The Project Gutenberg eBook of Unsere Nachbarn: Neue Skizzen This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Unsere Nachbarn: Neue Skizzen Author: Ada Christen Release date: September 1, 2019 [eBook #60208] Language: German Credits: Produced by the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by Österreichische Nationalbibliothek - Austrian National Library.) *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK UNSERE NACHBARN: NEUE SKIZZEN *** Produced by the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by Österreichische Nationalbibliothek - Austrian National Library.) #################################################################### Anmerkungen zur Transkription Der vorliegende Text wurde anhand der 1884 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und regional gefärbte Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert. Rechtschreibvarianten wurden nicht vereinheitlicht, wenn diese im Text mehrmals auftreten. Umlaute in Großbuchstaben (Ä, Ö, Ü) wurden in ihrer Umschreibung (Ae, Oe, Ue) dargestellt. Das Original wurde in Frakturschrift gedruckt. Besondere Schriftschnitte wurden in der vorliegenden Fassung mit den folgenden Sonderzeichen gekennzeichnet: Fettdruck: =Gleichheitszeichen= gesperrt: +Pluszeichen+ Antiqua: ~Tilden~ #################################################################### Unsere Nachbarn. Unsere Nachbarn. [Illustration] Neue Skizzen von Ada Christen. [Illustration] =Dresden= und =Leipzig=. Verlag von Heinrich Minden. 1884. Unbefugter Nachdruck wird gerichtlich verfolgt. Der Liese mit herzlichem Gruß die Ada. Inhalt. Seite Die Liese I. 1 „ „ II. 19 Der einsame Spatz 41 Nur ein Wort 65 Im neuen Hause 89 Mama muß tanzen 131 Nachbar Krippelmacher 167 Als er heimkehrte 185 Die Liese. I. „Ja, das ist mir im Kopf geblieben, es ist wahr, Du hast Recht, ich weiß nicht, warum es so ist, aber die Leut’, denen etwas passirt ist, die habe ich nie vergessen können. Es giebt noch eine ganze Menge Bekannter aus unserer Kinderzeit, sie haben geheirathet, oder sind ledig geblieben so wie ich, sie haben Kinder bekommen, haben Glück damit gehabt oder sie sind ihnen an Kinderkrankheiten schon weggestorben, wie das so geht, es ist ihnen nichts besonderes passirt. Einer oder der Andere hat sich sogar viel erwirthschaftet und könnt’ sich die „blaue Gans“, wenn sie noch dort stehen würde, kaufen. Dasselbe Haus, wo er früher in der kleinsten Kammer gewohnt hat!... Mein Gott, er hat halt tüchtig gearbeitet und die rechte Zeit benützt. Das kommt nicht oft vor, und denjenigen, denen es passirt, denen ist es zu vergönnen.“ „Also reich geworden sind auch einige von unsern alten Nachbarn?“ fragte ich die Liese, und sie erzählte dann in ihrer behäbigen nachdenklichen Weise fort. Zuweilen sprach sie wie ein Kind, so schlicht und unklar darüber, wie die Dinge entstanden sind und warum sich Eines oder das Andere so begeben hat, wie sie es schilderte, immer aber voll von feinem Empfinden und manchmal mit dem überraschend scharfen Blick, der einsamen Menschen und besonders einsamen Frauen eigen ist, die bei regem hellem Verstand wenig Gedankenaustausch haben. Die Liese sah und sah immer wieder nach dem hin, was einmal durch seine äußere Form überraschend auf sie gewirkt hatte; sie dachte ab und zu über diese Erscheinung und fragte sich endlich: Warum ist dies oder jenes hier nicht so wie bei allen Andern?... War sie bei dieser Frage angelangt, dann schaute sie noch genauer hin, und es war dies recht ungewöhnlich bei dem unbelehrten, abgeschlossenen Mädchen; das flüchtigste Lächeln, der verschleierte Wehlaut, eine von der gewöhnlichen Umgebung unbeachtete, unbedeutende Bewegung oder Handlung wurde für sie zum richtigen Schlüssel für das Wesen derjenigen, welche ihre Aufmerksamkeit erregt hatten. Sie lernte durch ihre Gedankeneinsamkeit tiefer empfinden, schärfer beobachten und schmuckloser reden wie die meisten Menschen, denen ich in jenen Lebenskreisen begegnet bin. Anfangs wunderte ich mich über ihre langsame, grübelnde Art, über ihr bohrendes Denken, ihr geistiges Festhalten an dem, was ihr als ungewöhnlich auffiel, bald aber fand ich den ihr selbst unbekannten Zug des Außergewöhnlichen in ihr selbst. Liese ist heute vierunddreißig Jahre alt, also ein altes Mädchen, und wahrhaftig eine alte Jungfrau. Sie ist eigentlich sehr hübsch, trüge sie anstatt des grau- und schwarzgestreiften Kleides ein farbiges, und anstatt der langen glatten Blendenscheitel das aschblonde Haar aus der Stirn gestrichen. Lernte der volle Körper ein Mieder kennen, so wäre die Liese vielleicht sogar eine begehrenswerthe, weil beachtete Frauenerscheinung. So aber ging und geht das Mädchen unauffällig durch die Welt, und das Ungewöhnliche dabei ist, daß sie sich das Leben nie anders gewünscht hat. Keine Jugendschwärmerei, keine Alterversorgungs-Sehnsucht hat sie aus dem Geleise gebracht; sie sitzt am Stickrahmen ganz in derselben Weise wie ihre selige Ziehmutter, die Frau Huber, sie hinsitzen hieß, als sie ein Kind von zwölf Jahren war. Wäre die „blaue Gans“ nicht niedergerissen worden, so säße sie wohl noch an demselben Fenster, anstatt daß sie jetzt der Stelle gegenüber sitzt, in dem einzigen alten Hause, welches noch dort steht und auch in seinem neuen Aufputz noch immer an die alte Zeit gemahnt. Ich erinnere mich noch ganz genau des Tages, an welchem Frau Huber die Liese in die „blaue Gans“ brachte. Sie mochte damals ungefähr zehn Jahre zählen, ihre Mutter war gestorben, als sie zur Welt kam, und ihr Vater war damals gerade seit vier Wochen todt. „Zwei ältere Stiefschwestern, Kinder von der ersten Frau ihres Vaters, liegen auch bei den Eltern draußen, und so wär’ das Mädchen mutterseelenallein auf der Welt, wenn ich sie nicht genommen hätt’, wer weiß, was aus ihr geworden wär’, und wer weiß, was noch aus ihr wird, sie ist ein „Charfreitagskind“, mit solchen hat man selten Glück...“ So erzählte die Frau Huber meiner Mutter und den anderen Frauen, welche bei großen Fragen maßgebende Stimmen hatten in der „blauen Gans“. „Mußt gut thun,“ mahnten Alle, und uns Kindern wurde gesagt: „Müßt freundlich sein, daß sie kein Heimweh kriegt, sie ist noch ärmer als Ihr Alle, sie hat nicht Vater noch Mutter.“ „Und was da Alles vorgefallen ist bei der Geburt von dem Mädel, ich sage Ihnen,“ flüsterte die Frau Huber meiner Mutter zu. Wir spitzten die Ohren, aber... „die Kinder sollen im Vorhaus spielen,“ hieß es, und die ganze Schaar sammt der schwarzgekleideten Liese wurde aus der Thüre hinausgeschoben. Als wir wieder hinein durften, sahen die Frauen alle nur die Liese an, und meine Mutter sagte nach einer Weile: „So Gott will, wird aus dem armen „Charfreitagkind“ doch ein tüchtiges Mädel, gelt?“ „Glück habe ich wenig gehabt mit solchen Kindern,“ erwiderte Frau Huber seufzend, und sie wußte ein Lied davon zu singen, denn sie war die gesuchteste „weise Frau“ der Vorstadt. Von jenem Tage ab blieb die Liese in der „blauen Gans“, die Frau Huber wurde ihr eine gute und liebevolle Mutter, ließ sie von der geschicktesten Weißstickerin unterrichten, und so saß sie an ihren Rahmen, lernte sich ihr Brod verdienen und wurde auch richtig ein tüchtiges Mädel. Als die Frau Huber starb, hinterließ sie ihr bescheidenes Hab und Gut -- ihre eigenen Söhne waren draußen in der Welt wohlhabende Leute geworden -- dem Ziehkinde. Liese betrauerte sie wie ihr eigen Fleisch und Blut, sie arbeitete aber weiter wie ehedem, legte Groschen zu Groschen und blieb einsam und allein auf dem alten Flecke sitzen. So fand ich sie fast unverändert nach Jahren wieder. Warum sie nicht geheirathet habe, erklärte sie mir dahin, daß nie ein Mann bei ihr angefragt hätte, daß ihr selbst keiner besonders gefiel, daß sie viele üble Ehen, viel Kindersorgen und Freudlosigkeit gesehen hätte, selbst bei reichen Leuten unter ihren Kunden, wie sei das nun erst unter Ihresgleichen, bei Leuten, die mit blutwenig oder gar nichts zu wirthschaften anfingen. Bei ihrer Arbeit, die gepflegte Hände erfordere, ginge es mit Waschen und Fegen, Flicken, Kochen und Kinderwarten nicht an, daß sie aber ihr Handwerk, welches sie nähre, aufgeben solle, um sich von einem Manne füttern zu lassen, das könne sie nicht begreifen; gut ist gut, sie lebe behaglich ohne Herrn und Ernährer. Die Selbständigkeit sei viel werth. „Wer nicht anders kann, dem muß man sein Recht lassen, wem es aber so besser zu Gesicht steht wie mir, der thut wohl,“ schloß sie mit ruhigem Lächeln ihre Erklärung. Gegen solche Worte läßt sich nichts einwenden, und so leicht und einfach es klingt, so ist die Ausführung dieser simplen Grundsätze doch eine weit schwierigere, und das alte Mädchen mit dem schwarz- und graugestreiften Kleide hat weit mehr Verstand und Kraft dazu gebraucht, rüstig weiter zu leben und sich ein starkes ehrliches Herz zu erhalten, als es heute in seiner Einsamkeit und Gedankenabgeschlossenheit zu erkennen vermag. Seit ich sie damals aufgesucht habe, begegnen wir uns im Jahre nur zweimal, und da im Theater, auf demselben Platze, wo wir als Kinder saßen... Zweimal im Jahre erlaubt sich die Liese, für ihr Geld zu weinen und zu lachen. Am Allerseelentage wird auf allen Bühnen der Residenz ein gruseliges Rührstück gegeben, und diese erschütternde Geschichte sahen und sehen wir uns an der kleinsten Vorstadtbühne von der letzten Galerie herab alljährlich an. Wir sitzen da ganz am äußersten Ende der ersten Bank, nur durch die Mauer von dem Schnürboden getrennt. Wir hören dort Alles sehr gut, aber die Mimen müssen weit an die Lampen vor und sehr inbrünstig zu den Soffiten emporjammern, wenn wir sie von Angesicht sehen sollen, doch die Liese kann die ganze Komödie auswendig und ist gewöhnt daran, sich auf diesem Platze ungestört auszuweinen. Ich glaube sie hat dieses rührende Stück eigentlich noch nie vollständig gesehen, und da sie an dem Herkömmlichen fest hält, wird sie es wohl auch kaum jemals sehen. Der zweite Theaterabend, an welchem wir uns, so wie an dem ersten, um fünf Uhr Nachmittags bei dem Hinterthürchen in der Seitengasse treffen, ist der Fastnacht-Montag. Der alte Mann, welcher ein halbes Dutzend einflußreicher Stellungen an jenem Theater einnimmt, läßt uns durch die kleine Thüre in einen finsteren Gang ein, dort drücken wir ihm ehrlich unser Eintrittsgeld und noch eine Kleinigkeit darüber in die Hand und klettern im Finstern den uns wohlbekannten Weg hinan. Wir und die Mäuse, die hin- und herhuschen, sind die einzigen lebenden Wesen im Zuschauerraum... Nur neben uns, auf dem Schnürboden, da rollt und knarrt und raspelt es, und auf der Bühne, die von ein paar Lampen matt beleuchtet ist, da schlürfen und traben die Theaterarbeiter herum, schleppen Versatzstücke herbei und reden nicht zu viel und nicht zu laut, es klingt alles so verdrießlich in dem wiederhallenden Saal. Der ganze Zuschauerraum ist grau eingehüllt, lange Tücher hängen nämlich von der Brüstung der letzten Galerie bis hinab zu den vornehmsten Plätzen. Und in diesem großen leeren Raum, in dieser anheimelnden Dunkelheit saßen wir als Kinder erregt von ahnungsvollem freudigem Schauern, da sitzen wir jetzt und flüstern und haben das Gefühl, als könnten wir das, was wir reden, eigentlich doch nur hier reden. Dieser Abend bringt aber auch Abwechslung, fast jedes Jahr wird eine andere Posse aufgeführt; und die Liese lacht, daß ihre vollen rothen Backen noch röther werden und ihre graublauen Augen sich mit Thränen füllen, sie lacht, daß die ganze Umgebung mit lacht. Denn nach und nach sind lauter alte Bekannte droben angekommen... Die einst neben uns als Kinder saßen, sind jetzt ehrsame Kleinbürgerfrauen, Blumenmacherinnen, Handschuhnäherinnen, Stickerinnen, Waschfrauen, Kutscherfrauen, zumeist das, was ihr Mütter waren oder noch sind. Es ist eine lustige Schaar Menschen, welche noch herzlich lachen können. In den Zwischenakten aber, und wenn ich die Liese dann ein Stück heimwärts begleite, plaudern wir weiter von vergangenen Tagen, von unseren alten Bekannten und Nachbarn. Da werden gleichsam die Todten lebendig, und die Lebendigen schreiten an mir vorbei in ihrer jetzigen Kleidung und ihrem neuen Gehaben, denn die Liese hat die Begabung, mir die Menschen, von welchen wir reden, sichtbar zu machen... Ahnte sie, welchen Diebstahl ich begehe, wenn ich oft mit ihren Worten die Geschichten unserer Nachbarn, Freunde und Feinde erzähle, sie würde große Augen machen und verdutzt schweigen. Sie weiß es aber nicht, für sie bin ich, was ich einst gewesen, als das will ich ihr wenigstens gelten, denn nur so bleibt sie, was sie mir ist, und in solchem Verkehr vermag ich sie festzuhalten bei der Schilderung irgend einer Person, welche sich ihrem Gedächtniß besonders eingeprägt hat, „weil ihr was passirt ist.“ „Stehen Dir die langen Nägel nicht im Weg’ bei einer feinen Stickerei?“ fragte sie, als ich sie das letztemal im Theater sah, ganz verwundert. Ich hatte im Eifer des Gespräches mich vergessen und meine grauen Zwirnhandschuhe abgestreift, die, wie ich mich noch erinnere, nebst einem braunen Merinokleid unsern höchsten Sonntagsputz ehemals ausmachten. „Freilich, freilich!“ erwiderte ich verlegen, denn ich hatte plötzlich den Gedanken, die Liese sieht doch, daß die Handschuhe und das Kleid und die Art... heute doch nur Etwas wie eine Maskerade sind, wenn auch die Menschen, denen mein Aeußeres gleicht, mir lieb geblieben sind und bleiben werden mein lebelang. „Ja, warum hast sie aber?“ meinte Liese und lächelte gelassen, ich merkte nun erst, daß sie nur meine Eitelkeit beachtet hatte... Sie drückte mit ihrer vollen weißen Hand den glatten Scheitel noch flacher an die Schläfe und sprach wieder; mit einmal aber sagte sie, ihre erste allgemeine Rede wieder aufnehmend: „Ja, ja!... reich sind auch einige geworden von unsern alten Freunden und Bekannten... wie ich Dir schon früher erzählt hab’... aber weißt, die, die durch ihre Arbeit reich sind, die sind noch ganz so gegen Unsereinen, wie sie früher waren... wenn sie auch Zeit gehabt haben, dieweil was Rechtes zu lernen, und sich ihre Haare, weiß Gott, wie hergerichtet haben...“ sie schaute dabei fest auf den Kronleuchter, „manchmal Reden führen, die sich gescheidter anhören, als es Unsereins gewöhnt ist, lange Nägel... tragen... so wissen sie doch, was sich gehört und an was der Mensch alleweil denken soll.“ „Oho, Liese!“ dachte ich, stellte mich aber an, als verstände ich ihre Worte nur im Allgemeinen. „Aber die Andern!... ich sag’ Dir, der Tischlerbub’, weißt, dem sein sparsamer Vater viel Geld hinterlassen hat, und der Kleinholzhändler von der schmalen Brücke, weißt noch? na Du! der hat den Haupttreffer gemacht. Heute hat er ihn gemacht, morgen hat er seinen Holzladen zugesperrt und übermorgen ist er zuerst mit einem Pferd, den nächsten Tag mit zwei und alle Tage mit einem mehr gefahren, bis er soviel Pferde vorgespannt gehabt hat, wie Tag’ in der Woche, weißt, und Alle durcheinander wie in einer Kunstreiterei, so ist er durch alle Gassen gefahren. Ein Paar Andere sitzen alleweil auf dem Altan vor dem Haus, das sie geerbt haben, alle zwei haben sie schon Gliederreißen, aber anschauen lassen sie sich doch draußen, wenn der Wind noch so stark geht. Ich muß immer lachen, wenn ich aus meiner warmen Kammer gerade hinüberschau auf die halberfrorenen neuen Hausherren. Solche Leut’ werden noch viel auszustehen haben von dem zufälligen Geld, ich mein’ der Hochmuthsteufel und die Angst, daß sie es wieder verlieren, läßt sie gar nicht ruhig schlafen. Vielleicht ist es anders. Ich denk’ mir ja allerhand, wenn der Tag lang ist; meine Arbeit braucht keine besonderen Gedanken mehr, meine Hand geht wie eine Maschine auf und ab, auf und ab, auf und ab! Da kann ich an Alles denken, was ich gehört und gesehen hab’ und noch hör... und seh!“... Liese holte tief Athem, lauschte ein wenig mit geneigtem Kopfe nach dem Schnürboden zu, denn es war schon der letzte Zwischenakt, da hasteten die Arbeiter neben uns und es knarrte und ächzte in dem Gebälke noch lauter. Ohne mich anzublicken wandte sich Liese zu mir und seufzte leise, das war etwas seltenes bei ihr, und ich bemerkte nun auch, daß auf ihrem Gesichte eine Verzagtheit und Bekümmerniß lag, die ich von früher nicht kannte, und wenn sie bis jetzt auch breit und langsam wie immer gesprochen hatte, so klang doch etwas Fremdartiges, Besorgtes aus ihrer Rede. Sie schwieg noch eine Weile, aber ganz plötzlich, als hätte sich die alte Liese im Innersten zusammengenommen, wandte sie sich zu mir, nahm meine Hand aus meinem Schoße, drückte sie recht warm, streichelte leicht darüber hin, und dann sagte sie noch langsamer als sonst: „An Dich denke ich auch öfter... fürcht’ mich, daß ein Allerseelentag kommen wird, wo Dir die Geschichte, die sie da unten spielen, zu dumm ist... und Du magst sie nimmer sehen...“ Auf der Bühne wurde es hinter dem Vorhange schon lebendiger, ein leises Glockenzeichen rief die Schauspieler für den letzten Akt zusammen, die Liese stockte ein wenig und schaute hinab auf das langgezogene Apollogesicht, welches den Vorhang schmückt, dann drückte sie meine Hand kräftig und wisperte beinahe Wort um Wort: „Seit ein paar Jahren fürcht’ ich das jedesmal... Ich hab’ Dich nicht gefragt... aber wenn Du doch kommst, dann freu ich mich... über... Dich... Ich bitt’ Dich, werd’ Du nicht anders... ich mein, für Dich ist es gerade so Recht...“ Der letzte Akt hatte eben angefangen, die Liese schaute schnell auf die Bühne hinab und sprach kein Wort weiter. Sie nahm auch das Gespräch nicht wieder auf als ich sie heimbegleitete, als wir durch die alten Straßen gingen, Hand in Hand, wie in vergangenen Tagen. Diesmal lief ich bis an ihr Hausthor mit, und „Uebers Jahr!“ sagte sie lustig, als wir Abschied nahmen... Uebers Jahr!... Der Allerseelentag kommt nun bald, und ich werde die Liese wiedersehen. Was sie aber sagen würde, wenn es einmal zu Weihnacht an ihre Thüre pochen thäte, wenn sie aufmachte und der Briefträger würde ihr ein Büchlein hineinreichen, in welchem zuerst ihre eigene Geschichte gedruckt zu lesen wäre, und dann alle jene, welche sie mir so frisch und lebendig wiedererzählt hat, daß ich sie beinahe ganz so niedergeschrieben habe, die Geschichten jener unserer Nachbarn, „denen etwas passirt ist“. Die Liese. II. Die ganze Geschichte ist eigentlich sehr mühsam zusammengetragen, aus Kindererinnerungen hervorgeholt, aus halbvergessenen Erzählungen herausgehorcht. Die Liese selbst wußte am wenigsten davon zu sagen, oder wollte sie nichts wissen?... Meine Mutter erzählte mir erst jüngst wieder, was sie seinerzeit von der Frau Huber erfahren hatte, aber in ihrer geheimnißvollen, menschenfreundlichen Wichtigthuerei mochte sich die Frau, die am meisten davon wußte, wohl auch nur auf Andeutungen eingelassen haben. Eine alte Magd des „Doktors“, der immer und von allen mit besonderer Betonung genannt wurde, die wirklich nur zufällig über meinen Weg lief, konnte von den schweren Tagen, welche ihr Herr durchmachte, wenn ihm ein Kranker starb, viel sagen. Sie erinnerte sich ganz genau an die Frau Brauner, an die Mutter der Liese, sie wußte auch, wann sie gestorben war, und welche trübe Zeit ihr „Herr Doktor“ nach diesem Todesfall hatte. Die Alte war eine vorsichtige, im Schweigen geübte Person, sie erzählte nur was sie gesehen und gehört hatte, wenn die Frau Brauner zu dem Arzt kam wegen ihres Brustübels. „Wie sie das erste Mal gekommen ist, die Frau Brauner, war sie gerade vier Wochen verheirathet, und da sagte der Doktor schon: Es steht schlimm.“ Als sie mir das erzählte, unterbrach sie sich, besann sich eine Weile wieder und dann sagte sie, bekräftigend mit dem Kopfe nickend: „Ja, ja, gerad vier Wochen war sie mit dem Brauner verheirathet. Sie kam dann fast jede Woche, und dabei wurde sie immer schmaler und weißer, und Thränen hat es da oft gegeben und Seufzer! Du mein Gott! Angst und bang ist mir geworden hier draußen im Vorzimmer, oder wenn sie so verweint an mir vorbeigegangen ist. Und der Herr Doktor war auch recht traurig immer, der hat so viel Mitleid gehabt, er war ein seelenguter Herr!... Aber helfen hat er nimmer können. „Ich habe sie zu spät kennen gelernt!“ hat er mir einmal zur Antwort gegeben, als ich ihn gefragt hab’, ob der schönen lieben Frau denn gar nicht zu helfen wär’. Besonders bang aber ist ihm worden, als die Aussichten auf das Kind da waren, freilich hat er stundenlang der weinenden Frau zugeredet und sie getröstet, aber sie muß selbst gefühlt haben, was ihr bevorsteht, und die Frau Huber, ihre Nachbarin, war auch voll Sorg’ und Unruh.“ Die alte Magd gedachte noch einer Menge Kleinigkeiten, welche mit dem Ereignisse zusammenhingen, am meisten aber kränkte sie sich darüber, daß der „Herr Doktor“ nach Italien, in seine Heimath, zu seiner Schwester gegangen ist, dort unverheirathet weiter gelebt hat und nur alle heilige Zeit einmal ein Lebenszeichen schickte. Seit einem Jahre wußte sie nichts von ihm. Die Alte ist nun auch schon gestorben. Und der Doktor? Bei wem sollte ich nachfragen? Eine Art Scheu hielt mich ab, die Liese anzugehen, sie fragte ich nie nach ihm. Am eingehendsten sprach der älteste Sohn der Frau Huber einmal mit mir von der Liese. Er war auf Urlaub daheim, und wir lachten alle viel über den frischen lustigen Mann, der mit schauspielerhaften Geberden seine Reden begleitete; die Geschichte von Liese’s Geburt, die erzählte er mir, die ich so ein halbwüchsiges Mädel war, weniger lustig und auch so zurückhaltend, als ob er sagen wollte: „Alles kannst und darfst Du nicht verstehen...“ Er leitete die Ereignisse wie eine Kindergeschichte ein; als ich später darüber nachdachte, da hörte ich geheime Thränen rieseln und wortlose Klagen wimmern... Vielleicht habe ich mehr gehört und gesehen, als sich in Wirklichkeit zugetragen hat, vielleicht weniger... So will ich denn Alles erzählen, wie ich es hörte, es geschieht damit Keinem ein Unrecht, aber die Liese bekommt alsdann erst das Buch, wenn ich die zweite Geschichte, welche ich jetzt niederschreibe, herausgeschnitten habe... * * * „Freilich sind sie schon fortgeflogen!“ „„Aber es regnet ja, was es nur Platz hat.““ „Da werden’s alle rostig auf der Reis’, gelt?“ „„Was? nachher können’s gar nimmer läuten?““ „Dummer Kerl!“ Den Schluß dieser Ausrufe machte ein Puff, dann erscholl ein langgezogenes Geheul durch den dämmerigen Dachboden, als aber ein bleicher, wässeriger Sonnenstrahl drüben schräg über den Kirchthurm fiel und die plumpen, grauen Steinzierathen beleuchtete, da schoben sich die Kinderköpfe mit versöhnten Gesichtern schnell zwischen die Gitter des Dachbodenfensters und starrten hinüber auf den Thurm und erzählten sich: „Es ist wirklich nichts drinn in der Glockenstube! Die Glocken sind alle miteinander nach Rom geflogen.“ Fünf Kinder waren es insgesammt, die ihre Schnäbel hinaussteckten, zwei kleine nette Mädchen mit gelben, sorgsam geordneten Haaren, und drei braune, zerzauste Buben. Die „weise Frau“, die unten im Erdgeschoß wohnte, hatte sie je mit einem rothen Ei und einem Stück Osterbrod versehen und so auf den Dachboden gelockt mit der Andeutung, daß sie noch eine oder die andere Glocke, welche sich verspätet habe, davonfliegen sehen könnten. Zuerst freilich hatte sie sich fürsorglich überzeugt, ob nicht mehr als die struppigen Schädel ihrer Buben durch das vergitterte Fenster hinaus könnten, und erst als der Kopf des Jüngsten die Probe überstanden hatte, fuhr sie lustig mit der Hand über alle anderen Köpfe und sagte: „Bleibt’s nur da, bis ich Euch hol’!“ Dann ging sie hinaus, hakte das Vorhängschloß ein, drehte den Schlüssel um, steckte ihn in die Tasche und kletterte wohlgemuth die steilen Treppen hinab. Unten im Erdgeschosse des alten Hauses, -- es stand gegenüber der Kirche und dem Kalvarienberge, welcher die Kirche umgab, -- lag eine bleiche Frau auf einem sorgfältig geordneten Bette, der Schimmer der scheidenden Jugend gab dem Antlitz einen rührendweichen Ausdruck, und wie sie dalag mit den geschlossenen Augen und Lippen, die Hände über der Brust gefaltet, glich sie eher einer Dahingeschiedenen als einer jener Duldenden, die ein neues Leben erwarten ... „So, Ihre Mädeln und meine Buben sind alle miteinander eingesperrt auf meinem Boden, die werden dreinschauen, wenn’s keine Glocken davonfliegen sehen da droben, aber dafür hier unten einen kleinen Kameraden finden.“ Ein schwaches Lächeln der Kranken war die karge Erwiderung. Frau Huber zog ihre Schürzenbänder fester zusammen, strich mit der Hand über das Kopfkissen und sagte dann mit vertraulicher Lustigkeit: „Zu den zwei kleinen Mädeln, von Ihrem Mann seiner ersten seligen Frau, jetzt so einen kleinen Buben von Ihnen dazu! Was? Das wär’ halt das Rechte. Der Herr ist soviel auf Reisen -- da hätten Sie ein bisserl mehr Zerstreutheit -- thäten Ihnen weniger kränken -- na ja! so ein neugebornes Kind giebt eine Menge Arbeit, da kommen einem gar keine anderen Gedanken. -- Und wenn man den allergröbsten und grauslichsten Mann hat, so kommt er Einem höflich und sauber vor, wenn man so ein kleinbeiniges, rothgesichtlertes Kinderl am Arm hat, zu dem er der Vater und unsereins die leibeigene Mutter ist. -- Ich weiß das recht gut, mein gottseliger Mann war auch grad’ kein Engel, aber ein kreuzbraver Mann war er und darum hab’ ich ihn gut leiden können.“ Jetzt öffnete die Kranke die Augen, und zwar erst als sie hörte, daß ihr die Sprechende den Rücken zukehrte. Es waren große, schier zu große, blaue Augen, das Weiße war noch so rein wie es nur bei Kindern ist, aber die Augen hatten einen scheuen Ausdruck... wie hilfeflehend irrten sie von der Frau, die am Fenster stand, hinüber zu der Kirche, dann wieder zu der Thüre und schlossen sich endlich mit ergebungsvoller Demuth wieder. Frau Huber blickte erwartungsvoll auf das Zifferblatt der Thurmuhr, dann zog sie eine große, alte, silberne Männeruhr aus dem Schürzenlatz, verglich beide auf die Minute und ihr lustiges, freundliches Gesicht wurde immer besorgter. Sie räusperte sich verlegen und wandte sich um, als ob sie weiterreden wollte, im selben Augenblick aber rollte lärmend ein Wagen heran und hielt vor dem Fenster jählings an. Als ob sie die Kranke schützen wollte, so rasch eilte Frau Huber an das Bett und nahm sie in ihre Arme. So stark die Frau auch war, die stille Gestalt warf sich doch plötzlich auf den Kissen herum, daß ihr Häubchen zurückglitt und die dichten blonden Haare bis auf den Gürtel niederflossen. Schon stapfte ein schwerer Schritt durch den Vorgang und polterte durch die Gemächer. Thüren flogen knarrend auf und fielen dröhnend zu, endlich quikte schon die Klinke an der letzten Stubenthür und auch diese wäre lärmend aufgestoßen worden, hätte die besorgte Wärterin sie nicht erfaßt und den vierschrötigen Mann, der pustend eintrat, am Aermel seines Reisepelzes gepackt. Mit dem Kinn nur wies sie über die Schulter nach dem Bette und flüsterte: „Der Fanny geht es nicht gut, Herr Brauner, seit gestern ist es freilich ein wenig besser und ich glaub’, es wird sich schon machen, -- aber die Nerven halt, und die Brust! Ich habe mir gedacht ich schreibe Ihnen, es ist gescheidter, Sie sind da, wenn -- aber ich hab’ schon wieder Muth -- jetzt geht es ihr besser,“ schloß sie beruhigend. Der Mann schüttelte ungeduldig beide Arme und reckte den Kopf nur nach der Kranken hin: als er das todtenblasse Gesicht seines Weibes sah, schob er die flüsternde Frau ungeduldig beiseite, hastete zu dem Bette, ergriff den regungslosen blonden Kopf und horchte, indem er sein grobes, unschönes Gesicht nahe an ihre Lippen brachte. „Fanny! ich bin es, Fanny!“ sagte er gütevoll, „Tag und Nacht bin ich gefahren, um Dich nicht allein zu lassen, gerade jetzt, weil die Frau Huber schrieb, daß +schon+ jetzt...“ er schaute sich verwirrt nach der Pflegerin um und fuhr hastig, wie nachsinnend, mit der umgekehrten Hand über die geröthete Stirne hin und her. Die Wimpern der Kranken zuckten, es war, als ob sie die geschwollenen Lider nicht heben könne. „Ich danke Dir,“ lispelten ihre weißen Lippen, und der schwerfällige Mann erschrak, daß er zitterte, als sie ihren Mund auf seine behaarte rauhe Hand preßte; doch als er sein Weib nun zärtlich küßte, da rann ein Schauer durch ihren ganzen Leib. „Wo sind denn meine Kinder, Frau Huber?“ fragte Brauner mit unsicherer Stimme, während er immer auf die unbewegliche Gestalt vor sich niederschaute. „Kinder kann man nicht überall brauchen an solchen Tagen, droben im Dachboden sind’s eingesperrt, da haben Sie den Schlüssel, auf meinem Boden sind alle beisammen.“ Draußen hatte sich ein Wind erhoben, der leicht an die Scheiben pochte, und der graue Himmel war übersät mit kleinen rosigen Wolken. Wie betäubt stieg der Mann die Treppen hinan, immer ließ er seinen gelbblonden Bart durch die Finger gleiten und murmelte, als ob er seiner eigenen Unruhe nachfragen wollte und sich nicht zurechtfinden könne mit etwas Unsichtbarem, Unfaßbarem, das ihn überall anpackte, für das er keinen Namen hatte: „Was ist denn geschehen, was geschieht denn in meinem Haus?... Mein armes Weib!“... Er öffnete die Bodenthür und setzte sich stumm mitten unter die Kinder auf einen bestaubten Balken. Sonderbar war es, und doch fiel es ihm in seinen Sorgen nicht auf, daß seine beiden Mädchen nicht aufjubelten wie sonst, wenn er von einer weiten Handelsfahrt unerwartet heimkam, sie kletterten still auf seine Kniee, schlangen die Aermchen um seinen Hals, schmiegten sich eng an ihn und sagten weinerlich: „Mama ist krank, kommst Du darum?“ „Ja, Kinder, die Mutter ist recht krank, thut’s beten, damit sie wieder gesund wird.“ Er lüftete sein dickes grobes Halstuch rasch und legte seinen großen Kopf auf die flachshaarigen Kinderköpfe, so daß seine Augen nicht zu sehen waren. „Ich habe Alles gethan, was ich konnte, um ihr Freud’ zu machen, und doch war sie nie recht glücklich,“ sagte er insgeheim, „immer so still und so für sich allein... Ich hab’ sie ja nicht zwingen können, daß sie mich nimmt... sie war arm und als Mädel gerade keine von den jüngsten... und eine Waise, ohne Freund und Stütze... Es war ganz anders... Alles anders wie mir, da die Erste geboren worden ist, die Selige hat ihre Freude gehabt, schon bei dem Gedanken an die Zukunft... und ich war ein heller Narr vor Glückseligkeit...“ er drückte das größere Mädchen fest an sich... „und heut’... heut’ ist die Frau in so schwerer Noth, und thut dabei, als ob wir gar nicht recht zusammengehörten!... Nein!... so thut sie nicht, das bild’ ich mir nur ein!... Warum aber bild’ ich mir das ein? Weil, weil... ei da! weil sie halt feiner und vornehmer ist in ihrer ganzen Art, als wie meine Selige war... als ich selber bin... Die große Beamtentochter ist halt doch was anders als das Kleinbürgerkind, die Selige... Ja, ja, das ist’s, wir wissen uns alle zwei noch nicht recht ineinander zu schicken... Nur gesund werden... gesund!... es wird sich schon machen!... Seid nur brav, Mädeln, macht’s der Mutter keinen Verdruß,“ setzte er laut hinzu, „denn Ihr habt’s gar eine gute, brave und feine Mutter.“ Dann grübelte er wieder bei sich weiter: „Sie ist so eine eigene Person, sie hätt’ mich gewiß nicht geheirathet, wenn sie mich nicht gern genommen hätte...“ Eine trotzige, laute Kinderstimme schrie plötzlich in seine traurigen Gedanken hinein. „Sie sein gar nicht davongeflogen, sie hängen noch drinnen im Thurm, grad’ wie die Sonn’ untergegangen ist, hab’ ich sie feuerroth herglänzen gesehen!“ Mit verachtungsvoller Ueberzeugung sagte das der älteste Sohn der Frau Huber und deutete auf den Kirchthurm, „die Frau Mutter plauscht allerhand solche Sachen, die gar nicht wahr sind,“ schloß er naserümpfend. „Wart, Franzi, das sag’ ich der Frau Mutter, daß Du sagst, sie lügt!“ zeterte der Jüngste ritterlich und versteckte sich, da ihm die früher empfangenen Püffe noch vorschwebten, schnell hinter dem breiten Rücken des Herrn Brauner. Da mit einmal scholl die Charfreitagklapper anstatt der Glocken und mahnte zum Abendgebet; die Kinder schraken zusammen und horchten hinaus in die graue Luft auf den fremden, ungewohnten Laut. Sie beteten und sangen aber nicht mit, wie sonst jedes Jahr, wenn sie mit den andern Buben hinter der Klapper herliefen von der Kirche ab, von Haus zu Haus durch die halbe Vorstadt. Deutlich scholl das Lied jetzt herauf, halb gerufen und halb gesungen von frischen Kinderstimmen: „Wir ratschen, wir ratschen den englischen Gruß,“ „Den jeder Christ beten muß,“ „Fallt nieder, fallt nieder auf Eure Knie,“ „Bet’ fünf Vaterunser, fünf Avemarie.“ Die Kinder aber sangen das Lied wirklich nicht mit wie sonst; als die Stimmen schwiegen und die Klapper ertönte, lag es sogar wie Angst auf den jungen Gesichtern, das hohle, klanglose, eintönige Geräusch schien gleichsam herauszuwachsen aus der geheimnißvollen Dämmerung, es konnte nicht mehr voll heraufdringen zu ihnen, der finstere Kirchthurm drüben sah aus, als ließe er mit seinem Schatten zugleich Schweigen und Ruhe hingleiten über die Dächer... Weiter und weiter breitete sich der Schatten aus, kroch hinein bei den vergitterten Bodenluken... schwebte tiefer und tiefer hinab und hüllte allmälig die Erde ein. Die dunklen Schornsteine guckten fast drohend in die kleinen Fenster, jene, welche am fernsten standen, hatten schier menschliche, kampflustige Gestalten angenommen, das schaute sich aber nur so an, weil es zu regnen begonnen hatte und das Wasser rastlos, wie ein leichter Schleier, der hoch oben irgendwo abgewickelt wird, niederrann. Alles das sahen die Kinder nicht zum ersten Mal, und doch machte es sie diesmal ängstlich, und so kam es, daß sie näher und näher heranrückten an den schweigenden Mann, sich knapp neben ihm zusammenhockten, mit verhaltener Stimme ihr Abendgebet hersagten und alle mit heißer Sehnsucht hinabdachten an die hellen Stuben und dabei an die kranke Frau. Unten hatte sich dem äußern Anschein nach wenig verändert, die Lampe war in der Krankenstube schon längst angezündet, aber ein grüner Schirm hielt das Licht von dem Bette fern; die Vorhänge und Fensterladen waren geschlossen, und es war so still in dem Gemache, daß der leiseste unterdrückte Seufzer der Leidenden hörbar wurde. Frau Huber saß neben dem Lager und sprach ununterbrochen zu ihrem Schützling, während sie aber doch ängstlich-gespannt auf das schmale, schattenhafte Gesicht blickte. „Nicht einschlafen! -- Soll ich Ihren Mann rufen, Fanny? -- Er ist schon drüben in meinem Zimmer mit unsern Kindern. Soll ich ihn herrufen, damit er sein jüngstes Mäderl gleich sieht -- oder -- oder soll -- soll der Herr Doktor hereinkommen und -- und zuerst sagen, ob schon wer mit Ihnen reden darf? -- Er wartet schon seit einer halben Stund’ -- der Herr Doktor -- da draußen im Nebenzimmer --“ Frau Huber stammelte und rang unter der Schürze die Hände, daß die Finger knackten, „die Leut’ im Haus werden freilich glauben, ich hab’ zum ersten Mal im Leben kein Vertrauen auf mich selbst. -- Soll’ns glauben! -- Ich hab’ denkt, für alle Fäll’ ist ein Mensch in der Näh’, der Einem eine gewisse Beruhigung giebt.“ Jedes Wort sprach die Frau Huber sehr eindringlich und voll Milde, so daß eine Art Doppelsinn aus ihren Worten zu hören war, besonders da sie immer nach der Thüre hinsah. Es gab eine lange Pause -- eine ängstliche Pause -- und sie machte sich mit dem neugebornen Kinde zu schaffen, damit sie genauer herabschauen konnte auf das Gesicht der Mutter..., und als Frau Brauner mit aufleuchtenden, flehenden Augen zu ihr hinaufsah, rannte sie zu der Thüre und winkte mit beiden Händen hastig hinaus. Da wankte ein Mensch gebrochen und kraftlos in die Stube; auf das junge, schöne Männergesicht hatte verborgen gehaltene Seelenangst einen Ausdruck larvenhafter Starrheit gelegt, von den Nasenflügeln herab bis an das Kinnende zog sich etwas, das nicht Furche und nicht Falte war, sondern in seiner ungreifbaren Steifheit wie hingemalen, wie angeflogen erschien und doch wieder nicht äußerlich deutlich sichtbar. Der peinlich genaue Anzug, die regelrecht gebrannten, dunklen Locken, der duftende, glänzend-schwarze Bart, Alles das sah einer Maskerade ähnlich, etwa, als ob ein Greis mit morschem Knochengerüste Haut, Haare und Kleider eines Mannes angezogen hätte, welcher in der Vollkraft des Lebens ist; nur eine solche Verwandlung, wenn sie denkbar wäre, könnte ein Wesen schaffen, wie dieser Mann war. Er schleppte sich an das Bett, wo ihn zwei Augen erwarteten, die allein noch lebendig waren an dem schönen, feuchtkalten Leibe der Frau. „Vergebung!“ flehte leise der Doktor, während er ihre Hand in der seinen hielt und scheinbar auf seine Taschenuhr sah, er zählte leise und mit bebendem Mund die Pulsschläge, die er nicht mehr fühlte. „Habe... gebüßt... die einzige... Stunde Glück... in meinem... Leben...“ rang es sich von ihren weißen Lippen, dann schauerte der Körper zusammen in scheuer Zurückhaltung, der Blick rückte mühsam hinüber zu dem kleinen Kinde, die Hände der Frau falteten sich ruckweise über der Hand des Mannes und die vergehende Gestalt hauchte nur noch: „Carl...“ „Fanny!“ stöhnte der Doktor. Im dunkelsten Winkel der Stube, die Ellenbogen auf einen Stuhl gestützt, kniete Frau Huber und weinte in ihre Schürze und sprach: „Herr, vergieb ihr, und lasse sie eingehen in Dein Reich. Amen.“ „Erbarmen!“ ächzte der Doktor mit dem erschütternden Klageruf, den übergroßes Herzeleid ausstößt, wenn es zur übermenschlichen Allgewalt in Vedrängniß und Verzweiflung emporfleht. Keine Antwort... „Höre mich!“ bat er in gedämpftem Ton, als wollte er die fliehende Seele festhalten, aber die Frau regte sich nimmer, stumm war ihr Geist hinübergewandelt in jene endlose Stille, in welche kein sehnsüchtiger Ruf der Liebe, kein harter Laut des Hasses dringt... Er stand noch immer ohne seine Haltung zu verändern aufrecht neben dem Lager. Die eiskalten Hände der Todten lagen schwer auf seiner Hand. „Was ist’s, Doktor? was ist’s!?“ jubelte Herr Brauner, der mit freudestrahlendem Gesicht hereingestürmt kam. Der Angeredete ließ die Hände der Entschlafenen sachte niedergleiten, wendete sich um, griff wie blind mit einer zwecklosen Geberde vor sich hin, und sagte dann, während aus dem Schatten um seinen Mund tiefe Furchen wurden, mit einem fratzenhaft-starren höflichen Lächeln: „Ein Mädchen.“ „Fanny! mein liebes Fannerl!“ kicherte in weichem Ton, überwältigt, hingerissen, Herr Brauner und berührte übermüthig-zärtlich und dennoch schüchtern die Wangen seines Weibes, doch wie von einem Schlage getroffen flogen die Hände zurück, er schaute Wahrheit-, Hilfeheischend auf den Arzt, dann wieder in das stille Gesicht der Todten... warf die Arme in die Luft und fiel nach rückwärts bewußtlos auf die Diele... * * * Das Alles geschah an dem Tage, an welchem die Liese geboren wurde. „Man hat halt kein Glück mit einem Charfreitagkind,“ hat die Frau Huber noch oft gesagt, wenn sie Bruchstücke aus der Geburtstag-Geschichte ihrer Ziehtochter erzählte. Der einsame Spatz. Jeden Morgen mit dem Glockenschlage sieben ging er durch den langen Hof der „blauen Gans“, denn er wohnte im Hinterhause bei einem Kutscher in einer geräumigen, hellen Kammer. Er war schon durch Jahre Schreiber bei ein und demselben Advokaten; das wußten die Nachbarn, aber Keiner konnte unterscheiden, ob der Mann alt oder jung sei. Er war sich gleichgeblieben dem äußeren Ansehen nach, seit er sich in der „blauen Gans“ eingemiethet hatte; das blonde Haar hatte fast dieselbe Farbe wie das bleichblonde Gesicht, seine Augen, die immer hinter einer goldenen Brille staken, waren weder blau noch grau, nur auf den Wangen hatte er je eine einzige Furche, wie sie selten bei einem Menschen zu sehen ist, denn sie zog sich scharf von dem äußeren Augenwinkel nieder und verlief am Halse in einen feinen Strich. Diese Furche gab dem Gesicht einen befremdlichen Ausdruck, weil es sonst ganz glatt und zart in der Farbe war, nur der eine Riß machte es eben, daß die Leute sein Alter nicht bestimmen konnten. Der Mann mußte ganz allein auf der Welt stehen, denn nie suchte ihn Jemand auf, nie that er etwas dazu, sich an irgend eine Menschenseele anzuschließen, mit dem Glockenschlage sieben ging er am Morgen zu seiner Thüre hinaus, und wenn es Abends sieben Uhr schlug, hatte er die Klinke in der Hand und schritt in seine Kammer. Er grüßte und dankte höflich, und redete an Sonntagen und Feiertagen sogar einige Worte, wenn er heimkam, jedoch nur mit den Männern... Er saß auch öfter eine halbe Stunde lang in der Dämmerung vor dem Hausthore bei dem großen Stein und beobachtete die Kinder, wenn sie spielten oder sangen, an hohen Feiertagen rauchte er in langsamen Zügen lange an einer Cigarre. Den Rauch blies er in kleinen Wölkchen von sich, und hüstelte wie ein junges Mädchen, das heimliche Rauchversuche anstellt. Sein ganzes Gehaben war bescheiden und still, aber nicht verschüchtert-demüthig. Ein ernstes „Sichselbstgenügen“ nannte es der alte Musikant, der oben in dem kleinen Aufbau wohnte. Der Advokatenschreiber sprach genau nach der Schrift, das wußten auch die Kinder zu beurtheilen, die ihn darob manchmal gar nicht verstanden. Mit dem Nachwuchs der „blauen Gans“ redete er noch am meisten, jedoch nur, wenn die Kinder allein waren und nicht gescholten, geneckt oder gehätschelt wurden von den Alten. Da saß er neben dem Steine vor dem Thore, blickte frohsinnig in das Kindergetriebe, sprach in seiner halblauten Weise zu den Kleinen und streichelte mit seinen weißen, zarten, faltenlosen Händen ihre erhitzten Gesichter, oder er nahm ein steifes Taschenbuch heraus, spitzte die Bleifeder und begann zu zeichnen, und wer ihm über die Achsel guckte, konnte alle Blätter voll Kinderköpfchen sehen. Wenn er das Buch schloß und einsteckte, liefen die kleinen Rangen lärmend zusammen, denn sie wußten, daß er ihnen insgesammt eine tiefe Verbeugung machte und heimkehrte. Wenn er ihnen den Rücken zuwandte, versuchten sie alle diesen vornehmen Gruß nachzuahmen, aber die biegsamen Körper purzelten auf die Erde und krabbelten sich lautlos wieder zusammen, weil sie sich nicht mehr zu lachen getrauten, seit der Laternenanzünder ihnen seine bekannt rasche und schwere Hand gezeigt hatte und ihnen vertraulich mittheilte: „Wer dem „einsamen Spatz“ noch einmal nachmacht und ihn auslacht, kriegt von mir Schopfbeutler.“ Der „einsame Spatz“... Die Weiber im Hause hatten ihn so getauft, weil sie sich seinen Namen, Virgilius Stramirisko, nicht merken konnten. „Hinter dem muß ein rechter Menschenfeind stecken,“ sagte die sehr lebhafte Frau Dunkel und schielte dem Schreiber nach, als er gemessenen Schrittes seinem Heim zuging, die Frau Huber aber meinte: „Ah, bah! Menschenfeind! -- Wer die Kinder und die Viecher gern hat, ist kein Menschenfeind.“ „Und reden thut er so schön Hochdeutsch wie unser Herr Lehrer,“ machte die Liese den andern Kindern begreiflich. Das half aber alles nichts; ob man von ihnen fordern könne, daß sie einen Namen aussprechen sollen, an dem man sich die Zunge bricht, frugen die Weiber; „er bleibt der einsame Spatz, denn wo auf Gottes Erdboden giebt es einen Christenmenschen, den man buchstabiren muß?“ schrie die Frau Dunkel, „nimmt der Nam’ ein End’?“ „Vir-gi-li-us Stra-mir-is-kooo! hat kein End’, was?“ „Einsamer Spatz, halt!“ rief die Hausfrau, und dabei blieb es bis an sein Lebensende, diese Bezeichnung mochte den Frauen als die passendste erscheinen für den einsamen Mann, der sich nie um Weibsleute kümmerte. Das war darum auch ein Köpfezusammenstecken, als er am Ostermontag Vormittag dem alten Musikanten eine Art Staatsbesuch machte, denn er hatte sogar seinen schwarzen Frack mit den kurzen Aermeln und langen Schößen angelegt. Die „blaue Gans“ war in ungewöhnlicher Bewegung, als nach dem Besuche die beiden Männer die Treppe herabkamen und an den Fliederbüschen hin- und herwandelten, in ein leises Gespräch vertieft. Nachdem er einmal einen Nachbarn besucht hatte, wurde ihm schon von den Uebrigen mehr Aufmerksamkeit bewiesen, selbst die Frauen sagten nachsichtig: „Er ist halt nicht gegen alle Leut zuthätig. Wer weiß, was ihm ein Frauenzimmer angethan hat. Na ja! -- Es giebt genug Nichtsnutzige. Es kann ihm allerhand passirt sein und darum bleibt er allein.“ Ferner sahen die Frauen plötzlich, daß niemals ein Hut und ein Rock von ihren Männern am Sonntag so sauber geputzt sei, wie der des Schreibers an jedem Werktage, daß keines Menschen Haare so glatt gebürstet als die seinen, daß niemals Stiefel so blank gewichst waren und keines Mannes Vorhemden und Manschetten so fleckenlos wie die des einsamen Spatzen seien, und darauf verstanden sich besonders die Waschfrauen, die ja allzeit das große Wort führten. Kurz, seit dem Besuche bei dem Musikanten war ein günstiger Umschwung der Meinungen eingetreten, der sich immer breiter machte, denn sogar die Kinder machten dem Schreiber ihren besten Knix, seit sie die Großen so milde von ihm reden hörten. Der alte Musikant, der unter den rüstigen Handwerkern des abgeschlossenen Kreises, ja noch über die „blaue Gans“ hinaus, der einzige Vertreter der Kunst war, hatte also doch Recht behalten, als er in seiner, immer über die Ausdrucksart der Nachbarn erhabenen Redeweise, ihnen den Einsamen näher zu rücken versuchte. „Er ist vielleicht ein heimlicher Künstler,“ vollendete der Laternenanzünder die Erklärung des Musikanten. „Warum malt er alleweil was in sein Büchel mit dem Bleistift? -- Warum zeigt er’s nicht her? Weil gewisse Leut’ gewisse Sachen haben, das weiß ich am besten.“ „Du?“ spottete Einer; „bist Du vielleicht beim Laternenanzünden auch ein heimlicher Künstler?“ „War’s! -- mich hätt’ sollen mein Herr Vater zum Sänger lernen lassen, ich hab’ eine Stimm’ g’habt, daß der Stall zittert hat, und die Pferder vor der Schwadron scheu worden sein, wenn ich gesungen hab’! -- Und was bin ich g’worden? -- Laternenanzünder! Braucht dazu der Mensch eine schöne Stimm’?“ „Och God! och God! was in dem Mann alles gesteckt ist,“ jammerte seine runde Frau und rang verzweifelt die Hände. Er machte eine beruhigende Bewegung nach ihr hin und sagte dann tröstend: „Aber unser alter Geiger, der ist was, der hat eine „Crimineser“. Der kann was! Das haben schon gescheidtere Leut’ gesagt, als wir alle miteinander sind, und der alte Herr wird schon wissen, was der „einsame Spatz“ inwendig ist.“ Der Laternenanzünder behielt in der That Recht; der alte Musikant wußte wirklich seit jenem Ostermontag, wie es in der Seele des Schreibers aussah... Er wußte, daß es gewisse Tage giebt, an welchen gewisse Menschen aus ihrem Geleise kommen und nichts Klares mit sich anzufangen wissen. Entweder scheint ihnen da die Sonne zu hell in ihre dunkle Stimmung, oder der trübe Tag legt sich bleischwer auf ihr Gemüth, oder der Wind trägt ihnen Töne aus verwehten Zeiten heran und raunt ihnen zu, was sie vor Jahren genau an diesem Tage und genau zu derselben Stunde geträumt, gehofft, gefühlt und versäumt haben, und dazwischen läuten plötzlich die Glocken allerwärts, sogar aus dem versunkenen Vineta herauf klingen sie und mahnen... mahnen... mahnen... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feiertage werden solche Tage genannt, das gewöhnliche, eintönige Arbeitsleben ist gestaut, wie sollte da der Gewohnheitsmensch nicht stutzig werden? Und wenn es nun gar Frühling ist und Ostern!... Ach, da ist ja die ganze Luft erfüllt von einer thörichten, weichen Sehnsucht, die gewissen Leute athmen sie ein und hauchen sie aus und gehen mit empfindlich geschärften Sinnen in den Frühling hinein... Erst wenn die Glocken verstummen und der Tag verblaßt, sind sie wieder so verständig, wie es sich für zweibeinige Dutzendwaare und für die Werkeltage des Lebens schickt. Zum Glück giebt es nicht viele solche gewisse Menschenkinder, die vielleicht unentstandene Künstler sind, in deren Seelen an solchen Tagen die Schatten der Schöpfungen spuken, die nicht lebendig werden durften, die aber dennoch Gewalt haben, wenn die Stunde schlägt, und den Einsamen zwingen, weit hinaus zu laufen, von den Glocken und Menschenstimmen weit weg... Der Advokatenschreiber, der am Ostersonntag hinausging vor die Stadt, war wirklich solch ein sonderbares Geschöpf. Zuerst nahm er seinen sauberen glatten Hut ab, lockerte mit fünf Fingern die flach niedergebürsteten Haare, so daß sie beinahe gefällig um die freie Stirn flatterten, dann nahm er vorsichtig die Brille ab und steckte sie behutsam in ihr Futteral, nun öffnete er langsam Knopf um Knopf an seinem festanliegenden Rocke, zog seinen knappen weißen Hemdkragen weiter auseinander, machte ein, zwei tiefe Athemzüge und schritt dann mit vorgestreckter Brust rasch hinaus durch die breite Allee... Je weiter er hinauskam zwischen den alten knospenden Bäumen, desto stiller wurde es um ihn, nur abgedämpft schwammen die Glockenstimmen durch die laue Luft ihm nach. Rechts und links auf den Feldern war die Saat schon handhoch aus dem Boden und stand so gleichmäßig und frisch da wie kostbarer grüner Sammet, und die Sonne schaute hellleuchtend herab auf diese junge Pracht. Sogar ein ganz kleiner Schmetterling mit blauen Flügeln, der viel zu früh erwacht war, flatterte wie ein bewegliches Veilchen zuerst über ein Stücklein Feld und dann immer einige Schritte vor dem einsamen Manne, der wie im Traum einherging. Ein voreiliger Kastanienbaum war über und über voll grüner Blätter, unter diesem blieb der Schreiber stehen und schaute zurück auf die dunstige Stadt... In den alten Nachbarbäumen hörte er den Frühling hantiren, denn manchmal purzelte eine klebrige leichte Hülse von den hochgeschwellten Knospen, und dann lösten sich die jungen Blätter auseinander gleich winzigen Fächern, langsam, geräuschlos... und doch hörbar für ihn, weil eben der gewisse Tag war... Weiter, immer weiter wanderte er hinaus, nur hie und da begegnete er Leuten, die sich in Feiertagskleider gesteckt hatten und zum Weine liefen. Es mochte schon viel volle Schenken geben, weil bald kein Menschengesicht mehr zu finden war. Die ausgedehnten Ziegelschlägereien, die auf Büchsenschußweite rechts und links neben der Allee liegen, sahen an dem Tage erschrecklich verödet aus, überall nur die leeren, langgestreckten Trockenschuppen, dazwischen niedere festzugeschlossene Arbeitshäuser und jeweilig ein Ziegelofen, der mit seinem hohen Schornstein zum Himmel zeigte. Jetzt war kein lebendes Wesen mehr zu sehen und kein Werktagslaut störte die Feierstille... Ach wie ihm das wohl that, sogar der kritzelnde Ton der Feder, die er Jahr um Jahr führte, schwand aus seiner Erinnerung ob dieser tiefen, sänftigenden, erhabenen Lautlosigkeit... Er hielt wieder inne und blickte aber nimmer zurück, ein klein wenig nur schaute er in sich selbst hinein mit festgeschlossenen Augen, dann aber sah er hinaus in die Landschaft... Mit einmal trug der Frühlingswind aus der Ferne leise Töne herüber, und da regte sich auch plötzlich auf einem grünen Fleck vor einem der Schuppen etwas Feuerrothes, Kleines, Rundes. Der „einsame Spatz“ schaute nachdenklich-prüfend auf den beweglichen Gegenstand, der noch am meisten einem rothen Bündel glich, und dann schritt er schneller aus, doch je näher er kam, desto hastiger hüpfte das Bündel in die Höhe, sprang hin und her, fuchtelte mit zwei Enden wie abwehrend und schrie ganz erbärmlich. Ein großer graugefleckter Hund, der alle vier Beine regellos herumschleuderte und seinen plumpen Kopf übermüthig nach rechts und links stieß, trabte und torkelte um den kreischenden Knäuel und wollte spielen, denn als der Mann seine Brille hervorholte, entdeckte er, daß er da ein kleines Mädchen vor sich habe, welches in ein großes grellrothes Umschlagetuch so eingeknotet war, daß es einem Bündel glich. Die Kleine zeterte geängstigt und wehrte den jungen Hund mit einem gleichfalls unförmlichen Etwas, das sie in der Hand hielt, ab. Als der Schreiber dem Kinde zu Hilfe eilte, machte der Hund noch ein paar täppische Sprünge, bellte in’s Blaue hinein, als ob er eigentlich lachte, und rannte davon. „Bäh-äh-ääh!“ schrie das Kind aus vollem Halse und hielt das Etwas noch immer so hoch hinauf, als es anging. „Sei stille. Der Hund ist fort. Komm her. Es geschieht Dir nichts!“ „Bäh-äh-ääh!“ heulte es hinter dem rothen Tuch, das auch über das Köpfchen gezogen war, hervor. Der „einsame Spatz“ hatte sich niedergebeugt und trocknete mit seinem sorgsam gefalteten Taschentuche die nassen Wangen der Kleinen und zog dann ihren runden Arm herab, der auch ihm krampfhaft das vorenthielt, was nach den Begriffen des Kindes eine Puppe war. „Lasse mich doch Deine schöne Puppe ansehen,“ schmeichelte er, doch als er dieses kunstreiche Ungethüm in der Nähe sah, lachte er so hell auf, daß die Kleine mitten in ihrem Jammer stecken blieb. Zuerst schaute sie verdutzt drein, dann hub sie an zu blinzeln und endlich kicherte sie lustig mit. Sie war aber auch eine merkwürdige Erscheinung, diese Puppe... Auf irgend einen zerschlissenen Leinwandlappen hatte jemand Heu und Papierschnitzel gehäuft, die vier Enden zusammengenommen, fest zugeschnürt und dann mit Theer (es roch danach) vier schwarze Striche daraufgeklext, welche, schwerverständlich, Augen, Mund und Nase vorstellen sollten. Dieser Ball, welcher beinahe größer war, als der Kopf des Kindes, war auf ein Stück spanisches Rohr gebunden und somit auch zugleich der schlanke Leib dieser merkwürdigen Menschennachahmung hergestellt. Um noch ein weiteres für die Formenschönheit zu thun, war eine Spanne unter dem Kopfe ein ausgehöhltes Hollunderrohr in Kreuzform befestigt, und bildete so, da es kürzer war als das spanische Rohr, zwei ausgespreizte Arme. Die Bekleidung dieser Puppe bestand aus den bescheidensten Resten eines Kinderhemdes. Der Mann beschäftigte sich beinahe neugierig mit dem fragwürdigen Spielzeug, und dadurch gewann er sich auch das Zutrauen des Kindes. „Haa-a -- had -- die -- Dedel -- Haa-a!“ krähte sie vergnügt, hockte sich vor ihn auf die Erde und zeigte mit den kurzen Fingerchen auf das eckige Haupt der Puppe. Mitten auf diesem Ball war nämlich ein Stücklein verblichenes Rosaband festgenäht, das bis zur Hälfte ausgefranzt herabhing und bescheidene Versuche eines Zöpfchens zeigte. „Richtig, Deine Gretel hat Haare!“ sagte der Schreiber mit gutgeheuchelter Bewunderung, setzte sich auf einen Haufen zersprungener Ziegel, zog das Kind zwischen seine Kniee und fragte: „Bist Du ganz allein da?“ „Ja!“ „Wo ist Deine Mutter?“ „Bei -- bei -- Vada!“ „Wo ist Dein Vater?“ „Widhaus!“ „Im Wirthshaus?“ Das Kind nickte. „Ja!“ „Und was thust Du allein da?“ „Waden.“ Nun mußte er sich besinnen, aber er fand das Wort doch und frug: „Warten?“ Das Kind nickte wieder. „Ja? Auf wen?“ „Auf die Henn’,“ erwiderte sie geheimnißvoll und mit verlegenem Pathos. Sie wandte sich von ihm und horchte hinauf in die Luft. „Auf welche Henne, Kind?“ „Die Henn’ din -- die oden Ei binnen dud, wenn die Dloden alle da dun sein.“ Eben kam ein leiser Schall angeflogen; die Kleine bewegte hastig die Arme wie Flügel und summte ein Sprüchlein vor sich hin, von dem der Mann nichts verstand als die gelallten Worte: „Waze Henn’ und weiße Henn’, Ode Ei dud binnen Menn’.“ Trotz aller Versprechungen wollte das Kind nicht mehr von seinem Zaubersprüchlein enthüllen; als der Mann aber nun wieder weiter wandern wollte, rief es bittend mit weinerlich verzogenem Gesicht: „Dabeiben! dabeiben! domd das dose Hund!“ „Wie heißt Du?“ fragte der Einsame lächelnd, als sich die Kleine bequem auf seinen Schoß setzte, den Kopf an seine Brust legte, sich noch ein wenig zurechtrückte und dann mit zufriedenem Blick zu ihm aufschaute. „Ich heiß’ -- ich heiß’ --“ sang sie halblaut und schläferig lallend, wispernd sagte sie dann: „Veonida!“ Der Mann flüsterte das Wort nach, leise nur wie ein Hauch ging es über seine erbleichten Lippen. „Veronika... Veronika... Veronika!“ Ach, das war ja der geliebteste Name im Himmel und unter der Erde für ihn, denn ein kleiner Hügel in fernem Lande deckte das kleine Mädchen zu, sein Schwesterlein, das so hieß... Da waren sie nun, die vergessenen Zeiten und die geliebten Menschen. Lange schon schlief die kleine Veronika für immer, er aber hat sich doch nimmer zusammenraffen können seit ihrem Tode... Damals war er ein junger Akademiker und träumte davon, ein großer Maler zu werden, damit seine Schwester es recht gut haben könne; er zeichnete und malte, und ihr liebes, feines Gesichtchen kam immer und immer wieder auf Leinwand und Papier, wenn er einen Engel malen wollte. Die kleinen Ersparnisse der todten Eltern verbrauchte er für die Schwester und für seine Studien, doch als er sein erstes Bild für die Ausstellung malen wollte, erkrankte das Kind. Er warf den Pinsel beiseite und saß Tag und Nacht an dem Krankenbette, und als der Tod kam und die kleine Veronika an seine eisige Brust drückte, da ließ Virgil den Pinsel liegen und ging vom Friedhofe hinweg in die weite Welt. Seine wenigen Bekannten sprachen sich abfällig aus über den Schwärmer, der seinen ganzen Lebenszweck, sein ganzes Ziel und Glück auf die arme Karte eines zarten Kinderlebens gesetzt hatte, und die Menschen mied, weil sie ihm nicht ersetzen konnten, was er verloren an dem kleinen, schwachen, liebereichen Mädchen........ Alle diese Erinnerungen und Gedanken hatte der Name aufgerüttelt, und nun trug der Wind neue herüber... und aus der Tiefe klangen sie herauf, die Glockentöne des versunkenen Glückes... und große Tropfen fielen auf das dunkle Gesicht des Kindes.... Veronika regte sich im Schlafe, ließ die Puppe sinken und legte ihre Aermchen um den Hals des Mannes, und ihr Herz pochte ruhig und gleichmäßig an einem sehnsuchtsvollen, schnellschlagenden Herzen. So saßen die zwei wildfremden Menschen eng aneinander gepreßt in der Dämmerstille, bis der Tag verblaßt war und die Glocken verstummten... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Tausend und tausendmal vergelt’s Gott!“ Ein stämmiges Weib rief das dem Fremden zu, der ihr Kind in den Armen hielt. Sie kam die Allee herabgehastet und war athemlos. Hinter sich zog sie einen Mann her, dessen Hand sie wie in einen Schraubstock geklammert festhielt, und um den sie sich weiter nicht viel kümmerte. Der Mann stolperte gleichmüthig durch dick und dünn, nur wenn sie rascher vorwärts lief, langte er mit der freien Hand nach seiner Mütze und zog sie tiefer in die Stirne. Er spitzte nachsinnend die Lippen und pfiff abgebrochen, als ob er über etwas ernsthaftes grübelte. Als die Beiden ziemlich nahe bei dem Fremden standen, ließ die Frau ihren unsicheren Eheherrn los, sie warf ihm einen fragenden Blick zu, den er damit beantwortete, daß er die Beine nach Matrosenart weit auseinanderspreizte, um mehr Festigkeit zu bekommen; trotzdem aber schwankte sein Oberkörper bedenklich rückwärts und vorwärts. Das junge Weib nahm ihr Kind behutsam aus den Armen des freiwilligen Hüters und erklärte mit einer Kopfwendung gegen ihren Mann, halb anklagend und halb entschuldigend: „Er war nicht zum Weiterbringen, der Meinige, ich hab’ ihn aus dem Wirthshaus holen müssen, sonst wär er erst in der Früh’ heimkommen. Wie so eine Zeit kommt, wissen Sie, ist er ein ganz anderer Mensch, er hat so seine gewissen Tag’!“ Der Angeklagte pfiff in etwas höheren Tönen harmlos weiter, als ob von einem Anderen die Rede wäre, er war hauptsächlich damit beschäftigt, seine Füße zu beobachten. „Ich hab’ keine Ruh’ gehabt so lang ich fort war, wegen dem Kind, na ja! Der arme Wurm da, ganz allein! -- Hat’s alleweil geschlafen? -- Ich dank Ihnen tausend und tausend Mal! -- Mitrennen mit mir hat’s nicht können, es ist zu weit, und den Bündel Mädel tragen -- die ist gar schwer, na, Sie wissens ja eh’, gnädiger Herr,“ lachte sie innerlich belustigt und schaute gutmüthig-schelmisch auf den Schreiber. „Veronika heißt sie?“ fragte er sanft, „sie ist ein hübsches, kluges Kind...“ Er knöpfte seinen Rock fest zu, strich sich Hut und Haare glatt und steckte die Brille wieder auf und wiederholte weich: „ein kluges, hübsches Kind.“ „Freilich, gewiß auch! sieht ganz ihrem Vater gleich, blitzsauber,“ setzte sie halblaut hinzu und schaute mit einer Art herben Stolzes auf die perpendikelhafte Gestalt des stillvergnügten Vaters, der noch immer sorglos weiter pfiff. Sie stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite und sagte: „Schämen sollst Dich, daß Dich unser Kind so seh’n muß!“ Er zwinkerte schlau hinter seiner Mütze und antwortete bedeutungsvoll: „Schlaft.“ „Und der gnädige Herr, schlaft der vielleicht auch? Bedank Dich wenigstens bei ihm, daß er Obacht gehabt hat auf unsere Veronika.“ „Vi-va-ve-ronika!“ jodelte der Arbeiter nach der Melodie eines Volksliedes und war so entzückt über den Einfall, daß er seine Frau bei den Schultern nahm, liebkosend hin- und herschüttelte und sie dann in’s Genick küßte. Die Frau machte ein ärgerliches Gesicht, doch in den Augen blitzte ein glückseliges Lachen, während sie sagte: „Bedank Dich, Ignaz!“ Er nahm die Mütze ab, wollte wieder zu pfeifen beginnen, blies aber nur mit vollen Backen in die Luft, dann blinzelte er nach seinem Weibe, drehte die Mütze energisch, ging breitspurig nach vorn und schüttelte den Kopf, weil es sich doch ein wenig schlecht anließ. Mit einmal aber bekam sein junges hübsches Gesicht einen unternehmenden Ausdruck, er schoß auf den Schreiber los, ließ gönnerhaft-heiter die Hand auf seine Schulter fallen und sagte dann zwinkernd und vertraulich, wie zu einem alten Bekannten: „Nichts für ungut! -- Die Meinige hat schon Recht, alleweil Recht!“ -- er kicherte; „es giebt gewisse Tag’, wo mit gewisse Leut’ nichts anzufangen ist.“ Er salutirte wie ein Soldat, machte mit einem Ruck Kehrt, und marschirte krampfhaft-stramm seinem Hause zu. Die Frau schüttelte die Hand des Fremden und ging ihrem Mann auf dem Fuße nach. Durch die Bewegung mochte das Kind in ihrem Arm erwacht sein, denn ihre frische Stimme fragte laut und zärtlich: „Na, ist die Henn’ kommen, Du -- Du?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der einsame Mann schritt im Mondlicht mit ruhiger Seele heimwärts... Als er den alten Musikanten am nächsten Morgen aufsuchte, da hatte er das brennende Bedürfniß, zu reden, einem weichen Menschenherzen sein kleines Erlebniß zu erzählen, das ihn so ganz zurückgeführt hatte in die Vergangenheit. Nach etwa acht Tagen brachte er Abends um sieben Uhr eine über einen Rahmen gespannte Leinwand heim und trug sie in den Aufbau zu seinem neuen Freunde. Wieder nach einigen Tagen kam ein Bube hinter ihm heim, der eine Staffelei trug, dann schleppte er am Sonntag früh einen Farbenkasten daher, und endlich ging er selbst jeden Morgen um sechs Uhr zu dem Musikanten und malte bei ihm. Wenn aber an Sonn- und Feiertagen der alte Musikant seine schönsten Weisen spielte und der „einsame Spatz“ still droben saß bei ihm und malte, da lauschte die „blaue Gans“, und die Nachbarn sagten: „Aha! unsere Zwei künsteln.“ Nur ein Wort. „Erinnerst Du Dich noch an die Prinzessin?“ So fragte mich die Liese, als wir neulich miteinander durch die wenigen unveränderten Gassen wanderten, die uns noch an die Kinderzeit gemahnen. „Ei, freilich!“ Als sie bei uns in dem alten Hause eine Heimstätte suchte, war ich beinahe schon flügge und stand nur unter den scharfen Augen der Nachbarn, denn meine Mutter hatte den Bruder zu einem Lehrherrn in eine kleine Provinzstadt geführt und blieb auf Wochen hinaus der Gast seiner Meisterleute. Nun hatte ich die Kammer für mich allein und konnte darum ungestört von dem Gelärme des Buben und den Seufzern meiner Mutter über alle die Ereignisse und Menschen simuliren, die mir in die Augen fielen und die ich nimmer los bekam. So wie damals gedenke ich noch heute unserer Nachbarn und an bestimmten Tagen auch an bestimmte Personen. Wie oft taucht das sinnende Mädchengesicht der Prinzessin vor mir auf im Wachen, im Halbschlummer und im Traume, und schaut mich an mit zudringlich sanften Augen. Ich sage mir dann vergeblich, daß sich dieses junge Antlitz verändert haben muß, aber es hilft nichts, es ist da in seiner ernsten milden Schönheit, so wie ich es vor langen Jahren sah. Kleinigkeiten hatte ich wohl vergessen, die Liese mußte mir erst wieder sagen, daß die Prinzessin damals aus Italien kam. Warum sie zu ihrer alten Tante zog, zu jener argen Hausfrau, die in ihrem Besitzthum, der „blauen Gans“, so strenges Regiment führte, war uns damals unklar... Wir sahen nur eine üppige, schwarzgekleidete Gestalt aus einem Wagen steigen und streckten alle die Hälse lang aus, denn es war noch früh am Tage, und eine Wagenanfahrt war stets ein aufregendes Ereigniß für unsere, jedem Ueberflusse entlegene Gegend. Wir gafften alle nach der Ankommenden, die rechts und links blickte und dann wie gejagt die Stufen, die zu der Thüre der Hausfrau führten, hinanlief, sie pochte hastig und taumelte über die Schwelle als geöffnet wurde. Eine Stunde später wußten alle Leute in der „blauen Gans“, daß es die Nichte der Hausfrau sei, die nur bei ihrer Tante bleiben wolle, bis sie ihre Ausstattung hergerichtet habe. „Ausstattung?“ fragten die jungen Mädchen neugierig in ihrer etwas schärferen Ausdrucksweise. „Heirathen thut die?!“ „Nein, heirathen nicht, sie geht in’s Kloster --“ sagte der einsame Spatz ganz leise und verbeugte sich höflich. In’s Kloster! Das hatte die „blaue Gans“ noch nicht erlebt, das war etwas vollkommen Neues. In den ersten Tagen nach der Ankunft des jungen Mädchens wisperten und zischelten die Nachbarinnen nur so untereinander, denn die Hausfrau tauchte oft plötzlich an allen Ecken und Enden auf und lauerte horchend an allen Thüren, allgemach aber schwatzten sie doch lauter. Vor meinem Kammerfenster, in der Ecke des Hofes, hatte sich die Hausfrau einen Garten zurechtrichten lassen, das war auch eine vielbesprochene Neuerung in dem alten Hause. Einige staubgraue Oleanderbäumchen, Epheuwände in rohen Holzkistchen, wilder Wein, von dem jedes Zweiglein und jede wässerig-gelbliche Ranke gestreckt und gebunden wurde, und im Winkel eine Laube, aus ungehobelten Staketen zusammengeschlagen und mit rothblühenden Beeren und wildem Wein übersponnen, so sah die erstaunliche Pracht aus, deren verläpperter Umzäunung sich die Kinder nur auf zehn Schritte Entfernung nähern durften. In diesem Gärtchen sah ich die „Prinzessin“, die eigentlich Caroline hieß, zum erstenmale genau. Warum sie „Prinzessin“ genannt wurde, weiß ich nicht bestimmt, die Leute im Hause munkelten nur, daß sie vor vier Jahren ein vornehmer Herr, ein Herzog oder so etwas, von ihren Eltern fort und nach Italien mitgenommen habe, und daß sie nun auf und davon sei und den großen Herrn im Stiche gelassen hätte, seit Vater und Mutter kurz nacheinander gestorben. Die Weiber sagten flüsternd, daß die beiden Alten nicht ehrlich im Grabe verfaulen könnten, denn es sei doch ein schlechter Handel gewesen mit dem Mädel, und in’s Kloster gehe sie nur, weil sie sonst Alles erlebt, was Gott verboten habe, und nun für sich und die Alten büßen wolle. „Aber das Heirathen hat sie doch nicht im Ernst probirt; soll mich nehmen,“ rief selbstgefällig der hübscheste und ärgste Lump, den die Vorstadt aufweisen konnte. „Meinst’, Handschuhmacher, um ihr Geld könnst’ Du schon ein Aug’ zudrücken?“ kicherte ein zahnloser Mund. „Alle Zwei, meinetwegen. Was wär’s weiter?... Bildsauber ist ja die Prinzessin. Soll gescheidt sein!“ So dachten und sprachen die Nachbarn, aber Keinem fiel es ein, sich das stille schöne Mädchen so genau anzusehen, wie ich es that, sobald sie in die Laube kam. Manchmal, wenn sie ganz allein dort saß, den blonden Kopf vorstreckte und die Hände flach übereinander auf den Knieen lagen, wußte ich nicht, ob sie mit offenen Augen schlafen konnte. Keine Bewegung des üppigen Leibes, kein Zug in ihrem weißen Gesichte verrieth was sie dachte, und über meine Arbeit hinweg schaute ich schier nach jedem Stiche zu ihr hin. Als sie aber eines Tages begann, mich anzublicken, unablässig, erwartungsvoll, aufdringlich, da ärgerte ich mich fast über diese großen, fragenden Augen. Und nun konnte sie stundenlang sitzen und in mein Gesicht starren. Es war mir oft, als müßte ich das abschütteln, grob werden oder davonlaufen. Ich spürte ihren Blick, meine Nadel fing stets an ungleichmäßig durch den Stoff zu fahren, ich bekam Herzklopfen und mußte an allerlei traurige Dinge denken. Warum ich doch am Fenster sitzen blieb? Zuvörderst war die Prinzessin die gehätschelte Nichte der bösen Hausfrau und hatte viel Geld, und zunächst war meine Kammer schmal und dunkel, das Fenster tief und niedrig, so daß ich nur vorne knapp am Fensterbrett Licht genug für meine Arbeit fand. „Hat die Fräul’n Lina vielleicht eine unglückliche Lieb’ g’habt, oder so was dergleichen?“ fragte die Laternenanzünderin und fuhr mit der Schürze über die Augen. „Ach was! -- die Lina hat gar nie eine Liebschaft g’habt -- sagt sie selbst -- hat’s auch nicht nöthig -- sie ist reich g’nug dazu -- sie könnt heirathen wen sie wollt’ -- aber sie will halt nicht“ -- erwiderte die Tante protzig. Die Beiden saßen breit in der Laube, hatten große buntbemalte Töpfe vor sich, die bis an den Rand mit starkduftendem Kaffee gefüllt waren, sie tranken schluckweise und schmatzten mit den Lippen. „Und sie will halt einmal nicht!“ schrie die Hausfrau wiederholt, „und weil’s nicht will, so will’s nicht!“ sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und starrte die Laternenanzünderin herausfordernd an. „Freilich, sag’ ich auch,“ erwiderte die Frau verbindlich, „aber -- der Prinz?“ „Na, was weiter? -- der ist älter als ihr leiblicher Großvater war.“ „So, so! -- Ich hab’ halt g’meint -- die G’schicht mit dem Kloster, schaun’s, daß ich Ihnen sagen muß, ist doch was Besonderes. -- Warum denn justament in’s Kloster?“ -- „Da müssen’s schon die Lina selber fragen um das Warum, jedes +Wa+rum hat ein +Da+rum,“ knurrte die Hausfrau verbissen, denn sie konnte die Antwort nicht verwinden und vergessen, welche sie von der Prinzessin auf dieselbe Frage erhalten hatte, sie sagte damals: „Tante, ich suche nur ein Wort, ein Einziges... und weil die Menschen es nicht für mich hatten, weil ich es nie bei ihnen finden konnte, suche ich es bei Gott... finde ich es auch dort nicht, dann... dann...“ Die Frau Huber hatte seinerzeit den Ausspruch gehört und trug ihn weiter, er machte die Runde im Hause, alle Leute lachten, ich lachte darum auch, und die Hausfrau erläuterte ihn, als nachher wieder die Rede davon war: „Ich sag’s Euch, sie ist eine überspannte Gredel, wie ihre Mutter, meinem seligen Bruder seine selige Frau eine war. Die hat gar angefangt zum Bücherschreiben! Ich bitt’ Euch, Leut’, schreibt ein ordentliches Weibsbild Bücher? -- Die Lina hat das Verrückte von ihr d’ererbt.“ Langsam versickerte das Gerede wieder und die Leute kümmerten sich weniger um das Mädchen, nur ich hatte Tag für Tag durch ihre großen Augen zu leiden, und ich war seelenfroh, als der Herbst kam und sie seltener drüben in der Laube saß. Zuweilen fiel mir freilich ein, was das für ein Wort sein könne, das die „Prinzessin“ immer vergebens gesucht hatte und nun nur noch bei Gott finden könne. Am meisten quälte mich das Wort, als sie einmal an einem Herbstabend, angethan mit dem traurigen schwarzen Kleide, mutterseelenallein draußen saß. Sie war noch blässer als sonst und starrte nicht zu mir hin, sondern schaute empor zu den rosiggesäumten Wölkchen, die wie aufgebauschter Schaum bewegungslos am Himmel standen. Die großen Blätter des wilden Weines waren schon gelb und rothbraun, hie und da taumelte ein Blatt in der Luft, drehte sich und fiel auf ihr Kleid oder ihre Hände, sie aber fühlte und sah es nicht, das bemerkte ich, nur ihre Lippen bewegten sich unhörbar... sie sprach leise. Ob sie wohl jetzt das Wort sagt, das sie bei den Menschen vergeblich gesucht hat? Ich kramte zusammen, was ich an für mich schönen und bedeutungsvollen Worten jemals gehört hatte, zumeist fielen mir diejenigen ein, welche in den weinerlichen hochdeutschen Liedern vorkamen, die unsere alten und jungen Nachbarn in der Dämmerstunde sangen. Da war besonders eines, das sehr ergreifend gesungen wurde und immer dieselbe gerührte Stimmung hervorrief, es war die Geschichte eines Mädchens, das in’s Kloster ging: „Und willst Du in’s Kloster gehen Und werden eine Nonn’, So will ich das Kloster anzünden, Ja, ja, anzünden, Daß ich wieder zu Dir komm’.“ „Ich hab’ in meinem Herzen So viel von Lieb’ und Treu’, Daß ich für Dich will sterben, Ja, ja, will sterben, Dann ist die Noth vorbei.“ Liebe und Treue!... Vielleicht sucht sie ein solches Wort und kein Mensch sagt es ihr, denn außer in so feinen schönen Liedern höre ich die Leute gar nie diese Worte aussprechen. Vielleicht ist gar irgend wie Einer, der auch aus lauter Lieb’ und Treu’ das Kloster anzünden thäte, in das sie gehen will, und der Eine weiß es nur nicht, wo die Lina und das Kloster ist, und darum kann er ihr das Wort nicht sagen... So grübelte ich vor mich hin, und wer ganz zufällig in das pochende Herz und in das ungeschickte Hirn hineinzublicken vermocht hätte, der hätte vielleicht ein zerfahrenes, ungelenkes Gedicht dort träumen und empfinden sehen. „Fräulein Caroline!“ rief ich plötzlich mit einem großen Entschluß mitten aus meinen Träumen zu ihr hin. Ihre fragenden, ernsten Augen senkten sich, sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite und starrte mich dann wieder so an, wie sonst immer. „Fräulein Caroline, ich weiß was!“ rief ich mit gedämpfter Stimme hinüber und winkte ihr mit beiden Händen. Sie stand auf und lief zu mir herüber. „Was sagen Sie?“ fragte sie leise. „Ich hab’ schon gehört, daß Sie ein Wort suchen, alle Leut’ im Hause wissen es auch. Ich mein’, ich weiß das Wort!“ „Du?... Sie?...“ sagte sie leise, und ein schwaches Lächeln bewegte ihre zarten Lippen. „Lieb’ heißt das Wort! Gelt?“ rief ich fröhlich. „Arme Kleine,“ flüsterte sie, „wer hat Dir das Wort gesagt?... Liebe!... Davon reden Alle.“ Sie sah mich jetzt nimmer an und wendete sich um, als ob sie fortgehen wolle. „Nicht? ist es das nicht,“ schrie ich aufgeregt ihr zu, „dann heißt es aber gewiß Treue, nicht wahr?“ Jählings wandte sie mir das weiße Gesicht zu, zwei große Tropfen zogen eine nasse Schnur über ihre flaumweichen Wangen und hastig fragte sie: „Großes Kind, warum sagst Du mir das, warum +denkst+ Du an ein Wort, das Du nicht empfinden kannst, warum... ach warum?!“ bat sie klagend. „Weil ich halt neugierig bin,“ gab ich ehrlich zur Antwort. „Ich möcht’ wissen, ob Sie auch noch in’s Kloster gehen, wenn Einer das Wort zu Ihnen sagt.“ „Neugierig...“ sie seufzte schwer. „Hast Du Eltern?“ „Nur meine Mutter, aber die ist --“ Sie winkte abwehrend, stützte sich leicht an das Fenstersims und sprach weiter: „Vielleicht ist es besser so... Denke nicht an das Wort... Vergiß auch die Worte, die Du mir gesagt hast... Glaub’s, Lieb’ und Treu’ giebt’s keine, Alle, die davon reden, lügen... Du hast es aber gut gemeint, ich dank’ Dir und werd’ später auch für Dich beten...“ Schwer, traurig, langsam fielen die Silben von ihren Lippen, und ohne Gruß ging sie davon. So oft sie später auch an meinem Fenster vorbeiging, nie mehr sprach sie zu mir, und ihre großen Augen suchten mich nimmer. Der Winter kam, und ich hörte nur von den Nachbarn, daß drei Näherinnen oben bei der Hausfrau saßen, und daß da zugeschnitten und genäht wurde, als ob es eine große Hochzeit geben sollte, derweilen aber nähten sie das Weißzeug, das die Prinzessin mitbringen mußte in’s Kloster. „Dreimal so viel als die Nobelste, die drin ist, nimmt sie mit, die Lina,“ erzählte die Hausfrau, und wurde dunkelroth vor seltener Freude. „Und was geschieht denn mit dem vielen Geld, das die Fräul’n hat?“ fragte der lange Laternenanzünder mit überlegener Miene. „In’s Kloster gehen, heißt soviel, als wie sich hinlegen und sterben,“ erklärte die robuste Frau bestimmt. „Ich bin ihre einzige Blutsverwandte. Die eine Hälfte hat sie mir vertestamentirt und die andere Hälfte kriegt das Kloster.“ Etwa um Neujahr kam auch ein neuer Miethsmann in die „blaue Gans“: ein blutjunger Student, der immer nur singend oder pfeifend durch den Hof schritt. Er war so schlank, daß er sich im Gehen nach rechts und links wiegte wie ein geschmeidiges Rohr, und dabei hatte er breite Schultern und einen gedrungenen Hals, auf dem ein lachender wunderschöner Kopf saß. Die kurzgeschnittenen Haare glänzten wie ein Thierfell, so schwarz waren sie, und die Männer sagten scherzend: „Der Teufelsbub küßt unsere Weibsleut’ nur mit seinen kohlschwarzen Augen.“ Er spitzte aber auch immer seine vollen rothen Lippen, wenn ihm ein Mädchen nahe kam, aber er war nicht keck, nur so fröhlich und übermüthig, wie ich noch keinen jungen Burschen gesehen hatte. Im Handumdrehen war er auch überall daheim, rannte von einer Stube in die andere und spielte selbst mit den kleinsten Kindern draußen im Hofe. Als am Sonntag Nachmittag in der großen Waschküche getanzt wurde, da sprang er deckenhoch und schwang uns so um, daß die Ziegelsteine knirschten, auf denen wir uns drehten. Er hieß Franz, war wohlhabender Eltern Kind und wollte eben da herunten bei den kleinen Leuten leben, er müsse sparen lernen, sagte er, wenn er uns die Schürzentaschen mit Rosinen und Mandeln vollstopfte. Er konnte auch viel schöner singen als alle Anderen in der „blauen Gans“, und als ich ihn einmal ein ganz vornehmes Lied singen hörte, dachte ich doch wieder an Lieb’ und Treu’, und ob der Franz nicht etwa das Wort wüßte, das die Caroline nicht finden konnte. Die blasse Prinzessin jedoch war nie zu sehen, im Mai solle sie fortreisen, so sagte die Hausfrau und rieb sich vergnügt die Hände, jetzt sei sie ein wenig krank. Vor der Zeit noch wurde es in jenem Jahre Frühling, und in dem kleinen Gärtchen draußen war alle braune Erde blaßgelb hergeputzt, Schneeglöckchen gab es in Fülle, und die magere Weide, die im Spätherbst gesäet worden, hatte richtig am Palmsonntag ihre schönsten silbergrauen Palmkätzchen aufgesteckt. Der junge Student saß an dem Tage in meiner Kammer und las mir und zwei älteren Mädchen aus einem Studentenliederbuch vor. Zuweilen sang er leise die Melodie dazu, und wir kicherten und lachten, wenn wir mitkrähen mußten. Wir drei Mädchen saßen mit dem Rücken gegen das Fenster gekehrt und er stand vor uns, hielt das Buch in der einen Hand und mit der andern fuchtelte er über dem Kopfe in der Luft herum, wenn er sang oder sprach. Mit einmal aber zog er die Augenlider zusammen, hob sich auf den Zehen und blinzelte hinaus. „Wer kommt da?“ fragte er und öffnete rasch die Lippen. Wir wandten uns um und erblickten die Caroline, die langsam über den Hof in das Gärtchen kam. Sie hatte statt des schwarzen Kleides ein dunkelgraues angethan, und ihre blonden Haare steckten fast ganz verborgen hinter einer weißen Haube. „Ah, das ist die Prinzessin, die in’s Kloster geht,“ sagte die Franziska gleichgültig zu ihm. „Die -- in’s Kloster!“ schrie er und schlug mit der Faust an die Mauer, daß wir alle zusammenschraken. „Warum?“ fragte er dann und räumte uns nur so rechts und links mit den Armen vom Fenster fort, damit er die Caroline besser sehen konnte. „Und willst Du in’s Kloster gehen Und werden eine Nonn’, So will ich das Kloster anzünden.“ Das fuhr mir plötzlich durch den Sinn, als ich den Studenten so wild vor mir sah. „Ja, ja, anzünden!“ Dennoch dachte ich, ob es nicht viel gescheidter wäre, wenn er es thäte, die Lina könnte dann wieder davonlaufen, anstatt für alle Zeit dort eingesperrt zu bleiben und dort zu sterben. Weil wir ihm nicht genug von der Lina zu erzählen wußten, schalt er uns „dumme Mädels“ und rannte davon. Von der Stunde ab ließ sich jedoch der Student von Jedem, den er nur erwischen konnte, die Geschichte der armen reichen Caroline erzählen. Wer weiß, was sie ihm Alles sagten, denn er wurde immer wortkarger und trauriger, und paßte nur überall auf, ob er die Prinzessin nicht erblicken könne, aber sie war nicht zu sehen, weder für ihn noch für die andern Leute. Da kam der Mai, ernst und feierlich riefen es die Glocken in die blühende Frühlingswelt, als sie das Frohnleichnamsfest einläuteten; durch die Straßen scholl Musik und betäubender Weihrauchduft schwamm dem festlichen Umgang voran, der sich langsam heraufbewegte, immer näher dem alten Hause zu. Drinnen war es still und leer. Die Kinder schritten paarweise in Feiertagskleidern hinter dem Allerheiligsten und die Anderen harrten alle vor dem Hausthor der Herrlichkeiten, die es zu sehen gab. Auch der Student stand unter ihnen, aber er wandte keinen Blick von dem Wagen, der seitwärts des Hauses wartete. „Fährt sie wirklich heute fort?“ fragte er ungestüm den Laternenanzünder, der in voller Invalidenuniform neben ihm stand. „Freilich, freilich, Du mein Gott, es ist auch besser, sie taugt ohnedem zu nichts Rechtem mehr.“ Der Franz zerknüllte seinen weichen Filzhut mit beiden Händen. Da war nun die Prozession knapp vor uns. Die Fahnen flatterten im Frühlingswinde und die hellen Stimmen der jungen Sänger übertönten die dumpfen Paukenschläge, das Gedröhne der Posaunen und das Schmettern der Trompeten, dazwischen scholl zeitweilig der grelle kurze Klang der Handglocken, welche zwei Chorknaben abwechselnd im Takte schwangen. „Gelobt sei Jesus Christus! Gelobt -- sei -- Je-e-sus -- Chri-i-stus!“ sangen Alle jauchzend, die ungeregelt hinter den Priestern drängten, und es war, als ob es nur glückliche Menschen auf Erden gäbe... Jetzt zogen die letzten vorüber, noch ein paar alte Weiber mit verblichenen blauen Fürtüchern, dann aufgestöberte Staubwolken, die hinter dem Zuge herwirbelten, und dann nichts weiter als der verbrausende Lärm, der mehr und mehr verhallte, bis nur noch die Paukenschläge wie ferner Donner herübertönten. Und nun kam der große Wagen, der mit ein Paar fetten Pferden bespannt war, vorgefahren und hielt vor dem Hausthor. Zwei Nonnen stiegen aus, nahmen ihre weiten dunklen Gewänder mit den wachsgelben Händen sorgfältig zusammen, als sie durch die Gruppen der Leute gingen, und verschwanden in der Hausflur. Niemand rührte sich von der Stelle, alle warteten mit einer unbehaglichen Neugierde, der Student aber biß die Zähne übereinander, daß ich es hörte. Nach einer Weile kam die jüngere der beiden Nonnen mit der Hausfrau, und Beide stiegen in den Wagen; bald darauf kam die Prinzessin mit der zweiten und schritt dem Klostergefährte zu. Bis dahin hatte Franz immer mit dem Hute in der Hand dagestanden; als er Caroline kommen sah, packte er den Arm des Laternenanzünders und sagte am ganzen Leibe zitternd: „Laßt Ihr es denn wirklich geschehen?!“ Der Mann zuckte mit beiden Achseln. Die Himmelsbraut stand an dem Wagen, setzte den Fuß auf den Tritt und sah noch einmal zurück auf das Haus; da schleuderte der Student seinen Hut weit weg, sprang hin, faßte das todtenbleiche Mädchen am Arm, riß es zurück und rief den Leuten zu: „Hat denn kein Mensch +Mitleid+ mit ihr, und sagt ihr, was sie thut!“ Ich habe das Antlitz der armen Prinzessin gesehen in dem Augenblicke, ich habe den aufjubelnden Schrei gehört, als er das Wort Mitleid aussprach; ich habe gesehen, wie auch sie die Arme nach ihm ausstreckte, und ich sah auch, wie die Nonne sie in den Wagen schob und die Thüre zuschlug... Eine kreischende Stimme schrie alsdann durch das Fenster: „Fahren!“ „Zu spät,“ sagte eine andere eiskalte in dem Gefährte. Die Pferde rissen an dem Wagen und er holperte eilig über die Hügel und durch die Gruben, obgleich sich der Student an das eine Hinterrad geklammert hatte und wie ein Gassenbube neben der Kalesche hinsprang. Da hieb der Kutscher mit der Peitsche nach ihm auch so, als ob er einen übermüthigen Burschen abwehren wollte, und der Franz blieb jählings stehen... Als er zurücktaumelte zu uns, wichen ihm alle schon von weitem aus, denn er war unheimlich anzusehen mit den großen schwarzen Augen, und quer über sein todtenbleiches Gesicht hatte er einen feuerrothen Streifen. Er stand wie ein bewußtloser Mensch vor dem Thore und starrte nach dem kleinen Gärtchen hin, dann wandte er sich um, schwang den Arm über den Kopf und drohte mit der Faust nach der Richtung, in welcher sie die Prinzessin davonführten. „So will ich das Kloster anzünden!“ Ich mußte das laut gedacht haben, denn die Umstehenden lachten mir in’s Gesicht. Der Franz ging langsam Schritt für Schritt in seine Kammer, und am nächsten Tag fuhr auch er mit Sack und Pack davon und Keiner in der „blauen Gans“ hat von ihm je wieder etwas gehört oder gesehen. Von der Prinzessin jedoch wurde oft gesprochen. „Sie ist ganz glücklich und zufrieden jetzt,“ erzählte ein Jahr später die Hausfrau, „sie redt mit keiner Menschenseel’, nicht einmal mit mir. Sie sagt nur: „Grüß Gott! und b’hüt Gott!“ und bet’ Tag und Nacht, die Schwester Magdalene, so heißt die Carolin jetzt. Die andern Nonnen sagen mir das Alles und sagen auch, es ist gescheidter, wenn gar Niemand zu ihr kommt. Na, ich glaub’, ich werd’s nimmer sehen.“ Ich aber sehe die arme Prinzessin öfter. Zuweilen taucht der sinnende Mädchenkopf vor mir auf im Wachen, im Halbschlummer, im Traume, und schaut mich an mit zudringlich sanften Augen, als wollte er sagen: „+Mitleid+ hieß das Wort, das ich zu spät gefunden ...“ Im neuen Hause. „Bei uns wird ein neues Haus gebaut!“ „Was? -- wo!?“ „Auf dem Feld’ oben!“ „Auf welchem Feld?“ „Na, neben der Trockenwiese.“ „Wer sagt’s?“ „Die Männer, die dort abmessen thun; am Montag fangen sie schon zu bauen an.“ So schwirrte es durch die „blaue Gans“, als nach dem Avemaria-Läuten die Nachbarn Zeit fanden, miteinander zu plaudern. Als ob ein Schuß in einen Spatzenschwarm gefallen wäre, so fielen diese Nachrichten unter die zwanzig Ehepaare, die mit wenigstens dreimal so viel Kindern in dem großen alten Hause lebten, das am äußersten Ende der äußersten Vorstadt lag. Niemand konnte es glauben, daß neben der langen Trockenwiese, wo Tag für Tag, wenn es nicht regnete, die schönste Leinenwäsche flatterte, jemals ein Haus stehen würde. Aber es half da alles Denken, Fragen und Reden nichts, der Montag kam und die Werkleute kamen auch. Einige hundert Schritte hinter dem Trockenplatze fingen schon die Kornfelder an und zogen sich weit hinaus; wenn die zu Ende waren sah man über ein Dorf hinweg den Wald so nahe, daß man sein Rauschen zu hören meinte, wenn der Wind hergeflogen kam über das wogende Korn. Auf dem ersten Felde also war abgemessen worden und da ging es nun frisch an’s Bauen. Nachdem sich die Kinder der „blauen Gans“ einmal darein gefunden, daß nicht nur links nebenan ein altes Haus dastehen dürfe, sondern auch rechts ein neues und noch dazu entfernteres hinkommen müsse, waren sie auch bald zufrieden, ja im Handumdrehen waren sie sogar alle bei dem Bau. Freilich gab es da ein fröhliches Getümmel für das kleine Volk, und jeden Abend wunderten sich die Alten, daß die Jungen mit heilen Gliedern heimkamen, denn ihre Keckheit wurde zugleich mit dem neuen Hause größer. Sie saßen auf den Leitern und Gerüsten, in den Fenstern und auf dem Dachboden, und als der Dachstuhl fertig gezimmert war, hockten sie mit besonderem Stolz auf den höchsten Sparren. Darunter war Eine, die sich gar bis auf den Rauchfang verstieg. Wie oft wurde die ganze Schaar von allen Ecken und Enden fortgejagt; was half es aber, sie kamen bald wieder herangeschlichen, bis endlich die Arbeiter nur mitlachen konnten, wenn sie die pfiffigen kleinen Gesichter überall hervorlauern sahen. Die Kinder armer Leute kann man schon herumklettern lassen, die wissen ja blutwenig von Gefahren: „Lern’ Dich selbst schützen“ und „Erfahrung macht klug“, wird ihnen mitgegeben, sobald sie flügge werden, wenn auch mit anderen Worten, welche nicht alle Welt versteht; die älteren unterweisen und bewachen die jüngeren in ihrer Art oder Unart, und so wächst das Zeug meist wild und gerade und gesund in die Höhe. Ein Tannenbaum, mit bunten Schleifen aus Papier verziert, wurde nach etwa einem halben Jahr auf den Giebel gesteckt, die Werkleute kamen in ihren Sonntagskleidern, obwohl es erst Samstag war, in die Hausflur wurde ein großer Tisch gebracht, der weiß überdeckt war, volle Flaschen und leere Gläser waren genug da, und nun wurde eingeschenkt und ausgetrunken, dem Bauherrn, dem Baumeister, dem Bauleiter und den Arbeitern, Allen wurde zugejubelt, dann wurde abgeräumt, während im Hause drinnen selbst noch genietet, genagelt, gehobelt und angestrichen wurde. Schneller jedoch, als es die Nachbarn erwartet hatten, kam das Ende des lustigen Getriebes, das Haus wurde zugeschlossen, es war fertig. Später kamen noch hie und da Leute, die den eingegitterten Gartenplatz umgruben, große Gesträuche und ausgewachsene Bäume einsetzten. Besonders viel Mühe gaben sie sich mit dem Vorgarten, aber sie schlossen auch stets das Gitterthor ab, so daß die Kinder von der Straße nicht hineinkonnten, darum auch kümmerte sich bald niemand mehr um das neue Haus, es blieb wieder unbeachtet etwa ein Jahr lang. Da kam ein Tag, an dem es drüben lebendig wurde. Zuerst fuhren große Wagen voll Möbeln vor das Gitterthor, dann kamen eine Schaar Männer, die abluden und Alles hineinschleppten; dann kam ein langer starker Herr, der den Hut schief auf dem Kopfe sitzen hatte, die Brust sehr weit herausstreckte und viel mit den Leuten herumschrie. Manchmal sang er ganz laut oder er versuchte zu singen, schüttelte den Kopf, hielt die Fingerspitzen seiner großen Hand leicht über den Mund und räusperte sich, versuchte wieder zu singen und schlug, wenn der Ton nicht aus der Kehle wollte, ungeduldig die feinen grünen Ansätze von den Sträuchern ab. Wieder wurde das Haus zugeschlossen, der singende Herr steckte den Schlüssel ein, schaute sich sein Nachbarhaus, die „blaue Gans“, und die Kinder alle durch sein Augenglas an, kneipte das größte und hübscheste Mädchen in die Wangen und schlenderte trällernd davon. „Aber ich bitt’ Euch, kennt’s Ihr ihn denn nimmer?!“ schrie die alte Frau Weiß verwundert. „Wer soll es denn sein?“ fragten einige, die dem vornehmen Herrn nachgesehen hatten. „Meinem Leopold sein Lieutenant war es. Jesus! Jesus! was aus Einem alles werden kann! jetzt ist der Hausherr!“ „Ja, die Weißin hat Recht!“ bestätigte der Laternenanzünder, „es ist der Fleischhackerbub’, der Offizier war und nachher Sänger g’worden ist, der hat’s werden können, weil sein Herr Vater ein gescheidter Mensch war. Drin’ im großen Theater hat er gesungen, aber nicht lang’,“ schloß der alte Dragoner beißend. „Der Blank, der Blank!“ murmelte die Frau Weiß nachdenklich, „na, der muß Glück gehabt haben. Seine Alten haben sich ja auch schon zur Ruh’ gesetzt, sein reiche Leut’!“ „Der Georg Blank hat ihnen’s schon leichter gemacht, die Geldsäck’,“ spottete der Laternenanzünder, „aber reich geheirath’ hat er, die überspannte Fabrikantenstochter droben von der Hauptstraßen, die hat sich in seine Stimm’ verschossen. In +die+ Stimm’, die hat halt nie eine ordentliche Stimm’ gehört!“ Am nächsten Tag schon kam ein festgeschlossener Wagen vor das neue Haus gefahren, aus dem stieg zuerst eine alte Jungfer. Als ihr der Hut herabfiel, sahen die Kinder, die gleich hinzugerannt waren, daß sie kahle Stellen hinter den Ohren hatte. Dem Buben, der ihr den Hut aufhob, gab sie einen tüchtigen Puff in die Rippen, dann steckte sie ihm aber das Vogelhaus in die Hand, das sie beim Aussteigen weit von sich hinweggehalten hatte. Nach ihr stieg eine verschleierte Frau aus dem Wagen, die sehr rasch durch den Vorgarten in das neue Haus ging. Der Wagen fuhr wieder davon, das Haus war also bewohnt. Jetzt hatten die Leute aus der „blauen Gans“ über und über zu thun mit den neuen Nachbarn. Die Kinder waren rührige Boten. „Frau Mutter! Frau Mutter! eine dicke Köchin haben’s und ein Mannsbild, das hat goldene Knöpf’ am Frack, das ist ein Bedienter, sagt die Liese, es ist aber gar nicht wahr, er hat einen Bart wie ein gnädiger Herr,“ erzählte athemlos der Kutschersohn aus dem Hinterhause. Am meisten beneideten die Kinder aus der „blauen Gans“ das junge Ding, das im Hause hin- und herlief, die Botengänge besorgte und sich von dem alten Stubenmädchen, das Josefa hieß, auszanken ließ, wenn sie durch das Gitter heraus mit der Liese plauderte. Die Liese erzählt noch oft, wie wohl ihr der Anblick der feineren Leute da drüben that, und sie wurde für hochmüthig verschrieen, als sie zu jeder Tageszeit hinüberlief, denn drüben wurde sie freundlich aufgenommen. An einem Frühlingsmorgen, als sie ganz allein um das neue Haus herumstieg, sah sie die junge Hausfrau zum ersten Mal in dem Vorgarten. Die schlanke Gestalt saß dort und schaute in den klaren Himmel hinein, auf ihren blonden dichten Zöpfen lagen eine Menge Blüthen, die von den weißen Fliederbüschen niederfielen. Wie Schnee waren die kleinen weißen Sterne anzusehen... und ein so helles leichtes Kleid hatte sie an!... Die Liese stand da, hatte den Kopf zwischen die Eisenstäbe gepreßt, schaute in das junge liebe Gesichtchen und dachte: „Hat der Laternenanzünder, der Alles weiß, halt doch gelogen, die da drin ist gar keine Frau, das ist ein Mädchen, die Frauen sehen so aus wie unsere Mütter drüben, die haben keine solchen Haare wie Goldfäden und keine dunkelrothen Lippen, und keine so großen blauen Augen, und solche kleine Hände haben sie nicht einmal gehabt, wie sie so alt waren wie ich jetzt bin. Wenn sie nur herschauen thäte...“ Als die junge Frau endlich zu ihr hinblickte, schaute sie eine Weile in das erglühende Kindergesicht, dann nickte sie und winkte der Liese, die auch frischweg zu ihr lief. Sie fragte dann, ob die Kleine aus dem Nachbarhause sei, wer Vater und Mutter wären, was die Leute in der „blauen Gans“ thäten, und dabei strich sie der Liese die Haare glatt und drückte ihre schönen rothen Lippen auf die Augen des Mädchens. „Du bist gewiß viel hübscher als Du brav bist,“ sagte sie lachend, „denn ich kannte andere hübsche Kinder, die keine Beulen auf der Stirne hatten.“ Die Kleine wunderte sich im Stillen, daß die Frau das gleich bemerkt hatte. Am Vorabend erst war sie in einen Kampf verwickelt worden, und weil sie zu wenig dreinschlug, bekam sie mehr Hiebe als die Andern. Die Liese wurde über und über roth und ließ alle zehn Finger der Reihe nach knacken, sodaß die junge Frau sie lächelnd ansah und ihr drei große Groschen schenkte. Sie dürfte sich wohl niemals bedankt haben, denn sie rannte vor freudiger Ueberraschung spornstreichs davon, herüber in die „blaue Gans“ und zeigte erst ihrer Ziehmutter und dann der mittlerweile versammelten Jugend ihren Schatz; endlich aber wickelte sie die drei Groschen fein säuberlich in ein Stück Papier ein, legte das Päckchen in eine Nachtlichterschachtel und vergrub es an einem heimlichen Ort auf der Trockenwiese neben dem Judengarten. Warum? Sie weiß es heute selbst nicht mehr, vielleicht wollte sie kein Geschenk, das einem Almosen glich. Mit der blonden Frau Blank aber war sie von jener Zeit ab gut Freund geworden und sie brachte fast alle Freistunden drüben in dem Garten zu, während die anderen größeren Mädchen auf dem Trockenplatz die Wäsche hüten mußten. Das war Ursache genug, die Liese zu beneiden. Der Herr Blank, der Mann der Frau Anna, ging immer schon am Vormittag vom Hause fort, er sang so lange er daheim war und hielt nur inne, wenn er seine Frau zum Abschied auf die Stirne küßte und sie fragte: „Findest Du nicht, daß meine Stimme schöner und voller klingt?“ Dann sang er von dem tiefsten Ton bis zum höchsten, ohne Athem zu schöpfen. Die Frau Anna lachte und antwortete ihm auch einmal: „Warum machst Du Dir so viel Mühe und Sorgen, was thut es auch, wenn Deine Stimme weniger voll klingt?“ „Das wirst Du nie begreifen,“ schrie er, küßte sie diesmal gar nicht und ging singend davon. Zu Mittag kam er stets heim, und wenn er tüchtig gegessen hatte, ritt er am Nachmittag mit seinem Diener aus, und wir hörten ihn oft noch weit aus den Feldern herein singen, so eigentlich schreien. Am Abend kam er auch wieder pustend und trällernd heim, meistens aber fuhr er bald wieder davon, und oft hörten wir noch spät in der Nacht seinen Wagen vorbei rollen, und da klagte mir die Liese manchmal, wenn wir bei der Arbeit saßen: „Siehst Du, jetzt kommt er heim und weckt mit seiner Singerei und seinem Lärm die arme Frau Anna auf.“ Er brauchte sie aber nicht zu wecken, seine Zimmer waren rechts und ihre links im Erdgeschoß, das obere Stockwerk war zur Hälfte unbenützt. Das stille Haus mochte den Herrn Blank selbst für die wenigen Stunden langweilen, die er daheim zubrachte, und so erlebten wir, daß die halbkahle Josefa einen großen Zettel an das Gitterthor hängte, auf dem gedruckt stand, daß im Stockwerk eine Wohnung zu vermiethen sei. „Du mußt mehr Leben im Haus haben, wenn ich nicht bei Dir sein kann, Aennchen,“ sagte Herr Blank zu seiner Frau, die nachsinnend zu ihm aufblickte. Lange Zeit hing der Zettel im Regen und Sonnenschein draußen und kein Mensch kümmerte sich darum, endlich aber kam ein hagerer junger Mann mit einem dicken Frauenzimmer, das den Hut mit hellgrünen Federn vollgesteckt hatte, einen himmelblauen Sonnenschirm und eine grellrothe Mantille trug. Die Beiden sahen sich Alles genau an, sprachen wohl eine Stunde mit dem Herrn Blank, der sehr lustig war und während der Zeit, als er die Beiden von Gemach zu Gemach führte, nur manchmal leise sang. Dafür schrie er später um so mehr. Er kam trillernd zu seiner Frau und sagte ihr: „Der kranke junge Mann heißt Gottfried, und das Frauenzimmer, welches ihn begleitet hat, ist seine Haushälterin Babette. Er braucht gesunde Luft und Ruhe, er wird +uns+ nicht stören und wir +ihn+ nicht, ich habe ihm die Wohnung gegeben.“ Damit war alles abgemacht und die Miether kamen schon am nächsten Tag und brachten einen Diener, eine Magd, einen Papagei und die Menge schwerer Kisten und Truhen mit. Am Anfang war der Herr Gottfried noch sehr krank, da kam er wenig an die frische Luft; doch je wärmer es wurde, desto öfter kam er in den Garten, und immer watschelte die Haushälterin neben ihm her, trug sein Buch, seine Medizinflasche, seinen Ueberrock und seine Fußdecke, die sie ihm über die Kniee breitete, wenn er sich niedersetzte. Die Kinder waren schon neugierig, zu wissen, wie der kranke Herr in der Nähe anzusehen sei, und darum liefen sie alle rund um das Gitter, wenn er in den Garten kam. Die Liese wußte es genau, denn die durfte auch bei der Frau Anna sitzen bleiben, wenn er zuweilen unter den Fliederbüschen Rast hielt. Es war jedoch nichts besonderes zu sehen an ihm, ein seidenweicher blonder Bart hing ihm von beiden Wangen herab, das Gesicht war sehr weiß, die Nase gebogen und so schmal wie ein Messerrücken. Mit der Frau Anna sprach der Kranke immer sehr sanft und halblaut, so als ob Jemand in der Nähe schlafen würde, den er nicht aufwecken wolle. Die Liese hörte die Beiden gern miteinander reden, es klang viel schöner, als wenn der Herr Blank trillerte und schrie; sie sprachen zumeist von Dingen, die in Büchern standen, und das Kind hätte gern viel gelernt. „Ist die dicke Frau mit dem gelben Schlafrock dem Herrn Gottfried seine Mutter?“ fragte sie einmal ganz verblüfft, als seine stete Begleiterin dahergerauscht kam in einem orangegelben Schlafrock, nach der Uhr sah, ihm die Medizin aufnöthigte und ihn wieder in seine Wohnung führte. „Nein, mein Liebling, sie ist seine Haushälterin,“ sagte Frau Anna lächelnd. „Warum denn?“ „Soll er, der Kranke, selbst seine Kleider, seine Wäsche und seinen Tisch in Ordnung halten?“ „Soll halt ein Mädel heirathen!“ Frau Anna schaute die Liese verwundert an, zu ihren Häupten aber lachte der Gottfried ganz laut, er saß am Fenster und hatte Alles gehört. Bald kam der Kranke jeden Tag in den Garten herab und sagte oft, er habe sich lange nicht so glücklich und gesund gefühlt, wie jetzt in dem neuen Hause, und er bekam auch wirklich rosenfarbene Wangen und in dem glattrasirten Kinn ein Grübchen. Der Sommer ging hin und die Menschen hatten sich alle aneinander gewöhnt. Wenn der Hausherr daheim blieb, so spielte Herr Gottfried Zither und der schreiende Blank sang dazu. Der Liese war das nicht lieb, er hatte eine Stimme, die ihr immer bange machte, sie fürchtete, jetzt und jetzt müsse er zerplatzen, wenn er so dunkelroth im Gesichte wurde, und sie räusperte sich auch immer anstatt seiner, wenn er recht heiser krächzte. An solchen gemüthlichen Abenden konnte Herr Blank sehr viel Bier trinken, und dann erzählte er lärmend, daß er ein berühmter Sänger gewesen sei, daß kaum ein Zweiter so viel Glück beim Theater gehabt hätte als er, nur seiner Frau zu Gefallen, die eifersüchtig wie eine Mohrin sei, habe er das Theater verlassen. Durch die Muße leide aber seine Stimme. Er probirte nach solchen Reden gleich wieder zu trillern, stützte die Hände auf den Tisch, wenn er stand, drückte die eine Wange an seinen steifen Halskragen, zog die Augen klein zusammen, hielt den Kopf schief und schaute lauernd auf seine Frau hinab. „Jetzt ist meine Anna vernünftiger geworden. Sie weiß, was sie an mir hat. -- Gelt Du? -- Jetzt läßt sie mich eine Gastspielreise machen. Die Welt soll wissen, daß der Sänger Blank der Sänger Blank geblieben ist!“ Sobald er viel getrunken hatte widerholte er dieselbe Geschichte mit denselben Worten. Frau Anna erwiderte nichts, sie schaute ihn nur manchmal, wenn er sie nicht beachtete, so sonderbar an, als ob sie ihn früher noch nie gesehen hätte. Wenn er aber mit der Haushälterin des Herrn Gottfried sprach, so redete sonst niemand mit. Er sagte ihr Allerlei halb in’s Ohr, was die Andern wohl nicht verstanden haben, denn die Frau Anna schaute still auf ihre Arbeit nieder und Gottfried kaute an seinen Fingernägeln, nur die dicke Babette lachte, daß sie sich schüttelte, und die Liese saß auf ihrem Schemel und dachte über die vier Menschen nach, soweit es mit dem Denken anging. In der ersten Zeit saß die Babette nie die langen Abende bei der Frau Anna, sie kam nur täglich, seit der Herr Blank sie selbst herbeigerufen hatte, er kümmerte sich damals nicht um die erstaunten Augen seines Weibes, die ihr weißes Kleid ganz nahe an sich zog, als sich das breite Frauenzimmer neben dem Stuhl des Herrn Gottfried zurechtsetzte. „Die Babette ist eine sehr tüchtige Person, die einen Spaß versteht und den schwachen Menschen gut pflegt; Du brauchst ja keinen weiteren Verkehr mit ihr zu haben,“ sagte Herr Blank, als die Haushälterin den jungen Mann hinaufführte. Nun aber blieb es so, sie kam jeden Tag herab, jedoch niemals in die Zimmer der Hausfrau. Sie veränderte sich auch immer mehr, sie wurde immer jünger. Das konnte sich die Liese nicht erklären. Mit braun- und weißgemischten Haaren war sie eingezogen, und als es Winter wurde, hatte sie beinahe gar keine weißen mehr; dabei wurde sie sehr schön weiß und roth im Gesichte und war so zusammengeschnürt, daß sie keuchte. Als der Winter kam, war die Liese nun schon jeden Abend drüben, denn die Frau Huber war viel außer Hause, und wirklich warm eingeheizt wurde es nur in den Stuben, wo der Musikant geigte, wenn er seinen freien Abend hatte, oder beim Nachbar Krippelmacher, wenn die große Arbeit begann, oder wenn die alte Therese, die Spitalwärterin, daheim blieb und die Geschichte vom „ewigen Juden“ vorlas. So viel Leute da in eine Stube hineinkonnten pfropften sich hinein, und die Alte keifte eintönig die langen Buchseiten herunter, nur alle Fremdworte buchstabirte sie halblaut und schrie sie dann heraus, noch lauter als alle andern. Den vorhergehenden Winter hatte sie „die Geheimnisse von Paris“ in die „blaue Gans“ gebracht und damit für die Bildung der Bewohner gethan, was ihr nothwendig schien. Die Kinder schliefen freilich ein, weil es so warm und still war in der Lesestube. „Wenn man nur wüßt, ob das wirkliche Menschen waren und ob sie noch leben oder schon alle gestorben sind,“ jammerte die Laternanzünderin, so oft die Therese eine Pause machte, weil sie ein wenig „Luftschnappen“ mußte. Daß die Liese der alten Vorleserin durchging und in das helle warme Speisezimmer der Frau Anna schlüpfte, wurde ihr hart angeschrieben, es wurde als Widersetzlichkeit gegen die Bildungsmission der alten Therese aufgefaßt und als Hochmuth. „Willst auch mit hinüber, Christel? -- Die Frau Anna ist heut ganz allein,“ flüsterte mir die Liese einmal zu, als die Therese in der großen Waschküche vorlas. Es war so heiß, dumpf und dunkel dort, daß ich meinen schweren Kopf an die Schulter der Liese gelehnt hatte. „Ei ja!“ zischelte ich, und wir schlichen uns hinaus und liefen vor das Thor. Das Mondlicht machte den Weg noch viel weißer als er am Tage war, kein Lüftchen regte sich, es war so still, daß wir auf dem weichen Schnee noch unsere eigenen Schritte hörten, in dem neuen Hause rührte sich keine Seele... Langsam taumelten große Flocken von dem weißgrauen Himmel, ich hielt inne, stand mit aufgesperrtem Munde und schaute hinauf, es war alles so schön in dem fremdartigen Licht... Auch der Garten sah sich anders an als sonst, alle Zweige und Zweiglein flimmerten voll von feingezacktem Eise. Es war, als ob Alles aus dem Schaufenster des großen Zuckerbäckers in der Stadt genommen wäre, so zart-durchsichtig, wie mit glitzerndem Glas übersponnen, stand es da, und ganz oben auf jeglichem lag leicht und flaumig der weichgefiederte erste Schnee... Aber es wurde noch schöner! dort wo sie im Frühling immer saß und wo die Liese sie zum erstenmal gesehen hatte, unter den Fliederbüschen, saß wieder die Frau Anna und schaute hinauf in das Mondlicht... Auf ihren blonden Zöpfchen lagen Schneeflocken... Wie weiße Blüthen waren die kleinen Sterne anzusehen... und ein so helles Kleid hatte sie an... Als sie die Liese erblickte ging sie ihr entgegen, stäubte den Schnee leicht von sich ab, nahm die Hand des Kindes und führte sie ohne ein Wort zu reden in das Haus, ein paar Schritte ging ich hinterher, als mich aber niemand rief, kehrte ich um und trabte wieder in die heiße Waschküche. Nicht lange ist es her, daß mir die Liese nachgrübelnd und mit feuchten Augen die Geschichte also zu Ende erzählte: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Die Frau Anna führte mich in das Speisezimmer, da saß der Herr Gottfried ganz allein, er sprang auf als wir eintraten, wankte wie müde durch das Zimmer, nahm die Hand der Frau und küßte sie oft und oft nacheinander, sie schaute ihn starr an und ließ ihm ihre Hand, aber plötzlich bewegte sie die Finger hastig, als ob sie etwas fortschnellen wollte, und ging ohne Wort und Gruß, mich fest an der Hand haltend, in das nächste Zimmer. Dort setzte sie sich unter das lebensgroße Bild ihres Mannes, der einen Ritterhelm mit einer rothen und einer schwarzen Feder auf dem Kopfe hatte und in einen weißen Mantel zur Hälfte eingehüllt war. Das Bild sah ihm so ähnlich, daß ich fürchtete, es finge zu singen an. Die Frau Anna aber saß da so blaß wie eine Leiche, und starrte hinauf in das lächelnde freche Gesicht... Draußen wurde die Thüre zugeschlagen und ich hörte deutlich, wie der Herr Gottfried die Treppe hinaufging; auch sie hörte es, denn sie zog mich fester an sich und stand auf, als ob sie mich als Stütze gebraucht hätte. „Willst Du bei mir bleiben... ich fürchte mich...“ sagte sie ganz leise, und es schüttelte sie am ganzen Leibe. Ich getraute mich kaum zu antworten und nickte ihr nur freundlich zu. Sie rief das alte Stubenmädchen, schickte es zu meiner Mutter und ließ anfragen, ob die Liese über Nacht hier drüben bleiben dürfe, der Herr sei verreist und es sei ihr bange allein... Das Alles sagte sie so gleichmäßig her, so tonlos, daß selbst die böswillige alte Person sie mitleidsvoll ansah. Meine Mutter ließ sagen, es sei ihr eine „besondere Ehr’“, ich aber war im Innersten unwillig und doch beklommen, und wäre lieber heimgegangen, als daß ich da neben der bleichen schweigsamen Frau hinging, die mich langsam aber rastlos von einer Stube in die andere führte. Wenn wir bei dem Bilde des Herrn Blank vorbeikamen, erhob sie immer den Kopf, und einmal lächelte sie ihm sogar zu, ihr schönes Gesicht verzerrte sich aber dabei, daß sie mir wie eine Fremde erschien. Stunden mögen hingegangen sein und ich war so müde, und die Hand, welche sie fortwährend in der ihren hielt, war eiskalt und gefühllos; da kehrte sie plötzlich um und ging hinüber in ihr Schlafzimmer. Ich fiel in einen großen Lehnsessel und rieb meine erstarrte Hand. Jetzt aber geschah etwas, das mir vorkam, als erlebte ich ein allerschönstes Feenmärchen. Das alte Stubenmädchen, die Josefa, kam und brachte mir zuerst sehr viel und sehr feines zu essen, süßes, saures Obst, Backwerk, alles aß ich und trank dazu etwas, das ich früher nie getrunken hatte. Dann kleidete mich die Josefa aus, steckte mich in ein langes weißes Hemd und führte mich in das Schlafzimmer der Frau Anna. Ich durfte mich in ihr Bett legen. Das will etwas sagen! -- in ein Bett aus rosenfarbener Seide und Spitzen und lauter durchsichtigen Vorhängen, die von der Decke herabhingen. Auf den Vorhängen waren große Blumen und Vögel und Schmetterlinge, wenn die nicht weiß gewebt gewesen wären, hätte man glauben können sie seien lebendig. Zuerst getraute ich mich nicht ein Glied zu rühren, so weich und glatt war das Bettzeug; als ich mich aber bewegte, ging es wie in einer Schaukel, zuerst tief hinunter und dann hoch hinauf; ich kicherte in die Federdecke hinein vor Entzücken. Heute noch sehe ich mich in dem seidenen Nest liegen.... Oben sitzt ein goldener Engel, der hält alle Vorhänge in einem goldenen Ring zusammen; vor dem Bette hängt eine weiße Lampe und das ganze Zimmer ist wie vom Mondlicht überflossen. Es ist mäuschenstill, nur die Uhr tickt sachte und oben im ersten Stockwerk geht es immer auf und nieder... auf und nieder... das ist der schlürfende Schritt des Herrn Gottfried... Neben mir sitzt die Frau Anna, ihre Hände liegen auf meinem Kopf und sie schaut mit weit offenen Augen gerade vor sich hin an die Wand... Ich warte und warte, ob die Frau Anna nicht betet, da oben sitzt ja der Engel, und wie daheim fange ich an mein Nachtgebet herzusagen: „Heiliger Schutzengel mein Laß mich Dir befohlen sein, Beschütze ... beschüt.......“ Da fliegen die Vögel alle durcheinander auf den Vorhängen, die Lampe wird immer größer und ist jetzt wirklich der Mond.... Aber die Blumen, die lösen sich von dem feinen Stoff los und schlingen sich herüber zu mir... sie duften so stark, und die Vöglein, die sich von der einen Knospe auf die andere schwingen und durch die Ranken schlüpfen, die zwitschern und singen... doch dazwischen wimmert eine klagende Stimme: „Mein Mann!... Wo ist mein Mann?... Mein Mann!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ich wurde wach und hörte den ungleichen dumpfen Schritt oben, immer auf und nieder, auf und nieder... ich sah den Kopf der jungen Frau mit den weit offenen Augen, die gerade vor sich auf die Wand schauten, und ich spürte ihre beiden Hände in meinen Haaren. Die Augendeckel fielen mir wieder zu, aber so oft ich munter wurde -- und es muß das oft gewesen sein -- war alles um mich genau so wie früher. Ein paar Mal träumte ich, es hätte jemand einen Schrei ausgestoßen, ich wachte auf, wollte den Kopf heben, aber das konnte ich nicht, es that mir wehe, denn meine Haare waren immer um die Hände der Frau Anna geknüpft und gewickelt. So schlief ich jedesmal wieder ein, und schlief bis mir die Sonne ins Gesicht schien. Die Frau Anna saß auch da noch an meinem Bette und schaute an die Wand, doch hingen ihr die Arme rechts und links am Leibe herab, wie an einer leblosen Puppe. Die Babette hörte ich oben herumrumoren und im Garten hub der Herr Blank zu singen an... Die Frau Anna seufzte auf und bewegte sich; na weil er nun wieder daheim ist, dachte ich verdrossen. Nach einer Weile wurde an der Thüre geklopft; sie horchte, wendete die rothgeschwollenen Augen zu mir und sagte so traurig, daß es mir ganz weinerlich um’s Herz wurde: „Ja so...“ Gar nichts sonst. Sie zog mit schwerer Mühe die Haarnadeln aus ihren Zöpfen, löste die Enden und schüttelte die Haare durcheinander, dann band sie ihren Schlafrock auf und schob zuletzt den Thürriegel zurück. Das alte Stubenmädchen kam herein, half mir aus dem Bette und führte mich in das vordere Zimmer. Während ich mich kämmte und wusch und meine Fähnchen anlegte, ging die Josefa geräuschlos auf den weichen Teppichen hin und her und setzte mir, als ich mich zurecht gemacht hatte, eine große Schale mit Kaffee vor. Dabei aber flüsterte sie immer giftig vor sich hin, ich verstand nur, daß sie sagte: „Neue Kinderbewahranstalt -- Narrenhaus -- lauter Fadaisen -- einsperren wieder“, so knurrte sie fort und fort, daß mir der Bissen im Munde schwoll, und kaum hatte ich den letzten verschluckt, schob sie mich schon zur Thüre hinaus... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In der „blauen Gans“ erzählte die Liese damals kein Wort von den Vorgängen jener Nacht. Ihre Ziehmutter wunderte sich nur, daß sie nimmer drüben schlafen wollte, das Kind hörte jedoch aufmerksam zu, wenn von dem neuen Hause und seinen Bewohnern die Rede war. Es wurde jetzt auch öfter als sonst davon gesprochen, denn seit jener Nacht war der Herr Gottfried viel kränker. „Der Gottfried ist halt soviel ein schwacher Mensch,“ sagte die alte Spitalwärterin und klopfte auf ihre Tabakdose, „jetzt hab’ ich schon zwei Nächt’ die arme Babett’ abgelöst, sie kann es ja auf die Dauer nicht allein aushalten.“ Je übler aber der Gottfried aussah, desto frischer wurde die Babette, sie bewegte sich gleich einem jungen Mädchen, wenn sie den Kranken herabführte in den Garten. Es war derweilen wieder Frühling geworden, er aber durfte nicht wie ehemals bis in die Nacht hinein im Freien bleiben; auf seine Haushälterin gestützt und mit einem Stock in der anderen Hand, ging er hin und her, immer nur zwei-, dreimal, dann mußte er sich wieder niedersetzen. „Wenn der die Babett’ nicht hätt’, so hätt’ er schon diesmal in’s Gras beißen müssen, mit dem Skelett wird bald aufgeräumt sein, er hat die gallopirende Lungensucht. Aber eine feste Wärterin, wie unsereins, will er halt doch nicht,“ belferte die alte Therese. „Weil Sie alleweil hineinreden in ihn, mag er Sie nicht,“ sagte die Liese ehrlich und kam wieder einmal übel weg dabei. „Hat Dich wer gefragt?“ schrie die alte Wärterin. „Ich hab’ schon ganz andere Leut’ betreut als den. Für den giebt’s nur noch ein Mittel, er soll die Babett’ heirathen, sie ist eine sehr „bescheidene“ Person.“ Damit wollte die Therese sagen, daß die Haushälterin eine besonders „gescheidte“ Person sei, aber das schlichte Wort war ihr zu gering für die vorzüglichen Eigenschaften der alten Jungfer. „Er soll sie nur heirathen,“ keifte sie weiter und glotzte uns durch ihre große Hornbrille an, „so ein schwacher Mensch -- dem kann nur eine gute Pfleg’ noch eine Weil’ Leib und Seel’ zusammenhalten.“ So ging das Gerede unter den Weibern herüben um, dann fingen auch die Männer an mitzuschwatzen, und die Babette lief öfter als sonst von dem neuen Hause in die „blaue Gans“ und war viel freundlicher gegen alle Leute, als sie früher gewesen. Wenn die Sonne recht warm herunterschaute, saß die Liese oft bei dem Herrn Gottfried auf der Gartenbank und stickte, er schickte dann die Babette hinauf und sagte: „Ich behalte die Kleine da, und werde Sie rufen lassen, wenn ich Sie brauche.“ Er ließ den Kopf sinken und saß ruhig neben dem Mädchen, das stets über ihn und seine Krankheit nachdachte, wenn es ihn ansah, und nicht begreifen konnte, daß die Babette ihm das Leben leichter machen könne, wenn er sie heirathen würde. Sobald der Herr Blank zu singen anhub, zuckte der Gottfried zusammen, und auch wenn der Hausherr vor ihm stehen blieb und nur im Fluge fragte: „Na, wie geht es, Herr Gottfried?“ Dann traten stets runde rothe Flecken auf die hageren Wangen des Kranken und er mußte so husten, daß der andere davonlief. Warum er damals, als im neuen Hause alle Kasten ausgeräumt und die alten Theaterkörbe und Garderobekoffer eingepackt wurden, nicht davonlief, sondern sich singend neben den Herrn Gottfried setzte, das wußte sich die Liese auch erst nach Jahren zu erklären. Sie blieb jedoch damals ruhig bei den zwei Männern und hörte jedes Wort genau, das sie sprachen. „Sie sehen recht übel aus, recht übel!... Tra-la-la! Meine Stimme ist umflort!... Recht übel!... Tra-la-la-lah!... Hat Sie redlich gepflegt, die Babett’, das ist eine tüchtige Person... So eine Person muß man zu schätzen wissen.“ „Ich schätze sie auch,“ sagte der Kranke und wollte aufstehen. „Bleiben Sie ein wenig, Herr... hm-he-eh!... ganz rauh mein Hals und ich will bald abreisen, es wird schon alles vorbereitet.“ Herr Blank legte die Fingerspitzen an den Mund und räusperte sich, dabei schaute er aber den Gottfried von der Seite an. „Sie reisen bald?“ fragte der Kranke gespannt. „Ja, ich trete meine große Gastspielreise an, habe schon von rechts und links Anträge!... La-la-la-lah!... ganz belegt!... Ich reise ohne meine Frau,“ flüsterte Blank vertraulich, „sie könnte wieder eifersüchtig werden, so ein Bürgerkind ist den Ton, der unter uns Künstlern herrscht, nicht gewohnt... Sie bleibt hier.“ „Bei ihrer Familie?“ fragte Gottfried, ohne von seiner Uhrkette, die er durch die Finger zog, aufzublicken. „Ach Gott verhüte das, sie bleibt da im Hause. Meine Frau verkehrt mit niemand, wie Sie wissen. Um meinetwillen, ihr Mann genügt ihr, ich bin ihre Welt. Ich kann auch diese Familienzusammenhockerei nicht leiden, die Alten brauchen nicht in das Nest der Jungen zu gucken. Sie begreifen?“ „Ich begreife,“ sagte der Kranke und zerrte immer mehr an der Uhrkette. „Darum wollte ich mit Ihnen reden!... hm-eh!“ Er schwieg, drückte die Wange an seinen Halskragen und sagte dann langsam: „Meine Frau ist immer unruhig, wenn ich fort bin, sie ist, heißt das, sie war krank, schwer krank. Pure Eifersucht war es am Anfang, dann...“ er beugte sich an das Ohr des Herrn Gottfried und flüsterte: „wurde es Gemüthskrankheit... darum mußte ich vom Theater weg... immer bei ihr sein, brr!... aber es half auch das nichts, ich mußte sie doch in eine Anstalt geben... Sie verstehen?... Darum baute ich hier das Haus, damit sie die ungestörteste Ruhe fand, nicht viel Menschen sieht und damit die Munkelei ein Ende hat... Ich mußte damals einen Revers ausstellen, daß ich sie immer unter guter Aufsicht halte, als ihre Alten darauf drangen, daß ich sie wieder heimnehme... so bin ich ein Irrenwärter geworden und kein Ehemann... Rührt sich die Krankheit wieder, so verpflichtet mich der Revers, daß ich sie gleich wieder in die Anstalt schicke. Sie verstehen?“ „Ja!“ -- stöhnte der todtbleiche Mann. „Als ich letzthin eine Nacht außer Hause war, hatte sie einen kleinen Rückfall,... ich kannte es an ihren Augen.“ „Und doch wollen Sie reisen?“ „Biegen oder brechen, einmal muß es anders werden ... Das ist jetzt eine Probe, geht es nicht, so hole ich sie... Sie verstehen?“ fragte er mit einem schlauen Zwinkern. „Jetzt verstehe ich wirklich Alles --“ „Sehen Sie, wegen all’ den Geschichten wollte ich mit Ihnen reden!... hm-eh!“ Er schwieg, drückte die Wange fester an seinen Halskragen und schrie dann erzwungen lustig: „Seien wir fesch, es dauert nichts lang auf der Welt; reden wir wie ein paar Männer, die wissen, was Leben heißt...“ Der Kranke athmete schwer. Herr Blank schlug den Gottfried auf die mageren Schenkel, ganz leicht nur, er berührte ihn kaum, und hob immer die Hand bis an die Schulter nach jedem Schlag: „Sie haben gelebt, ich habe gelebt... ich habe bei Zeiten geheirathet, und habe so ein schweres Loos gezogen... ich bin sehr unglücklich!“ wimmerte er pathetisch, „aber man trägt sein Schicksal mit Anstand ... Ah, ich habe noch Stimme und bin rüstig... Sie sehen übel aus!... Heirathen Sie auch!... He?! Was halten Sie davon.“ „Ich soll heirathen?“ fragte Gottfried verwundert. „Ja, junger Freund, Sie und gerade Sie,“ Herr Blank schwieg, als suche er nach einem rechten Wort, dann fuhr er plötzlich auf den Kranken los und sagte mit tiefer Stimme: „Die Babette sollen Sie heirathen!“ Der Gottfried hob den Kopf langsam immer höher, dann schaute er auf den Sänger mit zornigen Augen nieder und seine dünnen Lippen zogen sich immer wieder schmal über die Zähne. Nach einer Weile sagte er: „Ei, Herr Blank, das ist ein sonderbarer Scherz.“ Der Hausherr hatte während der Zeit gebückt dagesessen, und erst als die Stimme des Kranken verklungen war, schaute er mit verstohlenen Blicken prüfend in das Gesicht des Mannes, und als er da nur wieder die erschlafften Züge fand, rief er scherzend und übersprudelnd: „Das ist aber mein Ernst, junger Freund, mein ernstester Ernst. Sehen Sie, Sie sind ein schwacher Mensch, Sie brauchen Pflege, immer Pflege... Und dann, sehen Sie, sind wir schon Alle so zusammengewöhnt da in dem neuen Haus! Mir wäre leid, wenn ich Sie fortziehen lassen müßte... und das müßte ich, denn... hm-eh-heh! nehmen Sie mir das nicht übel... aber die Frau Blank kann doch, wenn der Herr Blank abwesend ist, nicht mit Ihrer Wirthschafterin, der Jungfer Babette, verkehren, oder, na, Sie verstehen mich doch, mit dem jungen Herrn Gottfried allein... Sie begreifen?“ „Ich begreife immer mehr,“ erwiderte der Herr Gottfried heiser und schaute dem lächelnden Mann starr in die Augen. „Tra-la-la-lah!... ganz rauh. In vierzehn Tagen singe ich in Petersburg an der Oper, ich wollte, Sie könnten mich hören. Also entschließen, entschließen, junger Freund, ich habe mich seinerzeit auch entschließen müssen. Sie verstehen? Jeder muß einmal daran! Leider, leider. Tra-la-la-lah!... Hm-he-eh!... Du Balg, Du wächst auch in die Höhe.“ Der Hausherr kniff die Augen zusammen und schaute die Liese vom Kopf bis zu den Füßen an. „Aber hübsch wird das Unkraut,“ flüsterte er dem Kranken zu und ging trillernd in das Zimmer seiner Frau. „Jetzt ist mir Alles klar -- das unglückselige Weib --“ stöhnte der Herr Gottfried, und dann bekam er einen Hustenanfall, als sollte es ihm die Brust zerreißen. Wort für Wort erzählte am Abend die Babette das Gespräch der beiden Männer ihrer Freundin, der alten Therese. „Woher sie das nur weiß,“ fragte sich die Liese verwundert. Die Therese erzählte die Geschichte, freilich mit Zusätzen, weiter und alle schwatzten sie nach. In der „blauen Gans“ fanden Weiber und Männer, daß der Herr Blank ein sehr gescheidter und guter Mensch sei, nur die Frau Weiß wisperte der Laternanzünderin zu: „Warum hat er die Anna geheirath’, wenn er gewußt hat, daß sie ein bis’l verrückt ist. Ein Lump bleibt ein Lump, und das arme Mädel hat halt viel Geld gehabt.“ Der Laternanzünder warf sich in die Brust und erklärte eingehend, daß auch aus einem verschuldeten Offizier noch ein sehr ordentlicher Mann werden kann, er habe das öfter erlebt bei der Schwadron seinerzeit, und so hätte auch der Herr Blank vernünftig geredet und gehandelt in dem vorliegenden Fall. Er wurde sehr weitschweifend und schloß seine Rede mit den Worten: „So mein ich. -- Wenn auch der Gottfried ein schwacher Mensch ist, von dem niemand was zu fürchten hat, so gehört sich doch alleweil was sich gehört. Die Babett’ ist eine tüchtige Person; daß sie arm ist, das macht nichts, und wenn sie jünger wär’, so wär’ sie auch dümmer -- alsdann soll der Herr Gottfried die Babett’ nur heirathen.“ Manchmal konnte ein denkender Mensch glauben, daß die Beschlüsse, die in der großen Waschküche gefaßt wurden, die Urtheile, welche sie da aussprachen in ihrer Einfältigkeit, gleich Mehlthau in die gesunde klare Luft hinaus schwämmen und sich erdrückend auf Herz und Hirn Jener legten, die in dem Kreise lebten. „Er soll heirathen!“ war und blieb das Schlagwort, und Alle kümmerten sich plötzlich um den guten Ruf der alten Jungfer und der Frau Anna und thaten, als ob die Babette herübergehörte in die „blaue Gans“, und als ob ihr ein großes Unrecht zugefügt würde, wenn sie der „schwache Mensch“ nicht zur Frau nähme. Die Babette lief den geschlagenen Tag hinüber und herüber und wußte Jedem in der „blauen Gans“ etwas Erfreuliches zu sagen und über ihre eigene Quälerei mit dem Kranken zu klagen. So gingen Wochen hin und die Koffer des Herrn Blank standen schon, mit Wachstuch bedeckt, in dem Garten, zum Aufladen bereit. „Wann laßt sie ihn denn endlich reisen, die Seinige, den armen Mann?“ fragte die Spitalwärterin entrüstet. „Nach der Hochzeit,“ erwiderte die Babette geziert und wurde puterroth. „Na, alsdann! endlich!“ rief die alte Therese befriedigt und trug die Neuigkeit rasch weiter. Es blühte und duftete schon im Garten und die Frau Anna konnte wieder unter den Fliederbüschen sitzen mit der Liese. Herr Blank lief freilich ungeduldig vor ihr hin und her und wurde erst gesprächig, wenn die Jungfer Babette den Gottfried brachte und alle Viere beieinander saßen. Die Haushälterin hatte nicht ein graues Haar mehr, sie waren alle braun geworden. Besonders lieblich war der junge Garten, wenn das Lampenlicht die zart-grünen Sträucher im Umkreise noch heller färbte und die weißen Blüthendolden noch schärfer dufteten als am Tage, da waren dem Kinde die andern Menschen zuviel, es lehnte den Kopf an die Kniee der jungen Frau und beobachtete all’ die Käferchen und Mücken, welche um die Glasglocke schwirrten. „Warum mag wohl die Jungfer Babett’ heut gar so hergeputzt sein,“ dachte sich die Liese an solch’ einem milden duftgeschwängerten Abend. Die Haushälterin hatte ein rosenfarbenes Kleid angelegt und sprach viel lauter und mehr, wie an den früheren Abenden, dafür lehnte der Gottfried wie ein Sterbender in seinem Stuhl, und die Frau Anna schaute ängstlich von Einem zum Andern. Als die Weingläser abgeräumt waren, kam das alte Stubenmädchen und brachte eine große, dampfende Schüssel sammt vier Gläsern. Der Herr Blank stand auf, nahm eine würdevolle Haltung an, drehte den Kopf nach rechts und links, füllte die Gläser, reichte mit einer feierlichen Verbeugung Jedem eines, drückte die Wange an seinen Halskragen, räusperte sich, hob das Punschglas, salutirte damit und sagte, als ob er zu Jungfer Babette redete: „Eine Braut bringt dem neuen Hause Glück!... Meine Herrschaften thun Sie mir Bescheid, auf daß es einen langen, friedlichen Ehestand gebe. Aennchen, morgen ist die Hochzeit des Herrn Gottfried mit dem Fräulein Babette Schmied, Du bist Brautmutter,“ er lachte, daß es ihn schüttelte, „und ich schon seit langer Zeit Beistand...“ Frau Anna nickte freundlich und reichte ihre schmale Hand über den Tisch dem Gottfried entgegen. Er faßte sie und küßte sachte die feinen Finger. „Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück,“ flüsterte die junge Frau der alten Braut zu und wickelte ihre Hände in das dünne Tuch, das sie um den Hals geschlungen trug und dessen Enden in ihrem Schoß lagen. „Morgen nach der Hochzeit reise ich ab, Aennchen, Du bist jetzt nicht allein, Herr Gottfried bleibt bei uns, seine Braut hat heute schon in seinem Namen den Miethkontrakt auf vier Jahre abgeschlossen... Ich weiß Dich jetzt in guten Händen... und kann reisen, mein Weibchen, ohne Sorge, nicht wahr?“ „Reisen? ach ja!“ erwiderte sie verwirrt und tonlos und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Da kam ein Nachtfalter angeflogen, er schwebte um die Lampe, kam der Flamme immer näher und näher, bis er von der Hitze betäubt in die Glasglocke fiel und mit halbversengten Flügeln drinnen herumflatterte. Alle sahen dem Falter aufmerksam nach, Gottfried aber stützte die Ellenbogen auf den Tisch, legte das Kinn auf die gefalteten Hände und stierte auf das sterbende Thier, das sich noch Mühe gab davonzufliegen. „Er ist zu schwach,“ sagte er leise und ließ die Ellenbogen vom Tische gleiten. Da nahm Anna den Falter aus der Lampenglocke und hielt ihn mit ihren feinen Finger mitleidsvoll an dem Flügel. „Kann nimmer fliegen,“ schrie die Babette, „ist schon halb todt; Flügel ausreißen, dann geht es schneller.“ Ihre plumpe Hand griff hinüber und packte das Thier. Frau Anna zitterte am ganzen Leibe, sie schaute das derbe Weib furchtsam an und klammerte sich unter dem Tisch an den Rock der Liese. Als die Babette darauf den Arm ihres Bräutigams ergriff und ihn über die Treppe schleppte, sagte die Liese weinerlich: „Wenn der Flügel hätt’, wie der Nachtvogel, sie thät’s ihm auch ausreißen, die Hex’.“ Er hatte aber keine Flügel, er ließ sich am nächsten Morgen in die Kirche zum Altar schleppen und sagte wie Einer, der im Traume spricht: „Ja...“, dann fuhr er mit seiner Frau und dem Ehepaar Blank wieder heim. Als sie durch die Hausthüre gingen, wollte die Frau Gottfried der Frau Anna um den Hals fallen, aber die schaute sie nur groß an, trat zur Seite und ging schnurgerade in ihr Zimmer. Einen Augenblick blieb die Babette verdutzt und schweigend stehen, als aber der Hausherr kam, lief sie ihm entgegen und fiel ihm an die Brust; er hielt sie auch fest, tätschelte sie auf den Rücken und flüsterte ihr etwas in’s Ohr, daß sie hell auflachte... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Körbe und Koffer waren aufgeladen und davon geführt. Der Herr Blank stand mit einer schottischen Reisemütze auf dem Kopf und den Körper vielfach mit einem großen buntgestreiften Tuch umwickelt in seinem Salon und gab seiner Frau gute Lehren, wie man sie etwa einem kleinen Mädchen giebt. „Alle werden auf Dich sehen, unsere alte Josefa und die Frau Gottfried, und wenn Du etwas brauchst, wofür Euer Weiberverstand zu kurz ist, so wende Dich nur an ihn, er ist freilich ein schwacher Mensch, aber es ist doch ein Mann im Hause.“ Er umarmte sie, drückte sein seidenes Taschentuch an die Augen und stürzte davon, als ob er den Trennungsschmerz abkürzen wollte. Droben aber im ersten Stockwerk ging ein wankender Schritt auf und nieder... den ganzen langen Tag und die halbe Nacht. Zuweilen horchte die blasse Frau unten, und der Mann oben lauschte auch, und als er um Mitternacht das Fenster öffnete und sich weit hinausbeugte, da vermeinte er eine klagende Stimme zu hören, die in die Nacht hinausweinte und immer wieder rief: „Mein Mann, wo ist mein Mann? mein Mann!“ Die Frau Gottfried allein schlief glücklich und zufrieden in ihrem Zimmer, und als ihr der Diener am nächsten Morgen sagte, daß der Herr Gottfried die Nacht hindurch nicht geschlafen habe und beinahe die halbe Nacht gehustet, erwiderte sie geziert: „Warum verderben Sie mir den heutigen Morgen. Ich weiß es ja, mein guter Mann ist ein armer, schwacher Mensch.“ Mama muß tanzen. Nur den Sommer über kroch der Gottfried am Arme seiner Frau herum, und die Liese sagte, bis zum Herbst, wenn der Herr Blank heimkehre, wollten sie alle miteinander abreisen nach Italien. Der Herr Blank zögerte aber mit der Heimkehr, und im Spätherbst reiste der Gottfried allein ab... ganz allein... Der arme schwache Mensch flüchtete sich an einen stillen Ort, wo ihm weder Seele noch Leib mehr weh thun konnte... Als er oben in seiner Stube aufgebahrt lag, schrieb seine Frau einen langen Brief nach Petersburg an den Herrn Blank; er möge jetzt schnell kommen, sagte sie ihm trocken, die Krankenwärterei sei für sie zu Ende, sie sei nun eine reiche Frau und wolle endlich das Leben genießen. „Ist halt alleweil eine „bescheidene“ Person, die Babette,“ meinte die alte Therese, als sie die brühwarme Neuigkeit, welche sie aus dem Munde der trauernden Wittwe erhalten hatte, in der großen Waschküche mittheilte. Bei dem Begräbniß ihres Gatten war die Frau Gottfried das letztemal eine freundliche Nachbarin, schon am nächsten Tag steckte sie ein anderes Gesicht auf, und das merkten die Leute in der „blauen Gans“ rasch und hielten sich auch danach. Die Frau Gottfried hatte eine zwei Ellen lange Schleppe an ihrem Trauerkleid, von ihrem Hut hing ein Flor nieder, der so weit und so lang war, wie ein Mantel, und oben auf dem Hut wackelte ein ganzer Büschel schwarzer Straußfedern. „Heut’ ist die Alte oben beim „Laternanzünderhäus’l“ vorbeigerauscht, daß alle meine Oellamperln g’scheppert haben, ich hab’ g’meint, es ist eine große Cavallerie-Leich’ und das Trauerpferd ist wild worden, derweil schaut die Babett’ sich um und ich erkenn’s erst!“ spöttelte der Laternanzünder. Die Wittwe ging den kritischen Nachbarn nicht mehr lange unter den Augen herum, in aller Gottesfrühe packte sie einmal ihre Habe auf und fuhr davon, kein Mensch kümmerte sich, wohin; es wurde geschimpft und gelacht über das hochfährtige Weib, und gefragt, was nun mit der einsamen jungen Frau im neuen Hause geschehen werde. Die Frau Anna kam fast gar nicht mehr in den Garten, und die Liese durfte nicht mehr zu ihr, einigemal hatte sie das alte Stubenmädchen, die Josefa, fortgeschickt, und nun war das Kind gekränkt und verschüchtert und spähte nur des Abends durch das Gitter nach den Fenstern der Frau Anna, der sie so zugethan war. Ohne daß jemand etwas davon wußte, kam der Herr Blank des Nachts angefahren und plötzlich am Morgen hörten wir ihn wie ehemals singen und räuspern. Das Leben ging drüben seinen gewohnten Gang, und es schien, als sollte es auch so weiter gehen; aber da hieß es ganz unerwartet das neue Haus sei verkauft worden und der Herr Blank zöge mitsammt seiner Frau fort. Als jedoch ein schöner Wagen angefahren kam, mit Kutscher und Bedienten auf dem Bocke, und eine hohe vornehme Frauengestalt ausstieg und sich das ganze Haus zeigen ließ, da wußten die Nachbarn, daß es mit dem Verkaufe seine Richtigkeit hatte. Etwa acht Tage später fuhren Alle, welche bis dahin in dem neuen Hause gewohnt hatten, davon. Da konnte es die Liese doch nicht verwinden, als sie die Frau Anna am Gitterthor stehen sah; sie lief hinüber, faßte den Arm der jungen Frau und küßte ihn von dem Ellenbogen bis zum Handgelenk wohl ein Dutzend mal. Die Frau schaute mit stillen leeren Augen auf das Kind nieder und griff dann in die Tasche, da ließ die Kleine den Arm fallen, schüttelte den Kopf und lief, was sie laufen konnte, in die „blaue Gans“; sie hat das Haus nie mehr betreten... Was in dem neuen Hause war, wurde verkauft, drei Tage lang schacherten Juden und Christen miteinander um jedes Stück, Alles wurde herumgezerrt, durchstöbert und davongeschleppt, sogar das rosenfarbene Himmelbett der Frau Anna, das die Liese heute noch nicht vergessen hat... * * * Das neue Haus lag wieder stumm und verlassen da... Zuweilen wurde in der „blauen Gans“ noch von den früheren Bewohnern gesprochen, und die alte Therese wollte im Krankenhause erfahren haben, daß die Frau Anna im „Narrenthurm“ sei und der Herr Blank in Rußland. Niemand glaubte recht daran, denn von der langen und vielen Vorleserei wußte die alte Krankenwärterin wirklich öfter nicht, was sie erlebt und was sie nur gelesen habe. Als nach Monaten wieder Wagen mit Hausgeräth und wohlverpackten Möbeln ankamen, gab es lange nicht mehr so viel Aufpasser und arges Gerede, wie bei dem ersten Einzüge. Wenn die neuen Bewohner sich in dem Vorgarten sehen ließen, wurden sie freilich von Weitem gemustert, und dann wurde zurechtgelegt, wer die allenfalls sein könnten. In dem neuen Hause wurde es aber auch jetzt viel lustiger als früher, wo es öfter einem Spital glich, wenn sich der arme schwache Mensch im Garten herumschleppte. Jetzt spazierte gleich in den ersten Tagen ein kleines liebliches Mädchen mit der schönen großen Dame herum, und fragte, lachte und sang, daß es eine Freude war. Das Kind war wie eine Wachspuppe anzusehen und trug kurze Kleidchen aus Sammet und Seide und hatte Stiefelchen, wie sie die Vorstadtjugend nur vom Hörensagen kannte, und Strümpfe, die sich ansahen, als ob sie die nackte Haut selbst wären. Die Frau aber erst! die war größer, als alle anderen Frauen und hatte ein sonderbares Gesicht. Die kohlschwarzen Augenbrauen liefen über der Nase zusammen in einen feinen dunklen Strich, das sah man zu allererst, wenn man sie erblickte. Ueber der niederen Stirne lag eine ganze Krone von schweren glänzenden Zöpfen, die waren fort und fort um den kleinen Kopf gewunden und hingen noch lang in’s Genick. Von dem Schläfenende bis an das Ohrläppchen herab zog sich ein dünner schwarzer Flaum, so wie der Bartanflug bei jungen Burschen, und ebenso lagen über der vollen Oberlippe blauschwarze Härchen wie ein scharfer Schatten. Große dunkle Augen schauten gleichsam aus unnahbarer Höhe herab oder hinweg über Alles, was nicht beachtet sein mußte, sie hingen aber mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit an einer jeden Bewegung des kleinen Mädchens. Nach einigen Wochen wurde ein Seitenthor in das neue Haus gebrochen und dort lungerten oft die Diener und Mägde halbe Tage lang herum. Dort stand auch oft der Koch mit seiner breiten weißen Mütze und plapperte mit der französischen Kammerjungfer so laut in ihrer Muttersprache, daß wir es bis herüber hörten, die Mädchen schossen lachend und plaudernd aus und ein; es ging bei der Seitenthüre zu wie in einem Taubenschlage. In der „blauen Gans“ wußten die Leute noch sehr wenig von den neuen Nachbarn, nur die Roserl, das kleinste Mädel der krummen Waschfrau, die mit uns Thür an Thür wohnte, die erzählte: „Die große Frau ist eine Frau Baronin und kommt vom Ausland, hat der Pferdbub’ gesagt.“ Die Roserl war verrufen als das schlimmste Kind der „blauen Gans“, wenn etwas zerschlagen wurde, wenn es große Raufereien gab, so war das feingliederige ruhlose Ding stets die Anführerin. Sie hatte auch bald die Bekanntschaft des kleinen Mädchens von drüben gemacht, sie hatte so lange durch das Gitter geschaut, mit sich selbst geplaudert und gelacht, bis die Baronin sie als Spielgenossin zu ihrem einsamen Kinde rief. So kamen nun öfters sehr unglaubwürdige Nachrichten in die „blaue Gans“, und es wurde erstaunt zugehört, wenn die kleine Roserl die Pracht und Herrlichkeit des neuen Hauses schilderte, denn niemand außer ihr hatte gesehen, wie es nun drüben eingerichtet war. „Jetzt weiß ich Alles von der neuen Hausfrau drüben,“ sagte die krumme Waschfrau, schon während sie hereinhumpelte, dann ließ sie sich schwer auf unser wurmstichiges Kanapee fallen, stemmte die Arme in die Seite und schaute herausfordernd hinüber auf das neue Haus. Meine Mutter schlug die Hände zusammen vor Verwunderung, setzte sich nieder, wickelte die Arme in die Schürze und erwartete die Geschichte. „Also, daß ich Ihnen erzähl’, also,“ begann die Nachbarin wichtig, „der da drüben ihr Koch, der Franzos, läßt jetzt seine Wäsch’ bei mir putzen -- Ist ein sehr nobler Mann, hat lauter Tellerkrauseln an seine Hemdärmeln.“ „Was Sie sagen!“ flüsterte meine Mutter überrascht und rückte näher mit ihrem Sessel, die krumme Frau holte tief Athem, lachte boshaft und fuhr erregt fort: „Alsdann, daß ich Ihnen sag’, der Koch hat meiner Aeltesten erzählt, der Sali -- sie hat ihm sehr gut gefallen, sehr gut! -- daß der Baronin ihr Mann eingesperrt ist, ich bitt’ Ihnen, eingesperrt! -- Draußen im Ausland -- dort, von wo sie hergekommen ist -- da ist ein Aufstand gewesen, damals halt in der Zeit, wo überall einer war; da hat ihr Mann, der Baron, auch mitgethan und da haben sie ihn gefangt, verurtheilt und eingesperrt.“ „Was wir Alles mit dem neuen Hause erleben, Frau Kathi!“ seufzte meine Mutter, und wurde so melancholisch, als ob der unbekannte Baron ihr nächster Verwandter wäre. „Ja, wie ich Ihnen sag’! -- Und der „Onkel Euschön“, von dem meine Roserl immer redet, der ist nicht einmal ein Onkel; denken Sie sich das erst! -- der ist nur so Einer, den sie nur hat, daß sie nobel weiterleben kann.“ Meine Mutter saß wie eine reuige Sünderin ganz zerknirscht vor der Frau Kathi. Die Waschfrau humpelte entrüstet durch die Stube, schüttelte die Faust gegen das neue Haus und erzählte in aufgeregtem Tone weiter. Nach einer Viertelstunde, als schon kein guter Ziegel auf dem Dache des Hauses und kein gutes Haar auf dem schönen Kopf der Baronin war, stieg sie die Stufenleiter der Entrüstung abwärts und meinte, daß die Baronin eine sehr „saubere Frau“ sei, daß es ihre Dienstleute sehr gut hätten, und daß da drüben viel für die Armen geschähe, das zeige von einem guten Herzen: „Hab’ ich vielleicht zuviel gered’t, ist nicht Alles so?“ schloß sie erschöpft. Meine furchtsame Mutter wagte noch nicht einmal beistimmend zu nicken; sie kannte die Wandlungen, welche die Gefühle und Anschauungen unserer Nachbarin oft ganz unvermittelt durchmachten. Aber die Frau Kathi wurde immer milder, gerührt sprach sie von den schönen Pferden und den feinen Wagen, sie lobte alles über die Maßen, und darauf verstand sich die scharfzüngige Frau, denn ihr oftgenannter Seliger und ihr gleichfalls seliger Herr Vater waren Fuhrleute mit „eigenem Zeug“ gewesen. Nach einer halben Stunde war sie bereits zur Beruhigung meiner betäubten Mutter mit der Baronin ganz ausgesöhnt und beschäftigte sich nur noch mit der Zukunft dieser bedauernswerthen Frau. Das war freilich wieder sehr gefährlich, denn nach ihrer Ansicht müssen „solche Wirthschaften alleweil ein gottverlassenes End’ nehmen“; sie wußte Beispiele zu Dutzenden und fing auch frischweg an zu erzählen. Meine Mutter hatte sich in ihr Umschlagetuch verkrochen und hörte mit stummer Ergebung zu. Mitten in ein solches Dutzendbeispiel fuhr eine kleine Hand... Man sah diese kleine Hand mühsam herauflangen, als sie an die Außenscheiben unseres Kammerfensters klopfte, gleich danach wurde auch ein Büschel steifer Haare so im Flug sichtbar. „Es ist nur meine Roserl,“ sagte Frau Kathi beruhigend, weil meine Mutter erschreckt aufgesprungen war; „die Ihrige hockt ja die ganze Zeit mäuserlstill im Winkel dort, die hat gewiß wieder was angestellt.“ „Muu-u-terr!... Mu-u-u-terrr!“ schrie es draußen, und ab und zu bekamen wir eine niedere Stirne, zwei kohlschwarze Augen und eine kleine Stumpfnase zu sehen. Die Roserl hüpfte draußen auf ein und derselben Stelle in die Höhe, damit sie hereingucken konnte und gesehen wurde. „Was giebts?!“ rief die Frau Kathi und drohte ihrem Nesthäkchen mit der Faust, dabei zog sie ein Gesicht, daß die Kleine gleich wieder verschwand und erst auftauchte, als zum zweitenmal gefragt wurde: „Was giebts?“ „Ich... soll... nüber... mit... dem... Baron.. mädel... spielen... hat... die... Mam... mor... sel... g’sagt... weils... kein’... Ruh... giebt... sonst... und... ihre... Maa... maah... muß... tanzen!... darf... ich?“ Jedes einzelne Wort wurde abgebrochen hereingeschrieen, so oft das kleine Gesicht in die Höhe der Fensterscheibe kam. „Hereinkommen! gleich, sag’ ich! Nein, Du darfst nicht hinüber, heut’ kommt zu uns der Nikolo!“ wetterte die Frau und stampfte mit ihrem krummen Bein auf die Diele. „Da... nüber... kommt... ein... viel... schön... errer...!“ lachte die Roserl kurz, und weg war sie. „Sie folgt halt nicht, ich sag’ Ihnen, sie folgt nicht, +ein+ solcher Fratz ist wie der andere in der „blauen Gans“.“ Zwei feuchte Augen spähten aus dem Umschlagetuch nach dem Winkel, wo ich hockte, und meine Mutter nickte sorgenvoll zu mir hinüber. Die Roserl aber stapfte mit ihren großen schiefgetretenen Schuhen über die Straße, hob das kurze zerfranste Röcklein auf, als wäre es eine seidene Schleppe, und trug den Kopf genau so, wie sie es von der Baronin gesehen hatte. So stolzierte sie, ohne sich umzuwenden, durch den kahlen Vorgarten und über die Stufen. Vor der Hausthüre machte sie einen steifen Knix gegen die „blaue Gans“ herüber, schüttelte die Arme übermüthig in die Luft und schlüpfte durch eine schmale Thürspalte in das Haus. In dem Flur war rechts eine Thür, welche von außen mit einem schweren Teppich verhängt war, mit Schulter und Ellenbogen schob ihn das Kind beiseite und öffnete die Thüre. Die zierliche geputzte Kammerjungfer flatterte ihr entgegen und sagte lachend: „Du siehen Deiner Suh aus, smutsiger Katz; Du müssen dik sön spiel mit die petit Blanche, sie ersähl söne Gesick, damit sie nik wein, ich mussen sein bei die Toilette von sein Mama’n, sein Mama’n mussen tansen,“ und dabei hob die bewegliche Französin ihre kleinen Füße, als ob sie selber schon tanzen wollte. Die Rose streifte Schuhe und Strümpfe ab und stellte sie hinter den Thürvorhang, dann glitt sie barfuß über die weichen Teppiche der kostbaren Zimmer. Geräuschlos lief sie von einem Gemach in das andere, bis in ein Cabinet, das mit seinen weiß- und blaulackirten Möbeln aussah wie die Schlafkammer eines Zwergenprinzeßleins. In einem Himmelbettchen, unter Decken, Kisten und Vorhängen von blauer Seide und weißen Spitzen, lag die kleine Blanche. Aschblonde Locken umkräuselten die hohe Stirne und das schmale feine Gesichtchen des Kindes, dunkelblonde Brauen hoben sich scharf von dem blassen Antlitz. Die farblosen Lippen klagten im Halbschlummer leise: „Mama, geh’ nicht fort, bleib’ bei mir, Mama, bleib’ bei mir, Mama!“ „Aber ich bleib ja bei Dir, Blanscherl,“ schwatzte die Roserl, „Deine Mamaah muß tanzen,“ setzte sie überzeugungsvoll hinzu. Während der kleine Gast plauderte, schlug Blanche die Augen auf, große traurige Augen, die dem Kindergesichte erst Ausdruck und Leben gaben. Ein freudiges Licht zuckte in den dunklen Sternen, dann streckten sich zehn feine weiße Fingerchen nach dem rothen Händchen der Freundin, die feinen Finger schoben sich kreuzweise in die plumpen, dann beugte sich der schwarze zerzauste Kopf über das blonde Lockenköpfchen, küßte es zwischen die Augenbrauen mit einem kecken, schnalzenden Kuß, und dann sägte die Roserl helllachend mit den verschlungenen Händen hin und her, bis das Zwergenprinzeßlein selbst mitjubelte. „Da sieh’, Onkel Eugen, wie fröhlich Blanche ist, und sie wird so gut bleiben, wird nicht weinen, wird hübsch mit der... wie heißt Du?... Du!?“ „Rosi.“ Mit einem halb mitleidigen Blick schaute die Dame, welche unbemerkt eingetreten war, herab auf die erstaunte Kleine, die noch dunkler, zerzauster und ärmer dastand neben der glänzenden, hohen, schönen Gestalt. Die Roserl hatte noch nie eine Frau im Ballstaat gesehen, sie stopfte ihre Hand in den Mund und glotzte hinauf zu dem leuchtenden Wesen, duckte sich klein zusammen und versteckte ihre nackten Füße. Zugleich mit der Baronin war ein grünblasser Herr eingetreten. Er schleppte die Füße faul nach, so als ob ihn jemand zwingen würde, sie zu bewegen. Der Mann war noch sehr jung, vielleicht sogar jünger als die stattliche Frau, aber er sah doch alt aus, seine Haltung, sein müdes Gesicht und seine Augen machten das; er hob immer die Lider zur Hälfte, nur wenn er die Baronin ansah, öffnete er die Augen groß. Gelangweilt setzte er sich in den einzigen Lehnstuhl, der am Fenster stand, steckte die Hände in die Hosentaschen, streckte die Beine lang vor sich, ließ den Kopf sinken und berührte mit der Spitze seiner großen geraden Nase manchmal die Rose im Knopfloch seines Frackes. Nach einer Weile putzte er an seinen glänzenden schmalen Fingernägeln herum, strich die rothblonden dünnen Haare tiefer in die Stirne und schaute mit verächtlicher Gleichgültigkeit auf die zierlichen Möbel und so im Vorbeiblicken auch auf Blanche. Plötzlich aber bekam das öde junge Gesicht einen dummen Ausdruck, Herr Eugen entdeckte so spät erst die kleine zusammengekauerte Roserl und rief mit näselnd-trägem Ton das fremde Kind heran. „Du! Dingsda! komm her! -- Das sieht komisch aus, Claudine,“ schnarrte er, der Baronin zugewendet. „Wie oft wäscht Dich Deine Mama im Jahre, Du Range?“ „Hab’ keine Mamaah, wasch’ mich alle Tag’ selber, und alle Samstag thut’s meine Mut...“ schrie die Roserl aus lauter Verlegenheit und schob sich mit eingeknickten Knien, gebückt, damit das Röcklein die schuhlosen Füße decken möge, dem Frager langsam zu. „Es ist schon gut, schon gut!“ Er hielt sich zuerst die Ohren zu und winkte dann abwehrend mit der Hand. „Behalte Deine Mama lieb,“ flehte die schöne Frau. „Claudine!“ „Gleich, Eugen!“ erwiderte die Baronin, und sie küßte die kleine Blanche noch einmal, drückte das liebliche Köpfchen ihres Kindes in die Kissen und sagte kosend: „Blanche, ~mon petit ange~, süßes, schönes, einziges Kindchen, ~chéri~, ich bitte Dich, weine nicht.“ „Nein, Mama.“ „Soll die Rosi bei Dir bleiben?... Ja!... So spiele mit ihr, was Du willst; begehre von Finette, was Dir Freude macht,“ sagte die Baronin fieberhaft und beugte sich tiefer zu dem Kinde. Blanche nickte und lächelte freudig und fragte dann leise: „Kommst Du manchmal zu mir herab, Mama?“ „Gewiß, so oft ich fort kann, mein süßer Liebling,“ und dann flüsterte sie ganz leise, nur hörbar für das Kind, dieweil sie flüchtig hinüberspähte zu Eugen: „Wenn Du gut bist, dann kommt bald Dein Papa zu uns und dann wird Alles... Alles anders werden...“ Das Kind schaute sie mit weit offenen, leuchtenden Augen an und nickte unmerklich. „Aber Claudine!“ mahnte die langsame gleichgültige Stimme des Onkels, und er zog die Oberlippe so sonderbar in die Zähne, daß sich sogar die Spitzen des röthlichen dünnen Schnurrbartes herabsenkten, und er zischte: „Adieu, Blanche! Mama muß jetzt endlich fort!“ „Warum?“ fragte die Kleine eigenwillig. „Weil sie einen Ball giebt, mein Schatz, weil Deine Mama tanzen muß, weil sie so reizend tanzt, wie keine Frau auf Erden!“ seine Blicke hingen aufflammend an dem schönen Weibe; „jetzt weißt Du Alles, ~petite chate~,“ schloß er wieder nachlässig. Die Baronin legte ihren Arm in seinen und schritt rauschend knisternd hinweg durch die Zimmer. Blanche neigte sich vor und sah ihrer glänzenden Mutter nach, bis sich die Thüre hinter ihr schloß, dann wendete sie das Köpfchen ihrer Spielgenossin zu, die immer noch wie versteinert auf demselben Flecke stand und noch immer nach der Thür starrte. „Meine Mama ist sehr schön, nicht wahr?“ fragte Blanche. „Ich glaub’s! wie die Maria-Zeller-Muttergottes hat’s ausgeschaut, wenn sie die echten Perlen um hat und das blauseidne Kleid an hat beim Einzug, wenn sie’s auf der Blumenbahr tragen, wenn sie die goldene Krone aufhat, wenn in der Kirchen die Lichter anzündt sind, wenn...“ Der Roserl ging der Athem aus, sie schaute sich verwirrt im Zimmer um, erwischte mit einem Griff die feine Spitzenüberdecke des Bettleins, die abseits lag, hing sich das blauweiße Gewebe um die Schultern, so daß sie es lang hinter sich herzog, und ging auf den Zehenspitzen die Zimmerreihen hindurch bis an die letzte Thüre. Lachend hatte ihr Blanche nachgesehen. „So geht Deine Mamaah!“ sagte ernsthaft die Roserl, als sie mit ihrer Schleppe wieder hereinstolzirt kam. „Ist Deine Mama auch so schön wie meine?“ fragte das Kind. „Meine...? Uihjeh!...“ Der Roserl schwebte plötzlich das verrunzelte, harte, zahnlose Gesicht der frühgealterten Frau Kathi vor, die groben Röcke, die immer feucht waren vom Gürtel bis zum Saum, weil das Weib doch fort und fort wusch oder Wasser herbeischleppte... Und gar die weißen vollen Arme der Baronin!... Ach ja, weiß von Seifenschaum waren die Arme ihrer Mutter auch, und dunsteten, wenn sie plötzlich aus dem heißen Wasser herausfuhr, aber voll?... Die Vergleiche huschten nur so durch den findigen Kopf, und das junge lachende Gesicht wurde allmählig ernst, aus dem verwundert-spöttelnden Ton wurde ein unbewußt-mitleidsvoller. „Ich bitt’ Dich. Blanscherl, was denkst,“ sagte die Roserl kleinlaut; „meine Frau Mutter!... Alleweil steht’s beim Waschtrog, und krumm ist’s auch, und lauter graue Haare hat sie, und ein einziges zimmetbraunes Sonntagskleid...“ „Hat sie Dich so lieb wie mich meine schöne Mama?“ „Kriegst Du nie Schopfbeutler?“ fragte die Roserl erwägend. „Was ist das?“ „Na weißt, das ist so,“ die Kleine fuhr in ihre zerzausten Haare, schüttelte sich selbst ingrimmig den Kopf und gab sich zum Schluß nach rechts und links eine tüchtige Ohrfeige. „So ist’s!“ sagte sie dann erklärend. Die vornehme Freundin schaute dem ganzen Gehaben sehr aufmerksam zu und lachte. „Du, das ist gar nicht zum Lachen!“ betheuerte die Roserl, „und wenn Du es nicht kennst, dann wird Dich Deine Mamaah schon lieber haben, wie mich meine Frau Mutter.“ „Und +wie+ heißt das?“ Blanche griff mit ihren feinen Händchen in die struppigen Haare der Andern und zog sachte. „Schopfbeuteln... Na hörst, aber was Du Alles nicht kennst.“ „Meine Mama hat nicht Zeit, mir viel zu sagen, Finette singt mir vor, aber mein Papa hat mir früher viel erzählt, weißt Du...“ den Rest flüsterte sie der Roserl in’s Ohr. Draußen fuhr Wagen um Wagen an, es wurde geräuschvoll lebendig auf dem Flur und auf den Treppen... Vor dem Gitter sprachen die Kutscher in lärmender Weise miteinander, die Pferde wieherten und stampften die Erde, Wagen rollten wieder davon und manchmal sang eine frische lustige Stimme ein kurzes Lied, dann schwiegen die Andern, eine Weile zuhorchend. Als es dunkel wurde verstummten Alle lange Zeit, später drang nur ein abgedämpftes Gesumme bis in das Stübchen... Am Gitterthor und im Vorgarten wurden die großen Laternen angezündet und ihr röthliches Licht fiel durch die hohen Spiegelscheiben hinein, das Feuer im Kamin sang und flüsterte geheimnißvoll, hie und da raschelte es an der Decke, als ob ein Mäuslein droben über die Diele huschte. Die beiden Kinder steckten die Köpfe zusammen und lauschten, bald aber wurde es ganz still... kein leichtfertiger Menschenlaut klang herein, ein keuscher Friede trennte die beiden Kinderseelen von der heißen Luft, die sich über ihren Köpfen vorbereitete zum Tanz. Das lispelte eng aneinander gerückt hinüber und herüber in hastigem kindlichem Gewispere, und die dunklen Augen der kleinen Blanche hingen mit sehnsüchtiger Neugierde an den Lippen ihrer Freundin, die so eindringlich von dem Nikolo und dem Krampus zu erzählen wußte, „der gerade heute Abend zu allen braven Kindern kommt“. „Dort in der Stadt, wo wir immer waren, kam er aber niemals zu uns,“ flüsterte Blanche. „So?... Na weißt, er hat Dich halt noch nicht kennt’, Du warst noch zu klein, aber wart’, heut wird er schon zu Dir kommen, der Nikolo, und einen Krampus wird er Dir bringen von lauter süßen Zwetschken und Mandeln, die essen wir dann morgen miteinander.“ „Ach! was Du Alles weißt, Roserl!“ „Ja. Aber Deine Schuh!“ das Kind lief herum und suchte, und fand endlich ein Paar kleiner Schuhe; sie kletterte auf den großen Lehnstuhl, öffnete mühsam das Fenster und stellte geschäftig die Schuhe zwischen die beiden Scheiben. „Was thust Du?“ „Pass’ nur auf, was da morgen Alles drinn sein wird,“ sagte die Rosi mit ahnungsvoller Wichtigkeit. „Hörst Du!“ lispelte Blanche und zeigte hinauf an die Decke und gab mit dem Köpfchen den Takt, denn verlorne Musiktöne schwebten nieder und zuweilen erschütterte eine jähe Bewegung die Wände, sodaß die Fensterscheiben leicht erklirrten. „Jetzt muß meine Mama schon tanzen, nicht wahr?“ „Freilich,“ erwiderte die Roserl hinaufhorchend, „und ich schau, ob der Nikolo schon bei uns ist. Weißt, sonst geben mir die Andern nichts, wenn ich nicht dabei bin. Ich bring’ Dir dann gleich den Zwetschkenkrampus! gelt?“ Die Roserl lief davon... Das einsame Kind legte sein Köpfchen wieder in die Kissen und lauschte... Ueber die helle Zimmerdecke liefen die Schatten von Pferden und Wagen, wenn sie draußen vorbeifuhren, und manchmal flog ein weißer Lichtstreifen, den sie zu haschen suchte, über ihre Kissen und lief die Wände hinan und verschwand oder verschwamm mit dem, der ihm folgte. Das war ein ganz lustiges Spiel, die kleinen Fingerchen waren immer hinterher, und freundliche Gedanken flogen hinauf zu der schönen Mama. Die Musik droben spielte schon viel lauter auf, sodaß die Ampel, die vor dem Bette hing, stoßweise schwankte. Geduldig wartete das Kind auf die Mutter und auf die kleine Freundin mit dem Krampus, diese unbekannte Gestalt drängte sich dem regen Kindersinne immer wieder zu. Blanche kümmerte sich nicht viel darum, als die Französin hereingetänzelt kam, eine Kerze in die Ampel schob und die Tasse Suppe brachte, die nun einmal jeden Abend getrunken werden mußte. „Die Rosi kommen gleik!“ rief sie tröstend und flatterte wieder davon. In der „blauen Gans“ hatte aber die Roserl einen harten Strauß zu bestehen; ihre Brüder, eine Schaar wilder Buben, hatten entdeckt, daß hinter dem Nikolaus der Laternanzünder steckte, der lange Mann hatte sich einen Bart und eine Perrücke aus weißer Baumwolle zurecht gemacht, das weiße Brautkleid der Fuchskäthe angezogen, natürlich nur den Rock, darüber hatte er einen rothen Fenstervorhang als Mantel umgethan und eine hohe Bischofsmütze aus Goldpapier war mit Stricknadeln an die Perrücke gesteckt. Dem heiligen Nikolaus ging es noch gut, sie hatten vor seinem Anzug, vor dem Backwerk, den Nüssen und Aepfeln, die er jedes Jahr brachte, und auch vor dem groben Laternanzünder selbst, den sie später auch erkannten, eine gewisse Achtung, aber der Krampus, der arme Knecht Ruprecht, ein harmloser Jüngling mit schwachen Beinen, der mußte das Spiel bezahlen. Der Bedauernswerthe, er war Hausknecht bei der Frau Kathi, hatte einen großen kupfernen Waschkessel auf sein Haupt gestülpt, so daß die rußbedeckte Außenseite des Kessels schwarz anzusehen war, seine dünne Gestalt war durch einen schwarzen Kutscherpelz verhüllt, den er umgekehrt hatte und der nur das rauhe Schaffell zeigte. Diese furchtbare Erscheinung zog eine eiserne Wagenkette rasselnd hinter sich her und schwang drohend einen neuen Ruthenbesen. Die große Waschküche in der „blauen Gans“ war auch an diesem Tage der Ort, an welchem das Nikolofest gefeiert wurde, es sah aber auch blank und heimlich darin aus. Der Ziegelboden war frisch roth angestrichen, alles Holzgeschirr mit weißem Sand so sauber gerieben, daß es schimmerte, die Waschtröge standen umgestürzt auf dem Boden rund herum an den Wänden und darauf saßen die Väter und Mütter wie in einem Ballsaal. Auf dem großen offenen Heerde brannten dicke Scheite, das machte zugleich warm und licht, denn die Oellampen, die von der Decke niederhingen, waren nicht viel werth. Mitten in der Küche stand ein langer schwerer Tisch, der an Werktagen zum Einseifen der Wäsche gehörte, der war spiegelblank gescheuert, da brannten auch ein Dutzend Unschlittkerzen, die anstatt in Leuchtern in großen ausgeholten weißen Rüben steckten. Um den Tisch trippelten und liefen die Kinder der „blauen Gans“ herum und erwarteten mit fieberhafter Neugierde den Nikolo. Die Einen murmelten die Gebete, die sie hersagen mußten, die Anderen wiederholten halblaut ihre Aufgaben, die Mädeln legten ihre Handarbeiten zurecht, und die kleinsten Kinder zitterten und bebten halb aus Furcht, halb aus Freude. Groß und Klein aber war immer in einer Festtagsstimmung, die frischgetünchte Küche, die umgekehrten Waschtröge und neugewaschenen Werktagskleider brachten das mit sich... Der Nikolaus trat ein, hinter ihm die unheimliche Krampusgestalt. Im ersten Augenblick wirkten die Beiden so verblüffend, daß die ganze Schaar sich in die Nähe des Heerdes drängte, dorthin, wo das meiste Licht war. Als aber der Schwarze mit der Kette rasselte und hinter seinem Kessel eine unmögliche Sprache gurgelte, da brach ein erschütterndes Geheul los und die Hälfte der Kinder lagen zerknirscht auf den Knieen. „Du, der Drampus hat ein Loch in Stiefel, bei der drohen Zehen; weißt, wer solche Stiefeln haben thut?“ flüsterte in diesem schauerlichen Augenblick der Xandi seinem älteren Bruder zu. Der kleine Knirps war der schlaueste Bube im Hause, er gab seiner Schwester, der Roserl, nichts nach an Findigkeit und Uebermuth, bei den meisten Schelmenstreichen war sie die Seele und er der ausführende Leib. „Ein Loch? -- Meiner Seel! -- Der Ferdl hat solche Stiefeln, unser Hausknecht, na wart!“ Der Aeltere zischelte die merkwürdige Entdeckung weiter. „Richtig, und der Frau Mutter ihren Waschkessel hat er auf! ich kenn’ ihn, weil der Henkel einen Sprung hat,“ piepste ein kleines Mädel. „Und dem Lohnkutscher sein Pelz hat er verdreht an! na wart, wenn uns der prügeln will beim Beten!“ So grollte der Aelteste, und als ob diese Worte das Unheil heraufbeschworen hätten, begann der Nikolaus mit tiefer feierlicher Stimme: „Franz! Du thust schon lang in die Schul-e geh’n, geh-en,“ verbesserte sich der Heilige, „alsdann mußt Du auch etwas gelernt-et hab-en. Was thust Du könn-en fang-e an?“ „Was thust Du könn-en?“ widerholte der Krampus hinter seinem Waschkessel. „Dich auf die Erd’ setzen, dummer Bub’! das kann ich,“ schrie der Franz und gab dem hülflosen Krampus mit seinem Knie einen gewandten Stoß in die Kniebeuge. Der Schwarze knixte zusammen und fiel dann der Länge nach hin, der Kessel rollte fort und das dunkelrothe entrüstete Gesicht des armen Ferdinand tauchte auf. Der heilige Nikolaus suchte seine Würde gegenüber den Empörern zu wahren, er ging mit langen Schritten davon, früher aber stellte er noch den Korb mit der Bescheerung, die draußen vor der Thüre stand, auf die Schwelle. Diese besonnene That rettete auch den verunglückten Krampus vor weiteren Püffen, er mußte den Korb an den Tisch schleppen und die aufgeregten Mütter begannen unter Schelten und Lachen auszukramen und auszutheilen. In dieses Getümmel kam die Roserl hereingeflogen, kreischte, als sie den zerzausten Krampus beschämt herumtappen sah, stürzte auf den Tisch los und erraufte sich die schönsten Aepfel und Nüsse, das beste Backwerk und den größten Zwetschkenkrampus... Sie band unter steten Anfechtungen Alles in ihre Schürze, nahm den Krampus fest in ihren linken Arm und puffte sich wieder bis an die Thüre durch, als Siegerin sprang sie über die Schwelle hinaus und fragte wenig um den Lärm, der sich hinter ihr doppelt empört erhob. „Roserl! Roserl!“ hörte sie noch die Mutter schreien, als sie über die Straße stampfte und den Krampus an ihr Herz gepreßt hielt. Sie lachte vor sich hin, weil ihr der Raubzug geglückt war, und sprang lustig mitten in die Kothlachen, nur damit sie schneller hinüber kommen möge zu der einsamen Blanche. Da lag auch schon das laute neue Haus und leuchtete in die Nacht hinaus; sie lief athemlos vorwärts durch den Vorgarten und die Stufen hinan. Am Hausthor stand ein fremder Mensch, der in einen weiten dunklen Pelzmantel gehüllt war, sein Gesicht hatte er halb von einer hohen schwarzen Mütze und halb von einem langen schwarzen Bart verdeckt, nur die bleichen Wangen und die großen, beinahe leuchtenden Augen sah das Kind, als es an ihm vorbeihuschen wollte... „Jesus Maria!“ murmelte es entsetzt. „Wohin gehst Du?“ fragte der Fremde, beugte sich nieder und faßte den Arm der Roserl. „Da hinein, zu meiner Freundin, zu dem kleinen Baronmädel, zu der Blanscherl,“ stotterte sie. „Du?!“ „Ja,“ sagte das Kind ängstlich und ärgerlich, „lassen’s mich aus.“ „Warum gehst Du... arme Kleine... zu... zu der Andern?“ und der Mann betrachtete erbarmungsvoll das junge Wesen in den dürftigen Kleidern. „Weil’s ganz allein ist, ihre Mamaah...“ „Ganz allein?“ fragte der Mann erstaunt. „Ja, und weil’s kein Nikolo und kein Krampus kennt, drum bring’ ich ihr den da. Aber jetzt lassen’s mich aus,“ drängte die Roserl. „Führe mich zu der Blanche... Gieb mir Dein Geschenk... Sei stille... Es darf mich Niemand sehen... Vorwärts!...“ Der Mann zitterte am ganzen Leibe, er nahm den Krampus in die Hand und folgte der Roserl, die gar nichts zu thun wußte als dem Fremden zu gehorchen. Das Kind vergaß sogar die Schuhe auszuziehen, sie trippelte, auf den Pelzmann zurückschauend, durch die Zimmerreihe. Blanche saß in ihrem Bettchen und wartete. Als die Roserl mit leeren Händen mitten in dem Schlafstübchen stand, wurde sie noch angstvoller, doch sie besann sich nicht lange, leerte ihr Fürtuch auf die seidene Decke, zeigte hinter sich und flüsterte: „Wart nur, da kommt schon der +Krampus+ nach... da hast Aepfel und goldene Nuß’! und... mußt nicht weinen, mußt Dich nicht fürchten... weißt, ich... ich fürcht’ mich jetzt selber... Jesas! da ist er!“ zeterte das Kind und hielt beide Hände vor die Augen. Da stand er in der Thüre... Gleichsam zur Entschuldigung, zur Beruhigung zum Gruße hielt er dem kleinen Mädchen das armselige Spielzeug entgegen, weil es mit furchtsamen Augen auf die dunkle Gestalt blickte. Der Mann stand bewegungslos, er wagte keinen Schritt weiter vorzugehen, er schaute nur wie verzückt auf das schmale Gesichtchen. Blanche griff nach dem Arm ihrer Freundin, während sie immer noch furchtsam hinübersah. Plötzlich aber zuckte das kleine Antlitz in verhaltenem Lachen... bezwang sich ein wenig, und dann aber jubelte das Kind kichernd: „Das ist der Krampus!?“ Als hätte die feine Kinderstimme den Bann gebrochen, als fielen schwere Ketten von seinen Händen und Füßen, als ströme jählings ein Meer von Duft, Licht und Wohllaut in den kleinen Raum, so befreit jauchzte der Mann auf, schleuderte Mütze und Mantel fort, fiel vor dem Bettchen auf beide Kniee und hielt unbewußt das Spielzeug noch immer dem Kinde entgegen. „Papa!... Du bist es, mein Papa!... Du bist...“ „Meine Blanche! mein Herzenskind, ich habe Dich wieder, mein Kind, mein Kind, mein Kind...“ Der starke Mann legte seinen Kopf an die Brust des kleinen Wesens und weinte, weinte, als ob er alle Schmerzen hinwegspülen könnte von seinem eigenen Herzen und von denen aller armen leiderfüllten Menschen mit den bitteren und doch beseligenden Thränen. Sein Kind aber saß ruhig über ihn gebeugt und lächelte vor sich hin, die zarten Händchen hielten den großen Kopf des Vaters fest. Und wieder schwebten lustige Walzerklänge nieder und die Decke schüttelte sich in leichter Bewegung, daß die Ampel schwankte und die Scheiben klirrten. Das kleine Mädchen aber wisperte fröhlich: „Hörst Du die Musik, Papa?“ „Ja Süßlieb, was ist das?“ „Mama giebt einen Ball.“ „Einen Ball!?“ fragte er ungläubig. „Ja, Onkel Eugen sagte, Mama muß tanzen!“ „Oh!... und Du bist allein, meine arme Blanche?...“ „Nein Papa! die Roserl war da.“ Der Mann schaute voll Verachtung auf die prunkenden Möbel, dann winkte er gleichsam zum Abschied mit der Hand hinauf an die Decke und flüsterte langsam, zaghaft, mit einem beruhigenden zärtlichen Lächeln: „Blanche, mein kleines Mädchen, Du fürchtest Dich jetzt nicht mehr vor mir?“ „O nein Papa, ich freue mich, daß Du wieder bei uns bist, ich war immer gut, damit Du bald kommen sollst.“ Der Baron nahm die zarten Hände der Kleinen in die seinen, küßte ihre Augenlider zärtlich und sagte: „Ich kam zu Dir, Blanche, für Mama kam ich unerwartet ... sie ließen mich von dort, wo ich war, früher fort. Daran dachte Mama nicht...“ Er horchte, es wurde oben lustig weitergetanzt. Der Mann nahm seine Mütze und seinen Mantel wieder auf, ein fester Entschluß sprach sich in jedem Blick, in jeder Bewegung aus, auf seinem Gesichte jedoch lag Sorge und Zagen, besonders, als er wieder zu sprechen anhub. „Möchtest Du fortfahren mit dem Papa, Blanche? ... spazieren,“ setzte er rasch hinzu, und dann sagte er zögernd und mit demselben beruhigenden angstvollen Lächeln, „draußen steht ein schöner Wagen mit weißen Pferden, die haben Schellen und große Federbüsche!... Willst Du mitfahren und immer bei Papa bleiben?“ „Ja, ja! ich will fahren! Aber Mama?“ „Lasse... Sie wird kommen, wenn sie genug getanzt hat...“ Der Mann packte die zarte Gestalt in die Kissen und Decken des Bettes, schlug den weiten Pelzmantel um diesen kostbaren Bündel und schlich wie ein Dieb hinaus durch die Zimmer, über den hellerleuchteten Flur und den Vorgarten, und als er ungesehen die Straße erreicht hatte, rannte er hinüber bis zu den nächsten Häusern, die im tiefen Schatten lagen. So schnell, als sie die kurzen Beine trugen, lief die Roserl hinterher, und erst als der Baron vor dem Wagen stand, der dort auf ihn wartete, beachtete er das Kind. Er beugte sich nieder, zog die kleine rothe Hand an seine Lippen... griff in die Tasche und flüsterte: „Halte Dein Schürzchen auf.“ Als die Roserl das that, fielen zwei Hände voll Gold- und Silbermünzen hinein, dann ließ der Baron sie den Mund seiner Tochter küssen, legte flüchtig seine Hand auf ihren Kopf: „Gott segne Dich!“ sagte er, sprang in den Wagen und fuhr davon. Das Alles geschah so schnell, daß die Roserl weder denken noch reden konnte, sie hielt nur ihre Schürze zusammen, stand betäubt mitten im Straßenkoth und schaute dem davonrollenden Wagen nach. Erst als die Laterne bei einem Buge der Straße verschwand, schrie sie laut auf und rannte ein Stück nach, dann kehrte sie verstört um und lief auf das neue Haus zu, aber auch dort prallte sie muthlos zurück und trabte durch Dick und Dünn hinüber in die „blaue Gans“... Sie stürzte in die Waschküche, leerte ihr Fürtuch auf dem Tische aus, kauerte sich neben ihre Mutter auf den Fußboden und weinte laut in die Röcke der verwunderten Frau: „Mußt nicht tanzen, Mutter, sonst kommt Einer und stiehlt mich!“ Nachbar Krippelmacher. Es steht nichts mehr dort als ein kahler Baum und ein windschiefer Pumpbrunnen. Das Haus, der schmale Garten, der große eingezäunte Hofraum, alles ist verschwunden, und eine Planke aus neuen Brettern schließt den wüsten Platz ab. Jetzt deckt der Schnee mitleidsvoll die aufgewühlte Erde zu und fremd gehen fremde Menschen vorbei und ahnen nicht, wie viel Lust und Leid auf dem eingeplankten Stück Boden gefühlt wurde, wie viel Lachen und Schluchzen in die Lüfte scholl, als noch das einsame Haus da oben stand neben dem niederen Hügel. Damals gab es keine breiten Straßen und Gassen, keine kühlen vornehmen Leute in dem stillen Winkel; unsere Nachbarn, welche da lebten, schlossen sich lustig aneinander, halfen einander, zankten miteinander, vertrauten einander. Es war ein fröhliches Leben da in der Arbeiterecke, und besonders für uns Kinder, wenn die Weihnachtsfeiertage heranrückten. Vorne am Ende des Flures wohnte der dicke „Nachbar Krippelmacher“ und Thüre an Thüre sein Nachbar, der Weber. Bei dem Krippenmacher war es immer lustig, denn er und sein Sohn, ein flinker lachender Bursche von etwa vierzehn Jahren, waren Musikanten, und wenn die Monate heranrückten, wo die Krippenmacherei ruhte, da nahmen sie ihre Geigen und spielten an Sonntagen in den kleinen Schenken der Vorstadt zum Tanze auf. Je näher aber der Winter kam, desto voller wurde ihre Werkstätte von kleinen Arbeitern, und in den letzten vierzehn Tagen vor dem Christfeste hantierte schon Alles, was im ganzen Hause und in der Nachbarschaft geschickte und gesunde Finger hatte. Es war aber auch für uns Kinder eine lustige Arbeit, denn das, was wir da machten, war ja halb Spiel für uns und halb Erwerb. Gar wenige Menschen mögen jemals gesehen haben wie so ein Kripplein entsteht, welches zur Weihnachtszeit auf dem Markte eine große Rolle spielt, die Schaufenster aller Spielwaarenhandlungen schmückt, und das Entzücken aller Kinder ist. Selbst die, die es machten, freuten sich, wenn es so glitzernd und flimmernd fertig vor ihnen stand. Wie sie es machten?... Auf ein schuhlanges, flaches Bretchen, das zur Hälfte grün bemalt ist, werden an allen vier Ecken Holzstäbchen festgeleimt, die vorderen zwei sind handhoch, die hinteren doppelt solang. Sind die „Gestelle“ also hergerichtet, dann kommen große Kübel voll Leimwasser, in dieses werden breite Bogen von dickem grauem Papier getaucht, wieder herausgezogen und dann zu unförmlichen Knäueln zusammengedrückt; alle die großen und kleinen Hände formen aus diesem feuchten zerknüllten Papier über die vier Stäbchen gespannte Felsen, welche sich kühn nach hinten aufbauen und ganz unten in der Mitte eine kleine Höhle bilden. Das läßt sich nicht gut so hübsch erzählen wie es flinke Finger zurechtmachen, wenn jedoch über diese grauen, leimfeuchten Felsen zerstoßener Glimmer gesiebt wird und blaugrauer Streusand, dann bedarf es keiner großen Einbildungskraft, sich glitzerndes Felsgestein vorzustellen. Kleine steife Bäumlein aus grobem Draht und grünem Papier, aufgefärbtes zartes Moos, Strohblumen-Knösplein, werden dann auf die Felsen geklebt, in der Höhle wird ein winziges Futterkripplein festgemacht, in dieses kommen zierliche Strohhalme und darauf wird das splitternackte Christkindlein gebettet. Ochs und Esel sind alsdann die nächsten, welche ihren Einzug halten, diese kleinen Thonthierlein werden zu Häupten des Sohnes Gottes gestellt, im Vordergrunde aber werden Maria und Josef festgeleimt, die Beiden sammt dem Jesuskinde haben große Heiligenscheine aus Rauschgold, und da die ganze Rauschgoldarbeit in einem Handgriffe gehen muß, wird auch gleich der Morgenstern, welcher über der Krippe schwebt, an ein Stückchen Draht geklebt und an die höchste Felsenspitze gehängt. Leuchtet der Stern, dann lassen die Krippenmacher den Müller mit dem Mehlsack auf dem Rücken, die Bäuerin mit dem Eierkorb, den Hirten mit seinen Schafen aufmarschiren. Zu allerletzt werden auf einem Felsen die heiligen drei Könige mit ihren Opfergaben aufgestellt, und wären die drei Unglücklichen lebendig, so müßten sie eines elenden Todes sterben, denn es führt nirgends ein Weg zu jener Felsplatte, von welcher sie immerfort zu dem Stern emporschauen. Es war also wieder einmal Weihnacht und flimmernd standen auf treppenförmigen Brettern die Krippen rund herum in der Stube und hingen auf schaukelartigen Gestellen sogar an den Wänden und von der Decke nieder. Der Nachbar Weber, dem die Füße schwer waren, weil er tagüber an dem Tretstuhl arbeitete, kam auch hinüber in die helle warme Stube, saß müde da und hörte dem Geplapper der kleinen Arbeiter zu, denn da wurden ganze Schauspiele aufgeführt, den Thonfiguren wurden allerhand wundersame Reden in den Mund gelegt, ja sogar Ochs und Esel unterhielten sich miteinander, die Schafe blökten oft heerdenweise, und das Kindlein in der Krippe mußte vor Kälte so unmenschlich laut schreien, wie nur ein langer Bursche mit erfrorenen Ohren und Händen sich zurechtlegen konnte, daß +er+ schreien würde, wenn er splitternackt zur Weihnachtszeit in einer Krippe liegen müßte. Manchmal wurde die Arbeit ein wenig beiseite gelegt und gebratene Kartoffeln rückten an, der Krippelmacher geigte ein Stück, oder die zwei kleinen Mädchen des Webers sangen, denn die konnten zwitschern wie die Lerchen, so daß selbst der Vater mühsam den schweren Husten anhielt, um seine Kinder zu hören. Der Weber war ein sehr armer Mann, der harte Tage mit unbeugsamer Geduld ertragen hatte. Er war krank, recht krank; Niemand als er wußte wie es um ihn stand, denn er saß hustend vom grauen Morgen bis in den sinkenden Abend am Webstuhl und arbeitete schweigend, damit seine Kinder ihr karges Brod hatten. Seit sein Weib todt war, hatte ihn Niemand lachen gesehen; was sie gethan hatte, das fleißige Weib, mußte nun er, der unbeholfene Mann, für die beiden Mädchen thun, er wusch und kochte nun sogar für die Seinen. Dabei fiel seine Brust immer mehr ein, die Schultern wurden immer höher und die entsagenden Augen schauten immer größer aus dem wachsbleichen hageren Gesicht. Zuweilen, wenn der behäbige Krippenmacher an des Nachbars Thür pochte und mit seiner lachenden Stimme hineinrief: „He! Nachbar! gehen wir nicht ein wenig in die Felder mit unseren Kindern?“ ließ er das Schifflein ruhen, wandte sich auf dem schmalen Sitzbrett um und sagte in einem Tone, der aus seinem sehnsüchtigen Herzen herauskam: „Ja, Nachbar Krippelmacher, ich dacht’ heut’ schon selber d’ran, ich will nur erst meine Kinder zusammenrichten.“ Der dürftige Putz der Mädchen wurde dann hervorgeholt, und mit frauenhafter Fürsorge zupfte und steckte der stille Mann jedes Band und jede Falte zurecht, und dann nahm er die Kinder rechts und links an die Hand und ging mit dem Krippelmacher hinaus über die Feldwege durch das wogende Korn. Aber selbst da draußen konnte er schweigend dahinschreiten, in die blaue Luft hineinschauen und sie einschlürfen wie einen köstlichen Trank. Seine gelblichen Wangen rötheten sich dann leicht, das dünne ergrauende Haar schob er dann immer mit allen Fingern in die Höhe, als sollte die Luft auch durch seinen müden Kopf strömen. Sie kehrten erst heim, wenn die hohen Pappeln an der Straße lange Schatten warfen, wenn Alles voll Abendfriede und Ruhe war da draußen... jedesmal blieb er bei dem letzten Baum stehen, schaute zurück und sagte fast wehmüthig: „Nachbar Krippelmacher, wissen Sie, ich hab’ nur den einzigen Wunsch, einmal ein paar Stunden da in der Luft zu liegen, im Schatten von dem großen Pappelbaum dort schlafen, das müßt’ wohlthun, Nachbar Krippelmacher!“... Er hat sich aber diesen Lieblingswunsch nie erfüllen können, der Webstuhl hielt ihn ja fest. Das ging so fort, jahraus jahrein, und während seine Kinder heranwuchsen, verwebte er sein Leben Stück um Stück für sie. Endlich aber kam der Tag, an welchem es ihm schwer wurde, das Webschifflein hin und her zu jagen, und er ging also schon am Mittag mit seinen schweren geschwollenen Füßen hinüber zu dem Nachbar Krippelmacher. „Das ist gescheidt, Nachbar!“ lachte der Alte und schob die Mütze auf seinem kahlen Kopf schief. „Bleiben Sie heut’ bei uns, helfen Sie mit, unsere Arbeit ist leichter als das Abzappeln am Webstuhl. Sie schauen heut’ übel aus, Nachbar, wie geht’s denn, he?“ Der Weber nickte nur dankend und saß mitten in dem Kindertrubel schier gedankenlos, er rief manchmal mit gedämpfter Stimme eins seiner kleinen Mädchen heran, streichelte ihnen die glatten blonden Köpfe, strich ihnen die Schürzen zurecht und schüttelte verstohlen ihre rothen Hände, es regte sich sogar etwas wie ein Lächeln in seinen Mundwinkeln, als die Kinder vergnügt sangen und sprangen. Am Abend in der Dämmerung rückte er näher an seinen Nachbar hin, fuhr verschüchtert und schweigend eine Weile mit den flachen Händen auf seinen Schenkeln hinauf und hinunter, und dann sagte er halblaut: „Nachbar, ich hätt’ eine Bitt’!“ „Heraus damit!“ murmelte der Andere gutmüthig. „Krippelmacher, da ist mein letzter Wochenlohn, unten beim Krämer bin ich mit sechs Groschen im Rückstand, noch vom Vorletzten... nachher beim Bäcker von dieser Woche, wenn Sie morgen hinschicken, möchten Sie das bezahlen für mich?... Ich werd’ morgen nicht ausgehen können.“ „Gern will ich das. Aber, Weber, ist das gar so wichtig?“ lachte der dicke Mann. „Freilich, Nachbar Krippelmacher, denn wissen Sie...“ er unterbrach sich und fingerte betheuernd in der Luft herum, „ich hab’ mein Lebtag keine Schulden gehabt, lieber habe ich und mein seliges Weib in unsere eigenen Finger gebissen, als in ein Stück Fleisch, das nicht bezahlt war und so sollen’s auch einmal meine Kinder machen, nicht wahr Krippelmacher?“ „Freilich, freilich, Weber,“ erwiderte dieser und sah von der Seite mitleidsvoll in das grau-blasse Gesicht, das im flackernden Lampenscheine dem Manne arg verändert erschien. „Und dann, wenn ich einmal nicht... aufstehen könnt’... liegen müßt’, Nachbar! Sie würden schon für meine Kinder den Frühstückkaffee machen lassen, gelt?... Es thät auch dazu ausreichen... Das Geld... und nachher... freilich halt... nachher...“ „Was?“ „Meine Kinder haben sonst Niemand auf der ganzen Welt als mich, Krippelmacher... Sie... sind der einzige gute Mensch...“ Das war Alles stockend, zagend und doch so feierlich hervorgebracht, daß der alte Mann die Pfeife aus dem Munde nahm, mit der Spitze rund auf die glitzernden Kripplein wies, die Augenbrauen ernsthaft in die Höhe zog, seinen Arm in den des Webers schob und so Schulter an Schulter ihm fast in’s Ohr schrie: „Nachbar, die Welt stirbt noch lang nicht aus, und so lang es kleine Kinder giebt, wird es Weihnachten geben, und so lang es Weihnachten giebt, wird es Kripperln geben, und so lang werd’ alleweil ich die schönsten Kripperln machen, die am Markt sind und damit noch zwei Kindermagen vollstopfen können und vier Kinderhänden was Rechtes lernen in der Krippelmacherei. Da, meine Hand drauf, Nachbar Weber, und jetzt legen Sie sich ruhig schlafen.“ „Jetzt geh’ ich ruhig schlafen... Nachbar!... Vergelt’s Gott!... Ich hab’ nicht viel vorwärts können mit der Red’ mein Lebtag, g’redt hat mein seliges Weib über Alles, ich hab’ halt nur gearbeitet.“ Er trocknete sich die Stirne mit der Rückseite der Hand, nahm seine Kinder rechts und links, nickte Allen zu und ging schwerfällig wieder zurück in seine einsame Stube. Zuerst brachte er die Mädchen zu Bette, legte ihnen Alles zurecht für den morgenden Tag, streichelte ihnen immer wieder die Haare aus der Stirn und schaute in die hellen Kinderaugen, bis sie sich schlossen im Schlafe... Dann ging er langsam auf und nieder in den Strümpfen, damit er seine Mädchen nicht weckte, und endlich setzte er sich matt auf das Brett vor seinem Webstuhl und ließ das Schifflein versuchend einigemal hin- und herfliegen, das Geräusch störte ja die Seinen nicht, als sie noch ganz klein gewesen, war das Klappern und Sausen der Arbeit ihr Wiegenlied, und als sie schwere Kinderkrankheiten durchmachten, sang der Webstuhl sie gar oft in den Schlaf. Der Mann begann rascher zu arbeiten, die rothen Flecken auf seinen Wangen traten schärfer hervor und sein Blick folgte unablässig dem Schifflein... Mit einmal ließ er die Arme sinken, fuhr nachdenklich prüfend mit den Händen über das Gewebe, dann hängte er das Schifflein aus, nahm die Scheere und schnitt vorsichtig die letzten Fäden des gewebten Stoffes durch, seine Arbeit war fertig... Aber als er die Scheere fortlegte und sich erhob, da hielt er sich fast erschreckt an den braunen Pfosten des Stuhlgerüstes fest, er drückte seine Wange an das alte Holz und streichelte es so zärtlich, wie er die geliebten Häupter seiner Kinder gestreichelt hatte, mit dem Werkzeug hat er sie ja ernährt... Und nun schritt er zu dem einzigen Schrank, der in der Stube stand, dort nahm er reines Leinenzeug und seine besten Kleider heraus, zog Alles fürsorglich an, brachte seine Haare in Ordnung und blies die Lampe aus... Dann schüttelte er das Kopfkissen eines Bettes zurecht, glättete die Decke und streckte sich auf das Lager hin, ein leichter Seufzer, schwankend zwischen Aufathmen und Schmerzgefühl, löste sich aus seiner Brust, und dann begann er zu flüstern und zu murmeln, immer ein und dasselbe, immer die demüthige und inbrünstige Bitte für seine Kinder... Als der Mond durch das Gebälke des Webstuhles schaute, da wendete ihm der Mann sein geduldiges Gesicht zu und athmete leiser, als ob ein tröstender alter Freund zu ihm gekommen wäre. Drüben bei dem Nachbar Krippelmacher ging es noch lustig zu, da hielten die kleinen Thonfiguren noch große Reden und die gebratenen Kartoffeln sprangen im Backofen herum vor Hitze. „Ich weiß nicht, mir ist der Weber heut’ recht übel vorgekommen, Weib, meinst nicht?“ fragte der Krippelmacher verdüstert, „ich möcht’ einmal hinüber schau’n, vielleicht braucht er etwas.“ „Ja, ja, schau nach, Alter!“ drängte die gutmüthige dicke Frau, und der Mann ging und klopfte sachte an die Thüre seines Nachbars. „Bin munter,“ flüsterte es drinnen mühsam. Der Krippenmacher trat zögernd ein und sah im ungewissen Mondlicht den Mann in seinem Feiertagsgewande daliegen. „Oho, Weber, ganz sauber angethan, wollen doch nicht fortgehen heut’ noch?“ Da langte die hagere Hand nach der des Krippenmachers, und es wisperte beschwörend: „Nicht die Kinder wecken, Nachbar... es wird Ernst... ich wart’ von Viertelstund’ zu Viertelstund’ auf den Tod... Nachbar!... Kinder... Krippelmacher ... bitt’...“ Die gewaltsam ruhige Stimme zitterte, und der Nachbar schwenkte rathlos sein Taschentuch mit der einen Hand, während er mit der andern die feuchtkalte des Webers drückte. „Aber, Nachbar Weber!“ Er räusperte sich, der Trost wollte nicht aus der Kehle, denn jetzt fiel das Mondlicht voll in das sanfte Gesicht des Kranken, und da sah er, wie die graugesprenkelten Haare festklebten an der feuchten Stirn, wie die Augen groß und erloschen in der Höhle lagen und wie nach dem Ohre zu die Haut gelb und abgestorben war. „Krippelmacher?...“ Der flehende, verschwimmende Blick sagte mehr als jedes Wort, mehr als die Hände, die sich glatt aneinander legten und sich mühsam bittend emporhoben bis zu dem Herzen des Nachbars. „Alles, Alles will ich thun für die Kinder, wenn Sie einmal --“ er unterbrach sich, schlug die Hände zusammen und setzte sich erschöpft neben dem Bette nieder. „Immer... kälter... finste-rer... Nachbar... den Pfar-rer... Kinder!!...“ „Nachbar!...“ Der Krippelmacher rannte zu der Thüre und rief mit erstickter Stimme: „Kinder, schnell in’s Pfarrhaus, die letzte Oelung ist nothwendig: Weib, komm herüber, Lichter! geschwind!“ Jählings wurde es ängstlich-lebendig in dem Hause; ein paar der Kinder liefen nach dem Pfarrer, andere brachten mehr Lichter, als jemals in der niederen Stube auf einmal gebrannt hatten, und alle die kleinen und großen Krippenmacher standen zagend, schluchzend im Flur und zwischen der Thüre, näher wagten sie sich noch nicht heran. Der Alte aber und sein Weib knieten neben dem Lager des Sterbenden und hielten seine starren Hände fest auf den Häuptern der schlaftrunknen Kinder, die nicht wußten, welch’ ein tapferes, liebevolles Herz schwächer und schwächer schlug. Der Weber lag langgestreckt da, seine Augen hingen an den jungen verwunderten Gesichtern, und das, was er ihnen oft gesagt hatte, sagte er ihnen auch jetzt, aber zum erstenmale fast drohend, befehlend: „Brav sein!... fleißig arbeiten...“ und mit einmal rannen große Tropfen aus den weitgeöffneten Augen und er flüsterte dankbar zu ihm aufblickend und bittend: „Dem... Krip-pel-macher... fol-gen.“ Da klingelte es draußen in der Dunkelheit, aus der Ferne, ganz leise kam der feine Ton heran, jetzt war er näher und lauter, wieder lauter, immer näher und näher... Der Krippenmacher hob die Kinder mit einem Ruck vom Boden auf, gab sie dem Nächststehenden in die Hände, und so kamen sie von einem Nachbararm auf den anderen bis hinaus vor die Thüre, wo sie dann ein Mann in die Werkstatt des Krippenmachers trug. Jetzt klingelte es schon laut vor dem Hausthore, kam klingelnd über den Flur und der Knabe, der das Glöcklein schwang, trat klingelnd in das Sterbezimmer... Der Priester folgte mit dem Allerheiligsten, und wo er vorüberschritt fielen die Arbeiter erschüttert auf die Kniee und lagen da mit gesenkten Häuptern, nur der Weber richtete sich empor und saß harrend auf seinem Lager, das Antlitz hielt er dem Priester zugewendet und seine Hände hatte er mühselig gefaltet... Plötzlich flog ein Schatten über sein Haupt, die dunklen Augensterne wurden grau. „Herr... Pfar-rer schnell...“ „Mein Sohn! Wenn Du Deine Seele --“ Der Priester faßte den Sinkenden und legte sein müdes Haupt sachte auf das Kissen, das sanfte hinschwindende Gesicht neigte sich ergebungsvoll und die dürren Lippen lispelten demüthig im Beichttone: „Mein... Leb-tag... ge-ar-beit... und...“ Kein Laut mehr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sie gingen nach und nach alle fort, nur der Nachbar Krippenmacher blieb neben dem todten Weber sitzen die ganze lange Nacht... Das Licht erlosch, doch er zündete es nicht wieder an, der Mond schien ja hell und klar in die öde Stube, und als der Todtenwächter im Halbschlafe so hinschaute auf den leeren Webstuhl, da war es ihm, als schwebe das Schifflein geräuschlos hin und her, als bewege sich der Treter unhörbar, und dann sah er plötzlich die schlanke Gestalt des Todten, der lautlos alle Fäden des Gewebes entzweischnitt... Der Krippenmacher rieb sich die Augen, nahm die starre Hand des Webers in seine beiden Hände, schüttelte sie feierlich und sagte dann, um sich Muth zu machen, recht laut: „Nein, nein, Du bist und bleibst todt, Du armer Kerl. Gott gieb’ Deiner Seel’ die ewige Ruh! aber,“ er nickte dem stillen Nachbar versichernd zu, „der Krippelmacher wird Wort halten und wird schon sorgen für die Zwei.“ Und der „Nachbar Krippelmacher“ hat ehrlich Wort gehalten. Als er heimkehrte. „Der Lepold ist wieder heimgekommen! -- Du! -- Lenerl! -- Hörst nicht?“ Ein kleines Mädchen, das vor dem Hausthore der „blauen Gans“ stand, rief die Worte hinüber auf die Trockenwiese. Die Angerufene, ein etwas älteres Kind, lag auf dem Rücken im Grase und schaute zwischen den Betttüchern, die über ihrem Kopfe an den Wäschleinen flatterten, hinauf in den schönsten blauen Sommerhimmel. Ein großer weißer Pudel saß neben dem rothhaarigen Mädchen, schnupperte in die Luft, schnappte nach den Fliegen, die im Bereich seiner Schnauze herumsurrten, und wehte mit der wolligen Ruthe nach rechts und links. Als die kleine Hanne sah, daß sich ihre Spielgefährtin nicht regte und rührte, trippelte sie über die ungepflasterte Straße hinüber auf die Trockenwiese, die zu der „blauen Gans“ gehörte. Das Kind stellte sich dicht neben die Freundin und sagte aufgeregt-wichtig: „Der Weiß Lepold’ ist wieder da -- Du!“ „Na was weiter?“ war die Antwort. „Der Lepold sitzt drüben im Zimmer bei seiner Mutter!“ widerholte das Kind beinahe heftig. „Meintwegen!“ klang es lässig von den vollen dunkelrothen Lippen. Die Lene dehnte ihre jungen schlanken Glieder faul im Grase, schloß die graugrünen Augen halb, blinzelte dann und wann behaglich in die Sonne und zwitscherte mit schriller Stimme ein dummes Kinderlied in die Luft. „Er hat Dich immer so gern gehabt, der Lepold, hat Dir immer was mitgebracht, wenn er aus der Arbeit kommen ist,“ sagte die Hanne vorwurfsvoll. „Ja mir... Dir nicht... und Niemand,“ erwiderte der Rothkopf beinahe hochmüthig, aber doch in schläfrigem Tone. „Nein, mir nicht, immer nur Dir, Lenerl...“ „Das ist schon lange her.“ Sie schloß die Augen verdrießlich, plötzlich aber schaute sie groß auf und fragte freundlich: „Hat er mir heut’ was mitgebracht?“ „Nein. Zwei Jahr war er fort, Du hast gar nicht an ihn denkt, soll er alleweil an Dich denken? -- Jetzt ist er da und hat auf der Brust was Glänzendes hängen.“ Die Lene blinzelte bei den letzten Worten wieder ein wenig mit den Wimpern und verzog den Mund. „Was denn?“ „Weißt, wie in der Schul’ das Ehrenzeichen, weißt? -- Aber so groß.“ Das Kind beschrieb mit dem Zeigefinger einen Kreis in der Luft, der schier so groß war wie ein Teller. Die Andere zuckte gleichgiltig mit einer Achsel, einem Arm und einem Fuß; es war schroffe Abwehr und Mißachtung zugleich in dieser Bewegung. „Und der -- der -- ich weiß nicht -- halt ein großer Herr -- hat ihm das selbst angehängt -- weil er --“ „Schau, daß Du weiter kommst, ich will schlafen.“ „Und dann haben sie dem Lepold einen Arm weggeschossen,“ die schwarzen Augen der Hanne wurden feucht, „da drinnen ist jetzt gar nichts,“ erzählte sie unbeirrt und weinerlich. Um ihre Schilderung deutlicher zu machen zog sie ihr Händchen in dem Aermel hinauf und ließ den Arm bezeichnend hin- und herbaumeln. Das zündete; zuerst stützte sich die Lene auf den Ellenbogen und schaute zweifelnd auf den schlenkernden Arm, dann fragte sie aushorchend-langsam: „Ganz weg...?“ „Meiner Seel’! -- ganz, ganz weg!“ erwiderte ehrlich die Kleine. „Nur der +eine+ Arm...?“ „Ja -- mit was könnt er denn sonst essen?“ meinte verwundert die Hanne. Der Rothkopf saß jetzt schon aufrecht, raufte ein paar lange Grashalme aus, zog sie durch die rothen Lippen und fragte dann bedächtig: „Und die Füß’?“ „Die hat er auch alle zwei noch ganz.“ Langsam erhob sich die Lene, streckte und reckte den ganzen Körper, schüttelte und schob träg die Röcke zurecht, legte ihren runden Arm auf die schmalen Schultern der Jüngeren, gleichsam liebkosend, aber sie stützte sich im Gehen auf das schwache kleine Geschöpflein. „Dableiben, Türkl! aufpassen, daß keine Wäsch’ gestohlen wird, beiß’, wenn Einer kommt.“ Das rief sie dem Pudel zu, der sich gehorsam vor ihr duckte. Sie lachte kindisch und drohte ihm noch mit der Faust zurück, als sie schon über die Straße der „blauen Gans“ zuschlenderte. Unten in dem Hause, welches über seinem Thore die steinerne „blaue Gans“ als Wahrzeichen hatte, waren alle Bewohner in großem Aufruhr. Es lebten ja zumeist Waschfrauen und Arbeiter in den langgestreckten Seitenflügeln, und die liefen alle im Hofe zusammen, sobald sich draußen oder in irgend einem Haushalt etwas Ungewöhnliches begab. Das schmale Vorderhaus hatte ein gedrücktes Stockwerk, da wohnte die alte Hausfrau mit ihrem langbeinigen Enkelsohn und in einer freundlichen Giebelstube, einem Aufbau über dem Stockwerk, hauste der alte Musikant. Seine runden Giebelfenster schauten so frohmüthig wie er selbst über das niedrige Erdgeschoß der beiden Seitenflügel und des schmalen Hinterhauses, das alles verband und ein langgezogenes Viereck herstellte. Aus allen den Stuben, Kammern und Küchen waren die Menschen zusammengelaufen und standen mitten in dem großen Hofraum. Die Männer sprachen überlaut; Weiber und Kinder hörten aufmerksam zu. Was da gesprochen wurde war freilich derb, verworren und holperig im Ausdruck, aber bedeutungsvoll wurde jede hastige unmittelbare Bewegung, jedes Zucken und Blinken der Augen; die Männer sagten da eine Menge Dinge, die sie ungeklärt und nur dumpf empfanden, und der Schluß dieser unruhigen schwulstigen Worte war immer ein bedauerndes, muthloses und bekräftigendes: Ja! -- Ja! Beistimmend wiederholten die Weiber dieses „Ja... ja,“ nur eine zog ihren krausköpfigen Buben mit derber Inbrunst heran, und während sie mit den Fingern durch seine Haare fuhr und ihn schüttelte, daß der Bursche „Gesichter schnitt“ vor Schmerz, sagte sie zärtlich zu einer Anderen: „So kann es einmal da mit meinem Jakoberl werden, und auch mit Deinem und mit einem jeden von unseren Buben.“ „Ja!... ja!...“ seufzte die Angeredete und schaute wieder auf die Kinderschaar hinüber, die neugierig vor den Stubenfenstern der Frau Weiß stand. Drinnen in der großen Stube, wo der Heimgekehrte saß, war kein Platz mehr, so Viele waren gekommen, um dem Leopold die Hand zu schütteln. Die alte kleine Waschfrau, „die Weißin“, konnte sich kaum bewegen in ihrem eigenen Hause, darum trippelte das verwitterte ruhelose Weiblein jetzt wie eine Henne, die ihr verlaufenes Küchlein wiedergefunden hat, durch alle die Menschen hin und her. Sie schob das verblichene rothe Kopftuch, das fortwährend zurückrutschte, in die Stirne, sodaß ein langes graues Haarbüschel immer weiter hervorkroch und ihrem schmalen Vogelgesichte ein lächerliches Ansehen gegeben hätte, wenn es nicht gar so geängstigt verkümmert und demüthig gewesen wäre. Nun stand die alte Frau wieder rathlos neben ihrem großen Sohne, fuhr beunruhigt mit beiden Händen flach an ihrem geflickten feuchten Rock von der Hüfte ab nieder und murmelte stotternd vor sich: „Jesus... Jesus!... was wird der Vater zu dem Unglück sagen!“ Plötzlich stemmte sie mit einem Anflug von Muth den einen Arm in die Seite und hörte ihrem blonden bildhübschen Leopold aufmerksam zu. Der Heimgekehrte erzählte seine Erlebnisse. Er sah recht krank und geschwächt aus, aber kleinlaut war er doch nicht, und seine ausdrucksvollen Augen schauten sogar lustig darein, während er sprach. „Und der Italiener?“ fragte eifrig der lange Laternanzünder, der eine Schramme über das ganze Gesicht hatte. „Ah! -- he? -- rührt sich der alte Dragoner in Dir endlich?“ lachte der Leopold und schüttelte den langen ölbefleckten Zwillichkittel des hastigen Fragers, als wollte er die Neugierde aus dem Manne noch mehr herausschütteln, dann strich er sich selbstgefällig, den kleinen Finger hochhaltend, seinen schmalen Schnurrbart und sagte nach einer Pause mit fieberhafter Lustigkeit: „Ja, siehst Du, Laternanzünder, den Italiener, den hab’ ich nur so angeschaut,“ er maß den Mann mit einem spöttisch-mitleidigen Blick von oben bis unten, „dann hab’ ich ihn so um die Mitt’ genommen,“ er nahm dabei einen halbwüchsigen Burschen, der in der Nähe stand, wie ein Bündel unter seinen Arm und hob ihn auf, „und dann hab’ ich gesagt: Wällischer! halt’ Dich zusamm’, jetzt geht’s los!... Der kleinbeinige Italiener hat gezappelt und die Zähn’ zusammengebissen, daß sie gekracht haben, und wie ich ihn so hinüberwerfen will -- na ja, so was fangt ja kein ordentlicher Deutscher -- zu seinem Vorposten, so ein Stücken durch die Luft... da ist die Kugel geflogen kommen und hat mir den Italiener weggenommen... zufällig war halt mein rechter Arm dabei...“ „O Du mein armer Bub! mein Poldl! Jesus, was wird Dein Vater sagen?“ schluchzte Frau Weiß jetzt laut und gab damit das Zeichen, daß die anderen Weiber ihre Schürzen nicht mehr verstohlen an die Augen zu drücken brauchten. Die Schramme auf dem Gesicht des Laternanzünders war dunkelroth geworden; er räusperte sich, als ob ihm etwas in der Kehle steckte, und fragte dann gepreßt: „Lang’ im Spital gelegen?“ „Grad’ lang’ genug für ein frisches Blut... sechs Monat!“ „Und was jetzt anfangen?“ „Essen!“ rief der Leopold lachend, und schaute seiner kleinen Mutter gutmüthig-verweisend von unten hinauf in die Augen. „Freilich -- richtig! -- jetzt bist schon fast zwei Stunden in Dein’ Vaterhaus und hast nicht einmal einen Bissen Brod kriegt. Wart’, gleich wird der Kaffee fertig sein, hast gewiß schon lang’ keinen mehr getrunken, mein armer Bub’!“ Mit ängstlicher Behendigkeit lief die alte Frau hinaus in die Küche, und wie sie die Thüre öffnete, schoben sich die zwei Kinder von der Trockenwiese herein und drängten sich zu dem Heimgekehrten. „Da schau her! Die Lenerl, mein unmündiger Schatz! Na komm her, Goldfuchs! aber Du bist gewachsen!“ So redete Leopold das größere Mädchen an. Die Lene ließ sich widerstandslos zwischen seine Kniee ziehen, schaute erst forschend in sein bleiches Gesicht, dann nahm sie den leeren Aermel in beide Hände, schüttelte ihn neugierig und sagte nach einer Weile befriedigt: „Es ist wirklich nichts drin.“ Leopold hob das Kind auf seinen Schoß, fragte, wie es ihm die ganze Zeit ergangen, und plauderte halblaut mit der wortkargen Kleinen. Die Leute gingen allmählich wieder an ihre Arbeit, aber keiner verließ die Stube, ohne daß er dem Heimgekehrten einen guten Rath zu geben suchte. Was half da alles rathen, der Arm war fort. „Ein Krüppel bleibt halt ein Krüppel!“ „Ja, ja!“ flüsterte die Frau Weiß dem zu, der ihr das in’s Ohr raunte, als er durch die Küche ging. „Was wird der Vater sagen?“ murmelte sie dann, lehnte sich weiter in den offenen Herd hinein und blies in die Flamme. Das Holz wollte nicht recht anbrennen, der Rauch wirbelte auf und erfüllte die ganze Küche, der alten Frau lief das Wasser immer stärker aus den Augen, je emsiger sie anblies... Drinnen in der Stube saß die Lene noch immer auf den Knieen des Invaliden, sie drückte ihr ausdrucksloses ebenmäßiges Gesichtchen an seine Schulter und schaute gedankenlos auf ihre Gespielin herab. Die Hanne hatte einen niederen Holzschemel herbeigeholt und sich leise neben dem Heimgekehrten niedergesetzt... durch den Thürspalt zog der Rauch aus der Küche herein und schwamm wie ein durchsichtiger Streifen dem Fenster zu; an die weitoffenen Scheiben schlugen einzelne große Regentropfen, und nur manchmal fiel ein bleicher wässeriger Sonnenstrahl in die Stube. Immer seltener wurden die Lichtblicke und immer hastiger und geräuschvoller strömte der Regen nieder; die Menschenstimmen, die erst so lebhaft durcheinander geschrieen hatten, erstarben draußen auf dem Hofe, denn die Waschfrauen, die bei klarem Wetter vor ihren Thüren hantierten, hatten ihr Arbeitszeug rasch in die dunsterfüllten Küchen geschafft. Nur ein paar Kinder spielten noch mit der knarrenden Stange des Brunnens, als aber ein tüchtiger Regenguß kam, liefen auch die lärmend davon und auf dem Hofe der „blauen Gans“ war es so still, als ob ein Feiertag wäre... Der Leopold hielt die kleine Lene noch fest in seinem Arm, er legte seine Schläfe an ihren rothen Kopf und lächelte, als er sah, wie die großen kalten Augen sich erst ein wenig verschleierten und dann mit einmal die Lider herabsanken, das eintönige Regenplätschern hatte sie in den Schlaf gesungen... Der Leopold schlief aber nicht ein, obwohl er bewegungslos wie das schlummernde Kind dasaß, seine Gedanken flogen zurück in die eigene Kindheit, zurück in alle die verrauschten Jahre, die er da in dieser Stube verlebt hatte. Das Holz zischte und schnalzte in der Küche draußen genau so wie damals, wenn es nicht anbrennen wollte, und ebenso ausdauernd blies die Mutter immer noch in die Flamme. Die alte Schwarzwälderuhr tickte genau so schwerfällig und einförmig, nur manchmal überhaspelte sie sich, wie eine alte Frau mitten in ihrer gleichmäßigen Rede. Die hochaufgerichteten Betten von Vater und Mutter hatten noch genau dieselbe Höhe, und sein Bett stand dort, als ob es Tag für Tag seiner gewartet hätte... Hinter dem Spiegel, der selbst aus dem vergnügtesten runden Menschengesicht ein grämliches Viereck zog, steckten heute wie immer einige Palmzweige, die paar kleinen Heiligenbilder mit den leeren oder süßlichen Köpfen hingen an derselben Stelle, Tisch, Stühle, Schränke, der ganze Hausrath, den er kannte, seit er zu denken angefangen, stand genau so sauber da wie immer. Alles war wie angenietet, nicht um eine Linie verschoben, nichts fehlte... Und doch... das kleine Bett, das rechts im Winkel hinter dem Bettschirm -- der mit unzähligen Bildern beklebt war -- stand, das Bett fehlte, und am Fenster saß auch das junge Mädchen nicht, das ehemals in dem Bette schlief... Das feingewachsene Ding mit dem lieben Gesicht und der sanften Stimme saß seit Langem nimmer dort; die fleißigen Hände, die von früh bis Abend fort und fort mit Draht, Seide und Flor herumgewirthschaftet und aus all dem Zeug Blumen geschaffen hatten, welche so schön waren als jene, die aus der Erde wachsen, diese zarten, geschickten Hände waren längst zu Staub zerfallen.... Alles war da, nur die gute kleine Marie und ihr Bett fehlten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Mein gutes Schwesterl! Du hast mich so gern gehabt!“ sagte der Leopold vor sich hin, und er preßte in überwallender Sehnsucht das Kind in seinem Arme fester an sich. Die Lene hob die Lider ein wenig, zog die Glieder an sich wie eine Katze, schmiegte sich enger an die Brust des Heimgekehrten, schluckte zwei-, dreimal, als ob sie trinken würde, und schlief wieder weiter... Da regte es sich auf der Diele, in der Ecke der Fensternische; es war ein leichtes, kaum hörbares Geräusch, der Leopold wandte den Kopf und lächelte mit einmal freudig, denn ein alter Freund wandelte dort unter dem Sessel der Verstorbenen hin und her. Der alte Kreuzschnabel, der öfter als alle andern Vögel die Federn ablegte, steckte jetzt seinen kahlen Kopf hervor und rief zum Willkomm: „Zock!... Zock!...“ „Hansel! komm her, Hansel!“ flüsterte der Soldat, „na so komm, ich bin’s ja!“ Der Vogel kam näher, er blinzelte mit schiefgehaltenem Köpfchen hinauf, ließ das durchsichtige Lid über das perlenrunde Aeuglein fallen, hob es wieder und ging dann würdevoll heran bis zu dem Heimgekehrten. Er wetzte sich den Schnabel an der Stiefelspitze, die ihm Leopold entgegenschob, hüpfte dann auf den Fuß und sang ein kurzes Stücklein, dann flog er auf den Stuhl in der Fensternische und endlich auf das Fensterbrett, dort sträubte er seine zerzausten Federn, blinzelte gegen den Himmel, sang wieder seine Weise und schloß mit dem abgehackten Zock-Zock! -- Gedankenvoll schaute der Leopold dem zahmen Thier nach, als sich aber der Vogel aufschwang und durch die Luft flatterte, hinaus in’s Freie, da lief ein Zittern durch den verstümmelten Menschenleib, der Armstumpf zuckte... erhob sich einen Augenblick... und eine unaussprechliche Hoffnungslosigkeit legte sich über das abgemagerte Gesicht, umhüllte schier mit einmal die müde junge Gestalt, und ein anklagender Wehlaut riß sich gleichsam von dem traurigen Herzen los... Unbeachtet saß die kleine Hanne immer noch neben dem Manne, sie hatte jeden Blick und jede Bewegung des Heimgekehrten verfolgt, jetzt bewegte sie sich zum erstenmal, zupfte schüchtern an seinem leeren Rockärmel und wisperte mit einem fürsorglichen Blick auf die schlafende Lene: „Mußt nicht so traurig sein, Herr Lepold, der Kreuzschnabelvogel sitzt nur da drüben, oben, dort neben dem Rauchfang, ich hol’ ihn schon gleich wieder herunter. Mußt nicht traurig sein, ich bitt’ Dich!“ Das schwache Geschöpflein hockte so klein neben ihm und lispelte die kindischen liebevollen Worte so leise, daß er es eigentlich erst recht beachtete, als es durch die Thüre hinausschlüpfte und noch einmal wie zum Abschied zurückblickte nach ihm... Es überkam ihn da eine unklare Erinnerung an einen ähnlichen Menschenblick... ein verschwommenes Bild tauchte auf... Er hatte einen solchen Blick gesehen, aber: Wo?... wann?... fragte er sich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Na ja, das haben wir jetzt davon!“ grollte draußen in der Küche eine rauhe verbissene Stimme, „der Kerl, der baumstark fortgegangen ist, kommt jetzt so heim -- jetzt können wir wieder anfangen beim Auffüttern!“ Frau Weiß weinte laut und blies dazwischen in die Flamme. „Der Laternanzünder hat mir die Neuigkeit bei dem Werkstattfenster hineingeschrieen -- da hab’ ich den Hammer hingeschmissen und --“ „Aber Mann! Mann! ich bitt’ Dich um Gotteswillen!“ wimmerte das Weib, hob die gerungenen Hände zu dem Schlosser auf und zeigte mit dem Kopfe nach der Stubenthüre. „Der Erste als Soldat im Krieg liegen geblieben -- und verreckt wie ein armes Stück Vieh in einem Straßengraben; das Mädel, die Zweite, ausgelöscht wie eine Groschenkerzen -- jetzt der Dritte, der Letzte! -- Himmelherrgott! --“ Zitternd und weinend hob die Alte wieder die Hände auf bis zu dem wetterleuchtenden Gesicht ihres Eheherrn. Er hatte die großen Fäuste in den Brustlatz seines rußigen Schurzfelles gesteckt und drückte sie nun gegen die breite Brust, daß es krachte und knackte; er suchte nach milderen Worten, um sein Weib zu beruhigen, stieß aber nur voll schmerzlichem Ingrimm heraus: „Jetzt fünf Kreuzer -- alle Tag -- he? -- für unsern Buben -- der ein ehrliches Handwerk gelernt hat! -- oder einen Leierkasten? -- Was gefällt Dir besser, Alte?! --“ „Ja... ja...“ flüsterte die Frau überzeugt, trocknete sich die Augen und fachte dann wieder mit der Schürze das Feuer an, das immer noch nicht brennen wollte. Bei dem ersten Laut der rauhen Männerstimme steckte der Leopold den Kopf vor und horchte mit einem Ausdruck der Freude, allmählig jedoch wurde sein bleiches Gesicht röther und röther, die Adern auf der Stirne wurden sichtbar stärker und sein Oberkörper bewegte sich unruhig hin und her. Als aber nun sein Vater von der Zukunft sprach, krampfte sich die Hand des Soldaten zusammen und er ließ das Kind aus seinem Arme auf den Boden gleiten. Die Lene stand mit verschlafenen Augen und verdrießlich-verzogenem Munde da, blinzelte den Leopold von der Seite an, rieb sich die Arme vom Ellenbogen ab mit beiden Händen und gähnte. Der Heimgekehrte schob sie trotz des schlafsüchtigen Gehabens beiseite, stand jählings auf und wollte hinaus... da flog die Thüre weit auf, bis zurück an die Wand, und die breite ungeschlachte Gestalt des Alten stand auf der Schwelle. Lautlos schauten sich Vater und Sohn in die Augen, und es hätte sich Keiner so schnell gerührt, wenn nicht hinter dem Schlosser das vergrämte Gesicht der alten Frau aufgetaucht wäre, durch seinen Arm hindurch nickte und winkte sie bittend ihrem Sohne zu. Als der Leopold die verweinten Augen seiner Mutter sah, wich das heiße Blut langsam aus seinen Wangen zurück und mit gepreßter Stimme sagte er: „Grüß’ Gott, Herr Vater!“ „Grüß’ auch Gott!“ „Da bin ich halt wieder.“ „Ich -- seh’s!“ „Ich mein’, Herr Vater, ich hätt’ einen guten Willkomm’ verdient,“ murmelte der Leopold und behielt seinen Vater fest im Auge. „Meinst’?“ Der Arbeiter ging hin und reichte seinem Sohne die Hand, doch als er sie schüttelte schaute er zum ersten Male scheu und mit gewaltsamer Anstrengung auf den leer herunterbaumelnden Aermel... Er schwieg, aber sein grauer Bart, der das Gesicht frei ließ, beinahe aus dem Hals wuchs und von einem Ohrläppchen bis zum andern ging, bewegte sich heftig. Der Bart rührte sich, weil der ganze Unterkiefer nicht zu halten war, weil er so selbstständig wackelte, als ob der trotzige Mann keine Gewalt mehr hätte über diesen widerspenstigen Theil seines Körpers... Der Bart zitterte noch immer verrätherisch, als der Alte in einem fort nach dem Aermel sah und voll bärbeißigen Mitleidens sagte: „Schaust elend genug darein --“ Er langte nach der Medaille, die an der Brust seines Sohnes hing, und fragte: „Haben sie Dir das Blech da gegeben für Deinen verlorenen Arm? -- Wirst +damit+ die Alte erhalten, wenn ich nimmer weiter kann? --“ „Aber Vater!“ wehrte der Leopold erschüttert ab, „was bleibt denn, wenn auch das nichts gelten soll?“ „Was bleibt? --“ er schlug auffahrend mit der Faust auf den Tisch und schaute ingrimmig in das verstörte, erbleichte Gesicht des Andern: „Was bleibt?! Lüg’ Dir nicht selbst was vor, so wie die Euch was vorlügen, die den Firlefanz erfunden haben -- Dein Armstumpf bleibt, gar nichts sonst! --“ „Zock-Zock!“ rief der Kreuzschnabel drüben auf dem Hausdach, dann steckte er sein Köpfchen unter die nassen Flügel und machte keinen Versuch mehr heimzukehren. „Jetzt werd’ ich übermorgen zweiundsiebzig Jahre alt; seit meinem zwölften Jahr hab’ ich alleweil meinen Hammer auf einen fremden Ambos fallen lassen, war alleweil Gesell’, hab’ alleweil redlich gearbeitet für mich und meine Leut’ -- für Dich auch mit! -- Und jetzt? -- Wenn ich fragen thät: „Was bleibt?“ -- He?! -- Du! -- Du -- der mir so heimkommt.“ Durch die Thürspalte zog sich der Rauch wieder viel stärker in die Stube und schwamm dem Fenster zu, draußen blies und pustete das Weib noch immer in das glühende Holz, daß ihr die Augen übergingen. Ein- über das anderemal schlich sie zu der Stubenthüre und horchte ängstlich, denn sie kannte den zornigen ungleichen Schritt ihres Mannes, der drinnen auf- und niederging, sie kannte die fieberisch-bewegte Stimme ihres Kindes und wußte, daß der Alte noch weit weg von seiner guten Stunde war. Die kleine Lene stand hinter dem Stuhl, auf welchem früher der Leopold gesessen hatte, sie stützte das runde Kinn auf die Sessellehne und schaute mit neugierlosem Gleichmuth in das Gesicht des zürnenden Hausherrn. Als er plötzlich den rothen Kopf erblickte, schwieg er überrascht, in der nächsten Minute aber wendete er sich zu dem Kinde, die Lene war ihm ja ein willkommener Anlaß, tüchtig weiter zu wettern, denn schreien mußte er nun einmal, wenn er zornig war, oder wenn ihm etwas weh that, was er nicht zugestehen wollte. Daß er sich bei einem Herzeleid doppelt grimmig anstellte, das wußten alle Leute in der „blauen Gans“, darum kam ihm zu solchen Zeiten keiner in die Nähe als sein Weib. Auch jetzt fuhr er grollend auf das Kind los: „Was willst Du da? -- Bei Zeiten tagdieben lernen?“ -- er nahm die Kleine bei einem Arm und drehte sie wie einen Kreisel zur Thüre hinaus. „Marsch! zu Deiner Mutter hinüber!“ -- Dem Leopold ging die harte Behandlung des Kindes nahe, er rückte den Sessel geräuschvoll fort, trat an das Fenster und schaute der Lene nach. Die Kleine patschte gleichgiltig, ohne sich umzusehen, durch die Regenpfützen über den langen Hof. Als er so hinausstarrte, blendete ihn etwas in der Luft, und wie er aufblickte, guckte das weiße Gesichtchen der Hanne drüben aus der Dachluke und ihre kleinen Hände winkten ihm tröstend und beruhigend zu... „Was hat das Kind nur? Es stellt sich an, als wollte es heraus auf das Dach kriechen,“ dachte der Leopold und erwischte sich dabei, daß er es vor sich hin gesprochen hatte, denn der Alte hielt in seinem Hin- und Wiederwandeln inne und schaute auch hinaus in die Luft. Der Heimgekehrte lehnte sich mit einer Schulter an das Fensterkreuz und blickte empor zu den hastig treibenden Wolken. Er war wie zerschlagen, so müde, so traurig, wie sollte es in Zukunft werden, wenn schon der Tag, an dem er heimkam, so anhub... Immer wieder glitten Schatten über sein junges Gesicht, es wurde dunkel und hell, starr und bewegt, je nachdem droben die verschwommenen geisterhaften Gebilde über den bleifarbenen Himmel eilten. Die Wolken ballten sich zusammen zu menschenähnlichen Gestalten, sie schleppten dunkle und helle Gewänder hinter sich her... und jetzt jagten gar gespenstige Rosse da oben, und der Leopold dachte: „Vielleicht ist wirklich was dahinter und es geht droben so wild zu wie drunten, nirgend giebt’s eine rechte Ruh!“... Der Schlosser ging noch immer in der Stube auf und nieder und schielte über die Achsel nach seinem Sohn, plötzlich fragte er: „Aber stumm bist Du doch nicht worden? -- He?!“ „Glaub’ nicht.“ „Warum redest Du also nicht?“ Wie leiser Spott klang es zurück: „Bis jetzt hat der Herr Vater hübsch viel zu reden gehabt.“ „Jetzt bin ich fertig.“ -- „Schon?...“ „Ja!“ „So!“ Der Soldat schaute ziellos in’s Leere und über sein hageres Gesicht flog ein Lächeln, das nur ein klein wenig in den Mundwinkeln weilte und dann erstarb, um jenem traurigen Ausdruck Platz zu machen, der öfter und öfter wiederkehrte. „Sie haben mich jetzt die ganze Zeit angeschaut und mich behandelt und zu mir geredet, als ob ich recht was Niederträchtiges gethan hätt’... ich mein’ aber, wenn Einer von uns Zwei schimpfen oder klagen dürft’, so wär ich der... oder etwa nicht?“ Der Alte hustete sehr laut, räusperte sich, öffnete die Küchenthüre und spuckte hinaus, er schaute nicht auf und gab keine Antwort. „Aber was hilft da alles schimpfiren und lamentiren,“ fuhr der Leopold fort; er zeigte nachlässig mit einer gewissen Vornehmheit nach dem alten Schubladenkasten, auf welchem die bescheidenen Schaustücke und Prunktassen rund um den vergoldeten Christus standen. Mit übertriebenem Ernst sagte er: „Dort stehen noch die alten Kaffeeschalen von der Großmutter-Zeit her, sind alleweil dort gestanden, ist ihnen kein Henkel abgeschlagen worden... Warum lobt denn der Herr Vater die alten Schalen nicht dafür, daß ihnen nichts geschehen ist, weil halt die Frau Mutter allezeit fein Obacht gegeben hat auf das gebrechliche Zeug?“ Der Schlosser schaute seinen Sohn verdutzt an, dann nahm er im Vorbeigehen eine der Kaffeetassen in die Hand, blickte wieder diese genau an und stellte sie nach einer Weile ungewöhnlich behutsam auf ihren Platz. „Ja, schau der Herr Vater die Dinger nur an... Die Frau Mutter hätt’ halt mitgehen sollen mit mir und fein Obacht geben auf mich, nicht wahr?... Vielleicht hätt’ sie auch die Kugeln in der Luft auffangen können, daß mich keine erwischt hätt’, gescheidter aber wär’s gewesen, sie hätt’ mich alleweil z’haus auf den alten Schubladkasten gestellt und selber abg’staubt, da wären an mir wie an den alten Kaffeeschalen... gewiß alle zwei Henkeln ganz geblieben!...“ Die Bitterkeit und der bewegte ernste Ton schwanden immer mehr aus den Worten des Invaliden und langsam schlich sich der frische lustige Laut ein, in welchem er früher zu den Nachbarn gesprochen hatte. Der Alte horchte hin, kraute sich hinter den Ohren, zuckte die Achseln eine nach der andern und fragte dann halblaut mit der Stützigkeit, die innerlich an demselben Gedanken überzeugungslos festhält: „Ja! -- Aber -- was bleibt? -- Was bleibt?“ Da richtete sich der Leopold in ganzer Länge auf und sagte mit tiefer Stimme: „Der ehrliche Name, die Gewißheit, daß man rechtschaffen seine Pflicht gethan hat... und der zweite Arm, der doch auch noch mitzählt?... das bleibt halt, Herr Vater!“ Kein Athemzug war nach den Worten mehr zu hören in der Stube; der Alte nickte nur, als ob er sich doch selbst Recht geben wollte, und glotzte unbeweglich seine schwarzen Hände an, als wäre es eine Ueberraschung, daß sie breit und rauh seien, daß er stumpfe Finger und beinahe nur messerrückenschmale Nägel habe. Sein Sohn lehnte jetzt mit dem Rücken am Fensterkreuz und starrte an die Zimmerdecke. Das schweigsame Ausweichen mit Wort und Blick dauerte eine geraume Weile, da knarrte die Thüre und die beiden Männer schauten wie erlöst von dem unbehaglichen Drucke hin. Der Thürspalt wurde breiter, unten an der Schwelle kam ein Fuß mit einem großen durchlöcherten Schuh, mitten, in gleicher Höhe mit der Thürklinke, die Hälfte eines dampfenden Topfes und ein gut Stück höher zitterte ein grauer Haarbüschel... Der Schlosser riß die Thüre weit auf, so daß sein Weib jählings in ihrer ganzen Verzagtheit in die Stube torkelte. „So, da ist der Kaffee schon!“ stotterte sie verlegen, stolperte zum Tische, stellte ihren Topf in die Mitte und blinzelte mit einem unsicheren Ausdruck noch immer nach den Beiden. Sie rückte die Stühle an den Tisch und schob sich hinter dem Alten vorbei zu dem Schubladenkasten. Fürsorglich wählend überschaute sie ihre Tassenherrlichkeiten und nahm eine der größten mit beiden Händen auf. Der Schlosser stand jetzt neben ihr, und sein kantiges Gesicht wurde beinahe weich, als er mit dem Zeigefinger die Tasse berührte: „Die ist noch älter als wir, Alte, gelt?“ „Freilich, freilich... ja, ja!“ sagte sie zitternd und versuchte zu lächeln. „Aber aushalten thun sie doch was, die Alten!“ erwiderte er und legte die schwere Hand auf den Kopf des kleinen Weibleins, dann ging er in die Küche und kam bald ohne Schurzfell und mit reinen Händen zurück. Er winkte seinem Sohne, deutete auf den Stuhl, und als der Leopold sich niedergesetzt hatte, setzte er sich breitspurig ihm gegenüber, stemmte beide Hände auf die Kniee und schaute dem Invaliden gerade und fest in die Augen. Die Frau wischte und putzte noch an ihren Tassen herum, und endlich rückte sie ihrem Kinde diejenige hin, auf welcher in verwaschenen Goldbuchstaben „+Aus Achtung+“ zu lesen war... Dann beobachtete sie verstohlen und zaghaft, wie ihr Sohn mit der linken Hand die Schale an den Mund führte, und athmete erleichtert auf, als sie sah, daß er sich ganz so gut anließ, wie ehemals mit der rechten. „So, jetzt erzähl’ mir, wie alles so gekommen ist, besser wär’s freilich gewesen, wenn Du uns vorbereitet, wenn Du was von der ganzen Geschicht’ geschrieben hättest.“ Der Alte sagte das mit freundlich-lauter Stimme und schob dem Jungen eine Pfeife und seinen Tabakbeutel über den Tisch zu, die Mutter trank geräuschlos ihren Kaffee und saß recht unterwürfig da, sie las jedes Krümchen Brod mit der feuchten Fingerspitze vom Tischtuch auf, schaute mit den rothgeweinten Augen von Einem zum Andern, drückte das vordringliche Haarbüschel immer wieder hinter ihr Kopftuch und kicherte endlich so sonderbar, als ob sie innerlich weinte und nur zur Entschuldigung für ihre Thränen dieses schüchterne Lachen gefunden hätte... „Herr Vater,“ sagte der Leopold, nachdem er die Pfeife umständlich gestopft und angebrannt hatte, „Herr Vater! das Schreiben geht bei so einer Geschicht’ Unsereinem viel schwerer als das Reden, weil...“ die Pfeife hatte keine Luft, Leopold mußte tüchtig anziehen, darum schwieg er wieder. Die alte Frau wartete noch eine Weile, ob keiner von den Männern sprechen werde, dann nickte sie ihrem Sohne dankbar zu, gleichsam als ob sie ihm sagen wollte, daß sie wüßte, was es ihm gekostet habe, dem zähen Blut und dem ungerechten Wort des Vaters ruhig Stand zu halten, dabei streifte sie mit den flachen Händen das Tischtuch glatt und endlich sagte sie stockend und nachsinnend: „Ja, ja... Du hast alleweil Recht, Johann, denn Du bist ein gescheidter Mann, Johann, das sagen alle Leut’, freilich!... Es ist ein Unglück, das mit dem Buben da... aber weißt, Johann, ich denk’ mir halt, die Hauptsache ist doch dabei, daß unser einziges Kind jetzt da lebendig bei uns sitzt... gelt Johann...?“ Das war recht sonderbar, die zwei Männer rückten mit einmal ihre Stühle ganz nahe zusammen, so daß sie Schulter an Schulter saßen und Beide schauten in das glückselige Antlitz des alten hilflosen Weibleins, denn die unendliche Liebe, die durch dieses arme gequälte Mutterherz fluthete, sie verschönte das alte vergrämte Gesicht mit dem grauen Haarbüschel, der jetzt sehr stark zitterte... Und nun wurde es anders, der Vater erzählte von seinem Handwerk, der Sohn von seinem Soldatenleben, das wurde Alles mit kurzen, bezeichnenden Worten abgethan. Dazwischen pafften sie um die Wette, und die alte Frau wurde nicht müde, ihr einziges Kind zu betrachten. Wenn die Beiden ein Wort lauter aussprachen, fiel sie vor Schreck so in sich zusammen, daß sie beinahe sichtlich kleiner wurde auf ihrem Sessel, sie fürchtete stets, die Zweie könnten doch noch aneinander gerathen. Scheu blickte sie dann von dem Einen auf den Andern, und wenn sie ein paar gutmüthige Gesichter anlachten, so schmunzelte sie pfiffig, als ob sie sich nur einen Spaß gemacht hätte mit ihnen. Da plötzlich krachte und kollerte es draußen im Hofe; ein gellender angstvoller Schrei jagte die drei Menschen von ihren Stühlen auf, und schon, zugleich fast, hörten sie etwas Schweres niederklatschen... Jetzt begann ein Rennen der Leute, lautes Wehklagen und Hilferufen... Der Leopold stand zuerst da, als ob er sich besinnen müsse, wo er sei, dann sprang er mit einem Satz aus dem Fenster und lief dorthin, wo schon die meisten Leute standen; er drängte sie rechts und links beiseite, ohne zu wissen, warum ihm der Athem verging vor Angst... es flirrte rund um ihn. Alles war undeutlich und verwischt, als ob er halb blind geworden wäre, und jählings stand ihm das hämmernde Herz still... er sah plötzlich nichts mehr, als zwei große Kinderaugen, mit einem sonderbaren, von ihm vergessenen Blick, ihm zugewendet. Und jetzt sah er das Kind selbst deutlich und klar, die kleine Hanne war es, die zu ihm aufschaute, denn sie lag mit kreideweißem Gesicht und mit schlaffen Gliedern da am Boden zwischen den Leuten... „Vom Dach herunter, da vom Rauchfang ist’s gestürzt, ich hab’s fallen gesehen!“ sagte schluchzend eine Frau. „Vom Dach?“ fragte der Leopold, und seine Zähne schlugen aneinander, als er sich bückte und den Kopf des Kindes in seinen Arm nahm. „Hannerl, um Alles in der Welt, was hast Du denn auf dem Dach zu thun gehabt?“ Da schaute die Kleine zu ihm auf, in den verschwimmenden Augen blitzte etwas wie ein befriedigtes stolzes Bewußtsein, und abgebrochen wisperte sie: „Ich... hab’... Dein’... Kreuz... schnabel... vogel... doch... erwischt... beim... Rauchfang... mußt’... nicht... traurig... sein... Herr... Lep...“ Die Stimme brach, der kleine Leib zuckte schmerzlich zusammen und streckte sich, die schwache Hand deutete auf die Brust. „Da... drin’... ist... er...“ „Der „einsame Spatz“ kommt gerade heim, der versteht’s gewiß, ob dem Kind was geschehen ist,“ schrie eine Frau, und ein paar Kinder liefen dem Sonderling entgegen. Sein glattes rosiges Gesicht wurde ganz weiß, als die Kinder ihm zuraunten: „Die Hannerl ist vom Dach gefallen!“ Rasch trat er hinzu, kniete neben der Verunglückten nieder, legte sein Ohr an ihr Herz und an ihren Mund, schaute forschend in das schmale Gesichtchen und bewegte dann vorsichtig alle ihre Glieder in den Gelenken. Als durch den halbstarren Körper zweimal ein leichtes Zittern rann, sagte er mit zagender leiser Stimme: „Ich glaube, der rechte Arm und das rechte Bein ist gebrochen. Bitte, holen Sie doch gleich einen Arzt und öffnen Sie dem Kinde das Kleid. Es ist ohnmächtig.“ Als die Weiber der Hanne ihr Jäckchen aufknöpften, schlüpfte der Kreuzschnabel, den sie an ihrer Brust geborgen hielt, heraus, schüttelte sein feuchtes Gefieder, drehte das Köpfchen und schrie lauter als sonst sein abgehacktes „Zock-Zock!... Zock!...“ Da zuckten auch die Wimpern der kleinen Hanne, sie athmete leise und hob endlich mühselig die Lider, etwa eine Minute lang schaute sie groß und freundlich dem Leopold in die Augen, dann war alle Kraft zu Ende. „Die Glieder gebrochen,“ sagte der Arzt, nachdem er sie untersucht hatte, und er ließ das Kind in die Stube ihrer Mutter tragen. Alle Leute, welche die kleine Hanne umstanden hatten, folgten jetzt den Trägern, sodaß es sich ansah wie ein Leichenzug... So ein Gedanke mochte wohl auch durch das langsame Hirn der rothen Lene gegangen sein, denn sie hielt sich an dem leeren Aermel des Leopold, lief neben ihm her und flüsterte: „Du Lepold!“ „Was willst, Lenerl?“ „Muß die Hanni sterben?“ „Aber Kind!“ sagte der Heimgekehrte. „Muß sie?“ „Warum frag’st?!“ „Weil’s meine beste Freundin ist.“ „Ach ja!“ seufzte der Leopold und schaute traurig auf das Kind herab, „ihr seid ja beisammen gewesen kurz vor dem Unglück.“ „Ja freilich. Und weil ich ihre beste Freundin bin, muß ich ein neues schwarzes Kleid kriegen... ein langes!... und einen langen schwarzen Flor... weißt, der hängt über die angeflochtenen Haar’ und über’s Gesicht... weißt? und dann krieg’ ich eine abgebrochene weiße Wachskerzen in die Hand -- und geh’ gleich hinter der Todtentruhen als Allererste!“ „So,“ sagte der Leopold gedankenlos, denn vor seinem Geiste schwebten immer die großen Augen, der seltsame Blick... Wer hat mich so angeschaut? „Da werd’ ich schön sein, gelt?... Da werden die Leut’ Augen machen. Wann wird sie denn sterben?“ Sterben! -- ja, das war es! gewiß... mit einmal wußte der Soldat, daß die Hanne ihn so angeschaut hatte wie der Italiener, den die Kanonenkugel davonriß mitsammt dem eigenen rechten Arm. „So sag’ mir, wenn sie sterben wird,“ flüsterte das Kind beharrlich zu ihm hinauf. „Sie wird gar nicht sterben,“ erwiderte der Leopold ungeduldig, so als ob er nicht davon reden hören wollte. Die Lene schaute betroffen zu ihm empor, ließ den Aermel los und faßte seine Hand. Sie ging recht langsam. Schritt um Schritt, so daß sie ihn eigentlich zurückhielt... und als sie vor der Thüre standen, durch die man die Hanne in die Stube ihrer Mutter getragen hatte, lehnte das Kind sein Köpfchen an den Arm des Leopold, zeigte nach der Thüre und sagte klagend: „Mir thut der Kopf weh... Hör’ nur wie der Hanne ihre Mutter heult und die Andern auch. Sie stirbt ja nicht. Weißt, gehn wir lieber gar nicht hinein.“ Ueberrascht schaute der Invalide in die kalten, grünschillernden Augen der Lene, das Kind hatte theilweise seine eigenen Gedanken ausgesprochen... Er drückte die Thüre auf, fragte den Nächsten der in der Stube stand: „Wie geht es jetzt?“ „Sie ist schon zu sich gekommen und kriegt kalte Umschläg’, gleich kann der Doktor die Glieder nicht einrichten. Herrgott, was die Weiber zusammenplärren!“ Die Lene zog und zerrte an der Hand des Heimgekehrten, er blickte theilnahmsvoll hinüber zu der kleinen Hanne und schloß dann wieder die Thüre. Er war ja selbst so zerschlagen und gebrochen von all der Jammerei und Weinerei, von dem Gerede und Gefrage, von all’ dem hinabgewürgten Aerger und der unterdrückten Herzensbewegtheit. Seit er Vormittag heimgekehrt war, bis nun, wo die Sonne schon niedrig stand, kam er nicht aus diesem zorn- und schmerzreichen Getriebe. Das Eisenbahngetöne zitterte noch in seinem geschwächten Leibe, die monatelange Stille und Rast im Spitale hatte ihn verwöhnt und empfindlicher gemacht. Und heute... es war doch ein halb unbewußter, anstrengender Zwang für ihn, sich so zu geben, als sei keine Lücke in seinem Leben, als wäre es genau so wie es ehemals gewesen. Seit er heimgekehrt war, hatte kein Menschenmund ohne Erregtheit zu ihm gesprochen, darum wirkte die Lene jetzt so beruhigend auf ihn. Keiner war so gleichmäßig geblieben wie das kleine Mädchen. Er ließ sich von dem Kinde weiterziehen durch den langen Hof, über die Trockenwiese, hinaus auf das freie Feld. „Ausrasten... ausrasten... ausrasten!...“ Mit dieser Rastesehnsucht in der Brust und mit schwerem Kopf schritt er hin durch die wehenden Halme. Die Feldwege waren so schmal, daß die Lene vor ihm gehen mußte, und da blendete ihn plötzlich etwas, die Sonne trat wieder aus den Wolken, und es flimmerte und glänzte der kleine rothe Kopf vor ihm, als ob die Haare aus purem Gold wären. Endlich kamen die Beiden auf einen Hügel, und da oben war auch ein Feldrain ganz mit hohem Gras und Blumen überwachsen, nur dazwischen, wohl verstreut oder vom Wind verweht, schossen lange Kornähren auf. Dort setzte sich der Heimgekehrte nieder und athmete die frische reine Luft in vollen Zügen ein, die Lene aber streckte sich der Länge nach neben ihn hin, legte ihren Kopf in seinen Schoß, zog einen Apfel aus der Tasche und biß hinein, daß es knirschte; sie aß langsam, drehte nach jedem Biß den Apfel um und knusperte weiter, bis sie nur mehr den Stengel zwischen den Fingern hatte, und den ließ sie nachlässig fallen. Der Leopold schaute nachdenklich in die grünschillernden Augen, die ruhig zu ihm aufblickten. Jetzt schüttelte sich die Lene leicht vor Behagen, dehnte die Glieder, legte die kleinen Füße übereinander und sagte in einem Ton, aus dem das Vorgefühl des Gruselns klang: „So... jetzt erzähl’ mir eine Geistergeschicht’.“ Der Leopold aber schwieg. Es war recht still und einsam da mitten in den Kornfeldern, Leib und Seele konnte da oben ausrasten... Die regenfeuchte Erde dunstete, als die Sonne heiß niederschien, dann sank die Sonne tiefer, und in der Weite schwebte der Dunst über dem Boden wie ein leichter Nebelflor. Ein hastiges Regen und Zirpen hub zuweilen in den hohen Halmen an und erstarb dann wieder allmälig, bis auf ein einziges schrilles Grillenstimmchen, das gleich einem Vorsänger so lange allein zirpte und lockte, bis die andern allgemach wieder mitsangen. In der Nähe begann eine Wachtel zu schlagen; der Leopold ließ den Kopf in die Hand sinken und lauschte... und dachte an Alles, was geschehen war, als er heimkehrte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lene schlief. [Illustration] Rammingsche Buchdruckerei in Dresden, gr. Kirchgasse 6. Dresden. Rammingsche Buchdruckerei (gr. Kirchgasse 6). *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK UNSERE NACHBARN: NEUE SKIZZEN *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg™ electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG™ concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for an eBook, except by following the terms of the trademark license, including paying royalties for use of the Project Gutenberg trademark. 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