Title : Die Weiber am Brunnen: Roman
Author : Knut Hamsun
Translator : Pauline Klaiber
Release date : July 7, 2019 [eBook #59870]
Language : German
Credits
: Produced by Peter Becker and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Die Weiber am Brunnen
Ein Verzeichnis
der Werke Knut Hamsuns
findet sich am Schluß
dieses Buches
Roman
von
Knut Hamsun
Einzige berechtigte Übersetzung
aus dem Norwegischen
von
Pauline Klaiber-Gottschau
11. bis 15. Tausend
Albert Langen, München
1922
Copyright 1921 by Albert Langen, Munich
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, auch für Rußland,
vorbehalten
Knut Hamsun Albert Langen
Großstadtmenschen haben kein Verständnis für die Maße und Größenverhältnisse der Kleinstadt. Sie meinen, sie dürften nur daherkommen, sich auf den Marktplatz aufstellen und sich überlegen lächelnd umschauen, dürften sich über die Häuser und das Straßenpflaster lustig machen, ja, das denken sie oftmals. Aber können sich nicht die älteren Leute in der Kleinstadt noch an die Zeit erinnern, wo die Häuser noch kleiner und das Pflaster noch schlechter gewesen waren? Sie haben es erlebt, daß der Ort vorwärtskam. Und jedenfalls hat Johnsen am Landungsplatz ein mächtiges Haus bekommen, ein geradezu herrschaftliches Haus; es hat eine Veranda unten und einen Altan darüber und Schnitzwerk das ganze Dach entlang. Viele andere kostspielige Gebäude sind auch entstanden: die Schule, der Speicher am Landungsplatz, verschiedene Kaufmannshäuser, das Zollhaus, die Sparkasse, nein, man braucht nicht über die Kleinstadt zu lächeln. Es ist sogar eine Art Vorstadt da: auf den Felsenhügeln nach der Werft zu wohnen wohl etliche zwanzig Familien; die hübschen kleinen Häuser sind je nach dem Geschmack des Besitzers rot oder weiß angestrichen. Und im übrigen fehlt es auch für Großstädte nicht an Zeiten des Auf- und Niedergangs, das ist ganz gewiß; aber hatte man je gehört, daß Johnsen am Landungsplatz einmal mit leeren Händen dagestanden und sich nicht zu helfen gewußt hätte?
So haben also auch die kleinen Städte ihre Größen, ihre festgegründeten Häuser mit vornehmen Söhnen und Töchtern, ihre Unveränderlichkeit und ihr Ansehen. Und die Kleinstadt ist von ihren Großen hingenommen und verfolgt alles mit reger Teilnahme; die guten Kleinstädter sorgen eigentlich gerade dadurch für das eigene Wohl und Wehe ihres Lebens, sie leben im Schutze der Macht und [S. 6] gedeihen dabei. Und so soll es auch sein. Die Leute entsinnen sich des Tages, wo Johnsen am Landungsplatz Konsul wurde; da gab es Getränke und Kuchen für jeden, der in seinen Laden kam, und verschiedene hatten auch gar keine Scham im Leibe und ließen zweimal ihre Gläser füllen.
An jenem Morgen war der Fischer Jörgen genau wie jetzt auch draußen auf See und holte Fische zu einem großen Gastmahl. Es war ein glänzender, festlicher Tag; der neue Konsul war noch so jung, daß er die Arme weit ausbreitete, außerdem war er so natürlich und so leutselig, daß er Wein, Weiber und Gesang liebte, die ganze Stadt war bei ihm eingeladen. Jawohl, und alles ging ausgezeichnet. Das Ganze wurde in der Zeitung besprochen; auch daran erinnern sich die Leute heute noch, und die Weiber redeten sogar am Brunnen miteinander darüber. Manchmal keiften sie um ganze Kleinigkeiten. Lydia konnte sagen: „Sollte ich das nicht wissen, wo ich doch den ganzen Tag in der Küche dabei gewesen bin!” — Die andere Frau aber bleibt bei ihrer Behauptung: „Du kannst ja hingehen und Johnsen selbst fragen!” — „Das hab' ich für mein Teil gar nicht nötig,” versetzt eine dritte, „denn ich hab' die Zeitung aufgehoben.”
Aber seit jenem großen Tage sind nun wohl sechs bis acht Jahre vergangen.
Und ebensogut wie die Weiber konnte sich auch noch der Schmied Carlsen an jenen Tag erinnern. Er war ein sehr geachteter Mann, ja sogar Witwer mit erwachsenen Kindern, also kein junger Wildfang — nein, er stand in aller Stille in seiner Schmiede und dankte Gott für diesen Festtag ebenso wie für alle andern Tage, die er erleben durfte. So war er, ein frommer Mann war er. Er merkte wohl auf und dachte bei jedem großen, freudigen Ereignis im Ort, daß nun er und alle andern Menschen Gott dafür danken müßten. Viel Worte machte er nicht darüber, und die Leute hätten wohl auch nicht viel auf seine Worte gegeben, aber sie schätzten und achteten ihn. Die Menschen waren zwar zäh und undankbar wie sonst auch, aber der Schmied Carlsen war jedenfalls eine Merkwürdigkeit im Städtchen.
Es gab da auch viele andere Gestalten und Persönlich [S. 7] keiten: Olaus am Wiesenrain, den Fischer Jörgen, den Schreiner Mattis, den Doktor, den Postmeister, o, es waren gar viele. Der Zahn der Zeit nagt nicht an allen in gleichem Maße, manche sind unveränderlich, sie reden und reden gar viel. Auch der Postmeister ist in seiner Art ein frommer Mann, er und der Schmied Carlsen also sind fromm; aber sonst ist die ganze Stadt weltlich gesinnt und wenig tief angelegt. Es ist, als gebe es gar keinen Pfarrer in der Gemeinde; er tauft, konfirmiert, kopuliert und begräbt zwar die Leute, sonst aber haben sie keine Verwendung für ihn, und es wird nicht von ihm gesprochen.
O, der kleine Ameisenhaufen! Alle Menschen sind von ihrem Eigenen hingenommen, sie begegnen einander auf den Wegen, einer pufft den andern auf die Seite, manchmal schreiten sie übereinander weg. Es geht gar nicht anders, manchmal schreiten sie übereinander weg. —
Jetzt ist der Fischer Jörgen draußen auf See und fängt Fische zu einem großen Gastmahl, genau wie vor sechs bis acht Jahren. Obgleich es Sonntagmorgen ist, sitzt er noch in seinem Boot und möchte so gerne eine ordentliche Menge Fische mit heimnehmen. Drüben am Lande wird es nun allmählich lebendig. Die Morgenbrise setzt ein, Jörgens Boot treibt ab, er muß ordentlich rückwärts rudern, um sich nach den Seezeichen am Ufer richten zu können. Ach was, nun gibt er es auf, er hat seit zwei Uhr draußen gesessen!
Im Ort ist noch niemand auf. Jörgen zieht die Fische auf eine Schnur und trägt sie so durch die Straßen. Er stapft in schweren Stiefeln einher, und im ganzen genommen ist er ein schwerfälliger Mann in einem isländischen Wams und den Südwester auf dem Kopf; sonst aber ist er nicht von hohem Wuchs, eher mager und dazu etwas kurz im unteren Körper. Aber Jörgen ist zäh und ausdauernd, niemals bettlägerig, niemals niedergedrückt; eine Erkältung kuriert er dadurch, daß er sich nicht um sie kümmert.
Er geht nach dem großen Hause von C. A. Johnsen, hängt das Fischbündel da an die Küchentür und stapft nach Hause.
Ja, jetzt raucht es aus seinem Schornstein, Lydia ist also auf; sie hat wohl auf sein Boot acht gegeben und [S. 8] den Kaffee zu rechter Zeit aufgesetzt. Lydia ist seine Frau, sie hat dunkles, lockiges Haar und ist zwar von zorniger Gemütsart, aber außerordentlich tüchtig, eine Frau für sein Haus.
Jörgen stapft hinein. „Nicht so laut!” flüstert Lydia grimmig und sieht mit allen Zeichen des Schreckens nach den Kindern hin, einem Jungen und zwei Mädchen, die sich im Schlafe bewegen. Jörgen zieht Stiefel und Wams aus, trinkt Kaffee, ißt auch dazu, geht dann in die Kammer, um zu schlafen. „Laß die Tür nicht krachen!” zischt Lydia zwischen den Zähnen hervor.
Aber jetzt muß natürlich das älteste von den kleinen Mädchen erwachen und sich aufrichten. Das ist das Gewöhnliche. Und dann wacht auch das andere Mädel auf, das daneben liegt. Die Mutter wird wütend, sie reißt die Kammertür auf und schreit dem Manne nach:
„So, jetzt hast du mir alle miteinander aufgeweckt!” Und sie schrie so lange, bis auch der Junge aufwachte.
Jähzornig war Lydia, aber ihr Zorn war immer schnell wieder verraucht; während die Kinder sich ein wenig unterhielten, räumte sie im Zimmer auf und fing gleich an, ein Liedchen vor sich hinzusummen. Dann öffnete sie die Kammertür äußerst vorsichtig und fragte:
„So, du hast nicht geschlafen? Was ich hab' sagen wollen, du hast doch wohl genügend Fische gefangen? Hast du gehört, was für eine Gesellschaft es sein wird?”
„Nein, sie waren noch nicht auf.”
„Ja, jetzt schweig nur und schlaf' dich aus,” sagt Lydia und macht die Tür wieder zu. Und dann schalt sie die Kinder mit lauter Stimme ordentlich aus, damit sie sich ruhig verhalten sollten.
Sie räumt auf und trällert dazu, sie überlegt, die Gesellschaft ist ihr sehr wichtig. In früheren Jahren, da wurden bei Johnsens am Landungsplatz auch schon Gesellschaften gegeben; man bereitete sich tagelang darauf vor und mußte Hilfe in der Küche haben. Auch Lydia wurde herbeigeholt; diesmal hatte sie keine Aufforderung bekommen, aber vielleicht war es keine große Gesellschaft; wahrscheinlich wollte nur der Sohn, Scheldrup Johnsen, ein paar Altersgenossen bei sich sehen.
Etwas später am Vormittag, als die Leute allmählich [S. 9] unterwegs waren, hieß es, C. A. Johnsens Schiff werde an diesem Tag in See stechen. Da grübelte Lydia nicht mehr; es würde also ein donnerndes Fest für den Kapitän und die Honoratioren der Stadt sein, aber sie wollten in der Küche ohne sie fertig werden. Gut Glück auf die Reise! Sie zog die Kinder hübsch an, wusch ihnen die Flecken heraus, rieb die Schuhe mit Fett und Ruß ein und legte auch für sich ein anständiges Kleid bereit.
Am Nachmittag war eine richtige Wallfahrt nach dem Bollwerk. Man war schon mitten im Frühling, und die Leute trugen demgemäß helle, leichte Kleider; das war ein hübscher Anblick. Der Dampfer Fia hatte geladen und war zur Abfahrt bereit.
Dieses Schiff war nicht mehr neu, es war zu der Zeit gebaut worden, wo ein vernünftiges Frachtboot ein paar hundert Tausend kosten konnte, aber nicht mehr; jetzt hatte es Johnsen am Landungsplatz in Göteborg gekauft. Er hatte es aufputzen lassen und dann nach seinem Töchterchen „Fia” umgetauft. Was das gekostet haben mochte, ein solches Schiff zu kaufen, es herrichten zu lassen und es ganz neu zu machen! Es wurde erzählt, das Umtaufen allein habe einen Haufen Geld gekostet. Aber was war ein Haufen Geld für Johnsen am Landungsplatz! Und jetzt lag die Fia als der einzige Dampfer der Stadt und als ein wahres Wunder drunten am Bollwerk.
Natürlich war die kleine Fia in dem Augenblick, wo ihr Schiff abfahren sollte, selbst an Bord, und sie saß mit ihren Eltern und dem Kapitän in der Kajüte. Und natürlich kam auch ihr Bruder, der junge Scheldrup, an Bord. Er war schon groß und fast erwachsen, in einem hellen Anzug mit einem schwarzen Samtkragen auf der Joppe, was eben Mode war. Ein flotter Bursche, der Sohn des Hauses Johnsen, braunäugig wie der Vater, mit einem leichten Bartflaum auf den Wangen! Die Hüte wurden vor ihm gelüftet, und er grüßte wieder, fast den ganzen Weg nach der Kajüte ging er auf diese Weise barhäuptig.
Das Schiff hatte Dampf auf und stieß Rauch aus. Auf Deck war alles ruhig, der Steuermann und die Mannschaft standen an der Reling, spuckten ins Wasser und schwatzten ein wenig mit den Bekannten am Land. Oliver Andersen wußte, wo sein Platz war, und hielt sich [S. 10] ganz vorne; er war mehrere Jahre lang mit einem Segelschiff gefahren und war Matrose, ein gewöhnlicher blauäugiger Sohn aus dem Volke, aber dazu ein Waghals und Kraftmensch, der Sohn einer Witwe. Er war unter Mittelgröße, aber fest und gut gebaut, hatte früher mit den Bildern von Napoleon Ähnlichkeit gehabt, jetzt aber trug er einen Vollbart und war etwas für sich. Gerade in jenem Jahr hatte er die Möglichkeit gesehen, sein Häuschen mit roten Ziegeln zu decken und es durch einen Ausbau am Giebel zu erweitern. Er dachte wohl an die Zukunft.
„Ja ja,” sagt er zu seiner Mutter, der Witfrau, die mit den Händen unter dem Umschlagetuch am Bollwerk steht. „Ja ja, dann schreib ich dir vom Mittelmeer aus.”
Flott gesagt, sehr erwachsen gesprochen. Und so spricht er auch noch mit mehreren am Land, mit den Mädchen, mit Petra, die er nun verlassen muß.
„Und vergiß nicht, im Garten zu gießen!” sagt er weiter. Aber das war wohl nur ein Scherz von Oliver, und er meinte nichts damit, denn Gott und alle Welt wußten ja, daß er keinen Garten hatte, sondern die Mutter säete nur ein wenig Karotten und Rüben die Hausmauer entlang.
Ein schwaches Lächeln flog über das Gesicht der Mutter, sie kannte ihren Sohn. Böse gemeint? Gott bewahre! So ein Scherz war nicht böse gemeint. Die Mutter wußte nur Gutes von dem Sohne zu sagen, er hatte gute Anlagen und gebrauchte sie in netter Weise.
Der zweite Steuermann kommt einen Augenblick nach vorne; auch er hat wohl ein Mädchen am Ufer stehen. „Schieß die dort auf!” sagt er übertrieben befehlshaberisch, indem er auf eine Leine deutet.
Oliver schießt die Leine auf. Er wäre übrigens gerne eine Minute an Land gegangen, nur eine halbe Minute, um seinem Mädchen eine Tüte Rosinen, die er in der Tasche hat, zu geben. Ganz notwendig hätte er an Land gehen sollen. Aber er will sich jedenfalls auch von da, wo er steht, geltend machen.
„Carlsen!” ruft er, und damit meint er den Schmied Carlsen. „Gut, daß ich Sie sehe! Ich bin Ihnen die Bügel für meine Dachrinne noch schuldig.”
Carlsen ist in Verlegenheit, weil aller Augen auf ihn gerichtet sind, und er sagt:
[S. 11] „Laß das nur, du brauchst dich nicht aufzuhalten, es hat Zeit, bis du wiederkommst.”
Aber Oliver hat schon den Geldbeutel gezogen und reicht das Geld über die Reling weg. „So viel war es wohl?” fragt er.
Oliver fühlte sich wohl recht ehrenhaft und überlegen, als er sich in Gegenwart einer ganzen Volksmenge so zahlungsfähig zeigen konnte. Wer stand da und war Zeuge seiner Handlungsweise? Petra und alle Welt. Und dort stand ja auch Lydia mit ihren Kindern, und ihr entging nichts, sie war die richtige „kluge Else”. Ihr Mann, der Fischer Jörgen, stand auch weiter drüben, aber als sich nun die Honoratioren der Stadt allmählich einfanden und gerade an seiner Ecke vorüberkamen, zog er sich etwas weiter vom Bollwerk zurück und suchte sich einen sichereren Platz.
Nun kamen die Großen, die Schiffsreeder, der Doktor, die geachtetsten Kaufleute; einige waren ganz aufgekratzt von dem Mahl beim Konsul; sie trugen eine Blume im Knopfloch und hatten den hohen Hut auf. Da kam der Rechtsanwalt Fredriksen; der Augenblick war noch nicht gekommen, aber Rechtsanwalt Fredriksen würde sicherlich die Gelegenheit wahrnehmen und einige feierliche Worte sprechen. Er war das Reden gewohnt, er war der in der Stadt, der Versammlungen zusammenbrachte und Reden hielt.
Die Familie Johnsen taucht aus der Kajüte auf, Herr C. A. Johnsen, selbst mit lebhaften braunen Augen und dem runden Bäuchlein des Lebemanns. Frau Johnsen führt die kleine Fia an der Hand. Als sie an Land gingen, machten alle Platz, nicht ein Kind stand im Wege. Leute, die ein Dampfschiff besitzen, müssen einen breiten Weg auf ihrem eigenen Bollwerk haben, das ist nicht mehr als recht und billig.
Der Kapitän stieg rasch hinauf auf die Brücke und klingelte der Maschine. „Fertig! Los!” ruft er. Die Trossen werden hereingezogen. Der Kapitän schwingt die Mütze, seine Familie und Freunde grüßen wieder, das Schiff zittert und weicht zurück. Oliver wirft im letzten Augenblick seine Tüte ans Land, er sieht wohl, daß sie ungefähr da niederfällt, wo sie soll.
[S. 12] Jetzt ist der Augenblick da: Rechtsanwalt Fredriksen tritt vor, lüftet den Seidenhut hoch in die Höhe und erfleht Heil und Glück für das Schiff, die Reeder und die Mannschaft. „Hurra!” ertönt es vom Bollwerk.
Dann fuhr die Fia nach dem Mittelmeer.
Die Tüte traf, jawohl, aber es war eine unwillkommene Tüte und eine schändliche Tüte, sie zerplatzte, als sie niederfiel, und die Rosinen lagen zerstreut auf den Planken des Bollwerks. Das war ein Zustand! Petra lächelte gekränkt und war dem Weinen nahe. Olivers Mutter las die Rosinen in ihr Tuch zusammen, sie hatte ihre liebe Not, die Kinder zurückzuhalten, und ermahnte sie eifrig, doch nicht auf die guten Gaben Gottes zu treten. Die Honoratioren, ja auch die Familie Johnsen kamen an diesem kleinen Walplatz vorüber, insbesondere kam auch der junge Scheldrup Johnsen vorüber. Er lächelte und sagte leise zu Petra: „Heb' deine Rosinen auf!” Petra war wie mit Blut übergossen; sie ließ den Kopf hängen und wäre sicherlich am liebsten in die Erde versunken ...
Die Weiber am Brunnen redeten noch lange von diesem Tag. Sie konnten wohl in der und jener Kleinigkeit uneinig sein, aber Frau Johnsen war jedenfalls in schwarze vornehme Seide gekleidet gewesen und hatte einen Überwurf mit seidenen Fransen über den Schultern getragen. Ihr Hut war sogar von ganz besonderer Art, mit einem dünnen, breiten Rand, der beim Gehen etwas auf und ab wogte, und mit einer einzigen, großen Feder geschmückt.
Dagegen hatte sich niemand weiter um das gekümmert, was nun folgte, denn jetzt kam das tägliche Leben an die Reihe. Oliver kam im Herbst wieder heim, aber ohne die Fia. Ach ja, er hatte einen Schaden davongetragen, war fast erschlagen worden. Er war ein Krüppel. Da war nichts zu machen. Wenn man aus dem Takelwerk herabstürzt und sich die Rippen bricht, so kann man es ja wohl überstehen, aber es ist jedenfalls ein Ereignis, das man im Gedächtnis behält. Aber Oliver — er geriet unter eine Trantonne und brach sich die Leiste und einen Schenkel er wurde verstümmelt und überstand es. Dann lag er im Krankenhaus in einer kleinen italienischen Küstenstadt, wo er nicht ordentlich verpflegt wurde, und das Bein mußte [S. 13] abgenommen werden. Sieben Monate vergingen, bis er in seine Heimat zurückkehren konnte.
Petra, sein Mädchen, zeigte sich recht gut und hielt sich unter dieser ungeheuren Prüfung aufrecht. Sie war in jeder Weise ebenso gewöhnlich wie andere Mädchen, aber sie hatte auch gute Eigenschaften, daran fehlte es wirklich nicht.
Mattis, der bei einem Schreiner in der Lehre gewesen und jetzt Geselle war, Mattis mit der großen Nase, dieser Mann ging zu Petra und sagte: „Das ist ein großes Unglück.”
„Welches Unglück?” fragte sie.
„Daß der Oliver so heimkommt. Weißt du es nicht?”
Petra antwortete gekränkt und ganz treu: „Soll ich es nicht wissen? Hab' ich nicht einen Brief um den andern bekommen?”
„Er ist verunglückt,” sagte Mattis.
„Jawohl,” erwidert Petra.
„Ja, nun gehört er zu denen, die sich nicht allein durchbringen können, und wie soll es dann gehen?”
Petra antwortete kurz: „Darum brauchst du dich nicht zu kümmern.”
Sie zeigte keinen auffallenden Kummer, legte kein Mitleid mit sich selbst an den Tag, nein, vielleicht hatte sie nicht einmal nennenswertes Mitleid mit ihrem Liebsten.
„Willkommen daheim!” sagte sie zu ihm.
Oliver selbst war schweigsam, aber seine Mutter ergriff das Wort. „Ja ja,” sagte sie, „du siehst nun, wie er heimgekommen ist.”
„Ach so, du hast einen Stelzfuß,” sagte Petra.
Oliver sah nach der andern Seite und erwiderte: „Ja, das versteht sich.”
Die Mutter fügte hinzu: „Und auch eine Krücke.”
„Das ist nur für den Anfang, während ich noch nicht fest und sicher bin.”
„Tut es weh?” erkundigte sich Petra nach dem Bein.
„Kein bißchen!”
„Na, das ist nur gut.” Damit schickte sich Petra zum Gehen an. „Ja, ich wollte nur einmal hereinsehen,” fügte sie hinzu.
Da konnte er ihr ja nicht die zwei Geschenke übergeben, die er mitgebracht hatte, eine weiße Engelsfigur und ein [S. 14] mit verschiedenen Holzarten eingelegtes Kaffeebrett. Warum war sie so trocken und kurz angebunden? Sie wußte ja, daß er ihr immer etwas mitbrachte, wenn er aus fernen Landen heimkehrte, und er hatte sie auch diesmal nicht vergessen. Was den Stelzfuß betraf, so hatte dieser sicher einen recht unvorteilhaften Eindruck auf sie gemacht, das war nicht anders zu erwarten gewesen, aber kalt und kurz angebunden — war Petra kalt? Alles andere als das. O, hört nur den Mattis, der immer anfing, zu jedermann, wer es nur immer hören wollte, zu sagen: „Die Petra, ich möchte sie nicht haben! Denn wenn ein Mädchen zu denen gehört, die schwer schnaufen und mit zitternden Nasenflügeln dastehen, dann bedanke ich mich!”
Oliver mußte allmählich daran denken, sich nach einer Beschäftigung umzutun. Solange es etwas daheim zu essen gab, verzehrte er seine Mahlzeiten und wurde stark und kräftig; er erlangte seinen gesunden Oberkörper wieder wie früher und auch ordentliche Kräfte, aber als die Mutter nichts mehr von seiner Heuer abheben konnte, nahm das Mehl und Fleisch im Hause bedenklich ab. Vielleicht wäre Oliver noch nicht zu alt zum Erlernen eines Handwerks gewesen, er konnte Uhrmacher oder Schneider werden, oder er könnte aufs Seminar kommen und Schullehrer werden. Aber was wäre so eine Frauenbeschäftigung für seine Hände? Und wovon sollte seine Mutter während der Lehrjahre leben? Außerdem war ja das Meer sein Element, das Meer und nichts anderes.
Er war jung und seiner plötzlichen Hilflosigkeit höchst ungewohnt. So saß er meist ruhig da, aß, und wenn er sich in der Stube herumbewegen wollte, half er sich mit den Händen und warf sich von Stuhl zu Stuhl. Er war eifrig damit beschäftigt, sich eine neue Lebensstellung auszudenken; das war eine sonderbare Beschäftigung für den geborenen Matrosen, ja bisweilen hielt er vor lauter Sonderbarkeit mitten in einem Gedanken inne. Er hinfällig, er ein Krüppel! Vorläufig mußte er sich ein Boot verschaffen und fürs Haus etwas fischen. Er hatte einen schlimmen Schaden davongetragen, einen unbestreitbaren, glaubwürdigen Leibesschaden, aber als er das brandige Bein abgeworfen und die Folgen davon überwunden hatte, blieb ihm immer noch ein guter Rest übrig, eine Nettokraft.
[S. 15] Es ging nicht gerade großartig mit dem Fischfang, Frostwetter setzte ein und die Bucht war bis zum offenen Meer hinaus mit Eis bedeckt, nicht einmal das Postschiff konnte die Rinne offen halten, sondern mußte sich jedesmal durchs Eis vorwärtsstoßen. Oliver hätte es wie die andern Fischer machen können, ein Loch ins Eis hacken und da fischen, zu Fuß — sozusagen vom Land aus, das tat Jörgen, das tat auch der alte Martin vom Hügel. Aber Oliver war zu jung in diesem Fach und wollte übrigens auch nicht zu solchen äußersten Mitteln greifen. Die Leute sollten nicht den Eindruck bekommen, er fische aus Not, nein, sondern aus Lust, um sich die Zeit zu verkürzen.
Ernste Tage kamen, eine unbehagliche Weihnachtszeit. Aber zu Neujahr änderte sich das Wetter, ein Sturm setzte ein, und das Eis in der Bucht brach wieder auf. Da ruderte Oliver hinaus und fischte einen Tag um den andern; er blieb immer länger fort, manchmal bis zum Abend, und er brachte auch Fische mit heim. Aber er fischte nicht aus Not, o weit entfernt!
Die Mutter sagte in gleichgültigem Ton: „Es ist wahr, Johnsens am Landungsplatz haben mich gefragt, ob du ihnen nicht Fische bringen könntest.”
„Ich?” sagte Oliver. „So, das sagten sie. Aber ich fische nicht für andere.”
„Ja, das dacht' ich auch,” stimmte die Mutter bei. Sie ließ die Frage fallen, ließ sie ganz und gar fallen und tat, als könne Johnsen am Landungsplatz seine Fische wohl selbst fangen. Schließlich sagte sie: „Ja ja, sie haben eine gute Bezahlung dafür versprochen.”
Schweigen. Oliver grübelte nach. „Der Johnsen am Landungsplatz soll mir zuerst meinen Fuß bezahlen,” sagte er dann.
In dieser ganzen Zeit war nur wenig von Petra zu sehen gewesen, sie hatte wohl ein paarmal einen kurzen Besuch gemacht, hatte ihre Geschenke in Empfang genommen, ein paar gleichgültige Redensarten gewechselt und war wieder gegangen. Sie trug noch immer Olivers Ring und machte auch keine Miene, das Verhältnis abzubrechen, nein, das tat sie nicht; aber Oliver hatte doch so seine ängstlichen Gedanken über dies und jenes. Richtig abgewogen, war er ja auch nicht mehr viel wert, ein halber [S. 16] Mensch, eine Art Mißgestalt, die nichts besaß, selbst sein Anzug fing schon an schäbig zu werden. Ja, er war in seinen Matrosentagen zu leichtsinnig gewesen, er genau wie die andern, und hatte nicht viel auf die Seite gelegt. Das einzige, was er für die Zukunft getan und worauf er vor seinem Fall stolz gewesen war, galt jetzt vielleicht gar nichts: der Anbau am Hause, die neue Stube und die Kammer auf der andern Seite des Flurs. Gott mochte wissen, ob diese Herrlichkeit nun benützt wurde!
Der Winter wollte kein Ende nehmen, das drückte auf die Gemüter und machte die Leute verdrossen.
An einem Sonntag gegen Abend kam Petra und war freundlicher als sonst. „Ich hab' deine Mutter in die Stadt gehen sehen,” sagte sie zu Oliver, „da wollt' ich ein wenig zu dir hereinschauen.”
Oliver ahnte Unrat, sein Mädchen war so fremdartig; sie sagte zärtlich: „Armer Oliver!” und sie äußerte, Gott habe sie beide schwer heimgesucht.
„Ja,” stimmte Oliver bei.
„Das ist nun eben unser Schicksal,” murmelte sie und seufzte.
„Was meinst du?” fragte er.
„Was meinst du selbst?” versetzte sie.
Da gab er sofort nach, teils aus altem Hochmut, teils weil er einsah, daß sie eigentlich recht hatte. Man konnte vor der nackten Tatsache unmöglich die Augen verschließen.
Sie besprachen die Sache miteinander, und sie gebrauchte lauter schonende Worte, aber die Absicht war deutlich.
„Ich verwundere mich nicht über dich,” sagte er mit niedergeschlagenen Augen.
Als sie gehen wollte, schien sie das Schwerste immer noch nicht gesagt zu haben, zuerst ging sie nach der Tür, kam aber dann wieder zu ihm zurück, strich ihm über beide Wangen und hob seinen Kopf auf.
„Jetzt sei nicht gegen uns beide, indem du nein sagst. Ich hab' mir's überlegt. Du hast ja nicht allein dich selbst, sondern auch noch deine Mutter zu versorgen. Das ist nicht so leicht für dich.”
Er sah sie verständnislos an: das hatten sie schon besprochen, nun wollte er nichts mehr davon hören.
„Das weiß ich,” sagte er.
[S. 17] „Und ohne gesunde Glieder und allem andern —”
„Das weiß ich auch,” unterbrach er sie gereizt.
„Nein, so darfst du nicht sein, Oliver!” lockte sie.
Aber als sie merkte, daß er noch mehr Bissiges sagen wollte, runzelte auch sie die Stirn und ging nun plötzlich ohne Umschweife los. „Es nützt nichts, was du sagst, es steht jetzt nicht sehr gut für dich, aber es wird wohl besser werden. Jetzt lege ich ihn hierher, du kannst ihn in etwas verwandeln, es nützt nichts, was du auch sagst, ich lege ihn hier auf den Tisch. Er ist schwer und teuer, ich bin überzeugt, es werden ihn viele kaufen wollen.”
„Was ist es denn? Ach so, der Ring! Ja, leg ihn nur dorthin,” sagte er und nickte.
Sie hätte sich alle Umschweife sparen können, in diesem Augenblick schien er gar nichts dagegen zu haben, den Ring wieder zu bekommen, er war jedenfalls ein Wertgegenstand. Als Petra gegangen war, steckte er ihn sich auf das äußerste Gelenk seines kleinen Fingers und drehte und wendete ihn.
Aber dann wurde er von Rührung übermannt. Ihn verkaufen, den Ring in etwas anderes verwandeln? Nimmermehr! Eher wird er ihn in die Meereswogen versenken. Er wird dieses Andenken sein Leben lang behalten, es an den Sonntagen herausnehmen und es betrachten. Im übrigen dauerte es ja nicht so lange, bis das Leben verging. —
Dann ruderte Oliver nicht mehr hinaus und fing nicht mehr jeden Tag Fische. Nein, nicht jeden Tag. Es kam wohl daher, daß die Auseinandersetzung mit Petra ihn etwas mitgenommen hatte, er sah sich nicht nach Arbeit um, faßte keinen Entschluß. Die Mutter konnte fragen: „Fährst du heut nicht hinaus? Nein, wohl nicht?” — Und Oliver konnte erwidern: „Hast du keine Fische mehr?” — „O doch, deshalb hab' ich nicht gefragt,” antwortete die Mutter und schwieg.
Ach, aber sie hätte etwas Mehl und allerlei anderes haben sollen: Seife, Kaffee, Lampenöl, Brennholz, Butter, Zündhölzer, Sirup, lauter notwendige Dinge. —
Mattis, der Schreinergeselle, war eifrig dabei, sich ein Haus zu bauen, er dachte wohl an die Zukunft. Eines Tages humpelte Oliver zu ihm hin und ließ den Ring auf seinem kleinen Finger spielen. Die beiden hatten nichts gegeneinander.
Oliver sagte: „Ich hab' für meinen Anbau zwei Türen machen lassen, sie sind bei deinem Meister gemacht worden.”
„Jawohl,” sagte Mattis, „es war im Winter vorm Jahr.”
„Du könntest mir die Türen abkaufen und sie hier einsetzen.”
„Willst du sie verkaufen?”
„Ja. Da ich sie nicht mehr brauche. Ich hab' mich anders entschlossen.”
„Ich kenne die Türen wohl, denn ich hab' sie selbst verfertigt,” sagt Mattis. „So, du hast dich also anders entschlossen? Du willst dich nicht verändern?”
„Vorerst nicht.”
„Was willst du für die Türen haben?”
Sie wurden bald handelseinig; es waren also gebrauchte [S. 19] Türen und nicht einmal angestrichen; aber Oliver hatte Schlösser und Angeln dazu gekauft, der Preis war demnach gegeben.
Jetzt hatte Oliver nichts mehr zu verkaufen, er konnte doch die Treppe nicht verkaufen. Er und die Mutter lebten eine Zeitlang recht gut von dem Gelde für die Türen; aber nun war der Frühling wieder im Anzug, Oliver war jung und hatte abgetragene Kleider, er könnte sich in neuen besser zur Geltung bringen, und da er nun leider für immer eine Landratte geworden war, hätte er auch gern einen Strohhut gehabt. Die Mutter sah immer weniger hoffnungsvoll in die Zukunft, und meinte, sie hätten ja den Anbau vermieten können, wenn —
Ja, Oliver sagte, er hätte nichts dagegen.
„Aber es sind ja jetzt keine Türen dafür da.”
Nach einem Augenblick der Überlegung sagte Oliver sorglos:
„Türen? Dann kann ich doch wohl zwei Türen machen lassen.”
Die Mutter schüttelte den Kopf.
„Aber es sind auch keine Öfen drin.”
„Öfen? Was sollen die Leute mit Öfen jetzt im Sommer?” fragte er.
„Sollen sie sich nicht kochen? Sollen sie keinen Herd haben?” versetzte sie.
Olivers Kopf hatte sicherlich einen Stoß erlitten, er war im Denken nicht mehr so frisch wie früher.
Er schleppte sich wieder zu Mattis hinüber, sprach eine gute Weile mit ihm und sagte dann: „Ja, du baust dir ein Haus und streichst es an und setzt Türen und Fenster ein, dann hast du wohl im Sinn, dich zu verändern?”
„Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll,” erwiderte Mattis. „Aber es ist nun so, daß ich mir's nicht geradezu aus dem Sinn geschlagen habe.”
„Das versteh' ich!” stimmte Oliver bei und sah dem Schreiner eine Weile bei seiner Arbeit zu. — Sie hatten noch immer nichts gegeneinander. Oliver fuhr fort: „Und wer es nun auch ist, oder wer es nun wird, so bekommt sie bei dir ihr gutes Auskommen. Doch was ich sagen wollte: Hast du schon einen goldenen Ring gekauft?”
„Einen goldenen Ring? Nein.”
[S. 20] „So. Nun, wenn es soweit ist, dann hab' ich einen.”
„Laß mich ihn sehen!” sagt Mattis. „Aber dein Name steht wohl drin.”
„Ja, aber den kannst du herauskratzen lassen.”
Mattis sah sich den Ring an, wog ihn in der Hand und schätzte ihn ab. Sie wurden handelseinig, Mattis kaufte ihn. „Wenn er nur auch paßt,” sagt er.
Oliver antwortete vielsagend: „Das ist das wenigste, was mir Sorge macht. Soweit ich verstehe ...”
Da sah Mattis den andern gerade an und fragte: „Ja, was sagst du dazu?”
„Was ich dazu sage?” erwiderte Oliver. „Das geht mich nichts mehr an. Es wird sich wohl auch für mich Rat schaffen lassen, ich bin noch nicht tot.”
„Nein, das ist sicher und gewiß,” sagte auch Mattis beipflichtend.
„Ja, was meinst du?” fragte Oliver geschmeichelt. „Gibt es keine Aussichten mehr für mich?”
„Du machst nur Spaß, Oliver, du hast dieselben Aussichten wie ich.”
Mattis war sichtlich erleichtert. Sie traktierten sich mit schmeichelhaften Redensarten, ohne Zurückhaltung, aber auch ohne Vertraulichkeit.
„Wie ging es zu, als du zu Schaden kamst?” fragte Mattis. „Mit dem Herunterfallen?”
„Ich?” rief Oliver beleidigt. „Ich bin zuviel draußen gewesen, um herunterzufallen.”
„Ich dachte, du seiest heruntergefallen.”
„Nein, es war eine hereinstürzende Woge.”
„Na, das muß eine ordentliche Woge gewesen sein, die dich kaputt gemacht hat.”
„Jawohl, es war eine Teufelswoge,” versetzte Oliver prahlerisch. „Sie riß die ganze Decklast mit sich, schleuderte mir eine Trantonne gerade in die Arme; sie flog durch die Luft daher, wie eine Kanonenkugel sauste sie auf mich zu.”
„Durch die Luft?”
„Da hörte ich einen Warnungsruf von den andern.”
„Hast du nicht selbst geschrien?”
„Warum hätte ich schreien sollen? Was hätte es mir genützt?”
[S. 21] Mattis schüttelte lächelnd den Kopf und sagte: „Ja, du bist doch immer derselbe!”
Jawohl, Mattis war sichtlich erleichtert, mit Oliver konnte man sehr gut verkehren. Könnte man umgänglicher sein als dieser Mann? Den halben Unterkörper verloren, alles verloren, aber trotzdem — Napoleon! Wenn man ihn in einen Wagen setzte, mit dem Spritzleder vor, dann war er ohne Fehl. —
Oliver und seine Mutter lebten nun wieder eine Zeitlang gut, dazwischen ging er fischen, so daß sie genügend Fische für sich und für die Katze hatten; von dem Geld für den Ring wurden Mehl und Lampenöl gekauft. Aber jetzt hatte Oliver nichts mehr zum Verkaufen, er konnte doch nicht den Kamin auf dem Dache verkaufen.
Die Mutter wurde ängstlicher, so konnte es nicht weitergehen! Sie ließ Andeutungen fallen, daß etwas getan werden müsse, später wagte sie es, sich etwas unzufrieden zu zeigen. Die Krippe war leer. „Du könntest wohl etwas stricken. Kannst du nicht stricken?” fragte sie. Aber Oliver konnte nichts, hatte nichts gelernt, sich keine Mühe gegeben, etwas zu lernen; als er etwas lernen sollte, war er auf See gegangen.
„Ich sollte so notwendig einen Quirl haben,” sagte die Mutter. „Du könntest mir einen Quirl machen, wenn du ein wenig Handgeschick hättest.”
Oliver mußte das von seiten seiner Mutter als unzeitgemäßen Spaß auffassen, und er erwiderte: „Soll ich vielleicht auch Fausthandschuhe stricken?”
Er überlegte, überlegte alle Gründe für und wider, jawohl, etwas mußte getan werden. Immerfort wurde überlegt.
Auf das Wohnhaus konnte nicht mehr aufgenommen werden, als schon darauf stand; das war schon seit lange dem Rechtsanwalt Fredriksen verpfändet. Auf den Anbau war allerdings nichts aufgenommen, und Oliver hatte sich gleich nach seiner Heimkehr wegen einer Anleihe an Fredriksen gewendet, war aber abgewiesen worden. Der Anbau? Den hielt Fredriksen nur für eine ordentliche Instandhaltung des Hauses. „Und das neue Ziegeldach?” fragte Oliver — „Instandhaltung,” sagte Fredriksen. Als Oliver andeutete, er könne anderweitig auf den Anbau [S. 22] Geld aufnehmen, drohte ihm der Rechtsanwalt mit Kündigung seines Geldes und mit einer sofortigen Versteigerung des Hauses. Sie redeten hin und her, und der Rechtsanwalt fragte verwundert: „Bist du wirklich so abgebrannt?” — „Ich?” sagte Oliver und warf sich in die Brust. Ja, das hatte der Rechtsanwalt wirklich geglaubt. Und da er nun durch den Anbau und das neue Ziegeldach erst eine ordentliche Sicherheit für sein Geld hatte, sollte Oliver eine Erklärung unterschreiben, daß alles neue am Haus mit zum Pfandobjekt gehöre — ob er das als anständiger Mensch tun wolle? Und Oliver, eben erst heimgekehrt, von den Seehäfen her an ein flottes Auftreten gewöhnt, außerdem von Natur gutmütig, Oliver unterschrieb. — Er trennte sich von dem Rechtsanwalt in höchst freundschaftlicher Weise.
Das war damals gewesen.
Gar oft bereute er nachher seine Dummheit, aber da war nun nichts mehr daran zu ändern. Oder wie? Könnte er das Haus ohne weiteres verkaufen, den Rechtsanwalt ausbezahlen und ihn los sein? Würde das Geld dazu reichen? Ach, das einzig Sichere dabei wäre jedenfalls, daß er selbst obdachlos dastünde!
Oliver überlegt hin und her. Bisweilen überlegte er, ob er nicht fromm werden, sich einen kleinen Rollwagen anschaffen und in den Dörfern herumfahren sollte.
Die Mutter konnte ihm dies und jenes aus dem Ort berichten, sie hörte mehr als er, sie schnappte manches auf der Straße und am Brunnen auf: Klatschereien, Ereignisse, Lüge und Wahrheit, alles nahm sie mit und brachte es heim. Bisweilen lag es nur in ihrem Kopf und verschwand wieder, aber bisweilen brachte so ein zufälliges Wissen Nutzen. Zum Beispiel, als sie Oliver von Adolf, dem Sohn des Schmieds Carlsen erzählte; Adolf war ein junger Bursche, der sich hatte anheuern lassen und nun zur See ging.
„Wo hat er sich verheuert?” fragte Oliver.
„Auf Heibergs Barke. Es hieß, er wolle sich eine Schiffskiste machen lassen.”
Nach einer kleinen Weile nickt Oliver und sagt: „Er kann mir meine Kiste abkaufen.”
„Die auch?” seufzt die Mutter.
[S. 23] „Was soll ich mit ihr? Ich hab' sie einmal ums andere hinaus- und wieder heimgefahren. Jetzt steht sie da. Nun, sag' du nur dem Adolf, er soll meine Kiste kaufen, ich kann sie nicht mehr sehen.”
Er war auch ganz überzeugt, daß Adolf gern seine Kiste haben wollte. Diese hatte viele Reisen mitgemacht und war seetüchtig, also eine gebrauchte Schiffskiste, die Glück hatte. Oliver hatte sich ja jedesmal, wenn er wieder abreiste, geradezu nach seiner Kiste gesehnt. Lebendig war sie allerdings nicht, nein, aber sie war ein Kamerad, und ein treuer, o ein zärtlicher Freund! Aber Glück auf die Reise, nun mochte sie gehen! Auf der letzten Reise von Italien nach Hause war sie ihm eine richtige Last gewesen; er war ein Krüppel geworden und konnte sie nicht mehr so handhaben wie zuvor, und sie hatte Übergewicht auf der Eisenbahn, er hatte für sie bezahlen müssen. Es war fast, als stehe sie bei ihm in Dienst und zehre an ihm, das Ungetüm — fort mit ihm!
O, aber so ganz gleichgültig war Oliver nun doch nicht, als die Mutter mit Adolf ankam. Da stand nun seine Schiffskiste, und sie war eigentlich häßlich und schwerfällig, aber eben doch nützlich. Sie hatte Fußtritte und Stöße hingenommen, war seit mehreren Jahren grün angestrichen, ja, man hatte sogar Tabak auf dem Deckel klein geschnitten, aber was für ein gutes Stück war sie trotzdem!
„Sie ist, wie du sie hier siehst,” sagte Oliver zu Adolf. „Sie hat sich weder aus feinen Kapitänen oder Maklern oder aus Konsuln etwas gemacht, sondern stand da, wie sie immer gestanden hatte, ist nie von der Stelle gewichen, außer mit Gewalt.”
Adolf kaufte die Kiste und mußte noch allerlei gute Lehren von Oliver anhören. Der abgedankte Matrose konnte dem jungen von dem Leben erzählen, das seiner nun wartete: O ja, ein freies, gesundes Leben, aber nicht eines, mit dem man in jeder Beziehung prahlen konnte. Gottlosigkeit und Schlechtigkeit und erfahrungsreicher Landurlaub, in ausländischen Städten und Hainen verbracht. Ach was, er selbst habe Glück gehabt und jederzeit in den Städten nette Liebchen gefunden, prahlte Oliver, aber es sei nicht immer ohne Streit und Schlägereien abgelaufen. Aber es handle sich nur darum: dem andern eine Hand in [S. 24] den Nacken, die andere in den Rücken, ein Loch mit ihm ins Fenster geschlagen, eins, zwei, drei, hinaus in den Rinnstein! O, man habe nicht immer als Krüppel auf einem Stuhl sitzen müssen!
Oliver fing an zu philosophieren; sein Matrosengeschwätz war leer und abgedroschen, weder besser noch schlimmer, als das anderer Matrosen: Wahrheit und großsprecherische Drohungen, Prahlerei, Frömmigkeit und Notlügen. Er verbreitete sich über die Versuchungen, mischte englische Wörter hinein, warnte vor der Trunksucht: „Du siehst nun, Adolf, wie ich heimgekommen bin. Aber meinst du, es komme vom Zechen und von Ausschweifungen? O nein, immer so nüchtern, wie du jetzt bist! Ach, du lieber Gott, es war auf dem wilden Meere draußen, und was hatte ich verbrochen? Deshalb darfst du dich nie dem Trunke ergeben, wie so mancher andere, dann kann unser Herrgott mit dir tun, was er will, du kannst es nicht ändern. Und wenn sie sehen, daß du Geld bei dir hast, und ziehst englische Pfund heraus, dann sind sie hinter dir her, wie die Möwe hinter einem Rotauge, deshalb mußt du dir, ehe du abfährst, eine Tasche innen in deine Weste nähen lassen.”
„Hast du eine gehabt?” fragte die Mutter.
„Ob ich eine gehabt habe?” Oliver knöpft auf und hat keine Innentasche an seiner Weste. „Sie muß in meinem andern Anzug sein, in meinem Landurlaubsanzug,” sagt er.
„Landurlaubsanzug?” fragt die Mutter.
Oliver überhört die Frage und fährt fort:
„Wie es nun auch ist, Adolf soll sich eine Lehre aus dem Richtigen ziehen und nicht aus dem Unrichtigen. Ja, nun sollst du an das denken, was ich dir gesagt habe, Adolf, und Gott vor Augen haben, wenn du bei Nacht auf Wache bist und am Steuer stehst! Und dann lernst du englisch sprechen und du kannst dich in dieser Sprache, wo du auch hinkommst, ja überall auf der Welt verständlich machen. Sie verstehen dich, ob du dich in einen Salon begibst und ein Glas Bier trinkst oder in die Kirche oder auf ein Konsulat gehst. Aber nimm jetzt nur meine Kiste und schlage dich damit redlich durchs Leben, sie ist an nichts anderes gewöhnt.”
[S. 25] „Was ist denn das für ein Landurlaubsanzug?” fragt die Mutter wieder. „Hast du noch einen andern Anzug als den hier, den du auf dem Leibe trägst?”
„Ob ich noch einen andern Anzug hab'!” versetzt Oliver. „Er kommt von Italien. Was red'st du denn da?”
Aber die Mutter war in Gegenwart eines Dritten mutiger und lächelte nur ein wenig spöttisch. Ach, die Krippe war ganz leer geworden!
Jetzt hatte Oliver nichts mehr zu verkaufen, die Schiffskiste war das letzte gewesen, und es blieb nichts übrig für einen neuen Anzug und einen Strohhut. Aber der eine Tag verging wie der andere, und eines Tages schien Oliver etwas aufzuwachen; er ließ eine Bemerkung fallen, daß er das Boot verkaufen wolle.
„Das Boot!” schrie die Mutter.
Er verbesserte sich und drehte es herum: „Nein, es sei kein Boot zum Verkaufen da, er würde nichts dafür bekommen, es sei ein alter Kasten, der nur noch durch den Teer, mit dem er angestrichen sei, zusammenhänge, er habe es selbst um ein Spottgeld gekauft.”
„Ich muß wohl selbst einmal die Probe machen und hinausfahren,” drohte die Mutter. „Denn du hast es ja aufgegeben.”
Aber mit dem höchsten Grad von Gleichgültigkeit und Geringschätzung für die Worte der Mutter ergriff Oliver seine Krücke und hinkte auf die Straße hinaus.
Feines Wetter! Er schnupperte und spürte die Seeluft. Ein Taubenschwarm ließ sich auf der Straße nieder, Kinder vergnügten sich mit Seilhüpfen. Auch Oliver war einstmals Seil gehüpft.
Er wanderte von einem Laden in den andern. „Ei, da kommt Besuch!” sagten die Leute überall wohlwollend und trugen für den Krüppel eine Sitzgelegenheit herbei. Er mußte einmal ums andere erzählen, wie es zugegangen war, als er zu Schaden kam; dadurch bekam er Übung im Erzählen, und er schmückte die Geschichte immer mehr aus, besonders machte er interessante Zusätze: von dem Krankenlager, von dem Aufenthalt im Hospital, da konnte ihn ja keiner der von der Fia heimkehrenden Kameraden kontrollieren. „Eine der Krankenpflegerinnen ist nicht abgeneigt gewesen, mich zu heiraten —”
[S. 26] „Warum bist du denn nicht darauf eingegangen?”
„Hätt' ich katholisch werden sollen?”
Aber mit der Zeit machte man nicht mehr viel Aufhebens von ihm in den Läden. Er war den Leuten nun nichts Neues mehr, nun mußte er sich selbst eine Sitzgelegenheit verschaffen, oder er mußte mit dem Ellbogen auf dem Ladentisch stehen bleiben, und niemand fragte ihn mehr nach der Krankenpflegerin.
So verging einige Zeit, dann hörten die Besuche in den Läden von selbst auf, er legte sich wieder mehr auf den Fischfang. Johnsen am Landungsplatz hatte ihn persönlich gebeten, ihm das wenige, was er von seinem Fang entbehren könne, zu verkaufen. „Jawohl,” antwortete Oliver, um nicht geradezu nein zu sagen. Dieser Johnsen am Landungsplatz wußte wohl, was er tat, er war der Reeder, der einen verstümmelten Menschen von seinem Schiff daheim hatte, in einem Boot konnte er ihn auch ferner gebrauchen. Aber nein, danke, Oliver aß seine Fische selbst!
Draußen auf dem Wasser traf er den Fischer Jörgen; sie legten ihre Boote zusammen und schwatzten miteinander. Wovon sollten sie übrigens schwatzen? Vom Wetter, vom Fischfang und vom Verdienst. Jörgen war ein Sklave der Arbeit.
„Du liegst hier in der Bucht,” sagte Oliver. „Wenn ich dein Boot hätte, würde ich weiter hinausfahren. Was verdienst du denn am Tag?”
Das sei sehr verschieden. Bisweilen sei es viel, es gebe gute und schlechte Tage, bisweilen sei es wenig.
„Nein, das kann ich dir sagen, Jörgen, daß du hier in der Bucht liegst, gerade wie wir andern Vergnügungsfischer. Von mir will ich nun gar nicht reden, denn ich bin marode und zu nichts nütze. Aber wenn du draußen auf dem Meere wärest, dann könntest du Heilbutten und große Fische fangen.”
„O ja,” stimmte Jörgen bei, „dann könnte ich Walfische fangen.”
Beide lachten, denn dieser Vorschlag von Oliver war ja der reine Spaß und nur so ein Gerede. Dazu hatte Jörgen ja gar nicht das Boot und die nötigen Fischgeräte, und er war ja auch nur ein einzelner Mann.
[S. 27] „Wenn wir uns nun aber zusammentäten und uns ein seetüchtiges Boot anschafften,” sagte Oliver immer noch im Scherz.
Jörgen, der, wie alle andern, geduldig mit dem Krüppel war und sich über die verschiedensten Dinge in ein Gespräch mit ihm einließ, sagte: „Ein seetüchtiges Boot, jawohl, und eine große Fischerei, Tiefmeerleinen, wir könnten den ganzen Fischmarkt an uns ziehen.” Oliver hatte die Ideen, sie kamen ihm nur so zugeflogen und waren nicht viel wert, er war in fremden Landen gewesen, hatte Unglaubliches gesehen und gehört, er hatte Grütze im Kopfe.
„Hier sitze ich und rede,” sagte er, „aber es wird schließlich damit enden, daß ich mich um eine Stelle beim Leuchtturm bewerbe.”
„Ja, das wäre wohl nicht das Schlimmste, was du tun könntest,” meinte Jörgen auch.
„Ich weiß es nicht, aber etwas muß so ein maroder Mann wie ich doch tun.”
„Die Lampe versorgen, das Journal führen, den Seefahrenden in dunkeln Nächten den Weg zeigen. Wenn du nur jemand hättest, der dich empfiehlt,” sagte Jörgen.
„Ich glaube, daß ich Johnsen am Landungsplatz wohl dazu bringen kann, sich für mich zu verwenden. Nun, wollen wir jetzt heimrudern?”
„Nein, ich muß noch eine Weile fischen, denn ich hab' dem Schreiber ein Gericht Fische versprochen und hab' erst ein paar Stück.”
„Was bekommst du für ein Gericht Fische vom Schreiber?”
Jörgen nannte einen mittleren Preis.
Oliver schüttelte den Kopf über die geringe Bezahlung, dann ruderte er weiter und fing auch an, für sich noch zu fischen. Er fischte noch eine Stunde, dann ruderte er mit seiner Beute heim.
Er ruderte und legte sich tüchtig ins Zeug. Es kann ja sein, daß er sich zeigen und Jörgen mit seinen Kräften überraschen wollte, und das erreichte er auch. Oliver war eigentlich wie geschaffen, ja, wie umgeschaffen für ein Leben im Fischerboot; da saß er mit den Rudern, die wie ein schweres Gewicht hin und her gingen, die Glieder, die er brauchte, ja, die hatte er. Diese Wahrheit war es vielleicht auch, die Oliver nach einigen Tagen aufging: Oliver [S. 28] wurde fleißig, fuhr schon bei Tagesgrauen hinaus und fischte den ganzen Tag; er ruderte weiter und weiter hinaus und suchte andere Fischgründe auf, kam dann mit zwei und drei Fischkippen am Tag heim, von denen er einen großen Teil in der Stadt absetzte. Das Geld legte er zurück.
„Du ruderst ja wie ein Dampfschiff daher,” sagte Jörgen. Und dasselbe sagte auch Martin vom Hügel, und der war der älteste Fischer im Ort.
„Meint Ihr? O ja. Ich bin nun eben auch auf den verschiedensten Meeren der Welt gefahren und habe vielerlei gesehen,” versetzte Oliver selbstbewußt.
Jörgen antwortete darauf mit seiner gewohnten sprichwörtlichen Rede! Es sei vieles in der Natur verborgen, von dem wir lernen könnten.
Oliver sagte nicht, wohin er wollte, es war kein ganz einwandfreies Unternehmen, das er vorhatte: er wollte Eier auf den Inseln sammeln. Vielleicht konnte er bei derselben Gelegenheit auch etwas Treibholz für daheim ergattern. Es war eine doppelte Spekulation. Und das erlaubte Unternehmen, Treibholz zu sammeln, mußte das unerlaubte des Eiersammelns verbergen.
Nein, der Fischer Jörgen war ganz und gar kein Spekulant, er war Fischer, und es hatte sich für ihn gelohnt, sich mit kleinem Verdienst zu begnügen und seine Bedürfnisse danach einzurichten. Er hatte sein eigenes Haus und sogar noch etwas darüber, seine drei Kinder waren gut und wohlgenährt, Jörgen ging es in jeder Beziehung gut.
Lydia ihrerseits war heftig und jähzornig, aber sie war tüchtig, oho, ein Schermesser und ein Reibeisen, ja eine Säge, ein Hobel und eine Kratzbürste, jawohl, aber unersetzlich für Mann und Kinder. Die Leute hatten sie im geheimen ein wenig zum besten, ihre Eitelkeit war sehr groß, sie putzte sich gerne, es ging fast ins Närrische über, ihre Kinder waren hübscher als die anderer Leute, sie selbst war hübscher als die Frauen in ihrer Nachbarschaft. Es war eine Seuche, die ihr von ihren Mädchentagen her noch anhaftete, sie hatte, als sie noch jung war, in lauter vornehmen Häusern gedient, zuerst bei Kaufmann Heiberg, dann mehrere Jahre bei Johnsen am Landungsplatz, gehörte sie da nicht zu den besseren Leuten! Hatte nicht sogar C. A. Johnsen in jüngeren Jahren eine Auge auf sie geworfen gehabt! Sie entsann sich dessen ganz genau, er hatte nichts bei ihr ausgerichtet, o nein, aber das war nicht seine Schuld gewesen.
Dann hatte sie Jörgen kennen gelernt, und sie hatte ihn drei Jahre lang hingehalten, ihn aber dann doch geheiratet. Er war nicht gerade malerisch fürs Auge, hatte kleine, gewöhnliche Züge und ein harmloses Gesicht, sein dunkler weicher Vollbart war sogar etwas Besonderes. Allerdings war er ziemlich schwerfällig, war auch kein guter Tänzer, Gott und jedermann hörte ihn von weitem, wenn er kam und wenn er ging, das stillsitzende Leben in seinem Boot trug auch nicht zu seiner Leichtfüßigkeit bei. [S. 30] Aber Jörgen war ein zuverlässiger, ruhiger Mann, Lydia hatte noch keinen Tag bereut, daß sie ihn genommen hatte.
Jörgen arbeitete; es ging so weit, daß es ihm nicht wohl war, wenn er des Wetters wegen nicht hinausrudern konnte, und der Frühling und Frühsommer waren widerwärtige Zeiten mit ihren endlosen Festtagen, die man feiern mußte, Ostern und Pfingsten waren ihm eine wahrhaftige Prüfung. Es wäre noch angegangen, wenn er keinen Absatz für seine Fische gehabt hätte, aber wenn die Stadt auch nur klein war, so litt sie doch immer an Fischmangel, und die Fischpreise stiegen mit jedem Jahre. Oliver konnte über den Verdienst spotten, soviel er wollte, der Fischfang im kleinen war eine gute Versorgung, eine ausgezeichnete Versorgung. Und Jörgen hatte überdies in einer Zeitung gelesen, daß der Fischfang von ebenso gesegneter Art sei wie der Ackerbau: es sei ein Einheimsen des Jahresertrags. Auch er stand im Dienste der Erde.
Aber jetzt mußte man an Land liegen. Endlich waren die großen Festtage vorbei, sowie auch Christi Himmelfahrt, der siebzehnte Mai und der Buß- und Bettag, aber Gott schickte Sturm und Unwetter, und das Meer raste, Gott wollte eine dreiwöchentliche Ruhe im Einheimsen des Meeresertrags eintreten lassen; wozu das nun gut sein sollte! Jörgen wanderte mit seinem kleinen Jungen umher, sie wanderten oft, bis sie tropfnaß waren, sie stiegen auch noch auf die Berge, betrachteten das Meer und zählten die Dampfschiffe draußen; dann gingen sie zum Boot hinunter, sahen nach, ob es sicher lag, ob es nicht ausgeschöpft werden mußte. Es war Jörgen wind und weh bei diesem Müßiggängerleben.
Er begegnete Oliver. Da sie nichts anderes zu tun hatten, setzten sie sich unter Dach und hielten einen Schwatz miteinander. Oliver war es nicht wind und weh, ihm ging's körperlich gut, das schlechte Wetter erlaubte ihm müßig zu gehen, der Fleiß war ihm abhanden gekommen. Es war eine Lenkung des Schicksals: kaum hatte er sich vorgenommen gehabt, sich das Geld zu einem neuen Anzug zu verdienen, als auch schon diese langandauernde, gezwungene Untätigkeit einsetzte und sein guter Vorsatz wieder dahinsiechte. Das einzige, worüber er sich jetzt grämte, war, daß er nicht weit hinausfahren und fortbleiben [S. 31] konnte, nun mußte er gezwungenerweise Tag für Tag daheim sein und sich mit seiner Mutter herumstreiten.
Im Philosophieren hatte es Oliver allmählich zu einer ganzen Meisterschaft gebracht. Er war jung, und zuzeiten konnte er eindringlich und heftig über sein Dasein Reden halten. „Seht nun einmal, geht denn alles so hübsch und perlenbestickt, wie man uns aus der Schrift lehrt! Der Olaus vom Wiesenrain hat in einem Jahr einen Minenschuß ins Gesicht bekommen, und es ist davon ganz blau geblieben. Im nächsten Jahr, als er auf der Werft Arbeit gefunden hatte, kam ein Schwengel daher und riß ihm die eine Hand weg. Jetzt trinkt er wie ein Loch und prügelt sich mit seiner Frau. — Nimm, wen du willst, Jörgen, das Unglück kann uns alle verändern und verderben, und wenn wir noch so sehr Gottes Geschöpfe sind.”
„Ja,” sagte Jörgen.
„Ja, ist es nicht wahr? Und wenn du eine noch so gutmütige Seele bist und du bekommst eine Kanonenkugel in den Rücken, so wirst du nicht besser dadurch. Nein, weit entfernt, du wirst gar nicht besser dadurch. Vielleicht meinst du, du werdest besser, wie?”
„Ach, das ist das, was man eine Züchtigung nennt,” sagt Jörgen sanftmütig.
„Du bist ein Schaf, Jörgen. Züchtigung? Das kannst du dir selbst vorsagen, wenn du in ein Unglück gerätst!” — Oliver war plötzlich ganz kreideweiß vor Erregung geworden; aber als Jörgen Miene machte, zu gehen, bereute er seine Heftigkeit, griff in die Tasche und zog eine Tonpfeife heraus: „Willst du sie haben? Ich hab' sie für dich mitgebracht.”
„Hast du das Rauchen aufgegeben?”
„Schon lange. Schon seit dem Krankenhaus. Ich hab' sie einmal im Ausland gekauft. Wenn du sie also gern haben möchtest —”
„Nein. Du mußt sie aufheben.”
Sie gingen heimwärts.
„O, gib dir keine Mühe, dich fromm zu stellen und die Mundwinkel hängen zu lassen, Jörgen. Nein, du brauchst dir keine Mühe zu geben,” sagte Oliver in neu aufflammender Heftigkeit. „Mir geht es genau so, wie du sagst, da hast du also das deine, ich das meine zu tragen. Sieh' [S. 32] nun zum Beispiel, daß du nicht aufs Wasser hinauskannst, kommt es am Ende daher, weil du nun so vermöglich bist, daß du gar nicht mehr ertragen könntest. Ich sag' dir, unser Herrgott rechnet genau — es ist fast, als stehle er dir etwas, jawohl.”
Jörgen runzelte die Stirne und öffnete den Mund, wie wenn er antworten wollte, was auch ihm in diesem Augenblick Ähnlichkeit mit einem heftigen Menschen verlieh. Aber es blieb bei den Vorbereitungen, und er sagte kein Wort.
Oliver beruhigte sich und schlug wieder um: „Aber alles steht in seiner Hand, das weiß ich wohl. Und wenn wir versuchen, nach seinen Vorschriften zu wandeln, dann haben wir nichts dabei zu tun. Du willst also meine Pfeife nicht?”
„Du sollst sie nicht weggeben,” sagte Jörgen ausweichend. Aber als er des Krüppels flehende Miene sah, änderte er seinen Entschluß und sagte:
„Warum soll ich die teure Pfeife haben?”
„Du sollst sie haben!” erklärte Oliver. „Ich gönn' sie dir, ich hab' die ganze Zeit an dich gedacht. In vieler Beziehung kannst du mir auch wieder einen Gefallen tun, ich weiß, daß du es tun wirst.”
Das Haus Oliver hatte sich in der letzten Zeit auch mehrere Male an gefällige Nachbarn um Hilfe gewandt. Oliver selbst hatte sich zurückgehalten, aber die Mutter ging am Abend, wenn die Läden geschlossen waren, hin und entlehnte eine Tasse Kaffeebohnen oder einen tiefen Teller Roggenmehl „bis morgen”. Was konnte die alte Frau alles entlehnen; an einem Abend mußte sie bei Fischer Martin einen kleinen Dorsch entlehnen.
Sie hatte öfters Zwistigkeiten mit dem Sohne: „Aber was in aller Welt hast du denn mit dem Geld angefangen, das du vor dem Sturm verdient hast?” fragte sie.
„Das solltest du nur wissen!” entgegnete er.
Aber die Mutter war zäh, sie gab nicht nach, bis sie ihn eines Tages ordentlich gereizt hatte, da kam er und warf das Geld auf den Tisch; das einzige, was er sich von dem ganzen gerettet hatte, war ein blauer Schlips. Es war übrigens keine große Summe, o nein, es waren mühsam zusammengebrachte Sparpfennige von Fisch zu Fisch; aber viel oder wenig, es war Geld zu einem Anzug [S. 33] und einem Strohhut, nun mußte es springen. Natürlich hätte er es nicht ausgeliefert, wenn nicht Gott selbst mit seinem Unwetter dazwischen gekommen wäre und ihn mitten in seinem guten Vorsatz aufgehalten hätte; mochte das Ganze nun draufgehen! Er richtete sich keck auf und sagte zu seiner Mutter: „Laß mich jetzt eine Weile in Frieden!”
Die Mutter war nicht überwältigt: war das alles? „Ja, ich werde dich sicherlich in Ruhe lassen,” sagte sie. „Aber wenn ich unsere Schulden bezahlen soll, so weißt du, daß das nicht weit reicht.”
Da äußerte er etwas, was schon lange in seinem Kopfe geglimmt hatte. „Für mich selbst hab' ich keine Angst, das mußt du nicht glauben. Kannst du dich durchbringen, dann kann ich's auch.”
„Was meinst du damit?” fragte sie.
„Was ich meine? Ich meine genau das, daß ich ein maroder Mensch bin, und daß ich nicht meine volle Kraft habe. Hast du denn nicht Augen im Kopf?”
„Soll ich betteln gehen?”
„Nicht gerade betteln — nein. Aber könntest du nicht ein klein wenig Hilfe von der Unterstützungskasse bekommen?”
„Ach so!” erwiderte sie und preßte die Lippen zusammen.
„Sollte das so undenkbar sein? Wo ich doch so marode bin.”
„Marode?” schrie sie rasend. „Jetzt will ich dir etwas sagen. Du willst nichts tun, du willst nicht das allergeringste leisten. Warum hast du nicht aufgepaßt und bist gestern hinausgerudert, wo ruhige See war? Heut' ist wieder hoher Seegang.”
„O, es war auch gestern hoher Seegang.”
„So. Aber kannst du mir sagen, warum Jörgen draußen war?”
„War Jörgen draußen? O, für Jörgen ist das nicht schwer, er hat ein neues, gutes Boot,” seufzte Oliver.
Schweigen. Aber die Mutter war jetzt sehr aufgeregt und verbarg das nicht.
„Du verkaufst die Türen vom Haus weg,” sagte sie; „es ist schon viel, daß du nicht auch die Wände verkaufst! Ich wär' froh, wenn ich unter der Erde läge!”
„Ja und ich erst!”
[S. 34] „Du!” höhnte sie. „Nein, du liegst im Hause. Ich bin ganz gewiß, wenn ich von der Kasse etwas bekäme, dann müßte ich dich auch noch ernähren.”
Da brach Oliver über die unvernünftige Rede seiner Mutter in ein lautes Gelächter aus. „Nein, jetzt schweig nur! Hahaha, beim wahrhaftigen Gott. Das übrige kannst du jetzt zu dir selber sagen!”
Nach einiger Zeit waren wieder keine Fische zu den Kartoffeln und kein Holz für den Herd da. Man hatte nur ab und zu einen Tag hinausrudern können; aber Oliver verpaßte die Gelegenheit, und am nächsten Tag war die Bucht schon wieder voller Gischt, ja, der Sturm nahm eher zu, als daß er nachließ. Was sollte nun das bedeuten? Der Himmel war ohne Gnade, noch nie war der Donner so furchtbar über die Stadt hingerollt.
Oliver warf sich in der Stube von einem Stuhl auf den andern, döste dann stundenlang vor sich hin, schlief am Tisch, das Gesicht auf den Armen. Ab und zu griff er mit seinem Stelzfuß nach der Katze aus. Eines Tages kletterte er aufs Dach hinauf. Oliver war ein alter Matrose, er wollte wieder in die Höhe hinauf, er machte sich am Blitzableiter zu schaffen, legte ein paar Ziegel zurecht und stieg wieder hinunter.
Er war jetzt in tiefer Not, regelmäßige Mahlzeiten gab es nicht mehr. Eines Morgens ging die Mutter fort und kam den ganzen Tag nicht wieder; als sie auch am nächsten nicht wieder kam, ging Oliver zu einem kundigen Mann und sagte: „Du mußt mir einen Gefallen tun und nach meinem Blitzableiter sehen, ich fürchte, ich hab' ihn verdorben, als ich die Dachziegel richtig legte.” — „Meinst du, es eile?” fragte der Mann. — „Ja, du müßtest schon so gut sein und gleich mitkommen,” versetzte Oliver. „Es gewittert ja in einem fort, und ich hab' Angst, der Blitz könnte einschlagen.”
Der Mann ging mit, wie alle andern mußte auch er sich dem Krüppel hilfreich erweisen.
Oliver blieb unten, und der Mann stieg aufs Dach hinauf. Er redete zu ihm herunter: „Ja, wenn hier ein Unglück geschehen wäre, dann hättest du dich bei dir selbst bedanken können!”
„Wieso?”
[S. 35] „Himmel, die Leitung ist ja entzwei! Sie geht bis zum Dach, dann hört sie auf. Sie leitet ja den Blitz geradeswegs in den Herd drunten hinein.”
„Ich überlege mir eben, wie gut es ist, daß meine Mutter in dieser Zeit gerade auswärts zu Besuch ist. Das Unglück hätte dann nur mich allein getroffen.”
Der Mann setzt eine neue Leitung ein, und als er fertig ist, fragt Oliver, was es koste. — „Nichts.” — „Doch, ich will dafür bezahlen.” — „Ja ja, aber es hat Zeit. Wenn du einmal einen kleinen Dorsch übrig hast, dann kannst du ihn mir geben.” — „O, dann sollst du ein ganzes Bündel haben,” sagt Oliver.
O, Oliver redete laut und flott, jemand, der eben vorüberging, sollte es hören; Petra war's, die eben vorüberging. Man sollte hören, daß er eben Bezahlung angeboten hatte und daß er gut bezahlen wollte. Ja, wahrhaftig, Petra ging vorüber, sie ging wohl hinüber nach des Mattis neuem Haus, seinem eigenen neuen Haus. Oliver stand da. Er hätte jedenfalls einen neuen Strohhut haben müssen, um ordentlich grüßen zu können. Nichts hatte er.
Die Mutter kam nicht zurück. Was sie wohl mit sich angefangen hatte, ob sie wirklich herumwanderte und bettelte? Oliver nahm seine Wanderungen in die Kramläden wieder auf; er hatte sich nun eine Zeitlang ferngehalten, es fand sich auch wieder eine Kiste, auf der er ausruhen konnte, und ab und zu auch ein Schiffszwieback zum Knabbern. Seht, er aß ja diese steinharten Zwiebacke nur zum Vergnügen, rein des Spaßes wegen, niemand verwunderte sich wohl darüber, der alte Matrose hatte noch Geschmack an der Schiffskost, und er hatte prächtige Zähne.
Als er die Runde in den Kramläden gemacht hatte, erweiterte er seinen Bereich, er wanderte auf den Hügel und bekam beim Fischer Martin eine Schale Kaffee mit Weißbrot dazu. Sie unterhielten sich übers Wetter, und Oliver erzählte den Frauenzimmern von seinem Aufenthalt im Spital und von der Krankenpflegerin: Da sei er ein rechter Dummkopf gewesen, daß er sie nicht genommen habe, sagte er. Aber die Sache sei die, man wolle doch am liebsten in der Religion leben und sterben, die man gelernt habe. Und damals habe er überdies ein Mädchen [S. 36] daheim gehabt, der er vertraut habe. — „Ist es vorbei zwischen dir und Petra?” fragten die Frauenzimmer. — „Ach, redet mir nicht davon!” erwiderte er.
Er humpelte hinüber nach einem Neubau, der eben eingerichtet wurde, setzte sich da nieder und schwatzte auch hier eine Weile. Ja, das koste Geld, das Bauen, das sei wahr und gewiß. Das Gebäude allein, das könne noch angehen, aber Fenster und Türen, da gehe einem der Atem aus, so blutig teuer seien sie. „Wenn ihr zwei Türen kaufen wollt, dann hab' ich zwei besonders schöne.”
Vom Hügel nahm Oliver seinen Weg zum Schreiner Mattis. Dieser war wie gewöhnlich bei der Arbeit, legte aber den Hobel weg, um für den Krüppel einen Sitz abzufegen. Sie redeten über den lang andauernden Sturm zu Wasser und zu Land, ein armer Kerl könne sich wahrhaftig seinen Unterhalt nicht mehr verschaffen. Aber es gehe dem einen genau wie dem andern, der Fischer Jörgen und der Martin vom Hügel könnten auch nicht hinaus.
„Wenn ich meine Pfeife noch hätte, würde ich sie dir schenken,” sagte Oliver.
„Nein, das hättest du nicht tun dürfen.”
„Doch, sofort! Aber Jörgen hat sie bekommen.”
„Ach so, Jörgen hat sie bekommen?”
„Ja, eine nagelneue Pfeife. Ich hab' sie irgendwo im Ausland gekauft; doch was ich sagen wollte: Wann willst du dich verändern?”
„Ja, weißt du,” antwortete Mattis wie etwas verschämt, „schon in allernächster Zeit.”
„Ach so,” sagte Oliver und blieb ganz ruhig dabei. Oliver konnte sanftmütig und ungeheuer verständig sein, er fand sich in das Unvermeidliche. Der Schreiner empfand Mitleid mit ihm, er war doch eigentlich ein Napoleon. Da saß nun Oliver, schaute zu Boden und hatte wohl einen wehmütigen Augenblick, er hatte die Augen fast geschlossen. Aber plötzlich lief ein Kräuseln über die ruhige Oberfläche hin, er sah noch immer zu Boden, aber er deutete mit der Krücke hinaus und sagte:
„Die Türen dort sollt' ich wieder haben.”
Mattis riß die Augen auf und fragte: „Was?”
„Die Türen dort sollt' ich wieder haben.”
[S. 37] „Die Türen? Ach so!”
Oliver schlug langsam die Augen auf und sagte: „Du kannst sie mir wiedergeben.”
Sie sahen einander starr an, dann sagte Mattis:
„Ich will sehen, daß ich Zeit bekomme, dir zwei Türen zu machen.”
„Nein,” erwiderte Oliver sofort, „entweder diese Türen oder keine.”
War das eine Drohung? Oliver richtete sich auf und stand ganz steif da, ja, er gebrauchte die Krücke nur als Spazierstock, eine ganz überlegene Art war plötzlich über ihn gekommen. Seht, so etwas konnte die Auffassung des Schreiners über den Krüppel wohl etwas verwirren, Mattis sah eigentlich aus, als verstehe er die Sache gar nicht, es war, als sei seine große Nase länger geworden. Offenbar fühlte er sich unsicher.
„Nun, die Türen kannst du haben,” sagte er.
„Du tust mir einen großen Gefallen,” sagte Oliver jetzt. Er ließ Mattis in tiefe Gedanken versunken hinter sich und wanderte heimwärts.
Dann war er wieder wie zuvor. Er saß am Tisch, döste und schlief, versetzte der Katze ab und zu einen Fußtritt und ließ seine Blicke über die menschenleere Straße hinlaufen. Die Tage wurden ihm sehr lang. Die Türen waren eben eingetroffen und standen im Flur, sie waren noch nicht wieder eingehängt, aber sie standen ganz fertig da. Mattis hatte sie selbst auf dem Kopfe hergetragen, die eine Tür nach der andern. Der Schreiner war etwas wortkarg gewesen, das war nicht so ganz behaglich. Oliver sagte: „Du hast doch ungeheure Kräfte, Mattis.”
Kurz nachher kam auch die Mutter wieder heim. Sie trat ein, grüßte nicht und gab Oliver nicht die Hand, aber sie sah nicht unfreundlich aus. „Hast du die Türen wieder bekommen?” fragte sie, und sie fand es nun wohl schon etwas behaglicher daheim.
„Wo bist du gewesen?” fragte der Sohn.
„O, ich bin ein wenig umhergewandert.”
„Ja, siehst du,” sagte Oliver, „wenn du auch fort bist, so schaff' ich doch das eine und andere ins Haus. Jetzt hab' ich die Türen wieder bekommen.”
„Meinetwegen kannst du tun, was du willst, du kannst [S. 38] Türen im Haus haben oder nicht,” versetzte die Mutter und kniff die Lippen zusammen.
„Ach so, du kümmerst dich nicht darum, wie es hier bei uns ist! Dann kann der Satan Türen für dich herbeischaffen!”
Oliver richtete sich auf, ergriff seine Krücke und hinkte hinaus. O, er wollte die Gelegenheit benützen und sich ordentlich in Zorn versetzen! Er nahm den Weg wieder nach dem Hügel, nach dem Neubau. Während er fort war, hielt die Mutter eine Mahlzeit. Die Alte hatte, als sie heimkam, verschiedene Eßwaren unter ihrem Tuch verborgen: Waffeln, Blutpudding, geräucherte Heringe, Eier, Speck und Brot. Als sie fertig war, packte sie alles wieder gut ein und verbarg es zu unterst in ihrem Bett.
Als Oliver zurückkam, brachte er einen Mann mit. Der Mann lud sich ein Türe auf den Kopf und trug sie fort.
Mutter und Sohn sprachen nicht miteinander. Der Mann kam wieder, holte auch die andere Tür und trug sie fort, er schlug den Weg nach dem Neubau ein. Jetzt dachte Oliver vielleicht doch, er sei etwas weit gegangen, und er wollte die Mutter besänftigen. „Wenn du eine Tür kaufen willst, dann kostet es ein Blutgeld, wenn du sie aber wieder verkaufen willst, dann bekommst du nicht so viel, daß du eine ordentliche Mahlzeit damit bezahlen kannst.”
„Aber ich hoffe, du hast die Türen nicht wieder verkauft,” sagte die Mutter.
„Was soll ich mit ihnen?” rief Oliver. „Und zum Kuckuck, du hast dir ja auch gar nichts aus ihnen gemacht!”
„Ach, Gott bewahre mich vor dir!” rief die Mutter.
Zuerst hatte er wohl im Sinn, aufzufahren und ihr die ganze Schuld aufzuladen, er fuhr unnötig hastig in der Stube herum und stampfte mit dem Stelzfuß. Doch er mußte seinen Verstand gebrauchen, dazu hatte er ihn.
„Hier, das ist für die Türen!” sagte er und legte das Geld auf den Tisch. „Du kannst alles miteinander haben.”
Wieder schien die Mutter durchaus nicht überwältigt zu sein; sie schielte nach dem Geld hin und warf den Kopf zurück.
Oliver fragte gekränkt: „Was — du meinst vielleicht, [S. 39] ich hätte das übrige vertrunken? Ich hab' ein klein wenig für die weite Fahrt zurückbehalten.”
„Welche weite Fahrt?”
„Und wenn ich nun auf Langfahrt gehe, muß ich auch was haben, um mir einen Imbiß zu kaufen.”
„Ja, jetzt ist wohl das richtige Wetter zu einer Langfahrt!” sagte die Mutter ungläubig.
„Der Sturm läßt nach, der Wind hat sich gedreht. Übrigens,” murmelte er, und er war immer noch der, der seinen Verstand gebrauchen mußte, denn dazu hatte er ihn, „übrigens will ich nicht mit dir streiten.”
„Ach so,” versetzte die Mutter beleidigt.
„Nein, denn es ist doch falsch, wie ich's auch mache.”
Der Kuckuck sollte den Oliver holen, nun fühlte er sich wohl in der Sache mit den Türen noch gekränkt!
Und endlich brach wieder ein schöner Tag an; er hielt sich und noch einer dazu, es sah aus, als bliebe das Wetter nun beständig.
Oliver ging zum Fischer Jörgen und sagte: „Nun mußt du so gut sein und morgen dein Boot mit dem meinen tauschen.”
„Aber warum denn?”
„Ich sollte weit hinausrudern und wage die Fahrt nicht in meinem eigenen Boot. Ei sieh, du benützt die Pfeife! Wie ist sie denn?”
„Die Pfeife ist schon recht.”
„Ja, du mußt sie gebrauchen, denn dir gehört sie.”
Lydia wollte ihm Kaffee geben, aber er hatte selbst Geld in der Tasche und konnte es sich leisten, das Anerbieten auszuschlagen. „Ich hab' getrunken, eh' ich daheim wegging. Ja, was meinst du, Jörgen, willst du mir den Gefallen tun?”
Jörgen blieb keine andere Wahl. Er antwortete: „Ich werd' es wohl tun müssen. Aber du mußt ordentlich mit dem Boot umgehen.”
Dann fuhr Oliver auf eine Langfahrt hinaus.
An das, was nun geschah, erinnern sich die alten Leute im Städtchen noch heutigen Tages, es war keine Kleinigkeit. Oliver ging nicht unter, und er kam auch nicht abermals zu Schaden, nein, er kam mit einem Schiff heim, mit einem Havaristen, und verlangte seinen Bergelohn. Allerdings konnte er den Verdienst nicht allein einheimsen; als er das Schiff draußen vor den Scheren auf dem Wasser treibend fand, ausgestorben und ohne Mannschaft, mußte er ans nächste Ufer rudern, um Hilfe zu holen; aber Oliver war der Entdecker, und er war der kundige Seemann, der das Bergen des Schiffes in die Hand [S. 41] nehmen konnte. Er setzte die Pumpen in Gang, er barg die Segelfetzen und herabhängenden Leinen, dann erteilte er den Männern die Befehle beim Bugsieren, und er selbst stellte sich ans Steuer. Jetzt konnte niemand sehen, daß er ein Krüppel war.
Wenn er nun eine Kaffeeladung an Land geführt hätte! So gut war es allerdings nicht, das Schiff hatte Backsteine an Bord, es führte sozusagen Backsteine als Ballast mit sich, ein dänisches Schiff war's, das vielleicht nur nach der nächsten Landstadt mit diesen Backsteinen sollte und dann von einem übermächtigen Sturm ins offene Meer getrieben worden war. Der alte Kasten war nicht viel wert; aber es war doch immerhin etwas, ein Fund und ein Geschenk, ramponiert, jawohl, ohne Rettungsboote, ohne Ansehen, ein stinkender alter Kasten, aber durchaus kein Wrack. Das Schiff mußte während des ganzen langen Sturmes im Wasser gelegen haben, es schien wegen Mangel an Proviant von der Mannschaft verlassen worden zu sein, denn es fand sich fast nichts Eßbares an Bord.
Da konnte man nun den seltenen Anblick genießen, und der ganze Ort starrte neugierig auf die spiegelblanke Bucht hinaus. Was war das? Eine Art Aufzug: Bugsierboot und Schiff, dahinter ein Boot im Schlepptau. Die Leute schlenderten allmählich zum Bollwerk hinunter, Jörgen kam herbei und erkannte sein Boot, das Schiff selbst war ihm unbekannt, aber Oliver stand darauf.
Ja, Oliver stand fest und steif an Bord und übertrieb nicht mit besonders starken Ausdrücken; aber er erteilte den beiden Fischern, die er sich zur Hilfe bei der Bergung geholt hatte, Befehle, dann schickte er einen Mann an Land nach dem Konsul. Jörgen rief Oliver eine sanftmütige Frage zu, was das für ein Schiff sei, aber er bekam keine Antwort, denn Oliver hatte viel zu viel zu tun. Olaus vom Wiesenrain, der sich immer am Bollwerk herumtrieb und ein ungewaschenes Maul hatte, sagte ganz laut: „Er hat die Schute gestohlen!”
Oliver war aufgebracht, weil der Konsul nicht selbst kam, sondern nur sein Sohn, der junge Scheldrup. „Wo ist dein Vater?” fragte Oliver.
„Mein Vater? Was ist das für ein Schiff?”
[S. 42] „Geh und hol' deinen Vater! Du kannst dich darauf verlassen, daß er ein Protokoll aufnehmen und alles an Bord versiegeln muß.”
„Ich frage, was das für ein Schiff ist!”
Oliver befahl ein paar kleinen Jungen am Bollwerk, den Konsul zu holen, und erst als dies getan war, wendete er sich an den jungen Scheldrup und erklärte: „Ja, denn dies ist ein Däne und ein Ausländer, soweit ich es nach verschiedenen Sachen beurteilen kann.”
Dann kam der Konsul, C. A. Johnsen kam selbst, und die Menge machte ihm Platz. Er kam ein wenig zögernd daher, wie ein Mann, den nicht jedermann holen lassen konnte; aber er hatte ja auch einen überlegenen Kopf und verstand schnell alles, ein paar Fragen genügten für ihn.
„Ich komme mit einem seltenen Gast!” äußert Oliver. Der Konsul heftete seine braunen Augen auf das Schiff, und es machte ihm keinen überwältigenden Eindruck, es war kein Dampfschiff, es war nicht seine eigene „Fia”. Er ließ sich durch den jungen Scheldrup Schreibgeräte kommen und nahm Erklärung und Protokoll auf.
Es dauerte eine Stunde, aber die Menge wartete. Die halbe Stadt war nun am Bollwerk versammelt, Petra war auch da, ebenso der Rechtsanwalt Fredriksen. Dieser sagte: „Wer ist der Held, der das Schiff geborgen hat?” Der junge Scheldrup erlaubte sich einen Scherz und sagte: „Oliver — falls Sie eine Rede halten wollen!” Der junge Scheldrup scherzte auch mit Petra, dieser Grünschnabel fing an, sich etwas zu erwachsen zu gebärden. — „In meinen Augen ist das nun eine Seemannstat,” sagte Rechtsanwalt Fredriksen.
Jawohl, eine Seemannstat! Oliver kam in die Zeitung dafür, und viele Leute sprachen davon. Oliver selbst machte keine große Sache aus dem Ereignis, er mußte den Landkrabben alle Einzelheiten erklären, überhob sich aber nicht, äffte nicht die Honoratioren der Stadt nach und machte sich nicht lächerlich. Natürlich war Oliver selbst außerordentlich befriedigt von seiner Mannestat, er ging gleich hin und verlangte einen neuen Anzug, den hatte er verdient. Samt und Seide waren nicht nach seinem Geschmack, aber einen blauen Seemannsanzug, den könne ihm niemand mißgönnen. „Wie es zuging?” sagte er zu [S. 43] den Landratten. „Ganz genau, wie wenn du auf einem Spaziergang bist und findest einen goldenen Ring und hebst ihn auf.” Ach, da lachten alle über seine Scherzhaftigkeit: so leicht war es nun doch nicht, eine Seemannstat auszuführen! Er war wie ein König, der zu seinem Volke niederstieg und sich leutselig erwies, und er übersah nicht die andern, die nur daheim saßen, während er das Schiff barg.
Aber schon nach einigen Tagen mußte er etwas mehr daraus machen; zum Fischer Jörgen sagte er: „Du weißt, ich wollte Treibholz fangen. Da war es, als ob jemand zu mir sagte, ich solle weiter hinausrudern, immer weiter hinaus. Es war genau, wie wenn es mir eingegeben worden wäre.”
Ja, Jörgen nickte nachdenklich bei diesen Worten, denn vieles sei verborgen in der Natur, meinte er.
„Ach, ich will es durchaus nicht größer machen, als es ist,” sagte Oliver; „ich hatte nie von einem Havaristen auf dem weiten Meere draußen geträumt. Aber wie ich da in meinem Boot saß und ruderte, kam es über mich: Weiter hinaus, weit hinaus! Es ist nun auch so, wie du weißt, ich bin weit in der Welt herumgekommen und bin von meinem vierzehnten Jahre an draußen gewesen. Die Weltkugel hab' ich auf der andern Seite gesehen, deshalb ist es nun fast, als sei ich gar nicht mehr aus dem Städtchen hier, das kann ich dir sagen. Aber jetzt muß ich hier leben und sterben, in Gottes Namen, das läßt sich nicht ändern!”
Es war auffallend, wie viel leichtlebiger Oliver wurde. Das zufällige Glück mit dem Havaristen änderte allmählich seine Ansichten, die Bitterkeit verließ ihn, er wurde freundlicher, wurde geduldiger. Nein, er nahm sich nicht zusammen und wurde nicht fleißig und arbeitsam, wanderte aber in seinem neuen Anzug umher, und die Hose blaffte recht leer um seinen Stelzfuß, aber er verfluchte sein Unglück nicht mehr. „Kauf' nur das für mich, was du selbst willst,” sagte er wohl zu seiner Mutter und war sehr nachgiebig. Eines Tages begegnete er einer alten Frau, die mit einer Tischdecke herumging und Lose darauf verkaufte. „Laß mich sehen! Ei, das ist eine feine Decke!” sagte Oliver und nahm Lose um des guten Zweckes willen. [S. 44] Es war fast eine Art Gottesfurcht, die über ihn gekommen war.
Es verging wohl eine Woche, dann ging es nicht mehr. Konsul Johnsen hatte ihm Vorschuß auf den Bergelohn gegeben, aber der Konsul konnte nicht ohne weiteres das Schiff und die Ladung verkaufen und Oliver die ganze Summe ausbezahlen. Hatte Oliver gemeint, er könne sich immer weiter Vorschuß holen? Jedenfalls hatte er wohl gedacht, es werde länger dauern, alles ging nun so gut, es war eine ausgezeichnete Zeit, Oliver konnte zum Havaristen hinunterschlendern, ihn jeden Tag auspumpen und ihn fast als sein Eigentum betrachten.
Aber dann tauchte die Mannschaft auf. O ja, die Mannschaft weit drunten vom Süden und sie kam gen Norden, der Schiffsführer und drei Mann, die Herren des Schiffes. O nein, es konnte keine Rede davon sein, das Schiff zu kassieren, sie fingen gleich an, es auszubessern. Da sie nun einmal nach Norwegen gekommen waren, wollten sie ihre Backsteine nicht wieder zurückfahren, sie verkauften sie an den Konsul und beluden dafür das Schiff mit Holzbalken. Dann machten sie über alles glatte Rechnung und fuhren ab.
Die goldenen Tage waren vorüber. Oliver saß wieder auf dem Trockenen. Wie war es eigentlich zugegangen? Jawohl, der Bergelohn, der war sicher, aber Oliver mußte ihn mit den beiden andern teilen, mit den beiden Fischern, es machte also für den einzelnen kein Vermögen aus. „Soll ich nicht einmal den Bruderteil haben?” fragte Oliver. Er bekam den Bruderteil und außerdem noch eine besondere Bezahlung für das Pumpen. Aber er hatte alles miteinander schon als Vorschuß bekommen; ei, wie war das zugegangen?
Diese kurze Zeit des Glücks hatte ihm unglaublich gut getan, aber jetzt war das vorbei. Er fühlte sich benachteiligt. Was dachte wohl Jörgen und was dachte Martin vom Hügel? Er ging hinüber zu Mattis, um dessen Ansicht zu hören.
Mattis war sonderbar an dem Tag, ein Rätsel. Er erwiderte Olivers Gruß nicht und machte dem Krüppel keinen Sitz zurecht. Eigentlich sah es aus, als ob er zornig sei; ja, wenn ein Mann mit den Zähnen knirscht [S. 45] und sich unruhig hin und her bewegt, kann beinahe kein Zweifel über seine Gemütsstimmung herrschen.
Oliver war von seinen eigenen Angelegenheiten erfüllt: daß er an der Nase herumgeführt worden, ja, daß er da in eine ordentliche Patsche geraten sei! „Sieh' nun zum Exempel, ich bin doch der gewesen, der das Schiff gefunden und geborgen hat, aber was hab' ich dafür bekommen? Es reut mich nur, daß ich einen einzigen Groschen dafür genommen hab', und ich werd' ihnen bei Gott das Geld wieder in den Rachen werfen!”
„So schweig doch mit deinem Geschwätz!” schrie der Schreiner plötzlich.
Oliver sah ihn an: er arbeitete wie verrückt, und seine Hände zitterten vor Aufregung. War er betrunken? Wenn es ihn gelüstete, in Feindschaft zu geraten, so konnte er das haben. Oliver richtete seinen gewaltig aussehenden Oberkörper auf.
„Meine Türen will ich wieder haben!” sagte Mattis.
„Wie?” versetzte Oliver. „Was hast du gesagt? Die Türen?”
„Ich will sie wieder haben!” zischte der Schreiner. „Ich hab' dich dafür bezahlt. Sie gehörten mir, die Türen! Verstehst du mich nicht?”
Bei einer solchen Unvernunft wurde Oliver eine Weile ganz stumm, und dann antwortete er nur: „Du hast mir die Türen geschenkt. Und das konntest du schon tun, nach all dem, was wir zusammen gehabt haben.”
Mattis warf das Handwerkszeug weg und richtete sich gerade auf: „Zusammen gehabt? Ich will nicht das allerkleinste Bißchen mit dir zusammen haben. Nein. Nicht so viel, als unter den Nagel geht. Was hab' ich denn davon? Nein, es ist, wie ich gesagt habe: wenn es so ist, daß die Nasenflügel bei den Menschen heraus- und hineingehen, dann sollst du nichts mit ihnen zu tun haben. Und zum Kuckuck, ich will nicht mehr, daß du dich hier bei mir herumtreibst, und meine Türen will ich auch wieder haben!”
Was für eine Unvernunft! Oliver war in ganz friedlicher Weise hergekommen und wollte ein wenig Mitgefühl haben, und nun wurde er im Gegenteil hinausgejagt. „Es muß irgend etwas mit Petra nicht in Ordnung sein, [S. 46] ” dachte Oliver. Er sagte: „Wenn du irgendeine Widerwärtigkeit und Schändlichkeit von seiten des Weibervolks erfahren hast, so ist es erst, nachdem ich sie hätte haben sollen. Ich hab' nichts dabei zu tun.”
Der Schreiner nahm seine Arbeit wieder auf und lachte wütend vor sich hin. „Sie meinten wohl, sie könnten mich jetzt dazu kriegen!” murmelte er.
„Wovon redest du da?” fragte Oliver.
„O, es ist so fuchsschlau von euch allen miteinander ausgedacht!” fuhr der Schreiner fort und lachte noch bitterer vor sich hin. „Aber der Mattis hat sich vorgesehen! Der Mattis will nicht,” sagte er.
Oliver wartete eine Weile mit der Hand auf der Türklinke, ob noch mehr kommen würde. Zu seiner Verwunderung sah er, daß der Schreiner nun weinte, sein Körper zitterte. Als Oliver die Tür öffnete, hörte er hinter sich eine undeutliche Stimme sagen: „Nun kannst du sie haben! Und ich komm' und hol' mir meine Türen wieder.”
Aber in der langen Zeit hatte sich Oliver nun daran gewöhnt, daß ein Krüppel mit Rücksicht behandelt wurde, und hier war mit ihm gesprochen worden, wie wenn er keinen Stelzfuß gehabt hätte! Des Schreiners Benehmen kränkte ihn, und er mußte sich großen Zwang auferlegen, aber er überwand sich und sagte: „Du kannst mir den Buckel runter rutschen, wenn du willst! Meinst du, ich hätte Angst vor dir?”
Der Schreiner ermannte sich, er nahm seine Jacke von der Wand und sagte: „Ich geh' sofort mit dir und nehm' sie mit.”
Diesem Ernst gegenüber wurde Oliver wieder klein, er riß die Tür weit auf und ging schnell hinaus. „Ich hab' die Türen gar nicht mehr,” gestand er, „ich hab' sie auf dem Hügel verkauft.”
Danach wurde es ganz still hinter ihm, der Schreiner war wohl wortlos stehen geblieben. Mag er dort stehen, mag er da in seinem Türloch stehen bleiben und keine Worte mehr finden!
Aber Oliver fühlte sich vielleicht nicht ganz sicher; er trieb sich eine gute Weile in den Straßen herum, ehe er sich heimwärts wendete, dem Schreiner könnte es ja doch [S. 47] noch einfallen, ihn aufzusuchen. Wahrlich ein schönes Benehmen einem Krüppel gegenüber!
Da ging Petra über die Straße. Sie sah ihn an und nickte ihm zu. Ja, es war also etwas mit Petra, was es nun auch sein mochte, sie hatte wohl den Schreiner nicht haben wollen, nein, nicht den Mattis mit der Nase. Und hatte er nicht mitten vor den Augen anderer geweint, anstatt sich als ein richtiger Mann zu zeigen! Oliver fiel es plötzlich ein, er müßte doch wirklich der Mann dazu sein, jetzt die Langfahrt zu unternehmen, die auf so merkwürdige Weise abgebrochen worden war. Aber Jörgen würde sich wohl wieder sperren, ihm sein Boot zu leihen, die Leute konnten doch recht sonderbar sein! Es war jetzt freilich vollständig zu spät, Eier zu sammeln, aber er konnte Treibholz finden. Und man konnte ja nicht wissen, was ihm alles noch widerfahren mochte. Das Glück konnte auf der Lauer liegen.
Am Nachmittag sah er Petra wieder auf der Straße, und sie nickte ihm abermals zu. Wie merkwürdig, in den nächsten Tagen sah er sie immer öfter ganz zufällig, sie, die wochen- und monatelang unsichtbar gewesen war! Er selbst tat durchaus nichts dazu, ihr zu begegnen, es war der reine Zufall. Ja, er war wieder mehr ein Mann geworden, hatte ein Schiff geborgen und war in die Zeitung gekommen. Er trug einen neuen Anzug und grüßte mit einem gelben Strohhut; aber er lief den Mädchen durchaus nicht in den Weg und stellte sich nicht zur Schau. Nein, jetzt war er im Gegenteil darauf versessen, weit hinaus auf Langfahrt zu ziehen.
Allmählich gab es wieder Zwistigkeiten zwischen ihm und der Mutter, und eines Tages wurde es geradezu ernst, als die Mutter fragte: „Na, jetzt soll ich wohl wieder um Unterstützung einkommen?”
„Was geht das mich an?” fuhr er sie an.
„Das sollte dein Vater hören, wenn er am Leben wäre!” versetzte sie, dem Weinen nahe.
„Wieso?”
„Ja, er war nicht der Mann, der in der Stube saß und faulenzte. Er schaffte früh und spät und war überdies umgänglich.”
Oliver lächelte spöttisch. Der Vater umgänglich! Jawohl! [S. 48] Das war so recht frauenmäßig: wenn man tot und begraben war, dann jammerten sie um den, den sie verloren hatten. Oliver erinnerte sich von seiner Kindheit her wohl noch an alle die Prügeleien zwischen Vater und Mutter; oho, das waren keine Kleinigkeiten gewesen!
„Ja, jetzt sitzt du da und pfeifst dir eins,” sagte die Mutter, „und hast den Schäferhut schief auf dem Kopf und scherst dich um nichts. Ich möcht' wohl wissen, wie du dir denkst, daß es weitergehen soll.”
„Für mich selbst hab' ich keine Angst,” entgegnete er. „Gott bewahre! Jetzt fahr' ich wieder aufs Meer hinaus. Im übrigen hab' ich daran gedacht, mich um eine Stelle beim Leuchtturm zu bewerben.”
Einen großen Eßkober gab es diesmal nicht, aber Jörgen lieh ihm sein Boot, er nahm Fischgeräte mit, sowie einen Kochtopf, und dann ruderte er hinaus. Er hatte wohl im Sinn, zum Lebensunterhalt zu fischen. In den drei Tagen, die er draußen zubrachte, war auch die Mutter abwesend; sie war einfach fortgegangen; als Oliver heimkam, war das Haus leer.
Er hatte diesmal kein besonderes Glück gehabt, nicht einmal einen ordentlichen Vorrat für sich hatte er gefangen. Da setzte er einen Topf mit Kartoffeln auf den Kochofen.
Nun, er war immerhin nicht nur so ins Blaue hineingefahren, sondern hatte eine tüchtige Ladung Treibholz im Boot und außerdem ganz im geheimen eine gute Prise Eiderdaunen in der einen Achselhöhle, jawohl, und es waren träge, sorglose Tage gewesen, die er draußen vor den Inseln zugebracht hatte.
Nachdem er die Kartoffeln verzehrt hatte, war er ganz befriedigt; er ging wieder hinunter an das Boot und verkaufte den größten Teil seiner Holzladung an Leute, die mit einem Krüppel nicht feilschen wollten. Da hatte er nun wieder bares Geld in der Tasche.
Ein Tag um den andern verging.
Eines Abends erschien Petra. Oliver meinte zuerst, er sehe nicht recht, sie hatte einen neuen grauen Mantel an, und außerdem konnte doch wohl Petra nicht zu ihm kommen, ihrem früheren Bräutigam, den sie aufgegeben hatte. „Ei, was für ein Besuch!” sagte er etwas verlegen.
[S. 49] „Ich wollte nur einmal ein wenig hereinsehen. Wo ist deine Mutter?”
„Du fragst mich, und ich frag' dich.”
„So. Wer kocht denn für dich?”
„Wer sollte kochen!” antwortete er ausweichend. „Was geht das dich an?” dachte er vielleicht. Da saß sie in einem feinen Mantel, jawohl, aber er schwänzelte nicht vor ihr. „Was ist das zwischen dir und Mattis?” fragte er, um sie zurückzuweisen.
„Mit dem Mattis? Wieso?”
„Er hat deinetwegen geweint,” sagte Oliver mit höhnischem Lächeln.
„Meinetwegen? Du scherzest. Um mich weint niemand.”
Da hatte er sie nun ordentlich in die Klemme gebracht, das zeigte ihr Gesicht; und er sah sie und ihren neuen Mantel noch abweisender an.
„Warum bist du so?” fragte sie, indem sie aufstand.
„Ja ja, das ist nun etwas, das mich nichts angeht,” sagte er, um ihr zu zeigen, wie fern sie und ihre Angelegenheiten ihm lagen.
„Ich hab' gelesen, was von dir in der Zeitung stand,” fing sie wieder an.
Nun hätte er wohl dankbar dafür sein sollen, daß sie von ihm in der Zeitung gelesen hatte, aber nein. Was war nur in Oliver gefahren? Ganz verändert, ganz wie ausgewechselt, fast ein anderer Mensch war er geworden. Sie verstand ihn gar nicht mehr und versuchte es auf verschiedene Weise mit ihm, schließlich fragte sie, ob sie nicht die Zeitung entlehnen könnte; sie möchte den Artikel gern noch einmal lesen.
Es zeigte sich, daß er das Blatt bei sich trug, er zog es wohl in einer Tüte eingepackt aus der Tasche und sagte: „Du kannst es mitnehmen, aber ich will es wieder haben.”
Ein paar Tage später gegen Abend kam Petra wieder in Olivers Haus, und es war ein Sonntag, da war sie noch feiner angetan. Er hatte sie vielleicht erwartet, darum hatte er einige treuherzige Vorbereitungen getroffen: zuerst fegte er den Fußboden und wusch die Ofenplatte, dann trug er die ungewaschenen Tassen und Töpfe in den Anbau hinüber. Der Zufall kam ihm auch zu Hilfe. Er hatte wahrhaftig ein paar kleine italienische Münzen in [S. 50] der Tasche seiner alten Weste gefunden, die warf er nun auf den Tisch, da konnten sie Staat machen. Dann setzte er sich an den Tisch, um zu duseln. Als Petra kam, streckte und reckte er sich gleichgültig.
„Ich bring' dir das Blatt wieder,” sagte sie. Sie konnte das Stück auswendig und sagte es her; ja, da höre er, was das Blatt sage, es sei ein ausgezeichnetes Stück, er könne weit in der Welt damit herumrennen.
„Ich bin schon weit in der Welt herum gewesen,” erwiderte er, und der Kamm schwoll ihm.
„O ja, das fehlt nicht. Wer hat den Fußboden aufgewaschen?”
Was ging das Petra an? Kam sie, um sich über ihn zu erheben? Er antwortete lauernd: „Die Mädchen.”
„Was für Mädchen?”
„Warum fragst du?” erwiderte er zurechtweisend.
„Ich hätt' es tun können,” sagte Petra. — Sie sah übrigens nicht frisch und gesund aus, eher ein wenig unpäßlich, nein wahrlich, sie strahlte nicht. — „Wenn es dir recht wär', könnt' ich dir Kaffee kochen,” sagte sie demütig. „Ich hab' aufs Geratewohl Kaffee mitgebracht.”
Das erweckte jedenfalls kein Mißfallen bei ihm, aber ... „Nein, du darfst dir keine Mühe machen,” sagte er.
„Du lieber Himmel! Als ob ich das nicht könnte!” erwiderte sie und machte sich gleich an die Ausführung.
Es fiel ihm auf, daß sie sich auf einen Stuhl stützte, sich ein paarmal wegwendete und ausspuckte. „Warum hast du den Mantel an, kannst du den Mantel nicht ausziehen?” fragte er.
„Es ist nur ein dünner Frühjahrsmantel. Was hast du da für wunderbare Münzen? Was ist denn das für Geld?”
„Sie sind vom Ausland.”
„Überall bist du doch gewesen!” versetzte sie.
„Sie sind aus Italien. Solches Geld haben sie dort, Soldi. Möchtest du sie haben?”
„Nein, nein, du sollst dich nicht berauben.”
Er sammelte die Münzen zusammen und warf sie ihr in die Manteltasche.
Dann sprachen sie von seiner Mutter: sie werde wohl bald wieder heimkommen; von seiner letzten Fahrt vor den [S. 51] Inseln draußen: es sei gewagt, in einem offenen Boot so weit hinauszurudern. Er holte die Tassen vom Anbau herein, sie schenkte ihm Kaffee ein, sie selbst habe eben Kaffee getrunken, sagte sie lachend, und nun könne sie nicht noch mehr trinken. Sie setzte sich auf einen Stuhl, der helle Schweiß stand ihr auf der Stirn.
Oliver dagegen fühlte sich allmählich wohl und behaglich; er neckte sie sogar ein wenig mit dem Schreiner, aber ohne Bosheit, zeigte keinen Groll, weder gegen sie, noch gegen ihn. „Ja, es ist wohl etwas zwischen dir und Mattis gewesen?”
„Du schwatzest Unsinn. Zwischen mir und Mattis?”
„Ja, solltest du ihn denn nicht haben?”
„Den Mattis?” Petra schlug die Hände zusammen. Sie verschwor jegliches Techtelmechtel mit Mattis, sie habe ganz und gar nichts mit ihm zu tun, ja, sie machte sich sogar über seine große Nase lustig.
„Das ist doch merkwürdig!” sagte Oliver; aber es war ihm gar nicht zuwider, ihre Versicherungen anzuhören. „Ich hatt' es aber so verstanden,” fuhr er fort.
Petra sah an ihrem Mantel herunter und murmelte: „Es gibt nur einen, den ich jemals in meinem Leben gern gehabt hätte.”
Oliver versank in Gedanken, und plötzlich fragte er: „Bist du noch bei Johnsens in Dienst? Wie ist denn der Scheldrup?”
„Der Scheldrup? Wieso?”
„Ich hab' nur gefragt. Er betrug sich wie ein junger Bengel, als ich mit dem Havaristen ankam und über alles ein Protokoll aufgenommen werden mußte.”
„So,” bemerkte Petra nur. Sie füllte ihm seine Kaffeetasse wieder, setzte sich dann aufs neue und begann: „Ach du, Oliver, was meinst du, wenn —”
„Was denn, wenn?”
Schweigen.
„Nein, ich weiß doch nicht,” sagte sie und schüttelte den Kopf. Dann klimperte sie ein wenig mit den italienischen Münzen in ihrer Manteltasche. „Aber meinst du nicht, es könnte wieder so werden, wie es früher zwischen uns gewesen ist?”
Die Frage schien keinen besonderen Eindruck auf Oliver [S. 52] zu machen, er hatte sie wohl erwartet und dachte sich das seinige dabei. „Wie kommst du darauf?” fragte er.
„Ich hab' es die ganze Zeit gedacht,” antwortete sie.
„Ich bin für niemand mehr etwas nütze,” sagte er.
„Sag' das nicht, du könntest irgendeine Beschäftigung beim Konsul bekommen.”
„Beim Konsul!” höhnte er. „O nein, aber ich hab' mir schon überlegt, mich um einen Posten beim Leuchtturm umzutun.”
„Ja, oder auch das. Etwas wird sich schon finden.”
Schweigen.
„Es ist nicht daran zu denken,” begann er wieder. „Ein maroder Mann und ein leeres Haus. Allerdings zwei Türen zum Einsetzen könnt' ich schon bekommen, aber ...”
Sie hörte, daß es nicht unmöglich war, und drängte nun nicht weiter in ihn, aber sie ließ eine Anspielung fallen, sie habe zwei Türen daheim. Und dann zeigte sie ihm, daß sie seinen Ring noch trug, es sei alles wie vorher. Unleugbar, Oliver sah sie an und riß die Augen etwas auf, als sie von dem Ring zu reden anfing, etwas verlegen fühlte er sich wohl auch, hätte er etwas sagen sollen, so hätte es ein Fluch sein müssen.
„Haha, ja nun steht wohl ein anderer Name drin!”
„Nein, ich hab' ihn herauskratzen lassen. Willst du' sehen?”
Diese Petra, in manchem und vielem war sie ein Teufelsmädel, tüchtig und überlegen. Aber das war denn doch fast zu viel. „Solltest du ihm den Ring nicht zurückgeben?” fragte er.
„Den Ring? Das fehlte gerade noch!”
Da lachte Oliver hellauf, um sich selbst und auch sie aus der Verlegenheit zu ziehen.
„Den Ring zurückgeben?” sagte Petra. „Da fühl, wie schwer er ist! Er ist das reine Gold.”
Oliver gekränkt: „Wie du redest! Meinst du, ich hätt' im Ausland einen Ring aus Messing für dich gekauft? Es ist echtes Karatgold.”
„Ja, das wußt' ich. Er soll nie wieder von meiner Hand wegkommen.”
Aber so leicht sollte es nun auch nicht gehen. Sie meinte wohl, nun sei sie also wieder mit ihm verlobt, aber [S. 53] sie mußten sich's doch erst überlegen, erst etwas darüber nachdenken; der Schreiner würde allerdings nicht daran sterben, er hatte sich ja selbst zurückgezogen, außerdem war es wirklich ein Streich, den man dem Schreiner, der einen Krüppel schlecht behandelt hatte, spielen konnte. Aber trotzdem, zu überlegen war dabei noch vieles.
„Hier sitz' ich!” rief sie und sprang auf, um nach dem Kessel zu sehen. „Ich sah nicht, daß du ausgetrunken hattest.”
Und Oliver ließ sich einschenken; es war guter, starker Kaffee, überhaupt brachte Petra ein außerordentliches Wohlbehagen mit, schon dadurch, daß sie sich beim Einschenken auf seine Schulter stützte. „Wo dieser Kaffee herkommt, gibt es noch mehr!” sagte sie und setzte sich auf sein Knie. „Kannst du mich doch noch tragen?”
„Ob ich dich tragen kann!” rief er mannhaft. „Ich kann ebensogut tragen wie vorher.”
„Da siehst du! Warum sollte es da nicht gehen?” — Sie schmiegte sich mit dem Mantel und allem an ihn an; küßte ihn und erinnerte eindringlich: „Ja, was meinst du, Oliver, willst du mich haben?”
Na, das war nun fast mehr als genug, aber einerlei, alles äußerst genau abgewogen, war es vielleicht gar nicht dumm. Wie sehr sie es doch wollte, wie sehr sie es doch wollte!
„Hm!” sagte er. „Wenn ich so hier sitze und mir's überlege, dann glaub' ich —” hier hielt er inne und ließ einen Augenblick Totenstille herrschen — „daß es sich vielleicht machen läßt.”
„Ja,” hauchte sie.
„Da du es willst.”
„Ja,” hauchte sie.
Und wieder verging ein Tag nach dem andern, es wurde keineswegs schlimmer als zuvor. Als Petra einzog, brachte sie das eine und andere mit ins Haus, und Oliver fischte mit größerem Fleiß als vorher. Eine gewisse Abenteuerlust verließ ihn nicht; an einem schönen Tage konnte er in seinem eigenen gebrechlichen Boot weit aufs Meer hinausrudern, volle vierundzwanzig Stunden fortbleiben und dann erst wieder heimkommen. In dieser Beziehung war er ein sonderbarer Kauz.
Nein, es ging nicht schlimmer als zuvor, und wenn nicht gerade wirkliche Not drohte, war Oliver zufrieden. Wie nun, als die Mutter wieder von ihrer Wanderung heimkehrte; sie kam auch nicht mit leeren Händen, sondern trug einen Sack auf dem Rücken, Lebensmittel, Kleidungsstücke. Vor kurzem noch wäre ein solcher Sack der Gegenstand eines rechten Streites geworden; jetzt aber waren drei im Hause, sie teilten miteinander, aus Schamgefühl, wenn nicht aus anderen Gründen. Oliver war als Verlobter tadellos.
Eines Tages kam eine alte Frau daher; Oliver kannte sie und würde ihr wohl wieder einige Lose abgekauft haben, aber jetzt hatte er im Gegenteil gewonnen. Die Frau kam mit einer Tischdecke an. „Da siehst du,” sagte Oliver lachend, „der liebe Gott hat mich nicht vergessen!”
Nun hatten sie eine Tischdecke, und Petra schaffte wahrhaftig Türen für die Stube und Kammer des Anbaus herbei. In den früheren Jahren, wenn Oliver von der Reise heimkam, hatte er seinem Mädchen verschiedene Geschenke mitgebracht. Diese Zieraten kamen nun auch mit, sie standen alle auf ihrer Kommode, von dem irdenen Hund und dem Spiegel an bis zu dem weißen Engel und dem mit verschiedenen Hölzern eingelegten Kaffeebrett.
[S. 55] Nach der Trauung genehmigte sich Oliver ein paar faule Tage und ließ sich die Reste der Festmahlzeit gut schmecken; dann begann die Mutter aus alter Gewohnheit, ihn zu ermahnen, auch wieder hinauszurudern.
Und er sagte, er hätte es auch ohne Ermahnung getan, denn er wisse wohl, was seine Pflicht sei. Wahrhaftig, das Leben war jetzt besser, als er sich gedacht hatte, Oliver klagte nicht, er war ein verheirateter Mann und alles, was dazu gehörte, alles war entschieden, nichts schwebend, nichts zweifelhaft. Es war ein Glück, daß er damals den Anbau nicht vermietet hatte, da er ihn nun selbst notwendig brauchte.
Doch siehe, eines Tages schickte Mattis einen kleinen Jungen zu Oliver und ließ ihm sagen, er habe mit ihm zu reden. Aber Oliver hatte nichts mehr mit diesem Manne zu reden, durchaus nicht: „Was will er von mir? Sag' ihm, er brauche sich gar nicht zu mir herzubemühen, sag' das dem Mann!”
Sie konnten den Schreiner vor ihrem Fenster hin und her wandern sehen, und er machte kecke Schritte, es sah aus, als ginge er nicht das erstemal Napoleon entgegen. „Es ist toll genug, auf einen Krüppel loszugehen,” sagte Oliver jetzt. „Die sollen mit ihm reden, die ein Hähnchen mit ihm zu pflücken haben,” sagte er in die Stube hinein. — Da strich sich Petra ein paarmal glättend übers Haar, sie machte sich hübsch und unwiderstehlich und trat dann auf die Straße hinaus.
Die in der Stube Zurückgebliebenen konnten sehen, daß der Schreiner zusammenzuckte. Wo war nun seine ganze Mannhaftigkeit? Die beiden draußen fragen und antworten einander, können sich aber nicht einigen; wenn sie von den Türen sprechen, dann bitte, aber sie sprechen wohl von dem Ring. Oliver sitzt am weitesten in der Stube drinnen, er streckt nur die Nase vor und beobachtet den Auftritt. Jetzt wird der Schreiner lebhaft, er ermannt sich und sieht Petra gerade ins Gesicht, er fängt an umherzulaufen, während er redet, er macht förmlich einen Kreis um sie. Und Petra — obgleich sie Finnen im Gesicht hat und nicht besonders hübsch aussieht, so zügelt sie den aufgeregten Mann doch mit leisen, betrübten Worten. Na, da steht sie vor ihm und lächelt ihn gar so nett und [S. 56] verführerisch an. Schließlich starrt Mattis mißmutig zu Boden, und als ihm Petra die Hand reicht, nimmt er sie auch, ohne aufzusehen; nachdem er sie einen Augenblick festgehalten hat, geht sie. Dann geht Mattis. Oliver sitzt in der Stube, Mattis tut ihm fast leid.
Und im übrigen tauchten keine andern Unannehmlichkeiten mehr auf.
Keine andern?
O, die Zeit verging ja, und vieles ereignete sich, schlechtes Wetter verhinderte tagelang jede Ausfahrt. Petra war ans Haus gebunden durch das Kind, durch den Jungen, den sie bekommen hatte; die alte Mutter hatte die Sorge fürs Haus aufgegeben; sie wanderte nicht mehr in die Welt hinaus und kam mit einem vollen Sack heim.
Doch das machte nichts, Oliver litt keine Not, er gedieh, er und die Katze. O, der alte Kater, er war nichts mehr nütze, er konnte nur daheim in der Stube herumliegen und sich von den vielen Fischen einen dicken Bauch anfressen; schließlich glaubten die beiden Frauen, es sei eine Katze. Und Oliver, saß nicht auch er daheim, war zufrieden und wiegte das Kind und beobachtete, was auf der Straße vorging. Seine Hände waren kleiner und seine Haut weißer geworden, auch sein Gesicht sah hübscher aus. Es ärgerte ihn, daß er keine Möglichkeit sah, sich eine Pelzmütze für den Winter anzuschaffen; konnte er denn an Wintertagen mit einem Strohhut hinausrudern? „Kannst du dir nicht einen Südwester anschaffen?” fragte die Mutter. Der einstmals so flotte blaue Schlips hatte den Glanz verloren, aber das mußte doch verdeckt werden können; wenn er nicht aufzufärben ging, konnte ihn Petra wohl wenden. Doch es zeigte sich, daß die linke Seite ebenso verschossen war. Da wurde Oliver wie ein wenig übellaunisch und meinte: „Ich denke, du sagtest damals, ich könnte bei Johnsen am Landungsplatz einen Verdienst bekommen, wie steht es denn damit?”
Die arme Petra, ja, sie wollte mit dem Konsul reden.
„Warum nennst du ihn immer den Konsul?”
„Wir nannten ihn den Konsul, als ich dort im Hause war.”
„Aber es sind doch noch andere Konsul geworden,” sagte Oliver. „Der Heiberg ist Konsul, der Grütze-Olsen ist Konsul.”
[S. 57] Ganz richtig, es gab allmählich mehrere Konsuln im Ort, o, so viele von diesen Vizekonsuln und Konsularagenten, so viele, die sich um die Knochen balgten, es wimmelte von ihnen in dem Küstenort. Nicht immer lief es ohne Streit und Mißgunst ab, es wurde im geheimen gearbeitet, der eine Handelsmann erlaubte dem andern nicht, hinter seinem Rücken zu florieren. Johnsen am Landungsplatz erlebte es, daß er viele Gleichgestellte hatte, und was erlebte nicht alles auch Frau Johnsen! Gott war ihr Zeuge.
Petra war vielleicht in einem besonders ungünstigen Augenblick zu C. A. Johnsen gekommen, er hatte keine Arbeit für ihren Mann. Oder hätte es sie vielleicht mehr genützt, wenn sie auch nur eine Spur niedlich und zart ausgesehen hätte? Die arme Petra, ihr Gesicht war fahl mit eingefallenen Wangen, und der Konsul sagte glatt weg nein, wahrhaftig, es sei nichts zu machen. Sie solle es bei einem von den neugebackenen Konsuln probieren, Gott mochte wissen, wofür die eigentlich Konsul geworden seien? Ob ihr Mann nicht bei Olsen ankommen und ihm die Grütze auswiegen könne? Aber es sei sehr richtig von ihr, daß sie zuerst zu ihm komme, zu C. A. Johnsen, er wolle versuchen, Oliver späterhin eine Unterstützung zu verschaffen, aber jetzt nicht. Sie solle doch nicht so niedergeschlagen aussehen, es gebe außer ihr noch andere, denen es in der letzten Zeit knapp gegangen sei, die Zeiten seien schwierig, das Dampfschiff Fia habe auch nicht so besonders gute Geschäfte gemacht. Und warum Oliver denn nicht auf den Fischfang hinausrudere?
Der Konsul betrachtete Petra und ihre Angelegenheit mit guten braunen Augen, und er wies sie nicht ohne Mitleid ab, aber sie mußte unverrichteter Sache fortgehen.
Was nun? Was sonst, als daß sich Oliver wieder zusammennahm und wieder männlich auf den Fischfang auszog, ja, jeden Tag, früh und spät. Er wollte es ihnen zeigen! Und nie kam er mit einem Fisch zu Johnsen am Landungsplatz, sondern er ging auffällig vorbei. Als er später mehr Fische fing, als er tragen konnte, stellte er sich leere Kisten am Bollwerk zurecht und richtete einen Fischmarkt ein, ein Abenteuer! Da stand er und war ein Großhändler. Einige Tage lang sträubten sich die Familien, [S. 58] den weiten Weg nach dem Bollwerk zu machen, da aber immer Fischnot herrschte, mußten sie sich fügen und zugreifen. Oliver hatte sehr matte Augen, und wenn man ihn sah, kam er einem fast etwas aufgedunsen und schwachsinnig vor; aber nicht immer, nicht, wenn es sich um einen Kniff, einen Streich handelte, da war er schlau genug. Da stand er nun mit seinen Fischen, er pries sie nicht an, schraubte im Gegenteil den Preis hinauf und machte ihn unerhört teuer. „Wollt ihr die Fische? Nicht, dann laßt es nur!” Oliver wußte, daß er die Fische an die regelmäßig verkehrenden Schiffe verkaufen konnte, und außerdem wußte er auch, daß anständige Leute mit einem Krüppel nicht so genau rechnen durften.
Den ganzen Herbst hindurch lebte Oliver mit seiner Familie besser als je, die Frauen schätzten ihren Versorger und ließen ihm das Beste zukommen, der Versorger bekam am Abend Sirup auf die Grütze, der Versorger bekam am Sonntag Waffeln zum Frühstück. Das war nicht mehr als recht und billig. Er verbesserte seine Stellung, er bezahlte den Kaufleuten etwas von seinen alten Schulden ab und strich sogar die beiden Türen des Anbaus an; auch stieg er in fachmännischem Ansehen bei den Fischern, bei Jörgen und Martin. Da hatten diese alle die Jahre her die Fische in die Häuser der Stadt geschleppt, ohne zu murren, bis Oliver daherkam und sie lehrte, hinter einem Tisch am Bollwerk zu stehen und die Fischpreise zu erhöhen. Sie bedankten sich bei ihm, weil er das erfunden hatte. „Ja ja, ich bin eben ein wenig in der Welt herumgekommen,” erwiderte Oliver.
Diese zunehmende Achtung von seinen Nächsten und den andern wirkte auf Oliver zurück und tat ihm gut. Wenn er von der Tagesarbeit heimkehrte und am Stubenfenster vorbeikam, konnte er hören, daß es drinnen sofort lebhaft wurde und daß Petra zu dem Kinde sagte: „Da kommt Vater!” Es war merkwürdig, wie diese ausgedachten Worte das Kind beruhigten, und Oliver behauptete sogar, der Junge in der Wiege verstehe sie. Es war auch gar nicht unmöglich, daß er sie verstand: Die Worte wurden jeden Tag zu einer bestimmten Zeit wiederholt, und ihnen folgte regelmäßig ein Knirschen der Tür, ein kalter Luftzug und ein eintretender Mann, der nach der Wiege hinnickte. [S. 59] Als der Junge ein paar Monate älter war und allein spielte, konnte kein Zweifel darüber herrschen, daß er den Ereignissen in der Stube mit vollen Sinnen folgte; seht nur das Würmchen, den kleinen Racker! Sobald die Mutter das Mieder aufknöpfte, fing er an zu schmatzen, und wenn die Mutter sagte: „Da kommt Vater!” richteten sich seine braunen Augen auf die Tür.
Zwischen dem Jungen und Oliver herrschte große Freundschaft. Und als das Kind die Ärmchen ausstreckte und zu Oliver wollte, da übermannte den Krüppel die Rührung. Dieses kleine Wesen — hat man je so etwas gesehen — dieses Nichts, dieser kleine Racker, he he, ein verflixter Kerl, zum Kuckuck! Es wurde vollends schlimm, als der Junge zu weinen anfing, wenn Vater fortging, das konnte Vater nicht ertragen, er hätte am liebsten selbst geweint und schrie Petra deshalb an: „Gib ihm die Brust, hab' ich dir gesagt!” Und darauf lief er mit seinem Stelzfuß zum Hause hinaus.
O ja, oftmals geriet er mit den Frauen im Hause in Streit über das, was das Kind verstand und nicht verstand. Er gab sich sehr viel mit ihm ab, zeigte ihm Bilder und Buchstaben und gab ihm alles mögliche in die Händchen, um damit zu spielen. Sie waren alle beide Kinder, blödsinnig und schnurrig. „Ich glaube, du bist verrückt!” schrien die Frauen. „Gibst du dem Kinde den Kaffeekessel in die Arme!” — „Ja, worauf soll er denn klopfen?” fragte Oliver. Er nahm die Zieraten von der Kommode und trug sie dem Jungen hin; als das Kind einen kleinen Spiegel auf den Boden schleuderte, sagte Oliver, er selbst habe den Spiegel fallen lassen und nahm die Schuld auf sich.
Das waren gute Tage! Petra wurde ja auch wieder hübsch und wollte an den Sonntagen gern ein wenig ausgehen. Ja, sie solle nur gehen, Oliver habe nichts dagegen, die Großmutter könne auch gehen, er verstehe nicht, wie gesunde, ruhige Menschen daheim sitzen bleiben möchten.
Er selbst hielt sich in der Stube auf, und wenn das Kind schlief, döste er am Tisch. Träumte er? Zogen die Erinnerungen aus der früheren Zeit durch sein schwerfälliges Gehirn? Er hätte wohl Ursache gehabt, über sein [S. 60] furchtbares Schicksal nachzugrübeln, aber dieses hatte ihn vielleicht schon stumpfsinnig gemacht.
Dann kam Petra in der Abenddämmerung heim, und es war auch Zeit, denn nun schrie das Kind, wie wenn es am Spieße steckte. Die Sache aber war die: Oliver wollte ihn ja lesen lernen, mitten in dem Unterricht jedoch fing der Junge an zu brüllen, Vater wiegte ihn herrlich auf und ab und redete ihm gut zu. „So, so, so, es geht schon, du darfst den Mut nicht verlieren, du lernst es, so wahr ich Oliver Andersen heiße!” Doch der Junge wollte ja Milch haben, deshalb schrie er, sonst wegen nichts.
Wenn nun Petra nur ein wenig demütig und reuevoll gewesen wäre, weil sie so lange aufgehalten worden war, aber keine Rede davon! Es war wohl ein jäher Sturz für sie, da kam sie geradeswegs vom Leben auf der Straße und wurde daheim mit Kindergeschrei empfangen. So jung noch und schon so gebunden, so unterdrückt! „Ach, so schweig doch, jetzt bin ich ja da!” sagte sie zu dem Kinde. Aber sie ließ sich gut Zeit, den Sonntagsstaat auszuziehen, und dann stand sie vor dem Spiegel und besah sich von allen Seiten; das war recht widerlich, und Oliver war mehr als geduldig, daß er ihr nicht die Krücke zu schmecken gab.
Nachdem er ihr eine Weile zugesehen hat, ruft er rasend: „Warum, beim Satan, nimmst du den Jungen nicht?”
„Warum ich ihn nicht nehme? Jetzt nehm' ich ihn.”
„Ja, — nachdem er sich ganz blau geschrien hat.”
„Laß ihn schreien! Es handelt sich nicht ums Leben.”
O, es war kein Zweifel, Oliver hätte die Krücke benützen sollen. Handelte es sich nicht ums Leben? Was für eine Kuh! Aber es handelte sich ums Essen. Das konnte er gleich sehen: als das Kind das bekam, was es haben sollte, schwieg es sofort. „Du solltest deinen Verstand gebrauchen,” sagte Oliver und fühlte sich höchst ehrbar.
O ja, sie verstand es sehr wohl.
Aber Petra warf den Kopf zurück, Petra murrte. Was war das nur? Verstand sie vielleicht nicht, in was sie sich hineinbegeben hatte?
Sie war kein Mädchen mehr, sie war im Gegenteil verheiratet und verloren; laß jetzt jede Hoffnung schwinden! Arme Petra, sie hatte in einer Zwickmühle ordentlich nachgeben [S. 61] müssen, o, was für ein Kreuz sie auf sich genommen hatte! Sie konnte es nicht tragen, nicht wie andere aus dem Volke, andere Mädchen trugen auch kein solches Kreuz, zum Kuckuck, nein! Bei Konsuls war ihr viel anvertraut gewesen, zweimal hatte man ihr den Lohn erhöht, und Scheldrup war in sie verliebt gewesen, war es wohl noch. Und da saß sie nun! Ja, auf diese Weise lehnte sich Petra auf.
„Es ist gerade, als dächtest du gar nicht an den Jungen,” sagte Oliver wie ein Richter.
„O, ich denke Tag und Nacht an ihn. Soll ich ihn auf den Rücken nehmen, wenn ich ausgeh'?”
Petra höhnte. Oliver sah sie immer aufmerksamer an, und als nun ihr Hauch seine Nase erreichte, begriff er besser: sie war da und dort gewesen und hatte getrunken. Ha, das war großartig, und jetzt hatte sie Mut und Beredsamkeit bekommen.
„Wo bist du gewesen?” fragte er.
„O, nicht in vielen Häusern.”
„Du bist jedenfalls irgendwo gewesen, und man hat dir zu trinken gegeben.”
„Merkst du es? Jawohl, ich bin bei Konsuls gewesen. Sie hatten Gesellschaft, und ich hab' ein wenig geholfen. Frau Johnsen hat mir eingeschenkt.”
Petra war nicht dem Trunke verfallen, diese Erklärung genügte, wenn sie wahr war. Wenn sie wahr war! Sie scheute sich nicht vor einer Notlüge, einer falschen Aussage, im Gegenteil, da sie nicht besonders erfinderisch war, wurde sie dann liebenswürdig und lieb und frech, und damit kam sie weit. Oliver mochte es glauben oder nicht glauben, daß sie bei Konsuls gewesen sei, das änderte nichts an der Sache! Seht, da sitzt sie nun und stillt das Kind, etwas dumm, aber hübsch und jung, etwas toll vielleicht, leichtsinnig vielleicht, warum nicht? Nun, sie war gerade kein Licht, sondern gewöhnlich und unbedeutend, eine Dirne, aber auch mit guten Seiten, mit Körperwärme, mit einer verflixten Weiblichkeit. Da kam sie nun heim und war im Hause, sie gehörte Oliver, sie war etwas Ernährendes, sie hatte Milch in sich, er sah ihre geschwellten Brüste.
Aber jetzt hatte Petra zu trinken bekommen, vielleicht war sie hungrig gewesen, als sie trank, deshalb konnte sie [S. 62] nicht mehr als ein Glas ertragen, dann wurde sie keck; dann wurde sie unfreundlich und gleichgültig. Seht, wie sie den Jungen wiegt, den kleinen Frank hin und her schaukelt!
Aber das konnte Oliver nicht leiden, o, das wußte sie sehr wohl. Sie stritten sich, und Petra blieb keine Antwort schuldig, sie kümmerte sich auch gar nicht darum, daß die alte Großmutter hereinkam und zuhörte. „Was,” dachte wohl die Großmutter, „streiten sie sich im Ernst?” Sie hörte die junge Frau zu ihrem Manne sagen: „Womit kannst denn du groß tun?”
„Ich?”
„Ja, du. Und daß du dich nicht schämst?”
„Ich bin eben so, wie du mich hier siehst,” versetzte er.
Da lachte sie und erwiderte: „Ja, wenn du wenigstens so wärest!”
Die Großmutter verstand diese Rede nicht, aber sie verwunderte sich über ihren Sohn, der gar nicht auffuhr. Petras Worte waren so sonderbar, was sollte das bedeuten? Und Oliver schwieg dazu.
„Was gibt es denn?” fragte die Alte.
Keines von beiden gab eine Antwort.
Plötzlich fragt Oliver unheilverkündend: „Warum bist du denn hergekommen und hast mich haben wollen? Das versteh' ich nicht.”
Darauf antwortete Petra: „Das müßtest du doch verstanden haben.”
„Ich verstanden haben?”
Schweigen.
Die Großmutter ging durchs Zimmer und zog auch ihren Sonntagsstaat aus, sie hängte ihn weg, aber sie war ganz Ohr. Was konnte denn Petra noch von ihrem Manne wissen, was ihm nicht alle Welt ansehen konnte? Was war das für ein Geheimnis? War er im Gefängnis gewesen oder sollte hineinkommen? Jetzt fiel der Großmutter auch ein, daß Petra schon seit längerer Zeit auf ihren Mann stichelte, halb im Scherz, aber doch halb höhnisch, sie lachte dann und machte unanständige Bemerkungen: er tauge genau so viel wie der Kater im Hause, er fresse Fische.
Wieder herrschte Schweigen im Zimmer. Das Kind [S. 63] schlief und die Menschen beruhigten sich. „Was gibt's Neues im Ort?” fragte Oliver, um Entgegenkommen zu zeigen.
Da Petra nicht antwortete, sagte die Mutter: „Was mich betrifft, so hab' ich nichts Neues gehört. Ja, jetzt soll eine höhere Schule hier eingerichtet werden.”
„Was, eine höhere Schule hier?”
„So heißt es. Und sie wollen ein mächtiges steinernes Haus dafür bauen.”
Da es indes Olivers Absicht war, seine Frau mit ins Gespräch zu ziehen, fragte er sie direkt: „Wer war denn in der Gesellschaft?”
„In welcher Gesellschaft?”
Aha, also das wußte sie nicht mehr. Dann war es wohl Schwindel gewesen. Er nahm sich vor, morgen darüber Auskunft zu erlangen.
„Ach, du meinst bei Konsuls. Da waren alle die Vornehmen.”
„Waren ihre Frauen auch da?”
„Nein, das heißt, ich weiß es nicht.”
„Dann hast du also nicht aufgewartet?”
„Warum fragst du denn die ganze Zeit?” unterbrach sie ihn lachend. „Glaubst du mir vielleicht nicht?” O, aber sie war nicht so ganz ruhig, ihr Lachen klang unecht. Sie balancierten beide, gingen auf des Messers Schneide. Plötzlich richtete sie sich entschlossen auf, strich sich übers Haar und scherzte: „Weißt du was, du hättest deine Krankenpflegerin in Italien nehmen sollen! Dann wärest du ein Mann geworden!”
Und Oliver erwiderte halb scherzhaft, halb ernst: „Allerdings, und ich denk' auch mit Reue an die Krankenpflegerin.”
Der Winter verging, ein Tag um den andern.
Aber natürlich hatte Oliver keine Ausdauer, sein Fleiß war Kunst, er wurde des Fischens überdrüssig, und da schob er das Kind vor.
Jawohl, ganz allmählich wurde das Kind vorgeschoben. Wenn er vom Fischmarkt heimkam, untersuchte er recht geflissentlich das Kind in der Wiege, überzeugte sich, ob es atmete, horchte eine Weile. Und er stellte beleidigende Fragen: „Sie haben dir wohl nichts zu essen gegeben, Frank, sie haben es wohl ganz vergessen?” Im Anfang lachten ja die Frauen darüber und hielten es für Scherz; aber Oliver erklärte, er habe im Ernst Angst. Später pflegte er offen das Kind als Vorwand zu benützen, wenn er nicht hinausrudern wollte: es schreie so herzzerreißend, wenn er fortgehe.
Seinen Platz am Bollwerk überließ er dem Fischer Jörgen, ja, er bot ihn diesem selbst an: „Es ist der beste Platz, und du sollst ihn haben. Du weißt: du und ich, Jörgen!”
Ob er denn nicht mehr fischen wolle?
Nicht, um zu verkaufen, er fische nur noch für sich selbst. Jörgen könne den Platz jedenfalls den Winter über haben, zum Frühjahr wolle ihn Oliver dann ja vielleicht selbst wieder. Jörgen bekam überdies noch eine deutlichere Erklärung: er habe das Herz nicht, seinen kleinen Frank allein zu lassen, es möge gehen, wie es wolle, das Kind wolle immerfort bei ihm sein. Es sei merkwürdig mit so einem kleinen Kerl, und ob Jörgen ihm wohl den Grund angeben könne, warum der Vater der Mutter und allen andern vorgezogen werde.
Das sei dem Kinde wohl angeboren?
Genau, was er selbst gedacht habe: der Vater sei der [S. 65] Erzeuger des Kindes, und daran hänge das Kind fest; die Mutter sei nur die Erde, in die das Kind hineingepflanzt werde. Ob das nicht ganz klar sei? Das Gras wachse, die Schiffe führen auf dem Wasser dahin, der Himmel habe Sterne, das sei alles verständlich. Aber das sei nun etwas anderes, und natürlich könne ihm kein Mensch auf dem weiten Erdenrund erklären, daß Frank — daß ein Kind — „er ist kaum eine Spanne lang und hat schon Verstand!”
Leeres Gerede, Gedanken vom Backbord zu Schiff. Es war eine Weiberunterhaltung bei der Häkelarbeit. Aber Jörgen, der wortkarg war, mußte seine gewöhnliche Erklärung zu Hilfe nehmen: es sei vieles in der Natur verborgen.
In der Stadt beurteilte man Oliver anders, die Stadt war, wie nicht anders zu erwarten war, der Ansicht, Oliver müßte für seine Faulheit auf Wasser und Brot gesetzt werden. Ob das eine Art sei, eines kleinen Kindes wegen daheimzubleiben, anstatt hinauszurudern?
Aber es ist viel verborgen in der Natur, so auch in Oliver. Diesmal begründete er also seinen Abfall vom Fleiß auf eine ganz aparte Weise. Natürlich war er faul, aber hatte er etwa keinen Grund dazu?
Eines Morgens fällt ihm auf, daß Petra beim Kaffeekochen der helle Schweiß auf der Stirne steht. „Bist du unpäßlich?” fragt er. — „Ja,” antwortet sie. Er sagt nichts mehr, er ißt sein Frühstück, rudert zum Fischen hinaus und kommt erst gegen Abend zurück. Petra ist unleidlich; es ist, als habe sie Zahnschmerzen, Oliver sieht, wie vorsichtig sie kaut, sie will keinen Kaffee, kann ihn weder sehen noch riechen, sie geht umher und spuckt in den Ecken aus. „Ist dir noch so schlecht?” fragt er. — „Ja, du hast es ja gehört!” antwortet sie gereizt.
Darauf sieht er sie in höchst zweideutiger Art an, sieht langsam an ihr herunter, nicht heimlich, sondern ganz offen und gerade, er will, daß sie es merkt. Als er es getan hat, schlägt sie die Augen nieder und seufzt.
O, Petra hatte Augen im Kopf, sie hatte verstanden. „Willst du noch Kaffee haben?” fragt sie und schenkt ihm ein.
Er gibt keine Antwort, er scheint wirklich ganz in tiefe [S. 66] Gedanken versunken zu sein, er sieht nicht, er hört nicht. Hat er sie mit seinem Seufzer gerührt? Sie gab sich jedenfalls Mühe, recht still zu sein, während sie im Zimmer aufräumt. „Trink nun deinen Kaffee, ehe er kalt wird,” sagt sie.
Da kommt Oliver wie aus weiter Ferne wieder zu sich, o, vielleicht aus dem Lande der Apfelsinen oder vielleicht aus der Unterwelt; er steht auf.
Nun hätte alles so ernst und tief verlaufen können, aber ein Zufall verdarb es wieder. „Ja ja, Frank, jetzt geh' ich,” sagte er zu dem schlafenden Kinde. Soweit ging alles gut. Doch nun fing er an, sich über die Hüften zu streichen, fand aber das Gesuchte nicht. „Und dann komm' ich heut abend wieder zu dir, Frank,” sagte er. Er sucht etwas auf einem Wandbrett, er öffnet eine Kommodenschublade und findet es nicht. Dann findet er es endlich in der Wiege — das Schnitzmesser, dieses Ungeheuer, dieses Schwert, das er immer auf den Fischmarkt am Bollwerk mitnahm. Er hatte es am vorhergehenden Abend dem Kinde zum Spielen gegeben und es dann vergessen. O, das war unglaublich; erst schlug Petra entsetzt die Hände zusammen, dann brach sie in lautes Gelächter aus. Olivers Seufzer ging vollständig verloren, wie ein geschlagener Mann schlich er hinaus an seine Arbeit.
Aber warum dieser ganze Auftritt? Ein gleichgültiges Spiel! Dürfte nicht eine verheiratete Frau einmal unpäßlich sein und den Kaffee verabscheuen? Ach, wie das Oliver auf einmal unüberwindlich vorkam, wie schwer und verzweifelt kam es ihm vor, Gott hatte ihn nicht verständiger gemacht. Er strich die Segel. Nicht, daß er von diesem Tag an jemand seine eigene Faulheit zur Last gelegt hätte, er beklagte sich auch nicht bei andern, nein, das tat er nicht, aber er schob das Kind vor. So hatte er einen Grund, sich von der Arbeit frei zu machen.
Der Winter verging.
Und es verging mehr als ein Winter — in Müßiggang und häuslichem Streit, mit schlechtem Essen, in Lumpen, in Dunkelheit.
Im Frühjahr pflegte Oliver aufzuwachen und bis zum Herbst fleißig zum Fischen hinauszurudern; dann lebten [S. 67] sie daheim wieder besser, er bezahlte bei den Kaufleuten für das im Winter geborgte Mehl und für die Margarine, und so schlugen sie sich durch. Auf diese Weise ging es auch. Die Achtung, die er sich einmal sozusagen erarbeitet hatte, ging allerdings flöten, er wurde von den Menschen einfach übersehen und gering geachtet, was er vielleicht auch verdiente, weiß Gott!
Diesmal bekam Frank ein kleines Brüderchen, ein braunäugiges Eichkätzchen lag in der Wiege, der Vater nahm das so auf, wie es seine Pflicht war, und verzweifelte nicht. Er war gegen beide Kinder gut, aber Frank, der Erstgeborene, war und blieb sein Junge, mit Abel, dem zweiten, gab er sich nicht viel ab. Sogar auch die Mutter zog Frank vor, vielleicht, weil er der hübschere war; wenn die Kleider für Frank zu klein wurden, mußte der Bruder sie weiter tragen, deshalb lief Abel Jahr um Jahr in zerschlissenen Hosen herum. Nicht, daß Abel sich darüber gekränkt gefühlt hätte, im Gegenteil, er fand meist noch etwas in den Taschen dieser abgelegten Anzüge, wenn er sie übernahm, ein Taschenmesser, eine Pfeife, einen Bleistiftstumpf, Knöpfe, Angeln, Nägel; diese Sachen tauschte er sofort um andere Dinge ein und ließ sie vorsichtshalber den Besitzer wechseln. Dies war einer von Abels Kunstgriffen, sich irdisches Gut zuzulegen. Er hatte übrigens auch noch andere Kunstgriffe; er tat sich eifrig mit Eduard, dem Sohn des Fischer Jörgen zusammen, der etwas älter war als Abel und von dem er deshalb außerordentlich viel lernte; die beiden verdienten sich ein paar Pfennige durch Besorgungen für andere, durch gelegentliche Handlangerdienste und durch den einen und andern glücklichen „Fund”. Einmal „fanden” sie wahrhaftig Kaffee im Lagerhaus des Grütze-Olsen; wie hätten sie das vermeiden können? Der Kaffee stand da mitten auf dem Boden und mußte deshalb von jemand vergessen worden sein, ein ganzer Sack, nur eben geöffnet, die Jungen meinten, er werde wohl etwas Ordentliches wert sein. Die Taschen reichten nun da eigentlich nicht aus, aber andererseits waren Taschen auch noch nie so nützlich gewesen. Auf dem Heimwege stiegen Eduard indes Zweifel auf, ob er mit seinem Warenanteil nach Hause gehen sollte, Abel aber ging mit dem seinen geradeswegs in die elterliche [S. 68] Wohnung. Die Mutter erhielt den Kaffee, sie versprach ihm auch etwas dafür, im übrigen aber verbot sie ihm, noch mehr Kaffee zu „finden”. Als sich Abel am nächsten Tag im Lagerraum einfand und etwas mitbrachte, in dem er den Kaffee forttragen wollte, mußte ihm sein Kamerad eine schändliche Geschichte mitteilen. Zuerst war Eduard gezwungen worden, sich mit dem Kaffee zu dem Sack hinzuschleichen, und als er von diesem Gang zurückkam, hatte er Schläge bekommen. Eduard war nun im Zweifel, ob er seine Eltern noch länger haben wollte.
Dieser Kaffee, der eine Quelle dauernden Wohlstandes hätte werden können, brachte übrigens auch Abel Ärger, die Mutter hielt ihr Versprechen nicht und gab ihm nichts dafür, er versuchte es im Guten und Bösen, aber nein. Dann ging er zu Oliver, zum Vater, und weinte.
„Wenn man einem Menschen etwas versprochen hat, so soll man es ihm auch geben,” sagte Oliver rechtlich gesinnt.
„Na,” sagte Petra, „so soll ich ihm also den Kaffee abkaufen, den er gestohlen hat? Du gibst ihm ja gute Lehren!”
Aber der Vater fühlte sich durch das Ersuchen des Sohnes geschmeichelt, und da er an diesem Tage reichlich Fische gefangen hatte, schenkte er Abel eine blanke Krone. „Man soll dir nicht unrecht tun,” sagte er in Gegenwart aller. Und dank dieser freigebigen Handlungsweise sah sich Abel instand gesetzt, sich am nächsten Tag eine gebrauchte Angelschnur zu verschaffen. Er kaufte sie von Olaus am Wiesenrain, von demselben Olaus, der einen Minenschuß bekommen, davon lauter blaue Flecken im Gesicht hatte und von dem Tag an keinerlei Schönheit mehr aufweisen konnte. Später hatte er auch eine Hand verloren. Er trank wie ein Loch und verkaufte alles, was er hatte, jetzt verkaufte er Abel seine Fischgeräte.
„Hast du Geld?” fragte Olaus.
„Jawohl,” antwortete Abel, „eine Krone.”
„Eine Krone? Ich verkaufe sie nicht für fünf.”
Sie betrachteten die Angelschnur. Olaus rauchte und spuckte aus.
„Sie ist doch wohl nicht verfault?” fragte Abel und probierte sie.
[S. 69] „Verfault? Eine nagelneue Schnur. Kannst dich daran aufhängen; aber eine Krone — nein, zum Kuckuck!”
„Ich hab' nicht mehr als eine.”
„Dann geh nur weiter. Was stehst du denn da mit deiner einen Krone?”
Abel ging.
Olaus rief ihm nach: „Du — wie heißt du denn — hast du nicht mehr?”
„Nein.”
„Na, so komm und nimm sie! Aber sie ist fünf wert.”
Jetzt war Abel obenauf. Denn es war ja eigentlich der Fischfang, wonach den beiden Kameraden, Abel und Eduard, der Sinn stand. Beide waren schon mit Eduards Vater hinausgefahren, sie kannten die Fischgründe, aber sie hatten keine Gerätschaften; ihre Väter aber wagten es nicht, ihnen ihre Schnüre zu leihen und die Kinder auf eigene Faust hinausfahren zu lassen. Jetzt waren sie, wie gesagt, obenauf. Gegen Abend ruderten sie in Olivers Boot hinaus.
Nein, wie gespannt sie waren! Geduckt und vorsichtig wie Diebe glitten sie am Ufer hin, um an der Landzunge vorbei und außer Sicht zu kommen; sie waren nicht groß, eine Elle hoch, Nichtse, aber sie waren von ihrer Sache erfüllt und schmiedeten Pläne. Sie wußten ja nicht, was sie beim erstenmal ergattern würden, aber was sie erlangten, sollte für Angelschnüre auch für Eduard ausgegeben werden, dann hatte jeder seine eigene. O, sie verstanden sich auf das Boot, sie konnten rudern und schaukeln und rückwärtsfahren schon fast solange, als sie gehen konnten; für das Eichhörnchen und Eduard brauchte man keine Angst zu haben. Was Abel betraf, so paßte es ganz besonders gut für ihn an diesem Tag; denn er hatte große Stiefel bekommen, Schaftstiefel. Er war sehr stolz auf sie, obgleich sie früher seinem Vater gehört hatten und dann von Frank vertragen worden waren.
Dann fischten sie.
Das heißt, sie ließen Abels Schnur bis auf den Grund hinunter und zogen sie dann wohl einen Meter hoch wieder herauf; Eduard hielt das Boot auf derselben Stelle. Hoho, sie wußten alles, sie konnten das! Ab und zu ließ Abel das Lot wieder bis auf den Grund hinab und zog [S. 70] es wieder einen Meter herauf; dies geschah, damit sie jederzeit die richtige Tiefe hatten. Dann ließ er es wieder hinab, aber als er es hierauf wieder hochziehen wollte, saß es fest. Da saß es fest. Was — ruder gen Norden, ruder zurück! Versuch es nach Osten, nach Westen! Die Schnur saß auf dem Grunde fest. „Da, nimm die Ruder und laß mich danach sehen!” sagt Eduard, der der Größere von beiden ist. Sie fahren hin und zurück, endlich bewegt sich die Schnur: „Da hab' ich's!” sagt Eduard. Er holt ein, aber siehe, die Schnur ist leer, sie ist in der Mitte entzweigegangen, das Lot und der Angelhaken liegen auf dem Grunde des Meeres.
Sie sehen einander an, sie können es gar nicht verstehen; die Schnur ging entzwei. „Beim Satan!” sagt Eduard, der der Größere ist. Abel selbst fluchte nicht, aber als Eduard es tat, drückte er damit auch seine Herzensmeinung aus. Einander konnten sie keine Schuld an dem Unglück beimessen, aber der Olaus vom Wiesenrain, der hatte ihnen eine verfaulte Schnur verkauft! Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als nach Hause zu rudern.
„Du bekommst deine Krone gewiß wieder,” tröstete Eduard.
„Ich bekomme sie nicht wieder,” murmelt Abel mutlos.
„Nicht wiederbekommen? Ich geh' mit dir!”
„Ja, willst du das?” — O, Abel verließ sich auf seinen treuen Kameraden, seinen erprobten Kameraden, und er wurde beherzt. Da saß Eduard nun, kniff den Mund barsch zusammen und nickte Abel zu, daß er mitgehen und die Sache in Ordnung bringen werde. Morgen wollten sie Olaus auflauern, wenn er ans Bollwerk kam, er trieb sich ja immer da unten herum.
Jawohl, aber Olaus wollte den Handel nicht rückgängig machen. „Weg mit euch, ihr jungen Mäuse!” Abel begann zu weinen, aber das nützte nichts. „Es war keine Angelschnur zum Hinunterlassen,” sagte Olaus, „sie war zum Fischen. Fort mit euch, sag' ich.”
Aber der kleine Eduard war der größere von den beiden Jungen und in allen losen Streichen wohl erfahren. Die beiden Kameraden beratschlagten miteinander und kamen überein, in Olaus Pfeife Pulver hineinzuschmuggeln, so daß er noch einmal einen Schuß ins Gesicht bekäme. O, [S. 71] diese Gassenbuben, sie waren kaum eine Elle hoch, und schon hatten sie sieben Teufel im Leibe! Nun also, Eduard kaufte den Tabak, und Tabak mußte er ohnedies haben, er war also nicht verloren; einen netten Klumpen Minenpulver holte er sich draußen bei den Wegarbeitern. Nun war er ausgerüstet, die Kameraden setzten sich aufs Bollwerk und warteten.
Und es war ein hübsches Päckchen Tabak mit Silberpapier und Fabrikmarke, hundeteuer übrigens und einladend, geöffnet und zum Rauchen vollkommen bereit. Das Minenpulver lag dazwischen.
Nun kommt Olaus daher. „Was hast du da für einen Plunder?” fragt er.
„Meinst du meinen Tabak?”
„Ist das Tabak? Laß mich meine Pfeife mal stopfen!”
„Nein, du nimmst ihn mir nur,” versetzt Eduard und machte Miene, davonzulaufen.
„Dürft ihr kleinen Lausbuben Tabak haben?”
„Und übrigens kannst du deine Pfeife ja gar nicht stopfen, du hast doch nur eine Hand.”
Olaus sieht ein, daß er möglicherweise keinen Tabak bekommt und sagt: „Nein, dann stopf sie selbst, hier nimm sie! Was sind denn das für Narrenstreiche?”
Während Eduard den Pfeifenkopf in den Tabak steckt und den Tabak hineingräbt, schwatzt Olaus weiter: „Habt ihr Lausbuben Tabak? Woher hast du ihn?”
„Ich hab' ihn gekauft.”
„Gestohlen wirst du ihn haben. Du solltest mein Junge sein! So, stopf die Pfeife nun ordentlich voll und sei nicht geizig!”
Eduard gibt ihm die Pfeife zurück, und Olaus soll anzünden.
Jetzt gehen die Jungen zehn Schritt weit weg und betrachten ein Pferd, das dort an einem Pfahl angebunden ist. Es war etwas Besonderes an diesem Tier, es sah ganz genau aus wie ein Pferd, war braun, und im ganzen genommen war durchaus nichts an ihm auszusetzen, aber die Jungen redeten eifrig hin und her über das Pferd und gaben ihre Meinung darüber kund. Plötzlich erhebt sich ein Zischen, um Olaus steigt eine Lohe empor, und die Jungen sehen ihn einen Satz machen. Dann aber [S. 72] schien ihnen plötzlich etwas anderes höchst Merkwürdiges in einem anderen Teile der Stadt einzufallen, das sie eiligst betrachten mußten. Aber sie hörten hinter sich rasende Zurufe: werde euch „einholen” und „wartet nur!” Abel trug leider große Schaftstiefel und wäre im Anfang wirklich fast eingeholt worden.
Dies war nicht der letzte lose Streich der beiden Kameraden, und ebenso waren sie nicht zum letztenmal auf den Fischfang hinausgefahren; es dauerte nicht lange, da bekamen sie ordentliche Angelschnüre und durften mit Olivers voller Erlaubnis das Boot benützen. Die Sonntage waren gute Tage für die Jungen; da es zwischen ihnen keine religiösen Meinungsverschiedenheiten gab, waren sie ohne weiteres bereit, an den Sonntagen zu fischen, wo das Boot vom Morgen bis zum Abend unbenutzt war. Jeder von ihnen konnte mit einem kleinen Bündel Fische heimkommen, ja wahrhaftig! Die Fische loszuwerden, war keine Sache, ach nein, bei Doktors bekommen sie nicht nur den verlangten Preis, sondern auch noch ein wenig darüber, weil die Jungen den Doktor der Familie Johnsen am Landungsplatz, mit der sie unleugbar auf feindlichem Fuß standen, vorzogen. Bisweilen bekamen sie auch ein herrliches Butterbrot, das beste, was ihnen nach achtstündigem Fasten geboten werden konnte. In der Küche des Doktors wurden sie allerdings wohl auch gefragt, ob sie Erlaubnis hätten, zu fischen, während die Leute in der Kirche seien; aber sie schienen mit dem Leben der Gemeinde in der Stadt nicht genau bekannt zu sein.
Das waren frohe, reiche Tage! Unbändige Wildfänge und unverschämte Bengel in verschiedenartiger Tätigkeit! Den ganzen Tag hindurch hell wach und auch im Schlafe voller Erlebnisse. Hatte Abel etwas Träumerisches und zeigte er eine gewisse Würde? O, keine Spur! Ein Eichhörnchen, so klein und blitzschnell, o ein Wildfang, alle seine Glieder in beständiger Bewegung. Man sah ihn gleichzeitig droben bei der Kirche und drunten am Fjord, er ging nicht, wenn irgendeine Gelegenheit zum Laufen da war, er hatte es immer eilig, seine großen Stiefel dröhnten auf der Straße. So war er. Eduard war auch kein gebrechlicher Bursche, aber er war älter und hatte die Verantwortung, außerdem bekam er immer daheim genug [S. 73] zu essen und hatte deshalb einen runderen Körper. Seine Wohlgenährtheit war ihm aber durchaus nicht im Wege, er konnte merkwürdig beweglich sein, wenn der Apotheker in seinen Garten herausstürmte und schrie: „Beim Satan, was tust du da droben auf dem Apfelbaum?” Als Eduard im Ernst in eine Schule ging, nahm er etwas ab, aber doch nicht so, daß es etwas getan hatte; da war eher Abel der, der den Nachteil davon hatte; Abel war nun ein recht einsamer, magerer Bursche. Aus alter Gewohnheit trieb er sich noch immer bei dem Fischer Jörgen herum, und dort war vor ein paar Jahren ein drittes Mädelchen angekommen, mit dem er bisweilen spielte; aber den Eduard, seinen männlichen Freund, den konnte das kleine Ding doch nicht ersetzen, nein, weit entfernt! Sie hieß Lydia, wie ihre Mutter, Klein-Lydia also, war für ein Mädel ganz unterhaltend und schon recht, aber doch unangenehm mit ihrem Geschrei für nichts und wieder nichts.
Ja, Abel war einsam geworden, sein Bruder Frank ging auch in die Schule und war seiner Lebtage viel zu gelehrt und zu selbstbewußt für Abel gewesen, sie hatten nie so recht zusammengehalten. Sie stimmten in ihren Lebensanschauungen schlecht überein; was die Fischerei für den einen war, bedeutete für den andern Bücher und Zeitungen und feine Sachen; Frank ging schon vor dem schulpflichtigen Alter in die Schule und war ein großes Licht. Er sollte Telegraphist oder Bankbeamter werden; der Ehrgeiz der Mutter ging darauf aus, daß Frank unter bessere Kinder in die höhere Schule käme und alles mögliche lerne. Jedermann hat seinen Ehrgeiz; sollte also nicht auch Lydia, die Frau des Fischer Jörgen, den ihrigen haben? Jawohl, und was noch schlimmer war, ihr Ehrgeiz war Torheit, und die Stadt lachte darüber: sie meldete ihre Kinder für die Tanzstunde an. Natürlich wollte Lydia da weit über ihren Stand hinaus.
Es führte auch nur dazu, daß Henriksens auf der Werft, die Zollinspektorfamilie und Frau Johnsen am Landungsplatz sich veranlaßt sahen, ihre Kinder von der Tanzstunde zurückzuziehen — nein, nicht wegen der Fischerskinder, o durchaus nicht, aber weil zum Beispiel Fia Johnsen Bleichsucht bekommen hatte und so mager und aufgeschossen war, daß sie einem ganz leid tat. Es war Politik in der Sache. [S. 74] Die arme, zugereiste Tanzlehrerin rang die Hände und grübelte über den Fall nach, hier stand sehr viel auf dem Spiel; endlich fand sie einen Ausweg. Der erste Kurs war ja vollzählig — daß sie das nicht begriffen hatte! — aber sie wollte noch einen halten, die Nachfrage war so unerwartet groß gewesen, ja, sie müsse vielleicht noch zwei Kurse einrichten. Da war doch wohl alles in Ordnung!
Und nun nahm das Tanzen im Ort einen bemerkenswerten Aufschwung; über Lydia lachte jetzt keine von den Frauen mehr, die Kinder strömten herbei. Wenn Lydias Kinder dabei waren, warum sollten dann nicht auch die Kinder des Böttchers und die des Barbiers Holte dabei sein? Noch niemals hatte die Tanzlehrerin so in die Hände geklatscht, sie hatte eine Freude fürs ganze Leben und hatte die Tanzpolitik gelernt. Auch Eduard war angemeldet, auch Frank war angemeldet, weil sein Vater Oliver zurzeit dem Fischfang oblag und Geld verdiente. „Jawohl, Frank,” sagte Oliver, „du sollst alles lernen, was gelernt werden kann!” Aber was Eduard betrifft, so ging er ein einziges Mal in die Tanzstunde, dann kam er zu Abel und bat ihn, doch hinzugehen und für ihn zu tanzen. O ja, Abel wollte dem Kameraden gerne den Gefallen tun; da er aber nicht danach angezogen war und sich auch nicht gewaschen hatte, wurde er glatt zurückgewiesen; auf diese Weise wurden alle beide frei.
Die Stadt erdröhnte vom Tanzen. Waren Zeiten großen Aufstiegs eingetreten, waren große in Netze eingefangene Heringsschwärme der Küste entlang zu verzeichnen, oder brauchte England ungeheuer viele Holzladungen und Tonnage für einen neuen englischen Krieg? Keines von beiden. Außerhalb der Stadt war alles ruhig.
Die zugereiste Tanzlehrerin war's, die hatte die ganze Gemeinde verdorben. Sie wurde mit christlichem Widerstand empfangen, es wurden im Betsaal Versammlungen gegen sie abgehalten, aber es war zu spät, die Seuche hatte sich schon zu weit ausgebreitet. Sie hatte nicht allein die Eltern im Hinblick auf die Kinder ergriffen, sie drohte auch die Eltern selbst anzugreifen. Solch eine ansteckende Seuche! Im Anfang umklammerte sie hauptsächlich die dienende Klasse, aber dann steckte sie nach oben an, steckte die bessern Leute im Ort an, sie walzte in die Eßstube beim Konsul Grütze-Olsen und bei Henriksen auf der Werft hinein, die Honoratioren der Stadt trällerten Tanzmelodien auf der Straße.
Vor dem Tanzlokal sah man immer Leute, die zuhörten und sich nach der Musik unziemlich in den Hüften wiegten und träumten, sie seien da drinnen mit dabei. Der Polizei-Carlsen tat nichts, er arretierte niemand. Petra wurde oben auf der dunkeln Treppe zum Saal angetroffen, da saß sie wehmütig und schamlos und träumte bei den Geigentönen und dem Fußgetrampel drinnen. Ach, aber Petra träumte ganz und gar aussichtslos, sie war verheiratet und verloren. Zu allem andern kam auch noch hinzu, daß sie wieder sehr schwerfällig geworden war und nächstens nicht mehr stehen, sondern nur noch sitzen konnte. Viele Jahre lang war es ihr gelungen, nicht dicker zu werden, sie war wie ein Mädchen und hübsch gebaut, aber [S. 76] nun war auch das vorbei. Sie hätte daheimbleiben und sich nicht vor den Leuten sehen lassen sollen, aber dann wurde sie auf der Treppe angetroffen, und Scheldrup Johnsen, der fand sie da.
„Sitzt du hier, Petra?” fragt er und ist teilnehmend.
„Ja,” antwortet sie. „Nun geh fort, Scheldrup!”
Aber Scheldrup wird nur noch teilnehmender, und da kommt Petra auch auf die Füße und versetzt ihm eine echte und gerechte Backpfeife, obgleich er der Scheldrup Johnsen ist. Und gleich war jemand weiter unten auf der Treppe, der den Knall hörte und heraufkam und das übrige mit ansah: Daß Scheldrup in den Saal hineinschlüpfte, und Petra weinend die Treppe hinunter und auf die Straße hinauswankte.
Daran war ganz allein die Tanzmadam schuld, sie hätte in der Nachbarstadt bleiben können. Und trotzdem hatte sich die Unruhe, die sie mitgebracht, nicht gelegt, im Gegenteil: mehr als eine Bosheit kam in den Familien des Orts zum Ausdruck an dem Abend, wo die Schüler ihren Abschiedstanz hatten; da kochte wilde Eifersucht über Tüll- und Seidenkleider, und die Eltern waren neidisch auf die Kinder der andern.
Doktors gingen mit Johnsens am Landungsplatz heimwärts; Fia hatte nun ihren vergnügten Abend gehabt und sollte zu Bett mit ihren müden Beinen, die Erwachsenen dagegen wollten gerne noch eine Weile beisammen sitzen. Es gingen übrigens noch mehrere mit, darunter der Rechtsanwalt Fredriksen, für den sich Frau Johnsen ein wenig interessierte, weil er sich mit ihr abgab. Auch Henriksens von der Werft wurden eingeladen, obgleich sie außerhalb des Rahmens waren. „Ja, holen Sie Ihre Frau und kommen Sie mit, Henriksen! Und Sie auch, Herr Postmeister!” Aber ganz besonders wurden Doktors höchst formell eingeladen, sie durften nicht umgangen werden, sie waren die Spitzen, das wußte der Konsul sehr gut.
O, die verborgene Feindschaft zwischen diesen Freunden, diesen Busenfreunden! Selten kam es zu einem ehrlichen Ausbruch, aber sie war da, sie glimmte unter der Asche! In lebhafter Unterhaltung wanderten sie heimwärts, sie gingen zu vier nebeneinander und fegten die Straße, ab und zu blieben sie stehen und versperrten allem Verkehr [S. 77] den Weg, wer an ihnen vorbei wollte, mußte zwischen ihnen hindurch schlüpfen. Es war ein gar herrlicher Sommerabend!
„Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Fia,” sagte die Frau des Doktors. O, ihr wurde es leicht, unparteiisch zu sein und es nicht mit einem Elternpaar ganz besonders zu halten, denn sie selbst hatte keine Kinder in der Tanzstunde, nein, Doktors hatten gar keine Kinder. — „Fia war so hübsch heut abend. Aber meinen Sie nicht, ein nettes durchsichtiges Kleid wäre passender gewesen?”
„Sie wollte ein seidenes Kleid haben,” antwortete Frau Johnsen, „und außerdem waren genug billige Kleider da. Haben Sie gesehen, wie Heibergs ihre Alice herausgeputzt hatten?”
Eine andere sagte: „Eine hatte eine schwere Uhrkette an.”
„Das war eine von Konsul Olsens Töchtern.”
„Ja ja, das arme Kind, Grütze-Olsens sind nun eben etwas für sich,” gab Frau Johnsen nachsichtig zu. Nein, niemals konnte sie Grütze-Olsens verzeihen, daß auch sie ein Konsulat hatten und reiche Leute waren. War denn das nicht erfreulich? Es hätte doch eine große Annehmlichkeit für Frau Johnsen sein müssen, daß sie mit immer mehr Damen von ihrem eigenen Rang zusammenkommen konnte, aber nein, das ertrug sie nicht. Und woher hatte sie denn ihre gelbe Gesichtsfarbe? Diese war sehr gelb, Frau Johnsen hatte wohl einen empfindlichen Magen.
„Um von einem aufs andere zu kommen,” sagte Rechtsanwalt Fredriksen, der Volksredner, und hielt die ganze Gesellschaft auf. Er redete so laut an dem stillen Abend, es war wie wenn ein Matrose in einer Weinstube proletet. — „Ja, um von einem aufs andere zu kommen. Sind Ihre Dampfschiffe jetzt auf dem Heimweg, Herr Konsul?”
Es war Konsul Johnsen nicht unlieb, hier antworten zu können: „Ja, jetzt kommt die Fia heim. Sie ist lange nicht dagewesen.”
„Hätte ich jetzt das Geld, das sie verdient hat!” wünschte Henriksen auf der Werft. „Das waren keine Kleinigkeiten, o nein!” Wie das Konsul Johnsen wohltat! Aber er sagte: „Ich antworte darauf, weil Schweigen mißverstanden werden könnte. Fia hat in Wirklichkeit nicht so sehr viel verdient. Ich war sehr oft froh, daß ich's aushalten [S. 78] und sie über Wasser halten konnte. Aber jetzt, in den letzten Jahren natürlich —”
„Oho!” rief Henriksen und schüttelte den Kopf.
„Die Gesellschaftsmoral hat ganz gewiß einen unverdient schlechten Ruf,” sagt der Doktor plötzlich.
„Wieso?”
Der Doktor fährt fort, als habe er die Frage nicht gehört: „Denn wenn ein Mann wie Konsul Johnsen sich ihrer bedient, dann muß sie sehr brauchbar sein.”
„Die Gesellschaftsmoral? Wieso?”
Ein langes, gewichtiges Schweigen entsteht; der Doktor hat keine Lust, etwas zu sagen, über das man verächtlich lächeln könnte. Und er will sich auch nicht in eine Erörterung mit Henriksen einlassen, deshalb äußert er nur im allgemeinen über die Versammlung hin: „Es ist eine Verleumdung, daß Geschäft und Ausbeutung miteinander verwandt seien.”
„Aber nun hab' ich doch noch nie —!” ruft Henriksen verwundert, und er zieht die Augenbrauen in die Höhe, ganz genau so, als ob das eben Gehörte großartig wäre.
Aber nun war ja Konsul C. A. Johnsen unantastbar, vielleicht nicht in jeder Hinsicht ein Muster, aber ein tüchtiger, großer Mann. Der Volksmund nannte ihn den Ersten Konsul, zum Unterschied von den Konsuln, die später gekommen waren und nicht viel bedeuteten.
Konsul Johnsen antwortete: „Geschäft ist Arbeit, die ihres Lohnes wert ist.”
„Das meine ich auch. Deshalb ist es auch nicht richtig, daß Geschäft Spekulation genannt wird.”
„Doch, gewissermaßen. Wir spekulieren alle. Ehe ein Doktor Doktor wird, spekuliert er auch, er denkt sich aus, daß dies sein Lebenswerk sein soll und strebt danach. Schütteln Sie den Kopf?”
„Jawohl, den ganzen Kopf.”
„Haha!” lacht die Frau des Doktors.
„Medizin, das ist eine Wissenschaft,” erklärt der Doktor. „Aber ob die Fia wenig verdient oder ob die Fia viel verdient, das —”
„Wollen Sie nicht weiter sprechen?”
„Doch, das ist nicht mehr als billig. Das ist ungefähr so etwas, wie das Geschäftsverfahren der Fia , das die [S. 79] Leute — Spekulation nennen. Nach meiner Ansicht mit Unrecht.”
„Dann sind ja alle einig,” versuchte der Postmeister, der immer gute Mann, einzulenken.
„Ich werde ihm das eintränken für sein ungewaschenes Maul,” unterließ der Konsul zu äußern. Er gesellte sich unauffällig zu Frau Henriksen und sprach mit ihr; sie war eine junge hübsche Frau, aus der Tiefe des Volkes hervorgegangen wie ihr Mann auch, Mutter von zwei kleinen Mädchen in der Tanzstunde, aber doch noch nicht dreißig Jahr alt. Konsul Johnsen war ritterlich gegen sie und recht unterhaltend, ja bisweilen sprach er überaus leise, damit die andern es nicht hören sollten. Seht, der Konsul hatte es wohl im täglichen Leben nicht so sehr angenehm und herzerfreuend, er mußte die Gelegenheit benutzen. War er nicht eine Kraftnatur, etwas ergraut zwar, aber noch ein Mann? Es ärgerte ihn, daß sein großer Sohn Scheldrup hier dabei war und zuhörte: „Geh voraus und laß alles herrichten!” sagte er zu Scheldrup.
Ei, und Frau Henriksen? So ungeheuer geehrt durch die Begleitung, die sie an diesem Abend bekommen hatte und durch all das Schöne, das sie zu sehen bekommen würde, wenn sie zum Ersten Konsul kam, das war ein Erlebnis, ein Übererlebnis!
„Wollen Sie mir etwas versprechen?” fragte sie.
Da ritt ihn der Teufel, er wurde keck gegen die Dame und antwortete: „Ich wage Ihnen kein Versprechen zu geben.”
„Aber — warum nicht?”
„Ein Versprechen? Ihnen? Ich würde es ja nur halten müssen.”
Da lachte die Dame, und sie dachte nichts weiter, als er sei reizend, der Erste Konsul sei reizend. Und dann rückte sie mit ihrer Bitte heraus, ob der Herr Konsul einmal zu ihnen hereinsehen wolle, zu ihnen, Henriksens auf der Werft, er und seine Frau Gemahlin?
„Kommt ihr nicht?” rief Frau Johnsen, indem sie stehen blieb.
Da war nichts anderes zu machen, sie mußten vorgehen zu den andern. Aber der Konsul gelobte sich selbst, er wolle mit Frau Henriksen noch mehr reden, später, wenn [S. 80] ihr Mann von dem Punschbrauen ganz in Anspruch genommen sei. Dann wolle er der gute Gastgeber sein und sagen: „Ja, bitte Henriksen, tun Sie ganz, als ob Sie zu Hause wären,” und sich dann mit Frau Henriksen unterhalten.
Der Postmeister sprach von Nachkommenschaft. Er war ein magerer, unbedeutender Mann, und man hielt ihn eigentlich für eine recht verfehlte Existenz. Man hielt ihn auch für fromm, und er pflegte mit einer recht gedankenvollen Miene zu sagen. „Ja, was soll man glauben!” Als junger Student hatte er meist von der Kunst geträumt, von Schlössern und Domen, von Architektur, er kam indes nie soweit, sich für einen bestimmten Beruf zu entschließen, und landete schließlich beim Postfach. Jetzt zeichnete er Gotteshäuser und Menschenhäuser in seinen Freistunden; er hatte den Plan für die höhere Schule im Ort gezeichnet, das hübsche Haus mit Säulen, das man schon weit draußen im Fjord am Ufer sehen konnte; er nahm nichts für seine Arbeit, aber die Stadtverwaltung hatte ihm viel Lobenswertes darüber gesagt. Seine Frau war in keiner Weise verfehlt, aber keine Schönheit, nur gut und ein Segen für ihr Heim. Sie war älter als ihr Mann, aber nicht so viel, daß es etwas ausgemacht hätte. Unter Fremden war sie schweigsam, auch jetzt zog sie sich zurück und redete nicht von sich selbst.
„Nachkommenschaft,” sagte der Postmeister. Seine Theorie war, daß den Eltern im allgemeinen weniger Bedeutung zugemessen werden sollte, als den Kindern. Ja durchaus. Alles sollte sich um die Nachkommen drehen. „An dem heutigen Abend haben die Eltern leere Wände entlang auf schlechten Bänken gesessen und doch einen Genuß und eine Festfreude an ihren Kindern gehabt. Die Mütter sind nicht im Staat gewesen, die Kinder dagegen sehr fein angezogen. So fein angezogen waren auch einst die Mütter, als sie kleine Töchter gewesen waren, damals vor dreißig Jahren, als die Damen ungeheuer weite Kleiderröcke trugen. Du lieber Gott! dachte ich und erinnerte mich an alte Zeiten.”
„Elegie!” sagte der Rechtsanwalt, der Junggeselle Fredriksen.
„Jawohl, ganz richtig!” erwiderte der kinderlose Doktor. Und da es sich um den unschädlichen Postmeister handelte, [S. 81] der im Grunde genommen ein feiner Mann war, wollte er ihm ein paar Worte sagen. „Nachkommen,” sagte er, „was wollen Sie damit? Ist dies eine Welt, um Nachkommen hineinzusetzen? Wie lange halten wir uns hier im Leben auf und zu welchem Zweck, außer für uns selbst? Lassen Sie uns die Zeit ausnützen, Herr Postmeister, der Tod ist uns auf den Fersen und wird uns gleich ergreifen. Wir liegen zwischen dem untersten und dem obersten Mühlstein. Die einen sind weich und nachgiebig, sie werden ohne Murren zermahlen, andere winden sich, wie Sie, Herr Postmeister, sie drehen den Kopf zurück und haben Angst für ihr Gesicht — o, aber in der nächsten Sekunde sind auch sie schon zermahlen. Es muß ein sonderbares Gefühl sein, und wir werden dieses Gefühl alle einmal kennen lernen; wenn es von unten beginnt, muß man ja fühlen, wie die Beine und der Leib allmählich —”
Als der Doktor nun Beifall erntete, scherzte er weiter, der witzige Kerl, und brachte alle zum Schaudern: „Schließlich liegt wohl nur noch ein Stückchen von einem da, das sich vielleicht ganz unabhängig vom andern bewegt. Alles ist geradezu herrlich, alles ist vollendet.”
Schweigen.
„Es ist so trostlos, dergleichen zu denken,” sagt der Postmeister. „Aber selbst unter diesen Voraussetzungen ist es gut, man hinterläßt —”
„Nachkommen! Die auch zermahlen werden sollen! O trostlos! Ich weiß nicht. Was mich betrifft, so hab' ich guten Mut, ich ertappe mich gelegentlich darauf, mir das Haar über die kahlen Stellen zu streichen und also meinen Ruin so gut ich kann wieder herzustellen. Dann pfeife ich drauf.”
„Ja ja,” sagte der Postmeister, der nicht weiter darauf eingehen wollte.
Aber Konsul Johnsen griff nach dem Knochen, wahrhaftig, er wollte bei soviel Überlegenheit nicht im Rückstand bleiben. „Wenn es keine Nachkommen mehr gibt, müssen ja die Menschen aussterben.”
„Bitte, das geht mich nichts an.”
„Aber Sie sind ja gerade darauf aus, die Menschen vom Tode zu erretten, nicht wahr?”
„Herr Konsul, Herr Erster Konsul, wollen Sie Menschen, [S. 82] die sich zwischen den Mühlsteinen befinden, mit Logik kommen? Wo ist da die Logik des Lebens, wo die Logik des Weltregiments?”
Da sagte der Konsul: „Ich stelle fest, daß Sie, Herr Doktor, persönlich für die Ausrottung der Menschen sind, aber Ihr Handwerk, Ihr Lebensberuf ist es, die Ausrottung zu verhindern.”
Und der Doktor will sich am liebsten einem wenig gebildeten Menschen gegenüber nicht zu gewandt zeigen, aber der Erste Konsul war ein so großer Herr geworden, er war zu hoch hinaufgekommen, der Doktor war gezwungen, ihm zu antworten: „Dies steht wohl etwas über dem Begriff Geschäft, nicht wahr? Hier handelt es sich um eine Frage der Lebensanschauung. Wenn ein Arzt über einen Kranken gebeugt steht, dann tut er es wohl hauptsächlich aus Mitgefühl mit der armen Menschheit.”
„Ach ja!”
„Ja, seufzen Sie nur. Er spekuliert jedenfalls nicht.”
Der Konsul sagte rücksichtslos: „Er verdient seine fünf Kronen. Der Arzt ist wie wir andern: er spekuliert in fünf Kronen, wenn ich in Tausenden spekuliere, das ist der Unterschied.” — Darauf sah sich der Konsul lächelnd im Kreise um und machte die Sache dadurch noch peinlicher für die andern.
Der Doktor war gezwungen, mitzulachen; er sagte: „Sie haben uns ordentlich erhitzt, Herr Postmeister.”
„Ich?”
„Mit Ihrer Nachkommenschaft.”
Da mußte der Postmeister wieder eingreifen. „Ja, aber lieber Doktor, Nachkommen müssen wir doch haben. Man kann über die Mühlsteine sagen, was man will, die können nicht unser Ziel sein.”
„Unser Ziel tragen wir in uns selbst. Wenn ich sterbe, ist alles, was mich angeht, tot. Glauben Sie an Gott, Herr Postmeister?”
„Was sollen wir glauben? Tun Sie es nicht?”
Der Doktor schüttelte den Kopf: „Bin ihm nicht begegnet. Glauben Sie, er sei von hier?”
„Haha!” lachte die Frau Doktor.
Der Postmeister fragte: „Was für ein Ziel kann das sein, das einer in sich selbst trägt?”
[S. 83] „Man gestaltet sein Dasein so gut wie möglich. Genießt zum Beispiel.”
„Armes Ziel, kurzes Ziel. Dann ist allerdings sehr richtig alles mit einem selbst aus. Aber man kann sich ein weiter gestecktes Ziel denken: Unsere ewige Fortsetzung durch die Nachkommen. Wie denken Sie nun im Ernst darüber? Ich nehme an, daß Sie bis jetzt mit uns gescherzt haben.”
„Durchaus nicht.”
„Nehmen Sie zum Beispiel mich: Ich bin Postmeister hier in der Stadt. Die eine Stellung kann dabei so gut wie die andere sein. Aber mit welcher Hoffnung kann dann der Kinderlose, der selbst nichts Besonderes geworden ist, sterben? Für mich ist es nun keine Befriedigung, selbst noch mehr zu werden, im Gegenteil, jetzt freut es mich, wenn ich selbst nichts Besonderes geworden bin, dann hab' ich meine Gaben für meine Kinder nicht verbraucht. Sehe ich, ehe ich sterbe, Zeichen davon, daß meine Kinder mich in allen Dingen überstrahlen werden, dann werde ich, was ganz natürlich ist, der Allmacht gegenüber von tiefer Dankbarkeit erfüllt sein. Etwas vom Traurigsten, was ich erleben kann, das sind demgemäß die Söhne und Töchter großer Männer, die Kinder berühmter Eltern. Das ist ein traurigerer Anblick, als Kinder ohne Eltern. Von mir kann man gottlob annehmen, daß meine Kinder, selbst wenn ich noch einmal so viel geworden wäre, als ich tatsächlich geworden bin, daß meine Kinder mehr werden als ich. Jawohl, und gerade das wird meine Hoffnung sein, wenn ich sterbe; daß ich also durch das Emporkommen meiner Kinder selbst emporgekommen bin. Daß ich nicht Göttersöhne gehabt habe.”
Die Theorie des Postmeisters sagte niemand zu, es war eine Theorie und ein Trost für Leute ohne Erfolg, Leute, die wenig im Leben erreicht hatten, es war nicht für Leute in hohen Stellungen, oho!
„Sie sind ein guter Mann!” sagte der Doktor freundschaftlich. Und der Konsul war ja wahrlich selbst sehr viel und nicht nur der Vater seiner Kinder, ja, er konnte sogar noch mehr werden, als er jetzt war, er stand aufrecht auf freier Bahn, und er hatte etwas im Auge. Aber Konsul Johnsen wollte auch freundschaftlich gegen den [S. 84] Postmeister sein und nicht einmal herablassend, er nickte ihm zu und sagte: „Nach meiner unmaßgeblichen Meinung ist vieles an dem, was Sie sagen, Herr Postmeister.”
„Nach Ihrer Meinung!” wies der Doktor zurück.
Rechtsanwalt Fredriksen, der bis jetzt mit Henriksen von der Werft geplagt worden war, warf ein: „Jawohl, Meinung. Wir Junggesellen und Kinderlose haben doch auch eine Meinung in der Sache.”
Und in demselben Augenblick fürchteten wohl alle, jetzt sei es aus, niemand werde mehr ein Wort vorbringen können. Der Konsul beschleunigte seine Schritte, machte seine Haustür auf und forderte die Gäste auf, einzutreten. „Jedenfalls wollen wir jetzt versuchen, ob wir bei einem Glas Wein einig werden können,” sagte er lächelnd.
In demselben Augenblick, wo die Gesellschaft hineinging, trat der junge Scheldrup durch den Küchenausgang auf die Straße. Er machte sich wohl nichts aus solchen ergebnislosen Diskussionen, wie sie der Postmeister zuwege brachte. Das konnte ihm niemand verdenken, in seinem Alter ist das Leben kein Rätsel, die Sommernacht gehört der Jugend.
Ältere Leute erinnern sich deutlich an Tage und Daten aus der Vergangenheit; sie finden es so herrlich, allerlei Kleinigkeiten im Kopfe zu behalten, als sei das etwas Wertvolles, etwas, das ihnen einmal nützlich sein könnte. Sie heben auch Zeitungsausschnitte auf.
Jetzt hören die Leute eine fremde Dampfpfeife in der Bucht ertönen. Das ist keiner der Postdampfer, und es ist auch nicht das kleine Frachtboot, das jede Woche einmal zu jeder Haustür kommt, deshalb steigen die Leute auf ihre Hausdächer und halten Ausschau.
„Es ist die Fia !” sagen sie. „Seht, wie sie geflaggt hat!”
Und in demselben Augenblick denken sie unwillkürlich an die große Volksmenge, die an jenem längstvergangenen Sonntag ans Bollwerk hinuntergewandert war; sie schlagen die Hände über dem Kopf zusammen und wissen am Alter ihrer Kinder, in welchem Jahr das gewesen ist. Es war eine wahre Völkerwanderung, dessen entsinnen sie sich wohl, und damals sollte die Fia nach dem Mittelmeer fahren. Nun kehrt sie zurück nach den langen Fahrten auf den weiten Meeren, an Bord ist alles festlich geschmückt, und die Herzen sind wohl von Stolz geschwellt. Auch der Matrose Oliver Andersen war damals an Bord gewesen.
Jetzt humpelt Oliver ans Bollwerk hinunter, er wirft sich mit dem Stelzfuß vorwärts, strengt sich an; er ist so unschuldig, zu glauben, die Kameraden werden nach ihm ausschauen, sie würden ihn als den ersten am Bollwerk erwarten. Nein, sie erwarten ihn nicht, er ist vergessen. Sie betrachten von der Reling aus diesen Krüppel und erkennen ihn; aber sie bezeugen keine Freude, er muß sie zuerst grüßen und zu den alten Freunden hintreten. Da steht nun Oliver; er ist etwas ergraut, und sein Haar ist dünn, obgleich er noch ein junger Mann ist, dagegen ist er merkwürdig [S. 86] dick geworden, mit wahren Hängebacken. Hat er es auf der lieben Gotteserde so gut bekommen? Ist sein Unglück ein verkapptes Glück gewesen?
Von der Reling aus werden einige teilnehmende Worte mit ihm gewechselt, weil er ein Krüppel geworden ist, aber die Matrosen halten sich nicht mit ihm auf; sie haben wohl keine Zeit, ihre Augen laufen suchend den Weg hinauf — gerade jetzt kommt ihr Mädchen, ihre Mutter oder ihre Frau mit den Kindern, sie müssen sich nun in aller Eile noch ein wenig putzen, ehe sie da sind.
Natürlich ist auch Olaus vom Wiesenrain mit seiner Pfeife da, und er ist so, wie er immer war, betrunken und großsprecherisch. Wenn die Mannschaft der Fia beabsichtigt hatte, sich bei ihrer Heimkehr aus unglaublich fernen Landen etwas aufzuspielen, so verdarb ihnen Olaus das gründlich, er bewies ihnen auch nicht das kleinste bißchen Hochachtung.
„Woher kommt ihr?” fragte er.
„Von einem Lande, das China heißt.”
Das bedeutete für Olaus gar nichts. „Ach so, von China. Ja, die Welt ist nicht mehr groß,” sagte er, „in alten Tagen, da konnte ein Seemann sagen, er komme von weit her. In der vorigen Woche liefen hier im Ort zwei Männer herum und bettelten um Geld und Essen. Ich fragte sie, woher sie kämen. ‚Von Persien,’ sagten sie. Ja, aus Persien, von dem wir in der biblischen Geschichte gehört haben und von dem niemand weiß, wo es liegt. Hast du Tabak für meine Pfeife?”
Man reicht ihm eine Pfeife voll; er bedankt sich nicht, aber er anerkennt den Tabak, indem er äußert: „Ich hab' schon schlechteren geraucht.” Und während er eine Landungstreppe mit seinen anderthalb Armen aufs Schiff wirft, kommandiert er: „Da, faßt an und vertäut sie!”
Das war Olaus. Das Schicksal hatte auch ihn verfolgt, den Einhändigen mit dem ewig blauen Gesicht, aber ob er dabei dick und ruhig geworden wäre? Zum Kuckuck nein! Er war nicht dick und tot wie ein Tier, und ebensowenig hatte er ein blasses Gesicht wie ein Adliger, sondern er war betrunken und großsprecherisch. Er zehrte von seinen Reserven. Ja, wozu hat man denn sonst Reserven, als um von ihnen zu zehren?
[S. 87] Oliver steigt an Bord. Das hätte er nicht tun sollen, nein, sie begrüßten ihn nicht mit Jubel, sie nahmen nur seine ausgestreckte Hand und sagten das Notwendigste. Alle waren von ihrem Eigenen in Anspruch genommen. Sollte sich Oliver über Menschen verwundern, die es möglich machten, aus China zurückzukommen? Der weitgereiste Matrose war ja selbst dort gewesen, für ihn war nichts neu. Nein, Oliver hätte nicht an Bord gehen sollen, jetzt hatte er überdies sein Englisch vergessen und konnte nicht mehr so recht in der Matrosensprache reden. Das Mannschaftslogis war genau wie früher, ein dunkler, übelriechender Schacht, obgleich da gespült worden war wie zum Sonntag. Er setzte sich an den wohlbekannten Tisch und schwatzte und schwatzte da immerfort von sich; im Anfang hörte man ihm zu, aber sie wollten ihn lieber nach den Ihrigen am Lande und nach den Honoratioren des Ortes fragen; so gingen sie wieder auf Deck und schauten nach ihren Angehörigen aus.
Oliver sagt: „Ja, nehmt nun an, daß ich ganz marode bin.”
„Ja du, dir ist wohl der Unterleib ordentlich kaputt geschlagen worden?”
„Was, mir, der Unterleib? Ich bin ein verheirateter Mann mit vielen Kindern. Eine Trantonne kann einem Mann nicht den Leib zerschlagen.”
„Was für eine Trantonne?” fragt Kaspar.
Oliver denkt nach und wird verwirrt.
„Bist du nicht heruntergefallen und hast einen Querbalken zwischen die Beine bekommen?”
„Nein.”
So lange hatte Oliver nun von dieser Trantonne geredet, daß er vielleicht selbst an sie glaubte, aber dann war es also keine Trantonne gewesen. Was hatte er mit dieser Lüge erreichen wollen? Wollte er etwas verbergen? Oliver faßt sich und schwatzt weiter. Vom Kapitän sah er gar nichts, und die Matrosen waren zurückhaltend, o, sie hatten wohl in den Briefen von Hause von seinem ganzen späteren Lebenslauf Kunde bekommen; er hatte sich schlecht gemacht, es war genug Klatsch über ihn und sein Haus im Umlauf. Armer Oliver jetzt, selbst als er aus der Tasche die Zeitung mit der Seemannstat herauszog und [S. 88] vorzeigte, machte das keinen größeren Eindruck. Nein, denn jetzt kamen die Angehörigen heran.
In Olivers Augen glimmte es auf. Jawohl, er war dick und wie etwas geistesschwach, aber bisweilen brach eine rohe Verschlagenheit bei ihm durch. Er trat zu Kaspar, seinem Freund und früheren Altersgenossen, und sagte: „Kommt deine Frau nicht, Kaspar?”
„Doch, das wird sie schon,” sagt Kaspar.
„Ja, denn sie ist wohl wieder daheim.”
„Wo ist sie gewesen?”
„Das weiß ich nicht. Sie ist ein Jahr lang fort gewesen. Es hieß, sie sei im Ausland.”
„Was erzählst du da?” fragt Kaspar unbehaglich berührt.
„Ich? Ach, es ist einerlei, was so ein armer Tropf wie ich sagt. Aber für dich und die andern kann es doch ganz einerlei sein, ob eine Trantonne oder ein Balken mich kaputt gemacht hat.”
„Ja, das ist wahrhaftig einerlei,” sagt jetzt auch Kaspar. „Was hat sie denn im Ausland getan?”
„Es heißt, sie sei Kajütjungfer auf einem Schiff gewesen.”
„Nein, denn ich hab' jedes Jahr von hier aus Briefe von ihr bekommen.”
„Ja ja,” sagt Oliver.
Auf dem Heimwege begegnet er Kaspars Frau; sie ist im Staatsgewand, sieht unschuldig aus und ist auf dem Wege, ihren Mann abzuholen. Im Vorbeigehen sagt Oliver zu ihr, daß ihr Mann auf sie warte; aber ob die Frau nun zu geputzt und zu unschuldig war, um Oliver etwas zu erwidern — sie eilt nur an ihm vorüber.
Oliver geht heim in sein Haus und zu seiner Familie. Der Besuch an Bord der Fia war entschieden ein Mißgriff gewesen. O, Glück auf die Reise, er würde nicht öfters hingehen. Und was Kaspar und seine Frau betraf, so erwartete er nicht viel von dieser Seite: hier war ein ganzer Ort Mitwisser. Überdies war ein Krüppel durch seine eigene Elendigkeit geschützt, selbst wenn er ein paar Eheleute aufeinanderhetzte.
Er setzt sich an den Tisch und fängt an, über die Mannschaft auf der Fia zu schimpfen, sie sei lauter Pack, er [S. 89] hätte jeden einzelnen durchprügeln sollen, damals, als er noch seine volle Körperkraft hatte.
Petra erwidert nichts, sieht nicht nach der Seite, wo er sitzt, so überdrüssig ist sie seines Geschwätzes und seiner Person. O, dieser Fettklumpen auf dem Stuhl dort, er schnauft, er hat einen regelrechten Anzug an, er hat Knöpfe am Anzug, auf dem oberen Ende sitzt ein Hut schräg auf dem Ohr. Sie kannte alles in- und auswendig, seinen Stelzfuß, der absteht und das kleine Zimmer versperrt, seine Reden, seine Lügen, seine Großmäuligkeit, seine Stimme, die einer Frauenstimme immer ähnlicher wird, die matten wasserblauen Augen, den allzeit feuchten Mund! Mit jedem Jahr verfiel er sozusagen mehr, nur sein Appetit war immer derselbe. Und es gab nicht immer Essen genug.
Merkwürdig! Das Leben in der Stadt ging seinen Gang, und es war sogar stark im Aufschwung begriffen. Als die Tanzlehrerin ihre Arbeit getan hatte und abgereist war, wurde jeden Samstagabend im Rathaussaal getanzt, und ebenso deutlich zeigte sich der Aufschwung in den Kleidern und in der Lebensweise der Leute. Aber bei Oliver und Petra ging nichts aufwärts, nein, nur abwärts ging's, ganz herunter ging's. Hatte nicht der verrückte Mann die Zieraten auf der Kommode verkaufen wollen, den weißen Engel und das Sparschweinchen vom Ausland? Dann eines Tages im Winter ging Oliver in die Stadt und verkaufte das Haus, in dem er wohnte. Es war ein gewissenloses Tun.
Schon mehr als einmal hatte er das Haus verkaufen wollen, der Rechtsanwalt Fredriksen, dem es gehörte, würde einem Krüppel gegenüber doch wohl ein Mensch sein. Aber Rechtsanwalt Fredriksen dachte wohl, er habe Oliver schon genug geholfen, als er ihn mit seiner Bemerkung über die Seemannstat berühmt gemacht hatte; warum tat er nicht noch mehr Großtaten? Das Haus verkaufen, das Haus eines andern —
Oliver wurde einfach verklagt.
Seht, dieser Oliver Andersen hätte ja von Rechts wegen längst hinausgeworfen werden müssen, aber die Stadt beschützte den Krüppel. Jetzt hatte er sich endlich selbst durch ein Verbrechen jegliches Schutzes verlustig gemacht.
Oliver stapfte zum Rechtsanwalt und bat um Gnade, [S. 90] der Handel solle rückgängig gemacht werden, das Ganze sei also fast ungeschehen. Es half aber nichts, der Rechtsanwalt wollte die Gelegenheit benützen, das Haus leer zu bekommen. Nein, es half nichts, bis Petra zum Rechtsanwalt ging und recht hübsch bat; aber auch Petra gelang es nicht gleich beim ersten Male.
Das war ein Zustand, die Heimat dicht vor dem Abgrund. Was war dabei, wenn sich Petra da von Hause fortschlich und sich auf die Treppe des Tanzsaales setzte, um in einer Abendstunde ein wenig selig zu träumen! Oliver, der Mann, krepierte nicht vor Scham und Not, im Gegenteil, er tat noch groß und schimpfte über den Rechtsanwalt, über den Leuteschinder, der sich einem Krüppel gegenüber nicht als Mensch zeige. Na, einerlei, wenn Oliver um das Geld für das Haus betrogen werde, dann sei er dadurch nicht mehr ruiniert als vorher; es fehlte ihm durchaus nicht an Auswegen, wenn er daheim saß und mit seiner Familie redete. Den Platz beim Leuchtturm, nein, den hatte er aufgegeben, aber wer könne ihn daran hindern, sich einen Rollwagen anzuschaffen und in den Gemeinden herumzufahren? Oder wie, wenn er in eine große Stadt führe und auf der Drehorgel spielte?
„Ja,” sagte Petra, „das solltest du nur tun!”
„So. Und wovon solltest dann du und die Familie leben?”
Ja, wovon sollten sie leben? Vielleicht konnte er so viel verdienen, daß er etwas Geld heimschickte. Aber da hatte Petra ihre Zweifel. Auch die Großmutter zweifelte daran, ja, sie sagte gerade heraus, Oliver werde wohl den ganzen Verdienst aufessen.
So wurde nichts aus der Reise des Versorgers, und der Fuß, auf dem die Familie lebte, blieb derselbe wie vorher. Aber sie lebten von einem Tag zum andern, sie lebten es auch durch, sie überlebten es.
Warum sollte es auch so schlecht gehen? Der Versorger war körperlich unvollkommen, was dann? Hannibal war einäugig, Alexander hinkte. Oliver war von guten Eigenschaften nicht ganz entblößt, was wollte man denn? Er war eigentlich friedlich von Natur, er ging nicht mit blutunterlaufenen Augen und furchtbar gebleckten Zähnen umher und wartete darauf, bis die kleinen Kinder fürs [S. 91] Schlachten reif wären, nein, er war freundlich gegen Kinder. Mißgestaltet? Jawohl, da war das leere Hosenbein, das so jämmerlich hin und her schlug, wenn er ging. Aber er war zum Beispiel nicht wie die Buckligen, die, wenn sie gehen, aussehen, als trügen sie sich selbst auf dem Rücken. Entblößt von guten Eigenschaften? Er trank nicht, o nein, niemals, er rauchte nicht einmal mehr Tabak, nein, in dieser Beziehung war er wie ein Frauenzimmer geworden.
Natürlich wurde es nicht ein bißchen besser, sondern eher schlimmer, als das dritte Kind kam, ein Mädelchen, das bei Nacht schrie und den müden Versorger aufweckte. Nun konnte Oliver seiner Lust zum Umherschweifen wieder nachgehen, von Hause verschwinden, in seinem Boot weit hinausfahren und tage- und nächtelang fortbleiben. Gott mochte wissen, was er da suchte und was er fand. Besonders nach einem Sturm auf dem Meere machte er diese Ausflüge, er war vielleicht so kindlich, auf ein neues, havariertes Schiff zu hoffen. Einmal fand er übrigens einen umhertreibenden Handkoffer; er enthielt nur etwas Leibwäsche, etwas weiblichen Staat, aber Oliver trug ihn heim und tat groß damit, und es fiel ihm nicht ein, an diesem Tag noch irgendwie Hand an eine Arbeit zu legen. Ein andermal fand er eine leere, aber verkorkte Paraffinkanne, ab und zu kam er mit einem Häufchen Eiderdaunen an, das er von den Nestern auf den Brutinseln geraubt hatte. Er wußte, daß dieser Flaum sehr wertvoll war, aber er wagte nicht, ihn in der Stadt zu verkaufen, er mußte ihn aufheben.
Das Ärgerliche war, daß Petra seine Fundstücke so wenig schätzte, o, sie pfiff darauf. Er konnte sich vom Bollwerk aus heimschleichen, um von niemand gesehen zu werden, mit geschwellter Brust in die Stube treten und seine Beute auf den Tisch legen. „Hier, da ist etwas zum Verwundern, bitte!” Aber Petra murrte dann: „Das ist der Verdienst von drei Tagen! Was sollen wir mit Eiderdaunen! Und was sollen wir mit einer leeren Paraffinkanne?”
Da fiel Oliver kopfüber wieder auf die Erde herunter, und er antwortete wohl: „Jetzt hast du mal wieder deinen Koller!”
[S. 92] Doch Petra entgegnete auffahrend. „Was hab' ich, einen Koller? Sieh die Kleine dort in der Wiege an, liegt sie etwa auf Eiderdaunen?”
Oliver richtet seine Augen auf das Kind; es liegt in Lumpen, aber es fehlt ihm nichts, es schreit nur, weil es zahnt. Doch plötzlich steht Oliver auf und sieht näher hin, zum erstenmal betrachtet er das Kind genau.
„Was zum Kuckuck, hat sie blaue Augen?” fragt er.
Petra zuckt zusammen und antwortet: „Das siehst du doch!”
„Woher kommt das?”
„Woher es kommt? Kann ich das wissen? Wie du nur fragen kannst!”
Oliver bleibt wie angewurzelt stehen und starrt und starrt. Wie verwirrt er ist und wie dumm: sollte ein Kind von blauäugigen Eltern nicht blaue Augen haben? Aber die andern, die Jungen, sie hatten braune Augen. Da steckte etwas Neues dahinter. O, Oliver hatte wohl in all diesen Jahren seine eigenen Gedanken gehabt und sie in stumpfer Gleichgültigkeit mit sich herumgetragen; jetzt stand er vor einem Rätsel. Wo war Petra gewesen? Daheim. Daheim. Eine Frau, die Scheldrup Johnsen Backpfeifen gab, war nicht auf dem Strich.
War sie nicht auf dem Strich — war sie nicht?
Eine ungeheuere, unnatürliche Eifersucht lodert in dem Krüppel auf, zum erstenmal kennt er diesen fremden, brennenden Schmerz, er ist so heftig, daß sich sein Gesicht verzerrt, so daß Petra Angst bekommt; sie deckt das Kind zu. Oliver schwankt ans Fenster hin und sieht hinaus. Wenn nun braune Augen die richtigen Familienaugen waren, wie konnten dann blaue Augen dasselbe sein? Er kennt all den Klatsch über sich und sein Haus recht wohl, der ist nicht so zart und unschuldig gewesen, daß er ihn nicht verstanden hätte, das letzte, was er gehört hatte, war: Petra werde wohl Scheldrup Johnsen nicht immer Backpfeifen versetzt haben! Und wenn auch — Scheldrup Johnsen hatte braune Augen, die Kleine in der Wiege aber blaue.
Eine Schlange fraß sich in sein Herz hinein. Bis jetzt war es ihm gut gegangen, nun würde es ihm nicht mehr beschieden sein, sich die Unruhe fernzuhalten. Unruhe? [S. 93] Not drang auf ihn ein, sie wurde zur Qual. Er fing an, an den Straßenecken aufzulauern, dann sprang er plötzlich vor, packte Petra an der Brust und fragte, wohin sie wolle. Nacht und Tag war er auf der Wacht, und er fand nie mehr Ruhe, sein Haar ergraute. Der einzige Ort, wohin Petra ungehindert gehen konnte, war auch jetzt noch das Haus Johnsen am Landungsplatz, dahin, ins Haus und in den Laden, durfte sie jedesmal ohne Einwand gehen. Aber er ging ihr nach und gab acht, daß sie auch wirklich dahin ging.
Seine Verrücktheit dauerte an; er versäumte das Meer, um im Hinterhalt zu stehen und Petra aufzulauern, er bettelte Fische bei den andern Fischern, um etwas nach Hause bringen zu können. Und Petra, die dumme Person, verstand es nicht, seine Eifersucht zu dämpfen, sie stachelte sie eher noch auf. Als diese eine Zeitlang gedauert hatte und sie merkte, daß sie ihr für Leib und Leben ungefährlich war, stachelte sie Oliver bis zur Raserei auf. Die blauen Augen können von dem Schreiner Mattis stammen, dachte er wohl, und er fand keine Worte, die für diesen Mann verächtlich genug waren, dieses Nashorn, diesen Schürzenjäger!
Petra verteidigte ihn.
„Na, hat er jetzt nicht einmal mehr eine schreckliche Nase?”
„Nein. Diese Nase steht ihm gerade.”
„Schweig! Er ist ja Schreiner, da sollte er sich einen Stall für seine Nase bauen.”
Und sonderbar: es war, als gebe es noch andere, die der blauen Augen wegen, sozusagen, eifersüchtig wurden; aber Konsul Johnsen scherzte ja und tat nur so, wie wenn er eifersüchtig wäre, als er mit Petra darüber sprach.
„Du hast ein Mädelchen bekommen, Petra, wie ich höre?”
„Ja.”
„Und mit himmelblauen Augen diesmal.”
Petra sah zu Boden und schwieg.
„Nicht alle können himmelblaue Augen haben,” sagte der spaßhafte Mann. „Nein!” tat er dann plötzlich kund, „ich habe keinen Platz für deinen Mann, hörst du? Probier' es beim Grütze-Olsen!”
Wieder mußte Petra unverrichteter Sache heimgehen, [S. 94] heim zu ihrer Familie und dem Elend. Es war ein Zustand, niemand wurde so hart geprüft. Ab und zu weinte sie und hatte aufrichtig Mitleid mit sich selbst; aber sie war zu jung und zu gesund, um ganz mutlos zu werden, nicht so sehr selten stand sie unter ihrer Tür, lachte und schwatzte mit den auf der Straße Vorübergehenden — tiefer war sie nicht getroffen.
Die Jahreszeiten wechselten, und die Zeit verging, Olivers Buben waren nun beide in der Schule; Frank hatte die besten Gaben, er hatte einen Freiplatz und glänzende Zeugnisse, aber das Eichhörnchen Abel war auch nicht dumm, nur ein unglaublicher Bandit war er, mit ganz anderen Neigungen. Es ging und ging, die Gewohnheit half dazu, und Gott verlieh der Familie zur Stärkung einen gewissen zähen Willen, nicht unterzugehen. Der kleine Abel zum Beispiel kleidete und ernährte sich meist selbst ringsum in der Stadt. Übrigens war es für ihn selbst oft am schmählichsten, so ein kleines Eichhörnchen zu sein: als er eines Tages draußen auf dem Lande war, plagte ihn der Hunger über die Maßen. Da er aber weder etwas zu essen noch ein Wams, das er auf einem Waschseil „fand”, geschenkt bekommen konnte, fragte er ganz einfach, ob er nicht eine Tasse Kaffee kaufen könnte. Aber da wurden die Leute auf dem Hofe schändlich gegen das Eichhörnchen, sie erwiderten, ob er denn überhaupt Kaffee trinken dürfe. Was, dürfe? Diesem Hof wollte er nie mehr nahe kommen, ehe er erwachsen war!
Bruder Frank ging nicht auf Erlebnisse aus, dazu war er zu klug. Auch er bekam manche Mahlzeit und manches Kleidungsstück im Städtchen, ja, einmal im Jahre bekam er einen vollständigen Anzug in Konsul Johnsens Geschäft und kam vom Scheitel bis zur Sohle erneuert heim. Ein solcher Mann war Johnsen am Landungsplatz, herrlich dazu geeignet, zu leben und andere leben zu lassen.
Es ging und ging. Bisweilen zog auch die Großmutter wieder hinaus und kehrte dann mit guten Sachen heim, mit Kartoffeln, Speck, einer Tüte Mehl, einem Käslaib. O, die Großmutter war nicht zu verachten; wenn sie nur die Unterstützungskasse nicht in Anspruch zu nehmen brauchte und die andern Weiber am Brunnen sie nicht schmähten, dann konnte sie mehrere Kirchspiele durchwandern, und [S. 95] ihre Vorräte aus den Dörfern waren eine gute Hilfe. Wahrlich, sehr oft war es nur der Großmutter zu verdanken, wenn die Familie etwas zum Beißen und in den Ofen zu legen hatte, so fleißig war die Großmutter geworden.
Oliver selbst ging es am schlechtesten. Seine Krankheit wollte nicht weichen. Jetzt war er wieder kurze Zeit auf dem Fischfang gewesen, und zwar nur, weil er ein neues Boot bekommen hatte, daher kam's. Seht, er hatte ja eine Fahrt aufs Meer hinaus gemacht, und da hatte er das Boot herrenlos umhertreibend gefunden; das war ausgezeichnet, das Boot hatte wohl irgendwo vertäut gelegen und war abgetrieben worden, es konnte von weit her sein, vielleicht vom Ausland. Nun hätte er allerdings das Boot anmelden sollen, wer zweifelte daran; aber wie es nun ging oder nicht ging, Oliver behielt das Boot und kam auch nicht in Verlegenheit dadurch. Niemand machte ihm einen Vorhalt, der Krüppel brauchte das Boot, er konnte in seinem eigenen elenden Fahrzeug sonst eines Tages untergehen. Zuerst hatte Oliver ja gedacht, er könnte das Boot verkaufen und Geld dafür bekommen, aber das verbot ihm die Stadt, das wäre zu weit gegangen. „Nein,” sagten die Leute im Ort, „wenn du es gefunden hast, dann sollst du es haben!” Also fischte Oliver in allen Freistunden und gebrauchte sein neues Boot.
In allen Freistunden.
Er hatte durchaus nicht oft frei, seine Krankheit fesselte ihn ans Land, fesselte ihn ans Haus. Petra zeigte ja wieder leichten Widerwillen gegen den Kaffee, und jetzt war Oliver beinahe ganz erschöpft von seiner Wachsamkeit. War er nicht monatelang in Winkeln und Gassen auf der Lauer gestanden, hatte spioniert und gehorcht! Er war schlecht gekleidet und schlecht ernährt, aber die Eifersucht hielt ihn stundenlang auf seinem Posten fest; er stand da mit klopfenden Pulsen und litt wahre Höllenqualen, der Wind zerrte an seinem Hosenbein wie an einer Flagge, die sich um eine Stange gewickelt hat. Er hatte ja eigentlich niemals frei, er war bei Nacht nicht sicherer als am Tage, er machte Überstunden, er schindete sich ab. Wenn ihn das wenigstens aufs Krankenlager gebracht und getötet hätte, aber nein! Ein Frauenzimmer ausspionieren! [S. 96] Warum sie nicht lieber laufen lassen und das Haus zuschließen! Was war bei dieser Frechheit zu tun, eine Frechheit, die ganz unschuldige Augen hat und des Lügens überdrüssig wird? Er konnte sie von der einen Seite her erwarten, und dann kam sie von einer andern, wo war sie da gewesen? Sie konnte, ein Liedchen trällernd, daherkommen, da war gar nichts, was sie bedrückte; was für Gedanken hatte sie wohl, warum schmunzelte sie vor sich hin und wiegte sich in den Hüften?
„Was stehst du hier und lauerst?” sagt Petra nur und versinkt durchaus nicht in den Boden.
„Woher kommst du? Jetzt ist es Nacht.”
„Bin ich nicht beim Konsul gewesen? Was hast du da in der Hand; das Messer?”
„Das siehst du wohl.”
„Das Fischmesser! Warum stehst du mit dem Messer da?”
„Ich hab' es am Bollwerk gebraucht.”
„Nein, aber du meinst, du könnest mir Angst machen.”
„Schweig!”
„Ach, gib dir keine Mühe!”
Nein, Petra war sicher; er war feig und widerlich, er war nichts, sie scherte sich den Kuckuck um ihn. Dann geht sie nur an ihm vorbei und hinein, der Mann kommt hinterher. Sie bleibt einen Augenblick im Flur stehen, um ihn zu beschämen, ja, um ihm zu zeigen, daß sie, die Nachtwandlerin, die ordentliche und zuverlässige ist: Seht jetzt nur, ist nicht sie es, die die Haustür hinter sich und ihm zuschließt!
„So, du willst zuschließen,” sagt Oliver. „Abel ist sicher noch nicht daheim.”
„Dann muß er draußen übernachten.”
„Er soll nicht draußen übernachten!” schreit Oliver erregt, er dreht rasch seinen schweren Oberkörper im Kreise herum und schiebt Petra auf die Seite. Sie fährt auf und sagt: „Warum schlägst du mich nicht lieber auf einmal tot!”
Ein heftiger Streit entspinnt sich; sie gehen hinein und werfen sich Schimpfworte an den Kopf. Die Großmutter liegt im Altenteil mit der Kleinen und Frank. Sie richtet sich auf den Ellbogen auf und lauscht, dann legt sie sich wieder nieder, das ist nichts Neues, sie kennt das. Olivers [S. 97] Eifersucht ist für den Augenblick vorbei, und er fühlt sich außerdem befriedigt von seinem Auftreten; leicht wie ein Kind war sie an die Wand geflogen, er ist der Mann, hoho, er wiegt den Oberkörper hin und her.
Das nächtliche Scharmützel zwischen den Eltern kommt dem Eichhörnchen Abel zugute: er schlüpft so leise wie möglich von der Straße herein und hört, als er zu Bett geht, von keiner Seite irgendein böses Wort.
Nichts konnte so wild und qualvoll sein, als in dieser Spannung leben zu müssen. Oliver hat seit Tagen ausgeruht, und er treibt sich in den Straßen herum, fühlt aber keine Spur von glücklicher Ruhe. Jetzt sind die Fenster seiner Stube mit Röcken und Schürzen verhangen, und er kann nichts erspähen, deshalb wandert er wie blödsinnig vor dem Hause hin und her.
Schließlich trifft er die Großmutter, und sie sagt zu ihm: „Es ist wieder ein Mädchen.”
Das interessiert ihn nicht, ach, wie gleichgültig ist das; aber er redet, um noch mehr zu hören. „Ach so, wieder ein Mädchen? Hat sie alle ihre geraden Glieder?” fragt er.
„Ja, ich hab' nichts anderes gesehen.”
„Sie hat wohl nicht nur einen Fuß?”
„Nein.”
„Nun, dann dürfen wir ja froh sein. Es ist nicht leicht, wenn man einen Stelzfuß hat. Doch was ich sagen wollte, hat sie aufgeschaut? Mit den Augen?”
„Wie? Was?”
„Ich frage nur. Warum schreit sie nicht? Sie ist doch nicht etwa totgeboren? Kann ich sie sehen?”
„Sie schläft jetzt.”
Wieder mußte Oliver warten, die Fischerei aussetzen, sich in der Straße herumtreiben und warten. Gegen Abend bekommt er die nun erwachte Kleine zu sehen, er trägt sie ans Fenster und überzeugt sich, was für Augen sie hat. Petra sieht vom Bett aus beruhigt zu, es ist nichts im Wege: das Kind hat braune Augen.
Es war merkwürdig, wie diese unbedeutende Tatsache den Vater beruhigt; er lobt das Kind und sagt sogar einen freundlichen Scherz zu Petra. „Du bist ein Hauptkerl, wenn du willst!” Obgleich es schon gegen Abend war, [S. 99] ruderte er doch noch hinaus auf den Fischfang. Die ganzen letzten Monate hatte er in seinem Herzen gegen Petra gewütet, sie hatte vielleicht abermals schlecht und niederträchtig gehandelt, jetzt dachte er anders, sie war doch nicht so ganz toll gewesen, sondern gerade großartig, Gott sei Dank! Und bitte, es soll Fische geben, so gewiß, als Fische zu fangen sind! Es sind wieder braune Augen, die echten Familienaugen, die Natur hatte gesiegt, alles kam wieder in Ordnung.
Ach, der geistesschwache Mann, Gott mochte wissen, wie er sich die Sache zusammenreimte!
Eines Tages trifft er Scheldrup Johnsen auf der Straße und sagt zu ihm: „Jetzt kommt der Winter, nun mußt du so gut sein und an mich denken.”
„Ich soll an dich denken?” fragt Scheldrup.
„Ja. Daß ich ein Krüppel bin.”
„Was geht das mich an?”
„Und daß ich viele Kinder habe.”
„Wie verrückt die Menschen doch reden können!” äußert Scheldrup unschlüssig.
Oliver lächelt ehrerbietig und schaut zu Boden. „Ja ja, das ist wohl möglich,” sagt er. „Aber jetzt mußt du so gut sein und mir Arbeit geben.”
„Ich? Was für Arbeit?”
„Im Lagerhaus.”
„Darüber mußt du mit meinem Vater reden.”
Oliver schlägt langsam die Augen auf, richtet den Blick fest auf Scheldrup und sagt: „Nein, das mußt du tun!”
Drohte Oliver? Der junge Scheldrup weicht etwas zurück, er sieht den Krüppel an. Aber sein Blick ist erloschen. Seht, zuerst hatte er einen so recht heftigen, rasenden Ausdruck, aber dann erlosch er. Scheldrup überlegte wohl ein bißchen, erinnerte sich an sein Benehmen, an die Backpfeife, an all den Klatsch, er hätte das Ganze nur sehr ungern noch einmal hervorgezogen, deshalb sagt er: „Na ja, ich kann ja meinen Vater fragen, wenn das dein Wunsch ist.”
„Das ist recht,” erwiderte Oliver darauf.
Einige Tage später trifft Oliver wieder mit Scheldrup zusammen, und da fragt dieser: „Meinst du, du könnest das Lagerhaus übernehmen?”
[S. 100] Das Lagerhaus übernehmen? Das war nun allerdings Großtuerei und Dünkelhaftigkeit von seiten Scheldrups; es war bis jetzt kein fester Angestellter in Johnsens Lagerraum gewesen, nur einer von den Ladenbediensteten lief manchmal hinunter, um das nötige zu tun, da sollte doch wohl der ganze Oliver diese Kleinigkeit leisten können!
„Mein Vater will mit dir reden,” sagt Scheldrup.
Oliver wandert schon als großer Lagerhausvorstand heimwärts. „Wie war es doch,” fragt er Petra, „hat dir Johnsen am Landungsplatz nicht abgeschlagen, mich anzustellen?”
„Doch. Und nun frag' ich ihn nicht noch einmal.”
Schweigen, o ein Schweigen, das Oliver gewichtig, ja verhängnisvoll macht. „Nein, ich werde selbst ein Wörtchen mit ihm reden,” sagt er und geht hinaus.
Die Frauen sehen einander an. Na, das würde nichts helfen, wenn Oliver ging, vielleicht ging er auch gar nicht. Und Petra warf plötzlich den Kopf in den Nacken.
Als Oliver zurückkam, schwieg er eine gute Weile vollkommen, o, ein gewichtiges, langes Schweigen! Die Frauen mochten nicht fragen, aber sie lächelten ein wenig, und Petra sagte sogar: „Ich möchte wohl wissen, wer nun zum Konsul gegangen ist und mit ihm gesprochen hat.”
Endlich bricht Oliver das Schweigen und sagt: „Mein Islandwams muß heut' abend noch gestopft werden. Es ist kalt im Lagerhaus.”
Petra schrie beinahe: „ Sollst du ins Lagerhaus?”
Und sogar die Großmutter blieb stehen und sperrte den Mund auf.
Aber Oliver sieht sich mit der größten Verwunderung um und versteht nicht, was sie meinen, wahrhaftig, die Frauen sind ihm das große Rätsel. „Ja, natürlich?” antwortet er in fragendem Ton.
Sie schlagen die Hände zusammen.
„Natürlich soll ich ins Lagerhaus,” sagt er. „Sobald es geht. Ich fang' schon morgen an.”
Sie besprachen es hin und her: das bedeutete Veränderung, festen Gehalt, Vorwärtskommen, o, das hatte sehr viel zu sagen! Und da sitzt er nun, er, der das zustande gebracht hat, der Herr, von Stolz geschwellt, stutzerhaft den Hut schief auf dem Kopf, Großsprecherei ist's. [S. 101] Er spricht wieder: „Ich hab' ja gesagt, daß ich zu ihm gehen und mit ihm reden werde.”
„Aber ich hab' den Konsul doch schon mehrere Male gebeten,” wendet Petra ein.
Oliver erwidert: „Das ist eben nicht so, wie wenn ein Mann kommt.”
Das bedeutete Veränderung, jawohl! Aber Oliver, der weiß, worauf er eingegangen ist, denkt wohl: ein buchstäbliches Sparkassenbuch und den Garten Eden bedeutet es nicht; der Johnsen am Landungsplatz ist nicht überflott gewesen; aber auf der andern Seite war er der Erste Konsul, für die Familie Oliver war er also eine Art Retter geworden.
Im Lagerhaus war keine schwere Arbeit zu verrichten; Oliver konnte da Tag um Tag hingehen, bloß um überhaupt da zu sein. Seine geschäftvollsten Tage hatte er, wenn ein Frachtschiff an dem kleinen Bollwerk anlegte, Mehl und Sirup, Kaffee, Paraffin und Leinöl auslud und Fisch und Tran dafür einnahm. Da mußte Oliver die empfangenen Waren im Lagerhaus und Keller unter Dach schaffen, und bei solchen Gelegenheiten erreichte er es, abends wirklich müde zu sein. Außerdem hatte er zu scheuern, aufzuräumen und alles in gehöriger Ordnung zu halten. Ein offener Kaffeesack durfte nicht mitten auf dem Boden stehen bleiben, daß nicht etwa kleine Jungen daherkommen und ihn als Fund erklären könnten. Wenn sich dann die Kunden mit einem Zettel vom Kramladen einfanden, las Oliver den Zettel und lieferte dem einen Sack Mehl, zwanzig Meter Tauwerk oder jenem ein Liespfund Fische aus. Dem Lagerhausvorsteher lag es ob, jeden Morgen die Schiebladen im Kramhandel mit Kolonialwaren vom Lagerhaus aufzufüllen; schließlich mußte er aufschreiben, welche Waren im Lagerhaus knapp wurden, damit das Kontor beizeiten neue Bestände bestellen konnte.
Alles in allem war es gar keine so geringe Stellung, die Konsul Johnsen für Oliver eingerichtet hatte, und die Leute hatten wieder einmal guten Grund, seine Handlungsweise zu loben. Allerdings war ja Oliver auf seinem Schiff ein Krüppel geworden; aber das verpflichtete den Konsul zu nichts, höchstens zu allgemeiner Barmherzigkeit [S. 102] und Gnade. Und von diesen hatte der Erste Konsul ein gut Teil, er war ein großer Mann und ein Wohltäter.
Was war also dagegen zu sagen? Nichts. Es konnte ja oft im Lagerhaus wohl ein häßlicher Geruch nach alten Fischen und verfaulten Lebern sein, besonders im Sommer war oft ein durchdringender Gestank darin — aber was war dabei! Im ganzen war Oliver auch jetzt ebenso wie früher eine genügsame Seele, er verdiente genug für Margarine aufs Brot, für faule Sonntage, für etwas Staat, einen herrlichen bunten Schlips, frischgebürstete Schuhe, einen neuen, schief auf den Kopf gesetzten Hut. Konsul Johnsens Wohltätigkeit gegen ihn wirkte auch noch auf weitere Kreise, Oliver merkte an Kleinigkeiten, daß die Stadt ihn nicht mehr übersah, und der Rechtsanwalt Fredriksen wollte auch nicht zurückstehen, sondern hielt Frieden wegen des Hauses.
O ja, das Glück war eingekehrt! Aber das beste war, daß Oliver der Vorstand seines Lagerhauses geworden war, seines eigenen kleinen Bereichs; er war nicht weit davon entfernt, ein Herrscher zu sein, sozusagen eine Person von Stande. Das gefiel ihm, es kitzelte ihn förmlich, wenn die Leute aus der Stadt als Kunden daherkamen und guten Tag sagten, ehe sie ihre Zettel vorwiesen. „Guten Tag!” grüßte er dann wohl wieder, so ein Mensch war er, auch er übersah niemand. Jetzt war es nicht so ohne, ja, es lohnte sich, gegen den Krüppel ein wenig höflich zu sein, er konnte bei mancher Gelegenheit allerlei davon oder dazu tun, durch volles oder geringes Maß, durch schlechtes oder gutes Gewicht.
Der Fischer Jörgen kam mit einem Zettel — Kaspar, der Matrose auf der Fia gewesen war und seine Frau jetzt nicht mehr zu verlassen wagte, damit sie nicht zu neuen Auslandsreisen verführt würde — ja, dieser Kaspar kam auch mit einem Zettel; Martin vom Hügel kam, der Schreiner Mattis und der Polizei-Carlsen kamen und später alle von nah und fern; und Oliver war der, der sie unter der Tür des Lagerhauses empfing und ihre Wünsche anhörte. Wahrlich, Josef war ein großer Herr bei Pharao in Ägypten geworden.
„Ja, jetzt bist du ja ordentlich hoch hinaufgekommen,” sagte Fischer Jörgen in all seiner Gutmütigkeit.
[S. 103] „Ich kann nicht klagen,” gab Oliver wohl zur Antwort. „Die Vorsehung hat mich hierhergestellt und mich nicht vergessen.”
Nun übergab er Jörgen für alle Zukunft seinen Platz drunten am Bollwerk, den Platz, den Oliver den Fischmarkt nannte. „Nimm nur alles miteinander, die Kisten und den Platz, und wohl bekomm's! Du hast mir manches Gericht Fische gegeben, wenn ich elend war und nicht auf die See hinaus konnte,” fügt er noch hinzu und tut dabei gerührt. „Was mich nun anbetrifft, so hab' ich mit den Meinigen jetzt das tägliche Brot, und was weiter brauchen wir Menschen denn zum Exempel? Und deine Kinder und meine Kinder, Jörgen, sie lassen sich gut an, und der Frank geht in die höhere Schule und wird immer gelehrter, es ist ein wahres Wunder, er kann das Deutsche lesen, sobald er es nur vor Augen hat.”
Jörgen bestätigt mit einem Kopfnicken, daß auch seine eigenen Jungen und Mädel mit hoher Achtung von Frank sprechen.
„Ja, es ist ganz außerordentlich, fast wie in einem Geschichtenbuch! Er kann jede Stelle bekommen, die er nur will, er kann geradeswegs auf eine Bank, auf ein Kontor; das fehlt gar nicht. Wenn du ein klein wenig wartest, Jörgen, dann gehen wir zusammen heimwärts.”
Oliver zog ein Taschentuch heraus, rieb das Schweißleder in seinem Hut damit ab, ebenso Mehl und Staub von seinem Gesicht, er bürstete seine Schuhe und seine Kleider und ließ Jörgen warten. Er wollte wohl Jörgen gerne merken lassen, daß er nicht mehr derselbe wie früher war, daß seine neue Stelle nicht die des ersten besten sei. Dann schließt Oliver die Lagerhaustür für diesen Tag ab; sie knirscht durchdringend in den Angeln, aber das ist ein freundlicher Laut für Oliver, der abendliche Schwanengesang einer Lagerhaustür. Er steckt den schweren Schlüssel in die Tasche, und dann ist er fertig.
Sie gehen heimwärts. Jörgen trägt ruhig seine Ölkanne und hört Olivers Reden zu, die einfach und eigentlich demütig, aber voller Prahlerei sind. „So, du willst dein Haus anstreichen?”
„Ja.”
„Du bist glücklich, daß du das selbst tun kannst. Ich [S. 104] muß mir nun Maler nehmen, um meines anstreichen zu lassen, selbst hab' ich keine Zeit dazu.”
„Nein.”
„Aber ich kann nichts anderes sagen, es hat sich für mich recht günstig gewendet, ich kann anstreichen und aufputzen lassen, wie es gerade nötig ist. Es kostet zwar, aber da ist nichts zu machen.”
Jörgen hat etwas auf dem Herzen und sagt: „Wir müssen versuchen, unsere Jungen mehr daheim zu halten.”
„Die Jungen? Warum?”
„Gestern abend sind sie wieder draußen gewesen. Ich bin manchmal recht in Sorge um sie.”
„Um den Eduard und den Abel? Nein, Jörgen, das ist nicht nötig,” erwidert Oliver und fühlt sich überlegen. „Diesen Burschen geschieht nichts.”
„Sie kommen manchmal so sehr spät heim. Ich wünschte, du gäbest ihnen das Boot nicht.”
„Laß doch die Jungen!” sagt Oliver. „Als ich im Ausland fuhr und in allen Städten der Welt war, hab' ich überall kleine Jungen gesehen, die in einem Boot draußen waren. Du solltest auf den großen Ozean kommen, da springen sie vom Boot aus ins Wasser und schwimmen wie die Aale.”
„Aber dann lernen sie ihre Schulaufgaben nicht.”
Die beiden Väter besprechen die Sache verständig nach beiden Seiten hin, und Oliver ist überdies der erfahrenere von den beiden und ein Weltumsegler; Jörgen kann ihn wohl anhören. Aber plötzlich sagt Jörgen: „Ja, aber es ist nicht ausgeschlossen, daß sie Fische stehlen.”
„Na,” sagt Oliver. Darauf kommt ihm wohl der Gedanke, daß Diebstahl unvereinbar mit seiner neuen Stellung sei, und er bleibt jählings stehen. „ Stehlen sie Fische?” fragt er.
„Nicht von den meinen, aber Martin auf dem Hügel klagt über sie.”
„Jetzt werd' ich mit den Jungen reden!” erklärt Oliver. „Jawohl, und dann soll auch ordentlich mit ihnen geredet werden.”
Diese beiden, der Fischer Jörgen und Oliver haben im Lauf der Jahre manches Gespräch miteinander geführt, und sie waren immer ohne einen Gruß und Gute Nacht [S. 105] auseinandergegangen; aber an diesem Abend sagt Oliver: „Willst du nicht bei uns hereinsehen?”
Jörgen ist langsam und als Geist betrachtet nicht schlagfertig: Was meinte denn der Nachbar, der Mann vom Lagerhaus?
„Ich weiß nicht, ob Petra vielleicht eine Tasse Kaffee und etwas Backwerk hat; wir könnten es ja probieren.”
„Nein, ich danke, aber es ist für heut' abend zu spät,” erwidert Jörgen auf diese Großtuerei.
„Na, ja ja. Nun, dann grüß daheim!”
So etwas hatte Jörgen noch nie gehört: daheim grüßen!
Als er heimkam, mußte er seiner Frau sein Erlebnis erzählen, und Lydia, die Kluge, war nicht faul, alles zu durchschauen. „Sie werden verrückt,” sagt sie. „Dies wäre ja einerlei, den Kaffee bezahlen sie wohl nicht mehr teuer, wenn sie ihn im Lagerhaus finden können; aber Backwaren! Und jetzt ist Petra selbst beim Schulvorsteher gewesen und hat gefragt, ob ihr Frank nicht Pfarrer werden sollte.”
Die tüchtige Lydia, sie war nicht ganz frei von Neid. Na, Petra hatte wahrlich Grund, stolz zu sein — es müßten nur die vielen braunäugigen Kinder sein, haha! Nein, das war wahrlich nicht der Mühe wert! Den grauen Mantel, den sie bekam, ehe sie verheiratet war, den konnte sie jetzt nicht mehr tragen, was man auch nicht erwarten konnte; aber eine verheiratete Frau sollte nicht wieder einen hellen rotbraunen Mantel haben, den sie eben jetzt von Frau Johnsen geschenkt bekommen hatte, das schickte sich nicht, sie machte sich ja lächerlich damit.
Arme Petra, alle waren hinter ihr her, sie war eigentlich ein unglückliches Geschöpf, ein angebundenes Stück Vieh, das die Fessel toll macht. Das schlimmste aber für sie selbst und für andere war, daß sie so ungenügsam und so unzufriedenen Sinnes war. Sie hatte nun ihr Heim und ihr Auskommen, hatte Mann und Kinder, da hatte sie sich doch nicht so schlecht gebettet, oder wie? War sie mehr wert? Hatte sie nicht alle Ursache, mit einem Manne wie Oliver, der zum Vorstand von Konsul Johnsens Lagerhaus emporgestiegen war, glücklich zu sein? —
Oliver tritt in seine Stube und hängt den mächtigen Schlüssel an seinen Nagel am Fensterpfosten. Er hat selbst [S. 106] das Kleingeld für die Kuchen, die beim Bäcker geholt werden sollen, hergegeben; jetzt kommen sie auch auf den Tisch, jawohl, aber nicht viele, nicht ein Haufen für ihn, der der Versorger ist, außerdem benimmt sich Petra nicht im geringsten höflich, sondern legt die Kuchen auf den bloßen Tisch. Um ihr eine Lehre zu geben, nimmt Oliver seine Obertasse weg und legt die Kuchen auf die Untertasse, dann schaut er auf. Aber Petra ist nun verdrießlich und sagt: „Ich wußte nicht, daß du in Gesellschaft bist.” Oliver ist sich seiner Würde bewußt, streiten tut er nicht, wenn er es vermeiden kann; so gibt er den beiden kleinen Mädelchen jedem einen Kuchen, dann hat er noch einen für sich. Jawohl, Oliver ist naschhaft wie ein Frauenzimmer, er genießt sein süßes Kuchenbrot mit Behagen und trinkt Kaffee dazu, danach macht er sich zum Abendbrot tapfer an den Brotlaib und die Margarine.
„Was hatte denn Jörgen in der großen Blechkanne?” fragt Petra.
„Maleröl.”
„Was, will er anstreichen?”
„Das ist wohl seine Absicht.”
„Ja, manche Leute können anstreichen lassen und es hübsch bei sich machen!” sagt Petra.
Von Olivers Seite Schweigen. Kurz nachher nimmt sie wieder das Wort. „Der Mattis, der ist nun obenauf, er hat einen roten Briefkasten an seinem Haus.”
„Woher weißt du das?” fragt Oliver.
„Woher ich es weiß? Ich ging da vorbei, und da sah ich's.”
„Was hattest du in der Gegend zu tun?”
Petra spottet: „Ich werde dich wohl um Erlaubnis fragen, ob ich vor meine Haustür hinausgehen darf!”
„Warum hast du denn den Mattis nicht genommen?” fragt Oliver. „Dann hättest du ja jetzt einen roten Briefkasten.”
Von Petras Seite Schweigen.
Die Sache aber war die: jetzt war Oliver gut und dankbar gegen die Vorsehung für das Große, was er erreicht hatte, er philosophierte nicht mehr gottlos über sein Unglück und meinte, es sei Sünde und Schande, wenn andere es taten, der jetzige Oliver war geradezu ein glücklicher [S. 107] Mensch. Aber der Schreiner Mattis, der war gleichsam das Gift in seiner Freude, und wenn dieser Mann aus der Welt draußen wäre, zum Beispiel mitten in der äußersten Finsternis, das wäre ein Glück! Hoho, wie komisch geistesschwach war doch Oliver, er sah den Schreiner im Zusammenhang mit seinem blauäugigen Mädelchen, wart' nur, er würde schon ordentlich aufpassen, wenn das Kind eine Pferdenase bekommen sollte!
Eigentlich war an dem Schreiner Mattis nichts auszusetzen, er stand nicht im Geruch, hinauszuschlagen. Dieser solide Mann, der jetzt Haus und Werkstatt hatte und mit einem Gesellen und Lehrling schaffte, „veränderte” sich nicht, er hatte keine Frau, war vollständiger Junggeselle. Es war, als hätte er zu sich selbst gesagt: „Nein, ich danke, ich hab' einmal eine lange Nase bekommen, diese Nase braucht nicht noch länger zu werden, das steht fest.” Jetzt hatte er Maren Salt als Haushälterin, und sie war wohl über vierzig und würde ihn nicht in Versuchung führen. Da stand er nun jahraus, jahrein in seiner Werkstatt, sägte und hobelte und hatte heruntergezogene Mundwinkel, sah auch mit der Zeit immer trauriger und einfältiger aus, aber er tat seine Arbeit.
Aber gerade das, daß Mattis sich nicht verheiratete, machte ihn in Olivers Augen verdächtig. Was hatte der Mann im Sinn, schlich er hinter Petra her? So oft des Schreiners Name genannt wurde, bekam Oliver einen Rückfall seiner Eifersucht.
„Kannst du mir sagen, was ein Briefkasten am Haus für ein Staat sein soll?” fragte er.
„Nun ja, es ist ein kleiner Schmuck und eine Aufmunterung. Nicht jedermann hat einen Briefkasten an seinem Haus.”
„O, ich, der weit in der Welt draußen gewesen ist, ich hab' vergoldete Briefkästen gesehen!”
„Vergoldete?”
„Ja, von oben bis unten vergoldet. Und mit einer Kaiserkrone darauf.”
Oje, aber Petra hatte schon tausendmal gehört, was Oliver in der Welt draußen gesehen hatte.
Es war gut, daß Oliver den Jungen das Boot nicht wegnahm. Hätte es einen Sinn gehabt, die Leute an ihrem Erwerb zu verhindern?
Die vier Bratfische, deretwegen es ein ehrenrühriges Gerede gegeben hatte, hatten die Jungen sehr richtig in Martins Fischkasten „gefunden”, und nun gingen sie selbst hin und gestanden es ihm. Aber sie hätten sie nur entlehnt, um ein Dutzend Bratfische aufzufüllen, die dem Doktorhause versprochen waren. Und bitte, hier sind die Fische wieder, wir bringen sie ganz von selbst, und wir werden dir ein andermal vier Stück dafür geben, Martin.
Der arme Martin wurde wahrhaftig so ehrlichen Leuten gegenüber etwas flau über seine losen Reden, er murmelte, es hätte ja nicht so sehr geeilt mit dem Zurückgeben.
„Doch,” sagten die Jungen, „hier sind die Fische, und wir danken schön für die Hilfe.”
Ja, Oliver hatte mit den Jungen geredet, wie er versprochen, das heißt, er hatte ihnen eine blanke Krone gegeben, damit sie die Sache wieder gut machen könnten. O, Oliver war nicht so dumm, er war auf seine Art gut gegen Kinder, und die Kinder liebten ihn dafür. Abel kaufte sogar manchmal Näschereien für den Vater.
Und wovon kaufte er denn? O, Abel verdiente Geld, er fischte.
Diese kleinen Jungen waren ordentlich tüchtig, sie waren ganz hingenommen von ihrem Gewerbe. Nicht Schulaufgaben und Lehrer wurden zwischen ihnen verhandelt, sondern ihr Geldbestand. Sie hatten ihre Rechnungen im Kopf: ein wenig hatten sie wohl einem Kameraden, der in einer Klemme war, vorgestreckt, ein wenig ging manchmal beim Spielen verloren, aber der Rest war da. Keiner von ihnen hatte wenig, sie hatten Silber und Scheine, [S. 109] aber sie hatten auch große Ausgaben. Eduard mußte für sich beständig Rauchtabak in Silberpapier halten, sonst würde er seekrank, behauptete er, und Abel war leider auch kein besserer Kerl, er hatte Auslagen für Sirupkuchen, für ein Pistol mit Zündplättchen, für Rotstifte, mit denen er auf die Hauswände schrieb. Das waren keine Kleinigkeiten; aber die Jungen waren fleißig und klebten förmlich an ihrem Boot.
Später, als die Schule sie im Ernst einfing, waren sie nicht mehr so sehr erpicht auf ihre Arbeit, es war eine Schande, wieviel Zeit und Kräfte sie auf ihre Aufgaben verwenden mußten. Sie hielten sich dafür schadlos, daß sie in der Stadt auf Erlebnisse ausgingen, und auf diese Weise gerieten sie auch in allerlei hinein. Ganz besonders hatten sie es auf zornige Gartenbesitzer abgesehen. Um freundliche Gartenbesitzer, wie den Postmeister und den Grütze-Olsen, kümmerten sie sich nicht, aber der Apotheker war ausgezeichnet. Im vorigen Jahre hatte er mit Salz nach ihnen geschossen, als sie eine Maus bis in seinen Garten hinein verfolgten, in diesem Jahr rächten sie sich dafür, sie scheuchten herzlos seine Hühner, rissen seine Flaggenschnur herunter und hielten seinen Garten vollständig frei von Obst.
Bei diesen Streichen hatten sie nun einen dritten Verschworenen bekommen, und dieser war überdies nur ein Mädchen, Klein-Lydia, eine rechte Range, aber eifrig und geschickt, besonders ein schlaues Füchslein, wenn es galt, auf dem Wachtposten zu sein und herannahende Gefahr zu melden.
Eduard war der größte von den dreien und auch am tüchtigsten im Pläne schmieden, aber Abel war leicht und mager und deshalb unentbehrlich beim Klettern und sich durch enge Löcher hindurchzuzwängen. Es kostete unendliche Mühe, herrliche schwarze Kirschen, die auf einem hohen Baum in des Apothekers Garten wuchsen, herunterzuholen, und wenn es gelingen sollte, mußte Abel auf das Dach des Nebengebäudes hinaufklettern und von da aus den Versuch machen. Es war ein später, aber mondheller Abend, alle drei waren auf ihrem Posten, Klein-Lydia steht mit spähenden Augen da, Eduard stützt die leeren Kisten, auf die Abel steigen soll, Abel selbst steigt [S. 110] hinauf. Es kostet Zeit, das steile Ziegeldach zu ersteigen, aber Abel klettert mit den Nägeln; als er endlich rücklings auf dem First sitzt, muß er noch ein gutes Stück nach der Seite rücken, um zu den Kirschen zu gelangen — und als er dicht vor dem Ziel ist, räuspert sich das Füchslein leise. Klein-Lydia hat den Lichtschein gesehen, der durch eine sich öffnende Tür in der Apotheke fällt. Jawohl, so war's. Aber jetzt ist das Eichhörnchen am Ziel, und es wagt einen Augenblick zu zögern; das Füchslein räuspert sich laut — der Apotheker steht plötzlich drunten am Hinterhaus. „Aha!” schreit er. „Komm herunter, du Satan! Nun sollst du sehen!”
Aber der Apotheker war der, der sehen mußte.
Zuerst regnete es Dachziegel auf ihn herunter, das Eichhörnchen verläßt das Dach auf der andern Seite, verfolgt von einem Steingeröll, verfolgt von Erdschollen, die hinter ihm herunterrollen. Er gelangt nicht auf die leeren Kisten, sondern fällt auf ein Staket, das ihn aufspießt, von da springt er schließlich auf die Straße hinaus, als ein geretteter, aber blutender Mann. Zu allem andern kam auch noch ein Schuß Salz durchs Staket, das drang mit Glanz durch Abels dünne Hose. Aber am schlimmsten war doch das Spottgelächter des Apothekers.
Und wie lief es ab, als die Jungen ihr ausgeliehenes Geld zurückfordern wollten?
Da hatten sie zwei Kameraden, die in Not gewesen waren, geholfen und ihnen einen anständigen Kassenkredit eröffnet, doch die Zeit verging und verging, und die Schuldner machten keine Miene, ihre Schulden zu bezahlen. Da wurden sie auf Tag und Stunde vorgeladen, eine große Versammlung fand sich ein, die Sünder ebenfalls, da sie aber sehr eingebildete Jungen waren, lächelten sie ihre Gläubiger, um sie zu ärgern, nur an. Aber Eduard und Abel hatten sich nun einmal vorgenommen, die Sache ins reine zu bringen, im Notfall mit Gewalt.
Eduard kommt zuerst daran.
Er geht direkt auf Reinert zu. Dieser ist der Sohn eines Küsters und hat moderne Kniehosen an, und die Uhrkette seines Vaters baumelt auf seiner Weste — auf ihn geht Eduard zu, ganz ruhig, wie wenn gar nichts los wäre, ja es ist, als wolle er ihm zum Gruß die Hand [S. 111] reichen. Aber da verbarg Eduard bloß eine teuflische List; plötzlich stößt er mit Arm und Faust zu und fährt kopfüber auf seinen Gegner los.
Die Versammelten wagen kaum zu atmen und sehen dem Auftritt mit gespanntester Aufmerksamkeit zu; die beiden wälzen sich am Boden, sie kommen wieder in die Höhe und tanzen auf dem ganzen Platze herum, sie sprühen Funken gegeneinander. Dann, in einem unseligen Augenblick, entdeckt Reinert, daß er die Uhrkette verloren hat; alle miteinander suchen sie, und Klein-Lydia, das Füchslein, findet sie im Kies.
„Gib her!” schreit Reinert. Aber Klein-Lydia hat besseren Verstand, sie läuft damit zu ihrem Bruder hin, und Eduard steckt die Kette in seine Tasche. „Aha,” sagt die Versammlung.
Hätte nun Reinert besser Zeit gehabt, dann hätte er sich vielleicht die Kette zurückerobert, aber er muß augenblicklich zum Gürtler mit ihr, um nicht mit einer zersprungenen Kette nach Hause zu kommen. „Ich bezahle!” ruft er Eduard zu; „ich wollte dich nur ein wenig reizen.” Und die Versammlung bekundet mit lauter Stimme ihren Beifall zu dieser Entscheidung.
Jetzt waren das Eichhörnchen und ein lustiger, fester Kerl, der den Spitznamen der Zeichenstift hatte, an der Reihe. Aber als Reinert, des Zeichenstifts großes Vorbild, den Walplatz verlassen mußte, war niemand mehr da, um diesem den Mut zu stählen, er sah sich verraten und verlassen, und da murmelte er: „Ich bezahl' auch.”
Auf diese Weise gab es allerlei Erlebnisse, nicht alle so einfach und ehrlich, aber alle lehrreich und je nachdem entwickelnd wirkend.
Nun kam eine Zeit, wo Abel etwas in die Höhe schoß und ordentlich heißhungrig wurde, gleichzeitig verlor er alle Arbeitslust, er war in recht frühzeitigen Flegeljahren. Das war keine gute Zeit für Abel. Als er sein bares Geld aufgebraucht hatte, konnte er sich beim Bäcker privatim keine Eßwaren mehr kaufen, da verdingte er sich beim Stadtingenieur für die Abende als Laufbursche und zum Holzspalten. In diesem Dienst bekam er großen Geschmack an verstohlenen Fahrten in den Straßen, er hängte sich nur mit ein paar Zoll seines Körpers an einen Wagen, [S. 112] um jeden Augenblick abspringen zu können, falls er entdeckt wurde. Er, der sich früher nie um Pferde und Fuhrwerke gekümmert hatte, hörte jetzt das Rasseln eines Wagens schon von weitem und paßte ihm eifrig auf, denn es war gar keine so leichte Kunst, im richtigen Moment auf einen Wagen zu springen.
Bei Stadtingenieurs bekam er außer etwas Lohn jeden Abend noch herrliche große Butterbrote, die ihm ordentlich aufhalfen und seine Lebensgeister stärkten. In dieser Stellung blieb er einen Monat um den andern den ganzen Winter hindurch, und in dieser Zeit traf er zwar mit Eduard noch in der Schule zusammen, erlebte aber keine weiteren Abenteuer mit ihm. Dagegen erlebte er ein Abenteuer mit Klein-Lydia: als er zwölf Jahr alt war, freite er um sie.
Er hatte ja Klein-Lydia die ganze Zeit über als ein gutes Mädchen gekannt und sich recht an sie angeschlossen; jetzt war sie überdies seit kurzem außerordentlich hübsch geworden, und er glaubte zu bemerken, daß der Küstersohn Reinert in seinen Kniehosen um sie herumschwänzelte. Da nahm sich Abel vor, rasch zu handeln.
Es ist Sonntag, sie sind drüben beim Fischer Jörgen, die Hühner laufen auf dem kleinen Hofe um sie herum, Abel und Klein-Lydia plaudern miteinander. Sie trägt ein schönes gelbes Kleid, weil es Sonntag ist, er aber ist an dem Tag angezogen wie am vorhergehenden und wie an allen andern Tagen auch, aber an so etwas denkt Abel nicht. Sie erklärt ihm gerade, sie könne nicht begreifen, daß sich Grütze-Olsens Ragna noch etwas aus Puppen mache: „Wenn ich doch meine Puppe gar nicht mehr ansehe.”
Hier dachte nun wohl Abel, wenn sie so erwachsen geworden sei, dann sei es auch hohe Zeit für ihn zum Handeln, und so legte er ihr seine Herzensfrage vor. Obgleich er nun ganz offen redete und alles Nötige sagte, verstand ihn Klein-Lydia gar nicht, sondern mußte ihn noch einmal fragen. Das war Abels schlimmster Augenblick. Nicht weil er an ihrer Antwort zweifelte, sie würde gewiß gleich ja sagen, so sehr wie sie seither im Leben verbunden waren. Aber als sie sein Anliegen noch einmal gehört hatte, runzelte sie die Stirn und sagte nein. Glatt nein!
[S. 113] Er sah sie forschend an, ob sie auch nüchtern sei.
Klein-Lydia dachte nach und überlegte wohl hin und her: der Freier tat ihr leid, ja wahrhaftig! Sie waren gute Freunde gewesen, und hatten sich gut gekannt, aber sich mit ihm verloben — nein! Allerdings war er ein Junggeselle, in dieser Beziehung stand nichts im Wege, aber sich wirklich mit ihm verloben — nein!
O die Frauen! Leider stand es so, daß er vorläufig, um eine Familie zu gründen, nichts anderes hatte, als seinen Laufdienst beim Stadtingenieur; aber er konnte ja steigen, was hinderte ihn daran, zu steigen? Und überdies sollte sie nicht übersehen, daß er mit ganz reellen Absichten vor ihr stand, Gott mochte wissen, in was sie mit dem Reinert in Kniehosen hineingeraten konnte! Aber die Frauen! „Nein!” sagte sie also und schüttelte den Kopf.
„Ja ja,” erwiderte er nur.
Da stand er wie begossen, und er war nicht einmal gefaßt genug, fortzugehen, am liebsten wäre er in den Boden versunken. Was hätte er tun sollen? Die Mütze hätte er abnehmen sollen und sich verbeugen — mein Fräulein! Nun mußte er aber doch etwas sagen, ein paar Abschiedsworte, um so mehr, als sie wohl nicht in Grund und Boden verdorben war. „Ja ja, leb wohl!” sagte er. Und als er ihr noch für alles danken wollte, konnte er es nicht, er fühlte, daß sich sein Gesicht verzerrte; ach, und wie er Klein-Lydia bedauerte wegen all des Kummers und des Elends, dem sie mit Reinert sicher entgegenging!
Dieses Erlebnis versetzte seinem Lebensmut einen schweren Schlag. Jetzt halfen nicht einmal mehr die Butterbrote beim Stadtingenieur, er wurde mager, war verfroren und zu allem unlustig, er versteckte sich in dunkle Winkel und verzehrte sich in Mutlosigkeit und Schwermut. Das waren die schwersten Wintermonate, die er je erlebt hatte. Schule und Hausaufgaben — ja, mit Maßen, gerade noch genügend! Fischerei — keine Spur! Niemand, dem er sich hätte anvertrauen können, allein in der Wüste zwischen Trümmern und Leid. Und Klein-Lydia, machte sie keine Annäherungen? Hatte sie ihn so bald vergessen? Es sah so aus, sie schien ihm auszuweichen. Nichts wäre leichter für sie gewesen, als merken zu lassen, daß auch sie tiefbetrübt [S. 114] sei; aber nein, nie kam sie eiligst dahergelaufen und warf sich reuevoll vor ihm auf die Knie.
Er bat seinen Vater, ihn doch gleich konfirmieren und dann auf die Kriegsschule gehen zu lassen. Der Vater spottete auch nicht über sein Kind, sondern beriet sich mit ihm darüber; aber es sei noch etwas zu früh, sagte er, gar nicht so sehr viel zu früh, nur ein wenig, es müßten noch einige Monate hingehen, und einige Monate, die vergingen wie im Flug. Abel werde schon sehen! Jetzt sei es gleich Frühling, und dann dürfe er mit Vater an Ostern oder an Pfingsten eine weite Fahrt machen.
Aber Abel machte sich nichts aus einer weiten Fahrt, er saß am liebsten in einem Winkel am Land und brütete. Was für eine Verwendung hatte er nun für Meer und Boot und Eier von den Brutplätzen und für Treibholz und Abenteuer? Er war weit, weit weg von all dem, eingefangen von einer schweren Windstille, der arme kleine Kreuzer.
Er kämpfte sich durch den Winter hindurch. Daheim hielt er sich gerade nur die Nacht auf, am Tage hatte er Schule und ab und zu eine todlangweilige Aufgabe zu machen, am Abend versah er seinen Dienst beim Stadtingenieur. Der kleine Streiter, gut, daß er es durchmachte! Frank, sein Bruder, ging ja seinen geraden Weg ohne jegliche Schwenkung — welch ein Unterschied zwischen den Brüdern! Er war fortgesetzt ein tüchtiger Schüler und behauptete seinen Freiplatz, er war das Licht, alle sahen seinen Glanz, und alle begriffen, daß dies etwas Außergewöhnliches war. Welch ein Unterschied zwischen den Brüdern, es war, als seien sie gar nicht von demselben Stamm. Jawohl, Frank hatte dieselben Eltern, aber wahrlich, seine Eltern schienen nicht mit ihm verwandt zu sein. Auch daheim in der Stube war er eigen, sehr wählerisch, sehr ernst und fleißig, gegen Abel tat er unerträglich erwachsen: „Das solltest du in diesem Alter wissen,” konnte er im Ton eines Schulmeisters sagen. Er hatte die Gewohnheit angenommen, Abel unnötig deutlich gewisse Höflichkeiten einzuprägen: „Wenn der Lehrer in die Klasse hereinkommt, mußt du aufstehen und grüßen, und wenn du das getan hast, darfst du nicht stehen bleiben, sondern mußt dich wieder setzen.” — „Affe!” sagte Abel.
Als Frank sein Examen in der Mittelschule gemacht [S. 115] hatte, handelte es sich darum, was er tun solle. Was er nun tun solle? Dasselbe wie vorher, was sonst! Konnte man hingehen und das scheinende Licht auslöschen? Das würde nicht mit dem guten Willen des Betreffenden geschehen. Aber während Franks Schicksal entschieden wurde, rieten ihm der Schulvorsteher und der Doktor mit andern jungen Leuten, die auch zuviel studiert hatten, einen stärkenden Ausflug ins Gebirge zu machen. Ehe er abzog, wog er seine Reisetasche auf einer Wage, nahm da etwas weg, legte dort etwas dazu, um das richtige Gewicht zu bekommen; er wog auch seine Schuhe in der Hand und fand sie unerlaubt schwer.
Wäre nun Abel auch so fleißig gewesen und hätte sich halbtot studiert, so hätte er bei diesem Gebirgsausflug auch nicht fehlen dürfen, er hätte ihm außerordentlich gut getan und ihn tüchtig gekräftigt. Aber Abel war nicht von der Art, nein, das war er nicht, und zur Zeit war er überdies in Leid und Untätigkeit versunken.
Eines Tages sagte Eduard zu ihm, nun müßten sie wieder hinausrudern, es kämen große Merlanschwärme dahergezogen. Abel zeigte sich niedergedrückt und zu nichts aufgelegt, der Kamerad brauchte eine ganze Stunde, um ihn zu überreden. Und trotzdem ging Abel nicht ohne weiteres mit. Die Sache war nämlich die: Abel fiel es über die Maßen schwer, eine Verbindung abzubrechen und von einem Ort Abschied zu nehmen; und wenn er jetzt wieder mit Fischen anfangen sollte, dann mußte er seine Stelle beim Stadtingenieur aufgeben. Er hatte da eine elende Bezahlung bekommen, und er hatte wenig Geld, aber es hatte in diesem Haus dicke Butterbrote gegeben, und alle waren freundlich gegen das Eichhörnchen gewesen; konnte Abel da einfach hingehen und Lebewohl sagen? Er wußte, er konnte es nicht tun, ohne daß sich ihm das Herz im Leibe umdrehte, und so schob er es von einem Tag zum andern hinaus.
Da wurde Eduard böse und sagte, er werde schon einen andern Kameraden finden.
„Ach so! Aber wo willst du ein Boot hernehmen?” fragte Abel.
Ja, da wurde Eduard wieder zahm; denn es handelte sich ja um Abels Boot — Olivers Boot.
[S. 116] Und zum erstenmal seit langer Zeit konnte nun Abel ein wenig triumphieren, konnte er nun auf der Straße erwachsen ausspucken und sich als mehr denn ein Nichts fühlen. Das konnte Eduard ganz gut tun, diesem Bruder von Klein-Lydia.
Überdies hing Abel ja auch an seinem alten Kameraden, und als er sich die Sache ordentlich überlegt hatte, machte er ernst und verabschiedete sich bei Stadtingenieurs. Es wäre auch einigermaßen gut abgelaufen, wenn ihm nicht die Hausfrau gar so mütterlich die Hand gedrückt und gesagt hätte: „Armer Abel, du hast so eine kleine magere Hand!” Ganz geblendet von Tränen kam er auf die Straße hinaus.
„Hoho!” rief ihm da einer zu, „hast du da drinnen Haue bekommen?” Es war der Zeichenstift.
Dann saß er also wieder auf der Ruderbank und kam allmählich wieder zu sich. Seht, er war die reine Landratte und ein ganzer Pferdeknecht geworden, jetzt legte er dem Boote Zaum an und fuhr dieses, und wenn ein ordentlicher Seegang war, saß er wieder mit zwei Zoll Körper auf einer scharfen Kante und balancierte. O ja, das waren wohlbekannte Dinge, die Kameraden hatten wieder das Leben vor sich und verdienten wieder Bargeld. Der Kaufmann Davidsen war ein neuer, netter Kaufmann, mit dem ließ sich gut handeln, er verkaufte ihnen herrliche Fischleinen und nahm dafür Fische als Bezahlung. Kein Fischer war jetzt besser ausgerüstet, als die beiden Jungen. Nachdem eine Woche vergangen war, konnte Abel einen Wagen sehen, ohne von ihm in Versuchung geführt zu werden.
Aber trotzdem quälte ihn die Erinnerung an Klein-Lydia noch lange; er machte Umwege, um nicht mit ihr zusammenzutreffen, und erwähnte sie niemals. Nein, aber er brachte Eduard dazu, von ihr zu sprechen, ihren Namen auszusprechen, wenn auch nicht mehr. Abel fragt:
„Ist das nicht Alice, die dort drüben geht?”
„Wo?”
„Dort. In dem gelben Kleid.”
„Nein. Es ist Klein-Lydia.”
In alten Tagen war er damit betraut worden, schwere Sachen für sie zu tragen, wenn sie Besorgungen gemacht [S. 117] hatte und er ihr begegnete, jetzt war das vorbei, er bot sich auch nicht mehr dazu an. Laß sie laufen! Und besonders jetzt, wo die Tanzlehrerin wieder in die Stadt gekommen war und Klein-Lydia in die Tanzstunde ging, was Abel nicht tat; nun waren ihre Wege erst recht geschieden. Das Schicksal hatte eingegriffen.
Nach vierzehn Tagen dachte keiner von den beiden Jungen mehr an etwas anderes als ans Meer. Abels Kriegsschule konnte ganz gut sein, und sie besprachen auch diesen Plan miteinander; aber später hörten sie, daß eine Kriegsschule wieder gleichbedeutend mit Lehrern und Aufgaben war. O nein, wenn sie nur erst konfirmiert waren, dann verheuerten sie sich und gingen auf See. Das war das einzige für einen Mann.
„Wem sollen wir heute Fische liefern?” fragt Eduard.
„Heute nehm' ich das Bündel mit nach Hause,” erwidert Abel.
„Willst du keine verkaufen?”
„Nein. Mein Vater sagte, ich solle für heut abend zum Kochen mitbringen, weil Frank heimgekommen ist.”
Eduard sitzt eine Weile in Gedanken versunken da, dann sagt er: „So, ist er heimgekommen? Was meinst du, wenn Frank Pfarrer wird, dann kann er uns verdammen.”
„Uns verdammen? Kann er das?”
„Ja, denn dann lernt er das Beschwören.”
Frank wurde eine Art mystische und halb gefährliche Erscheinung für die beiden. Es hätte keinen Sinn, wenn man sich mit ihm überwürfe.
Was ist das für ein neuer Schild, der über Konsul Johnsens Kontortür angebracht wird? Wieder ein Schild oder ein Wappen, war er geradezu adlig geworden? Belgischer Konsul war er geworden.
Die Leute hatten wohl gemerkt, daß er mit etwas Besonderem beschäftigt war, nun war es also wohl das gewesen, nämlich noch einmal so viel zu werden, als die andern Konsuln am Ort.
Und das hatte sehr viel zu bedeuten: noch ein Wappen am Hause, Frau Johnsen noch einen Ring am Finger mit einem Stein darin!
Als der Schulvorsteher das neue Schild betrachtet und entziffert hatte, schlug er sich den Staub von seinem abgetragenen Rock weg und ging hinüber in das Doppelkonsulat. Wenn er jetzt die Gelegenheit benützte, eine Unterredung mit dem Herrn Konsul zu bewerkstelligen, so war das wirklich recht schlau gemacht.
Er gratulierte mit wohlgesetzten, ehrerbietigen Worten. Der Herr Konsul sei also von einer weiteren Regierung zum Vertrauensmann ausersehen worden.
O ja, allerdings. Übrigens sei da nichts als Arbeit und auch keine so kleinen Ausgaben mit verbunden. Aber man könne sich dem nicht gut entziehen. „Doch um auf etwas anderes zu kommen, so möchte ich Ihnen, Herr Schulvorsteher, für meine kleine Fia bestens danken. Ich bin froh, daß das Examen überstanden ist. Es hätte ja etwas besser ausfallen können, aber das ist nun nicht zu ändern, sie soll ja auch nicht Lehrerin werden.”
Sie sprechen weiter über dieses Thema: jawohl, Fia könnte gut Lehrerin werden, in mehreren Fächern andere unterrichten. Warum nicht? „Und nun Herr Konsul, komme ich zu Ihnen als dem Ersten in allem miteinander, ich habe ein Anliegen an Sie.”
[S. 119] „Nun?”
„Ein ernsthaftes Anliegen. Es handelt sich um einen Schüler, der in seiner glänzenden Entwicklung nicht aufgehalten werden und zugrunde gehen darf. Es ist Frank, der Sohn von Oliver.”
„Was ist mit ihm?”
„Sie haben ihn ein Jahr ums andere gekleidet, und Sie haben für die ganze Familie Ihre große Teilnahme bewiesen —”
„Durchaus nicht!” unterbricht ihn der Konsul.
Der Schulvorsteher sieht den Konsul verwundert an, dann sagt er: „Zuerst haben Sie seine Mutter gehabt —”
„Im Dienst. Jawohl, Petra, sie hat bei uns gedient.”
„Ja. Und dann haben Sie dem Vater sein Auskommen gegeben. Deshalb meine ich, Ihre Wohltaten gegen die Familie sind sehr groß und sehr zahlreich gewesen. Aber jetzt braucht Frank Hilfe, er braucht sie sofort höchst notwendig, helfen Sie ihm also weiter, Herr Konsul!”
Zuerst war der Konsul durchaus nicht entzückt über dieses Ansuchen, im Gegenteil, er runzelte die Stirne. Er war der Erste in der Stadt, jetzt war er so hoch gestiegen, als er überhaupt steigen konnte, und so hatte er wohl keine Lust, noch größer zu sein, als er war; deshalb sagte er:
„Wenn Sie meine Wohltaten aufzählen — wie Sie sie freundlicherweise nennen — meinen Sie dann, das sei ein weiterer Grund, wieder zu mir zu kommen?”
„Wir möchten so gerne den ersten Namen der Stadt obenan haben, dann versuchen wir es bei andern. Aber wir sind uns ganz bewußt, daß wir jetzt — ja, daß wir jetzt — die Hilfsbereitschaft eines Mannes mißbrauchen, dem es sehr schwer fällt, nein zu sagen.”
„Was soll denn der Junge werden?”
„Er kann werden, was er will, so fleißig und strebsam, wie er ist. Ganz besonders leicht fallen ihm die fremden Sprachen.”
Der Konsul überlegt, er starrt in die Luft und überlegt, dann tut er den merkwürdigen Ausspruch: „Es könnte mißverstanden werden, wenn ich der Familie noch weiter helfen würde.”
„Mißverstanden?”
Nun ändert der Konsul seinen Ton, der Schulvorsteher [S. 120] hat also nicht einmal etwas von einer gewissen Backpfeife gehört. Er sagt deshalb: „O ja, es wird geklatscht, man entblödet sich nicht. Es heißt, ich tue meine kleinen Wohltaten aus lauter Prahlerei,” sagt der Konsul.
So etwas hat der Schulmeister noch nie gehört, niemals. „Ach, aber darüber müßte ein Mann wie Sie, Herr Konsul, erhaben sein, himmelhoch darüber stehen müßten Sie. Alle besseren Elemente in der Stadt sind auf Ihrer Seite.”
Sie beraten weiter darüber, der Konsul ist immer noch nicht ganz beruhigt wegen möglicher Klatschereien, wegen der allgemeinen Beurteilung, aber schließlich gibt er nach und sagt: „Ja — eine Handreichung muß ich wohl gewähren.”
Jetzt war vielleicht der Schulvorsteher ein wenig unruhig geworden, aber er gibt seinem Gefühl in vorsichtiger Weise Ausdruck. „Tausend Dank, Herr Konsul, ich wußte es ja, daß ich nicht mit leeren Händen abziehen müsse. O, hier ist Gelegenheit für Leute von Macht, Größe zu zeigen. Sonst gehen diese ungewöhnlichen Anlagen für das Geistesleben und das Land verloren.”
„Ja, sagten Sie denn nicht, Sie möchten eine Handreichung?” fragt der Konsul.
„Doch. Allerdings, in einem Umfang, den Sie Handreichung nennen, Herr Konsul. Es handelt sich also um eine jährliche Unterstützung während der Studienzeit des Jungen.”
Nein, so weit zu gehen, daran hatte der Konsul wohl noch nicht gedacht. Er sagt: „Ach so!” und schüttelt den Kopf.
In diesem Augenblicke klopft es mit einer behandschuhten Hand an die Tür. Frau Konsul Johnsen tritt ein und sagt: „Entschuldige, ich gehe gleich wieder.”
Ach, war es nicht das Schlimmste, was dem Konsul widerfahren konnte, daß gerade jetzt seine Frau dazu kam! Und der Schulvorsteher mußte sie ja in seiner Einfalt sofort in den großen Plan über den Jungen Frank einweihen. „So,” sagte Frau Johnsen; „ach so,” sagte sie.
Aber gerade ihre Gegenwart sollte dem Plane zugute kommen. Auch Frau Johnsen hatte an diesem Tage, wo sie noch einmal so viel geworden war als andere Frauen, [S. 121] etwas Großes im Sinne, sie sah ihren Mann an und sagte: „Ja, hier wirst du wohl eintreten müssen.”
Da fühlte sich der Konsul merkwürdig erleichtert, er hatte also ganz einfach seine Frau als Verbündete bei einer Wohltat gegen die Familie Oliver. „Es ist ein großes Glück, wenn man eine verständnisvolle Frau hat,” sagt der Konsul. „Ich wollte gerne hören, wie du darüber denkst, Johanna.”
„O, die gnädige Frau kennen wir schon!” rief der Schulvorsteher aus.
Ertrug sie das nicht, ertrug sie so etwas nicht? Sie wurde ganz verdutzt und fragte: „Hat der Junge seinen Taufbund erneuert?”
„Er soll jetzt konfirmiert werden. Und dann soll er gleich aufs Gymnasium kommen; das ist die Absicht.”
Der Konsul fragt: „Wen wollen Sie außer mir noch für diese Sache gewinnen?”
„Die beiden Konsuln, Olsen und Heiberg —”
„Dafür bin ich nicht,” wendet Frau Johnsen ein.
„Nein, nein, vielleicht nicht. Dann hatten wir an Rechtsanwalt Fredriksen gedacht. Er ist der Besitzer von Olivers Haus, er müßte zu dem Zweck dieses Haus schenken können.”
Aber nun fühlte sich Konsul Johnsen durch die Haltung seiner Frau wahrhaftig so weit unterstützt, daß er die Achseln zuckte und sagte: „Ach, so ein Rechtsanwalt! Er politisiert immerfort und will in den Landtag gewählt werden. Mag er das weiter treiben, zu viel anderem taugt er wohl kaum.”
Dazu lächelte der Schulvorsteher und gab seine Zustimmung zu erkennen. Aber dann nennt er Henriksen, ja, sie wollten versuchen, auch Henriksen zu gewinnen.
„Welchen Henriksen?” fragt Frau Johnsen.
„Henriksen auf der Werft.”
„Na der!” ruft Frau Johnsen.
„Ja, darüber ist weniger zu lächeln,” sagt der Konsul, um seine Frau etwas zurückzuhalten.
Aber Frau Johnsen kann wohl heute nicht viel ertragen, und so erträgt sie auch keinen Hemmschuh, ihr Ausdruck wird kühl.
Der Konsul fährt fort: „Nein, das Entscheidende ist, [S. 122] daß gar nicht gesagt ist, was Henriksen überhaupt zum Weggeben hat.”
Frau Johnsen fällt ein: „Freilich, das wissen wir nicht. Aber wir haben auch keinen Verkehr mit ihnen.”
Der Schulvorsteher sitzt wie auf glühenden Kohlen, bis er die Sache wieder in Ordnung hat. Alle drei reden über Henriksens auf der Werft und stimmen miteinander überein, daß sie in ihrer Art ganz gute Leute seien, aber etwas aus dem Rahmen fallen, etwas unkultiviert seien, und daß der Mann gern ein Glas trinke.
„Nun,” sagt Frau Johnsen schließlich, „ich wollte mir nur rasch eine Banknote bei dir holen.”
Der Konsul tritt an seinen Geldschrank. „ Eine? ” sagt er fragend.
„Ja, wenn sie groß genug ist.”
Als Frau Johnsen gegangen ist, setzt sich der Konsul wieder und beratschlagt nun mit dem Schulvorsteher. „Eine jährliche Unterstützung, ja,” sagt er. „Das war es übrigens auch, was ich vorhin mit einer Handreichung gemeint hatte. Haben Sie schon mit dem Doktor über diese Sache gesprochen?”
„Ja. Und er will auch nach Kräften dazu beisteuern. Aber er hat wohl nicht viel.”
„Was wird er haben! Nein, nun hören Sie, ich kann es ebensogut gleich sagen: ich bestreite diese Ausgaben. Sie können heimgehen und ruhig schlafen, Herr Schulvorsteher.”
„Aa!”
„Ja, ich tu's,” sagt der Konsul, indem er aufsteht. „Ich werde diese Handreichung, diese jährliche Unterstützung allein bestreiten.”
Der Schulvorsteher stand auch auf und murmelte überwältigt: „Hier erkenne ich Sie wieder, Herr Konsul.”
Und seht, nun brauchte also der Junge Frank nicht wieder in seine Umgebung herabzusinken, nicht zurück in das Dunkel, aus dem er hervorgegangen war. Alles kommt in Ordnung, der Schulvorsteher konnte triumphieren, konnte jedes bessere Element auf der Straße anhalten und ihm die Neuigkeit berichten, er konnte persönlich zu Olivers hingehen und sie kundtun. Das war ein glücklicher Tag für ihn, es war, als habe er selbst einen wohlüberstandenen [S. 123] Examenstag noch einmal hinter sich, für ihn gab es keine größeren Freuden, als wenn er auf diese Weise Gutes tun und die Überlegenheit des Unterrichts und der Bücher feststellen konnte, das war sein Beruf und seine Leidenschaft. Eine Leidenschaft muß der Mensch haben, manche trotzen Feuer und Wasser, um Zeitwörter biegen zu dürfen.
Der Schulvorsteher begegnete einer Schar Schuljugend, die von einem Gebirgsausflug zurückkam. Die Schar war ermüdet von ihren Anstrengungen, mit wunden Füßen, sonnverbrannt, von bösen Ochsen und Bauern geärgert, kamen sie daher. Der Schulvorsteher wird schon von weitem erkannt, die Schar nickt ihm zu, begrüßt ihn. Die größten der Kinder sind ihn nun los, er hat die Tortur während der ganzen Zeit ihres Heranwachsens geleitet, aber es war nur zu ihrem eigenen Besten, er rüstete sie aus fürs Leben, rüstete sie aus für Ackerbau, Fischfang, Viehhaltung, Handel, Industrie, Kunst, Familienleben, Träume und Gottesverehrung; aber jetzt sind sie frei von ihm, sie haben ihr Examen hinter sich, nun sollen sie ihre Rüstung im Kampf erproben. Da gehen sie nun hin und verwahren gewissenhaft in ihrem kleinen Gehirn den Flächeninhalt der Schweiz, die Jahreszahlen der punischen Kriege, sie stürmen ins Gebirge mit folgender Naturwissenschaft im Herzen: Fische sind Wirbeltiere! Sie hinken heimwärts mit ihrer ersten Erfahrung von einem matten Blutumlauf. Der Schulvorsteher begegnet ihnen, begegnet diesen Kindern, für die es vielleicht viel besser gewesen wäre, wenn sie etwas vom wirklichen Leben gekannt hätten; er selbst ist ein alter Mann mit dem Gehirn eines Konfirmanden, er ist halbverhungert und abgerackert, sein Rock hängt an ihm herunter wie von einem Kleiderträger, der Aufhänger steht ihm im Nacken heraus; aber da schreitet er einher, der Vorsteher der Schule, der Vorsteher des großen steinernen Schulhauses.
„Nun, wie ist es euch auf dem Ausflug ergangen?”
„Soso, Ochsen, Bauern —”
„Darüber muß man erhaben sein, himmelhoch darüber erhaben. Wollt ihr eine erfreuliche Neuigkeit hören?”
„Ja, ja!”
„Frank kommt aufs Gymnasium!”
Einige von den Kindern sind so klug, zu tun, als sei [S. 124] dies die erfreulichste Neuigkeit, die sie hören könnten, andere sind gleichgültig, einige neidisch. Seht, für den Reinert in Kniehosen ist es leicht, Freude zu bezeugen, er, der das von den Fischen weiß und überdies ausgesprochenes Sprachtalent hat! Frank in eigener Person ist nicht ohne Interesse für die Neuigkeit, sein sonnverbranntes Gesicht wird einen Augenblick noch dunkler, aber er sinkt nicht auf die Knie nieder. Nein, denn er hat auch früher schon Geschenke bekommen, es ist ihm die ganzen Jahre über von andern vorwärts geholfen worden, er ist nie gezwungen gewesen, selbst Auswege zu finden; es würde sich schon machen, alles würde schon in Ordnung kommen! Und jetzt sollte ihn eine besonders große Freude durchzucken? Frank durchzucken? Der Junge ist ja niemals froh gewesen, keinen einzigen Tag in seinem Leben. Er ist strebsam in der Schule gewesen und fühlte sich befriedigt, weil die Menschen seinen Fleiß und seinen Ehrgeiz hochachteten, das war alles. Nein, er kennt die leidenschaftlichen Ausbrüche nicht, er ist nie droben, hoch droben gewesen und dann heruntergestürzt, ist nie auf den Boden gesunken und wieder nach oben geschwommen, er hat sich keiner Gefahr ausgesetzt und hat nie etwas abzuwehren gehabt; anstatt sich aus einer Klemme herauszubringen, vermied er es, in eine hineinzukommen. Klug getan, aber erbärmlich getan. Gott hat ihn zum Philologen ausgerüstet.
Er verabschiedet sich von den andern und geht heim. Da bekommt er frische Fische zum Abendbrot, etwas, das ihm wahrlich not tun kann. Der Vater ist schon heimgekommen, Abel sitzt ausnahmsweise auch einmal im Schoße der Familie; der alte, ausgediente Kater schnuppert und läuft im Kreise herum, immer näher zum Fischgericht heran und miaut.
Es war, als sei etwas Fremdes in die Stube hereingekommen — Frank, als eine noch merkwürdigere Person denn sonst. Jetzt sollte er konfirmiert werden und dann fortreisen. Die Großmutter ist stumm darüber und ist gegen ihn schon wie ein sündiges Gemeindelamm gegen den Pfarrer. Vielleicht dachte sie, könnte es einmal von Nutzen sein — im Beichtstuhl.
Oliver sitzt am Tisch mit dem kleinsten Mädelchen auf dem Schoß und Petra mit dem vorjüngsten, dem blauäugigen; [S. 125] alle essen. Oliver ist wahrhaftig etwas niedergedrückt; er plaudert mit der Kleinen, um es etwas weniger feierlich zu machen: „Sie ist so klein,” sagt er, „und Vaters kleines Mädchen ist sie, sie ist nicht gefährlich und groß, nur ein liebes kleines Ding. Wem sein Mädelchen bist du? Vaters, ja das wußt' ich.” Dazwischen steckt er dem Kind eine Rübe in den Mund, sorgt aber sonst für sich selbst. O, Oliver kann tüchtig essen, wenn Petra ihm gegenüber nicht fest hinsteht. „Ja ja, für die heutigen Fische haben wir uns bei Abel zu bedanken,” sagt er.
Als ob das etwas Wichtiges und nicht etwas ganz Gleichgültiges gewesen wäre!
Petra ist von dem hingenommen, was dem Hause widerfahren ist, und sie bringt Frank dazu, ihr auf ihre Fragen Rede und Antwort zu stehen.
„Das Gymnasium,” sagt Oliver und nickt ihr zu, „ja, das ist der richtige Weg!” Aber er hat leider nicht Verstand genug, um das Thema weiter zu verhandeln, und sobald er gegessen hat, spielt er wieder mit der Kleinen und gibt ihr die weiße Engelsfigur als Puppe.
Seht, es ist jetzt nicht mehr viel übrig von den Zieraten auf der Kommode, sie sind zu oft als Spielsachen für die Kleinen benutzt worden, und was den kleinen Taschenspiegel im Messingrahmen betrifft, so ist der allerdings nicht den Weg alles Fleisches gegangen, sondern Oliver hat ihn ausgeführt, um sich im Lagerhaus darin spiegeln zu können. Das verdorbene Mannsbild, das Frauenzimmer, er betrachtete sich im Spiegel!
Er wartet, bis er besser zu Wort kommen kann, um etwas kund zu tun. Was kann das für eine Neuigkeit sein, die er mit sich herumträgt? Daß Johnsen am Landungsplatz doppelter Konsul geworden ist? Das auch, das ist das erste. Aber plötzlich sagt er zu Petra: „Sie redeten davon, daß bei Johnsens eine große Gesellschaft gegeben werden soll.”
Oliver kam ab und zu mit einem Auftrag für seine Frau heim, daß man sie bei Johnsens nötig brauche, Frau Johnsen habe gesagt, Scheldrup habe ein Wort darüber fallen lassen, auch der Konsul selbst hatte bisweilen eine Arbeit für sie. Manchmal hatte es nichts auf sich, es war ein „Mißverständnis” von Oliver gewesen, und es [S. 126] kam auch vor, daß es eine freie Erfindung von ihm war. Aber so oft Petra einen solchen Bescheid bekam, zog sie ihren Sonntagsstaat an und ging fort; das schadete niemand, und sie bekam jedenfalls eine Freistunde.
„Na, haben sie nun wieder Gesellschaft?” fragt sie.
„Es scheint so. Wenn er doch Doppelkonsul geworden ist. Du wirst es ja hören.”
„Dann soll ich wohl ein wenig helfen?”
„Ja. Und vielleicht sollst du heut abend auch das Kontor aufwaschen. Ich hab' es nicht so genau gehört.”
Petra geht. Die Großmutter bleibt bei den Kleinen, die Stube leert sich allmählich. Oliver schleicht seiner Frau nach und paßt eifersüchtig auf, ob sie auch wirklich zu Konsul Johnsens geht. Doch Petra ist an dieses Auflauern gewöhnt, sie weiß, sie hat ihn hinter jeder Straßenecke, und sie wehrt jedem Streit, indem sie weder nach rechts noch links ausweicht.
Auch Abel bleibt nicht zu Hause. Er hat einen herrlichen Peitschenstiel gefunden und ihn unter der Türschwelle versteckt. Jetzt holt er ihn hervor und betrachtet ihn, es ist ein aus Riemen geflochtener Peitschenstiel, sehr biegsam und ausgezeichnet, Abel weiß sofort, wozu er zu gebrauchen ist. Auf alle Fälle kann er ihn in der Hand tragen, ihn durch die Luft sausen lassen; er hat einen stattlichen Messingknopf. Abel kennt die Fuhrleute der Stadt und weiß so ungefähr, wer den Peitschenstiel verloren hat; aber leider ist er gerade nicht ehrlich aufgelegt und mag ihn darum nicht dem Besitzer hinbringen. Statt dessen geht er zum Fischer Jörgen.
Ach, daß er es nicht lassen kann, um dieses Haus zu kreisen, dieses Eden, aus dem er vertrieben worden ist! Daß Eduard auch nicht wo anders wohnt!
War das übrigens nicht Eduard, der soeben dort unten über die Straße gegangen ist? Und ist das nicht der Stadtingenieur, der ihm entgegenkommt? Abel kann doch nicht einfach an ihm vorbeilaufen, um seinen Kameraden einzuholen?
„Guten Tag, Abel!” sagt der Stadtingenieur. „Hör du, ich hab' den Verdacht, daß du es gewesen bist, der mir einige Male ein Bündel Fische an die Küchentür gehängt hat. Ich will dir die Fische bezahlen,” sagt er und zieht den Geldbeutel heraus.
[S. 127] „Das — nein —” sagt Abel stotternd.
„Was? Meine Frau ist überzeugt, daß du es gewesen bist.”
„Es sind nicht viele gewesen,” sagt Abel.
Der Stadtingenieur streckt ihm eine Krone entgegen, denn er hat selbst nicht viel zum Bezahlen. „Das war nett von dir,” sagt er.
Dann geht jeder seines Weges, und Abel lenkt seine Schritte dem Hause des Fischers zu. Seine Augen sind etwas feucht von den letzten Worten des Stadtingenieurs.
Die Hühner haben sich bereits aufgesetzt, und im hinteren Höfchen ist es still. Aber als Abel den Kopf hereinsteckt und Klein-Lydia sieht, ruft er auf gut Glück:
„Eduard!”
Klein-Lydia antwortet:
„Hu, wie du mich erschreckt hast, du Schreihals!”
„Ich wollt' nur sehen, ob Eduard nicht da ist.”
„Da komm her! Eduard ist eben wieder weggegangen. Er hat zu Hause gegessen und ist dann schnell wieder fort. Da komm her, hörst du!”
„Du bist selbst ein Schreihals!” sagt Abel plötzlich. — Ein Irrtum war ausgeschlossen, er selbst hörte seine Worte deutlich.
Klein-Lydia hatte unterdessen vor einem Stuhl mit Schreibsachen gekniet. Jetzt steht sie auf, und es ist nichts Böses mehr in ihr, sondern nur noch Reue über ihren übereilten Ausdruck. „Sei mir nicht böse!” sagt sie, und allem Anschein nach ist sie wieder auf dem Punkt, in Tränen auszubrechen.
Abel ist zu blöde, einen Versuch zu machen, sie geradezu zu trösten; aber er geht doch so weit, daß er fragt: „Was hast du da geschrieben?”
„Briefe! Da sieh her, was ich für Finger habe!” sagt sie und streckt ihm ihre tintengeschwärzten Finger entgegen. „Ach du liebe Zeit, wie ich ausseh'!” ruft sie und klopft sich den Sand vom Rock.
Jetzt ist alles wieder gut zwischen ihnen, und Klein-Lydia läßt ihr Mundwerk laufen. „Du kannst froh sein, daß du nicht so viele Briefe schreiben mußt. Kannst du Briefe schreiben?”
„Das weiß ich nicht.”
[S. 128] „Ich hab' so viele Freundinnen von der Tanzstunde her, denen ich schreiben muß. Was hast du denn da? Einen Stock?”
„Siehst du denn nicht, was es ist? Das ist ein Klopfer, zum Kleider ausklopfen.”
Lydia biegt ihn und macht zur Probe einen Schlag durch die Luft, dann nickt sie befriedigt: ja, der sei großartig.
„Du kannst ihn haben,” sagt er.
Und so geschieht es.
Sie reden von dem und jenem, und Klein-Lydia tut sehr reif und erwachsen; sie habe den Tag über so sehr viel zu tun und sei abends ganz erschöpft von all dem Nähen und Stricken und der Hausarbeit.
„Weißt du, was ich denke?” fragt sie.
„Nein.”
„Nun, es ist ja auch einerlei. Aber jetzt ruft mich meine Mutter bald, und dann ist es zu spät, wenn du mir etwas sagen willst.”
Dies kommt ihm sehr unerwartet, er ist ganz verdutzt. Was sollte er sagen? Was meinte sie?
„Ja!” rief Lydia plötzlich mit schriller Stimme zum Haus hinüber und lief hinein.
Aber Abel hatte gar nicht gehört, daß ihr gerufen worden wäre.
Wieder war es ein mißlungener Abend und ein wahres Elend. Ein paar Tage darauf aber war der Stadtkutscher seinem schönen Peitschenstiel auf die Spur gekommen und hatte sich ihn wieder geholt. Und so war es nun also mit Abel für immer aus und vorbei.
Die Jahre vergehen. Die Jugend wird konfirmiert, schießt in die Höhe und wird lang und groß, sogar ungewöhnlich groß, da die Mode zur Zeit sehr hohe Absätze unter den Schuhen verlangt.
Fia Johnsen war schon ebenso groß wie ihre Mutter; sie war braunäugig und von blasser Hautfarbe, ein schönes Geschöpf. Die Sommersprossen waren fast ganz verschwunden, und sie ließ einen langen Zopf den Rücken hinunterhängen. Die Leute hatten sie aufwachsen sehen, sie erinnerten sich noch gut an ihre Geburt, ja, sie hatten ein gutes Gedächtnis, und sie wußten auch noch, was sie bei ihrer Konfirmation angehabt hatte; nicht selten standen die Weiber am Brunnen und verbreiteten sich über all diese Herrlichkeit. Es sei nicht schlecht, Fia Johnsen zu sein.
Ihr Bruder Scheldrup Johnsen war in einem Lande nach dem andern, um zu lernen; seine Mitbürger verloren ihn von Zeit zu Zeit ganz aus dem Gesicht, aber Fia war zu Hause. Sie lernte tanzen und Klavierspielen und abstauben und niedlich sein. Sie zeichnete und malte gern, und vertiefte sich in die Zeitungen und Zeitschriften im Hause des Konsuls, auch hatte sie alle die vielen schönen Teller gemalt, die rund herum an allen Wänden des Eßzimmers aufgestellt sind. „Das Werk meiner Tochter!” pflegt der Konsul seinen Gästen zu sagen.
Zuerst wurde ihr Talent in der Schule und beim Zeichenlehrer der Stadt ausgebildet, dann kam sie in größere Städte und Hauptstädte und lernte mehr, und so oft sie wieder nach Hause kam, konnte sie selbst noch einsichtsvoller über ihre Teller lächeln. Jetzt war sie soweit, daß sie eigenhändig die Aussicht von ihrem Fenster und Teile des Gartens malte. Gut. Aber Fia war sehr jung und [S. 130] bedauerlich mager, durchaus nicht unterernährt, behüte, aber unentwickelt, ohne Muskeln, ohne Arbeit. Was sollte sie mit sich und ihrem Talent anfangen? Ihre Eltern hatten es dazu, sie zu Hause zu behalten oder ihr einen Aufenthalt auswärts zu gestatten, was ihr selbst lieber war. Und mochte sie sein, wie sie wollte, so war sie hübsch und einnehmend und nahm nie zwei Treppenstufen auf einmal, nein, niemals. Aber das war auch alles. Einen Lebensberuf hatte sie nicht nötig, ihr Talent war unnütz. Ihr Leben hatte keinen Ernst.
„Sie sollte eine richtige Arbeit haben,” sagt der Doktor.
Er sagt das schon seit mehreren Jahren und ärgert ihre Eltern damit. Arbeit? Was hätte ihre Tochter arbeiten sollen?
„Soll sie vielleicht Dienstmädchen werden?” fragt der Konsul.
„Dazu taugt sie nicht.”
„Nicht einmal dazu?”
„Nein. Aber streifen Sie ihr die Brillantringe ab und lassen Sie sie im Garten arbeiten.”
„Dazu hab' ich meine gelernten Gärtner. Die arme Fia ist ja immer sehr tätig; jetzt will sie eine Weile recht fleißig sein und dann eine Ausstellung halten.”
„Ach Gott!” sagt der Doktor.
Die beiden Herren sitzen in C. A. Johnsens Kontor, im Doppelkonsulat, und der Konsul kann also den Doktor nicht einfach stehen lassen und seiner Wege gehen. „Meine Tochter ist Ihnen mit ihrer Kunst noch nicht sehr lästig gefallen,” sagt er. „Hingegen haben sich einige Kritiker lobend darüber ausgesprochen.”
„Ja, das kennen wir. Aber was zum Teufel soll das Kind mit seiner Kunst, wenn es krank und elend ist?”
„Das verwächst sich.”
„Das ist keineswegs gewiß.”
Merkwürdig, daß sich Konsul Johnsen immer so viel von dem Doktor gefallen läßt! Daß er ihm auch in allen diesen Jahren nicht ein einziges Mal die Tür gewiesen hat! Die medizinische Autorität? Was hatte der Konsul vor andern damit zu tun? Natürlich stand der Doktor in der Stadt in ungeheuerem Ansehen, das wohl, aber konnte sich das mit dem Ansehen, das der Konsul genoß, [S. 131] irgendwie vergleichen? Wahrhaftig, es war für jedermann ein Rätsel, daß der Doktor es sich herausnahm, so von der Leber weg mit dem gewaltigen Manne zu reden.
Und gerade jetzt war eine Zeit, in der der Konsul Grund hatte, noch weniger als sonst Ärger hinunterzuschlucken: er hatte vorher schon genug davon. Er sagt darum so wenig verletzend wie möglich: „Wir Eltern wollen hoffen, daß die Vorsehung barmherziger gegen Fia sein wird, als Sie, Herr Doktor. Wollen Sie sich nicht eine Zigarre anstecken, ehe Sie gehen?”
„Doch gerne, wenn ich gehe. Wenn Sie das mit Fia richtig aufnehmen wollten, dann hätte sie die Barmherzigkeit der Vorsehung nicht besonders nötig. Wie ist es denn, soll sie nicht auch einmal heiraten?”
„Taugt sie dazu vielleicht zufällig auch nicht?”
„Ein Mann will eine Frau heiraten und nicht eine Malerin.”
Lächelnd sagt der Konsul: „Nun, dann muß sie sich eben später die Eigenschaften der verheirateten Frau erwerben. Das hat aber noch mehrere Jahre Zeit. Vorerst ist sie der Kunst beflissen.”
„Angenommen, sie hätte sich dieses Vergnügen nicht leisten können, so wäre sie genötigt gewesen, als Frau viel tüchtiger zu werden,” sagt der Doktor. „Und angenommen, sie könnte sich das nicht immer leisten?”
Wieder sagt der Konsul lächelnd: „Dann müssen Sie sie versorgen.”
„Sie hören doch, ich sage nur angenommen.”
Die Zudringlichkeit des Doktors war wirklich unerträglich, und wenn der Konsul gewußt hätte, warum er gerade heute so zudringlich war, so hätte er vielleicht dennoch — dennoch — seinem Gast die Tür gewiesen.
O, der neue Brillantring, den Fia bekommen hatte, der war's, der ließ der Frau des Doktors keine Ruhe mehr. Was sollte sie damit, so ein Kind? Eigentlich sollte sie noch in kurzen Röcken gehen, jawohl. Und was war aus dem armseligen kleinen Brillantring geworden, der der Frau Doktor schon seit vielen Jahren in Aussicht gestellt war? Ach, alles zusammen war so schwer und traurig! Das tägliche Leben bot auch gar keine Freuden, huhu!
Aber der Konsul weiß nichts von dem Kampf, den die [S. 132] Doktorsleute miteinander ausgefochten haben, und er mußte wohl doch ein Körnchen Vernunft in dem gefunden haben, was der Doktor gesagt hat, denn er wurde nachdenklich. Er liebte Fia und wollte vor allen Dingen ihr Bestes, er war ein bißchen zu willfährig gegen sie, ihr Aufenthalt in den Städten wurde immer teuerer, aber das war notwendig zu ihrer weiteren Ausbildung: er konnte ihr keine Hindernisse in den Weg legen, sie hätte sich ja vor ihren neuen Bekannten und Freunden schämen müssen. In ihrer Güte hatte sie angefangen, den andern Malern Bilder abzukaufen, um ihnen zu helfen; aber da hatte der Vater Einspruch erheben müssen, die Ausgaben waren ohnedies groß genug, und sein Geldschrank war nicht unergründlich. Gut, Fia beugte sich und legte diesen Fehler ab, aber einige andere behielt sie in der Stille bei, einige ganz kleine, nur Lappalien gegen all die Tugenden, die sie schmückten. Wenn sie unter Fremden war, dann trat sie fein und gebildet auf, aber ein klein wenig zu sehr von oben herab. Sie ließ gerne durchschimmern, daß sie aus hochgebildetem Hause stamme und einen Millionär zum Vater habe. Das war halb Betrug und halb Selbstbetrug. Wenn sie das Postschiff nicht mehr erreicht hatte, konnte sie zu den Umstehenden sagen: „Wenn ich nur unser eigenes Dampfschiff hier hätte!” Ach, ihr eigenes Dampfschiff hatte anderes zu tun, als Fräulein Fia herumzufahren, und außerdem war es ein Kasten, der höchstens acht Meilen machte, im Durchschnitt nur fünf Prozent trug und zuweilen auch zwei verlor.
Und gerade jetzt verlor das Dampfschiff Fia wieder einmal.
Der gute Konsul war nicht immer ein guter Reeder, und Scheldrup befand sich gerade deshalb im Auslande, um die richtige Reederkunst zu lernen. Es stellte sich heraus, daß es ein Unterschied war, über ein Dampfschiff richtig zu verfügen, oder eine mit Tran beladene Galeasse über die Nordsee zu schicken, Kohlen zu holen. Fia brachte nicht auf jeder Fahrt einen Überschuß, und sie fuhr auch nicht immer ihre acht Meilen. Aber der Verlust war es nicht allein, Fia war auch noch auf andere Weise ein Kreuz. Eben jetzt gärte es unter der Mannschaft, die Leute klagten über die Kost und liefen davon, und der [S. 133] Konsul konnte nicht begreifen, warum dieselbe Kost nicht mehr so gut sein sollte, wie alle die vergangenen Jahre her. Und darüber ärgerte er sich.
Auch eine unglaubliche Nachricht ist zu ihm gedrungen, nämlich die, daß Kaufmann Davidsen auch Konsul geworden ist — allerdings nur einfacher Konsul, aber dennoch Konsul. Dann gab es ja gar keine Grenzen mehr. Davidsen, der vor zwanzig Jahren aus der Nachbarstadt hierher gezogen war und immer noch von den echten Eingeborenen als Auswärtiger angesehen wurde, der so manches liebe Mal selbst hinter dem Ladentisch stand, der den Kindern kleine Fischgeräte verkaufte, sowie großes Tauwerk und schweres Segeltuch für die Schiffe, alles einfachere Sachen, ohne Manufaktur und blanke Kurzwaren. Bei Johnsen am Landungsplatz trugen die Ladendiener gestärkte Kragen, bei Davidsen hatten sie die Ärmel aufgekrempelt und die Hände mußten Trossen handhaben können. Das war ja ganz schön, und Arbeit schändet nicht, aber das war doch kein Konsulatswesen und keine Repräsentation.
Hatte der Konsul sonst keinen Grund, sich zu ärgern? Doch, noch einen. Mit Oliver, seinem Lagerhausvorsteher, hatte es Widerwärtigkeiten gegeben. Wieso? Er hatte falsch gewogen. Zu seinem eigenen Vorteil? Keine Spur, zu dem des Konsuls. Das war ja ganz schön, treue Dienste schänden auch nicht; aber man darf doch nicht betrügen. Es war so zugegangen: der Schreiner Mattis hatte einen viertel Zentner Griesmehl holen wollen, und beim Auswägen hatte Oliver wohl vergessen, seinen kleinen Finger von der Wage wegzunehmen. Dieser kleine Finger mußte ein ordentliches Gewicht gehabt haben. Mattis schöpfte Verdacht, ging zu Grütze-Olsen und ließ nachwiegen. Richtig, wie er gedacht hatte: ein ganz bedeutendes Untergewicht.
Nun war ja das dümmste, was der Schreiner Mattis tun konnte, daß er mit dem Mehlsack den Laden verlassen hatte; er hätte sich vor die Stirn schlagen und seinen Geldbeutel „vergessen” haben müssen, um auf diese Weise einen von den Ladendienern mit sich ins Lagerhaus zu locken und das Gewicht nachzuprüfen. Aber Mattis war dumm und hitzig, er ging seiner großen Nase nach und fing gleich an zu donnern und zu blitzen; aber was sollte [S. 134] das helfen? Er lief von Wage zu Wage in der Stadt und ließ seinen Mehlsack nachwägen und erzählte überall warum. Schließlich kam er wieder zu Johnsen am Landungsplatz zurück, die Kleider voll Mehlstaub und rasend über alle Maßen.
Nun begab es sich, daß gerade auch Olaus vom Wiesenrain im Laden war, und Olaus war heute großartig. Voll von Branntwein, übervoll. Anfänglich war er stumpf und geistesabwesend, als er aber die Geschichte des Schreiners vernahm, entstand bei ihm plötzlich ein Bewußtsein auf neuer Grundlage, und er rief laut: „Was, falsches Gewicht?”
„Falsches Gewicht!” bestätigte der Schreiner. „Es ist bewiesen.”
Der Ladendiener und Berntsen, der Geschäftsführer, suchten ihn zu beruhigen: „Schreien Sie doch nicht so, der Konsul sitzt ja im Kontor!”
„Er soll nur herauskommen, ich hab' nichts dagegen,” sagte Mattis.
„Heraus mit dem Konsul!” schrie Olaus.
„Sieh her, Olaus, da hast du Tabak für deine Pfeife, und jetzt gehst du!” sagte der Ladendiener. „Kommen Sie, Mattis, gehen Sie mit mir!”
Sie gingen nach dem Lagerhaus.
Oliver nahm die Sache sehr nett auf und war äußerst nachsichtig gegen den rasenden Schreiner. Warum sollten sie denn Streit miteinander anfangen? Er mußte lachen. Meinte Mattis vielleicht, er, Oliver, werde auf ihn losstürzen wie ein wildes Tier? Er mußte wieder lachen. War etwas nicht in Ordnung, so war es ein Versehen gewesen, das konnte jedem vorkommen.
„Ich hab' es nicht zum erstenmal gemerkt,” sagt Mattis.
Oliver schielt zu ihm hinüber und sagt: „Was das betrifft, so reiß' das Maul lieber nicht so weit auf. Du könntest sonst am Ende Zeugen beibringen müssen.”
Berntsen wiegt nach und füllt das Fehlende in den Sack; er gibt gutes Gewicht. „So sollst du für Mattis wägen,” sagt er und schlichtete damit den Streit. „Das war nicht schön von dir, Mattis, daß du mit dem Sack in der Stadt herumgerannt bist; du hättest hier auf der Stelle dein Recht bekommen.”
[S. 135] „Ich war aber doch rasend, denn es war nicht zum erstenmal.”
„Und das hören Sie mit an, Berntsen!” sagt Oliver und verlangt Zeugen.
Aber Berntsen ist ein alter, gewiegter Kaufmann und verfährt klug und vorsichtig; Schreiner Mattis war kein schlechter Kunde, er war Handwerksmeister mit Lehrling und Gesellen. Er hatte ein Haus, wenn auch kein Heim, er hatte nur Maren Salt, jawohl, aber darum war Mattis doch nicht der erste beste, und jetzt war er auch noch in den Gemeinderat gewählt.
„Nimm dich in acht, Oliver!” mahnte Berntsen. „Soweit ich es beurteilen kann, hast du den Fehler gemacht, und du darfst nicht leichtsinnig mit dem Gewicht umgehen, das würde dir der Herr Konsul auch sagen.”
Damit war diese Sache erledigt.
Dem Konsul war die Geschichte mitgeteilt worden; er selbst war ja natürlich über jeden Verdacht erhaben, aber geärgert hatte er sich doch. So, man lief also in der Stadt herum und ließ nachwägen, was bei ihm gekauft worden war? Und daß sich jemand herausnahm, in seinem Laden zu schreien: „Heraus mit dem Konsul!” das war genau so, wie wenn die Matrosen auf der Fia über die Kost klagten. Nein, der alte gute Geist war von der Erde gewichen, alles sollte gleichgemacht und alle Grenzen sollten verwischt werden; man drängte sich an ihn heran, man mischte sich in seine Angelegenheiten, ein Doktor bildete sich ein, in seiner Gegenwart alles sagen zu dürfen! Und dann die vielen Konsuln, die in jeder Straße emporschossen!
Der Doktor hätte also eine passendere Zeit und Stunde finden können, um die Geduld des Konsuls auf die Probe zu stellen.
Es klopft an der Kontortür, und da der Konsul keine Antwort gibt, so ruft der Doktor: „Herein!” Auch das erlaubt sich der Doktor. Vor wenigen Jahren noch hätte der Konsul dem sofort ein Ende gemacht, früher war er nicht so wehrlos gewesen, jetzt schien er irgendwie innerlich geknickt zu sein. Was in aller Welt hatte er zu fürchten? Wußte der Doktor etwas vom ihm, dieser Bezirksarzt und Quacksalber, hatte er irgendeine Waffe gegen den Doppelkonsul?
[S. 136] Herein tritt der Apotheker. Er ist klein und nervös, beinahe gänzlich bartlos, ein vermöglicher Mann, verheiratet, aber kinderlos, mit Junggesellenmanieren, er trug fleckige Kleider und roch nach Medikamenten und Tabak.
„Guten Tag!” sagt er.
„Meinen Sie?” erwidert der Doktor. „Ich meine, es sei ein schlechter Tag.”
Der Apotheker grüßt den Konsul mit einem Handschlag. Dann reicht er auch dem Doktor die Hand und sagt: „Darf ich auch Sie begrüßen?”
„Sie meinen, ob ich es mir gefallen lasse?”
Das war wohl dieses Mannes Art, zu scherzen, und die Hand des Apothekers ergriff er nicht.
„Eine Zigarre, Herr Apotheker!” bietet der Konsul an. Darauf nimmt er einige große Bogen Papier vom Tisch auf, liest ein wenig darin, ordnet sie nach der Seitenzahl und legt sie dann wieder aus der Hand.
„Sie sind beschäftigt, wie ich sehe,” sagt der Apotheker. „Ich gehe sofort wieder.”
„Es sind nur diese Konsulate, die ich auf dem Halse habe,” sagt der Konsul.
„Die sind wohl auch nicht nur ein reines Vergnügen?”
„Ich bin eben dabei, die Berichte an meine Regierungen auszuarbeiten, und das ist wahrhaftig keine kleine Arbeit.”
Es kann gut sein, daß der Konsul das halb im Scherz sagt, aber er sagt es doch mit Würde und macht den Eindruck, als ob seine Ehrenämter eine rechte Last wären.
„Ihre Regierungen?” fragt der Doktor. „Das ist ja sonderbar, haben Sie mehrere Regierungen? Ich habe nur eine einzige Regierung: die norwegische.”
So viel konnte der Konsul zur Not tun: er konnte überhören, was der Doktor sagte, und den Apotheker fragen, ob er nicht einen sehr guten Wein haben wolle, Madeira, den und den Jahrgang.
„Was kostet er denn? Nein, das ist für die Apotheke zu teuer. Aber ich kann fünfzig Flaschen für meinen eigenen Gebrauch nehmen.”
„Mir bietet er keinen an,” dachte der Doktor. „Der Krämer, der Jude!” dachte er nebenbei. „Wo ist Scheldrup gegenwärtig?” fragt er laut.
[S. 137] „In Havre. Warum fragen Sie?”
„Wann kommt er denn nach Haus?”
„Das weiß ich nicht. Er bleibt wohl noch eine Weile fort.”
„Es ist neun Monate her, seit er zum letzten Male hier war.”
Der Konsul besinnt sich und sagt: „Ja, das stimmt.”
„Ja, das stimmt,” sagt auch der Doktor. Dann gähnt er ungeniert, steht auf und streift seine Zigarrenasche auf die geputzte Ofenplatte.
„Bitte, hier ist ein Aschenbecher!” sagt der Konsul.
„Ach, entschuldigen Sie!”
Der Doktor tritt ans Fenster und sieht auf die Straße hinaus. Er zeigte sich wirklich im höchsten Grade überlegen, einem doppelten Konsul so einfach den Rücken zu kehren!
„Kann ich den Herren heute mit irgend etwas dienen?” fragt der Konsul.
Der Apotheker lehnt dankend ab und ruft: „Kommen Sie, Herr Doktor! Wir dürfen dem Herrn Konsul nicht länger zur Last fallen.”
„Ich sehe den Kindern da unten zu,” sagt der Doktor, ohne sich zu beeilen oder sich auch nur umzudrehen. „Ein kleines Mädchen, auch mit braunen Augen, das gehört gewiß Oliver.” Dann dreht er sich um und sagt zu dem Apotheker gewandt: „Meinen Sie nicht, es gebe allmählich viele Kinder mit braunen Augen hier in der Stadt?”
Der Apotheker sagt ausweichend: „So? Nein, davon weiß ich nichts.”
„Und gestern ist ein neues dazu gekommen.”
Der Apotheker sagt, noch immer ausweichend, aber nervös und verdutzt: „Ein neues? Ja, was soll man dazu sagen?”
„Bei Henriksen auf der Werft wieder einmal. Das heißt bei Frau Henriksen. Das ist jetzt das zweite braunäugige bei ihr.”
Um den Doktor zum Weiterreden zu veranlassen, sagt der Apotheker nun sehr eifrig: „Was Sie sagen! Das sind Jakobs Stäbe. War da nicht eine Geschichte mit schwarzen und weißen Stäben?”
Der Doktor knöpft sich den Überrock zu und macht sich in aller Gleichgültigkeit zum Gehen bereit. „Was man [S. 138] sagen soll, fragen Sie? Nun, man kann ja auch schweigen. Ein Wunder ist es nicht, weder in dem einen noch in dem andern Hause, es ist eine ganz natürliche Sache. Diese blauäugigen Eheleute haben braunäugige Kinder von einem braunäugigen Vater, wer er auch sein mag.”
„Was Sie sagen!”
„Soll ich das nicht sagen? Das ist kein atavistischer Zufall. Ich hab' ein wenig nachgeforscht, es gibt keine braunen Augen in der Familie, wenigstens nicht, wo die Verwandtschaft noch einen Einfluß haben könnte.”
„Das ist ja eine verfluchte Geschichte, entschuldigen Sie!”
Der Konsul nimmt an der Unterhaltung mit einem gelegentlichen Lachen teil oder sagt „Hm!” Sonst steht er gelassen da und wartet darauf, daß die Herren sich verabschieden.
„Na ja, entschuldigen Sie, Herr Konsul,” grüßt der Doktor endlich. „Es ist übrigens sehr schade, Herr Apotheker, daß Sie den Madeira noch nicht haben, sonst hätte ich mit Ihnen kommen und den Wein versuchen können.”
„Ich werde ihn heute nachmittag schicken,” verspricht der Konsul.
Schon unter der Tür sagt der Doktor: „Denken Sie über das nach, was ich von Fräulein Fia gesagt habe, Herr Konsul. Wir möchten sie doch gerne stark und gesund haben. Ich hab' ein ganz besonderes Herz für die reizende kleine Dame.”
Jetzt sitzt der Konsul allein in seinem Kontor und stiert in seine großen Kanzleibogen hinein; er ordnet sie nach der Seitenzahl und legt sie wieder aus der Hand. Was wollten die Herren bei ihm? Regte sich ein Verdacht bei ihm über dieses „zufällige” Zusammentreffen? Hatten sie das miteinander ausgemacht, um dem Doppelkonsul einen Duck zu tun?
Sein Gesicht wird immer ernster. Als der Apotheker anklopfte, hatte der Doktor sofort herein gerufen, damit sein würdiger Spießgeselle nicht wieder gehe. Komplott! Verschwörung!
Plötzlich macht der Konsul die Tür zum Laden auf und sagt zu Berntsen, seinem Geschäftsführer: „Schreiben Sie dem Herrn Doktor seine Rechnung heraus, er hat darum gebeten!”
[S. 139] Aber nachdem Konsul Johnsen diesen Befehl erteilt hat, ist er dennoch nicht fertig mit der Sache; er hat allerlei nicht hergehörige Gedanken im Kopf. Seht, er kann also nicht mehr wie in früheren Zeiten alles leicht nehmen, ein lästiger Hintergedanke kann sich jetzt einstellen und seine Arbeitslust lähmen. Die Berichte müssen warten, Berntsen kann sie übrigens auch schreiben.
Er tritt an den Spiegel, setzt den Hut auf, bemüht sich, sein sorgloses Gesicht von früher aufzusetzen, und wandert mit einigen fertigen Briefen auf die Post.
Der Konsul gibt wohl einer bedrängten Stimmung nach, wenn er mitten in der Arbeitszeit sein Kontor verläßt; er sucht Ablenkung. Es ist ein Vorwand, wenn er selbst seine Briefe auf die Post bringt, das tut sonst ein Laufjunge. Es ist ebenfalls ein Vorwand, wenn er auf der Post die Dampferlinien auf den Plänen an der Wand studiert, es geschieht nur, um dem Personal Zeit zu lassen, im inneren Kontor mitzuteilen, Konsul Johnsen selbst stehe draußen.
Mit verwunderten und fragenden Blicken kommt der Postmeister heraus und fragt, ob er dem Herrn Konsul mit irgend etwas dienen könne?
Nein, danke. Doch wenn er Zeit habe, möchte er in den Büchern nach einem eingeschriebenen Brief forschen, er habe einen Scheck enthalten, und der Konsul habe seither nichts mehr davon gehört.
Sie gehen ins innere Kontor, und die Sache wird sofort aufgeklärt; danach unterhalten sie sich. Hier ist es kühl, es riecht ein wenig nach Lack- und Stempelfarbe, und an den Wänden hängen farbige Zeichnungen von Gottes- und Menschenhäusern, von einzelnen Türmen, von einzelnen Portalen, von Friesen, Schnitzwerk, schönen Türen, Kaminen, alles Werke der freien Phantasie. Im Garten vor dem Fenster wiegen einige dichte Fliederbüsche ihre Dolden im Winde.
Hier sitzt nun der Konsul und horcht auf ein sonderbares Geplauder, so ganz anders, als was ihm tagtäglich in den Ohren tönt. War er darum hergekommen? Gewöhnlich langweilte der Postmeister ja die Menschen zu Tode, der Doktor lief ihm davon. „Gott hat mir nicht die Geduld verliehen, dieses Geschwätz mit anzuhören,” pflegte er zu sagen. Der Konsul hat sich auf einen Stuhl gesetzt, er muß müde sein oder ratlos.
[S. 141] Ach, dieser Schwätzer von Postmeister! Er war ja sehr wohlmeinend und seelengut, aber langweilig, gerade wie der Schmied Carlsen, mit dem einen Unterschied jedoch, daß der Schmied beinahe niemals redete und andere quälte, sondern nur immer ganz albern zufrieden war. Zufrieden in einer Welt wie dieser! Die beiden glichen den Weibern am Brunnen, ach, sie waren selber nichts anderes als zwei Weiber am Brunnen, nur daß ihr Geschwätz einen frommen Inhalt hatte, aber ihre Seelen waren erfüllt von derselben Weibereinfalt. Sie hatten sich zu einer Art von Lebensansicht durchgerungen und behalfen sich damit: der Postmeister war auf philosophischem Wege zu seinem Standpunkt gekommen. Zuweilen kamen allerdings die Ereignisse des Lebens und schlugen ihnen derb auf den Mund, allein das schien ihre Ansichten nicht zu beeinflussen. So hatte zum Beispiel Schmied Carlsen sehr mißratene Kinder, hielt aber dennoch an seinen frommen Ansichten fest und fuhr fort, Gott für Gut und Böse zu danken. War das nicht der Glaube von Israel? Die beiden Männer könnten ja vielleicht recht haben, dachten die Leute, sie waren vielleicht ein Beispiel und Vorbilder. Aber die Stadt wurde darum nicht anders, die Stadt war der kleine, krabbelnde Ameisenhaufen, und da war das wohl ein Beweis dafür, daß das Leben seinen Gang ging, trotz aller Theorien, vielleicht hauptsächlich trotz aller religiösen Theorien. Sah es denn da nicht ganz hoffnungslos aus für zwei Gerechte in der ganzen Stadt, was focht sie an, daß sie sich nicht allen den andern anschlossen?
Der Postmeister hat vielleicht heute irgend etwas Freudiges erlebt, Gott mag es wissen, aber es kann wohl sein; jedenfalls ist er in bester Laune. Es gehörte nicht viel dazu, ihn aufzumuntern, er war ein genügsamer Mann. Sein ältester Sohn hatte vor einiger Zeit seine Steuermannsprüfung bestanden und auch sofort eine Stelle bekommen, und schon darüber war der Vater außer sich vor Freude. War denn solch ein Steuermannsposten so etwas Großartiges? „Er ist ein tief angelegter Junge,” sagte der Postmeister. „Was der uns für Briefe schreibt! Ich weiß übrigens nicht, welches das beste von unsern Kindern ist. Da ist auch noch der von meinen Söhnen, der auf dem Lande arbeitet. Er spart seinen Lohn zusammen und [S. 142] schickt seinen Schwestern Geld zu schönen Stiefeln. Das ist ein Kerl! Ich darf ihm gar nicht mehr zum Gruße die Hand geben, er drückt sie mir zu Brei, haha, der ist ein Bär! Und Sie sollten nur einmal sehen, wie er einen Knoten in einem Strick auflöst! Er hat Nägel wie Zangen; zuweilen aber nimmt er auch die Zähne zu Hilfe. Solche Zähne hat nicht jeder. — Scheldrup ist also immer noch in Havre?”
„Ja,” antwortet der Konsul.
„Das seh' ich an seinen Briefen; gestern hat der Doktor an ihn geschrieben.”
„So?”
„Ja. Und was Fia schön und artig geworden ist! Meine Frau hat sie heute vom Fenster aus gesehen und mich auch herbeigerufen. Ich bitte um Verzeihung, wollten Sie etwas sagen?”
„Nein, nein.”
„Heute morgen hab' ich einen weiten Spaziergang gemacht, den Weg, den der Herr Konsul nach seinem Landhause fährt. Sie wissen ja, die Straße führt plötzlich in den Wald, es ist, als ob die Welt ein Ende hätte, drinnen im Wald fängt eine ganz andere Welt an, sie ist freundlich gesinnt und merkwürdig ganz in Stille getaucht, und doch voll feiner Laute. Ich ging vom Weg ab, um niemand zu begegnen, und wanderte in den Wald hinein. Tief drinnen saß ein Mann. Er hatte mich gesehen, ich konnte also nicht mehr umkehren, er saß da und spielte Mundharmonika. Ein sonderbarer Mann, ein Arbeiter, ein Landstreicher. Ich redete lange mit ihm. Er war besonders aufgeweckt, sein Gespräch drehte sich um Geld und Essen, und der arme Kerl saß da und spielte Mundharmonika. ‚Warum sitzest du hier?’ fragte ich. — ‚Darf ich das nicht?’ erwiderte er. — ‚Doch.’ — ‚Was geht es denn dich an?’ fragte er. — ‚Nichts. Aber spiel' doch weiter!’ — ‚Was krieg' ich dafür?’ fragte er. — ‚Ein paar Groschen. Ich bin Postmeister hier in der Stadt, und es geht mir das Jahr über viel Geld durch die Hand, aber das gehört nicht mir.’ — ‚Na, Sie werden schon den einen und den andern Geldbrief für sich behalten,’ sagte er. — ‚Wie könnte ich denn das? Da würde ich sofort gefaßt.’ — ‚Nein,’ meinte er, ‚die feinen Leute halten ja alle zusammen. Nur wir auf der Walze werden gefaßt.’ [S. 143] Das war ein dummes Gerede, und ich erklärte ihm, daß ich meinen festen Gehalt hätte, und wenn der reiche, so hätte ich im Grunde, was ich bedürfe. Aber das begriff er nicht, ihm reiche es nie, verdiene er Geld zu Schuhen, so habe er keines für Hosen und umgekehrt. Bei den Bauern sei eine ewige Plackerei, sagte er. Wenn er irgendwo um etwas zu essen bitte, so müsse er zuerst dafür arbeiten, und zwar schwer arbeiten. Holz hacken, die schwerste Arbeit im Sommer. Abends bekomme er dann Milch und Grütze, ohne Butterbrot, und die Milchschüssel ohne Rahm darauf, ‚den sie doch im Überfluß haben, die Erdwühler.’ Ein unzufriedener Mensch also, einer von den faulen und finsteren Gesellen. Wenn wir davon ausgehen, daß wir Menschen unter einem Gesetz der Entwicklung stehen, so war dieser Mann noch nicht weit gelangt; vielleicht ist er schon unzählige Male auf der Erde gewesen, hat aber kaum den winzigsten Fortschritt gemacht. So kehrt er also immer wieder so gut wie unverändert ins Dunkel zurück, und dann tritt er wieder ins Leben und fängt von neuem an.”
„Glauben Sie, daß es so zugeht?” fragte der Konsul lächelnd.
„Was soll man glauben? Wir können doch nicht gut einen ungerechten Urheber annehmen, das stößt auf zu viele Schwierigkeiten, wir müssen einen gerechten annehmen. Und wir können nicht annehmen, daß ein gerechter Urheber diesen Landstreicher von Anbeginn der Zeiten an zum Elend verdammt hat. Wahrscheinlich stehen wir alle auf demselben Punkt und haben dieselben Möglichkeiten; die einen gebrauchen sie, die andern mißbrauchen sie. Was wir in diesem Erdenleben an uns arbeiten, das kommt uns im nächsten zugute, und arbeiten wir uns hinunter, so werden wir zurückversetzt. Das ist wohl der Grund, warum wir leider in historischer Zeit keine Veränderung an den Menschen wahrnehmen. Wir haben uns die Möglichkeiten selbst verdorben.”
„Sie glauben also, wir sterben, und kommen noch viele Male wieder auf die Erde?”
„Was soll man glauben? Es wird uns immer wieder eine Möglichkeit geboten. Zeit hat wohl der Urheber vor sich, er hat die Ewigkeit in sich, und da wir selbst ein Teil [S. 144] des Urhebers sind, so vergehen wir niemals. Aber wir kommen nicht jedesmal in demselben Zustand auf die Welt, wir haben es selbst in der Hand, unser Los für das nächste Mal zu verbessern.”
„So daß jeder Mensch seinen Rahm auf der Milch bekommt?”
Der Postmeister lächelt. „Solche Dinge haben nur in seinem jetzigen Zustand Bedeutung für ihn. Ich meine, seine Geistesverfassung, seinen Seelenzustand. Und jetzt kommen wir an etwas Bedeutungsvolles: Dieser Mensch saß also da im Walde und spielte Mundharmonika. Vielleicht hat er in seinen vorigen Verkörperungen doch auch an sich gearbeitet. Er spielte mir Lieder und Weisen vor, spielte großartig, ich hab' noch nie etwas Ähnliches gehört. Ich rede nicht von der Fertigkeit, ich meine die Tatsache, daß er überhaupt im Walde saß und spielte. Und nun hören Sie einmal: Er erzählte von einer Art Äolsharfe, die er bei einem Juden gesehen hatte, eine Äolsharfe mit Saiten von verschiedener Dicke und aus verschiedenem Metall, Kupfer, Messing und Silber, und es hingen kleine Kugeln herunter, die vom Wind gegen die Saiten geblasen wurden und diesen einen leichten Schlag versetzten. Dann spielte die Äolsharfe. Es war schön, dem Manne zuzuhören, als er dies sagte. Nein, er war während seiner verschiedenen Erdenleben nicht stehen geblieben, er hatte in sich einen kleinen Gartenfleck gepflegt, mit einer einzigen Blume darauf. Nun kommt es darauf an, ob er sich diesmal so führt, daß sein Fleckchen Garten in seinem nächsten Dasein größer wird.”
„Diese ganze Theorie hängt von der Frage ab, ob es überhaupt einen persönlichen Urheber gibt.”
„Sagen Sie, wo wollen Sie überhaupt anfangen? Gibt es nicht auch einen Urheber des Urhebers? Wir wollen hier stehenbleiben und einen persönlichen Urheber annehmen. Es ist noch unmöglicher, sich ohne einen solchen zu behelfen. Diese Frage entzieht sich ja unserer Fassungskraft, aber wir haben den Trieb nach einer Macht, einer Notwendigkeit, die hinter allem steht, wir wissen zwar nichts Gewisses davon, aber sie ist für uns da, kraft unseres Triebs, und dieser Trieb ist selbst ein Teil des Urhebers, dem wir angehören. Er ist uns von Anfang [S. 145] an eingepflanzt, wäre er nicht für etwas da, so hätten wir ihn nicht. Kommen Ihnen diese Schlußfolgerungen ungereimt vor?”
„Ich weiß nicht, darauf versteh' ich mich nicht.”
„Ich weiß auch nichts, niemand weiß etwas. Aber wir haben ein Licht, das nie erlischt. Sonst wär alles Finsternis.”
„Was ist das für ein Licht?”
„Das sind die Menschengedanken . Sie fehlen und gehen irre, aber wir sind gewiß, daß sie da sind. Und sie gehören mit zu unserer Ausrüstung, sind uns von der Gottheit gegeben.”
Schweigen. Beide Herren sitzen nachdenklich da.
Der Konsul fragt: „Die Gottheit? Welche denn? Wenn unsere Menschengedanken zu etwas taugten, so könnten sie doch endlich die wahre Gottheit finden.”
„Die ist gefunden: durch und in unserem Trieb zu ihr.”
„Aber die Menschen wechseln ja mit ihrer Gottheit und nehmen wieder eine andere. Die Griechen haben gewechselt, die Ägypter haben gewechselt, wir Nordländer haben gewechselt. Jetzt schreiben wir die alten Götternamen an unsere Fischerboote.”
„Ich bitt' um Entschuldigung,” sagte der Postmeister. „Sie reden von Göttern, ich von der Gottheit. Sie reden von Theologie.”
Neues Schweigen.
Im Grunde war dies ja eine langweilige Unterhaltung, und der Konsul wäre wohl seines Weges gegangen; aber er wußte im Augenblick nicht, wo er hingehen sollte, und nach Hause mochte er am allerwenigsten. Und dann war es ja eine wunderbare Sache mit dem Postmeister, der alle Tage seines Lebens Jahr um Jahr gleich zufrieden war. Wer außer ihm war denn zufrieden? Alte und Junge, Kleine und Große, alle waren in Angst und in der Hetze, alle trugen eine Last, ein mißglückter Akademiker und Kleinstadtpostmeister fast allein ausgenommen. Aber damit war man noch nicht mit ihm fertig, ach nein! Er war zum Beispiel durchaus nicht immer bescheiden und demütig, der Konsul hatte schon gehört, wie er sich mit Sicherheit verteidigt hatte. Er wollte gerne Frieden [S. 146] haben, und bekam er den nicht, so nahm er sich ihn. Ach nein, er ließ nicht auf sich herumtrampeln! Das peinliche bei ihm waren seine philosophischen Grübeleien, mit denen er die andern endlos überschüttete, und für Leute, die sich darauf verstanden, war er ein Schrecken.
Warum hielt er denn seinen Mund nicht? Gewiß, weil er meinte, er habe tatsächlich etwas zu sagen. Aber er war nur eine einzelne Stimme in seiner Stadt. In seinem Hause war es sehr still, seine Frau sprach nicht viel von selbst, sie antwortete, wenn sie gefragt wurde, und besorgte ihren Haushalt; aber im Gehirn des Postmeisters dämmerten allerlei Grübeleien auf, er murmelte vor sich hin und sprach mit sich selbst; doch das genügte nicht immer, zuweilen mußte es ein unschuldiger Stadtbürger entgelten und seine Auseinandersetzungen anhören, die sich so weit außerhalb der Holzpreise und Schiffsfrachten bewegten.
Wenn Konsul Johnsen nicht von etwas beunruhigt gewesen wäre, wenn er seinen gewohnten Tätigkeitsdrang gefühlt, wenn er Lust gehabt hätte, wo anders seine Ruhe und seinen Frieden zu finden, dann wäre er seines Weges gegangen, jawohl. Aber nun blieb er sitzen. Er tat, als habe er eigentlich gar keine Zeit dazu und tue es nur aus Höflichkeit gegen einen verbindlichen Herrn, er sah nach der Uhr, machte plötzlich seine Tasche auf und sah nach, ob vielleicht ein Brief vergessen sei. Dann warf er so hin: „Ach, die Menschengedanken! Sie suchen und suchen und finden nicht. Es ist wohl nicht viel damit los, Herr Postmeister, wie?”
„Sie sind das einzige, dessen wir sicher sind, jawohl. Das brennende Licht, das erst mit dem Erdenleben erlischt. Das hat für uns in Wirklichkeit viel zu bedeuten. Was dieses Licht wirkt, welche Finsternis es erhellt, ist eine andere Frage. Wenn wir uns in endlosen Kreisen des Irrtums herumdrehen, so ist dies vielleicht gerade die Bewegung, das Leben. Der glatte Lauf geradeaus wäre ohne Reibung und würde die Bewegung lähmen. Wenn es etwas nützte, so müßten wir vor den Menschengedanken niederknien, vor dem Licht, ja, wenn wir fromm wären, wenn wir Barmherzigkeit mit uns selbst hätten, so würden wir die Menschengedanken mit Ehrfurcht anerkennen. Aber [S. 147] wir sind zu gescheit, wir beugen das Haupt nicht. Wir lernen zu viel irdische Mechanik; Sie sagen wohl, wir suchen und suchen und finden nicht, aber darin bin ich nicht mit Ihnen einig, nein! Darin bin ich einig, daß wir nicht finden, aber daß wir suchen — nein! Und warum sollten wir suchen, wenn wir doch nicht finden? Ja, wenn das Suchen selbst Bewegung dem Ziele zu wäre! Aber wir suchen nicht viel, wenige unter uns suchen überhaupt, statt dessen gehen wir hin und lernen, wir üben unseren Verstand. Wie ist das ärmlich und unfruchtbar! Sehen Sie diese verständigen Menschen an, sie haben das ihrige gelernt, das können sie, das ist der Erfolg der Schule, des Studiums, es ist Gedächtnissache.”
Der Konsul lächelt. „Ich für meine Person bin gänzlich ungelehrt. Das heißt, ich habe anderes zu lernen gehabt und bin nicht einmal darin gelehrt,” sagte er.
„So? Sind wir nicht tüchtig genug, irdisch brauchbar genug? O ja. Darin stehen die Menschen nicht zurück. In derartigem haben wir in der historischen Zeit Gewinn erzielt und es zu einer gefährlichen Höhe gebracht. Aber wir haben versäumt, das Haupt zu beugen. Jetzt haben wir uns festgefahren, und die Rettung besteht nicht in noch mehr Wissen und äußerlichen Fertigkeiten, sondern im Nachdenken, in Verinnerlichung.”
„Aber wir können doch nicht alle Philosophen werden.”
„Ebensowenig als wir alle einseitig Mechaniker werden können. Aber doch haben alle Gewinn davon. Es ist und bleibt ein hohes Ziel. In den letzten Jahrhunderten hat nichts solche Achtung gewonnen, als die Pflege der Wissenschaft. Die obere Klasse hat die untere Klasse damit angesteckt, so daß es jedermanns Streben geworden ist, Anteil daran zu haben. Welche Bedeutung hat nicht die Lese- und Schreibmechanik in der Welt errungen! Es ist eine Schande, sich die nicht auch anzueignen, es ist ein Segen, sie ganz zu beherrschen. Kein großer Religionsstifter hat diese Künste getrieben, aber heutzutage sind sie für alt und jung unentbehrlich. Niemand will mehr das Haupt beugen und nachdenken, man schreibt und liest sich den Gedankeninhalt herbei, den man als heutiger Mensch braucht. ‚Es ist feiner, zu lesen und zu schreiben, als etwas [S. 148] mit den Händen zu arbeiten,’ sagt die obere Klasse. Die untere Klasse horcht auf. ‚Mein Sohn soll nicht die Erde bebauen, von der sich alles Geschmeiß der Welt nährt, mein Sohn soll von der Arbeit anderer leben,’ sagt die obere Klasse. Und die untere Klasse horcht auf. Dann erwacht eines Tages das Geschrei, das Geschrei der Masse, die nun auch genügend von den Künsten der oberen Klasse gelernt hat, sie kann schreiben und lesen: Nehmt hin die Güter der Welt, sie sind euer! Der Teufel hole die Arbeit an sich selbst für das nächste Dasein, diese Arbeit spart sich die obere Klasse auch.”
„Meinen Sie, es wäre besser, wenn nur wenige lesen und schreiben könnten?”
„Dieser Gedanke ist nicht neu. Aber am besten wäre es, wenn man diese Hochachtung für alle diese Äußerlichkeiten ausrotten könnte, wenn alle Menschenklassen den Glauben und den Aberglauben an das mechanische Wissen verlören. Es wird behauptet, das Geschrei würde aufhören, wenn die Gelehrsamkeit noch größer und allgemeiner würde, und so werden noch mehr Künste getrieben und noch größere Fertigkeit in diesen Künsten angestrebt. Und die Köpfe heben sich immer leerer in die Luft, und kein tiefes Nachdenken beugt sie. Nein, auf diesem Wege kommen wir nicht weiter, selbst nach dem irdischen Begriff führt er in die Irre. Ich habe zuweilen die Schulbücher meiner Kinder in die Hand genommen, als sie noch klein waren — ich muß gestehen, ich verstand nur einen Teil von diesen Künsten. Gebt ihnen nur noch mehr davon, spart ja nicht daran, nudelt sie ordentlich damit, bitte schön! Aber das Geschrei wird bleiben und wird nur noch lauter werden. Milch mit Rahm darauf! Mehrere Milchsatten mit Rahm, viele, euer sollen sie sein! Das künftige Dasein? Wir lesen ja überall, das künftige Dasein sei nur ein Traum für fromme Weiber, uns gehe das nichts an. — Ach, wie wenig Barmherzigkeit haben die Leute mit sich selbst!” sagt der Postmeister und schüttelt den Kopf. „Sie haben wohl das kleine Gartenfleckchen mit Blumen, aber in ihrem nächsten irdischen Leben kommen sie vielleicht in ganz andere äußere Lebensumstände hinein, jedoch in gänzlich unveränderter Seelenverfassung.”
Der Konsul versucht jetzt, noch gelangweilter auszusehen, [S. 149] und treibt das so weit, daß er seine Blicke über die Zeichnungen an den Wänden hingleiten läßt. Plötzlich wird er auf eine darunter aufmerksam, er steht auf, setzt den Nasenklemmer auf und betrachtet ein schönes Tor. Jawohl, denn Konsul Johnsen wünscht, daß die Leute auch Achtung für sein — des Konsuls — Urteil haben, und er kann sich nicht in einem Nu zu mehreren Erdenleben bekehren — obwohl dies eine verflucht süße und wohlschmeckende Lehre wäre. Wenn er wiederkommen und es so weitertreiben könnte, seine Feinde besiegen, die ihm in den Weg getreten waren, Gesellschaften geben, mit den jungen Mädchen allerlei Kurzweil treiben, Dampfschiffe dirigieren, Geld verdienen, noch mehrere Male Küstenmatador sein, er würde nichts Besseres verlangen. Dann erinnert er sich aber an den verdrießlichen Zusatz in des Postmeisters Darlegungen, daß man nämlich in ganz anderen irdischen Verhältnissen wiederkommen könne, und der Konsul wird wieder ein ratloser Mann, der nicht aus und ein weiß. Wenn er als Matrose, als Landstreicher wiederkäme; wenn er nichts wäre, er, der so viel gewesen war! Er setzt sich wieder auf seinen Stuhl und beeilt sich, sich wegen seiner Unaufmerksamkeit zu entschuldigen: „Das ist ein prächtiges Portal, eine Paradiesespforte. Was ich sagen wollte: Wir suchen nicht, sagen Sie? Aber viele meinen doch, die Lösung gefunden zu haben. Einige finden es wahrscheinlich, daß nichts zurückbleibt, wenn der Mensch gestorben ist.”
Der Postmeister, immer aufgelegt, immer fertig und bereit, sagt: „Ausgenommen sein letzter Schrei, der Aufschrei vor dem Dunkel, das vor ihm steht. Wozu sind wir denn auf der Erde gewesen? Nur der ziellosen Bewegung wegen. Wozu?”
Der Konsul, der eine lange Unterweisung auch in dieser Lehre fürchtet, die ihm noch dazu durchaus nicht zusagt, ruft eilig: „Die Christen glauben an eine Seligkeit nach dem Tode!”
„Jawohl,” erwidert der Postmeister, „an und für sich ist die Seligkeit gar kein schlechter Gedanke, er ist schon vielen Erdbewohnern in der Nacht ein Trost gewesen. Aber auch diese Seligkeit bekommt man nicht, wenn man sie nicht verdient hat, nicht wahr? Es sollen ja doch nur [S. 150] wenige dazu gelangen, und was soll dann aus uns andern werden? Das Christentum befreit niemand von der Arbeit an sich selbst, im Gegenteil, es ist sehr streng in seinen Forderungen. Umsonst und ohne Verdienst geht niemand zur Seligkeit ein, heißt es. Das ist die Forderung des Gesetzes. Und das Evangelium ist auf seine Weise noch strenger: Man muß an die blutige Versöhnungspolitik der Vorsehung glauben, blind daran glauben, sinnlos daran glauben. ‚Halleluja, denn uns ist heut ein göttlich Kind geboren!’ wird an Weihnachten gesungen. Nicht alle können singen, aber alle können an sich arbeiten nach ihren Gaben und Kräften. Dabei ist nichts Widersinniges.”
Jetzt sagt der Konsul: „Ich denke eben darüber nach, daß ich also Ihrer Meinung nach nichts Gutes damit getan habe, wenn ich einem Jungen dazu verhalf, sich Gelehrsamkeit zu erwerben.”
„Das kommt darauf an,” erwidert der Postmeister. „Der Junge war vielleicht für dieses Leben nicht besser ausgerüstet und konnte auf keine höhere Stufe gelangen. Das wissen wir nicht. Aber es ist ihm durch Ihren Eingriff nicht leichter gemacht worden, sein Haupt zu beugen. Das glauben Sie doch wohl selbst nicht? Es war ja gerade Ihre Absicht, dieses Kind der Menge zu befähigen, sein Haupt zu erheben. Jetzt sitzt er da auf seiner Bank und läßt sich unterrichten, bis er ausgelernt hat, dann steht er ethisch strahlend dumm auf, tritt hinaus ins Leben und lehrt andern dieselbe Leerheit. Wer um alles in der Welt kann uns in dem unterweisen, um das es sich hier handelt? Wir selbst — niemand anders. Was uns andere lehren können, ist Mechanik ohne irgendeinen Wert für anderes als für die irdische Geschicklichkeit. Gerade das sieht man an der großen Menge: Sie hat nun ungefähr so viel von der Mechanik gelernt, wie die oberen Klassen in alten Tagen — jawohl, aber deren Gemütsleben ist stille gestanden. Das Geschrei? Als ob das der Ausdruck für etwas anderes als für irdische Habgier wäre! Die große Menge tut nichts für das innere Wohl der andern, sie hat kein ethisches Gemeinschaftsgefühl in sich geschaffen. Sie schützt sozialen Instinkt vor und hat nicht einmal den. Sie will schreien und umstürzen, und wenn [S. 151] es zum Klappen kommt, sind ihre eigenen Führer sogar außer Stand, sie zu zügeln. Das Ganze stürzt ein, laßt es einstürzen!”
Konsul Johnsen nickt. Er ist jetzt besser bei der Sache, nun handelt es sich nicht mehr um Ethik und höheren Quatsch, die letzten Worte sind Politik der Rechten, Geschäft, der Postmeister ist nicht so dumm! Um sich zu entschuldigen, sagt der Konsul: „Der Junge wurde mir vom Schulvorsteher und anderen außerordentlich warm empfohlen.”
„Jawohl,” sagt der Postmeister, „nehmen Sie nur den Jungen, schicken Sie ihn von einer höheren Schule in die andere und machen Sie ihn in äußeren Fertigkeiten vollkommen. Er wird wiederkommen und seine Gegend erfreuen und den Leuten noch tiefere geistige Abmagerung einüben. Dagegen wird er das Geschrei bei ihnen nicht dämpfen, o keine Spur, und er wird sie noch weiter von aller Innerlichkeit wegbringen. Aber vielleicht war es nun gerade das und nichts anderes, zu dem er taugte, das weiß niemand. Er hat vielleicht in einer Reihe früherer Erdenleben sich so geführt, daß er in seinem jetzigen nicht höher steigen kann. Da muß denn der Urheber auf ihn und die Seinigen warten, bis eine Änderung eintritt, der geduldige Urheber, der genug Zeit, genug Ewigkeit vor sich hat.”
Der Postmeister haut also wieder über die Stränge, und der Konsul will Schluß machen. Warum war der Mann überhaupt hergekommen? Einer zufälligen Sorge wegen, nicht fürs nächste Leben, sondern für dieses. Etwas mehr Politik würde ihn gefesselt haben; er war eine große Stütze der Gesellschaft, die der Neid umstürzen wollte, die die Emporkömmlinge nachäfften, dem die Matrosen auf der Fia nun wieder Ärger und Arbeit verursacht hatten — welche Hilfsmittel sollte er nun dagegen anwenden? An sich selbst arbeiten? Der Postmeister war ein Narr!
„Ja ja,” sagt der Konsul, indem er aufsteht, „das ist alles für uns sehr verborgen, sowohl für dieses wie fürs nächste Leben, besonders also fürs nächste. Wüßten wir etwas Sicheres über das Jenseits, dann würden wir uns jetzt schon danach richten.”
[S. 152] „Es ist verzeihlich,” erwidert der Postmeister lächelnd, „wenn wir etwas irdische Neugier in uns tragen. Aber das, was vorderhand unser voriges Dasein betrifft, so hat wohl die Weltregierung ihren Grund dafür, wenn sie es uns verborgen hält. Dieses Dasein wäre vielleicht durch Missetaten so finster, daß die Erinnerung daran uns überwältigen und erdrücken würde. Das kann gut sein. In der ungewissen Hoffnung, daß wir uns doch nicht zum Allerschlimmsten aufgeführt haben, liegt dann eine Aufmunterung für uns.”
„Aber war es in diesem Falle notwendig, uns ganz von Anfang an so gebrechlich auszurüsten?” fragt der Konsul.
„Wenn wir davon ausgehen, daß das Leben in dem einen besteht: in Bewegung um eines Zieles willen, dann ist es unlogisch, anzunehmen, wir hätten von Anfang an der Hoffnung ermangelt, seien demnach ohne sie ausgerüstet gewesen. Aber das sind wir nun also nicht. Immerhin — wie Sie sagen — gebrechlich ausgerüstet können wir gut sein, um sozusagen einen langen Lauf klein anzufangen. Aber daß wir so voller Gebrechlichkeit dastehen, wie die Leute es tatsächlich sind, das werden wir wohl uns selbst zu verdanken haben: weil wir unsere Aussichten mißachtet haben — —”
„Ja ja, ja ja!” unterbricht ihn der Konsul. „Was ich meine, ist, daß es nur zur Besserung in diesem Leben reizen würde, wenn wir gewiß wüßten, was wir im nächsten zu erwarten haben.”
„Wenn es uns dann nur nicht am Ende noch schlimmer macht, Herr Konsul, und es ist so schon schlimm genug. Meinen Sie, die Menschen würden sich einen Vorrat an Gutem erarbeiten, wenn sie die Gewißheit hätten, daß es nicht streng gefordert wird, und vor allem, daß es keine Eile hat? Der Mensch würde lieber darauf los leben, lieber auf Kredit sündigen, bis zum letzten Heller sündigen und sich viele Dasein zurückversetzen. Es würde noch schwerer sein, sich emporzuarbeiten, als es jetzt ist, noch leichter, sich hinunter sinken zu lassen. Im nächsten Dasein könnte er dann ganz vom Grund aus wieder neu anfangen. Alles wäre verloren, da wäre kein Garten, keine Blume, aber die Bewegung wäre noch da ...”
[S. 153] Als Konsul Johnsen danach in sein Kontor zurückkehrte, ging ihm alles wie ein Mühlrad im Kopfe herum; er mußte sich erst wieder fassen. „Theologie!” sagte der Postmeister mit einem spöttischen Lächeln, aber seine Reden waren doch wahrhaftig richtige Theologie! Der Konsul ärgerte sich über den ganzen Besuch, er war kein Nikodemus, der bei Nacht zu dem Meister kam, er war ausgegangen, um sich etwas zu zerstreuen, nicht um bekehrt zu werden. Das einzige Reelle, mit dem er zurückkam, war die Nachricht, daß der Doktor nach Havre an Scheldrup geschrieben hatte. Klatsch und Bosheit vielleicht, Intrigen, ein Fünfkronenbesuch bei einer Wöchnerin auf der Werft — zum Kuckuck mit dem Doktor!
Der Konsul vergaß nicht, seinem Geschäftsführer Berntsen Auftrag zu geben, dem Apotheker fünfzig Flaschen Madeira zu schicken. Und ganz plötzlich mußte er wieder an den Postmeister denken. Gott bewahre mich, was muß dieses Mannes Frau an Geschwätz ertragen! Wie, wenn er auch Postmeisters fünfzig Flaschen Madeira als Geschenk zuschickte? Aber sie würden wohl mit dem Boten gleich wieder zurückgebracht werden.
Kein Zweifel, der Wein würde mit dem Boten sofort wieder zurückgeschickt werden — der Konsul mußte über die fabelhaft genügsamen Menschen lächeln. An sich selbst arbeiten, wieso? Sah man jemals, daß man von der Vorsehung einen Dank dafür gehabt hätte? Wir haben einen Schmied Carlsen hier am Ort, einen gottesfürchtigen Mann, der strebt dem Guten nach und ist stille, tut niemand etwas Böses, schwatzt niemand halb zu Tode über die vielen Erdenleben — er wird vom Unglück verfolgt, von häuslichen Sorgen, hat mißratene Kinder, einer der Jungen soll ein Landstreicher sein. Ist das Gerechtigkeit? Der Schmied Carlsen hat einen Bruder, den Polizei-Carlsen, einen alten Gauner, einen Fuchs mit einer reichen Frau, die ein Klavier besitzt, mit einem Sohn im Kirchendepartement, mit einer Tochter in der Schreudermission — alles miteinander vielleicht, weil der Polizei-Carlsen nicht an sich selbst gearbeitet hat?
Laßt uns für uns selbst arbeiten!
Henriksen auf der Werft hoffte zu Gott, daß seine Frau es diesmal auch gut überstehen werde, obgleich sie sehr krank war. Es war eine vergebliche Hoffnung. Gerade ehe er zu Mittag nach Hause gehen wollte, bekam er die Nachricht. Er stand mitten unter seinen Arbeitern und vernietete einen Nagel; da ließ er Nagel Nagel sein, warf den Hammer weg und rief, indem er eilig davonging: „Geht es ihr viel schlimmer?” — „Ja, sie liegt jetzt ganz ruhig da.”
Sie lag jetzt ruhig da. Am Morgen war der Doktor sehr hoffnungsvoll fortgegangen, im Lauf des Vormittags hatte man nach dem Pfarrer geschickt, aber er war zu spät gekommen.
So konnte es gehen.
Nun handelte es sich um das Begräbnis, um den Leichenschmaus, die Blumen, schwarze Kleider, die Flagge auf Halbmast; Henriksen mußte nicht alles allein besorgen, Lydia, die Frau des Fischer Jörgen, und Petra halfen ihm, aber er mußte doch seine Zuflucht zu starken Getränken nehmen, um alles durchmachen zu können. Es war um so schwerer für Henriksen, als seine Frau den ganzen schrecklichen Vormittag hindurch, wo sie mit dem Tode rang, nicht erlaubt hatte, daß man ihn holte; sie hatte ihn schonen wollen, sie war immer so gut gewesen. „Aber holet den Pfarrer!” hatte sie geflüstert; der war indes nicht mehr recht gekommen.
Da lag sie nun, gefällt mitten in ihrem Lauf, mitten in ihrer Gesundheit und Jugend, einige dreißig Jahr alt. Es war zu traurig, und obgleich Henriksens nur gewöhnliche Leute waren, die sich heraufgeschafft hatten, wollten ihr alle Honoratioren der Stadt die letzte Ehre erweisen. Ja, das wollten sie. Frau Konsul Johnsen sträubte sich [S. 155] ein wenig: „Wir sind nicht bei Kaufmann Davidsen gewesen, als er Konsul wurde,” sagte sie. — „Nein, er sollte aber auch nicht begraben werden,” erwiderte ihr Mann. — „Diese Henriksens,” sagte sie; „wir verkehren ja nicht mit ihnen, warum sollen wir sie da zu Grabe geleiten?” — „Dann wird darüber geredet,” versetzte der Konsul.
Frau Johnsen gab nach, aber sie behauptete, dann sei sie wirklich sehr liebenswürdig. Die arme Frau Konsul Johnsen, sie bewegte sich im allgemeinen so wenig wie möglich und war in den letzten zwei Jahren immer schwerfälliger geworden, sie war überhaupt nicht für Leibesübungen geschaffen, o nein. Der Konsul dagegen hielt sich immer mit derselben anständigen Rundung und dem langsam ergrauenden und lichter werdenden Haar, er ging im Leichenzug mit hohem Hut und leuchtend gestärkter Hemdbrust.
Dieses große Trauergefolge tröstete Henriksen in gewissem Sinne, er verbeugte sich vor Konsul Johnsens und Doktors, überhaupt vor allen, strahlender, als er eigentlich gesollt hätte, und seinen kleinen Mädchen hatte er eingelernt, dankbar zu knicksen. Die Werftarbeiter trugen den Sarg, aber hinter ihm ging die ganze Stadt im Zug; Flaggen trauerten von jeder Stange, die Kirchenglocken läuteten. Sogar Olaus vom Wiesenrain war mit im Gefolge, und er erklärte auch jedermann warum: allerdings sei ihm auf dieser verdammten Werft die Hand abgerissen worden; aber Frau Henriksen sei immer in jeder Beziehung ein guter Mensch gewesen. „Eine verflixt brave Frau, Ehre ihrem Andenken! Du hast wohl nicht eine Prise Tabak?”
Und dort am Brunnen stehen jetzt ein paar Weiber mit den Händen unter der Schürze; sie sehen dem Zuge nach und besprechen leise all den Blumenschmuck und die ganze Festlichkeit. „Gott steh mir bei, da ist wahrhaftig auch Olaus vom Wiesenrain, der hat keine Scham im Leibe! Er weiß wohl, was er tut, die Getränke und Kuchen sind's, auf die er es abgesehen hat; seine blaue Nase hat das von weitem gewittert.” Und Henriksen würde ja ordentlich traktieren, das ist sicher; er war kein Geizhals, seine Arbeiter hatten frei, und alle Leute von der Stadt, die nur wollten, konnten sich an die langen Tische setzen, die in seinem Garten aufgestellt waren.
[S. 156] Oliver hinkte auch mit. Er trank nicht und brauchte sich nicht um einen Bissen Kuchen zu reißen; was er von Näschereien und Backwaren gerne aß, das kaufte er sich selbst. Aber Oliver ging mit, weil alle besseren Leute vom Ort mitgingen. An diesem Vormittag war ohnedies kein Umsatz im Lagerhaus, die Menschen waren wie weggeblasen. Oliver bürstete seinen Anzug aus, betrachtete sich genau im Spiegel, verschloß die Tür und ging mit.
Ein Gefolge von vier Konsuln und einer ganzen Stadt war nichts Alltägliches, ja selbst eine schwedische Brigg, die am Landungsplatz lag und Mehlwaren für Grütze-Olsen löschte, flaggte auf Halbmast.
Das konnte sie wohl tun, die Taglöhner waren fortgelaufen, das Bollwerk lag verlassen da. Diese Brigg hatte übrigens einen kranken Mann an Bord, und es wurde nach dem Doktor geschickt, der Doktor konnte indes erst nach dem Begräbnis kommen, dann aber würde er keinen Augenblick weiter verlieren.
Doch nun sieht der Doktor vom Kirchhof aus, daß die Brigg auf Trauer geflaggt hat, und ein Gedanke erfaßt ihn: der kranke Matrose ist vielleicht gestorben. Er hat Unglück mit Frau Henriksen gehabt, nun ist er ängstlich geworden; sobald es also einigermaßen geht, flüstert er Henriksen eine Entschuldigung zu und verläßt das Trauergeleite.
Er geht geradeswegs nach Grütze-Olsens Bollwerk und steigt an Bord der Brigg. Hier scheint alles ausgestorben zu sein, schließlich findet er einen Mann auf dem Mannschaftslogis, und er tritt auf ihn zu. „Ich bin der Doktor,” sagt er, „kann ich Ihren Puls fühlen?”
Der Schwede reicht seine Hand hin.
„Lassen Sie mich Ihre Zunge sehen!”
Der Schwede sperrt den Mund auf.
„Können Sie essen?”
„O ja, jawohl.”
„Schlafen?”
„O ja.”
Der Doktor behorcht ihm die Brust, beklopft sie, dreht den Mann um und beklopft ihm auch den Rücken. „Sie schwitzen stark. Wie steht es mit Ihrer Öffnung?”
„Nein, die sei nicht so ganz ausgezeichnet und habe ihn [S. 157] seit dem gestrigen Tage sehr geplagt, aber es würde schon vergehen, es sei schon besser.”
„Ja, das dürfen Sie nicht vernachlässigen,” sagt der Doktor.
„Wieso?”
„Sie dürfen nicht gleichgültig dagegen sein. Jetzt werde ich Ihnen etwas aufschreiben, das Sie in der Apotheke holen lassen können.”
„Warum denn?” fragt der Mann verwundert.
„Warum?” fragt auch der Doktor und sieht den Mann blödsinnig an.
O dieser verflixte Schwede, dieser Spaßmacher, trieb er seinen Spaß mit dem Doktor? Da erklärt nun der Mann mit einigen wenigen Worten, er sei gar nicht krank, sondern einer von seinen Kameraden.
„Was? Wo ist denn dann der Kranke?”
„Ja seht — aber er war eigentlich auch nicht krank, er hat sich an einer Flasche geschnitten, und das hat stark geblutet. Als da der Herr Doktor nicht gleich kam, hat er sich selbst verbunden.”
Der Doktor war gekränkt, das war deutlich zu merken. Er sagte scharf: „Wo ist also der Kranke, frage ich, der Mann, der sich geschnitten hat?”
Er sei zum Doktor ins Haus gegangen, dort sitze er wohl und warte auf ihn.
Ehe der Doktor das Deck verließ, konnte er sich nicht enthalten, die folgende, grimmige Frage zu stellen: „Aber beim Satan, warum haben Sie sich denn dann untersuchen lassen?”
Aber auch darauf hatte der Mann die glaubwürdigste Antwort bereit; er sagte das Wort Quarantäne, sagte, er habe gemeint, die Untersuchung gelte nur allein dem allgemeinen Gesundheitszustand an Bord, sonst nichts.
Na, dann war er wohl kein Gauner und Spaßvogel, sondern ein anständiger Mann. Wäre nun der Doktor in ein Gelächter ausgebrochen und hätte ein paar lustige Worte gesagt, dann hätte er seinem Mißgriff den Stachel genommen; aber er tat das, was weit schlimmer war, er zeigte seinen Ärger, er knurrte und war bitter, und dadurch bekam das Vorkommnis eine Bedeutung. Der Schwede gab dann auch Antworten, das war nicht verwunderlich, [S. 158] er lachte auch höchst respektswidrig, und plötzlich richtete er sich in seiner Koje auf. Da ging der Doktor.
Die Geschichte sickerte in die Stadt hinaus, in die kleine Stadt, und dem Doktor wurden boshafte Erweiterungen der Geschichte, die ohnedies lächerlich genug war, nicht erspart. Alle, die ihm eine Nase gönnten, waren obenauf, und Konsul Johnsen zum Beispiel lachte zum erstenmal seit mehreren Tagen wieder recht herzlich.
„So ein Mensch, dieser Doktor,” sagt der Konsul zum Rechtsanwalt Fredriksen. „Er sollte es wahrhaftig nicht nötig haben, einen Kranken auszufragen, wie es ihm geht, das müßte er als Arzt selber sehen, oho, mit einem einzigen Blick. Er ist ein Narr. Na, und da fand er heraus, daß auch der Schwede Kindbettfieber hatte?”
„Ja, Gott weiß, ob es nicht ungefähr so war!”
„Haha, das ist köstlich. Kommen Sie mit herein, Herr Rechtsanwalt, und lassen Sie uns ein Glas auf eine gute Wahl trinken!”
Die Herren gehen hinein.
Mit einer guten Wahl meinte wohl jeder von ihnen etwas anderes, aber Konsul Johnsen war kein Fanatiker und eigentlich auch kein Politiker. Er war nur Stütze der Gesellschaft. Fanatiker und Politiker, er? Ach nein, vor mehreren Jahren hätte er mit der größten Leichtigkeit in den Landtag gewählt werden können, aber er schlug es aus, er hatte keine Zeit, und außerdem war er ja vorher Doppelkonsul und ein großer Mann. Später schlug der Wind allmählich um, in diesem Jahre würde er kaum genug Stimmen für sich bekommen, wenn er es auch gewünscht hätte, so fleißig hatte Rechtsanwalt Fredriksen in dem Kreise gewirkt. Und es war auch so gleichgültig, wer gewählt wurde, für E. A. Johnsen, den Doppelkonsul, würde es keine Veränderung bringen. Dieser Fredriksen gehörte ganz und gar nicht zu seinen Leuten, aber mag er gewählt werden, meinethalben gerne! Und in diesem Falle war es nicht so ganz unklug, wenn er ihm ein privates Glas Wein gab, so einem Emporkömmling könnte es ja einfallen, aus der Meuterei an Bord der Fia eine große Sache zu machen. Na, meinethalben auch das gerne, bitte, der Doppelkonsul blieb deshalb doch der, der er war. „Aber warum nicht — bitte noch ein Glas Wein, Herr [S. 159] Rechtsanwalt! Sie sind ein seltener Gast in meinem Hause.”
O, aber Rechtsanwalt Fredriksen wünschte gar nicht in diesem Hause ein seltener Gast zu sein, nein, das wünschte er nicht. Hatte er sich nicht in den letzten paar Jahren mit dem jugendlichen Gedanken getragen, in diesem Hause als Familienglied aus und ein zu gehen, als einer von den eigenen! Dies war gut verborgen vor der Welt, und es würde auch nicht ans Tageslicht kommen, solange er hier noch nichts war, nur ein Rechtsanwalt in einer kleinen Küstenstadt, aber die Wahlen — die Wahlen konnten ihn vielleicht zum Sprechen bringen. Es kam darauf an.
„Fräulein Fia ist mit Gästen heimgekommen, wie ich gesehen habe.”
„Ja, das versteht sich!” erwiderte der Konsul nachsichtig. „Es sind auch Maler, Kollegen, zwei Stück. Wären wir nicht mit Lebensmitteln so gut versehen und hätten wir nicht soviel Platz im Hause, dann wäre guter Rat teuer gewesen.”
„Es sind junge Leute, können sie etwas?”
„Das weiß ich nicht. Doch sicherlich. Man spricht viel von ihnen und schreibt auch über sie. Und sie bringen ordentlich Leben ins Haus.”
„So?”
„O, sie verkünsteln sich am ganzen Hause; der eine malt meine Frau, der andere mich, wir sitzen ihnen; stocksteif sitzen wir. Das schlimmste ist, daß meine Frau in ihrem höchsten Staat ist, sie ist so eifrig dabei, daß sie jetzt vormittags und nachmittags sitzt, und so trägt sie jetzt immer ein ausgeschnittenes Seidengewand. Heiraten Sie niemals, Herr Rechtsanwalt!”
„Sagen Sie das?”
„Dann bekommen Sir Frau und Kinder, lauter Ausgaben, haha!”
Na, das war nun Großtuerei, und dem Rechtsanwalt gefiel dieser Ton nicht. Es war eine Unverschämtheit, anzudeuten, er, der Rechtsanwalt sollte von jetzt an unverheiratet bleiben. Warum denn? Nichts als Ausgaben? Der Rechtsanwalt dachte nun wohl im stillen, der Konsul zum Beispiel habe durch seine Heirat durchaus nicht verloren; Frau Johnsen hatte die solide Mitgift gehabt [S. 160] und hatte den Mann von Anfang an in Gang bringen können. Warum hätte er denn sonst Johanna Holm genommen? Sie war keine Schönheit und kein Licht. O nein, Herr Doppelkonsul, du wärest ohne deine Frau bis auf den heutigen Tag ein Kleinkramhändler und nie Johnsen am Landungsplatz, vergiß das nicht! Aber gerade an das erinnerte sich der Konsul sehr ungern; der Doktor hatte ihn in seiner gewohnten stichelnden Art einmal daran erinnert, und von diesem Augenblick her schrieb sich die Feindschaft zwischen den beiden. Dagegen vergaß es Frau Johnsen niemals, obgleich sie durchaus nicht immer darüber redete und ihren Mann damit quälte. In jüngeren Tagen, wo sie den Mann ein paarmal in unvorsichtigem Geschäker mit den Dienstmädchen ertappt hatte und sich von ihm scheiden lassen wollte, hatte sie das Ihrige zurückverlangt; da aber das Geschäft ihre Unterstützung nicht entbehren konnte, mußte ihr Mann lernen, vorsichtiger zu sein, einen andern Weg konnte er nicht einschlagen.
Der Rechtsanwalt hätte deshalb jetzt eine hinterlistige Antwort geben und den Konsul dadurch noch zahmer machen können; aber er wagte es nicht, es war auch gar kein Grund dazu da, wenn er im guten seinen Zweck erreichen konnte. Er zitierte deshalb: „Heirate und du wirst es bereuen! Aber es ist wohl dasselbe wie mit dem Tode, wir müssen alle diesen Weg gehen.”
„Sie auch, Herr Rechtsanwalt? Ja ja, es ist nicht zu spät. Ja ja, es ist natürlich auch für Sie noch nicht zu spät. Prosit!”
Der Rechtsanwalt trank und schwieg. Zu spät? Er war jedenfalls ein gut Teil jünger als der Konsul, der immer noch ringsum eifrig auf Eroberungen aus war. Der Konsul verstand vielleicht nicht, daß er hier einem Manne gegenüber saß, der in den Landtag gewählt werden konnte, sein Ton war ein wenig zu sehr von oben herab.
„Im gegebenen Falle hab' ich nicht im Sinn, zu warten, bis es zu spät ist,” sagte Fredriksen. „Wir müssen es ja alle vermeiden, unsere Altersgrenze zu überschreiten!” — So, da hatte er es dem Konsul gegeben!
Der Rechtsanwalt ging. O meinethalb, bitte auch das! So, er würde in den Landtag kommen, ein Mitglied des [S. 161] großen Haufens, vom Elternrat des Landes. Nein, da war der Konsul doch lieber der, der er war! Er hatte seinen Humor und seine Arbeitslust wiedergefunden, hatte den fremden Regierungen seine Rapporte geschickt, hatte sich seine Haltung in der Matrosenaffäre zurechtgelegt, sich auch dem Doktor gegenüber ein festes Auftreten vorgenommen; er wollte sich zornig anstatt ängstlich zeigen und schaffte sich in eine Art kriegerischen Willen hinein — jawohl, es komme, was da kommen will!
War das nicht recht viel?
Und während all diesem war er der liebenswürdigste Wirt den Gästen seiner Tochter gegenüber; er unterhielt sich mit ihnen und saß ihnen Modell, versah sie mit Wein für die Waldausflüge sowie mit Süßigkeiten vom Ladengeschäft, war sehr freundlich gegen sie und schickte jedem ein gelbseidenes Halstuch, wenn sie bis zum späten Abend im Garten draußen schwärmten.
Der Konsul sah sehr wohl ein, daß seine Fia, wenn sie Gäste von dieser Art mit heimbrachte, es nur tat, um ihnen auf eine andere Art zu helfen, als nur ihre Bilder geradezu zu kaufen. Sie war keine billige Dame. Er mußte ja die Porträte von sich und seiner Frau behalten, und er durfte nicht einmal nach dem Preis fragen, sondern mußte ihnen eine Summe überreichen. Hätte er es wohl anders machen können?
Das konnte übrigens einerlei sein, der Konsul rechnete nicht so genau, er war im Gegenteil ein wenig stolz darauf. Es war ja in der Stadt bekannt geworden, was diese jungen Herren taten, ja, es war nicht nur in seiner eigenen kleinen Stadt bekannt geworden, sondern auch in der Hauptstadt. In den Zeitungen hatte gestanden, daß die beiden jungen Künstler sich zurzeit bei Konsul Johnsen, dem Matador der Küste, aufhielten, um die Porträte der Familie zu malen.
„Warum setzen Sie mich in die Zeitung?” sagte er göttlich scherzhaft zu den Künstlern. „Ich will keinen Skandal haben,” sagte er. „Und im übrigen sind Sie im geheimen hier bei mir, vergessen Sie das nicht! Kommt es heraus, daß Sie mich und meine Frau malen, muß ich bloß mehr Steuern bezahlen!”
Ha, wie er mit den jungen Leuten reden und von oben [S. 162] herab dabei lächeln und sich ihre losen Streiche erzählen lassen konnte! Sie verfielen auf keine gefährlichen Dinge, es waren anständige Burschen, soweit er es beurteilen konnte, aber der Teufel mochte ihnen allzuviel trauen, hehe! Sie fuhren ja auch hinaus in das Sommerhaus und trieben dort allerlei Kurzweil, unter anderem malten sie in einer Nacht den Rappen grau an. Ob es nun echtes oder gut gespieltes Entsetzen war — der Hofjunge verlor am Morgen eine gute Weile den Verstand und fand ihn erst wieder, als er einen Fünfkronenschein bekam mit dem Auftrag, die Wasserfarbe von dem Pferde abzuwaschen.
Aber nun Fia, dachte sie an einen von den jungen Männern, war sie, sozusagen, verliebt in sie? Das müßte dann auf eine ruhige, ja eine gar zierliche Art sein. Sie war freundlich und kameradschaftlich gegen sie, aber immer mit etwas Vorbehalt, niemals vergaß sie, innerhalb der Schranken zu bleiben. Die Maler pflegten sie die Comtesse zu nennen. Gegen diesen Spitznamen hatte sie ihrerseits nichts, es war ein ganz passender Spitzname, sie kam sogar gut dabei weg; und verdiente sie ihn etwa nicht? Die Tochter ihres Vaters, aus einer annähernden Stadt, aus dem vornehmsten Hause, Künstlerin, eine poetische Dame, ein Talent — wie sollten andere bestehen, wenn man davon reden wollte! Alice Heiberg, auch eine Konsulstochter, aber ohne besondere Talente, nur in der Haushaltung und den täglichen Pflichten erzogen, Grütze-Olsens Töchter, die das Zeug hatten, tüchtige Mädchen zu werden, aber von törichten Eltern, die sie vornehm machen wollten, gründlich verzogen wurden! Wer war sonst noch da? Die zwei kleinen Henriksens auf der Werft waren noch zu neu, nur Kinder, und aus ihnen würde übrigens auch sicherlich nie etwas Rechtes werden.
Fia war die Comtesse, groß und gertenschlank, von feinem Wesen, vollkommen recht und richtig. In den letzten zwei Jahren hatte sie sich große Hüte und etwas lebhaftere Farben zugelegt, aber nichts Übertriebenes, nur so viel, als ihr gut stand. Wenn sie wie ein Maler angezogen auf der Straße ging, war es nicht verwunderlich, daß ein anderer Künstler, der Postmeister, an einem Schaufenster stehen blieb und sich über Fias Anblick freute.
[S. 163] Nein, der Konsul konnte sich nicht denken, daß seine Fia Absichten habe, in diesem Falle hätte er als Vater ernstlich mit ihr sprechen müssen. Diese jungen Leute waren nichts für sie, der eine war der Sohn eines Hardesvogts und insofern aus einer studierten, gebildeten Familie, der andere der Sohn eines Tünchers, und beide waren gleich arm. Der Konsul verachtete keine Klasse, nein, das tat Konsul Johnsen wahrhaftig nicht, aber er hatte nun eben diese einzige Tochter, sie war sein liebes Kind, und er wollte sie auf die beste Weise beschützen. Der Sohn eines Geschäftsmannes aus einem alten großen Hause würde ihm besser passen.
Deshalb war es dem Konsul gar nicht unangenehm, als die jungen Künstler eines Tages beim Mittagessen erzählten, sie hätten beide Bestellungen bekommen. „Und das haben wir Ihnen zu verdanken, Herr Konsul,” sagten sie.
„Ich gratuliere!” erwiderte der Konsul. „Was sind das für Aufträge?”
„Wir sollen die Bilder von Konsul Olsen und seiner Frau malen.”
„Vom Grütze-Olsen!” schreit Frau Johnsen. „Nein, wissen Sie was!”
Da lachen alle andern am Tisch, und der Konsul sagt freundlich: „Eine Bestellung ist eine Bestellung, das wirst du doch verstehen, Johanna!”
„Haben nicht auch Heiberg und Davidsen ihre Porträte bestellt?” fragt Frau Johnsen. „Die werden sicher noch kommen.”
Und wieder lachen alle miteinander.
Der Konsul wendet sich an die beiden Künstler und gibt eine kurze Erklärung: Es seien so viele Konsuln am Ort, und alle die jüngeren wollten die älteren nachahmen. „Daran kann man sich nur ergötzen, Johanna!” Nun sei allerdings andererseits eines recht ärgerlich, man könne sich hier im Hause fast nicht bewegen, ohne daß die andern sich ganz auf dieselbe Weise bewegten, sozusagen im Takt. „Aber es ist doch nicht der Mühe wert, so etwas ernsthaft zu nehmen, Johanna!”
Frau Johnsen sagte, sie nehme es durchaus nicht ernsthaft, das sei ein Mißverständnis. Wenn irgend jemand die andern Konsuln mit einem Lächeln betrachte, so sei sie [S. 164] es. Ihr Ausruf vorhin sei als reiner Freudenschrei gemeint gewesen.
„Und was Davidsen betrifft,” fährt der Konsul fort, „so ist er von einem ganz anderen Schlage: ohne Ansprüche, ohne Bildung, aber auch ohne Narrheit. Er ist ein Mann der Arbeit, steht hinter seinem Ladentisch und verkauft grüne Seife. Ich habe Davidsen schätzen lernen.”
„Hehe,” lacht Frau Johnsen sehr nachdenklich. „Ich überlege mir eben etwas; wenn ich nun in einem Seidenkleid gemalt worden bin, was wird Frau Olsen anziehen, um noch großartiger auszusehen?”
Sie beredeten sich eine Weile über Farben, Kostüme, Schmucksachen, ob eine goldene Kette oder ein reicher Schmuck angebrachter sei. Die Standespersonen der früheren Jahrhunderte scheuten nicht davor zurück, sich mit Pracht abbilden zu lassen, mit Spitzen, Spangen, Ketten, Juwelen, jetzt saß man im Gehrock, den man auch Diplomatenrock nannte, wie der Konsul, und er konnte so ein gutes Diplomatenbild abgeben.
„Ja,” sagt der Konsul, indem er sein Glas erhebt. „Möge es nun den Herren ebensogut gelingen, mögen Sie ebenso genial inspiriert sein, wenn Sie den Konsul Olsen malen, wie Sie es bei mir und meiner Frau gewesen sind! Wir sind beide hochbefriedigt und Ihnen tief dankbar.”
Darauf tranken sie ihr Glas aus.
„Wann fangen Sie bei Olsens an?” fragte Fia.
„Sobald wir wollen, sofort!” Und sie erzählten, die beiden jungen Töchter des Hauses sollten wahrscheinlich auch gemalt werden.
„Da haben wir es, noch viel großartiger soll es sein!” ruft Frau Johnsen wieder. „Und jetzt weiß ich, was Frau Olsen anhaben wird: sie wird in zwei seidenen Kleidern sitzen.”
Wieder lautes Gelächter, daß es von der Decke widerhallte. Frau Johnsen machte so selten einen Witz; das hatte wohl seine Gründe, und niemand erwartete es von ihr. Der Konsul sagte nun sofort, sie sei großartig, sie sei brillant!
Aber Frau Johnsen kann Lobsprüche nicht gut vertragen, und so verdirbt sie das Vorhergehende, indem sie [S. 165] fragt, was wohl Frau Olsen an den Füßen haben werde — zwei Paar Stiefel?
Darauf lachten alle wieder; aber wenn sie jetzt nur aufhören wollte, wünschten die Maler.
Bei Konsul Olsen zu sein und zu malen, erwies sich als ein schöner, guter Aufenthalt; die beiden Künstler hatten es noch nie besser gehabt mit Frühstückswein und Kuchen und Nachmittagskaffee mit Sahnewaffeln. Dazu waren die „Mädel”, die beiden jungen Töchter, überaus gesund und lustig, geradezu zum Anbeißen. Der Tünchersohn verliebte sich in alle beide, aber er richtete nichts aus, so leicht war es nun doch nicht, Eingang bei Konsul Olsen zu bekommen; wäre es wenigstens der Hardesvogtsohn gewesen! Die Mädchen waren schon recht, sie zierten sich vielleicht ein wenig und sprachen etwas feiner, als sie es gewohnt waren, aber sie waren verflixt hübsche Mädchen und junge Mädchen, nichts fehlte ihnen, es müßte denn sein, daß sie zuviel von allem hatten, sogar auch von Körpergröße, sogar von üppigem aschblondem Haar und etwas zu vollen Lippen. Ihre Mängel lagen im Übermaß; sie wackelten auch ein wenig, wenn sie gingen.
Frau Olsen mußte verleumdet worden sein, sie war eine liebenswürdige Dame, gutherzig bis zur Rührseligkeit, mütterlich, mit freundlichen Augen und einer zurückweichenden Stirne. Ihre ganze Fürsorge gehörte ihren Töchtern, sie sollten vornehm und glücklich werden. Wie sehr liebte sie diese Töchter, sie ließ sie tun, was sie wollten, ließ sie heranwachsen zu Unnützlichkeit und Ungezogenheit, als Zierpuppen und Hohlköpfe.
Nein, Frau Olsen war es sicher nicht gewesen, die verlangt hatte, gemalt zu werden, sie wehrte sich jeden Tag dagegen und wollte die Töchter statt ihrer gemalt haben, beide auf einem Bilde, ein Doppelporträt. Konsul Olsen mußte seine Frau jedesmal überreden, ruhig zu sitzen. — „Hörst du, Henriette, nachdem nun einmal angefangen ist. Das Doppelporträt kommt später dran!”
So saß denn das Opferlamm in Seide, mit vielen Ringen und der Uhrkette geschmückt, und war dem Manne willfährig.
Bei ihm selbst ging's mit mehr Prunk und Gepränge; er war vom Kleinstadtreichtum wohlbeleibt geworden, ein Emporkömmling, ein glücklicher Spekulant. Es machte [S. 166] ihm Spaß, Gassenhauer zu singen und Fratzen zu schneiden und dann plötzlich wieder eine gute Weile ganz würdig und schweigsam dazusitzen und nur zu nicken oder den Kopf zu schütteln. Er gab sich das Aussehen, als hätte er große Geschäftsangelegenheiten zu überdenken. „Still,” sagte Frau Olsen, „laßt den Vater nun in Ruhe, Mädchen!”
Und der Vater war lieb und gutmütig und sehr eitel, er sah es gerne, daß es still um ihn her war, wenn er an große Geschäfte dachte.
„Richtig!” sagte der Maler, „da haben wir gerade den rechten Ausdruck, das ist großartig, der feste Mund, die Klugheit. Bleiben Sie nun so sitzen, Herr Konsul,” sagte er, wie wenn er photographieren sollte.
Und Konsul Olsen gab sich aus Eitelkeit Mühe, sich mit einem großen Kornhandel in Argentinien zu beschäftigen, anstatt zu singen und den festen Mund durch Grimassenschneiden zu verunstalten.
Das Porträt versprach ganz besonders gut zu werden, und der Maler, der Tünchersohn, bat, es in Christiania ausstellen zu dürfen. Bitte, ja, jawohl!
Der Konsul selbst verabscheute zwar, ausgestellt zu werden, aber wenn es für den Maler von Nutzen sein konnte, dann —! Er wollte sich gerne dem jungen Künstler entgegenkommend zeigen, alle in der Familie zeigten sich entgegenkommend, auch die Töchter, aber sie verliebten sich nicht in ihn. Da schien sein Kollege, der die Frau Konsul malte, bessere Aussichten zu haben, o, aber auch er wurde eines Tages ordentlich geprellt! Das mußten ein paar eigene Damen sein, sie waren aus einem Kaufmannshaus und wollten wohl am liebsten im Kaufmannsstande bleiben; sie nannten deshalb auch sehr oft Scheldrup Johnsen. Komische Mädchen also und vielleicht nicht besonders aufgeweckt. Oder wie? Eines Tages, als der Hardesvogtsohn ihr Porträt angefangen hatte, schwänzten sie einfach mir nix dir nix die Sitzung. Als Entschuldigung gaben sie an, daß sie ganz unerwartet Scheldrup Johnsen auf der Straße getroffen, bei ihm stehen geblieben seien und mit ihm geplaudert hätten; er sei zu kurzem Aufenthalt zu Hause.
Als ob das eine Entschuldigung wäre! Der Maler empfand es als einen Betrug — eine Beleidigung.
Scheldrup Johnsen war unerwartet heimgekommen und mußte auch ebenso unerwartet wieder abreisen.
Er nahm des Vaters Geschäftsführer Berntsen mit sich und ging in des Doktors Sprechzimmer, grüßte kurz und tat folgende Fragen: „Was bedeuten die Briefe, die Sie mir geschickt haben? Ich bin hierhergekommen, um es zu erfahren.”
Der Doktor sagte überrumpelt und halb lächelnd: „Die Briefe? O die —”
„An einem Tage schreiben Sie mir, es sei ein neues braunäugiges Exemplar von einem Kind auf die Welt gekommen, ein paar Tage später, die Mutter sei tot.”
„Ja.”
„Ja. Ich will wissen, warum Sie mich von diesem Ereignis in Kenntnis gesetzt haben.”
„Können wir nicht allein sein?” fragte der Doktor in zahmem Tone.
„Nein, ich will einen Zeugen gegen Sie haben,” erwiderte Scheldrup.
„Aber was ich sagen will, eignet sich nicht für fremde Ohren.”
„Aber dann weiß ich, was sich für die Ihrigen eignet,” sagt Scheldrup und tritt ein paar Schritte näher. Der Doktor weicht zurück, sein Mund bebt, und er sagt: „Nein, warten Sie ein wenig, ich merke, daß ich mich getäuscht habe, und ich bitte um Entschuldigung. Ich tat es, ich täuschte mich also, in Ihnen und noch jemand, entschuldigen Sie! Eigentlich war es nicht so schlimm gemeint.”
„Eigentlich sollte ich Sie einfach durchprügeln,” sagt Scheldrup mit zornbebender Stimme. „Sie sind ein Verleumder, ein — —”
„Warten Sie ein wenig, lassen Sie mich — —”
[S. 168] „Ein Halunke, eine abscheuliche Klatschbase! Ja, ich sollte Ihnen den Kopf waschen.”
Der Doktor hat sich etwas gefaßt: „Warten Sie ein wenig, ich habe Fragezeichen gemacht, erinnern Sie sich? Eigentlich wollte ich Sie der Wissenschaft wegen etwas fragen, meiner eigenen Wissenschaft wegen. Haben Sie die Briefe bei sich?”
„Hätte ich sie bei mir, dann würde ich Sie zwingen, sie zu zerkauen und zu verschlucken.”
„Nein, nein, nein, wir wollen darüber reden, ruhig darüber reden, nicht wahr? Ich bitte Sie um Entschuldigung, es war der Wissenschaft wegen, ich glaubte, ich könnte es tun, wir kennen ja einander. Erinnern Sie sich nicht, daß ich gefragt habe, daß ich Fragezeichen setzte? Es ist nämlich ein unsicherer Punkt in der Wissenschaft —”
Scheldrup ist wütend, er wird immer ausfälliger, maßlos, sein Auftreten verliert dadurch und wird gewöhnlich. „Die Wissenschaft und Ihr Geschwätz! Sie sind überdies ein Kujon, ein Hasenfuß, jetzt wollen Sie Ihren Brief wegschwatzen, ich könnte Sie anspucken.”
Der Doktor hatte sich indessen noch mehr gefaßt: „Seien Sie nicht so wütend, das Ganze ist das gar nicht wert, durchaus nicht. Es ist auch nicht klug, ich bitte Sie um Entschuldigung.”
„Was meinen Sie damit, es sei nicht klug?”
„Wenn wir allein wären, würde ich es sagen. Es ist nicht klug, es kann sich rächen.”
„Ich kümmere mich den Teufel um Ihre Rache, verstehen Sie!” ruft Scheldrup.
„Ich bitte Sie um Entschuldigung!” wiederholt der Doktor.
Aber diese lauten Stimmen in dem sonst so stillen Zimmer erregen Aufmerksamkeit im Hause, sie rufen die Hausfrau herbei und zwingen Scheldrup, sich stumm zu verbeugen und mit seinem Begleiter fortzugehen.
Eine Entschuldigung war also das ganze Ergebnis einer Reise von Havre her, ein paar leere Worte! Am Abend dachte Scheldrup an einen neuen Besuch beim Doktor, und er sprach auch mit Berntsen darüber, bekam aber den Rat, beizeiten aufzuhören, der Doktor habe genug bekommen, [S. 169] habe übergenug bekommen. O Konsul Johnsens ausgezeichneter Geschäftsführer, er gab gute Ratschläge, er wußte, was er tat, und dachte an mehr, als nur an eine Seite einer Sache; es ist auch gar nicht unmöglich, daß er dort im Sprechzimmer recht gut verstand, worauf der Doktor jedesmal anspielte. Was war übrigens da zu verstehen? Nichts, Klatschereien. Scheldrup solle seiner selbst und seiner ganzen Familie wegen darüber schweigen.
„Nein, lassen Sie es nun gut sein, Sie haben ihm schon einen tödlichen Schrecken eingejagt, mehr kann er nicht ertragen,” sagte Berntsen.
Scheldrup beruhigte sich. Sein Zorn hatte sich gelegt, er wollte sich mit der Entschuldigung begnügen. Es war auch so eine Sache mit einer Backpfeife, er hatte selbst vor vielen Jahren eine bekommen, die ihm nicht zur Ehre gereichte, jene schändliche Backpfeife von Petra, er konnte nicht für ewige Zeiten Backpfeifen auf sich sitzen lassen.
Am nächsten Morgen in aller Frühe begab sich Scheldrup wieder an Bord und reiste zurück nach Havre.
Und da geriet der Doktor wieder in eine nette Klemme.
Da war er ja hinunter zum Postschiff gegangen, und zwar am frühen Morgen wie so viele andere, er hatte viel ausgestanden und wollte sich ein wenig erfrischen — aber das wurde eine verflixte Erfrischung! Hätte er sich denken können, daß Scheldrup so bald wieder abreisen würde, er, der sonst wochenlange Ferien daheim zubrachte! Da kam er gerade auf das Bollwerk zu in Begleitung von Vater, Mutter und Schwester und von zwei fremden Malern. Sollte der Doktor grüßen? Zuerst grüßen? Gewiß, es waren ja Damen dabei. Er stand peinlich weit zurück, aber grüßte also, und als er das getan hatte, ging er noch weiter abseits.
Aber plötzlich schien der Zorn in Scheldrup wieder aufzukochen, und er ging dem Doktor nach. Er hielt des Doktors Gegenwart hier für Trotz, für Frechheit. Und was nun? Er geht dem Doktor weiter nach und wie um ihm direkt unter die Augen zu treten, aber ohne ihn selbst anzusehen, o, nicht mit einem Blick! Will er ihn umrennen, ihn ins Wasser hineintreiben? Jetzt sind nur noch vier Schritt frei zwischen ihnen.
Doch da taucht plötzlich der merkwürdige Geschäftsführer [S. 170] Berntsen mitten zwischen den beiden Herren auf, und sagt zu Scheldrup: „Sehen Sie, das haben Sie wohl vergessen!” Damit zieht er Scheldrup ein paar Schritte mit sich fort und übergibt ihm etwas, Gott mag wissen, was es ist, vielleicht ein Plunder. Aber von da an ist Berntsen am Bollwerk sehr in Anspruch genommen, er ist überall und doch immer an Scheldrups Seite. „Ich sehe mich hier nach einem Teil Waren um,” sagt er, „wir erwarten gewisse Waren.” Ja, sogar als Scheldrup über den Landungssteg an Bord geht, folgt ihm Berntsen, um sich auf dem Schiff nach den Waren zu erkundigen.
Scheldrup steht an der Reling und spricht gedämpft mit seiner Familie auf dem Bollwerk. Und diese Familie steht nun da, über die Maßen verwundert, sowohl über sein Kommen als auch über die rasche Abreise. Der Vater war mit keinem Wort in ihn gedrungen, und für Mutter und Schwester hatte er nur die eine Antwort gehabt: „Geschäfte!” Aber alle waren im unklaren.
Während nun Scheldrup da an der Reling steht, deutet er plötzlich auf den Doktor drüben am Land und ruft Berntsen laut und deutlich zu: „Hören Sie, Berntsen, ich hätte nun doch eigentlich den Kerl dort durchwalken sollen! Er hat es gewagt, hierherzukommen!”
Stille. Nur eine einzelne Stimme wird am Bollwerk laut. „Was beim Satan — was hat er gemeint? —” Das war Olaus vom Wiesenrain, er witterte Hallo!
„Und wenn Sie wieder in Havre sind, vergessen Sie nicht, uns Stoffe zu senden,” erwiderte Berntsen sofort; „Baumwollstoffe in passenden Mustern, wohl einhalbhundert Stücke.”
„Ja.”
„Wollen Sie es nicht aufschreiben?”
Scheldrup kann nicht anders, als sein Buch herausziehen und es aufschreiben.
Dann fängt das Schiff an, sich zu bewegen, und Berntsen springt an Land.
Der Doktor stand da, wie wenn ihn der Schlag getroffen hätte, schwankend, mit ausdruckslosem Gesicht. Das dauerte einen Augenblick, dann richtete er sich auf, streckte die Brust heraus und ging davon. O, es war nicht wahrscheinlich, [S. 171] daß er sich in den Hohn des jungen Krämers auf dem öffentlichen Bollwerk finden würde!
Alles in allem hatte der Doktor in der letzten Zeit gar manchen Ärger gehabt, aber als er nun das Bollwerk verließ, sah er aus, als habe er sich vorgenommen, alles zu ertragen. Olaus vom Wiesenrain sah ihm nach und sprach sich über seine Hochnäsigkeit aus.
In diesem Augenblick kamen die beiden Fräulein Olsen eiligen Laufes daher; sie waren sehr hübsch und jung und atemlos. „Ach, nun sind wir zu spät gekommen,” sagten sie. „War heute etwas Interessantes an Bord? Warum seid ihr denn alle hier, warum winkt ihr nach dem Boot hin, Fia?”
O, sie wußten es wohl; die Fräulein Olsen hatten es wohl am frühen Morgen im Bett gehört und waren eilends in ihre Kleider gefahren, waren aber doch zu spät gekommen.
„Scheldrup ist wieder abgereist,” sagt Fia.
„Scheldrup — was du nicht sagst! Schon? Ei, wirklich?”
Mehr wagten sie wohl nicht zu sagen, sie zogen sich mit den beiden Malern zurück und gingen heim zur Sitzung.
Sie holten den Doktor ein, der stehen geblieben war und mit dem Rechtsanwalt Fredriksen sprach. „Na,” rief der Doktor den jungen Mädchen zu, „sind Sie zum Abschied zu spät gekommen?” Ha, der Doktor war nun gerettet, er war nicht mehr in Gefahr, und so hatte er seine Überlegenheit wiedergefunden.
„Abschied? Welcher Abschied?” fragten die Fräulein Olsen, gingen aber gleich weiter.
Der Doktor sah ihnen spöttisch nach und wendete sich wieder dem Rechtsanwalt zu: „Wir wurden unterbrochen. Können Sie mir keine Auskunft auf meine Frage geben?”
„Nein, nicht ohne weiteres.”
„So?” sagt der Doktor. „Aber es ist doch eine Sache der bürgerlichen Gesellschaft.”
„O ja. Aber es ist auch eine sehr private Sache.”
Der Doktor lächelt anzüglich. „Ich glaubte, daß Sie als Gesetzeskundiger, der nun mit Gottes und guter Menschen Hilfe vielleicht Gesetzgeber wird, gegen ein soziales Übel Rat schaffen könnten.”
[S. 172] „Vermehrte Geburten in einem Lande werden nun eigentlich nicht zu sozialen Übeln gerechnet,” versetzt der Rechtsanwalt.
„Da haben wir es wieder! Das ist des Postmeisters Elegie über die Nachkommenschaft!”
„Nein, da tu' ich nicht mit.”
„Ich rechne sie zu den Übeln. Im übrigen aber ist hier die Rede davon, daß ein bestimmter Mann die Stadt mit seiner braunäugigen illegitimen Brut füllt.”
„Sagen Sie das?”
„Und ich weiß es.”
„Es ist sehr schwer, so etwas zu beweisen.”
„Allerdings, besonders wenn die Zeugen sterben. Aber dann kann vielleicht die Wissenschaft eintreten. Die sachkundige Wissenschaft ist ein unwiderlegbarer Zeuge.”
„Sagen Sie das auch?”
O, das war etwas zu keck gesagt vom Rechtsanwalt, er hätte den Löwen nicht reizen sollen. Überrascht fragt der Doktor: „Zweifeln Sie an der Wissenschaft? Legen Sie sich auf diesem Standpunkt fest?”
Der Rechtsanwalt, der Volksredner dachte wohl so: Er sagt absichtlich, ich lege mich auf meinen Standpunkt fest, das war schlau gesagt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als etwas von dem schweren Ernst dieser Unterredung wegzunehmen. „Nein, Sie mißverstehen mich. Die Wissenschaft natürlich! Aber nun hören Sie, Herr Doktor: braunäugige Kinder sind ja hübsche Kinder. Wenn es so ist, wie Sie sagen, dann muß der Vater ein tüchtiger Mann sein und Übung darin haben, ein guter Stammvater also. Unsere liberale Zeit —”
„Wollen Sie Ihren Spaß mit mir treiben?” fragt der Doktor. „Guten Morgen, Herr Rechtsanwalt!”
O, er hätte laut hinausschreien, hätte platzen mögen! Alles und alle waren gegen ihn. So ein Rechtsanwalt auch, er war borstig und unrasiert, o, so demokratisch, und dann hatte er sich eine Feder auf den Hut gesteckt wie zu einer Alpenbesteigung. Schöner Jüngling das!
Alle diese Ärgerlichkeiten machten den Doktor allmählich ungeduldig, sollte er nicht aufstehen und sie lehren, ja, dieses Pack lehren! Natürlich war seine Stellung trotzdem fest, aber man war jetzt gerade nicht besonders ehrerbietig [S. 173] gegen ihn, ganz und gar nicht ehrerbietig. Hätte er nicht gegen die meisten Leute eine große Verachtung im Busen getragen, dann würde er sich ab und zu umgedreht und gefragt haben, was zum Kuckuck sie denn zu grinsen hätten, wenn er vorüberging?
Und da hatte ihm nun Konsul Johnsen in der letzten Woche eine lange Rechnung geschickt, der Johnsen am Landungsplatz, der Krämerpapa. Ja, er sollte sein Geld haben, sollte sobald wie möglich alle seine Groschen bekommen, bitte hier, in den allernächsten Tagen. Haha, der Doktor mußte lachen; er wollte das Geld durch die Post schicken, daß es alle sahen; wäre das nicht ein Streich! Und von diesem Tag und dieser Stunde an sollten alle Einkäufe in diesem Geschäft, in dieser Kneipe aufhören. Es war ja ein Ort, wo ein gewisser geachteter Bürger der Stadt nicht einmal sein ehrliches Gewicht beim Mehlkaufen bekam.
Plötzlich bekommt er eine Eingebung; er will mit dem Schreiner Mattis sprechen und etwas Näheres über den berühmten Mehleinkauf hören. Er sieht auf seine Uhr. Doch, es geht noch.
Einen so großen und vornehmen Besuch hatte der Schreiner Mattis nicht in seiner Werkstatt erwartet, und er führte den Doktor sofort in die Stube hinein. Sie ließen sich zwischen Sesseln und Schaukelstühlen und Etageren und Tischen mit dicken Plüschdecken nieder. Über dem Tisch in der Mitte hing die Hängelampe bis auf die Platte herunter, an den Wänden hingen Photographien von ausgewanderten Verwandten und ein Bild des Landtags vom Jahr 1884. Die Laubkränze auf dem Ofenkranz waren so trocken wie Papier. Es war eng und stickig in dem kleinen, überfüllten Raume, und eine Unterhaltung kam auch nicht recht in Gang. Mattis schien ganz anders geworden zu sein als früher, ganz und gar nicht aufgelegt.
Der Doktor sagte, er habe einen Wandschirm, der geleimt werden müsse.
Jawohl, der Schreiner würde ihn durch den Lehrjungen holen lassen.
„Der Wandschirm hat eines Tages bei offener Tür und offenen Fenstern im Zug gestanden, da warf ihn der Wind um, und da ging er natürlich entzwei.”
[S. 174] „Ja, das ist bald geschehen.”
„Aber es sollte nicht so sein, durchaus nicht. Es hätte kein Zug sein sollen. Die dummen Mägde sind schuld daran. Wie steht es bei Ihnen, Mattis? Ihr Haus wird vielleicht gut versorgt, aber Dienstmädchen sind eben Dienstmädchen.”
Mattis, plötzlich lebhaft, plötzlich hitzig, schüttelt mehrere Male heftig den Kopf, das konnte alles mögliche bedeuten, nur nicht ja. „Es ist alles gut versorgt worden, aber nun muß sie fort.”
„Muß sie fort? Warum denn?”
„Ich will nicht darüber reden. Die Frauenzimmer sind verrückt.”
„Wie heißt sie nur gleich?”
„Maren Salt. Schon recht alt, vielleicht fünfzig Jahre, aber trotzdem verrückt. Ach, was ist das jetzt für eine Zeit! Sie blasen die Nüstern auf wie junge Fohlen.”
„Es wird bei Ihnen schon wieder in Ordnung kommen.”
„In Ordnung kommen? Da soll der Teufel in Ordnung kommen!” gibt der Schreiner erregt kund. „Es ist verbrieft und versiegelt,” fügt er hinzu.
Der Doktor will wieder gehen. Diese häuslichen Verhältnisse in einem Arbeiterheim interessierten den Akademiker nicht, und er fühlte sich durch die Ungezwungenheit des Schreiners gekränkt, sie waren keine Gleichgestellten. Aber er hatte ein Anliegen.
„Hört, Mattis,” sagt er, „haben Sie nicht bei Johnsen am Landungsplatz einmal falsches Gewicht bekommen?”
„Was?”
„Ich frage, weil andere auch dort dieses und jenes erfahren haben können.”
„Nein,” antwortete Mattis kurz und schüttelte den Kopf.
„Nein, sagen Sie?”
„Es war nicht beim Konsul, es war im Lagerhaus.”
„Ist Ihnen wirklich im Lagerhaus Ihr Mehl nicht richtig gewogen worden?”
„Der Oliver hat's getan. Kein anderer als der Oliver ist's gewesen. Ich versteh' aber nicht, warum Sie danach fragen; Sie müssen entschuldigen, Herr Doktor.”
„Wann wollen Sie den Wandschirm holen?” fragt der Doktor, indem er aufsteht.
[S. 175] „Sogleich. Augenblicklich. Und er kann morgen schon trocken sein. Ja, ich mache ihn gern zurecht. Bitte, diesen Weg, Herr Doktor!”
Vergebliche Mühe. Da geht nun dieser Mann denselben Weg zurück, den er gekommen war, der Doktor des Städtchens, eine wichtige Persönlichkeit, eine Autorität, da geht er mit enttäuschter Miene wegen einer Kleinigkeit, wegen nichts. Auch er hatte wohl einstmals junge Träume gehabt, hatte viel vom Leben erhofft, hatte sich schon auf den höchsten Zinnen gedacht, damals war seine Haut zart, sein Blut rot gewesen, er war verliebt gewesen, konnte lächeln — wo war das alles jetzt? Das Leben — das Leben hatte sich darauf gestürzt und es verzehrt! Er war mehr und mehr in kleinen Ärgernissen und kleinen Interessen aufgegangen, Jahr um Jahr war er runzliger und boshafter geworden; allein mit seiner Frau bei allen Mahlzeiten, in einem leeren Hause, ohne Familie, ohne Kinder, allein mit seiner Gelehrsamkeit und seinem eigenen Mißerfolg, neugierig, klatschsüchtig und kleinlich. Auch er hatte wohl einmal junge Träume gehabt, das war nun lange her, jetzt war er gerupft, was ihm von früher noch geblieben war, war der Jargon seiner Studentenbude, deren Radikalismus, deren Freidenkerei, deren ungewaschene Schlagfertigkeit, aber ohne eine Spur mehr von der Schönheit und Innerlichkeit der Jugend, ja selbst nicht von deren Fehlern. Er war ausgeartet, sein Sinn war verändert, und es war ihm schlimm gegangen, er war niemand mehr. Seht, nun sollte er ordentlich sparen, um die Rechnung bei Johnsen zu bezahlen. Dann wollte er mit einem andern Kaufmann in Verbindung treten und dort anschreiben lassen, vielleicht bei Davidsen, ja gerade bei Davidsen, der ein neugebackener Konsul war und die Kundschaft besserer Leute brauchte. Ein Plan, ein Vorsatz, würdig einer Hausfrau in Verlegenheit!
Er geht und findet seine Frau nicht zu Hause, dann geht er ins Schlafzimmer und findet den Wandschirm ganz. Na, da hatte ihm also das Umwerfen nichts getan, warum hatte er dann gescholten? Eine recht traurige, bittere Enttäuschung überkommt ihn auch hier und zugleich ein so rasender Zorn, daß er den Wandschirm umwirft und darauf herumtrampelt. Nun mag der Schreinerlehrling kommen! [S. 176] Nein, nicht eine einzige Befriedigung hatte er in seinem Leben, nicht eine einzige goldene Freude. In zwanzig Jahren, in zehn Jahren war er tot, und in derselben Stunde war er vergessen.
Er geht wieder aus, das Sprechzimmer soll für sich selbst sorgen. Da kommt ihm natürlich der arme Postmeister entgegen, wie gewöhnlich leise mit sich selbst sprechend, der Doktor bringt es kaum fertig, den Hut zu lüften, und geht an ihm vorüber.
Und nun trifft er Henriksen von der Werft — seht nun bloß, wie klein die Stadt und wie klein auch die Menschen sind, sie haben so gut Platz hintereinander in derselben Straße, einer sieht dem andern schon von hinten an, was er denkt. Den Henriksen muß der Doktor grüßen, das geht nicht anders, der Witwer erwartet es sicher von ihm, und der Doktor hätte, wenn es anders gegangen wäre, seine Rechnung bei Henriksen erhöhen können. Um die Wahrheit zu sagen, so war es gerade dieses Honorar, das den größten Teil der Rechnung bei Johnsen hätte decken sollen. Aber jetzt war Frau Henriksen tot, der Patient war gestorben, das war ein schändliches Mißgeschick, ein Schlag.
„Geht es sonst gut bei Ihnen, ist das Neugeborene gesund?” fragt der Doktor.
„Ja, Gott sei Dank, er ist gesund, er ist großartig.”
Der Doktor versteht, daß der Besitz dieses Kindes Henriksens Schmerz etwas besänftigt; er ist Witwer geworden, jawohl, aber seine Frau hat ihm zu seinem Trost diesen prächtigen kleinen Jungen hinterlassen. Henriksen ist nicht ganz zu Boden geschlagen, nicht zerschmettert, und der Doktor kann doch noch Hoffnung auf sein Honorar haben.
„Ich gehe mit Ihnen und sehe nach dem Kinde,” sagt er.
„O ja, wenn Sie das wollten, Herr Doktor,” versetzt Henriksen froh und dankbar.
„Das tu' ich, ich stehle dem Sprechzimmer eine halbe Stunde und gehe mit Ihnen. Und Sie selbst, Henriksen, geht es Ihnen gut?”
„O ja, danke, Herr Doktor. Ja, es fehlt mir nichts.”
„Natürlich, wie ein Fels! Hat Ihre Frau nichts gesagt, bevor sie starb? Hatte sie nicht noch irgend etwas Intimes mit Ihnen zu besprechen? Das ist doch meist so.”
„Nein,” antwortet Henriksen und schüttelt den Kopf. [S. 177] „Sie meinen, ob sie mich gebeten habe, für die Kinder zu sorgen, für den Kleinen zu sorgen? Nein.”
„Wenn die Menschen sterben, haben sie einen Drang, für dies und jenes um Verzeihung zu bitten, sie können im geheimen etwas Unrechtes getan haben, einen Fehltritt oder so etwas. Sterbende haben mich bisweilen gebeten, ihre Bitten zu übermitteln.”
„Nein, o nein. Und außerdem hatte sie mich für nichts um Verzeihung zu bitten, o weit entfernt. Ich war auch leider nicht anwesend.”
„Ich habe gehört, sie habe nach dem Pfarrer verlangt.”
Ohne einen Schatten von Verdacht antwortet Henriksen: „Ja, sie hat wohl das Abendmahl nehmen wollen. Der Junge ist groß und prächtig, aus dem kann etwas werden; gewachsen ist er auch schon, obgleich er nur mit der Flasche aufgezogen wird, ein Schreihals und ein Zornickel ist er!”
„Aber er hat braune Augen,” sagt der Doktor.
„Ja, ist das nicht merkwürdig!” erwidert Henriksen. „Da hat sie nun alle die Monate hindurch diesem Kind braune Augen gewünscht, gerade wie dem vorhergehenden. ‚Wenn ihm nur Gott braune Augen schenken wollte, sie sind so sehr hübsch!’ sagte sie. Und da ist ihr dieser Wunsch erfüllt worden.”
„Nun, das war doch jedenfalls sehr gut,” sagt der Doktor mit einem erzwungenen Lächeln.
Aber Henriksen nahm es für echt: „Ja, nicht wahr? O, es war wohl so bestimmt! Ein Glas Wein, Herr Doktor? Vielleicht Sodawasser mit Whisky?”
Sie treten in die Stube und setzen sich, jeder mit einem Glas vor sich, und Henriksen trinkt gleich zwei. Er spricht von seiner Frau, von seiner Einsamkeit, die nicht zum Aushalten sei. Bei Tag und während der Arbeit, da gehe es noch an, aber wenn die Nacht komme, die Nacht —! Er ist äußerst freundlich und aufmerksam gegen seinen hochgeehrten Gast, allmählich sogar dankbar für dessen Hilfe — ja für alle Hilfe, die er geleistet hat.
„Es stand leider nicht in meiner Macht, Hilfe zu bringen,” erwidert der Doktor.
„Allerdings, aber Sie haben getan, was Sie konnten, das sag' ich gerade heraus. Sie sind ja auch oft hier [S. 178] gewesen, um nach ihr zu sehen, und haben Medizin verschrieben. Wir haben alles getan, was wir konnten, den Trost haben wir, daß es ihr von unserer Seite an nichts gefehlt hat. Aber nun war wohl ihre Zeit abgelaufen. Noch ein Glas, Herr Doktor?”
„Ich weiß nicht. — Ja, wenn Sie mir's anbieten.”
Henriksen strahlt. „Es ist mir eine Ehre, wirklich, es ist eine Ehre für mein Haus, das hätte meine Frau erleben sollen! Und nun möcht' ich gerne, daß Sie mir eine Rechnung schicken, Herr Doktor, eine ordentliche Rechnung. Doch, ich will es! Oder wenn Sie es mir jetzt gleich sagen wollten, nur die Summe, das genügt.”
„Das hat ja Zeit bis später.”
„Ach, alles, was getan werden konnte, ist getan worden, das ist mein Trost!” murmelt Henriksen, in tiefe Gedanken versunken. „Doch, ich will wirklich — lassen Sie mich lieber jetzt gleich —”
Henriksen steht auf und öffnet seine Schreibkommode, er kommt mit einem Geldschein zurück, einem großen roten Schein und reicht ihn dem Doktor hin: „Diesen hier, wenn es Ihnen so recht ist. Stimmt es einigermaßen, ist es genug?”
Der Doktor ist durchaus nicht geldgierig, nicht habsüchtig; was er verdient hat, ist verbraucht worden, ja, mehr als das, verbraucht für Essen und Trinken, für „Genüsse”, nein, er ist nicht so schlecht, daß er über den großen Schein in Verlegenheit geriete, diese Banknote, das ist ein Geschenk, und er erwidert: „Das ist zuviel, ich bekomme nicht soviel, die Hälfte genügt!”
Henriksen schüttelt den Kopf; er ist freigebig und gutherzig, und er will sich auch des Danks von des Doktors Seite würdig erweisen. „Nehmen Sie nur, Herr Doktor, es ist von ihr und von mir. Und dann reden wir nicht mehr darüber.”
„Ich bin jederzeit bereit, zu kommen, Henriksen. Zu dem Kleinen. Bei Nacht oder bei Tage, jederzeit!”
Der Doktor ging als ein junger Mann heimwärts. Was war geschehen? Seht, er hatte sich wehrlos gefühlt, und nun hatte er plötzlich eine Waffe in der Hand: „Bitte, Herr Konsul Johnsen, Sie haben mir eine Rechnung geschickt, ich hatte die Kleinigkeit vergessen, hier [S. 179] ist eine Bescheinigung von der Post über einen Geldbrief für Sie.”
Ja, er war froh, aber es kam nicht zu einer Umkehr bei ihm, nicht zu einem hohen Wogengang und einer Krisis vor Dankbarkeit. Das Leben war unverändert, die Feinde dieselben wie vorher, ein Zufall hatte ihn instand gesetzt, sinnlos und dumm über sie zu triumphieren, und darauf wollte er nicht verzichten. Er hätte nun in Johnsens Laden gehen und seine Schuld bei Berntsen begleichen können, aber er tut es nicht, dagegen reibt er sich die Hände beim Gedanken an den boshaften Brief, in den er das Geld einwickeln will, wenn er es abschickt.
Er hätte darauf verzichten sollen! Seht, da ist schon wieder einer von den Braunäugigen, es wimmelt von ihnen in der Stadt. Er hält den Jungen an und fragt: „Lieferst du mir nicht öfters Fische?”
„Doch, früher.”
„Hast du das Fischen aufgegeben?”
„Ja.”
„Was tust du jetzt?”
„Ich — ich soll zur See.”
„Aber was tust du jetzt? Du siehst so ungewaschen aus.”
„Jetzt im Augenblick bin ich beim Schmied, aber —”
„Aber dazu hast du keine Lust. Nein, geh du lieber zur See! Wie war dein Name?”
„Abel.”
„Sag deinem Vater — deinem Vater daheim — er soll einmal in meine Sprechstunde kommen. Ich hätte etwas mit ihm zu reden.”
Na, ungewaschen ist Abel seiner Lebtage gewesen, aber natürlich ist er beim Schmied nicht sauberer geworden.
Eigentlich war es gerade für ihn etwas Unnatürliches, in einer Schmiede zu stehen, an einem Lehmboden verankert zu sein, um den Blasbalg zu bewegen und auf das Kommando eines kleinwinzigen Vorhammers Eisen zu schmieden. Aber etwas mußte Abel ja tun, er war nun längst konfirmiert und dazu ein großer, starker Bursche geworden. Und da rief ihn eines Tages der Schmied Carlsen in die Schmiede herein und sagte: „Sieh her, kannst du nicht den großen Hammer nehmen und ein paar Schläge für mich tun?” Abel schlug, es war eigentlich ganz unterhaltend, hier zu stehen und seine Kräfte dazu zu gebrauchen, Sterne aus dem glühenden Eisen herauszuhämmern.
Abel hämmerte bis zum Mittag darauf los, da zog ihn der Schmied mit sich hinein und gab ihm zu essen.
„Da hab' ich nun diese eilige Arbeit,” sagte der Schmied, „kannst du mir auch heute nachmittag helfen?”
„Das kann ich gut,” erwiderte Abel.
Als es Abend war, bekam er wieder zu essen, und als er gehen wollte, eine Krone. „Du bist ein tüchtiger Mann gewesen,” sagte der Schmied, „könntest du nicht vielleicht auch morgen kommen?”
„Doch,” sagte Abel.
Er entschied das auf eigene Faust. Die Entscheidung lag immer bei ihm selbst — entweder hatte er nun diesen Zug von seinem Vater, von Oliver, oder er hatte ihn sich selbst zugelegt, weil er doch während der ganzen Zeit des Heranwachsens alles allein hatte entscheiden müssen.
Eine ganze Woche lang blieb er beim Schmied.
„Wo bist du denn jetzt im Augenblick?” fragte der Vater.
[S. 181] „Beim Schmied. Ich bekomme dort Kost und eine Krone am Tag.”
„Du Abel, du Abel!” sagte der Vater, und es war nicht ausgeschlossen, daß sich etwas Stolz in dem Herzen des Krüppels regte. „Willst du ganz beim Schmied bleiben?”
„Ganz? Nein. Nur während er die viele Arbeit hat.”
Aber Schmied Carlsen hatte wochenlang viel Arbeit, ja monatelang, und er hatte soviel zu schmieden und instand zu setzen und aufzuarbeiten, Abel mußte dableiben. Nicht daß er richtig in die Lehre da gegangen wäre und das Meer vergessen hätte, o nein, aber er hatte es gut beim Schmied und verdiente sich ordentlich etwas für Essen und Kleider; er brauchte beides notwendig.
Zwischen dem Schmied und dem Schmiedejungen herrschte ein freundschaftliches Verhältnis, bisweilen setzten sie sich mitten in der Arbeit zusammen und rauchten eine Pfeife, indem der Schmied behauptete, er fühle sich elend und könne nicht mehr so hart schaffen. Im ganzen genommen hatte Abel den Eindruck, daß es mit der Arbeit, die jetzt noch übrig war, nicht so sehr eilte; allerdings kamen ab und zu neue Aufträge dazu, aber nicht mehr, als der Meister hätte allein bewältigen können. Eines Abends sagte Abel, ob er denn wiederkommen solle? Der Schmied meinte, er höre nicht recht, es habe ja noch nie so geeilt mit der Arbeit wie am morgigen Tage.
Der Meister war Witwer mit erwachsenen und verheirateten Kindern, er war der Bruder des Polizei-Carlsen, ein Mann, der unverdrossen arbeitete und von Tag zu Tag sein Tagewerk leistete, nach mehr trachtete er nicht, so hatte er seine kleine Schmiede seit anderthalb Menschenaltern betrieben. Er hatte eine verwitwete Tochter bei sich, die ihm das Hauswesen besorgte. Bisweilen erzählte er von seinen Erlebnissen, lauter Kleinigkeiten, alltägliche Ereignisse; aber da er seine Schmiede niemals verlassen hatte, bekam jede Kleinigkeit eine übertriebene Bedeutung für ihn. Warum er es nicht ins Große getrieben hatte mit Gesellen und Lehrjungen? Er hatte sich keine Mühe darum gegeben, hatte nicht die Mittel dazu gehabt, nicht das Haus dazu, nicht einmal die Schmiede dazu. Die große Kinderschar hatte ihn auch allmählich daran gehindert, es ins Große zu treiben.
[S. 182] „Denk dir, fünf Mädchen,” sagt er, „fünf Stück nur Mädchen, und außerdem noch zwei Jungen!” Dann war ja noch ein Schmied draußen auf dem Lande, grad am Weg nach der Stadt, der tat alle Bauernarbeit, Hufeisen, Pflüge und Sensen. Carlsen war der Stadtschmied, er schmiedete kleine häusliche Sachen für die Familien und bisweilen — wie jetzt, wo er sich Abel zur Hilfe genommen hatte — auch größere Sachen für die Schiffe.
„O ja, wonach soll der Mensch trachten?” sagt Carlsen. „Ich hab' mich die ganze Zeit durchgeschlagen, mit dem da!” fügt er lächelnd hinzu und deutet auf den Hammer. „Mehr brauch' ich nicht, und mehr bin ich auch nicht wert. Über kurz oder lang muß ich sterben, genau wie mein Vater gestorben ist und wie meine Kinder sterben werden. Dann muß ich ja doch alles verlassen und wenn ich auch noch so viel hätte. Adolf ist auf der See, er ist in England verheiratet, er verdient nur gerade genug für seine Familie und hat nichts übrig, um nach Hause zu schicken, ich schreib' ihm jedesmal, ich könnt' ihm eher etwas schicken, wenn er in Not sei. Dann fährt und fährt er auf der See, und über kurz oder lang muß auch er sterben. Ja ja, kleiner Abel, den Weg müssen wir alle gehen. Siehst du, Adolf war der jüngste, es ist achtzehn Jahre her, seit er mit dem Schiff fortfuhr, und seither ist er nicht mehr daheim gewesen. Achtzehn Jahre sind eine lange Zeit, das ist vor deiner Zeit gewesen, er hat sogar seine Schiffskiste von deinem Vater gekauft. Er fährt und fährt auf dem Meere, und zum Schluß muß man sich hinlegen! Es ist sonderbar, wenn ich daran denke, er war so klein, als er hier in der Schmiede bei uns herumkrabbelte, es ist mir gar nicht, als sei es so lange her.”
Die Stimme des Schmieds versagt ein wenig, dann steht er auf, geht an die Bank am Fenster und starrt durch die undurchsichtigen Scheiben hinaus.
„Hm!” räuspert er sich und rafft sich zusammen. „Eigentlich sollte ich die Scheiben einmal abwaschen,” scherzt er. „Oder was meinst du, Abel? Es ist wohl vierzig Jahre her, seit sie das Tageslicht nicht mehr gesehen haben.”
Er lacht und setzt sich wieder zu Abel. „Ja, ja, ja, wahrhaftig. Und mein ältester Junge tat allerlei Arbeit ringsum im Lande. Er wollte nichts Festes betreiben, [S. 183] sondern von einem Ort zum andern wandern; auch das kann vielleicht ganz gut sein, aber ich weiß doch nicht. Er ist nie daheim, nein, er ist recht eigen, er hat sich in den Kopf gesetzt, er wolle nicht heimkommen, ehe er so viel Geld habe, um das Haus auszubauen, damit wir in die Höhe kämen; der Junge ist da draußen in der Fremde wohl immer noch verdrehter geworden. In die Höhe — meint er etwa, wir sollen fliegen? Ich möchte nur, ich könnte einmal nur eine Stunde lang mit ihm reden. Aber seine Schwester, sie, die bei mir ist, kommt ab und zu mit ihm zusammen, sie sind sehr gute Freunde, er spielt ihr auf der Mundharmonika vor. Als kleiner Bursche war er ein Meister auf der Mundharmonika, und jetzt soll er sogar noch besser spielen. Ist es nicht sonderbar, wenn ich so an uns alle denke! Erst kürzlich ist er mit seiner Schwester zusammen gewesen und hat ihr auf der Mundharmonika vorgespielt; aber er war so bärtig, daß sie ihn fast nicht erkannt hat, und er hatte auch schon einige graue Haare. Aber nein, er wollte nicht heimkommen; ehe er ein Geldmann geworden sei, würden wir ihn nicht zu sehen bekommen! Das ist doch eine Art Wahnsinn. Und dann kam er doch eines Tages in die Schmiede herein, schlug mit dem Hammer und trug Eisenstücke herbei und schwatzte mit sich selbst. Es ist noch nicht lange her, ich glaube erst einige Jahre. Und wo immer du ihn auf der Straße sahst, zog er seine Mundharmonika heraus und spielte ein wenig. Und seine Mutter steckte ihm ja, so lange sie lebte, oft eine besondere Portion Essen zu, weil er so in die Höhe schoß, und wenn er ein neues Kleidungsstück bekam, dann streckte er uns sein Händchen hin und bedankte sich. Hm!”
Der Schmied springt auf und macht sich zu schaffen: „Nein, das geht nicht an! Bist du bereit, Abel? Hehe, ja wir sind tüchtige Gesellen! So, nun zieh den Blasbalgen!”
Er scherzt und tut ganz lustig, aber er ist wohl eher alles andere, alt und müde, rührselig, verbraucht. Er hatte keine Kräfte mehr; Abel, der junge Kerl, konnte das doppelte Gewicht heben und den ganzen Tag aushalten. Was dem Alten half, war sein Handgeschick, die Übung, die Arbeit ging ihm leicht von der Hand; aber oft starrte [S. 184] er mit seinen matten Augen auf ein schweres Stück und scheute sich, es in Angriff zu nehmen.
O nein, er war sicher nicht lustig. Er hatte auch nicht die große Freude an seinen Kindern, nicht an allen. Über eine seiner Töchter war einstens viel geredet worden, jetzt war sie mit dem Kaspar verheiratet, der wegen ihrer „Weitschweifigkeit” den Dienst als Matrose aufgeben und auf der Werft Arbeit nehmen mußte. Jetzt war die Frau und das Gerede über sie verstummt, aber vor vielen Jahren, während der Mann draußen war, verließ sie ihr Haus und fuhr auch auf der See, fuhr frech dahin, fuhr lustig fort. O, sie war eine leichte Haut — der Mann und vielleicht noch mehr der Vater wurden damals allgemein bemitleidet.
Und doch — der Schmied Carlsen ist weit davon entfernt, ein trostloses Leben zu führen, er ist zufrieden mit seinem Los. Am Abend dankt er Gott für den vergangenen Tag, er ist verwundert, daß er so gut vorübergegangen und nichts Schlimmes geschehen ist. Wie leicht hätte ein Unglück passieren können! Nachher spaßt er wohl behaglich und schnurrig mit seiner Tochter: „Ja, wir zwei Männer haben heute wahrhaftig außerordentlich viel geleistet, aber was hast du getan? Ich seh' nichts davon, daß du dich hier gerührt hättest, die Stühle stehen noch ebenso heil, wie vorher.”
Sie lachen beide, und die Tochter sagt: „Aber ich hab' leider heute zwei Teller zerbrochen.”
„Ist das etwas?” sagt der Vater. „Wär' ich's gewesen, na, da hätt' ich ein Dutzend zusammengeschlagen.”
Wenn sie nun in so guter Laune sind, wagt es Abel aufs neue, zu fragen, ob er wohl morgen wegbleiben könne, ob er überhaupt noch zu kommen brauche? Aber da wird der alte Schmied ernst; er sieht den Jungen an und meint fast, das sei das Schlimmste, was er je von ihm gehört habe: ob er solche Eile habe, mitten in der strengsten Arbeit fortzugehen, und wohin er denn wolle?
Abel wollte sich verheuern.
Verheuern? Jetzt, so spät im Sommer, wo es dem Winter zugehe? Im Frühjahr sei die beste Zeit. Ob er nicht wenigstens noch einen Monat bleiben könne? Denn jetzt hätten sie ja die vielen großen Arbeiten; sie müßten [S. 185] Hauen und Minenbohrer für den Stadtingenieur machen, für Konsul Heiberg zwei Türschlösser instand setzen, für Henriksens auf der Werft eine neue Stahlfeder in den Kinderwagen einsetzen, für die Buttermaschine in Konsul Johnsens Landhaus eine neue Achse drehen, und für den Maler, der die Kirche malen sollte, alle möglichen Kloben schmieden. Das sei für lange Zeit die Arbeit von vielen Gesellen.
Abel blieb.
O, aber die See, es fehlte nur noch, daß er sie vergaß! Sein Kamerad Eduard, der nach den letzten Nachrichten in Südamerika war, der war nun schon zwei Jahre auf der See, und hier war Abel noch auf dem Festlande und stand in einer Schmiede! Nein, danke! Allerdings, ganz ohne Reiz war es nicht; er wurde tüchtig und ordentlich rußig dabei, die Leute konnten sehen, was er leistete, und es gab ihm ein gewisses Ansehen bei den andern Jungen von seinem Alter, wenn er mit klirrenden Eisenstangen auf der Schulter wie ein Erwachsener durch die Straßen schritt. Und mußten nicht die kleinen Jungen sich vor seinen Eisenstangen in acht nehmen und auf die Seite treten, um nicht aufgespießt zu werden?
Es war also gar nicht so schlimm. Dazu kam, daß Abel zu regelmäßigen Zeiten nahrhaftes Essen bekam, er schlief regelmäßig, er wuchs fest in einer besseren Lebensweise. War es nicht auch äußerst behaglich in diesem Handwerkerheim, wo alles an seinem Platz war, der Fußboden sauber, blühende Fuchsien am Fenster! Am Sonntag zog der Schmied einen guten Anzug an und wanderte langsam in der Stadt und in Feld und Wald umher. In die Kirche pflegte er nicht zu gehen, aber er war ein redlicher, frommer Mann mit tausend Sünden, die er bereute, und tausend Wohltaten Gottes, über die er sich freute. Alles war unverdient gut.
Eines Sonntags trifft ihn Abel auf der Straße. „Komm ein Stück mit!” sagt der Meister. „Wohin willst du?”
O, Abel wollte nirgends hin, er trieb sich nur herum, er war einsam, Klein-Lydia war ihm ganz aus dem Gesicht gekommen. Na, Glück auf die Reise! Und jetzt hätte sie es so gut haben können, er wendete den Kopf nicht mehr nach ihr um! Ihr Bruder Eduard war einmal [S. 186] sein guter Freund gewesen, aber nun war wohl auch er hochmütig geworden, er schrieb niemals ein Wort an Abel, und jetzt war er in Südamerika. Aber wo sollte Abel dann an einem Sonntag hingehen? Daheim konnte er jedenfalls nicht sitzen bleiben, sauber gewaschen, in seinem neuen Anzug und mit einem blanken Messer in glänzender Scheide, das er sich gekauft hatte; sein Bruder Frank war auf der höheren Schule und nie daheim, und Oliver, sein Vater, war zwischen die Scheren hinausgerudert, was er ohne Ausnahme an allen Sonntagen tat; er ließ nicht davon ab, auf Abenteuer auszugehen. Nein, Abel wollte nirgends hin. Aber er kannte im Ödland einen guten Platz, wo es Kreuzottern gab, und nun war er wohl auf dem Wege dahin, um einige zu erlegen. Älter war er nicht, ein Junge war er noch immer.
Oder hatte er auf den Schmied gewartet? Es müßte denn sein, damit ihn gewisse Leute in geachteter Gesellschaft sehen sollten. Wenn sie am Stubenfenster saß, und er ging mit dem Meister vorbei, so schadete das gar nichts. Aber sie konnte es dabei genau so halten, wie sie selbst wollte — wie heißt sie nur gleich? Klein-Lydia — na, jedenfalls ging er ganz wie ein Schmiedsgeselle und unentbehrlich für Carlsen vorüber ...
Als sie Fischer Jörgens Haus hinter sich haben, merkt der Schmied allmählich, daß er ganz allein spricht und Abel ihm nicht antwortet. Der Schmied hatte zwar nicht mit einem blitzschnellen Seitenblick nach einem gewissen Fenster etwas entdeckt und dadurch heftiges Herzklopfen bekommen, aber er fühlt, daß er für Abel ein zu alter Gefährte ist. Lächelnd sagt er: „Ja, jetzt danke ich dir für die Begleitung, Abel, ich muß diesen Weg hier einschlagen.”
Abel geht nach den Kreuzottern. Auf einem steinigen Abhang pflegten viele zu sein; sie lagen da auf dem Geröll und sonnten sich in aller Behaglichkeit, Abel und andere Jungen hatten im Lauf der Jahre gar oft Jagd auf sie gemacht. Mit dieser Jagd war Gefahr und Ehre verbunden; in den Schultagen stand man in großem Ansehen dafür.
Als er in die Nähe des Abhangs kommt, hört er lautes Rufen und Geschrei von anderen Jungen, die schon vor [S. 187] ihm dort sind; da geht er nicht weiter. Nein, denn das sind natürlich noch Kinder, achtjährige, und die sind so dumm. Verständige Leute schreien nicht auf der Kreuzotterjagd, sondern halten den Atem an und treten so sachte auf wie auf Rosenblätter.
Was jetzt? Jenseits des Hügels weiß er einen Platz, wo ein gutes Echo ist, dorthin lenkt er seine Schritte; ein Junge ist er eben doch noch.
Hier ist es still und abgelegen und keine Menschenseele weit und breit. Er ruft — ja, das Echo ist da. Aber eigentlich ist er mit viel wichtigeren Dingen beschäftigt, als ein Echo zu probieren, er wirft sich ins Heidekraut und lebt in Gedanken den Vorgang bei einem gewissen Fenster noch einmal durch. Na, was hatte er im großen und ganzen mit diesem Einfall erreicht? Das Messer mit der neusilbernen Scheide hing auf der richtigen Seite und glänzte sehr schön, aber hatte sie es auch gesehen? Und außerdem hätte die Gestalt hinter den Scheiben gut eine von ihren Schwestern und nicht sie selbst sein können. Nichts war entschieden.
Abel bleibt lange liegen und erlebt das Vorkommnis wieder und wieder; er überlegt alle Möglichkeiten, bisweilen droht sein Herz auszusetzen, so heftig klopft es vor lauter Glück, bald kriecht er zusammen vor Entzücken, bisweilen ist er hoffnungslos, und dann richtet er sich trotzig auf mit einem lauten: „Na, Glück auf die Reise!”
„Reise!” äfft das Echo nach.
Er ruft: „Jawohl, Glück auf die Reise!”
„Auf die Reise!” erwidert das Echo.
Er ruft deutlicher und lauter, er buchstabiert es dem Echo vor und bringt es dazu, jedes einzelne Wort zu sagen. Das beschäftigt ihn eine Weile; aber ins Endlose kann er sich ja nicht mit diesem Papagei in den Bergen unterhalten, dagegen versinkt er in Gedanken über das Echo selbst, dieser Sprache ohne Mund, diesem Laut ohne Stimmwerk, dieser Bauchrednerei aus einem Scheinbauch, der sich vielleicht jenseits der Grenzen des Lebens befindet. Abel hat sich daran gewöhnt, das, was ihm selbst begegnet, sowie auch das, was ihm auf seinem Wege begegnet, einer notdürftigen Untersuchung zu unterwerfen; niemand hat es ihn gelehrt, niemand seine Überlegung dazu entwickelt, [S. 188] nur er selbst. O, er verbrachte wahrlich manche behagliche Stunde in seiner eigenen Gesellschaft! Früher wandte er sich wohl an seinen Vater und fragte ihn nach den erstaunlichsten Dingen, und Oliver war nicht der Mann, der einer Untersuchung solcher Fragen aus dem Wege ging, denn er war ja weit in der Welt herumgekommen. Aber in der letzten Zeit, und besonders, seit seine unglückliche Neigung zu Klein-Lydia übermächtig in Abel geworden war, suchte er lieber die Einsamkeit auf und schlug sich mit den Fragen allein herum. Der Schmied Carlsen hatte auch auf ihn eingewirkt, des alten Mannes weise Einfalt und Milde tat ihm gut, und seine Fröhlichkeit ermunterte ihn.
„Bumm!” ruft Abel wie ein Schuß.
„Bumm!” antwortet das Echo.
Eine ganz kurze, dröhnende Antwort, es klang wie ein ferner Knall. Es ist merkwürdig, Abel plagt sich ordentlich mit der Aufgabe, ja, sie dreht sich tüchtig mit ihm im Kreise herum; das soll der Kuckuck verstehen! Abel ist von Rätseln und unbegreiflichen Vorgängen umgeben; da ist er ausgegangen, Kreuzottern aufzuspüren, und ganz richtig, dann hört er zum Beispiel ein Echo. Auch dieses Zurücktönen ist unbegreiflich und geheimnisvoll, auch darüber könnte er bis zum Abend nachgrübeln. O, er kann grübeln! Das ist nicht eine Art Eßlust oder ein Negersport oder ein Versuch, Geld zu verdienen, Gott bewahre! Aber was es nun auch sein mag, Klein-Lydia versteht jedenfalls nichts davon, sie sitzt jetzt wohl daheim und schaut durchs Fenster hinaus, aber sie sollte nur wissen, wie dumm sie ist! Er sieht große Ebenen mit Vieh darauf, sieht Berge, Wälder, Meere, Unendlichkeiten, Jahrhunderte. —
Hat er geschlafen?
Er richtet sich auf, räuspert sich, gähnt, schlägt mit den Armen um sich und reckt sich. In demselben Augenblick hängt etwas baumelnd zu seinem Jackenärmel heraus, ein dunkles Tauende mit einem aufgesperrten Maul, ein langes Tier, das sich blitzschnell ins Heidekraut hineinschlängelt. Ho — hier schreit man nicht und rafft die Kleider zusammen vor Mäusen, man ist in einer Sekunde auf den Beinen und hinter dem Ausreißer her, findet ihn, tritt ihn nieder, zerschmettert ihm den Kopf. Getan!
[S. 189] O, aber wer hat es gesehen? Der Himmel und die Erde, niemand. Die Tat ist umsonst getan.
Er hebt das Tier am Schwanz auf und nimmt es mit, er will es unterwegs einem Ameisenhaufen zum Geschenk machen. Es ist ein prachtvolles Exemplar, gestreift, auf dem Rücken gekreuzt, eine Schönheit, o, so ekelhaft! Er findet keinen Ameisenhaufen, und so schleift er das tote Biest weiter mit, es begegnen ihm auch keine Menschen, nicht einmal ein Kind.
Allmählich wird es Abel langweilig, es ist doch weit bis ins Städtchen. Plötzlich fühlt er einen Stich in der Hand, in der rechten Hand, die die Schlange trägt, und als er nachsieht, ist die Hand dunkel und geschwollen, er ist also vorhin doch gebissen worden. Und da war man wieder kein Jüngferchen, das aufschreit und in Tränen ausbricht; obgleich kein Mensch zusieht, führt man sich doch wie der Mann von Eisen auf, der man ist. Abel läßt die tote Schlange los, sucht nach der Wunde und fängt an sie auszusaugen. Er kann das, er hat es früher auch schon getan. Merkwürdig, daß er den Schlangenbiß selbst nicht gefühlt hat, jetzt hat er das Gift schon mehrere Minuten im Körper, und da wird es immer schwieriger, es durch Aussaugen allein herauszuholen. Als er weitergeht, nimmt er die tote Schlange mit.
Die Stiche in seiner Hand verstärken sich, na, dies ist jedenfalls ein Sonntag ohne Einförmigkeit. Ab und zu betrachtet er seine Hand, die nicht weißer werden will, betrachtet die Wunde — ein lächerlich kleiner Biß, kaum der Mühe wert. Aber allmählich, während er so dahinwandert und die Hand nicht besser wird, sieht er sie ungeduldig noch einmal an, gründlich, wie um zu untersuchen, ob es wirklich eine Wunde ist, und zwar seine Wunde. O ja, ein Irrtum ist ausgeschlossen, und es ist ihm nicht unwillkommen, daß eine kleine Strecke vor ihm ein Mensch sichtbar wird. Abel saugt im Weitergehen an der Wunde.
Er legt die Hand mit der Schlange auf den Rücken, um den Menschen nicht zu erschrecken. Der Schmied Carlsen sitzt da am Rain. Hierher ist er also gegangen, da sitzt er einsam auf einem Stein, die Hände um seine erloschene Pfeife gefaltet.
[S. 190] „Bist du wieder da, Abel?” sagt er. „Ich sitze hier ganz müßig, betrachte die Berge und Täler und muß mich verwundern, baß verwundern. Siehst du den Berggipfel dort, die Felsenkuppe? Hehe, ein gewaltiger Kerl, sieh nur alle die Steine, mit denen er sich behängt hat! O wie schön ist die Welt! Willst du nach Hause gehen?”
„Ja, nach Hause,” sagt Abel und nickt. Aber da habe er ja die Schlange, und er sei auch ein wenig gebissen worden —
Der Schmied springt auf, alt, verwirrt, zitternd.
„Neinneinnein —”
„O, es ist nicht gefährlich,” erklärt Abel.
Aber wie dieses Mitgefühl wohltut, älter ist man nicht, wenn man noch ein Junge ist; diese Verwirrung und dieses Entsetzen bei einem andern Menschen zum Vorteil für einen selbst ist geradezu köstlich, das Herz schwillt einem dabei, und man lacht, um sich als Mann zu zeigen, man sagt, ach was, es sei doch gar nichts, der Meister solle nur so gut sein und ihm das Handgelenk zuschnüren, etwas weiter oben, so, ja —
Sie gehen heimwärts. „Ich hab' noch keinen so kaltblütigen, standhaften Menschen gesehen wie dich,” sagte der Schmied. „Und tut es nicht weh?”
„Nein, keine Spur, nur ganz wenig.”
Abel macht einen Umweg, um einen Ameisenhaufen zu suchen, den er von seinen Streifereien her kennt; der Schmied schüttelt zwar den Kopf, geht aber mit. Von dem Ameisenhaufen begleitet er ihn nach Hause, der Alte ist wahrlich etwas stolz auf den Jungen, er zeigt ihn dem und jenem, der ihnen begegnet, und erregt großes Entsetzen.
Sie gelangen in die Stadt, und der Fischer Jörgen steht unter seiner Tür. „Da, sieh mal dem Jungen seine Hand!” sagt der Schmied eifrig. Aber Abel, von all der Ehre stolz geworden, hält vor dieser Tür nicht an, gerade vor dieser Tür nicht, er lächelt nur und geht vorbei. Und der Schmied ruft ihm nach, ihn zur Eile antreibend: „Ja, geh nur rasch! Und geradeswegs zum Doktor! Sofort!”
Abel ist eigentlich in kalten Schweiß gebadet und fühlt sich sehr elend, aber er ist überglücklich. Seht, nun bleiben die Menschen beieinander stehen und erzählen sich von [S. 191] ihm; gewisse Leute sollen nur erfahren, wie sich ein Mann von Eisen bei einem Schlangenbiß benimmt!
„Hab' ich nicht deinem Vater durch dich eine Aufforderung, hierherzukommen, geschickt?” fragt der Doktor.
„Ich weiß nicht.”
„Sag ihm, er soll sofort kommen! Sonst wird er geholt. Sag ihm das! Laß mich deine Hand sehen! Pfui, wie sieht sie aus!”
Der Doktor versteht sich auf seine Kunst; jeden Sommer hat er Kreuzotternbisse zu heilen, und noch nie ist jemand daran gestorben. „Aber dies ist ein besonders schlimmer Fall,” sagt er jedesmal; das macht den Kranken sehr stolz, er kann jedermann erzählen, daß er am Rande des Grabes gewesen sei. Hier jedoch sagt der Doktor mehrere Male, es sei ein sehr gefährlicher Fall.
Nein, Oliver ist nicht der Mann, der gleich läuft, wenn ein Doktor ruft, er ist eine wichtigere Persönlichkeit. Seine Stellung als Lagerhausvorsteher stellt ihn in die Klasse der besseren Leute, auf die gleiche Stufe mit den Ladenangestellten von Johnsens am Landungsplatz, ja, mit dem Geschäftsführer Berntsen. Und Oliver ist sogar noch eine Spur vornehmer, er läuft nicht für die Kunden auf den Bodenraum und in den Keller, sondern er ist ortfest, und das ist gerade eine passende Stellung für einen Mann wie Oliver.
Er hat sein richtiges Fach gefunden, o, es ist ausgezeichnet, so einem Lagerhaus vorzustehen, beim Kommen und Gehen von den Leuten gegrüßt zu werden, Kost und Kleidung zu verdienen, Zeit zu haben, sich im Spiegel zu beschauen und hübsch auszusehen. Daneben kann er seine persönlichen Liebhabereien pflegen, Sonntags fährt er regelmäßig zwischen die Scheren hinaus, er schaut sich um und träumt und sehnt sich, Gott mag wissen, wonach, vielleicht nach einem besseren Leben, einem neuen Jerusalem, und er kehrt von diesen Ausflügen mit dem und jenem heim, was er gefunden hat: einen Relingbalken, einige unerlaubte Möweneier oder das kostbarste und unerlaubteste von allem, eine Hand voll Eiderdaunen. Nie ist er dabei ergriffen worden, niemand kleidet einen Krüppel bis auf die Haut aus, um eine Tüte Eiderdaunen auf seinem bloßen Körper zu suchen. Und Oliver hat nun im Laufe der Jahre wahrlich viel Eiderdaunen gesammelt, die Frage ist nur, wie er sie absetzen soll. Aber selbst wenn er sie nie in Geld umsetzen kann, will er doch weiter sammeln, diese Art Ware kann er nicht sehen, ohne sie besitzen zu wollen.
Daheim geht es auch besser, die Jahre müssen seine Frau zahmer gemacht haben, sie hat mehr Geschmack am [S. 193] häuslichen Leben und Kaffeetrinken bekommen, und den Kaffee können sie ja verhältnismäßig billig haben; jetzt braucht Oliver nicht mehr so oft mit dem Fischmesser im Ärmel hinter ihr herzuschleichen. Sie war zwar noch oft unverträglich, jawohl, das war sie, sie schnaubte noch oft höhnisch mit den leichtbeweglichen Nasenflügeln und witterte gleichsam in der Luft. Petra hatte es nie gut genug und hatte auch nie genug, sie war ein unglückliches Geschöpf, ungenügsam von Geburt an, habgierig von Geburt, im Unterschied von Oliver, der sich an dem weniger Guten genügen ließ, ja, sich sogar an ihr genügen ließ. Darüber konnte kein Zweifel herrschen, Petra war in ihrer Art ein Teufelsweib. O, aber solange sie nicht ausschweifend war — und sie war ja nie ausschweifend, sie übertrieb es nicht, die Unbeteiligten mochten sie anstarren, sie hatte nur einmal ein blauäugiges Kind bekommen. Alles in allem konnte Oliver zufrieden sein, sie war jeden Tag für ihn da, er wärmte sich bei ihr, aß seine Mahlzeiten an ihrer Seite und lag in ihrem Bett, ihr Atem ging im Schlaf über ihn hin. Seht, das war gar nicht so wenig! Und jedenfalls war sie seine Frau und nicht die eines andern, so weit man es wußte.
Ist sie nicht hübsch? Gewiß, gut gebaut, von anziehendem Wesen, von üppiger Fülle, mit etwas Schwelgerischem — sonst hätte er sie gar nicht genommen, wohlgemerkt! Aber sie ist nicht gegen alle Winde gefeit; wäre nur der Schreiner Mattis fort und aus dem Wege, dann hätte Oliver ruhig sein können! Gegen alle Winde, sie? Petra, die sogar dem Scheldrup Johnsen eine Ohrfeige geben konnte! Als ob sie jeden einladen und sagen würde: „Komm, wir wollen ein wenig üppig sein und lasterhaft und ausschweifend!” Nein, nein, keine Spur! Sie war eher wie ein Altarbild; ach du lieber Gott, am Sonntag trug sie ein goldenes Kreuz, das sie sich erhandelt hatte, an einem Samtband um den Hals. Und niemand wäre etwas so Unsinniges eingefallen, daß sie leichten Kaufes zu haben wäre. O keine Spur!
Petra war in ihrer Art die richtige Frau für ihn, Oliver, sehr oft wünschte er sich gar keine andere. Die braunäugigen Kinder? Allerdings, dieses Mädelchen war ihm ein Strich durch die Rechnung, und mehrere Monate [S. 194] lang hielt es seinen Verdacht in heller Lohe; aber weichlich und weibisch, wie er geworden war, konnte er dem Kinde nicht auf die Dauer widerstehen, das tägliche Leben führte das Mädelchen zu oft in seine nächste Nähe; wenn niemand anders anwesend war, mußte er es wiegen. Und dann wurde sein Verdacht sozusagen geprellt: er hatte eine Pferdenase in dem kleinen Gesichtchen erwartet, aber das Kind wuchs heran und bekam eine außergewöhnlich hübsche Nase. Das mochte der Kuckuck verstehen. In jener Zeit besprach Oliver die Sache mit dem und jenem: daß er plötzlich der Vater eines blauäugigen Kindes geworden sei, während die andern Kinder braune Augen hätten, wie denn das zu verstehen sei? Er bekam ausweichende Antworten, der Fischer Jörgen verwunderte sich überhaupt nicht darüber, o man könne sonderbarere Sachen sehen, und im übrigen sei in der Natur vieles verborgen.
Oliver ist also den Umständen angemessen ein ganz glücklicher Vater. Aus solchen Kindern wurde gewiß etwas. Es gab nicht viele, die es besser hatten, und wenn er alt und von der Arbeit im Lagerhaus abgearbeitet war, würden seine Kinder erwachsen sein und ihm helfen. Von Abel erwartete er vielleicht nicht sehr viel, aber von Frank — o, Frank ging in die höheren Schulen und wurde gelehrt, und mit der Zeit würde er eine hohe Stelle bekommen. Er war jetzt schon Student und studierte immer weiter.
Und schließlich noch eins: es war gar nicht so ohne, daß Johnsen am Landungsplatz Doppelkonsul war, Oliver rechnete sich das zur Ehre. Es hieß, Grütze-Olsen wolle jetzt auch einen Lagerhausvorsteher halten, nur um groß zu tun, und Martin auf dem Hügel, der alte Fischer, lauere auf die Stellung. O, bitte, nimm sie nur, auch Grütze-Olsen ist Konsul und ein reicher Mann, vielleicht hat man es bei ihm auch gut. Aber ist er zweimal Konsul? Hehe! Martin auf dem Hügel, du erreichst gerade die Hälfte, aber bitte!
So vergehen die Tage, und so vergehen die Jahre, und Oliver lebt so gut er kann und wandert auf seinem Wege dahin, wie wenn er gar nicht ein Krüppel mit nur einem Bein wäre. Nun hat er achtzehn Jahre lang den Menschen gespielt so gut wie irgend sonst jemand, ja besser als sonst irgendeiner.
[S. 195] An einem Samstagabend bürstet Oliver seinen Rock und seine Schuhe und macht sich zum Heimgehen bereit. In der letzten Zeit zeigt er eine wahrhaft rätselhafte Vorsichtigkeit. Warum er das nur tut? Er guckt auf die Straße hinaus, und da er den Doktor erblickt, zieht er sich zurück und wartet. Warum meidet er den Doktor, während alle andern es für eine Ehre halten, wenn sie auf der Straße von ihm angehalten werden?
Der Doktor geht mit dem Postmeister, dem er sonst immer eilig ausweicht, hin und her, sie gehen bis zu Davidsens Kramladen und wieder zurück, mehrere Male, Oliver ist eingesperrt. Lauert der Doktor dem Krüppel geradezu auf? Denn er kann ihn doch wohl nicht persönlich in einem Lagerhaus aufsuchen. Oliver hört Bruchstücke von des Postmeisters Worten, versteht aber keine Silbe; der Doktor versteht wohl alles, aber er scheint nicht aufmerksam zuzuhören, nein, er scheint viel eher den Postmeister als Vorwand zu gebrauchen, um hier lauern zu können. Das ist nicht fein.
Oliver ist also das Merkwürdige begegnet, daß der Doktor zweimal nach ihm geschickt hat, und er versteht vielleicht nicht, was es bedeuten soll. Oder wie? Oliver hat die Neugier und Verschlagenheit eines Frauenzimmers, und er fragt sich, ob diese Aufforderung wohl irgendwie in Verbindung mit Konsul Johnsen stehen könne? Er hat es sich überlegt, in aller Untertänigkeit ein Wort darüber beim Konsul fallen zu lassen: er sei ein geringer, ungelehrter Mann, der Doktor habe ihn aufgefordert, zu ihm zu kommen, was das denn zu bedeuten habe?
Der Konsul weist es sofort mit verwundertem Lachen zurück und sagt: „Was weiß ich davon?” Aber plötzlich wird er nachdenklich und fragt: „Hat er dich auffordern lassen?”
„Ja, zweimal.”
„So. Was will er von dir?”
„Ich weiß es nicht.”
„Kümmere dich nicht darum!”
Danach hat Oliver gehandelt und sich bis jetzt nicht darum gekümmert.
Aber nun geht der Doktor da draußen auf und ab und scheint ihm aufzulauern.
[S. 196] Der Doktor unterhält sich gewiß nicht gut, er wirft nur ab und zu ein Wort ein, hauptsächlich wenn ihnen jemand begegnet, wo er sich wichtig machen will, da richtet er eine richtige Frage an den Postmeister. Wenn Oliver etwas davon verstanden hätte, wäre folgendes Gespräch gewiß nützlich für ihn gewesen.
„Ja, es war wegen der Nachkommenschaft. Sie haben nicht darauf geantwortet.”
„Ich bin wohl nicht ganz verständlich gewesen,” sagt der Postmeister. „Ist es nicht so, daß sich die Eltern, wenn ihre Kinder groß geworden sind, weiter nicht mehr besonders um sie kümmern, sondern wieder mehr um deren Kinder, die Enkel? Dies würde auf einen in den Menschen niedergelegten Keim deuten, auf die endlose Fortsetzung.”
„Andererseits, ist es nicht ein wenig sorglos von diesem in den Menschen niedergelegten Keim, unaufhörlich Kinder gebären zu lassen, zum ärmlichsten Dasein, zu Schande und Untergang? Wenn sie wenigstens alle in guten Heimstätten geboren würden!”
„Ich weiß nicht, ob die Frage so gestellt werden kann,” erwidert der Postmeister. „Es kann ja sein, daß man zu dem Schicksal geboren wird, das man sich in früheren Erdenleben verdient hat. Es gibt etwas, was auch darauf hinweist: manche Kinder werden in den besten Häusern erzogen und mißraten, andere Kinder kommen in verkommenen Heimstätten zur Welt und werden prächtige Menschen, sie erziehen sich selbst. Auch hier in der Stadt ist wohl kein Mangel an solchen Beispielen. Das Leben ist eine Vermengung, ein einziger Wirrwarr von solchen Fällen, unsere Logik reicht nicht hin, sie zu erklären.”
„Doch lassen wir die Logik walten, sonst wird ja alles leeres Geschwätz, entschuldigen Sie! Jetzt eben haben Sie gesagt, daß Kinder aus den besten Familien mißraten können. Ganz richtig. Und zugleich sollen sie sich in früheren Erdenleben ihr Schicksal verdient haben. Dann hätten sie sich doch hinaufgedient und verdient, in besseren Familien geboren zu werden. So meinen Sie es doch wohl?”
„Warum nicht? Es ist ja nicht gesagt, daß eine gute Familie und zeitliches Wohlergehen das beste, daß ein [S. 197] Leben ohne Qualen das beste sei. Sehen wir nach der andern Seite; manche können durch Leiden geradezu aufrecht erhalten und ernährt werden, sie können ihr Glück im Leiden finden.”
Der Doktor konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken, es war schwer, hier auf und ab zu gehen und höflich zu sein, seinem eigenen Besten gerade entgegen. Er sah auf seine Uhr, drehte jäh wieder nach Davidsens Haus um und machte ein paar rasende Schritte; aber der Postmeister ging mit. Als sie wieder zurückkamen, hatte das Gespräch eine andere Wendung genommen, der Postmeister hält jetzt eine soziale Rede.
„Natürlich ist es der arbeitende Mittelstand, der das Leben am Aussterben verhindert, ich begreife nicht, wie da jemand widersprechen kann. Es ist nicht nur die Masse, obgleich sie es ist, die sagt: wir Arbeiter! O, die Masse, sie hat die Kunstgriffe gelernt, sie kann ihr Radaublatt lesen und hat den Gedankeninhalt bekommen, den sie braucht. Wir Arbeiter! Ist damit der Bauer, der Fischer gemeint? Nicht wahr, damit ist niemand anders gemeint, als der Industriearbeiter? Er ist der, der so laut schreit. Erinnern Sie sich, Herr Doktor, daß Sie und ich eine Zeit erlebt haben, wo es keine Industriearbeiter bei uns gegeben hat, wo aber jedes Haus seine Industrie hatte? Das Leben war damals nicht so ausgefüllt, daß wir nicht noch Zeit hatten, den Sonntag zu feiern, die Lebensweise war einfacher, die Zufriedenheit größer. Dann bekam die Mechanik die Herrschaft, die Massenproduktion nahm ihren Anfang, der Industriearbeiter erstand — zum Vorteil und zur Freude von wem? Für den Fabrikanten, für den Arbeitsherrn, für niemand anders. Er wollte mehr Geld verdienen, er und sein Haus wollten größeren irdischen Luxus genießen, er glaubte nicht, daß er sterben müsse —”
„Nein, hören Sie,” sagt der Doktor lächelnd, „setzte er nicht viele Leute in Tätigkeit, schaffte er nicht Brot für hungernde Magen?”
„Brot? Sie meinen Geld zu Brot. Er verschaffte ihnen Fabrikarbeit — aber der Boden des Landes liegt unbebaut da. Ja, das tat er. Er lockte die Jugend von ihrem natürlichen Platz im Leben weg und nützte ihre Kräfte zu seinem eigenen Vorteil aus. Das tat er. Er [S. 198] stiftete einen vierten Stand in eine Welt hinein, die schon vorher zu viele Stände hatte, eine ganze Klasse Industrieleute, die unnötigsten Arbeiter des Lebens. Und dann sieht man, was für ein menschliches Zerrbild so ein Industriearbeiter wird, wenn er die Kunstgriffe der oberen Klasse gelernt hat: er verläßt das Boot, verläßt den Acker, verläßt Heimat, Eltern, Geschwister, verläßt das Vieh, die Bäume, die Blumen, das Meer, den hohen Gotteshimmel — dafür bekommt er Tivoli, Vereinshaus, Kneipen, Brot und Zirkus. Dieser guten Dinge wegen wählt er das Proletarierleben. Und dann brüllt er: Wir Arbeiter!”
„Also keinerlei Industrie?”
„Wie? Gab es denn vorher keine Industrie?”
„Aber also keinerlei Fabrikbetrieb?”
„Was soll man darauf sagen? Wir können uns einige wenige Ausnahmen denken.”
„Also doch!”
„Zum Beispiel die Fabrikation von Fensterglas.”
„Hahaha!”
„In heißen Gegenden ist diese Ware unnötig, aber in unserem Klima brauchen wir sie. Das hab' ich gemeint.”
„O, dafür brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen, daß wir Menschen unter anderem auch Fensterglas brauchen.”
Der Postmeister war bisweilen recht hilflos, sehr wenig gewandt, er kam dadurch öfters in die Klemme. Bei einer Gelegenheit gebrauchte er die Redensart: „Die Letzten werden die Ersten sein!” Ein junger Rechtsbeflissener, der beim Hardesvogt angestellt war, kam gerade vorüber, und da fragte der Doktor eben boshaft, ja, wie wenn es ihm ein Rätsel wäre: „Aber was in aller Welt sollen dann die Ersten werden?” Der Postmeister antwortete wieder ganz treuherzig: „Die Ersten werden die Letzten sein.”
„Hahaha!” lachte der Doktor wieder. „Ei, zum Henker! Aber sagen Sie mir, Herr Postmeister, wie können Sie nur immer bei allem so glücklich sein?”
Der Postmeister versteht jetzt wohl, daß er zum besten gehalten wird, und er erwidert: „Ich bin es nicht immer und nicht bei allem.” Dann schwieg er.
„Es muß Angewohnheit sein,” sagt der Doktor. „Sie können das Glück nicht entbehren. Wir andern aber von [S. 199] dieser Welt, wir müssen ohne es leben. Natürlich ist es eine Angewohnheit.”
Der Postmeister war schweigsam. Der Doktor mußte seine Zuflucht wieder zu der Frage über die Nachkommenschaft nehmen, um ihn zum Sprechen zu bringen. Und hier wollte der Postmeister nicht auf sich herumtreten lassen, er machte unerwartet Halt. „Waren nicht Sie es, Herr Doktor, der damals die Liebe nannte? Was verstehen Sie darunter? Sie hätten Triebleben, tierische Funktion sagen sollen, sie hätten Liederlichkeit sagen sollen, o, aber auch diese so klug, so vorbeugend, so kinderlos wie nur möglich.”
„Ei du große Zeit!” rief der Doktor verwundert aus. Dann wurde er wieder der überlegene Mann und zeigte keine Lust zum Disputieren. Er sah auf seine Uhr. Plötzlich war der Postmeister nicht mehr für ihn da, er rief nur ins Lagerhaus hinein: „Komm heraus, Oliver, ich will mit dir reden!”
Als ob Oliver gleich käme, wenn ein Doktor rief! Er blieb in seinem Versteck im Lagerhaus sitzen, bis der Doktor fort war, dann schloß er ab und ging.
Aber er sollte diesem Zusammentreffen doch nicht entgehen; der Doktor paßte ihn in der ersten Querstraße ab, griff sogar mit einem Finger nach seinem Hut und sagte in ganz verändertem Tone: „Guten Abend, Oliver, gut, daß ich dich treffe, kannst du mit mir in mein Sprechzimmer kommen?”
Oliver ging mit; ob er nun seiner Neugier nachgab, oder ob er sich die Sache vom Hals schaffen wollte?
„Hast du etwas dagegen, wenn ich deine Hüfte untersuche?” fragt der Doktor.
„Wie —?”
„Es ist der Wissenschaft wegen. Du bist ein gutes Objekt. Zieh dich aus!”
Oliver zögert.
„Es wird bald geschehen sein, fünf Minuten genügen, ja, zwei Minuten. Ich will mir nur deine Hüfte ansehen. Tut sie dir nie weh?”
„Nein.”
„Nun laß mich einmal sehen!”
Nein, Oliver wollte nicht. Es sei Samstagabend, er müsse jetzt nach Hause.
[S. 200] „Was ist das für ein Geschwätz, zwei Minuten!”
Oliver weigerte sich, o nein, so weit war er gegangen, weiter ging er nicht. Der Doktor stand allerdings in hohem Ansehen in der Stadt, aber die Geschichte mit dem schwedischen Matrosen hatte es nicht gerade erhöht, im Gegenteil. Immerhin würde ihm wohl Oliver nachgegeben und sich ausgekleidet haben; aber er schien sich davor zu fürchten, er mußte einen besondern Grund haben, es nicht zu tun. Was hatte er nur? Sein Gesicht trug jetzt den bösen, verschlagenen Ausdruck, er sah den Doktor langsam an und sagte: „Nein, das tu' ich nicht.”
„Du bist ein Dummkopf,” sagt der Doktor. „Du hast auch keinen Bartwuchs mehr, woher kommt denn das? Und du wirst fett und glatt wie ein Frauenzimmer.”
„Mir fehlt nichts,” sagt Oliver.
„Gerade das wollte ich ja untersuchen. Du solltest nicht dabei verlieren, ich wollte etwas ins reine bringen, den Unterleib, es ist in einer einzigen Minute geschehen.”
„Nein, ich tu' es nicht.”
Der Doktor gab es noch nicht auf: „Wie bist du denn damals zu Schaden gekommen?”
„Eine Trantonne kam auf mich zugestürzt.”
„Das versteh' ich nicht.”
„Sie zerschmetterte mir das Bein, das dann abgenommen werden mußte.”
„Laß mich sehen, wie hoch es abgenommen ist!”
Oliver deutete mit der Hand.
„Ich meine, du solltest die Hose ausziehen.”
„Nein,” erwidert Oliver zum drittenmal, „ich tu' es nicht.”
Der Doktor sagte — und er legte einen tiefen, würdigen Sinn in seine Worte: „Wie du willst. Ich dachte übrigens nur daran, dir zu helfen.”
Oliver wandert heimwärts; es ist spät geworden, und er hört die Tanzmusik vom Tanzsaal her, es ist ja Samstagabend. Da fällt ihm ein, er sei am Ende nicht gut genug angezogen, um an den Burschen und Mädchen in ihren Staatskleidern vorüberzugehen, und er macht deshalb einen Umweg. Welch ein Zufall — da steht ja Petra und spricht mit niemand anders als mit dem Schreiner Mattis. Die beiden sind sehr eifrig, der Schreiner sieht [S. 201] sogar höchst leidenschaftlich aus; und wieder spürt Oliver, wie ihm ein scharfer Stich durchs Herz fährt, er knirscht mit den Zähnen, während er näher tritt. Nun erblickt Mattis den herankommenden Oliver, da zieht er sich zurück und tritt in seine Werkstatt. Er tut auch klug daran, sich zurückzuziehen, zu verschwinden, denn in diesem Augenblick tritt Oliver zähneknirschend auf ihn zu. Und Petra tut auch klug daran, auf ihren Mann zu warten, hätte sie einen Augenblick daran gedacht, wie eine Hündin zu entfliehen, dann hätte dieser Mann, ihr Ehemann, sie mit einer Donnerstimme zurückgerufen.
Sie gehen nebeneinander. Oliver schweigt und knirscht mit den Zähnen.
Petra fühlt wohl, daß ein Gewitter im Anzug ist, sie ergreift die Offensive und murmelt: „Hm! Ist das ein Zustand!”
„Ja,” sagt auch Oliver, „es ist ein Zustand.” Und jetzt dreht er die Augen nach ihr hin.
„Bei Mattis, mein' ich. Du hast es wohl gehört?” fragt sie.
„Gehört? Was?” Er hat nichts gehört, ist nur von seinem Eigenen erfüllt und erwidert: „Du, du sollst etwas zu hören bekommen!”
„Was brummst du denn da?” sagt sie unschuldig und sorglos. „Na, dann hast du es also nicht gehört?”
Es muß etwas Besonderes sein, die Neugierde bekommt die Oberhand bei ihm, die Stiche in seinem Herzen sind nicht mehr so heftig. „Was willst du mir denn da weismachen?” fragt er.
Das ist nun Petras günstigster Augenblick, sich ein wenig kostbar zu machen, sie tut sogar etwas gekränkt und sagt: „Ich will dir gewiß nichts weismachen, ich werde schweigen.”
Oliver mußte einen ganz andern Ton anschlagen, bitten, ehe Petra nachgab. O, aber die Neuigkeit ist doch zu gut, um nicht die erste zu sein, die sie erzählt; Petra kann sie nicht länger für sich behalten. „Es ist Maren,” sagt sie.
„Was ist mit ihr?”
„Maren Salt.”
„Ja, hörst du —”
„Ja, sie liegt zu Bett; sie hat ein Kind bekommen.”
[S. 202] Oliver wußte wohl nicht recht, wie er diese Neuigkeit aufnehmen sollte, jedenfalls war er nun wieder um eine kräftige Auseinandersetzung mit seiner Frau betrogen. Halb ärgerlich sagt er: „Dann hast du also darüber mit ihm lange Reden gehalten?”
„Lange Reden gehalten? Er kam zu seiner Tür heraus und sagte es mir. Er ist ganz verstört.”
„Das geschieht ihm gerade recht.”
„Ach, du glaubst doch wohl nicht, daß der Mattis der Vater sei?”
„Na, das weißt du wohl?”
Sie stritten sich darüber, bekamen ernstlich Streit. Wenn Mattis nicht der Vater war, dann wußte Oliver noch weniger, wie er es aufnehmen sollte. Aber jedenfalls war es Samstagabend und spät, Oliver war hungrig und ungnädig, er wollte so rasch wie möglich heim. Als er endlich zu essen bekommen und überdies viel bekommen hatte, lag das Leben wieder heller vor ihm, er lachte und fragte Petra genauer über Mattis aus, was er gesagt und wie er es aufgenommen habe.
Petra erzählte. Sie war sehr zufrieden, daß das Gewitter vorübergezogen war, nun war auch sie wieder in guter Laune, o nein, das fehlte nicht, sie machte Mattis nach und machte sich über ihn lustig: Mattis habe sofort verlangt, daß Maren aus dem Hause solle, ehe sie sich legen müsse, aber Maren habe eine spätere Zeit angegeben und ihn tüchtig angelogen, o, es sei noch lange bis dahin. Dann hört er in der Nacht plötzlich ein Kind schreien, Mattis fährt aus dem Bett und läuft nach der Hebamme, läuft auch zum Doktor. Der Doktor sagt ungläubig: „Maren Salt, ist sie nicht vierzig bis fünfzig Jahre alt? Das ist doch wohl nicht möglich?” — Mattis hatte geantwortet: „Glauben Sie vielleicht dann, ich hätt' ein Kind bekommen?” — „Bist du sicher, daß ein Kind da ist?” fragt der Doktor. — „Es schreit jedenfalls, es liegt drinnen. Kommen Sie und sehen Sie selbst nach!”
Petra lacht, und Oliver lacht, und die Großmutter lacht, selbst die beiden kleinen Mädel merken gut, wie lächerlich der Schreiner Mattis sich benommen hat, und können nicht ernst bleiben.
„Ihr hättet den Mattis sehen sollen,” sagt Petra. „Da [S. 203] stand er, trat von einem Fuß auf den andern und schnaubte mit der Nase, er war ganz verzweifelt, weil er die alte Person nicht bei Zeit aus dem Hause hinausgebracht hatte. ‚Es heißt, sie sei zwischen vierzig und fünfzig, aber sie ist wenigstens sechzig,’ rief er, ‚und ist das menschlich? Hingehen und mit den Nüstern wedeln genau wie mit Kaninchenohren, wenn sie schon in einem Alter ist, wo man zu Asche wird.’”
Dann war Petra verschmitzt gewesen und hatte gesagt: „Ja, du wirst am besten tun, wenn du sie nimmst, Mattis.” — „Sie nehmen!” schrie er. „Ich? Warum sollte ich sie denn nehmen? Beim Satan werde ich! Und wenn je der Tag kommt, wo ich mich verändere, dann, das weißt du, ist es sicher nicht mit so einer Dirne! Das ist todsicher.”
Das ganze Haus lachte.
Aber wie um wieder etwas Würde zu zeigen, faßt sich Oliver und sagt: „Aber war nun all das etwas, um mit einem fremden Mannsbild zu schwatzen und dazu mitten auf der Straße?”
Doch Petra ist jetzt sicher. „Nein, ich hätt' zu ihm hineingehen können, aber das wollt' ich nicht.”
„Das hättest du nur probieren sollen!”
„Warum nicht? Er ist so gut und einfältig, es gibt keinen bessern Menschen als Mattis. Das weiß ich gewiß, wer mit dem Mattis verheiratet wäre, der könnte ein Kind nach dem andern ohne ihn bekommen; er würde gar nichts davon verstehen.”
„Das würde dir gefallen ... Geht zu Bett, Kinder!” schreit Oliver plötzlich die zwei kleinen Mädchen an, die sofort verschwinden. Selbst die Großmutter verläßt die Stube. „Ja, das würde dir gefallen,” wiederholt Oliver.
„Mir?” versetzt Petra. „Ist es der Mühe wert, mich zu nennen?”
„Du denkst wohl, du habest zu wenig Vergnügen, du darfst dich am Hafen nicht weit genug herumtreiben?”
„Ich?” fragt Petra lachend. „Hehehe!” lacht sie. „Nein, ich hab' einen Mann, der auf mich aufpaßt. Das weiß ich ganz gewiß.”
Oliver sieht sie mißtraurisch an, ob sie vielleicht ihren Spaß mit ihm treibt, er setzt eine düstere Miene auf.
[S. 204] Aber Petra wickelt ihn um den Finger: „Übrigens,” sagt sie einschmeichelnd, „übrigens solltest du menschlich sein und mich etwas mehr dahin gehen lassen, wohin ich gerne wollte. Ja, das solltest du, Oliver. Denn du weißt, ich tu' nichts Böses, ich seh' mich nur um, seh' mich nur um, gucke in die Fenster und schlendere umher.”
„Es paßt sich nicht für eine verheiratete Frau, die zu den besseren Leuten gehören sollte,” erwiderte Oliver. „Wo wolltest du denn hingehen, auf den Tanzboden? Das will ich gern glauben.”
„Und wenn ich auf den Tanzboden ginge? Wenn ich nur einen Augenblick zusehen würde?”
„Ja, und wenn du die kleinen Mädel mitnähmst,” spottete Oliver. „Aber so lange ich Oliver Andersen heiße und so lange ich meine jetzige Stelle habe, wird das nicht geschehen. Da hast du meine Antwort.”
„Neinnein,” erwidert Petra nachgiebig. „Du hast hier zu befehlen, und wenn du nein sagst, dann ist es nein.”
„Ja, das ist es,” entgegnet Oliver selbstbewußt.
„Aber ich darf doch wohl einmal hingehen und nach Maren Salt sehen?”
Oliver fährt auf. „Es wäre mir sehr lieb, wenn du begreifen würdest, daß du nicht zu solchen Menschen gehen kannst, hörst du, und daß du nicht in dieses Haus gehen kannst. Denn wenn ein Mann Vorsteher geworden ist, dann kannst auch du nicht überall hingehen, sondern sollst dich nach deinem Stand benehmen. Ich leid' es nicht, und du mußt dir einfach klar machen, daß ich es nicht haben will.”
„Neinnein,” seufzt Petra, und sie läßt ihn das letzte Wort haben.
Aber Oliver fühlte sich eigentlich geschmeichelt, daß seine Frau ihn um etwas weiteren Spielraum bat, ja, das war er. Denn nicht alle Frauen baten darum, sondern viele machten schlechte Streiche, ohne ein Wort darüber zu verlieren.
Das eine Ereignis löst das andere ab. Frau Konsul Johnsen geht eines Tages mit ihrer Tochter auf der Straße; sie sind beide zufrieden mit sich selbst und mit andern, dann erblicken sie in einer Querstraße den Maler, der Frau Johnsen gemalt hat, den Hardesvogtsohn, sie sehen ihn mit einer von Konsul Olsens Töchtern am Arm. Frau Johnsen ist dick und schwerfällig, sie hätte sich am liebsten auf der Stelle niedergesetzt. Aber Fia sagt nur: „Ja, sie haben sich verlobt, wie ich höre.”
Das ist etwas vom Härtesten, was Frau Johnsen erlebt hat, wäre es wenigstens der andere Maler gewesen, der Tünchersohn. Doch so oder so, keiner von ihnen würde ihre Fia bekommen haben, das fehlte gerade noch! Aber ging man wirklich hin und tat so etwas — gerade vor Fia, vor ihrer Nase! Was sagte sie dazu? Sie nahm es ganz ruhig und äußerte: „Ja, sie haben sich verlobt, wie ich höre.” Wie war denn nur die Fia angelegt und beschaffen, war sie directement kalt? Jetzt fehlte nichts mehr, als daß der andere verhungerte Bursche, der Tünchersohn, daherkam und Fia anflehte; o, dann würde aber Frau Johnsen die Tür weit aufmachen, jawohl, sperrangelweit!
Ach, war das eine Welt, in der man lebte!
Konsul Johnsen nahm es viel weniger tief, es machte ihm fast gar keinen Eindruck, er sagte ungefähr wie Fräulein Fia: „Na, haben sie sich verlobt? Aber störe mich nicht!” Darauf wendete er sich wieder seiner Zeitung zu und las weiter.
„Bedenke, die jungen Burschen, für die wir alles Mögliche getan haben!” sagt Frau Johnsen.
„Jawohl. Aber stör' mich nicht, hörst du?”
Der Konsul hatte an anderes zu denken. Da hatte [S. 206] nun der Rechtsanwalt und Abgeordnete Fredriksen die Regierung darüber interpelliert, was sie in bezug auf die verschiedenen Klagen von den Mannschaften an Bord unserer Schiffe zu tun gedenke. Er nannte zwar den Vorgang auf dem Dampfschiff Fia nicht ausdrücklich, verbarg aber doch nicht, daß sogar in seiner kleinen Stadt das Gerücht von ausgesprochener Unzufriedenheit mit den Reedern herrschte. Diese Verhältnisse müßten untersucht werden.
Wie ein Sturm fiel das über Konsul Johnsen her. Dieser Prokurator, dieser unrasierte Emporkömmling hatte Wein und Wohlwollen in seinem Hause genossen, und nun bezahlte er mit diesem Überfall! Man mußte wirklich viel ertragen, wenn man Doppelkonsul und ein großer Mann war!
Hätte Konsul Johnsen gewußt, was vorausgegangen war, dann würde er sich nicht so sehr verwundert haben; für diesen schlechten Streich des Abgeordneten konnte er sich bei seiner Tochter bedanken. Seht, da ging nun die junge Dame, Fräulein Fia, höchst bieder und freundlich und unschuldig dahin, aber ihretwegen gab es eine Interpellation im Landtag. So konnte es gehen. Es gehörte jetzt weniger als vorher dazu, um Herrn Fredriksen zu kränken.
Er war ja über ihre stehenden Fußes gegebene Abweisung seines Antrags etwas verwundert. Da hatte er nun endlich seine Wahl in den Landtag durchgesetzt, jetzt war er also nicht mehr bloß Rechtsanwalt; aber das schien keinen Eindruck auf sie zu machen, nicht einmal um Bedenkzeit hatte sie gebeten. „Nein,” sagte sie lächelnd und schüttelte den Kopf dabei.
Dies hatte er natürlich gut aufgenommen und gefragt: „Geben Sie mir gar keine Hoffnung, Fräulein Fia?”
Nein, es tue ihr leid.
Und er hatte es auch noch weiter gut aufgenommen und wie ein feiner Mann gefragt: „Dann sind Sie nicht mehr frei, Fräulein Fia?”
Doch, das sei sie.
„Na,” sagte er und schwieg.
Er verstand sie nicht, verstand das ganze Mädchen nicht, er dachte wohl, sie stehe sich selbst im Lichte. Er zog sich zurück.
[S. 207] In dieser seltenen Lage weiß sich die Komtesse nicht recht zu helfen, sie läßt sich verleiten, mehr zu sagen, Dummheiten, Beleidigungen. Sie tat es wohl, um nett zu sein, um die harte Entscheidung etwas zu mildern, aber sie sagte, sie stamme aus einem guten Heim und könne sich nicht denken, es zu verlassen.
„Sie könnten ja wieder ein gutes Heim bekommen!”
Es würde wohl nicht dasselbe sein. Alles fessle sie an ihre Heimat, sie habe gebildeten Umgang, sei umgeben von Vornehmheit, illustrierten Blättern, alter Kultur —
Der Rechtsanwalt sah sie an. Darauf nahm er es nicht mehr gut auf, sondern fing an zu lachen. Sie ließ ihn lachen, sie wurde gar nicht verlegen. Als er wieder ernst wurde, sagte er: „Aber liebes Fräulein Fia, was Sie da aufzählen, könnten Sie ja alles wiederbekommen. Nicht wahr?”
„Wo?” fragte sie.
„Na” — hier konnte er nicht vorbeikommen. Der Rechtsanwalt schwieg wieder, schwieg endgültig.
Eine Zeitlang war er dann selten auf den Straßen zu sehen, er ließ sich mit niemand in ein Gespräch ein, war verschlossen, saß daheim und grübelte, was es nun auch sein mochte, worüber er nachgrübelte, ob vielleicht über die prächtige Mitgift, um die er nun gekommen war. Das hätte es mit gutem Grund sein können.
Auch im Landtag war er in den ersten Wochen ein zurückhaltender Mann, er stimmte jedesmal richtig ab und tat nichts Verkehrtes, aber er war schweigsam. Bis er in der Matrosensache das Blatt vom Munde nahm und da endlich offenbarte, welche Glut in seinem Innern brannte.
O, er sprach ausgezeichnet und rührte den Landtag, rührte Land und Volk, seine Teilnahme an den Unterdrückten war sehr groß, seine Gesinnung sehr human: Es wurde hervorgehoben, daß diese Sache zwei Seiten habe, jawohl, das sei es gerade. Und nun schade es nichts, wenn die vornehmen Reeder, wenn sie von dem gebildeten Umgang und der vorgeblichen Kultur weg auch einmal nach der andern Seite sähen. Die Schiffe könnten reine Abenteuerfahrten machen und Geld scheffelweise einnehmen, während die Mannschaften mit derselben Kost und Verpflegung verkämen, die sie von alter Zeit her hatten, wo die [S. 208] Menschen noch abgehärteter waren als jetzt. Und ob es eine gefahrlose Arbeit sei, in der sie stünden, ob das etwa ein Spiel sei? Die Regierung solle sich einmal an Bord unserer Kauffahrteischiffe begeben und nachsehen, in welchem Zustande die Mannschaften manchmal heimkämen; die, so nicht abgerackert seien, kämen auf einem Bein dahergehinkt oder hätten nur einen Arm, der Dienst habe sie verstümmelt. In einem solchen Zustand kehrten sie zurück zu den Ihrigen, der Redner kenne Beispiele von seiner eigenen Stadt. Aber wenn es sich darum handle, die ärmlichen Verhältnisse dieser Menschen zu verbessern, da stoße man bei ihren großen Herren auf Widerstand. Wie, wenn nun humane Rücksichten, wenn Recht und Gerechtigkeit ans Ruder kämen? „Und kann nicht die Regierung in diesen miserablen Verhältnissen Wandel schaffen, dann kann der Landtag die Änderung erzwingen — wenn er will.”
Ein Konservativer, ein Schatten der Vorzeit, sprach natürlich gegen die Rede, er wendete sich gegen die Übertreibungen; leider komme es ja vor, daß einmal ein Matrose verunglücke, aber es gebe fast keine Arbeit, die ganz gefahrlos sei; er sei in seiner Jugend selbst Matrose gewesen, das müßten ja alle jungen Burschen in seiner Stadt sein, er habe aber keine trüben Erinnerungen an die Kost und an die Verpflegung, die er gehabt habe.
Greisengerede, altes Geschwätz! Rechtsanwalt Fredriksen hörte wohl gar nicht auf ihn. Und er hörte wohl auch kaum auf den Staatsrat, der nachher redete. Dieser Mann wußte nichts Bestimmtes zu sagen, er schwebte über den Wassern, er werde seine Aufmerksamkeit auf diese Verhältnisse richten.
Das sei ja schon etwas! sagte Herr Fredriksen, und er wolle insofern dem Herrn Staatsrat für das Entgegenkommen danken. Mit diesem kühlen Vermerk schien er sich wieder gesetzt zu haben, er wollte vielleicht auch zu verstehen geben, wie wenig ihm das imponiert habe.
Das Referat berichtete:
Der Präsident wirft einen Blick auf die große Uhr und nimmt fälschlicherweise an, daß diese Sache nun erledigt sei. Der Vertreter von Telemarken erhebt sich, der Dauerredner, er widersetzt sich der Verabschiedung und sagt, jetzt wolle auch er das Wort dazu ergreifen.
[S. 209] „Ja, dann mache ich mir keine Hoffnung, daß wir bald fertig werden!” sagt der Konservative mit einem Lächeln.
Das traf. Aber es schien die Mehrzahl nur aufzureizen. Sollte der Vertreter vom Gebirge den Rechtsanwalt aus der Küstenstadt, einen neuen Mann, der in der Sache der unterdrückten Matrosen so ganz genau auf der rechten Seite stehe, nicht unterstützen dürfen?
Und am Nachmittag siegte denn auch Rechtsanwalt Fredriksen gründlich und bekam seine Untersuchungskommission bewilligt. Das konnte man einen vielversprechenden Anfang nennen, sein Wahlkreis legte Ehre mit ihm ein.
Konsul Johnsen liest die Zeitung, wirft sie hin und nimmt sie wieder auf. Seit lange ist er nicht so aufgeregt gewesen.
Schließlich gibt er die Zeitung Berntsen hinaus und sagt: „Lesen Sie das Geschwätz!” Er war sehr empört. Hier thronte er in seiner Stadt und half freigebig nach rechts und links, nahm Krüppel in seine Dienste, zahlte für ihre Kinder auf höheren Schulen, übte Barmherzigkeit, tat Gutes — was hatte er davon? Überfälle! Wenn nur Scheldrup daheim gewesen wäre, um die Verteidigung zu übernehmen, C. A. Johnsen war müde, dieser Kampf ums Leben mußte ja jeden Tag neu aufgenommen werden, er konnte nicht mehr.
Hätte er jetzt wenigstens einen einzigen Ort gehabt, wohin er sich wenden könnte! An den Postmeister wieder? Ja, wenn er durchaus wünscht, von religiösem Geschwätz übermannt zu werden! Nein, da macht er lieber einen Spaziergang in seinen Garten, bleibt eine Stunde weg, kehrt dann in sein Kontor zurück und geht mit frischen Kräften wieder an seine Arbeit. Wer weiß, es war vielleicht ein scharfsichtiger Einfall, eine Hilfe in der Not, eine plötzliche Eingebung, vielleicht kam sie vom Himmel, das konnte gut sein!
Und der Konsul holte sich wirklich etwas Beruhigung in seinem Garten; da saß seine Tochter in aller Unschuld, sie malte spanischen Flieder und plauderte mit ihm, es war ein Vergnügen ihr zuzusehen, wie ihr die Blüten so gut gelangen, ganz täuschend ähnlich, und es wirkte wohltuend auf den Vater, daß sie so zufrieden mit ihrem Dasein war.
[S. 210] „Da sitzt du und bist fleißig, Fia?”
„Ja. Dies ist für die große Ausstellung. Meinst du nicht, ich könne stolz auf dieses Bild sein, Papa?”
„Jawohl.”
„Das meine ich auch. Und doch ist es eben erst angefangen.”
O, Fräulein Fia war ein merkwürdiges Wesen, sie lebte ihr Leben mit großartigem Vorbehalt, laßt sie nur sein, wie sie ist, sie selbst hält es für das richtige! Das sind wohl ihre glücklichsten Stunden, wenn sie in der Nationalgalerie sitzt, Bilder kopiert und diese ähnlich werden. Wenn jemand sich für ihre Malerei interessieren und ein wenig darüber in den Zeitungen bringen würde, dann hätte sie nicht den Wunsch, noch glücklicher zu werden, als sie ist. Sie war gut veranlagt, ohne Bitterkeit, war voller Wohlwollen, ihr Ehrgeiz verursachte ihr keine Qualen.
Ja, ein merkwürdiges Wesen, es fehlt ihr wohl dies und jenes, aber die Mängel schienen nur zu ihrem eigenen vorteilhaften Besten zu sein. Hatte sie ein Schuldgefühl? Es sah nicht danach aus. Sie war in ruhiger Weise mit sich selbst zufrieden, tat nichts Böses, bereute nichts, kannte keine Traurigkeit. Was sollte sie anders wünschen? Sie malte und machte Reisen, weiter nichts, in den Städten hatte sie gute Freunde, sie hat vielerlei erlebt, aber nicht viel. Viele fanden, sie sei in Gelehrsamkeit und Unnatur erstickt. „Hör' einmal,” konnten sie sagen, „ist dir das Maßhalten angeboren, Kind? Aber es gibt erlaubte und zulässige Freiheiten, Komtesse, du kannst dich also ruhig verlieben, Mädchen!” — „Aber warum denn?” konnte sie erwidern.
Was sollte sie anders wünschen? Hätten nicht diese so viele im Streben nach der Malerei weggeworfenen Jahre auf andere Weise angewendet werden können? Warum denn? Es waren geliebte Jahre, war eine poetische Mission, ein Beruf, diese Jahre bewahrte sie gut auf, wie man Erbsilber aufbewahrt. Sie strebte, kam aber nicht vorwärts, o nein, aber sie blieb dabei, es war eine Art Trotz. Ein Aufhören, ein Umkehren auf dem Wege schien ihr unmöglich, sie brauchte keine Erlösung von ihrer fixen Idee, für diese war sie angelegt. Nein, sie hatte kein Schuldgefühl und empfand keine Traurigkeit.
[S. 211] Und wie nun ihr alternder Vater da neben ihr sitzt, ihr zuhört und sich in ihrer Freundlichkeit und ihrem Behagen sonnt, dann denkt er vielleicht: „Gott weiß, ob nicht die Fia die klügste von uns allen ist! Sie ist vom Schicksal ganz unverfolgt und ungestraft, während wir andern uns in ewigem Kampfe abmühen!”
„Im Landtag sind sie hinter uns Schiffsreedern hergewesen,” sagt er. „Sie berichten, wir ließen unsere Matrosen verhungern und sich zu Krüppeln schlagen.”
Sie fährt nicht auf, sondern nimmt es gelassen hin, läßt nur den Pinsel sinken und sagt: „Wirklich?”
„Ja, das versteht sich! So erscheint es also den Außenstehenden.”
„Tut es dir weh?”
„Nicht gerade weh. Aber es ist nicht angenehm für mich, ich werde älter und weniger leistungsfähig, und Scheldrup ist abwesend. Na, gottlob, daß ich dich habe, Fia,” schließt er.
„Wenn ich nur etwas leisten könnte! Papa, sie sind doch wohl nicht hinter dir hergewesen?”
„Sie nennen mich nicht mit Namen. Aber es ist doch mit Fingern auf mich gedeutet worden, und zwar von unserem eigenen Abgeordneten.”
„Von —?”
„Ja, von Fredriksen, dem Rechtsanwalt also.”
„Soo?” sagt sie und wird nachdenklich.
„Ich weiß nicht, was ich ihm getan habe, daß er nun so auf mich losgeht.”
„Es ist nur Mangel an Kultur.”
War es Enttäuschung oder Überlegung, was bei dieser Antwort über ihr Gesicht hinflog? Der Konsul war sich nicht ganz einig darüber; er sagte: „Kultur? Ich weiß nicht, wieviel Kultur er hat. Es ist, als hätte die jetzige Zeit keine Verwendung dafür. Wir sind jetzt alle Menschen.”
Sie schweigt. Ihr Gesicht bekommt einen hartnäckigen Ausdruck, und dann gibt sie nicht nach, das weiß er.
„Ich glaube, dies ist eines der hübschesten Bilder, die du je gemalt hast,” sagt er. „So, du meinst also, es sei Mangel an Kultur? Es kann wohl sein, daß du recht hast. Sag' mir übrigens — nicht wahr, du machst dir nichts aus dem Rechtsanwalt?”
[S. 212] „Ich?”
„Neinnein, nicht das geringste, das wußte ich. Er ist natürlich recht tüchtig und wird es zu etwas bringen ... Wenn nun aber weder du noch deine Mutter sich etwas aus ihm macht, dann braucht der Mann ja gar nicht bei uns zu verkehren. Wir laden ihn von jetzt an nicht mehr ein, rede mit deiner Mutter darüber, sie hat ihn früher recht geschätzt.”
So war dies erledigt, und eigentlich konnte der Konsul nun wieder gehen.
„Das ist wahr,” begann er wieder, „der Maler, wie heißt er doch nur, hat sich also verlobt. Ist es die ältere oder die jüngere von den Töchtern? Ja, du hast es doch wohl gehört, Fia?”
Sie lächelt. „Ich bin die erste gewesen, die es gehört hat. Unter uns gesagt, Papa, ich bin ja für beide Parteien der Vermittler gewesen.”
„Ei sieh! Du, Fia! Vermittler!”
So nahm sie es also auf.
Als der Konsul in sein Kontor zurückging, hatte er zwar keinen guten Rat betreffs des Rechtsanwalts bekommen und ebensowenig zehntausend bei einem Geschäft verdient, aber er machte sich selbst weis, er habe etwas erreicht, und er rieb sich die Hände, wie wenn er außerordentlich arbeitslustig wäre. Aber es war wohl nur ein wenig künstliche Energie. Er grüßt den einen und den andern unterwegs, grüßt auch die Damen freundlich; jawohl, sie grüßen den Konsul wieder, wie man einen großen Herrn grüßt, sie haben den Vorgang im Reichstag noch nicht gelesen. Und doch, die Damen erwidern seinen Gruß nicht wie in alten Tagen, sie schlagen die Augen nicht verlegen nieder wie früher, wenn er ihnen begegnete, er war gealtert, die jungen Damen von heute sehen auf unergrautes Haar, er mußte jetzt in tiefer stehenden Reihen suchen, er stand wohl schon auf dem Boden. Ach was! Er war der, der er war.
Der Konsul trat in sein Kontor, sah auf seine Uhr und ließ sich in seinem Sessel nieder. „Es ist wunderbar, welch eine Erfrischung so eine Viertelstunde ist!” hätte er sagen können, wie wenn er es selbst glaubte. O, sie hatte ihn aber nicht dauernd erfrischt, die Interpellation des [S. 213] Rechtsanwalt Fredriksen spukte immer noch in seinem Kopf. Mangel an Kultur? Fia hatte vielleicht recht. Sie war wahrlich auch die klügste, wenn sie für Liebesgeschichten nur das Interesse eines Vermittlers hatte, ein verflixt kluges Mädel, die Fia! Er hatte auch gar nichts dagegen, wenn sie sich noch einige Zeit solcher Art Kameradschaft enthielt, er wußte, was für eine unbändige Macht die Liebe ist; das würde sie schon noch zeitig genug erfahren.
Verstümmelte Matrosen? Die man also versorgt, die man also geradezu auf seinen Schoß nimmt und ihnen den Schnuller gibt. Wenn nur Scheldrup daheim wäre! Aber Scheldrup war von der modernen harten Art, er dachte an niemand anders, als an sich selbst, jetzt redete er von einem Jahr Aufenthalt in Neu-Orleans.
Und da im Kontor liegt die ungetane Arbeit Berge hoch, auf dem Pult Briefe, Telegramme und Frachtbriefe holter di polter, Berntsen könnte wohl hereinkommen, eine Hand voll aus dem Haufen herausgreifen und einiges erledigen. Der Konsul alt? Etwas überschafft, etwas abgerackert; war es verwunderlich? Aber alt? Und selbst wenn er alt war, so war er doch der, der er war. Wenn sein Haar sich lichtete, so ließ er sich im Hut photographieren, ja, im hohen Hut —
Er steht auf und ruft Berntsen vom Kramladen herein.
„Was ist das für ein junger Mann in einer Studentenmütze, der da draußen steht?” fragt er.
„Frank,” antwortet Berntsen.
„Frank?”
„Für den der Herr Konsul bezahlt. Olivers Sohn.”
„Ach so, der!”
„Er holt sich eben seinen neuen Anzug bei uns. Seinen alljährlichen Anzug.”
„So. Hören Sie, Berntsen, könnten Sie nicht einiges von hier übernehmen und mir ein wenig helfen? Sehen Sie, wie es sich anhäuft und mir über den Kopf wächst. Ihnen geht es so leicht von der Hand.”
Berntsen verspricht, am Abend Zeit dafür zu haben.
„Ich danke Ihnen. Schicken Sie vor allem die Versicherung für die Fia ab. Hier ist das reine Chaos, und ich habe soviel zu überlegen. Haben Sie die Zeitung gelesen? Was sollen wir mit dem Rechtsanwalt tun?”
[S. 214] „Sollen wir etwas tun?” fragt Berntsen.
„Ich weiß es nicht. Nein, Sie haben vielleicht recht, wir sollten einfach gar nichts darauf tun. Aber es kommt vielleicht eine Kommission und stellt allerlei Fragen.”
„Dann werden wir ihr darauf antworten.”
„Richtig! Punkt für Punkt. Und Berntsen, könnten Sie das nicht übernehmen, ich meine, der Kommission antworten?”
„Doch.”
Damit ist die Sache in den besten Händen, und der Konsul fühlt sich von einer schweren Last befreit. Er ist so erleichtert, daß er sich wieder als Herr fühlt, er will wieder etwas auftreten und sagt: „Den Studenten schicken Sie mir einen Augenblick herein, Berntsen!”
Frank tritt ein und steht vor dem großen Mann.
„Das gefällt mir, daß Sie nicht so oft zu Hause sind,” sagt der Konsul, und er sagt Sie zu Frank. „Denn dann sind Sie wohl fleißig beim Studieren. Ich erkannte Sie gar nicht wieder, sondern mußte Berntsen nach Ihnen fragen. Sie sind ja in den letzten Jahren riesig in die Höhe geschossen. Und nun sind Sie also Student. Geht es Ihnen gut?”
„Ja, danke.”
„Das freut mich. Wir sollen alle etwas werden, Sie in Ihrem Fach und ich in dem meinigen. Was ich sagen wollte: Sie nehmen sich doch wohl als junger Mensch vor Ausschweifungen in acht?” sagt der Konsul plötzlich.
„Vor jeder Art von Leichtsinn?” sagt er. O, dieser Konsul Johnsen, er hätte ja einen Grabstein zum Lächeln bringen können, und er fährt fort: „Ja, das sollen Sie wirklich, Sie sollen ein verständiger junger Mann sein und an den Versuchungen vorübergehen. Das erwarte ich von Ihnen.”
Frank lächelt nicht. Groß und mager und tief vorgeneigt wie in einer Kirche stand er da, antwortete gut und richtig ja oder nein am richtigen Platze, der Konsul bekam den besten Eindruck von ihm. War es seine Absicht, daß dieser junge Mann auch von ihm, seinem Wohltäter, eine vorteilhafte Erinnerung an diese Begegnung mitnehmen sollte? Wer weiß, es konnte vielleicht dem Wohltäter in der Zukunft von Nutzen sein, falls neue [S. 215] Überfälle drohten! Jedenfalls schadete eine kleine Rede nichts.
Der Konsul konnte in durchaus gutem Glauben diese Gelegenheit benützen, um seine moralische Seite zu zeigen. „Es gibt edle Vergnügen und leere Vergnügen,” sagte er; „in meinen späteren Jahren bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß die Vergnügungen im eigenen Heim und in der Familie die richtigen sind. Man kann die andern Vergnügen entbehren, wenn man ernstlich will. Das ist meine Erfahrung.”
Dieser Konsul Johnsen! Er war jetzt wohl in der Zeit der Abkühlung, jetzt, wo ihn allmählich die Lüste verließen, wollte er sich den Vorteil, sie überwunden zu haben, nicht entgehen lassen. So weit war er Kaufmann.
Übrigens war ja der Konsul Johnsen nicht lauter Hohlheit und nichts anderes, er hatte auch Gemüt; so dachte er einen Augenblick daran, dem jungen Studenten einen Stuhl anzubieten, gab es aber wieder auf, tat indes das dafür, was besser war: er trat an seinen Geldschrank und kam mit einem Geldschein zurück, mit einer großen roten Banknote, die er mit den Worten: „Bitte, hier ist ein kleines Taschengeld!” Frank schenkte.
Und Frank verneigte sich mit der tiefen Verbeugung, die ihm seinerzeit von der Tanzlehrerin beigebracht worden war.
„Es ist nicht der Mühe wert, es auszuposaunen,” sagt der Konsul; „es steht ja geschrieben, du sollst deine linke Hand nicht wissen lassen, was die rechte tut; ist es nicht so?”
„Doch.”
„O ja, wir Menschen! Aber wir müssen versuchen, es so gut zu machen, als wir können. Sie wollen wohl Pfarrer werden?”
„Nein, ich weiß es nicht —”
„Wissen Sie es nicht?”
„Ich habe mehr Talent für Sprachen.”
„Sprachen?”
„Philologie.”
„So. Haben Sie da Aussichten? Ja?”
Aber etwas fremd schien es dem Konsul in den Ohren zu klingen; ob er nun dachte, er hätte sich seine moralische Rede sparen können, oder ob er fürchtete, ein Sprachgelehrter [S. 216] könne ihm in Zukunft nicht ebenso nützlich sein wie ein Pfarrer.
Er entläßt den jungen Menschen in netter Weise: „Ja, jetzt muß ich an die Arbeit!” Aber er jagt ihn nicht fort, sondern spricht noch weiter freundlich mit ihm: „Überlegen Sie sich nun, ob Sie nicht doch lieber Pfarrer werden wollen. Ich habe mich ja eigentlich Ihrem Vater und Ihnen gegenüber nicht schlecht benommen, ich benehme mich niemand gegenüber schlecht. Aber was Sie schließlich werden wollen, das müssen Sie selbst entscheiden, ich kann Ihnen nur einen kleinen Rat geben. Adieu, junger Mann!”
Der junge Mann ging wieder in den Kramladen und wählte wieder zwischen den fertigen Anzügen. Da er mager und schmalschulterig war, hatte er keine Mühe, eine Joppe zu finden, die ihm paßte, da er aber auch sehr aufgeschossen war, paßte ihm die dazugehörige Hose nicht, sie war zu kurz. Ein Rockanzug war allerdings da, der in jeder Beziehung paßte, aber Berntsen meinte, er sei zu teuer.
Der gute Berntsen war nicht immer ganz so, wie er aussah, er war zwar freundlich und wohlwollend gegen alle Menschen, aber durchaus kein Lamm. Er war außerordentlich zuverlässig, und das Geschäft ging ihm über alles, aber gerade durch diese Eigenschaften wurde er sogar oftmals für den Chef unbequem. Selbst Frau Johnsen ging nicht gerne zu Berntsen, allerdings auch ebensowenig zu einem der andern Angestellten, wenn sie irgend etwas aus dem Laden verlangte. Sie fand kein Vergnügen dabei, Kleiderstoffe und Putz mit Berntsen zusammen aussuchen zu müssen. Aber er war ein verflixt tüchtiger Geschäftsmann.
„Meiner Ansicht nach bist du zu jung für einen Herrenrock,” sagte er zu Frank. „In ein paar Jahren ist es immer noch Zeit dafür.”
Reinert trage auch schon einen Herrenrock, obgleich er jünger sei, wendete Frank ein.
Es half aber nichts. Was Reinert, der Küstersohn, trage, sei keine Vorschrift für alle andern, er sei ja auch früher schon in Kniehosen herumstolziert. „Und im übrigen,” sagte Berntsen sehr freundlich, „so ist das etwas anderes bei Reinert, sein Vater bezahlt dafür.”
Der junge Frank war frühzeitig daran gewöhnt, Zurückweisungen zu verstehen und zu deuten; sie kränkten ihn nicht sehr, sie hatten ihn nur auf seinem Platz zurückgehalten, [S. 218] so daß er nur äußerst selten zu weit ging; geschah dies, so zog er sich sofort wieder zurück. Er wußte ja, daß doch Rat geschafft wurde. Jetzt nahm er den Anzug, der für ihn ausgesucht worden war, und bedankte sich dafür. Was waren außerdem Anzüge für ihn? Andere höhere Dinge lagen ihm im Sinn.
Reinert hatte draußen auf ihn gewartet, die beiden Studenten wanderten nun miteinander durch die Straßen, nicht weil sie Busenfreunde gewesen wären, sondern weil sie Studenten waren. Nein, sie waren keine Busenfreunde. Begabt waren beide, glänzende Sprachtalente, aber Frank stand in dem Rufe, ein gutes Stück voraus zu sein. Dieses Stück war es, was Reinert nicht ertragen und auch trotz aller Mühe nicht einholen konnte, das machte ihn oft bitter und gewissermaßen rachgierig. Aber auf einem Gebiet war er überlegen, obgleich er Frank an Jahren nachstand: bei den jungen Mädchen, den Damen. Konnte ihm Klein-Lydia widerstehen, konnten es die kleinen Mädel auf der Werft? Hier kam es ihm zu gut, daß er für Staat und schöne Kleider, für gestärkte Leibwäsche und spitzige Schuhe Sinn hatte, dazu kam, daß er Mut in der Brust trug und nicht schüchtern war; seht, er war ja nie durch Zurückweisungen niedergedrückt worden. Deshalb fiel es Reinert auch gar nicht ein, in eine Seitengasse auszuweichen, als den beiden nun Heibergs Alice begegnete, er begrüßte sie und blieb stehen; ja, das tat er.
Und jetzt war Frank an der Reihe, sich unterlegen zu fühlen, die Dame gönnte ihm kein Wort, kaum einen Blick. O, aber er würde sich wohl hüten, seine Augen auf den Kirchturm zu richten, um zu sehen, wieviel Uhr es sei, denn Reinert hatte die Gewohnheit angenommen, seine Uhr herauszuziehen und mit einem neuen Medaillon, in dem eine Haarlocke lag, zu glänzen, natürlich baten die Damen dann sofort, die Haarlocke sehen zu dürfen, sie waren so albern. Frank trug einen neuen Anzug unter dem Arm und eine große Banknote in der Brusttasche, er fühlte sich ausnahmsweise einmal obenauf und fragte die Dame: „Wie ist es Ihnen ergangen, seit wir uns zuletzt sahen?” — „Danke, gut,” antwortete sie zu Reinert gewandt. — O, Heibergs Alice war nicht so albern wie die andern!
[S. 219] „Ich trage nur rasch meinen Pack nach Hause und komme gleich wieder,” sagt Frank schlauerweise.
Da konnte Reinert doch unmöglich sagen: „Willst du schon nach Hause? Es ist noch nicht spät, laß mich einmal sehen!” Aber Reinert ist weder eine feine noch eine merkwürdig zart besaitete Seele, durchaus nicht; er antwortet: „Ich gebe dir eine halbe Stunde Zeit,” und zieht dabei seine Uhr heraus.
O, Frank würde wohl in einer halben Stunde wieder da sein, jawohl!
Daheim kam er viel mehr zu seinem Recht, er wurde der Herr des Hauses, alle gingen auf den Zehenspitzen um ihn herum. „Laß mich sehen, was für einen Anzug du diesmal bekommen hast!” sagt die Mutter. „Zieh ihn nur gleich an!”
Frank erzählt, daß er zum Konsul hineingerufen worden sei, die Mutter und Großmutter sind voller Neugier und stellen eifrig Fragen. Was wollte er? O, der Konsul! Frank stellt sich gleichgültig, bisweilen antwortet er, bisweilen auch nicht, nein, denn bisweilen ist Schweigen die beste Antwort. Sie sind sehr enttäuscht, weil er nicht Pfarrer werden will, die Großmutter versteht es überhaupt nicht, denn sein Kopf sei doch gut genug dafür. Da lächelt Frank; sein Lächeln ist betrübt und schwach, es ist eigentlich gar kein Lächeln, nur ein Anlauf dazu. Die Schwesterchen streichen über den neuen Anzug, „schöne Knöpfe,” sagen sie. Ein kleines Dreieck von rotem Seidenstoff guckt aus der äußeren Brusttasche heraus, es ist da ein für allemal festgenäht und ist das Taschentuch. Die Beinkleider sind zu kurz, und die Mutter will sie durch herunterlassen verbessern; sie macht sich auch gleich daran, denn Frank soll noch einen Besuch beim Schulvorsteher machen. Die Großmutter aber sitzt in tiefe Gedanken versunken da, sie schüttelt den Kopf, murmelt vor sich hin und ist unzufrieden.
„Dann werden sie darüber reden können,” murmelt sie.
„Was sagst du?”
„Daß du nicht Pfarrer werden könntest!” Sie dachte wohl an die Weiber am Brunnen.
Da schweigt Frank, und das ist eine gute Antwort.
„Das muß sich Frank erst noch überlegen,” sagt Petra, die noch nicht alle Hoffnung aufgegeben hat.
[S. 220] O, aber Frank ließ sich wohl nicht herumbringen, sein Vorsatz stand fest, war Stein und Bein geworden, unerschütterlich, tage- und nächtelang hatte er die Sache überlegt und schweigt; er kennt seinen Beruf.
Er geht zum Schulvorsteher. Die Beinkleider sind und bleiben trotz allem zu kurz, die Joppe hängt an ihm herunter so von ungefähr wie nach einer Grammatik mit wahlfreien Formen herausgeschnitten. Er ist sehr aufrecht, sieht sonderbar aus, er trägt eine Mütze, die ihn als zur Chineserei gehörig bezeichnet, zur Kaste. Da der Weg zur Schule seit seinem letzten Aufenthalt im Ort verlegt worden ist, verirrt er sich etwas und steht dann plötzlich vor einem Haus. Er sagt zu sich selbst und zu einer Frau, die unter der Tür steht:
„Ich war ganz in Gedanken versunken —”
„Wohin willst du?” fragt die Frau.
„Nach der Schule,” antwortet er kurz und biegt nach einer Seite ab.
„Dann mußt du dort hinaufgehen!” ruft ihm die Frau nach.
Ja, das war sonderbar, daß sie nicht wußte, wer er war. Oder wußte sie es? Jedenfalls kannte sie ihn aber nicht genügend, um so vertraut zu werden, ihn zu duzen und ihm ungefragt den Weg zu zeigen.
Der Schulvorsteher ist vom Examen mitgenommen, er sitzt in Schlafrock und Pantoffeln in seinem Sessel, er macht es sich mit der Grammatik, insbesondere der Satzlehre, behaglich, er erfrischt sich daran. Es gibt doch nichts Besseres auf der Welt, als so eine ruhige, gelassene Satzlehre einer fremden Sprache, so rein, so ohne Aufregung, ohne Erdichtungen!
„Herein! Bist du's, Frank? Nett, daß du kommst! Kennst du diese hier, Freund Frank? Ich hab' sie eben bekommen, ausgezeichnet! Diese Satzlehre hätte ich vor dem Examen haben sollen, aber da hab' ich mich abgeschunden und mich in der alten vorbereitet. Meine Tochter hat nämlich fast das ganze Jahr hindurch für mich französisch gegeben, und da mußte ich mich aufs Examen wieder vorbereiten. Es ist eben so in unserem Fach, sind wir eine Zeitlang außer Übung; was wir gekonnt haben, ist dann vergessen. Na, dann ist es Gott sei Dank recht [S. 221] angenehm, sich wieder hinein zu versenken, nicht wahr? In dem heiligen Tempel zu knien und mit der göttlichen Weisheit gelabt zu werden!”
Der Schulvorsteher war in diesen Jahren alt geworden, ein ergrautes Kind mit verblaßten Augen hinter der Brille. Er war zufrieden mit Frank, hatte nur Gutes von ihm gehört, wünschte ihm auch ferner alles Gute, setzte die größten Hoffnungen auf ihn. O, mit dem Fleiß, den er zeigte, gehe er einer ehrenvollen Zukunft entgegen, es sei nicht unmöglich, daß er einmal der Vorsteher dieser selben Schule hier, aus der er hervorgegangen war, werden könne. —
Der alte Philologe war demütig, das Leben selbst und auch seine ganze Laufbahn hatten ihn drunten gehalten und dazu gebracht, bescheiden zu denken, niemand konnte sich weniger mit seiner Philologie brüsten, als er es tat. Er nannte niemals die großen Forscher, die großen Sprachgenies, verstand wohl auch nicht viel davon, kannte wohl kaum ihre Namen, was sollte er mit den Genies? Sein Beruf war es nicht, Funde zu machen, er sollte nur lehren, nur lehren: ganz genau soviel lehren, um leben zu können, ganz genau soviel lehren, um andere durch die „Pensa” fürs Examen zu bringen. Der Schulvorsteher hatte also das Seinige getan. Ein mageres, trauriges Dasein, Armut und Geistesdunkelheit, Niedergang, aufreibende Arbeit und Blindheit. War das noch Geisteskrankheit, war es noch Schicksal, eine Torheit des Himmels? Nein, es war die des Menschen, des Affen.
Jetzt sprach der Schulvorsteher übrigens von andern lobenswerten Schülern, von zwei andern, auch sie glänzende gewaltige Lernköpfe; Frank war jetzt so weit gekommen, daß der Schulvorsteher seine Aufmerksamkeit neuen Fällen von begabten Kindern zuwenden konnte. „Leb' wohl, Freund Frank, Gott sei mit dir!”
Frank geht heim, auch er zufrieden und erhoben. Er hat keine Gelegenheit gehabt, sich für ein bestimmtes Brotstudium auszusprechen, der alte Sprachlehrer nahm wohl für selbstverständlich an, daß es Philologie sein werde, was denn sonst? Und im Grunde war es ja auch gleichgültig, wenn er nur viel las und lernte: das war sein eigentliches Ziel. Frank verläßt den Vorsteher der Schule, den Vorsteher des großen Steinhauses und geht heim.
[S. 222] Am Abend kommt der Vater aus dem Lagerhaus und Abel aus der Schmiede; das ändert für Frank nichts, er hat die Kammer im alten Hause als Heim und Bude. Die Absicht war, daß er auch in den Ferien studieren und lernen sollte, studieren, sein Gedächtnis vollstopfen, in Sprachen untertauchen, und das tat er auch. Wenn er zum Essen gerufen wurde, hatte er irgend etwas ausgeklügelt, war noch gelehrter und unirdischer geworden. Aber alle diese Mahlzeiten nahmen ihn sehr in Anspruch.
Er konnte mit einer leeren Konservendose hereinkommen, die er von draußen mitgebracht hatte, und fragen: „Was meint ihr wohl, daß auf dieser Büchse steht?” Ach, das wußte niemand. Aber die Mutter kannte das Zeichen von ihrer Dienstzeit bei Konsul Johnsens her und riet „Lachs vielleicht?” — „Jawohl, aber das ist doch nicht Englisch,” sagte Frank gekränkt, die Mutter machte ja mit ihrem praktischen Wissen seine ganze Weisheit zuschanden. „Hier steht Alaska Salmon .” Nun griff der Vater ein. Er war Matrose gewesen und wußte viel: „Alaska ist ein Land, ich werde doch wohl wissen, was Alaska ist.”
Die Konservendose brachte Frank keinen Triumph.
Sie kamen zu ihm mit andern Dingen, die sie nicht verstanden. Die Mutter kam mit einer Fadenrolle, bitte „ Brook Brothers, fünfzig Yards. ” Wieder griff der Vater ein, ohne Rücksicht auf seinen Sohn, und sagte mit geschwellter Brust, was es bedeutete. „Seemannsenglisch!” sagte Frank. Im ganzen war Oliver, der Hausvater, ungenau mit seinen englischen Erklärungen, er schwächte die Größe und das Geheimnisvolle dieses Augenblicks ab, indem er den Nadelbrief seiner Frau erklärte: „ Silver Eye, Cast Steel. ” — „Das gehört mit kleinen Buchstaben geschrieben,” erklärte Frank. — Dies begriff der Vater nicht. „Warum sollten die Buchstaben kleiner sein?” fragte er. Da gab Frank die einzig richtige Antwort: er schwieg. Und plötzlich ward ihm eine wohlverdiente Erhöhung. Die Mutter brachte eine Schachtel, die sie in einem Laden bekommen hatte, darauf stand: „ Toilet Soap. Superior. ” Nein, jetzt war Olivers Weisheit zu Ende, jedes Wort war ihm fremd, Frank mußte feierlich nachhelfen.
Da saß nun sein Bruder Abel, er verstand nichts von der Vorstellung und schwieg. Welch ein Unterschied zwischen [S. 223] den Brüdern! Einen Augenblick schien sich im Herzen des gelehrten Bruders ein wenig Mitleid mit Abel regen zu wollen, er war ja eben erst heimgekommen und wollte sich nicht über ihn erheben. „Jaja, Abel,” sagte er. „Das ist gar keine Hexerei, du wüßtest gewiß ebensoviel wie ich, wenn du studiert hättest.” Abel lächelte etwas verlegen und schüttelte den Kopf.
In vielen Fällen hatten die Betreffenden Nutzen von Franks Sprachenkunde; die Gelehrsamkeit hatte in Olivers Haus ihren Einzug gehalten. Sonderbar, daß niemand von den Nachbarn sich einstellte, um sich rätselhafte und ausländische Worte in der Zeitung oder auf einem Paket Tee erklären zu lassen! Sie hatten keinen Sinn für Bildung und geistige Fragen, sie waren dumm und faul. Derartig war Franks Umgebung.
Eines Abends kam Oliver nach Haus und sagte: „Wenn du nachher gegessen hast, Frank, und ganz satt bist, dann will ich dich etwas fragen.” Sie aßen unter einer gewissen Spannung, Frank allein war gelassen, er zweifelte nicht daran, daß er antworten könnte.
Dann kam der große Augenblick. Oliver legte etwas auf den Tisch. Der alte Sünder legte ein Spiel Karten auf den Tisch und fragte Frank, was auf dem Futteral stehe. Ein Spiel Karten also! Die Frauen fielen über ihn her, aber er stillte den Sturm. „Maul halten!” rief er. „Was ihr sagt, das weiß ich schon im voraus, ich würde auch nicht die Hand dazu bieten und so etwas heimbringen, aber Olaus auf dem Hügel hat mich darum gebeten.”
Frank nahm das nicht übel, im Gegenteil, er nahm das gut auf. Er hatte in der letzten Zeit nicht viele Sprachkenntnisse entfalten können und hatte nichts dagegen, sich wieder einmal zu zeigen. „Whist à 52 Blatt. Verzierte Asse. — Ja, Abel, was meinst du, daß das bedeutet?” fragte Frank immer noch gutwillig. Abel lächelte wieder verlegen und mußte die Frage unbeantwortet lassen. Frank fing an: „Eigentlich sind das drei verschiedene Sprachen.” Und dann erklärte er den Sinn vom ersten bis zum letzten Buchstaben, keinen Augenblick war er im Zweifel. Fabelhaft! Indessen hatte Abel das schmutzige Kartenspiel in die Hand genommen und zeigte, daß es ganz gewöhnliche [S. 224] Asse waren; wie war das zu verstehen? Darauf wurde Frank nachdenklich und ließ sich auf nichts Weiteres ein. „Aber ich kann für den Grundtext einstehen,” sagte er.
Oliver hatte ihm schweigend zugehört, jetzt rief er: „Ausgezeichnet!”
Alle sahen ihn an, und er hatte wohl auch etwas getrunken, Frank schien nicht zu strahlen. Aber Oliver hatte ja sonst schon den Sohn geduckt und war ihm mit seinem Englisch auf den Leib gerückt, jetzt wollte er ihn wieder aufrichten, er verstand sich auf Kinder. Er stellte sich an und tat ganz entzückt: nein, so ein Kopf, wie ihn sein Sohn Frank auf den Schultern trüge, großartig!
Wurde Petra eifersüchtig? Sie fuhr bei Olivers Ausspruch auf und warf den Kopf in den Nacken: „Dein Sohn!”
Oliver ist wie vom Schlag getroffen, sein Gesichtsausdruck wird ganz leer, er läßt den Mund hängen, und seine fetten Finger liegen leblos auf dem Tisch.
Petra gibt eine nähere Erklärung. „Er ist doch nicht dein Sohn allein, er ist doch auch meiner!”
Langsam kommt Oliver wieder zu sich: „Ja, wer hat denn etwas anderes gesagt? Natürlich ist er auch dein Sohn!” Und jetzt wird Oliver wieder prachtvoll der Alte, er wird wieder gerecht und will keinen Unterschied zwischen seinen Söhnen machen, er zog Abel mit herein und sagte: „Ja, wenn ich nur euch Jungen gut ins Leben hinausstelle, euch in eine nützliche Lehre oder in die Gelehrsamkeit bringe, dann hab' ich das meinige getan. Mehr kann ich nicht leisten.”
Am nächsten Abend konnte Oliver erklären, wie das mit den Assen zusammenhing. Dieser Lump von Olaus auf dem Hügel hatte zum Scherz ein falsches Spiel Karten in das Futteral gesteckt und hatte gemeint, er könne Frank aufsitzen lassen. Aber Frank hatte recht gehabt. „Und du, Abel, hast auch recht gehabt, es waren keine andern Asse, als man sie in der ganzen Welt hat, so weit ich herumgekommen bin. Und es ist, wie ich sage: Gelehrsamkeit habt ihr, Gott sei Dank!”
Was auch der Grund sein mochte, Frank strahlte dennoch nicht; diese Sitzungen daheim brachten ihm wohl nicht genug ein. Oder wie, hatten sie denn überhaupt [S. 225] einen Umfang? Keine Länge und keine Breite, ein enger Rahmen, Vater, Mutter, drei Geschwister und die Großmutter. Er verfiel darauf, seine gelehrten Schulbücher herzunehmen. „Mathematik,” sagte er, „himmelhohe Rechnung.” Ja, er las laut vor über Geometrie, Algebra, Derivationsregeln, Integralrechnung — „ein Kreis, dessen Krümmung der Krümmung eines Bogens in einem gegebenen Punkt gleich ist, wird der Krümmungskreis des Bogens in dem gegebenen Punkt genannt, sein Radius heißt Krümmungsradius —”
Oliver sagt ganz geknickt: „Das klingt ja beinahe, als ob es gar kein Mensch mehr wäre, der das sagt. Müßt ihr das lernen?”
„Wir müssen alles lernen.”
Frank war weit über seinen Stand hinausgewachsen und sprach wie ein Verrückter. Er war nur noch sich selbst verständlich und konnte sich nicht einmal wie die Elster den Elstern verständlich machen. Wo will das noch hin? Er fragte Abel: „Es gibt wohl nicht eine einzige ausländische Zeitung hier in der Stadt?”
„Das weiß ich nicht,” erwidert Abel. „Aber der Stadtingenieur hält sich Zeitungen.”
„Ausländische? In ausländischen Sprachen?”
„Das weiß ich nicht. Aber die norwegischen.”
„Die norwegischen!” macht Frank verächtlich.
In dieser kleinen Küstenstadt konnte jedermann englisch; wer hätte nicht englisch gekonnt? Aber der Jüngling Frank konnte allzuviel, er mußte sich selbst mitteilen, mußte fragen und antworten, nicken, den Kopf schütteln, zweifeln und stumm glauben. Zuweilen drang ein Stöhnen zu der Großmutter in die Stube heraus, das kam aus der Kammer, es kam von dem Felsen, kam von einem, der in Ketten lag.
Abel war unglaublich einfältig; er konnte ein Buch in die Hand nehmen und fragen: „Was ist das für ein Buch?”
„Latein. Das verstehst du nicht.”
„So, dann ist es also lateinisch gedruckt.”
Frank schweigt.
„Willst du am Sonntag eine Bootfahrt mit uns machen?” fragt Abel.
Frank schüttelt zweifelnd den Kopf. „Wer geht mit?”
[S. 226] „Wir sind eine ganze Gesellschaft.”
„Einige von der Werft?”
„Was, von der Werft? Die sind ja so klein. Klein-Lydia kommt mit.”
„Klein-Lydia!” versetzt Frank spöttisch.
Unglaublich einfältig ist Abel. Er fühlte kein Entzücken, wenn er Bücher las, er dachte wie ein Schmied. „Klein-Lydia,” sagte er. Frank hatte sich nie etwas aus Bootfahrten gemacht, jetzt machte er sich noch weniger daraus, er war daran gewöhnt, für sich zu bleiben. Er ging nicht einmal mehr mit Reinert um, die beiden Studenten traten nun jeder für sich auf. Der gute Reinert trat ja allmählich auf der Straße allzu überlegen auf, er trug Überzieher und Medaillon und sprach sehr erwachsen, eines Tages begrüßte er Fia Johnsen und sagte ihr eine Schmeichelei über ihren Hut. Das war zu viel, Fräulein Fia ging stumm vorbei. Frank stand allerdings in der Nähe, als dies geschah, und Reinert zog ihn frech mit in den Skandal hinein, indem er laut lachte und sagte: „Hast du das gesehen, Frank?” Frank wählte einen Richtweg nach Hause.
Nein, er hatte anderes zu tun, als sich mit Reinert herumzutreiben, die Mädchen zu grüßen, die Damen, und sie heimzubegleiten. Leeres Vergnügen! Dagegen ging er hie und da auf die Werft hinaus, er hatte bei Henriksen, der Achtung vor dem studierten Mann empfand, Zutritt gefunden und machte nun zuweilen einen Spaziergang mit der ältesten der kleinen Töchter, mit Konstanze, und erzählte ihr einiges aus einer größeren Welt, als die ihrige war. Seht, Konstanze war noch ein kleines Mädchen und noch nicht ganz erwachsen, nein, aber wahrhaftig, sie war schon recht verständig und horchte dankbar auf seine Erzählungen aus einer großen Welt. Das waren angenehme Ausflüge. Frank betrug sich bei Henriksens sehr gebildet, er sagte „wie beliebt!” und „bitte um Entschuldigung!”; er erhielt eine Zigarette und nahm sie aus dem Munde, wenn er sprach, er trank Kaffee und spreizte dabei sehr gebildet den kleinen Finger. Von großer Verliebtheit war keine Rede, nur von einer kleinen Herzensregung, einem guten Geschmack im Munde. Man sah, wohin Reinerts Gewaltsamkeit führen konnte, sein Herz [S. 227] machte am hellen Tage große Sprünge auf der Straße, es konnte ihn eine leichtsinnige Lust ankommen, laut zu pfeifen, zu singen. Frank hielt sich jede Verliebtheit auf Armeslänge vom Leibe.
Es wurde Sonntag, und Abel kam nach Hause, um seine Schwestern zu der Bootfahrt abzuholen; noch einmal fragte er Frank, ob er nicht mitkommen wolle.
„Nein.”
„Wir haben Mundvorrat mitgenommen, dann legen wir an und tanzen. Der Zeichenstift nimmt seine Ziehharmonika mit.”
„Nein.”
Trotzdem schaute ihnen Frank lange nach, als sie weggingen, er fühlte wohl ein schwaches Leuchten in sich, den Widerschein des Lebens draußen. Der Ärmste war von Anbeginn an irre gegangen. In der Tiefe seines Handgelenks sieht er einen blauen Puls schlagen, seine Brust weitet sich, in seinem achtzehnjährigen Kinderhirn brennt ein sonderbares Feuer.
Seiner Großmutter draußen in der Stube gefiel es, daß er abgelehnt hatte, an der Bootfahrt teilzunehmen; das war der künftige Pfarrer! Die Großmutter hat den Befehl, den Studenten nicht zu stören, jetzt macht sie aber doch furchtsam die Tür auf mit einer Tasse Kaffee in der Hand und bittet ihn, den Trank nicht zu verschmähen.
Das kam ihm gerade recht.
„Du hast sehr recht daran getan, daß du zu Hause geblieben bist,” sagt sie.
„Was sollte ich denn dabei?” erwidert er.
Er zweifelt nicht daran, daß er keinen Fehler gemacht hat, als er daheim blieb und sich so vernünftig auf der rechten Seite hielt. Er wußte nicht, daß nur die, die gar nichts tun, keinen Fehler machen.
Dann steckte er die Nase wieder in seine Bücher. Aber die Mahlzeiten kosteten ihn viel Zeit. Der Ruf zum Essen führte ihn ja in die Wirklichkeit hinein und machte ihm klar, daß er nicht hungrig war; aber das wußte er schon vorher.
Es kann gut sein, daß Abel einen Fehler machte, als er diese Bootfahrt ins Werk setzte. Klein-Lydia kam nicht mit, und der Tag war verdorben. Er hielt bis zum Abend auf einer grünen Insel aus, schrie und machte sich zum Hanswurst, aber als er wieder zu Hause war, wollte er sofort Klein-Lydia aufsuchen und Rechenschaft von ihr fordern. Er traf sie nicht; es war Sonntag, Klein-Lydia saß beim Polizei-Carlsen und übte Klavier.
Gut.
Am nächsten Abend suchte er sie wieder auf, traf sie aber wieder nicht; sie war ausgegangen. Ihre Schwestern waren zu Hause.
Nun mußte es Klein-Lydia erfahren haben, daß er sie sprechen wollte, aber sie kam ihm nicht entgegen, sie wich ihm aus. Na, dann war es wohl eine natürliche Sache, daß sie ausgegangen war, am dritten Abend würde sie gewiß zu Hause sein.
Nein.
Da wurde Abel zahm. Er hielt zwar die Welt immer noch für einen Ort, an dem es sich aushalten ließ, aber es war keine interessante Welt, und das Leben war abscheulich und unnötig. Heute hatte er Klein-Lydia und ein paar andere Mädchen mit Reinert zusammen gesehen — dieser Küstersohn, der sich immer mit den Mädchen herumtrieb — mit dem zusammen hatte Abel Klein-Lydia gesehen. Das war ja nett! Dem Reinert wollte er einen Riegel vorschieben vor sein ruchloses Betragen, und Klein-Lydia mußte gerettet werden. Das wollte Abel tun, er wollte sie retten. Allein so etwas läßt sich nicht mit dem Hammer machen, dazu gehört Geduld und große Feinheit. Kann man nicht in den Hafen flott hineinfahren, dann warpt man sich eben in den Hafen. Er nahm sich nicht [S. 229] vor, noch öfter zu dem Mädchen zu gehen, weit entfernt, er gedachte sie zufällig auf der Straße zu treffen. Als er sie aber nach ein paar Tagen noch nicht gesehen hatte, schlich er sich doch in den bekannten Hinterhof.
In dieser Zwischenzeit war er still geworden, war wieder aufgeflammt, wurde wieder still, flammte noch mehrere Male auf, jetzt im Augenblick war er rasend, als er aber das Mädchen traf, konnte er doch nicht weniger zu ihr sagen, als: „Na, wo hast du dich herumgetrieben? Wenn wir heiraten, wird das ein anderer Tanz. Warum bist du am Sonntag nicht zu der Bootfahrt gekommen?”
Klein-Lydia hatte ihn vielleicht an diesem Abend erwartet, hatte sich vielleicht aus sehr großer Freundlichkeit eingestellt, sie lächelte, nickte ihm als Erwiderung seines Grußes zu und sagte: „Bist du's, Abel?”
Dies entwaffnete ihn. Eigentlich hätte er nun mit einem Menschen Abrechnung halten müssen; aber als Führer dieses Unternehmens blieb er merkwürdig mutlos stehen und starrte gerade aus.
Lydia ihrerseits wich keineswegs davor zurück, zu den Tatsachen zu kommen: „Warum ich am Sonntag nicht mitgekommen bin? Ich mußte Klavier üben und beides konnte ich doch nicht zu gleicher Zeit.”
„Nein,” sagte er. Aber er wußte ganz gut, daß sie durchaus nicht den ganzen Tag Klavier gespielt hatte, sondern erst am Abend. Außerdem hatte sie seinen Schwestern versprochen gehabt, mitzukommen, diese aber dann im Stich gelassen. Da mochte der Henker drauskommen!
Klein-Lydia saß auf der ärmlichen, engen Holztreppe und nähte, sie flickte oder veränderte etwas an einem Kleid, sie war geschickt mit den Händen. Dann ging es, wie derartiges zu gehen pflegt. Allmählich dachte sie wohl, sie sei überfallen worden; und warum sollte sie sich das gefallen lassen? Dieser Schmiedknecht und seine Schwestern glaubten am Ende, sie seien ihresgleichen, aber sie wollte sie schon eines Besseren belehren. „Ich hab' etwas mehr zu lernen als du,” sagte sie. „Du meinst wohl, Klavierspielen sei leicht?”
„Nein,” sagte er.
„Schon allein die Noten sind entsetzlich schwer. Und dann alle die Übungen.”
[S. 230] „Aber wozu lernst du es denn?”
Ach, wie war er einfältig! Warum sie Klavier spielen lernte! Weil alle besseren Leute es lernten. Sie hatte Tanzen gelernt, sie mußte Klavier spielen lernen, und Sticken und Spitzen häkeln an ihre Hemden, ach, was sie alles lernen mußte! Es war ihr nicht einmal angeboren, mit einem Sonnenschirm in der Sonne zu gehen, sie mußte das erst üben, eine herrliche Sache war es. Auch ihre Schwestern hatten gelernt und gelernt, auch sie waren nicht die ersten besten und dachten nicht daran, sich wegzuwerfen, sie blieben zu Hause und warteten auf einen Steuermann, einen Kommis. So benehmen sich bessere Leute.
Klein-Lydia ärgerte sich nicht sehr über Abels Worte, aber sie schwieg dazu.
Da stand nun also Abel wieder.
Sie hatte einen Augenblick ihren Fingerhut neben sich gelegt; er nahm ihn in die Hand und fing an: „Was kann das sein, das so wie geädert ist?”
„Das? Elfenbein.”
Sein Sinn für Elfenbein war wenig entwickelt, das prächtigste, wovon er je gehört hatte, war der Tempel Salomonis, aber kein Fingerhut. Jetzt ritt ihn indes der Teufel, er legte den kostbaren Fingerhut aus der Hand, strich einmal über den blauen Waschstoff des Kleides, an dem sie nähte, und sagte: „Das ist Brokat, so weit ich es beurteilen kann.”
Sie faßte das augenblicklich als Anzüglichkeit auf, was es vielleicht auch war, und sagte: „Davon verstehst du nichts.”
Schweigen.
„Hast du nicht etwa noch eine Treppenstufe?” fragte er.
„Eine Treppenstufe? Willst du sitzen? Bitte schön!”
Sie stand auf und machte ihm Platz.
„Nein, so war es nicht gemeint,” wehrte er ab. „Wenn wir nicht beide auf der Treppe Platz haben, kann ich ja stehen.” Übrigens war er jetzt recht im Zug und fuhr fort: „Was ich sagen wollte — das ist doch ein Unsinn mit deinem Klavier spielen. Du hast doch keine Verwendung mehr dafür, wenn wir verheiratet sind.”
Sie sank wahrhaftig auf die Treppe nieder, sie wurde [S. 231] klein wie ein Punkt, und es dauerte eine geraume Weile, bis sie die Sprache wiedergefunden hatte. „Verheiratet? Ich mit dir?”
Er sah sie forschend an, als wolle er unparteiisch sein. Er verstand nicht, daß dies war, als hätte sie ihn an der Nase herumgeführt, nur ein wenig, natürlich, aber doch an der Nase gefaßt, ihn dem Ausgang zugedreht und ihn hätte gehen lassen.
„Dich heirat' ich in meinem Leben nicht,” sagte Klein-Lydia.
Aus diesen Worten schließt Abel, daß sie ihm einen Korb gegeben habe; er blieb aber trotzdem stehen und schaute sie an, konnte es nicht lassen und blinzelte von Zeit zu Zeit. Das war ja eine nette Art zu reden, die sie an sich hatte, es war ja gerade, als ob sie ihn nicht haben wollte! Sie konnte das halten, wie sie wollte, Glück auf die Reise! Verdrießlich stand er eine Weile da.
Klein-Lydia sieht auf, nickt ihm lächelnd zu und sagt: „Es ist wahr, was ich sage!” — Ach, aber es war gar kein Zweifel, daß sie etwas sehr scharf gewesen war, und das war unnötig, sie konnte schon ein wenig freundlicher sein. „Du könntest mir wohl ein wenig helfen und hier festhalten,” sagt sie, und damit reicht sie ihm eine Falte ihres Kleides.
Nein, er regte sich nicht.
„Hörst du!” rief sie und stach ihm mit der Nadel in die Wade.
Er machte einen Satz, und, ist es zu glauben, wurde ärgerlich, wurde böse. Ohne mehr zu sagen, als ein einziges Mal „Au!” zu rufen, blieb er einen Augenblick stehen und biß sich auf die Lippen, wurde leichenblaß und war im Begriff, gehörig herauszulangen. Es machte ihn nicht sanfter im Gemüt, daß Klein-Lydia in lautes Lachen ausbrach. Was in aller Welt — er, der sich aus einer Kreuzotter nichts macht, der sich in der Schmiede oftmals Blutblasen an die Hände schlug, sollte jetzt eines Nadelstiches wegen einen Luftsprung machen! Aber das tat er. Und nun merkte sie wohl, daß sie etwas Ordentliches tun mußte: „Du, der Reinert ist einmal ein Affe!” sagte sie.
Das rief Abel wieder zurück und erinnerte ihn an seine Pflicht, Klein-Lydia zu retten. „Ja,” sagte auch er.
[S. 232] „Ein Wichtigtuer!”
„Ja. Hast du das bis jetzt noch nicht gewußt?”
„Aber er ist ein flotter Kerl. Und was er für hübsche Locken hat.”
„Na, dir gefällt er also doch?”
„Mir? Meine Mutter sagt, er habe sich herausgemacht. Und dann hat er doch auch eine Menge gelernt.”
„Hahaha!” sagt Abel. „Blech!” sagt er. „Der soll viel gelernt haben? Ich weiß hundertmal mehr als er, wenn du es wissen willst. Ich weiß nicht gerade dasselbe wie er, nicht das, was in den Büchern steht, aber von andern Dingen weiß ich hundertmal mehr als er.”
„Ja, von andern Dingen!” höhnte sie.
„Ja, wohlgemerkt, hundertmal mehr! Und du wirst schon sehen, daß er niemals Pfarrer wird. Das ist mit ihm genau so wie mit Frank, der wird auch niemals Pfarrer. So ein Küstersohn! Und wenn du dich auf einen verlassen willst, der nach so viel mehr aussieht, als wirklich hinter ihm ist, dann bist du recht dumm, das sag' ich dir.”
„Ich? Ich mach' mir nicht das geringste aus ihm.”
Das veränderte die Sache, und Abel fühlte sich wohl mit einem Male recht erleichtert, er hätte sie küssen können, wahrhaftig, sie auf den Mund küssen, da saß sie. Aber ein Mädchen mit Küssen zu überrumpeln, ist schwierig, das verlangt technische Fertigkeit, man muß treffen. Statt dessen nahm er den Schleifstein, der an der Wand stand, hob ihn aus Mutwillen oder aus unmenschlicher Kraft aus seinem Ständer und legte ihn ihr in die Arme.
Na ja, man redet ja oft vom Verstummen, aber eine so ohrenbetäubende Stummheit hatte er noch nie gehört. Dann schreit sie, Klein-Lydia schreit, brüllt, ihre Empörung macht sie ganz fremd und häßlich. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr den Schleifstein wieder abzunehmen und ihn an seinen Platz zu tun.
„Du Schwein!” zischte sie. „Wie kannst du dir herausnehmen —”
„Hehehe!” lachte er verlegen und unglücklich. „Hast du je gesehen, daß ich so etwas getan habe?” Übrigens war es merkwürdig, wieviel Klein-Lydia zuweilen ertragen konnte, ohne wild zu werden. Er selbst war nicht so. Das hatte er vielleicht von seiner Mutter.
[S. 233] „Da sieh her, wie du meine Näharbeit eingeschmutzt hast!” sagt sie. „Ein frischgewaschenes Kleid!”
„Ich nehm's an den Brunnen,” bot er an.
„Dummkopf!”
Dann wollte er sie wieder beruhigen, deutete von weitem auf seine Gefühle für sie hin, sagte, daß er sie liebe, er könne ihr zuliebe an alle Brunnen der Stadt gehen, sie solle ihm seinen Narrenstreich mit dem Schleifstein verzeihen —
Sie stand auf und schüttelte ihren Rock zurecht, schlug sich den Sand ab und ließ sich wieder auf die Treppenstufe niederfallen, daß diese krachte, und schwieg.
„Und im übrigen hab' ich es gar nicht tun wollen,” sagte er. „Und es ist nichts, um es sich zu Herzen zu nehmen.”
„So!” erwidert sie und schaut ihn wütend an; sie spießte ihn beinahe auf mit ihren Blicken.
„Ich möchte nur wissen, wo sich dein Bruder Eduard herumtreibt?” sagte er.
„Schweig!”
„Wann kommt er denn heim, weißt du es?”
„Schweig, hörst du nicht, halt doch den Mund!”
„Sehr wohl!” sagte er und nickte dazu. „Du brauchst nur zu befehlen, wie du es haben willst,” sagte er, und damit zog er sich in sich selbst zurück.
Allein so konnte es doch nicht bleiben. Nach einer Weile stand sie plötzlich auf und fing wieder an, sich den Sand abzuklopfen, als ob sie noch nicht sauber genug wäre. Aber sie war beinahe wieder freundlich geworden und lächelte sogar ein wenig.
Sie waren ja doch auch keine so sehr alten Menschen. Wenn er neunzehn Jahr alt war, so war sie ungefähr siebzehn; oder wenn man die Wahrheit sagte, daß er nämlich erst sechzehn war, so war sie noch jünger. Das ist doch kein Alter! Und da standen sie also.
„Was hast du denn damit gemeint, du Narr?” fragte sie lachend.
„Gemeint? Das weiß ich nicht.”
„Warum setzt du dich denn nicht, hörst du!” sagte sie dann und nahm selbst Platz.
Jetzt war er an der Reihe, zu schweigen, er stand nur [S. 234] da und lehnte sich ans Geländer. Aber als sie ihm wieder eine Falte ihres Kleides hinhielt, die er festhalten sollte, während sie nähte, griff er zu. Da deutete sie auf seine Hand und sagte: „Was du doch für einen sonderbaren Haarwuchs auf den Händen hast!”
„Sonderbar? Der ist ganz recht!”
Dieser Haarwuchs! Der war in der Hitze der Schmiedeesse hervorgesproßt, ein schwarzes Fell, er war stolz darauf gewesen, seine Altersgenossen hatten das nicht, er war über sie hinausgewachsen, hatte sie hinter sich gelassen. Und was für Manneshände er im ganzen genommen bekommen hatte!
„Ich überlege mir, ob ich nicht am besten daran täte, meine Lehrzeit bei Carlsen auszuhalten,” sagte er. „Was meinst du dazu?”
„Das weiß ich nicht. Wie lange dauert sie denn?”
„O, sie dauert nicht lang. Und nachher soll ich die Schmiede um einen billigen Preis bekommen, sagt Carlsen. Er will mir dazu verhelfen.”
„Die Schmiede? Was willst du denn damit? Na ja, darin schmieden. Ja, willst du denn für immer dableiben?”
„Etwas anderes ist auch nicht viel besser. Andere Leute kommen mir auch nicht netter vor.”
„Aber du wirst so schwarz,” sagte Klein-Lydia.
„Und wenn die Zeit kommt und wir einander heiraten —”
Sie wurde nicht mehr wütend, nein, das wurde sie nicht, aber sie unterbrach ihn bestimmt: „Nein, daraus wird nichts.”
„Dann wird es auch noch zu einem Haus reichen.”
„Niemals!”
„Wie?” fragte er verständnislos.
„Ich liebe dich nicht,” erwiderte sie.
Er schaute ihre Hände an, schaute ihr Gesicht an und überlegte. „O, das gibt sich schon,” sagte er in einem Tone, als ob die Sache damit für sie abgetan sein müsse. Aber wieder war Klein-Lydia die Tochter ihrer rasch besonnenen Mutter, und sie wollte das nicht auf sich sitzen lassen. „Laß los!” kommandierte sie und zerrte an ihrem Kleide.
Aber natürlich ließen solche Hände nicht los.
„Hörst du nicht? Ich hab' gesagt, laß los!”
[S. 235] „Na, du brauchst ja nur zu sagen, wie du es haben willst.”
Dann ließ er los, und nun war das Wasser wieder zwischen ihnen verschüttet.
„Du solltest dich schämen!” sagte Klein-Lydia.
Er erwiderte in sehr erwachsenem Tone: „Ich bin also nicht älter als zwanzig, wenn du das meinst. Oder vielleicht noch nicht einmal ganz zwanzig.”
„Gott, wie du übertreibst!” rief sie. „Du bist ja der reine Garnichts, du bist nicht im letzten, du bist im vorletzten Jahr konfirmiert worden. Meinst du, ich wisse nicht, wann du geboren bist?”
Da lachte Abel: „Nein, Klein-Lydia, entschuldige. Als ich geboren wurde, hat man an dich noch nicht einmal gedacht. Ich bin nicht mehr weit von zwanzig, was die Leute auch sagen mögen. Ich muß es doch selbst am besten wissen.”
„Na —” Klein-Lydia winkte ungeduldig ab und sagte: „Ich werd' im Frühjahr konfirmiert.”
„Das ist ja gut.”
„Das ist gut, was soll das heißen?”
Schweigen. Er meinte wohl, es sei gut, wenn das erledigt sei, dann sei sie frei und fertig, aber er wagte es nicht, sie noch mehr zu ärgern.
„So, jetzt hab' ich fertig genäht,” sagte sie und stand auf.
„Dann guten Abend!” versetzte er. Aber gleich darauf war er dreist genug, sie um ein wenig Wasser zu bitten.
„Gewiß, wenn nur Wasser da ist,” sagte sie und schaute sich um. „Du kannst ja hineingehen und trinken.”
Darauf erwiderte Abel: „Nein, ich kann heimgehen und da trinken. Es ist ja ganz einerlei.”
„Durchaus nicht!” rief Klein-Lydia. „Ich will hineingehen und dir Wasser holen,” sagte sie, als ob er ihr ein und alles auf der Welt wäre.
Nachdem er getrunken hatte, redeten sie noch eine Weile miteinander, und ehe er ging, hatte er sie dennoch die verschiedensten Male umarmen und küssen dürfen. Was doch dieser Schmiedknecht für schrecklich geschmeidige und gefährliche Arme hatte!
Er schlenkerte mit den Armen, als er nach Hause ging, ein Herr der Welt, der Auserwählte der Mädchen, der [S. 236] zukünftige Besitzer einer Schmiede. Ja, es gab sich alles. Am liebsten wäre er jetzt allein gewesen, aber als er heimkam, war Besuch da, Maren Salt saß in der Stube.
Außer dem Studenten waren alle anwesend, und es wurde in kurzer Zeit viel gesprochen. Maren Salt hatte es eilig, sie habe nur eine Besorgung in der Stadt zu machen gehabt und habe Lust bekommen, bei den alten Bekannten eben einmal einen Blick hineinzuwerfen. Oliver selbst ließ das eine und andere gewichtige Wort fallen, während der Gast einige Tassen Kaffee trank und Bäckerwaren dazu aß.
„Kannst du denn von Hause weg sein?” fragt Petra. „Schläft der Junge?”
„Nein, das weiß ich nicht. Mattis ist bei ihm.”
„Mattis?”
„Ich kann Mattis den Jungen ruhig anvertrauen.”
„Du willst doch nicht sagen, daß dir Mattis deinen Jungen hütet?”
„Nun, warum denn nicht? Wie sollte es denn sonst gehen?” fragte Maren Salt. „Ich mußte heut abend ausgehen und für den Haushalt einkaufen, und Mattis bleibt zu Hause. Das tut er immer, anders geht es doch nicht.”
Oliver spricht mit großer Würde: „Meine Meinung ist, daß Mattis dich nimmt, Maren, wenn der Tag kommt, an dem er sich verändert.”
Maren Salt hatte durchaus nichts dagegen, das zu hören, aber es war beinahe, als ob Petra etwas eifersüchtig würde. „Das glaub' ich nun doch nicht,” sagte sie. „Na ja, mir kann es ja einerlei sein.”
„Es wär' noch nicht das dümmste, was er tun könnte,” meinte Oliver, der neben Maren stand. „Dann hätt' er den Jungen und könnte ihn anlernen, wenn die Zeit dazu gekommen ist, und ihm die Werkstatt übergeben.”
„Ach, der Junge ist ja kaum geboren,” wendet Maren ein. „Bis dorthin fließt noch viel Wasser den Bach hinunter.”
„Ich hätt' ihn gerne einmal gesehen. Er ist wohl recht groß,” sagt Petra.
„Ja, das fehlt nicht. Der Doktor sagt, er sei einer von der Rasse.”
[S. 237] Petra wird aufmerksam. „Hat das der Doktor gesagt?”
„Ja. Ist das so etwas Besonderes?”
Schweigen. Petra denkt nach. „Nein,” sagt sie dann. „Das ist etwas, was der Doktor zuweilen sagt; von meinen hat er das auch gesagt, sie seien von der Rasse. Ich weiß nicht, was er damit meint.”
Oliver spricht wieder. „Soviel ich verstehe, will er damit sagen zum Exempel, das Kind sei groß und stark und frisch. Ja, Gott sei Dank, unsere sind alle kräftig gewesen.”
Petra fragt: „Was für Augen hat er denn?”
„Braune Augen,” erwidert Maren.
Da wurde Petra wieder ganz wie eifersüchtig und wunderlich und konnte sich nicht halten, sondern rief: „Wo hast du denn braune Augen für ihn hergenommen?”
„Hehe, das möchtest du wissen!” erwiderte Maren Salt und lachte kokett.
„Ich kann es mir schon denken,” sagt Petra scharf und bitter. „Er ist überall!”
Maren sieht sie an. „Wie du redest! Wen meinst du denn?”
„Ach, niemand. Ich meine niemand.”
„Und du sollst auch gar nicht raten, du bringst es doch nicht heraus!” Sie sieht pfiffig und geheimnisvoll aus und schweigt. Verwünschtes altes Frauenzimmer, wer ist nur der Vater des Kindes? Sie sah aus, als ob sie sich das selbst erst überlegte, ja, als ob sie die Wahl hätte und schwanke.
„Ist nichts mehr in der Kaffeekanne für Maren?” fragt Oliver.
Eine vierte Tasse wird eingeschenkt und ausgetrunken, und unterdessen wird von dem und jenem geplaudert. Petra hätte ihre gute Laune so ziemlich wiedererlangt haben sollen, denn es zeigte sich, daß Maren selbst braune Augen hatte — war es da ein Wunder, wenn ihr Kind auch solche mit auf die Welt brachte? Aber es schien, als ob Petra nun einmal einen bestimmten Verdacht hätte und diesen Verdacht nicht mehr loswerden könnte. „Er ist es doch,” behauptete sie. „Er ist so schlau gewesen, diesmal eine mit braunen Augen zu nehmen, um sicher zu sein.”
„Ich versteh' dein dummes Geschwätz nicht, Petra! Ja, [S. 238] ich muß es gerade heraus sagen, daß das ein dummes Geschwätz ist,” erklärt Maren immer noch mit freundlichem Lachen.
Petra ist erbost und wahrt den Anstand ihrem Gaste gegenüber nicht. „Meinst du vielleicht, er hab' dich aus irgendeinem andern Grunde genommen, als deiner braunen Augen wegen? Nein, Maren, mach dir nur klar, daß du nicht mehr die Jüngste bist.”
Als man auf diesem Punkt angelangt war, meinte Oliver wohl, es sei Zeit für ihn einzugreifen, und er tat dies, indem er seinen Hut nahm und hinaushumpelte. Abel nahm er auch mit, und nun saßen fünf Frauenzimmer, alt und jung zusammengerechnet, beieinander. Aber die sehr erregte Petra war kein großer Genuß für ihren Gast, und Maren hätte am liebsten die Kaffeetasse zerschmettert, hielt sich aber im Zaum und sagte nur bis ins Innerste gekränkt: „Ich bin allerdings nicht mehr die Jüngste, nein. Aber du bist auch kein heuriges Häschen mehr, Petra, vergiß das nicht! Und was das betrifft, so hast du jetzt wohl mehr als genug bekommen von dem Mann, mit dem du mich jetzt im Verdacht hast.”
Nun wurde Petra aufmerksam darauf, daß die kleinen Mädchen die Ohren spitzten, und sie fing an zu lachen, um damit über die Sache wegzukommen. „Ich, bekommen? Keinen Öre hab ich bekommen von irgendeinem andern Mann als meinem eigenen, das kannst du glauben. Wofür sollten mir andere Männer Geld geben? Und wir kommen auch Gott sei Dank mit dem aus, was Oliver verdient.”
Dies war nur gesagt, um das Gespräch in eine andere Bahn zu lenken; es wurde eine Brücke geschlagen, über die alle gingen, und auch die beiden streitenden Mütter schlossen etwas später Frieden. Sie gingen zu den Stadtneuigkeiten über, und die fünfte Tasse Kaffee wurde eingeschenkt, alle die Frauenzimmer beugten sich weit über den Tisch vor und schauten einander ins Gesicht. Da war wieder ein Skandal gewesen, draußen bei dem Kaspar, der auf der Werft arbeitete, jetzt hatte er seine Frau geschlagen. Maren hatte es gestern abend gehört.
Petra wurde ganz wütend auf Kaspar. „Was hatte denn die Frau getan?”
[S. 239] „Ach, es war wohl etwas mit einem andern Werftarbeiter.”
„Er hätte es wagen sollen, Hand an mich zu legen!” drohte Petra.
„Allerdings, aber was hat er auch für eine Frau!” sagt die Großmutter, die alt und ausgebrannt ist. „Was hat sie damals getan, in dem Jahr, wo ihr Mann zur See war? Sie ging an Bord einer fremden Schute und war lange Zeit im Ausland Kellnerin.”
Maren Salt äußert: „Es ist sonderbar, daß sie kein Kind bekommen hat.”
„Was weißt denn du, was sie bekommen hat?”
„Dann hätte sie doch seither auch wieder ein Kind gehabt.”
„Nein,” sagt Petra. „Sie ist keine von denen, die Kinder kriegen, sie kann tun und lassen, was sie will.”
Die Großmutter versinkt in Gedanken über jenes alte Ereignis; über die Reise der jungen Matrosenfrau ins Ausland war seinerzeit sehr viel geklatscht worden. Und sie hat doch so einen vorzüglichen Vater, den Schmied Carlsen, eine gute und ehrenwerte Heimat, und dennoch!
„So geht's auf der Welt!” sagt Maren Salt. Und sie weiß noch andere Stadtneuigkeiten. „Grütze-Olsens jüngste Tochter hat Mitte letzten Monats in Christiania Hochzeit gehabt.”
„In Christiania? Warum denn dort?”
Es hatte in der Zeitung gestanden, Maren hatte mit angehört, wie es im Laden bei Davidsen vorgelesen wurde.
„Wen hat sie denn gekriegt?”
„Einen Maler, stand in der Zeitung.”
Die kleinen Mädchen waren sofort auf dem Laufenden. „Das ist der Maler, der bei Johnsens am Landungsplatz und bei Grütze-Olsens Bilder gemalt hat,” sagen sie, das war ihnen ganz klar, das wußten sie ganz genau, diese Kiek-in-die-Welt, o, sie waren Schlauköpfchen!
„Er muß aus einer reichen und vornehmen Familie stammen, nach dem, was Davidsen gesagt hat.”
„Sonderbar, das ist alles so still vor sich gegangen, kein Mensch hat ein Wort davon gehört.”
[S. 240] Darauf erwidert Maren: „Man sagt, für die Braut sei es höchste Zeit gewesen.”
„Na also!” flüstert die ganze Stube verständnisvoll; und dann denken alle eine Weile darüber nach.
„Ja, alles heiratet und rackert sich ab, ohne Ende,” sagt Petra. Und dann wagt sie sich wieder auf gefährlichen Grund hinaus. „Du kannst froh sein, Maren, daß du dich darauf nicht eingelassen hast.”
„Es ist noch gar nicht zu spät dazu,” sagt die Großmutter.
„Petra meint das doch,” sagt Maren von neuem beleidigt.
Petra lenkt nicht ein: „Wenn ich die Wahrheit sagen soll, so hast du dir doch wohl derartiges ganz aus dem Kopf geschlagen. Wie alt bist du denn eigentlich?”
„So alt, daß ich es selbst nicht mehr weiß,” sagt Maren und steht auf. „Aber ich bleib' ja beinahe den ganzen Abend hier sitzen! Vielen Dank für die Aufwartung und alles Gute! Vergiß nicht, zu mir hereinzusehen, wenn du am Haus vorbeigehst, Petra!”
Nein, die Jüngste war Maren Salt nicht mehr, aber als sie nun nach Hause ging und schwere Pakete aus den Läden so leicht trug, als seien sie gar nichts, und die Füße regte wie zum Tanz, da konnte sie niemand alt schelten. Sie sah auch gar nicht so aus, die braunen Augen waren klar und kein bißchen feurig, aber man wußte ja, wie dieses Menschenkind war, wenn sie in ihrem Alter noch ein Kind bekommen hatte. Schweigt nur ganz von Maren Salt, an der ist nichts auszusetzen. Waren die Töchter von Jörgen und Lydia vielleicht besser, die zu Hause saßen und etwas Besseres sein wollten? — Waren sie besser? War etwa Fia Johnsen so viel besser, die blauen Flieder malte und einen Mann und einen Wegzeiger mit ganz denselben Augen anschaute?
„Ich bin lang ausgeblieben,” sagte Maren, als sie daheim eintrat. Mattis gab keine Antwort und war im ganzen genommen nicht gut auf sie zu sprechen. Übrigens sang er eben dem Kinde vor und war mitten in einem Vers.
„Soll ich es mit Stadtneuigkeiten versuchen,” dachte Maren, „ein wenig von Kaspar und seiner Frau erzählen, [S. 241] oder von der Hochzeit in Christiania?” Aber Mattis war keiner von denen, die sich um Stadtneuigkeiten kümmerten. „Ist er wach gewesen?”
Mattis singt seinen Vers zu Ende und antwortet dann: „Nein, aber du weckst ihn auf mit deinem Geschwätz.”
„Das tut nichts, er soll jetzt die Brust bekommen,” sagt sie.
Ein sonderbarer Anblick: Der Schreiner Mattis, der an einem Kinderbettchen sitzt und singt!
Er hatte Wut geschnaubt und auf einem Bein getanzt. Das Schicksal hatte ihm einen fürchterlich albernen Streich gespielt, er hatte Maren Salt nicht aus dem Haus gebracht, bevor sie niederkam; das setzte ihm zu und verwirrte ihn vollständig. So etwas, zum Henker, in seinem Haus! Aber es sollte nicht lange währen, zwei, drei Tage, dann warf er sie auf die Straße. — „Und dann ein wenig plötzlich, vergiß auch nicht, deinen Balg mitzunehmen!” Aber es vergingen mehr als nur einige Tage, und dann verging ein Tag um den andern, er hätte einen Besen nehmen und sie aus dem Hause hinauskehren müssen, aber wo sollte sie hingehen? Und dazu ein ganz neugeborenes Kind, allerdings ein kräftiger kleiner Kerl mit fürchterlichen Lungen, aber trotzdem —
Der Schreiner Mattis war ein gutmütiger Mann; er ließ sich gutmütig zwei Stubentüren abspannen, er ließ gutmütig eine junge Frau laufen, die ihn um einen goldenen Ring gebracht hatte, und so weiter. Er fuhr zwar zuerst wutschnaubend auf, und dann ließ er sich gutmütig alles gefallen. Was sollte er auch machen?
Und Maren Salt war ja auch rasch wieder auf den Beinen und kam ihrer Arbeit nach. Das Kind machte nicht viel Last, zu essen brauchte es nichts, es bekam die Brust und schlief, es lag in Marens Kammer in deren eigenem Bett und nahm keinen Platz weg, Mattis fand allerlei Gründe, nicht gar so streng zu Werk zu gehen. Aber in einem halben Jahr etwa, mitten im Sommer, wo niemand mehr erfrieren konnte, da mußten sie zur Tür hinaus, da half alles nichts! Oder allerspätestens in zwei Jahren, wenn der Junge allein gehen konnte.
Er schwur hoch und teuer, er wolle das Kind niemals vor Augen sehen, aber das ließ sich nicht durchführen. [S. 242] Es kam vor, daß Maren Salt, die Mutter, an den Brunnen gelaufen war, aber das Kind richtete sein Schreien nicht danach ein, sondern brüllte rücksichtslos den Schreiner herbei. So ging das einige Male, Mattis knirschte mit den Zähnen und war rasend, aber von Stein war er nicht, er machte die Beobachtung, daß das Kind schwieg, wenn er mit ihm sprach, daß es sich beruhigte, wenn es eine Menschenstimme hörte, und das führte dazu, daß er mehr und mehr mit ihm sprach, und endete damit, daß er ihm vorsang. Als das Kind etwas ins Auge zu fassen vermochte und anfing, ihn zu kennen, nahm er es auch auf und trug es herum. Dieser kleine Unnutz, dieser kleine Kerl, der so nett und leicht in seinen Armen lag — „Sei doch still, nicht so schreien, daß es der Lehrling und der Gesell in der Werkstatt hören, Mund gehalten! Übrigens ist es gar kein Wunder, wenn du schreist, armer Kleiner; dich friert, und du kriegst die Brust nicht, ich muß ihr wahrhaftig einmal die Meinung sagen! Es sollte mich gar nicht wundern, wenn sie dich in dem schmalen Bett in der Nacht einmal totdrückte. Da sieh her, jetzt nehmen wir das Kissen und tragen dich darin herum. Siehst du, so ist es schon wärmer, und ihr werde ich bei Gott die Meinung sagen.” —
„Er friert!” ruft er der Mutter zu.
„So, friert er?”
„Ich weiß es nicht und will es auch gar nicht wissen; das ist nicht meine Sache. Aber du sollst ihn nicht hungrig liegen lassen.”
„Er hat keinen Hunger.”
„Meinst du, er weine für nichts und wieder nichts? Und das will eine Mutter sein!”
Maren Salt hat herausgefunden, daß es sich lohnte, gefügig gegen den Schreiner zu sein. „Ich will ihm die Brust geben,” sagte sie.
„Und das ordentlich!” begehrte der Schreiner. „So hab' ich ihn noch nie schreien hören wie heute.”
Dann geht Mattis wieder hinaus in die Werkstatt zu Lehrling und Gesell. Er ist ärgerlich und schämt sich, in der Tür dreht er sich um und sagt zu Maren: „Du mußt ja nicht meinen, ich komme jedesmal zu ihm herein, mir ist es einerlei, wenn er sich totschreit. Aber wir wollen [S. 243] in der Werkstatt, in meinem eigenen Hause kein Kindergeschrei hören. Du kannst ihn da nicht liegen lassen, bis er sich totschreit.”
Damit geht Mattis in die Werkstatt, der Gesell und der Lehrling sind im Begriff zu gehen. Er schilt noch über Maren und das Kind: „He, was man nicht alles erleben muß! Aber nun dauert es auch nicht mehr lange. Ich weiß einen, der davon nichts mehr in seinem Haus wissen will. Wäre nur nicht eine Strafe aufs Hinauswerfen gesetzt, aber es steht eine schwere Strafe darauf, eine von den schwersten. Du weißt das doch auch?” fragt er den Gesellen.
Der Gesell hat keine Kunde davon, findet es aber nicht unwahrscheinlich.
„Eine fürchterliche Strafe, mehrere Jahre. Und dem will ich mich nicht aussetzen.”
Bei Tag arbeitet er jetzt an einer kleinen Bettstelle, einem Kinderbettchen für eine Familie in einer andern Stadt, sagt er; die Maße sind ihm angegeben, es ist also eine einfache Bestellung. Es wird ein schönes Gitterbettchen mit ein wenig Schnitzerei am Kopf- und Fußende, und er hat auch den Auftrag, es weiß anstreichen zu lassen, ehe er es abschickt. Er steht also da und arbeitet. Aber es ist eine verfluchte Geschichte mit dem Lied, mit diesem Kinderverschen, es kommt ihm tagelang nicht aus dem Kopf, er ertappt sich dabei, daß er es während der Arbeit vor sich hinsummt und sich lächerlich macht. Ein Mann mit so einer Nase beim Hobeln ein Kinderliedchen summen! Er hat den Gesellen im Verdacht, daß der sich das Lachen nicht recht verkneifen kann.
Er war recht froh, als er so weit war, daß er den Lehrling mit dem Bettchen zum Maler schicken konnte.
Noch froher hätte er sein können an dem Tage, da er es schneeweiß und blank wieder zurückerhielt und es einpacken und fortschicken konnte. Aber dem Mattis hatte das Schicksal wohl abermals einen Streich gespielt, jetzt war das Bettchen abbestellt worden, die Leute hatten ein fertiges gekauft, Mattis hatte einen Brief dieses Inhalts bekommen. Jawohl, ein neuer Streich vom Schicksal! Aber Mattis nahm es diesmal merkwürdig gelassen hin; er sagte: „Das tut nichts, das Bett kann ich immer [S. 244] wieder loswerden. Aber es ist, wie ich sage, was man nicht alles erleben muß! Nein, man sollte sich auf solche Bestellungen aus einer andern Stadt niemals einlassen!” sagte Mattis.
Kurz gesagt, er mußte das Bett behalten.
Und nun konnte der Junge, Maren Salts Kind, das Bettchen gerne leihweise benützen, eine Woche oder so, bis es verkauft wurde. Das schadete dem Bettchen nichts.
Gewiß ist es am besten, wenn eine Hochzeit im Hause der Braut gefeiert wird, aber Konsul Olsen feierte die Hochzeit seiner jüngsten Tochter in der Hauptstadt, im Palmensaal eines großen Hotels. Er hatte allerlei Pläne im Kopf, wer weiß, ob er nicht sogar daran gedacht hat, die Hochzeit in einem überseeischen Land, in Argentinien oder Australien zu feiern. Das gefiel diesem Mann mit dem weiten Gedankenkreis, etwas Derartiges recht flott und augenfällig zu machen, ein großes Hotel war gut, man hatte nichts nötig, als um fünf Lohndiener zu telephonieren. Das war nicht nur fein, sondern auch praktisch, denn seiner Frau blieb dadurch viel Mühe und Arbeit und Sorge mit der Bewirtung erspart.
Dann wird also der Maler, der Hardesvogtsohn, mit seinem Modell getraut. In der Heimatstadt der Braut wird ein wenig darüber gelästert; als man am Brunnen alles genau überlegte, so war das entschieden auffallend. Aber auf jeden Fall hatte die junge Dame den Kaufmannstand und Scheldrup Johnsen aufgegeben; jetzt sollte es nicht mehr am liebsten der Scheldrup sein, sondern am liebsten ein anderer.
Zu dieser Hochzeit ist der Rechtsanwalt Fredriksen eingeladen; er ist ja als Abgeordneter und Vorsitzender seiner Kommission schon in der Hauptstadt anwesend. Er konnte nicht gut umgangen werden, denn er war eine bedeutende Persönlichkeit, hatte gewissermaßen etwas Amtliches, beinahe den norwegischen Löwen auf der Brust. „Willkommen!” sagte Grütze-Olsen und führte seinen Gast zu einem Ehrensitz an der Tafel.
Und hier bei dieser Gelegenheit will der Rechtsanwalt Fredriksen den Grundstein zu seinem Glück legen und eine vorläufige Abrede mit Grütze-Olsens anderer Tochter — [S. 246] der älteren — treffen. Es sollte noch geheimgehalten werden, sie wollten noch ein wenig warten, Gott weiß warum, allein das gehöre mit zu seinen Zukunftsplänen, sagte der Rechtsanwalt, er werde ja doch nicht immer nur Abgeordneter bleiben, und damit Punktum. Aber die vorläufige Abrede sollte bindend sein.
Also sollte auch Grütze-Olsens zweite Tochter den Kaufmannstand und die flotten Kaufleute aufgeben. Sie war groß und gesund, hatte eine schwere Menge aschblonder Haare, der Rechtsanwalt war schon bei Jahren, kein Turner mehr, ein bißchen unreinlich, ohne griechische Nase, aber ein Teufelskerl, ohne viel Haare, aber mit einer wulstigen Hautfalte im Nacken — es war also eine Schattierung Unterschied zwischen den beiden. Der Rechtsanwalt war schon recht.
Er kehrte wieder in die Stadt zurück. Gewiß, er war sofort Vorsitzender der Kommission wegen der mißhandelten Matrosen geworden, und er trug den Kopf hoch. Eine solche Karriere! O nein, er rannte niemand über den Haufen, aber es war, als ob er eine noch gewichtigere Stimme bekommen hätte, eine Donnerstimme. Das kam wohl von der Übung im Landtag, als er seine berühmte Interpellation einbrachte.
Da geht er nun gegen Abend in den Straßen spazieren, es könnte ja jemand Lust haben, mit ihm zu reden, der Doktor, der dem Doppelkonsul die Interpellationen gönnte, der Zollverwalter, der zur Linken gehörte, der junge Assistent beim Hardesvogt, der selbst Rechtsanwalt werden wollte, und noch mancher andere aus dem Volke. Und der Abgeordnete gönnt jedem im Vorbeigehen ein paar Worte. Aus irgendeinem Grunde war es ihm am wenigsten angenehm, daß sich der Doktor jetzt gerade an ihn hängte; aber er konnte dem nicht entgehen, die andern gingen ihres Weges, der Doktor jedoch ließ ihn nicht los, er war ganz wie früher.
Ganz derselbe Mann in der Stadt, ja. Der Doktor ändert sich nicht, er besucht Kranke, schreibt lateinische Rezepte, glaubt an seine eigene Gelehrsamkeit und an seine Wissenschaft und verdient sein Brot. Er hat genug an der Plage jedes Tages. Selten einmal trifft ihn ein kleiner Glückszufall, wie zum Beispiel, als ihn Henriksen [S. 247] von der Werft nach dem Tode seiner Frau mit einem großen Geldschein bezahlte; aber im großen und ganzen hat der Doktor wenig Freuden. Er ging seinerzeit von dem einen Kaufmann, von Johnsen, mit dem er unzufrieden war, zu einem andern über, zu Davidsen, und wollte es einmal mit diesem versuchen; aber sie waren beide ganz gleich, auch Davidsen schickte eine Rechnung. Der Ärmste war zwar Konsul, allein er war nicht reich und mußte kleinlich sein, alle waren Krämer. So war der Doktor zuzeiten ohne einen festen Lieferanten.
Er war nicht zu beneiden, mit seinem Dasein war kein Staat zu machen. Natürlich grämte er sich niemals über sich selbst, darüber, daß er nicht die Gabe hatte, sich zu ändern, zu bessern, daß er nicht ins Leben paßte, ein Verirrter, ein sauertöpfischer Mensch, ein Narr, dummstolz inmitten der Zweifelhaftigkeit seines Charakters. An den Leuten, an der Stadt und zum Teil auch an der Vorsehung lag der Fehler. Sicherlich war es so, er selbst war ganz so, wie er sein sollte.
Ach, wie er sich hätte ärgern können!
Der Doktor hatte kein Herz für ein richtiges Wagnis, für Gefahren; aber einen Streit scheute er nicht, im Gegenteil, er bohrte und stichelte, wo er Gelegenheit dazu hatte, und machte sich seiner Zunge wegen überall gefürchtet, eine unverscheuchbare Bremse, eine Wespe mit einem Stachel. Es freut ihn, daß ihm nicht jedermann richtig zu antworten wagt. Das war ein Triumph im gegebenen Augenblick, er spottete und lachte darüber. Von Natur böse war er nicht, weit entfernt, seine Eigenschaften hatte er sich erst zugelegt, die Schule und die schematische Entwicklung nach Büchern hatten ihn zu dem gemacht, was er war. Nein, er brachte es auch nicht zu einer achtbaren Größe in der Bosheit, er hatte zu spät damit angefangen, erst als älterer, schiffbrüchig gewordener Mensch, er brachte es nur bis zu einer säuerlichen Unzufriedenheit, brachte es zu Bitterkeit, Groll, Eifersüchtelei, Klatsch. Wenn ein Mensch starb, sagte dieser Arzt mit der gefährlichen Zunge: „Jetzt ist wieder ein Paar Schuhe freigeworden!” und es freute ihn zu sehen, daß seine Zuhörer ein etwas sonderbares Gesicht machten.
Er konnte dies auch dem Abgeordneten gegenüber nicht [S. 248] lassen, sondern stichelte auf allerlei Weise drauf los. So mußte der Doktor mißbilligen, daß ein Mann wie der Rechtsanwalt Fredriksen auf Stiefeln mit hohen Absätzen daherwackle, wenn er auch Abgeordneter geworden sei. Er sei ja vordem schon mühselig genug gegangen. Der neue Überzieher gehe noch an, aber solche Stiefel für solche Füße!
Der Rechtsanwalt wußte nichts davon, daß mit seinen Füßen irgend etwas Besonderes los sei.
„Das kommt davon, weil Sie nichts von Anatomie verstehen!”
„Soviel Anatomie, als ich brauche, versteh ich schon.”
„Da haben wir's: man kommt in den Landtag und meint, man brauche dazu gar nicht mehr zu wissen, als man weiß.”
„Man kommt zuweilen zum Bezirksarzt in seinem Wahlkreis zurück und vervollständigt sein Wissen.”
„Hoho, das Vervollständigen tut's nicht, man muß am Anfang anfangen, lieber Freund.”
Der Rechtsanwalt wollte keinen Wortwechsel, andererseits wollte er aber auch dem respektlosen Kerl nicht den Triumph gönnen, daß er böse wurde und davonlief. Er blieb also und schwieg, o, aber er war sich die ganze Zeit über bewußt, wie klein der Doktor in seinen Augen war! „Da haben wir ja auch den Barbier Holte. Guten Abend, Holte!” sagt er und bleibt stehen, in der Hoffnung, der Doktor werde weitergehen. Nein, der ging nicht. „Um welche Tageszeit ist es am wenigsten voll bei Ihnen, Holte? Ich möchte mir die Haare schneiden lassen.”
„Was, mögen Sie in den Barbierladen gehen und dort warten, bis Sie an die Reihe kommen? Sie können ihn ja zu sich kommen lassen.”
„Wir Demokraten sind nicht so vornehm,” erwidert der Rechtsanwalt.
„Sagten Sie vornehm? Nein, das weiß Gott!”
Sie begegneten dem Schreiner Mattis und: „Guten Abend!” grüßte der Rechtsanwalt wieder, sprach einige Worte mit ihm und ließ ihn dann gehen.
Der Doktor sagte: „Ja, der gute Mattis, er hat wahrhaftig auch braunäugige Nachkommenschaft im Hause. Das ist ihm auch keine Freude gewesen.”
[S. 249] Aber nun kam der Doktor durch irgendeine Gedankenverbindung auf etwas anderes, er sagte plötzlich: „Ihre Interpellation war prächtig. So hat es ihm gehört, dem Schweinigel!”
Der Rechtsanwalt erwidert abweisend: „Nein, mit dieser Interpellation bin ich selbst von allem, was ich darin getan habe, am wenigsten zufrieden.”
Sofort stichelt der Doktor: „Was haben Sie denn sonst noch getan?”
„O, nichts,” sagte der Rechtsanwalt und will einen Wortwechsel vermeiden.
Da der Doktor jetzt den großen Mann klein genug hatte, so hatte er seinen Willen und konnte nun gerne auch sein Wohlwollen zeigen: „Natürlich tut man vielerlei im Landtag, wovon wir Außenstehenden keine Ahnung haben. Komiteearbeit zum Beispiel, von der Arbeit in den Kommission gar nicht zu reden. Es ist ganz gut, daß Sie einmal in das Verhältnis zwischen Matrosen und Reedern hineinleuchten, machen Sie nur ganze Arbeit, warum in aller Welt sollen diese Reeder so reich werden? Unwissende und ungebildete Kerle, die gelernt haben, hinter einem Ladentisch zu stehen, aber sie rauchen Zigarren mit goldener Bauchbinde, trinken Madeira von einem alten guten Jahrgang, und ihre Frauen und Töchter tragen Brillantringe, es ist zum Speien! Ei, zum Henker, da kommt ja der Postmeister! Da müssen Sie mich entschuldigen, ich drücke mich jetzt! Jetzt wird er wieder seine Überzeugung von den vielen Erdenleben lüften. Können Sie sich etwas Schrecklicheres denken, als diesen Mann? Schon allein, daß sein Leben bewußt und unablässig auf das Gute gerichtet ist, hehe! ‚Nachkommen!’ sagt er und freut sich über seine Kinder. Er ist ein Narr. Ich hoffe, Sie entschuldigen, daß ich mich davonmache, ich meine es besser mit mir, als daß ich ihn anhören möchte. — Guten Abend, Herr Postmeister! Sie sind wohl wieder auf der Suche nach Gott? Eben haben wir von Ihnen gesprochen.”
„Ich sage Dank für alles Gute, das die Herren von mir gesprochen haben.”
„Und was vielleicht Böses gesagt wurde?”
„Das haben Sie jedenfalls nicht angehört.”
„So. Auch ich bin mir selbst der Nächste.”
[S. 250] „Gerade darum,” sagt der Postmeister.
Der Doktor stutzt und sagt: „Sieh, sieh, Sie meinen also, ich diene mir selbst am besten, wenn ich Gutes von Ihnen rede?”
„Ja, das mein' ich, wenn Sie Gutes von allen Menschen reden. Herr Rechtsanwalt, ich heiße Sie willkommen in der Heimat!”
Der Doktor wollte ja eigentlich gehen, aber in der milden Zurechtweisung des Postmeisters lag etwas, das ihn veranlaßte, noch einen Augenblick zu bleiben und ihm jedenfalls die Spitze zu bieten: „Herr Postmeister, Sie gehören gar nicht in diese Welt hinein. Sie glauben an das Gute und sagen: ‚Was soll man glauben?’ Diese Welt will Logik und Realität, keine Gefühlsduselei.”
Bei solchen Streitigkeiten hatte der Postmeister den Vorteil, auf bekanntem Gebiet zu sein, wo ihn sein Nachdenken wenigstens auf einen festen Standpunkt geführt hatte. Darum war er auch oft dazu aufgelegt und vollkommen bereit, seine Meinung zu verteidigen, zuweilen sogar recht schlagfertig. Außerdem war der Postmeister durchaus kein Lamm, er konnte bisweilen recht verletzend sein mit niedergeschlagenen Augen und einem leichten Lächeln. Was er sagte, war eigentlich gar nicht viel, nur einige ganz höfliche Worte, aber sie waren nicht immer harmlos.
„Was diese Welt will, weiß ich nicht,” sagte er. „Es sollte übrigens nicht nur darauf ankommen, was sie will, sondern auch darauf, was sie wollen sollte. Da die Logik nun einmal so eine armselige Sache ist, so hätte die Welt vielleicht noch etwas außer ihr nötig. Ich weiß nicht, mit der Logik kommt man nicht weit.”
„Doch, in der Wissenschaft.”
„Meinen Sie?”
„Ob ich das meine? Die Wissenschaft hat keinen Gebrauch für Metaphysik und Aberglauben; das ist ihre Logik.”
Der Postmeister schüttelt den Kopf. „Die Wissenschaft tanzt mit ihrem Spieß um die Metaphysik herum und sticht und sticht nach ihr, ohne daß ihr das im geringsten schadet. Schadet es wirklich nicht? Nein. Denn diese fundamentale Lebensmacht ist unverletzlich und ewig. Man [S. 251] kann nicht mit dem Spieß in ein Meer stechen und es verletzen.”
„Sind Sie auf der Volkshochschule gewesen?” fragt der Doktor.
„Nein, ich bin nicht — wie Sie — auf einer hohen Schule gewesen.”
Durch diese Stichelei ließ sich der Doktor verleiten, grob zu werden. „Es hätte Ihnen gar nichts geschadet, wenn es der Fall gewesen wäre. Dann säßen Sie vielleicht nicht hier in dieser guten Stadt als Postmeister.”
„Sie meinen, das sei nichts Großes?”
„Was meinen denn Sie selbst?”
„Ich bin zufrieden. Einige können allerdings ihre Lust, für groß zu gelten, selbst wenn sie es sind, nicht verleugnen. Diesen Fehler haben manche.”
„Wir haben von der Wissenschaft gesprochen.”
Der Postmeister unterbricht ihn: „Nein, entschuldigen Sie! Ich bin nicht — wie Sie — ein Mann der Wissenschaft, wissenschaftliche Fragen kann ich nicht erörtern.”
„Das ist entschieden ein Fehler von Ihnen,” sagte der Doktor und fuhr dann fort: „Wissenschaftliche Wahrheiten sind entweder selbstverständlich oder logisch zu beweisen, oder beides. Nun, die Metaphysik ist keines von beiden.”
„Aber, Herr Doktor, ich sage weder, noch meine ich, die Metaphysik sei eine Wissenschaft, sie ist vielmehr gerade das Gegenteil.”
„Dann ist es leeres Geschwätz, Herr Postmeister, und nichts anderes. Wenn wir die Wissenschaft nicht hätten, was hätten wir denn dann? Moses und die Propheten — laßt sie diese hören!”
„Die Metaphysik setzt da ein, wo die Wissenschaft aufhört; jawohl, das tut sie.”
„Die Wissenschaft hört niemals auf. Sie tastet, sie reicht nicht immer völlig zu, aber sie strebt und strebt vorwärts und geht immer weiter.”
„Gewiß, so sagt man ja,” erwidert der Postmeister. „Ich habe mich auch unrichtig ausgedrückt, ich wollte sagen, die Metaphysik setze da ein, wo die Wissenschaft nicht völlig zureicht, an den wenigen Punkten, Kleinigkeiten, Einzelheiten, wo die Wissenschaft nicht bis auf die oberste Spitze [S. 252] gedrungen ist. Es handelt sich nur um Haaresbreite. So wollen wir sagen.”
„So, Sie wollen spotten! Sie glauben ja, um das Rätsel des Lebens zu erklären, an ein ganzes System von Erdenleben. Daher nehmen Sie das Licht auf Ihrem Wege.”
„Was soll man glauben!” erwiderte der Postmeister. „Zuweilen ist ein kleines Licht darin, das sind Sterne in der Nacht. Es ist kein starkes Licht, ist nicht Sonne und heller Tag, aber es sind doch Sterne in der Nacht. Man kann doch etwas dabei erkennen.”
„Wär' es nicht besser, das Licht der Wissenschaft zu haben, so weit es eben reicht?”
„Das hab' ich auch. Wo dieses aufhört, muß ich mich ohne es behelfen. Dann steht die Wissenschaft weit hinter mir — das heißt um Haaresbreite — und schaut mir nach, wo ich gehe.”
„Na, entschuldigen Sie, die Wissenschaft hat anderes zu tun, als Ihnen nachzuschauen. Und wenn sie zurückbleibt, so tut sie klug daran, denn sie will festen Grund unter den Füßen haben.”
„Einen Grund, der sich in jedem zweiten Menschenalter ändert.”
„Ja, so sagen die Toren, die nichts davon verstehen. Ändert zum Beispiel die Mathematik ihre Grundlagen?”
„Nicht, um Ihnen zu antworten, sondern um Ihnen noch weiter Spaß zu machen, sage ich: Die Mathematik muß zu Anfang etwas ‚setzen’. Sie suchte im Licht meiner Sterne und fand ein armseliges X , um darauf zu fußen. Ehre dem X , es steht statt etwas Besserem.”
„Kurz und gut, die Mathematik hat also auch keinen Wert?”
„Meinen Sie? Sie ist gewiß viel wert für Leute, die reine, klare Gedankenarbeit lieben, um des Denkens willen. Die Mathematik steht für sich allein und ist, was sie ist. Aber für unser geistiges Leben ist sie vollkommen gleichgültig.”
Der Doktor fuhr sich mit beiden Händen nach den Ohren, als ob er sie zuhalten wollte, eine unwillkürliche Bewegung gänzlicher Ratlosigkeit. Warum hatte er sich auch auf diesen nutzlosen Wortwechsel eingelassen, der ihm [S. 253] langweilig war und ihn ermüdete! Er ging nicht so weit, sich die Ohren wirklich zuzuhalten, er schwankte vielleicht einen Augenblick, ob er einen Schrei ausstoßen oder davonlaufen sollte, dann faßte er sich aber und trieb seine Festigkeit so weit, daß er den Hut zog und sagte: „Danke, jetzt hab' ich genug. Ich muß Krankenbesuche machen mit meiner armen Wissenschaft!” Damit bog er in eine Seitengasse ein.
Als auch der Postmeister gehen wollte, hielt ihn der Rechtsanwalt zurück; sie mußten jetzt am Geschäft von C. A. Johnsen, am Doppelkonsulat vorbei, und der Rechtsanwalt wollte jemand haben, mit dem er reden konnte, während er an den Fenstern vorbeiging. Ach, er wußte wohl, was er tat, wenn er diesen Weg wählte, er wollte bis hinaus an das Haus des Doppelkonsuls und daran vorbeigehen, hinauf in die Berge, zum Aussichtspunkt. Er hatte seine Gründe dafür.
Der Rechtsanwalt erhob seine Stimme bis zur Stärke der Stimme der Interpellation: „Alles, was Sie da gesagt haben, Herr Postmeister, ist ja sehr schön, und ich hab' viel Herz dafür. Aber wird uns nicht all diese Metaphysik und Geistigkeit untüchtig fürs Leben hienieden machen? Wird sie nicht unsere Tatkraft hemmen?”
„Ich will Sie nicht belehren, aber wenn Sie mich fragen: ich hoffe, daß sie uns ein wenig vorwärtsbringen wird. Wir werden davor zurückschrecken, uns ungerechte Vorteile zuwenden zu wollen, wir werden uns davor hüten, einander gar zu offenkundig auszusaugen. Das finden Sie doch nicht verkehrt?”
„Nein.”
„Wir sind jetzt sinnlos damit beschäftigt, einander auf die Seite zu stoßen, um selbst vorne hinzukommen, wir sollen konkurrieren, heißt es, ja mehr als konkurrieren. Wie wär's, wenn wir etwas mehr an uns selbst anstatt für uns selbst arbeiteten?”
„Aber wenn es nun gerade diese Arbeit an uns selbst ist, die unsern irdischen Tatendrang hemmt? So kommen wir in der Welt nicht vorwärts.”
„Aber wir kommen im Leben höher hinauf. Wie wäre es, wenn wir uns von Zeit zu Zeit vor Augen hielten, daß wir nicht Hunderte von Jahren in einem Zug hienieden [S. 254] leben werden! Wir kommen auf die Welt, werfen auf alles einen Blick und gehen wieder. Gewiß, Herr Rechtsanwalt, wir kommen vorwärts, wenn wir auch nicht über die andern hinauskommen.”
„Wir sind verschieden fürs Leben ausgerüstet, haben vielleicht auch verschiedene Bestimmungen, Napoleons Tätigkeit war von dieser Welt, er wollte vorwärts, wenn es auch über die andern hinwegging.”
„Aber das war nicht die Seite von ihm, von der er selbst und die Welt den größten Segen hatte.”
„Das war wohl sein Schicksal. Er und andere — wir handeln alle, wie wir getrieben werden.”
„Wir stellen die Übermacht des Schicksals fest, ja. Damit haben wir eine süße Entschuldigung für unsere eigene Aufführung.”
Na, jetzt nahm sich der Postmeister doch etwas zu viel heraus, wurde vielleicht sogar persönlich ausfällig, das wollte sich der Rechtsanwalt nicht bieten lassen, dazu hatte er ihn nicht mitgenommen. „Ich will bis hinauf zum Aussichtspunkt. So weit wollen Sie doch vielleicht nicht mit gehen?”
„Nein,” erwiderte der Postmeister, und nun kehrte er um.
Rechtsanwalt Fredriksen atmete auf, alles ging, wie er berechnet hatte, er sah nach der Uhr. Am meisten freute ihn, daß er den Doktor losgeworden war, er kannte dessen gespanntes Verhältnis zu Konsul Johnsen und wollte jetzt nicht gern in seiner Begleitung gesehen werden. Er pfiff auf die Geistigkeit und Metaphysik, Dinge, die unserm Leben hienieden nur im Wege stehen, wir wollen doch weiterkommen in der Welt. Er wollte nicht gerade einen andern über den Haufen rennen, nein, das wollte Rechtsanwalt Fredriksen nicht, aber er wollte auch nicht gehemmt werden. Das war der gesunde Tätigkeitsdrang. Nein, jemand über den Haufen rennen, mit dem Messer zustoßen? Keine Spur! Berntsen, der Geschäftsführer bei Konsul Johnsen, wartete wohl auf Haussuchung und Verhör, aber es sollte nicht geschehen, der Herr Reeder sollte Frieden haben.
Das fehlte gerade noch, daß er noch unangenehmer gegen Konsul Johnsen wurde, als er gewesen war. Der Rechtsanwalt hatte die Zähne gezeigt, brauchen wollte er sie nicht, als Vorsitzender des Komitees hatte er humane, und als Rechtsanwalt Fredriksen intime Gründe, so aufzutreten.
[S. 255] Er geht am Hause des Doppelkonsuls vorbei, ein Haus mit Schnitzwerk, Altan und Veranda, ein großes Haus, Garten mit Flieder und Jasmin, ein Duft von Reichtum und Kultur, Springbrunnen, Zementurnen, Schmetterlinge, Flaggenstange, alles, was dazu gehörte. Er geht in die Berge, richtig, Fräulein Fia macht ihren Abendspaziergang, sie sucht Erholung nach der Arbeit des Tages. Er hat sie nicht vergessen und nicht aufgegeben, er schaut sie mit denselben Augen an wie zuvor, wie die Armut Millionen anschaut. So viel war sicher, jetzt hatte er bessere Aussichten bei ihr, vielleicht wollte die Dame nicht noch weiterhin sich selbst im Wege stehen und schlecht rechnen. Hatten sie und ihre Familie jetzt nicht Hochachtung vor seinem Abgeordnetentum bekommen?
Fia sah ihn hinterher kommen und ging rascher zu.
Ach, die Dame rechnete wohl gar nicht, hatte keine Übung im Rechnen, keinen Bedarf zu rechnen; wie sie geschaffen und angelegt war, mußte Gott wissen!
Sie geht immer rascher, aber das hilft nichts, er holt sie ein, und er bekommt auch in dieser rosenroten Abendstunde seinen endgültigen Bescheid von ihr. Wie rasch sie ging, wie eifrig sie ihm auszuweichen versuchte! Wie stark mußte ihr Verlangen nach Sonnenuntergang und Schönheit sein, wenn sie so lief! Aber Rechtsanwalt Fredriksen war nicht der Mann, der etwas gleich verloren gab.
Er rief ihr von hinten einen Gruß zu und sagte außer Atem: „Sie rennen mir beinahe die Seele aus dem Leibe, Fräulein Fia.”
Sie, fein und blaß, mit vielen Vollkommenheiten, wie gewöhnlich etwas geputzt, kühl wie gewöhnlich, wieder ganz die Komtesse, sprach: „Das tut mir leid. Ich war in Gedanken versunken, ich pflege hier spazieren zu gehen, um allein zu sein.”
„Ist es Ihnen angenehm, so allein zu gehen?” fragt er. „Woran denken Sie, wenn Sie hier oben sind?”
„An das da draußen,” erwidert sie und deutet auf die ganze Welt, Wolken, Meer, Nirwana. „Ja, das tut mir gut.” Und sie begriff wohl diesen Mann gar nicht, dieses Tier, das neben ihr stand und keinen edlen Naturgenuß kannte. Wie jemand nur dafür kein Gefühl haben konnte!
[S. 256] „Ich bin eben erst vom Landtag heimgekehrt,” sagte er; „und ich wollte Sie gerne begrüßen.”
„Sehr liebenswürdig.”
„Sie sind wohl auch eine Weile weggewesen?”
Sie erwiderte: „Sie wissen, ich komme und gehe. Jetzt will ich nach Paris.”
„Beim Satan!” dachte er wohl, groß, groß mußte es sein, Notre Dame, Eiffelturm, Rothschild. Und in diesem Augenblick überkam ihn wohl eine gewisse Angst, er stehe etwas unter ihr, denn er sagte: „Was sollen wir Abgeordneten und Rechtsanwälte sagen über das wirklich Große? Daß es unerreichbar ist. Aber auch wir verstehen das eine und das andere, Fräulein Fia.”
War das eine Unterhaltung für diese Dame!
„Ich meine, auch wir können steigen Stufe um Stufe, zu höheren und immer höheren Stellungen. Das ist das Gute bei der demokratischen Gesellschaftsordnung, daß jeder die höchsten Posten erreichen kann.”
Schweigen. Die Dame schien seine Aussichten nicht zu erwägen.
Nein, Rechtsanwalt Fredriksen ging also zu seinem Vorhaben über, er gab ihr zu verstehen, was sie für ihn war, daß sie einfach alles für ihn sei, und ob sie ihm ein wenig mehr Hoffnung machen könne, etwas mehr Hoffnung als das letztemal.
„Nein,” sagte die Dame.
Ob er recht gehört habe, ob sie es sich auch diesmal nicht noch überlegen wolle?
„Nein,” sagte sie und schüttelte den Kopf. „Betrachten Sie doch lieber den Sonnenuntergang,” sagte sie. „Sehen Sie doch nur diese Farben! Wie prachtvoll die Welt von hier aus ist!”
Nein, er gab sich nicht: „Ja, die Aussicht ist recht schön, aber die Aussichten?”
Fragend schaute sie ihn an.
„Meine Aussichten? Die Zukunft!”
Nun wurde sie wirklich ein wenig ärgerlich, er hätte doch etwas anderes sagen können, wenn sie ihn auf Farben aufmerksam machte. Hatte denn dieser Mensch gar keine Poesie und Kultur? „Nein, entschuldigen Sie, von Ihrer Zukunft müssen Sie mit andern reden,” sagte sie.
Über Oliver ging es aus, über einen Unschuldigen, der sich den Plänen des Rechtsanwalts Fredriksen nicht in den Weg gestellt hatte. Weshalb mußte er es entgelten?
Oliver hinkte vom Lagerhaus heim, als ihn der Rechtsanwalt einholte und sofort von Geschäften anfing: „Na, Oliver, du hast jetzt eine feste Stellung, es ist Zeit, daß du das Haus einlöst.”
Was auch schuld sein mochte, der Rechtsanwalt kam von dem Aussichtspunkt herunter, von einem Geschäft her, das ihm vorbeigelungen war, nun sollte ihm wohl ein anderes gelingen. Legte er keinen großen Wert auf die bindende Abrede mit Konsul Olsens Tochter? Oder mißtraute er der Mitgift? Jedenfalls sprach er jetzt kurz und gut, wie einer, der retten will, was noch zu retten ist, an seinen Worten war nichts Unsicheres und Unbestimmtes.
Oliver erwiderte nur, wie er denn das Haus einlösen solle, mit seinem Lohn im Lagerhaus, der gerade groß genug sei, daß er davon leben könne?
„Ja, was geht das eigentlich mich an?” fragte der Rechtsanwalt. „Verkaufe du das Haus und bezahle mir mein Geld, dann sind wir quitt.”
Wo Oliver mit seiner Familie hinsolle?
„Da haben wir es wieder einmal!” fährt der Rechtsanwalt los. „Was wäre denn das für eine Pflicht meinerseits, mit der du rechnest? Überleg' dir doch einmal, das Haus verliert von Jahr zu Jahr an Wert, du hältst es nicht einmal mit Anstrich gut im Stand, es vermodert ja.”
„Ich wollte es in diesem Sommer anstreichen lassen.”
„Nein, das kann nicht länger so weitergehen. Du weißt, wo mein Kontor ist — entweder du kommst selbst oder deine Frau kommt.” Damit ging der Herr Rechtsanwalt weiter.
[S. 258] Natürlich mußte Oliver seine Frau schicken. Sie hatte die Sache schon einmal gedeichselt und paßte am besten dazu. Es traf sich auch, daß Petra jetzt gerade sehr gut und munter aussah, schöne neue Leibwäsche hatte sie auch bekommen, und die ganze Person war demgemäß voller Selbstgefühl. Das konnte ihr niemand verdenken. Und sie wollte sofort gehen, diesen Abend noch. „Aber das Kontor ist jetzt geschlossen,” wendete Oliver ein. — „Dann klopf' ich an seinem Zimmer an,” erwiderte Petra. Da konnte Oliver nicht anders, er mußte ihren Eifer bewundern und sagte ermahnend: „Ja, aber das will ich hoffen, daß du ihm nun auch recht klar machst, was er einem Krüppel anzutun gedenkt.”
Nachdem Petra gegangen war, zog Oliver Zuckerwaren und Bäckerbrot aus der Tasche, die er für sich und die kleinen Mädchen mitgebracht hatte. Er machte keinen Unterschied zwischen den beiden, sondern teilte gleich, und die mit den blauen Augen, die Blaumeise, bekam eher noch mehr, weil sie die freundlichste und im Grunde genommen die herzigste war. Merkwürdig, daß das so endete! Der Vater hatte lange auf eine Pferdenase in diesem blauäugigen Gesicht gewartet, sah sich aber angenehm enttäuscht. Vor lauter Freude darüber hatte er das blauäugige Kind ebenso lieb, wie das mit den „Familienaugen”. Einmal hatte er die Blaumeise geschlagen, als sie von seinem eigenen Landungssteg aus ins Wasser gefallen war. Da hinkte er nicht, da flog er herbei, um sie zu retten, und zog sie mit der Krücke aus der Tiefe. Als sie die Augen aufschlug, stieß er einen Schrei aus und schlug sie ein paarmal mit der Faust auf ihr kleines nasses Hinterteil, seine Freude hatte sich im Augenblick in Raserei verwandelt. Sonst schlug er seine Kinder niemals, das war die Sache der Mutter. Oliver verstand es am besten mit den Kleinen, und deren ganzes Herz gehörte auch ihm.
Jetzt tun sich die drei in allem Behagen gütlich und freuen sich über die Heimlichkeit ihrer Schleckerei. Es ist gerade, als ob sie gestohlenes Gut teilten und verzehrten, sie erschrecken einander zum Spaß mit dem Ruf: „Mutter kommt! Großmutter kommt!” Sie tun etwas auf die Seite für die Brüder, den Studenten und den Schmiedknecht. O, solch einen Vater, um den Kindern einen Festschmaus [S. 259] zu bereiten, gab es nicht wieder! Dann erzählt er ihnen von seinen Seereisen, er ist in der Welt draußen gewesen, er hat Feuerfresser gesehen, Menschen, die brennendes Werg verschlangen, und Hunde, die Milchwagen zogen. „Du große Welt!” sagen die kleinen Mädchen. Ho, was war das gegen alles, was er sonst noch gesehen hatte: Affen, Pfauen, Kameele, wie Abraham, Isaak und Jakob sie hatten. Wilde, mit Ringen in der Nase, Wolkenkratzer, feuerspeiende Berge, einmal ein Seeräuberschiff, einen Klipper, einen Dreimaster mit einunddreißig gesetzten Segeln, einmal einen Mord in einem Kaffee am hellichten Tag. „O Gott!” schauderten die kleinen Mädchen, „bist du selbst niemals von bösen Leuten überfallen worden?” Dazu hätte etwas gehört, ihn zu überfallen, sagt er. Leider sei es sein Schicksal gewesen, krank und lahmgeschlagen zu werden. Die kleinen Mädchen bedauern ihn, und die drei sitzen zusammen wie drei Weibsleute.
Da meinen sie plötzlich, jemand kommen zu hören, der Vater beeilt sich, den Tisch abzuleeren, er schiebt im letzten Augenblick zwei ganze süße Brötchen in den Mund und sitzt mit unbeweglichen Kinnladen da. Ach, er ist so ausgestopft und so unsäglich komisch mit seinem ernsten Gesicht und seinem vollen Mund.
Es war ein blinder Lärm, niemand kommt, die Verschworenen sind wie erlöst. Da werden die kleinen Mädchen von einer tollen Freude erfaßt, sie fragen den Vater allerlei, um ihn zum Sprechen zu bringen, sie kitzeln ihn in der Seite, drücken auf seine Wangen, kichern und lachen. Der Vater muß auf einen Stuhl steigen, um fertig kauen zu können; drei Kinder!
Nach einer Weile kommt Frank herein, der Student, erschöpft und blaß von seinem Tagewerk, wie einer, der von Ausschweifungen geschwächt ist. Er bekommt sein Essen und seine Kuchen und schweigt, auch in diesem Augenblick noch beschäftigt er sich mit der mageren Gedächtnisarbeit, von der er herkommt. Es ist etwas Trauriges um den Jungen, in geschenkten Kleidern und mit Händen, die nicht zuzufassen verstehen. Ach, er ist so sprachenkundig, und er ist so unreif!
Oliver, sein Vater, meint wohl, es könne ihm nicht schaden, wenn er ihm einige väterliche Worte gönne: „Du [S. 260] solltest nicht so übermäßig viel studieren, Frank, du wirst ganz krank davon. Und soviel ich merke und verstehe, so weißt du mehr als sonst irgend jemand in der Stadt, was das betrifft.”
Frank schweigt.
„Erzähl' uns ein wenig von dem, was du heut gelesen und erforscht hast.”
Ach, davon verstehen sie doch nichts; allein Frank läßt das eine und das andere verlauten, damit sie einen Einblick in die Dinge bekommen, nennt Verbalformen, Suffixe, dissimilatorische Ausrufe; er gibt sich weit, weit herunter und erklärt Kasus und Geschlecht. Der Wilde spricht, er hat es im Kopf, es geht ihm zum Munde heraus, Laute, ein mühselig angelerntes Hirngespinst, das ihn Tag und Nacht beschäftigt, eine Vogelsprache, ein fürchterliches Durcheinander. Er behandelt das als etwas Köstliches und Feines; wenn die kleinen Mädchen ein Wort verkehrt wiederholen, verbessert er sie, und der kleine Mann fühlt sich überaus groß darüber, mitten in seiner gelehrten Unwissenheit hat er es zu der eingelernten Sicherheit eines Schuljungen gebracht. Kein Mensch hat ihn denken gelehrt, unter dem Druck seiner Aufgabe hat er nur immer weitergestrebt, davon konnte keine Rede sein, daß er seine Zeit und Kraft vertrödelt hätte, er hat das Leben zur Sprachwissenschaft gemacht und fühlt sich nicht betrogen. So schreitet er weiter durch seine Öde, eine leere, törichte Wanderung, nicht um irgendwo hinzugelangen, sondern nur, um auch einer von denen zu sein, die durch die Öde schreiten. Das ist seine Aufgabe sein ganzes Leben lang.
Er langweilt seine Zuhörer, und der Vater gähnt, geht aber nicht so weit wie die kleinen Mädchen, die vom Tisch aufstehen. Frank merkt, daß sie abtrünnig werden, das beleidigt ihn ein wenig, und er sagt grinsend: „Jawohl, ich soll wohl hier schön sitzen bleiben und euch etwas beibringen!”
Die kleinen Mädchen setzen sich vorsichtig wieder auf die Stühle, und der Vater entschuldigt sie: „Sie lernen es doch nicht, das ist ihnen zu hoch. Aber wir meinen alle, es gehöre dies zu dem Merkwürdigsten, was wir je gehört haben. Und doch hab' ich draußen in der weiten Welt die Neger sprechen hören.”
[S. 261] Aber Frank hat seine gute Laune eingebüßt, er ist abgeschafft und verträgt wenig, deshalb macht er sich jetzt zum Ausgehen fertig, er will jetzt gleich fortgehen.
„Willst du ausgehen?” fragt der Vater.
„Ja.”
„Na, dann danken wir dir für das, was wir diesmal gehört haben. Aber daß die deutschen Wörter ein Geschlecht haben sollen — ich hab' ja viel mehr Deutsche sprechen hören, als die meisten von uns — aber wenn du es sagst —”
„Du, dein Schlips ist elend verdreht!” macht ihn die Blaumeise aufmerksam.
Da Frank auf Genauigkeit aus ist wie ein Heftelmacher, verbessert er diese Sprache, er zerpflückt sie und zeigt, wie schlecht sie ist. Ach, aber es ist eine hoffnungslose Sache, sich Mühe mit ihnen zu geben, die haben nicht mit acht Jahren angefangen, Sprachen zu lernen. Er geht also und vergißt den Schlips.
Jetzt sind die drei wieder allein. Auch ihre gute Laune ist dahin, sie kommen nicht mehr in Zug mit der Lustigkeit, und die Braunäugige ist böse auf Frank. Der Vater entschuldigt ihn. — „Ja, aber er wird doch nicht Pfarrer, wozu braucht er dann so viel zu lernen?” — „Ach schweig! Der Schulvorsteher ist auch nicht Pfarrer und doch ein gelehrter Herr. Was schwatzst du denn da!”
Nun kommt auch Abel heim, und da er bei dem Schmied schon zu Abend gegessen hat, bekommt er jetzt nur zwei kleine Kuchen. Aber Abel ist auf seine Weise auch ein netter Kerl, und nachdem er die Leckereien verzehrt hat, zieht er aus seiner Tasche neue leckere Dinge, die er selbst für die andern mitgebracht hat. Seht, Abel bekommt ja jeden Tag bei dem Schmied seine ordentlichen Mahlzeiten, aber zu Hause ist es sehr ungleich mit den Lebensmitteln, die Schwesterchen sind durchaus nicht jeden Abend satt, wenn sie zu Bett gehen, und der Vater vielleicht auch nicht. Als Abel die zwei kleinen Tüten auf den Tisch legt, ruft er zugleich, daß sie die Süßigkeiten nicht anrühren dürften — er habe sie für sich selbst gekauft, sagt er, sie sollten sich nicht unterstehen, etwas davon zu versuchen, er wolle sich selbst im Bett damit gütlich tun. Darauf fallen die Schwestern und der Vater über die [S. 262] Süßigkeiten her und verzehren sie. „Ihr Raubtiere!” poltert Abel. — „Hast du noch mehr?” — fragt das Braunchen. „Ich will dir noch mehr geben!” — „Haha!” — Aber plötzlich flüstert der Vater: „Und Frank?” — Und siehe, da stellt sich heraus, daß Abel für Frank zwei Stücke Kuchen besonders in der Tasche behalten hat.
Sie essen und lassen sich's wohl sein. Mutter und Großmutter werden nicht mitgerechnet, die trinken viel Kaffee und lassen sich's auch wohl sein, sie halten oft einen Schmaus auf eigene Faust. Oliver, der Vater, selbst ist es gewesen, der diese heimlichen Feste eingeführt hat, das kam wohl von seinem Drange her, den Kleinen etwas Gutes anzutun; aber mit der Zeit war das ausgeartet, es wurde diesem Manne immer weniger Bedürfnis, offen zu handeln; er fand es am bequemsten, die Kinder im Flur zu treffen und ihnen einen guten Bissen zuzustecken, den sie auf der Stelle hinunterschlucken konnten. O, die Erinnerungen an alle diese herrlichen Durchstechereien, wo ihnen dieser Vater Gutes getan hatte! „Weißt du noch damals, und weißt du noch damals?” sagen sie zueinander. Genau genommen gab es doch keinen wie ihren Vater.
Da sitzen sie.
„Seht doch nur Abels Hände und Handgelenke an!” sagt der Vater. „Genau wie ich sie hatte, als ich noch heil und gesund war.”
„Laß mich sehen, Abel!” sagt das Braunchen und reißt an den Haaren auf seiner Hand. Er schreit und klagt seinem Vater. „Du bist doch der älteste, kannst du ihr das nicht untersagen?”
Der Abend vergeht, in der Stube herrscht Familienleben. Die Welt draußen geht sie nichts an. Sie streben nicht nach etwas Besserem, was sollte das auch sein? Die Blaumeise hat von dem Kuchen wahrhaftig etwas Farbe im Gesicht bekommen. Hier sitzt ein Vater, umgeben von seinen Kindern. Er ist freundlich und fett, und wenn er nicht untersucht wird, ist er harmlos anzuschauen. Was er für Kinder hat! Die kleinen Mädchen sind aufgeweckt, sogar sehr aufgeweckt, verteufelt klug; die sind schlau, die merken viel. Frank ist jetzt schon gelehrt, und Abel schon ein Mann. Nichts könnte besser sein, mit Süßigkeiten noch dazu ist es ein Paradies.
[S. 263] Jetzt muß Abel in die Kammer zur Großmutter, dort hat er seine Schlafstelle. Sein Lager ist eine Schlafbank, die des Nachts zum Bett wird. Das ist wundervoll, Abel ist müde und schläft wie ein Stein. Und jetzt geht er, denn er muß ja morgen beizeiten wieder in der Schmiede sein.
Bald darauf sind auch die kleinen Mädchen zur Ruhe gegangen und Frank in seine Kammer zurückgekehrt; Oliver sitzt allein am Tisch. Er meint, Petra bleibe recht lange aus. Weiß Gott, was sie macht; er gähnt, er zieht seinen Taschenspiegel hervor und betrachtet sich genau. Wenn Petra heimkommt, will er sie fragen, was sie in der langen Zeit ausgerichtet habe, unweigerlich will er diese Frage an sie richten, jawohl, das soll nicht fehlen.
Als Petra endlich kommt, hat sie ihm eine Neuigkeit mitzuteilen. Schon durch ihre ersten Worte wendet sie jede Mißbilligung ab: „Es ist ein fremder Dampfer eingelaufen.”
Der frühere Matrose beißt sofort an und fragt: „Wo?”
„Er hat am Bollwerk angelegt.”
Über diese Neuigkeit vergißt Oliver alles andere; er hinkt hinaus, um selbst nachzusehen. Eine gute Weile blieb er draußen, und als er wieder hereinkam, brüstete er sich mit seinem Wissen. „Der Flagge nach ist es ein Engländer.”
„Ein Engländer!” ruft Petra.
„Er hat dieselbe Art Luken wie die Kornschiffe, also wird er wohl für den Grütze-Olsen bestimmt sein.”
Um ihm entgegenzukommen, heuchelt sie noch weiter übertriebene Teilnahme und ruft: „Zu Grütze-Olsen! Das konntest doch auch nur du herausbringen!”
„Ja,” sagt er. „Ich bin doch wohl nicht umsonst in der Welt draußen gewesen.”
Jetzt ergreift sie die Gelegenheit und wirft ein: „Ich bin wohl sehr lange beim Rechtsanwalt geblieben. Aber ich mußte doch ordentlich mit ihm reden.”
„Allerdings,” sagt Oliver und fragt dann: „Was hat er gesagt?”
„Er hat geknurrt.”
„Der Leuteschinder! Ich sollte nur noch meine volle Kraft und Gesundheit haben! Was habt ihr denn ausgemacht?”
[S. 264] „Er hat ein wenig nachgegeben. Vorerst will er noch zuwarten. Aber mit einem einzigen Mal war er nicht dazu zu bringen,” sagt Petra.
„Nicht?”
„Ich soll in der nächsten Woche wieder hinkommen,” sagt sie.
„Nun, es ist jedenfalls ein Aufschub,” sagt Oliver. „Ich will doch hoffen, daß du die Sache in Ordnung bringst. Daß du ihm auf alles ordentlich dienst, was er zu dir sagt, das Untier.”
Dann geht er wieder zum Haus hinaus. Dieser Engländer beschäftigt ihn vollständig, sein Seemannsherz sehnt sich hinunter ans Bollwerk zu dem fremden Dampfer, er will ihn in der Nähe sehen, will ihn riechen, ein Seeschiff vom Ausland, englische Sprache, halbnackte Heizer, der Schiffer hoch oben auf der Kommandobrücke. Am Bollwerk trifft er viele neugierige Stadtkinder, er trifft den Fischer Jörgen und den unvermeidlichen Olaus vom Wiesenrain mit der Pfeife im Mund.
„Schön, daß du kommst!” sagt Olaus. „Du kannst mir dazu verhelfen, daß ich Tabak in meine Pfeife bekomme. Sie verstehen nicht, was ich ihnen zurufe.”
Oliver hat nichts dagegen, den Mann zu spielen, der Englisch kann, und als jetzt ein Gangbrett ausgelegt wird, geht er an Bord. Aber Olaus ist so unbedingt der alte Olaus, er spottet über den Tabak, den sie bekommen, es sei ja nicht mehr, als was auf einen Fingernagel gehe, und besseren habe er auch schon kennen gelernt. „Pfui Teufel! Ist denn niemand da, der einen guten, starken Tabak hat? Wo ist der Steuermann?”
Da ist es gerade, als ob der englische Matrose die norwegischen Worte verstünde; aber er liest den Sinn doch wohl nur von Olaus unzufriedenem Gesicht ab, er steckt kurz und gut seine Pfeife ein und geht fort. Oliver sieht ihm nach, und eine unbestimmte Erinnerung fährt ihm durch den Sinn. Diesen fremden Seemann hat er früher schon einmal getroffen, oder jedenfalls einen, der ihm ähnlich sieht. Er konnte ihn in einer Hafenstadt, auf der Straße, irgendwo oder in einem Heuerkontor gesehen haben; aber wo? Die Welt ist so groß und weit, und Oliver ist überall gewesen.
[S. 265] Er trifft einen andern von der Mannschaft und spricht sein beinahe vergessenes Englisch mit ihm, erfährt, wo das Schiff herkommt und für wen in der Stadt es bestimmt ist, alles ist ihm wichtig und versetzt ihn in sein früheres Leben auf der See zurück. Er erfährt, wieviel das Schiff laden kann, wieviel Mann Besatzung es hat, wie alt der Kapitän ist und wie lange sie von der Ostsee bis hierher gebraucht haben. Dafür berichtet Oliver, was er selbst ist, ein alter Seemann, er fing schon an, als er erst eine Spanne lang war, war aber Vollmatrose gewesen, als das Unglück ihn traf, als die Trantonne kam und ihm die Knochen zerschmetterte. Na, das sei schon eine Weile her, und vor einigen Jahren habe er, er so gut wie ganz allein, ein großes Wrack geborgen, das sei zum Exempel nicht so wenig für einen Krüppel, er sei darum auch in die Zeitung gekommen. Seit vielen Jahren sei er jetzt Aufseher in Konsul Johnsens Lagerhaus dort drüben, er sei verheiratet und habe mit seiner Frau vier Kinder gehabt, einer von den Jungen sei Student.
Olaus vom Wiesenrain wird dieses Geschwätz in einer ihm unverständlichen Sprache langweilig, er geht an Land. Der Engländer ist geduldiger, und es zeigt sich zum Schluß, daß er der Steuermann ist, der zweite Steuermann, er ist nicht fein und geleckt, sondern im Gegenteil ein Kernmensch, er zeigt sogar ein wenig Teilnahme für das winzige Städtchen, in dem er jetzt eine Weile liegen muß, um zu löschen. Oliver bekommt den besten Eindruck von ihm.
Als er wieder an Land geht, ist er vollgestopft mit Wissen und kann seine Bekannten um sich versammeln und Bericht erstatten. Der Fischer Jörgen ist ein getreuer Zuhörer, alt und steif steht er da und hört zu, sagt wenig, hängt am Munde des Erzählers und geht nicht seines Weges, er ist kein Läufer, nein. Es liegt ein Zug von Gehorsam über dem alten, verbrauchten Fischer, seine Frau hat ihn wohl im Lauf des halben Jahrhunderts gebeugt. Ach, und er ist zu solid, um zu den Schwätzern zu gehören. Seht, Mutter Lydia war heftig und tüchtig noch heutigen Tages, der Stadt beste Wäscherin, noch heutigen Tages ein Reibeisen, aber sie hatte den Mann nicht dazu gebracht, sich aufzurappeln, er war schwerfällig und treuherzig, er beugte sich. Gott weiß, vielleicht hatte [S. 266] er zu viele Haustöchter um sich her, die alle Stühle im Hause besetzten. Der Sohn Eduard war auf See.
Obgleich das fremde Schiff nur ein gewöhnliches Frachtschiff war, spielt sich Oliver doch auf, wie wenn er der Eigentümer wäre: er sei überall herumgegangen und habe alles angesehen, der Salon sei Mahagoni mit Vergoldung —
„Du bist nicht im Salon gewesen,” unterbricht ihn Olaus.
„So, ich soll nicht im Salon gewesen sein?”
Olaus schreit auf: „Willst du uns vielleicht weismachen, du seist im Salon gewesen? Der Schiffer ist ja am Land.”
Oliver gibt nach: „Ich bin aber am Salon vorbeigegangen und hab' alles gesehen. Ich begreife nicht, daß du nie das Maul halten kannst.” Er wendet sich den andern zu und fährt fort: „Der Kapitän muß reich sein.”
„Hat er das selbst gesagt?” fragt Olaus.
Jetzt tut sich Oliver wieder dick, spielt sich als den Lagerhausvorsteher auf und ist sich zu gut dazu, mit jemand, der so tief unter ihm steht, zu streiten. Der Krüppel hat seinen Stolz.
Aber Olaus hat auch den seinen. Auch er bleibt auf seinem Platz. Hat ihn schon jemand je weichen sehen? Als Oliver und die andern das Bollwerk verlassen, bleibt Olaus allein zurück, aus keinem andern Grund auf der Welt, als nur, um nicht der zu sein, der geht. Ein steifnackiger und verdrehter Mensch, ohne Bosheit, aber er hat ein zu ungewaschenes Maul. Er war ein unverbesserlicher Trunkenbold, übernahm sich aber nicht und bettelte niemals um etwas anderes als um Tabak. Unhöflich war er, und er grüßte die Honoratioren des Städtchens nicht. Seine Bombengesundheit erlaubte ihm, zu schlafen, wo er wollte, im Freien oder unter Dach.
Kein Schiffer, kein Doktor, kein Konsul, keiner von den gewöhnlichen Leuten des Städtchens war er, aber ein Hafenarbeiter mit einer Tabakspfeife, ein Wrack mit noch wertvollem Eisen darin, jawohl, der Ärmste war doch noch ein Stück von einem Mann!
Auch er hätte wohl den einen und den andern Grund zum Jammern gehabt, auch er war ein Krüppel, von einem Unglück getroffen, verschimpfiert im Gesicht, ein Mann mit nur einer Hand, aber gottlob doch noch mit [S. 267] einer Hand; er vergoß indes keine Tränen, er setzte sich auf die Hinterbeine, hoho, er verdünnte seine Sorgen mit Branntwein und ertrug sie. Ein Sonderling auf seine Art: es fiel ihm nicht im Schlaf ein, geradezu zu stehlen, man konnte ihm die Waren am Landungsplatz anvertrauen, aber er ließ sich seine Arbeit tüchtig bezahlen, und wenn sich die Gelegenheit bot, dann hieb er die Leute übers Ohr. Seine Frechheit war im Grunde klar und offenkundig, er schlich sich nicht weg und versteckte sich, sondern trat auf als der, der er war, grob und unverantwortlich, von vollkommener Sicherheit. Alles in allem ein Mensch mit guten und schlechten Eigenschaften durcheinander. Machte er kleine Reisen in die Nachbarstädtchen, nur um sich zu raufen? Keine Rede, Olaus machte diese Ausflüge, um sich einmal ordentlich zu betrinken, das stärkte ihm wieder den Mut. Daß ihm die eine Hand fehlte, war ihm weiter nicht lästig, er konnte nicht damit zufassen, aber er konnte mit seiner einen Hand heben und tragen. Wer einhändig ist, hat immer noch das Glück, nicht ganz ohne Hände zu sein. Dieses Glück hatte er. Olaus verzweifelte nicht, er hatte doch noch eine Hand. Er sah gehörig herunter auf den fetten Oliver, der übers Bollwerk hinkte und nicht einmal zwei Beine hatte, der arme Tropf!
Die beiden Krüppel verachteten einander gegenseitig, und ganz zweifellos war Olaus der Überlegenere. Oliver wußte das und wußte sich vor Neid nicht zu lassen; das zeigte sich in einem zudringlichen Mitleid mit seinem Unglücksbruder; er bedauerte ihn, weil ihn das Unglück zu einem Trinker gemacht hatte, der in seiner Raserei sein Weib prügelte. — „Ich prügle sie nicht!” rief Olaus. „Das geschah nur, als sie anfing, es mit andern zu halten. Paß du auf deine eigene Frau auf!”
Da wurde Oliver so teilnehmend, daß es ganz herzbewegend war, und er sagte: „Du tust einem herzlich leid, wenn man dir ins Gesicht sieht, aber noch schlimmer ist es mit deinen Händen. Du kannst dir ja gar nicht in allem selbst helfen, nicht einmal eine Nadel kannst du einfädeln. Ja, du tust mir herzlich leid!”
Naja, Olaus konnte wirklich keine Nadel einfädeln, das war eines von den Dingen, die er nicht tun konnte. Und er war auch nicht glatt und bartlos und weibisch im Gesicht, [S. 268] im Gegenteil, sein Gesicht war knochig und scharf, Bart und Gesichtsfarbe waren dunkel, die Pulverkörner, die in seine Wangen eingesprengt waren, saßen für immer drin und wurden nicht heller. Olivers Gesicht war glatt und rund, wie das Hinterteilchen eines Kindes, mit hängenden Wangen und feuchtem Munde. Das Gesicht war wenig anziehend bei Olaus, bei Oliver hatte es etwas Abstoßendes. Aber dieser hatte dennoch das große Übergewicht, hatte den verschlageneren Kopf, einen hurtigeren Gedankengang. Geht er nicht jetzt eben in der Dämmerung nach Hause und hat einen guten Gedanken? Hier war vielleicht die Gelegenheit, seine Eiderdaunen loszuwerden, sie in aller Stille aus der Stadt und aus dem Lande zu schaffen.
Seht, er hatte nun einmal diese Eiderdaunen auf seinem Bodenraum, ein gebundenes Kapital, es konnte niemand schaden, wenn er es freimachte, im Gegenteil, das war ein Gewinn für eine ganze Familie, Olivers Familie, die mit Hinauswerfung bedroht war. Als Schuld und Verfehlung löste sich die ganze Geschichte in nichts auf, da verteilte sie sich auf Hunderte von kleinen Mausereien von einem Klümpchen Eiderdaunen im Verlauf eines Menschenalters. Ob wohl die Honoratioren der Stadt im gleichen Zeitraum eine reinlichere Rechnung aufzuweisen hatten? Und kurzum: die Diebereien waren einmal geschehen, und daß er das gestohlene Gut verkaufte und vor Motten und Rost schützte, konnte seine Schuld doch nicht vermehren! Konnten denn nicht die Eiderdaunen darunter leiden, wenn sie zu lange in einem Bodenraum liegen blieben?
Andere Leute waren kein Haar besser als er, entweder sie hatten keine Gelegenheit, einen Streich auszuführen, oder sie hatten es nicht nötig. Sie hätten wohl auch manches Mal Lust dazu gehabt, es war ihnen sehr unangenehm, es bleiben lassen zu müssen, aber sie trugen die Kette am Bein, waren die Gefangenen ihrer eigenen Ehrbarkeit und ärgerten sich darüber, daß sie sich keinen Verstoß erlauben konnten. So war es. Was konnte man dann von einem Mann wie Oliver erwarten, einem Krüppel und armen Kerl mit einer großen Familie? Hätte nicht auch er vornehm und redlich in seinem Wandel sein können, wenn es ihm seine Mittel erlaubt hätten? Aber [S. 269] wann hätte er Geld gehabt? Er lebte sein Leben wie ein Pilz im Dunkeln, als Aufseher eines Lagerhauses mit Versuchungen in jeder Ecke, im Winter in einer Kälte, daß er Frostbeulen an die Hände bekam, im Sommer in einem Leber- und Trangeruch, der ihm den Atem nahm, ein durchdringender Geruch, vor dem er zurückprallte, wenn er morgens die Lagerhaustür aufmachte. Was Wunder, daß er dabei nicht völlig unschuldig und seine Seele nicht weich wie Samt blieb. Vieles, was er tat, wurde von einem Schatten verdunkelt, das Dunkel und er schienen in einer Art von Einverständnis miteinander zu stehen — jawohl, das Merkwürdige war, daß er den Doppelkonsul nicht ermordete und ihm sein Lagerhaus stahl.
Aber er hatte zu guten Verstand, um so etwas zu tun, er machte keine Dummheiten, die ans Licht kamen. Seine Art, zu wägen und zu messen, war nicht übersichtlich und wechselte je nach den Kunden, seine sonntäglichen Ausfahrten mit dem Boot waren immer gleich geheimnisvoll; er kam nachts nach Hause und hatte dies oder das bei sich, unter anderem trug er diese Eiderdaunen in der Achselhöhle versteckt. Im Lauf der Jahre war es eine prächtige Menge Eiderdaunen geworden, sie hatten Platz in einem Sack, wenn er sie aber herausschüttelte, würden sie eine ganze Kammer füllen. Der englische Dampfer konnte der Markt dafür sein.
Oliver übereilt sich nicht, seine Klugheit rät ihm Vorsicht an. Er fragt seinen gelehrten Sohn Frank nur zum Spaß und wie um ihn zu prüfen, was Eiderdaunen auf englisch heißt, und Frank blättert ein wenig in einem Wörterbuch und findet es, das war für ihn die Sache eines Augenblicks. Am Abend, wenn er mit seinem Packhaus fertig ist, geht Oliver häufig hinunter ans Bollwerk, läßt sich dort sehen, spricht mit den Engländern, wandert hin und her. Allmählich läßt er durchsickern, daß er etwas Eiderdaunen habe — eider down — ob sie sie brauchen könnten? — Ja, das denke er schon, sagt der Steuermann, der zweite Steuermann. „So, Sie haben eider down , wieviel denn?” — „Nur ein wenig, zu einem Bett oder so.” — „Also nicht noch zu einem zweiten Bett?” fragt der Matrose, der daneben steht. — Doch, das könne gut sein; Oliver sagt, er habe seit mehreren Jahren kleine Posten gekauft, es reiche sicherlich zu zwei Betten oder so. —
[S. 270] Sie besprechen sich darüber. Oliver ist nicht gerade berechtigt, mit Eiderdaunen zu handeln, er hat kein offenes Geschäft, aber in der Nacht kann er eine Probe bringen. Und es wird so verabredet.
Die Probe ist fein und tadellos, ist überirdisch, ein Flöckchen löst sich und schwebt zu den Sternen empor, in Eiderdaunen zu liegen, das ist wie aufzusteigen, wie in der Luft zu schweben. Eine neue Abrede wird getroffen über Preis und Lieferzeit, die Herren feilschen nicht. Sie rechnen nach Pfund, aber Oliver kann keine englischen Pfund annehmen, dieses Geld wäre zu verdächtig in seiner Hand. All right , sie überlegen unter sich, er soll norwegisches Geld bekommen, wenn nicht vorher, dann im letzten Augenblick, er könne ganz sicher sein! Oliver hat das flotte Seemannsherz, er kann die Herren gut leiden und traut ihnen, er will immer ein wenig auf einmal bringen, und den Handel dann zuletzt abschließen. „Ich hab' keine Angst um die Bezahlung, Gentlemen!”
Sie nehmen ihn in Ecken und Winkel, um ihn für sich allein zu haben, stecken ihm alles mögliche Eßbare zu und sind wie Brüder gegen ihn. Das ist doch etwas anderes, als die Mannschaft auf der Fia , die den Krüppel kaum betrachtet hatte. Ach, niemand ist wie die Engländer, Oliver wird in den Arm genommen, sie schwatzen mit ihm und fragen ihn aus, und er kann wohl mit einem und dem andern norwegischen Wort antworten, wenn er mit seinem Englisch einmal stecken bleibt, sie nehmen es nicht so genau, sie können make it out . Nun haben sie bald alle Leute in der Stadt gesehen, aber den Postmeister haben sie noch nicht gesehen, sitzt denn der Mann Tag und Nacht in seinem Kontor und hütet seine Geldbriefe? Der Steuermann und der Matrose interessieren sich sogar für so gleichgültige Dinge, wie zum Beispiel, daß der Postmeister seine Familienwohnung im Posthause hat. Sie reden auch über Olivers persönliche Verhältnisse: So, er habe also einen Sohn, der Student sei? Das sei ja prächtig. Sie wissen auch, daß er eine schöne Frau habe, sehr gut gewachsen, sie haben sie am Bollwerk gesehen warum er sie denn nicht mit hierherbringe? Sie würden sie nicht fressen.
Sie bieten ihm zu trinken an, daraus macht sich Oliver [S. 271] jedoch nichts; aber sie haben gemerkt, daß er Wert aufs Essen legt, und luchsen dem Stewart den einen und den andern Leckerbissen für ihn ab, den er dann abseits verzehrt. Was sind das für Gentlemen!
Endlich hat das Schiff gelöscht, und Oliver bringt den letzten Rest der Eiderdaunen. An diesem Abend trifft er nur den Matrosen. Es stürmt und regnet, der Kapitän und der Steuermann sind zum Abschied bei Konsul Olsen eingeladen, der zweite Steuermann hatte Zahnweh und ließ sich entschuldigen, er wollte sich trotz des Wetters auf dem Gemeindeweg warmlaufen; die Mannschaft war an Land.
Alles ist in Ordnung, noch diesen Abend soll Oliver das Geld bekommen, norwegisches Geld, der zweite Steuermann ist eigentlich hauptsächlich darum fort, um das zu holen.
Da die beiden also allein auf dem Schiffe sind, brauchen sie sich nicht in Ecken und Winkeln herumzudrücken; der Matrose lädt seinen Gast zu Beefsteak und gebratenen Kartoffeln im Mannschaftslogis ein. Das wird eine denkwürdige Mahlzeit, Oliver bläht sich vor Sattheit und Wohlbehagen. Plötzlich fällt sein Blick auf eine Schiffskiste, die an der Wand steht, und es durchfährt ihn wie eine Erinnerung. Er sieht den Matrosen an, und ist im Begriff, Adolf zu rufen.
„Wie heißt du?” fragt er.
„Xander,” erwidert der Matrose.
Schweigen.
„Merkwürdig, wie diese Kiste der meinigen gleich sieht,” sagt Oliver.
Gleichgültig erwidert der Matrose: „So? Es ist nicht meine; sie gehört einem von den andern.”
„Dir gehört sie also nicht?”
„Nein. Wenn du mit Essen fertig bist, dann bring' ich den Teller wieder hinaus. Komm, wir gehen hinauf!”
„Genau wie meine eigene Schiffskiste. Dieselbe Art Henkel, grün, wir hatten Tabak darauf geschnitten, da sieht man noch die Spuren davon —”
„So.”
„Wie hast du gesagt, daß du heißt?”
„Xander. Komm, wir wollen hinaufgehen. Die andern können jetzt bald wieder an Bord sein.”
[S. 272] Sie gehen hinauf. Es stürmt und regnet, es dämmert stark, und überall ist es höchst unbehaglich. Sie stehen an der Reling und schauen ins Weite, sprechen vom Wetter und schütteln den Kopf. Alles ist klar an Bord, der Lotse ist im Hotel einquartiert und wartet auf die Abfahrt; aber man muß gewiß noch die Nacht über an Land liegen.
Dort, wo auf dem Bollwerk einige Kisten stehen, rührt sich etwas, ein Presenning hebt sich, ein Kopf kommt darunter hervor und horcht. Es ist Olaus vom Wiesenrain, der sich hier für die Nacht zur Ruhe gelegt hat.
Oliver ist vielleicht von dem so sehr kräftigen Essen wie ein wenig berauscht, er fragt plötzlich: „Wo hast du sie denn her?”
Der Matrose versteht nicht.
„Die Kiste. Ich hab' sie an einen Jungen, der Adolf hieß, verkauft.”
„Die Kiste gehört nicht mir, so hör doch!”
„Nein, entschuldige, sie gehört dir nicht, aber —”
Der Matrose sagt: „Wenn du jetzt heimgehst, so komm morgen beizeiten wieder her. Heut nacht fahren wir nicht ab.”
Es war jetzt ungefähr elf Uhr.
Oliver begibt sich halb betäubt nach Hause. Konnte er so wenig vertragen, daß ein gutes Essen und eine alte Schiffskiste seine Gedanken in Verwirrung brachten? Hatte denn er, Oliver, dann einen verschlageneren Kopf und bessere Überlegung, als der Mann dort unter der Presenning?
Er trifft einige von der Mannschaft des Engländers, die jetzt wieder an Bord gehen, sie kommen vom Gasthaus und sind recht fidel, Oliver kennt die Sache von früher her.
Vor Grütze-Olsens Haus sieht er Leute stehen mit Regenschirmen und Laternen, es sind die Herren, die bei der Abendgesellschaft gewesen sind und die jetzt Abschied voneinander nehmen und heimgehen. Der Doppelkonsul ist nicht dabei, auch nicht Konsul Heiberg, der auch etwas großartig tut und nicht mit Grütze-Olsen verkehrt. Oliver sieht den Rechtsanwalt Fredriksen und vernimmt auch dessen Donnerstimme, er erkennt die beiden Engländer, den Kapitän und den Steuermann, er erkennt Konsul Davidsen, den Postmeister, den Stadtingenieur, den Zollverwalter. Dies war die Gesellschaft. Es fällt ihm ein, er könnte sich sein Geld für die Daunen noch etwas mehr sichern, wenn er Genaueres über den Abgang des Schiffes erführe, darum will er hinter den beiden Seemännern hergehen. Olivers Überlegung ist zurückgekehrt.
„Gut Nacht, gut Nacht!”
Der Postmeister hat keinen Regenschirm zum Verleihen, aber er fragt ins allgemeine: „Darf ich nicht jemand meine Laterne anbieten? Ich hab' nicht weit nach Hause. Ihnen, Herr Kapitän?”
„Nein, vielen Dank, Sie sind sehr freundlich.”
Der Postmeister teilt den Regenschirm mit Herrn Davidsen, [S. 274] der denselben Weg hat, und hält seine Laterne so, daß er selbst das wenigste Licht davon genießt; sie reden nicht viel bei dem starken Wind und über lauter gleichgültige Dinge. Davidsen, der Kleinkaufmann und Konsul ist, hat nun heut abend doch etwas gemerkt, und als sie vor seiner Tür stehen, fragt er geheimnisvoll: „Haben Sie gesehen, wie hingenommen der Rechtsanwalt in der Gesellschaft gewesen ist?”
„Hingenommen?”
„Von der Dame, von der Tochter, wie heißt sie gleich, Olsens Tochter, die älteste?”
Nein, der Postmeister hatte es nicht bemerkt.
„Das hat vielleicht etwas zu bedeuten,” meint Davidsen.
„Das ist wohl möglich, Konsul Olsen hat schöne Kinder, schöne Mädchen; die den Maler geheiratet hat und die noch zu haben ist, sind beide liebenswürdige Damen. Ich sinniere über das nach, was Sie gesagt haben, was sollte das wohl bedeuten? Sie ist so jung und hübsch, der Rechtsanwalt ist ja mindestens doppelt so alt.”
„Man hat schon mehr so Verrücktes erlebt.”
„Ach ja, wir arbeiten und mühen uns, freien und kämpfen und quälen uns ab und richten uns darauf ein, spät zu sterben. Entschuldigen Sie, Sie wollten etwas sagen?”
Der Kleinkaufmann und Konsul Davidsen hatte vielleicht gar nichts sagen wollen, aber er hatte vielleicht eine Bewegung gemacht, war wie ein wenig zusammengefahren, er hatte gewiß Angst, der Postmeister könnte wieder mit einer seiner langweiligen Auseinandersetzungen anfangen, und antwortete darum: „Ich wollte nur sagen, daß Sie meinen Regenschirm gerne mit nach Hause nehmen dürften.”
Der Postmeister lehnte ab, nein, danke, es seien ja nur noch wenige Schritte, er habe zu Hause einen Schirm. Doch was er habe sagen wollen: ach ja, zum Unterschied von dem Hasen im Wald und der Möwe auf der See —
„Der Rechtsanwalt denkt ja nur an die Mitgift,” fährt Davidsen fort.
Und der Postmeister seinerseits fährt auch fort: „Ach, was sind wir Menschen doch in endloser Unruhe, Tag und Nacht! Wir kommen nie zur Ruhe. Es gilt nicht, genug zu bekommen, man will mehr als genug bekommen. [S. 275] Unsere Seele steigt in die Höhe und fällt wieder herunter, kriecht auf allen vieren, versucht andere Aufstiege und fällt wieder zurück. Und eines Tages sterben wir. Der englische Kapitän will heut nacht die Anker lichten, das Wetter ist nicht dazu angetan, aber er will trotzdem die Anker lichten. In einer Stadt, zwölf Meilen von hier, soll er eine Ladung einnehmen, er will bereit sein, von morgen früh um sieben Uhr an Holz zu laden. Dann fährt er über die Nordsee und versucht einen neuen Aufstieg. Wenn er schon heut nacht abfährt, gewinnt er einen Tag. Aber gewinnt er einen Tag für sein Leben? O nein, er schindet sich ab, aber er gewinnt einen Tag Verdienst. Die Tiere und die Vögel schlafen bei Nacht.”
„Wollen Sie nicht meinen Schirm nehmen?”
„Nein, ich danke, es regnet ja kaum mehr. Ja, nun will ich Sie nicht länger aufhalten. Der englische Kapitän sprach von Gott —”
„Ja, er sei fromm, hab' ich gehört. Aber jetzt müssen wir zu Bett, Herr Postmeister.”
„Fromm, ja. Ich verstand vielleicht nicht alles, der Engländer hat seine eigene Religion hier auf der Welt und rechtfertigt sie auf ganz englische Weise. Er unterjocht Volk um Volk, nimmt ihnen die Selbständigkeit, kastriert sie und macht sie dick und still. Dann sagt der Engländer eines Tages: ‚Laßt uns nun der heiligen Schrift gemäß gerecht sein!’ Und dann gewährt er den Kastraten etwas, das er Selbstverwaltung nennt.”
„Es ist genau so, wie Sie sagen, Herr Postmeister. Gute Nacht!”
„Gute Nacht! So, Sie wollen zu Bett? Da war übrigens noch eine andere Sache. Ich frage mich, ob nicht vielleicht die Engländer ihren eigenen Gott haben, einen englischen Gott, wie sie auch ihr eigenes Gepräge haben. Könnten Sie sich sonst erklären, daß sie unablässig auf der ganzen Welt Eroberungskriege führen, und nachher, wenn sie gesiegt haben, meinen, sie hätten eine gute und hochherzige Tat vollbracht? Sie verlangen von allen Menschen, daß sie es so auffassen, sie danken ihrem englischen Gott dafür, daß die Untat gelungen ist, sie werden fromm davon. Und nun erlebt man den merkwürdigen Zug an den Engländern, daß sie voraussetzen, auch andere Völker werden [S. 276] sich dessen freuen, was sie getan haben: ‚ Nun müssen doch die Menschen gut werden,’ sagen sie, ‚laßt nun die Gerechtigkeit walten, werdet fromm!’ Andern Völkern kommt es merkwürdig vor, daß die Engländer nicht ihre Augen niederschlagen; sie müssen unbedingt ihren eigenen Gott haben, der mit ihnen zufrieden ist und ihnen Rechtfertigung erteilt. Sie schreiben in die Zeitungen, jetzt sei der Augenblick gekommen, jetzt müßte die Menschheit anders werden, sie machen es zu ihrem Programm: ‚Kommt jetzt, wir wollen uns hinsetzen und fromm werden,’ sagen sie, ‚was haben wir denn sonst zu tun? O, wie ganz anders müssen die Menschen nun werden, alle müssen anders werden als zuvor, andere Bilder müßten an die Wände, andere Bücher auf die Bücherbretter, andere Prediger in die Kirchen, wir müssen ein anderes Volksgewissen bekommen. Und ein anderes Zusammenleben unter den Menschen, andere Einrichtungen in den Häusern, eine andere Wissenschaft, eine andere Menschenliebe, eine andere Gottesfurcht — kurz gesagt, jetzt soll es ein anderes Paar Stiefel werden!’ Warum? Weil die Engländer selbst anders geworden sind? Die Engländer werden niemals anders. Weil die Menschheit sich plötzlich gegen früher verändert hat? Die Menschheit wird nur ungeheuer langsam und nach vielen, vielen Erdenleben anders, als sie gewesen ist” —
Der Postmeister schaut auf, es ist niemand bei ihm, Davidsen ist fort. Wahrscheinlich ist Davidsen so lange stehen geblieben, als er vermochte, und hat sich dann gerettet. Es ist nicht das erstemal, daß jemand diesem Prediger aus der Kirche gelaufen ist, seine Gemeinde läßt ihn oftmals im Stich. Eine Gemeinde zieht die Verkündigung vor, die sie erwartet; der Postmeister verkündigt das Unerwartete, er ist einer gegen die ganze Gemeinde. Gesenkten Hauptes geht der Postmeister nach Hause, die Hintertür steht offen wie gewöhnlich, und er tritt in den Gang. An der andern Wand bewegt sich etwas, er hebt die Laterne und sieht einen Mann.
Einen Mann. Einen Fremden in den dreißiger Jahren, einen Unbekannten mit dünnem dunkelm Vollbart, er hat einen Gummimantel an, der mit einem Lederriemen um den Leib zusammengehalten ist.
[S. 277] Einige Sekunden starren sie einander an, ihr Zusammentreffen überrascht wohl beide; dann greift der Mann zu dem Ausweg, nach einem Regenschirm zu schauen, der an der Wand hängt, sieht dann den Postmeister an und dann wieder den Regenschirm. Er macht einen ganz jämmerlich verwirrten Eindruck. Dieser Regenschirm — es ist gerade, als ob er sich nicht erinnern könne, wann er ihn hier aufgehängt habe.
Bekommt er denn nicht ein wenig Hilfe von dem Postmeister? Wieso denn? — Von dem Postmeister, der sich selbst nicht mehr helfen kann; er ist mit dem Rücken an die Wand gesunken und steht da und hält die Laterne in die Höhe.
Jetzt nimmt der Fremde den Regenschirm herab und fängt in einer Art von Verzweiflung eine Erklärung an, die sonderbar lautete, unheimlich lautete; war der Mensch rasend oder betrunken? Er spricht englisch, die Worte sind da, aber der Mann ist verrückt, er versucht, ob sich der Regenschirm aufspannen läßt und spricht mit ihm: „Zahnarzt!” sagt er. „Das mein' ich. Wie sagt man denn weiter? Haben Sie verstanden?”
Der Postmeister ist starr und blaß wie eine Leiche. Gleich zu Anfang war ein frohes Leuchten über sein Gesicht geglitten; es war, als ob er den Mann kennte und mit ihm sprechen wollte, dann hielt er inne und überlegte, er mußte wohl seinen Irrtum eingesehen haben und wurde wieder ganz starr.
Versteht er denn die Sprache nicht? Doch, gewiß, er hat an diesem Abend schon mit dem englischen Kapitän und mit dem Steuermann in deren Sprache geradebrecht. Hat er nichts zu sagen? Vielleicht hat er zu viel zu sagen! Als der Fremde der Tür zugleitet, flüstert der Postmeister: „Wart ein wenig!”
„Der Zahnarzt!” sagt der Mann. „Begreifen Sie nicht? Ich bin verrückt vor Zahnweh. Wohnt er nicht hier? Ich sah ein Schild —”
Der Postmeister flüstert: „Ich hatte einen Sohn —”
„Der bin ich nicht,” antwortet der Mann und will weiter.
„Wo sind Sie her?”
„Weg da!” befiehlt der Mann.
[S. 278] Der Postmeister sagt mit niedergeschlagenen Augen: „Haben Sie einen Regenschirm gehabt, als Sie herkamen?”
Der Mann scheint zu überlegen: „Hab' ich keinen gehabt? Dann —”
Aber plötzlich denkt nun wohl der Postmeister an die Tür zum innern Kontor, wo die Wertbriefe sind, das Wichtigste von allem; die Tür ist nicht mehr verschlossen, sie steht ein Spältchen auf. Der Postmeister eilt hinein, und gleich darauf ist ein Stöhnen zu hören.
Nachdem der Fremde in den Hof hinausgetreten war, blieb er plötzlich stehen, wartete einen Augenblick und kehrte dann zurück. Er trat wieder in den Gang und hängte den Regenschirm an seinen Platz. Durch die offene Tür sah er den Postmeister drinnen. Er lag zurückgelehnt in seinem Sessel. Die brennende Laterne stand neben ihm.
Da geht der Fremde wieder auf die Straße hinaus und fängt an zu laufen. Es stürmt und regnet. Oliver ist vom Bollwerk heraufgekommen und sieht diesen Mann an sich vorbeijagen. „Das ist ja der zweite Steuermann,” denkt er. „Der muß ja entsetzliches Zahnweh haben.” „Hallo!” ruft er und will ihn an sein Geld erinnern. Aber der Mann läuft nur immer weiter.
Was — das wird Oliver doch verdächtig. Was hatte der zweite Steuermann jetzt an Land zu schaffen? Zur Flutzeit heut nacht würde sich wahrscheinlich der Wind drehen und der Sturm sich legen, dann würde sein Schiff abfahren, wußte er das noch nicht? Oliver ruft ihm noch einmal nach, aber vergebens. Da läuft er wahrhaftig dem zweiten Steuermann auf der Landstraße nach, und es ist unglaublich, was für Sprünge er macht mit Hilfe seiner Krücke. Wenn es gilt, kann Oliver mehr als Schritt halten. Und jetzt gilt es sein Geld.
Er holt den Läufer ein und sieht, wie er stehen bleibt und eine Art von Signal gibt — es ist gerade da, wo das freie Feld aufhört und der Weg in den Wald hineinführt, in den dichten Wald hinein, und gerade daher ist ein Signal zu hören. Oliver hört auch eine Antwort darauf. „Für Schürzenjägerei ist jetzt nicht das richtige Wetter,” denkt Oliver; „es muß etwas anderes vorgehen, was kann es sein?” Er hüpft weiter bis zu den ersten Bäumen und versteckt sich dort.
[S. 279] Da sieht er ein paar Gestalten zu dem zweiten Steuermann auf den Weg heraustreten, nun bleiben sie stehen und stecken mit dem Steuermann die Köpfe zusammen. Das ist sehr geheimnisvoll, sehr merkwürdig. Da der Wind zu ihm hersteht, konnte er wohl den Ton ihres Gespräches hören, aber er versteht nichts, sie reden also nichts oder sie flüstern. Die dort sind wie Gespenster, sie bewegen sich, sehen einander vielleicht an, handeln und wandeln, aber sie schweigen. Oliver findet das Ganze recht unheimlich, er wäre gerne fortgegangen, wenn ihn nicht die Sorge um sein Geld festgehalten hätte.
Die Zeit vergeht, Mitternacht ist vorbei, die Flut ist da, der Wind schlägt um, und plötzlich macht sich Unruhe und Eile in dem Trüppchen dort bemerkbar, die Gespenster kommen auf Oliver zu, und er hört, daß sie dennoch sprechen. Zwei sind es außer dem zweiten Steuermann, ein Frauenzimmer und eine langbärtige Mannsperson. Als sie dicht bei ihm sind, macht Oliver einen Satz auf den Weg heraus. Aus der Gruppe schallt ihm ein Aufschrei entgegen. Der zweite Steuermann scheint weitereilen zu wollen, aber Oliver spricht ihn an und verlangt sein Geld.
„Komm an Bord!” antwortet ihm der zweite Steuermann, besinnt sich aber im nächsten Augenblick, greift ungeduldig in seinen waterproof und zieht Geld heraus, Scheine, viele Banknoten. Weil es finster ist, streicht der Langbart ein Streichholz an und leuchtet ihm.
Da ertönen von der See her drei kurze Stöße in einer Sirene, das ist der Engländer, der seiner Mannschaft pfeift. Der zweite Steuermann fängt an zu laufen.
Merkwürdig, in diesem Augenblick ist Oliver weniger von seinen Geldscheinen hingenommen als von seiner Gesellschaft. Natürlich verliert er nicht den Kopf, er steckt das Geld in die Tasche und verwahrt es wohl, aber dann ist er aufs äußerste erstaunt über die Frau, die hier mit dabei ist. „Gehst du aus an solch einem Abend?” fragt er sie und nennt ihren Namen.
„Ja,” erwidert sie verwirrt.
Ach, sie hatte wohl in der Finsternis sicher zu sein gemeint, allein ein Streichholz hatte sie verraten; jetzt schwankt sie wie völlig ratlos und antwortet dieses Ja gezwungenermaßen.
[S. 280] Was folgt weiter? Oliver ist Oliver. Sein Kopf fängt an zu arbeiten, die Stunde ist gerade die richtige für einen Mann wie ihn: die finstere Nacht, das Geheimnis dieses vielen Geldes in einem waterproof , diese geheime Zusammenkunft an einem abgelegenen Orte, endlich das Frauenzimmer — ja, sie war's, Schmied Carlsens Tochter, die Witfrau, die ihrem Vater haushält. Oliver hatte übrigens bis jetzt nie etwas Schlimmes von ihr gehört, aber sie schlug doch vielleicht ihrer Schwester und ihrem Bruder, dem Landstreicher, nach, Schmied Carlsen hatte Unglück mit seinen Kindern. Was hatte die Tochter an diesem Abend hier draußen zu suchen?
„Ich hab' dich gesehen,” sagt Oliver.
Er bekommt keine Antwort darauf. Und wenn Oliver gehofft hatte, es werde ein Vorteil für ihn sein, daß er an diesem Abend zum Mitwisser eines Geheimnisses geworden war, so hatte er sich getäuscht.
„Was wolltest du hier?” fragt er.
Doch nun greift der langbärtige Mann ein und sagt: „Wir haben Duette gesungen. Und was tust du selbst hier?”
„Ich? Du hast es ja gesehen; ich hab' mein Geld in Empfang genommen.”
„Dein Geld? Ja. War es nicht für Eiderdaunen?”
„Ach so, das weißt du?”
„Ja, das weiß ich.”
Oliver wandte sich an die Witwe. „Wen hast du da bei dir? Ist es dein Liebster?”
„Und wenn es so wäre?” versetzt der Mann auf eine sehr deutliche Art, indem er einen Schritt näher auf Oliver zutritt.
Oliver weicht zurück und sagt: „Ich wollte nur hören, wo du her bist. Ich kenn' dich wohl kaum, oder wie? Kenn' ich dich?”
„Wo ich her bin? Ich bin ungefähr daher, wo auch deine Daunen her sind, haha!”
Jetzt begreift Oliver wohl, daß er hier nichts ausrichten kann, und da wird er wie ein Lamm: „Ich hab' keine Daunennester. Diese Daunen hab' ich mir in mehr als zwanzig Jahren allmählich zusammengekauft, das kann ich dir sagen. Nein, leider bin ich kein Mann, der Daunennester haben kann, ich bin ein Krüppel, wie du siehst.”
[S. 281] Der langbärtige Mann muß sich sehr sicher fühlen, oder er tut wenigstens so, wenn er es nicht ist; er kümmert sich überhaupt nicht mehr um Oliver, sondern wendet sich an die Witwe und plaudert ganz gleichgültig mit ihr: „Es hätte gar nicht besser gehen können! Jetzt hat es aufgehört zu regnen! Er muß nun bald bei seinem Boot sein.”
„Ja.”
„Sie können ohne ihn nicht abfahren, sonst sind sie aufgeschmissen. Nein, es hätte wirklich kein Tüpfelchen besser gehen können. Jetzt wäre er schon an Bord, wenn er nicht aufgehalten worden wäre, das Geld abzuzählen. Hat man schon so etwas erlebt! Eiderdaunen! Gestohlenes Gut! Aber es hätte nicht besser gehen können. Friert dich?”
„Nein.”
„So sei doch nicht so verzagt, was fehlt dir denn? Er fährt ab, und wir bleiben zurück, das ist alles. Ein kecker Kerl!”
„Er hatte schlimmes Zahnweh heut abend,” bemerkte Oliver, um sich einzuschmeicheln.
Der Mann kümmert sich nicht um ihn und fährt fort: „Aber was wir für ein Schweinewetter gehabt haben, als wir in aller Unschuld hier draußen mit ihm zusammentreffen wollten! Warum hast du seinen Gummimantel nicht angenommen, als er ihn dir anbot?”
„Ich wollt' ihn nicht.”
„Nein, du wolltest ihn nicht. Aber von seiner Seite war es jedenfalls harmlos gemeint.”
„Ich nehm' nichts von ihm,” sagt sie.
Schweigen. Plötzlich sagt der Mann lachend: „Ist er denn nicht dein Liebster? Was redest du denn?”
„O schweig!”
„Ich denke, es steht dir frei, mit deinem Liebsten zusammenzutreffen! Übrigens hat keines von uns etwas dabei zu sagen, wir sind harmlos unseres Weges dahergekommen und haben ihn zufällig getroffen. Mehr ist nicht dabei. Aber wollen wir hier auf dem Wege stehen bleiben?”
„Wenn ich alles gewußt hätte —” sagt sie.
Jetzt tut der langbärtige Mann etwas Unerwartetes und Lustiges, er zieht eine Mundharmonika aus der Tasche [S. 282] und fängt an, eine Weise zu spielen. Er tut das vielleicht, um sie aufzumuntern, vielleicht auch, um seine eigene Sorglosigkeit anzudeuten, die Harmlosigkeit seiner Gegenwart auf der Straße mitten in der Nacht ins Licht zu rücken. Es ist unglaublich, daß er jetzt spielt, aber es ist kein Irrtum möglich, Oliver hört die Musik mit seinen eigenen Ohren. Und wieder, um sich einzuschmeicheln und mit dem Mann gut Freund zu werden, ruft Oliver: „Das ist großartig, Gott steh mir bei!” Er schleicht sich hinüber zu der Witwe und spricht: „Ich bin zu meiner Zeit in der ganzen Welt herumgekommen, aber so etwas wie dieses Spiel —”
Der Mann hält inne, wendet sich an Oliver und fragt: „Worauf wartest du?”
Der Krüppel merkt deutlich, daß er von diesem Manne nicht geliebt wird, und erwidert darum: „Auf nichts. Ich glaub', ich geh' jetzt hinunter und seh' zu, wie das Schiff die Anker lichtet.”
Der Mann fängt wieder an zu spielen.
Aber damit hatte er einen Fehler gemacht, er war zu dreist gewesen, sein Spiel weckt in Oliver einen Verdacht. Natürlich kannte er jetzt diesen Landstreicher; wenn er es sich näher überlegte, erinnerte er sich an dieses Spiel von seinen Jugendtagen her, außerdem erinnerte er sich an die Legenden über diesen Spielmann; er war ein Kind der Stadt, Schmied Carlsens Sohn, der Künstler auf der Mundharmonika, der Landstreicher, der bei allen Weg- und Eisenbahnarbeiten im Lande zu finden war. Was führte er nur jetzt im Schilde? Er hatte seine Schwester bei sich, sein Bruder Adolf war an Bord des Engländers, der mit der Schiffskiste — o, eine Bande von Geschwistern, alle beieinander! Es ärgerte Oliver, daß er ihnen nicht ins Gesicht hatte sagen können, was er von ihnen wußte.
In tiefen Gedanken ging er nach Hause. Da hatte er einen großen Wirrwarr aufzulösen, und Gott mochte wissen, ob er, im ganzen genommen, einen Vorteil davon hatte, sich noch weiter um die Sache zu kümmern. Den zweiten Steuermann kannte er durchaus nicht, und vielleicht war dieser überhaupt die wichtigste Person von allen. Außerdem hatte sich Oliver über sein eigenes Geschäft zu freuen; seine Tasche strotzte von Geld, es war der Lohn für sein [S. 283] fleißiges Hinausrudern zu den Vogelnestern Jahr um Jahr.
Er war beinahe zu Hause, als der Engländer eine lange Weile in die Sirene blies und vom Bollwerk abfuhr.
Alles in allem ein Tag reich an Erlebnissen; beinahe konnte er sich mit jenem denkwürdigen Tage messen, wo Oliver mit dem Wrack vom Meere hereinkam. Oliver hätte auch nichts dagegen gehabt, wenn er jetzt nach Hause kam, etwas großsprecherisch und verdienstvoll aufzutreten. Hier war also der Mann für seinen Hut, der Spürhund mit dem verteufelt guten Kopf. Er kam mit Geld, Geheimnissen, Wissen. Aber es war nichts zu machen, das Haus schlief, Petra schlief. Na ja, gewöhnlich war sie doch auch nicht seine Vertraute, das sollte ihm einfallen! Aber in diesem Augenblick hätte er sich gern ihr gegenüber mit seinen Geheimnissen dick getan und ihr ein bißchen etwas zugeflüstert, worüber sie hätte nachsinnen können, bis sie blau wurde. Jawohl, aber Petra schlief. Sie war wohl müde, die arme Haut, es war einer von den Abenden, wo sie wieder zu Rechtsanwalt Fredriksen hatte gehen müssen, um wegen des Hauses zu verhandeln, sie war wohl noch gar nicht lange heimgekommen und eben erst sanft und selig eingeschlafen.
Oliver weckt sie, indem er absichtlich seine Krücke auf den Boden fallen läßt. Und im Gedanken daran, was er in dieser Stunde alles zu bedeuten habe, sagt er in unzufriedenem Tone: „Du hättest wohl etwas Warmes für mich in Bereitschaft haben können, wenn ich nach einem wichtigen Geschäft nach Hause komme; ich bin ganz durchfroren.”
Petra ist wohl seiner Aufschneiderei und Prahlerei über wichtige Geschäfte herzlich überdrüssig, sie erwidert ärgerlich: „Etwas Warmes? Ich hab' auch nichts Warmes vorgefunden, als ich nach Hause kam.”
„So, du bist aus gewesen?”
„Ich hab' doch wieder zum Rechtsanwalt gehen müssen!”
„Wirst du denn niemals fertig mit dem Rechtsanwalt?” ruft er hitzig.
Keine Antwort.
„Und was, um Himmels willen, habt ihr denn noch immer zu besprechen? Eine Woche um die andere vergeht, und es kommt nichts zustande. Zum Henker noch [S. 284] einmal! Aber jetzt soll er nur zusehen! Wenn er mich einmal fuchtig macht, dann stopf' ich sein Maul mit Geld! Das glaubst du nicht? Es ist mir wurst, was du glaubst, du kennst mich noch lange nicht, und so kahl, wie ihr beide meint, bin ich auch nicht —”
Keine Antwort.
Da war nichts zu machen. Aber Oliver will es nun auch noch mit etwas mehr Freundlichkeit versuchen und sagt als Einleitung: „Ja, ja, jetzt ist also der Engländer abgefahren!”
Petra schläft.
Nein, die Stunde war völlig verdorben, ihre Größe und die Feierlichkeit zunichte gemacht. Na, das war ja eine Freude, auf diese Weise mit einem Vermögen in der Tasche zu seiner Familie nach Hause zu kommen!
Er zog seine nassen Kleider aus, schnallte den Stelzfuß ab und legte sich neben seine Frau — wie eine Insel neben einer Insel. Anders ist das gar nicht zu sagen. Sie ist ohne jede Schwachheit, und ihr in Ruhe befindlicher Körper atmet schwer und ruhig, es ist finster, und er kann sie nicht sehen, aber sie ist warm und riecht behaglich, sie liegt freundlich an der Seite, um ihm Platz zu lassen. Seine nächtlichen Abenteuer beschäftigen Oliver andauernd, die Stunden vergehen, und als es soweit Tag geworden ist, daß er zur Not sehen kann, greift er nach seinem Geld und zählt, den Rücken nach dem Bett gewendet, heimlich seine Scheine.
Am Morgen will er vor lauter Kränkung gegen Petra keinen Ton verlauten lassen; eine Frau, die die große Gelegenheit, etwas zu erfahren, verschlafen hat, ist nichts Besseres wert. Aber er hatte gar nichts davon, denn es ging wahrhaftig so, daß Petra selbst von einem unerhörten Ereignis Kunde brachte: sie kam vom Brunnen und hatte den Eimer noch nicht abgestellt, als sie schon erzählte, das Posthaus sei heute nacht ausgeraubt worden; den Postmeister habe man auf einer Haustreppe weit draußen in der Stadt gefunden. Er habe da ohne Hut gesessen und sei nicht recht bei Verstand.
Zu jeder andern Zeit hätte Oliver da augenblicklich zu seiner Krücke gegriffen und wäre in die Stadt gehumpelt; aber der Ärger darüber, daß ihn Petra in der Nacht um [S. 285] seinen Triumph gebracht hatte, hielt ihn zurück. Er wollte jetzt lieber auch keine Spur von Überraschung über ihre Erzählung, über ihre Räubergeschichte an den Tag legen, nein, nein, weit entfernt! Er frühstückt weiter, und Petra ist in tausend Qualen, weil er sie nicht ausfragt. Wie sie rasend und immer rasender wird! Es scheint, daß sie sich selbst gelobt hat, ihm keinen Kaffee mehr einzuschenken, obgleich seine Tasse leer ist; mag er doch für sich selbst sorgen! Endlich sagt sie: „Na, hast du heut nacht die Sprache verloren?”
„Die Sprache verloren?” erwidert er sehr verwundert.
„Mach, was du willst!”
„Wovon sollt' ich denn reden?” fragt er. „Was meinst du denn?”
„Dann hast du wohl nicht gehört, was ich erzählt habe?”
„Was — der Dreck? Ich weiß viel mehr als das!”
Sie schaut ihn an, und es kommt ihr ein Gedanke: „Du bist doch wohl nicht selbst dabei gewesen und bist mit darein verwickelt?”
Das war ja nett, hier saß er und sah so unschuldig aus wie ein Kind, und hatte reine Hände, und dennoch sollte sich ein solcher Verdacht an ihn heften! Er räusperte sich mit Würde und sagte: „Willst du wohl das Maul halten?”
„Ich hab' ja nur gefragt. Es war nicht schlimm gemeint.”
„Du, nimm dein Maul in acht!” wiederholt er und steht auf.
Allerdings, Petra war sehr ergrimmt darüber, daß er ihre große Neuigkeit so gar nicht anschlug, ihre gewaltige Neuigkeit; aber da er seine Krücke in greifbarer Nähe hat, findet sie es geratener, zu gehen, als zu bleiben; sie wirft den Kopf in den Nacken und begibt sich mit ihrer Neuigkeit in die Stube zur Großmutter.
Oliver ißt sich satt und geht dann von Hause fort.
Da die ganze Stadt wegen der Ereignisse der letzten Stunden vollständig verstört ist, kommt im Lagerhaus kein Betrieb in Gang, und Oliver hat die beste Gelegenheit, seinen Gedanken nachzuhängen. Das war ein Glück, daß er in der Nacht nicht dazugekommen war, etwas zu offenbaren, eine Fügung Gottes, Petra hätte es wichtig gehabt, [S. 286] jedes Wort weiterzutragen, und hätte ihn in den Postraub mit hineinverwickelt. Und es hätte vielleicht wegen des Eiderdaunengeldes trotz seiner Unschuld gespukt. Jetzt hieß es vorsichtig sein, vorerst keine großen Ausgaben zu machen, keine allzuschönen Kleider anzuschaffen, gar keinen Putz, der hellrote Schlips im Schaufenster des Stickereigeschäfts durfte also nicht seinen Hals zieren.
Oliver überlegte sich alles ganz genau: einen Teil des geraubten Geldes hatte er in der Tasche, daran konnte er nicht zweifeln, aber er hatte es nicht geraubt, Gott war sein Zeuge. Schmied Carlsens Kinder konnten vielleicht einige Aufklärung in der Sache geben, wenn sie angezeigt wurden, aber Oliver hatte nicht im Sinn, sie anzuzeigen, das fehlte gerade noch! Alle Umstände sprachen dagegen, erstens schon der, daß Abel bei dem Schmied in der Lehre war und die Witwe dort dem Haushalt vorstand. Und war nicht der Schmied selbst sein Meister? Oliver hatte Vatergefühl genug, daß er seinen Sohn nicht ins Unglück stürzen wollte. Übrigens konnten die Schmiedskinder leicht auch unschuldig sein, wer konnte das sagen, vielleicht wußte der fremde zweite Steuermann am meisten von der Sache, und wer kannte den?
O, dieser zweite Steuermann und dieser Adolf mit der Schiffskiste waren vielleicht die schlimmsten Verbrecher! Hatten sie denn nicht auch Oliver gebeten, seine Frau mit auf den Engländer zu bringen, sie würden sie nicht fressen! Aber Oliver hatte glücklicherweise Petra nicht mitgenommen und sie, wer weiß was, ausgesetzt, er gehörte nicht zu denen, die ihre Frau zu einem andern mitnehmen. Und nun zeigte es sich, daß ihn sein Schicklichkeitsgefühl ganz richtig geleitet hatte, sie hätte in eine wahre Räuberhöhle geraten können. —
In der Stadt schwirrten die unglaublichsten Gerüchte durcheinander, die Zeitung brachte einen Artikel, der von einem Manne, dem das Wort zu Gebot stand, geschrieben sein mußte, der Polizei-Carlsen war an allen Ecken und Enden und untersuchte, denn aus dem Postmeister war keine richtige Aufklärung herauszubringen; er saß niedergeschlagen und völlig fassungslos da und starrte zu Boden. Zuerst gab er eine Art Beschreibung eines fremden Mannes, den er auf dem Flur des Postkontors gegen zwölf Uhr [S. 287] in der Nacht getroffen habe; der Mann sei alt gewesen, habe einen langen grauen Bart gehabt, vielleicht auch eine Maske getragen; er habe englisch gesprochen. Bei einem späteren Verhör änderte der Postmeister seine Aussage: Der Fremde sei vielleicht gar nicht alt gewesen, sondern im Gegenteil jung, er wäre nicht imstande gewesen, ihn zu überwältigen. Der Mann habe keinen Regenschirm gehabt. Kurzum, der Postmeister redete nur Unsinn und verwirrte alle. Er war blödsinnig geworden, vom Schlag getroffen, der Doktor war bei ihm und stellte eine Hirnblutung und geistigen Stumpfsinn fest. Herrgott, ein Mann, der vorher Türme und Häuser mit Säulen hatte zeichnen können!
Und in der Stadt schwirrten die Gerüchte umher. Es wäre Unrecht gewesen, zu behaupten, daß die Leute dem Polizei-Carlsen und den Behörden nicht mit Nachforschungen an die Hand gegangen wären, in den ersten Tagen ließen sie sogar so gut wie alles liegen und stehen und opferten sich dieser Sache völlig auf. Und in diesem großen Aufruhr ertrank eine andere Neuigkeit vollständig, die sonst wohl die allgemeine Aufmerksamkeit verdient hätte, die nämlich, daß Konsul C. A. Johnsen das Ritterkreuz des Dannebrogs bekommen hatte. Wer war von dieser Ehre ganz hingenommen, wer erwähnte sie? Ein Bericht von ein paar Zeilen in der Zeitung, ein zufälliger Glückwunsch von dem einen und andern Stadtkind, das gerade daran dachte. Frau Konsul Johnsen aber, ja, sie legte mehr Wert auf die Auszeichnung, und sie telegraphierte sowohl an Scheldrup, der jetzt in Neu-Orleans war, als an Fia, die sich in Paris befand.
In den großen Städten geht man von der Ansicht aus, es gebe in kleinen Städten aber auch ganz und gar nichts von großen Ereignissen. Das ist eine verfehlte und kränkende Ansicht, denn es gibt da wahrhaftig Bankerott, Betrug, Mord und Skandal gerade so gut wie in der großen Welt. Allerdings schickt die Zeitung des Ortes keine Extrablätter darüber aus; aber jede Neuigkeit verbreitet sich sicher und rasch von den Brunnen her und dringt bis in das engste Kämmerlein. War in der ganzen Küstenstadt wohl noch irgendein Mensch vorhanden, der in der Frühe des nächsten Morgens noch nichts von dem Postraub gewußt hätte? Höchstens konnten es vielleicht Grütze-Olsens sein, denn das waren Leute, die lange liegen blieben und häufig im Bett frühstückten.
Und so wenig den Kleinstädten die aufregenden Ereignisse fehlen, ebensowenig fehlt es ihnen an Abwechslung darin. Kleinstädter haben die nötige Abwechslung in den Ereignissen vollauf. Sollten sie vielleicht darauf angewiesen sein, mit einem Postraub zu leben und zu sterben? Dann hätte diese Neuigkeit nicht so rasch aufgehört, eine berühmte Sache zu sein. Der Doktor erhielt sie noch am längsten am Leben, denn sie ließ ihn gewissermaßen dem vernichteten Postmeister gegenüber als Sieger dastehen, aber es dauerte nicht lange, bis es den Leuten überdrüssig wurde, sie zu erörtern.
Was war das Ende davon? Es gab überhaupt kein Ende, es kam gar kein Zug in die Sache. Der alte oder junge Mann, der Englisch sprach und vielleicht eine Maske trug, aber jedenfalls keinen Regenschirm hatte, dieser wahrscheinliche Verbrecher war nicht zu finden. Es wurde an das englische Schiff telegraphiert, allein das hatte in Norwegen bereits geladen und war auf dem Weg nach irgendeinem [S. 289] heimatlichen Hafen. Auch dorthin wurde telegraphiert, und als das Schiff ankam, ward auch eine Art Verhör abgehalten, aber das führte zu nichts. Natürlich kam es an den Tag, daß Adolf Adolf war, ein Schmiedsohn, norwegischer Matrose; aber er war in England verheiratet und dort ansässig, so war er auf einer englischen Schute von der englischen Flagge vollständig geschützt. Außerdem war sein Kapitän ein frommer Mann.
Auch der zweite Steuermann entpuppte sich als Norweger, Sohn eines Postmeisters in einer näher bezeichneten kleinen Stadt, unverheiratet, mit ausgezeichneten Zeugnissen über vorzügliches Betragen, auf ihm ruhte kein Verdacht — der Vater hätte betreffendenfalls in dem Fremden auf dem Gange doch auch seinen Sohn erkennen müssen, was er ja aber nicht getan hatte. Außerdem war es bei ihm dieselbe Sache mit der englischen Flagge, und daß die englische Flagge keinen Tag, ja keinen Augenblick einen Verbrecher geschützt hätte, das wußte alle Welt. Der zweite Steuermann und Adolf waren also zurzeit im englischen Dienst bei einem frommen englischen Kapitän, und von Auslieferung konnte keine Rede sein.
Warum hatten diese zwei Männer nicht ihre Eltern besucht, wenn doch ihr Schiff in ihrer Heimatstadt gelöscht wurde? Ja seht, das war eine von den zarteren Fragen, die ihnen vorgelegt wurden, aber sie wußten auch darauf eine ganz befriedigende Antwort zu geben: sie wollten sich Vater, Mutter und Geschwistern nicht mit leeren Händen vorstellen, und es war ihnen noch nicht gelungen, etwas Ordentliches von ihrer Heuer zurückzulegen. Das war der Grund. Aber Gott sei sein Zeuge — gab der zweite Steuermann an — er sei manchen Abend an Land gewesen und habe sein Vaterhaus umkreist, habe zu den Fenstern hinaufgeschaut und gezittert, wenn er eine Tür habe gehen hören, und die Hände gefaltet, wenn der Schatten seiner Mutter auf die Vorhänge gefallen sei. Das war ergreifend, das Gericht selbst war gerührt, und das will etwas heißen, wenn ein Gericht gerührt ist.
Von dem Matrosen Adolf kam eine eigentümliche Sache an den Tag: Als er und seine Sachen untersucht wurden, stellte es sich heraus, daß er über den ganzen Körper mit liederlichen Zeichnungen tätowiert war. Die Zeichnungen [S. 290] waren auffallend unanständig, und auf die Frage, wo das gemacht worden sei, antwortete er: „In Japan.” Diese Zeichnungen schadeten Adolf in den Augen des Untersuchungsrichters ganz ungemein, konnten ihn aber nicht des Postraubes überführen. Der zweite Steuermann war ohne Tätowierung und ganz schön und rein am Körper, so daß er viel besser aus der Sache hervorging; ja, das kam beiden Verdächtigen zugute.
So verlief nun also die Sache mit dem Postraub im Sande, und der Dieb oder die Diebe hatten auch nicht so besonders viel in die Finger gekriegt: Sieben- bis achttausend Kronen in Wertsendungen. Wenn sich mehrere in diese Beute teilten, kam auf jeden nicht sehr viel, und man konnte sich versucht fühlen, zu sagen, es sei ihnen gegönnt!
Die Sache war nun nicht mehr sehr wichtig, der Polizei-Carlsen zeigte keinen großen Eifer in den Nachforschungen, was ihm auch gar nicht zu verdenken war, da sein Neffe und damit auch er selbst Ungelegenheiten davon gehabt hätten. Aber auch der Vorgesetzte des Polizei-Carlsens legte wenig Wert darauf, in dieser Sache bis aufs äußerste zu gehen; es wäre eine Dummheit gewesen, um einer Kleinigkeit willen mit England Händel anzufangen, und außerdem war es der allgemeine Wunsch der Stadt, den Schmied Carlsen zu schonen, der bessere Kinder verdient hätte, als ihm zuteil geworden waren.
Aber nun der Postmeister? Er hatte sich das Ereignis so zu Herzen genommen, daß er nicht mehr zu kennen war: eine gebeugte und gebrochene Gestalt mit irren Augen und einem beständig mummelnden Munde. Der ehrgeizige Mann konnte den Schaden und die Schande, die ihn in seinem Beruf getroffen hatten, nicht überwinden, über etwas anderes brauchte er sich ja nicht zu grämen, da sein Sohn nichts Böses getan hatte. Der Postmeister war der Gegenstand allgemeinen Mitleids. Er hatte ja wohl während seines ganzen Aufenthaltes in der Stadt vernünftige Leute mit seiner ewigen Frömmigkeit und seinem metaphysischen Geschwätz auf allen Straßen und Gassen zum Sterben gelangweilt, aber jetzt, wo ihn das Schicksal geschlagen hatte, erinnerte man sich mehr der Tugenden als der Laster dieser heimgesuchten Seele. Hatte [S. 291] nicht er die Zeichnung zu dem großen Schulhaus gemacht, zu diesem Säulenhaus, das die Reisenden schon von der See aus sahen und darum bis an ihr Lebensende nicht vergaßen? Jetzt saß er da mit umnachtetem Verstand und war weniger denn ein Kind.
„Er ist selig und verwirrt und tot,” sagte der Doktor. „Es ist mir schon in der letzten Zeit aufgefallen, er hatte so einen stechenden Blick, er war morsch geworden, und es brauchte nur noch eines kleinen Anstoßes, um ihn zu zerbrechen. Der Glaube hat ihn zu Fall gebracht.”
Im Gegensatz zu allen andern fiel es dem Doktor schwer, den Postraub zu vergessen, er ließ den Verdacht nicht fahren, das Geld sei auf dem englischen Schiff davongefahren. Was hätte den lokalkundigen zweiten Steuermann hindern sollen, sich in sein Vaterhaus zu schleichen und die Wertsendungen zu stehlen? „Nachkommen!” pflegte der Postmeister zu sagen. Ach, ein Nachkomme, der zu allem fähig war! Der Nachkomme Adolf war von derselben Sorte, die entsetzlichen Zeichnungen auf seinem Körper legten Zeugnis ab von seinem Charakter. Wahrhaftig, die beiden Väter konnten sich ihrer Nachkommen freuen!
Der Doktor konnte es wirklich nicht lassen, ein wenig zu frohlocken. Noch niemals hatte er die sandigen Gassen der Stadt mit geringerer Überwindung durchschritten als jetzt, und noch nie war ihm die Richtigkeit seiner Lebensanschauungen so klar bestätigt worden. Zu dem frommen und gläubigen Wrack, dem Postmeister, ging er sehr oft, betrachtete ihn eine Weile und verließ ihn dann wieder; er konnte keine Anzeichen feststellen, daß seinem Patienten Licht und Klarheit wiederkehrte, und schloß daraus auf dauernde Finsternis bei ihm. Waren es nicht die Menschengedanken , mit denen dieser Kindermund großzutun pflegte? Daß die Menschengedanken niemals aufhörten, daß die Menschengedanken ein Licht seien, das niemals erlösche? Nun, für ihn selbst waren sie jetzt jedenfalls erloschen und hatten nur einen schwarzen Docht zurückgelassen. Solche schwache Köpfe sollten sich nie darauf einlassen, auf eigene Faust nachzugrübeln, die sollten Kirchen und Schulhäuser zeichnen und ihrem Katechismus treu bleiben.
Der Doktor hatte ja gerade keinen Grund, sich zu überheben und närrisch zu freuen, er empfand aber auf seine [S. 292] Art eine gewisse Befriedigung. Sein Materialismus behielt recht, der Zufall, daß der Postmeister zum Blödsinnigen geworden war, stärkte die Stellung des Doktors unter den Menschen; es war ja, als ob er das Unglück richtig vorausgesagt hätte, niemand kam ihm gleich an Autorität, seine Behauptungen mußten zu Recht bestehen bleiben. Wenn er nun also vom Postmeister behauptete, daß der Glaube ihn zu Fall gebracht habe, so konnte ihn der eine und der andere fragen: „Der Glaube?” Dann erwiderte der Doktor: „Jawohl, der Aberglaube.” Und das mußte bestehen bleiben.
Aber eine richtige Herzensfreude hatte der Doktor jetzt so wenig als vorher, das Leben war und blieb ein Elend, eine Gemeinheit. Wenn er nicht von Zeit zu Zeit den Genuß gehabt hätte, einen Menschen zu ärgern, so wäre es nicht auszuhalten gewesen. Meint man zum Beispiel, er hätte sich etwas daraus gemacht, den Kaufmann zu wechseln? Er hatte ja seine vieljährige Verbindung mit Konsul Johnsen aufgegeben und war zu Konsul Davidsen übergegangen, und wohlgemerkt, das war nicht geschehen, um Davidsen zu schaden, sondern im Gegenteil, um seinem kleinen Kramladen aufzuhelfen. Und was wurde daraus? Es wurde weiter gar nicht anerkannt, auch Davidsen schickte eine Rechnung. Sie waren doch alle gleich, Davidsen war nur ein neuer Konsul. Und überdies war Konsul Davidsen nicht einmal ein Mann, mit dem sich der Doktor ordentlich unterhalten konnte, er gab ja keine Antwort, sondern staunte nur, die Schlafmütze, und fand sich lächelnd darein, ordentlich verhöhnt zu werden.
Da war der Doppelkonsul doch besser, obgleich auch er nur ein Kaufmann und Schiffsreeder war.
Man munkelte, es müsse köstlich zugegangen sein, als der Doktor kam und dem Doppelkonsul zum Dannebrog Glück wünschte. Er hatte zu diesem Besuch den Apotheker mitgenommen, und beide waren sehr untertänig gewesen. Sie waren durch den Laden ins Konsulat gegangen, was sonst nicht ihre Gewohnheit war, hatten durch einen von den Ladenschwengeln ihre Besuchskarten hineingeschickt, dann Hut, Stock und Galoschen abgelegt und sich Haar und Bart mit einem Taschenkamm zurechtgemacht. Beide Herren hatten Handschuhe an.
[S. 293] Der Konsul trat ihnen etwas verwundert mit den Karten in der Hand an der Tür entgegen und fragte scherzend, ob sie Audienz haben wollten? Bejahend verbeugten sie sich. „Na ja, dann bitte!” sagte der Konsul und nahm die Sache immer noch leicht.
Aber als sie im Kontor angelangt waren und immer noch mit derselben Feierlichkeit ihren Glückwunsch aussprachen, da fing der Konsul an, selbst etwas an seinem Orden zu finden und zu denken, es sei vielleicht dies die einzige richtige Art, wie einem Glückwunsch zur Ritterschaft Ausdruck verliehen werden müsse, was konnte er wissen! Er wehrte sich allerdings ein wenig und sagte: „Na ja, das ist doch nun nicht der Mühe wert, um so formell zu sein!” Aber die beiden Besucher waren standhaft und ließen sich nicht zu einem leichteren Tone verleiten.
Der Konsul bot den Herren Zigarren an, und sie erhoben sich und nahmen mit tiefer Verbeugung jeder eine Zigarre, steckten sie aber nicht an. Der Konsul wollte sich nun wohlwollend zeigen und fing von dem Postraub an, der sich eben erst ereignet hatte. Die Herren verbeugten sich zu allem, was er sagte, und legten großes Gewicht auf seine Worte. Noch ging alles gut, Konsul Johnsen war ausgesucht höflich, als der größte Mann der Stadt durfte er dem guten Ton nicht fremd gegenüberstehen. Einer von den Ladenjünglingen trat herein und legte die Post in die eigenen Hände des Konsuls, und der legte sie auf das Pult, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. Der Geschäftsführer Berntsen trat ein und fragte etwas, und der Konsul erwiderte über die Achsel weg: „Später, ich bin jetzt beschäftigt!”
Unterdessen saßen die beiden Herren mäuschenstill, es war, als ob sie auf noch einen feineren Ton warteten. Aber da nichts mehr zu kommen schien, fuhr wohl der Teufel in den Doktor, er wollte sich selbst auf eine handfestere Weise eine Befriedigung verschaffen. Darum wendete er sich nun an den Apotheker und sagte einige Worte; aus Hochachtung vor dem Ritter sprach er leise, aber er sagte: „Wir hätten wohl eigentlich auch unsere Schuhe draußen ausziehen sollen!”
Da begriff der Konsul; innerlich schnitt er vielleicht eine [S. 294] Grimasse, aber seinem Gesicht war nichts anzusehen, als er dem Doktor antwortete: „Sie fürchteten wohl, Sie hätten keine heilen Strümpfe an?”
Na, hatte Konsul Johnsen keine Schneid? Sein Hieb saß, der Doktor war einen Augenblick geschlagen, dann lächelte er und sagte: „Vielleicht, das kann wohl sein.” Aber gleich darauf ging sein Pulver los, und er sagte: „Ich hab' übrigens meine Strümpfe und alles, was ich sonst aus Ihrem Kramladen bezogen habe, bezahlt!”
„Wirklich?” erwiderte der Konsul in zweifelndem Ton.
„Ich kann die Quittungen vorlegen.”
„So?” erwidert der Konsul, und da der Doktor schweigt, fährt er fort: „Ich weiß nicht, wo Sie hinauswollen.”
„Ich will nirgends hinaus,” antwortete der Doktor. „Das ist alles.”
Hier hätte der Konsul haltmachen und nicht weitergehen sollen; aber er war wohl gekränkt, daß er auf solche Weise geuzt wurde, und so konnte er es nicht lassen, ein wenig überlegen zu tun: „Von Ihren und anderer Leute kleinen Einkäufen im Laden draußen weiß ich wirklich recht wenig, das besorgt Berntsen. Ich sitze hier innen im Kontor und habe etwas größere Entscheidungen zu treffen.”
„O, das bezweifle ich durchaus nicht,” gibt nun auch der Apotheker zu; er wird feig und möchte gerne vermitteln.
Aber der Doktor grinst nur, kühl wie eine Hundeschnauze: „Selbstverständlich!” sagt er. „Wir sind groß, wir sitzen hier und disponieren, sage und schreibe, über ein kleines Frachtschiff, wir stehen nicht selbst hinter dem Ladentisch und verkaufen Schmierseife und Fingerhüte.” Da der Doktor hier die Luft durch die Zähne einzieht, macht es den Eindruck, als friere er — oder vielleicht noch mehr den, als sei er rasend.
Der Konsul erwidert: „Es ist genau so, wie Sie sich das denken, in die Kleinigkeiten mische ich mich nicht ein.”
„Ach, wie groß sind wir!” ruft der Doktor. „Herrgott, wie groß sind wir, Sie und ich!”
Der Apotheker greift ein: „Nein, so war es nicht gemeint. Entschuldigen Sie, daß ich die Sache so ansehe; was fällt Ihnen denn ein, Herr Doktor?”
Der Doktor steht auf: „Nein, wissen Sie was, Sie Apothekerseele, Herr ...”
[S. 295] „Still! Die Sache ist die, Herr Konsul, wir wollten heute herkommen, um — wir meinten, der Doktor und ich, wir als gute Bekannte dürften uns schon einen kleinen Scherz erlauben mit — es ist uns natürlich nicht eingefallen, Sie persönlich lächerlich machen zu wollen, wir wollten nur ein wenig spaßen mit dem Orden, mit der Ritterschaft, die wohl weder Sie noch wir sehr hoch anschlagen. Wir haben uns vielleicht etwas verkehrt benommen, aber wir setzten voraus, wir dürften schon kommen und sowohl Ihnen wie uns ein wenig Spaß machen.”
„Das haben Sie auch ganz richtig vorausgesetzt,” erwidert der Konsul. „Wie Sie sehen, bin ich ja auch vom ersten Augenblick an auf den Scherz eingegangen.”
„Daß Sie etwas so Selbstverständliches noch lange erklären mögen! Ich bin erstaunt, Herr Apotheker!” ruft der Doktor. „Kommen Sie, wir gehen! Adieu!”
Der Apotheker stand nun allerdings auf, aber er ließ den Doktor gehen und fing von neuem an, dem Konsul Erklärungen zu geben, und gebrauchte dabei äußerst höfliche Worte. Er hoffe, daß es keine Mißstimmung zwischen guten alten Bekannten geben werde, der Doktor gehe zu weit, das habe doch keinen Sinn, die Schuhe auszuziehen, und ein großes Dampfschiff von einem Hafen in den andern zu dirigieren, von Genesien den einen Tag, nach Zürich den andern — das gehe doch beinahe über Menschenverstand —
„Zürich ist nun eigentlich kein Seehafen,” sagt der Konsul und lächelt überlegen.
„Na, dann nicht. Ich verstehe leider nicht viel vom Seewesen, ich weiß nur, daß ich aus Zürich Pillen bekomme. Aber was ich sagen wollte. Jedenfalls ist es eine Riesenarbeit, hier zu sitzen und der Direktor von Schiffen auf dem Ozean zu sein und zugleich das größte kaufmännische Geschäft der Stadt zu leiten. Dafür hätten der Doktor und ich eigentlich wohl die Schuhe draußen ausziehen dürfen, das sag' ich gerade heraus, aber wenn ich Sie recht kenne, so wäre Ihnen das nicht angenehm gewesen. Der Doktor kann ja schon im voraus vieles verkehrt gemacht haben, und ich möchte den Herrn Konsul bitten, es uns beiden nicht nachzutragen.”
„Das hab' ich längst vergessen, reden Sie doch nicht [S. 296] so, das sollte mir gerade fehlen, dem Doktor etwas übel zu nehmen, ich habe wirklich anderes zu tun,” erwiderte der gutmütige Konsul Johnsen. „Da machen Sie sich keine Gedanken darüber!”
„Was schließlich den Orden betrifft, so sind Sie ja der erste Ritter, den die Stadt aufzuweisen hat, und es ist gewiß niemand da, der Ihnen die wohlverdiente Ehre mißgönnt. Es ist wohl die Anerkennung dafür, daß Sie das mit dem Wrack vor zwanzig Jahren so gut gemacht haben?”
Lächelnd sagt der Konsul: „Nun, es ist seither noch die eine und die andere Kleinigkeit dazugekommen.”
„Natürlich. Eine ganze Menge wichtiger Dinge, nicht zum mindesten Ihre wertvollen Berichte. Nun wird wohl auch die andere Regierung nachfolgen — war es nicht Bolivia?”
„Wieso? Ich bin nicht Konsul für Bolivia.”
„Verzeihen Sie.”
„Entweder Olsen oder Heiberg muß Konsul für Bolivia sein.”
„Aber sind Sie denn nicht Doppel —”
„— konsul? Doch,” antwortet Konsul Johnsen und lacht laut über die Verlegenheit des andern. „Ja, das versteht sich, Doppelkonsul, hahaha! Aber es muß wirklich einer von den andern sein, der Doppelkonsul von Bolivia ist, hahaha!”
„Ach, ich hab' ja Holland gemeint,” sagt der Apotheker ganz geknickt. „Ich bin sehr unglücklich. Auf jeden Fall ist Ihr Ritterkreuz eine Ehre, nicht allein für Sie, sondern auch für die ganze Stadt, wir alle sind dadurch geehrt. Die holländische Regierung wird nun wohl auch nicht mehr lange zaudern, Ihre Verdienste anzuerkennen.”
„Wieso? Nein, dazu liegt gar kein Grund vor. Wollen Sie nicht Ihre Zigarre anstecken, ehe Sie gehen? Na, wie Sie wollen!”
„Die werden sich jetzt ordentlich schämen!” denkt der Konsul vielleicht von den eben weggegangenen Herren. Und er denkt gewiß auch, daß bei diesem ganzen dummen Besuch der Doktor jedenfalls nicht auf seine Kosten gekommen sei. Die Herren selbst dachten vielleicht etwas ganz anderes, Gott weiß, der Apotheker ging vielleicht aus der Tür und grinste inwendig, und als er nachher [S. 297] dem Doktor von seinem „Sortie” aus dem Doppelkonsulat berichtete, grinsten vielleicht beide Herren gemeinsam. O, dieses Dirigieren der Schiffe auf allen Weltmeeren — es war ja eine bekannte Sache, daß Konsul Johnsen dazu gar nicht ganz befähigt war und daß über das Frachtschiff Fia meist durch den Sohn Scheldrup disponiert wurde.
Der Doktor schien trotzdem höchst befriedigt zu sein. Er sagte: „Bei Licht betrachtet hat er den Hohn gar nicht begriffen. Wahrscheinlich sitzt er in diesem Augenblick zu Hause und versucht, wie ihm der Dannebrog steht.”
Der Apotheker meint, er habe doch begriffen.
„Begriffen? Was begreift denn der! Haben Sie Riesenarbeit gesagt?”
„Ja, ich sagte Riesenarbeit.”
„Und Bolivia und Zürich? Und er hat Sie nicht hinausgeworfen?”
„Die Weisheit kommt ihm hinterher. Er merkt es zum Schluß doch noch.”
„Keine Spur. Nein, das war ein verunglückter Einfall von uns.”
Der Doktor geht zu Grütze-Olsens. Er geht oft zu ihnen, in der letzten Zeit beinahe jeden Tag, er hat dort etwas zu besorgen. Der Schwiegersohn des Hauses, der Kunstmaler, war mit Frau und Kind zu einem Sommerbesuch angekommen. Dem Kinde fehlte nichts, aber die junge Mutter war ängstlich wie alle jungen Mütter und verlangte einen Arzt.
Der Doktor hatte nichts dagegen, in Grütze-Olsens Haus zu kommen, er verdiente extra gut dabei und hatte angefangen, der Sache Geschmack abzugewinnen. Hier war nicht alles gar so vornehm und abgemessen, aber es war auch nichts zugemessen, alles war Breite und Überfluß, es war etwas protzig und verschwenderisch. Einzelne Damenhandschuhe trieben sich schon im Vorplatz herum, teuere Regenschirme standen mit geknicktem Stock da. In den Zimmern herrschte keine Unordnung, aber alles sprach von etwas zu viel Geld, die Bilderrahmen, die Teppiche, die Möbelbezüge. Die Vorhänge hingen bis auf den Boden herunter und breiteten sich da noch aus. Nein, hier herrschte keine Knauserei, aber die Art der Einrichtung lenkte die [S. 298] Gedanken unwillkürlich auf selfmade , auf neuerworbenes Geld.
„Ach was!” dachte wohl der Doktor und trank den teuern Wein und rauchte die guten Zigarren. Hier herrschte jedenfalls gute Gesinnung und Gastfreundschaft, und dazu der redlichste Wille, ihn anzuerkennen. Er hatte ein weiches Plätzchen in der Sofaecke, und alles hing an seinem Munde. Was tat's, wenn das Geld neuerworben war! Geld ist Geld, eine Million ist nicht schlimmer als ein Tausend. Und da saß der Doktor. Er war ja nicht der Mann, der sich imponieren ließ, aber er sah in dieser Umgebung doch etwas kahl aus, sein gestärktes Vorhemd knarrte etwas aufreizend auf seiner Brust, und die Manschetten mußte er mit den kleinen Fingern zurückhalten, sonst rutschten sie ihm vor auf die Knöchel.
„Nein, dem Kinde fehlt auch heute nichts,” sagt er. „Sie bekommt nur noch ein paar Zähne mehr, um ihrer schönen Mutter auch darin zu gleichen.”
Die junge Frau sagt mit tiefem Erröten: „Nun, das ist ja gut. Wir haben uns wieder so um sie gesorgt. Das komischste dabei aber ist, daß nicht ich am ängstlichsten gewesen bin.”
Konsul Olsen fragt: „Wer war denn am ängstlichsten?”
„Du, Vater! Das mußt du doch zugeben.”
Der Konsul entschuldigt sich: „Ich war nicht ängstlich, aber ich sah nicht ein, warum das Kind Schmerzen haben sollte, wenn doch zu helfen war. Sie ist nach mir genannt, Herr Doktor.”
„Das erklärt viel!” sagt der Doktor.
Hier war der Doktor ein anderer Mann, er hatte nicht nötig, immer auf der Hut zu sein und Nadelstiche auszuteilen, hier hatte man die nötige Hochachtung vor ihm, auch ohne das. Hier trat er freundlich und herablassend auf, er machte sich's sozusagen bequem. Im Bewußtsein, daß er der Überlegene war, vertiefte er die Kluft zwischen sich und diesen Menschen nicht noch mehr. Hier im Hause herrschte außerdem gute Laune, es schmeckte zur Abwechslung nicht armselig. Der Doktor war in dieser Beziehung von Hause nicht verwöhnt, hier war Lachen und Gesundheit, und natürlich war hier auch einige kindische Vornehmheit.
[S. 299] Fortwährend gingen Leute aus und ein. Außer dem Schwiegersohn mit seiner Familie hatten sie auch noch Besuch von dem andern Kunstmaler, dem Tünchersohn; o sie hatten ihn mitgenommen, er war allerdings nicht in die Familie eingeheiratet wie sein Kollege, aber auch er war willkommen und bewohnte ein Mansardenzimmer mit Teppichen und Vorhängen, die bis auf den Fußboden herunterhingen.
Und nun wollte dieser Tüncher das Bildnis des Doktors malen.
„Was wollen Sie denn damit?” fragte der Doktor aufrichtig. „Ich kann es nicht kaufen, und jemand anders wird es Ihnen auch nicht abkaufen.”
„Ich will Sie um Ihres Gesichtes willen malen,” antwortete der Maler. „Auf Lohn wird nicht gesehen!” fügt er munter hinzu. Dieser Tünchersohn war gar nicht so übel, er konnte zuweilen recht schlagfertig sein, er war leicht entzündlich und immer verliebt, hatte auch ein ehrliches Gesicht, aber seine Hände waren groß und ungeschlacht, der Doktor betrachtete diese Hände mit Widerwillen.
„Ja, malen Sie nur!” sagte der Doktor und tat gleichgültig.
„Danke! Aber ich will Sie in Ihrem Studierzimmer malen, umgeben von Arzneikolben und dicken Büchern, versunken in Ihre Wissenschaft.”
Der Doktor zuckte sichtlich zusammen. Das war einmal ein merkwürdiger Künstler, welches Verständnis für einen Gelehrten und dessen Tätigkeit! Der Doktor war augenscheinlich gerührt, eine schwache Röte stieg ihm in die Wangen, und er trank sein Glas aus, um das zu verbergen.
Ja, hier in Grütze-Olsens Haus hatte er es gut!
Ursprünglich hatte er da gar nicht so viel erwartet. Er hatte dieses Haus adeln wollen, wie er schon andere Häuser geadelt hatte, Henriksens von der Werft, Heibergs, Davidsens Kramladen, Johnsens am Landungsplatz, jetzt fühlte er sich hier wohl, solange es währte. Er hatte außerdem noch einen andern Gedanken: Er konnte Konsul Olsens wegen Johnsens am Landungsplatz geradezu eine Weile auf die Seite setzen — bitte, versuchen Sie einmal, [S. 300] wie das schmeckt! Er wollte gerne ein gewisses Gleichgewicht in die Dinge bringen, eine gleichstarke Macht jenseits der Grenzscheide herstellen. Er konnte die Stadt regieren mit Uneinigkeit, mit zwei Kampfhähnen.
Das hätte sehr schön gehen können, allein alles strandete an der Gutmütigkeit und Trägheit der Familie Olsen. Nein, die Familie Olsen war nicht lernbegierig und hatte keinen Verstand für Ränke und Kniffe. Sie verstanden sich auf gutes Essen und Geld und die eines Großhändlers würdigen Möbel; aber sie hatten keine Kultur, keine illustrierten Zeitschriften und keine von der Tochter des Hauses gemalten Teller. Die Familie Olsen klebte an der Erde.
„Johnsen am Landungsplatz ist Ritter geworden,” sagt der Doktor. „Jetzt sind Sie an der Reihe.”
Grütze-Olsen schüttelt wieder wehmütig den Kopf und sagt: „Dazu ist keine Aussicht.”
„Das ist gar nicht unerreichbar. Es gehört nur ein wenig Arbeit dazu.”
Grütze-Olsen schüttelte noch einmal wehmütig den Kopf und erwidert: „Ich bin Konsularagent für ein Land ohne Orden.”
„So. Aber jetzt hören Sie einmal, Herr Konsul. Jedenfalls könnten Sie ein Landhaus haben.”
„Ein Landhaus? O ja, allerdings!”
„Nicht wahr? Warum soll hier nur einer ein Landhaus haben? Und warum soll gerade er es haben? Sie sind sicherlich ein reicherer Mann als er.”
Grütze-Olsen schüttelt lächelnd den Kopf: „Na, übertreiben Sie nicht!”
„Also ein Landhaus. Und dann fahren Sie mit zwei Pferden hinaus.”
„Mit zwei Pferden? Nein!”
„Das können Sie sich doch leisten!”
„Ja, allerdings,” erwidert der Konsul und wirft sich in die Brust. „Aber zwei Pferde. — Nein, entschuldigen Sie — ich kann nicht einmal mit einem Pferde fahren.”
„Dazu nehmen Sie sich doch einen Kutscher! Sie sind doch ein Mann, der weiß, was sich gehört. Einen Kutscher mit blanken Knöpfen und einer goldenen Borte um die Mütze.”
[S. 301] „Nein, nein, nein, da müßte der Kutscher ja selbst lachen, daß es ihn schüttelt,” erklärt Grütze-Olsen. „Und ich mag nicht drinsitzen hinter zwei Pferden.”
Der Doktor schlägt vor: „Dann sitz' ich die ersten Male drin, das heißt, Frau Olsen und ich. Nicht wahr, Frau Olsen?”
Frau Olsen ruft ganz überwältigt: „Ich? Nein, Gott bewahre mich! Die Frau Doktor kann — die Frau Doktor kann selbst —”
Es war durchaus nichts zu machen.
So ging es denn nun im alten Trab weiter in der Stadt — nur der Postmeister war und blieb gebrochen. Er hatte mit einer dürftigen Pension seinen Abschied erhalten, die Familie war in ein kleines Haus bei der Werft übergesiedelt, und ein neuer Postmeister hielt seinen Einzug im Posthaus.
Der Sommer war vergangen, und die beiden Leuchten der Stadt reisten zurück zu ihrem Studium. Sie waren ja nicht gerade Busenfreunde, aber sie fuhren mit demselben Schiff. Busenfreunde? Frank hatte doch die ganzen Ferien hindurch gearbeitet und war Reinert wieder um eine Nasenlänge vorausgekommen, wie hätte daraus ein zartes und harmonisches Verhältnis entstehen können?
O, was hatte Frank nicht alles in diesen Wochen gelernt! Aber man sah es ihm auch an. Er hatte in sein Bewußtsein hinein soviel verschiedene Sprachwissenschaft verwoben, ein Stückchen ums andere, ohne Drängen, ohne Gewalt, nur indem er Zeit und Lebenskraft dransetzte, jetzt stand er auf dem Schiff ein bißchen gelb und mager, ganz ohne Fett und also wie dazu geschaffen, immer noch mehr zu lernen. Selbst dem Leben um ihn her widmete er nicht mehr Gedanken, als es wert war, mit seinen Händen wußte er nichts anzufangen, der Arbeit der Matrosen an Bord schaute er stumpfsinnig zu, die Maschinenleute fand er entsetzlich schmierig. Frank konnte keine Fässer und Kisten in den Schiffsraum verladen, nein, dazu war er nicht da; aber er konnte in Wörterbüchern nachschlagen; aber er saß voll zarter und heiliger Sprachwerte, ein Vergleich war gar nicht möglich. Feinheit wird durch Schulfleiß errungen und geht durch Arbeit verloren.
Auf dem Schiff traf er einen Bekannten von der Schulbank [S. 303] her, den Zeichenstift; als bleicher Neger tauchte er aus dem Maschinenraum empor, nur halb bekleidet, mit verschwitztem Gesicht und weitoffener Hemdbrust.
„Guten Tag!” sagte er und nickte Frank zu.
„Guten Tag!” sagte auch Frank und suchte sich den Neger in seine Erinnerung zurückzurufen. „Bist du hier?”
„Ja, hast du das nicht gewußt?”
„Nein,” erwiderte Frank etwas zurückhaltend.
„Ich bin Heizer. Wie geht es Abel? Gut?”
„Abel? Ja, ich weiß nichts anderes.”
Der Zeichenstift wollte Schulerinnerungen auffrischen. „Weißt du noch? Denkst du noch daran?” Er lachte, daß seine weißen Zähne blitzten, und dachte nicht daran, wie schmierig er war, da stand er mitten im Zug und machte sich nichts daraus. Frank stellte sich mehrere Male auf einen andern Platz und sagte: „Es zieht hier sehr!”
„Geht es bei dir zu Hause und deinen Schwestern gut?”
„Ja, ich hab' nichts anderes gehört.”
„Hahaha, man könnte gerade meinen, du kämest nicht von daheim,” sagt der Zeichenstift. „Und wie komisch, daß du nicht gewußt hast, daß ich hier bin. Deine Schwestern wissen das doch.”
Frank sagt ausweichend: „Ich hab' soviel anderes zu denken.”
„Aber dann weißt du doch wohl noch, wie wir die Fenster eingeschlagen haben? Und wie der Vorsteher dazukam?”
Immer ferner, beinahe schon am Horizont, sagt Frank: „Nein, das ist schon lange her.”
Der Zeichenstift merkt, daß sein Kamerad sehr gelehrt ist, und macht nun den Versuch, ihn nach seinen eigenen Angelegenheiten zu fragen: „Du willst wohl wieder auf die Universität?”
„Selbstverständlich.”
„Ach du liebe Zeit, wie weit hast du es denn schon gebracht? Bist du jetzt bald Pfarrer?”
„Pfarrer?” grinst Frank. „Nein, gewiß nicht.”
„Na!”
„Ich studiere Sprachen.”
„Na, aller Welt Sprachen! Ja, das ist auch keine Kleinigkeit. Aller Welt Sprachen, wie der Vorsteher. Reinert wird aber doch Pfarrer?”
[S. 304] „Nein, das weiß ich nicht.”
„Das weißt du nicht?”
Frank sagt unwillig: „Nein, ich weiß nicht, was er werden will.”
„Ich hab' Reinert heut morgen an Bord kommen sehen, aber er kannte mich augenscheinlich nicht.”
„Nein, das kann gut sein. Du bist ja so schwarz.”
„Allerdings, ich hab' ihn aber doch gegrüßt,” sagte der Zeichenstift und fing an, Asche aus dem Feuerraum heraufzuziehen und über Bord zu werfen.
„Hier staubt es so!” sagte Frank.
Nein, Reinert kannte nur, wen er kennen wollte; er kannte kaum Frank, der doch sein Kollege und ihm voraus war. Frank sah ihn an Bord kaum, Reinert fuhr auf dem zweiten Platz und trieb sich meist auf dem ersten herum. Aber Frank stand auf seinem dritten Platz und hatte das Bewußtsein, mehrere Sprachen zu verstehen.
Reinert hatte in den Ferien nichts Nennenswertes gearbeitet, ein wenig hatte er ja studiert, um seinem Vater, dem Küster, eine Freude zu machen, aber sonst hatte er sich meist im Freien aufgehalten. Reinert hatte kein Gras unter seinen Füßen wachsen lassen, er hatte Klein-Lydia und die kleinen Mädchen von der Werft vollständig erobert und auch bei Heibergs Alice große Fortschritte gemacht. Der Junge sah ja auch verflucht gut aus mit seinen Locken und seinen schönen Kleidern, dazu trat er so keck auf, daß er gut für erwachsen gelten konnte. Das ging sogar so weit, daß er sich bemüht hatte, den Assistenten beim Hardesvogt bei den Damen auszustechen, obgleich er es bei ihm mit einem ausstudierten Manne zu tun hatte.
Frank trieb sich blaugefroren auf Deck herum und suchte immer wieder ein warmes Plätzchen, wenn sich das Schiff drehte. Das erste, was er nach Ankunft in Christiania tun wollte, war, sich einen Überzieher mit einem Samtkragen zu kaufen.
Er kam am Rauchsalon vorbei, die Tür stand weit offen, er schaute hinein und blieb stehen. Dann grüßte er und wollte weitergehen, aber er war ein wenig zu lange stehen geblieben, außerdem waren es ja Bekannte, die da vor ihm saßen, Rechtsanwalt Fredriksen aus seiner eigenen [S. 305] Stadt, ein großer Mann, aber er plauderte da mit einem geringeren, mit Reinert, sie saßen beieinander und schwatzten, der Rechtsanwalt putzte sich die Nägel mit einem Perlmuttermesser, und beide rauchten.
Frank trat nicht näher, aber er sah auch nicht ein, warum er sich davonschleichen sollte, so weit bekannt und anerkannt war er doch auch, darum redete er durch die offene Tür Reinert an und sagte: „Ich hab' den Zeichenstift getroffen, er fragte nach dir.”
Reinert gab keine Antwort, er saß da und tat, als ob er nachdenke.
„Er ist Heizer hier auf dem Schiff.”
„So!” sagte Reinert geistesabwesend.
„Wer ist der Zeichenstift?” fragte der Rechtsanwalt, als ob er das nicht recht gut wüßte.
„Ein Schulkamerad von uns,” erwiderte Reinert. „Ja, ich freu' mich sehr darauf, die Glocken von Corneville wieder einmal zu sehen.”
„Ich hab' sie nicht gesehen.”
„Klausen ist großartig; das sagt jedermann.”
„Ich hab' so wenig Zeit für Theater und Zirkus,” donnert Rechtsanwalt Fredriksen. „Ich hab' doch meine Arbeit für den Landtag, und außerdem bin ich Vorsitzender einer parlamentarischen Kommission —”
Frank begriff, daß er hier nichts mehr zu suchen hatte, und ging weiter. Er begab sich wieder an ein warmes Plätzchen und lächelte vor sich hin. O, er verstand mehr Sprachen als die beiden zusammen. Fredriksen verstand wohl nichts, als einen kleinen Rest Deutsch — das war alles!
Aber konnte nicht auch der Rechtsanwalt Fredriksen lächeln? Es ging ihm mit seinen Sprachen wie mit seiner Anatomie: er verstand soviel davon, als er zu wissen brauchte. Jetzt war er wieder auf dem Wege zu seiner Kommission, vollkommen ausgeruht und bereit, die Arbeit da wieder aufzunehmen, wo er sie hatte liegen lassen. Diese Zusammenkünfte in den Kommissionen waren nicht so übel, es stand in der Zeitung, wenn er ankam; er konnte wieder Fahrt- und Kostgelder aus der Staatskasse erheben, abends traf er mit Kollegen und Gleichgestellten bei Punsch und langen Pfeifen zusammen. Das gab Ansehen, [S. 306] ein kleines Winkelblättchen hatte unter anderen auch ihn als künftigen Staatsrat genannt: „Haben wir denn keine Männer? Da ist doch der Oberstaatsanwalt Fredriksen!” Das tat dem Herrn Rechtsanwalt keinen Eintrag, wenn auf ihn hingewiesen wurde, dabei konnte er nur gewinnen, er hatte die Zukunft vor sich, er war nun schon ein Mann, der bei einer Unterredung das Taschenmesser herausziehen und damit in seinen Nägeln herumstochern konnte.
So reisten also diese drei Stadtkinder nach Christiania, Frank, Reinert und der Rechtsanwalt, jeder mit seinem Vorhaben, seinem Ehrgeiz, seiner Zukunft. Der Zeichenstift heizte die Maschine.
Und die Küstenstadt lag wieder hinter ihnen.
Sie wurden daheim vermißt, jeder auf seine Weise. Frank vielleicht am wenigsten. Seine Kammer stand leer, aber die Großmutter hatte nicht mehr nötig, auf den Zehen zu schleichen und konnte am Herde rasseln, soviel sie wollte. Das war keine kleine Änderung zum Besseren. Abel erbte die Kammer von seinem Bruder; aber das war einerlei, hin oder her, er war nur bei Nacht darin, und außerdem war Abel kein Mann der Wissenschaft.
Da hinterließ doch der Rechtsanwalt eine größere Lücke bei seiner Abreise. Nicht als ob sein Kontor durch seine Abwesenheit stark gelitten hätte, sein Geschäft war nicht so groß, daß es ihm nicht mit der Post nachgeschickt und von ihm auf der Bank im Landtag erledigt werden konnte. Aber der Rechtsanwalt hatte doch eine gewisse vorläufige Abrede getroffen, Fräulein Olsen vermißte ihn vielleicht, jedenfalls mußte es ihr sehr still vorkommen, als seine Stimme fehlte. Was war sonst noch erfolgt? Nur abgewartet, die Zeit war noch nicht gekommen, aber sie näherte sich, ein Winkelblättchen hatte schon die kommenden Männer genannt, darunter auch ihn, den mit der Abrede. Fräulein Olsen mußte jedenfalls gewisse schwere Tritte auf der Treppe vermissen, wenn nicht mehr, einen schwer schnaufenden Herrn, der hereintrat, einen Nacken mit einem Speckwulst, eine tastende Hand: „Guten Abend, guten Abend!” Wenn sie nicht sehr vergeßlich war, so mußte sie sich auch an die Zigarrenstummel im Aschenbecher erinnern, an das Zwiegespräch, an die sachliche Art, seine [S. 307] Liebe und norwegische Politik zu betreiben: „Was haben wir im Grunde in diesem Dasein zu erstreben? Es gut zu haben, was denn sonst? Wir steigen von Stellung zu Stellung, und es geht uns besser und immer besser, wir speisen gut, kleiden uns gut, legen zurück, werden vermöglich, besitzen Häuser in der Stadt und Anteile an Schiffen auf dem Meere, bewohnen eine Sommervilla, segeln oder fahren in der Kutsche, wann es uns gefällt. Wir tun nichts, was uns nicht paßt, wir wollen das Unebene nicht eben machen, das sollen die andern tun, jeder nach seinem Geschmack! Nachher — nachher können wir Geschäfte in Gang bringen und den Leuten Arbeit geben, wir können rund um uns herum wohltun, eine helfende Hand reichen. Wir hören von einer obdachlosen Familie und lassen sie in einem von unsern Häusern wohnen: Bitte, nur hier eingezogen mit den Deinen! Wir hören von Unglücksfällen und nehmen Anteil, wir sind alles andere als hartherzig, Matrosen werden zu Krüppeln in ihrem gefahrvollen Berufe, wir greifen ein und verschaffen ihnen ihr Recht. Auf diese Weise werden wir solidarisch, wir wollen Fortschritt und Demokratie, laßt nur uns alles in Ordnung bringen mit dem Dienst, der Fahne und dem Vaterland —”
„Jawohl,” sagte Fräulein Olsen darauf.
„Nicht wahr, so geht es, und so muß es auch gehen! Aber es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, sowohl die Person als die Stellung verlangen eine Gehilfin, Fräulein Olsen —”
„Wollen Sie sich nicht noch eine Zigarre anstecken?”
„Doch, danke. Eine Gehilfin also. Sie ist notwendig aus mehreren Gründen: Dem Haus muß eine Hausfrau vorstehen, sie soll die Zimmer in Ordnung halten, die Einkäufe für den Haushalt gehen durch ihre Hände. Jemand kommt und will den Mann sprechen, er arbeitet, er ist im Staatsrat, aber die Frau repräsentiert. Der Verwaltungsrat eines Altersheims oder einer Anstalt für Geistesschwache wünscht ihre wertvolle Unterstützung, nun gut, die Frau setzt ihren Namen unter einen Aufruf. Sie ist jetzt auf eine höhere Warte gehoben, zu neuen Ehren gelangt, aber auch zu neuen Pflichten. Sie kann sich diesen nicht entziehen, die Öffentlichkeit hält die Augen auf sie [S. 308] gerichtet, die Gesellschaft stellt ihre Forderungen. Könnten Sie diese Forderungen erfüllen, mein Fräulein?”
„Ich?” sagt wohl Fräulein Olsen lachend. „Ach, das weiß ich nicht. Nun, wenn es sein müßte, könnte ich es wohl. Was meinen Sie?”
„Das setze ich voraus. Und nun bleibt nur noch übrig, darüber ins reine zu kommen, ob auch Sie wollen. Seit unserer ersten Abrede sind nun mehrere Monate verflossen, Sie haben Zeit gehabt, oftmals darüber nachzudenken. Aber ich warte auf gewisse Veränderungen, die eintreten sollen, es eilt nicht, ich lasse Ihnen noch mehr Zeit.”
Da fragt wohl Fräulein Olsen etwas verwundert: „Unsere erste Abrede, sagen Sie? Was für eine Abrede?”
„Liebes Fräulein, unsere vorläufige Abrede. Erinnern Sie sich denn nicht mehr, bei der Hochzeit Ihrer Schwester? Ich meine doch, wir seien darüber einig geworden —”
„Ja, wir waren nicht uneinig.”
„Na, sehen Sie!”
„Aber Sie trafen die Abrede.”
„Na ja, darüber wollen wir nicht streiten, ich hab' am meisten geredet, darin haben Sie recht. Ich gab Ihnen mein Versprechen —”
„Sie stellt sich nur ein wenig an!” mag der Rechtsanwalt Fredriksen denken. Aber um sicher zu gehen, will er etwas zur Sprache bringen, etwas verlauten lassen, das ihm eingefallen ist. Diese Maler und Künstler, die ins Haus gekommen sind, könnten ihm das Mädchen wegschnappen, es wäre unglaublich, wenn so etwas geschehen würde, aber jetzt wollte er es andeuten: „Ich hab' Ihnen also meinen Antrag zu Füßen gelegt, und da liegt er. Hm. Wer singt denn da droben auf dem Boden?”
„Das sind die Maler. Sie haben droben ihr Atelier.”
Der Rechtsanwalt lächelt: „Ach, diese Gesellen! Sorglose Seelen, singen und bemalen die Leinwand! Von dem andern rede ich nicht, aber Ihr Schwager ist doch aus gebildetem Hause, ich bin mit seinem Vater auf der Universität gewesen. Wie geht es dem Sohn? So ein junger Mann hat nichts, worauf er zurückgreifen könnte, er hat nichts Rechtes gelernt, hat nicht studiert. Von dem andern will ich gar nicht reden, aber Ihr Schwager hatte doch von Geburt an Aussicht auf eine Zukunft. [S. 309] Na, es kann ja gut gehen, er kann ja hie und da einmal ein Bild verkaufen, ich selbst will ihm später eines abkaufen, und ich werde es Ihnen übertragen, die Auswahl zu treffen.”
„Was —”
„Ja, das will ich,” nickt Herr Fredriksen wie von oben herab, von seiner Höhe. „Ein Bild kaufen und Sie bitten, die Wahl zu treffen. Wollen Sie?”
„Würden Sie mir das anvertrauen?”
„Ich würde Ihnen natürlich noch viel wichtigere Dinge anvertrauen. Und was die Bilder betrifft, so wollen wir ihm nicht eins, sondern zwei abkaufen, das wollen wir. Ich reise jetzt wieder nach Christiania im Dienste meines Vaterlandes. Unsere Abrede soll inzwischen ruhen, wenn die Zeit gekommen ist, werden wir gleicher Meinung sein, das hoff' ich ...”
So hing es also zusammen mit der vorläufigen Abrede! Der Rechtsanwalt war beinahe allein dabei beteiligt. Seht, er hatte vor einigen Monaten diese Sache in Ordnung gebracht, und zwar zu seiner eigenen Zufriedenheit, aber heute war es ihm eingefallen, er wolle doch nicht so ganz allein sein mit dieser Abrede, er wolle auch den andern Teil dabei haben. Selbstverständlich würde Fräulein Olsen einschlagen, er mußte sie nur fragen, sie ein wenig ausforschen. Dann ging es, wie es ging, sie zierte sich ein wenig, aber das hatte nichts zu bedeuten, die Sache endete damit, daß sie versprach, die Bilder für ihre Wohnung zu kaufen.
Damit ging Rechtsanwalt Fredriksen an Bord.
Aber nun saß also Fräulein Olsen wieder einsam und allein in der Stadt und überlegte. Was hatte sie diesem Manne versprochen? Nichts! Nicht das allermindeste. Aber hatte sie ihn von der ersten Stunde an entschieden abgewiesen? Manche Frauen weisen keinen ab, keinen einzigen. Selbst der Unmöglichste läßt sich dazu gebrauchen, die Gedanken zu beschäftigen. Fräulein Olsen gehörte gewiß nicht zu den Berechnenden, den Abgefeimten, aber da war nun einmal dieser Mann, sie hatte ihn im Rückhalt, er war immer besser als gar keiner, sie wurde älter, die Schwester war verheiratet, weiß Gott, eine Zukunft war eine Zukunft, ein Staatsrat ist etwas Rechtes, wenn er [S. 310] wirklich Staatsrat wird. Man konnte immerhin daran denken! Aber berechnend? Sie steckte bis über die Ohren in Berechnungen, war aber doch ein natürliches Mädchen und wie alle andern, die Natur selbst lenkte ihre Politik. Sie hatte noch an nichts Mangel gelitten, sollte sie Mangel an einem Verehrer leiden? Von allem andern hatte sie vollauf, und hier hatte sie nun einen Staatsrat, wenn er es wurde! Daran war nichts Unverständliches, ein Huhn im Gartenbeet ist auch nichts Unverständliches.
Natürlich mußte Fräulein Olsen den Rechtsanwalt vermissen, wenn er abgereist war.
Vermißten ihn noch andere? Vielleicht das Haus Oliver? Das ist nicht wahrscheinlich. Oliver war wohl mehr als froh, als sein draufgängerischer Gläubiger die Stadt wieder verließ, und Petra mußte wohl das ewige Gerenne zu dem Rechtsanwalt satt haben. Endlich waren ihre Verhandlungen erledigt. Sie konnte doch unmöglich etwas übrig haben für diesen Mann, der sie so geplagt hatte, hier konnte sicherlich von Anhänglichkeit keine Rede sein, das fehlte auch gerade noch! Hörte man von einem Wunder und einer schonungslosen Liebe, war am Brunnen die Rede davon, daß beide in Flammen stünden, war das Wort „Kurzschluß” gefallen? Dem Rechtsanwalt gehörte das Dach über Petras Haupt, sie sprach mit diesem Manne, damit sie dieses Dach behalten durfte, das war alles. Gewiß, sie mußte öfter hingehen und über diese Sache mit ihm reden, auch Oliver, ihr Mann, konnte gelegentlich darüber murren, daß sie nie damit fertig wurde. Aber zog sie sich zu diesen Besuchen irgendwie auffallend oder aufreizend an, außer mit einem neuen Hemd unter dem Kleid? Nein, durchaus nicht, soviel Oliver wußte. Sie hatte ja nun einmal diese neuen Hemden bekommen und mochte sie wohl gerne tragen, Petra war eine verheiratete Frau, keines Mannes Annäherungsversuche würden Eindruck auf sie machen. Sie hatte vor vielen Jahren, als sie noch jung war, Scheldrup Johnsen für ein zärtliches Wort eine Backpfeife gegeben, was würde sie dann jetzt wohl tun, wo ihre Haare anfingen an den Schläfen grau zu werden und sie beinahe erwachsene Kinder hatte?
Oliver hatte also keinen Grund zum Mißtrauen. Er sagte: „Jetzt ist er also fort?”
[S. 311] „Ja,” antwortete Petra. „Und mir ist's recht, wenn er nie wiederkommt.”
„Wieso? Meinst du, er bleibe für immer weg?”
„Das weiß ich nicht. Mir wär's recht, wenn er nicht wiederkäme.”
Oliver sah seiner Frau an, daß es ihr ernst war mit dem, was sie sagte; sie machte eine Gebärde des Abscheus und spuckte zur Seite aus. Deutlicher konnte sie nicht reden, sie verabscheute den Rechtsanwalt.
„Ja, er ist kein Mann Gottes,” sagte er. „Aber die Rechtsanwälte! Sind die jemals anders gewesen!”
„Und das sag' ich dir,” beharrte Petra. „Das nächstemal kannst du selbst zu ihm gehen. Ich tu' keinen Schritt mehr.”
Hätte jemand deutlicher reden können! Oliver nahm das nicht übel auf, im Gegenteil; ja und das nächstemal werde er selbst zu Rechtsanwalt Fredriksen gehen, sagte er, nur ein einziges Mal, kurz und gut, sagte er und nickte dazu. Und er werde die Sache ein für allemal abmachen, er werde ihm sagen, wie er heiße, Oliver Andersen, und er werde eine Quittung verlangen für eine gewisse Summe Geldes, die er dem Blutsauger auf den Tisch werfen werde. Der Krüppel und Hasenfuß malte sich aus, wie er auftreten werde.
Übrigens war Oliver in der letzten Zeit wirklich etwas dreister geworden. Das Bewußtsein, daß er Geld in der Tasche hatte, hob den Mann, sein Charakter wurde fester. In den ersten Tagen nach dem Postraub fühlte er sich noch unsicher und bat Petra, ihm eine Innentasche in seine Weste zu nähen. Petra spottete über ihn und hielt es für Großtuerei. „Eine starke Tasche!” verlangte Oliver. „Jawohl, von Segeltuch!” sagte Petra. Da mußte sich Oliver an seine Mutter wenden, damit die Arbeit gemacht wurde.
Und jetzt, wo er seine Innentasche hatte und seine Geldscheine darin, fühlte sich Oliver geborgen; niemand würde auf den Gedanken kommen, einen Krüppel zu untersuchen, der nichts Böses getan hatte. Das Eiderdaunengeld war sein rechtmäßiges Eigentum.
Ärgerlich war es, daß dieses Geld nicht so recht ans Tageslicht kommen durfte. Es hätte Oliver Freude gemacht, [S. 312] in die Kaufläden der Stadt zu gehen und dies und jenes zu verlangen, und dann all sein Geld aus der Tasche zu ziehen und davon zu bezahlen; diese Freude blieb ihm versagt, das Geld mußte mit einer gewissen Lichtscheu ausgegeben werden. Ein Gutes war allerdings dabei, es bestand zum größten Teil in kleinen Scheinen, in vorsichtigen Zwischenräumen konnte Oliver einen solchen dem Pack entnehmen und ihn in Waren umsetzen. Auf diese Weise verschaffte er sich jeden Tag etwas Gutes zum Lutschen, außerdem ein wenig Putz, einen neuen Schlips um den Hals und einen steifen Kragen; den kleinen Mädchen hatte er Schuhe mit Schleifen auf dem Spann gekauft. Niemand faßte Verdacht gegen ihn wegen allzu großer Ausgaben; ein paar größere Geldscheine steckten ausgebreitet in seiner Innentasche.
So ging alles gut, Oliver hatte weiter keine Gelüste, er war leicht zufriedengestellt. Ein Freßsack war er nicht, wenn er auch etwas naschhaft war. Petra war das genaue Gegenteil, ein habsüchtiges und gieriges Weib. Gerade in dieser Zeit hatte Oliver seinen neuen und besseren Charakter recht nötig, er mußte Petra andauernd entschuldigen und ihr milde Ermahnungen angedeihen lassen. Der Teufel mochte sie verstehen, sie war sehr verdreht und querköpfig geworden, es war ihr wie angeflogen, jetzt war ihr weder Essen noch Trinken mehr recht, sie konnte dies und jenes nicht ertragen, der letzte Kaffee hatte geradezu verdorben geschmeckt. „Was für Kaffee bringst du auch nach Hause!” sagte sie. Sie hatte bei Davidsen ein Stück Schweizerkäse gesehen, und wenn sie jetzt noch Stubenmädchen bei Konsul Johnsens gewesen wäre, dann hätte sie solchen Käse bekommen! Übrigens hatte sie im Schaufenster bei Barbier Holte ein Stück Goldseife gesehen, was mußte die gut riechen!
Und Oliver, der die Innentasche voll Geld hatte, konnte antworten: „Sei doch nicht so begehrlich nach allem, was du siehst, Petra! Denk lieber daran, was wir verdienen, du und ich. Es geht uns doch recht gut, wenn schon einmal die Rede davon ist.”
Hier offenbarte sich nun Petras ungebärdige Verdrehtheit, und sie fing an, mit dem Manne zu zanken. Statt sich vor seiner Krücke zu fürchten, die in erreichbarer Nähe [S. 313] lag, verhöhnte sie nun diese und ihn selbst und sagte, sie lebe mit einer Krücke, spreche mit einer Krücke, liege im Bett bei einer Krücke und müsse sterben mit einer Krücke; das sei ein Leben! Und dabei spuckte sie wieder zur Seite aus, gerade als ob sie sich erbrechen müßte.
Oliver mit seinem kräftigen Oberkörper hätte den Tisch mit dem Beile spalten oder den Ofen einreißen oder sonst etwas als kleine Warnung vornehmen können, aber er tat etwas völlig Unerwartetes, er ging in die Stadt und kam zurück mit dem Käse und mit dem Stück Seife, bitte! Nein, so etwas! Petra war einen Augenblick wie gelähmt von dieser Unverständlichkeit, dann fing sie an zu weinen: sie wolle die Sachen nicht haben und besitzen! Wie er ein solcher Dummkopf sein könne, sich wegen dieser Narrheiten in Schulden zu stürzen! „Bring die Sachen sofort zurück!”
„Nein, jetzt hast du, was du haben wolltest,” sagte er.
Was sie haben wollte? Durfte sie jetzt nicht einmal mehr einen kleinen Spaß machen? Oder sollte sie zu allem hin auch noch ihr Leben lang stumm sein? Pfui!
Nun mußte es Oliver doch wirklich kränken, daß sie vor ihm ausspuckte wie vor dem Rechtsanwalt, aber er schwieg dazu. Ach, es geht eine große Veränderung vor mit einem Manne, der einen neuen Charakter bekommen hat. Oliver überredete seine Frau, den Käse doch wenigstens zu versuchen, nun ja, sie versuchte ihn und spuckte ihn wieder aus. „Was soll das heißen? Das ist ein anderer Käse, meinst du, du könnest mich anführen?” Petra wurde ganz blaß vor Erregung, sie war über die Maßen ungebärdig, die kleinen Mädchen bekamen heftige Schelte, nur weil sie gelächelt hatten. Als sie an der Seife roch, mußte sie sich die Nase zuhalten.
Es war unmöglich, ihr etwas recht zu machen.
Na ja, weder Oliver noch die kleinen Mädchen hatten etwas dagegen, die gekauften Leckerbissen für sich behalten zu dürfen.
So verging ein Tag nach dem andern, mit Gutem und Bösem, mit Reibereien, kleinen Tageserlebnissen, hie und da mit einem herrlichen Fischgericht, wenn Oliver einmal abends hinausruderte, zuweilen mit Backwaren zum Kaffee, wenn Oliver einen Schein hatte wechseln lassen. Es ging [S. 314] durchaus nicht armselig zu, die Familie hatte es erträglicher als die meisten kleinen Leute in der Stadt; wie viele hatten denn eine feste Stellung und eine Innentasche voll Geld?
Da war nun der unglückliche Postmeister mit seiner Familie, denen ging es viel schlechter. Der Doktor konnte bei dem schwer heimgesuchten Kranken immer noch keine Besserung feststellen; der Postmeister saß, wo man ihn hinsetzte, stumm und geknickt, wie abgestorben. Man konnte auch nicht annehmen, er sei stillvergnügt über irgend etwas, er kichere und lache in der Einsamkeit und schlage sich vor Lustigkeit auf den Schenkel. Weit entfernt! Es war nichts davon zu merken, daß er sich mit seiner alten Philosophie tröste, mit der Freude über seine Kinder, darüber, daß die Kinder soviel mehr wurden, als er war, darüber, daß sie gottlob schon jetzt an einem besseren Erdenleben für das nächste Mal arbeiteten. Der Postmeister schien gar nichts mehr zu denken, zu sinnen, zu glauben. Er hatte viele Jahre lang gesucht und endlich einen kleinen Pfad mit etwas Licht darauf gefunden, den war er gegangen — bis ganz weit draußen das schreckliche Schicksal furchtbar und hoch aufgerichtet vor ihm stand und ihn aufhielt. Die Wogen seiner Überlegungen hatten ihn verschlungen.
Seine Frau und seine Töchter waren tüchtige Menschen; die eine Tochter sollte jetzt eine Stelle in Konsul Johnsens Laden bekommen, der Sohn, der Landwirt war, steuerte bei, soviel er konnte, und die dürftige Pension reichte eigentlich weiter, als man erwartet hatte, aber so viele erwachsene Menschen konnten doch nicht davon leben. Es hätte schlimm ausgesehen, wenn nicht der Sohn in England, der tüchtige zweite Steuermann, eingetreten wäre. Als er von dem Postraub und dem Unglück seines Vaters hörte, trat er ein wie ein Mann. In einem herrlichen Briefe forderte er seine Eltern und Geschwister auf, in der Stunde der Prüfung ihr Vertrauen auf Gott zu setzen, er erzählte, daß auch er Unannehmlichkeiten von der Sache gehabt habe, er sei verdächtigt und verhört worden, aber natürlich sei nichts auf ihm sitzen geblieben. Er vergab der Welt, daß er verdächtigt und angezeigt worden war, gottlob, das Recht habe gesiegt, in England siege jederzeit das Recht. Zum Schluß äußerte er die Ansicht, daß [S. 315] darin eine Mahnung für die Stadt zur Umkehr und zum Nachdenken zu erkennen sei, ein so unerhörtes Ereignis gehe nicht nur ihn und seine Familie, sondern alle Leute an. Kurzum, er war fromm. Welch ein Sohn! Nicht mit einem Wort berührte er das Wichtigste, aber das Wichtigste war, daß er augenscheinlich jetzt mehr Geld hatte; ob er nun größere Heuer bezog oder in Englands Erde eine neue Kohlengrube entdeckt hatte, jedenfalls schickte er eine anständige Summe Geldes und versprach, noch mehr zu schicken. Das war Rettung, seine schöne Tat verschaffte der Mutter und den Schwestern ein unerwartetes Glück. Sie gingen zum Herrn des Hauses und erzählten ihm die Neuigkeit, sie hatten sich überlegt, daß sie ihn plötzlich damit überfallen wollten, um sein träges Hirn damit aufzurütteln, sie hofften, daß die Freude ihm mit einem Schlage den Verstand wiedergeben werde, bedenkt doch nur, wenn das geschähe! Aber es geschah nicht, sie wurden enttäuscht. Der Postmeister hörte ihnen zu, er schien sich sogar Mühe zu geben, zu verstehen, was sie ihm erzählten, wobei eines dem andern das Wort vom Munde wegnahm, aber er wurde nicht klüger davon. Es war gerade, als ob er die Neuigkeit schon gehört, oder als ob er sich das gedacht hätte, die einzige Veränderung in seinem Gesicht war, daß er noch etwas blasser wurde. Seine Frau brach in Tränen aus.
„Nein,” sagte der Doktor, „Ihr Sohn, der zweite Steuermann, kann Ihren Mann nicht kurieren.”
Die Frau Postmeister pflegte nicht viel zu reden, sie fühlte sich aber verletzt von des Doktors beständiger geschäftsmäßiger Sicherheit und fragte: „Warum nicht?”
„Ja, warum nicht!” erwiderte der Doktor. „Ich glaube viel eher, daß es der Herr Postmeister schließlich selbst satt bekommen, nur so in seinem Stuhle zu sitzen und seinen Nabel zu betrachten.”
Welche Sprache einer vom Unglück getroffenen Familie, ja Gott gegenüber! Aber das war ganz so geredet, wie es der Doktor im Brauch hatte, da war nichts zu machen.
Der Doktor geht nach Hause in sein Studierzimmer. Er saß in dieser Zeit dem Maler, darum trug er seinen abgetragenen Überzieher und die gestreiften Hosen, die er [S. 316] sich zu Fia Johnsens Konfirmation angeschafft hatte. Das war schon eine Ewigkeit her.
Er geht an Johnsens Doppelkonsulat vorbei, und da er stets ein wachsames Auge auf dieses Geschäft hat, sieht er bald, daß wieder ein neues Schild ausgehängt ist: „Modewaren, Blusen, gestrickte Sachen. Hüte werden garniert.” — Das Schild muß während der Nacht über die Tür gekommen sein.
Der Doktor bleibt stehen und liest das Schild ganz genau, und um nicht völlig mit sich selbst reden zu müssen, sagt er zu einem knicksenden Dienstmädchen, das vorbeigeht: „Unser Herr Ritter schwärmt für neue Schilder.”
Jawohl, Konsul Johnsen hat den Anbau des Ladens, wo jahrelang Öfen und ein paar Eggen standen, ausräumen lassen und einfach ein Modengeschäft daraus gemacht.
Der Doktor geht weiter und lächelt vor sich hin, er kommt an eine Haustür und trifft da den Maler, der auf ihn wartet. „Eine Entdeckung, junger Mann!” ruft er schon von weitem. „Ein Erlebnis!” Und dann fängt er an loszulegen.
Für gewöhnlich pflegte der Doktor mit dem Sohn eines Tünchers keine Zwiesprache zu halten, aber mit diesem jungen Mann war es eine andere Sache, es war ein Künstler und kein unbedeutender Mensch, allerdings jämmerlich unwissend in Bücherweisheit, aber mit soviel Verstand, zu schweigen, wenn die Gelehrsamkeit redete. Während der Sitzungen wurde die ganze Stadt durchgenommen, von dem unglücklichen Postmeister an bis zu Johnsens am Landungsplatz und Grütze-Olsens, von Davidsen und Heiberg bis zum Rechtsanwalt Fredriksen und Oliver, dem Krüppel — mit all der braunäugigen Brut im Hause. Der Maler erhielt viele unterhaltende Aufklärungen über die Verhältnisse in der Stadt; der Doktor war witzig und boshaft, ihm fehlte die Übung im Schießen durchaus nicht, allein es kam doch vor, daß er zu schnell sein wollte, daß seine Pfeile zitternd gerade vorbeifuhren. Auch ein Doktor kann manchmal daneben schießen.
„Junger Mann, Sie sind fremd hier,” konnte er sagen. „Die ganze Stadt ist ein Nest, ein Loch, aber ohne mich wäre sie ein Sumpf. Ich gebe den Leuten etwas zum [S. 317] Einnehmen.” So saßen die beiden im Studierzimmer des Kleinstadtdoktors, der Maler malte, und der Doktor ließ sein Mundwerk laufen. Es war weiter nicht viel Wissenschaftliches in dem Zimmer, obgleich der Maler das gewünscht hatte und das Bild „Der Arzt” heißen sollte. Der Doktor hatte einige Bücher hervorgekramt und einige Arzneikolben aufgestellt, ein Hörrohr stand auf dem Tisch und an der Wand hing eine Tafel mit Buchstaben, nach der für augenschwache Leute die Brillen ausgesucht wurden, in einer Ecke stand auch noch ein wenig Sublimat in einer Tasse, das war alles. Wo war der Operationstisch und die Wandbretter von Glas mit den tausenderlei Instrumenten? Zwei Rohrstühle standen in dem Zimmer. Hier war kein Mikroskop, kein Skelett, nicht einmal ein Schädel zum Beweis des festen Mutes eines Mediziners im Verkehr mit den Toten.
In diesem Rahmen wurde der Doktor gemalt. Es waren behagliche Sitzungen, nur hier und da einmal unterbrochen durch einen Mann mit einem geschwollenen Finger oder eine neuverheiratete Frau mit merkwürdigem Zahnweh. Der Doktor war ein prächtiges Modell, voll Leben, voll treffender Bemerkungen, Bitterkeit, Unglauben und Kampflust, sein Gesicht wechselte beständig und behielt nur als stehenden Ausdruck eine unerschütterlich überlegene Miene bei. Ach, wie verstand er es, dem jungen Mann einleuchtend zu machen, daß die Stadt ein Nest und ein Loch sei!
Nun stößt er also hier an seiner Haustür mit ihm zusammen und läßt sich nicht einmal soviel Zeit, erst einzutreten, ehe er mit seinem Erlebnis anfängt: „Junger Mann, es ist nicht nur der Rechtsanwalt Fredriksen, der Vorteil und Vaterland miteinander zu verbinden versteht.” Wie er Pfeile schoß, abwechselnd traf und daneben schoß! „Johnsen am Landungsplatz hat heute nacht ein Modengeschäft aufgemacht. Das ist übrigens wohl seines Geschäftsführers Berntsen Werk, der ist ein Mann mit großen Gaben, er verdiente mit den Öfen und den Eggen zu wenig, sie standen zu lang herum, nein, Modewaren müssen her! Na ja, das stimmt ja gut zusammen mit allem andern in diesem Geschäft, Johnsen am Landungsplatz verkauft den Haushaltungen ihren täglichen Bedarf, [S. 318] warum sollte er den Dienstmädchen nicht auch ihren Staat verkaufen? Modehandel! Wer soll diesem neuen Zweig vorstehen? Der schiffbrüchige Postmeister hat ja zwei Töchter, die älteste von ihnen soll dem vorstehen. Es ist ein Glück für Johnsen am Landungsplatz, daß der Postmeister ganz gebrochen ist und eine seiner Töchter in dienende Stellung gehen muß. Sie ist ein gewandtes, anständiges Mädchen, jetzt muß sie also aus ihrer Wohnung an der Werft drunten heraustreten und einen Modehandel leiten. Sie hat das nicht gelernt, allein das schadet nichts, es gehört nicht viel dazu, Johnsen bekommt sie billig, ja, es fällt sogar noch ein Schein von Wohltätigkeit auf ihn, weil er ihr Arbeit gibt. Junger Mann, die Stadt ist ein Loch —”
Die Mühle lief, der Maler kam nicht zu Wort; endlich sagte der Doktor: „Na ja, wir wollen hineingehen und malen.”
„Ich möchte heute gerne schwänzen,” sagt der Maler.
„So, schwänzen? Meinethalben gerne. Haben Sie etwas anderes vor?”
Der Maler erwidert: „Ich bin nicht recht aufgelegt.”
„So? Na, meinetwegen gerne. Guten Morgen!”
Aber der Doktor sah dem Maler nach, und dieses Nichtaufgelegtsein war ihm verdächtig, der junge Mann hatte ja wie sonst seinen Malkasten bei sich; ob der nicht doch wo anders hin wollte!
Ganz richtig, der Maler wollte wo anders hin. Frau Konsul Johnsen hatte ihn aufgefordert, ins Konsulat zu kommen, um auf dem Bilde, das er vor einigen Jahren von ihrem Manne gemalt habe, das Dannebrogkreuz hinzuzufügen. Ach, diese Konsuln und deren Frauen in den Küstenstädten! Na ja, sie hatte in dem Briefchen, das sie dem Maler schickte, die Sache erklärt; das Bild sei ja auch vorher schon sehr ähnlich, schrieb Frau Konsul Johnsen, aber Fia, die eben erst von Paris nach Hause gekommen sei, habe gemeint, noch ein paar farbige Striche würden dem Bilde entschieden zum Vorteil gereichen. Pasteur habe auch die Ehrenlegion auf seinem schwarzem Rock.
Es wird Herbst, wird Winter, und die Tage sind sehr kurz. Gewissermaßen war es ganz behaglich, in der Schmiede zu stehen, ein Dach überm Kopf zu haben und glühendes Eisen zu hämmern, das von selbst leuchtete, auch gab es ordentlich zu essen und zu trinken im Hause des Schmieds, ja wahrlich, mancher andere hatte es schlimmer als Abel! Er selbst dachte auch, es gehe ihm gut. So zum Exempel, daß die Arbeit selbst ohne Fausthandschuhe und so ohne Mühe vollbracht werden konnte. Ein großes Schurzfell war Abels wichtigstes Kleidungsstück. Meister Carlsen war in den letzten Monaten sehr zusammengefallen, er sprach immer mutloser von seinen Kräften, machte Bemerkungen, daß er die Schmiede aufgeben wolle, murmelte über den Tod: daß der Tod eintrete oder bis zum nächsten Male vorübergehe, aber es müßten ja alle sterben. Der Herbst hatte ihm hart zugesetzt, hatte ihm das Haar gelichtet und es weiß gemacht, seine Gedanken waren kärglich und unweltlich geworden, er gönnte sich lange Ruhepausen, während Abel arbeitete. Natürlich hatte der Einbruch in der Post Eindruck auf ihn gemacht, sein Bruder, der Polizei-Carlsen, hatte es nicht lassen können, ihm von dem Verhör in England zu berichten und daß Adolf schweinische Malereien auf dem Körper trage. Der alte Schmied erwiderte: „Das ist nicht unser Adolf,” aber der Polizei-Carlsen fuhr fort: „Und denk' dir, die ganze lange Zeit über, während das Schiff gelöscht wurde, war er hier und hat dich nicht ein einziges Mal aufgesucht!” — „Doch,” antwortete der Schmied, „er hat gewiß die Schwester getroffen, als er hier war, es schwebt mir so vor. Die beiden Jungen besuchen ihre Schwester, warum sollen sie mich aufsuchen? Du darfst ihnen nicht unrecht tun!” — „Na, dann ist Adolf also hier [S. 320] gewesen?” fragt der Polizei-Carlsen. — „Nein,” antwortete der Schmied.
Lauter Unsinn. Es war kein Verstand darin. Der Schmied Carlsen nahm es übrigens anders auf als der Postmeister, er war ungelehrt und von einfachem Gemüt, er betrachtete alles mehr gewohnheitsmäßig, es war keine Hysterie in seinem Gedankengang, sondern Handwerk, er war Schmied, er gehörte seinem Stand an. Es ist gut, wenn man seinem Stand angehört, sonst wird man ein Emporkömmling, und die Ursprünglichkeit geht verloren. Und war der Schmied nicht der Vater? Er wußte viel mehr Schlechtes als Gutes von Adolf und verzweifelte nicht. Vor wenigen Jahren noch kroch ja der Junge hier in der Schmiede umher, stellte Fragen, hämmerte auf kleinen Eisenstücken herum und schlug sich dabei auf seine Fingerchen, weinte und wurde wieder getröstet, war es nicht so? Der Adolf in England mußte ein ganz anderer Adolf sein — und selbst der hatte sich wohl die Finger verbrannt, er war vielleicht sogar noch jung. „Die Menschen sind alle miteinander gut, ausgenommen die Halunken!” konnte der Schmied sagen. Jedenfalls aber hatte er es nun wohl aufgegeben, einen seiner Söhne als Nachfolger in der Schmiede zu sehen, wer aber sollte ihn dann ablösen?
Er sagte zu Abel: „In einem Jahr kannst du mehr, als ich konnte, da ich für mich selbst angefangen habe.”
Er meinte wohl etwas mit diesem Ausspruch, oder war es nur ein Lob und eine Anerkennung? Es hinterließ jedenfalls in Abels Herz einen langen goldenen Streifen, er dachte augenblicklich an Klein-Lydia und an die Zukunft. Der unglaubliche Junge! Er war, wenn man ihn so sah, kräftig und rechtschaffen, rußig, ohne Ziererei, übersprudelnd, mit den Jahren hatte er einen guten Brustkasten bekommen, und obgleich seine haarigen Hände ohne besondere Sorgfalt geschaffen zu sein schienen, saßen doch tüchtige Kräfte darin. Seine Schuhe hatte er in der Schmiede selbst ringsum beschlagen, und für den, der sich auf Schuhsohlen verstand, waren die Abels etwas ganz Besonderes.
Als er am Abend heimging, begegnete er seinem Vater, und da weihte er ihn gleich in die Sachlage ein. Oliver — obgleich er selbst seit mehreren Wochen über etwas, [S. 321] was daheim eingetroffen war, mit tiefen Überlegungen beschäftigt ist — gab nun gleich seine eigenen Gedanken auf und hörte dem Sohne aufmerksam zu. „Er muß denken, du sollst der sein, der die Schmiede übernimmt und ihr geradezu vorsteht!” sagte er.
„Soo,” sagt Abel.
„Ich halte es nicht für unmöglich. Was denkst du selbst?”
„Ich weiß es nicht.”
Der Vater nickt mit dem Kopfe, wie wenn die Sache schon entschieden wäre, und erklärt: „Ich kann es nicht anders ansehen.”
Jawohl, Oliver war der Freund der Kinder, zu ihm kamen sie mit ihren Zweifeln und ihren Sorgen, er hatte die richtige Teilnahme für sie, er war für einen Vater, der seine Kinder sich selbst erziehen ließ, wie geschaffen. Abel, der unglaubliche Unband, hatte einmal verlauten lassen, er wolle sich nun niederlassen und sich verheiraten, o, er habe seine Gründe dafür, er würde nie glücklich sein, bis er sie bekomme, sagte er. Der Vater war dann nicht in helles Gelächter ausgebrochen, sondern hatte im Gegenteil genickt und gesagt: das sei gar nicht so verkehrt, durchaus nicht, gewissermaßen, und es komme ihm nicht unerwartet. Denn wenn Abel in kurzem Schmied und Handwerker in der Stadt werde und er groß und breitschulterig geworden sei, dann könne er zum Exempel alles tun, was er nur wolle. Er brauche nur eine kleine Frist, um sich alles zu überlegen, sich Herd und Wohnung und derartiges zu verschaffen, aber er werde schon sehen, zwei Jahre vergingen schnell. — Abel wendete ein, daß er es auf diese Weise unmöglich zwei Jahre lang aushalten könne. — „Nein, das will ich dir gerne glauben,” antwortete der Vater nachgiebig. — Abel fuhr fort: „Denn in jeder Vakanz kommt dieser Reinert heim und verdirbt wieder alles für mich.” — „Reinert,” sagte der Vater mit einem Hohn, der Abel sehr tröstete, „ist ein kleiner Junge, er ist wohl nicht mehr als achtzehn Jahre!” — Abel, der noch nicht lange siebzehn geworden war, beeilte sich einzuwerfen: „Ich bin auch nicht mehr als achtzehn.” — „Ja, aber es ist ein Unterschied zwischen dir und ihm, du bist Handwerker und Fachmann; wenn du ausgelernt hast, dann bist du am ersten besten Tag Meister und Geselle zugleich. Das sag' ich [S. 322] gerade heraus: Gibt es etwas auf der weiten Welt, das rascher vergeht, als ein Jahr oder zwei! Sieh bloß, da verheiratet sich der eine und dort verheiratet sich der andere, und sie sind nicht einmal Handlanger bei einem Maurer. Aber was bist du?” Mit all seinem Gerede meinte wohl Oliver, daß die Zeit dem tollen Jungen über seine Grillen hinüberhelfen werde.
Und an diesem Tag wirkt er aufmunternd auf den Sohn, er entwickelt eine Auffassung der Sache mit vielen wohlgemeinten Redensarten: Der Schmied Carlsen werde Abel über seine ganze Schmiede setzen — gleich wie Pharao einst Joseph über seinen Hof gesetzt habe. „Ich will dir etwas sagen, Abel,” sagte er, „da du so besonders tüchtig in deinem Fach bist und das ausgeführt hast, was er dir aufgetragen, was Gott für dich bestimmt hat, so kann Carlsen nichts anderes meinen.”
„Nein,” stimmte Abel bei.
„Du wirst über sein ganzes Hab und Gut gesetzt, wir wollen jetzt heimgehen und es deinen Schwestern zu wissen tun, das sind große Dinge. Ein Jahr ist weniger, als man glaubt. Was ist ein Jahr? Gott zwinkert nur ein einziges Mal mit den Augen, dann ist es schon ein Jahr. Und wenn du einer Sache vorstehst, so ist das genau so, wie wenn sie dein eigen wäre. Es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen einem guten Vorsteher und einem schlechten Vorsteher, und wenn ich den Vorräten und dem großen Lagerraum des Konsuls vorstehe, so ist es ebenso —”
Hochtrabende Worte und Geschwätz, Rührseligkeit und Großtuerei. Aber dann sagt der Vater: „Ja, ihr Jungen, ihr kommt wahrhaftig vorwärts, du Abel und Frank auch! Wenn du jetzt auf Kaffee warten willst, so hab' ich Kuchen vom Bäcker hier,” sagte er, um es festlich zu machen. „Es ist heute Samstagabend, und du brauchst morgen nicht in die Schmiede zu gehen.”
O, aber Abel hat viel zu tun und ist nicht frei, er macht sich sauber und geht wieder aus. Er ist wie ein Fischer, der einen Fisch an der Angel hat, nun holt er die Leine ein. Dieser Reinert war also im Sommer wieder eine Ewigkeit dagewesen und hatte ihm das Leben vergällt; jetzt war er wieder abgereist, aber auch nachher war Klein-Lydia nicht so gegen ihn gewesen, wie sie sollte, [S. 323] an manchem Abend ist Abel schweren Herzens von ihr fortgegangen. An diesem Abend geht er bedeutend leichteren Herzens zu ihr.
Er trifft sie daheim, und sie kommt heraus, sie sieht ihm wohl an, daß sich etwas ereignet hat und geht mit ihm.
Zuerst streckt er ihr die Hand hin, und als sie etwas verwundert zögert, sie zu ergreifen, faßt er selbst kräftig zu.
Aber Klein-Lydia — seit sie für Konsul Johnsens neueingerichteten Modehandel Arbeit bekommen hat und Hemden und Blusen näht, hatte sie beständig eine Nadel in der Hand und Nadeln an der Brust stecken, man konnte ihr nicht nahe kommen.
„Ach, ich hab' dich gestochen, wie ich seh',” sagte sie ungerührt.
Ja, das schien für sie mindestens so deutlich zu sein, wie für ihn, er lächelte sauer und leckte das Blut ab.
Der kleine Vorfall war indes vielleicht doch nicht ganz ungünstig, er hielt ihn zurück, sonst hätte er am Ende gleich die ärgsten Unmöglichkeiten gesagt.
„Willst du etwas von mir?” fragte sie.
„Erstens,” sagte er, „soll ich in den nächsten Tagen die Schmiede übernehmen!” Und danach sprach er frisch von der Leber weg und übertrieb vieles, eine Menge Fragen, die Klein-Lydia stellte, beachtete er gar nicht. Jawohl, er sei jetzt Geselle, ein ausgelernter Geselle, ebensogut in diesem wie im nächsten Jahr und könne alles tun, was er wolle. Sein Vater habe ihm gesagt, er solle sich für Herd und Wohnung sorgen ... „Das ist doch nichts, um wie eine Gans darüber zu lachen!” sagte er gekränkt.
„Nein,” versetzte sie nachgiebig. Im übrigen aber sei er nicht recht klug, eben konfirmiert, ja, ob er auch wirklich konfirmiert sei?
„Darauf geb' ich dir nicht einmal eine Antwort,” versetzte er.
Ach, du lieber Gott, was er alles daherschwatzte! Und ihre Mutter lachte jedesmal über ihn, so oft sie ihn sah. Wie alt er denn sei?
„Dreiundzwanzig und drei Monate,” antwortete er, und er sah aus, als glaube er an seine eigene Genauigkeit.
Da lachte Klein-Lydia hellauf und fragte wieder: „Wie alt, sagst du? Gott bewahre mich vor dir, Abel!”
[S. 324] „Du lachst nur!” rief er beleidigt. „Wie alt bist du denn selbst? Daran denkst du nicht.”
Klein-Lydia wollte wahrlich auch nicht klein sein, ebensowenig wie er, sie wollte gerne für ein Nähfräulein gelten und trug schon längst lange Kleider. „Ich?” sagte sie, „wie alt ich bin? Warum fragst du? Ich will nicht länger hier stehen bleiben und dir zuhören.”
Abel schlug um. „Nein, du willst nur dem Reinert zuhören. Aber das muß nun ein Ende haben. Ich kann wirklich nicht glauben, daß du dir etwas aus ihm machst, Klein-Lydia.”
„Ich? Meine Mutter sagt, er sei ein flotter Herr.”
„Nein, er ist ein Gauner!” rief Abel unnatürlich erregt. „Ich werd' ihn zwischen meine Nägel nehmen, wenn er wiederkommt. Verstehst du das?”
„Jetzt muß ich hinein,” sagte sie.
„Zwischen diese meine Nägel!” rief er und streckte beide Fäuste in die Höhe. „Ich bin Manns genug dafür, du wirst es schon sehen!”
Es mußte ihr allmählich aufgegangen sein, daß er wie auf der Folter war, und als er nun erklärte, er müsse sie haben und könne nicht länger warten, zeigte sie sich nachgiebig und sagte, nein, das könne er wohl nicht, er redete immer weiter, mit einer ganz fremden Stimme, die zitterte, er meinte jedes Wort, und sie sagte endlich im Ernst, wenn auch etwas zu erwachsen für ihre jungen Kinderjahre: „Ja, aber ich kann nicht sagen, daß ich dich liebe.”
Er lächelte ungläubig: „Doch, doch,” sagte er. Und dann begann er wieder: „Sie könnten vielleicht oben beim Schmied wohnen, da sei eine Kammer, blau gemalt, mit hübschen Wandbrettern, der Schmied habe gewiß gemeint, er solle auch dieses Gelaß übernehmen, was hätte er anders mit dem Ganzen meinen sollen? Und da werde Abel sie aufheben, dann gebe es in den Ferien kein Scharmutzen mehr mit dem Buben, mit dem Zierbengel in den Kniehosen, dem Gauch!” sagte er. Es solle ein anderes Leben werden. Abel stellte mehrere solche Dinge fest und redete weiter noch zu deren Vorteil.
Klein-Lydia nahm es offenbar vernünftiger als er, sie nickte, als er von der Kammer sprach, und als er erklärte, er werde in Zukunft dem ganzen Getue ein Ende [S. 325] machen, da kam ihr das wohl sehr hart vor, sie hielt es aber doch vielleicht für natürlich, daß er so redete, jedenfalls erhob sie keinen Widerspruch. Aber ganz allmählich, während sie auf seine Rede lauschte, schloß sie langsam die Augen, es war, als verliere sie ihre eigenen Augen aus dem Gesicht, und plötzlich drehte sie sich um und ging hinein.
Ging hinein und kam nicht wieder!
Abel wartete eine Weile, sein ganzes Leben lang hatte er sich von Klein-Lydias Seite in eine weniger korrekte Behandlung finden müssen, und dieses ihr Weggehen war nicht schlimmer als vieles andere. Zum Beispiel damals, als sie ihm heißen Kaffee über die Hände goß, damit er den Bart wegrasieren könne. Oder als sie mit dem Bodenlumpen daherkam und ihm einen dunkeln Schatten unter den Augen wegwaschen wollte, obgleich der Schatten in der Haut saß und von Kummer herrührte.
Als er eben im Begriff war, seiner Wege zu gehen, öffnete Klein-Lydia einen Spalt in der Tür und lugte heraus. Sie konnte es wohl nicht länger drinnen aushalten.
„Ich seh' dich,” sagte er, „du kannst wohl wieder herauskommen.” Jetzt knöpfte er seine Jacke auf und warf sich in die Brust, ja, er gebrauchte also schließlich diesen unwürdigen Kniff mit vollem Bewußtsein, damit sie seine Uhrkette entdecken sollte — die Uhrkette, für die er keine Uhr hatte.
Als sie nun wieder heraustrat, fragte sie unschuldig: „Was, stehst du noch hier?”
„Jawohl,” antwortete er kaltblütig, „ich wartete auf dich.”
Sie holte einen Arm voll Brennholz im Schuppen, das war ein schlauer Vorwand, er konnte nicht mit ihr reden, wenn sie schwer mit Holz beladen war. Da sagte er in einem flotten Ton und mit einem Griff nach seiner Uhrkette: „Ja ja, da du es so willst, Klein-Lydia, dann komm' ich in einer halben Stunde wieder.”
Eigentlich hatte er nichts weiter mit ihr zu bereden, aber darum handelte es sich nicht, er wollte nur da sein, wo sie war, was denn sonst!
Jetzt machte er einen kleinen Gang nach dem Bollwerk und drehte wieder um, er wollte noch einmal zu Klein-Lydia [S. 326] hineinsehen. Wenn er freundlich und harmlos auftrat, schadete ihr eine neue Unterhaltung mit ihm nichts, und ihm würde sie gut tun.
Und — ob es nun wohl vorbedacht oder ein glücklicher Zufall war — er traf sie ganz allein in der Stube, die Eltern hatten sich in der Kammer schlafen gelegt, und die Schwestern waren ausgegangen, da es Samstagabend war. Klein-Lydia nähte und war übertrieben fleißig.
Jetzt sah er natürlich gleich, daß sie einen reizenden süßen Mund hatte, aber aus Höflichkeit und um nicht aufdringlich zu sein, wollte er sie doch nicht küssen, er wollte überhaupt nicht parteiisch und zu seinem eigenen Vorteil handeln. „Wir haben vorhin nicht so recht auf besonders gutem Fuß gestanden,” sagte er.
Doch, sie wisse nichts anderes. Wieso denn? „Aber laß die Finger von den weißen Bändern, Abel!”
Wenn sie abermals diesen Ton anschlug, nun, dann kam er wohl an diesem Abend auch nicht weiter, und wenn sie mit noch mehr Nadeln an der Brust als je vorher am Tisch saß, dann hatte sie sich wohl mit Absicht umgürtet. War es da zu verwundern, daß er böse und ärgerlich wurde, als sie ihn wegen der weißen Bänder ermahnte? „Ach, sei doch nicht so!” versetzte er. „Ich hab' auch schon früher Stoffe und Samt vom feinsten Gewebe in der Hand gehabt. Im übrigen haben allerdings meine Finger hier nichts zu schaffen,” fügte er hinzu und zog seine Hände zurück.
Selbst wenn sie keine größere Vorliebe für ihn hatte, so hätte sie jetzt doch gerührt sein müssen, die Tränen hätten ihr in die Augen treten müssen, und sie hätte die Arme um ihn schlagen sollen; aber nein, keine Zärtlichkeit!
Er hatte schon lange daran gedacht, sich ein Maß von ihrem Ringfinger zu verschaffen, es mußte aber ganz zufällig geschehen, denn er wollte das Maß zu einem gewissen Zweck; deshalb hatte er vorhin mit einem Stückchen Leinenband gespielt. „Du hast so dünne Fingerchen,” sagte er, „dein Ringfinger ist wohl nicht dicker als so? Laß mich einmal sehen!”
Wenn er meinte, sie hätte keine erwachsenen Finger, sondern nur Kinderfinger, dann war das eine Beleidigung: „Nein, laß mich!” sagte sie. „Ich hab' keine Zeit!”
[S. 327] Würde das nun ein Überfall sein, wenn er sie für diese Wichtigtuerei ganz einfach küßte? Sie sah allerdings so abweisend aus, als ob ihr dadurch ein Leid geschähe, aber er fuhr doch auf und tat es; küßte sie trotz aller Nadeln, küßte sie eine ganze Weile ab. Und sie ließ es geschehen, stöhnte zwar dazwischen: „Du bist verrückt! Laß sein! Was willst du denn?” aber sie ließ es geschehen. O, Klein-Lydia und er hatten das schon früher getan, es war nicht zum erstenmal.
Jetzt nachher war es eigentlich unangenehm, er versuchte allerdings, es fortzulachen und darüber wegzugehen, aber ein wenig mißglückt war es doch. Sie strich sich hastig das Haar glatt und zog ihren Halskragen gerade, der schief gezogen worden war; nachher wurde sie stumm, und es schien, als sei es ein reiner Vorwand, daß sie wieder nach ihrem Nähzeug griff. Ja, ja, er hatte ihr offenbar ein ernstliches Leid zugefügt, sie war tiefgekränkt, sie schien sowohl diese letzten Küsse, als auch alle die vorigen als verschleudert zu bereuen.
Da saß nun Klein-Lydia, von Stoffen, Spitzen, Nähseide, Knöpfen und Bändern umgeben, sie hatte auch die feinen Handarbeiten der Schwestern herausgelegt, um damit zu prahlen, sie selbst nähte ja meist Futtersachen. Es hatte also auf Abel keine Wirkung ausgeübt, daß sie diese Vorbereitungen getroffen hatte, er hatte gar kein Verständnis dafür, was ein Nähfräulein war.
„Ich will durchaus nicht, daß du mich je wieder küßt!” sagte sie plötzlich.
„Nicht?”
„Nein, durchaus nicht!”
„Wann hab' ich dich denn geküßt? Das könnte ich ja gar nicht!” Aber seine Keckheit half ihm gar nichts, er sah wohl ein, daß der Schein gegen ihn war. Und nun blieb ihm nichts anderes übrig, als nach dem alten Mittel zu greifen, bei dem sie vorhin eingeschlafen war: er versicherte ihr wieder, sie müsse ihn nehmen, ihn und keinen andern, und in den Ferien werde er sie gar nicht ausgehen lassen.
„So schweig' doch!” sagte sie.
„Gleich morgen geh' ich hin und kauf' den Herd,” entschied er. „Der Johnsen am Landungsplatz hat ein paar [S. 328] Herde weggetan, sie liegen draußen herum, aber ich hol' mir einen davon und werd' den Rost schon herunterkriegen. Jawohl, ich tu' es gleich morgen.”
„Ja, das solltest du nur wagen!” drohte sie.
Sie stritten ein wenig darüber; Klein-Lydia war hier die Verständigere und hatte die Oberhand. „Daß du dich auch nicht ein bißchen vor mir schämst!” sagte sie.
„Na, ich kann ja auch noch ein paar Tage warten,” meinte Abel, um sich so nachgiebig wie nur möglich zu zeigen.
„Ein paar Tage!” erwiderte sie mitleidig.
„Aber soll es mir denn niemals glücken?” versetzte er heftig. „Wenn das deine Meinung ist, dann will ich's wissen.”
Darauf erwiderte sie unendlich kühl und herablassend: „Ja, das ist meine Meinung.”
„Daß du mich überhaupt nicht willst?”
„Ja, das kannst du doch merken,” antwortete sie. Und nun raffte sie den ganzen Staat auf dem Tisch zusammen, wie um auf ihn hinzuweisen: „Sieh, was alles für mein ganzes Leben auf dem Spiel steht, wenn ich in diesem Augenblick eine andere Antwort gäbe!” Sie drehte sich um, ihre Mutter sprach in die Stube herein. Mutter Lydia sagte:
„Geh sofort zu Bett, Lydia! Und du, Abel, geh auch, augenblicklich! Ich will auch nicht, daß du dich hier spät und früh herumtreibst, nun hast du's gehört! Was ist das für eine erbärmliche Narretei von so einer Rotznase! Bist du nicht recht klug? Geh heim und werd' erst trocken hinter den Ohren!”
Die Kammertür wurde zugemacht, aber dann ging sie wieder auf, und Mutter Lydia sprach noch einmal, das Reibeisen sagte ein letztes Wort: „Sag' deinem Vater von mir, daß er dir Haue auf dein Hinterteil geben soll!”
Abel — da saß er! Dann stand er auf und blieb so sonderbar stehen, den Stuhl zwischen den Beinen. Dann faßte er sich endlich etwas, richtete den Blick zuerst auf die geschlossene Tür und dann auf Klein-Lydia. Sein Gesicht hat einen bläulichen Schein bekommen, aber er hielt sich einigermaßen stramm und sagte lächelnd: „Das war zum Satan!”
[S. 329] Von Klein-Lydia wurde ihm keine Hilfe zuteil, und sie anerkannte auch seine Mannhaftigkeit nicht. Sie jagte ihn nicht fort, nein, sie tat nichts in der Richtung, wo es heißt: „Nun, flugs, es gilt das Leben, bete ein Vaterunser!” Nein, Klein-Lydia war an die scharfe Zunge ihrer Mutter gewöhnt und fürchtete sich nicht davor. Aber als Abel nach der Tür ging, war es wirklich, als gefalle ihr seine Art zu verschwinden, sie hielt ihn mit keinem Wort zurück.
„Ja ja,” sagte er, um nicht ganz vernichtet zu sein. „Ja, ich werde schon aus dem Wege gehen, wenn es so beschaffen ist.” O, aber er hatte wohl zuviel versprochen, plötzlich fragte er Klein-Lydia: „Kannst du nicht mit mir hinausgehen, daß ich mit dir reden kann?”
„Nein, weit entfernt!” antwortete sie.
Da ging Abel heim. Die Eltern stritten sich um etwas; da er aber keine Lust hatte, zuzuhören, verschwand er in der Kammer.
Und doch war es kein uninteressanter Streit, der da im Anbau ausgefochten wurde. Olivers wochenlange Grübeleien über eine gewisse Sache hatten endlich ihre Entladung in einer Art Verhör seiner Frau gefunden. Petra war nämlich aufs neue guter Hoffnung; aber wie in aller Welt war das zugegangen?
Petra hatte merkwürdigerweise auch selbst versucht, ihren Zustand so lang wie möglich geheimzuhalten, akkurat, als ob eine verheiratete Frau nicht dick werden dürfte, ja, als ob sie etwas Unrechtes getan hätte; vielleicht war es das, was Oliver zuerst mißtrauisch gemacht hatte. Aber an diesem Abend, als er mit seiner direkten Anklage auf sie losgeht, da verbirgt sie nichts mehr und leugnet nichts.
„Petra,” sagte er, „ich glaube, du wirst wieder dick?”
„Du faselst!” erwiderte sie.
„Und beim Satan, wie hast du denn das angefangen?”
„Es nützt wohl nichts, es zu leugnen,” sagt sie schmeichlerisch, „denn du siehst alles.”
„Ja,” sagte er, „ich hab' es schon seit mehreren Wochen gesehen.”
Petra hatte Zeit, sich vorzubereiten, sie warf ihm nichts vor, sondern sagte: „Wie ich das angefangen hab', das weißt du wohl selbst!” Nein, sie fing den Stoß auf, wendete [S. 330] ihn aber ab, schob ihn auf die Seite. „Was ich getan hab'?” sagte sie. „Wenn ich Kinder bekomme, so ist es nicht schlimmer, als wenn Maren Salt Kinder bekommt.”
„Als Maren Salt?” Was wollte sie nun damit? Oliver hatte keine Worte dafür.
„Ja, das sag' ich gerade heraus,” fuhr Petra fort und sah ihren Mann beinahe streng und beleidigt an. „Sie war viel älter, als ich jetzt bin, und ich begreif' nicht, wie gewisse Leute sich so in Maren verguckt haben können.”
„Ich versteh' dein ganzes Geschwätz nicht.”
„Na,” sagte Petra. „Aber dann kann ich dir mitteilen, daß sie dich beschuldigen, der Vater von Maren Salts Kind zu sein.”
Oliver sperrte Nase und Mund auf. Waren die Menschen verrückt geworden? Er sagte. „Du — du hast den Verstand verloren.”
Petra murrte und sah noch beleidigter aus.
„Wenn ich so frei von aller Schuld wäre wie du!” sagte er.
„Du weißt selbst, was du bist,” versetzte sie unversöhnlich.
Jetzt aber stach Oliver der Hochmut, die Sache fing an, ihm zu gefallen. Wahrlich, alles in allem konnte er nichts gegen diese Beschuldigung haben, er hatte sicherlich nicht die Absicht, sie ehrenrührig zu finden, höchstens etwas beleidigend. „Wer ist's denn, der dir diese Lüge weisgemacht hat?” fragte er.
„Das kann dir einerlei sein, wer es ist. Aber wenn du es wissen willst, so ist es der Mattis.”
„Hat Mattis es gesagt?”
„Ja, und er hatte wohl auch seine Gründe dafür.”
Oliver überlegte ein Weilchen, setzte die Mütze schief und warf sich in die Brust. „Man muß doch allerlei erleben!” sagte er. „Im übrigen kümmer' ich mich nicht darum, was ihr, du und der Mattis, von mir glaubt. Aber er soll nicht allzu sicher sein, daß ich ihn nicht verklage.”
„Es würde dir nichts helfen, wenn du nur den Mattis verklagen würdest. Dann müßtest du die ganze Stadt verklagen.”
„Spricht die ganze Stadt davon?” fragte Oliver.
„Ja, soviel ich weiß.”
[S. 331] Wieder überlegte er und dachte darüber nach. Das war eine merkwürdige und höchst unerwartete Lage, in die er da hineingekommen war, Gott bewahre mich! Da mußte etwas daraus gemacht, sie mußte ausgenützt werden können. Er fing an, ein Liedchen vor sich hinzusummen, während er noch überlegte. Petra sah ihn forschend an und stand wohl dem Eigentümlichen, was jetzt in diesem Manne, diesem verpfuschten Manne vorging, verständnislos gegenüber, summte er ein Liedchen? Vielleicht war er in diesem Augenblick glücklicher, als er in den letzten zwanzig Jahren gewesen war, vielleicht hatte er das Gefühl, daß in ihm etwas wieder aufgerichtet worden sei, eine Würde, ein Wert, vielleicht sah er sich rehabilitiert durch einen Betrug, indem er mitten in einem falschen Licht stand, aber doch rehabilitiert. Warum sitzt er dort und sieht aus wie reich geworden, ja überreich? Hat er Wein und Brot erhalten und ist gesegnet worden? Hat der Himmel sich geöffnet, ist ein Wunder geschehen? Seht, der Ärmste ist nicht er selbst, er ist einmal in der Welt draußen gewesen, in diesem Augenblick war er wohl wieder draußen, er leckte sich die Lippen und tat sich etwas darauf zugute, ahmte sich selbst nach aus früheren Tagen, da er bei hübschen Liebchen in den Hafenstädten Glück gehabt hatte. Petra war daran gewöhnt, ihn fett und gleichgültig zu sehen, immer mit der Krücke umherhumpelnd oder sich auf einem Stuhl am Tisch herumfläzend. O, er gehörte zu den Quallen, die in tödlicher Dummheit und Nichtigkeit an dem Brückenrand lagen und nur atmeten; jetzt sitzt er dort, wundert sich und freut sich über etwas, aber über was denn?
Petra verstand es wohl immer weniger, und dieses Trällern verwirrte sie; hätte sie es nicht besser gewußt, so wäre sie näher zu ihm hingetreten und hätte ihn angesehen, ob er wirklich der Oliver Andersen und ob es auch ganz richtig bei ihm bestellt sei? Sie brachte ihn in die Wirklichkeit zurück, indem sie sagte: „Du singst nur!”
„Was?”
„Du singst nur, sag' ich.”
„Singen? Es fiel mir eben ein, Tahitaho. Nein, ich singe nicht.”
„Ja, mach' nur so weiter. Manche Leute haben es im Kopf!”
[S. 332] Aber was tat Oliver jetzt? Er richtete sich vom Stuhl auf und griff nach ihr. Ein Affe, der die Gebärden anderer nachmacht, zwei ungewohnte Hände, die zufassen. Er spielte sich auf, tat, als könne er ihrem Liebreiz, der Sinnlichkeit ihres Wesens nicht widerstehen, er streckte die Zunge heraus, lachte mit seinem feuchten Mund. O, sie hatte Erfahrung! Hätte sie nicht gewußt, daß hinter seinen Narrenstreichen nicht das mindeste steckte, dann hätte sie ihm entgegenkommen, ja, sie hätte ihm sogar Anleitung geben können, jetzt fuhr sie bei seiner leeren Vorspiegelung zurück und schauderte. Als er das sah, sank er schlaff und mit unbehaglichem Ausdruck wieder auf seinen Stuhl nieder.
Petra wurde es wohl schwer, nicht vor ihm auszuspucken, sie war eine gesunde Natur, die Qualle dort am Brückenrand machte sie ängstlich und schamerfüllt. Um das Ganze etwas auszugleichen, sah sie ihn nicht mehr an und sagte wie zu sich selbst: „Wenn ich doch nur ergründen könnte, was du an Maren Salt gesehen hast!”
Oliver erwiderte matt: „Schweig! Ich hab' es nicht getan, hörst du!”
„Du weißt selbst, was du getan hast.”
„Ja, prosit Mahlzeit, glaub' es nur! Ich scher' mich nicht darum.”
„Nein, das versteht sich,” sagte Petra wie eine Märtyrerin. „Du bist ja der Mann im Hause, wir andern haben nicht das Recht, etwas über dein Benehmen zu sagen.”
„Na, ein solcher Tyrann bin ich doch auch nicht!”
„Um mich kümmerst du dich jedenfalls nicht,” sagte sie.
Nun war er doch allmählich wieder der alte Oliver geworden, und so fragte er nicht so wenig schlagfertig: „Nun, und wer hat sich denn dann um dich gekümmert?”
Eine Antwort auf diese Frage bekam er nicht, und er wünschte auch keine zu bekommen, aber Petra war frech und verstand es jedenfalls, ihn fernzuhalten: „Wenn ich zu denen gehört hätte, die gewollt haben, dann hättest du sehen sollen,” sagte sie. „Aber ich gehör' nicht zu denen. Ich bin auch gar nicht so neugierig, daß ich das ausschnüffle, was du tust, und Maren Salt ist wenigstens sechzig Jahre alt, da kannst du sie wohl haben!”
[S. 333] Na, Petra wollte also diese blödsinnige Idee durchaus nicht aufgeben, war es da nicht natürlich, daß Oliver gute Miene dazu machte und nicht länger widersprach? Sie ließ ihn nun auch auf dem Glauben, daß sie ihn tatsächlich im Verdacht habe, dieser Verdacht würde ihm nur zum Vorteil gereichen, und wenn er ihn richtig ausnützte, so hatte er sicherlich keinen Schaden davon.
„Ja ja,” sagte er, indem er so halb und halb zustimmte, „ich kann ja auch meine Fehler haben, ich kenne keinen Menschen, der nicht seine Fehler und seine Ausschweifungen und seine Lüste hätte.”
Es war merkwürdig, wie leicht er Petras Zustimmung dazu erhielt, und von da an waren sie nicht mehr uneinig, der Ton zwischen ihnen wurde im Gegenteil leicht und frivol. Das Verhör, dem er Petra unterworfen hatte, und die Frage, wie sie es in drei Teufels Namen angefangen habe, daß sie nun wieder dick werde, war ausgelöscht und verschwunden. Oliver ließ es hingehen, ja, er ging noch weiter und ließ ihr eine Art Anerkennung zuteil werden, er ließ ein paar Worte darüber fallen, daß sie eine verflixte Fruchtbarkeit habe: gut in den Vierzigern und noch immer gleich toll!
„Na,” erwiderte sie halb scherzhaft, „bin ich jetzt wieder gut?”
„Du?” rief er. „Wie dich gibt es keine mehr! Und das muß ich sagen, du hast es in dir, das Lob geb' ich dir. Und bei Gott, du hast dein Geschlecht nicht erst entdecken müssen, das war bei dir von selbst da.”
Am nächsten Morgen waren wohl Oliver wieder Zweifel aufgestiegen, denn er fragt Petra: „Hat Mattis es wirklich gesagt?”
„Was denn?”
„Daß ich der Vater des Kindes sei?”
„Jawohl, du hörst es ja!”
„Ich versteh' nicht, wie er darauf kommen konnte?”
Petra stemmt die Hände in die Seiten und versetzt: „Nein, du stehst der Sache ganz fremd gegenüber, aber Maren weiß es wohl selbst.”
„Sagt Maren es auch?”
„Jedenfalls hat sie den Jungen nach dir genannt.”
„Nach mir?” ruft Oliver. „Wie heißt er denn?”
„Ole Andreas.”
Schweigen. Das war fast wie der Spund im Loch, ja, und es war auch etwas daran, aber trotzdem ... O diese verfluchten Weibsleute, auf was sie nicht alles kamen!
Schließlich sagt Petra noch: „Der Mattis hatte also seine guten Gründe, das zu sagen, was er gesagt hat.”
Da schien Oliver gründlich nachzudenken: „Aber wie hätt' ich das denn ins Werk setzen sollen?” Und als er die Stube verließ und zu Mattis hinüberging, tat er es, um nähere Erkundigungen einzuziehen.
Es ist Sonntagmorgen, und er trifft den Schreiner Mattis halb angekleidet in seiner Küche. Das Kind ist bei ihm, Maren Salt ist in der Kirche. Der Schreiner sieht den Mann, der von der Straße zu ihm hereinhumpelt, überrascht und fremd an.
„Guten Morgen!”
„Guten Morgen!”
Schweigen. Als Oliver kein Stuhl angeboten wird, muß er sich auf die Holzkiste setzen. Sie wechseln ein [S. 335] paar Worte übers Wetter, über die plötzlich eingetretene Kälte; Mattis ist wortkarg, plaudert aber hie und da mit dem Jungen, der auf dem Boden sitzt, ein paar Worte.
„Er ist gewachsen,” sagt Oliver.
„Ja, das fehlt nicht.”
„Wie alt ist er? Sieh nur, er hat auch schon Zähne bekommen! Wie heißt er denn?”
In den Augen des Schreiners glimmt es zornig auf: „Das ist einerlei,” sagt er. „Hier heißt er nur das Kind.”
„Ich fragte nur. Es geht mich übrigens auch nichts an.”
Die Mutter hat ihm einen lumpigen Namen gegeben, aber sie hatte wohl ihre Absicht dabei.
Da der Schreiner so feindselig ist, und es so lange dauert, bis er ihn dazu bringt, auf etwas Bestimmtes anzuspielen, fängt Oliver selbst davon an: „Wem soll er nun eigentlich gleichsehen?”
„Der Mutter,” antwortete Mattis kurz.
„Jawohl, der Mutter. Aber von Vaters Seite?”
„Wen meinst du denn?” ruft Mattis erbittert. „Du kennst vielleicht den Vater?”
Oliver lacht und nimmt es gleichsam gutmütig auf, aber er muß sich doch auch wehren. „O, du bist immer derselbe alte Mattis! Wenn ich mich auch sonst so frei von aller Schuld fühlte!”
„Das pflegen wohl alle miteinander zu sagen, wenn es Ernst wird.”
„Was meinst du damit?”
„Was ich meine? Daß alle miteinander leugnen. Und wer am schuldigsten ist, leugnet vielleicht am ärgsten, ich weiß es nicht anders. Sie wenden Bestechungen an und geben Geld aus, damit die Leute es verschweigen.”
Darin stimmt Oliver mit ihm überein, und er bedauert die Mütter, bedauert auch die Kinder. „Die armen Kinder!” sagt er.
„Das sagen sie auch alle miteinander,” erwidert Mattis, indem er das Kind auf den Schoß nimmt und mit ihm plaudert. „Hat deine Mutter dich hier allein gelassen? Ja, du siehst nach der Tür, aber sie bleibt wohl eine Stunde fort. Was kümmert sie sich darum? Da, hier hast du meine Uhr!”
Oliver schweigt, er gibt nicht acht auf Mattis' Geschwätz, [S. 336] er hängt einem Gedanken nach, der eben in ihm aufgestiegen ist. Oliver hat seine dösige Verschlagenheit, sein Kopf arbeitet am besten in der Dunkelheit und auf Seitenpfaden, jetzt fingert seine eine Hand in seiner inneren Westentasche, so ganz sachte, ganz verstohlen, nur wie wenn er sich zufällig kratzte. Dann zieht er ein paar Geldscheine ein Stückchen heraus, betrachtet sie, sieht sie an, ob sie passen, und sitzt dann mäuschenstill da. Mit dem wenigen, was Mattis gesagt hat, ist ja nichts festgestellt, er hat sich nicht deutlich ausgesprochen, und Oliver muß wieder von vorne anfangen: „Ich hab' gehört, der Junge heiße Ole Andreas, aber das ist wohl nicht richtig? Ich kann es nicht glauben.”
„So, das hast du gehört!” schreit der Schreiner rasend. „Beim Satan, warum fragst du denn dann? Ich glaub', du willst das Haus durchschnüffeln! Was willst du hier?”
Oliver antwortete sanftmütig und keineswegs unzufrieden über des andern Erregung: „Nein, es geht mich allerdings nichts an, wie der Junge heißt, und ich werd' dich nicht mehr danach fragen —”
„Nein, jetzt wo du es weißt!” schnaubt der Schreiner mit seiner großen Nase.
Nach einem wohlausgerechneten Schweigen sagt Oliver ebenso ruhig wie vorher: „Du wunderst dich wohl, daß ich zu dir ins Haus komm', Mattis?”
Mattis antwortet sofort mit ja.
„Das versteh' ich,” sagt Oliver. Nun aber zieht er zwei Geldscheine ans Tageslicht und sagt: „Was haben die Türen gekostet, die du einmal für mich gemacht hast?”
„Die Türen —?”
„Die du mir überlassen hast. Ich will sie bezahlen. Es ist lange angestanden, aber ich konnte es nicht früher tun.”
Der Schreiner Mattis ist ganz verwirrt und bringt nichts anderes heraus, als: „Es hatte auch keine Eile —”
„Aber ich kann nicht verlangen, daß du bis zum Jüngsten Tag wartest.”
„Die Türen? Nein, das hatte keine Eile. Bist du wegen der Türen gekommen?”
Oliver spricht würdig und rechtschaffen: „Siehst du, Mattis, du hast mir ja keine Rechnung geschickt, deshalb [S. 337] bin ich etwas entschuldigt, aber jetzt soll es nicht auf den Preis ankommen, ich will jeden Heller bezahlen. Und wenn es etwas zwischen uns gegeben hat, so will ich es jetzt wieder gutmachen.”
Mattis murmelt, die Schuld könne ja auf beiden Seiten gewesen sein. Er bereut wohl seine Heftigkeit und sagt: „Willst du dich nicht da auf den Stuhl setzen?” Im übrigen ist er trotzdem noch zurückhaltend; der Besuch scheint ihm auch ferner unbequem zu sein, er spricht hauptsächlich mit dem Kinde.
„Ja, er hat es gut hier bei dir,” äußert Oliver. „Das ist etwas Großes für ihn. Na, ich muß sagen, die Maren verdient eine Handreichung. Sie ist nicht schlecht gebaut.”
„Na,” sagt Mattis.
„Gar nicht schlecht gebaut. Und als sie vor ein paar Jahren das Kind bekam, war sie ja noch nicht so alt, wie sie jetzt ist. Deshalb brauchen wir uns nicht so sehr über sie zu wundern.”
„Nein, du darfst die Uhr nicht in den Mund stecken und sie verschlucken, Kind! Was das betrifft, so ist es nicht immer das Alter, worauf es ankommt,” sagt der Schreiner dann sachlich, indem er sich von dem Kinde weg an Oliver wendet. „Es ist nur, daß sie diese Nasenflügel haben, die immerfort winken und winken.”
„Hahaha, ja, du verstehst es, Mattis! Doch, was ich sagen wollte, er hat braune Augen, wie ich sehe.”
Keine Antwort.
„Das sollen gute Augen sein, die braunen. Ich selbst hab' blaue Augen und bin gut mit durchgekommen. Aber fast alle meine Kinder haben braune Augen, es ist gerade, als sollt' ich lauter Kinder mit braunen Augen bekommen.”
Noch immer kam der Schreiner mit keinerlei Anklage heraus, aber er machte auch keine gegenteilige Bemerkung, sondern erwiderte: „Seine Mutter hat braune Augen. Im übrigen darfst du das Kind so etwas nicht hören lassen, er versteht es.”
„Er versteht es nicht.”
„Er? Du kannst von nichts reden, was er nicht versteht. Alles versteht er. Wenn du Tür sagst, sieht er nach der Tür, und singst du ein Liedchen an der Hobelbank, dann versteht er, daß es ihm gilt.”
[S. 338] „Bei den meinigen war es geradeso,” sagt Oliver.
„Es ist ganz unglaublich,” fährt der Schreiner fort; „ich muß mich in acht nehmen, daß er nicht lernt, die Zeitung von einem Ende zum andern durchzulesen, bloß indem er mir zuhört. Das Abendgebet und seine Händchen falten, ist gar nichts für ihn.”
„Genau wie die meinigen!” erklärte Oliver.
„Ja, so ein Kind wie dieses gibt es nicht wieder auf der Welt,” stellte der Schreiner fest.
Oliver wiederholt: „Er hat jedenfalls Glück gehabt, daß er hier im Haus bei dir ist.” Übrigens ist Oliver enttäuscht über den Verlauf des Gesprächs. Er kommt nicht weiter, es führt zu nichts, er muß weiter zurückgehen, näher zum Abgrund hin. „Was hab' ich doch sagen wollen, ich bin so vergeßlich. Ja, da sitz' ich nun mit dem Geld in der Hand, wie du siehst, aber da fällt mir ein, daß ich dich etwas fragen wollte, nämlich, du hast jetzt das Kind bei dir und hast es liebgewonnen, aber wie, wenn nun sein Vater eines Tages käme, sich zu erkennen gäbe und behauptete —”
Der Schreiner fragte scharf: „Willst du mit ihm herkommen?”
„Ich? Mit dem Vater? Woher sollt' ich ihn nehmen? Ich bin nur ein Krüppel.”
„O, dir ist alles zuzutrauen!”
Oliver versetzt lächelnd: „Ich will mich nicht besser machen, als ich bin, o weit entfernt. Doch darüber wollten wir ja nicht reden; aber eines schönen Tages ist vielleicht das Kind nicht mehr bei dir —”
„Na, sie sollen nur daherkommen und ihn mir nehmen wollen! Sie können es ja versuchen!” drohte Mattis.
„Ich meinte, eines schönen Tages werdest du dich wohl selbst verändern und heiraten, und wo soll dann das Kind hin?”
„Hin?” schrie der Schreiner. „Meinst du, ich werf' ihn hinaus? Er soll nirgends hin, da steh' ich dafür!”
„Aber wenn der Vater kommt —”
„Was bohrst und gräbst du denn immer weiter? Was zum Teufel willst du denn wissen? Hast du Angst vor etwas, fürchtest du für deine eigene Haut? Da sitzt du und füllst ihm die Ohren mit unflätigem Geschwätz, ich will nichts mehr davon hören!”
[S. 339] Oliver gelingt es einzuwerfen: „Ich? Nein, ich rede nicht unflätig, ich sitze nur hier mit deinem Geld in der Hand, mit diesen zwei Banknoten —”
„Hat man je so etwas gehört, setzt sich hierher, tut ganz unschuldig und redet Schweinereien! Das Geld — was ist denn damit? O!” ruft er plötzlich. Endlich geht dem Mattis wohl ein Licht auf, er wird ganz blaß vor Zorn und steht mit dem Jungen auf dem Arm von seinem Stuhl auf: „Steck' das Geld ein und mach', daß du fortkommst, ich will es gar nicht!”
Ja, Oliver steht auf und will keinen Streit, aber er reizt den Schreiner noch auf; während er nach der Tür humpelt, sagt er: „Hehe, es ist fast, als sei der Junge dein Kind! Bist du vielleicht sein Vater?”
„Ich, sagst du das?”
„Ich frag' nur,” antwortet Oliver. Und jetzt kann kein Zweifel mehr darüber herrschen, daß er Mattis noch mehr aufreizen will. „Du hast ja auch ein Bett für ihn gemacht,” sagt er.
Mattis verteidigt sich. „Das war gar nicht für ihn. Und liegst du vielleicht auf dem bloßen Boden? Hast du noch nie gehört, daß ein Kind ein Bett hatte? Aber jetzt sollst du zum Haus hinaus, das ist todsicher!” ruft Mattis, indem er das Kind auf den Boden setzt. „Und nimm dein Geld, mit dem du mich bestechen wolltest, nur wieder mit. Haha! Du meintest, du könnest mich kaufen, um deine Vaterschaft zu verschweigen, aber das ist dir nicht gelungen, heb' dein Geld für einen andern auf! O, du bist ein Schweinekerl! Hinaus aus dem Haus, sag' ich!”
Und Oliver geht.
Er sieht befriedigt aus, es war, wie es nicht besser hätte gehen können, als es gegangen war; Oliver summt wieder ein Liedchen. Als er heimkam, platzte ja Petra fast vor Neugier, aber er erklärte nichts, er tat nur noch mannhafter und stellte sich unter die Haustür mit der Hand in der Westentasche, als ob es gar nicht kalt wäre, und von diesem Platz aus schwatzte er albernes Zeug mit den Frauen und Mädchen, die vorübergingen.
Gute Zeiten, Einigkeit im Hause und Freude im Leben — o, wir sind im Aufstieg, wir kommen immer mehr obenauf, gebe Gott, daß es so weitergeht! Das äußerte sich [S. 340] in richtig anständigen Taten: Mattis hatte ja diesen roten Briefkasten an seinem Hause, Oliver kaufte einen Messinggriff für seine Haustür und sagte zu Petra: „Daß du ihn mir nun aber auch ordentlich blank hältst!” Auf die Gefahr hin, als Verschwender verschrien zu werden, kaufte er kleine Geschenke für seine Töchterchen und seine Frau und war sehr gutherzig, ja, er brachte der Großmutter öfter als früher eine Tüte Kaffee mit — die ihn übrigens wohl nichts kostete.
Wie erfreulich war jetzt das Leben! Der Winter verging, das Jahr verging, und Oliver hatte recht, daß nichts so schnell vergeht wie ein Jahr. Es ereignete sich nichts Großes, aber genug zur Abwechslung, die Familie war nicht an mehr gewöhnt, das Kind war wieder ein blauäugiges, und wie das zusammenhing, konnte wahrlich in der Geschwindigkeit niemand ergründen, aber die Frage hatte auch nicht mehr so ungeheure Bedeutung wie in den alten Tagen. Sollte Oliver näher untersuchen? Wie würde es dann gehen, wenn er selbst untersucht würde, ging nicht auch über ihn ein Gerücht in der Stadt? Als er sich einmal ein wenig bitter über die neuen blauen Kinderaugen aussprach, sagte Petra: „Na, haben denn nicht wir alle beide blaue Augen?”
In einem Gespräch mit seinem alten Freund, dem Fischer Jörgen, machte Oliver geltend, daß die Gewächse auf der Erde auch nicht alle gleich seien: die einen trügen Früchte über der Erde, die andern unter der Erde. „Nimm zum Beispiel die Apfelbäume, die einen sind rot, die andern gelb. Aber nimm die Kartoffeln, die unter der Erde wachsen — eine Sorte Kartoffeln ist gelb und eine andere ganz blau. Geradeso ist es bei unsern menschlichen Augen, sie sind von höchst verschiedener Farbe. Ich hab' mir überlegt, daß das vielleicht von mir selbst kommt: wenn ich am tollsten auf eine Frau aus bin, dann gibt es braune Augen; was meinst du, Jörgen?”
Ach, Jörgen war über siebzig Jahre alt, mit Lydia, dem Reibeisen, verheiratet, Vater von drei großen Töchtern, großen Damen, seine Augen waren fast farblos geworden, er wußte nichts — er erinnerte sich an nichts. „Wieso toll?” fragte er und sprach sich dahin aus, daß auch manches Frauenzimmer toll und böse sein könne.
[S. 341] Aber Oliver schien es darum zu tun zu sein, gründlich verstanden zu werden. „Nimm nun zum Beispiel die Maren Salt,” sagte er. „Man beschuldigt ja mich, der Vater ihres Kindes zu sein, und der Junge hat braune Augen.”
„Ach so,” sagte Fischer Jörgen.
„Oder nimm viele andere in der Stadt, es gibt genug braune Augen da, und ich kriege ja auch fast keine andern. Nun darfst du aber ja nicht alles glauben, was die Leute mir in die Schuhe schieben, Jörgen, ich bitte dich darum, aber ich will mich auch nicht entschuldigen, denn ich hab' eine feurige, unbändige Natur in mir, und es gibt daheim blaue und braune Augen, je nachdem es trifft.”
„Ja,” sagte Jörgen.
Auf diese Weise steigt Oliver täglich höher hinauf, und nimmt immer mehr eine feste Stellung in seiner Scheinwelt ein. Schweigt nur! Er ist der Schöpfer und Erhalter, er geht dahin mit seinem eigenen Maßstab und macht diese Welt weit, nach ein paar Jahren steht er auf einem Hügel und schaut über ein großes Land hin, das ihm gehört.
Und jetzt gefällt es ihm wohl, das Leben in dieser seiner Welt! Er schlägt kein Gelächter auf und läßt sie fahren. Mit der Welt, die man geschaffen hat, muß man fertig werden, das müssen alle Schöpfer.
Ab und zu mußte er sich mit allerlei Ärger herumschlagen. Es konnte ihn die Lust ankommen, am Abend noch auf der Straße herumzuschlendern, ein wenig mit den Frauenzimmern zu schäkern, sich mit ihnen unterhalten zu wollen. Er kannte die Worte und die Umgangsart von seiner Matrosenzeit her, aber er hatte nicht mehr das alte Glück, es versagte; ob es nun daherkam, weil er nicht mehr die alte Schießfertigkeit hatte, oder weil er nicht das rechte Wild antraf. Was war denn los, warum lachten ihn denn die dummen Gören aus? Die Pflänzchen, diese Kiek-in-die-Welt, wollten sie nicht recht an seine reellen Absichten glauben? Warum, beim Satan, fuhren sie zurück, wenn er nach ihnen greifen wollte? O, es hatte seine Nachteile, eine Welt regieren zu müssen!
In der letzten Zeit war er wieder auf den Fischfang hinausgerudert. Jawohl, das war eine gute alte Aushilfe, [S. 342] wenn die Heimsuchungen überhandnahmen, Gott wußte allein, wie schwer es war, sich wieder im Leben zurechtzufinden. Es hieß, er fische, um einen kleinen Nebenverdienst zu haben, aber er war offenbar nicht so recht ernstlich auf den Fischfang aus, denn er kam sehr oft ohne Fische heim. Aber brauchte er etwa nicht Kleingeld? War die merkwürdige innere Tasche seiner Weste am Ende nicht unerschöpflich? O, er sah mit Sorge, wie die Tasche allmählich leer wurde, er hätte gern eine Anleihe gemacht, ja, er hätte stehlen mögen, um dem Schwinden des Geldes Einhalt zu tun, es ist nicht gut, wenn man zusehen muß, wie man verarmt. Er hatte ja seinen alten Platz im Lagerhaus und seinen Gehalt, jawohl, das tägliche Leben konnte er bestreiten, aber die Zubuße von Putz und Schleckereien, an die er sich gewöhnt hatte, dazu hatte er nichts mehr. Wo war eigentlich das Geld für die Eiderdaunen geblieben? Es war doch eine ganz erkleckliche Summe gewesen, und der Kuckuck mochte verstehen, wo sie hingekommen war. Er hatte weder dem Rechtsanwalt Fredriksen etwas am Haus abbezahlt, noch sich und seine Familie auf zwei Jahre mit Kleidern ausgesteuert; mit ein paar größeren Geldscheinen war er in den nächsten Ort gefahren und hatte sie dort wechseln lassen, aber das war nun schon ein Jahr her. Seine Innentasche war leer. Er konnte noch so eifrig hineingucken und sie umdrehen, sie war und blieb leer.
Mußte er da nicht auf den Fischfang hinausrudern? An und für sich hatte Oliver nichts dagegen, wieder in einem Boote zu schaukeln. Er versah sich mit einem Kochtopf und Fischgerätschaften, ruderte hinaus und blieb meist vom Samstagabend bis Montag früh fort. Vor allem fischte er für den eigenen Bedarf, in diesen eineinhalb Tagen. Das waren faule, sorglose Stunden, er ließ sich mehr treiben, als er ruderte, fuhr in die Buchten hinein und suchte die Inseln heim; natürlich sammelte er auch wieder Eiderdaunen, natürlich spähte er nach Strandgut und Treibholz aus. Einmal fand er ein leeres Fäßchen und ein anderes Mal eine Flasche mit einem Zettel darin, alles ohne wirklichen Wert. Weit draußen, wo die Dampfschiffe in die Bucht hereinfuhren, ragte ein Vogelberg ganz gerade aus dem Wasser auf, da war er seit zwei Jahren [S. 343] nicht gewesen; es war weit bis dahin, aber es konnte sich schon die Mühe lohnen, dort einen Besuch abzustatten, die Vögel nisteten da auf den terrassenförmigen Absätzen der Bergwand und waren sehr wenig scheu.
Die Tage vergingen, und Abel war ja ein guter Junge, ein komischer Kerl, er konnte seinem Vater bei Gelegenheit ein Zweikronenstück zustecken, sonst hätte es wohl mit Leckereien für Oliver knapp ausgesehen. Woher hätte er sonst Geld bekommen sollen? Er hatte einmal einen Sohn, der hieß Frank, ein wahres Wunder an Gelehrsamkeit; o, aber der schickte nichts nach Hause, er kam selbst nicht mehr heim, schrieb auch nicht, es ging das Gerücht, er habe irgendwo eine Lehrerstelle und er studiere weiter, nur immer weiter, wo wollte das enden? Die kleine Konstanze Henriksen auf der Werft hatte einen Brief von ihm bekommen, noch ein Jahr habe er vor sich, dann sei er fertig, das soll in dem Brief gestanden haben. Vor Verlauf eines Jahres konnte also Oliver keine Unterstützung von ihm erwarten, ein langes Jahr hindurch; aber dann würde ja etwas Erkleckliches kommen, nicht jedermann hatte einen gelehrten Sohn in der Hinterhand.
Inzwischen hatte er ja Abel, auch einen Prachtkerl, Oliver war rechtlich gesinnt und machte keinen Unterschied zwischen seinen Söhnen, wenn ja, so stand Abel seinem Vaterherzen jetzt am nächsten. Auf seinem Weg nach dem Lagerhaus kehrte er oft einen Augenblick in der Schmiede ein; Abel war da schon an der Arbeit, es machte dem Vater Spaß, ein Weilchen mit ihm zu plaudern und zu fragen, wie es gehe. Es ging immer ausgezeichnet. Abel hatte jetzt die Schmiede übernommen und war der Erste in allem. O, das war ein Sohn, auf den man stolz sein konnte! Auch andere kamen in die Schmiede, der Zeichenstift kam, der jetzt Heizer bei der Küstenlinie war, der wollte gewiß warten, bis eine von Abels Schwestern alt genug wäre, dann wollte er um sie freien, solche Absichten hatte also der Zeichenstift. Er kam in die Schmiede und fragte: „Hast du die Schmiede gekauft?” — „Nein,” antwortete Abel, „ich hab' nichts, um eine Schmiede zu kaufen, aber ich bin an Stelle des Meisters hier. Kannst du mir einen Jungen verschaffen, der den Hammer bedient?” — „Ei,” sagte der Zeichenstift, [S. 344] „sobald du dir einen Dampfhammer kaufst, der mit Paraffin getrieben wird, kannst du dir den Jungen für den großen Hammer ersparen.” „Ach, schwatz keinen Unsinn,” meinte der andere, „ich hab' in Horten mehrere solcher Hämmer gesehen.” — Abel wußte selbst, daß es solche Dampfhämmer gab, die mit Paraffin getrieben wurden, aber warum sollte er so einen für eine Schmiede kaufen, die nicht ihm gehörte? Still damit! — Der Zeichenstift schlug vor, Abel solle den Dampfhammer auf eigene Rechnung kaufen und das Geld für Lohn und Kost des Lehrjungen in seine Tasche stecken, das wäre eine Einrichtung, mit der auch Meister Carlsen gedient wäre. — „Woher soll ich das Geld für den Hammer nehmen?” fragte Abel. — Der Zeichenstift erwiderte: „Etwas hast du wohl selbst schon, etwas kann ich dir leihen, und den Rest kannst du schuldig bleiben ...” Ei, der tausend, der Zeichenstift mußte in die Blaumeise, Abels Schwester, bis über die Ohren verliebt sein!
Nein, nein, die Schmiede gehörte Abel noch nicht, aber er hatte sie in den Händen, und er verdiente einen schönen Lohn. Der Schmied Carlsen war nicht immer abwesend, nicht immer ganz fort, aber am liebsten stand er am Schraubstock und feilte an diesem und jenem, was geputzt werden mußte. In die Geschäftsführung mischte er sich immer weniger. „Was meinst du?” fragte er Abel, wenn er ein einzelnes Mal eine Arbeit übernehmen sollte. Im übrigen war er nicht einmal mehr ein halber Mann, er kam spät am Abend und ging früh wieder weg. So kam es, daß Oliver seinen Sohn fast ganz für sich hatte, wenn er seine Morgenbesuche machte.
Sie plauderten über ihre eigenen kleinen Vorkommnisse und besprachen die Ereignisse in der Stadt. „Nun wird der Fischer Jörgen allmählich ein ganzer Idiot,” sagte Oliver, „er kennt keinen Unterschied zwischen gelben Kartoffeln und blauen Kartoffeln, warum soll ich die Zeit vergeuden und mit so einem Mann reden? Ich lauf' davon, wenn ich ihn seh'.” — Vater und Sohn wurden nie uneinig, sie redeten freundschaftlich über alles, sprachen gewissermaßen brüderlich über alles, was ihnen am Herzen lag; wenn sie sich trennten, hatten sie nicht etwas Besonderes verabredet, oder sich für eine bestimmte Lebensanschauung [S. 345] entschieden, o weit entfernt; aber Oliver erfuhr, was der Sohn an dem Tag zu tun hatte, für wen er diese Karrenbeschläge schmiedete, sie waren für Konsul Johnsens Landhaus, wem der feine Wandschirm gehörte, der seit gestern in die Schmiede gekommen war, er gehörte dem Doktor. O, dieser Abel, er war ein tüchtiger Sohn, er arbeitete für alle vornehmen Leute.
Abel fragt: „Was denkst du nun über den Dampfhammer, von dem ich dir gesagt habe? Du wolltest darüber nachdenken.”
Natürlich hatte der Vater durchaus keinen Begriff von diesem abenteuerlichen Hammer, das mußte der Sohn schon vorher wissen, und war dann Abel nicht ein sonderbarer Kauz, daß er des Vaters Ansicht darüber hören wollte? Aber er hatte vielleicht sonst niemand, bei dem er sich aussprechen konnte; er behandelte seinen Vater ganz und gar nicht von oben herab und hörte ihm mit innerlichem Mitleid zu, er sah aus, als brauche er des Vaters Zustimmung bei dem, was er sich vornahm.
„Das will ich dir sagen,” antwortete Oliver, „ich bin ja weit herumgekommen in der Welt und habe alle Arten von Völkern gesehen — nun hab' ich gründlich darüber nachgedacht. Und wenn du den Hammer haben kannst, dann nimm ihn nur sofort. Das rat' ich dir.”
„So.”
„Ja, das sag' ich grad heraus. Denn es gibt in keinem Fach irgendeinen Meister, der so einen Dampfhammer hat, es wird in Stadt und Land bekannt werden, und du wirst schon die Funken sprühen sehen, wenn so ein Kerl aufs Eisen schlägt.”
„Ja.”
„Du kommst dafür in die Zeitung, und das kannst du mir aufs Wort glauben, denn ich bin selbst in die Zeitung gekommen. Ich hab' ein ausländisches, vollgetakeltes Schiff in Sturm und Unwetter vom Meere herein geborgen und es hier am Landungsplatz angelegt. Dann schickte ich nur einen Boten an Land nach dem Konsul und dem Protokoll. Was meinst du wohl, was all die Leute dachten, die da herbeiströmten und es sahen? Und drei Tage später stand ich in der Zeitung.”
„Ja.”
[S. 346] Nie wurde Oliver müde, andere mit diesem Ereignis zu ermüden. Aber er vergaß auch den Dampfhammer nicht, nein, er sagte, er könne ihn gar nicht mehr aus dem Kopfe hinausbringen. Und wenn er dem Sohn in der nächsten Zeit irgendwie behilflich sein könne, wenn er also etwas Geld, das der Mühe wert sei, zwischen die Hände bekomme, so werde er augenblicklich damit herkommen. „Laß mich nur erst mit mir selbst beraten!” sagte er und nickte mit nachdenklicher Miene dazu, wie wenn er vielleicht bald eine Möglichkeit sehen könnte. O, das Geld würde sich schon finden, und wenn nicht, dann wollte er jede Nacht im Boot draußen sein und am Morgen mit einer Ladung Treibholz heimkommen, die man verkaufen könne.
Nur ein Geplauder in aller Freundschaft. Abel blieb ja ebenso arm zurück, als der Vater fortging, ja, sogar noch etwas ärmer, da er zwei Kronen bei einer Wette verloren hatte. Das war so zugegangen: Abel sagte: „Du kannst nicht mehr bei Nacht hinausrudern, du hast die Kräfte nicht mehr dazu.” — „In meinem oberen Körper hab' ich noch genau dieselben Kräfte,” versetzte der Vater. — „Du kannst nicht einmal diesen Eisenblock hier aufheben.” — „So, kann ich das nicht? Diesen hier, den ich schon früher aufgehoben habe?” — „Ja, aber jetzt bist du ein Jahr älter. Es ist derselbe, ich setz' zwei Kronen!” — Oliver spuckte nicht einmal in die Hände, er hob den Block auf und gewann zwei Kronen. „Ich will sie nicht,” sagte er. — „Nein, du willst vielleicht lieber, daß dir der Block an den Kopf fliegt,” erwiderte der Sohn und überreichte dem Vater das Zweikronenstück.
Lauter Scherz und Freundschaft.
Keiner von ihnen erwähnte Klein-Lydia oder ließ etwas von der Heirat verlauten, nein, Abel war ein viel älterer, gesetzterer Mann geworden. Seinen dichtesten Bart hatte er allerdings noch immer auf den Händen, aber er hatte eine Schmiede unter sich und stand an Stelle des Meisters, da konnte man wachsen und heranreifen. Übrigens hatten da auch andere Ursachen mitgewirkt, Mutter Lydia war demnach nicht ohne Bedeutung für seine Entwicklung gewesen. Er mochte sich noch so sträuben, es anzuerkennen, aber an einem gewissen Abend vor ein paar Jahren hatte [S. 347] das alte Reibeisen ihm wahrlich ein Lehrgeld gegeben, das er nicht vergessen konnte. An dem, was sie gesagt hatte, war tatsächlich wirklich etwas dran gewesen, ein Knall vor seinen Ohren, eine Erweckung, die natürliche Folge davon war, daß er anfing, sich vom Hause des Fischer Jörgen fernzuhalten. Jawohl, er würde sich entfernt halten, wie er versprochen hatte! Er war furchtbar eifrig darauf aus, zu erfahren, wann Eduard von Neuguinea, oder wo es war, heimkäme, aber er ging doch am Hause vorüber. Später war ihm Mutter Lydia begegnet, sie war jetzt hinterdrein offenbar ganz friedlich gegen ihn gesinnt, hatte ihm zum Gruße zugenickt und ein paar freundliche Worte gesprochen. Er war auch ebenso höflich gewesen. Einige Wochen später begegnete ihm sein Liebchen, Klein-Lydia, selbst. Das Merkwürdige war, daß er ihr jetzt lieber nicht begegnet wäre, wenigstens nicht in diesem Augenblick, wo er rußig und ungewaschen von der Schmiede kam. Da das Zusammentreffen unvermeidlich war, versagten ihm fast die Knie, aber er brachte doch einen kurzen Gruß heraus und ging vorüber. In diesen Wochen hatte er es erlebt, daß er schüchtern wurde. In der folgenden Zeit traf er sie ab und zu in der Stadt mit Paketen in der Hand; er hätte sicher nähertreten und ihr die Pakete tragen können, aber er tat es nicht.
Nein, er redete nie mehr vom Heiraten.
„Du hast den Block nicht so hoch gehoben wie sonst!” rief er seinem Vater nach.
„Was hab' ich nicht?” versetzte der Vater. „Du hättest gut selbst noch oben drauf sitzen können!”
Wenn er so großartig scherzen konnte, so deutete das wohl auf eine besonders gute Laune bei Oliver. O, aber an diesem Tag hatte er besonders böse Ahnungen! Als er im Lagerhaus allein war, sich da zurecht machte, in den Spiegel schaute und an seine Arbeit ging, war ihm ganz klar, er stand vor einer Gefahr: Rechtsanwalt Fredriksen war ihm in der Stadt begegnet. Dieser Leuteschinder, dieser Blutsauger, er hatte einen Krüppel angesehen, als gehöre er ihm eigen. Und jetzt waren es zwei Jahre her, seit ihrem letzten Zusammentreffen.
Oliver übertrieb ungeheuer, der Rechtsanwalt war wie sonst freundlich und in Gedanken versunken an ihm vorbeigegangen, [S. 348] aber Oliver war ja nicht mehr der mutige Mann, seine innere Tasche war leer, die Erhebung seines Charakters war verschwunden. Als er zum Essen heimkam, hatte er eine Unterredung mit Petra, aber er erzählte ihr keine Neuigkeit, sie war dem Rechtsanwalt selbst begegnet.
„Hat er etwas gesagt?” fragte Oliver.
„Oho, sagte er etwas! Sollte er etwas zu mir sagen — auf der Straße?”
„Wie hat er ausgesehen?”
„Das weiß ich nicht. Ausgesehen? Ich seh' die Mannsleute nicht an und schiele nicht nach ihnen hin. Das alte Schwein hat mich genug geplagt, als er das letztemal hier war.”
„Mir kam sein Aussehen unfreundlich vor.”
Nach einer Weile redet Oliver weiter: Jetzt werde wohl der Rechtsanwalt mit seiner Unvernunft wieder anfangen. — „Ich rühr' mich seinetwegen nicht mehr von der Stelle,” sagt Petra. — Oho, ob es besser wäre, wenn sie alle auf die Straße gesetzt würden? Oliver entwickelte die Sache weiter und von seinem Standpunkt aus: es habe ihm noch nie so davor gegraut, obdachlos zu werden, wie eben jetzt, sie müßten hoffen, daß der Rechtsanwalt ein Mensch sei, denn wenn er geradezu im Sinne habe, gegen einen Krüppel wieder auf Mörderwegen zu gehen, dann müsse Petra ihm noch einmal energisch ins Gewissen reden.
„Was hältst du davon?” fragte Oliver.
Petra überlegte und hielt es nicht für unmöglich. Aber da war soviel, was dagegen sprach. Sie habe nicht einmal ordentliche Kleider —
„Kleider?”
Sie habe die unglücklichen Hemden vertragen. Und sie brauche auch eine Bluse, eine von denen, die vorne aufgemacht werden. Und außerdem noch andere Kleidungsstücke.
Wenn nichts anderes im Wege stehe, meinte Oliver, so könnte er sicher einige Kleidungsstücke auf Vorschuß bekommen. Er flammte wieder auf, setzte die Mütze schief auf den Kopf, als habe er mächtige Gönner, und redete als Familienversorger: „Gleich jetzt geh' ich in das Modegeschäft und hol' die Kleidungsstücke für dich.”
Bei einer solchen Gelegenheit mußte er ja tun, was nur immer in seinen Kräften stand.
Der Rechtsanwalt Fredriksen dachte indes jetzt wohl am allerwenigsten daran, Oliver und sein Haus zu beunruhigen, er hatte ganz andere Dinge zu erledigen. In diesen Tagen wurde der Stadt eine schwere Prüfung auferlegt, eine so unerhörte Erschütterung beigebracht, daß es war, als ob die Welt stille stünde. Was war seinerzeit der Postraub dagegen gewesen? Das Dampfschiff Fia war untergegangen! Was bedeuteten alle möglichen anderen Dinge, wenn das Dampfschiff Fia nicht versichert gewesen war und nun vielleicht den Doppelkonsul Johnsen in Ruin und Untergang mit hineinzog?
Nichts anderes bedeutete mehr etwas.
Auch früher schon waren mehrere ernste Ereignisse in der Stadt zu verzeichnen gewesen: der alte Schulvorsteher war nun tot, der die vielen Sprachen der ganzen Welt kannte und die letzte Generation in den Grammatiken und den notwendigen Kenntnissen unterrichtet hatte, er war jetzt tot und seine Gelehrsamkeit mit ihm begraben. Eine andere Sache war auch am Brunnen tüchtig besprochen worden: die Frau des Doktors jammerte nun schon seit zwei Monaten darüber, daß sie guter Hoffnung war; es war das erstemal bei ihr, ach du lieber Gott, wie sie es verabscheute, wie sie sich davor fürchtete und wie schlecht ihr war — für dieses Unglück gab es keine Hilfe, und war es nicht auch ganz gerecht? — Da, eines schönen Tages war die Frau Doktor plötzlich nicht mehr guter Hoffnung. „Was?” schrien die Weiber am Brunnen; sie pumpten kein Wasser mehr und gingen auch nicht mit ihren Eimern fort, sondern blieben unentwegt da. Hatte die Person sich über ihr Inneres getäuscht und war sie gar nicht —? Unsinn! Weit entfernt! Aber so ungleich verteilte es unser Herrgott bei den Frauen, manche mußten Jahr um [S. 350] Jahr Mutter werden, andere waren fürs ganze Leben davon befreit. So war es, wenn man einen Doktor zum Mann hatte, er hatte die Gelehrsamkeit, er konnte tun, was er wollte, das war keine Kunst —
Es fehlte also nicht an aufregenden Ereignissen.
Aber dann rollte eines Morgens der Donner über den Brunnen hin; das war die Nachricht von dem Untergang der Fia . Diese Nachricht kam von Scheldrup Johnsen in Neu-Orleans, das Telegramm war drei Tage alt, es meldete kurz und gut, nannte Ort und Zeit und ging davon aus, daß die Versicherung in Ordnung sei. Aber die Versicherung war nicht in Ordnung. Und da schlug der Blitz am Brunnen ein.
In der kleinen Küstenstadt, die von nichts als von ihren Schiffen lebte, verstand jedes Weib, was eine solche Versicherung zu bedeuten hatte, sollte da der Doppelkonsul es nicht gewußt haben? Waren es nicht gerade die großen Sachen, die der Konsul selbst unter den Händen hatte, Berntsen dagegen lag es ob, dem Kramladen und dem Modehandel vorzustehen. Es kam zu einem Zusammenstoß zwischen dem Konsul und seinem Geschäftsführer; der Konsul meinte, er habe Berntsen den Auftrag gegeben, die Versicherung zu erneuern, und Berntsen hatte auch ganz richtig die Versicherung damals, wo es ihm aufgetragen worden war, erneuert, aber nachher nicht mehr. — Aber der Konsul habe doch ein für allemal den Auftrag gegeben. — Nein, erwiderte Berntsen, so habe er es nicht verstanden. — Der Konsul raufte sein Haar und behauptete, doch, er habe es ausdrücklich für immer, fürs ganze Leben gemeint. Berntsen hätte das außerdem selbst verstehen müssen, ob er denn nicht gesehen habe, was alles auf dem Pult des Konsuls herumlag, alles müsse er selbst besorgen, die ungeheuere tägliche Post, die Berichte an seine Regierungen, die Bücher, eine Welt, ein Chaos — wie, wenn nun Berntsen das von selbst verstanden hätte! — Es zeigte sich auch, daß Berntsen wirklich tüchtig eingegriffen hatte, sonst hätte es noch schlimmer auf des Konsuls Pult ausgesehen. — Ja, aber der Konsul habe die Versicherungspapiere zur Erledigung herausgelegt. — Berntsen hatte die Papiere auch da liegen sehen, und nachdem er sie drei Wochen vor Augen gehabt hatte, verschwanden [S. 351] sie. — Jawohl, der Konsul hatte sie schließlich als erledigt weggelegt. Berntsen hatte kein Wort davon gehört, daß er sie fortschicken solle. — Doch, beim Satan, der Konsul hatte vor langer Zeit einmal gesagt, er müsse die Prämie abschicken: „Vergessen Sie die Versicherung nicht!” hatte er befohlen. O, jetzt mochte Gott ihm gnädig sein!
Frau Johnsen wankte ins Kontor herunter und weinte, rang die Hände, wischte sich Nase und Augen, schluchzte laut, bebte und redete wie im Fieber. Das war nicht gut für die Frau Konsul, sie war wohl auch leberkrank, denn sie war gar so gelb im Gesicht. Die Tochter kam auch, Fräulein Fia, sie nahm es ganz anders auf und legte nicht noch Steine auf die schwere Last. Das nütze nun alles nichts, sagte sie, Prüfungen müsse man ertragen. Sie müßten jetzt zeigen, daß sie Kultur hätten, sagte sie, die Komtesse; was an ihr liege, so wolle sie noch fleißiger arbeiten, sie habe ihre Kunst und ihren Beruf; die zwei Bilder, die sie im Louvre kopiert habe, müßten nun eben springen, sie wolle sie sofort zur Versteigerung schicken. „Hab' keine Angst, Papa!”
Der Konsul hörte nicht und sah nicht.
Dafür war ein anderer Mann in der Stadt, der sowohl hörte als sah, der Rechtsanwalt Fredriksen. O, ein kluger Mann, ein glücklicher Gewinner, also ein ganz verflixt guter Rechner. Da kam er nun endlich wieder, nachdem er fast das ganze Jahr hindurch im Landtag und in seiner Kommission gesessen, und jetzt hatte er ein viel besseres Aussehen als vorher, er sah nicht mehr so gefräßig aus, Gott weiß, ob er nicht Gesichtsmassage gebraucht hatte! Woher sonst konnte diese fast seelenvolle Freundlichkeit kommen? Allerdings hatte das auch seine Wirkung nicht verfehlt, daß er während seiner Abwesenheit zum Wortführer in seiner Stadt gewählt worden war; aber das würde einen Rechtsanwalt doch nicht dazu bringen, die abgelegenen Winkel der Sorge und Armut aufzusuchen und dort eine halbe Stunde trostspendend zu verweilen! Er ging zu der Tochter des Schulvorstehers, die ihren Vater verloren, und zu dem alten Postmeister, der seinen Verstand verloren hatte, und überall war er sehr teilnehmend gewesen. So war er jetzt. Schon als er vom [S. 352] Schiff an Land stieg, hatte ja der abscheuliche Olaus vom Wiesenrain ihn geduzt und ihn nur Fredriksen angeredet; aber darüber hatte dieser nur ein wenig gelächelt und gesagt: „Trag' meinen Koffer hinauf, Olaus!” — Olaus erwiderte: „Trag' du deinen Koffer selber!”
Ehe er sich nun aufs neue auf seine beschwerlichen öffentlichen Obliegenheiten warf und die Stadt zur ersten Versammlung zusammenrief, gönnte er sich noch ein paar freie Tage und wanderte in einem hellen Anzug und einem großen Hut umher; er hatte sich einen Stock gekauft, und seine Stiefel waren heil, er rauchte auch immerfort Zigaretten, ja, er war ein ganz anderer geworden. Warum wanderte er soviel umher, warum mußte der schwere Mann auch noch den Aussichtspunkt ersteigen? Das sah gesucht aus, ausgesucht einsam, nicht nur nach unerwiderter Liebe und tieferen Gefühlen. Wenn er an Konsul Johnsens Garten mit den Zementtürmen, dem Duft des spanischen Flieders und gaukelnden Schmetterlingen vorüberging, grüßte er Frau Johnsen, gegen die er nichts hatte, mit seinem großen Hut, er grüßte auch das Fräulein, ja selbst den Konsul, wenn dieser auf der Veranda saß. Wohl war er Vorsteher einer Kommission gegen den Konsul, aber Haus und Familie mußten außerhalb gehalten werden.
„Glücklich von Paris zurück!” rief er mit Donnerstimme über das Staket weg Fräulein Fia zu.
Es sei jetzt übrigens schon sehr lange her, seit sie von Paris zu Hause sei, dachte Fräulein Fia wohl, und sie hätte auch gut ihn selbst mit „Glücklich zurück vom Landtag!” begrüßen können, aber sie dankte nur mit einem nachlässigen Kopfnicken. Wer verstand diesen Menschen!
Er legt seine runden Arme auf das Staket und geht nicht gleich weiter, sondern sagt: „Sie finden es wohl daheim wieder sehr schön?”
„Ja.”
„Ich auch.”
Welche Unhöflichkeit vom Konsul! Da sitzt er auf der Veranda und liest in seiner Zeitung, dann wird er aufmerksam, lüftet schließlich den Hut ein wenig und grüßt, liest aber dann gleich weiter.
„Jawohl, auch ich finde es daheim wieder sehr schön. Selbst wenn ich keine schönere Heimat hätte —”
[S. 353] „Wollen Sie nicht hereinkommen?” fragt Frau Johnsen.
„Nein, ich danke, es ist spät geworden. Ich gehe nur vor Schlafengehen ein wenig spazieren, und ich kann Sie von dem Aussichtspunkt grüßen, Fräulein Fia!”
„Es war wohl heute abend hübsch da oben?”
„Wundervoll. Ein Sonnenuntergang mit ein paar besonders prächtigen Wolken! Ich verstehe mich ja nicht so darauf, wie die Maler und Künstler, aber für meinen Geschmack war es einzig in seiner Art. Würden Sie sich nicht zu einem kleinen Spaziergang hinauf überreden lassen?”
„Jetzt? Nein.”
„O nein. Und Sie gehen wohl auch am liebsten allein?”
Nun zündet sich der Konsul seine Zigarre wieder an, aber er kann sich dabei fast nicht von der Zeitung losreißen: Was in aller Welt interessiert ihn denn so ungeheuer? Und was ist denn mit Frau Johnsen? Diese Frau Johnsen war nicht immer so wortkarg gewesen; in den alten Tagen hatte sie höchst vergnügt geplaudert, wenn der Rechtsanwalt mit ihr sprach und sich mit ihr abgab, ja, sie tat wahrhaftig, als mache sie sich etwas aus ihm. Wie reich und groß waren diese Leute nun geworden; aber wie konnten sie es auch nicht lassen, es zu zeigen! Seht, da sitzt die Tochter des Hauses, sie ist nun seit mehreren Jahren alt genug und zum Überfluß auch hübsch genug, und da sitzt sie und hält sich eigensinnig zurück, bloß weil sie steinreich und eine gute Partie ist. Rechtsanwalt Fredriksen hätte übrigens der Familie in verschiedenem nützlich sein können, er war jetzt nicht mehr der erste beste, er war Landtagsabgeordneter und ein großer Mann, er konnte sogar noch größer werden, ja, er hatte beinahe sichere Aussicht, noch größer zu werden, die neuen Wahlen würden das entscheiden. Warum stand er denn da draußen und warb vor einem Gartenzaun? Das schickte sich nicht für jemand, wie er war; kommt ihm nur in die Nähe, gebt ihm den kleinen Finger! Er hatte in der großen Hauptstadt etwas gelernt, das nächste Mal würde es schon besser gehen, er wollte sie in den Arm nehmen —
„Guten Abend!” grüßte er und ging weiter.
Nach einer guten Weile schaute der Konsul auf und lüftete nun auch den Hut, aber da sah er nur noch des [S. 354] Rechtsanwalts Rücken und seine Hautwulst im Nacken unterhalb des Huts. So ein Übermut! Und dieses Zeitungslesen! Der Konsul warf das Blatt weg und stand langsam auf, er gähnte laut und sagte: „Na, jetzt geh' ich hinein und lege mich zu Bett.”
„Ja, gute Nacht!” sagten die Damen.
Alles atmete Frieden und durchaus keine Gefahr. Aber am nächsten Tag, ja, da schlug der Blitz ein.
Rechtsanwalt Fredriksen hörte es zuerst in der Barbierstube, nachher traf er mit dem Apotheker zusammen, der es bestätigte. Der Rechtsanwalt hatte eigentlich gedacht, sich recht schön rasieren zu lassen und sogar noch ein paar Tage lang an Konsul Johnsens Garten vorbei nach dem Aussichtspunkt zu spazieren; aber bei der Nachricht von dem Untergang des Dampfschiffs Fia änderte er entschlossen seine Absicht und nahm den Weg nach dem Hause Olsen. Sein Gang zeigte keine Unsicherheit, nichts Geheimnisvolles, er hatte etwas ausgerechnet und es richtig gerechnet, natürlich ging er nun zum Grütze-Olsen, wohin hätte er sonst gehen sollen? O, in seinem Gang lag Selbstgefühl!
Er war erwartet; Fräulein Olsen errötete, als sie seine Stimme hörte. Sie wußte, er war schon vor zwei Tagen zurückgekommen, aber in diesen zwei Tagen hatte er sich noch nicht blicken lassen.
„Nun ja, man hat mich zum Wortführer ernannt, während ich fort war,” erklärte er, „und da mußte ich mich erst in diese neuen Sachen einarbeiten. O, ich hab' geschuftet! Und am Abend war ich dann so müde, daß ich ganz einsame Spaziergänge machen mußte, um mich zu erholen. Sonst würde ich mir schon erlaubt haben, Sie zu begrüßen, Fräulein Olsen.”
„Meine Eltern hatten mir gesagt, daß Sie zurückgekehrt seien,” sagte Fräulein Olsen.
Weiter ging sie nicht, o nein; aber wenn er ihr in diesem Augenblick zu verstehen gegeben hätte, daß sie jetzt seiner rasenden Liebe nicht mehr ausweichen könne, dann wäre sie wohl schwankend geworden. Es waren nun mehr als zwei Jahre verflossen, seit sie sich zum letzten Male gesprochen hatten, sie war indessen noch älter geworden, ein paar Briefe in der Zwischenzeit hatten eine hinsterbende [S. 355] Erinnerung nur gerade am Leben erhalten. Mit dem andern Maler, dem Tünchersohn, wurde es nichts, der war nur ein Künstler und Bruder Leichtfuß; o, er war beständig in die eine oder andere verliebt, daran fehlte es durchaus nicht, aber er hatte keine Beständigkeit. Schließlich ging er hinunter an den Landungsplatz und malte den Olaus vom Wiesenrain. Das schickte sich nicht, nachdem er Konsul Olsens gemalt hatte; wahrhaftig, Konsul Olsens bildeten sich nichts darauf ein, aber sie würden in der Leute Mund kommen. Und im übrigen — einen Maler heiraten, das war so eine Sache, ihre Schwester hatte es erfahren, sie hatte es nicht so ergötzlich, sie redeten sogar von Scheidung — die neueste Mode im Lande. Sie hatte jetzt zwei Kinder und war überdies in den ersten Jahren verschiedentlich zu sehr langem Aufenthalt bei den Eltern gewesen, um die Ausgaben für den Haushalt zu vermindern, und wenn sie wieder abreiste, bekam sie eine Menge Geld und vollgepackte Kisten mit. Im letzten Jahr hatte sich dieses Verhältnis allerdings geändert, der Maler hatte einen größeren Namen bekommen, er stellte in Berlin aus und verkaufte seine Bilder zu höheren Preisen. Die Folge davon war, daß jetzt er, der Maler, auf eine Scheidung anspielte, jetzt konnte er auf eigenen Füßen stehen. Das war sehr traurig und sehr dumm, und bis jetzt war ja die Katastrophe abgewehrt worden, aber es war jedenfalls eine unglückliche Ehe daraus geworden. O, diese Künstlerverbindungen, sie waren nicht immer dauerhaft!
Aber wie stand es mit dem Bureauvorsteher beim Hardesvogt? Abgereist. Er war ein Jahr da, dann kam er in das Revisionsdepartement, niemand vermißte ihn, niemand bedauerte seinen Fortgang. Sein Nachfolger war wieder ein juristischer Kandidat, aber es zeigte sich, daß er sowohl Braut als Verlobungsring hatte — was wollte der hier in der Stadt, und was hätte Fräulein Olsen mit ihm anfangen können? Als er Besuch machte, ging sie zwar nicht aus dem Hause, nein, das tat sie nicht, aber sie blieb ganz einfach auf ihrem Zimmer, warum hätte sie hinuntergehen sollen. Später sah sie ihn in der Stadt, er sah aus wie ein Flüchtling, mit abgetragenen Beinkleidern, sehr nachdenklich und niedergedrückt, aber [S. 356] mit Braut und Verlobungsring. Einen solchen Mann mußte man in Frieden lassen.
Und so war Fräulein Olsen noch immer zu Hause; sie wurde älter und beschäftigte sich mit ihren Erinnerungen. Ihr Herz hatte den Rechtsanwalt wahrscheinlich nicht vermißt, aber er war ihr nicht so ganz aus dem Sinn gekommen, er war der sprichwörtliche Sperling in der Hand. Wie war es wohl, hatte er Aussicht, Staatsrat zu werden? Noch immer war es die Natur selbst, die Fräulein Olsens Politik führte, einmal mußte doch auch sie eine verheiratete Frau werden.
„Wollen Sie sich nicht eine Zigarre anzünden?” sagt sie zum Rechtsanwalt.
Er fing an, von dem Untergang der Fia zu sprechen, das sei ein ordentliches Menetekel für die Familie Johnsen. Denken Sie doch, ein Dampfschiff nicht einmal versichern! Was denn der Konsul auf seinem Kontor tue, wenn er eine so überaus wichtige Sache vergesse? Das müßte doch eine Grenze haben! Allerdings solle man ja mit Menschen, die im Unglück sind, Mitleid haben, aber Gott wisse es, vielleicht schadete dem guten Johnsen so eine Züchtigung gar nichts. Sie hätten ja alle miteinander einfach unverschämt dumm-groß getan.
„Ich weiß nicht,” sagt Fräulein Olsen, „den Scheldrup halt' ich nicht für dumm.”
Der Rechtsanwalt erwidert gleichgültig: „Was der Scheldrup ist oder nicht ist, das weiß ich auch nicht. Ich rede von der Tochter und den Eltern.”
„Ich möchte wissen, wie es der Scheldrup aufnimmt. Was meinen Sie, daß er nun ergreifen wird?”
Da sieht sie der Rechtsanwalt wie aus einer ganz andern Welt an, er kann es nicht lassen, die Stirne zu runzeln und sie anzusehen. „Ihre Frage ist sehr komisch,” sagt er, „ich hab' mich wirklich nicht mit ihr abgegeben, denn ich hab' an andere Dinge zu denken. Was der und jener Junge anfangen wird? Ich weiß es nicht, er wird wohl das tun, was er bisher auch getan hat. Steht er nicht hinter einem Ladentisch oder etwas Ähnlichem?”
„Scheldrup! Nein, er hat nie hinter einem Ladentisch gestanden.”
„So, also nicht. Ja, mir ist es gleichgültig.”
[S. 357] „Vielleicht kommt er jetzt heim und übernimmt das Geschäft.”
Den Rechtsanwalt ärgert dieses Gerede, und er versucht, noch mehr von oben herab aufzutreten. „Wer künftighin dieses bankerotte Geschäft und den kleinen Laden übernimmt, darüber nachzudenken hab' ich wirklich noch keine Zeit gehabt. Vielleicht ist der Scheldrup der Mann dafür, ich weiß es nicht. Hat er etwas gelernt?”
„Etwas gelernt? Ja, das wird er wohl im Ausland in all den Jahren getan haben.”
„So? In die Schule gegangen, auf fremden Universitäten studiert? Merkwürdig, daß niemand etwas davon gehört hat!” — Aber hier geht wohl dem Rechtsanwalt ein Licht darüber auf, daß er in völlig verkehrter Weise vorgeht, und er sagt: „Es ist überhaupt nicht die Rede von Scheldrup Johnsen, sondern die übrige Familie ist es, der es vielleicht ganz gut tut, wenn sie den stolzen Nacken beugen muß. Sie war's, die ich gemeint hatte.”
Fräulein Olsen kann es sich leisten, ein gutes Wort für Fia einzulegen.
„Fia malt so hübsch,” sagt sie.
„Finden Sie das?” Hier sieht der Rechtsanwalt aus, als könne er sich gezwungen fühlen, sich anders auszusprechen. Als das Fräulein fragt: „Ja, finden Sie das nicht auch?” antwortet er: „Wollen wir nicht von etwas anderem reden — Sie und ich?”
Da kam er nun auf seine eigene Angelegenheit.
O, nun aber war es wohl möglich, daß es besser gewesen wäre, wenn er geschwiegen hätte. Er hatte nicht den rechten Schick. Fräulein Olsen mußte natürlich seine jahrelange kühle Zurückhaltung auffallend gefunden haben, und nun sollte er sich erklären, sich gewissermaßen entschuldigen, das war keine einfache Aufgabe. Wo hätte er die schwierige Kunst lernen sollen, um ein Herz zu werben, aber die Mitgift zu meinen? Außerdem war seine Löwenstimme gegen ihn, die war für Schlägereien und Wortkämpfe, hier aber sollte sie etwas hinhauchen, gewissermaßen singen, wahrlich, ein anderer hätte es aufgegeben. Aber er verstand die Gefahr nicht und ging nur drauflos.
Es war ein Glück, daß es das Fräulein damit nicht so [S. 358] genau nahm. Im Lauf der Jahre hatte sie sich ja einige vornehme Unarten angewöhnt, aber sie hatte noch ein richtiges Verständnis für die Dinge und war kein kleines Mädchen mehr. Fia Johnsen war wirklich mit ihrem Komtessewesen auch nicht so sehr weit gekommen.
Der Rechtsanwalt begann ja zu nachdrücklich — der Bauer, der Klotz! Zusammenarbeiten, sagte er, ob also die Rede von einem Zusammenarbeiten zwischen ihnen sein könnte? Ob sie darüber nachgedacht habe?
Darauf antwortete sie nichts, aber Zusammenarbeiten, was war denn das? Sie fand jedenfalls nicht, daß das ein Wort sei, das ihr keine andere Wahl ließ, entweder puterrot zu werden oder das Zimmer zu verlassen.
Nun entwickelte der Rechtsanwalt deutlicher, wie er in diesen zwei Jahren immer an sie gedacht habe — sie habe ihn vielleicht in dieser Zeit vergessen, aber er habe nichts vergessen, er könnte auf die Beilagen hinweisen, seine beiden Briefe. Alles, was er bei ihrer früheren Zusammenkunft ausgesprochen habe, sei in den Briefen wiederholt, und das gelte auch jetzt noch. Also, Fräulein Olsen, nun ist die Frage die: ist etwas Verständnis und Neigung auf beiden Seiten vorhanden?
Keine Antwort. Er wartete reichlich lange, und schließlich sagte sie wie er: „Lassen Sie uns von etwas anderem sprechen!”
War das nun wieder Ziererei? Er fühlte sich wohl nicht mehr ganz sicher, ihr Gerede über Scheldrup Johnsen hatte ihn unsicher gemacht; sie hatte so bestimmt behauptet, daß er nie hinter einem Ladentisch gestanden habe und daß er nun heimkommen werde, um das Geschäft zu übernehmen. Was bedeutete das alles in einem Augenblick wie diesem? Zum Henker, er konnte nicht singen, aber er redete weiter, ob sie längere Bedenkzeit haben wolle? Für ihn sei die Zeit jetzt gekommen, die Ungewißheit habe ihn gerade an diesem Morgen fortgetrieben, um für sich zu reden und zu hören, wie die Sache stehe. Aber vielleicht möchte sie doch lieber noch eine längere Bedenkzeit haben? fügte er hinzu.
„Ja,” sagte sie nur.
Wirklich? Er müsse gestehen, das könne er kaum glauben, nach Verlauf von zwei langen Jahren und nach allem, [S. 359] was zwischen ihnen vorgegangen sei. Ob sie denn nicht gerade herausgesagt finde, daß diese Stadt allmählich ein trauriges Loch geworden sei? Eine Stadt voll Kummer und Bankerott und Elend, an andern Orten lachten die Leute und es gehe ihnen gut. Welche Art Belustigungen man denn hier habe?
Hier warf sie lächelnd ein: „Ich bin nicht an Belustigungen gewöhnt.”
Aber sie könne es werden! lautete die Entgegnung. O, an andern Orten alle die vornehmen Straßen und die Schaufenster und Tivoli und Kaffeehäuser, ob sie denn das nicht reizen könne? Und was die Lebensweise betreffe, so handle es sich ja nur darum, wie man sie selbst bestimmen wolle, es gebe nichts, gar nichts, was man dort nicht bekommen könne. Alle Annehmlichkeiten des Lebens seien da auf einem Brett beisammen, die Zeitungen erschienen jeden Morgen und jeden Abend, die Musik spiele, beim Landtag würde geflaggt; am Sonntag könne man, wenn man wolle, den ganzen Tag im Bett liegen, oder man könne ins Theater gehen, oder mit der Straßenbahn irgendwo hinfahren, oder im Studentenwäldchen spazieren gehen, oder einen guten Vortrag hören. Was man hier am Ort denn habe! Wenn sie wolle wie er, dann zöge sie fort von hier —
Auch das war eigentlich kein Gesang, aber es war doch nicht so ganz verkehrt, und das Fräulein hätte nun einiges Interesse an den Tag legen sollen; aber nein. Gott weiß, was hergehörte, um diese Dame etwas aus dem Konzept zu bringen? Der Rechtsanwalt rückt ihr vorsichtig immer näher und erreicht sie schließlich; er hat in der Hauptstadt etwas gelernt, er tastet weniger ängstlich, legt schließlich den Arm um sie und sagt: „Liebes Fräulein, wenn es doch zu einem etwas besseren Verständnis zwischen uns kommen könnte!”
Sie stand auf, das tat sie, stand auf, lief aber nicht nach der Tür, die Dame stand nicht vor etwas Unumgänglichen, sie sah ihn nur an und sagte: „Ich hoffe, Sie sind nobel, Fredriksen?”
„Natürlich. Hm. Aber Damen pflegen doch im Gegenteil Freude an ein wenig Hofmacherei zu haben,” sagte er, und dabei nickte er und zwinkerte mit dem einen Auge, [S. 360] als habe er recht genaue Kenntnis gewonnen. Er habe durchaus nichts Böses gemeint, nur eine Annäherung, sie wisse doch, wer er sei, sie kenne ihn —
„Ja, das allerdings,” erwiderte sie und setzte sich auf das Sofa.
Er sei ja mit einer Menge Damen zusammengewesen, das fehle durchaus nicht, habe auch an den Gesellschaften auf dem Schlosse teilgenommen, berühmte Sängerinnen gehört und was dergleichen mehr sei — o ja, und einige seien richtig feinfein und nach seinem Geschmack, einzig in ihrer Art gewesen, sie hätten tief ausgeschnittene Kleider an, machten die tiefsten Verbeugungen, trügen Halsketten und Brillanten. „Aber eine Familie mit so einer gründen und sie zur Lebensgefährtin erwählen — nein!” donnerte Fredriksen und schüttelte den Kopf. Er habe im Gegenteil immer an eine gewisse Dame in seiner eigenen kleinen Stadt gedacht, und auf sie habe er seine ganze Hoffnung gesetzt —
„Auf Fia,” warf Fräulein Olsen ein.
Wie plötzlich das herauskam! Er wurde ein wenig verdutzt und bemerkte nur: „Warum nennen Sie gerade diese?”
Fräulein Olsen lächelte.
„Fia,” sagte er, „lassen Sie sie nur in Ruhe, lassen Sie sie in ihrem roten Hut spazieren gehen und lassen Sie sie ihre Bilder malen. Ist es nicht wahr, wenn ich sage, kann man sich ein unnützlicheres Geschöpf denken? Aber das geht uns nichts an, ich begreife nicht, warum wir von ihr sprechen. Ja, mißverstehen Sie mich nun nicht, Fräulein Olsen, die Kunst und schöne Bilder und Gemälde haben ihre große Bedeutung. Ach, du lieber Gott, aber wie so ganz anders sind Sie als dieses Frauenzimmer, es ist nicht halb soviel an ihr wie an Ihnen, dünn und zart und lange Stelzen. Gott bewahre mich davor!”
Es konnte Fräulein Olsen nicht unlieb sein, auch einmal vorgezogen zu werden und als die erste zu gelten, seinerseits war der Rechtsanwalt keineswegs karg: wenn Anerkennung ihr etwas Ungewohntes war, dann sollte sie solche jetzt bekommen! Fräulein Olsen steht wahrhaftig auf und stellt den Aschenbecher vor ihn hin, da hat er es behaglich, und bei dieser Freundlichkeit, dieser Häuslichkeit [S. 361] riß ihn wohl die Liebe mit fort, und er nahm sie in den Arm. Sie wiederholte nur: „Seien Sie nobel, Fredriksen!” entfloh aber nicht wie ein Traum, sondern ließ sich neben ihm auf einen Sessel niederfallen. Er war ja nicht gefährlich und gefräßig, er war nur ein wenig grob und ungebildet wie alle Männer — was übrigens die Mannsleute nicht übel kleidet.
„Aber Sie müssen doch zugeben, daß Sie sehr hingenommen von Fia gewesen sind,” sagte sie.
„Von Fia?” Daß sie das sagen konnte, daß sie das in den Mund nehmen mochte! Hören Sie einmal, eine Malerin, die reine Bleichsucht! Fräulein Olsens wegen würde er sofort die ganze Welt umsegeln, aber Fias Bilder wegen keinesfalls. „Da haben Sie's!” Die Kunst jawohl, aber fürs Tägliche ziehe er im ganzen genommen Fräulein Olsens Beine und Arme und Brustpartie und Figur vor. „Ach, Fräulein Olsen!” sagte er.
„Sie hat hübsche Zähne.”
Sprachen Sie denn noch immer von Fia? Beim Satan, wie zäh war doch Fräulein Olsen, wenn sie von etwas zu sprechen angefangen hatte. Er antwortete damit, daß er sich an sie anlehnte, bedeutend näherrückte, daß er den Arm um sie legte und sich's an ihrem warmen Rücken bequem machte. Und natürlich redete er währenddessen: nun wolle er ihr sagen, wer hübsche Zähne habe. Und jetzt wolle er ihr sagen, wer ein hübsches stattliches Mädchen und ein Schmuck in ihrem reichen Hause sei. Er sei ja jetzt in vornehmen Häusern gewesen, ja, geradezu an höheren Orten, deshalb könne er vergleichen, und das wolle er hervorheben, eine so herrliche Gestalt und so herrliche Formen im großen und ganzen genommen — wohingegen Fia, sehen Sie nur an sich selbst hinunter, Fräulein Olsen, und dann sehen Sie Fia an, das ist, Gott helfe mir, wie wenn man aus den Wolken wieder auf die Erde herunterkommt. Und im übrigen, alles, was sie sagt und tut und wie sie aussieht — lauter Kunst und Finesse und Spitzen und Ziererei alles miteinander.
Fräulein Olsen mußte über die Spitzen lachen, und da wuchs dem Rechtsanwalt der Mut noch mehr. „Wären es wenigstens Spitzen an Beinkleidern gewesen!” sagte er.
Er fühlte, wie sich ihm ihr Rücken etwas entzog, als [S. 362] ob sie aufstehen wollte, aber sein Arm hielt sie fest. Ja, das habe er gerade heraus sagen müssen. Und hohoho, lachte er, man wolle sich doch nicht nur mit Luft verheiraten. Er gehöre nicht zu denen, die die Freuden des Lebens verachteten, im Gegenteil, er sei in dieser Beziehung ein Freund von guten Narrenstreichen und Annehmlichkeiten, und wenn er es recht verstehe, so sei Fräulein Olsen selbst genau so beschaffen und gerade so angelegt, nicht wahr?
„Jetzt müssen Sie mich loslassen,” sagte sie, und wieder glitt ihr Rücken von ihm weg.
Er mußte zum Ernst und dem Geschäftlichen zurückkehren; nun erklärte er ihr, jetzt sei der Augenblick gekommen, die nächsten Wahlen würden ihn wieder in die Nationalversammlung führen, und dann sei es selbstverständlich, daß er in die Regierung komme. Es könne von ihm sanguinisch aussehen, so zu denken und so zu sprechen, aber es fehle ein Vertreter für die Seefahrt, und er habe ja als Obmann der Matrosenkommission eine gründliche Kenntnis auf diesem Felde bekommen, sagte er.
„Ei, dann werden Sie ja Staatsrat!” sagte sie.
„Nach menschlicher Berechnung, ja,” erwiderte er. Sie solle doch ja nicht denken, das sei nur ein Hirngespinst von ihm. Außerdem daß er schon in den Zeitungen als der kommende Mann bezeichnet worden sei, habe er auch dies und jenes hinter den Kulissen gehört. „Und Fräulein Olsen, jetzt frage ich Sie von ganzem Herzen, könnte es sich nun nicht so schicken, daß Sie mein Schicksal mit mir teilten und die Frau eines bekannten Politikers würden, die Frau eines Staatsrats?”
Keine Antwort.
Er redete weiter, aber er ließ doch so nebenbei durchblicken, daß er auch ohne sie nicht ganz und gar verzweifeln müßte, er habe verschiedene Bekanntschaften gemacht, jetzt aber sei Fräulein Olsen sein einziger Gedanke. Er gehe davon aus, daß ihre Eltern, der Konsul und seine Gattin, nichts dagegen einwenden würden, er wolle sie ja nicht zu einer gewöhnlichen Frau machen. Wie nun ihre Antwort laute, ob er hoffen dürfe?
Und endlich gab sie Antwort. „Ich kann nichts darüber sagen” lautete diese.
[S. 363] „Sie meinen doch wohl jedenfalls, daß Sie es sich noch überlegen wollen?”
„Ja, ja. Ich will es mir überlegen.”
„Wie lange?”
„Das weiß ich nicht. Wir wollen jetzt nicht weiter darüber reden.”
„Wollen wir nach den Wahlen darauf zurückkommen?”
„Wie lang ist das?”
„Vier bis fünf Wochen. Ich möchte Sie so gerne mitnehmen, wenn ich wieder nach Christiania muß, ich sehne mich nach Ihnen und ich liebe Sie. Wir wollen uns eine eigene Wohnung einrichten, Gäste bei uns sehen, einflußreiche Leute, Politiker. Und ganz richtig, während ich daran denke: wir wollen Ihrem Schwager zwei Bilder abkaufen, wenn ich es gesagt habe, dann steht es fest, aber Sie müssen sie selbst auswählen. Sollen wir also sagen, wir warten bis nach den Wahlen?”
„Ja, ja.”
Sie versprach nichts, keine Spur. Als er gegangen war, blieb sie noch eine Weile sitzen und überlegte. Fräulein Olsen konnte sich nicht beklagen, nichts war ihr zerstört worden, sie war durchaus noch nicht verloren, ihr Los war sicherlich nicht das schlimmste. Soweit konnte es kommen, daß sie einen Mann hatte, für den die Stadt einmal, wenn er kam, beflaggen würde, wer hätte in dem Falle dann einen ähnlichen Mann aufzuweisen?
Sie hört Schritte auf der Treppe und denkt: „Kommt er noch einmal?” O, eine viel größere Überraschung als das sollte ihr werden: herein traten ihr Vater und Konsul Johnsen, der Doppelkonsul selbst, der noch niemals einen Fuß über ihre Schwelle gesetzt hatte, jetzt kam er und verkaufte sein Landhaus an Grütze-Olsen.
Es stand ernster beim Doppelkonsul, als man dachte. Er hatte es gar nicht zu vertuschen versucht, daß die Fia unversichert untergegangen war; in seiner ersten Bestürzung hatte er es im Gegenteil laut ausgerufen. Jetzt meldeten sich die Folgen davon; er und sein Geschäftsführer Berntsen hatten genug zu tun, um erschreckte Gläubiger fernzuhalten. Sie berieten sich miteinander, sie handelten und wandelten, der Konsul hatte sogar das Dampfschiff noch telegraphisch versichert, als es schon untergegangen war; aber das hatte er auf eigene Faust getan, und Berntsen hatte augenblicklich und ebenfalls auf eigene Faust diesen tollen Einfall rückgängig gemacht. Berntsen war eine Perle.
Aber die Perle Berntsen war doch auch ein Mensch. Mitten in der großen Aufregung in der Stadt hielt er seinen Kopf klar und dachte menschlich auch an sich selbst.
Seht, da stehen die Leute in kleinen Haufen vor den Häusern und sprechen von der Katastrophe: jetzt sei der Doppelkonsul bankerott, er, der noch niemals ohne Hilfsquellen gewesen war, er, der jederzeit Geld genug für alles gehabt hatte, der Mittelpunkt in dem Wohl und Wehe der ganzen Stadt, der nach rechts und links austeilte, der das große Haus mit Veranda und Altan besaß — nun sei er bankerott. Was wußten die Leute davon? Alle wußten es. War nicht gestern ein Herr aus Christiania gekommen, um sein Geld zu verlangen! War nicht heute ein anderer Herr aus Hamburg angekommen, um sein Geld zu verlangen! Und würde nicht ein dritter und vierter daherkommen, würde nicht jeden Tag einer daherkommen! Die Leute verstanden gut, daß dies den Untergang bedeutete.
Das wirkte nach allen Seiten hin, es zerrte an allen [S. 365] Gliedern der Stadt, der Doktor merkte es in seiner Praxis, die Werft stand still. Henriksen auf der Werft verlor den Kopf und sagte: „Geht heim, Leute, ich kann nicht mehr!”
Und nun, da die Stadt in Krämpfen lag, war es wohl Zeit, daß der Mensch zum Nachdenken kam und sich bekehrte. Die Menschen waren vor mehreren Jahren bei einem gewissen Postdiebstahl ernstlich gewarnt worden; aber darum hatten sie sich ebensowenig gekümmert wie um ein Kalb mit zwei Köpfen, die Menschen waren auch weiterhin geblieben, wie sie waren.
Aber jetzt? Sollte wirklich nicht einmal eine solche Erschütterung, ein Erdbeben, wie der Bankerott des Doppelkonsuls, imstande sein, die Menschen zu erwecken? Wie waren denn diese Leute beschaffen? In der Tageszeitung des Orts stand jetzt ein Aufruf an das Volk, fromm zu werden, und die Weiber am Brunnen verhandelten dieses Programm eifrig; bald war es in jeder Stube in der Stadt bekannt geworden, aber die Leute änderten sich offenbar nicht, es war von Tag zu Tag nicht die Spur von Veränderung an ihnen wahrzunehmen, im Gegenteil, war eine solche da, so schien sie eher zum Schlimmen zu sein. Allerdings kam ja wahrhaftig mit demselben Küstendampfer, der den Herrn aus Hamburg brachte, auch ein anderer Gast in die Stadt, eine alte Dame, eine von früher bekannte Persönlichkeit, die Tanzlehrerin! Die Welt war leider verrückt. Gerade jetzt, wo die Leute fromm sein und vor lauter Gottesfurcht nicht wieder zu erkennen sein sollten, kam die Tanzlehrerin wieder, um in einer Generation zu wirken. Und die Menschen blieben, wie sie waren.
Aber was ist mit Berntsen? O ja, Berntsen schließt seinen Kramladen wie sonst auch und geht mit seinem gewöhnlichen Schritt an dem einen Haufen Leute, die vor den Häusern stehen, nach dem andern vorbei und sieht auch nicht eine Spur niedergedrückt aus. So soll auch der Mann auftreten, der Geschäftsführer bei einem bankerotten Chef ist, er soll das beste seines Herrn im Auge haben und aussehen, als ob er ein gutes Geschäft in Aussicht hätte. Daneben kann er dann auch menschlich an sich selbst denken.
Der Geschäftsführer Berntsen geht an diesem Abend [S. 366] nicht geradeswegs heim in sein Mansardenzimmer, o, weit entfernt, er geht ohne weiteres nach dem großen Hause von C. A. Johnsen und bittet Fräulein Fia um eine Unterredung. Er wußte wohl, daß der Konsul nicht da war, der Konsul ging lieber anderswo hin, als nach Hause, wenn ihn etwas bedrückte. Aus der Stube drangen fremde Stimmen, Alice Heiberg war da, Konstanze von der Werft war da, auch Fräulein Olsen und sogar die Tochter des Postmeisters, die im Modegeschäft angestellt war, sie alle waren wohl gekommen, damit Fräulein Fia mit ihrem Kummer nicht ganz allein sein sollte.
Nun, Fräulein Fia, die Komtesse, konnte eins ausgezeichnet gut zeigen: wenn sie Kummer hatte, so hatte sie auch die Bildung, ihn zu tragen; im Augenblick erzählt sie den Damen ein indisches Märchen, das sie gelesen habe und das sie nun illustrieren wolle.
Sie ließ den Geschäftsführer Berntsen in das kleine Zimmer im Erdgeschoß, das Kabinett genannt, führen und setzte sich zu ihm, um sein Anliegen anzuhören. Seht, Berntsen hatte ja in den letzten Tagen mehr als genug mit dem Konsul selbst geredet, und zu Frau Johnsen, die sich in den Zeiten des Glücks nie um Berntsen gekümmert hatte, wollte er nicht gehen. Da blieb niemand anders übrig als Fräulein Fia. Ja, so war es wohl, was hätte es sonst sein können? Nun saß er da vor ihr und stellte ihr gewiß nur die ganze Lage dar, die schwere Klemme, in der sich das Geschäft befand, den Ruin; was hätte er ihr sonst vortragen sollen? Übrigens dauerte es nicht lange, nicht viele Minuten, und als Berntsen das Haus verließ und Fräulein Fia wieder zu den andern ins Zimmer trat, war ihr Gesicht ebenso ruhig und unbewegt wie sonst. Die jungen Damen sahen sie betrübt an. Berntsen war ohne Zweifel mit einer neuen Unglücksbotschaft gekommen, mit was denn sonst? Aber Fia bewies Seelenstärke.
Ja, jetzt bewies Fia in hohem Grade Seelenstärke. Es ärgerte sie wohl, daß alle diese jungen Mädchen, die so weit unter ihr standen, sich ein so aufdringliches Mitleid ihr gegenüber erlaubten, sie lächelte über sie, ja, das tat sie.
Als die jungen Mädchen das sahen, lächelten sie auch und freuten sich. „Gute Nachrichten?” fragten sie.
[S. 367] „Ja, was denkt ihr wohl? Er hat mir einen Antrag gemacht.”
Eine stumme Minute.
„Wer? Berntsen?”
Fia nickte überlegen lächelnd. „Ja, meines Vaters Ladendiener,” sagt sie.
In der darauffolgenden Minute konnte sich keines der Anwesenden fassen. Alice Heiberg wollte gern fein sein, obgleich sie nicht reich war, und so sagte sie: „Die Diener werden frech in diesen Zeiten.”
Und Fia erwiderte darauf: „Ja, man muß sich viel bieten lassen.”
Aber so vielem Komtessewesen gegenüber konnte sich Fräulein Olsen nicht enthalten, recht nachdenklich zu werden; auch in der Seelenstärke muß man Maß halten. Da saß nun Fia Johnsen, ihr Vater hatte sein Landhaus verkaufen müssen, es ging ihm schlecht, es war vielleicht von dem Ladendiener gar nicht so unglaublich gehandelt, wenn er in diesem Augenblick mit Herz und Hand einspringen wollte.
„Was hast du geantwortet?” fragte Fräulein Olsen.
Aber Fia sah sie nur mit hoch hinaufgezogenen Augenbrauen an und schwieg.
„Ich weiß nicht, ob es so ganz unverschämt war, Fia. Berntsen ist nicht so sehr viel älter als du, er bekommt wohl einmal sein eigenes Geschäft und hat auch gar kein so häßliches Äußere.”
Fräulein Olsen stellte es verlockend hin, es war, wie wenn sie nichts dagegen hätte, wenn Fia Johnsen eine weniger glänzende Partie machte. Aber Fia konnte sie nur wieder ansehen, diese Grütze-Olsens, ja, sie waren wirklich etwas für sich. Und gewiß, Fräulein Olsen war nicht überfein und gewählt und gertenschlank, nein, sie konnte nicht Bilder kopieren und war gewiß auch nicht ganz fest im Rechtschreiben, auch hatte sie keine indischen Märchen gelesen; aber Fräulein Olsen hatte ihre gesunden fünf Sinne, sie dachte wahrscheinlich, jetzt wäre es wohl auch Zeit, daß Fia Johnsen sich verheiratete. Sie sagte: „Dir steckt vielleicht ein anderer im Kopf, Fia; denn sonst sähe ich nicht ein, warum der arme Berntsen zu weit gegangen sein soll.”
[S. 368] Da hatte sie es, und gerade ins Gesicht!
„Aber hör' einmal!” sagt Alice Heiberg zurechtweisend.
„Ich müßte wahrhaftig sehr in Not sein,” sagte Fia.
„Nun, dann sag' ich noch einmal: du mußt einen andern im Hintergrund haben.”
Jetzt antwortete die Komtesse wahrhaftig ein bißchen ärgerlicher, als sie zu sein pflegte: „Ich habe zehn andere, wenn ich will.”
Eine stumme Minute. Die vier jungen Damen dachten wahrscheinlich, das sei ein kühner Ausspruch, und Fräulein Olsen sagte: „Ja, wenn es so ist, dann —”
„Jawohl, es ist so,” versetzte Fia und nickte dazu. „Wenn ich aber auch nicht einen einzigen anderen hätte, würde ich Berntsen doch nicht nehmen. Wenn ich keinen einzigen andern hätte, würde ich doch keinen von hier aus der Stadt nehmen.”
„So?” sagte Fräulein Olsen, und sie kniff ihre etwas üppigen Lippen fest zusammen. Seht, sie hatte einen Sperling in der Hand, und der war aus der Stadt hier, aber er konnte bei Gelegenheit gut genug sein, oho, es war nicht ausgeschlossen, daß die Stadt einmal für ihn flaggen würde. Aber Fräulein Olsen hatte wohl in diesem Augenblick ein eifersüchtiges Gefühl, als ob ihr Vogel zuerst um Fia Johnsen gekreist habe, ehe er zu ihr geflogen war — ach, was mußte sie nicht alles ertragen!
„Ich bin doch wirklich ein wenig in der Welt draußen gewesen und habe da verschiedenes gesehen und gehört,” sagt Fia. „Meine Kunst ist's hauptsächlich, für die ich mich interessiere, und Künstler sind mein Umgang, nicht die Herren hier von der Stadt.”
Na, das war nun etwas zu stark für Alice Heiberg, sie hatte selbst einen hier in der Stadt, Reinert, den Sohn des Küsters; der war freilich noch sehr jung, aber was hatte er für schöne Locken und was für ein flottes Auftreten! Was für ein Kurmacher! Sie hatte sich wahrlich während der letzten Ferien in den frischen Studenten tüchtig verschossen.
Fia wiegte nachdenklich den Kopf hin und her und murmelte: „Himmel, die Künstler würden mich schön auslachen!”
Darauf versetzte Fräulein Olsen: „Meinst du, wenn du [S. 369] Berntsen nähmest? Mein Schwager würde dich jedenfalls deshalb nicht auslachen.”
„So?” fragte Fia neugierig; jetzt wurde sie lebhaft. Fräulein Olsens Schwager war nicht der erste beste, sondern ein Künstler, dessen Name immer bekannter wurde, er war ein aufgehender Stern. Sie fragte, was er denn gesagt haben könne? Was er gemeint habe, ob sie etwa nicht gut male?
„Er sagte, du seiest viel zu wählerisch, und du könnest nicht lieben und nicht über die Stränge schlagen, das sagte er. Ich weiß nicht, was er damit meinte, aber es sei so deine Natur, sagte er, du werdest dich gewiß nicht verheiraten.”
Fia überhörte das ungebildete Gerede und fragte nur: „Aber was sagte er über meine Bilder?”
„Das weiß ich nicht mehr. Ich glaube, er sagte, es sei keine Glut darin.”
„Was sei nicht darin?”
„Ach, ich weiß es nicht mehr so genau. Aber du seiest ein kalter Mensch, und das meinten alle die andern Künstler auch, sagte er.”
Arme Fia, jetzt versinkt sie in Gedanken und schweigt eine gute Weile. Dies zu hören war nicht gut für sie, sie wurde sehr zahm.
„Er hat meine letzten Kopien aus dem Louvre nicht gesehen,” sagte sie dann, „die haben Glut, ich glaube, das kann ich mit Recht sagen. Er hat übrigens auch die Illustrationen nicht gesehen, die ich für das indische Märchen machen will. Ich glaube, die werden jedermann die Augen öffnen, wer es auch immer sei.”
Als die Besuche gegangen waren, suchte Fia ihre Mutter auf, zum erstenmal wirklich beunruhigt, beunruhigt bis in die Tiefe ihrer Seele. Die Mutter war ja, müde von des Tages Last und Bürde, schon zu Bett gegangen, und die Tochter würde sie sicherlich nicht aufmuntern, nein! Warum ging nur Fia gerade jetzt zu ihr?
Sie trat natürlich nett und gebildet ein, fragte, ob sie nicht störe, ob sie nicht lieber wieder gehen solle, es sei nur — im Grunde genommen sei es nichts.
„Was ist es denn, Fia?”
„Ach, du hast es selbst nicht leicht, es ist nichts, es ist [S. 370] besser, es hat Zeit bis später einmal. Aber nicht wahr, Mama, ich bin doch eine Künstlerin, und ich lasse mich von ein wenig Kritik nicht unterkriegen?”
„Was redest du da, Kind, du hast doch nur gute Kritiken bekommen.”
„Nicht wahr? Ja, ich werde es ihnen zeigen. Du sollst sehen, womit ich morgen anfange, es wird das beste von allem, was ich seither gemacht habe.”
„Ist Berntsen hier gewesen?”
„Ja, weißt du, was er wollte?”
„Ich glaube, ich kann es erraten.”
„Nein, das kannst du nicht. Er hat mir einen Antrag gemacht.”
Zu Fias großer Verwunderung richtete sich die Mutter nicht jählings im Bett auf und verlangte, daß der Geschäftsführer Berntsen sofort entlassen werde, nein, sie blieb ruhig liegen, und es hatte den Anschein, als müsse sie sich irgend etwas reiflich überlegen.
„Du weißt doch, daß dein Vater die Villa verkauft hat?” sagte sie dann.
„Welche Villa?” Fia wußte nichts; das wäre ja unerhört, am liebsten hätte sie sofort den ganzen Handel rückgängig gemacht. „Unsere Villa verkauft!”
„Ja, an Grütze-Olsens.”
Nun sank Fia auf das Bett der Mutter nieder. Deshalb also waren die vier jungen Mädchen an diesem Abend bei ihr gewesen. Diese Tochter vom Grütze-Olsen hatte ein Gefolge mitgenommen, damit es Zeuge ihres Triumphes sein sollte. Hätte Fia jetzt ihre Kunst nicht gehabt, dann wäre sie bankrott gewesen, so aber war sie reich.
„Dein Vater und ich haben darüber gesprochen,” sagte die Mutter, „Berntsen hat es uns geraten, wir stimmten ganz miteinander überein, daß jedenfalls du etwas haben sollst, auf das du jederzeit zurückgreifen kannst.”
„Ich?” sagte Fia. „Ich habe meine Kunst.”
Mutter und Tochter berieten sich darüber. O, Frau Konsul Johnsen war offenbar nachdenklich geworden, vielleicht durchschaute sie auch das Vorgehen des Geschäftsführers Berntsen, sie konnte im ganzen genommen jetzt auch Leute in der Stadt, die unter ihr standen, besser verstehen. Und nun Berntsen? Er hatte getan, was ihr [S. 371] eigener Mann, der Konsul, einstmals getan hatte, und was so viele Männer taten. Wir leben im Zeitalter der Menschen.
Mutter und Tochter besprachen die Sache wieder und wieder, aber Fia dachte wahrscheinlich nur an ihre eigene Angelegenheit und hielt sich nicht streng auf der Erde. Die Künstler meinten, sie sei eine kalte Natur, war das der Dank für alle Hilfe, die sie ihnen hatte angedeihen lassen? „Nicht wahr, Mama, ich hab' ihnen doch geholfen?”
„Jawohl. Aber das hat nun ein Ende. Grütze-Olsens, Konsul Olsens, sind jetzt reicher als wir.”
„Aber sie haben keine Kultur,” wendete Fia tröstend ein.
„Nein, aber sie sind sehr reich. Bedenke, sie haben jetzt sogar Spülnäpfe aus echtem Kristall!”
Mutter und Tochter lächelten und wurden im ganzen etwas frischer. Selbst Frau Johnsen, die da mit ihrem gelben Gesicht und ihrem Kummer und Unglück in ihrem Bette lag, sagte: „Ja, ja, nun müssen wir eben warten, bis Scheldrup heimkommt, er weiß vielleicht einen Ausweg.”
„Gewiß, gewiß, Mama. Hab' keine Angst! Siehst du, die Künstler haben gar nicht soviel auszusetzen gehabt. Sie meinten nur, ich hätte keine innere Glut, das ist alles. Aber das werde ich ihnen schon beweisen, verlaß dich darauf. O, sie sollen es sehen!”
Und sie sprach noch weiter über diesen Punkt.
Das gute Fräulein Fia! Sie war nun nicht mehr ganz jung. Ihre Gesichtsfarbe, die einst wie Pfirsichblüten schimmerte, war nicht mehr frisch, sie war überreif, die junge Dame hatte allmählich etwas Verblühtes bekommen. Sie hatte alle ihre Jahre dahingelebt ohne eigentlichen Erfolg, aber auch ohne Mißerfolg, nichts war imstande gewesen, ihren Sinn zu ändern, sie war unzugänglich und entzückend selbstbewußt. Daß sie nicht auf Abwege geraten war, kam nur daher, daß sie sich überhaupt nicht auf unbekannte Wege einließ. Warum sollte sie solche aufsuchen? Sie war ja so sittsam und beschränkt. Ihre Liebe und ihr Mutterberuf fanden ihre Betätigung im Bildermalen, die ganze Zeit über hatte es nicht an den Mitteln gefehlt, sich dieser Beschäftigung hinzugeben; sie [S. 372] malte weder aus innerer noch äußerer Notwendigkeit, aber sie malte. Niemand hatte jemals gesehen, daß sie über sich selbst unglücklich gewesen wäre; sie machte keine Fehler, tat niemand etwas zu leide, war nicht verschwenderisch, drückte sich im Gespräch mit andern gut aus, verneigte sich hübsch. Eines Tages hätte sie gut den Himmel über sich und die Erde unter sich fragen können: „Bin ich jemand? Bin ich etwas?” O ja, das hätte sie gut fragen können.
Fräulein Fia — vielleicht konnte sie das Gewicht ihrer eigenen Vorzüge nicht ertragen, vielleicht waren sie eine Bürde auf ihrem Wege. Es ist nicht gut, wenn der Mensch ganz ohne Drangsale und ganz ohne Reue über sich selbst ist.
„Ich ein kalter Mensch?” sagte sie und stand vom Bett ihrer Mutter auf. „Und dann soll ich nicht über die Stränge schlagen können?”
Mutter und Tochter waren nun beide in guter Laune und konnten scherzen. Die Mutter setzte sich im Bett auf und lächelte bisweilen, beide hatten dasselbe Temperament und waren gleich herzlich gern bereit, trübe Erinnerungen der Vergessenheit anheimzugeben.
Fia mimte jetzt ausgelassene Laune; hoho, sie stieß nach hinten ein wenig mit dem Fuß aus, wie wenn sie so recht unternehmend aufgelegt wäre, o, gar nicht so wenig, und sie stieß auch mit dem Ellbogen akkurat, wie wenn sie jemand neben sich, in den sie verliebt wäre, ein wenig in die Seite stieße. Es war gar nicht schlecht nachgemacht. Sie hob ihre Röcke mit den Fingern auf, so daß ihre weißen Höschen gut sichtbar wurden; sie waren fein und tadellos, voller Spitzen und Schleifen, geradezu paradiesisch, nun kamen sie ans Tageslicht, und Fia teilte mit dem linken Bein einen ordentlichen Fußtritt aus. Dabei sah sie wirklich äußerst hoffnungsvoll aus, als ob sie mit der Zeit die Künstler recht wohl mit Ausschweifungen überraschen könnte. „Hoho!” sagte sie wieder. Jawohl, denn in Wirklichkeit sei sie ja ein desperates und ein liederliches Frauenzimmer, nicht wahr, die würden es schon sehen! Als sie einen dritten Fußtritt ausgeteilt hatte — war das nun nicht sehr, sehr viel? Hatte sie noch nicht genug getan? Es fehlte ja nur noch, daß sie leise wieherte.
[S. 373] O, das Ganze war sicherlich höchst anständig und unschuldig, aber es war eine betrübliche Vorstellung, und dieses Hin- und Herschwenken der alten Jungfer hätte ein Ofenrohr zum Lachen bringen können.
„Und wo ist Berntsen?” fragte sie plötzlich. „Ist er fortgegangen? Was meinst du, Mama, warum auch nicht, ich bin jetzt zu allem aufgelegt. Er steht vielleicht noch drunten vor dem Hause, soll ich ihn wieder heraufholen?” —
Dieses Opfer wurde indes nicht von Fia verlangt, sie hätte sich dieses großmütige Anerbieten sparen können, das Schicksal richtete es so ein, daß sie ihr bisheriges Leben fortsetzen konnte, ihr sittsames, mit viel Schönem geschmücktes Leben, genau wie vorher, warum hätte sie es da ändern sollen?
In der Stadt traf nämlich ein Mann ein, der brachte alle Geschäftsangelegenheiten in Ordnung, rettete die Firma, setzte die Familienglieder wieder auf ihren rechten Platz, stillte die Krämpfe der Stadt. —
Scheldrup Johnsen kam heim.
Brachte er alle Geschäftsangelegenheiten in Ordnung? Einige brachte er in Unordnung. Ach, das konnte nicht vermieden werden. Die Menschen puffen sich gegenseitig aus dem Wege und schreiten übereinander weg, einige fallen zu Boden und dienen andern als Brücke, einige gehen unter, das sind die, die die wenigsten Püffe aushalten können, und sie gehen unter. Aber die andern blühen und gedeihen. So ist die Unsterblichkeit des Lebens beschaffen. Seht, all dies wußten die Weiber am Brunnen!
Als Scheldrup Johnsen von Neu-Orleans dahergereist kam, schien er nicht sehr weitherzig und sanftmütig aufgelegt zu sein. Dem Geschäftsführer Berntsen gab er zwar kein böses Wort, aber der Vater mußte ihm Rede stehen.
Der Konsul begriff nicht, warum er dafür büßen sollte, hatte man je so etwas gehört, sollte er obendrein noch Vorwürfe bekommen? Er hatte ja Berntsen ausdrücklich gebeten, die Versicherung nicht zu vergessen.
„Aber woran hattest du denn selbst zu denken?” versetzte Scheldrup.
Es verlohnte sich wahrlich nicht, sich mit einem so dummen Sohn auf Erörterungen einzulassen, mit einem so eigensinnigen, [S. 374] modernen Sohne, er kam aus einer andern Welt. Sterling, sagte er; Dollars, sagte er. Er durchstöberte die Bücher des Vaters, als ob es sich nur darum handelte, Fehler darin zu finden, er war nichts als Geschäft. Hatte der Konsul etwa nicht viel, woran er denken mußte, ragte er nicht in der Stadt empor wie ein Turm und war neben vielem andern noch Konsul von zwei Ländern, mußte er nicht seine Berichte zu rechter Zeit einreichen?
Aber jegliche Verteidigung war vergeblich, der Konsul wurde bei dem Zusammenstoß mit dem Sohne kleiner und immer kleiner, er ließ durchblicken, daß er das Geschäft verkaufen wolle. Er habe Fias Zukunft schon gesichert und die Villa verkauft, ihm selbst und seiner Frau könne es gehen, wie es wolle, er würde wohl einige Agenturen bekommen, eine Versicherungsagentur —
Da spielte ein breites Lächeln um Scheldrups Mund, und das sah der Vater. Er fühlte sich in seiner Würde gekränkt und wiederholte, er werde das Geschäft verkaufen, um alles zu bezahlen und ein ehrenhafter Mann zu sein.
Scheldrup erwiderte: „Wir bezahlen nicht.”
„Doch,” sagte der Vater und ging noch weiter in der Selbstaufgabe. „Und ich gebe auch meine Konsulate auf, das steht fest.”
„Keine Spur!” versetzte Scheldrup bestimmt. „Wir haben nicht so sehr viele wertvolle Aktiva,” sagte er. Im übrigen habe er jetzt die Bücher durchgegangen, sie seien da und dort etwas oberflächlich geführt, und das sei ein Fehler; Zahlen seien nichts Ungefähres, Zahlen seien etwas Ernstes, etwas Strenges. „Treibe keinen Scherz mit Zahlen! Aber die Lage ist nicht einmal so schlecht, Vater; das wär' noch schöner, wenn wir den Kopf verlieren würden. Laß die herumreisenden Herren aus Christiania und Hamburg und Göteborg und Havre nur künftig zu mir kommen!” sagte er.
„Was sagst du da?”
„Aber unter einer Bedingung: daß du dich ausruhst, Vater.”
Endlich brachen sich nun also seine kindlichen Gefühle Bahn; der Vater brauchte Ruhe, das verstand er. Und der Vater hatte durchaus nichts dagegen, sich auszuruhen, er hatte allzuvielem vorstehen müssen, sein Haar war gelichtet, [S. 375] seine Augen ohne Glanz, seine Tage ohne Frieden, die Nächte ohne Freude. „Aber ich kann doch nicht die ganze Zeit über gar nichts tun,” sagte er.
Doch Scheldrup verkündigte: „Ich will die Führung haben, du sollst ausruhen.”
Gleich zu Anfang ging Scheldrup mit den Menschen und den Dingen recht rücksichtslos um; er kündigte Oliver Andersen im Lagerhaus, er zog die jährliche Unterstützung und den jährlichen Anzug für den Philologen Frank, Olivers Sohn, ein, er verabschiedete den alten ererbten Holzhacker, der um Ehre und silberne Löffelprämien schon in Frau Johnsens Kinderheimat gedient hatte, und er hob auch eine gewisse Verbindung mit Henriksens auf der Werft auf.
Wieder standen die Leute in Haufen vor den Häusern und teilten sich gegenseitig ihre Ansichten über diesen Zustand mit: darüber konnte kein Zweifel herrschen, der Konsul war gestürzt, und Scheldrup hatte die Leitung des ganzen Geschäfts übernommen, das sah man an den Wirkungen ringsum, jawohl, an guten und bösen Wirkungen, und alle wurden am Brunnen erörtert.
O, wie die Plappermühlen liefen! Frau Konsul Johnsen hatte sich jetzt einen ganz kleinen Hut angeschafft. Früher trug sie immer einen großen Hut mit einem weißen Rand, der auf und ab wogte, wenn sie ging, fast wie wenn er Scharniere hätte. Aber jetzt hatte sie einen Hut, der einigermaßen dem ähnlich war, den die kleine Frau Konsul Davidsen trug und der nicht viel kostete. Da hatte wohl Scheldrup eingegriffen, wo griff der nicht ein? Die geheimnisvolle Sache auf der Werft brachte er auch in Ordnung. Seht, es war da wohl eine kleine Übereinkunft, die die verstorbene Frau Henriksen und der Konsul seinerzeit, vor sehr langer Zeit miteinander getroffen hatten, damals, als Frau Henriksen noch frisch und lebendig auf der Erde wandelte und nur ganz wenig über dreißig Jahre alt war. Ja, so war es wohl. Aber jetzt stand die Werft still. Dies war das schlimmste von allen Vorkommnissen, die Werft stand still, Kaspar und alle die andern Arbeiter da draußen waren nun arbeitslos und hatten nichts anderes zu tun, als ihre Frauen voreinander zu hüten.
Scheldrup griff ein. Als die von den Gläubigern geschickten fremden Abgesandten kamen, wurden sie in sein [S. 376] Kontor gewiesen, wo er ganz allein saß; die Herren von Göteborg und Havre blieben nicht lange bei ihm, er brachte die Sache mit ihnen in Ordnung, komplimentierte sie zur Tür hinaus und setzte sich wieder. Was hatte er gesagt, um sie zufrieden zu stellen? O, nicht, was er sagte, sondern was er tat, machte den Herren einen unvergeßlichen Eindruck: er schrieb ihnen Wechsel für ihre Forderungen. Bitte — ein Wunder nach dem andern! Das Dampfschiff Fia war im Geschäft wohl mit zweihunderttausend Kronen gebucht; wo nahm nun der Herr Scheldrup diese Million her, um den Verlust des Schiffes auszugleichen? Er mußte da draußen in der großen Welt ganz verteufelte Verbindungen haben!
Und Scheldrup griff weiter ein. Es kam an den Tag, daß der gute Scheldrup gar nicht nur allein Geschäft war — wieso denn? Sein Herz konnte wahrhaftig mit ihm durchgehen! Eines Tages wanderte er um die Mittagszeit zu Grütze-Olsens, um seinen Antrittsbesuch zu machen, und dann ging er von dort weg — als Bräutigam. Hatte er da nicht eingegriffen? Es geschah so selbstverständlich, weder Scheldrup noch Fräulein Olsen sahen nach rechts oder links, sondern machten die Sache auf der Stelle ab. Die Dame bat nicht einmal darum, nobel behandelt zu werden, das Ganze war der Schlußstein einer Kinderliebe, beide erreichten, was sie wollten, beiden war es Bedürfnis. Es war gerade in den Tagen, wo Rechtsanwalt Fredriksen seine arbeitsvollen Wahlversammlungen hielt, da hatte er keine Gelegenheit, sich auf andern Schlachtfeldern einzufinden, um eine endgültige Auseinandersetzung zu verhindern, nun mochte es gehen, wie es wollte! Jawohl, gewählt wurde er ja — an der einen Stelle. Aber er wurde an einer andern verworfen. Wohl noch niemals hatte sich Rechtsanwalt Fredriksens so verrechnet: die wichtigste Wahl schlug fehl. Eine politische Niederlage hätte er ertragen können — bis zum nächsten Mal; aber Fräulein Olsens Entscheidung war ein Verlust für sein ganzes Leben. Nachher half alles nichts mehr, nicht nach ihrem Arme greifen, nicht mit einer Donnerstimme reden! Was hätte da noch helfen können?
Eine Zeitlang war er sehr schweigsam, wohl eine Woche lang. O, Rechtsanwalt Fredriksen war keineswegs verloren, [S. 377] seine Lebensfähigkeit war außerordentlich groß, er wollte vorwärts; aus dem Wege da! Er strebte nicht nach der großen Gewalt, er strebte nach der Hoheit und der Ehre eines Politikers im Landtag, er strebte nach Vermögen, nach Kleinstadtreichtum, dazu war er geschaffen. Und sollte er solche bescheidene Ziele nicht erreichen? Er ist ja schon viel, ist der Wortführer seiner Stadt, ist Landtagsabgeordneter, der Vorsitzende einer endlosen Kommission, in einiger Zeit ist er Justizminister! Was für ein Lebenslauf! Wer hätte so groß von ihm gedacht noch vor einigen Jahren, wo er abgeschabt und arbeitslos war, wo er sich keine Zigarren halten konnte, ja, wo er sich schließlich sogar beim Barbier Holte auf Kredit rasieren lassen mußte. „Ich hab' vergessen, Kleingeld mitzunehmen, schreiben Sie's auf — bis zum nächsten Mal!”
Fräulein Olsen hat ihm einen niederträchtigen Streich gespielt, aber er kann ihn überwinden. Rechtsanwalt Fredriksen wird so etwas immer überwinden, er wird sich noch an weiteren Kommissionen beteiligen, er wird eine reiche Frau bekommen, er wird von jetzt an den Barbier Holte jedesmal gleich bezahlen. Als Justizminister wird er in seinem Bureau das tun, was getan werden muß, mehr wird nicht erwartet. Einer seiner früheren Gefährten von den Bänken des Landtags wird ihn dies und jenes fragen, auf die eine oder andere administrative Aufgabe hinweisen, jawohl, der Justizminister verspricht, seine Aufmerksamkeit auf diese Sache zu richten, und der Abgeordnete dankt ihm dafür.
O, der Justizminister ist ein tüchtiger Mann, er wird seine Aufmerksamkeit immer auf etwas gerichtet haben, das fehlt nicht, er ist ein Mann, der vorwärts treibt, ist ein Führer, auf seinem Bureau werden große und kleine Geschäfte erledigt. Wer etwa fürchtet, Staatsrat Fredriksen werde etwas Ungewöhnliches tun, der kennt ihn nicht, er wird genau das tun, was notwendig ist, dazu ist er geschaffen. Er ist eines der Räder in der Maschine des Staates geworden, wenn die andern Räder sich im Kreise drehen, dreht er sich mit. Er ist auf schwache Auswechslung eingesetzt, er soll sich nicht schnell im Kreise drehen, er soll nur nicht stehen bleiben.
Er wird vermißt werden, wenn er stirbt.
Wieder ist Oliver in einer tüchtigen Patsche: seine Stellung im Lagerhause ist ihm aufgekündigt worden. Er geht zwar noch hin und versieht seinen Tagesdienst, aber wenn die Frist abgelaufen ist, sitzt er auf dem Trockenen. Das war doch zum Exempel das letzte, was man geglaubt hätte! Oliver ist tief geknickt.
Er geht zu Abel und redet mit ihm. Zu wem sonst sollte er auch gehen? Der Philologe Frank war ein gewaltiger Sprachkundiger, ein Lehrer der Menschen, aber die große Unterstützung, auf die der Vater wartete, hatte er noch nicht nach Hause geschickt, dagegen hieß es, er sei mit Konstanze Henriksen von der Werft fest verlobt. Ja, was half das Oliver!
Abel herrschte jetzt in der Schmiede, die ihm Meister Carlsen gegen einen angemessenen Mietzins überlassen hatte. Er hatte den herrlichen Dampfhammer, der mit Paraffin getrieben wurde, angeschafft, der schlug großartig und war so gut wie ein Schmiedknecht. Abel hatte viel zu tun und verdiente reichlich. Abel war kein Genußmensch, der all sein Geld durch die Gurgel jagte, er gebrauchte sein Geld zu allen möglichen Einrichtungsgegenständen, schaffte Bettwäsche und eine Kommode an, ging auch zum Goldschmied Evensen und kaufte zwölf Gramm Gold. Was kaufte er? Gold. Und dennoch hatte Abel zuweilen ein Zweikronenstück für seinen Vater übrig.
Seht, Oliver machte ja nicht den geringsten Unterschied zwischen seinen Kindern: wenn er in der Patsche saß, ging er also nicht zu dem abwesenden Frank, sondern zu Abel, den er jeden Morgen in seiner Schmiede finden konnte. Und heute handelt es sich um mehr, als nur um ein Zweikronenstück. Oliver setzt auseinander, Scheldrup Johnsen [S. 379] habe einem Krüppel aufgekündigt, es handle sich um seinen Lebensunterhalt, was er denn tun solle?
„Ja,” sagte Abel und überlegte, „ich weiß keinen andern Ausweg, als daß ich heirate.”
Das war eine verfluchte Sache, und der Vater mußte unverkennbar ein wenig nach Luft schnappen. „Was meinst du?” fragte er.
„Ich hab' jetzt alles fertig und will nicht länger auf sie warten,” ließ Abel verlauten. „Ich will die Sache abgemacht haben.”
Oliver wußte nicht, wo sein Sohn in diesem Augenblick hinauswollte, aber er verstand sich anzupassen; sofort ließ er seine eigene Sache fahren und hörte mit Teilnahme der seines Sohnes zu. „Wozu solltest du auch noch länger auf sie warten,” sagte er.
„So, meinst du?”
„Ob ich das meine! Was ist sie denn und was bist du ! Sie ist so viel, als ob du eine Feder oder auch nur ein Flaumflöckchen auf der Gasse fändest und nicht mehr.”
„Willst du den Ring sehen?” fragte Abel. Er holte ihn aus einer Schublade in der Bank am Fenster herbei. Es war ein sehr schöner Ring, dick und glänzend, schwer in der Hand, Gold. „Eben bin ich damit fertig geworden,” sagte er.
Oliver blieb stumm und ungläubig, aber er zuckte mit keiner Wimper. Schließlich fragte er: „Was hat Evensen für den Ring verlangt?”
„Evensen? Ich hab' den Ring selbst gemacht.” Und Abel zeigte die Form vor, in der er ihn gegossen, zeigte die Feilspäne, die er abgefeilt hatte, und die Feilen, die golden geworden waren. „Hier siehst du auch das Schmirgelpapier, mit dem ich ihn geputzt hab',” sagte er, „und hier sind die verschiedenen Feilen, grobe und feine, zuletzt hab' ich noch mit sämisch Leder nachgerieben.”
Das Ganze war wohl die reine Wahrheit, Oliver schüttelte den Kopf und sagte: „Gott bewahre mich, Abel, das ist ja nett, wie du alles fertigbringst, was du angreifst.”
Und Abel war stolz auf das Lob des Vaters, sagte aber: „Jetzt kommt es darauf an, ob sie ihn haben will.”
„Haben will!” rief Oliver. „Wenn das Menschenkind ihn nicht haben will, dann schick' sie nur zu mir! Schick' [S. 380] sie mir nur! Einen Ring wie diesen nicht haben wollen! Fühl doch nur, er ist doppelt so schwer als der, den ich deiner Mutter im Ausland gekauft hab'. Mach doch keine schlechten Witze!”
Von des Vaters Lebensunterhalt war keine Rede mehr, aber der Besuch in der Schmiede hatte den armen Kerl doch aufgemuntert. Dazu gehörte nicht viel, schon allein, daß Abel der bevorstehenden Not gegenüber nicht den Mut verlor, war ihm ein Trost und eine Stütze. Abel den Mut verlieren? Nein.
Er zieht das Taschentuch heraus, dessen Zipfel dem Vater aus der Brusttasche hervorschaut, Abel will es geschwind benützen, es ist ihm ein Rußkörnchen ins Auge geflogen. Und als Oliver das Taschentuch zurückbekommt, fühlt er, daß es um ein Zweikronenstück schwerer geworden ist.
Dann geht er, Oliver geht. Merkwürdig, wie aufgekratzt er jetzt ist, der Besuch in der Schmiede hat ihm gut getan, er hat wieder Geld in der Tasche, morgen ist Sonntag, es gibt gewiß ein Wetter zum Hinausrudern — ach, die Sache mit der Zukunft wird sich schon machen! Als er um Mittag nach Hause geht, bringt er den Kindern etwas Gutes mit, und nachmittags rudert er hinaus.
Es wird Nacht, und er kommt nicht nach Hause, der nächste Tag erscheint, aber kein Oliver läßt sich sehen; daran ist man schon gewöhnt, er läßt das Boot treiben, er fischt, was er zum Essen braucht, legt an, kocht, ißt und schläft. O, es gibt nichts, gar nichts, was diesem wundervollen Müßiggang und dieser Trägheit gleichkäme!
Das erste Morgengrauen über dem Meer und den Inseln hat eine wunderbare Stimmung, wie die Einsamkeit der Ewigkeit möchte man sagen; weit drinnen im Festland stehen einige kahle Telegraphenstangen, das Glockenläuten aus einem naheliegenden Dorfe dringt zu ihm heraus, das stimmt ihn weich, macht ihn still und ruhig. Das Morgengrauen verführt nicht zu irgendwelchen Unsitten, zu Flüchen und Gotteslästerungen, nein, nein, die Erde zum Exempel ist ein schöner Ort, und nachdem er gegessen hat, was gestern abend von den Fischen übriggeblieben ist, fühlt er sich satt und zufrieden und sagt: „Gott sei Lob und Dank für das gute Essen!” Das ist mehr, als heutzutage die meisten Menschen tun.
[S. 381] Nicht jedes Morgengrauen ist dem andern gleich, es gibt auch Sonntagmorgen mit Andacht und Kirchenglocken, in der Luft saust und braust es, das Meer liegt zu seinen Füßen, das ist seine Heimat, seine Wiege, die Dünungen kommen auf ihn zu, wogen auf und ab, werden zu Schaum und zu Nichts in der Ferne. Alles ist wunderschön. Denkt doch nur, einmal in seiner Jugend nahm er ein Los, als eine Tischdecke verlost wurde, und gewann sie. Später hat er auf dem Meer ein vollgetakeltes Schiff geborgen. Das alles hat Oliver Andersen getan.
Er hat wieder geschlafen, es ist herrlich, so zu essen und zu schlafen. Die Sonne steht noch am Himmel, jetzt ist gerade die richtige Zeit und Stunde, jetzt will er endlich einmal ernst machen und zu dem Vogelberg hinausrudern; dieser liegt weit draußen, wo die Dampfschiffe in die Bucht hereinfahren. Heute soll es geschehen, gewiß sind auf den schmalen Abstufungen des Berges Eiderdaunen zu finden. „Ach Gott, ja!” seufzt Oliver und rudert los. Seine Frömmigkeit ist vielleicht ein wenig berechnend, wie die menschliche Frömmigkeit überhaupt, er kann jedenfalls seine Interessen nicht hintansetzen. Er weiß, daß das Küstenschiff in der Stadt gewesen und wieder abgefahren ist, es kann ihm also niemand begegnen, er ist allein auf seiner Fahrt, ohne Zeugen. Was könnten ihm übrigens Zeugen schaden? Oliver ist beim Fischfang, dazu ist er berechtigt.
Ach, jetzt wie immer in den letzten zwanzig Jahren ist etwas Nichtungesetzliches in Olivers Leben, etwas auf der Grenze, zuweilen auch ein wenig darüber hinaus.
Heute stiehlt er seine Eiderdaunen nicht mit derselben Vorsicht und Tüchtigkeit wie sonst, er kann eben nicht an der teueren Ware vorbeifahren, ohne sie mitzunehmen, sondern er grapst, er füllt seinen Sack mit allem, was er erwischt, ungereinigt. Es geschieht etwas anderes, das ihn stärker in Anspruch nimmt. Oliver hat den Sinn fürs Abenteuerliche noch nicht verloren, und das Abenteuer bleibt ihm treu. Zu welchem Zweck ist er jetzt herausgefahren?
Hier liegen keine Vögel im Nest, hier sind keine Eier, die Jungen sind flügge, Oliver hat die beste Gelegenheit, hineinzulangen. Er untersucht das unterste Nest, gräbt [S. 382] tief hinein und findet Papier; also Papier, Briefe, was kann das sein? Post, Umschläge mit Briefmarken darauf, das ist doch sonderbar! Er schiebt die Daunenlage zur Seite und sammelt die Briefe zusammen, es sind Geldbriefe, aufgerissene Umschläge mit Siegeln darauf, eingeschriebene Briefe, die nicht einmal geöffnet sind, er liest einige der Anschriften und kennt die Eigentümer, Leute aus der Stadt und den umliegenden Orten; er kommt auf den Gedanken, einen der eingeschriebenen Briefe zu öffnen und findet Geld darin, er macht noch mehrere auf und findet Geldscheine —
Das Abenteuer.
Oliver braucht den ganzen Nachmittag dazu, den Vogelberg ordentlich abzusuchen, er ist habsüchtig geworden, er untersucht ein Nest ums andere, das ihm erreichbar ist, findet in dem einen und dem andern, was er sucht, und türmt alles auf einen Haufen, er wird reicher und immer reicher. In der Dämmerung rudert er mit seiner Beute vom Vogelberg weg, rudert wie mit Dampf, niemand begegnet ihm, er hat keine Zeugen. Wieder legt er an der Insel an, auf der er die letzte Nacht zugebracht hat.
Von heute an bis zu seinem Tode wird sein Herz beben bei der Erinnerung an dieses Erlebnis. Zu Anfang irrte er sich und nahm an, die Briefe stammten von einem Schiffbruch her. Dann erinnerte er sich daran, daß in der Zeitung zuweilen etwas gestanden hatte von ungetreuen Postbeamten, die das Geld aus den Wertbriefen stehlen und die Briefe ins Meer werfen sollten. O, aber Olivers Kopf hatte Übung darin, sich zweideutige Sachen zurechtzulegen, er merkte bald den wahren Zusammenhang: dies war der Rest einer gewissen geraubten Wertpost. Weder er noch andere hatten das große Ereignis vergessen, die Postmeistersfamilie hatte alle Ursache, sich daran zu erinnern, Oliver selbst wußte noch etwas von einem Päckchen Geldscheine aus jener Zeit. Aber wer nun auch damals der Dieb gewesen sein mochte, ob Adolf mit der Schiffskiste, der sich Xander nannte, oder der zweite Steuermann, der Sohn des Postmeisters, oder wer sonst, als ein großer Esel stellte er sich jetzt heraus, als ein Pfuscher, ein trauriger Lehrbub. Hier hatte er eine günstige Gelegenheit ohnegleichen und nützte sie wie ein Tor, stand in der [S. 383] Finsternis an Bord, plünderte nur die dicksten Briefe und warf den Rest ins Meer! Er betrug sich wie ein Verschwender mit einer reichen Beute, er betrug sich wie einer, dem nichts heilig ist. Oliver konnte sich über sein Betragen förmlich ärgern. Da waren die stummen Tiere, die Eidervögel eher wie verständige, erfahrene Menschen, die bewahrten einen Schatz. O, die Eidervögel sind klug, sie stopfen sich ihr Nest aus mit allem, was sie finden, auch mit Wertbriefen —
Oliver empfindet keinen Hunger, keinen Schlaf, er bleibt nur bocksteif sitzen, bis der Tag graut, dann ordnet er seine Post vom Meere, eine von Gott und dem Himmel gesandte Post sehr sorgfältig, nimmt die Scheine heraus und steckt sie in seine Innentasche, sammelt die Briefe zusammen und verbrennt sie; dann verstreut er die Asche und verwischt jede Spur. Ihm selbst ist mit seinem Fischfang gut gedient, jawohl, aber manche Menschen können auch recht froh sein, daß die Briefe verbrannt sind.
Dann rudert er nach Hause, rudert wie mit Dampf. Es ist Montagmorgen. Oliver ist schlaff nach der großen Spannung und redet daheim nicht viel, aber er ist ungewöhnlich freundlich und zufrieden mit dem, was er zu essen bekommt, er hat ja Geld in der Tasche und kann der Mahlzeit nachher mit Süßigkeiten nachhelfen. Dann begibt er sich ins Lagerhaus.
Im Lauf des Tages schleicht er sich von Zeit zu Zeit hinter Säcke und Fässer und zählt seine Scheine, glättet sie und streicht die Eselsohren aus. Der eine und andere Kunde kommt, sie grüßen ihn teilnehmend, weil ihm aufgekündigt worden ist, sie beklagen ihn, aber Oliver erwidert: „Gott wird für mich wohl auch einen Rat wissen.”
In seinem Innern bläht er sich auf. Jetzt steht er wieder in seinem Lagerhaus mit Geld in der Innentasche und wird mehr und mehr ein Mann; er hat zwar sehr vertragene Kleider, aber sein Charakter weitet sich, sein Wesen wird fester, er macht eine innere Erhebung durch. Oliver ist nun auf der Höhe, steht auf der Zinne, nur sich selbst sichtbar, das geht in Hochmut über, es schwillt ihm, offen gesagt, der Kamm. Nicht als ob er ins Hotel gehen wollte, als reicher Engländer auftreten und Pferde und Wagen zu Ausflügen in die Umgegend verlangen — [S. 384] keine Übertreibung. Als er zu Mittag nach Hause ging, kam ihn die Grille an, in ein paar Läden zu treten und alte Schulden zu bezahlen, aber mit einem letzten Funken von Verstand entschloß er sich beizeiten wieder anders. Herrgott, sein Reichtum war doch nicht so überwältigend! Er konnte sich keine Leibrente dafür kaufen, nein, aber er war doch ungefähr groß genug, daß der arme Tropf Mut bekam und aufzumucken wagte; er stieß die Krücke auf den Boden und sagte zu sich selbst: „Ich lass' mich nicht aus dem Lagerhaus hinauswerfen, ich geh' zum Konsul.”
Nun kaufte er zuerst einmal verschiedene Leckereien und nahm sie mit nach Hause, o, bisher unbekannte Herrlichkeiten in Dosen und Silberpapier; von diesem Augenblick an waren kandierte Früchte der Familie Oliver nicht mehr nur etwas Märchenhaftes, ein Hirngespinst. Die Folge war auch, daß er die Seinen, die nicht in der Welt draußen gewesen waren, in Erstaunen setzte, ja, Petra spottete über ihn und sagte, er müsse auf seinem letzten Fischfang einen Schatz gefunden haben. Oliver tat noch größere Wunder: diesmal war er nicht so vorsichtig wie in seiner ersten Zeit des Reichtums, er kaufte verschiedene Kleidungsstücke für alle im Hause, schaffte auch sich selbst einen vollständigen Anzug an und außerdem noch einen Schlips mit silbernen Tupfen. Es war zwar vielleicht ein Damenschlips, aber an einem andern Hals als an seinem eigenen konnte er sich diesen Schlips nicht denken. Später am Tage ging er zum Goldschmied Evensen, der auch Gesangbücher, Brillen und Musikinstrumente feil hatte, und da kaufte er ein glänzendes Messinghorn, als einen Schmuck für die Wand. Und er sagte zu Petra: „Daß du mir das Horn glänzend hältst!”
So hatte er also ordentlich groß getan und tüchtig eingekauft, jetzt kam wieder der Konsul an die Reihe. Oliver tat zum voraus groß damit, daß er zu ihm gehen werde: er habe ein Wörtchen mit dem Manne zu reden, dem großen Herrn, er solle ihn kennen lernen, er wolle ihm sagen, wer er sei. —
Indessen aber schob er Tag und Stunde immer wieder hinaus, er schien sich etwas zu überlegen und nicht mit sich einig zu werden. Mittlerweile bekam er dann auch einen Brief, der war von dem Rechtsanwalt, dem Staatsrat [S. 385] Fredriksen; dieser schrieb, er sei nun Staatsrat geworden und wolle alle seine Verhältnisse in der Heimat ins reine bringen. Oliver müsse darum jetzt die verfallene Schuld bezahlen oder das Haus verlassen, in dem er wohne.
Nun überlegte Oliver nicht länger, er wartete nur noch ab, bis das Lagerhaus geschlossen wurde, dann ging er zum Doktor.
Im Doktorzimmer herrschte dieselbe Ärmlichkeit und Unwissenschaftlichkeit wie früher, kein Skelett, kein Mikroskop war da, aber ein halbfertiges Bild von dem Doktor selbst hing an der Wand. Vor einigen Jahren war er einem Malerjüngling Modell gesessen, einem Windbeutel, der ein Bildnis des „Arztes” hatte malen wollen, das war eine Zerstreuung in dem armseligen Leben des Doktors gewesen, und er hatte es wahrhaftig auch als eine Art von Ehre empfunden. Aber eines Tages hatte sich der Maler eingebildet, er könne die Arbeit nur so unterbrechen und in ein Nachbarhaus gehen, um das Dannebrogkreuz auf einen Rock zu malen; doch davon wollte der Doktor nichts wissen, nein, das ging nicht, danke, man war kein Narr, man war nicht der erste beste. Der Doktor sagte: „Nehmen Sie Ihr Bild und gehen Sie damit!” — „Verbrennen Sie es!” sagte der Maler. — „Sie können Ihren Kitsch selbst verbrennen,” erwiderte der Doktor. „Ich bin nicht Ihre Scheuerfrau.” — Darüber war nun der Malerjüngling hitzig geworden und hatte gesagt: „Das ist kein Kitsch, das Bild ist ähnlich, es ist halbfertig, es ist ein ganz genaues Bild von Ihnen.” Zuerst stand das Bild in einem Winkel auf dem Kopf, aber später änderte der Doktor wohl seine Ansicht darüber, so jämmerlich war er nicht, daß er die Spitze in den Worten des Malers nicht gemerkt hätte; es konnte etwas dran sein, sie konnten ein Körnchen Wahrheit enthalten. Er gehörte einer Generation an, die außer an der Wissenschaft an allem zweifelte. Er bekannte sich zu der Gesetzmäßigkeit der Natur, auch zu der Lehre von den braunen Augen, aber seine Generation war nicht feige, sie sah der Leere und Trostlosigkeit des Lebens in die Augen, ohne zu zucken. Der Doktor hielt sich entschieden selbst für gelehrt, für einen Übermenschen in einer Kleinstadt, einen Ankläger und Richter, aber er konnte in guten Augenblicken doch auch [S. 386] größere Wesen der Gegenwart, als er selbst war, gelten lassen: einen Engländer, einen Franzosen, einige Deutsche, einen Holländer, o, der Doktor war durchaus nicht dumm, er konnte soweit immerhin zugeben, daß er noch etwas unfertig sei, und so konnte er auch ein halbfertiges Bild von sich an die Wand hängen. Das war eine Tat, die an Größe grenzte.
Was Oliver bei ihm wolle?
Untersucht werden.
Was er denn untersucht haben wolle?
Die Hüfte und da herum. Der Schaden, den er erlitten habe, solle festgestellt werden, und er wolle ein Zeugnis darüber haben.
Warum denn? Nein, der Doktor wollte nicht. Oliver hätte damals wollen sollen, als der Doktor wollte, nun sei es Unsinn. „Geh' nur wieder heim!”
Oliver war sehr verwundert. Was bedeutete denn das, konnte der Doktor jetzt seine Hüfte entbehren? Er erklärte, er und seine Familie seien in eine arge Klemme geraten, und ein schriftliches Zeugnis von dem Doktor könnte ihnen von Nutzen sein.
„Nein, geh' nur wieder nach Hause!”
Oliver fährt mit der Hand in seine Innentasche und sagt, daß er das Zeugnis bezahlen wolle, er wird der flotte Seemann und sagt, er wolle gerne hundert Kronen dafür geben.
„Hast du hundert Kronen?” fragt der Doktor.
„Jawohl, die hab' ich!”
Aber bei seiner letzten Frage wird der Doktor über seine eigenen Worte ein wenig rot. Woran dachte er? Erinnerte er sich an ein gewisses Versprechen, das er seiner Frau gegeben hatte wegen eines Brillantrings, ein Jugendgelübde, das immer noch nicht eingelöst war? Diese leichte Röte legte sich gar fein über sein Gesicht und verschönte es. Während er die Brille aufsetzt, fragt er: „Also eine Trantonne ist dir damals in die Arme geflogen und hat dir das Bein zerschmettert?”
Oliver ist seiner alten Schwindeleien wegen ein wenig in der Klemme: „Es war eigentlich keine Trantonne, sondern ein Luvbaum, auf den ich rittlings fiel und zerquetscht wurde. Nachher bin ich operiert worden.”
[S. 387] „Zieh dich aus!”
Oliver zieht sich aus, der Doktor betastet ihn, kneift ihn und sagt: „Was willst du eigentlich von mir wissen? Daß du nicht Vater bist? Das weißt du doch selbst.” Und er kann es nicht lassen, etwas überlegen und unfehlbar zu tun. „Das ist mir übrigens niemals verborgen gewesen,” fügt er hinzu.
Oliver nimmt die Gelegenheit wahr und bittet den Herrn Doktor, ihm das schriftlich zu geben.
„Warum denn?” Nein, der Doktor wollte wieder nicht. „Wie viele Kinder hat deine Frau?”
„Wir haben fünf Kinder — sie hat fünf.”
„Mein Zeugnis würde jetzt zu spät kommen, die braunen Augen sind jetzt in der Stadt verglommen. Zieh dich wieder an!”
„Ich will es nicht der braunen Augen wegen haben, keineswegs. Wir haben zwei Kinder mit blauen Augen.”
Der Doktor, die alte kleinstädtische Klatschbase, spitzte die Ohren, aber er wollte nicht der sein, der fragte, im Gegenteil, er sagte mit allen Anzeichen des Unwillens: „Verschone mich mit deinen Familienverhältnissen!” Wahrscheinlich konnte ihm Oliver auch hierin keine Neuigkeiten mitteilen, der Doktor hatte sicher vorher schon das eine und andere sagen hören und konnte es sich leisten, jetzt gleichgültig zu tun. Er schrieb eine Erklärung und las sie vor, Oliver nickte zum Zeichen des Einverständnisses und griff in seine Innentasche.
Der Doktor hielt ihm die Hand fest: „Du wirst es hoffentlich nicht wagen, mir eine Bezahlung für diese Arbeit anzubieten!”
„Nicht?” fragte Oliver verwirrt.
„Nein.”
Dann ging Oliver.
Er ging zu Scheldrup Johnsen und bat sich für einige Tage frei. — „Meinethalben gerne!” erwiderte Scheldrup Johnsen und ließ durchblicken, wie überflüssig Oliver im großen ganzen für das Lagerhaus sei. Oliver ging heim. Seiner Familie verkündete er, er habe im Sinn, eine Reise zu machen, und als die Familie vor Staunen die Hände zusammenschlug, blähte er sich auf und deutete an, welch eine unbedeutende Sache für ihn, der gewohnt sei, [S. 388] durch die ganze Welt zu fahren, eine Reise sei. „Ich will nur eine Spritztour nach Christiania machen zu einem gewissen Staatsrat,” sagte er. „Ich hab' hier ein Papier in der Tasche, das ich ihm gerne zeigen möchte.” O, welch dunkle Reden Oliver hielt, und wie er sich aufspielte! Er ging zu Abel und sagte: „Wenn du irgend etwas aus Christiania haben möchtest, Maschinen oder andere Dinge, so darfst du's nur sagen.” — „Nun ja,” erwiderte Abel, „wenn du mir einen eisernen Zollstab kaufen könntest. Hier ist keiner zu bekommen, und ich bin in der Schmiede aufgeschmissen.” — „Du sollst deinen Zollstab haben,” sagte Oliver mit Würde. „Von der besten Sorte,” sagte er. „Soviel kann ein Vater wohl für dich tun.”
Und Oliver reiste ab.
Einige Tage darauf kam er wieder zurück und war in strahlender Laune. Jawohl, denn er hatte bei seinem Plagegeist das erreicht, was er hatte erreichen wollen.
Er hatte sich auch nach seinem Sohne Frank umgesehen, das war selbstverständlich, Oliver machte keinen Unterschied zwischen seinen Kindern, er sah sich auch nach Frank um, aber das war vergebens gewesen, Frank war Lehrer irgendwo an einer großen Schule. Übrigens war er auf der Universität fertig, er konnte dort nichts mehr lernen. Außerdem konnte Oliver auch von Staatsrat Fredriksen Grüße bestellen; ei, ein prächtiger Mann, gesprächig und liebenswürdig wie immer; jetzt hatte er eine Quittung für das auf dem Hause stehende Geld geschrieben. Die Familie ist außer sich vor Freude. Oliver trägt einen neuen Strohhut schief auf dem Kopf: „Hat mich nur wenige Worte gekostet!” Die Familie ist voller Neugier, voller Fragen; Oliver bleibt stumm.
Oliver war ja auch früher schon in der einen und der andern Patsche gewesen; dabei hatte er eine eigene Art, vorzugehen, mit einem merkwürdig heimtückischen Blick, den er ganz langsam vom Boden aus aufschlug und mit einigen Worten begleitete, in denen für den andern eine geheime Gefahr lauerte. Es war da eine Verderbtheit in ihm, eine perverse Gemeinheit, der der Gegner weichen mußte. Er war auch diesmal seinem Gläubiger gegenüber weder grob geworden, noch hatte er das Messer gezückt. [S. 389] Was hatte er gesagt? Nicht viel. Abends im Bett befriedigte er die nicht mehr zu bändigende Neugier seiner Frau und gab seine Unterredung mit dem Staatsrat zum besten! O, dieses Ehepaar, dieser Oliver mit seiner Frau, die scheuten sich beide nicht, die Dinge beim Namen zu nennen, und zuweilen lobte ihn Petra einer guten Antwort wegen und sagte: „Ja, du bringst es fertig!” Dann blähte Oliver sich auf.
Was hatte er denn gesagt? Er hatte erklärt, er fände es nur in der Ordnung, wenn ihm der Herr Staatsrat in aller Stille die Schuld erließe, wenn ihm der Herr Staatsrat das Haus einfach schenkte, ihm und Petra und den Kindern —
„Den Kindern? Die sind doch erwachsen?” versetzte der Staatsrat.
„Nicht alle. Nicht die beiden mit den blauen Augen. Das eine davon ist noch recht klein.”
„So?”
„Sehr klein. Fast gar nichts zum Exempel. Und der Herr Staatsrat habe jetzt beim König und bei der Regierung soviel zu denken, da sollten der Herr Staatsrat mir eine Quittung für das Haus schreiben.”
„Quittung? Nein.”
Oliver legt ein Zeugnis vom Doktor vor, daß er ein maroder Mann sei. Der Staatsrat liest das Zeugnis, gibt es wieder zurück und kann nicht einsehen, was ihn das angehe. „Nein,” sagt auch Oliver. Der Herr Staatsrat habe an so vielerlei zu denken, deshalb sollte er das Haus in seiner Heimatstadt gänzlich aus seiner Erinnerung streichen und für alle Ewigkeit eine Quittung dafür schreiben.
„Nein. Warum denn?”
Oliver sieht ihn vom Boden herauf an und antwortet:
„Sonst bekämen der Herr Staatsrat noch mehr zu denken!”
So hatten sie miteinander geredet.
Dämmerte es dem Herrn Staatsrat Fredriksen, daß sein guter Name in Gefahr war? Kurz und gut, er sah ein, daß er nicht wohl wegen eines Hauses mit einem Krüppel und maroden Menschen in einem Geschäftsverhältnis stehen könne, was würde sein alter Wahlkreis, [S. 390] was würde seine Heimat dazu sagen? Und er schrieb die Quittung.
Eine Zeitlang sonnte sich nun Oliver in seinem Triumph und verbarg das Wohlbehagen nicht, das er dabei fühlte. Noch hatte er Geld, obgleich er auf seiner großen Reise viel davon verbraucht hatte, auch zu Kleidern für die Familie, für den Zollstab, eine Klarinette, für Süßigkeiten, alles miteinander, aber noch hatte er Geld, und sein Wesen war das eines Mannes, dessen Ehre wieder hergestellt ist. Nur eines hatte sich nicht geändert: seine Stellung im Lagerhaus war ihm noch immer gekündigt, und er mußte nun schon in allernächster Zeit dort weg. Hierin lag sein Unglück; nach kurzer Zeit würde das ein Ende mit ihm machen und ihm den Nacken beugen.
Eines Tages nahm sich Oliver eine recht freche und faule Arbeit vor: er ging mit seinem ärztlichen Zeugnis zum Konsul. Ja, zum Konsul selbst. Es war ja beim Staatsrat Fredriksen so glatt abgelaufen. Oliver mußte den Versuch wiederholen, es war allerdings das letzte, zu dem er sich selbst überreden konnte, aber wenn kein anderer Ausweg mehr da war — — Er hatte früher von sich selbst niemals so niedrig gedacht, er hätte den Konsul Johnsen mit Zudringlichkeiten solcher Art gerne verschont, hätte die lustigen braunen Augen davor schützen mögen, daß sie sich verschleiern müßten. Aber was sollte er tun? In kurzer Zeit war er brotlos, soviel Anteil konnte der Konsul noch an dem Wohl und Weh der Familie Oliver bezeugen, daß er auch ferner eine Stelle in seinem Lagerhaus für den Krüppel hatte. Alles. Er könnte dem Konsul als Schürze dienen, o, in seiner Ergebenheit für seinen flotten Chef war nichts verändert, er konnte ihm sein Recht abtreten, konnte sein Hund sein, konnte der Wächter seines Harems sein —
Oliver ging zum Konsul.
Das führte zu nichts. Nein, der Konsul und Doppelkonsul Johnsen war nicht mehr derselbe von früher, er ruhte aus, war abgelöst, der Sohn hatte ihm die Macht genommen, der alte Turm war gestürzt. Auch schon äußerlich war es dem Konsul anzumerken, daß er nichts mehr war, grau und fahl sah er aus und sein Rock geradezu nicht recht ausgebürstet. Hätte man es nicht besser gewußt, [S. 391] so hätte man glauben können, er allein von allen andern habe den Aufforderungen im Tageblatt Folge geleistet und sei fromm geworden. Natürlich war er dennoch Konsul für zwei Länder und schrieb seine Berichte an seine Regierungen, er hatte noch immer seine runde Leibesfülle — aber was sonst? Jetzt hieß es nur Scheldrup und Scheldrup, auf dem Wege zum Sohne ging man am Vater vorüber, ohne auch nur sein Anliegen zu nennen; ja, der Konsul hatte in der letzten Zeit sogar hören müssen, daß ihn die Leute wieder „Johnsen am Landungsplatz” nannten, schlecht und recht Johnsen am Landungsplatz. So waren die Menschen. „Wo ist die Mannschaft von der Fia geblieben?” fragten sie. Allerdings waren es Burschen, die persönlich wohl zehn Jahre fortgewesen waren, aber ihre Familien hatten jedenfalls die Heuer bis zu diesem Tag beim Reeder für sie abgehoben; jetzt aber waren sie ganz verschwunden, auf den Grund des Meeres versunken. Und wer trug schließlich die Schuld daran? O, Johnsen am Landungsplatz! Im Anfang versuchte es der Konsul, sich zu verteidigen, Erklärungen zu geben, aber hatte es überhaupt einen Nutzen, gegen solchen Unverstand anzukämpfen? Sie ließen ihn nicht einmal aussprechen, sie redeten drein, knurrten. Die Zeiten waren vorbei, wo man sich allein schon durch eine dicke goldene Kette auf der Weste als Herr aufspielen konnte.
Oliver hatte in Christiania Glück gehabt, hier am Ort ließ es ihn im Stich. Der Konsul hörte ihn an; er tat Oliver fast leid, als er sah, wie aufmerksam der Konsul zuhörte und wahrhaftig immer hilfloser dreinschaute. Oliver kam nicht einmal dazu, das ärztliche Zeugnis vorzuweisen. „Ich habe mich ja seither gegen dich und die Deinen nicht schlecht erwiesen,” sagte der Konsul. „Jetzt kann ich nichts mehr für dich tun, ich habe nichts mehr zu sagen, laß uns auf bessere Zeiten hoffen.”
O, für einen treuen Diener war es wirklich betrüblich, das mit anzuhören! Dann verfiel Oliver auf den Ausweg, zu dem Halunken selbst zu gehen, zu diesem Scheldrup, und ihm eine aufrichtige Faust zu zeigen. Ob das helfen würde? Ohne Zweifel. Man war nicht umsonst Oliver Andersen. Aber jetzt war die herrliche Innentasche allmählich recht mager geworden, und in demselben [S. 392] Maße hatten auch Mut und Seelenstärke abgenommen. Oliver ließ einen Tag um den andern vergehen, ohne etwas Entscheidendes zu unternehmen, und eines Abends sagte dann Scheldrup zu ihm: nun solle er den Schlüssel des Lagerhauses Berntsen abliefern.
Oliver sollte also am nächsten Morgen nicht mehr kommen, er war verabschiedet.
Das war nicht mehr, als er erwartet hatte, aber trotzdem fiel es jählings und lähmend über ihn herein, nun hatte er nicht einmal soviel Energie gehabt, beizeiten für etwas billigen Kaffee und Grütze zu sorgen, die Familie konnte also von jetzt an Hungerpfoten saugen.
Es vergeht einige Zeit, ein böser Monat, Oliver ist schlechter Laune und wird ungesellig, er spricht nur das Allernotwendigste daheim und treibt sich draußen zwischen den Häusern umher, jedenfalls wenn er einen ordentlichen Anzug an hat. Im Schoße der Familie ist kein Behagen mehr, die Kinder werden blaß, das Messinghorn hängt ungeputzt an der Wand, auch die Großmutter kann es nicht lassen, zu stöhnen und zu seufzen, sie hat nicht eine einzige Kaffeebohne mehr. Da schreit Oliver plötzlich: „Ja, von jetzt an kannst du Kaffee von der Unterstützungskasse bekommen!” — „Ach, ich bin jetzt so alt, wollte Gott, daß ich im Grabe läge!” erwidert die Großmutter.
Eines Morgens steht es besonders schlimm bei der Familie, und es gibt nicht einmal eine Tasse warmen Getränkes zum Frühstück. Petra kommt vom Brunnen zurück und ist vielleicht durch die andern Frauen ein wenig aufgekratzt, aber Oliver ist schweigsam. Er meinte wohl, jetzt müßte die Vorsehung eingreifen, aber die Vorsehung schien nur mit den Lilien auf dem Felde und mit allen den ungezählten Haupthaaren beschäftigt zu sein. Petra sagt, und es klingt, wie wenn es ihr von jemand Außenstehendem eingegeben würde: „Ich möchte wohl wissen, wie es wäre, wenn ich zu dem Scheldrup ginge und mit ihm redete?”
Darauf gibt Oliver keine Antwort. Seine Wangen sind magerer geworden, noch nie hat er einen so schlappen und unheimlich leblosen Ausdruck gehabt, er kümmert sich um nichts. Er geht aus, und als er um die Mittagszeit von draußen wieder hereinkommt, wirft er sich selbst mit [S. 393] samt der Krücke auf einen Stuhl und fragt höhnisch: „Bist du es nicht gewesen, die zum Scheldrup gehen wollte?”
Die arme Petra trifft dies ganz unvorbereitet, und sie antwortet nur: „Doch —”
„Aber du bist nicht gegangen?”
Sie gewinnt ihre Seelenruhe wieder und macht Einwendungen: Heute? Sie könne doch nicht stehenden Fußes hingehen, sie müsse sich erst etwas Wäsche waschen, sie sei unordentlich angezogen.
Als sie dann aber am nächsten Tag ordentlich angezogen und hergerichtet bereit war, da war sie auch wieder ein verflixt prächtiges Frauenzimmer, Oliver hätte nur ihren Mund sehen sollen, wie er gewölbt war und wie es um ihre Lippen spielte wie eine wahre Galoppade, Oliver hätte sie küssen können, aber er war leblos. Was hatte sie nun davon, daß sie hübsch war?
Ihr Besuch bei Scheldrup Johnsen führte zu nichts, sie kam zu einem Stein, einem Holzklotz, Scheldrup wies sie ab, er habe keine Verwendung für Oliver, er sei nicht in der Lage, ihn noch länger zu füttern — nun, reden wir nicht mehr darüber! O, Scheldrup hatte wohl eine gewisse ernste Backpfeife, die Petra ihm in seiner Jugend versetzt hatte, nicht vergessen; jetzt war er ein Bräutigam und ein kleinlicher Geselle, er glich seinem Vater, dem Konsul, ganz und gar nicht, der oftmals recht freigebig sein konnte.
Da blieb denn nichts anderes übrig; Oliver steigerte sich so weit in Wut hinein, daß er selbst zu Scheldrup ging. Ein verhängnisvoller Schritt, der für ihn bittere Widerwärtigkeiten im Gefolge haben sollte. Seine alte Art des Vorgehens, nämlich mit dunkeln, drohenden Worten und einem schielenden Blick von unten herauf, nützte ihm hier gar nichts, Scheldrup war ein moderner, entschiedener Mann mit gehärteten Gefühlen. Meinte man, dieser Herr fürchte sich vor einem Skandal, so täuschte man sich, das könnte höchstens sein, wenn er noch etwas dabei verdiente; in diesem Falle konnte er ganz ruhig sein, er hatte Fräulein Olsen, was auch geschehen mochte.
Oliver mußte den Kürzeren ziehen, er benahm sich verkehrt und verlor das Gleichgewicht, er schrie. „Still!” [S. 394] wehrte Scheldrup scharf ab. Oliver schleuderte sein wertvolles ärztliches Zeugnis auf den Tisch; nun ja, auch Scheldrup Johnsen nahm das Papier und las es, darauf fragte er: „Was soll das bedeuten?”
„Ich bin nicht Vater,” sagte Oliver.
Scheldrup fragte lachend: „Ja, was zum Henker geht das mich an?”
Dieser Handelsmann hatte kein Verständnis für das unerhörte Schicksal, dem er hier gegenüber stand, er hatte wohl auch nur einen oberflächlichen Eindruck von der Gemeinheit und der Schmach, die in den Worten des Krüppels zum Ausdruck kam; er lächelte noch immer. Oliver aber sank wie gewöhnlich zusammen und erbleichte; er sagte alles, was er nicht hätte sagen sollen, nannte seine fünf Kinder, wiederholte sich und redete von braunen Augen, o hübsche Augen, die braunen —
„Mach, daß du fortkommst!” sagte Scheldrup.
„Braune Augen —”
„Na, und was ist damit?”
Oliver hatte alle Haltung verloren, aber bei dieser harten Verständnislosigkeit flammte seine Anzüglichkeit noch einmal hell auf. „Ja, lachen Sie nur! Wer hat denn braune Augen hier in der Stadt —?”
„Ich!” unterbrach ihn Scheldrup, und dann lachte er nur noch mehr.
„Nein, nicht Sie, daß wissen Sie wohl. Was Sie haben, das ist einerlei. Aber was manche andere haben —”
„So, nun hör' einmal,” sagte Scheldrup, indem er aufstand, „es nützt dem Doktor auch diesmal nichts, nimm nur sein Papier wieder an dich und und geh! Jetzt ist es Ernst.”
Es vergingen nicht viele Tage, da verbreitete sich das Gerücht in der Stadt, daß Oliver nicht bloß ein Bein habe, sondern daß er auch noch auf ganz besondere Weise marode sei, daß er ein ärztliches Zeugnis habe, demnach seine Kinder nicht seine eigenen seien. Was blieb dann noch von ihm übrig? Das Gerücht erreichte auch Olivers eigene Ohren, und zwar durch den Schreiner Mattis.
Das auch noch, diese Schmach zu allem andern hin auch noch! Wie war das so still bewahrte Geheimnis enthüllt worden? Kann irgendein Geheimnis bewahrt werden? Durch die Wände sickert es heraus, die Pflastersteine reden davon, alles Stumme bekommt eine laute Stimme, ein junger Handelsmann wirft es vielleicht als einen guten Witz den Menschen lachend hin.
Der Schreiner Mattis grämt sich augenblicklich darüber, daß er einen unschuldigen Mann betreffs Maren Salts Kind im Verdacht gehabt hat, er ist sehr aufrichtig und sehr ungeschickt, er will sein Unrecht wieder gut machen und paßt deshalb Oliver auf der Straße ab, begrüßt ihn und streckt ihm die Hand hin. Es ist ein unglaubliches Zusammentreffen, das die beiden Männer einander gegenüberstellte.
„Ja,” sagt Mattis, „ich hab' dich nur einmal begrüßen wollen. Und daß du es entschuldigen sollst, wie ich gegen dich gewesen bin!” Er spricht so vorsichtig wie möglich und bringt es auch wirklich so weit, sich Oliver gegenüber, der keinen Unrat merkt, eine Weile vollkommen unverständlich zu machen. O, dieser Schreiner Mattis, da steht er, ein sonderbarer Kauz, ein komischer Prachtmensch, er sieht davon ab, daß Oliver ihm unrecht getan hat, ihn um zwei Türen betrogen, ihn um einen goldenen Ring, ja gewissermaßen um Petra selbst geprellt hat, er ist nur [S. 396] darauf versessen, sich zu entschuldigen, er habe keine Ruhe mehr gehabt, seit er gehört habe, wie Oliver sei —
„Wie ich sei?”
„Ja, daß du so marode und so operiert bist.”
Oliver starrt ihn an, und schließlich sagt er: „So, das weißt du?”
Oho, warum sollte Mattis es nicht wissen! Die Stadt redete davon, Maren Salt hatte es gestern vom Brunnen mit heimgebracht, und es wurde, mit Einzelheiten und Zusätzen ausgeschmückt, weiter verbreitet; es war nicht so besonders traurig, es war auch etwas komisch, ja urkomisch. Und dann die Petra, die ihre Kinder selber machte, das brachten nicht alle Frauenzimmer fertig, hihi!
Mattis geht nicht gerade scharf auf dieses ein, aber er bezeugt Mitleid mit dem Verstümmelten und läßt einige Worte darüber fallen, wie schwer das Leben ihn doch mitgenommen habe, ja, das sei sehr traurig. Oder ob am Ende alles rump und stump erlogen sei?
Oliver stand vor ihm mit gesenktem Kopf, er war im Augenblick ganz verwirrt und wußte wohl nicht recht, ob er seinen Fall leugnen oder eingestehen solle. Er gab nach, ließ alle Keckheit fallen und sagte: „Nein, es ist nicht gelogen.”
Bei dieser Antwort schien sich der Schreiner plötzlich erleichtert zu fühlen, ja, wie wenn vor ihm plötzlich ein Hindernis aus dem Wege geräumt worden wäre, was es nun auch immer sein mochte. Dachte er in diesem Augenblick an eine Sache, die ihn nur ganz allein anging? Dann sagte er zu Oliver: „Ja ja, du Armer, wenn du so unglücklich gewesen bist! Aber nun will ich dir etwas sagen: keiner von uns weiß, wie es ihm selbst noch gehen kann, wir stehen alle in der Hand des Schicksals. Denk' dir, bei uns hat das Kind eines Tages die Zündhölzer erwischt und damit die Hobelspäne in der Werkstatt angezündet! Es hätte selbst verbrennen können.”
Mattis schwatzt, er tröstet Oliver, sagt „du Armer” zu ihm und tut, was er kann. Und um von dem einen aufs andere zu kommen, fährt er fort, so solle er jetzt für Abel eine Bettlade machen. Dieser sei heute morgen bei ihm gewesen und habe sie bestellt; in vierzehn Tagen müsse er sie haben.
[S. 397] „Ach so,” sagt Oliver, „für Abel?”
Ja, für Abel. Er wolle sich verändern. Es sei höchst merkwürdig, wie schnell die Jugend jetzt heranwachse und ehe man sich's versehe, selbständig werde. Was man dazu sagen solle? Aber abgesehen davon, so seien die Menschen in höheren Jahren ebensogut in der Hand des Schicksals. So sprach Mattis, ja, er drosch die ganze Zeit leeres Stroh.
Als Oliver nichts erwidert, sagt Mattis gerade heraus: „Ich will mich jetzt auch verändern, mit Respekt zu vermelden.”
Oliver hat das Talent, seine eigenen Angelegenheiten loszulassen und auf die der andern zu hören, deshalb fragt er überrascht: „Du?”
„Ja, du magst wohl fragen! Aber jetzt ist es sicher,” der Schreiner nickt bekräftigend. „Maren will den Jungen nicht hergeben, und ich Esel hab' mich nun ein wenig an ihn gewöhnt; aber wenn ein Kind die Hobelspäne in der Werkstatt anzündet, dann verbrennt es, das wissen wir alle. Und da krabbelt er die ganze Zeit um mich herum, und am Sonntag nimmt er mich bei der Hand und sagt: „Ausgehen, ausgehen!” Er ist ein merkwürdiger kleiner Kerl. Es ist jedoch nicht so, daß ich ihn nicht entbehren könnte, aber Maren will ihn auch nicht hergeben.”
Wieder eine lange Litanei, schließlich fragt Oliver: „Dann nimmst du also die Maren?”
„Was soll ich tun?” versetzt der Schreiner. „Ja, es ist die Maren.”
Aber wie merkwürdig, als der Schreiner Mattis schließlich weitergeht, scheint es ihm gar nicht mehr so schrecklich vorzukommen, daß er die Maren zu heiraten gedenkt, es ist im Gegenteil, als eile es ihm, heimzukommen. Es ist ihm vielleicht eine Last abgenommen worden, ein Druck von seiner Seele, Gott weiß es. Hatte es vielleicht dem Schreiner über das Schlimmste hinweggeholfen, daß Oliver jedenfalls mit Maren und ihrem Jungen nichts zu tun hatte? Wer nun auch der Vater sein mochte, Oliver war es jedenfalls nicht.
Und dort wandert auch der Krüppel heimwärts. Natürlich gibt es niemand, der sich nicht von ihm zurückgezogen hätte, der sich nicht vor ihm versteckt hätte, er ist ja so [S. 398] verstümmelt, so merkwürdig zugerichtet, er ist den Menschen widerlich. Kann er erwarten, irgend jemand werde ihn gutwillig ansehen? Sein wabbeliges Fett ist furchtbar, sein Wesen abstoßend, seine Sprünge auf der Straße unerträglich. Selbst als Tier, als Vierfüßler ist er unvollkommen, und er ist nicht nur ein Krüppel, er ist ein ausgehöhlter Krüppel, ist leer. Einmal war er ein Mensch.
Da hinkt er daher. Sogar der Schreiner Mattis ist von ihm fortgegangen.
Da er den Weg am Doktor vorbei nimmt, hat er vielleicht diesen im Verdacht, sein Geheimnis verraten zu haben, und will Rechenschaft von ihm fordern. Kann Oliver noch von jemand Rechenschaft heischen? Das ist vorbei. Er sieht den Doktor am Fenster seines Sprechzimmers stehen und macht, daß er weiterkommt; vielleicht ist ihm auch klar geworden, daß er auf falscher Fährte ist. Er geht vorbei, die ganze Straße hinunter, der Doktor steht an seinem Fenster und folgt ihm mit den Augen. Oliver ist eine Erscheinung, ein Problem, der Doktor macht sich seine Gedanken über ihn und schätzt ihn auf seine eigene Weise ein. Dieser Hinkebein hat etwas durchgemacht, ein Wirbelsturm hat ihn erfaßt, der Blitz hat ihn getroffen, er ist vernichtet. Der Volkswitz hat ihn einmal die Qualle genannt, ein Spitzname, den seine eigene lustige Frau aufgebracht haben soll. Der Doktor fand diesen Spitznamen dumm. Die Qualle ist nicht vernichtet. Die Qualle, das ist wie eine Entleerung, ist Schleim, jawohl, sie ist ohne Umriß, ohne Haltung, jawohl. Aber es ist als Schleim ein farbenreiches Wunder, ein abenteuerliches Spiegelei. Was ist Oliver? Er hüpft auf dem Boden herum, er ist ein Kuriosum, ein Rebus. Was seinen Gliedern fehlt, kann jeder sehen, dort hinkt er dahin, er ist nicht einmal körperlich anwesend, nur ein Teil von ihm hinkt dort die Straße hinab; was ihm sonst noch fehlt, hat jetzt des Doktors Magd am Brunnen erfahren. Eines Tages wurde er von dem gemeinsamen Lebensinhalt der Menschen losgelöst, es geschah in Bausch und Bogen, mit einem Messerschnitt, von diesem Tag an hat er außerhalb der Menschheit gestanden, er verlor seine Wirklichkeit, er wurde eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Sind das zu starke Worte? Wieso — ist er nicht vernichtet? [S. 399] Bitte, untersucht ihn noch einmal, es ist eine ungewöhnliche Fehlerlosigkeit in seiner Leerheit, diese ist besonders vollkommen, das Unglück hat sie potenziert, hat den früheren Matrosen zu etwas gemacht, was nichts ist. Er ging unter, sein Untergang ist ein Meisterwerk, er ist unerhört gut bewerkstelligt und mit Absicht ausgeführt.
Wartet ein wenig! Da er lebt, ist er doch nicht ganz ausgelöscht, er ist ein Rest, der sich mit einem Stelzfuß und einer Krücke ausspreizt; man kann mit ihm eine Ruine bilden, einen hebräischen Buchstaben. Warum hat ihn der Tod verschont? Fragt die menschliche Vorsehung! Was war ihre Absicht dabei? Sollte dieser Mann nur ein mißglückter Versuch sein, ein Entwurf zur Vernichtung? Er ist ein Rest, dieser Rest hat Reste, kommt und holet sie, ein Bein ist ihm noch geblieben, er kann sprechen —
Einmal war er ein Mensch.
Es ist ihm noch soviel gelassen worden, daß er die ganze Zeit über den Mut hatte, das Leben weiterzuschleppen. Gut gemacht! Er hat Kunstgriffe gebraucht, um das zu leisten, er log, um den Schein zu retten, gab sich fälschlicherweise als Mann aus, trug lange Hosen. Um einen Mangel zu verbergen, erfand er die Prahlerei mit der Trantonne, er kleidete den Fall in eine erhabene Würde und nannte ihn Schicksal. Er hatte seine Ehre zu retten durch einen Betrug; wenn er dafür gelten wollte, daß er sei wie andere seien, daß er mit dem gleichen Maßstab zu messen sei wie sie, dann mußte der arme Tropf seinen eigenen Maßstab anlegen und sich selbst überreden, daran zu glauben. Vielleicht fand er dabei sein bescheidenes Glück, jedenfalls hatte er kein anderes. War es also lauter Kunst? Nichts als Kunst. Aber kein schlechtes Kunstwerk.
Jetzt ist alles an den Tag gekommen, das Kunstwerk ist als solches aufgedeckt, der Künstler entschleiert, die Magd des Doktors hat die unaussprechlichsten Dinge am Brunnen gehört. Petra sei vom Mond besucht worden und habe davon Kinder bekommen, hihi! Aber Oliver selbst sei der Hausherr gewesen; seit zwanzig Jahren habe er angesichts aller in einem Lagerhaus gestanden und habe den Menschen gespielt. Eine Behandlung, wie sie diesem Oliver zuteil geworden ist, hätte jeden andern dazu gebracht, [S. 400] in sich zu gehen, die Einsamkeit zu suchen, Gott zu suchen, wozu wären denn sonst die Züchtigungen da? — Aber Oliver? Nein. Das mußte Verstockung sein. Die Frau Doktor brachte den Klatsch vom Brunnen zu ihrem Manne hinein. Der Doktor sagte: „Das ist witzig, können die Menschen seinen Mangel an Gottergebenheit jetzt, wo er vernichtet ist, nicht begreifen? Hat er sich nicht mit Gott abgegeben? Sollte es ihn vielleicht nicht Anstrengung kosten, sich mit den Maßnahmen der höheren Macht einverstanden zu erklären?”
Da steht nun der Doktor und folgt dem Krüppel mit den Augen, er redet vor sich hin und findet wieder Worte für seine kecke Jugend, seine Lebensauffassung hat keine Veränderung erlitten: Ein Orientale in Fett und Unfruchtbarkeit. Aber war er das wenigstens? Er ist unbekannt in der Biologie, ein Tier mit hölzernen Gliedern. Was hat es übrigens geholfen, daß er so zugerichtet worden ist? Er wurde ja groß dadurch. Invalide, jawohl, aber Veteran. Die ganze Zeit hat er aufrecht dagestanden, auf seinem einen Bein, auf seinem Holzpfahl, und wurde nichts Geringeres als ein Säulenheiliger. Hoho! Diese Vorsehung der Menschen!
Dann verschwindet Oliver ganz oben an der Straße.
Oliver geht heim. Petra ist nichts Ungewöhnliches anzumerken, aber sie weiß gewiß alles. Da ihr Ton nicht anders ist als sonst, erwachen seine Lebensgeister aufs neue, er merkt, daß er hungrig und gut aufgelegt ist, er sieht ein Gericht auf dem Tisch stehen, das vielleicht nicht für ihn bestimmt ist, aber es spricht vieles zu seiner Entschuldigung, wenn er sich eilig darüber hermacht. Es ist kalte Grütze. Um Vorwürfen von Petras Seite vorzubeugen, erzählt er ohne alle Umschweife: „Nun will sich Mattis wirklich endlich verändern.”
Petra merkt seine List wohl und gibt nicht auf einmal nach, sie sagt: „Was, du ißt ja die ganze Grütze auf. Das muß ich sagen!”
Schweigen.
Im übrigen ist ja Olivers Neuigkeit sehr groß und merkwürdig, und Petra fragt: „Hast du den Mattis selbst gesprochen?”
„Ja.”
[S. 401] „Wen will er nehmen?”
Oliver schweigt eine Weile, dann antwortet er: „Wen er nehmen will?” und schweigt wieder.
„Na ja, das geht mich ja nichts an,” sagt Petra und kommt dann auf die Grütze zurück. „Jetzt ist die Schüssel leer, was sollen wir nun zu Abend essen?”
„Er will die Maren nehmen,” sagt Oliver jetzt.
Petra braucht eine Weile, bis sie es glauben, bis sie es fassen kann, sie wird ganz komisch eifersüchtig und lästert über Maren, spuckt über Maren aus: Ein Weib in Methusalems Alter, eine Magd mit einem Kind! O, es war ein Glück für Oliver, daß er mit dieser Neuigkeit heimkommen konnte, sie zog die Aufmerksamkeit der Frau von allem andern ab, seine eigenen Widerwärtigkeiten traten in den Hintergrund.
Und es war nicht das einzige Mal, daß seine eigenen Angelegenheiten in den Hintergrund traten, in Tagen und Wochen wurde er nicht zur Rede gestellt. Wie Vorsehung und höhere Lenkung deuchte es Oliver: so oft er fürchten mußte, nun komme seine Schmach zur Verhandlung, kam irgend etwas, was ihm aus der Klemme half. Das erste war: Abel verheiratete sich. Nicht mehr und nicht weniger, Abel heiratete. Das war ein großes, ernstes Ereignis, von dem das ganze Haus Oliver vollständig hingenommen war.
Ja, Abel heiratete nun wirklich.
Er bekam zwar nicht gerade das Mädchen, das er gewollt hatte, sondern ein Mädchen von auswärts, ein großes, freundliches Mädchen, Lovise, die Tochter eines Hofbauern. Sie war in seinem Alter, es wurde ein junges Ehepaar, aber beide hatten gute Arme und eine kräftige, breite Brust. Abel hätte schlimmer fahren können, dieser Ausbund, dieser sorglose Geselle! Die ganze Zeit her hatte er nun vom Heiraten gesprochen, und an dem Tage, wo der Vater ihm mitteilte, daß er brotlos geworden sei, beschloß er zu handeln. Er setzte seinen Vater aufs äußerste in Erstaunen, aber diesmal war es gewiß der ganz richtige Einfall.
Der Ring schmückte schließlich nicht die Hand, für die er gemacht worden war. Nein, Klein-Lydia wollte den Ring nicht nehmen, als Abel damit ankam, sie habe sich [S. 402] selbst einen Ring gekauft, einen mit einem roten Stein, einen glatten Ring wolle sie nicht tragen.
„Was fehlt dem Ring?” fragte Abel. „Ich hab' ihn selbst gemacht, und ich glaube nicht, daß er entzwei geht.”
Ach nein, sie danke ihm, aber sie wolle ihn nicht haben; die Leute könnten sonst meinen, sie sei verlobt. Im übrigen hatte Klein-Lydia im Augenblick gar keine Zeit übrig, sie sollte zum Polizei-Carlsen und Klavier üben; sie ging etwas hastig im Zimmer umher, blieb dann vor dem Spiegel stehen und war recht geputzt. Ihre Stiefelabsätze waren herrlich hoch, ja, wie von einem Architekten gebaut.
Abel sprach für sich, wie das so seine Art war, vielleicht etwas ängstlicher und schüchterner als sonst, natürlich schwatzte er auch und wechselte mit Ernst und Scherz ab. Was sie nun meine, nun seien sie beide alt genug, und er habe die Schmiede, jetzt möchte er es gerne wissen.
Wissen, was denn? Sie verstand ihn nicht, durchaus nicht, Abel erklärte sich, und das war nun seine Art und Seidenfeinheit, daß er keine großen Umschweife machte.
Klein-Lydia bat ihn aufzuhören, sie habe es gut daheim und wolle sich nicht verändern, sie nähe für das Modegeschäft.
Jawohl. Aber Abel sagte, er wolle jetzt einen endgültigen Bescheid haben. Er habe einen Dampfhammer, habe sich verschiedenes fürs Haus angeschafft, sie sollten im Altenbau in seinem Elternhaus wohnen, Mattis habe das Bett angefertigt.
Da schien es wahrhaftig, als sei es Klein-Lydia zu viel geworden, ja, als knicke sie etwas zusammen über all das, was sie hörte, sie neigte sich vor und sah ihn an.
„Siehst du mich an?” fragte Abel.
„Ja,” antwortete sie. „Ich begreife nicht, daß du so etwas denken kannst! Daß du glaubst, ich wollte das!”
Sie redeten hin und her, sie sagte, sie müsse fast über ihn lachen. Schließlich redete sie im Ernst, er bekam sehr deutliche Antworten, und es konnte nicht vermieden werden, daß sie sogar Anspielungen machte, was für eine Art Vater und Mutter er habe.
Nun war also keine Hoffnung mehr für ihn, und so schwieg er.
Da Klein-Lydia aber kein herzloses Mädchen war, sondern [S. 403] ein Mädchen wie alle andern, fing sie nun unverfänglich an, von andern Dingen zu reden: ihr Bruder Eduard sei jetzt auf dem Heimweg, er habe von Boston geschrieben. Darauf gab Abel eine höfliche Erwiderung und schwieg dann wieder. Ja, tat sie dann kund, jetzt sei sie fertig und müsse gehen. Abel stand auf und ging nach der Tür; um nicht vollständig zerschmettert zu erscheinen, versuchte er es sogar noch einmal mit einem Scherz und sagte: „Ja ja, ich kann ja später wiederkommen!”
Aber er kam nicht wieder.
Er wanderte auf der Landstraße dahin, der Leichtfüßigste der Stadt ging einen schweren Gang. Er wanderte wohl so dahin, um sich etwas von seinem Schmerz und seinem Jammer wegzulaufen, nun ging er schneller, lief immer mehr wie unter einem Druck, wie wenn ihm eine Erbschaft entginge, wenn er sich nicht beeilte. O, er war wohl auch etwas gekränkt, etwas wütend.
Jetzt stand er vor einem Hof am Wege. An diesen Hof knüpfte sich für Abel eine Kindheitserinnerung: hier hätte er einmal als kleines Eichhörnchen gerne eine Jacke weggeschmuggelt, die an einem Seil hing, hatte dann um etwas zu essen gebeten, aber nichts bekommen, schließlich hatte er gesagt, er möchte eine Tasse Kaffee kaufen, aber auch das war ihm verweigert worden unter dem Vorwand, er sei noch zu klein. Armes Eichhörnchen! Aber bei dieser Gelegenheit hatte er sich gelobt, wieder zu diesen schändlichen Leuten zu kommen, wenn er groß geworden sei. Jetzt kam er.
Ein Mädchen steht auf dem Hofplatz; er kennt sie einigermaßen, hat sie ab und zu in der Stadt gesehen und ihr zugenickt, und jetzt erkennt auch sie ihn, das kann er deutlich sehen, sie macht sich etwas zu eifrig am Schleifstein zu schaffen, sie errötet. Lovise heißt sie. Natürlich ist es nicht ganz zufällig, daß Abel jetzt vor ihr steht, nur wenige Dinge geschehen ganz zufällig, er steht hier, weil er anderswo verschmäht worden ist, im Trotz ist er hierher gelaufen.
Und die junge Lovise ist vielleicht auch nicht ganz zufällig in diesem Augenblick aus dem Hause getreten, jedenfalls kann sie unmöglich meinen, sie müsse den Schleifstein so ganz genau untersuchen. Sie kommen ins Gespräch miteinander, und da Abel wiederum keine großen [S. 404] Umschweife macht, sagt er allerlei. Sie erwiderte nicht viel, eine schöne Unsicherheit lag über ihrem Wesen, und um ihren Mund spielten viele kleine Lachgeisterchen. Bei diesem ersten Male machten sie dies und jenes aus, beim zweiten Male mehr, beim dritten Male alles. Abel eilte es gewaltig, seinen Ring anzubringen.
Nun könnte man ja meinen, Abel habe gleich von Anfang an eine gefährlich große Familie bekommen: Frau, Eltern, zwei Schwestern und die Großmutter, in den ersten Wochen nach der Hochzeit war es wohl auch ziemlich schwierig; aber Abel und der Dampfhammer arbeiteten gut, außerdem half der Vater in der Schmiede, er hatte den mächtigsten Oberkörper und war besonders gewandt beim Feilen, wie eine Maschine konnte er feilen. Es ging ganz gut. Dazu kam noch, daß die Blaumeise das Haus verließ, da gab es einen Mund weniger zu versorgen. Seht das kleine Persönchen, die Blaumeise, da zog sie mit dem Zeichenstift in ein eigenes, behagliches Haus auf dem Hügel und hinterließ Abel, den komischen Kauz, einen ganzen Tag heimlich weinend. Um ihn zu trösten, sagte der Vater: „Ja ja, ihr seid gute Kinder gegeneinander gewesen. Und was für Kinder ihr alle miteinander geworden seid!” — „Es hätte doch keine solche Eile gehabt,” erwiderte Abel.
Es sollte mit der einen Schwester nicht genug sein. Abel hatte nur noch eine, das Braunchen, die mit den Familienaugen und dem ovalen Gesicht. Sie hätte wohl noch eine Weile so bleiben können, wie sie war, meinte Abel, aber das strandete an Eduard; Eduard kam heim und holte sie. Der Matrose war nun so viele Jahre lang fort gewesen, als ein erwachsener, breitschultriger Mann kehrte er heim und holte sich das Braunchen.
Da spielte übrigens wirklich ein kleiner Roman mit: erstens war das Braunchen noch so ein junges Ding, beinahe noch nicht zu rechnen, und zweitens stieß Eduard bei seinen Eltern und auch bei seinen Schwestern auf Widerstand.
„Was meint ihr!” sagte er unendlich erstaunt. „Daß sie so eine Mutter und überhaupt keinen Vater hat, was geht das mich an?” Sie erklärten es weiter und machten es recht einleuchtend; aber Eduard war ein Seemann und [S. 405] frischer Kerl und verliebt, er kümmere sich den Kuckuck um all den Klatsch und alles, was man nicht mit den bloßen Augen sehen könne, sagte er. Da erzählten sie ihm schließlich, daß auch Klein-Lydia nicht in diese Familie hineingewollt und Abel nicht genommen habe. „Aber das hätte sie tun sollen!” lautete Eduards Antwort.
Es war nichts mit ihm zu machen.
Bei der Hochzeit waren ja beide Familien anwesend, und Abel traf wieder mit Klein-Lydia zusammen. Sie hatten auch ein kleines Zwiegespräch miteinander. Sie fragte ihn zwar nicht gerade heraus, ob er sie vergessen habe, aber es war, als erwarte sie eine Erklärung darüber, warum er nicht wiedergekommen sei, wie er gesagt habe. Was sie sagte, klang demütig und traurig, der Grundton war fromm. Gelegentlich hustete sie und legte dabei die Hand auf die Brust, er sollte wohl sehen, daß sie nun eine andere geworden war; sie nahm das Leben ernst und weinte bei Nacht, spuckte geradezu Blut bei Nacht und dergleichen mehr. Natürlich saß sie trotzdem im höchsten Staate da, obgleich sie so gottergeben war und ihr ab und zu die Augen feucht wurden. O, sie war noch sehr jung, sie hatte wohl der Welt nicht abgesagt, plötzlich zog sie etwas Feines vorne an der Brust heraus, das da hing, und was Abel für Spitzen und Ausputz gehalten hatte; aber es war ein Taschentuch, und mit diesem schlug sie den Staub von ihren Fußspitzen weg. O, Klein-Lydia kam schon durch, wer ihren nassen Augen zugelächelt hätte, würde sofort diese Augen hart und trocken gesehen haben, und sie wußte sich zu verteidigen.
Mann und Frau Eduard blieben nicht in der Stadt, ja, sie blieben nicht einmal im Lande, sie zogen nach Amerika. Als Eduard sah, wie die Dinge daheim standen: daß das Haus voller erwachsener Töchter war, die daheim saßen und nähten und vornehm taten, da entfloh er. Abel hatte um der Schwester willen dem Paare von diesem Schritt stark abgeraten. Er sagte zu ihr: „Dann sehen wir uns nie wieder. Mir selbst ist es gleichgültig,” sagte er, „aber es ist nicht recht gegen die andern.” Sein Kniff half ihm indes nichts, die Schwester wollte mit ihrem Manne gehen.
„Du denkst gar nicht daran, daß wir andern daheim [S. 406] gar nicht ohne dich fertig werden können,” sagte er ärgerlich. O dieser Abel! Da wurde er von dem ganzen Hause ausgelacht, von allen den erwachsenen Frauenspersonen, die noch da waren.
Aber alle diese kleinen Heiraten und alle die täglichen Ereignisse waren ja nur für die Familie Oliver von Bedeutung, nicht aber für die Stadt und die andern Menschen. Für die Familie Oliver waren sie groß und wichtig, vielleicht war es auch zu ihrem Besten. Oliver konnte nicht klagen, in der letzten Zeit war er nicht mehr verfolgt worden, dies und das ereignete sich, Schlag auf Schlag, und es machte nichts schlimmer für ihn, im Gegenteil, er aß täglich an Abels großem Tisch und bekam jetzt auch noch wie früher das eine und andere Taschengeld. Was hätte er sich noch wünschen können?
Er wurde nicht schief angesehen, Petra schwieg. Wahrlich, im schlimmsten Fall war er nicht am schlimmsten dran. Oliver fand aufs neue Mut und Widerstandskraft. Damals, als der Doppelkonsul getroffen wurde, sank ein großer Mann zusammen und gab alles auf. Der erfahrene Postmeister bekam eines Nachts einen Druck auf seine ungeprüften Menschengedanken und verblieb von diesem Augenblick an dumm und stumm. Der alte rechtschaffene Schmied Carlsen konnte keine Bosheit ertragen, er konnte es nicht ertragen, daß man ihn im Verdacht hatte, einen Sohn zu haben, der mit japanischen Tätowierungen auf dem Körper umherging, er wurde zu einem Kinde, weinte, verzog krampfhaft die Lippen, dankte Gott für Gutes und Böses und wartete auf den Tod. Oliver war von einer zäheren Art, weniger fein und empfindlich, sorgloser und deshalb als Mensch aus dem richtigen Stoff gemacht, er ertrug das Leben. Wer war tiefer hinuntergetaucht worden, als er? Aber wieder ein kleiner Erfolg, eine geglückte Dieberei, ein wohlgelungener Schurkenstreich machte ihn aufs neue zu einem zufriedenen Manne. Oliver war in der Welt draußen gewesen, er hatte Palmen gesehen, aber was hatte er davon?
Die Tage kommen und gehen. Er hatte Frieden daheim, die Gassenjungen schrien ihm nicht mehr nach, aber Olaus vom Wiesenrain war hinter ihm her, so oft er nur konnte. Oliver hätte jetzt fast glücklich sein können, aber [S. 407] Olaus gönnte ihm das nicht, in Gegenwart anderer Leute fragte er Oliver nach einem gewissen ärztlichen Zeugnis. Oliver ging heim, verbrannte das Zeugnis und fluchte darüber. Er wich seinem Plagegeist so viel wie möglich aus, und glücklicherweise hatte er ein Päckchen Tabak in der Tasche, als er das nächste Mal mit ihm zusammentraf. Die Rollen waren vollständig vertauscht, jetzt war Oliver der überlegene.
„Du tust mir leid,” sagte Olaus.
„Wie schmeckt dir der Tabak?” fragte Oliver. „Er ist wohl nicht gut?”
Olaus war lauter Unbarmherzigkeit und fragte: „Ist das alles wahr, was von dir erzählt wird?”
Danach konnte Oliver wohl fürchten, er habe sein Päckchen Tabak umsonst weggegeben, aber trotzdem ließ er ein paar Worte darüber fallen, daß es nicht der letzte sein werde, er verdiene jetzt in Abels Schmiede und könne einem guten Freund wohl ab und zu ein wenig mit Tabak aushelfen.
Jetzt gesellt sich der Fischer Jörgen zu den beiden, und er hört den Rest von Olaus' Bosheiten mit an; daß gerade dieser Zuhörer sich einfand, kränkt Oliver doppelt, er hatte sich ja früher verschiedentlich vor Jörgen dick getan, außerdem war er jetzt verwandt mit ihm. Legte Olaus auch nur eine Spur von Zartgefühl und Takt in seine aufdringlichen Fragen? Das letzte, was er sagte, war: Wozu denn Oliver eigentlich Kleider trage? Ob es nicht einerlei wäre, wenn er nackt auf der Straße ginge? Dann wanderte Olaus weiter, frisch und mit geschwollenem Kamm.
Da stand Oliver, in außergewöhnlicher Wut. Jörgen sagte: „Mach' dir doch nichts daraus, was Olaus sagt, es ist nicht der Mühe wert.”
Es schien aber doch der Mühe wert zu sein, der Krüppel hatte einen wütenden Blick und knirschte eine Weile mit den Zähnen. „Ich werd' es ihm eintränken!” sagte er und nickte dazu.
Doch es hatte keinen Zweck, hier mit dem alten Jörgen zu schwatzen, Oliver hinkte plötzlich davon und bog in die Hauptstraße der Stadt ein. Welch ein Glück, es war Samstagabend, und er hatte einen guten Anzug an, er [S. 408] gab sich nicht selbst auf. Jetzt blieb er vor dem Schaufenster des Schuhmachers stehen und betrachtete die Damenstiefel; er winkte den nächsten besten herbei und sagte zu ihm, wie hoch doch diese Damenstiefel seien, sie gingen weit an den Waden hinauf. Oliver stand da vor den Stiefeln, schmatzte ihnen zu und redete wie ein ausschweifender Mensch. Plötzlich wirft ein Junge Oliver einen vernichtenden Spitznamen an den Kopf, ein Gelächter erhebt sich, Oliver verstummt. „Ja, Schuhwerk ist nun bald zu teuer für gewöhnliche Leute,” sagt jemand hinter ihm. Das ist wieder der Fischer Jörgen. Oliver faßt neuen Mut, er ergeht sich wieder über hohe Stiefelschäfte und schmatzt dazu, o, aber Jörgens Geschwätz war jetzt nur ein schwacher Abglanz von dem vorigen; das mochte der Kuckuck verstehen, er mußte indessen abgekühlt worden sein. In seiner Verzweiflung ruft Oliver laut: „Jetzt geh' ich in den Tanzsaal!”
Er staffierte sich aus, kaufte Riechwasser und goß es auf sich, so daß er schon von weitem duftete, kaufte Zuckerwaren, kaufte auch feingeraspelten Talg, den er auf den Boden des Tanzsaals streuen wollte. Seht, er wollte über die Stränge schlagen, wollte einen tüchtigen Sprung mitten in Blitz und Donner hineinmachen, hinein in Liebesgeschichten und Brautraub — aus dem Weg da! Gott weiß, vielleicht war er mutig aus Mutlosigkeit, sein Leben war so jämmerlich, daß es scherzhaft wurde, er war schweißig und bleich, zieht einen Taschenspiegel heraus, reibt seine Wangen ab und putzt sich. Dann macht er die Tür des Saales auf und stapft hinein.
Aller Augen scheinen sich auf ihn zu richten. „Oliver,” sagen sie, „Oliver, haha!” Er sucht sich eine Bank und setzt sich. Der Tanz geht weiter. „Nimm deine Krücke weg!” warnt ein junger Seemann, indem er vorbeiwalzt. — „Warum schreit denn der Kerl? Zu meiner Zeit hab' ich nicht auf dem Tanzboden geschrien,” sagt Oliver zu den Nächstsitzenden. Er bekommt bald eine ordentliche Antwort darauf. „Ja, du bist wohl ein richtiger Spürhund gewesen, Oliver?” erwidern sie. Er wiegt den Kopf hin und her und erzählt von Alaskar in Hamburg und von Greenhorn in Neuyork; mit allen Arten von Rassen und Farben habe er getanzt und Liebschaften mit ihnen [S. 409] gehabt, er habe Malaiinnen und Chinesinnen, Indianerinnen und Negerinnen herumgeschwungen, eine Indianerin, die niedlichste von allen, habe er geküßt —
Oliver ist bleich und schwitzt, es strengt den faulen Mann wohl an, sich so lustig aufzuspielen. Sie sagen zu ihm, ja, ja, aber nun solle er nicht mehr an so etwas denken! Und er antwortet, warum denn nicht? Eine so feurige Natur wie die seinige könne nicht aufhören, könne nie Schluß machen, sie könnten ja selbst sehen, jetzt sei er hier auf dem Tanzboden. „Seht her, ihr Jungen, wollt ihr ein paar extra feine Zuckerwaren schmecken?”
Er sprach sich über den Tanz aus, das sei gar nichts gegen früher; der Bursche, der dort geschrien habe, könne ja gar nicht Walzer tanzen, nicht die Fersen müßten tanzen, sondern die Zehen, und man müsse die Dame aufheben, daß sie sich nicht kaputt schaffen müsse. Dies sei zu jämmerlich. Er habe gute Lust, hervorzutreten, um ihnen zu zeigen, wie es gemacht werden müsse.
Da lachten alle, die Oliver zuhörten.
„Hoho!” sagte Oliver, das könnte er gut. „Seht die Waden von der dort, ei der Tausend, das sind gute Waden zum Exempel, ich müßte sie nur einmal fassen können. Dann würdet ihr wohl sehen, wie es geht. Tahitaho! Da geht einmal hin und streut den Talg hier auf den Tanzboden!” sagte er, indem er die Tüte auslieferte.
„Talg?” sagten sie.
„Ja, Talg. Solchen hatten wir immer bei uns und streuten ihn hin, wenn der Boden zäh und hart wurde.”
„Ach so,” sagten sie und streuten den Talg auf den Boden.
Oho, nun ging es richtig glatt weg. Der Tanz und die Musik schmolzen zusammen, das wurde ein flotter Walzer, alle Beine waren in wirbelnder Bewegung, alle die Beine drehten sich unaufhörlich im Kreise, um und um ging's. Es war merkwürdig, wie der Talg gut tat.
„Du verstehst deine Sache, Oliver!” sagten sie, und sie hatten Nachsicht mit ihm, solange es ging, weil er ein Krüppel war.
„O, mir kann niemand etwas vormachen,” versetzte er. Und bei der kleinen Anerkennung, die ihm zuteil wurde, rief er wieder hoho! und hatte sich und tat, als könne er [S. 410] nun eine Auferstehungshymne anstimmen. O, du froher Abend! „Seht nur das Mädchen dort, welche Brust sie hat, geht hin und sagt ihr, ich wolle mit ihr reden!”
Das Mädchen kam herbei, Oliver bot ihr die Zuckerwaren an, er war Weltmann bis in die Fingerspitzen und sagte: „Bitte, Fräulein, eine kleine Erfrischung!” Das Mädchen lachte, nahm ein wenig aus der Tüte und schwänzelte fort. Eine andere kam, mehrere kamen, Oliver teilte seine Leckereien aus und redete, blaß und schweißtriefend wie er war, davon, wie sehr sie ihn lockten und reizten. „Dich?” sagten sie kreischend und brachen in lautes Gelächter aus. — „Jawohl, jawohl,” sagte er, „übermäßig reizt ihr mich!” Was es denn schade, wenn er lahm sei? Deshalb sei er doch noch ebensogut. Sie hätten nur sehen sollen, wie sehr sich eine Krankenpflegerin in Italien um ihn bemüht habe und ihn durchaus habe heiraten wollen. Er habe sich nicht retten können vor ihren Küssen und Liebkosungen.
Es wird wieder getanzt. Oliver sieht erschöpft aus, aber er stampft den Takt, daß es nur so dröhnt, und wie wenn das vielleicht nicht genügend bemerkt würde, übertrieb er und klopfte den Takt auch noch mit der Krücke. Jetzt aber ärgerte sich der eine und andere von den jungen Burschen über ihn, nicht nur wegen seines Gepolters, sondern auch weil er die Tänzerinnen mit seinem leichtfertigen Geschwätz und seinen Zuckerwaren in Anspruch nahm. Es wurde ihm bedeutet, sich ruhig zu verhalten und nicht so ausgelassen zu sein, aber das half nichts, er wurde nur noch leichtfertiger. Jawohl, an diesem Abend sei er bei einer ordentlichen Lustbarkeit, er sei nun einmal Hahn im Korbe bei den Mädchen, und wenn man sie fragte, würden sie das gar nicht leugnen, denn es wüßten es ja alle Leute schon vorher. „Bitte, Fräulein, noch eine kleine Erfrischung —”
Au — da purzelte ein Paar auf den Boden. Kreischen und Schreien! Ein zweites Paar fiel auf das erste, und da gab es ein böses Durcheinander. Was war denn das für eine Schweinerei, auf der sie ausglitten? Talg! Woher kam der? Die Kleider mit Talg und Staub böse zugerichtet, liefen die Tänzer und Tänzerinnen über den Saal hinüber zu Oliver hin und fluchten ihm ins Gesicht. [S. 411] Der Krüppel erwiderte, er selbst habe einstens auf Talg getanzt, in dieser Richtung könnten sie ihn nichts lehren weder rechtsum noch linksum. Sie sagten, er müsse ihnen die Kleider bezahlen, die sie sich durch ihn verdorben hätten, ja, sie schimpften ihn Idiot und Schweinehund und anderes mehr. Da wurde Oliver wahrhaftig wieder etwas würdig und sagte ihnen, wer er war, der Oliver Andersen, der über ein halbes Menschenalter Konsul Johnsens Lagerhaus vorgestanden hatte, sie sollten sich schämen und sich besseren Leuten gegenüber nicht so aufführen —
„Hinaus mit dir!” schrien sie. O weh, was sie ihm alles für Namen gaben und ihm vorrechneten, welcher Art Rest von einem Menschen er sei, eine leere Wursthaut, ein Hammel! Und da habe er sich sogar mit Riechwasser begossen; er sei verfault, da sitze er und rieche wie ein Stall! Hinaus!
Natürlich kam sein Abenteuer in der Leute Mund, und die Weiber am Brunnen waren empört über ihn, sie konnten nicht begreifen, daß so ein verkommener Tropf nicht lieber fromm wurde und in die Kirche ging; für wen sonst war denn die Kirche da! Aber merkwürdig genug, auch diesmal wurde Oliver daheim nicht zur Rede gestellt, es war, als hätte ihn Petra vollständig aufgegeben. Allerdings füllte er, als er heimkam, die Stube mit seiner fürchterlichen Duftware, und Petra wich unleugbar zuerst ein paar Schritte zurück, aber zu einem Streit kam es nicht. O, eine höhere Vorsehung hatte abermals eingegriffen: von dem Philologen Frank, dem Sohne des Hauses, war Nachricht gekommen, er war zum zeitweiligen Vorsteher der höheren Schule in der Stadt ernannt worden.
In diesem Augenblick kam ja niemand daher und sagte zu Oliver, er sei ein kinderloser Mann. Seine Kinder waren allerdings nur seine eigene Erfindung, aber er hatte sie doch; während ihrer ganzen Kindheit und ihrem Heranwachsen war er etwas für sie gewesen, sie und er kannten einander, sie nannten ihn unter sich selbst und andern gegenüber Vater, und jetzt kehrte Frank gelehrt und groß heim in seine Vaterstadt. Petra und die Großmutter hätten ihn allerdings am liebsten als Pfarrer gesehen, aber da war nichts zu machen gewesen. Oliver sagte mit Würde: „So ein Sohn!”
Da und dort in der Stadt wird geflaggt, bei Grütze-Olsens, beim Doppelkonsul, ja, bei allen Konsuln und auch bei Henriksens auf der Werft. Scheldrup Johnsen und Fräulein Olsen zu Ehren geschah es, sie waren nach Christiania gereist, hatten sich dort trauen lassen und wurden heute als Ehepaar zurückerwartet. Das Postschiff ist schon sichtbar, als noch eine Flagge gehißt wird, nämlich auf Konsul Heibergs Brigg, die in einem Winkel am Bollwerk Tran ladet.
Schon stehen sehr viele Leute am Bollwerk, und es kommen immer noch mehr dazu. Von den Konsuln fehlt nur Davidsen, der verschlagene Kleinhändler, der sich von den Großen immer zurückhält. Der Hardesvogt und der Doktor waren auch nicht da, aber Frank, der junge Schulvorsteher, ist anwesend. Er ist neu verheiratet, mit Konstanze Henriksen von der Werft, aber die junge Frau ist nicht dabei. Frank ist nicht der kleinste auf dem Bollwerk, er hat die philologische Überlegenheit über die ganze Stadt, die ganze Küstenstadt, ist ein großer Mann, bis zur Übertreibung gelehrt in fremden Grammatiken und Sprachen als Lehrfach. Er steht ziemlich abseits neben einem Berg von Trantonnen, die an Bord der Brigg sollen; da er den neuen Gehrockanzug trägt, in dem er getraut worden ist, darf er den Trantonnen ja nicht zu nahe kommen, andererseits aber müssen sie ihn vor dem Zug auf dem windigen Bollwerk schützen. Er kann Zug nicht ertragen. Sein Vater steht am andern Ende des Bollwerks und schmiegt sich nicht an den Sohn an. Oliver kann sich schon richtig betragen.
Oliver ist wieder in gutem Aufstieg begriffen. Er hat jetzt nicht mehr eine gute Stellung in einem Lagerhaus, aber er ist den ganzen Tag in der Schmiede bei Abel, bisweilen feilt er Eisen, und ein seltenes Mal rudert er [S. 413] auch hinaus und fischt Merlan in der Bucht. „Mein Sohn, der Schmiedemeister,” sagt er, „mein Sohn, der Schulvorsteher,” sagt er. Er stützt sich auf die Söhne und genießt ihre Achtbarkeit mit vollen Zügen.
Es hat es jetzt gut und ist zufrieden; wenn ihn das Schicksal nun in Ruhe läßt, klagt er nicht. Es ist selbstverständlich, daß die Jungen dem Vater ihres eigenen Schulvorstehers auf der Straße keine Schimpfworte nachrufen, und ebenso selbstverständlich ist es, daß Oliver nie wieder auf den Tanzboden geht und dort Skandal macht. Olaus vom Wiesenrain ist der einzige, der noch zu fürchten ist, und selbst der scheint die Feindseligkeiten eingestellt zu haben. O wahrhaftig, es vergeht jetzt ein Tag wie der andere. Oliver ist auch nicht der Geringste am Bollwerk, es sind viele Geringere da als er. Alle diese guten Leute da, wer sind sie? Gewöhnlichkeiten, ein Stand, Kleinstadtgrößen und langweilige Erscheinungen in Stärkwäsche. Oliver war etwas Besonderes. An dieser Stelle, wo alle fast gleich sind, mußte er als etwas Besonderes angesehen werden, als etwas für sich. Ein Opfer der unheilvollen Kräfte des Lebens, jawohl, gekaut, wieder gekaut und ausgespuckt, an einem Strand hinterlassen, aber mit einem unausrottbaren Lebenstrieb in sich. Die Zeitung konnte ja jetzt ihr Programm wieder abdrucken und die Leute auffordern, einen nützlichen Kurs in Frömmigkeit zu nehmen, das tue man anderen Ortes, die Leute hätten das nötig und die Zeit fordere dazu auf, kurz gesagt, man solle mit dem Ende anfangen. Oliver fing nichts mehr an, es war nicht seine Sache, etwas anzufangen, er stand nun da, wo er hingestellt worden war, der Menschengedanke zerschmetterte ihn nicht, die Weiber am Brunnen bekehrten ihn nicht. Natürlich waren Leben, Schicksal und Gott verflixt himmelhohe Fragen und gewaltig notwendige Fragen, aber sie wurden von Leuten gelöst, die lesen und schreiben gelernt hatten, was sollte Oliver dabei? Wenn sich ein Gehirn wie das seinige ans Forschen machte, würde sich sicher alles vor ihm im Kreise drehen, Oliver könnte dann nicht in seiner Arbeit fortmachen, sich nicht am Essen und an Zuckerwaren erfreuen, das nicht leisten, was er leistete. Mögen die andern darum sorgen, mehr zu sein, als sie sind!
[S. 414] Ja, er ist vergnügt, das sieht man seinem Gesicht an. Ganz keck steht er auf seinem Bein und seinem Stelzfuß, und er sieht aus, als habe er mächtige Angehörige im Rücken, falls er sie gebrauchen wollte. Und die Menschen achten ihn plötzlich wieder: er ist der Vater des Schulvorstehers, denken die Menschen ...
Dann legt das Postschiff an. Da stehen die beiden Neuvermählten, von ihrer ganzen Familie umgeben, an der Reling. Am Land und an Bord werden ruhig Hüte gelüftet. Fräulein Fia scheut sich nicht, mit viel Rot, mit Purpurrot an ihrem Anzug sehr auffallend zu sein. Nun hat sie sich auch für Schoßhunde begeistert, sie trägt auf dem Arm ein kleines, lockiges schneeweißes Kerlchen mit Zottelhaaren über den Augen und einer blauen Schleife um den Hals. Sie ist vornehm, wie das ihre Art ist, spricht gedämpft, eine Dame und Komtesse ohne Tadel, hätte sie einen Wunsch, so wäre es der, gesund und lebenszäh zu sein, noch recht lange ihre Kunst pflegen und indische Märchen illustrieren zu dürfen. Da sie wohlerzogen und unschädlich ist, wird ihr das Leben das wohl gewähren.
Ihre Mutter, Frau Johnsen, ist wieder zur Vernunft gekommen und nicht mehr von Sorgen niedergedrückt. Sie ist noch ebenso gelb im Gesicht wie früher, aber sie trägt wieder einen großen Hut. Das Gerücht ging um, der Untergang des Dampfschiffs Fia und der Bankerott sei nur eine Spiegelfechterei gewesen, es sei Frau Johnsen drei Wochen lang weisgemacht worden, sie sei arm, und dann sei sie wieder ebenso reich gewesen wie zuvor. Dick und umfangreich steht sie neben ihrer Tochter an der Reling, sie ist's, die ursprünglich C. A. Johnsen am Landungsplatz durch ihre Mitgift zum großen Manne gemacht hat, sie ist ihren großen Hut ehrlich wert und nimmt sich auch jetzt neben den Grütze-Olsens gut aus, steht da, wie wenn sie sagen wollte: „Jawohl, wir sind jetzt verwandt geworden, aber wir verkehren nicht viel miteinander!” Es war ein schändlicher Streich des Zufalls, daß ihr Mann den Kopf verloren und die Villa an diese Familie verkauft hatte. Was sollten diese Leute mit einer Villa? Sie sind nur einmal dort gewesen, seit sie sie gekauft haben, und sie fuhren nicht mit Wagen und Pferden hin, [S. 415] sie gingen zu Fuß, er, der Konsul Olsen und seine Frau. Sie hatten aber wohl an dieser einen Fußtour genug, denn jetzt in Christiania schenkten sie die Villa den Neuvermählten, das war ihr Hochzeitsgeschenk. Was sollten also die Leute mit einer Villa, wenn sie nichts damit anfangen konnten?
Aber da kommt Johnsen, der Doppelkonsul selbst, der einzige von der Gesellschaft, der einen hohen Hut trägt. Er trägt ein Plaid über dem Arm und kommt hastig daher, vielleicht ist er bei der Abrechnung aufgehalten worden, oder er hat mit der Aufwärterin ein wenig gescherzt; zum Henker noch einmal, der Doppelkonsul ist ein großer Mann, und steht über vielem, er hat viele Filialen! Ein eingestürzter Turm, er? Ein wieder aufgerichteter Turm. Er gleicht wieder einer Million oder etwas anderem Rundem; in Christiania hat er das Dannebrogkreuz auf der Brust getragen. Sollte wirklich etwas daran sein, daß bei dem Untergang der Fia und der Versicherung Spiegelfechterei mit im Spiele war, und was wäre der Zweck dabei gewesen? Konsul Johnsen hat jedenfalls jetzt wieder bessere Tage erlebt, er ruht nicht mehr aus, er hat offenbar wieder etwas zu sagen und mitzusprechen bei sich selbst und bei andern.
Um Frieden zu finden, hat dieser Mann in einer Stunde des Nachdenkens den alten Postmeister aufgesucht, später einmal und in einer viel schlimmeren Klemme ist er durch die Hintertür in derselben Angelegenheit zum Schmied Carlsen gegangen, danach konnte niemand behaupten, er sei ein gleichgültiger Mensch, er hat seine Lehre durchgemacht, aber es half ihm nichts. Und als die Tage vergingen, kam er ja aus der Patsche heraus und brauchte dann keine Hilfe mehr. Was sollte er damit? Wenn er an den Postmeister dachte und an dessen Bescheidenheit, mußte er wieder lächeln. Der Postmeister suchte und suchte Frieden, er hatte einen kleinen Stern gefunden und wandelte in dessen Schein seine Straße, es war kein starkes Licht, keine Sonne und heller Tag, aber man konnte dabei schon ein wenig sehen. Nur Genügsamkeit! Konsul Johnsen suchte nicht, das war eine zu große Mühe für ihn, er wollte nur fragen, wo Frieden zu erkaufen wäre.
Jetzt steht er da auf dem Schiff wieder sorglos und [S. 416] obenauf. Hoho! Er sieht aus, als könne er noch drei oder vier vernichtende Bankerotte überstehen. Ein verflixter Kerl, der Doppelkonsul, auf irgendeine Weise muß er seinen draufgängerischen Sohn an die Kandare genommen und ihm Grenzen gesetzt haben. „Wir” sagt er von dem Geschäft, „meine Angestellten”, sagt er. Es hat sich dann auch in dem Auftreten der Leute gegen ihn ein sehr rascher Umschwung vollzogen, sie sehen wieder zu ihm auf und lassen ihn nicht links liegen; im Grunde genommen ist es durchaus nicht der Sohn, sondern der Vater, um den sich die Leute ihr Leben lang gekümmert und den sie gern gehabt haben. Er hat ihre eigenen Eigenschaften, ist gewöhnlich wie sie, ein gutmütiger Mensch, ohne Ernst und Standhaftigkeit, aber eine Nummer in einem Dutzend, eine der großen Standespersonen in der Stadt, rund und reich, er bekommt wohl bald eine neue Fia . —
Konsul Johnsen ist auch der einzige, der laut nach dem Ufer hinüber grüßt. Das kann er tun, denn er ist der, der er ist. „Siehst du jemand, der das Gepäck in Empfang nehmen kann?” sagt er zu Scheldrup, und im selben Augenblick geht er wieder weg. Vielleicht hat er etwas in seiner Kajüte vergessen, oder er will noch jemand ein letztes Abschiedswort sagen. Der Teufel mag ihm trauen!
Da kommt schließlich Olaus vom Wiesenrain über das Bollwerk geschritten, und er kommt breitspurig daher. Ist er heute verschlafen, oder hat er bis zum letzten Augenblick Karten gespielt? Er faßt nach dem Landungssteg und wirft ihn aufs Boot hinüber, daß dieses schwankt. Das Pferd, das die jungen Eheleute für die Villa bekommen sollen, bäumt sich, Olaus kümmert sich nicht darum, er begrüßt den Matrosen beim Fallreep mit ein paar kräftigen Worten: „So, faß den Landungssteg an und steh nicht da und hab' Maulaffen feil!”
Olaus hat während der letzten Tage gebummelt und scheut sich deshalb durchaus nicht, sich geltend zu machen. Eine Bummelei des Olaus vom Wiesenrain war ja höchst verschieden von einem gewöhnlichen Abendmahlsgang mit Wein in der Kirche, er trank so viel, als er überhaupt trinken konnte. Jetzt kam er betrunken und übermütig ans Bollwerk, o, ein seliger Narr, aufrecht, eine Tonpfeife rauchend, vielleicht hungrig, aber stiermäßig stark. [S. 417] Er redete höchst überlegen mit den Leuten, großspurig, hatte auch eine grobe, schnarrende Stimme. Was er sagte? Seine Worte waren verständlich genug, sie verirrten sich weder nach rechts noch nach links. Er tat, wie wenn er Scheldrup Johnsen an Bord gar nicht sähe, und sprach sich also über ihn aus:
„Na, du sollst also den Scheldrup nach der Villa hinausfahren?” rief er dem Kutscher zu. „Ein netter Kerl, der! Frag' ihn, wie es mit der Versicherung der Fia bestellt gewesen sei? Habt ihr's gehört? Scheldrup, die Spitznase, hatte das Schiff selbst versichert und steckte das Geld in seine eigene Tasche.”
Alle Leute auf dem Bollwerk hörten zu. Das waren keine Kleinigkeiten, Olaus übertrieb vielleicht gar nicht, er gab jedenfalls einem sich immer weiter verbreitenden Gerücht Ausdruck. Was hier über Scheldrup gesagt wurde, war keineswegs unglaublich, er war ja eigentlich der gewesen, der die ganze Zeit her über das Schiff verfügt hatte, wozu der Vater gar nicht die Erfahrung haben konnte — konnte da nicht Scheldrup auch einen Termin Versicherung bezahlt haben? Er wäre dazu imstande gewesen. Das würde zugleich auch erklären, daß Scheldrup heimkommen, sich auf des Vaters Stuhl im Kontor setzen und Wechsel um Wechsel an die Gläubiger ausstellen konnte. Schließlich würde es auch erklären, daß der Vater von seinem Stuhl wieder Besitz ergriff, als die Sache an den Tag kam. O, vielleicht deshalb war Konsul Johnsen wieder aufgeflammt und wieder rührig geworden. Er hat seinen modernen Sohn geprügelt, er hat wieder soviel von der Leitung der Geschäfte an sich genommen, als er selbst für gut fand. Nichts ist so belebend für den Menschen wie ein Sieg.
Die Arme voller Blumen, gehen die Neuvermählten an Land, steigen in den Wagen und fahren grüßend ab, fahren hinein in den Ehestand und die Flitterwochen. Olaus schweigt einigermaßen. Einer nach dem andern von der Hochzeitsgesellschaft verläßt das Boot, dabei wird es Olaus wohl zu langweilig, er geht vom Landungssteg weg und begibt sich nach der Vorderluke, um nach den Waren zu sehen. Einige Kisten werden an Land geschafft. Olaus kommt es nicht auf ein paar weitere lümmelhafte [S. 418] Grobheiten an, er ist wie gewöhnlich, ohne eigentliche Bosheit, aber er ist mannhaft und ohne jegliches Verantwortlichkeitsgefühl darauf aus, die Anwesenden mit seiner Freimütigkeit in Erstaunen zu setzen und sie zum Lachen zu bringen.
Da steht nun Frank, der neue Schulvorsteher, mager und sprachkundig in seinem Winkel. Olaus redet ihn an: „Steh nicht da und mach die Trantonnen schmutzig!” ruft er. Da er diesmal ein Witzbold ist, kichern alle Leute. Oliver hört diesen auf den Sohn gemünzten Zuruf, diese tiefe Respektlosigkeit, und hinkt ein paar Sätze näher, wie um einzugreifen. Er hat jetzt seinen heimtückischen Blick und scheint gewisse Gefühle gegen Olaus zu hegen.
Aber Olaus wird durch den Sieg aufgestachelt und fährt fort: „Du stehst da mitten in meinem Logis, das weißt du wohl nicht? Jawohl, in dem Winkel liegen der Olaus vom Wiesenrain und ich bei Nacht unter einem Presenning, einem Teertuch. Wenn du heut abend hierherkommst, dann will ich dir auch ein Obdach geben!”
Noch mehr Respektlosigkeit also!
Um seine Gleichgültigkeit zu zeigen, legt Frank die Hände auf den Rücken und geht langsam vom Bollwerk fort. Er redet nicht, ohne zu belehren, und er belehrt nicht auf einem Bollwerk.
Olaus läßt ihn nicht los, er lacht hinter ihm drein und sagt: „Ja, du kannst glauben, ich hab' Achtung vor dir!” Jetzt erblickt er Oliver, Franks Vater, und nun treibt er diesen an, er ruft ihm zu, dort gehe sein Sohn, Petras und des Mondes Sohn. Oliver hört es, er bleibt stehen und schaut zu Boden. Übrigens anerkennt Olaus Petra, lobt Petra, sagt, er habe sie schon als ganz kleines Mädchen gekannt, „hübsch war sie die ganze Zeit,” sagt er, „viel zu gut, um ins Unglück zu geraten. Dann hat sie den Oliver geheiratet und dann wurde sie sozusagen Witwe in alle Ewigkeit mit ihm. Ach, du lieber Gott, Oliver, dich sollte man gar nicht in den Mund nehmen! Ein solcher armer Tropf, du tust mir leid, und du bist ja zu nichts anderem gut, als wie ein Frauenzimmer dazusitzen und eine Nadel einzufädeln. Petra dagegen —”
Doch da sieht Olaus den Doktor aufs Bollwerk zukommen, und in seiner Trunkenheit zieht er sofort den [S. 419] Doktor in sein Gewäsch hinein, er verschont niemand: „Petra war nicht wie die Frau Doktor, die keine Kinder haben wollte, nein, bekam sie solche nicht daheim, dann ging sie in die Stadt und bekam sie dort. So sollte es sein, es war ihr einerlei, was im Betsaal gesagt wurde. Es sollte vielleicht so sein, daß die Weibsleute keine Kinder bekämen? Das wär' beim Satan! Sie sollten es wie die Frau Doktor machen und sie sich wegweinen und wegjammern! Wein mir hier, wein mir dort, und versenk sie auf den Meeresgrund, sie war nichts Besseres wert! — War es so, Doktor,” rief er in seinem Übermut, „daß du damals mit einem Lappen ihre Tränen auf dem Boden auftrocknen mußtest? Ja, jetzt drehst du um und willst nichts mehr hören. Aber ich will dir noch eins sagen, eh du gehst, die Frauen, die nicht Leben und Blut hergeben, die sollten sich selbst in die Erde hineingraben, das sollten sie —”
„Nimm die Laufplanke weg!” ruft der Kapitän.
Olaus hebt die Laufplanke unnötig hoch auf, tritt mit ihr ein paar Schritte zurück und läßt sie dann fallen. Das Bollwerk erzittert. Dann fährt das Schiff ab.
O, aber an diesem Tag hatte Olaus vom Wiesenrain zum letztenmal da auf dem Bollwerk lose Reden geführt und seine Kräfte gezeigt; er verstummte in der darauffolgenden Nacht. Heibergs Trantonnen stürzten auf das Teertuch herunter, unter dem er lag, und zerschmetterten ihm den Brustkasten. Es nahm ein trauriges Ende mit diesem Olaus, und er hatte eigentlich auch nichts Besseres erwarten können. Vieles konnte gegen ihn vorgebracht werden, aber vielleicht war auch er vom Schicksal geschädigt worden, ein Gaul zerschmettert mitten im Gezähmtwerden. —
Die Leute an Bord der Brigg hatten wohl das Gepolter in der Nacht gehört, aber dann wurde alles wieder still, und sie schliefen weiter. Als es bei Tagesgrauen hell wurde, fand man Olaus. Etwas flacher als sonst lag er da, und um Nase und Mund zeigten sich Blutspuren, aber er lag nicht mit weit offenem Munde da, seine Zähne waren fest zusammengebissen. Im übrigen sah er träg und schlafend aus, mausetot natürlich, aber keine Spur von Spott und Zorn im Gesicht; er sah aus, [S. 420] als wolle er sagen: „Weckt mich nicht, ehe wir angekommen sind!”
Die Nachricht von dem Unglück verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt. Merkwürdigerweise war Oliver in der Nacht kurze Zeit draußen gewesen und hatte da ganz harmlos den Lärm von den Trantonnen gehört, aber geglaubt, das habe nichts auf sich. Oliver sagte, er habe einem guten Kameraden ein solches Ende nicht gewünscht, so einem in Grund und Boden guten Menschen, sagte er. Es war eigentlich fast beweglich, Oliver, einen so armen Kerl, der nicht einmal eine Nadel einfädeln konnte, so gute Worte sagen zu hören, aber Oliver hatte wohl selbst eine gute, interessante Erfahrung darüber gemacht, was ein wirkliches Unglück ist, und diese legte ihm nun die Worte in den Mund ...
Dann stand man wieder vor den Fragen über Leben, Schicksal und Gott, und manche sprachen sich talentvoll darüber aus. Da konnte man doch einmal sehen, was für ein unsicheres, sprödes Seil das Leben ist, und wir tanzen darauf! Olaus schwieg jetzt, aber andere schwatzten. Im übrigen war Olaus vom Wiesenrain doch eine zu geringe Persönlichkeit, als daß sein Tod die Menschen zu dauerndem Nachdenken hätte bringen können, man wurde es müde, immerfort in einen Gewehrlauf hineinzustarren, und man tanzte aufs neue. O, diese Tanzmadam, sie kehrte immer wieder in der Stadt ein, um Eitelkeit und Sünde am Leben zu erhalten. Es war, als werde sie von einer inneren Berufung getrieben. Manchmal konnt' es ihr schlecht gehen, aber sie hielt aus, was tut man nicht für die Kunst auf den Brettern? Als vor einiger Zeit die Fia unterging, und es still in der Stadt wurde, bekam sie keine Schüler, und sie reiste damals recht mager ab, aber als sie nun wiederkehrte, bekam sie die doppelte Zahl Anmeldungen. So sind die Menschen, irdisch und unverändert. Und so sind die Menschen, sie tanzen ebensowohl, ob der Tod in der Nacht wirklich zu ihnen kommt oder an ihnen vorbeigeht — für diesmal.
Manche Ungeduldige wollen in die Vorsehung eingreifen und reformieren; sie planen eine von der jetzigen höchst verschiedene Welt, sie stellen Programme auf, sie schaffen alle Schlechtigkeit ab. Dies tun sie nicht aus [S. 421] Übermut, sie verdrehen nicht den Hals und krähen den Himmel an, nein, sie beten und katzbuckeln sich vorwärts; sie wenden die Notenblätter um und flüstern zärtlich dabei. Aber es wird nicht nach den Noten der Menschen gespielt.
Wer hätte es ehrlicher verdient gehabt, in seinem Programm recht zu bekommen, als der alte Postmeister, aber wer wurde am meisten betrogen? Allerdings setzte ihn ein gewisser Postraub instand, für den Rest seines Lebens ein Idiot zu sein, aber als Idiot konnte er den damit verbundenen Segen nicht fassen. Oder wie, war er auch fernerhin zufrieden, wenn auch auf einer neuen Grundlage, fühlte er, sah er vielleicht tiefer als andere? Es war, als sei er in einer neuen Welt, sei gleichsam eins mit dem Wind und den Sternen, als ein Teil von allem, mit dem er auf der Strömung dahintrieb? Nahrung? Ja, Nahrung nahm er auch zu sich, aber wie gleichgültig war es ihm, woraus sie zubereitet war und ob er sie bekam! Ein Schatten, ein Schemen in Kleidern, ein Abgestorbener, das einzige war noch, daß er das Licht sah und mit den Augen blinzelte, er atmete ein und aus, wenn er erkältet war, nieste er. Aber leisten konnte er nichts mehr. War er deshalb das unglücklichste Geschöpf in der Stadt? Er redete nicht davon, er hätte zuviel sagen können. Die Leute, die ihn gesehen hatten, fanden ihn jetzt ruhig und gefaßt, er sah aufrichtig und natürlich aus, als ob er sagen wollte: „Hier sitz' ich und bin wegen nichts und wieder nichts Idiot, ich hab' meine Gründe dafür, ich hab' mich darein gefunden.”
Und die Dinge gehen ihren Lauf. Vielleicht hatte der Postmeister recht, der meinte, das Leben werde hinter der sichtbaren Welt von einem großen gerechten Gehirn geleitet. Es gab verschiedene in der Stadt, die wahrhaftig allmählich zu diesem Glauben hinneigten. Wie hätte es sich erklären lassen, daß alles eigentlich wieder ganz gut ging. Nun war zum Beispiel die Werft wieder in Gang gesetzt worden. Es gab auch noch andere freudige Ereignisse, aber daß die Werft ihre Tätigkeit wieder aufnahm, das war einfach ein großes Glück für die Stadt. Kaspar hatte wieder Arbeit, alle Arbeiter hatten ihren Verdienst wieder. Henriksen selbst ist zwar wohl nicht gerade auf einen Schlag ein reicher Mann, aber es ist ihm reiche [S. 422] Hilfe zuteil geworden. Es zeigte sich, daß der Doppelkonsul wirklich noch einmal wohltun konnte, wenn er sich in seinen Sessel setzte und die Leitung des Geschäfts übernahm.
Es geht also, alles miteinander geht, und vieles geht sogar gut. Was am allerbesten geht, wissen wir nicht; hinaufsteigen und herabsinken gehört wohl zum Ganzen, alles gehört zum Ganzen. Ein Licht brennt still im Leuchter, die Tür wird aufgemacht, und das Licht geht aus. Wessen Schuld ist es? Schuld, wieso?
„Laßt uns geduldig sein wie die Bäume im Walde!” sagt der Schmied Carlsen. Er beurteilt es nun auf seine Weise, er ist begabt, deshalb sagt er nicht viel, aber er gibt sich Mühe, Gott für jeden neuen Tag dankbar zu sein. Es ist, als hätte er in der letzten Zeit nicht einmal mehr das richtige Verständnis für sein altes Handwerk und die täglichen Dinge. Da stehen sie nun in der Schmiede und sprechen miteinander vom Tode des Olaus vom Wiesenrain und von vielem andern. Dann erzählt der Schmied Carlsen von einer Zeit, wo er keine Kohlen bekommen konnte. Er sagt, seine seien zu Ende gewesen und er habe einige Tage mit der Arbeit aussetzen müssen. „In der ganzen Stadt hat es keine Kohlen gegeben, kein Mensch hatte Kohlen. Es dauerte indes nicht viele Tage, da kamen Gott sei Dank wieder Kohlen an, aber es hätte gewiß viel länger gedauert, wenn sie nur bei mir allein gefehlt hätten.”
„Warum denn?” fragt Oliver.
„Viel länger,” antwortet der Schmied leise. „Denn ich hätt' es nicht besser verdient. Um der andern willen ist mir geholfen worden.”
Da stand er wohl mit einer Art weisen Erkenntnis, war freundlich und demütig, ein wenig dumm vielleicht auch, wie so vieles, was Weisheit ist.
„Und wie geht es?” fragt Abel.
„Es geht gut.”
„Dein Schmiedknecht dort tut wohl seine Arbeit?” fragt er scherzend, indem er auf den Maschinenhammer deutet. — „Ja, Gott segne dich und den Hammer!” sagt Schmied Carlsen. „So, es geht also gut!” sagt er.
Dann tritt er ans Fenster und schaut forschend unter [S. 423] die Bank. Abel fragt, ob er etwas suche, und will ihm helfen. Nein, nein, sagt er, er suche nichts, nein, nein. Dann findet er es, und er hat es gewiß die ganze Zeit über gesehen, tut aber, als sei es etwas ganz Unbedeutendes, das er einmal weggeworfen hat; es ist eine kleine Kiste mit verschiedenen Säckchen darin, mit verschiedenen kleinen Säcken.
„Was ist das?” fragt Abel.
Ja, was ist's? Es liegt nur im Wege.
„Soll ich es auf der Esse verbrennen?”
Der Meister überhört die Frage und sagt: „Nur ein paar kleine Säcke; jeder von ihnen hatte einen, es sind Sachen, die sie sich geschnitzt haben. Jawohl, eine Weile haben sie gar soviel geschnitzelt, meist wurden es natürlich nur Klötzchen, aber die einen waren Boote, und die andern waren Ochsen, und einige waren Menschen aus kleinen Klötzen. Wir haben sie aufgehoben, sie waren ihnen gar so wichtig, und jeder hatte sein Säckchen. Daß die auch noch daliegen, es ist unglaublich! Ich will sie mit hinaufnehmen und sie natürlich in den Ofen werfen.”
Abel bietet sich an, sie hinaufzutragen, aber der Meister geht selbst mit seinen kostbaren Säcken nach oben.
Dann arbeitet Abel weiter. Ein Mann tritt herein und will ein paar neue Wagenräder beschlagen haben; einem Prahmführer ist seine eiserne Kette entzwei gegangen, sie könne doch wohl sofort zusammengeschweißt werden. Abel schweißt eifrig. Er sagt zu seinem Vater: „Wenn du Zeit hast, könntest du die Beschläge hier ein wenig putzen.” Das ist ihr Ton untereinander, freundliche Zwiesprache wie früher, kein Befehlston. Und der Vater bekommt sicherlich nicht den Eindruck, als treibe er sich nur müßig in der Schmiede herum, sondern er ist da und dort notwendig und erwidert: „Ich werde mir die Zeit dazu nehmen.”
Dann feilt Oliver die Beschläge blank, und es sind Henkel und Eckbeschläge für eine Truhe. Sie kommt aufs Land hinaus, wo die Leute noch solide Schmiedearbeit für ihre verschlossenen Truhen und Kisten verlangen.
Und der Tag vergeht in der Schmiede, vergeht unter Arbeit und Zwiesprache zwischen Vater und Sohn. Am Vormittag hat die Blaumeise auf dem Weg zum Kaufmann [S. 424] in die Schmiede hineingesehen, da haben sie sich zu dritt unterhalten. Da die Blaumeise ein helles Kleid trägt, steht Abel von dem Kohlenhaufen auf und ladet sie zum Sitzen ein; nachher behauptet er, sie habe einen Schmutzfleck auf der Stirn und drückt einen rußigen Finger gerade auf die Stelle. Da muß der Vater ja den Taschenspiegel herausziehen.
Sie sind vergnügt zusammen, keines ist dem andern im Wege, als die Blaumeise wieder fortgeht, wird sie vermißt.
Am Abend will Oliver auf den Fischfang hinaus, es hat leicht zu regnen angefangen, es ist also günstiges Wetter zum Fischen. Abel trifft mit dem Vater im voraus Abrede und kauft ihm den erhofften Fang ab. „Wenn du zurück bist, hänge ein nettes Fischbündel an die Küchentür von Stadtingenieurs. Was willst du dafür?”
„Nichts will ich dafür,” erwidert der Vater.
„Oho, du möchtest wohl lieber anklopfen und eine tüchtige Bezahlung vom Stadtingenieur selbst verlangen,” scherzt Abel. „Aber davon will ich nichts wissen,” sagt er. „Hier sind zwei Kronen, mehr gibt's nicht!”
Oliver rudert hinaus und bleibt nicht lange fort, nach zwei Stunden klärt sich das Wetter auf, und er kommt zurück. Er zieht die Fische hübsch auf Schnüre und hinkt in die Stadt damit. Abel weiß vielleicht recht gut, wohin er damit geht. Er geht an Stadtingenieurs vorbei und geradeswegs nach dem großen steinernen Haus mit den Säulen davor; Blut ist dicker als Wasser, er geht zu seinem Sohn, dem Schulvorsteher, und bleibt da vor der Küchentür stehen. Hier macht er seinen Schuh mit Speichel sauber, er wird für einen Augenblick unwahrscheinlich neu und blank, und der Stelzfuß braucht nicht geputzt zu werden. Dann klopft Oliver.
Das Dienstmädchen ist in der Küche, und Franks Frau, Konstanze von der Werft, recht wohlbeleibt, weil sie guter Hoffnung ist, kommt heraus. Oliver hat Takt und gute Manieren, er nimmt den Hut ab und reicht nun seine Fische hin. Das Mädchen nimmt ihm das Bündel ab. Frau Konstanze ist nicht hochmütig, sie dankt ihm persönlich für das Geschenk, sie kennt ihren Schwiegervater, aber sie bietet ihm keinen Stuhl an. „Ach, wenn wir [S. 425] diese Fische zum Mittag gehabt hätten!” sagt sie, um etwas zu sagen. Oliver spielt sich ordentlich auf, genau wie wenn er selbst von vornehmen Leute herstammte, und antwortet: „Soweit es in meiner geringen Macht steht, werde ich das nächstemal früher kommen.” — Nein, entgegnet Frau Konstanze, er solle keine Fische mehr bringen, das wolle sie nicht, da er doch lahm sei, und alles andere noch dazu. — Oliver pfeift auf diese Redensarten, pfeift natürlich nur ganz gemäßigt, bewegt aber unaufhörlich die Hände, wie um anzudeuten, daß er nicht lahm sei, o, er werde schon kommen —
„Du hörst ja, daß ich es nicht will,” sagt Frau Konstanze, „und ich bin gewiß, daß es mein Mann auch nicht will,” sagt sie. Aber Oliver versteht nichts und macht noch weiter. Da bleibt der jungen Frau nichts anderes übrig, als das Mädchen irgend etwas Gleichgültiges zu fragen, und als sie Antwort darauf bekommen hat, dreht sie sich um und geht hinein. Oliver versucht sich indessen mit dem Mädchen zu unterhalten, die Schwiegertochter ging vielleicht hinein, um etwas für ihn zu holen, ein Stück Kuchen, eine kleine Erinnerung, es wäre ihm unangenehm gewesen, zu verschwinden, während sie fort ist. Aber selbst das Mädchen ist wortkarg. Er erkennt sie wieder, es ist das Mädchen vom Tanzsaal, die mit der vollen Brust, er hat ihr damals Zuckerwaren gegeben. Natürlich spielt er jetzt nicht auf jenen lustigen Abend an, nein, hier im Hause ist Oliver ein anständiger Mann, er sagt, das sei einmal eine schöne Küche, eine sehr hübsche Küche. — O ja, erwidert das Mädchen. — „Ist der Schulvorsteher daheim?” fragt Oliver. — Jawohl, der sei daheim. — „Was tut er, studiert wohl?” — Das wisse sie nicht, sagt das Mädchen und macht an ihrer eigenen Arbeit weiter. Oliver wartet noch eine Weile, aber die junge Frau kommt nicht wieder heraus. Da sagt er gute Nacht und geht.
Nichts ist im Wege, nichts unangenehm und verkehrt, Oliver fühlt sich nur ein wenig erleichtert, daß er das Fischbündel losgeworden ist. Er grübelt jetzt nicht. Wenn jemand daherkäme und ihm den Tod anböte, so würde er ihn nicht annehmen, o, weit entfernt, das Leben ist nicht gar zu schlimm, meint Oliver. Nicht alle Menschen haben [S. 426] es so gut wie er: ein Dach über dem Kopfe, das tägliche Brot, ein Zweikronenstück in der Tasche, Frau und Kinder, und was für Kinder! Er ist der unvergängliche Menschenstoff.
Da hinkt er heimwärts. Er ist etwas marode, etwas unvollkommen, aber was ist vollkommen? Er ist, sozusagen, ein Bild des Lebens in der Stadt, es ist in ihm verkörpert, es kriecht, aber es ist darum doch ebenso emsig. Es fängt am Morgen an und dauert bis zum Abend, dann legen sich die Menschen schlafen. Und einige legen sich unter eine geteerte Plane.
Kleines und Großes geschieht, ein Zahn fällt aus einem Munde, ein Mann aus den Reihen heraus, ein Sperling auf die Erde herunter.
Hunger
Roman. 18. Auflage
Münchener Neueste Nachrichten : Statt prunkhafter Ornamente gibt Hamsun nur das jeweils Unerläßliche: in eherner Notwendigkeit aber zugleich den Geist des Irregulär-Schicksalhaften, in dunkler Wahrheit leuchtkräftige Schönheit. Die Holdheit einer Fabelliebe wärmt und weckt Mitlust, ihre Schauer und Schauder reißen mit hinab in tiefes, ungefaßtes Erdenleid. Die Unmittelbarkeit dieses grellsten Erlebens ist nicht Lügen zu strafen: hier spricht eigenstes Erdulden sich aus ... Dieses Realismus grasse Unerbittlichkeit, nahezu schon bis in Ironisierung ihrer selbst erhoben, ist unwiderstehlich. Ein altes Haus erwächst in gespenstisch klare Wirklichkeit, eine Mansarde atmet, je nach Dichters Geheiß, Leben oder Tod, und ein Mädchen eröffnet, wunderlich liebevoll, die lange Reihe hamsunscher Frauen, deren zauberischer Süße heute, in allem europäischen Dichten, einzig die Herbheit hamsunscher Männer ebenbürtig ist.
Pan
Aus Leutnant Thomas Glahns Papieren. 21. Auflage
Der Zwinger, Dresden : ... Nein, alle fachkundige „Erotik”, alle Nervenzerfaserung und die geschickteste Momentphotographie der Welt konnten keinen „Pan” zustande bringen, diesen Hymnus der Liebe und des Waldes. „Pan” war ein germanischer Mythos, eine heidnische Natursage voll ewiger Gottmenschlichkeit, aber so, daß sie den modernen Nerven erreichbar war, daß sie den Großstädter an der Wurzel packte. Was des Germanen Gottesgeschenk und vielleicht seine besonderste Menschenleistung ist, die tiefe Beseelung der Natur: dieser Norweger hatte sie mit einem Male wieder ans Licht gehoben, die alte Wunderblume, aber so rein, so künstlerisch vollendet, daß sie allmenschlich wurde, daß alle Völker, die gegensätzlichsten, und die ganze gegensätzliche Menschheit Europas dieses Entzücken von einem Buche unmittelbar genießen konnten. Große, ungebrochene Naturmenschlichkeit, urphantastische Menschennatur in ihrer ganzen mehr als nur wahren, aber allerwahrhaftigsten Unwahrscheinlichkeit — das ist Hamsun.
Albert Langen, Verlag in München
Knut Hamsun
Victoria
Die Geschichte einer Liebe. 15. Auflage
Die Zeit, Wien : Hamsun hat in der Gefühlsstimmung auch diesmal Saiten gerührt, die nur er so kennt, und mit Griffen, die nur er so meistert. Er weiß mit fast unmerklichen Mitteln jene Situation beklemmender Qual zu geben, in der die Lippen lächeln und die Herzen verbluten; das Schmerzdurchbebte und Verzweiflungszerrissene, ohne daß leidenschaftliche Worte sich entladen. Die Gefühle vibrieren wie die schwebenden Rhythmen der Gedichte in Prosa seines „Pan”.
Volksrecht : „Victoria” ist nicht nur die Geschichte einer Liebe, sie ist ein modernes Hohelied der Liebe, eine ergreifende Verherrlichung ihrer Allgewalt ... So einfach diese Fabel des Romans, so konventionell sie fast erscheint, mit welcher Glut hat Hamsun sie erzählt. Welche tiefe Leidenschaft, aber auch welche ruhige, große Resignation spricht aus derselben. Wir kennen wenige Bücher der modernen Literatur, ja der Literatur überhaupt, die einen tiefern und nachhaltigeren Eindruck auf uns gemacht haben.
Kinder ihrer Zeit
Roman. 11. Auflage
Das literarische Echo, Berlin : Das Buch lebt vom Unausgesprochenen. Es ist ganz mit Silberstift geschrieben, eine Zeichnung aus feinstem Strich. Stimmungen, aus drei Worten quellend. Charaktere, in einem Dialogfetzen aufglänzend. Ereignisse, aus ihren Schatten ablesbar. Also ein echter Hamsun. Der Kritik entrückt wie alles, was uns unmittelbar ans Herz greift. Denn es gibt nur zweierlei: man liebt Hamsun, oder man wirft ihn böse in die Ecke. Von beiden Sorten Lesern gibt es viele, von den erzürnten sicherlich mehr. Man begreift es nicht. Kann irgendein Mensch und Menschlicher zum Beispiel ohne tiefste Erschütterung lesen, wie hier der kleine Willatz auf Freundschaft ausgeht und mit Kätnerjungen erste Erfahrungen sammelt? Oder wie er Mariane, des Holmengraa Tochter lieben lernt? Zwei winzige Liebesszenen zwischen Sechzehnjährigen. Aber so herrlich, so heilig, daß das Buch in der Hand zittert; man hat Scheu, weiterzulesen. Man möchte die Augen schließen, da das Allerheiligste des Herzens enthüllt wird. Hamsun ist der Geist der Liebe.
Albert Langen, Verlag in München
Knut Hamsun
Die Stadt Segelfoß
Roman. 8. Auflage
Weserzeitung, Bremen : Unter die wenigen Heutigen, die uns mehr geben als Unterhaltung und „Literatur”, müssen wir Knut Hamsun rechnen ... weil er ein wahrer Dichter und Künder ist.. Er schreibt Geschichte unserer Zeit . Aber nicht als predigender Reformator, sondern als Beobachter, halb spöttisch, halb mitleidig, geruhsam und doch voll kämpfenden Temperaments. Das kleine ärmliche Segelfoß wächst sich zu einem Jahrmarkt der Menschheit aus ... Dieses Innermenschliche und Gemeingültige schildert uns ein Dichter voll sensitiven Empfindens, voll heißer Liebe zu diesem merkwürdigen Geschlecht unserer Tage, voll stärkster Naturhaftigkeit. Schildert es uns in einer Sprache voll innerlicher Schönheit und Abgeklärtheit. So entzündet er auch in uns die Kräfte, die ihn zwangen zum schöpferischen Gestalten, und bringt uns zu jenem Mitleben und Mitempfinden, das wir von Keller, Raabe, Storm und ganz wenigen Großen her kennen. Lest Knut Hamsun! Gepriesen sei er in unseren Tagen.
Segen der Erde
Roman. 23. Auflage
Die Hilfe, Berlin : Ein Epos ist hier geschaffen, das an Homer gemahnt und dem man doch wieder unrecht täte, wenn man es mit ihm vergliche, so selbständig, ohne Vorbild und Anlehnung, steht es da. Wahrhaftigkeit, Einfachheit, Schönheit — Besseres kann man von einem Buche nicht sagen.
Frankfurter Zeitung : Eine Urgeschichte von Urmenschen in einer Siedlung auf nordischem Ödland. Aus unserer Zeit — denn immer wartet ein Stück Wildnis auf die wilden Menschen, um sie zu Menschen zu machen — aber auch aus alter Zeit, seit dem Verluste des Paradieses, seit den Urvätern mit ihren Herden und Streitigkeiten, auf denen eines strengen Gottvaters ernstes Auge ruht heute wie je. Das ist der große Wurf des neuen Hamsunschen Romanes „Segen der Erde”, vom Einzelnen aufs Allgemeine beschränkt, vom Allgemeinen ins Besondere erweitert ... Nicht nur der skandinavische Norden, Europa hat keinen menschlich-urweltlicheren Schöpfergeist als diesen Ödlandbauern, Fischer und Jäger und Wandersmann: Knut Hamsun.
Albert Langen, Verlag in München
Knut Hamsun
Gesammelte Werke
Neue Ausgabe in zwölf Bänden,
besorgt und herausgegeben von J. Sandmeier
Band 1: Romane | (Hunger. Mysterien) |
Band 2: Romane | (Redakteur Lynge. Neue Erde) |
Band 3: Romane | (Pan. Victoria. Schwärmer) |
Band 4: Romane | (Benoni. Rosa) |
Band 5: Romane | (Unter Herbststernen. Gedämpftes Saitenspiel. Die letzte Freude) |
Band 6: Romane | (Im Märchenland. Unter dem Halbmond. Kinder ihrer Zeit) |
Band 7: Romane | (Die Stadt Segelfoß) |
Band 8: Romane | (Segen der Erde) |
Band 9: Romane | (Die Weiber am Brunnen) |
Band 10: Novellen | |
Band 11: Dramen | (An des Reiches Pforten. Spiel des Lebens. Abendröte. Vom Teufel geholt) |
Band 12: Dramen | (Munken Vendt. Königin Tamara) |
Abnahme des ersten Bandes verpflichtet zur Abnahme der weiteren Bände
Einzeln werden die Bände nicht abgegeben
Breslauer Zeitung (bei der Zuerteilung des Nobelpreises für Literatur an den Dichter): Knut Hamsun ist neben Kielland und Garborg als der glänzendste Vertreter der norwegischen Erzählerkunst, ja als der bedeutendste und universellste Romancier Norwegens bekannt. In seinen Werken ist die Fülle eines bunten, abenteuerreichen Lebens und einer ungemein starken und reichen Seele, ist primitive Ursprünglichkeit und keuscheste Zartheit, qualvolle Wirklichkeit und verklärende Märchenstimmung, überwindender Humor, und lyrisch tönende Sehnsucht.
Albert Langen, Verlag in München
Werke von Knut Hamsun
In Einzelausgaben erschienen:
Hunger Roman | 18. Auflage |
Mysterien Roman | 12. Auflage |
Neue Erde Roman | 8. Auflage |
Pan Roman | 21. Auflage |
Redakteur Lynge Roman | 6. Auflage |
Victoria Die Geschichte einer Liebe | 15. Auflage |
Die Königin von Saba Novellen | 3. Auflage |
Sklaven der Liebe Novellen | 6. Auflage |
Im Märchenland Erlebtes und Geträumtes aus Kaukasien | 3. Auflage |
Kämpfende Kräfte Novellen | 3. Auflage |
Schwärmer Roman | 3. Auflage |
Unter dem Halbmond Reisebilder aus der Türkei | 3. Auflage |
Benoni Roman | 5. Auflage |
Rosa Roman | 3. Auflage |
Unter Herbststernen Erzählung | 3. Auflage |
Gedämpftes Saitenspiel Erzählung | 5. Auflage |
Die letzte Freude Roman | 7. Auflage |
Kinder ihrer Zeit Roman | 11. Auflage |
Die Stadt Segelfoß Roman | 8. Auflage |
Segen der Erde Roman | 23. Auflage |
Die Weiber am Brunnen Roman | 15. Auflage |
Erzählungen Ausgewählt und eingeleitet von Walter von Molo | 20. Auflage |
Abenteurer Ausgew. Novellen | 15. Auflage |
An des Reiches Pforten Schauspiel | |
Abendröte Schauspiel | |
Munken Vendt Dramatisches Gedicht | |
Königin Tamara Schauspiel | |
Spiel des Lebens Schauspiel | |
Vom Teufel geholt Schauspiel |
Albert Langen, Verlag in München
Druck von Hesse & Becker in Leipzig
Einbände von E. A. Enders in Leipzig