, scheiterten wir zum zweiten Mal an der russischen Küste — und wie schwer es ist, von dort [S. 289] wegzukommen — glaubt gar Niemand — der nicht selber dort gewesen.“
Die Frau hatte ihn, während er sprach, fest und aufmerksam betrachtet, und so sicher er sich in seinem eigenen Zimmer gefühlt, als er sich dieses Zusammentreffen ausmalte, so unsicher machte ihn jetzt das auf ihm haftende Auge. Er brachte die letzten Worte nur langsam heraus. — Weshalb sah ihn aber auch die Frau nur so stier an. Diese hörte aber kaum, was er sprach, denn jetzt, in ruhiger Beobachtung, begann der Zauber zu weichen, der sie zuerst befangen gehalten.
Wie sie den Mann hatte in ihre Stube treten sehen und in der ganzen Gestalt, in den Zügen, ja selbst in seinen Bewegungen das getreue Abbild ihres Gatten erkannte, da allerdings überwältigte sie ihr Gefühl, und der erste unwillkürliche Eindruck war, daß der Todte wirklich zum Leben erstanden sei. Jetzt aber, während vielleicht unbewußt der fremde Klang der Stimme das Seinige dazu beitrug und ihr Auge unmittelbar an den Zügen dessen haftete, der hier als ihr Gatte auftrat, kehrte zuerst der Gedanke an einen möglichen Betrug zurück, wurde das Mißtrauen geweckt, und eine Menge Kleinigkeiten mußten es bestätigen.
Das vor ihr waren die Züge des Gatten, aber sie waren es auch wieder nicht; die blauen Augen desselben hatte er, ja, aber dennoch lag etwas in deren Ausdruck, das sie früher nie gekannt und das ihr fremd blieb. Auch um die Nase lag ein fremder Zug, und die Narbe, — wo war die kleine aber tiefe Narbe geblieben, die er sich einst bei einem Sturz, gerade über dem rechten Auge geholt? Jetzt blieb kein Zweifel mehr, alles Andere konnte sich verändert haben, aber die Narbe nicht, und der vor ihr Stehende war ein Betrüger.
Mit dem Bewußtsein gewann aber auch die überdies resolute Frau ihre ganze Ruhe wieder, und so rasch ihr die Gedanken durch das Gehirn zuckten, hielt sie den einen doch fest, daß sie erst die Absicht des Betrügers erforschen wollte, ehe sie ihn entlarvte.
Herr Müller hörte indessen kaum selber was er sprach, denn die beiden Worte: Therese und Ferdinand schallten ihm noch in den Ohren und erfüllten ihn mit einem ganz eigenen Unbehagen. Therese — Ferdinand, wie um Gotteswillen kam die Frau gerade in diesem Augenblick auf die beiden Namen; aber was konnte sie auch von ihm wissen? Nichts auf der Welt! Darin fühlte er sich vollkommen sicher, und [S. 291] jetzt nur, um einer Scene ein Ende zu machen, die er, wie er fast fürchtete, nicht lange würde durchführen können, setzte er leise und wie vorwurfsvoll hinzu:
„Aber wär’ ich doch nur dort geblieben — wär’ ich dort nur umgekommen, — daß ich Dich so wiederfinden mußte.“
„So?“ wiederholte die Frau, die nicht gleich begriff, was er damit meinte; „so wiederfinden?“
„Ach, daß Du wieder heirathen mußtest!“ seufzte der Mann und barg sein Gesicht in der linken Hand.
„Und was soll jetzt werden?“ fragte die Frau, die in diesem Augenblick vollkommen gut begriff, auf was Alles hinauslief.
„Ich weiß es nicht,“ stöhnte Herr Müller wie verzweiflungsvoll, indem er den Arm wieder sinken ließ, und ein Bild tiefer Trauer vor der Wittwe stand, „soviel ist gewiß, ich muß fort — ich darf Deine Ruhe, Deinen Frieden nicht stören. Ich will wieder hinüber über den Ocean, und nie mehr dürfen sich unsere Wege kreuzen —“
„Du wolltest wieder fort?“
„Ich muß,“ lautete die resignirte Antwort, „wenn ich nur nicht meine letzten Mittel erschöpft hätte, um hierher zu kommen.“
Die Frau senkte den Kopf, daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte, denn ein leises Lächeln zuckte darüber hin. Jetzt war sie vollkommen sicher, auf was das Ganze hinauslief, und nur das Eine konnte sie sich noch nicht erklären, aus welchem Grunde sie ihr liederlicher Schwager wieder für verheirathet hielt, und wer ihm das gesagt haben konnte. Doch das blieb sich jetzt gleich, und wie sie sich erst wieder auf sicherem Grund und Boden und die erste Schwäche vollständig überwunden fühlte, war ihr weiterer Plan auch rasch gefaßt.
„Aber Caspar,“ sagte sie, den Kopf wieder zu ihm hebend, „Deine Mittel hast Du erschöpft, um nur hierher zu kommen, und jetzt wolltest Du wieder fort? — wolltest mich zum zweiten Mal verlassen? — weshalb? Die lange schwere Zeit der Trennung liegt hinter uns, und nichts, nichts im Leben soll uns wieder trennen.“
Herr Müller sah sie etwas überrascht an. „Aber Dein zweiter Mann!“ sagte er endlich zögernd.
„Mein zweiter Mann?“ rief die Wittwe. „Glaubst Du, daß ich Dich je so weit vergessen habe, wieder an eine zweite Heirath zu denken? O, wie wenig hast Du mich da gekannt.“
„Du — bist nicht wieder verheirathet?“ sagte [S. 293] Herr Müller, und in der Frage lag in der That weit weniger Entzücken, wie diese Entdeckung eigentlich hätte erregen sollen.
„Nein, Caspar, sicher nicht — o, wie konntest Du das glauben. Nein, wahrlich nicht auf’s Neue verheirathet, aber glücklich — ja selig, Dich nach so langer Zeit wieder zu haben. Ich wollte auch schon unsere Wirthschaft ganz aufgeben,“ fuhr sie, seinen Arm erfassend, fort, „ich hatte keine Lust, keine Liebe mehr zu dem Geschäft, und da ich mich in der That zu schwach fühlte, dem weiten Anwesen vorzustehen, so ließ ich mir Deines Bruders Frau, Therese, von Breslau herüberkommen, um mich darin zu unterstützen. Dein armer Bruder ist ja auch schon weit über ein Jahr verschollen, und die unglückliche Frau wandte sich in ihrem größten Elend an mich um Rath und Hülfe.“
„Und Therese ist hier?“ sagte Herr Müller, und es war ihm in dem Augenblick, als ob ihm der Boden unter den Füßen weggezogen würde.
„Sie ist nebenan in ihrem Zimmer,“ setzte die Frau rasch hinzu, und hätte sie noch den geringsten Zweifel gehabt, daß der vor ihr Stehende nicht ihr Mann, sondern ihr Schwager sei, so würde ihn der Schreck, der augenscheinlich in den Zügen des Ertapp [S. 294] ten lag, vollständig gehoben haben; „laß mich sie rufen, daß sie sich mit mir freut.“
„Nicht jetzt — nicht jetzt, beste — Josephine“, wehrte aber Herr Müller ab, indem er ihren Arm ergriff und festhielt, „diese erste Stunde unseres Wiedersehns müssen wir auch allein — unter uns feiern. Ich — ich — bin zu glücklich, zu selig —“
„Nein, nein,“ rief aber die Wittwe, sich von ihm losmachend, „die arme, unglückliche Frau hat gestern den ganzen Tag geweint, und ich will heute nur glückliche Menschen um mich sehen. Sie wird sich mit uns freuen und dadurch glücklich sein. Warte nur einen Augenblick, ich bin gleich wieder bei Dir,“ und trotzdem, daß Herr Müller noch einen Versuch machte, sie mit Bitten zurückzuhalten, sprang sie aus dem Zimmer und ließ den armen Teufel, ein wahres Bild des Jammers und der Verzweiflung, zurück.
Was nun? — er hatte noch nie in seinem Leben so schnell herüber und hinüber gedacht. Die Rückkunft der beiden Frauen erwarten und dann vor beiden wie ein ertappter Verbrecher stehen? — unmöglich! Aber fort? — wohin? und seine Frau hier? — Jetzt war Alles verloren — und dieser verfluchte Oberkellner, der ihn durch seine schändlichen Lügen allein zu diesem Schritt verleitet, war an Allem [S. 295] schuld. Aber kam er auch glücklich aus dem Hause, was dann? — überall starrte ihm Elend und Verzweiflung entgegen — aber immer noch lieber Elend und Verzweiflung getragen, ehe er in diesem Augenblick seiner Frau begegnete. Er war ein leichtsinniger Mensch, aber nicht schlecht, und so viel Ehrgefühl ihm immer noch geblieben, daß er die Schande brennend fühlte, die er sich selber angethan, wenn er jetzt vor seiner Frau und Schwägerin als ertappter Betrüger stand. Also fort — gleichviel wohin, und wenn er sich in irgend einer fremden Stadt als Tagelöhner verdingen, wenn er sein Brot vor den Thüren erbetteln sollte, wo ihn die Welt nicht kannte — nur jetzt, jetzt fort aus diesem Haus.
Mit raschen, geräuschlosen Schritten eilte er nach der Thür, die ein kleines ovales Fenster, innen mit einem leichten Vorhang bedeckt, trug. Durch dieses konnte er vorher einen Blick auf den Gang werfen, ob die Luft rein sei, erschreckt aber fuhr er zurück, denn draußen, nicht drei Schritt von der Thür entfernt, stand Herr Louis. Hatte den die Frau dort hingestellt, um ihn zu bewachen?
Das war allerdings nicht der Fall, und Herr Louis in Wirklichkeit ebenso erschreckt gewesen den [S. 296] Vorhang zurückgehen zu sehen, wie er selber, denn jenes würdige Individuum hatte einen freien Augenblick unten einmal benutzt, um zu versuchen, ob er nicht erhorchen könne, was hier oben vorginge, da ihm kein Mensch ein Wort davon sagte. Im ersten Moment glaubte er auch wirklich, es sei die Frau selber, die ihn beim Spioniren ertappt, und seine erste unwillkürliche Bewegung drängte ihn von der Thür hinweg. Als sich aber der Vorhang hob, hatte sein scharfes Auge doch den Particulier Müller erkannt, und wie dieser ebenso rasch verschwand, als er erschienen war, ging es ihm auf einmal wie ein Licht auf, daß sich der Fremde nur da drinnen versteckt habe, um ihm seine Vielliebchen abzugewinnen. Mit einem Satz war er wieder an der Thür, um womöglich durch den dünnen Vorhang oder das Schlüsselloch zu erkennen, was Jener da drinnen treibe, als er auf sehr unerwartete und plötzliche Weise gestört wurde. An der anderen Seite des Ganges öffnete sich nämlich eine Thür, und der entsetzte Oberkellner sah sich plötzlich der Frau gegenüber, die ihn rasch ärgerlich fragte:
„Nun? was haben Sie da an meiner Thür zu horchen, Mosje? Hab’ ich Sie endlich einmal dabei erwischt? Solche Leute kann ich nicht in meinem Dienst brauchen. Sie verstehen doch, was ich damit [S. 297] sagen will, und am Ersten dürfen Sie sich nach einer anderen Stellung umsehen.“
„Bitte tausendmal um Entschuldigung, Madame“, stotterte der verdutzte Bursche, indem er seine Serviette zu einem Strick zusammendrehte, „ich suchte Herrn — Herrn Particulier Müller, mit dem ich —“
„Schon gut, ich will nichts weiter hören. Bringen Sie jetzt rasch einmal eine Flasche Sodawasser herauf — aber beeilen Sie sich!“
Der Oberkellner fuhr die Treppe hinunter, als ob er elektrisirt worden wäre, und die Wittwe, sich jetzt zu der dicht hinter ihr folgenden Schwägerin wendend, sagte freundlich:
„Fassen Sie sich nur, liebe Therese — ein Glas Sodawasser wird Ihnen wohl thun, und mir zu Liebe stellen Sie sich nur im ersten Augenblick, als ob Sie Ihren Mann nicht kennen. Ich möchte doch gern noch sehen, wie er sich dabei benehmen wird. Nur Muth — er darf keine Schwäche an Ihnen merken,“ und dabei ergriff sie die Thür und öffnete dieselbe.
Herr Müller indessen hatte, ehe er einen festen Entschluß fassen konnte, die Stimme der Frau schon wieder draußen auf dem Gang gehört und dort hinaus konnte er nicht mehr entkommen. Einen verzweifelten Blick warf er durch das Fenster, aber ein Sprung von [S. 298] zwei Etagen Tiefe war unausführbar; er hätte rettungslos das Genick gebrochen, und nur als letzte Zuflucht zeigte sich ihm eine andere Thür — das Schlafzimmer der Wittwe. Aber es schien, als ob heute die Hölle alle ihre Diener gegen ihn ausgesandt, daß er rettungslos zu Grunde gehen solle, denn die Thür war verschlossen, und schon hörte er die Stimme der Frau vor dem Zimmer.
Dicht neben der Kammerthür war ein Gestell angebracht, an dem Kleider hingen, und um den Staub von ihnen abzuhalten, ein kattuner Vorhang darüber befestigt. Wenn er darunter fuhr? Sie hätten ihn gewiß nicht im Zimmer gesucht, sondern geglaubt, daß er es schon verlassen habe, und suchten sie ihn unten oder auf Nr. 36, so behielt er auch sicher Zeit, ungesehen zu entkommen. Diese Gedanken fuhren ihm aber nur so blitzesschnell durch’s Hirn, denn wie eine bedrohte Maus in das erste beste Loch hineinfährt, nur um vor der Hand einmal aus Sicht zu kommen, so schlüpfte er in dem einen Gefühl, nur um dem Blick seiner schwer gekränkten Frau zu entgehen, unter den Vorhang und rührte und regte sich dort nicht, damit ihn das Rauschen desselben nicht verrathen möge.
Im nächsten Moment öffnete sich die Thür und [S. 299] Madame blieb etwas überrascht auf der Schwelle stehen, als sie ihren angeblichen Mann nirgends mehr im Zimmer erblickte.
„Fort?“ sagte sie, indem sie staunend umher sah, „ohne Abschied, und das Fenster offen? Der Unglückliche wird doch um des Himmelswillen nicht den rasenden Sprung gewagt haben?“
Sie flog auf das Fenster zu und sah hinaus, während Therese in Todesangst und mit gefalteten Händen auf der Schwelle stehen blieb.
„O Du großer, allmächtiger Gott,“ stöhnte die arme Frau, „wenn ihn die Furcht vor mir in den Tod getrieben hätte, ich könnte ja mein ganzes Leben lang nicht wieder froh werden!“
„Hier ist er nicht hinunter,“ versicherte aber die Wittwe vollkommen beruhigt, als sie einen Blick hinab geworfen. „Er wird den Augenblick benutzt haben, als ich das Zimmer verließ, und hoffentlich ist er noch im Hause, denn das war meine Absicht nicht.“
„Und wenn er nun durch jene Thür geflüchtet wäre,“ sagte Therese, die einen Blick im Zimmer umhergeworfen.
„Durch jene? Die ist verschlossen,“ erwiderte die Frau und ging hinüber, um die Thür zu versuchen. Ihr Kleid streifte den Versteckten, während sie davor [S. 300] stand. „Nein, noch kann er aber das Haus nicht verlassen haben. — Lieschen! Louis!“ rief sie dann, rasch zur Thür tretend, so laut sie rufen konnte, und zog dabei aus Leibeskräften an der Klingel.
Herr Louis — in dem drückenden Gefühl, bei einer entwürdigenden Handlung erwischt zu sein, kam mit einer Flasche Sodawasser in der einen und zwei Gläsern in der anderen Hand wie ein Pfeil die Treppe heraufgeschossen, und die Hausmagd, die eben nebenan die Zimmer reinigte, erschien ebenfalls mit ganz verdutztem Gesicht in der Thür, während Lieschen von dem anderen Gang herbeistürzte.
„Hat Niemand von Euch den Fremden von Nr. 36 gesehen?“
„Er war hier im Zimmer, als Sie vor der Thür standen,“ rief der Oberkellner und nahm dabei eine Stellung an, als ob er eben im Begriff sei, einen körperlichen Eid darauf abzulegen.
„Aber er kann doch nicht durch die Luft davongeflogen sein. Lieschen spring einmal nach Nummer 36 hinüber — er darf nicht fort, ehe ich mit ihm gesprochen habe. Katharine, Du gehst an die Hausthür, und ruf den Hausknecht, wenn er mit Gewalt hinaus will.“
„Ob ich mir nicht gedacht habe, daß er durch [S. 301] brennen würde,“ brummte Herr Louis vor sich hin, während er Flasche und Gläser auf den Tisch setzte; dabei aber fiel sein Blick zufällig auf den Vorhang, der eine, wenn auch nur ganz unbedeutende Bewegung machte, und unten daran erkannte er eine Fußbekleidung, die keinenfalls ein Eigenthum der Wirthin sein konnte.
„Wenn der Stiefel nicht auf Nr. 36 gehört,“ betheuerte sich Herr Louis im Stillen, „so will ich mein Leben lang Wasser trinken.“
„Nun, was stehen Sie da wieder in Gedanken,“ rief ihn die Frau ungeduldig an, „machen Sie, daß Sie mit hinunter kommen und den Fremden finden.“
„Hat ihn schon!“ rief er, indem er ein paar Schritte zur Seite trat und den Vorhang halb lüftete. „Guten Morgen, Vielliebchen!“ rief er aber schon im nächsten Augenblick, als er nun die gestreiften Hosen unter dem Kattun entdeckte. Die nächsten Frauenröcke dabei zurückschlagend, blickte er aber, auf’s Aeußerste erstaunt, in ein vollkommen fremdes, unbekanntes Gesicht, denn seitdem er sich rasirt, hatte er den Particulier Müller ja gar nicht wieder gesehen, während dieser den Burschen hätte erwürgen können. Der Frau aber, die das Ganze rasch übersah, lag gar nichts daran, daß Herr Louis Zeuge irgend einer [S. 302] Familienscene sein sollte; so, während Herr Müller verlegen aus seinem Versteck vortrat, denn was half seit seiner Entdeckung ein längeres Verbergen, sagte sie ruhig:
„Herr Louis —“
„Madame befehlen?“
„Ist das der Herr von Nummer 36?“
„Bitte tausendmal um Entschuldigung —“ stotterte der Oberkellner, „jedenfalls hat er die Hosen von Nummer 36 an, aber — aber im Gesicht sieht er ganz anders aus.“
„Gut, dann gehen Sie hinunter in die Wirthsstube und verlassen Sie dieselbe nicht wieder, bis ich selber hinabkomme. Wir werden den Herrn hier selber examiniren. Den Hausknecht schicken Sie auf den Gang herauf; er soll dort warten, bis ich ihm weitere Befehle gebe, da es sein könnte, daß er gebraucht wird.“
„Zu Befehl, Madame,“ sagte der Oberkellner, aber immer noch, ohne sich von der Stelle zu regen, und mit einem halb zweifelhaften, halb unentschlossenen Blick auf Nr. 36.
„Nun, worauf warten Sie noch?“
Der Oberkellner machte eine halbe Schwenkung. Es blieb ihm hier gar zu viel noch räthselhaft, und [S. 303] besonders hätte er gern gewußt, ob er sein Vielliebchen gewonnen oder nicht, denn das abrasirte Gesicht des Gastes kannte er in der That nicht wieder. Dem so direct gegebenen Befehl mußte er aber auch gehorchen, und kaum hatte er das Zimmer verlassen, als Madame Müller hinter ihm den Riegel vorschob.
„Herr Ferdinand Müller,“ sagte sie dabei, indem sie sich ruhig, wenn auch ernst, an den Ertappten wandte, denn alles weitere Zurückhalten war jetzt unnöthig, „Sie sind mein Gefangener, und ich lasse Ihnen vor der Hand diese Ihnen bekannte Dame als Kerkermeisterin. So weit ich vermuthen darf, hat sie jedenfalls das erste Anrecht, Ihre Erklärungen entgegen zu nehmen. In einer halben Stunde werde ich dann zurück sein, um zu hören, was Sie mir selber zu sagen haben, denn Sie müssen es begreiflich finden, daß ich eine etwas nähere Auseinandersetzung der mir zugedachten Ueberraschung erwarten darf.“
„Verehrte Frau —“ stammelte Herr Müller, der sich in diesem Augenblick wohl klaftertief unter die Erde wünschte.
„Es ist schon gut — vorher wünschte ich, daß Sie sich genauer auf Ihren Vornamen besinnen, um jedes weitere Mißverständniß zu vermeiden, es ist das wesentlich nothwendig; nachher wird unsere Ausein [S. 304] andersetzung auch so viel leichter werden.“ Und ohne weiter eine Antwort abzuwarten, schloß sie ihr Schlafzimmer auf, trat hinein und drückte die Thür wieder hinter sich in’s Schloß.
Therese war indessen an der einen Seite der Stube auf einen Stuhl gesunken, während ihr Mann noch auf der anderen zerknirscht und in einander gebrochen stand. Keines sprach ein Wort, während aber Müller’s Blick nur dann und wann scheu und furchtsam zu der schwer gekränkten Frau aufzuckte, hing dieser Blick voll und traurig an der halbabgewandten Gestalt des Gatten, und die großen hellen Thränen tropften ihr dabei schwer und langsam in den Schooß. Da hielt sich Müller nicht länger. Kein Wort des Vorwurfs war über ihre Lippen gekommen, aber ihr bleiches, schmerzdurchfurchtes Antlitz sprach viel deutlicher, als je Worte es hätten ausdrücken können, das Leid, das sie ertragen, und auf sie zugehend, warf er sich vor ihr auf die Knie, schlang seine Arme um ihre Hüften und weinte wie ein Kind.
Herr Louis hätte draußen gern noch eine kleine Weile an der Thür gehorcht, denn ganz unerklärlich blieb ihm einestheils das Betragen der Frau, daß sie ihm, ihm den Dienst kündigen konnte, und dann kam ihm auch jetzt auf einmal das Gesicht des Fremden so [S. 305] merkwürdig bekannt vor. Wo in aller Welt war er dem schon einmal früher begegnet? Die Physiognomie desselben beschäftigte ihn auch in der That so ausschließlich, daß er hinab in die Wirthsstube ging und dort ganz in Gedanken eine halbe Flasche Wein hinunterstürzte und nachher, sich fortwährend mit dem linken Zeigefinger die Stirn reibend, wieder die Treppe und nach Nr. 36 hinaufstieg. Er wollte dort weiter nichts, als zusehen, ob der Fremde wieder auf seinem Zimmer sei oder — ob wenigstens sein Reisesack noch dort stände.
Diesen fand er allerdings, und zwar fertig gepackt, als aber sein Blick noch im Zimmer umherschweifte, um vielleicht etwas zu entdecken, was ihm vielleicht nur die leiseste Andeutung über den immer räthselhafter werdenden Menschen geben konnte, fiel sein Blick zufällig auf das Bild über der Kommode, und mit einem einzigen Satz war er mitten in der Stube und vor dem Portrait.
„Herr Du meine Güte!“ rief er aber hier, wie vor den Kopf geschlagen, aus, „wo ich denn nur meine Augen — wo ich denn nur meinen Verstand gehabt habe, daß mir das nicht gleich auf den ersten Blick eingefallen ist. Der Mann! der Mann! heilig und wahrhaftig wie er leibt und lebt! Aber weshalb er [S. 306] sich da versteckt hat? — sicher nur, um mir auszuweichen und das Vielliebchen nicht zu verlieren. Ja,“ setzte Herr Louis mit einem triumphirenden Lächeln hinzu, „daß ihm das nichts half, hätte ich ihm vorhersagen wollen, denn der müßte verwünscht früh aufstehen, der mich in einem —“
„Guten Morgen, Vielliebchen!“ sagte in diesem Augenblick eine Stimme dicht hinter ihm, und eine leichte Hand berührte seine Schulter. „Das war gewonnen, und jetzt möchten Sie einmal hinunter kommen; da ist ein Herr unten, der eine Flasche Wein verlangt. — Herr Louis entschuldigen, daß ich so frei war.“
Herr Louis fuhr, wie von einer Tarantel gestochen, herum, und sah in das spöttisch und lachend zu ihm aufgehobene Gesicht des Stubenmädchens, die ihm jetzt einen tiefen Knix machte. Das hatte ihm noch zu all’ dem Herzeleid dieses Morgens gefehlt.
„Fräulein Lieschen,“ sagte er, indem er sich entrüstet gegen sie wandte, „in einem solchen Moment ist es keine Kunst —“
„Was, Herr Louis?“
Herr Louis hielt es für gerathener, das Stubenmädchen nicht in sein Geheimniß einzuweihen, wandte sich deshalb ab und stieg, von dem hellen Lachen des [S. 307] Mädchens verfolgt, gravitätisch die Treppe hinab, um dem Gast dort die verlangte Flasche Wein zu besorgen.
Die Wittwe Müller blieb nicht lange in ihrer Kammer, denn sie hatte nur das erste Wiedersehn der Beiden nicht stören wollen; als sie die Thür aber wieder leise öffnete, lag der Reuige noch immer vor seiner Frau auf den Knien, und ohne daß er gewagt hätte, sein Auge zu ihr zu erheben, klagte er sich selber an. Er schilderte ihr aber auch dabei, wie er Alles, Alles versucht habe, auf ehrliche Weise sein Brot zu finden, und wie ihm Alles wieder und wieder mißglückt und fehlgeschlagen sei, bis er endlich, bis zum Aeußersten getrieben, so schwer gesündigt habe, die eigene Schwägerin hintergehen zu wollen. Ohne ein Wort zu verschweigen, beschrieb er dabei sein erstes Zusammentreffen mit dem Kellner und dessen Lüge, und wie er darauf seinen Plan gebaut, ein paar hundert Thaler für sich zu gewinnen und damit zu ihr zurückzukehren, um mit dem kleinen Capital ein neues Leben beginnen zu können. Wie tief er die Schmach jetzt empfinde, könne er ihr nicht sagen, wie schwer er [S. 308] das Geschehene bereue — aber es sei zu spät, und er müßte jetzt wieder hinaus in die Welt — wohin, bliebe sich gleich, um durch harte Arbeit und ehrliches Ringen seine Schuld zu sühnen und ihr zu beweisen, daß er doch nicht ganz verdorben sei.
Die Frau hörte ihm zu, das sorgenschwere Haupt gebeugt, und ihre Thränen fielen schnell und schwer auf den Scheitel des Knienden.
„Und ist das Ihr Ernst?“ fragte da die Wittwe, die ungehört bis hinter den Stuhl Therese’s getreten war, „wollen Sie wirklich an Ihrer armen Frau das wieder gut machen, was Sie gesündigt haben? — Gut — gut — ich glaube Ihnen,“ fuhr sie fort, als der arme Teufel seine Stirn nur fester gegen die Knie der Gattin preßte, „aber fort dürfen wir Sie nicht mehr lassen, denn wo Sie bis jetzt auf sich selber angewiesen blieben, sind Ihre Erfolge eben nicht übergroß gewesen. So mag denn jetzt Therese sehen, was sie mit Ihnen ausrichten kann.“
„Aber wie soll das geschehen?“ fragte diese traurig und kopfschüttelnd.
„Um meines armen Caspar Willen, dem Sie im Aeußeren so ähnlich sind,“ sagte da leise die Frau, „will ich selber den Versuch machen — will ich selber [S. 309] Ihnen die Gelegenheit bieten, ein ordentlicher und wieder selbstständiger Mann zu werden.“
Müller sah scheu und überrascht zu ihr auf.
„Und Sie wollen mir das Geschehene verzeihen?“
„Ich will Ihnen glauben, daß Sie nur Ihrer armen Frau wegen jenes Unrecht versuchten, wenn Sie mir auch eine schwere Stunde damit bereitet haben. Aber hören Sie mich an. Ich habe schon lange die Absicht gehabt, mich von der Wirthschaft, der eine einzelne Frau nicht gut vorstehen kann, zurückzuziehen, und dieselbe zu verpachten. Ich werde Euch Beiden den Pacht übergeben, über den wir uns später dann vereinigen können. Sind Sie das zufrieden?“
Es bedarf keiner Worte weiter, das Glück der beiden Menschen zu schildern. Müller freilich war tief beschämt über so viel Liebe und Güte, denn er fühlte recht gut, wie wenig er das Alles verdient und wie unwürdig jedes Vertrauens er sich eigentlich gemacht hatte; aber von Herzen gut, und mit dem festen Vorsatz, ein anderer, besserer Mensch zu werden, fühlte er auch die Kraft in sich, den Platz auszufüllen, auf den er jetzt gestellt wurde, und die Zukunft zeigte, daß die Wittwe ihr gutes Werk nie zu bereuen hatte.
Am meisten überrascht war allerdings Herr Louis über die Wendung, die das Ganze genommen, und [S. 310] deren Ursache er sich noch immer nicht erklären konnte, und er baute auch jetzt neue Hoffnungen darauf, daß ihn sein „alter Freund“ nicht im Stich lassen würde. Herr Müller hatte aber schon zu viel von der Thätigkeit des Burschen als Oberkellner gesehen, und war überhaupt gewillt, keine Leute zu zahlen, deren Dienst er selber versehen konnte. So blieb die Entlassung des Oberkellners bestätigt, und dieser verließ am Ersten des nächsten Monats — sein Herz mit Bitterkeit gegen die Undankbarkeit des Menschengeschlechts im Allgemeinen und Herrn Müller’s im Besonderen gefüllt — das Haus.
„Hotel Müller“ aber schien unter der neuen Herrschaft nicht schlechter zu fahren. Müller selber war Tag und Nacht auf dem Posten, und ein so aufmerksamer Wirth, wie sich nur wünschen ließ. Ja, als er zehn Jahre den mäßigen Pacht gezahlt, war er sogar im Stande, das ganze Anwesen seiner Schwägerin abzukaufen, und wenn auch jetzt in seiner eigenen Stube das Bild des Bruders hing, daß es ihn immer an jenen Fehltritt mahnen sollte, brauchte er es doch nicht mehr, um ihn vor einem Rückfall zu bewahren.
Im Jahre 49, nach dem ersten Anprall der Goldsucher in Californien, lag der Hafen von San Francisco — so groß und geräumig er ist — fast gefüllt von leeren und selbst ihrer Mannschaft entblößten Schiffen, und Fahrzeuge wären zu dem billigsten Preis zu bekommen gewesen, wenn sie nur irgend jemand hätte gebrauchen können. Wie sie aber — wenn wirklich gekauft — fort bekommen? Denn Seeleute forderten einen gar nicht zu bezahlenden Preis für die kleinste Fahrt, weil den Leuten noch überall der erst später gehobene Goldschwindel in den Köpfen stak. Nicht allein die Matrosen waren von sehr vielen Schiffen fort und in die Minen gelaufen, nein, von manchen sogar Steuermann wie Kapitän, und die Fahrzeuge ritten dann einfach vor ihrem Anker, bis es einem oder dem anderen beliebigen Herumtreiber [S. 312] einfiel, sich in Besitz zu setzen, und angeblich das Fahrzeug vor dem „ a drift “ gehen zu bewahren.
So lag auch die l’Abeille , ein hübsches französisches Schiff, in der Bai, auf der sich ganz gemüthlich zwei amerikanische Rowdies niedergelassen und später, als der Kapitän endlich zurückkehrte, eine enorme Forderung für „Tagesgelder“ an ihn stellten, weil sie behaupteten, das Schiff wäre verloren gewesen, wenn sie nicht mit Aufopferung all ihrer Zeit und Kräfte einen Nothanker ausgeworfen und das schon treibende Fahrzeug aufgehalten hätten. — Was konnte er machen? — Er mußte zahlen, wenn er sein Schiff wieder haben wollte, denn ein Prozeß gegen zwei Amerikaner hätte ihm zu jener Zeit mehr gekostet, als die ganze Brigg werth war — und dann noch vielleicht ohne Resultat.
So lag auch ein deutsches Fahrzeug in der Bai, die Gesine Mengsen, ein großes Barkschiff, das Bauholz gebracht und seine Ladung nur hatte um die Fracht verkaufen müssen. Diesem waren ebenfalls sämmtliche Leute davongelaufen, bis selbst auf den Steward, Koch und zweiten Steuermann, und nur der erste Steuermann und Kapitän an Bord geblieben. Aber auch diese weniger aus Gewissenhaftigkeit, als weil sie nichts mehr haßten, als Bergeklettern und [S. 313] Hacken und Graben, und an den Goldschwindel vielleicht nicht einmal recht glaubten. Außerdem war dem Kapitän eine ganz außerordentlich reiche Fracht nach den Sandwichs-Inseln versprochen, wenn er nur halbwege Mannschaft auftreiben konnte, und er gab sich dazu in der That die größte Mühe — wenn auch viele Wochen lang vergeblich.
Indessen hielten er und der Steuermann abwechselnd die Wacht über Nacht an Bord, denn einer von ihnen blieb immer an Land bei Bekannten. Verlassen durften sie das Schiff aber nicht, da sie recht gut wußten, wie viel Gesindel sich am Land und auch in der Bai herumtrieb, und nur auf eine Gelegenheit wartete, um Beute zu machen. Denen wäre das noch reichlich mit Provisionen und Getränken gefüllte Fahrzeug ein fetter und willkommener Bissen gewesen. Wer von ihnen deßhalb auch zurückblieb, hatte seinen Revolver scharf geladen im Gürtel stecken und schlief an Deck, um augenblicklich bei der Hand zu sein, sobald ihn das geringste Geräusch störte. War es des Kapitäns Abend, so fühlte sich dieser auch vollkommen beruhigt, daß ihm nichts passirte, denn er wußte mit Feuerwaffen vortrefflich umzugehen und schlief auch außerdem sehr leicht. Nicht so sicher hielt er aber das Fahrzeug unter der Obhut des Steuermanns, der [S. 314] allerdings ebenfalls einen Revolver trug, aber von Schießgewehren eigentlich nicht viel wissen wollte und sich deßhalb auch noch eine alte Wallfischlanze verschafft hatte, die er, der größeren Sicherheit wegen, Abends neben seine Matratze legte.
Der Kapitän ermahnte ihn allerdings öfters seinen Revolver nachzusehen, und er mußte ihn auch ein paarmal in seiner Gegenwart abschießen und frisch laden, aber er traute ihm deßhalb doch nicht, denn der Steuermann nahm immer die Zündhütchen herunter, weil er fürchtete, daß ihm das „Blitzding“ einmal von selber losgehen könne. Heute fuhr übrigens der Kapitän wieder an Land, und zwar waren ihm von einem Handlungshaus drei Matrosen versprochen worden, die er mitnehmen konnte, wenn er ihnen nämlich Beköstigung garantirte, bis er seine volle oder wenigstens nöthige Mannschaft beisammen hatte. Das machte ihm aber wenig Sorge; denn bekam er nur die drei gewiß, und dann noch zwei dazu, so getraute er sich schon mit denen nach den Sandwichs-Inseln, wo es nachher indianische Matrosen in Menge gab, hinüber zu fahren.
Er verließ sein Schiff auch heute etwas früher als gewöhnlich und schärfte dem Obersteuermann, ehe er in seine Jolle stieg, noch einmal ausdrücklich [S. 315] ein: ja recht Acht zu haben und besonders seinen Revolver nicht unten in der Coye zu lassen. Es waren gerade wieder am gestrigen Abend zwei Mordthaten in San Francisco verübt worden, und das Volk sprach schon davon, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen, da sich die Gerichte viel zu schwach und machtlos erwiesen.
Der Steuermann nickte seine volle Zustimmung zu allem, was sein Kapitän sagte, dachte aber bei sich: „mach Du nur, daß Du von Bord kommst, nachher werde ich das Andere schon allein besorgen.“ Er konnte nämlich die Zeit nicht erwarten, wo er ganz ungestört heiß Wasser ansetzen und einen famosen Grog für sich brauen durfte, denn der Kapitän lebte entsetzlich mäßig und haßte alle starken Getränke dermaßen, daß er sogar Abends nicht einmal mehr als eine Tasse schwachen Thee trank. Sein Steuermann bekannte sich aber zu der entgegengesetzten Lehre.
Jetzt war der Kapitän fort, und Bohmeier, wie der Steuermann hieß, lehnte noch eine Weile an der Schanzkleidung und sah ihm nach, bis er zwischen den anderen Fahrzeugen mit seinem kleinen Boot verschwunden war; dann drehte er sich um, rieb sich vergnügt die Hände und schritt nun auch ohne weiteres zur Cambüse hinüber, um sich dort Feuer und heiß [S. 316] Wasser zu machen. Weßhalb hätten sie auch hier an Bord nicht gut leben wollen? denn erhielten sie beide, er und der Kapitän, nicht durch ihr alleiniges Dableiben den Rhedern daheim das ganze Schiff und retteten ihnen so ein sehr bedeutendes Kapital? — Nachher kam es auf ein paar Flaschen Rum und Cognac auch nicht an, und die Güte konnte er sich besonders thun, da der Kapitän — wunderlicher Heiliger — nicht einmal trank.
Darin hatte Bohmeier auch in der That vollkommen Recht. Die Rheder würden ihnen die paar Flaschen wahrlich nicht mißgönnt haben, noch dazu, da er selber zwar sehr viel, aber doch nie zu viel trank und seiner Pflicht stets genügen konnte. Der Steuermann machte sich deßhalb auch keine Gewissensscrupel, und wie er seinen Grog fertig hatte, nahm er sich einen tüchtigen Blechtopf voll davon mit auf’s Quarterdeck, wo er sich ganz behaglich einen Stuhl und Tisch hingerückt hatte, und trank und betrachtete sich dabei die wundervolle Bai und die wunderliche Zeltstadt, die dicht an deren Ufer wie aus dem Boden herausschoß und täglich neue Keime trieb.
Es war auch in der That ein reizendes Bild, und etwas Friedlicheres, als diese Scenerie, und etwas Wilderes, Ungeordneteres, als die ganze Staffage [S. 317] dazu, hätte man sich kaum denken können. Vor ihm lag die lange, etwas kahl aussehende Hügelkette der Küstenberge, auf denen der dort oben fast ununterbrochen wehende Wind eine eigentliche Vegetation nicht aufkommen ließ; links aber, wo sich die Bai zu schließen schien, und nur ein schmaler Arm dort einbog, der hinauf nach den Mündungen des Sacramento und San Joaquin führte, waren die Gebirge mit hochstämmigen Bäumen bedeckt. Besonders im Rücken, wenn er den Kopf danach wandte, konnte er mächtige Cedern auf dem höchsten Kamm erkennen, während sich rechts von ihm, mit wirklich pittoresken Conturen, die Berge gegen die Ausfahrt des Hafens, des golden gate , zusammen schlossen.
Und wie belebt sah die prachtvolle Bai selber aus, und doch wie ungleich einem anderen Hafen. Da lagen hunderte von Schiffen jeder Art, vom kleinen Schooner bis zum vollen Schiff, und unaufhörlich noch kamen Segel ein — aber fast keines verließ den Hafen wieder, und wie mit Zauberbanden schienen die weiten Berge all die zahllosen abgetakelten und meist verlassenen Seeboote zu umfangen — es war der Zauber des Goldes .
Dort lag ein Schiff — eine Brigg, schmutzig von außen und beinahe farblos, wie nach langer [S. 318] stürmischer Fahrt, mit seinen Segeln noch an den Raaen fest, eines aber, das große Bramsegel, hatte sich gelöst; an der Backbordseite flatterte und schlug es in der frischen Brise, und der Mann an Deck, der dort die Wacht hatte — vielleicht der einzige an Bord — warf wohl manchmal den Blick hinauf, denn das ewige Flappen mochte ihn geniren, war aber jedenfalls zu faul, um hinaufzusteigen und es abzuändern. — Gleich daneben lag ein ganz keck aussehender, schwarz gemalter Schooner, aber mit vollkommen kahlen Masten, an dem nur noch die nothwendigsten Wanten und Stage stehen geblieben waren, um die Masten zu halten; sonst hatte man ihn rein und sauber ausgeplündert.
Links davon ankerte der Rumpf eines alten Schiffes — ob es die Masten in einem Sturm verloren, ob man sie hier abgehackt und vielleicht zu Feuerholz verwandt, wer wußte es, wer kümmerte sich darum! Jetzt wurde es von einem der Geschäftshäuser zu einem Lagerschiff benützt, und an Deck hatte man eine Art von Haus gebaut, was ihm ein wunderliches Ansehen gab. Dort drüben lag eine schmucke Hamburger Bark, daneben ein Chilene, da ein Fahrzeug von den Sandwichs-Inseln, dort ein Ostindienfahrer, mit Engländern, Franzosen, Italienern, Spaniern, Mexikanern dazwischen. Aber alle Schiffe [S. 319] sahen todt und verlassen aus, die eben einkommenden ausgenommen, und das einzige Leben in diese Gruppe von „Leichen“ brachten eine Menge kleine Boote, die dazwischen herumfuhren und herüber und hinüber kreuzten.
Bohmeier sah dem Treiben in aller Gemüthlichkeit zu und trank dabei seinen Grog und rauchte eine Cigarre nach der anderen, bis es endlich zu dämmern anfing und der hier sehr starke Nachtthau naß auf Deck hernieder fiel. Dann ging er vor allen Dingen wieder in die Cambüse, um erst noch einmal ein paar Stücke Kohlen nachzulegen und etwas mehr heißes Wasser zu bekommen, und machte sich nachher sein gewöhnliches Lager auf Deck zurecht. Er spannte zu dem Zweck eines der kleinen Segel schräg auf, daß er bequem und geschützt darunter liegen konnte, zog sich dann seine Matratze und Bettzeug herauf und ging nun erst an die Bereitung seines Abendbrods, die aber nur geringe Zeit in Anspruch nahm. „Wo ein Brauhaus steht, kann kein Backhaus stehen,“ ist ein altes Sprichwort. Bohmeier trank viel und aß dafür wenig.
Es war spät geworden — in der Stadt konnte er allerdings noch an vielen Orten Licht erkennen, aber die Bai lag still und öde und nichts Lebendes zeigte sich mehr darauf. Nur dann und wann konnte er, [S. 320] nach der oder jener Richtung hin, den Anruf von einem oder dem anderen Schiff hören und oft sogar das Anscheuern des Bootes an den Rumpf desselben unterscheiden. Auf einem der heute eingelaufenen Fahrzeuge wurden sogar noch die „Glasen“ angeschlagen, was man auf den anderen längst unterlassen — es klang ordentlich heimisch.
Der frische Grog, den sich der Steuermann gebraut, schmeckte ganz ausgezeichnet, war nur ein klein wenig zu stark geworden — aber besser zu stark, als zu schwach. Sagte doch schon jener nordamerikanische Indianer: „Zu viel Whiskey ist gerade genug.“ Bohmeier dachte ebenso, und da er genau wußte, wie viel er ungestraft vertragen konnte, machte er sich auch keine Sorgen darüber. Er verzehrte sein frugales Abendbrod, stellte dann sein letztes Glas Grog neben seine Matratze als „Schlaftrunk“, wie er es immer nannte, und zündete die Wachtlampe an, die jeden Abend an der Nagelbank vor dem großen Mast aufgehangen wurde, da man nie wußte, wie rasch man einmal Licht gebrauchte; jedenfalls war es eine ihm vom Kapitän besonders eingeschärfte Maßregel. Seine Harpune lehnte rechts daneben, daß er sie leicht im Griff hatte, und das Futteral mit dem Revolver lag ebenfalls schon auf seiner Matratze — er brauchte [S. 321] nur die Schnalle der Deckklappe zu öffnen und hatte ihn dann im Griff — wenn er ihn eben haben wollte.
Uebrigens fürchtete er für sich nicht die geringste Gefahr. Es waren allerdings schon einige Ueberfälle und Beraubungen von Schiffen vorgekommen — man erzählte sich wenigstens davon — aber vor längerer Zeit, nicht in den letzten Monaten, und dann wäre es auch keinem so leicht geworden, ohne Geräusch an dem ziemlich hohen Schiff hinauf zu klettern; dem Kapitän, wenn der Morgens zurückkehrte, mußte er ja so immer die Fallreepstreppe niederlassen. Bohmeier dachte auch an nichts Derartiges, streckte sich behaglich auf seiner Matratze aus und rauchte und trank, bis er zuletzt müde wurde, den Cigarrenstummel weg und über Bord schleuderte — er hörte ihn ordentlich zischen, als er auf’s Wasser traf — und sich dann ruhig auf die Seite legte. — Lieber Gott, wenn ein Mensch den ganzen Tag nichts zu thun hat, verlangt er doch auch Nachts seine Ruhe.
Es dauerte in der That gar nicht lange, so nahm ihn Morpheus — nach dem poetischen Sprachgebrauch — in die Arme, und wie lange er so geschlafen hatte, wußte er eigentlich nicht. Plötzlich war es ihm, als ob er seinen Namen rufen höre — einmal, zweimal, dreimal — und wieder und wieder. Er glaubte dabei, [S. 322] er träume, schien sich aber auch wieder seines Schlafes bewußt und brauchte in der That eine geraume Zeit, um sich selber munter zu bekommen. Endlich hatte er diese Art von Betäubung, die auch vielleicht von dem Grog herrührend auf ihm lag, abgeschüttelt und richtete sich rasch, ja fast erschreckt, empor. — Er horchte. Drüben auf dem heute eingekommenen Bremer Schiff schlugen sie vier Glasen — war das erst zehn Uhr Abends oder zwei Uhr Morgens? Ehe er aber nur ausgezählt und sich selber Rechenschaft über eine mögliche Zeitbestimmung geben konnte, traf ein anderes Geräusch sein Ohr, das ihn bestürzt zusammenfahren machte.
Unten, an seinem Schiff scheuerte ein Boot — er fühlte es mehr, als er es hörte, denn es ist ganz eigenthümlich, wie deutlich das fest ineinander gefügte Holz eines Schiffes die leiseste Berührung desselben von einem fremden Gegenstand fortpflanzt. Wenn nur der Kiel auf irgend einer Untiefe leise den Sand scheuert, zittert es, von den Zehen herauf, durch den ganzen Körper, bis in die Fingerspitzen hinein, wie mit einem elektrischen Schlag, und das Anstoßen eines Bootes, selbst vorn am Bug, hört man sogar bei verschlossenen Thüren bis in die Kajüte hinein — oder fühlt es vielmehr. Das mußte es auch sein, was [S. 323] den Steuermann aus seinem bärenfesten Schlaf geweckt hatte, denn auf weiter erinnerte er sich nichts, und wie er jetzt aufhorchte, hörte er deutlich draußen am Schiff ein Geräusch, als ob jemand versuche daran empor zu klettern.
„Wart’ Canaille,“ brummte aber der Seemann, wie er sich dessen nur klar bewußt war, „dir will ich den Kitzel vertreiben!“ Und rasch nach seinem Revolver tappend, griff er das Futteral, hob sich geräuschlos von seinem Lager und glitt zu der Schanzkleidung. Er behielt aber nicht einmal Zeit, erst hinüber zu sehen, wer und was ihn bedrohe. Kaum stand er davor, so hob sich schon ein Kopf darüber hin, und Bohmeier — nur in dem einen Gefühl sein Leben gegen eine Bande von Strauchdieben zu vertheidigen, hob seinen Revolver dicht vor die Stirn des Fremden und — drückte ab. —
Der Kapitän war indessen an jenem Abend ruhig an’s Land und zu seiner gewöhnlichen Gesellschaft gefahren, wo sie dann die halbe Nacht bei einer gemüthlichen Partie Whist verbrachten. Heute aber sollte er keine Zeit dazu bekommen, denn er fand den bei seiner Fracht bedeutend interessirten Kaufmann, der ihn schon mit Ungeduld erwartete, weil er noch ein paar aus den Minen zurückgekehrte Matrosen aufgefunden, die wahrscheinlich bewogen werden [S. 324] konnten, die Reise mit ihm zu machen. Freilich durften sie dann nicht langen Raum zum Ueberlegen behalten, und je rascher der Handel mit ihnen abgeschlossen wurde, desto besser. Beide gingen auch augenblicklich daran, um sie aufzusuchen, fanden das aber nicht so leicht, als sie anfangs gedacht, denn es gab schon damals in San Francisco eine Menge von Plätzen, wo sich die Leute Abends amüsiren konnten. Endlich — es war fast um zwölf Uhr — trafen sie mit ihnen in einem der Spielzelte, im Eldorado, zusammen und gingen nun in ein französisches Weinhaus, um dort das Nähere zu besprechen.
Die Bedingungen, die der Kapitän stellte, waren übrigens so verlockend — das Leben in Californien hatten sie auch auf eine Weile satt, — daß sie endlich darauf eingingen und sich bereit erklärten, morgen früh um zehn Uhr mit ihren Kisten an Bord zu sein, und während der Kaufmann versprach, alles Nöthige in der Stadt zu besorgen, daß sie bestimmt schon morgen oder vielmehr heute ihre Fracht bekämen, war es nöthig, daß der Kapitän selber augenblicklich an Bord seines eigenen Fahrzeugs zurückkehrte, um dort mit seinem Steuermann alles zu besprechen. Mit Tagesgrauen wollte er dann wieder zurück an Land sein. Lieber Gott, er wäre die ganze Nacht hin und [S. 325] her gelaufen, nur um hier fort aus dem verwünschten Land zu kommen, das er herzlich satt hatte. Jetzt war aber die Aussicht dazu vorhanden, und er zögerte denn auch keinen Moment, um wenigstens alles zu thun, was in seinen Kräften stand, das Auslaufen zu beschleunigen.
Rasch hatte er unten am Werft sein Boot gefunden, das dort an doppelter Kette angeschlossen lag; das Ruder brachte er schon von oben mit herab, wo er es bei einem Bekannten eingestellt, und stieß nun vom Land der Richtung zu, in welcher sein Fahrzeug, die „Gesine Mengsen“ lag.
Es gehörte allerdings eine Geschicklichkeit dazu, sich in dem Gewirr von Fahrzeugen, noch dazu „bei Nacht und Nebel“, zurecht zu finden. Der Seemann hatte den Weg aber schon so oft gemacht, daß er nicht einen Augenblick im Zweifel blieb, und seinen Cours so genau hielt, als ob er nach dem Compaß steuere. So wand er sich zwischen den verschiedenen, dort ruhig vor Anker liegenden Fahrzeugen durch, bis er seine Bark da draußen, etwas weiter ab, erkennen konnte, und wrickte sein kleines Boot dann scharf drauf zu. Er hatte sie auch bald erreicht — das gewöhnliche Wachtlicht brannte oben, aber sein Steuermann, der ihm erst die Fallreppstreppe herunter lassen mußte, [S. 326] schlief wahrscheinlich noch und er hielt also etwa zehn oder zwölf Schritt vor dem Schiff und rief dasselbe an. — Keine Antwort erfolgte. — Er rief jetzt den Steuermann bei Namen, laut und immer lauter — alles umsonst, das Fahrzeug schien wie ausgestorben und nichts an Bord regte oder rührte sich. — Was zum Henker, war denn da vorgegangen? — Den Kapitän überkam ein ganz unheimliches Gefühl — sollte es wirklich der sich in San Francisco herumtreibenden Bande gelungen sein, den Steuermann im Schlaf zu überraschen und — „Bohmeier!“ schrie er noch einmal, so laut er konnte, „oh Bohmeier!“ — Es war alles umsonst, er erhielt keine Antwort, und wenn sich der unglückliche Mensch noch an Bord befand, so lag er wahrscheinlich erschlagen an Deck in seinem eigenen Blut.
Dem Kapitän wurde es zuletzt unheimlich, und er beschloß endlich selber nachzusehen, wie es da oben stand. Er mußte Gewißheit haben. Ohne länger zu zögern, fuhr er auch jetzt an die Bark hinan, an welcher er, wenn er sich hoch aufrichtete, eben die Klappen der Puttingbolzen erreichen konnte, hob sich daran etwas in die Höhe, schob seine Wurfleine durch die Rüsteisen, um das Boot erst fest zu machen, und schwang sich dann selber dort hinauf. Es hatte aller [S. 327] dings einige Schwierigkeit, aber es ging doch, und wie er nur erst seinen Fuß auf die Leiste des Schandecks brachte, richtete er sich auch empor und hob jetzt seinen Kopf über die Schanzkleidung, von wo er das Deck überblicken konnte.
In demselben Moment und ehe er nur im Stand war, einen Ruf auszustoßen, tauchte eine dunkle Gestalt dicht vor ihm empor, die er aber recht gut erkannte — es war sein eigener Steuermann Bohmeier, aber zugleich sah er auch in die Mündung von dessen Revolver und — klipp! klipp! klipp! schlug dreimal rasch nacheinander der gegen ihn abgedrückte Hahn der Waffe matt und erfolglos auf die Pistons nieder. —
„Ihr habt wieder einmal keine Zündhütchen aufgesetzt, Bohmeier,“ sagte der Kapitän mit der größten Seelenruhe, indem er noch in seiner Stellung blieb.
„Herr du meine Güte, der Kaptain!“ schrie aber Bohmeier entsetzt auf, indem ihm der Revolver vor Schreck aus der Hand fiel, „da hätte ich ja beinah —.“
„Euren eigenen Kapitän todtgeschossen — ja wohl,“ ergänzte dieser, indem er jetzt über die Reling hinüber auf Deck sprang; „aber ohne Zündhütchen geht’s eben nicht.“ —
„Ja aber Kaptain, um Gottes Willen, wo kommen Sie mitten in der Nacht und so heimlich her?“ —
„Heimlich? Ich habe Euren Namen so lange und so laut über die Bai gebrüllt, daß ihn das Echo jetzt jedenfalls auswendig kann — Ihr seid aber doch furchtbar nachlässig, Bohmeier.“ —
„Aber, bester Kaptain, es ist ja doch ein Heidenglück, daß ich heute die verdammten Zündhütchen vergessen hatte —.“
„Na, ich bin auch nicht böse drüber, Bohmeier,“ meinte der Kapitän, „denn sonst läg ich jetzt unten in acht Faden Wasser mit zerschossenem Brägen — aber dumm war’s immer.“
Damit war übrigens die Sache vollkommen abgemacht und es wurde nicht weiter darüber gesprochen. Die beiden Seeleute hatten jetzt auch genug zu thun, um ihre nöthigen Vorbereitungen zu treffen. Der Kapitän fuhr dann wieder an Land, und schon um zehn Uhr kam ein Theil der Leute an Bord. Ein Koch wurde ebenfalls aufgetrieben, ein Chinese; Stewarddienste mußte einer der Leute auf der kurzen Fahrt versehen, und wenige Tage später lichtete die Gesine Mengsen richtig ihre Anker und segelte, aus dem golden gate hinaus, in den weiten blauen stillen Ocean hinein.
Ende des zweiten Bandes.