Title : Die Bären von Hohen-Esp: Roman
Author : Nataly von Eschstruth
Release date : November 13, 2019 [eBook #60684]
Language : German
Credits
: Produced by Norbert H. Langkau, Matthias Grammel and the
Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Roman
von
Nataly von Eschstruth
Leipzig
Paul List Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Spamersche Buchdruckerei in Leipzig
Seite | ||
Kapitel | I. | 7 |
Kapitel | II. | 22 |
Kapitel | III. | 37 |
Kapitel | IV. | 50 |
Kapitel | V. | 64 |
Kapitel | VI. | 79 |
Kapitel | VII. | 92 |
Kapitel | VIII. | 105 |
Kapitel | IX. | 118 |
Kapitel | X. | 135 |
Kapitel | XI. | 144 |
Kapitel | XII. | 158 |
Kapitel | XIII. | 171 |
Kapitel | XIV. | 184 |
Kapitel | XV. | 200 |
Kapitel | XVI. | 215 |
Kapitel | XVII. | 224 |
Kapitel | XVIII. | 239 |
Kapitel | XIX. | 251 |
Kapitel | XX. | 264 |
Kapitel | XXI. | 277 |
Kapitel | XXII. | 291 |
Kapitel | XXIII. | 303 |
Kapitel | XXIV. | 317 |
Kapitel | XXV. | 330 |
Kapitel | XXVI. | 342 |
Kapitel | XXVII. | 357 |
Kapitel | XXVIII. | 367 |
»Wenn ein Mädchen einen reichen Mann bekommt, ist es immer glücklich verheiratet!« hatte der alte Kammerherr von Wahnfried gesagt und dabei die weißbuschigen Augenbrauen noch grimmiger zusammengezogen wie sonst. »Gundula kann Gott danken, daß der Bär von Hohen-Esp sie zum Weibe begehrt! Ist wohl kein Nest so weich gepolstert wie das seine, und wenn man den Grafen ansieht, lacht selbst solch altem Kerl wie mir das Herz im Leibe; wieviel mehr meiner jungen Tochter, die sich ihr Männerideal nach Romanbüchern gebildet hat! Na, und in den Büchern sind die gräflichen Freier meist jung, schön, reich und ritterlich, just so wie Friedrich Karl von Hohen-Esp!« —
Die alte Dame, welche dem Sprecher gegenübersaß, richtete sich noch straffer empor und legte die großen, kräftigen, schneeweißen und ungeschmückten Hände im Schoß zusammen.
Ihre klaren, durchdringend ernsten Augen hefteten sich ruhig auf die hünenhafte Gestalt des Bruders, welcher auf seinen Krückstock gestützt vor ihr stand und sie schier herausfordernd anblickte.
»Jung, schön, reich und ritterlich!« wiederholte sie langsam, »ja, das ist er, — aber er ist noch mehr, und dieses ›mehr‹ will mir nicht behagen.«
»Und das wäre, meine Allergnädigste?« Der Kammerherr mußte sich des gichtgeschwollenen Fußes wegen auf den Stock stützen, er konnte nicht den grauen Schnauzbart seiner Angewohnheit gemäß mit ungestümem Ruck emporstreichen, aber seine Muskeln arbeiteten desto kräftiger in dem scharfgeschnittenen Gesicht, so daß sich die starren [S. 8] Haare auf der Oberlippe sträubten wie in zornigem Aufbegehren.
Alle fürchteten dieses Anzeichen bei dem alten Herrn, nur Fräulein Agathe von Wahnfried nicht. Sie glättete mit der Hand die rauschenden Seitenfalten ihres Kleides und antwortete voll unerschütterlicher Ruhe: »Graf Friedrich Karl ist leichtsinnig. Er ist durch und durch Lebemann, — die große Welt, in welcher er, der Frühwaise, so jung schon, selbständig ward, droht sein Verderben zu werden.«
»So! — Inwiefern, wenn man fragen darf?«
»Weil er sich ruiniert, — weil er über seine Verhältnisse lebt!«
Der Kammerherr lachte hart auf.
»Ein Hohen-Esp sich ruinieren! Ein Hohen-Esp über seine Verhältnisse leben! — Ahnst du, wie reich der Mann ist?«
»Man kann in einer einzigen Nacht Hunderttausende verspielen!«
»Tut er aber nicht!«
»Tut er doch! — Der Graf ist ein leidenschaftlicher Spieler. Möglicherweise hat er bis jetzt Glück am grünen Tisch gehabt, — wenn das aber einmal aufhört, wird er sich und die Seinen rücksichtslos an den Bettelstab bringen!«
»Lächerlich! — Es gibt keinen vernünftigeren Mann wie Hohen-Esp! Bei Whist und Ekarté macht man sich nicht bankrott! Ich als Mann dürfte wohl mit den Gepflogenheiten des Grafen besser Bescheid wissen, wie eine alte Jungfer! Was in deinen Weiberkaffees zusammengeklatscht wird, kümmert mich nicht!«
»Ich habe nie mit einer Dame über den Freier deiner Tochter gesprochen!« Fräulein Agathe von Wahnfried sah weder gereizt noch beleidigt aus, ihr großes, gradliniges Gesicht blieb so ruhig und energisch wie stets. »Hast du dich bei seinem ehemaligen Regimentskommandeur erkundigt?«
»Nein!«
»Weil du es leider für überflüssig hieltest. Daß der Graf Hohen-Esp ein Spieler ist, pfeifen die Spatzen auf dem Dache.«
Der alte Herr stieß seinen Krückstock ingrimmig auf das Parkett. »So; gut; — ein Spieler. Und was noch weiter? Vielleicht ein Säufer? Ein Weiberheld ... ein Totschläger ...? He? — Nur hübsch weiter im Text!«
»Von diesen genannten Eigenschaften ist mir nichts bekannt, — im Gegenteil, man lobt den jungen Mann als einen sonst sehr liebenswürdigen und ehrenhaften ...«
»Na, also! Wozu denn das ganze Lamento! Verlangst du etwa, daß ich ihm einen Korb geben soll, lediglich, weil er mal in fideler Gesellschaft ein Spielchen macht?!« — und Herr von Wahnfried nahm seine Promenade durch den Salon wieder auf, daß der Krückstock auf dem Parkett dröhnte.
»Das wäre mir freilich das liebste, denn das ganze Lebensglück unseres Lieblings einem Spieler anvertrauen ...«
»Blödsinn! Infamer Blödsinn! Du bist eifersüchtig, du willst das Mädel überhaupt nicht fortgeben ...«
»Einem Mann, der mir eine glückselige, sorgenfreie Zukunft garantiert — sofort! Aber dem Grafen von Hohen-Esp ...?! Nein; wenn du mich fragst, sage ich tausendmal nein, denn ich weiß, daß sie einem namenlosen Elend entgegengeht!« —
»Sieh mal an! — Namenloses Elend! — Nette Zukunftsmusik! Haha!... Na, und was sagt Gundula selber zu dem riesengroßen Waschkorb, welchen du für ihren Freier bereitstellst?«
Da seufzte die große resolute Frau zum erstenmal schwer auf, und über das ernste Gesicht zog es wie tiefe Schatten.
»Gundula ist verblendet!« sagte sie leise, »sie ist ebenso wie alle anderen von der Schönheit und Liebenswürdigkeit dieses glänzendsten aller Kavaliere eingenommen! Auch ist sie ideal genug, alles Gold nur für Schimäre zu halten. Was fragt sie danach, ob er die [S. 10] Dukaten auf den grünen Tisch wirft ... wenn er selber nur ihr zu eigen bleibt ... man kennt ja die schwärmerische Genügsamkeit verliebter Menschen, welche sich mit einem Herz und einer Hütte überreich wähnen!«
»Gut! — Warum also diesen schönen Wahn zerreißen?«
»Weil es nicht immer bei einer Flitterwochenliebe bleibt! Wenn sie ihr Unglück erst einsieht und begreifen lernt, ist es zu spät!«
»Hast du dich von all dem Unglück, welches dich im Leben getroffen, zu Boden schlagen lassen?«
»Nein ... ebensowenig wie du; aber Gundula ...«
»Ist unser Fleisch und Blut! Ist eine Wahnfried reinster Rasse; ist genau dasselbe eisenfeste energische Weib, wie es alle gewesen sind, welche unser kraftvolles Geschlecht hervorgebracht!«
»Komm einmal her, sieh mal da hinab! Na, gäbe es wohl auf der ganzen Welt eine bessere Bärin von Hohen-Esp, welche mit stolzen, wehrhaften Pranken um ihr Glück kämpfen wird?«
Der Kammerherr lachte kurz auf und raffte mit schnellem Griff den schweren Fenstervorhang zur Seite: »He! Ist das Mädel da unten ein Mondscheinprinzeßchen, welches ein Wettersturm über den Haufen bläst — eine Wachspuppe, welche unter ihren eigenen heißen Tränen zerschmilzt? Ich dächte, nein! Und Graf Friedrich Karl hat wohl genau gewußt, daß er keine bessere Schirmherrin in seine Bärenburg einführen kann, als unsere Gundula!«
Tante Agathe hatte sich erhoben und war mit wuchtigem Schritt hinter den Bruder getreten; ihr Blick flog hinab in den großen Hof, in dessen Mitte sich ihren Augen ein Bild zeigte, wahrlich dazu angetan, ihr besorgtes Herz zu beruhigen.
Baronesse Gundula kehrte vom Reiten heim. Sie hatte ihrem kleinen Groom die Zügel zugeworfen und verabschiedete sich eben noch von dem Rittmeister von Hammer und dessen Gattin, welche sie begleitet hatten, [S. 11] als eine hohe Leiter, welche seitlich an dem Hausflügel lehnte, ins Wanken geriet und mit lautem Krach neben dem Pferde niederschmetterte.
Der Goldfuchs stieg kerzengrad empor und brach in jähem Schreck wild aus, das Hoftor zu erreichen; machtlos hing der Groom am Zügel und ließ sich schleifen, dieweil er voll verzweifelter Angst nach dem Kutscher schrie.
Schon aber war Gundula dem erregten Tier entgegengeeilt.
Mit kraftvoller Hand griff sie zu und drängte den schnaufenden Fuchs zurück.
Ihre hohe, wundervolle Gestalt, von dem knappen Reitkleid eng umschlossen, schien aus Stahl und Eisen, energisch, sicher, und doch bei aller Kraft voll schmiegsamer Grazie stand Gundula neben dem Durchgänger und zwang ihn zum Gehorsam.
Leuchtend rot stieg das Blut in ihre Wangen, die großen, stahlgrauen Augen blitzten einen stummen Befehl, und das Pferd schäumte ins Gebiß und fügte sich gehorsam der Gebieterin.
»Bravo, mein gnädiges Fräulein!« applaudierte der Rittmeister, und Gundula lachte ihm heiter zu und rief ein paar siegesfrohe Worte.
Wie sie so dastand in dem hellen Sonnenlicht, zeigte es sich besonders auffallend, wie ähnlich sie in Gestalt und Wesen ihrem Vater und Tante Agathe war, von welchem die Welt sagte, daß sie energisch bis zur Starrköpfigkeit, klug und zielbewußt bis zur Rücksichtslosigkeit seien.
»Und die sollte nicht ihren Weg gehen und sich von ein paar Kartenblättern um Glück und Existenz bringen lassen?«
Wieder lachte der Kammerherr sein dröhnend tiefes Lachen.
»Unbesorgt, Agathe! Ich frage jetzt das Mädel, und will sie ihn — so bekommt sie ihn!«
»Ein wildes Pferd zu bändigen, ist wohl leichter, als wie einen leichtsinnigen Menschen im Zügel zu behalten! Wenn ein Weib liebt, so ist es schwach und ohnmächtig — und Gundula wird ihren Gatten lieben! Sie wird auch an seiner Seite so selbstlos und uneigennützig sein, wie sie es jetzt ist, und das öffnet dem Bankrott Tür und Tor!« —
Herr von Wahnfried starrte mit wunderlichem Lächeln grad aus. »Sie wird ihren Gatten lieben — ja ... Aber nur so lange voll blinder Nachsicht, bis ein anderer kommt, den sie noch mehr liebt!«
Beinahe entsetzt blickte Agathe auf. »Wie soll ich das verstehen? Wen könnte sie je mehr lieben wie den Mann ihrer Wahl?«
»Ihren Sohn!« — antwortete der Kammerherr langsam, voll schweren Nachdrucks und in seinen tiefliegenden Augen glimmte es wieder so seltsam wie zuvor: »Eine Bärin ist das gutmütigste Geschöpf der Welt, welches sich geduldig den Pelz zausen läßt, solange sie nichts anderes hat, als ihren Meister Petz! Wenn aber erst junge Brut in der Höhle liegt, dann wird aus dem sanftmütigen und indolenten Weibchen eine gar wilde, leidenschaftliche Mutter, welche die wehrhaften Pranken hebt und zerbeißt und zerreißt, was das sichere Nest ihrer Jungen gefährdet! — Je nun! Auch Gundula wird eine Bärin von Hohen-Esp sein, und wenn sie zuvor nicht für sich selber kämpfte, für ihre Söhne tut sie es so wahr und sicher, wie es mein Blut ist, welches in ihren Adern kreist! — — Dixi , Agathe; — ich habe geredet.« —
»Ja, du hast geredet!« nickte die alte Dame und reckte ihre markige Gestalt noch entschlossener empor, denn zuvor, »ich aber werde handeln.« —
Gundula von Wahnfried stand im Brautkleid und harrte ihres Verlobten, welcher sie in seiner glänzenden Equipage, mit dem elegantesten Viererzug, welchen die Residenz aufwies, zur Trauung abholen wollte.
Jungfer und Modistin hatten noch geschäftig an Schleppe, Kranz und Schleier geordnet, als Tante Agathe [S. 13] einen Blick auf die Uhr warf und den Diensteifrigen in ihrer kurzen, energischen Art bedeutete, das Zimmer zu verlassen.
Auch Gundula schien noch ein letztes Alleinsein mit ihrer geliebten Pflegemutter, welche sie voll strenger, aber zärtlicher Sorge großgezogen, zu ersehnen.
Sie schlang die blühenden Arme um den Nacken der alternden Frau und blickte ihr mit leuchtenden Augen in das ernste Antlitz.
»Tante Agathe!« flüsterte sie, »ich weiß, daß du meine Verlobung mit Friedrich Karl nicht sehr gern zugegeben hast! Du liebe, treue Seele hast so schwarz gesehen und die kleine, harmlose Passion meines Herzliebsten zu einer wüsten Leidenschaft gestempelt, welche uns nach deiner Ansicht ruinieren muß! — Hast du auch jetzt noch keine bessere Meinung von Friedrich Karl bekommen, wo er es doch auf meinen Wunsch über sich vermocht hat, während unserer ganzen Verlobungszeit keine Karte anzurühren?«
— — — Fräulein von Wahnfried blickte mit wunderlichem Ausdruck in die verklärten Augen der reizenden Braut, welche so gar nicht stolz, stark und energisch, sondern weich, lieblich und hold erglühend wie das verliebteste und schwächste aller Weiber vor ihr stand. —
Ein feines Zucken ging um ihren herb geschlossenen Mund.
»Ich sehe, daß du glücklich bist, mein Liebling,« sagte sie, ihre Lippen auf das wunderschöne Antlitz der Braut drückend, »und es sei fern von mir, dir diesen sonnigen Tag durch meine Angst vor dräuenden Wolken zu verdunkeln. Du hast Zeit gehabt, um zu überlegen, was du tust; ich hoffe, du wirst den Anforderungen, welche das Leben an dich stellt, gewachsen sein.« —
»Ich bin es, Tante! Ich fühle die hohe, heilige Kraft der Liebe in mir, um meines Gatten willen alles zu ertragen, was da kommt, alles!«
»So spricht eine Magd, eine Sklavin! aber nicht die Herrin von Hohen-Esp!«
Ein süßes, reizendes Lächeln verklärte das Antlitz der jungen Braut.
»Dieser Titel deucht mir heute befremdlicher wie je! — Welch eine Herrschaft möchte ich wohl erstreben, außer jener einzigen — über sein Herz! — Du fürchtest, Tante, daß ich einst Mangel an Geld und Gut leiden werde! — Was frage ich danach? — Wäre Friedrich Karl der ärmste aller Männer gewesen, ich würde ihn ebenso geliebt haben, ihm ebenso überglücklich meine Hand gereicht haben, wie jetzt! Was verlange ich noch vom Leben, da es mir ihn und seine Liebe schenkte? Nichts! Tausendmal nichts! — Du weißt, daß ich niemals viel Sinn für Glanz, Pracht und Wohlleben gehabt habe. Dazu hast du mich zu ernst und solide erzogen, hast mich eine bessere und höhere Werte des Lebens kennen gelehrt. Die bunte, große Welt mit all ihrer Lust und ihren Zerstreuungen war mir gleichgültig, ich habe in ihr gelebt, weil ich von dem Schicksal auf ihren glänzenden Boden gestellt wurde, aber im Gegenteil, ich würde meiner Liebe und meines Glückes froher sein, wenn ich es nicht mit andern teilen müßte. — Dies ist ja der einzige Punkt, in welchem ich nicht mit meinem Herzallerliebsten harmoniere!«
»Das glaube ich!«
»Wie bitter das klingt, Tantchen! — Ist es denn ein Unrecht, wenn Friedrich Karl sich seines Lebens freut, es gern in möglichst glänzendem Rahmen genießt? Gewiß nicht, das ist nur Geschmackssache; und da er die Mittel besitzt, um in der großen Welt zu leben, und gewissermaßen auch die Verpflichtung hat, seinen Namen zu repräsentieren, so lasse ich es sehr dahingestellt, ob seine Geschmacksrichtung nicht viel natürlicher und richtiger ist, als die meine!«
»So wirst du dich bekehren lassen?«
Gundula neigte das schöne Antlitz so tief, daß die duftigen Wogen des Brautschleiers darüber hinflossen.
»Das dürfte schwierig, aber nicht unmöglich sein! Ich [S. 15] werde mich gern dem Geschmack meines Mannes anpassen ...«
»Auch wenn dich derselbe in herben Widerspruch zu deinen Pflichten setzt?«
Die junge Braut blickte erschrocken, beinahe verständnislos empor. »Wie könnte das möglich sein?«
»Wirst du blindlings alles gut heißen, was dein Gatte tut? Als Frau lernt man oft sehr viel schärfer und weitsichtiger urteilen, wie als Mädchen!«
Das rosige Antlitz war jählings erbleicht, Gundula hob ihr Haupt und schaute der Sprecherin starr in die prüfenden Augen. Ein seltsam fremder Zug schlich sich plötzlich um die lächelnden Lippen, fest und energisch, ein Gemisch von Stolz und Unwillen.
»Wenn Friedrich Karl jemals unedel oder frevlerisch handelt — was Gott verhüten möge —, werde ich nicht derselben Meinung sein wie er, sondern so handeln, wie ich es für recht und gut erachte!«
Sie atmete schwer auf und senkte wieder, wie erschreckt über ihre eigenen Worte, das Köpfchen.
»Aber wie sollte das geschehen? — Wenn er sein Hab und Gut verspielt, schädigt er ja nicht Fremde, sondern höchstens sich selber — —«
»Und dich!« —
Da lächelt sie wieder. »Ich sagte dir, Tante, daß ich für meine Person gern auf alles verzichte!«
Wie weich, wie innig und rührend klang das, wie leuchteten die blauen Augen so demütig und ergebungsvoll sanft und treu!
Agathe preßte die Lippen zusammen und kämpfte sekundenlang einen schweren Kampf.
Dann schüttelte sie seufzend den grauen Kopf und strich liebkosend über das blonde Haupt ihres Lieblings, um welches die blühenden Myrten rankten.
»Nein, Kind, ich will dir deinen Glauben und dein Vertrauen nicht nehmen, — ich will in dieser Stunde [S. 16] nicht mit Möglichkeiten rechnen, welche vorläufig noch in Gottes Hand stehen; nur eine Bitte möchte ich dir noch aussprechen, eine ernste, innige Bitte ...«
»Tante! Meine liebe — liebe Tante!« —
»Dein Vater hat am gestrigen Tage sein Testament gemacht und dich nach seinem Tode zur Erbin eingesetzt, welche unumschränkte Vollmacht über ihr Vermögen hat, — er hat dies entgegen meinen inständigen Bitten getan, er hat auch keinerlei Bedingungen mehr gestellt, obwohl er weiß, daß du mit deinem Gatten in Gütergemeinschaft leben wirst. — Je nun, er ist ein Starrkopf und sein eigener Herr, ich bin überzeugt, daß er nach bester Überzeugung gehandelt hat. Du selber, Gundula, bist in Geldangelegenheiten und Geschäftssachen leider Gottes unerfahren wie ein Kind, darum kann ich dir kaum klarmachen, welch eine Gefahr dieses Testament für deine Zukunft birgt! — Um so berechtigter ist aber meine Bitte, welche du hoffentlich nicht abschlägst, auch wenn du dieselbe in diesem Augenblick noch nicht verstehst!«
»Sprich, Herzliebe ...«
»Du weißt, daß Tante Margarete dir ihr ganzes Vermögen vermachte, allerdings mit der Klausel, daß ich, solange ich lebe, den Nießbrauch des Kapitals habe?«
»Ja, Tantchen! So Gott will, wirst du dich noch viele lange Jahre dieser Renten freuen!«
Agathe überhörte die Worte, sie blickte mit sorgenvoller Stirn geradeaus ins Leere und fuhr beinahe hastig fort:
»Von diesem Erbe, welches dir zusteht, weiß niemand etwas, — dein Vater hat es selbst mir gegenüber nie erwähnt, er wird auch ganz bestimmt bei Friedrich Karl nichts davon gesagt haben, wie ja seltsamerweise der Geldpunkt bei den Herren nie erwähnt worden ist! Dein Gatte wird also nie von diesem, deinem Besitz etwas ahnen, wenn du ihm nicht selber Mitteilungen davon machst!«
»Aber Tante Agathe, wie sollte ich! Das Geld gehört ja noch gar nicht mir!«
Ein herbes Zucken umzog die Lippen der alten Dame. »Es gibt Fälle, wo Menschen mit aller und jeder Möglichkeit rechnen, wenn sie ...« Die Sprecherin brach kurz ab und fuhr in dringlichem Tone fort: »Auf dieses Kapital bezieht sich meine Bitte, Herzensliebling! Gelobe es mir in dieser Stunde mit heiligem Eide, nie und nimmer deinem Gatten gegenüber von diesem Erbe zu sprechen! Gelobe es mir! Schwöre es mir, wenn dir die Ruhe meiner Seele wert ist! — Sieh mich nicht so fragend, so erstaunt an! Ich kann und will dir nicht die Gründe sagen, welche mich zu dieser Forderung bewegen, — ich beschwöre dich nur mit all der innigen Liebe, welche ich dir seit langen Jahren gezeigt, ich flehe dich an als Stellvertreterin deiner teuren, verewigten Mutter: Schwöre mir, Gundula, nie und nimmer zu Friedrich Karl von diesem Geld zu sprechen!«
In den Augen der jungen Braut glänzten Tränen. Sie warf sich an die Brust der Sprecherin und schluchzte leise auf: »Obwohl ich nicht den Grund für diese seltsame Bitte einsehe, Herzenstante, und das Empfinden habe, als ob es nur ein unbegreifliches Mißtrauen gegen meinen Geliebten sei, welches sich dir auf die Lippen drängt, will ich dir dennoch ewiges Schweigen geloben, — dir zur Beruhigung! — Soll ich auf das Bildchen meiner lieben Mutter schwören? Ach, warum so feierlich, — es ängstigt mich! Aber wie du willst, Liebste! Ich bin überzeugt, daß du es gut mit mir meinst!«
Und Gundula legte die bebende Hand auf das Bild ihrer toten Mutter und flüsterte tief erbleichend den Schwur, welcher ihr ein so unerklärliches Schweigen auferlegte.
»Amen!« sagte Agathe mit fester Stimme, umschloß die Rechte ihres Pflegekindes mit den gefalteten Händen und sank neben ihr nieder auf die Knie.
Ihre Lippen regten sich im Gebet, aber Gundula hörte nicht die Worte, welche sie sprach.
Unten auf der Straße klang ein jubelndes Hurra! — brausende Hochrufe aus unzähligen Kinderkehlen.
Der Bräutigam nahte, die Braut zu holen. Ein Zittern banger Glückseligkeit rann wie erlösend durch die Glieder des jungen Mädchens. Sie trat jählings einen Schritt in den Erker vor und schaute hinab.
Sie sah seine hohe, ritterliche Gestalt in blitzender Uniform aus dem Wagen springen, sie sah das strahlende Lachen in seinem schönen Antlitz, wie er nach allen Seiten grüßte, wie sein Blick voll ungeduldiger Sehnsucht zu den Fenstern emporflog. —
Wieder malte rosige Glut ihre Wangen, das Herz schlug heiß und zärtlich in ihrer Brust, und im Übermaß des Empfindens schwang sie die Arme um Tante Agathe.
»Ich habe dir geschworen, Tante, und ich werde meinen Schwur halten, wenngleich ich überzeugt bin, daß Friedrich Karl mich nie nach diesem Gelde fragen wird, daß wir dieses Erbes nie bedürfen! O, liebe, liebe Tante — ich bin die seligste Braut unter Gottes weitem Himmel, und im ganzen Lande ist kein zweites Weib, welches so beneidet sein wird wie ich in meinem übergroßen Glück!«
»Das gebe Gott!« flüsterte die alte Dame und küßte ihr Herzenskind feierlich auf die Stirn. In demselben Augenblick aber ward die Tür stürmisch geöffnet, und voll jubelnden Entzückens, schön und strahlend wie ein junger Siegesgott, breitete der Graf von Hohen-Esp seine Arme nach der Geliebten aus. —
Diese Augenblicke gehörten dem jungen Paar; Tante Agathe trat schweigend in den Erker und blickte auf die Straße hinab.
Wohl konnte sie kaum ein herrlicheres Bild sehen als diese beiden jugendschönen Menschen, welche sich so glückverklärt in die Augen schauten, als sei die ganze Welt ein Zauberland trunkener Wonne geworden, — aber sie wandte sich dennoch ab, als sei dieses Licht zu grell und blendend, als tue es den Augen weh.
Sonne ohne Schatten versengt und verdorrt ...
Drunten drängte sich eine neugierig erregte Menge um die prunkende Galakutsche der Bären von Hohen-Esp.
Auf dem Wagenschlag prangte das Wappen, der schreitende Bär im goldenen Feld. —
Wird Gundula eine echte, kampfesmutige Bärin werden, welche zur rechten Zeit die Zähne weisen kann?
Agathe seufzte tief auf.
Jenes kraftvoll schöne Mädchen, welches wie eine Walküre das scheuende Pferd bändigt, ist doch nur ein schwaches, liebendes, demütiges und unendlich sanftes Weib, welches sich von dem heißgeliebten Mann ohne Vorwurf und Groll zugrunde richten läßt. — Ihr Vater war blind, wenn er von der stolzen Festigkeit ihres Charakters sprach!
Und doch ... wie hatte es vorhin so wundersam in den samtweichen Taubenaugen aufgeblitzt, als sie der Möglichkeit dachte, daß der Mann, welcher für sie der Inbegriff aller edeln Vollkommenheit war, einmal eine gewissenlose und schlechte Tat begehen könne!
Versteckt sich unter den weißen Taubenschwingen dennoch der trotzige Nacken der Bärin? — Je nun, ob sie einst selber für sich und ihre Existenz kämpfen wird, die reiche, reiche Gräfin von Hohen-Esp, oder ob sie es nicht tut und schwach und hilflos von dem ehernen Schritt des Verhängnisses ereilt wird — Tante Agathe hat in dieser Stunde für die arme Verblendete gesorgt — für sie und ihre Kinder.
Nun erst ist sie ruhig, nun sieht sie still und leichten Herzens auf all die gleißende Pracht, welche ihre grellen Funken über Kranz und Schleier der jungen Frau wirft. —
Der Kammerherr war eingetreten.
Er trug seine elegante Hofuniform, welche sonst seiner markigen Gestalt so besonders kleidsam gewesen. Auch gerne ging er trotz des Krückstocks hoch und stolz aufgerichtet, und ein Ausdruck großer Genugtuung lag auf [S. 20] den eisernen Zügen; dennoch erschienen dieselben farblos und greisenhaft, und das nervöse Zucken der graubuschigen Augenbrauen fiel mehr noch auf denn sonst.
»Ich bin froh, daß ich diesen Tag noch erlebe!« hatte er am Morgen gesagt, »er gibt meinem Leben einen guten Abschluß.«
Jetzt streifte sein Blick aufleuchtend das junge Paar, ein schmunzelndes Nicken — und dann bot er seiner Schwester Agathe den Arm — es schien wenigstens so — in Wahrheit führte sie ihn.
»Komm, du treue Pflegemutter, unser Wagen wartet.«
Die beiden Alten gingen, und Friedrich Karl schlang den Arm noch inniger um die reizende Braut, welche in der Residenz als gefeiertste Schönheit galt.
Er blickte ihr tief in die ernsten blauen Augen, welche ihm wie verklärt in Glückseligkeit entgegenstrahlten.
»Nun bist du mein, Gundula!« flüsterte er, und sein frisches, hübsches, so lebenslustig lachendes Antlitz färbte sich höher.
»Für Zeit und Ewigkeit!«
»Und wirst nie einen andern lieber haben wie mich?« —
»O, daß du fragen kannst!«
Er lachte beinahe übermütig: »Und wirst nie ein Geheimnis vor mir haben, kleine Frau?« Er dachte sich wohl selber nicht viel bei dieser Frage, denn er blickte nicht forschend in ihr Antlitz, sondern zog ihr Köpfchen noch fester an die Brust und drückte die Lippen kosend auf die blühende Myrte in ihrem Haar. Er bemerkte es nicht, wie sie zusammenzuckte, er sah nicht, wie sie erbleichte, er wartete auch kaum auf eine Antwort, sondern fuhr nach kleiner Pause fort: »Deine süßen Augen verraten mir ja doch alles, und in ihnen laß mich täglich lesen, daß du glücklich bist! Wahrlich, Gundula, kein Mensch kann eine festere, redlichere Absicht haben wie ich, alles zu tun, um dein Leben sonnig und schön zu gestalten! Man sagt zwar, der Weg zur Hölle sei mit guten Vorsätzen gepflastert, aber das ist [S. 21] Torheit, denn unser gemeinsamer führt direkt in den offenen Himmel hinein! Gundula — hast du mich lieb?«
Wie ein Aufschluchzen klang es von ihren Lippen, sie antwortete nicht, sondern küßte ihn. — Sonnengold flutete über sie hin, in ihr Herz aber war ein Schatten gefallen, der lastete dunkel und schwer, und in all ihrem traumesschönen Glück zog es wie ein anklagender Schmerzensschrei durch ihre Seele: »Tante Agathe, warum hast du mir das getan!«
Der Graf von Hohen-Esp und seine junge, liebreizende Frau galten für das glücklichste Paar im Lande!
Nicht deshalb, weil Pracht und Glanz sie umgaben, weil Sorge und Kummer unbekannte Gäste in ihrem Hause waren, weil sie alles besaßen, was dem Herzen Freude — und dem Leben Reiz verleiht, — sondern, weil sie einander aus heißer, inniger Liebe geheiratet hatten. Auf Gundulas Wunsch hatte das junge Paar die Flitterwochen auf Burg Hohen-Esp verlebt, und ein paar Damen und Herren der Gesellschaft, welche, auf weiterer Fahrt durch das Land begriffen, für etliche Stunden in dem wunderlichen alten Strandschloß Rast gehalten, konnten gar nicht genug erzählen, wie wahrhaft verklärt in unaussprechlicher Glückseligkeit die junge Gräfin dreingeblickt.
Ihr sei die Stille und Einsamkeit dieses Aufenthalts ersichtlich sehr sympathisch, während der lebenslustige Gatte wohl nur aus Galanterie und im Rausch des Honigmonats in diesem freiwilligen Exil aushalte!
Selbstredend werde das junge Paar schon bei Beginn der großen Rennen »auf der Bildfläche« erscheinen und den Winter in der Residenz verleben. Graf Friedrich Karl habe das heilig gelobt und sehr vergnügt dabei ausgesehen, auch Gundula habe sehr liebenswürdig gelächelt, aber doch heimlich geseufzt!
Ob sie eifersüchtig ist und den Gatten am liebsten in die Klostereinsamkeit der alten Bärenburg einsperrte? — Wohl möglich! Aber dann wehe der jungen Frau!
Der Erbherr von Hohen-Esp ist nie ein Heiliger gewesen und hat auch gar keine Anlage dazu, sein Leben in Sack und Asche zu vertrauern! — Gundula sei ja sehr hübsch, und daß sie den jungen Lebemann durch ihre [S. 23] äußeren Reize in Fesseln geschlagen, sei auch begreiflich; ob sie aber das Zeug dazu haben werde, ihn dauernd zu fesseln?
Sie ist nicht allzu geistreich, nicht im mindesten das, was man amüsant nennt.
Friedrich Karl habe bisher freilich der pikanten Lustigkeit gefallener Engel nie auffällig gehuldigt und sich beim Bakkarat besser unterhalten wie in den schwülen Salons der Demi-Mondainen, dennoch sei ein Charakter wie der des jungen Millionärs ganz unberechenbar, und die Langeweile zeitige oft Launen und Marotten, welche früher ganz ferngelegen. Eine eifersüchtige Frau aber ist immer ein Unglück sowohl für sich wie für andere. Kommt ein Mann nicht von selber auf dumme Gedanken — eine eifersüchtige Frau bringt ihn darauf! Ihre ewigen Anschuldigungen, ihr Mißtrauen weisen ihm erst den Weg. —
Zwar hat man an Gundula stets eine große Sanftmut und Nachgiebigkeit gerühmt, und selbst ihre Jungfer hat nach vier Jahren noch versichert, ihr gnädiges Fräulein sei die verkörperte Herzensgüte —! — Ob aber diese Taubennatur noch vorhalten wird, wenn sie eine Bärin von Hohen-Esp geworden?
Femme varie! und die Eifersucht ist eine Krankheit, welche so urplötzlich aufkeimt und in Saat schießt wie das Unkraut auf dem Felde.
Ja, die Zukunftsehe der Hohen-Esps bildete in der Residenz das unerschöpfliche Thema, welches am Teetisch und im Rauchsalon mit gleichem Interesse in allen Tonarten variiert wurde!
Währenddessen träumte das junge Paar eine zauberhafte Spätsommeridylle auf Hohen-Esp, der einsamen, uralten Burg, welche sich auf bewaldeter Bergkuppe am Ufer der Ostsee erhebt und weithin über die blauwogende Unendlichkeit schaut.
Sie gehört zu dem ältesten Grundbesitz der Familie, ein düsteres altes Gemäuer, ein Krähenhorst, welchen die kokette Laune ehemaliger Bewohner gar eigenartig [S. 24] ausstaffiert. Die Bärenburg gleicht in Wahrheit der Höhle eines Bären, denn die plumpen, massigen Mauern der graue, stumpfe Turm sind im Innern und Äußern mit lauter Dingen ausgestattet, welche an den Bär und seine wehrhaften Pranken erinnern.
Gundula war im ersten Augenblick erschrocken, als die beiden riesenhaften Bären, welche am Eingang des Burgtors Wache halten, aus grimmig offenen Rachen die Zähne ihr entgegenfletschten, als ihr überall auf Schritt und Tritt in der ganzen Burg, wohin sie nur blickte, Bären in allen Größen und Arten entgegenschauten, als jedes Möbel oder jedes Gewebe ihr in Schnitzerei oder Muster das nämliche Motiv zeigten — Bären! Bären überall! Bald aber gefiel ihr diese absonderliche Eigenart, und je mehr sie sich in die Traditionen der Familie und den Gedanken hineinlebte, daß sie nun selber eine Bärin von Hohen-Esp geworden, eine jener seelen- und nervenstarken, stolzen, gewaltigen Frauen, welche seit vielen Jahrhunderten hier gehaust, wahrhafte Herrinnen der alten Zwingburg zu sein, da schlug ihr Herz hoch auf im stolzen Selbstbewußtsein, und beinahe zärtlich haftete ihr Blick auf den braunzottigen Gesellen, welche in dieser verzauberten alten Herrlichkeit die neue Gebieterin auf Schritt und Tritt begrüßten.
Ja, verzaubert!
Durch die grauen Mauerhallen wehte es, durch die mächtigen Buchenwipfel im Parke raunte es und um die verwitterten Steinbilder der wappentragenden Bären ging es wie ein geheimnisvolles Brummen und Murmeln, wie ein gespenstisches Wirken und Weben, welches seine Zauber um eine Menschenseele spinnt, den unheimlichen Zauber, eine sanfte Taube in eine gar wilde und trotzige Bärin zu verwandeln! —
»Ich begreife eigentlich deinen Geschmack nicht, Herzlieb!« lachte Friedrich Karl, als sie eines Abends auf der Zinne des Turmes standen, weit hinab über die Wipfel des Buchenwaldes auf das ferne, blaue Meer zu schauen, in welches der glühende Sonnenball langsam, [S. 25] durch violette Dunstschleier tauchend, herniedersank. »Ich begreife dich nicht, daß es dir hier in der entsetzlichsten aller vermoderten und verräucherten Bärenhöhlen so gut gefällt! So schön, wie Hohen-Esp seinerzeit als Sitz der ersten unseres Geschlechts gewesen sein mag, so völlig überlebt hat sich sein mystischer Zauber in unserer heutigen Zeit voll Komfort, Eleganz und Leichtlebigkeit! Ich hatte im stillen eigentlich gehofft, Gundula, du würdest beim Anblick all der grausigen Untiere, welche schier zudringlich hier auf Schritt und Tritt verfolgen, schleunigst Reißaus nehmen! ›Alle Tage Feldhühner‹ ist kaum so greulich, wie ›alle Tage Bären!‹ — Bären, wo man sie sich nur denken kann, — man kann keinen Löffel in die Hand nehmen, ohne den Bär darin graviert zu finden, kein Glas, kein Sessel — kein Teppich ... keine Wand ... brr! Was zu viel ist, ist zu viel! Unsere Altvorderen sind mit diesem Bärenkultus schließlich langweilig geworden!«
Beinahe erschrocken sah die Gräfin den Sprecher an. »Langweilig? und das sagst du, Friedrich Karl, der Nachkomme dieses herrlichen Geschlechts, für den jeder Zoll dieses Grund und Bodens heilig sein sollte? — Sieh, ich trage erst seit wenigen Wochen den Namen Hohen-Esp — und doch ist es mir, als sei mein Herz und Sinn schon ganz und gar verwoben mit ihm, als wüchse ich empor zu einer neuen, ungeahnten Größe, als neige sich jedes dieser Bärenhäupter mir zu mit trautem Gruß und Segenswunsch! Ich kann nicht satt werden, durch Räume zu schreiten, wo ringsum die Andenken von Vätern und Ahnherren sprechen, wo alles davon zeugt, was sie einst waren und was wir Glückseligen jetzt sind, — wo ihr Geist uns umweht und ihre Namen zu uns sprechen! O du lieber Mann, — ich habe zuvor nie darüber nachgedacht, wie schön es wohl sein müsse, die Mutter eines Sohnes zu sein, hier aber in der Burg deiner Väter, da überkommt es mich wie eine heiße, ehrfurchtsvolle Sehnsucht, wie eine jauchzende Begeisterung bei dem Gedanken, daß ich berufen sein möchte, [S. 26] diesem alten, trotzigen Bärengeschlecht einen Erben zu schenken, es fortzupflanzen in einem Sohn, welcher dereinst so edel, so ritterlich und herrlich sein wird, wie alle jene heldenhaften Männer, welche ehemals in diesen Räumen gehaust, welche ihren Wahlspruch in die grauen Quadersteine gemeißelt, ihn hoch auf ihr Banner geschrieben und in seinem Sinne lebten und starben —
Mit entzücktem, schier staunendem Blick sah Graf Hohen-Esp auf die Sprecherin.
Wuchs sie tatsächlich neben ihm empor, oder täuschte ihn sein Auge, daß er ihre schlanke Gestalt plötzlich so hoch und stolz, so bärenhaft markig neben sich sah?
Und dieses schöne, begeisterte Angesicht, diese leuchtenden Augen ... gehörten sie wahrlich seiner ernsten, träumerisch stillen Gundula? —
Fester schlang er den Arm um sie, heißer noch küßte er ihre Lippen.
»Schade, daß mein guter Vater dich nicht sprechen hören kann, du wärest wahrlich eine Schwiegertochter nach seinem Herzen! Ja, der alte Herr war in der Tat noch der alte Schirmvogt der Not und Schwachheit, wie ihn der alte Wappenspruch verlangt; er hat viel Gutes getan, und wenn auch nicht mit gewappnetem Arm gegen die Seeräuber hier von dem Bärenhorst aus, so doch als moderner Mann im Reichstag und von der Ministerkanzel aus; du weißt, wie man sein Andenken in Ehren hält! — Ja, ein moderner Mann! — Hohen-Esp bewohnte er selten, fast nie; es lag ihm zu abgelegen, zu weltfern und unbequem, die Telegraphendrähte hatten ihr Netz allzu gebieterisch um ihn gesponnen. — Da hatte er sich Schloß Walsleben für den Sommeraufenthalt zurechtmachen lassen, — auch ein von den Vätern ererbter ›heiliger‹ Boden, aber doch etwas behaglicher und komfortabler wie hier die alte Bärenhöhle! Garnison [S. 27] in der Nähe, flotte Kavallerie — elegante und distinguierte Gutsnachbarschaft — kurzum ... man kann da ein paar Wochen aushalten! Und siehst du, Herzlieb, diesem hübschen Besitz möchte ich mein wonniges Weib auch einmal zuführen! Wir waren nun drei Wochen hier, — die Walslebener dürfen doch nicht eifersüchtig werden?!«
Wie innig er sie an sein Herz drückte, wie schmeichelnd seine Stimme klang, wie unwiderstehlich war der strahlende und heitere Blick seiner Augen, welche in letzter Zeit doch oftmals recht müde und gelangweilt in die Waldeseinsamkeit hinausgeschaut hatten!
Ein Gefühl tiefer Wehmut beschlich Gundulas Herz, wenn sie an Scheiden dachte, — wie unaussprechlich glücklich war sie hier gewesen! — wie redete jedes Zimmer, jedes Plätzchen im Park von einer Zeit berauschend seliger, junger Liebe! — Nie und nimmer würde sie sich in Hohen-Esp langweilen, und müßte sie ihr ganzes Leben hier zubringen! —
An seiner Seite ... im Verein mit ihm — wäre es nicht Paradieseswonne gewesen?
Aber was galten ihr die eigenen Wünsche, wenn Friedrich Karl andere Pläne hegte?
Ein einziger Blick in sein lachendes Gesicht, ein Kuß von seinem Munde, und die Bärin war wieder die willenlose Taube, welche mit demütigem Lächeln nickt: »So bringe mich nach Walsleben, Liebster! Die Welt ist ja überall schön, wo du bist!« —
»Gut, — sagen wir: vierzehn Tage noch nach Walsleben! Das genügt, daß du dein neues Heim, die Umgegend und Menschen kennenlernst, und dann ... dann machen wir doch noch unsere Hochzeitsreise, Liebchen?!« —
»Hochzeitsreise? ich glaubte, die machten wir schon letzt!«
»Hierher nach Hohen-Esp?« er lachte beinahe übermütig: »Nein, meine kleine Schirmvogtin, diese Extratour war nur ein Beweis meines unbedingten Gehorsams! [S. 28] Du wünschtest, die Bärenburg kennenzulernen, — und ich war Wachs in deinen Händchen, wie ich stets im Leben sein werde! — Nun aber kommt die Belohnung für diesen Separatarrest, obwohl derselbe so süß und wonnig war, daß er seinen Lohn schon reichlich in sich selber trug! — Aber wir Menschen sind nun mal unbescheiden und nimmersatte Kreaturen! Auf das schöne Exil in Hohen-Esp folgt ein noch schöneres in Walsleben, und wie man nach der süßen Speise noch Konfekt und Früchte verlangt, so lassen wir uns noch eine kleine Spritztour gen Nizza, San Remo — Monte Carlo — — usw. — servieren!«
»Alles, was du willst! Die Zwingherrin ist ihrem Herzliebsten gegenüber Sklavin!«
»Dank! Dank, du herrlichste der Frauen! Also reisen wir! — Hurra ... laß uns sogleich hinab und die Befehle zum Kofferpacken geben —!«
Sie hielt seine Hände fest. »Und der schöne Sonnenuntergang?« flüsterte sie bittend, mit einem langen, sehnsüchtigen Blick nach dem fernen Meer.
»Scheint die Sonne noch so schön — einmal muß sie untergehn!« rezitierte er scherzend. »Du weißt, daß ich für Naturschönheiten leider Gottes sehr wenig Verständnis habe, aber wenn es dir Freude macht ... selbstverständlich, Liebchen, bleiben wir noch bis zum Schluß der Vorstellung hier ... Du weißt ja, die dienstbaren Geister sind gewandt genug im Packen, um uns morgen früh noch den Schnellzug erreichen zu lassen!« —
»Das kann ich nicht garantieren ... also gehen wir! Jene graue Wolkenwand droht die Sonne doch zu verschlingen, ehe sie den Horizont erreicht ...«
»Wie nett von der Wolkenwand!« —
»Schäm' dich, du lieber Spötter!«
» Meine Sonne geht ja doch nicht unter, Liebste — dein Auge strahlt mir Tag und Nacht!«
Sie gingen Arm in Arm — hinter ihnen aber erlosch das leuchtende Tagesgestirn, — es ward Nacht.
In Walsleben fand Gundula alles, was wohl sonst jedes Frauenherz entzückt und hoch befriedigt hätte. —
Gediegene Eleganz, Behaglichkeit und die Erfüllung eines jeden, selbst des anspruchvollsten Wunsches. Es würde die junge Frau auch beglückt haben, wenn sie mehr Wert auf äußeren Glanz gelegt, und Sinn für all die vielen, hübschen Nichtigkeiten gehabt hätte, mit welchen das moderne Wohlleben sich ausstattet und welche einer Reihe von müßigen Tagen einen scheinbaren Inhalt verleihen.
Gundula hatte aber seit jeher wenig Passion für Geselligkeit und alles, was mit derselben zusammenhing.
Ihre tiefgehenden Interessen wurzelten nicht im Parkett, und die reinste Freude, welche sie empfinden konnte, war diejenige an einer schönen Natur, mit all dem stillen Zauber und den unerforschlichen Wundern, welche ihrem Schöpfer Preis und Ehre geben.
Seit sie in der tiefen innigen Liebe zu ihrem Gatten ein übergroßes Glück gefunden, war ihre Neigung für die Einsamkeit eher größer, denn geringer geworden, und so wie sie in dem weltvergessenen Hohen-Esp alles gefunden, was sie schön und wonnig deuchte, um so weniger entsprach das Walslebener Schloß mit seinem eleganten Leben und Treiben ihrem Geschmack. Dennoch verriet nicht das kleinste Wort, nicht der leiseste Seufzer, wie ungern sie hier weilte. Sie sah es ja dem glücklichen Gesicht ihres Mannes an, daß er sich außerordentlich wohl fühlte, und was hätte der selbstlosen und anspruchslosen Seele Gundulas mehr Befriedigung geben können, als den Geliebten froh und zufrieden zu sehen?
Man fuhr schon am zweiten Tag, als die junge Herrin kaum den eigenen, fürstlichen Besitz in Augenschein genommen, in die Nachbarschaft, um Besuche abzustatten.
Da man nur so kurzbemessene Zeit in Walsleben weilte, drängten sich die Einladungen; man besuchte Feste und sah wiederum Gäste bei sich, und Gundula empfand es bei all ihrem Widerwillen gegen eine derartige Vergnügungshetze doch mit unendlicher Wonne, [S. 30] daß Friedrich Karl eine stolze Genugtuung darin fand, der Welt sein junges Weib zu zeigen, daß er sich beneidenswert und glücklich in ihrem Besitze fühlte. —
Zwischen all dem Trubel fanden sich doch noch schöne, stille Stunden, wo der Geliebte ihr allein gehörte, wo er sich ihr voll zärtlicher Ritterlichkeit auch ausschließlich widmete!
Dafür dankte sie ihm durch eine stets liebenswürdige Bereitwilligkeit, ihm hinaus in das laute, bunte Leben zu folgen, und als die für Walsleben festgesetzte Zeit abgelaufen war und der junge Graf voll ungeduldiger Sehnsucht nach neuen Zerstreuungen verlangte, da gab sie gern Befehl, die Koffer zu packen.
Welch ein ruheloses Hin und Her, Kreuz und Quer durch die Welt!
Gundula hatte zuvor wenig von ihr gesehen, die Krankheit des Vaters führte sie alljährlich in dasselbe Bad, und Tante Agathe liebte es nicht, sich in einem »rollenden Sarge« durchschütteln zu lassen.
So fand die junge Frau auch jetzt wieder viel genußreiche Stunden, denn Friedrich Karl unternahm ihr zu Liebe jede Partie und jede Promenade über Berg und Tal, begleitete sie in Kirchen und Museen, obwohl er selbst in freimütiger Ehrlichkeit bekannte, daß er jedweder Kunst gegenüber Barbar sei. Dafür speiste Gundula ihm zu Liebe mit an der amüsanten table d'hôte , fuhr zu Reunionen, in Theater und Konzerte, machte große Toilette, wenn er es verlangte, und opferte Ruhe und Schlaf, wenn es ihm Freude machte, etwas länger an dem grünen Tisch zu sitzen.
Monte Carlo!
Anfänglich hatte Gundula gar nicht geahnt, welch ein Höllenabgrund in diesem Paradiese gähnte. Sie sah voll naiver Verständnislosigkeit dem Spiel zu, bis es ihr allmählich klar ward, was dasselbe eigentlich bedeuten wollte.
Da erschrak sie zum erstenmal bis in das tiefste Herz hinein.
Sie stand hinter ihrem Gatten und sah, wie die Glut fieberischer Erregung immer dunkler und heißer in sein schönes Antlitz stieg, wie die Banknoten in seiner Brieftasche mehr und mehr zusammenschmolzen.
»Herzliebster« — flüsterte sie in sein Ohr —: »laß uns gehen — ich sterbe vor Müdigkeit!«
Er sprang sofort auf, raffte noch ein paar Goldstücke zusammen und bot ihr den Arm.
»Vergib mir, darling ! es ist in der Tat sehr spät geworden ... aber im Eifer des Spiels ... ich habe gar nicht daran gedacht, daß du in letzter Zeit immer so spät zu Bett gekommen bist.«
Sie fürchtete, daß er sie heimbegleiten und noch einmal an den grünen Tisch zurückkehren werde, aber er tat es nicht, er sagte nur lachend: »Heute habe ich infames Pech gehabt! Das kommt von allem Glück in der Liebe, Schatz! Na, morgen hole ich mir die Dukaten alle wieder zurück.«
Am folgenden Tage verspielte er noch eine weit größere Summe.
»Ich muß an meinen Bankier telegraphieren,« sagte er, »unser Reisegeld ist auch schon futsch!«
Da faßte sie flehend seine Hände, und ihre blauen Augen schauten voll Angst in sein schönes, sorgloses Antlitz. —
»Friedrich Karl ...« flüsterte sie, »ach, laß uns fort von hier!«
Er lachte hell auf und küßte sie: »Ich glaube, du hast Angst, daß ich uns hier bankrott spiele!« scherzte er. »Unbesorgt, du liebes Närrchen! Die paar tausend Franken reißen noch kein Loch in unsern Geldbeutel, und einmal muß ich doch auch wieder gewinnen!«
Er gewann aber nicht, sondern verlor auch die nächsten Tage unaufhörlich. — Die namhafte Summe, welche sein Bankier ihm angewiesen, schmolz dahin wie der Schnee im Sonnenschein. Der junge Graf lachte noch immer, aber es war ein etwas gewaltsames und nervöses Lachen.
»Friedrich Karl ... laß uns fort von hier!« flehte Gundula abermals, und diesmal rollten ein paar große Tränen über ihre Wangen und netzten seine Hand.
Er zuckte zusammen.
»Wenn du befiehlst, sofort, mein Liebling! O, du glaubst doch nicht etwa, der Spielteufel habe mehr Gewalt über mich, als dieser süße Engel, welchen ich mir selbst zum Wächter meines Glückes gesetzt habe?«
Und er schellte seinem Kammerdiener und teilte ihm mit, daß mit dem Kurierzug am nächsten Vormittag weitergereist werden solle. So unbeschreiblich glücklich, wie in dieser Stunde, war Gundula nie wieder.
Nein, ihr Mann war kein Spieler, er war zum mindesten kein verblendeter und leidenschaftlicher Spieler, welcher keinem Zuspruch und keiner Bitte mehr zugänglich war. Sie konnte ihm zuversichtlich vertrauen — und diese Gewißheit beseligte sie.
Die nächstfolgenden Jahre verlebte das junge Paar in Saus und Braus in der heimatlichen Residenz. Graf Hohen-Esp machte ein glänzendes Haus, und da er nie im Leben gefragt hatte: » kann ich mir dies oder jenes gestatten«, so fragte er auch jetzt nicht danach, sondern war sehr erstaunt, als sein Administrator ihm eines Tages eröffnete, er sei nicht in der Lage, noch mehr Gelder zu zahlen, da die zuständigen Revenuen bereits an die Adresse des Herrn Grafen abgeführt seien.
»Was? ei zum Teufel! Wir haben ja das neue Quartal kaum angefangen?« — staunte Friedrich Karl, die Zigarette im Mund, die Hände in den Taschen seines Jacketts versenkt. »Sonst war das doch sehr viel mehr?«
»Herr Graf vergessen, daß das Kapital sehr abgenommen hat; die Summen, welche nach Monte Carlo geschickt wurden, die Ehrenschuld, welche an Herrn von X. — und diejenige, welche nach Wiesbaden abgesandt wurde ...«
»Donnerwetter! ist das so ins Geld gelaufen?« wunderte sich der junge Mann sehr gelassen, »das ist ja fatal. Aber ich muß doch momentan was haben! — [S. 33] Vom nächsten Quartal an können wir ja manches sparsamer einrichten. Aber gerade jetzt muß ich so mancherlei berappen ... was fangen wir da an, Alterchen?« —
Der Beamte zuckte etwas besorgt die Achseln.
»Sehr schwierig, Herr Graf ...«
»Schnacken! — Können Sie nicht die Schafe mal wieder scheren lassen? — Wir heizen ein bißchen ein im Stall!«
Der Administrator lachte. — »Dann müßten wir ihnen das Fell abziehen!« —
»Oder können Sie keinen Wald schlagen lassen?«
»Da ist schon so viel in den letzten Jahren rasiert, Herr Graf, daß da nichts mehr weg darf! Höchstens die Buchenwaldung um Hohen-Esp herum ... da sind starke Stämme ... die würden einen guten Ertrag geben ...«
Friedrich Karl grub die schlanke Hand momentan in sein lockiges Haar. »Meine Frau hat eine Leidenschaft für das alte Bärennest und den schönen Hochwald ... sie will jeden Sommer ein paar Wochen da zubringen ... also ganz herunter darf das Holz nicht ...«
»Würde der Förster auch gar nicht zugeben, Herr Graf!«
»Was der zugeben kann und will, ist mir ganz gleichgültig! Lassen Sie die Sache so machen, daß die stärksten und schönsten Bäume ausgeforstet werden. Verstanden? — um den Wald etwas zu lichten!«
»Befehl, Herr Graf!«
Ein Jahr verging, und im Hause des Grafen von Hohen-Esp klangen nach wie vor die Flöten und Geigen, klimperten fern ab im Zimmer des Hausherrn die Goldstücke auf dem Spieltisch, Friedrich Karl amüsierte sich, reiste, rauchte, spielte, und war nach wie vor ein aufmerksamer und ritterlicher Gatte, wenngleich die immer blasser werdenden Wangen und der müde, resignierte Ausdruck im Gesicht seiner Frau immer deutlicher hervortraten.
Gundulas Vater war sehr unerwartet an einem Herzschlag [S. 34] gestorben, und während des Trauerjahres, wo man doch nicht gut die Saison mitmachen konnte, unternahm Graf Hohen-Esp in Begleitung seiner Gemahlin eine Reise um die Welt.
»Du hast ja jetzt ein recht nettes Kapital geerbt, Liebchen!« sagte Friedrich Karl in seiner leichten, fröhlichen Art, »da könntest du mir eigentlich einen Gefallen tun! Es ist momentan schwer für mich, Geld flüssig zu machen, — du weißt, daß das bei Grundbesitz immer seinen Haken hat! Darum wäre es mir sehr lieb, du rücktest ein bißchen von deinem Mammon heraus, um die Reisekosten zu decken! Ja? Willst du? Wärest auch die beste Frau der Welt!«
Er küßte ihre Wangen und Hände, und sie lächelte ihr stilles, müdes Lächeln, schmiegte sich an ihn und nickte: »Nimm soviel du willst! Was soll ich mit dem Geld? Ich freue mich ja so, daß wir während der Reise endlich einmal uns wieder selbst angehören können!«
Und er nahm Geld, — soviel er wollte, denn die Reisekosten waren nicht gering.
Ach, wie hatte Gundula gehofft, daß sie das Trauerjahr still und behaglich in der schönen Einsamkeit von Hohen-Esp verleben würden, endlich, endlich einmal wieder glücklich zu sein, wie zu Anbeginn ihrer Ehe!
Statt dessen hub wieder ein ruheloses Wandern an, ein stetes Zusammenleben mit fremden Menschen, deren Mittelpunkt der schöne, liebenswürdige Graf ja ständig war!
Reiche Engländer und Amerikaner schlugen ein Spielchen vor ... und um die Langeweile der endlosen Seefahrten zu lindern, spielte Friedrich Karl; — manchmal mit Glück, — meist mit recht erheblichen Verlusten.
Und als man nach Jahr und Tag heimkam, teilte er seiner blassen Frau so en passant einmal mit, daß die Reiserei doch infam teuer gewesen sei und ein Heidengeld verschlungen habe! Das ererbte Kapital sei beinahe draufgegangen ... na, allzuviel war es ja nicht ... und da keine Kinder da sind, für die man zu sorgen hat, [S. 35] ist es ja gleichgültig, wo es bleibt! — Gundula hatte ohne ein Wort still vor sich hingenickt.
Nein, es waren keine Kinder da, für die man hätte sparen und sorgen müssen!
Der Graf setzte sich an den Flügel und spielte den feschen Walzer, welchen er jüngst zum erstenmal wieder in einem Ballsaal gehört hatte, und Gundula erhob sich lautlos, schritt über die weichen Teppiche nach ihrem kleinen Boudoir und grub laut aufschluchzend das bleiche Antlitz in die Atlaskissen.
Nein — es waren keine Kinder da, für die man hätte sparen und sorgen müssen!
Was ihr Mann achselzuckend, mit lachendem Munde als eine ja wohl fatale, aber doch nicht zu ändernde Tatsache aussprach, das fraß ihr seit Jahren schon wie nagend Todesweh am Herzen, das lastete auf ihr wie ein grausames Schicksal, wie eine Bürde, unter welcher sie freud- und trostlos daherschlich. —
Ein Sohn! — ach, daß sie einen Sohn hätte! Wenn sie zurückdenkt an jene ersten, traumseligen Wochen in Hohen-Esp, mit welch einer stolzen Glückseligkeit sie zu den gedunkelten Bildern an der Wand emporgeschaut und ihnen zugeflüstert hatte: »Einen Sohn will ich euch einst zuführen, einen jungen Bären, furchtlos, brav und rechtschaffen, ein Schirmvogt der Schwachen, ein Retter der Gefährdeten, ein Edelmann in Tat und Wort, — so wie ihr es gewesen seid!« —
Wie glühte ihr damals das Herz in der Brust voll stolzer Begeisterung, — wie träumte sie mit offenen Augen einen herrlichen, goldenen Traum! — Wehe ihr! es ist nur ein Traum gewesen und geblieben!
Kein Kind im Hause! —
Nur ein graues Gespenst schleicht darin herum, das klimpert mit Geldstücken und schlägt klatschend die Karten auf! —
Anfänglich hatte Gundula bitterlich weinend mit gefalteten Händen dagegen gerungen, dann aber sind diese Hände müde und matt geworden, ihr Herz schwer und [S. 36] starr, es hat nicht mehr in törichten Hoffnungen geglüht und nicht mehr bang gezittert, wenn sie sah, daß das Vermögen, das große, gewaltige Vermögen des Grafen von Hohen-Esp dahinschmolz!
Für wen sollte es erhalten bleiben?
Sie selber bedarf weder Glanz noch Üppigkeit, sie wird die Stunde segnen, wo die goldene Brücke, welche ihren Gatten in die falsche, bunte, treulose Welt führte, zusammenbricht.
Dann muß er bei ihr bleiben, dann wird sich nichts mehr zwischen sie drängen, dann wird sie vielleicht noch einmal in einem stillen, weltfernen Winkelchen glücklich sein!
Glücklich?!
Sie schluchzt laut auf.
Wofür also sparen? — Es ist ja kein Kind im Haus!
Die Zeit verging, — für Gundula schleichend, mit bleiernen Flügeln, für ihren Gatten in wirbelndem Tanz.
Da es der Gräfin in das Herz schnitt, unter so gänzlich veränderten Verhältnissen auf Hohen-Esp zu weilen, so hatte sie eigentlich darauf verzichten wollen, in diesem Jahr zu kurzem Sommeraufenthalt nach dort zu reisen, da trat jählings ein Ereignis ein, welches das bleiche Antlitz der müden jungen Frau in schier blendende Sonnenhelle tauchte.
Anfänglich wagte sie es kaum, an ihr verspätetes Glück zu glauben, ihr Herz erzitterte in bangen Zweifeln, ihre Seele jauchzte in Hoffnung, und auf ihren Wangen blühten wieder Rosen auf, ihre Lippen lächelten wie im Traum. Friedrich Karl beobachtete überrascht und erfreut die sichtliche Veränderung seiner sonst so resignierten Frau, und als er sich eines Tages sogleich nach dem Diner mit scherzenden Worten und einer kleinen Galanterie über ihre leuchtenden Augen und blühenden Wangen zurückziehen wollte, — da hielt sie sanft seine Hände fest, führte ihn nach ihrem dämmrig stillen Salon und warf sich voll bebender Erregung an seine Brust.
»Das alles siehst du und bemerkst du, Geliebter, und frägst doch nicht nach der Ursache, welche mich neu aufleben läßt in übergroßer Seligkeit?«
Überrascht schaute er sie an, nahm an ihrer Seite auf dem Diwan Platz und murmelte betroffen: »Ich verstehe dich nicht, Gundula ... hast du etwa das große Los gewonnen?«
Sie lachte unter Tränen. »Nur das große Los? Ach, was bedeutet alles Geld und Gut der Welt gegen unser Glück?!«
Seine Hand zuckte unruhig auf ihrem schönen Haupt. »Sprich, Liebling ... foltere mich nicht!«
Da schmiegte sie sich fest, ganz fest in seinen Arm und flüsterte ihm ein paar Worte in das Ohr.
»Gundula!« — schrie er beinahe auf: »Gundula — ist das Wahrheit? — Uns sollte ein Erbe geboren werden — ich sollte noch ein Kind auf den Armen wiegen?«
Er sprang empor, er stürmte im Zimmer auf und nieder, und dann bedeckte er ihre Hände, ihr verklärtes Gesicht mit brennenden Küssen.
»Ja, das ist ein unerwartetes Glück, Gundula!« jubelte er, »nun ist ja dein heißester und sehnlichster Wunsch erfüllt!« —
»Und der deine nicht auch?«
Wie ein Erbleichen ging es über sein erhitztes Gesicht, er sah sie nicht an, sondern preßte die Wange gegen ihre Hand.
»Wie kannst du fragen, Liebste? Als ob es mir gleichgültig sei, ob die Hohen-Esps aussterben oder nicht! Neun Jahre lang hatte ich mich freilich an diesen Gedanken gewöhnt ... ich rechnete mit jeder Möglichkeit, nur nicht mehr mit der, einen Erben zu erhalten!«
Und er sprang auf und strich mit dem Batisttuch über die perlende Stirn, dann lachte er abermals hell, beinahe übermütig auf und fuhr fort: »Ja, nun müssen wir wohl doch diesen Sommer nach Hohen-Esp fahren, damit du all deinen gemalten Freunden mit Zopf und Allongeperücke, mit Pickelhaube und Federhut das stolze Glück erzählen kannst, daß ihnen ein Urenkel geboren werden soll, daß Gräfin Gundula der alten Bärenburg für einen jungen Bären sorgen will!« —
»Und wenn es eine Bärin ist?«
»Um so kostbareren Schatz hat die Burg zu hüten«, lächelte er galant, und dann küßte er die Lippen seiner Frau und setzte die elektrische Klingel in Bewegung, um dem Diener zu sagen, daß er heute abend zu Hause bliebe, es solle ein Bote nach dem Klub gesandt werden mit der Meldung, daß der Herr Graf heute verhindert sei zu kommen. —
Gundula aber faltete die bebenden Hände und schloß [S. 39] lächelnd die Augen ... kam es noch einmal zurück, das Glück, das große, märchenhafte Glück von ehemals? — —
— — — Als der Gräfin lächelndes Antlitz sich zum Schlaf in die Kissen geneigt, wanderte Friedrich Karl ruhe- und rastlos in seinem Zimmer auf und nieder.
Er hatte einen Brief per Eilboten abgesandt, einen Brief, welcher den Administrator anwies, sofort dem Abholzen der Hohen-Esper Waldungen Einhalt zu tun.
Er hatte sich in sehr mißlicher Lage befunden und nach kurzem Kampf den Befehl gegeben, die herrlichen Buchenwaldungen um die Burg herum schlagen zu lassen, — hatte doch Gundula geäußert, daß sie keinen Aufenthalt wieder in Hohen-Esp nehmen wolle. Sie schämte sich vor all den Ahnherren im Saal, daß sie ihnen noch immer keinen Stammhalter zuführen könne!
Das war nun anders geworden!
Jetzt, nach neunjähriger Ehe! Wer hätte das gedacht!
Nun war Gundulas Liebe für den alten Ahnensitz neu entflammt, und auf keinen Fall durfte sie die Verwüstungen in ihren geliebten Wäldern erblicken!
Das war ein recht fataler Zwischenfall!
Was sollte er nun beginnen?
Seine Lage war von Jahr zu Jahr schlechter geworden, ach, Gundula ahnte es nicht, wie schlecht!
Er mußte absolut eine bedeutende Summe flüssig machen, um eine Spielschuld zu bezahlen!
Infam! er hatte während der letzten Zeit so viel Pech gehabt, und wenn er einmal gewann, so rannen die Dukaten wie Wassertropfen durch die Finger! Es ist seltsam, daß in Spielgewinnen so gar kein Segen steckt!
Es wäre auch richtiger gewesen, wenn er das gewonnene Geld angelegt hätte, anstatt es jedesmal zu verjubeln, ... aber du liebe Zeit! Für wen hätte er sparen sollen! Wie konnte er ahnen, daß noch einmal Kinder kommen würden!
Je nun, das muß jetzt alles anders werden. Er wird diese eine Spielschuld noch bezahlen und dann mit allem Ernst danach trachten, seine Verhältnisse wieder [S. 40] zu arrangieren! Er muß noch eine Hypothek auf Hohen-Esp aufnehmen!
Walsleben, Mönchhagen und Gottern sind bereits derart belastet, daß er mit diesen Gütern kaum noch rechnen kann, und das Kapital ist lange verbraucht, ebenso das Erbe seiner Frau!
Friedrich Karl stöhnt leise auf, schlägt die Hände vor das Antlitz und sinkt in einen Sessel nieder.
Wie Gundula sich auf das Kind freut! Ihr Antlitz ist wie verklärt — ihr ganzes Wesen atmet jauchzende Glückseligkeit!
Kann auch er sich auf einen Erben freuen? Im ersten Rausch der Überraschung tat auch er es! — gewiß! — welch eines Mannes Herz schwellt nicht Stolz und Genugtuung, wenn er Vater werden soll!
Ja, er freute sich wie ein Trunkener, — ohne jede Überlegung, — die rührende Ergriffenheit seiner guten Frau steckte auch ihn an!
Aber jetzt, in der stillen, einsamen Nacht, bei nüchterner Überlegung, da schleicht sich in dieses Glücksgefühl eine beklemmende Angst, die sorgende Frage: was soll aus dem Kind werden?
Wie willst du es ernähren? Von was einst standesgemäß unterhalten?
Was antworten, wenn einst der Sohn den Vater fragt: »Wo blieb das Erbe meiner Väter?« Welch ein bitterer, qualvoller Vorwurf! Graf Friedrich Karl will ihn nie hören, — nie! — Er will, er muß es wieder einbringen, was er vergeudet hat! —
Aber wie? —
Je nun, das Glück kann ihm nicht immer den Rücken kehren, einmal muß er doch wieder mit Erfolg spielen, und dann wird er jeden Gewinn anlegen und sein Vermögen ersetzen. All die Herren, welche durch ihn reich geworden sind, müssen ihm Revanche geben, sie müssen es, wenn sie Ehrenmänner sind!
— Der Graf sprang ungestüm auf und sah nach der Uhr.
Sind sie noch im Klub versammelt?
Nein, — es ist zu spät.
Aber morgen! — morgen! —
Und am nächsten Tage spielte er voll nervöser Leidenschaft, hitziger, aufgeregter, wie je.
Und er gewann!
Sein Kopf brannte! Wie unsinnig vor Freude stürmte er zu dem Bankier und legte das Geld an! — Und dann hatte er noch eine Chance!
Der Herzog war entzückt von seinem Viererzug schönster Rappen, welchen er gern seiner jungen Schwiegertochter, der Prinzessin Margarete, zum Geschenk machen wollte.
Prinz Georg, welcher mit Hohen-Esp unterhandelte, bot eine enorme Summe, aber die Eitelkeit des Grafen litt es nicht, daß er sich von seinen berühmten Pferden trennte. Das war jetzt anders geworden.
Er mußte für seinen Sohn Kapital machen! Noch an demselben Tage verkaufte er die Rappen, und das Geld brachte er abermals auf die Bank!
Welch ein Vergnügen ihm das bereitete! Es war etwas so Neues für ihn, zu sparen!
Vorläufig schaffte er auch keine anderen Pferde wieder an. Er kündigte dem zweiten Kutscher, und freute sich, wieviel er dadurch ersparte, — den Unterricht für den anspruchsvollen Engländer und vier Rationen! —
Er muß weiter überlegen, wie und wo er sparen kann, ohne daß Gundula es merkt, denn ein Gefühl der Scham hält ihn plötzlich davon ab, seiner Frau einzugestehen, wie gewissenlos er bisher gewirtschaftet hat. —
Und er spart und legt an ... und dann schlägt das Glück einmal wieder um und er muß alles wieder von der Bank abholen, um die Spielschulden abzutragen!
Es ist ein qualvoller Kampf, ein Auf und Nieder, ein Wasserschöpfen mit dem Sieb!
Aber Graf Friedrich Karl kämpft voll zäher Beharrlichkeit, er denkt an seinen Sohn! Und er sorgt und müht sich immer leidenschaftlicher und nervöser, je mehr er [S. 42] es beobachtet, wie in Gundulas Wesen eine wunderbare und auffällige Veränderung vor sich geht. —
Wie in langem Staunen haftet sein Blick oft verstohlen auf der Gräfin.
Ist dies dieselbe resignierte, müde, sanfte und gleichgültige Frau von ehedem, welche auf all seine Wünsche nur ein selbstloses: »wie du willst!« hatte, welche mit gesenktem Haupte einherschritt, interessenlos, und so matt und scheu, wie eine weiße Taube, welcher ein Sturm die Schwingen brach?
Ist dies dieselbe Gundula, welche zu ihrem eigenen Schatten geworden war? —
Jetzt ist es, als ob ein Steinbild endlich zum Leben erwacht sei!
Ihre Gestalt wächst hoch und kraftvoll empor, ihr Haupt hebt sich stolz und selbstbewußt auf den Schultern, und all ihre Bewegungen haben etwas Festes, Sicheres, wie er es nie zuvor an ihr gekannt!
Die sanften Taubenaugen blitzen in sieghafter Freude, die Lippen lächeln und sprachen doch nie energischere Worte wie jetzt!
Tante Agathe kommt zum ersten Male zu kurzem Besuch und weinte Tränen der Freude über das Glück ihres Lieblings.
Als sie Gundula so gänzlich verändert schalten und walten sieht, nickt sie leise vor sich hin. Wie ein Echo ziehen die Worte ihres verstorbenen Bruders durch ihren Sinn —: »wenn aber erst die junge Brut in der Höhle liegt, dann wird aus dem sanften, indolenten Weibchen eine gar trotzige, wehrhafte Bärin!« —
Ja wahrlich! — auch Gundula wird eine solche Bärin sein! —
Auf dringenden Wunsch der Gräfin siedelte die Haushaltung nach Hohen-Esp über und verblieb den ganzen Sommer daselbst, denn wie Gundula scherzend sagte: »sollte der junge Bär in seiner angestammten Höhle geboren werden!« —
Graf Friedrich Karl leistete seiner Gemahlin tagelang [S. 43] Gesellschaft, dann trieb es ihn wieder voll rastloser Ungeduld in die Residenz zurück; er kam und ging — er schweifte ruhelos zwischen dort und hier, und dabei ward er immer nervöser, immer blasser und elender, und sah schließlich so ernstlich krank aus, daß es Gundula auffiel und sie besorgt nach der Ursache fragte.
Er lachte und versuchte voll unsicherer Heiterkeit zu scherzen. »Ich werde noch die Ankunft des neuen Herrn und Gebieters abwarten, und alsdann ein paar Wochen in ein Bad reisen; der Doktor meint, es sei eine verschleppte Erkältung, dafür ist Luftwechsel gut!«
Früher hatte die Gräfin nie an einem Wort ihres Mannes gezweifelt, jetzt plötzlich hatte ihr Auge etwas so seltsam Forschendes und Durchdringendes, daß Friedrich Karl ihrem Blicke auswich.
Und die Wochen vergingen ... und auf der Burg Hohen-Esp wurde ein Sohn geboren. Ein Sohn! — wie ein zitternder Jubelschrei rang es sich von den Lippen der jungen Mutter. Nun lag der heißersehnte kleine Bär in ihrem Arm, und die alten Bilder von der Wand schauten mit wundersam lebendigem Blick auf sie nieder und lächelten ihr zu.
Hub nicht ein freudiges Brummen und Raunen in allen Ecken an? —
Trappten nicht die mächtigen steinernen Bären vom Burgtor herauf, die Wappenschilde in ihren Pranken vor dem jungen Bärlein in den weißen Kissen zu neigen?
Stampfte und schlurrte es nicht aus allen Winkeln und über alle Stiegen heran, der lange Zug aller jener zottigen Gestalten, welche seit Jahrhunderten hier in der Burg ihre stille Wacht gehalten und auf den jungen Sprossen gewartet haben, welcher künftighin ihr Herr und Gebieter sein soll, der Bär von Hohen-Esp? —
Welch ein Jubel und Glück im ganzen Hause! Nur der Vater des jungen Erben hält seinen Sohn mit zitternden Händen, und die Fieberglut auf seiner Stirn wechselt mit fahler Blässe. —
Sind es Tränen oder ist es perlender Schweiß, was langsam über seine fahlen Wangen rinnt? Alles schläft in der Burg — mit lächelnden Lippen und wohligem Behagen, — nur Graf Friedrich Karl wandelt ruhelos, selber einem Gespenst gleich, durch die weiten, hallenden Räume. Er findet keinen Schlaf.
Vor ihm schweben zwei große blaue Kinderaugen, die schauen ihn ernst und vorwurfsvoll an, als ob sie ihn richten wollten, und ein kleiner Mund fragt wieder und immer wieder: »Wo blieb das Erbe meiner Väter, welches sie dir zu Lehn hinterließen, auf daß du es für deinen Sohn treu und rechtschaffen verwalten solltest?« —
Wie Donnerhall brausen die Worte in seinen Ohren, ob er auch qualvoll die Hände dagegenpreßt und laut aufstöhnt: »Wie konnte ich noch auf einen Sohn rechnen! Ich war mir keiner Verpflichtung bewußt, weil mir kein Erbe geboren wurde!«
Diese leise Stimme aber fährt erbarmungslos fort: »Rechne nach! Noch ehe du ein Weib genommen, noch in den ersten, hoffnungsreichen Jahren deiner Ehe schwand das Kapital dahin, ward das Fundament gelockert, auf welchem jetzt der morsche Bau zusammenbricht! Rechne nach! wo blieb das Erbe meiner Väter?!« —
Graf Friedrich Karl sank schwer in einen Lehnstuhl nieder.
Er brauchte nicht nachzurechnen, — er wußte, wo das Geld geblieben war, — ach, er wußte es nur zu genau.
Vor seinen Augen schimmert grünes Tuch, blinken rollende Goldstücke. —
O furchtbare Antwort, welche er einst seinem Kinde geben muß! —
Wie Folterqualen peinigt sie schon jetzt sein Herz. —
Er erträgt diese Qual bitterster Selbstanklage nicht! — Er muß wiedergewinnen, was er vergeudete, er muß den drohenden Ruin abwenden, er muß es, wenn er noch den Mut haben soll, Weib und Kind in die Augen zu schauen! — —
Seine Hände wühlen aufgeregt in den Papieren auf dem Schreibtisch.
Der Administrator hat ihm die Abrechnungen geschickt, ... es gibt nichts mehr abzurechnen, und die Gläubiger drängen ... und die Termine laufen ab. —
Was tun? —
Die Herren, mit denen er den Winter über spielte, welche ihm außerordentliche Summen abgenommen und durch sein Vermögen reich geworden, haben sich zurückgezogen. Sie leben auf Reisen, — sie haben sich auf ihre Besitzungen begeben.
Es bleibt keine andere Möglichkeit, keine andere Hoffnung, als wie Monte Carlo. Er will noch das Letzte zusammenraffen, was er besitzt, und will va banque sagen!
Nur warten muß er, bis sein Weib genesen ist, bis sie ... jede Nachricht aus dem Höllenpfuhl jenes Spielernestes ertragen kann!
Er hat seinen Sohn zum Bettler gemacht, aber alles kann und darf er ihm nicht nehmen, die Mutter muß er ihm lassen!
Also warten, ... warten! —
O, welch martervolle Wochen werden das sein!
Wenn es ein Fegefeuer gibt, so wird er es in diesen Wochen kennenlernen.
Und er lernte es kennen! —
Er saß mit hämmernden Pulsen und eiskalten Händen an Gundulas Lager, er sah in ihr Antlitz, welches alle Himmelswonnen junger Mutterschaft spiegelte, er hörte mit krampfhaftem Lächeln all die seligen Zukunftspläne an, welche sie für des Kindes und ihr eigenes Geschick schmiedete. Ja, sie wollten glücklich sein! —
Nun waren ja ihre kühnsten Hoffnungen erfüllt, nun lag der Sohn in ihren Armen, welcher das alte Geschlecht zu jungem Glanz und junger Herrlichkeit aufblühen wird! —
Und die Gräfin drückte seine Hände voll unaussprechlicher Liebe zwischen den ihren und blickte ihm wieder [S. 46] in die Augen wie damals ... vor Jahren ... als er sie im Arme hielt und dem bräutlichen Weib gelobte, »ich will alles tun, dich glücklich zu machen!« — O meineidiger, wortbrüchiger Gesell, der er ward!
Leichtsinnig und gewissenlos hat er all das morgenschöne Glück zertrümmert!
Wahrlich, hat er es?
Nein! tausendmal nein! Noch wird er ein letztes Wort mit dem Schicksal sprechen, noch kann alles wieder gut werden ... ach, so gut! — Und er flüstert ihr mit heiserer Stimme zärtliche Worte ins Ohr und wiegt seinen Knaben auf den Armen.
Niemand ahnt, wie es dabei in seinem Herzen aussieht!
Wahrlich niemand?
Tante Agathe, welche zur Pflege ihrer geliebten Nichte gekommen, blickte ihm oft so seltsam forschend, so wunderlich prüfend in das fahle Angesicht.
Ahnt sie, wie es um ihn steht?
Warum nicht?
Daß seine Verhältnisse zerrüttet sind, pfeifen in der Residenz die Spatzen vom Dache. Wie trostlos sie sind, weiß man freilich noch nicht. —
Der Tag kommt, an welchem der junge Bär von Hohen-Esp getauft werden soll.
Auf Friedrich Karls Wunsch und zum beispiellosen Entzücken der Gräfin hat man von jeder Festlichkeit Abstand genommen.
Im allerkleinsten Kreise, — nur von den Eltern, Tante Agathe und dem jungen Pastor aus dem nächsten Dorfe, bei welchem Hohen-Esp eingepfarrt ist, wird das Kind über die heilige Taufe gehalten.
Wie schön sieht Gundula aus!
Ihre Figur ist voll, kräftig, schier königlich geworden.
Sie schreitet so hoch und stolz, so gebietend stattlich einher, wie noch nie zuvor, und doch liegt eine Weichheit auf ihrem Angesicht, ein Ausdruck in ihren Augen, welcher beweist, daß Gräfin Hohen-Esp in all ihrem [S. 47] strahlenden Glück ein demütiges und frommes Weib geblieben. — — —
»Guntram Krafft« hat man den Knaben getauft, und der Prediger hat über ihm die Hände gefaltet und gebetet, daß dieses Kind dereinst in Wahrheit ein Schirmherr und Schutzvogt für alle sein möge, welche unter seine starke Hand gestellt sind, daß er, ebenfalls furchtlos und treu wie seine Ahnherren, die »Kraft«, welche ihm den Namen gibt, in den Dienst seines Gottes und seiner Nächsten, für Fürst und Vaterland stellen möge, daß auch er über den Inhalt seines Lebensbuches die Devise schreiben möchte, unter welcher seine Väter Taten getan:
Nie hatte Gundula geglaubt, daß ihr so sehr lebensfroher, oberflächlicher Gatte von einer heiligen Handlung derart ergriffen sein könne!
Auch der Prediger schaute voll warmherziger Teilnahme auf den Grafen, welcher kaum imstande war, seine Erregung zu meistern. Und wie bleich, wie leidend, wie nervös sah er aus! Kaum, daß er den Knaben halten konnte, so bebten ihm die Hände.
»Du bist krank, Friedrich Karl,« flüsterte ihm Gundula besorgt zu, als sie sich an seine Brust lehnte: »jetzt sehe ich erst, wie schlecht du aussiehst! Fühlst du Schmerzen — hustest du etwa?«
Er zwang sich zu einem Lachen und scherzte. »Die Geburt eines Sohnes ist ja für den Vater jedesmal sehr angreifend, doch geht es mir, den Umständen nach, immer noch sehr gut! Eine kleine Luftveränderung, — die wird alles wieder gutmachen!«
»O, so reise bald! Du siehst, dem Kinde und mir geht es so ausgezeichnet, daß du nun um unsertwillen nicht mehr zu zögern brauchst!«
»Ich gedachte übermorgen nach San Remo zu fahren! [S. 48] Möchtest du mich nicht begleiten? Fühlst du dich wohl genug? — Unserm Jungen macht Tante Agathe derweil die Kur!«
Sie schüttelte das Haupt und errötete. »Undenkbar! Du vergißt, daß ich selber die Amme unseres Lieblings bin! Auch bist du ungenierter, wenn du auf niemand Rücksicht nehmen mußt! Also übermorgen! — und wie lange bleibst du?«
»Das steht bei Gott! Halt mir den Daumen, mein braves Weib, daß ich bald frisch genug sein werde, um heimkehren zu können! Ach, Gundula, — du glaubst nicht, wie gern ich wieder bei euch sein möchte!«
Er sah sie nicht an bei diesen Worten, er senkte das Haupt schwer auf die Schulter.
Er reiste, — und Gundula stand droben auf dem Söller des Turmes und blickte dem entschwindenden Wagen nach.
Sein weißes Taschentuch flatterte noch lange zurück, so lange, bis die mächtigen Waldungen den Weg deckten.
»Zum Abschiednehmen just das rechte Wetter!« zog es voll wehmütiger Sehnsucht durch den Sinn der Gräfin, als sie hinaus in die herbstlich stille Gegend blickte, über welcher ein kühler Seewind brauste und die dunklen Schatten eilenden Gewölks strichen. Regentropfen fielen kalt und schwer hernieder, und Gundula erschauerte unter ihrem kühlen Kuß.
Mit weißen Schaumkämmen grüßten die fernen Meereswogen herüber, und welke Blätter wirbelten von den drei Linden, welche den Burghof beschatteten, zu ihr empor.
Ein niegekanntes Gefühl unbeschreiblicher Trauer überkam Gundula, es war ihr plötzlich zu Sinn, als könne es nie wieder licht und hell auf dieser Welt werden, als sei die Sonne für ewige Zeiten für sie untergegangen. Wie in jäher Angst streckte sie die Arme nach der Richtung, in welcher der Wagen verschwunden war, aus.
»Friedrich Karl!« — rang es sich wie ein Schrei von ihren Lippen — »Friedrich Karl!«
Der Wind verwehte den Klang, — das bunte Laub rauschte auf und fegte raschelnd über die Fliesen.
Keine Antwort. — Sie preßte die Hand gegen das zitternde Herz und schüttelte jählings den Kopf.
»Was ficht mich plötzlich an? Ich bin noch nervös und schwach, da nimmt man alles so schwer! — Wie oft ist Friedrich Karl in den letzten Jahren verreist, kaum daß ich seine Abwesenheit bemerkte! Und nun, wo mir sein Ebenbild am Herzen ruht, will mich die Sehnsucht übermannen? — Das ziemt sich nicht für eine Bärin, die ihr Junges säugt, auf daß sie es zum Helden mache!« — und mit schnellem Lächeln um die erblaßten Lippen wandte sich die junge Mutter, um hastig das Zimmer ihres Kindes zu erreichen. Da lag der kleine Guntram Krafft in seiner wunderlichen, uralten Wiege, in welcher wohl schon seit Jahrhunderten die Stammhalter der Hohen-Esps dem Leben entgegenschlummerten. Aus dunkelgebräuntem, wurmstichigem Holz lag sie plump und ungefüge auf den breiten Kufen.
Zwei kleine geschnitzte Bären ruhten auf denselben und stützten die Bettstatt, dieweil ein großer, hölzerner Bär hinter derselben stand und mit erhobenen Pranken die grünen Vorhänge hielt.
Blühend und kraftvoll schlummerte Guntram Krafft in den Kissen, und voll aufquellender Zärtlichkeit neigte sich Gundula und blickte in das Antlitz des Kindes, welches sich in leisem Weinen verzog.
Die kleinen Hände griffen unruhig in die weißen Linnen, und in jähem Aufschluchzen öffnete er die Augen mit angstvollem Blick. Da legte sich die kühle, ruhige Hand der Mutter auf sein Köpfchen.
»Schlaf, kleiner Bär! schlaf ein!« lächelte sie. »Fürchtest du dich, weil dein Vater von uns ging? — Bist drum noch nicht verlassen! Deine Mutter hält treue Wacht bei dir!«
Acht Tage waren vergangen.
Aus San Remo hatte ein Brief die glückliche Ankunft des Grafen gemeldet.
Gundula hatte die Zeilen verschiedentlich durchgelesen und jedesmal das Empfinden gehabt, daß dieselben sehr wirr und unklar waren.
So schrieb wohl ein Fieberkranker!
Besorgt gab sie Tante Agathe den Brief zu lesen. Diese saß lange und blickte schweigend auf das Schriftstück nieder.
Bedächtig nickte sie vor sich hin, und ihr gutes altes Gesicht trug einen wundersamen Ausdruck.
»Ich glaube nicht, daß er krank ist, — wenigstens nicht körperlich krank!«
»O, ein seelisches Leiden wäre noch schlimmer!«
»Gott sei es geklagt!«
»Was glaubst du, was ihm fehlt?« forschte die Gräfin beunruhigt.
»Geld!« antwortete die alte Dame lakonisch.
Gundula lachte leise, wie von jäher Angst erlöst.
»Nun, solch ein Manko ließe sich am ersten verschmerzen!«
»Du glaubst?«
Die junge Mutter blickte heiter in das bekümmerte Gesicht der Sprecherin, beinahe übermütig dehnte sie die blühenden Arme.
»Ja, Tantchen! Du weißt, daß ich das kostspielige Leben in der großen Welt nie geliebt habe! Wenn Friedrich Karl die Mittel fehlen, seine Unkosten zu bestreiten, ist er gezwungen, mit uns in dieser wonnigen Einsamkeit zu bleiben! Wir werden endlich für uns leben und glücklich sein!«
»Ahnst du, daß die Verhältnisse deines Mannes sehr derangiert sind?«
Gundula zuckte gleichgültig die Achseln: »Das müßte ich mir eigentlich an den fünf Fingern abzählen können! Nach den ungeheuren Ausgaben, welche er seit Jahren hatte, muß auch das größte Kapital zusammenschmelzen! Aber was will das bei einem Grundbesitz wie dem seinen besagen? Die Güter sind ja wundervoll, ein paar Jahre solide gelebt und gespart — und das Defizit ist bald ersetzt!«
»Die Güter sind leider kein Majorat! Nicht einmal der Besitz von Hohen-Esp ist der Familie dauernd gesichert!«
Erstaunt blickte Gundula auf.
»Du irrst, Tante!«
»Doch nicht! — Als das Majorat seit drei Generationen nur noch auf zwei Augen stand, wurde es leider Gottes durch den Großvater deines Mannes abgelöst, um die Güter eventuell auch auf Töchter vererben zu können. Wie dies möglich war, ist uns heutzutage ein Rätsel, in den schweren Jahren der Befreiungskriege war jedoch nichts unmöglich, und der alte Hohen-Esp nahm eine sehr einflußreiche Stellung bei Hofe ein. Sein einziger Sohn, welcher bereits in der Mitte der dreißiger Jahre stand, blieb nach der Schlacht bei Waterloo spurlos verschwunden, man harrte voll banger Sorge drei Jahre lang auf ihn, und da sich immer mehr Augenzeugen fanden, welche ihn im feindlichen Feuer tödlich getroffen vom Pferd stürzen sahen, so war man schließlich von seinem Ableben überzeugt, und der Vater schickte sich an, sein Haus zu bestellen und für seine beiden Töchter den ungeheuren Grundbesitz zu sichern, da kein männlicher Erbe mehr in der Familie vorhanden war. — Es gelang ihm, das Majorat abzulösen, doch starb er, ehe er sein Testament gemacht, sehr plötzlich während einer Cholera-Epidemie. Dieselbe raffte auch die jüngste seiner noch unvermählten Töchter dahin. — Ganz plötzlich, als schon die älteste, verheiratete Tochter den Besitz angetreten hatte, erschien der totgeglaubte Bruder wieder daheim. Er war durch einen [S. 52] Zufall unter die englischen Verwundeten geraten, wochenlang in einem englischen Barackenlager verpflegt und dann mit einem Transport nach London geschafft.
Da eine Kugel seine Kinnlade zerschmettert und seine Zunge gelähmt hatte und sein Geist während langer Zeit getrübt blieb, ahnte man weder Namen noch Heimat des Unglücklichen, und es ist wie ein Wunder zu betrachten, daß er in jenen überfüllten Baracken überhaupt noch am Leben blieb und endlich — wenn auch nach Jahren erst — völlig geheilt ward.
Sein Erscheinen rief einesteils jubelnde Freude, andernteils große Bestürzung hervor.
Seine Schwester, eine Freifrau von Lutzbach, hatte im Krieg den Gatten verloren, — ihr Vermögen war aufgebraucht, die Zahl ihrer Kinder groß. Mußte sie dem Bruder das große, väterliche Erbe zurückgeben, so war sie eine Bettlerin. Sie drohte mit einem Prozeß, falls man ihr den Besitz streitig machen wolle. —
Der Bruder schlug eine gütliche Einigung vor, und man kam überein, den immerhin ungeheuren Besitz zu teilen.
So fielen Hohen-Esp, Walsleben, Gottern usw. an den Bruder zurück.
Dieser vermählte sich mit einer ebenfalls reichen Erbin, und da er nur einen einzigen Sohn besaß, unterließ er es in unbegreiflichem Leichtsinn, das Majorat wiederherzustellen. Auch dem Vater deines Mannes wurde nur der eine Sohn geboren, und abermals unterblieb es, die Erbfolge zu sichern.«
»Wie genau du Bescheid weißt, Tante Agathe!« murmelte Gundula, welche aufmerksam gelauscht hatte —, »nun ... fürerst ist ja Guntram Krafft auch der einzige, und ich denke, seine Güter werden ihm nie streitig gemacht!«
Die alte Dame machte eine beinahe ungeduldige Bewegung.
»Die Güter sind durch Friedrich Karl bis auf das [S. 53] Äußerste verschuldet!« sagte sie herb, »und ich fürchte, du wirst dein väterliches Vermögen völlig zusetzen müssen, um wenigstens das eine oder andere zu entlasten.«
Alles Blut wich aus dem Antlitz der Gräfin.
»Davon hat mir mein Mann nie ein Wort gesagt —!«
»Unverantwortlich!« —
»Herr mein Gott!... und mein Vermögen ...«
»Vollende!« —
»O, Tante Agathe!« —
»Es ist bereits verbraucht?«
Gundula krampfte die Hände ineinander und nickte stumm mit dem Kopf.
»Ich erwartete es kaum anders!« murmelte die alte Dame mit bitterem Lächeln.
Da hob die Herrin von Hohen-Esp jäh das Haupt und starrte sie in atemlosem Entsetzen an. —
»Wenn dem wahrlich so ist — wenn die Güter verschuldet — das Kapital verbraucht und Friedrich Karl nicht fähig ist, sich zu arrangieren, — — was wird dann aus meinem Sohn?«
Das klang wie ein Aufschrei.
Das alte Fräulein von Wahnfried preßte herb die Lippen zusammen.
»Das Opfer väterlichen Leichtsinns, eine verlorene Existenz, welcher vom Spielteufel das Schicksal diktiert ward!«
»Tante Agathe!« —
Gräfin Hohen-Esp faßte den Arm der Sprecherin, ihr Antlitz ward bleich wie der Tod.
»Das wäre ... das wäre ein Verbrechen von Friedrich Karl!« ... stöhnte sie auf und schlug wie in jähem Entsetzen die Hände vor das Antlitz. »War ich denn mit Blindheit geschlagen, daß ich nicht mehr sah, was um mich her vorging? Habe ich die ganze furchtbare Zeit verträumt und verschlafen, daß ich nicht ahnte, zu welch einem Dasein ich mein Kind geboren? Aber nein! nein! — tausendfach nein! Es kann, es darf ja nicht so sein! — Du bist falsch unterrichtet, Tante Agathe, [S. 54] man hat meinen Mann verleumdet! Es ist nicht so schlimm, es kann nicht so schlecht mit ihm stehen, sonst wäre er nun und nimmermehr nach San Remo gefahren — — —«
»Er ist nach Monte Carlo gefahren!«
»Monte Carlo?« — Gundulas Augen flammten.
»Undenkbar! — woher weißt du das?« —
»Ich sehe es aus diesem Brief ... und ich habe Menschenkenntnis genug, um einen Mann wie Friedrich Karl richtig zu beurteilen!«
»Tante!« —
Gundula taumelte einen Schritt zurück und preßte die Hand gegen das stürmende Herz — »Du hast stets so hart und unbarmherzig über meinen Mann geurteilt ...« — sie unterbrach sich und horchte auf.
Drunten, auf dem holperigen Pflaster des Burghofs klang Hufschlag.
»Kommt er zurück?«
Agathe war an das Fenster getreten, ihre hohe, kraftvolle Gestalt schien zusammenzuzucken.
»Der Administrator!« —
»Der Administrator? — Was will der hier in Hohen-Esp ... bei mir ... zu solch ungewohnter Zeit?« —
»Ich werde ihn sprechen ...«
»Nein! bleib! er soll hierherkommen!« und schon hatte Gundula das bleigefaßte Fenster hastig geöffnet und rief durch den Herbststurm in den Hof hinab:
»Ich bitte Sie, sogleich heraufzukommen, Herr Werner!«
Der alte Mann schrak zusammen, starrte mit verstörtem Blick empor und stotterte »Zu Befehl, gnädige Frau!«
Dann gab er noch kurzen Befehl, das dampfende Pferd genügend abzureiben, und wuchtete auf seinen schweren Reitstiefeln über die Steinfliesen nach der Treppe.
Wenige Minuten später stand er auf der Schwelle, und Gundulas Blick starrte ihm forschend entgegen.
Wie blaß und hohläugig der alte Getreue aussah, wie [S. 55] seine Gestalt zusammensank, und wie kummervoll und mitleidig sein Blick die Gebieterin traf.
»Verzeihen Frau Gräfin ...« stammelte er, »wäre es wohl vergönnt, daß ich mit dem gnädigen Fräulein von Wahnfried ein paar Worte allein sprechen kann?« —
Wie ein eisiger Schauer kroch es nach Gundulas Herzen, aber sie richtete sich auf und schüttelte den Kopf. —
»Es gibt keine Geheimnisse vor mir! sprechen Sie ... was gibt es?!«
»Frau Gräfin sind noch leidend ...«
»Nein, nein! ich bin kräftig und gesund! — Haben Sie so schlechte Nachrichten zu bringen, daß Sie fürchten, mir schaden zu können?« —
Die Sprecherin nahm sich zusammen, so ruhig und fest wie sonst zu reden, aber auf ihre Wangen traten zwei brennend rote Flecke, und die Hände krampften sich fester um die Stuhllehne: »Sie haben über mißliche Geldverhältnisse zu berichten?«
Der alte Mann senkte den Blick.
»Auch das, Frau Gräfin!« —
»Es steht sehr schlecht um die Güter meines Mannes?«
»Sehr, sehr schlecht, Frau Gräfin!«
»Hoffnungslos und trostlos?«
Werner zögerte. — »Das wäre noch nicht das Allerschlimmste, Frau Gräfin!«
Da schrak ihre schlanke Gestalt empor.
»Nicht das Allerschlimmste?! Was heißt das?!«
Agathe trat an ihre Seite und legte liebevoll den Arm um sie.
»Geh zu deinem Sohn, Gundula! Mich deucht, er weint! Ich spreche mit Herrn Werner und teile dir nachher alles mit!«
Die Gräfin wehrte die Sprecherin mit bebenden Händen ab, — ihre Augen glänzten wie im Fieber.
»Sie bringen mir eine Nachricht von meinem Mann?« fragte sie hastig, — flüsternd.
Der Administrator senkte den grauhaarigen Kopf tief [S. 56] zur Brust, ein schwerer Seufzer rang sich über seine Lippen.
»Es ist so, Frau Gräfin!«
»Er braucht Geld?«
Werners Blick trifft wie Hilfe flehend Tante Agathe.
»Und Sie haben keins?« fährt Gundula schnell fort.
Der alte Mann schüttelte trostlos den Kopf.
»Ach, schlimmer, Frau Gräfin, viel schlimmer!«
»Herrgott des Himmels ... foltern Sie mich nicht! Ist er etwa krank? schwer krank?«
Da zieht der Administrator mit jähem Griff einen Brief und eine Depesche aus der Tasche und reicht beides Tante Agathe zu.
»Lesen Sie! lesen Sie!« murmelt er. »Ach, du Herr mein Gott, ich kann es nicht aussprechen, — es will mir nicht über die Lippen!« —
Gundula hat die Papiere mit heftigem Griff erfaßt, — sie wankt nach dem Fenster, sie öffnet und liest.
Der Administrator macht eine kurze, händeringende Bewegung gegen Tante Agathe, — — sie versteht ihn nicht, und so tritt er selber hinter die Gräfin, als wolle er bereit sein, eine Zusammenbrechende zu stützen.
Aber Gundula sinkt nicht unter dem furchtbaren Schlag, welcher sie trifft, nieder. Nur das Papier der Depesche knistert und wankt zwischen ihren Fingern, und ein leiser, halberstickter Schrei ringt sich von ihren Lippen. —
»Tot! — er ist tot!« —
Eine sekundenlange, furchtbare Stille.
Agathe ist mit fahlem Antlitz näher geeilt und schlingt die Arme um die junge Witwe.
»Tot!« murmelte sie. »Allbarmherziger Gott, wie das?!«
Werner hatte einen der großen, eichengeschnitzten Sessel näher geschoben.
Die Bärenköpfe, welche seine Knaufe bilden, verschwimmen vor Gundulas Blick.
Sie sinkt schwer auf das Lederpolster nieder und starrt auf die Depesche.
Ihre Augen sind weit offen, stier und tränenlos. »Es steht wohl alles in dem Brief an die unglückliche Frau Gräfin!« murmelte Werner auf den fragenden Blick Agathes, und er legte die Hand über die Augen und wendet sich ab, als könne er den Anblick des schmerzversteinerten Antlitzes nicht ertragen. Da hebt Gundula das Haupt, ein jäher Blick flammt aus ihren Augen.
»Der Graf hat sich erschossen? in Monte Carlo erschossen?« fragt sie langsam, und ihre Stimme klingt fremd und heiser.
»Wohl in einem Anfall von Geistesstörung!« stöhnte der alte Beamte; »es ist zu viel Schweres in letzter Zeit gekommen, die Gläubiger haben so gewissenlos gedrängt ...«
»Dieser Brief ist an mich gerichtet?« sie will das Schreiben heben, um die Adresse zu lesen, aber ihre Hand sinkt schwer zurück.
»Sehr wohl, Frau Gräfin! ich erhielt ihn vorgestern von dem gnädigen Herrn mit der Weisung, ihn nur dann an Eure Gnaden abzugeben, wenn eine Depesche des Kammerdieners schlimme Nachricht über den Herrn Grafen brächte!«
»Und diese Nachrichten kamen!« — Wie der leise, grelle Schmerzensschrei zerspringender Saiten klingt es über die wachsbleichen Lippen Gundulas, dann sinkt ihr Haupt wieder schwer vornüber, ein herzzerreißendes Weh zuckt über das Antlitz, sie krampft die Hände zusammen und ringt nach Atem wie eine Erstickende.
Tante Agathe hat eine belebende Essenz aus dem Nebenzimmer geholt und will Stirn und Schläfen der beklagenswerten Frau befeuchten, Gundula aber wehrt sie jäh ab und richtet sich gewaltsam auf.
Sie reicht dem Administrator die Hand entgegen. »Ich danke Ihnen, daß Sie selber kamen, — ich danke Ihnen, daß Sie meinen Schmerz teilen. Bleiben Sie in meiner Nähe, — es gibt wohl viel schwere, traurige Arbeit für uns. — Jetzt kann ich noch keinen Gedanken fassen, — selbst den einen, furchtbarsten noch nicht, daß er [S. 58] freiwillig von mir ging, daß er ein so namenloses Weh über mich gebracht! — — Lassen Sie mich jetzt allein, — auch du, Tante Agathe ... Der Tote will zum letztenmal mit mir reden!«
Ihre zitternde Hand faßt den Brief, — sie winkt damit —: »Geht! — geht!«
»Frau Gräfin!« schluchzt der alte Mann auf, — »meine arme, arme Frau Gräfin!« und er faßt ihre Hand und drückt sie an die Lippen. Tränen fallen darauf nieder.
»Gott erbarme sich Ihres Herzeleids! — Gott gebe Ihnen Trost und Kraft ... Gott erhalte Sie für Ihren Sohn!«
Sie nickt wie geistesabwesend und drückt stumm seine Rechte, — kalt wie Eis liegen ihre schlanken Finger in derselben.
Er geht, langsam, zögernd, den Blick sorgenvoll zurückgewandt.
Tante Agathe aber schlingt voll tiefen Mitgefühls die Arme um die Unglückliche, küßt ihr Wangen und Stirn und flüstert treue, milde Worte; dann schreitet auch sie über die Schwelle und folgt dem alten Beamten in das Nebenzimmer. —
Einen Augenblick noch verharrt Gundula regungslos, preßt die Hand gegen die Stirn, als müßte sie gewaltsam ihre Gedanken zusammenfassen, und erbricht alsdann das Schreiben.
Ihre tränenlosen Augen starren wie geistesabwesend darauf nieder.
Die ersten Zeilen verschwimmen, sie faßt kaum ihren Sinn, dann schärft sich ihr Blick, sie liest, liest immer hastiger und schneller, das Blut stürmt wieder siedendheiß durch ihren Körper, eine fieberische Aufregung erfaßt sie nach der todesstarren Ruhe!
Ja, nun wird ihr alles klar!
Er schreibt: »Ich konnte es nicht mehr ertragen, Dir und dem Kind in die Augen zu sehen, denn mein Leichtsinn hat nicht nur mich, sondern auch Euch zu Bettlern [S. 59] gemacht! Ich habe nicht nur mein Eigentum, sondern auch das deine vergeudet! Vergib es einem Sterbenden, einem Mann, welcher in dem letzten halben Jahr unaussprechlich gebüßt hat, welcher im Höllenbrand wilder Selbstanklagen selbst das heiligste und reinste Glück verspielte, — das Glück: Vater zu sein! — Ich habe einen Kampf der Verzweiflung gekämpft, um das Verlorene wiederzugewinnen! Morgen wage ich es und setze mein Alles auf eine einzige Karte! Gewinne ich, bin ich gerettet — für euch und für ein besseres, glückliches Leben, — verliere ich abermals, gibt es kein Wiedersehn mit Euch, — ich habe gesühnt, wenn Du diesen Brief in Händen hältst, geliebtes Weib! Wirst Du meiner in mildem Erbarmen gedenken, Gundula? Ich war nicht schlecht, — aber eine Schlechte, treulose und gewissenlose Welt hat mich leichtsinnig gemacht! — Bewahre unsern Sohn vor ihrem Gifthauch! Erziehe einen bessern Mann aus ihm, als wie sein unglücklicher Vater es war, — mache ihn zu einem echten und wahren Hohen-Esp!«
— Die Leserin ließ den Brief sinken, sie krampfte aufstöhnend die Hände zusammen, ein Ausdruck bitteren, leidenschaftlichen Hasses lag auf dem erst so steinernen Angesicht.
Ja, die Welt! Die falsche, treulose, gewissenlose Welt! Sie allein hat all das Unglück ihres Lebens verschuldet, sie hat ihr das Glück gestohlen und das Dasein vergiftet! — Die Welt mit ihren leichtsinnigen, schlechten Menschen! Die Welt mit ihrem lockenden Irrlichtsgeflimmer über mordendem Sumpf!
Wie glücklich hätte sie an Friedrich Karls Seite sein können, — die Welt hat es nicht geduldet! Wie hätte sie ihn und sein Herz besitzen können — wenn die Welt ihn nicht aus ihrem Arm gerissen, ihn an den grünen Tisch gebannt hätte!
Wie arm — ach, wie bettelarm an allem hat die Welt sie gemacht, — sie, die einst die reichste und glückseligste der Frauen gewesen!
Und doch ... wie wenig nahm sie ihr noch im Gegensatz [S. 60] zu jenem Mann, welcher mit durchschossener Stirn seinem verfehlten Dasein selber ein Ziel gesetzt!
Sie nahm ihm nicht nur Geld und Gut, sondern auch die stolze, ehrenhafte Festigkeit des Mannes, seinen Willen — seinen Halt — ja selbst den letzten Rest eines klaren Überlegens und den Mut, den Kampf mit dem Leben aufzunehmen!
Die Welt, die verführerische Welt mit ihren Spielsälen und Hasardkarten hat aus dem Grafen von Hohen-Esp einen erbärmlichen Schwächling gemacht, der den Ruin über seine Familie heraufbeschworen und dann feige zu dem Revolver greift, um den Folgen seiner Schuld zu entgehen!
Das tat Friedrich Karl — der Mann, zu dem sie einst emporgesehen hatte, wie zu einem Gott! —
Das tat er ihr, seinem hilf- und schutzlosen Weibe an, welchem er einst geschworen: »Ich will dein Halt und deine Stütze sein, ich will dich glücklich machen!« —
O, wie leicht ist die Waffe gehoben, jene eine, flüchtige Sekunde überwunden, welche durch einen Druck des Fingers allem Elend ein Ziel setzt — und wie schwer, wie bitter schwer ist es, durch lange, mühselige Jahre die Last der Armut zu schleppen, sich und ein Kind ernähren zu müssen!
Hat Friedrich Karl denn gar nicht daran gedacht, was aus seinem Weib und Kind werden soll, wenn er sie verläßt wie ein Feigling? Und wenn er sein Geld und Gut vertan — blieben ihm nicht noch seine kraftvollen Hände, durch deren Arbeit — und sei es der geringsten eine — er die Seinen ernähren konnte?
O nein! was hätte die Welt dazu gesagt, wenn ein Graf von Hohen-Esp gearbeitet hätte!
Hat nicht die Welt selber ihm den falschen Begriff von Ehre eingeimpft, einer Ehre, welche befleckt wird durch Schwielen in der Hand? —
Friedrich Karl ist in der großen Welt aufgewachsen, er ist gesäugt mit ihren Ansichten über Stand und standesgemäßes Leben, über all die haltlosen Verschrobenheiten, [S. 61] welche dem vornehmen Mann zum Gesetz gemacht sind. Die Welt hat ihm ihre Ansichten, ihre Passionen und ihre Laster eingeimpft, und er ist ihr Opfer geworden! —
Eine unsägliche Bitterkeit quillt in dem Herzen der verlassenen Frau auf, und gleichzeitig bäumt ein wilder, ungestümer Trotz in ihr empor, den Posten, welchen der pflichtvergessene Gatte so treulos verlassen, nun selber einzunehmen und den Kampf für die Existenz ihres Kindes zu wagen. —
Der Bär hat seine Brut feige im Stich gelassen, die Bärin aber wird einstehen für ihr Junges und wird nicht Rast noch Ruhe kennen, bis sie ihm die sichere Höhle gebaut!
Gundula faltet mit sicherem Griff den Brief zusammen, erhebt sich und tritt festen Schrittes an ihren Schreibtisch, den Brief zu verschließen.
Ihr blasses Gesicht blickt schier unheimlich in kalter Ruhe, ihre glanzlosen Augen sind so starr, wie jene steinernen der Bärenköpfe im Burghof drunten.
Es ist alles zu furchtbar jäh, zu unvermittelt gekommen.
Gundula kann fürerst nur die krasse Tatsache fassen und hat noch kein Verständnis für die Seelenqualen eines Mannes, dessen Geist die Verzweiflung getrübt hat.
Jene Nachricht aus Monte Carlo ist wie ein scharfer Schnitt, welcher die Vergangenheit von ihr losgelöst hat.
Ihr Stolz, ihr strenges Rechtlichkeitsgefühl bluten fürerst aus tiefern Wunden noch wie ihr Herz. Das leise Wehklagen, Schluchzen, Flüstern und Raunen verstummt in der Burg, als die Gräfin von Hohen-Esp ihr Zimmer verläßt, als sie so starr und still wie ein steinernes Bild durch die hohen Hallen schreitet. —
Sie nimmt ihr Kind in den Arm und blickt lange, lange in das lächelnde, rosige Gesicht hernieder.
Der Zug herber Erbitterung tritt noch schärfer um ihre Lippen, und auf ihrer Stirn und um die finstern Augen liegt eine Entschlossenheit, welche voll eisernen [S. 62] Willens ein Gelübde ablegt und der verhaßten Welt eine grimme Fehde ansagt auf Leben und Sterben. —
Die Bärin von Hohen-Esp.
Die Jungfer hat die Trauerkleider zurechtgelegt, und Gundula hat sie schweigend angezogen.
Sie spricht mit niemand ein überflüssiges Wort, nur mit dem Administrator sitzt sie während des langen Abends und ordnet voll geschäftsmäßiger Ruhe alles, was in solch schwerer Zeit zu besorgen und zu bedenken ist. »Wenn der Graf beerdigt ist, wollen wir unsere Verhältnisse arrangieren, Herr Werner! Ich bitte Sie, mir als Freund und Berater beizustehen, ich habe niemand auf der Welt wie Sie!« —
»Gott helfe mir, daß ich Sie gut berate, Frau Gräfin!« — antwortete der alte Mann mit festem Händedruck. — »Ach, hätte doch der Herr Graf auf meinen Rat gehört, wir hätten diesen furchtbaren Tag nie erlebt!« —
— Tante Agathe sitzt neben der Herrin von Hohen-Esp und hält ihre Hand zwischen den ihren: »Die Güter können nicht gehalten werden, — du mußt alles verkaufen?«
Gundula beißt die Zähne zusammen. »Von Walsleben und Gottern trenne ich mich nicht schwer, — aber Hohen-Esp ist ein Stück von meinem Herzen, das kann ich nicht opfern, ich werde und muß es halten! Ich habe mir gelobt, meine volle Kraft einzusetzen, um den ältesten Familienbesitz für meinen Sohn zu retten!«
»Das ist selbstverständlich. Du zahlst die Schulden mit deinem Vermögen ab und versuchst das Gut neu emporzuwirtschaften!«
»Meinem Vermögen?«
»Ja, dein Erbe von Tante Margarete. — Weißt du nun, warum du mir einst geloben mußtest, dasselbe vor Friedrich Karl nie zu erwähnen?«
Gundula schrickt beinahe empor: »Jenes Erbe? Du hast den Nießbrauch davon!«
Agathe lächelt seltsam. »Ich habe es für dich verwaltet und erhalten, — sonst nichts!«
Rote Flecken treten auf die blassen Wangen Gundulas. »Tante Agathe,« — sagt sie mit zitternder Stimme, »wolltest du mir wahrlich dies Kapital vorstrecken, damit ich keine Hilfe bei dem Herzog oder einem Geldvermittler zu suchen brauche?«
»Dazu — lediglich dazu hielt ich das Geld für dich bereit!«
Ein tiefer Atemzug hebt Gundulas Brust. »Ich habe nie an dieses Geld mehr gedacht, oder gar damit gerechnet, weil ich es bis zu deinem Tode als dein Eigentum betrachtete, — aber jetzt — o, wenn du es mir nicht geben, sondern nur leihen wolltest, Tante Agathe ... alles wäre gut! Ich könnte die Saat säen — und Gott der Herr wird mir eine Ernte bescheren!« —
— — — Schloß Walsleben und die Herrschaft Gottern wurden verkauft, die Burg Hohen-Esp mit dem kleinen Landbesitz und den Waldungen blieb nach Abtrag aller Schulden im Besitz der Gräfin. Herr Werner hatte voll treuen Eifers die Interessen der verwitweten Frau gewahrt, die zerrütteten Verhältnisse geordnet und mit Hilfe des von Tante Agathe so sicher gehüteten Kapitals dem jungen Bären von Hohen-Esp eine bescheidene und weltferne Heimat erhalten. Er sorgte noch für einen sehr zuverlässigen und intelligenten Inspektor, welcher unter dem Oberbefehl der Gräfin das Gut bewirtschaften sollte, dieweil er selber voll unermüdlichen Fleißes tätig war, Gundula in finanziellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten zu ihrem eigenen Sachwalter auszubilden.
Die Gräfin faßte mit scharfem Verstand schnell auf, zeigte eine große Ausdauer und einen schier männlichen Schaffensdrang, und es währte nicht lange, so leiteten ihre energischen Hände die Verwaltung des Besitzes, so war sie selber voll eiserner Ausdauer bei Tag und Nacht, Wind und Wetter zur Stelle, um durch rastlosen Eifer und voll sauern Fleißes in Jahren wiedereinzubringen, was Friedrich Karl während ein paar flüchtiger Nachtstunden vergeudet.
Hatte seinerzeit der jähe Tod des Grafen von Hohen-Esp in der Residenz viel Staub aufgewirbelt, so nahm seine Witwe das lebhafte Interesse der Gesellschaft beinahe noch mehr in Anspruch wie die Katastrophe selbst, welche so viele schon lange vorher in ihrer ganzen Tragik prophezeit hatten. Was wird aus der unglücklichen Frau? Was wird aus dem armen Kinde?
Die Antwort auf diese Frage war wiederum eine Überraschung.
Mit Hilfe der Tante Agathe von Wanfried hatte die Gräfin ihre zerrütteten Vermögensverhältnisse arrangiert und dabei eine Energie und Umsicht bewiesen, welche die Welt in Staunen setzte.
Obwohl es ihr möglich gewesen wäre, das so bedeutend bequemer gelegene und hochherrschaftliche Walsleben für ihren Sohn zu erhalten, hatte sie seltsamerweise darauf verzichtet und statt dessen die alte Bärenhöhle Hohen-Esp aus dem Konkurs gerettet!
Wunderlich! Will sie denn immer in dieser Weltabgeschiedenheit, in dem unheimlichen, halbverfallenen Burggemäuer hausen, welches so fern von jedem Verkehr, so weit ab von der Residenz und all den guten Freunden liegt?
Die schöne Gräfin Gundula war stets sehr beliebt und gefeiert gewesen, es öffnete sich ihr sicher jeder Salon, selbst dann, wenn die beklagenswerte Witwe nichts erwidern kann, — sie wird auch fraglos Gelegenheit finden, sich noch einmal gut zu verheiraten, denn unter ihren Verehrern befinden sich »Toggenburge«, welche jahrelang der schönen Frau die Treue bewahrt haben.
Was fesselt die Gräfin an jene wunderliche Bärenburg, von welcher schier unheimliche Beschreibungen in dem ganzen Lande umlaufen?
Der Herzog war der einzige, welcher die Wahl der Gräfin durchaus billigte.
»Hohen-Esp ist der älteste Besitz der Familie, von dem sie den Namen trägt und der einst für den Sohn das größte Interesse haben muß!« — sagte er, »und daß die Gräfin dieses kleine Gut dem größeren und bei weitem kostspieliger zu erhaltenden vorgezogen, zeugt von ihrer Umsicht und ihrem praktischen Sinn. Es wird ihr in ihrer bedrängten Lage sehr viel leichter fallen, den kleinen Grundbesitz heraufzuwirtschaften, als wie sich auf dem eleganten Walsleben zu halten! Gebe Gott, daß sie nach dieser tränenreichen Aussaat eine desto lohnendere Ernte hält! — Ich hoffe, daß die ›Bärin von Hohen-Esp‹ sich nicht dauernd in ihrer Höhle vergräbt, sondern bald einmal in die Residenz zurückkehrt, damit wir Gelegenheit haben, ihr unsere vollsten Sympathien zu beweisen!«
Aber die Gräfin kam nicht.
Das Trauerjahr verging, weitere Jahre folgten ihm, und man hätte in der schnellebigen Zeit gewiß die einsame Frau längst vergessen, wenn nicht gerade die »Toggenburge« ein besseres Gedächtnis gehabt und das Andenken der schönen Gundula treuer gepflegt hätten als wie ihre Mitmenschen.
Man hatte versucht, sich der Gräfin zu nähern, aber bald erzählte man sich staunend in der Residenz, daß Gräfin Hohen-Esp keinerlei Besuch in ihrer verzauberten Burg empfange und jedwede Annäherung schroff zurückweise!
Wie interessant war das!
Hat sie nicht einmal die Mittel, einem lieben, alten Freund, welcher zu Gast kommt, ein Glas Wein vorzusetzen?
O nein! — Man hatte geforscht und erfahren, daß [S. 66] die Gräfin außerordentlich viel Glück mit der Selbstbewirtschaftung der Ländereien habe.
Die Ernten seien großartig ausgefallen, der abgeholzte Forst sei neu angepflanzt, und die Gräfin beabsichtige sogar, in diesem Jahr schon größere bauliche Veränderungen vornehmen. Ställe und Scheunen seien in kläglichem Zustande gewesen, — dem solle zuerst abgeholfen werden.
»Die Gräfin selber bestimmt das?« hatte man kopfschüttelnd gefragt, und darauf ganz Unglaubliches zu hören bekommen!
Die schöne Witwe sei der beste, tatkräftigste Inspektor, den man sich denken könne, — kein Mensch werde die ehemalige sanfte, stille, resignierte Gräfin Hohen-Esp wiedererkennen. In den langwallenden Trauergewändern schreite sie kalt und steinern durch Haus und Hof, Wald und Feld, jede Kleinigkeit selber zu kontrollieren, jede Arbeit zu beaufsichtigen, jede Leistung selber zu loben oder zu tadeln.
Keine Männerhand könne die Zügel einer Regierung eiserner führen, als die schlanke, marmorweiße Rechte der seltsamen Burgfrau!
Nach wie vor wallt der Trauerschleier um das schöne Haupt, dessen Augen so streng und finster blicken, daß es dem Gesinde graust. Man sieht sie niemals lächeln; selbst wenn sie ihr Kind liebkost und mit dem Kleinen spielt, verwandelt sich der düstere Ernst nur in eine schmerzliche Wehmut und Milde. Eine leidenschaftliche Erbitterung gegen Welt und Leben erfüllt sie, ein wahrer Menschenhaß vergiftet ihr Herz.
Der einzige Gast, welchen sie empfängt, ist der Pastor des nahen Dorfes, doch auch diesem ist es noch nicht geglückt, versöhnlich und erlösend auf den starren Bann zu wirken, welcher die schwergeprüfte Frau umfangen hält.
Die Bärenburg sei von jeher ein unheimliches altes Nest gewesen, in welchem die zottigen Ungeheuer wie [S. 67] die Gespenster hausen; seit die schwarze Gestalt der Gräfin aber gleich spukhaftem Schatten durch die dämmerigen Gemächer schreite, da sei es vollends nicht mehr zu ertragen, und wenn die Fischerdirnen, welche sie als Mägde gedingt, nicht gar so gute Nerven hätten, so hielte es wohl keine Seele in Hohen-Esp aus! —
Man lauschte in der Residenz dieser Kunde wie einem Traum, und wenn sonst niemand nach der fernen Burg im Walde und nach der Witwe des Grafen Friedrich Karl gefragt hatte, jetzt war das brennende Interesse angestachelt, und die lebhafte Phantasie der Großstädter wob einen Märchenzauber um die »Bärin von Hohen-Esp«, von welchem es sich bei flackerndem Kaminfeuer ebenso gruselig erzählen ließ, wie von dem Dornröschen und dem Ritter Blaubart im dunklen Waldesgrund.
Aber der Sohn? — Das Kind? — Bringt der kleine Guntram Krafft denn nicht lichtes, warmblütiges Leben in diesen Spuk? —
Darüber wußte man nicht viel.
Der Inspektor hatte erzählt, der junge Graf wüchse zu einem prächtigen, überaus kraftvollen und blühenden Knaben heran.
Wie ein wandelndes Bild aus alter Zeit schreite er mit seinem langen blonden Haar und den leuchtenden blauen Augen umher!
So klein er noch sei, er müsse schon jetzt tüchtig an die Arbeit, — selbst zu der geringsten einer, welche die Kinderhände schaffen könnten, hielte ihn die Gräfin an.
Guntram Krafft sammle Holz und Reisig im Walde, er grabe im Garten, jäte Unkraut und begieße die Beete.
Winters über sitze er neben dem Spinnrad der Mutter und schnitze Holzlöffel und Quirle für die Küche.
Müßiggang sei ihm ebenso unbekannt, wie allen andern in der Burg Hohen-Esp. —
Seit seinem sechsten Jahre müsse er auch schon fleißig bei dem Herrn Pastor lernen, auch auf das Pferd sei er schon gesetzt worden, aber dafür zeige er weniger Passion wie für das Segeln auf dem Meere.
Das komme wohl daher, weil er an Sonn- und Festtagen mit den Knaben aus dem nahen Fischerdorf spielen dürfe, sie hätten natürlich schon einen halben Seemann aus ihm gemacht. Die Knaben wagten sich in ihrem Boot oft tollkühn auf die See hinaus, und als der Pastor der Gräfin einmal vorgestellt habe, wie gefährlich das doch für den einzigen Erben des alten Geschlechts sei, da habe die »Bärin« nur in ihrer herben, ernsten Weise nach einem Wappenschild emporgewiesen, auf welchem der Wahlspruch der Hohen-Esp's gestanden:
»Zu Land und See , Herr Pastor! Ein Mann, welcher sich vor dem Wasser fürchtet, kann keine Taten auf demselben tun! — Zwar gibt es jetzt keine Piraten mehr, vor welchen die Hohen-Esps ihre friedliche Küste schützen müßten, aber möglicherweise fordert man doch einst auch ihre Dienste zur See. — Machen Sie mir meinen Sohn nicht furchtsam! Je kühner und heldenhafter ich ihn einst in das Leben stellen kann, desto ehrenvoller für ihn. Wir stehen alle in Gottes Hand, Herr Pastor, — Sie wissen es doch am besten, daß die Haare auf unserm Haupt gezählt sind!« —
»Eine eigenartige, wackere Frau!« nickte der Herzog voll warmer Anerkennung, als man ihm erzählte, wie die Erziehung des jungen Grafen gehandhabt werde, und nach kurzer Pause fragte er unvermittelt: »Wer ist eigentlich zum Vormund des Kindes gesetzt?«
»Laut Testament die Mutter; sie ist ganz allein mit allen Rechten und Pflichten betraut.«
»So wäre es doppelt notwendig, der Vereinsamten ein Zeichen unseres Interesses und guten Willens zu geben! Ich werde ihr für den Sohn eine Freistelle auf unserer Ritterakademie anbieten lassen!«
Das geschah, und man harrte voll großer Spannung der Antwort.
Diese ließ nicht lange auf sich warten.
Gundula stand just in der Wäschekammer und beaufsichtigte selber das Strecken und Legen der Linnen, als ihr das Schreiben des diensttuenden Kammerherrn, welches das huldvolle Anerbieten Seiner Hoheit übermittelte, gebracht wurde.
Befremdet sah die Gräfin darauf nieder.
»Herzogliche Angelegenheit!?«
Der finster abweisende Zug in ihrem Antlitz verschärfte sich.
Sie öffnete den Brief und las.
Schwere Atemzüge hoben ihre Brust, in ihrem Auge lag plötzlich ein Ausdruck wie bei der in das Damastmuster der Tafeltücher gewirkten Bärin, welche sich mit brüllendem Nacken aufrichtet, ihre Jungen gegen einen Feind zu schützen.
»Mein Sohn auf die Ritterakademie, auf dieselbe vielleicht, wo einst sein Vater seine erste Weltweisheit eingesogen?«
»Wie liebenswürdig von dem Herzog! Wie gnädig und gut gemeint!« — sagte Tante Agathe, welche neben die Lesende getreten war und mit in das Schreiben blickte.
Gundula nickte mit herb geschlossenen Lippen.
»Ja, er meint es gut, der Herzog, — er weiß es ja nicht, was er mir mit dieser Gnade antut!«
»Nein, das ahnt er nicht!« — seufzte Agathe leise, »und was antwortest du?« —
Beide Frauen waren hinausgetreten auf den Flur und stiegen die steinerne Wendeltreppe zu dem Zimmer der Gräfin empor.
»Solange meine Augen offen stehen und meine Hände Kraft haben, das Schicksal meines Kindes zu lenken, wird er nie die Welt kennenlernen!«
»Gundula! Hältst du es für möglich, einen jungen Mann im neunzehnten Jahrhundert noch zu erziehen wie einen Parsifal?«
Sie lächelte wunderlich vor sich hin, — der schwarze Schleier lag wie eine dunkle Wolke um ihr Haupt.
»Das halte ich nicht nur für möglich, sondern das will ich beweisen!« —
»Bedenke die Zukunft, das Glück deines Kindes!«
»Just dies will ich sichern, denn ich gedenke an die Vergangenheit seines Vaters.«
»Gundula! Dieser Wahn ist krankhaft!«
»So scheint's, und doch soll er meinen Sohn an Leib und Seele gesund erhalten!«
»Was soll aus Guntram Krafft werden?!«
»Das, was mit seinem Vater verlorenging, ein echter Hohen-Esp, — ein Herr auf seinem Gebiet, ein Schirmvogt der Not! — Ein Mann, welcher zurückerwirbt, was der Leichtsinn ihm vergeudet und die Welt ihm genommen!«
»Überlege es dir noch reiflich, ehe du das gnädige Anerbieten des Herzogs ablehnst!«
»Ich habe überlegt, — ich überlegte es in jener Stunde, da man Friedrich Karl, den ehemaligen Zögling jener Ritterakademie, als feigen Selbstmörder mit durchschossener Stirn zur Ruhe legte!«
Fräulein von Wahnfried kannte den Klang in der Stimme der Gräfin, sie kannte auch ihre grenzenlose Erbitterung gegen alles, was ihrer Ansicht nach den Leichtsinn Friedrich Karls gefördert!
Und das war alles und jedes in der verderbten, nichtsnutzigen Welt!
Dagegen war nicht mehr anzukämpfen, man konnte nur hoffen, daß die lindernde Zeit die Wunden heilen, und Gundula vernünftiger über manche Notwendigkeit denken würde!
Aber Tante Agathe hoffte kaum noch — die Zeit hatte sich während all der vergangenen Jahre machtlos erwiesen, und Guntram Krafft wuchs in der Einsamkeit als ein moderner Parsival auf!
Die alte Dame kehrte seufzend in die Wäschekammer [S. 71] zurück, während ihre Nichte sich an den Schreibtisch setzte und mit festen, großen Schriftzügen ihre Antwort an den Kammerherrn des Herzogs niederschrieb. Sie dankte in schlichter, aber aufrichtigster Weise für das so überaus huldvolle und gnädige Anerbieten des hohen Herrn, welches sie jedoch voll dankbarster Erkenntlichkeit ablehnen müsse, da sie nicht imstande sei, sich schon jetzt von ihrem Sohn zu trennen. Guntram Krafft sei das einzige Glück, welches ihr das grausame Schicksal gelassen; dasselbe noch so lange wie möglich ihr eigen zu nennen, sei der letzte Wunsch, den sie noch an das Leben habe.
Die Erziehung des Knaben zu leiten, für seine wissenschaftliche Ausbildung zu sorgen, werde ihr mit Gottes gnädiger Hilfe auch in Hohen-Esp gelingen; sie hoffe zuversichtlich, aus ihrem Sohn einen vollwertigen, braven und tugendhaften Mann zu machen.
Der Brief hatte in seiner starren und schmerzlichen Eigenwilligkeit etwas Rührendes, »man hört aus jeder Zeile das leidenschaftliche Herz einer unglücklichen Mutter schlagen!« — sagte der Herzog, und er nahm die Weigerung der Gräfin nicht ungnädig auf, sondern erhielt dem wunderlichen Bärennest im Walde sein vollstes Interesse.
Und abermals verging die Zeit.
Guntram Krafft erhielt durch einen Erzieher und den Pastor eine vortreffliche Erziehung, wenngleich seine praktischen Fähigkeiten nicht darüber vernachlässigt wurden.
»Er soll alles lernen, was ein gebildeter Mann an Schulweisheit gebraucht!« sagte die Gräfin, »vor allen Dingen aber soll er ein tüchtiger Landwirt werden, welcher auf eigenen Füßen steht und seine Scholle selber bewirtschaften kann. Die Gelehrsamkeit wird er wenig im Leben gebrauchen, denn eine Stellung im Staatsdienste nimmt er niemals ein, aber der praktischen Kenntnisse bedarf es vor allen Dingen, denn er soll das [S. 72] Werk, welches ich begonnen, zu Ende führen und den verlorenen Besitz seiner Väter zurückerwerben!«
Fast schien es, als wolle ihm die stolze, energische Frau wenig Arbeit übriglassen.
In geradezu erstaunlicher Weise war es ihr gelungen, Hohen-Esp zu einem hochkultivierten Gut emporzubringen; vortreffliche Ernten hatten sie Jahr um Jahr unterstützt, Terrain, welches man ehemals als Waldwiesen und Heide hatte brachliegen lassen, war ausgenutzt worden und hatte überraschenden Ertrag geliefert, ebenso hatte sich eine Milchwirtschaft aufs beste rentiert, und Herr Werner sah seine stolze, besondere Genugtuung darin, der verlassenen Frau mit größtem Eifer und all seinen Fähigkeiten zu dienen.
Von Jahr zu Jahr konnte die Gräfin von dem angrenzenden Besitz Gottern Areal zurückkaufen, was ihr um so leichter ward, als der Besitzer der Herrschaft selber in recht mißliche Lage gekommen und froh war, das Land wieder in Kapital verwandeln zu können.
So kam der Tag, an welchem die überraschende Nachricht die Runde durch die Residenz machte, daß es der Bärin von Hohen-Esp in ganz unglaublicher Weise gelungen sei, die Herrschaft Gottern zu Hohen-Esp zurückzukaufen, daß es ihr auch durch ihre enorme Willenskraft, ihren Fleiß und äußerste Sparsamkeit gelungen sei, ihren Sohn schon jetzt wieder zu einem sehr wohlhabenden Mann zu machen.
Die alte Tante Agathe sei schon längere Zeit krank und liege nunmehr im Sterben.
Viel habe sie ja wohl nicht zu vererben, aber doch genug, um es der Gräfin vorläufig sehr leicht zu machen, auch mit dem nunmehr so bedeutend vergrößerten Besitz erfolgreich und dauernd zu wirtschaften.
Der Wohnsitz solle aber nach wie vor Hohen-Esp bleiben, und Graf Guntram Krafft, welcher nunmehr neunzehn Jahre zähle und seiner Militärpflicht genügen müsse, werde wohl zum erstenmal allein in die große, unbekannte Welt hinaustreten!
Man erwartete voll Spannung das Erscheinen des schier sagenhaft gewordenen jungen Mannes, bis die enttäuschende Nachricht kam, daß der Graf wegen eines ganz unbedeutenden kleinen Fehlers, — man sagte, daß ihm bei einer stürmischen Seefahrt im Boot, beim Überholen einer Teertonne, dieselbe zwei Zehen vom Fuß geschlagen — vom Militär freigekommen sei.
Es sei ein Jammer darum!
Der junge Mann verkörperte das Urbild aller blühenden Kraft und Lebensfrische, er sei in der Tat ein wahrer »Bär« von Hohen-Esp, so groß, so stark, so reckenhaft schön und ritterlich, — ihm selber habe die Lust, Soldat zu werden, aus den Augen geblitzt, und er habe sofort gebeten, ihn der Marine zuzuweisen, da er so gut Bescheid mit dem Seefahren wisse, — aber die Gräfin habe voll leidenschaftlicher Energie alle Hebel in Bewegung gesetzt, den Sohn freizubekommen.
Da sie die Bestimmungen für sich gehabt habe, und Graf Guntram Krafft ein durchaus gehorsamer Sohn sei, so sei leider nichts zu machen gewesen.
Die »Bärin« habe ihr Junges in die Höhle zurückgeschleppt. —
Da gab man es in der Residenz achselzuckend auf, die interessanten Einwohner von Hohen-Esp jemals von Angesicht zu schauen, und weil die Mütter und Töchter sehr enttäuscht waren, so ärgerten sie sich darüber.
Die vielen Kaffees und Teeabende, welche mit den kürzer werdenden Tagen aus ihrem »Sommerschlaf« erwachten und so zahlreich plötzlich aufwirbelten, wie draußen das welke Herbstlaub durch die Luft flatterte, boten den ergiebigsten Boden, auf welchem das Pflänzchen dieser Neuigkeit Wurzel schlug und in mannigfachen, oft recht phantastischen Blüten aufschoß.
In einer der vornehmen Villenstraßen lag das reizende Rokokoschlößchen »Monrepos«, in welchem der Oberst und Kommandeur des Ulanenregiments, Freiherr von Sprendlingen, Wohnung genommen.
Seine sehr elegante, lebenslustige Frau liebte es, ein großes Haus zu machen, eine Passion, welcher sie ohne Bedenken huldigen konnte, da die Vermögensverhältnisse des Obersten sehr gute waren, und das Ehepaar nur ein einziges Töchterchen besaß, für welches man zu sorgen hatte.
Der Freiherr verwöhnte seine bezaubernde Frau in nur denkbarer Weise, Frau von Sprendlingen verzog und verhätschelte ihr Töchterchen dementsprechend, und so herrschte in dem Haus ein Luxus und Behagen, welches keinen, auch den größten Wunsch, nicht unerfüllt läßt.
In den Salons der Hausfrau brannten nur einzelne verschleierte Lampen, da die Herrschaften zum Diner gefahren waren; in dem lauschigen Boudoir des fünfzehnjährigen Töchterchens aber strahlte die Gaskrone festlich und hell, denn dort saßen die Backfischchen, welche zu Fräulein von Sprendlingen eingeladen waren, bei heimlichen Weihnachtsarbeiten, viel Kaffee und noch mehr Süßigkeiten, und sprachen ebenso wie die Alten die Neuigkeiten des Tages durch. Seit der Tanzstunde interessierte man sich für junge Herren noch mehr wie für junge Damen, und da man schon mancherlei über den Hohen-Esper gehört und sich ebenfalls über den »Strich durch die Rechnung« ärgerte, so begannen sie über den doch allzu gutmütigen Zottelbär, welcher derart unselbständig an den Rock der Mutter hänge, zu glossieren.
»Ein forscher, echter Mann hätte bei dieser Gelegenheit doch wohl etwas mehr Eigenwillen und Schneid bewiesen und das Gängelband abgestreift!« spottete Gabriele, die Tochter des Hauses, und ließ ihre Stickerei sinken, — »anstatt artig hinter die Schürze der Mama zu kriechen und sich zu ducken, wenn die gestrenge Vormünderin befiehlt! Ob er zwei Zehen mehr oder weniger hat, geniert ihn ja gar nicht, es ist nur ein recht erbärmlicher Vorwand von der Gräfin, ein Zufall, welchen sie sich zunutze macht, um das Bübchen unter den Fingern zu behalten!«
»Wenn Graf Guntram Krafft einen Funken Ehrgeiz [S. 75] und Selbstbewußtsein hätte, würde er sich das nicht habe bieten lassen!«
»Vielleicht ist er zu feige und freut sich, daß er daheimbleiben kann!« — rief Gabriele von Sprendlingen, das reizendste Backfischchen, welches die Residenz aufweisen konnte, abermals: »Hätte er Courage, würde er sich das idealste Glück eines Mannes, Soldat zu werden, unter allen Umständen erzwungen haben!«
»Feige? Nein, das ist er wohl nicht!« schüttelte ihre Freundin Trautchen gutmütig den hellblonden Kopf, »denk doch, er wagt sich bei Sturm und Wetter auf die See hinaus!«
Gabriele lachte spöttisch und rümpfte die entzückende kleine Nase: »Die See schießt nicht mit Kugeln! Bah! Was will es heißen, sich auf die See zu wagen?! Gar nichts! Kippt das Boot um, so schwimmt man! Wie weit fährt denn der Herr Graf? — Sicher nicht zehn Schritt entfernt vom Ufer weg! Auf den Ozean hinaus ist er noch nie gelangt, und die Schiff- und Bootfahrt an der Küste stellt überhaupt keine Anforderungen an den Mut eines Mannes!« —
»Aber Gabriele! Das kann ich mir nicht denken — —«
»So? Wirklich nicht? O, du kleines, schneeweißes Lämmchen, was hat denn das Wasser für eine Gefahr, wenn es nicht tief ist?« — und die Sprecherin schüttelte die krauslockigen, lichtbraunen Haare aus der Stirn und machte ein geradezu verächtliches Gesichtchen: »Ein Mann, der nicht Soldat ist, nicht für Fürst und Vaterland kämpft, kann mir niemals imponieren; und Graf Guntram Krafft ist kein kühner, stolzer Bär, wie seine Vorfahren, sondern ein ganz lappiger Waschbär! — Er sollte nur einmal meinen Weg kreuzen, ich wollte es ihm schon zeigen, wie ich über ihn denke!«
Und Gabrieles Augen, die wundersam hellen, schillernden Nixenaugen, blitzten gar trotzig in dem süßen Gesicht, und sie wiederholte nachdrücklich: »Glaub' mir's! Ich würde es ihm zeigen!« —
»Das würde ihn aber doch sehr kränken?« warf Trautchen schüchtern ein, und das Mitleid glänzte in ihrem Blick.
»Um so besser, wenn es ihn kränkt!« brauste Gabriele ungestüm auf und kehrte alle Würde ihrer fünfzehn Jahre heraus. »Wie soll denn so ein verwöhnter Mamajunge anders merken, daß er ein Waschlappen ist, wenn wir Weiber es ihm nicht markieren? Wie sollte unser Kaiser noch Helden in seine Armee bekommen, wenn wir nicht die Männer zu Heldentaten begeisterten und anspornten? — Mein Vater sagt stets, ich sei eine gute Soldatentochter und ein famoses deutsches Mädel, welches genau weiß, was es Fürst und Vaterland schuldet! Einen Helden zum Vater! Einen Helden zum Gatten, und mehrere Helden als Söhne!«
»Bravo! Die Steigerung war gut!« lachte die schwarzlockige kleine Gräfin Sevarille und verzog dabei das Mündchen etwas ironisch, »solche Dinge klingen in der Theorie ganz poetisch und schön, aber in der Praxis kommt die Sache doch oft anders! Wenn zum Beispiel der geschmähte Waschbär hier auftauchte, als schöner Mann und reicher Erbe, und er machte dir eine Liebeserklärung, Gabriele, du pustetest auf alle Heldenherrlichkeiten in deines angebeteten Kaisers großer Armee und heiratetest den tatenlosen Gutsbesitzer, ohne dich zu besinnen!«
Heiße Röte stieg in das Gesichtchen der Genannten, die Nixenaugen schillerten wie die See, ehe sie in hohen, verderbenden Wogen aufbraust.
»Das würde ich tun, sagst du?« — stieß sie atemlos hervor, »das ist eine perfide Behauptung, Thekla, und ich wünsche nun wahrlich nichts sehnlicher, als daß der Hohen-Esper mir einen Antrag machen würde!« —
»Haha! Hört ihr's? Jetzt spricht sie ehrlich!«
Gabriele warf zornig ihre feine Seidenstickerei auf den Tisch und sprang auf.
»Laß mich ausreden, ehe du mich beschimpfst!« trotzte sie in der vollen Heftigkeit, welche ihrem Charakter [S. 77] eigen war, »ich wünsche mir einen Heiratsantrag von ihm, lediglich um dir zu beweisen, daß ich keine leeren Phrasen geredet, sondern Wort halten würde, so wahr ich Gabriele von Sprendlingen bin! Und wäre er schön wie ein Gott und reich wie Krösus, wenn er nichts für Fürst und Vaterland leistet, wenn er kein Held ist und Taten tut, die mein Kaiser brav und herrlich nennt und mit dem Kreuz der Ehre lohnt, — ich würde nie sein Weib! Nie! — Das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist!« —
»Aber Herzchen, wie kannst du so leichtsinnig sein!« — entsetzte sich Trautchen; Thekla aber setzte ihr Schnitzmesser zu einem tiefen Kerbschnitt an und sagte mit einem wunderlich scharfen Lächeln —: »Gut, wir haben deinen Schwur gehört und werden nicht verfehlen, dich zu guter Zeit daran zu erinnern! Aber du kennst den Ausspruch des Dichters: ›Ach, Worte sind ein leerer Schall —‹ denn sie verfliegen und werden so schnell vergessen, wie man sie hört! Mündlich ist schon mancher Schwur getan und leichtfertig gebrochen worden! Auch du gibst deine stolze Versicherung nur mit den Lippen, aber schriftlich ? Haha! Schriftlich verzichtest du nicht auf den Grafen von Hohen-Esp!«
Gabriele griff mit nervös bebender Hand nach den Zetteln und Bleistiften, welche, für ein Schreibspiel zurechtgelegt, bereits auf einer Marmorschale seitwärts des Tisches standen.
»Und warum nicht?« spottete sie mit gefurchter Stirn: »Wenn dir ein geschriebenes Wort sicherer ist wie ein gesprochenes, sollst du es gern haben!« —
Und Gabriele setzte den Bleistift an und schrieb ohne Überlegen mit festen, schwungvollen Schriftzügen auf einen der Zettel nieder:
»Da meine Freundin Thekla meine Ansicht über den Grafen von Hohen-Esp schriftlich wünscht, so erkläre ich hiermit noch einmal, daß ich denselben nie und nimmermehr heiraten werde, weil er kein Held ist und mir nicht imponiert!«
— Mit leisem Auflachen faltete das Backfischchen den inhaltschweren Zettel zusammen und warf ihn Komtesse Sevarille zu, — die andern jungen Mädchen belohnten diese »fesche« Tat mit stürmischem Beifall, und Thea griff hastig nach dem Papier und schob es in ihren Pompadour. Sie lächelte und nickte Gabriele zu: »Du hast doch mehr Charakter, als wie ich glaubte!« sagte sie anerkennend, und ihr stets unzufriedenes und übellauniges Gesicht sah zum erstenmal sehr wohlgefällig aus. —
Von der See herüber brauste der eisige Novembersturm und fegte die letzten welken Blätter um die Zinnen von Hohen-Esp.
Der Buchwald, welchen Gräfin Gundula vor nunmehr fünfundzwanzig Jahren an all den Stellen, welche Friedrich Karl so schonungslos hatte abholzen lassen, nachgepflanzt hatte, war emporgewachsen und füllte schon wieder die Lücken aus, welche ehemals das Auge der Burgherrin so schmerzlich verletzt hatten.
Noch waren sie den wundervoll hochstämmigen Riesen, welche rings um den Hügel, der die Mauern von Hohen-Esp trug, Wache hielten, lange nicht gleichgekommen, aber sie waren ebenso gediehen und frisch und kräftig aufgewachsen, wie der junge Sproß des alten Grafenstammes, welcher als blondlockiger Knabe unter ihnen gespielt, als Jüngling mit markigen Armen geschafft und nun als Mann sein Erbe in Empfang nehmen sollte.
Guntram Krafft war mündig geworden, ohne besondere Zeremonie und Feierlichkeit, ohne von fremden Menschen in neuen Rechten anerkannt zu werden; denn das ehemalige Vermögen seines Vaters war in den Besitz seiner Mutter übergegangen, und nur von dem freien Willen der Gräfin hing es ab, ob der Sohn Herr sein sollte auf dem Besitz der Väter. In dem Willen Gundulas aber lag es, den jungen Mann selbständig zu machen.
Voll stolzer Genugtuung sah sie, daß er zu einem Charakter ausgereift war, fest und zuverlässig, stark in allem Guten und Edeln, und dennoch so rein an Herz und Sinn wie ein Kind.
Kein Gifthauch der Welt hatte sein junges Herz getroffen, nur wie ferne, sagenhafte Klänge und Bilder zogen die Erzählungen seiner Erzieher von Menschen und Leben an seinem geistigen Auge vorüber.
Als er groß genug geworden, um eine berechtigte Frage nach seinem Vater und dessen Leben zu stellen, hatte Gundula zum erstenmal seit langen Jahren von ihrem Gatten gesprochen.
Da erst entspann sich ein inniges Wechselleben zwischen Mutter und Sohn.
Da entrollte die Gräfin vor den weitoffenen Augen ihres Sohnes die traurigen Bilder der Vergangenheit, und waren dieselben schon an und für sich dunkel genug, so färbte sie die Erbitterung der einsamen Frau noch düsterer, so daß Guntram Krafft die Welt nur als einen Sündenpfuhl voll dräuender Gefahren, und die flotte, leichtlebige Gesellschaft der Großstadt als eine Wildnis kennenlernte, in welcher aller Ecken und Enden die Abgründe gähnen. Guntram Krafft lernte sie verabscheuen und verachten, ohne sie jemals kennengelernt, ohne sich jemals ein Urteil aus eigener Anschauung gebildet zu haben, und doch machte diese fremde, unnatürliche Beeinflussung keinen weltschmerzlichen Sonderling und Einsiedler aus ihm.
Er verlangte nicht nach jenen Verhältnissen, welche die Mutter ihm so unerquicklich geschildert, und von welchen die jungen Fischer im Dorf nichts Gegenteiliges zu erzählen wußten!
Die meisten seiner Spielkameraden waren als Matrosen eingezogen, hatten ihre Jahre abgedient und Reisen in weite, ferne Wunderländer gemacht, von denen sie wohl einmal in ihrer wortkargen Weise erzählten, aber nach welchen sie doch nie zurückverlangten.
lautete ihr Urteil jedesmal, sie liebten ihre einsame, sturmumbrauste und meerumspülte Heimat mit der zähen [S. 81] Treue nordischen Bluts, sie kehrten heim, freiten und machten sich seßhaft; selten nur, daß der eine oder andere fernblieb in Hamburg oder Kuxhaven, wo ihn besseres Verdienst lockte.
Das waren jedoch die »Verschollenen«, von denen kaum noch Angehörige im Dorf lebten und welche selten, fast nie eine Nachricht in die Heimat gelangen ließen.
Kam jemals eine heiße, leidenschaftliche Sehnsucht über Guntram Krafft, die herkulische Stärke seiner Arme zu prüfen, auch hinauszuziehen mit flinken, weißen Segeln, um jene heimlichen Wunder fremder Länder kennenzulernen, wollte sie ihn packen, die Wanderlust des Jünglings und der Tatendrang des Mannes, so genügte nur ein einziger Blick auf die schwarze Trauergestalt der Mutter, in ihr bleiches, gramgefurchtes Antlitz unter dem frühergrauten Scheitel, und er schüttelte voll stolzer Entsagung das Haupt und war es sich voll bewußt, daß er die einsame Frau nicht verlassen durfte, deren einziges Glück er geblieben.
Die rastlose Arbeit in Flur und Feld, sein eifriges Studium edler Wissenschaften gaben seinem Leben reichen Inhalt, und wenn er Freude und Zerstreuung suchte, so streifte er das grobe Fischerzeug über seine markige Brust und fuhr voll jauchzenden Ungestüms hinaus in See, mit Sturm und Wogen einen tollkühnen Kampf zu kämpfen, furchtlos sich in brandende Flut zu wagen, der geschickteste der Segler, der furchtloseste der Schwimmer, ein Seemann, zu dem die wetterharten Fischer voll staunender Bewunderung aufblickten und ihn den »Besten der Ihren« nannten.
Wie oft hatte Guntram Krafft sein Leben eingesetzt, wenn es galt, bedrohten Freunden Hilfe zu bringen, strandenden Schiffen in Nebel und Sturm ein tollkühner Lotse zu sein, sie sicher einzuholen an dieser Küste, welche durch widrige Gegenströmungen und Untiefen schon manchem Fahrzeug und manch wackerem Seemann mit Tod und Verderben gedroht hatte! —
Die meisten ahnten es wohl nicht und hatten es nie erfahren, wer ihr kühner Retter in der groben Teerjacke gewesen; flossen ihm Geldgeschenke von den Dankbaren zu, so lachte der junge Graf gar frisch und fröhlich auf, überwies sie seinen Genossen und sprach: »Holla, Kinnings! Dor hätten wie wat inbrächt!« und die schwieligen Hände legten die Taler zurück in die gemeinsame Kasse, aus welcher bedürftige Fischer unterstützt und das Rettungsboot, welches anfangs ein recht dürftiges Fahrzeug gewesen, immer zweckmäßiger ausgestattet wurde. Guntram Krafft fühlte sich in seiner so arbeitsreichen Einsamkeit unendlich glücklich und verlangte nicht hinaus in die Welt voll Zerstreuung, Pracht und Lustbarkeit, eine Welt, welche ihm so fernlag, wie jene andern Welten, welche ewig unerreichbar als leuchtende Sterne im endlosen Himmelsraume kreisen.
Und doch fiel es dem scharfbeobachtenden Blick der Gräfin auf, daß es oft wie ein melancholischer Schatten auf dem freien, männlich schönen Antlitz lag, daß sein Blick oft sinnend und träumerisch in das Weite streifte, daß er oft ganz unvermittelt sagte:
»Nun hat Jochen Riem auch geheiratet, die kleine Anning, die er seit Kind auf so liebgehabt hat!« — oder —: »Weißt du's, Mutter, daß dem Göschen Wulff in dieser Nacht ein Bub geboren ist? Ein prächtiger, pausbackiger Kerl ... kann schreien für zehn, und der Göschen ist so stolz, als sei er ein Kaiser geworden!« ... und nach kurzer Pause —: »Wie ist es doch so still und leer hier in Hohen-Esp! Wäre wohl nicht übel, Mutter, wenn auch hier mal ein wenig junges Leben einzöge und ein paar kleine Bärlein herumpurzelten!« Er lachte dazu, und dennoch blickten seine blauen Augen seltsam ernst! —
Da war's, als ob Frau Gundula urplötzlich aus einem langen, langen Traum erwache, und sie nickte wie erschrocken vor sich hin und sprach leise: »Ja, es ist Zeit geworden!« —
Nun stand sie an dem spitzen Bogenfenster mit den kleinen, bleigefaßten Scheiben, und blickte starren Auges [S. 83] hinab auf die laublosen Buchenwipfel, welche der Sturm wie brandende Flut gegen das graue Turmgemäuer peitschte. —
Tage und Nächte lang hatte sie in schwerem Kampf gerungen, hatte gesonnen und überlegt, um das rechte zu finden.
Die Natur forderte ihr Recht; Guntram Krafft war ein Mann geworden, dessen Herz sich nach Liebe sehnte, dessen Wunsch es war, gleich seinen Gespielen ein Weib zu freien und glücklich zu sein!
Die Gräfin, deren scharfer Geist alles so wohl überlegt und bedacht hatte, was zum Glück ihres Kindes nötig schien, hatte seltsamerweise diese Notwendigkeit noch nie ernstlich erwogen, und nun, als sie trotz der lang vorbereitenden Jahre doch überraschend an sie herantrat, da kostete es ihrem Herzen schwere Kämpfe, bis sie sich entschlossen hatte, sich in das Unvermeidliche zu fügen.
Guntram Krafft mußte die Brautfahrt unternehmen, er mußte Ausschau halten unter den Töchtern des Landes, welche von ihnen das Ideal verkörpern möchte, das sich der weltfremde Mann von seinem Weib gebildet!
Ihr Sohn mußte den Winter in der Residenz verleben und die Feste mitmachen, er mußte es! Es half da kein Weigern mehr! Kein anderer Ausweg wollte sich ihrem Sinn zeigen, ob sie noch so sehr grübelte.
Seit Tante Agathe gestorben war, besaß sie gar keine näheren Verwandten mehr, wenigstens keine, welche heiratsfähige Töchter hatten und zu welchen sie den jungen Bären von Hohen-Esp hätte senden können, wie einst Jakob hinzog in das Land seiner Freundschaft, bei seiner Sippe um ein Weib zu dienen.
Guntram Krafft durfte keine Fischerdirne aus dem Dorfe heimführen, dagegen sträubte sich der Stolz einer Frau, welche ihr ganzes Leben lang nur für das eine Ziel gearbeitet und gestrebt hatte, ihrem Sohn den Besitz und alten Glanz seines feudalen Geschlechts zurückzuerwerben. [S. 84] —
Die neue Stammutter der Hohen-Esps soll Wappen und Krone mitbringen, sie soll eine ebenbürtige Gemahlin für ihren Sohn sein, deren Ansichten die ihren sind, deren edler Sinn eine Bürgschaft für die Tugend künftiger Geschlechter ist! Wird Guntram Krafft die rechte Wahl treffen? —
Ohne Zweifel; ihre Ansichten sind auch die seinen geworden, der Geschmack der Mutter ist dem Sohne eingeimpft!
Wird die Welt auch jetzt noch ihre verderblichen Schlingen um seine Füße legen?
Wird sie ihn blenden und bestricken, daß er nicht wieder zurückverlangt in sein stilles Heim? —
Wird er ihr Gift schlürfen und es so süß und berauschend finden, daß ihm das klare Quellwasser der Heimat nicht mehr mundet? —
O nein! Nun und nimmermehr!
Gundula ist ihres Sohnes gewiß. Die mühsame Aussaat von so viel langen, bangen Jahren kann nicht in ein paar Wochen im Hagelschauer neuer Eindrücke, in der sengenden Glut froher Feste, in den Stürmen eines Karnevals zugrunde gehen!
Die fremde Welt wird dem Neuling fremd erscheinen und fremd bleiben, — er wird sich aus der hohen Flut eine Perle heben und sein Kleinod so bald wie möglich in den stillen Hafen von Hohen-Esp retten.
Außerdem schickt sie ihn nicht völlig allein und haltlos in das bunte Leben hinaus. Der alte Kammerdiener ihres Mannes, welcher schon Gundula als Braut gekannt und auf dessen Armen auch Guntram Krafft aufgewachsen ist, der goldgetreue, zuverlässige Anton wird seinen jungen Gebieter in die Residenz begleiten.
Er weiß ja so gut Bescheid auf dem heißen Boden der Großstadt, er ist über so manches Parkett geglitten und hat den Kammerherrn ehemals in so manch schwieriger Situation beraten, er wird nun auch seine Sorge über dem jungen Bären walten lassen, welcher zum ersten [S. 85] Male die sichere Höhle verläßt! Anton wird angewiesen sein, ganz genau über den Grafen zu berichten, und wenn es wahrlich den Anschein haben sollte, als ob die Welt ihre schimmernden Netze um ihn flechten wollte, dann wird die Mutter zu rechter Zeit die energischen Hände heben, diese Fäden unbarmherzig zu zerreißen.
Gräfin Gundula blickt in den Sturm hinaus und wartet auf den Sohn, und als sie endlich seinen schweren, stampfenden Schritt auf der gewundenen Stiege hört, da hebt sie wie mit letzter Selbstüberwindung das Haupt und schaut ihm festen Blicks entgegen. In der niederen, spitzgewölbten Tür, den hochgewachsenen Nacken im Eintreten beugend, steht Guntram Krafft.
Mächtige Wasserstiefel reichen bis über die Knie, eine Düffeljoppe läßt die breite Brust noch hünenhafter erscheinen, und ein ausgeschlagener Südwester sitzt fest auf den blonden, lockigen Haaren und umrahmt das frische, männlich schöne Antlitz mit den leuchtenden Blauaugen.
»Dag ok, Mutting!« lacht er mit strahlendem Blick, reißt den Hut ab und hebt ihn in seemännischem Gruß hoch über das Haupt.
»Hoffentlich hast du nicht zu lange auf mich gewartet? — Aber bei diesem Wetter muß man auf dem Posten sein, damit kein Unglück am Hamelwaat passiert! Weiß der Kuckuck, daß solch eine gefährliche Stelle, wo schon so manches Fahrzeug aufgelaufen ist, noch von keiner Strandkommission schärfer ins Auge gefaßt ist! — Vorhin wieder eine Brigg! — Schnurgrad drauflosgehalten! Noch ein paar Nasenlängen, und sie saß fest! — Wir hatten sie glücklicherweise beobachtet, und ich konnte noch rechtzeitig hinaus, um ihr Warnung zu geben! Aber eine Lustfahrt war's just nicht bei der heutigen Brise, und kalt genug hat's uns um die Ohren gepfiffen! Da hat dir dein Bär einen regelrechten Bärenhunger heimgebracht, und für ein Warmbier verkaufe ich heute auch das Recht der Erstgeburt!«
Er lachte, daß die weißen Zähne unter dem blonden Schnurrbart blitzten, schlang zärtlich den Arm um die düstere Frauengestalt und küßte Frau Gundula herzhaft auf den Mund.
»Das steht bereit, du Wasserratte!« lachte diese, mit einem Blick unendlichen Wohlgefallens die blühende Schönheit ihres Sohnes umfassend, »willst du dich erst umkleiden oder erst durch einen Imbiß erwärmen? Du weißt, ich liebe es nicht allzusehr, dich in dieser Ausrüstung am Tisch zu sehen!«
»Weiß ich, Mamachen, — und werde nie dein Eßzimmer durch Teerjacke und Ölzeug entweihen. — Auch ist's mir, ehrlich gestanden, selber zu unbequem! Aber bitte, befiehl einstweilen alle Bierkannen und Schinkenbrote auf Deck, damit ich in zehn Minuten an ihnen zum Massenmörder werden kann!«
» Vae victis! « —
»Ja, wehe ihnen! Heut wird kein Pardon gegeben!« — Und Guntram Krafft schritt über die Schwelle zurück, daß die morschen Parkettplatten krachten.
Draußen hörte die Gräfin ihn fröhlich pfeifen: »Auf, Matrosen, die Anker gelichtet!« — Dann hub ein gewaltig Poltern und Rumoren in der Turmstube des jungen Grafen an, und in sehr kurzer Zeit saßen Mutter und Sohn beim lodernden Kaminbrand in der Speisehalle zusammen, wo Guntram Krafft das Frühstück serviert war.
Der Hausanzug des jungen Hohen-Esp war weder sehr elegant noch sehr modern, er war solide und zeugte von der Sparsamkeit, welche in allen Dingen noch im Hause herrschte, obwohl die Gräfin mit einem tiefen Ausatmen der Befriedigung noch vor wenig Tagen zu dem Inspektor gesagt hatte: »Noch ein paar solcher Rübsenernten, und wir können, so Gott will, schon das zweite Vorwerk von Walsleben zurückkaufen!«
Aber trotz seiner nicht allzu vorteilhaften Kleidung sah der junge Graf ganz vortrefflich aus, just so, wie es zu seiner bärenhaften und urwüchsigen Schönheit paßte.
Man konnte es sich bei seinem Anblick kaum denken, daß diese Reckengestalt in Frack und Lackschuhe hineinpassen würde, daß sie sich zum Träger all der weichlichen, geschniegelten Eleganz der modernen Salonhelden machen könne!
Ein Zylinderhut auf diesem wildlockigen Haupt mußte ganz wunderlich aussehen, und wie die wetterharten Hände, wohl schön und edel in der Form, aber ohne Schonung verarbeitet wie bei dem geringsten Fischer, sich mir Glacéhandschuhen befreunden würden, schien selbst Frau Gundula in diesem Augenblick eine berechtigte Frage.
Sie musterte das Äußere des jungen Bären interessierter wie je zuvor, und dieweil er frisch und fröhlich dem kräftigen Mahle zusprach und dabei voll lebhaften Eifers über seine stürmische Seefahrt sprach, flogen ihre Gedanken weit voraus ... und sie sah diesen unerschrockenen Seehelden auf dem höfischen Parkett stehen, umrauscht von schmeichelnden Musikklängen, umweht von süßem Amberduft, umglänzt von ungezählten Lichtflammen und umringt von koketten, lachenden, anmutig reizenden Mädchengestalten.
»Unser Rettungsboot taugt nichts, Mutting,« fuhr Guntram Krafft währenddessen etwas unwillig fort, »es ist ganz unzweckmäßig gebaut, — ein Kahn wie alle andern auch, der bei gutem Wetter zum Heringfangen noch zu brauchen ist, aber wenn's mal kräftig weht, doch ein ganz unzuverlässiges Ding ist! Grad' bei der drei- und vierfachen starken Brandung am Hamelwaat! — Über die äußerste Brandungslinie, wo sich die Wellen auf drei bis vier Faden brechen, kriegen wir's kaum noch hinaus. Hab' heute versucht, den Bug dem Lande zuzuwenden — hab' den Lenzsack nachbugsiert — damit ich das Boot zurück und zu gleicher Zeit recht vor der See halten konnte — wollte so das Beidrehen hindern — aber viel nützen tat's auch nicht! Ja, so ein gutes Peakeboot, welches sich aufrichtet wie ein Holundermännchen, mit einem schweren, eisernen Kiel, und vorn und hinten [S. 88] hohe, gewölbte Luftkästen ... ja, das könnten wir gebrauchen, damit ließe sich etwas ausrichten ...«
»Sicherlich!« — nickte Gundula zerstreut und überlegte, daß sich der junge Graf am besten in der Residenz neu ausrüsten müsse, — Anton verstand sich vorzüglich darauf ... der muß ihn einkleiden ...
»Ich finde, es ist eine Schande, daß gerade hier für unsere Küstenstrecke so gar nichts geschieht! Die nächste Rettungsstation hat gar keinen Wert für uns, denn wir können sie einfach nicht erreichen, wenn plötzlich Not an den Mann geht! — Es muß etwas hier geschehen, das Hamelwaat ist auch solch ein Brunnen, welcher erst zugeschüttet wird, wenn das Kind ertrunken ist! — Mir geht es schon so lange im Kopf herum, mich an eine zuständige Behörde zu wenden, daß sie uns eine regelrechte Rettungsstation bauen läßt — was meinst du, Mutter, was ich dazu tun könnte?«
Die Gräfin blickte auf, legte entschlossen die Hand auf den Tisch und sagte: »Du wirst in der Residenz am besten Gelegenheit haben, maßgebende Persönlichkeiten für deine Pläne und Absichten zu interessieren!«
»In der Residenz?!«
»Ich möchte dir heute eine Eröffnung machen, Guntram Krafft, dir einen Wunsch mitteilen, welchen du mir hoffentlich erfüllst?«
Er blickte erstaunt auf, nahm ihre Hand und küßte sie als stumme Antwort.
»Es ist Zeit, daß du, als jetzt großjähriger Mann, deinem Herzog vorgestellt wirst, daß du hochdemselben, als angestammter Vasall und Sproß eines seiner ältesten Grafengeschlechter, deine stete Treue und Dienstwilligkeit versicherst. Ich habe mich diesbezüglich mit einer Anfrage an das Hofmarschallamt gewandt und eine sehr huldvolle und gnädige Antwort Seiner Hoheit erhalten.
Man sieht deinem Besuch in der Residenz mit liebenswürdigstem Interesse entgegen und ist bereit, dich bei Hofe zu empfangen. Dein Aufenthalt wird sich über [S. 89] die Saison erstrecken, du wirst die Feste im herzoglichen Schloß und, falls es dir Freude macht, auch diejenigen der Hofgesellschaft mitmachen!«
Guntram Krafft sah weder sehr erfreut noch erregt bei dieser Eröffnung aus; er blickte die Sprecherin nur erstaunt an und sagte beinahe bedauernd: »Gerade im Winter bin ich am wenigsten abkömmlich hier! Denk an die Sturmflut vom 13. und 14. Februar vorigen Jahres! Wie gut war es, daß ich da auf dem Posten war! Aber so Gott will, haben wir gut Wetter in diesem Winter, und wenn du sagst, daß ich die Verpflichtung habe, mich meinem Landesherrn vorzustellen, gut, so gehe ich.« —
»Du wirst gleicherzeit Gelegenheit haben, eine Menge der hübschesten, liebenswürdigsten und vornehmsten jungen Damen kennen zu lernen — —«
Der junge Graf richtete sich höher auf, sein Blick haftete wie in starrem Forschen auf dem Antlitz der Sprecherin, über welches ein müdes, flüchtiges Lächeln glitt, ein Lächeln, wie er es noch nie darauf gesehen.
Flammende Glut stieg ihm in die Wangen, ein Ausdruck von Verlegenheit, wie bei einem jungen Mädchen, lag plötzlich auf dem schönen Antlitz, und langsam nach dem Bierglas greifend, fragte er zögernd: »Was meinst du damit, Mutter?«
»Ich meine und hoffe, daß mein Sohn mir vielleicht eine schöne, liebenswürdige Tochter aus der Residenz mitbringt, eine junge Bärin für das alte Nest, welche all das frohe, frische Leben in Hohen-Esp aufblühen läßt, welches du seit einiger Zeit so sehr hier vermißt hast!«
Einen Augenblick sanken die dunklen Wimpern tief über Guntram Kraffts Augen, dann schlug er sie voll auf und lachte die Gräfin mit strahlendem Blicke an.
»Das würdest du gut heißen?!«
»Es ist meine sehnliche Hoffnung und mein dringender Wunsch, daß du heiratest, mein Sohn! Deine finanzielle Lage ist durch Gottes gnädige Hilfe eine derartige [S. 90] geworden, daß du auch ein armes Mädchen heimführen kannst, vorausgesetzt, daß sie solide und anspruchslos genug ist, jetzt und für die Zukunft mit dir in unsrer lieben Waldeinsamkeit hier zu leben! Ein genußsüchtiges, eitles und oberflächliches Weib paßt nicht in die Bärenhöhle von Hohen-Esp, sie würde dein Unglück sein! Ich hoffe, daß du selbst an derartig veranlagten Damen keinen Geschmack findest, und werde dich noch, ehe du gehst, auf manches aufmerksam machen, was du zu beobachten hast. Es gibt auch in der großen, lebenslustigen Residenz genug sinnige, holde Mädchenblüten, welche ihr volles Genüge und ihr schönstes Glück in einem stillen Liebesleben, fernab von der lärmenden Landstraße, finden! — Ich habe dich durch fünfundzwanzig Jahre hindurch gelehrt, mit meinen Augen zu sehen, — gebe der barmherzige Gott, daß du in dem wichtigsten und entscheidendsten Augenblick deines Lebens nicht mit Blindheit geschlagen sein mögest!«
Die Gräfin hatte sich erhoben, sie breitete die Arme aus und zog ihren Sohn an die Brust, und als sie in seine großen, klaren Augen sah, welche aus dem kühnen, wettergebräunten Männerantlitz noch so offen, ehrlich, treu und wahr leuchteten wie Kinderaugen, da ging es wie ein qualvolles Aufseufzen durch ihre Seele. — »In Sturm und brandende Meereswogen habe ich dich ohne Zagen hinausfahren sehen; nun aber, wo du dein Lebensschifflein auf die glatte, spiegelnde Flut treibst, welche gleißt und glänzt und lockt wie ein Märchensee, — welche ihre Klippen unter schaukelnden Rosen versteckt und über deren Untiefen sich schneeweiße Nixenarme breiten, — jetzt zittere ich um dich, du furchtloser Seeheld, und flehe zu Gott, daß dieses Lebensmeer dir den Frieden schenken möge, den es meiner Seele geraubt hat!«
Alle Vorbereitungen zur Reise wurden getroffen, und es kam der Tag, an welchem Gundula im dunkel flatternden Mantel abermals auf dem Söller stand, um dem [S. 91] Wagen nachzublicken, welcher ihr Liebstes von dannen führte. —
Sorgenvoll schaute sie auf, ob die Sonne abermals für sie untergehen werde für ewige Zeit! — Aber nein, wohl peitschte der Sturm das schwere Schneegewölk gegen sie und verdunkelte sie für kurze Zeit, dann aber brach ihr Licht kraftvoll und siegreich hervor, wie endliches, segnendes Glück!
Schneegestöber!
Wie weiße Watte lag's auf der Erde, und darunter blankes Glatteis, so daß die Scharen der Straßenjungen mit lärmendem Hallo die breiten Trottoirplatten entlangschlidderten!
Die eleganten Villen hatten Hermelinmäntel umgeworfen und standen in ihrer fürstlichen Pracht noch stolzer und unnahbarer wie sonst inmitten der wohlgepflegten Gärten, aus denen die Tannen, Lebensbäume und Taxus wie grüne Butzemänner schauen, welche unter weißen Laken Versteck spielen! Schlitten flogen mit klingenden Schellen und prächtig geschmückten Rossen vorüber wie Märchenbilder, schöne Frauen in flockigen Pelzen saßen darin und neigten grüßend die Köpfchen, Damen und Herren in eleganten Eiskostümen eilten dem spiegelblanken See im Parke zu, und zwischendurch drängte und schwatzte und lachte der breite Strom der Passanten, welche Dienst, Geschäft oder Vergnügen hinaus in das lustige Winterwetter trieb!
Guntram Krafft schritt langsam, schier atemlos schauend die Parkstraße hinab.
Es war zum erstenmal, daß eine größere Stadt ihre reizbaren Bilder vor ihm entrollte und den Neuling durch ihren rastlosen Wechsel in die seltsamsten Gefühle versetzte.
Anfänglich hatte ihn das Lichtmeer geblendet, die Menschenmenge belästigt, die Masse der hohen Häuser in unangenehmer Weise bedrückt; er empfand nur das Ganze als ein schwindelerregendes Chaos und verstand es noch nicht, das Einzelne, Schöne und Interessante daraus zu erfassen. Aber er lernte es bald.
Anton war ein verständiger und guter Lehrmeister, ein Mensch, der, als ehemals so verwöhnter und welterfahrener Mann, es nun nach der langen Zeit tiefer Einsamkeit geradezu mit Entzücken genoß, noch einmal in das verlorene Paradies seiner Jugendträume zurückzukehren.
Antons Freude und Eifer steckte den jungen Gebieter bald an, und dieweil Graf Hohen-Esp während der ersten Tage noch ein gewisses Unbehagen und Mißtrauen jeglichem Neuen gegenüber empfand und seiner Mutter nur mit einem rechten »Stoßseufzer« über die schreckliche Rundreise durch alle Magazine und Läden berichtete, — so gewöhnte er sich doch bald an das so gänzlich veränderte Bild seiner Umgebung.
Immer leuchtender haftete sein Blick auf all dem Eigenartigen, immer zufriedener musterte er seine so ganz verwandelte äußere Erscheinung im Spiegel, — er lachte so heiter wie ein Kind, als Anton ihm schmunzelnd versicherte: »So, Herr Graf, nun können wir uns schon vor den Residenzlern sehen lassen, bei Gott, einen schmuckeren Junker können sie im ganzen Land nicht finden!«
Ja, er war eine imposante, auffallend schöne Erscheinung, der Bär von Hohen-Esp, aber trotz der modernen Kleider lag es doch wie ein undefinierbares, gewisses Etwas über ihm, was ihn fremd und ungeschickt zwischen den anderen Herren erscheinen ließ.
Eine unüberwindliche Befangenheit und das Ungewohnte der neuen Kleidung beeinflußten ihn, er tappte daher wie ein Mensch, welcher zeitlebens blind gewesen und nun mit einemmal sehen lernt.
Der Ausdruck seines Gesichts, welches sonst mit Adleraugen, kühn und trotzig in Sturm und wildes Wetter schaute, bekam etwas kindlich Naives, beinahe Verlegenes, wenn er durch die Menschenmenge schritt oder im Hotel an der Table d'hôte Platz nahm.
Gundula hatte ihren Sohn tadellos erzogen, seine Manieren waren vorzüglich, formell und ritterlich, er [S. 94] war weit entfernt davon, sich wie ein Hinterwäldler zu benehmen, und doch wirkte seine Art und Weise seltsam, weil ihn das Ungewohnte der Situation ungeschickt und linkisch machte.
Der junge Bär hatte wohl alles, was eine gute Erziehung fordert, gelernt, aber er hatte seine Kenntnisse nie unter fremden Menschen verwertet, und weil hier in der Stadt alles so völlig anders war wie daheim, so verlor er auch den Glauben an sich selber und seine Art, und diese Unsicherheit gab dem hünenhaften Recken etwas Linkisches und Unvorteilhaftes.
Die Gräfin hatte bestimmt, daß ihr Sohn sich erst zehn bis vierzehn Tage in der Residenz aufhalten solle, ehe er seine Besuche bei Hof und in der Gesellschaft abstattete. —
Sie fand es wohl selber notwendig, daß die weltfremden Augen des jungen Mannes sich zuvor an elektrisches Licht und den bunten Wirbel der Großstadt gewöhnten, daß er erst ein wenig auf dem Parkett gehen lerne, ehe er sich in den glitzernden Strom hineinwagte.
Und Guntram Krafft lernte gehen, von Tag zu Tag besser, so daß Anton schon recht zufrieden war und sagte: »In zehn Tagen wird im Schloß getanzt, Herr Graf, da müssen zuvor die Karten abgeworfen werden!«
»Aber ich kann nicht tanzen, Anton! — das, was wir daheim im Fischerdorf mal ›Tanzen‹ nannten, das paßt wohl schwerlich hierher in das Palais!«
»Macht nichts, Herr Graf! Sie sehen zu und plaudern mit den schönen jungen Damen!«
Guntram Krafft wurde dunkelrot.
»Ich fürchte, daß ich auch damit Fiasko mache! Bedenk, Alter, ich habe mich nie darin geübt, mit Damen zu plaudern! Von was soll ich sprechen? — Von Hohen-Esp? Das kennt ja niemand! Von all den Dingen, die ich aus den Büchern gelernt habe? Die werden den jungen Mädchen nicht gefallen! — Ich begreife nicht, [S. 95] woher meine Mutter den Mut nahm, mich ungelenken Bär hierher unter die Menschen zu schicken!«
»So etwas müssen Sie sich gar nicht einbilden, Herr Graf! Das findet sich schon alles, und Sie wären der erste junge Mann, welcher bei einem hübschen Fräulein nichts zu reden wüßte! Da fragen Sie nur: ›Lieben Sie das Meer, mein gnädiges Fräulein?‹ und wenn sie sagt: ›ja, gar sehr!‹ — dann erzählen Sie ihr von unserm blauen Wasser daheim und den Fahrten durch Nebel und Sturm, welche Sie darauf machten! Das hört eine jede gern!« —
Guntram Kraffts Augen leuchteten auf. Ja, das war eine gute Idee! Wenn er von seiner geliebten See sprechen konnte, trat ihm wohl schon ganz unwillkürlich das Herz auf die Zunge!
Eine freudige Zuversicht überkam ihn, der naive Glauben eines redlichen Herzens, welches noch davon überzeugt ist, daß man auf jede freundliche Frage auch eine freundliche Antwort erhält!
Just diese Gedanken waren es, welche den Grafen beschäftigten, als er die Parkstraße entlang promenierte und mit hellem Blick auf das muntere Leben im Schneegestöber blickte. —
Er lachte über ein paar Jungens, welche sich schneeballten, und als er »unversehens mit Willen!« auch einen der weißen Grüße gegen die Schulter klatschen fühlte, da blieb er stehen und amüsierte sich noch mehr.
Helles Schlittengeläute erklang hinter ihm, doch wandte er in seinem lebhaften Schauen kaum den Kopf danach, bis ein lautes Aufschnaufen, Klirren und Hufschlagen, sowie die schrillen Angstrufe etlicher Passanten ihn jählings zurückschauen ließen.
Ein sehr eleganter Schlitten kam herangesaust, gezogen von zwei Vollblütern unter langwehenden Schneedecken.
Da plötzlich gleitet das Handpferd auf dem Glatteis, von dem der Wind momentan den Schnee hinweggeweht hat, aus, es stürzt wie gemäht zusammen, schlägt [S. 96] wild um sich, reißt auch das andere Roß nieder, und der Schlitten, welcher in voller Fahrt gegen den Knäuel anfährt, schlägt gegen den hochgeschaufelten Schneewall zur Seite.
Der Kutscher ist von seinem kleinen Rücksitz herabgeschleudert, und die Dame, welche in dem Schlitten sitzt, scheint momentan unter demselben begraben.
Von allen Seiten springen Männer heran und wenden sich in der ersten Bestürzung den Pferden zu, sie zu fassen, abzusträngen und weiteren Schaden zu verhüten — Guntram Krafft aber steht mit schnellen Schritten neben dem Schlitten, packt ihn mit kraftvollen Händen und richtet ihn ohne jede weitere Unterstützung auf, als sei er ein Puppenspielzeug! Dann greift er abermals zu und richtet die Dame, welche halb vergraben in dem Schnee liegt, in seinen Armen empor.
Er spricht kein Wort dabei, aber seine Blicke beobachten prüfend ihre Bewegungen, ob sie sich verletzt habe.
Sie steht auf den Füßen und tritt zur Seite, sie hebt die Arme und schüttelt die weißen Flockenballen aus dem Pelz und von dem Köpfchen.
»Nein, es ist nichts gebrochen, weder Arm noch Bein!« — atmet der Graf auf, — er sagt es mehr zu sich, wie zu der Fremden; diese aber hat es doch gehört, sie reißt den schneebedeckten Schleier von dem Hut und drückt den Muff trocknend gegen das Antlitz.
»Nein, Gottlob, — ich bin mit heiler Haut davongekommen!« sagte sie mit überraschend ruhiger und fester Stimme; sie scheint nicht sehr ängstlich oder nervös zu sein, sondern den kleinen Unfall höchst gelassen hinzunehmen. »Ich danke Ihnen, mein Herr, für Ihre liebenswürdige Hilfe!« fügt sie hinzu, und als Guntram Krafft höflich den Hut zieht, blickt er zum erstenmal in das Antlitz der jungen Dame. Und sein Blick wird groß und starr im Schauen, sein Atem stockt plötzlich und das Blut steigt heiß in seine Wangen empor. Solch ein reizendes Gesichtchen hat er nie zuvor gesehen.
Wie ein Wunder scheint es vor ihm aufzutauchen und all die Träume zu verwirklichen, die ihm oft vorgegaukelt haben, wenn er in Journalen und in illustrierten Werken daheim solch ein anmutig-schönes Mädchenhaupt mit nachdenklichen Blicken betrachtete.
Wie weich, rosig und frisch das zarte Oval, wie entzückend geformt das Näschen und der stolze, schwellendrote Mund, wie kraus die lichtbraunen Löckchen, welche unter der zurückgeschlagenen Krämpe des federumwallten Hutes hervorquellen, übersät von Schneesternchen, welche zu schmelzen beginnen und in blinkenden Tropfen über der Stirn zittern, wie bei einer Nixe, welche der Flut entsteigt!
Und Nixenaugen sind es auch, welche zu ihm emporglänzen in langem, forschendem Blick, Augen, so hell, so groß, so flimmernd in einer undefinierbaren Farbe, als habe sich blau-grünes Seewasser unter den dunklen Wimpern zum Stern geformt!
Ja, so müssen wahrlich die Nixen aussehen, welche die weißen Arme nach den jungen Fischern heben, welche es ihnen antun mit dem wundersam schillernden Blick, daß sie sich ihnen nachstürzen in die geheimnisvolle Tiefe, auf Leben und Sterben.
Guntram Krafft war zwischen Fischern in weltfremder Einsamkeit aufgewachsen, die Lieder von der Meerfrau, die Sagen von den Nixen und Wasserfeien hatten schon seine Wiege umklungen und durch sein Leben fortgetönt in Ernst und Scherz, sie waren ihm lieb und vertraut wie alles, was teilhatte an dem großen, wogenden Weltmeer, dem leuchtenden Ring, welcher seine Heimat umschloß.
Wenn er auf stiller, sonnenbeglänzter Flut in seinem Boot lag, dann stieg plötzlich ein reizendes Mädchenhaupt aus dem Wasser, so, wie er es in poetischer Schönheit in seinen Büchern daheim geschaut, das trug den Kranz von Schilf und Seerosen im Haar, Korallen und Bernstein auf der weißen Brust, — die Wassertropfen rieselten ihm funkelnd über die Stirn, und die Augen, [S. 98] die großen, hellen, farblosen Augen, die schimmerten wie durchsichtiger Kristall! —
So, just so, wie im Angesicht der Fremden, welche er soeben schaut!
Und diese Entdeckung verwirrt ihn und macht ihn, den erst so kraftvoll Unerschrockenen, wieder linkisch und befangen.
Er reißt abermals den eleganten, spiegelblanken Filz von dem lockigen Haar und stottert ein paar unverständliche Worte, — aber sein Blick hängt wie gebannt an ihrem Antlitz, so naiv und ehrlich in seinem staunenden Entzücken, daß die junge Dame sich lächelnd abwendet und neben die Pferde tritt, welche mit Hilfe von untergeworfenen Decken wieder auf die Füße gebracht sind.
Auch der Kutscher ist herbeigehinkt, klopft den Schnee von seinem Mantel und untersucht das Geschirr.
»Na, das hat man alles noch gut gegangen, gnädiges Fräulein! Nicht mal ein Strang oder Riemen ist gerissen, und die Pferde sind auch mit dem Schreck davongekommen! Steigen Sie man ruhig wieder ein, es ist doch noch eine ganze Strecke bis nach Haus!«
Guntram Krafft ist zur Seite getreten, er merkt es erst an dem erstaunten Blick eines Dienstmannes, daß er den Hut noch immer in der Hand hält.
Hastig setzt er ihn auf, — seltsam, daß er das ganz vergessen hatte, daß er in dem eisigen Wind nicht fror! —
Sein Blick hängt noch immer wie gebannt an der schlanken, schmiegsamen Gestalt der jungen Dame, welche den gelbflockigen Pelz wieder um die Schultern wirft. Wie weicher Flaum umschmeichelt er ihr rosiges Gesicht. — Sie wendet sich dem Schlitten zu, um einzusteigen, und abermals tritt der junge Graf herzu, ihr beinahe schüchtern die Hand zu bieten, um ihr behilflich zu sein.
Wieder trifft ihn ihr Blick, — sie lächelt.
Aus Höflichkeit, gleichsam, um für seine Hilfe dankend zu quittieren, legt sie für eine Sekunde die zierliche Hand [S. 99] in die seine und schwingt sich voll sicherer Grazie in den Schlitten.
Sein Antlitz strahlt, sein Blick taucht in den ihren, er sieht sie an wie ein Kind, welches voll ehrlicher Unschuld sagt: »Wie bist du so schön! wie gefällst du mir so gut!«
Und die junge Dame, welche so viel Welt- und Menschenkenntnis besitzt, liest das auch sehr klar und deutlich von seinem hübschen Gesicht. Sie sieht ein wenig erstaunt aus, sie mustert seine elegante, hochmoderne Erscheinung, welche so gar nicht zu dem naiven Wesen des blonden Riesen paßt, sie lächelt abermals freundlich und anmutig, neigt das Köpfchen dankend und wendet sich zu dem Dienstmann, welcher hilfsbereit einen kleinen Reisekoffer und eine Plaidrolle, welche in den Schnee gefallen, in den Schlitten zurücklegt. —
»Ich habe kein Geld bei mir, — kommen Sie und holen Sie sich nachher bei Papa ein Trinkgeld!« sagt sie freundlich.
»O bitte, gnädiges Fräulein, — hat nichts auf sich! Ist man gut, daß alles so abgegangen ist!«
Und dann ein Zungenschnalzen des Kutschers, die Pferde bäumen ein wenig aufgeregt, ziehen an und sausen mit dem Schlitten davon.
Die Leute, welche sich angesammelt haben, stehen noch einen Augenblick und schauen dem schellenklingenden Spuk nach, dann zerstreuen sie sich schnell — und auch der Graf von Hohen-Esp schreitet mechanisch weiter.
Sein Blick folgt dem Schlitten, sein Antlitz leuchtet wie verklärt.
Er möchte die Augen schließen, um nur noch ihr Lächeln zu sehen!
Er hat keinen andern Gedanken fürerst wie nur das Lächeln — diesen sanften, weichen Druck ihrer kleinen Hand.
Ihm ist, als wehe noch der feine, diskrete Veilchenduft, den ihre Gestalt ausströmte, als er sie im Arm hielt, zu ihm auf.
Veilchen! Veilchen im Winter!
Trug sie deren am Kleide? Er sah sie nicht. Vielleicht war es auch nur solch ein herrliches, duftendes Wasser, welches Anton ihm auf den Toilettentisch gestellt.
Der Einsiedler von Hohen-Esp kannte keine eleganten Parfüms, diese waren unerlaubter Luxus in der Bärenhöhle gewesen, seit Gräfin Gundula jeden Heller sparte, um Goldstücke zu erwerben.
Anfänglich hatte Guntram Krafft »das Zeug« verächtlich zurückgewiesen.
Es deuchte ihm zu weichlich für einen Mann, wenn er sich mit dem Duft einer Blume schmücken wollte; — aber für eine Dame ... ja, das ist etwas anderes!
Wie hatte er es an seiner Tante, — an seiner Bonne geliebt, wenn sie im Frühling Veilchen und im Sommer eine Rose an der Brust trugen! Seine Mutter stellte die Blumen nur in ihr Zimmer, denn sie duldete keine Farbe an ihrer düsteren Witwentracht, aber selbst in dem stillen, freudlosen Gemach der Gräfin hatte ihn der Blumenduft angeheimelt und erfreut.
Und nun zog es wie eine süße, zauberhaft süße Woge um das reizendste junge Weib, welches er je mit Augen geschaut, um eine menschgewordene Melusine, welche ihm aus dem fernen Weltmeer hierher gefolgt ist, damit er nicht allein sei in der großen, unverstandenen Welt. —
Erst viel später kam ihm der Gedanke: »Wer mag sie gewesen sein?«
Der Dienstmann schien sie zu kennen, es war töricht, daß er ihn nicht nachträglich um den Namen der Unbekannten befragt hatte! Er ist noch gar zu ungewandt in solchen Sachen, und er würde gewiß sehr verlegen geworden sein, sich als derart neugierig zu zeigen.
Ob er sie wohl einmal wiedersieht?
Gewiß! —
Warum hätte sie sonst seinen Weg gekreuzt? Die Residenz ist ja nicht allzu groß, man begegnet sich wohl auf den Hofbällen, bei Gesellschaften oder in dem Theater, welches der Graf gestern besuchte, ohne daß die Oper [S. 101] einen besonderen Eindruck auf ihn machte. Er wird aber doch noch einmal hingehen, in der Hoffnung, seine reizende Nixe wiederzusehen.
Sie war sein einziger Gedanke während des ganzen Tages, und sie folgte ihm auch bis in den Traum hinein.
Daheim träumte der Bär von Hohen-Esp fast nie.
Die schwere körperliche Arbeit, die kräftige Seeluft schaffen eine gesunde Müdigkeit, einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Hier kämpft er nicht mit Sturm und Wetter, hier schafft er nicht voll eisernen Fleißes in Wald und Feld, — hier schaut er nur wirre, bunte, flüchtige Bilder, hier führt er nur in trägem Nichtstun ein Schlaraffenleben, hier blickt er nur — wie der verzauberte Fischer im Märchen — in wasserklare, flimmernde Rätsel.
Und als er schläft, rauschen die weißschaumigen Wogen um ihn her, und sie ... sie, die lieblichste aller Meerfeien, steigt empor aus der Tiefe und schüttelt lächelnd die blinkenden Tropfen von der Stirn.
Dann hebt sie die Arme und lockt und winkt ihm, und als er regungslos, wie verzaubert steht und sie anstarrt, da greift sie in das Wasser und hebt eine köstliche Perlenschnur, die glänzt wie der weiße Wellenschaum, und ihre Augen sind so klar und hell und tief wie die grünschillernde See, auf welche man auch hinabblickt, ohne den Grund zu schauen. Sein Herz erzittert in heißem, sehnendem Verlangen, — er neigt sich voll Leidenschaft und greift nach den Perlen, aber seine Blicke versinken in den grundlosen Nixenaugen. — — —
»Töv min Söhn«, hört er plötzlich eine rauhe Stimme hinter sich, — eine schwielige Hand packt seinen Arm und reißt ihn zurück.
»Dat lat man sin, min Jong,« sagt der alte Krischan Klaaden, »Perlens bedüten all Tränen!«
Da erwacht Guntram Krafft, reißt halb zornig, halb erschrocken die Augen auf und starrt in das fremde Hotelzimmer, durch dessen Fenster ein halbes Frühdämmern bricht, und er atmet tief auf und denkt: »Wie seltsam! [S. 102] Ich habe geträumt, wie ich es ehemals als Kind getan! Das kommt von dem müßigen Leben und dem närrischen Zeug, welches man hier zu sehen bekommt!« —
Es schlägt sieben Uhr, eine Stunde, welche in Hohen-Esp den jungen Gebieter noch nie in den Federn angetroffen, — warum soll er aber schon hier aufstehen? —
Der Tag ist ohnedies so lang, wenn man nichts zu tun hat.
Der Graf verschlingt die Hände unter dem Haupt und schließt die Augen, — er will weiterträumen von der wunderlieblichen Meerfrau, welche ihn mit dem Lächeln und den Augen der fremden Dame angeschaut.
— — An dem darauffolgenden Tage geht er noch mehr denn sonst spazieren.
Es ist rauhe Schneeluft, und die verwöhnten Leute der Residenz sitzen hinter dem Ofen und ahnen gar nicht, wie anders der Nord-Nordost über die See heult, wie er seine Eiskörner gegen die Burgfenster von Hohen-Esp jagt und dem jungen Bären zuruft: »Komm heraus aus deiner Höhle und wage ein lustig Tänzlein mit mir!«
In dicke Pelze gehüllt, schreiten hier in den geschützten Straßen die Herren so eilig aus, als fürchteten sie, in Eiszapfen verwandelt zu werden, und Damen sieht man fast gar nicht, selbst auf dem See im Park, wo der Graf während längerer Zeit Schlittschuh gelaufen, zeigte sich kaum eine der graziösen Gestalten in flottem Eiskostüm.
Guntram Krafft schaut so aufmerksam ringsum, er wandert ruhelos einher und sucht jemand, ohne es sich selber einzugestehen, und wenn ein Schlitten klingelt, so bleibt er unwillkürlich stehen und schärft den Blick.
Seine Visiten wird er am morgenden Tage fahren, und Anton versichert, daß durch die alsdann erfolgenden Einladungen reiche Abwechslung in dieses langweilige Leben kommen werde.
Bisher hat sich der Bär von Hohen-Esp vor diesen Einladungen gegrault, wie vor einer schweren unangenehmen Pflicht, welche er erfüllen muß, weil sie von [S. 103] ihm gefordert wird; jetzt plötzlich denkt er mit mehr Interesse daran, ja, er sieht in ihnen die einzige Möglichkeit, jener entzückenden Fremden noch einmal begegnen zu können.
An der Straßenecke hängt in dem vergitterten Kasten der Theaterzettel aus.
Zwar hat sich der Graf nach »Aïda« vorgenommen, nicht wieder dieser für ihn so unverständlichen Kunst zu huldigen, jetzt aber bleibt er plötzlich stehen und blickt nach dem weißen Papier hinüber.
»Der fliegende Holländer!« liest er, und mit wenigen Schotten überschreitet er den schneeverwehten Damm und studiert überrascht das Personenverzeichnis.
Der fliegende Holländer!
Wie oft hat er nicht an einsamen langen Winterabenden drunten im Dorf in »der blauen Woge« mit den Fischern zusammengesessen, wenn irgendeiner seiner Jugendgespielen oder ein Anverwandter der Dörfler nach langen Seefahrten heimkehrte und nun bei dampfendem Pfeifchen und einem Glase Grog sein »Garn spann!«
Ja, da wurde von manch verwegenen Abenteuern erzählt, von manch tollkühner Fahrt durch Wetter und Sturm, wenn die Segel verloren und der Mast gebrochen war, — und die Erlebnisse der Jungen machten die Alten beredt, so daß sie mit geheimnisvollem Augenzwinkern vom Klabautermann und dem »fliegenden Dutschman« berichteten!
Und nun sollte jener grausige und doch so poesievolle Spuk, welcher schon sein Kinderherz höher schlagen und seine Augen so oft in Nebel und jagendes Gewölk spähen ließ — hier auf der Bühne lebendig werden?
Er sollte von seinem sicheren Logenplatz aus im gemalten Wogenschwall wohl ein Schiff von Pappe und Leinewand schauen, und den bleichen Mann vom Tatenschiff bei elektrischem Licht an sich vorüberziehen sehen? —
Guntram Krafft lachte leise auf, und seine Augen blitzen.
Nein, beim »fliegenden Holländer« darf er nicht fehlen!
Es wird zwar ein armseliges Possenspiel sein für einen Mann, welcher so oft in Todesnot auf rollenden Seen die Segel gesetzt hat und hocherhobenen Hauptes auf den unheimlichen Gesellen wartete, dessen Anblick das sichere Verderben bedeutet! Aber gleichviel!
Er sehnt sich nach Wogen und Wind, er sehnt sich nach seinem heimatlichen Meer, in dessen Tiefe Perlen glänzen, und aus dessen kühler Flut die Nixen steigen, ihn mit kristallenen Augen anzulächeln, so wie sie ... jene Fremde ... die ihm doch bisher das einzig Traute und Bekannte hier in der Fremde deuchte!
Und der Graf von Hohen-Esp schreitet gedankenvoll weiter durch die menschenleeren Straßen, nach dem Theater, um sich einen Platz zu sichern.
Der Wind fegt den Schnee von den Dächern, und ein rostiger Torflügel kreischt in den Angeln, das klingt wie Möwenschrei vom fernen Strand ... und Krischan Klaaden steht wieder neben ihm und legt warnend die Hand auf seinen Arm.
Schon geraume Zeit vor Beginn der Vorstellung hatte sich Graf Hohen-Esp in dem Theater eingefunden.
Er war der erste Gast im Haus, fast allein in der Loge, und betrachtete voll nachdenklichen Interesses das Gemälde des Vorhangs, die geschmackvolle Pracht des Goldstucks ringsum. Als Anton ihm zum erstenmal ein Billett in die Fremdenloge besorgt hatte, war der so sparsam gewöhnte Einsiedler entsetzt über den hohen Preis und fragte: »ob denn nicht noch billigere Plätze vorhanden seien?«
Anton aber schüttelte ebenso respektvoll wie energisch den grauen Kopf und antwortete: »Nein, Herr Graf! Es ist Befehl der gnädigsten Frau Gräfin daheim, daß Euer Gnaden hier in allen Dingen standesgemäß auftreten. Wir haben es ja jetzt wieder dazu, an Geld ist kein Mangel mehr, seit die Güter in dero Besitz sind, und wenn in der Burg so sparsam gewirtschaftet wird, so ist das um des Prinzips willen, — wenn es gilt, den Namen zu repräsentieren, soll es mit dem altgewohnten Glanz geschehen, — so haben es die Frau Gräfin-Mutter bestimmt.«
Guntram Krafft war es seit Kindesbeinen gewöhnt, einen Befehl der Mutter blindlings zu erfüllen, und so saß er auch jetzt wieder in der Loge, und wenn er diesen Platz auch noch viel zu prunkvoll für seine schlichten Ansprüche fand, so freute er sich doch, daß er ihm ein so unauffälliges Ausschauen nach allen Seiten gestattete.
Sobald eine Tür klappte, richtete sich sein Blick wie in ungeduldigem Forschen den neu Eintretenden zu, und so viel anmutige junge Mädchen und selbstbewußte [S. 106] schöne Frauen auch erschienen, Guntram Krafft sah jedesmal enttäuscht aus. —
Mehr und mehr Menschen drängten sich nach ihren Plätzen, immer bunter, immer farbenprächtiger ward das Bild ringsum, — auch die Loge füllte sich mit Gästen.
Ein paar höhere Offiziere mit ihren Damen nahmen neben dem Grafen Platz, die Erscheinung des fremden Herrn mit schnellen Blicken musternd und alsdann hinter dem Fächer in unauffälliger Weise nur das eine Wort flüsternd: »Der Parzival!«
Ein Lächeln, Raunen, Flüstern — —
Ja, der moderne Parzival, welchen die besorgte Mutter so ängstlich gehütet, welchen sie in tiefer Waldeinsamkeit erzog und nun doch hinaus in die gehaßte Welt schicken muß, weil das Herz des jungen Recken voll glühender, tatendurstiger Ungeduld nach Aventure verlangt.
Die ganze Residenz wußte es bereits, daß der Graf von Hohen-Esp im Hotel Quartier genommen und gekommen war, die Feste der Saison zu besuchen, um sich eine Burgherrin für die ferne Bärenhöhle zu erwählen.
Voll lebhaften Interesses sahen Mütter und Töchter der guten Partie entgegen, und manch neugierig forschender, oder zärtlich lächelnder Blick streifte den jungen Mann, wenn er seine Spaziergänge durch die Straßen machte und sich so völlig fremd und unbekannt in der Stadt wähnte.
Auch jetzt waren fast alle Blicke auf den Bären von Hohen-Esp gerichtet, welcher ahnungslos über die Menge hinwegblickte und nur eine einzige unter allen suchte.
Er bemerkte es auch nicht, wie eine junge Dame in der Nebenloge, welche sich lebhaft mit den Insassen seiner Loge begrüßt hatte, die Blicke immer wieder auf ihn heftete und sichtlich bemüht war, seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Wie schwer aber war das bei einem derart naiven und harmlosen Menschen wie diesem modernen Parzival!
Er hörte mit halbem Ohr der Begrüßung und Unterhaltung zu, vernahm, daß der eine der Offiziere sie [S. 107] »gnädigste Komtesse« — eine der Damen als »liebste Thea« anredeten, daß man über einen Ball bei dem Kammerherrn von Stach sprach und fragte, warum eigentlich Fräulein von Sprendlingen nicht zugegen gewesen sei ...
Dann aber setzte die Musik ein, und ihre wundervolle Eigenart interessierte den Grafen mehr, wie das verstummende Geplauder neben ihm.
Soeben wollte sich seiner eine gewisse Mißstimmung über die Enttäuschung, welche er erfahren, bemächtigen, aber der eigenartige Seemannsruf, das so faszinierende: »Ho — Hoho johe!« — riß ihn empor aus seinen Gedanken, atemlos hinabzulauschen, wo aus Flöten und Geigen schier spukhaft der ganze Zauber des Seemannslebens emporrauschte.
Und als sich der Vorhang hob — da erhob sich ganz unwillkürlich auch Guntram Krafft und schaute starren Blickes, tief aufatmend, voll unendlichen Staunens auf das mächtig wogende Meer, auf welchem das Schiff des fliegenden Holländers heranfliegt!
Und nun er selber, der verwünschte, ruhelose Mann, just so, wie sein altes, verräuchertes Bild in der »blauen Woge« daheim hängt, so bleich, wie Krischan Klaaden ihn deutlich gesehen hat, als er in wilder Sturmnacht am Kap Horn an ihnen vorüberraste!
»Blutrot die Segel — schwarz der Mast! —« Und alle Segel vollgesetzt, so wie das bei einem Schiff aus Holz und Eisen unmöglich gewesen, kein Licht an Bord — keine Mannschaft auf Deck — kein Pfeifen und Schrillen um Rahen und Wanten — still und geisterhaft wie ein Schatten flog's vorbei, — Elmsfeuer blitzen, und nur auf dem Vorderschiff eine düstere Gestalt mit schneeweißem Gesicht ... so ... just so, wie sie jetzt drunten auf der Bühne steht!
Ho — hoho johe! —
Ist dies wahrlich nur eine Komödie?
Ihm ist's, als wehe die kalte, scharfe Seeluft in die Loge empor, — ihm ist's, als woge das Meer vor [S. 108] seinen Blicken ... ihm ist's, als stehe er selber am Strand und schaue aus nach jenem Schiff, von welchem die sehnsüchtigen Klänge über die Wasser ziehn ... »Blas lieber Südwind!...«
Guntram Krafft richtet sich höher auf, wie wildes Heimweh überkommt es ihn, voll sehnsüchtigen Entzückens leuchten seine Augen! — Er möchte die nervigen Arme recken und dehnen, möchte aus rauher Seemannskehle den Fremden auf der Bühne zujauchzen: »Ho ho johe! ich hol' euch über!! —«
Vergessen hat er, wo er ist, er weiß es nicht, daß ein Lichtstrahl aus den Kulissen hervor just sein weit vorgeneigtes, begeistertes Antlitz trifft, er ahnt es nicht, wie schön ihn die Erregung macht, wie auffällig er sich in diesem Augenblick benimmt.
Er weiß es auch nicht, daß zwei Mädchenaugen in langem Schauen auf ihm haften, daß es in ihnen aufleuchtet wie geheime Leidenschaft und brennendes Interesse, — seine Nachbarin, Komtesse Thea, welche keinen Blick von ihm wendet.
In die gegenüberliegende Loge sind leise zwei Damen getreten und haben unbemerkt Platz genommen.
Die Jüngere ist es, die mit langem Blick den Grafen von Hohen-Esp mustert und ihrer Nachbarin zuflüstert: »Sieh, Mama, da drüben steht der fremde Herr, welcher mich gestern unter dem Schlitten hervorgeholt hat!«
Frau von Sprendlingen, die noch immer auffallend schöne und elegante Frau des seit etlichen Jahren pensionierten Generals, hob die Lorgnette.
»Ah! Das interessiert mich! Eine auffallend schöne und stattliche Erscheinung! Er scheint ja überaus begeistert von der Aufführung — sogar von diesem ersten langweiligen Akt! — Sonst bekommen die Herren in der Regel erst Augen und Ohren, wenn die Senta erscheint! — Sieh nur diesen Ausdruck in dem Gesicht deines Retters! Nächstens fällt er auf die Bühne herunter! Seine Augen leuchten ja förmlich! Wer mag es sein, hörtest du es nicht, Gabriele?«
Die junge Dame zuckte die Achseln. »Nie sollst du mich befragen ...«
»Je nun, man wird es erfahren!«
»Wenn er in der Residenz bleibt, sicher!«
»Er scheint gut situiert, sein Anzug ist tadellos —«
»Aber nicht schick!« —
»Das liegt nur an der ganzen Art und Weise! Seltsam, der blonde Riese scheint etwas derb in seinen Bewegungen —«
»Ein echter Krautjunker! Du glaubst nicht, wie verlegen er gestern wurde, als er mir geholfen! Kein Schuljunge errötet mehr so intensiv wie er!«
»Das ist kein Fehler!«
»Aber auch kein Vorzug!«
»Männertugend ist stets ein Vorzug, und zwar ein recht seltener!«
»Geschmackssache! Es ist leider eine unumstößliche Tatsache, daß die amüsantesten und nettsten Herren meist diejenigen sind, welche schon mit einem Fuße in Amerika stehen!«
»Amüsant mögen sie sein, — aber nicht heiratsfähig!«
»Was liegt daran?«
»Sehr viel, wenn man nicht eine alte Jungfer werden will!«
Gabriele zuckte mit stolzem Lächeln die schönen Schultern. »Als ob man nur heiratete, um versorgt zu sein und unter die Haube zu kommen! Arme Mädchen sind wohl darauf angewiesen! — Gott sei Dank, daß ich in der Lage bin, frei nach Herz und Geschmack einen ... einen recht amüsanten Mann zu wählen!«
Frau von Sprendlingen atmete etwas beklommen auf und zupfte nervös an den echten Spitzen ihres Kleides.
»Welch eine Torheit! Gerade du, die so sehr verwöhnt ist und so ungeheure Ansprüche an das Leben stellt, mußt eine sehr brillante Partie machen. Du machst dir total falsche Vorstellungen von unserm Vermögen ...«
»O nein! Daß ich keine Millionärin bin, weiß ich, [S. 110] aber daß ich genug habe, um auch einen armen Mann heiraten zu können, davon bin ich überzeugt!«
»Und wenn du dich irrst?«
»Dann bleibe ich lieber frei und unabhängig, ehe ich einen Mann freie, der mir nicht sympathisch ist!«
»Ist dir jener Fremde drüben sympathisch?«
Gabriele lehnte das Köpfchen gelangweilt zurück. »Vorläufig ist er mir unendlich gleichgültig! Zwar sieht der ›blonde Riese‹, wie du ihn zu nennen beliebst, aus, als könne und müsse er ganz Hervorragendes leisten, und du weißt, daß ich die Menschen nur nach Verdienst schätze!«
»Ah ... die ideale Marotte! Die deutsche Maid, welche sich nur für Helden begeistern kann! Schade, daß es deren heutzutage zu wenig gibt!«
»Es gibt deren!«
»Etwa Herr von Heidler?«
»Wenn einer — dann er!«
»Welche Illusionen!!« Frau von Sprendlingen lachte etwas nervös: »Ich hörte bisher nur, daß er recht flott und leichtsinnig sei!«
»Und daß er der beste, kühnste und unerschrockenste Reiter, der tüchtigste Offizier im ganzen Regiment ist, hörtest du noch nicht, Mama?«
»Das wohl auch, aber um mir zu imponieren, ist es noch nicht genug!«
»Also bist du es, die so hohe Anforderungen an das moderne Heldentum stellt!« Gabriele hielt den Fächer ein wenig tiefer, und ihr Blick flog zu der ersten Reihe des Parketts hinab, in welcher die jungen Offiziere der Garnison mit Vorliebe ihre Plätze wählten.
»Mir genügt es vollkommen, wenn ein junger Mann seinen guten Willen beweist, sein Bestes für Fürst und Vaterland zu geben. Ich bin eine begeisterte Patriotin, ich taxiere den Mann nur nach dem, was er für Reich und Volk leistet, — das bestimmt seinen Wert!«
»Aber was leistet Heidler?« zuckte Frau von Sprendlingen ein wenig ironisch die Achseln.
»Fürerst genug, indem er Soldat ist, sich durch seine Bravour auszeichnet und andern ein gutes Beispiel gibt! Daß er eine vorzügliche Karriere macht, es zu den höchsten Ehren bringt, ist selbstredend. Sollte aber ein Krieg kommen, hat er jederzeit Gelegenheit, seinem Kaiser mit Leib und Seele, Gut und Blut zu dienen!«
Und gleichsam, als ahne der junge Offizier die ehrenvolle Konduite, welche ihm der schöne Mund droben ausstellte, wandte Herr von Heidler, der elegante Dragoner, das Haupt und blickte mit einem mehr kühnen und siegesgewissen, wie verbindlichen Lächeln zu der Loge empor.
Gabriele errötete ein klein wenig und nickte ihm wie einem guten Bekannten zu, war es doch stadtbekannt, daß Herr von Heidler ihr eifriger Courmacher war, welcher schon während der beiden letzten Winter die Schleppe der jungen Dame durch den Goldstaub der Saison getragen. Der junge Dragoner war eine auffallende Erscheinung, nicht hübsch und — wie viele behaupteten — auch nicht sehr sympathisch, aber auf jeden Fall recht interessant.
Schick und vornehm, sportlich trainiert bis zur Magerkeit, mit einem sehr schmalen, scharf geschnittenen Gesicht, glatt rasiert bis auf den englischen kleinen Bart an den Wangen, dazu zwei sehr tiefliegende, scharfe, lebhaft blitzende Augen und einen Mund, dessen geneigte Winkel ihm etwas Arrogantes gaben — das war Herr von Heidler.
Das krause, aschblonde Haar war nicht kurz geschnitten, sondern lockte sich in zwei kleinen Tollen über der Stirn, und das Monokel schaukelte sich meist nur auf der Brust, ohne benutzt zu werden.
Die Damen schwärmten für den außerordentlich amüsanten Spötter, welcher rücksichtslos die Cour machte, seinen scharfen Witz auf Kosten anderer spielen ließ und durch Wort und Blick zu faszinieren verstand, — die kleinen Skandalgeschichten, welche man sich über [S. 112] seinen Leichtsinn und sein Glück bei den Frauen erzählte, verliehen ihm seltsamerweise in den Augen der Großstädterinnen noch einen Reiz mehr!
Die Herren urteilten weniger günstig über ihn, nannten ihn einen frivolen und kaltherzigen Egoisten und bewunderten höchstens den außerordentlichen Schneid und die beinahe brutale Kühnheit, mit welcher er sich auf der Rennbahn und dem Exerzierplatz einen Namen gemacht hatte.
Die Unterhaltung der beiden Damen in der Loge war sehr leise geführt worden, — sie waren ungeniert, da sie sich allein befanden, auch übertönte die Musik das Flüstern hinter dem Fächer.
Mutter und Tochter kannten den fliegenden Holländer zur Genüge, betrachteten die Oper nur als angenehme Zerstreuung und wären heute abend überhaupt nicht hier erschienen, wenn nicht die Hofdame der Prinzeß Amalie am Nachmittag vorgefahren wäre, mit der Nachricht, daß Hoheit Fräulein Gabriele heute abend gern in der Teepause im Opernhause sprechen möchte, um direkte Nachrichten von dem X'er Hofe zu erhalten. Man wisse, daß Fräulein von Sprendlingen bei der Hofmarschallin daselbst zu Gast gewesen und gestern zurückgekehrt sei.
Der erste Akt war vorüber, langsam sank der Vorhang nieder, und die Klänge der Musik verhallten.
Guntram Krafft stand noch so völlig unter dem Eindruck des Gehörten, daß er regungslos verharrte und zur Bühne hinabstarrte, als könne sein scharfes Auge die neidische Hülle durchdringen.
Erst der tosende Beifall des Hauses ließ ihn betroffen aufschauen, und als er das Haupt wandte und sein Blick mechanisch die gegenüberliegende Loge streifte, zuckte er plötzlich zusammen, und auf sein erst so frei und edel blickendes Antlitz trat wieder der Zug beinahe scheuen Entzückens, mit welchem er schon einmal in die Augen seiner Unbekannten gestarrt!
War es Spuk und Zauber?
Da glänzten ihm plötzlich die klaren Nixenaugen wieder entgegen, da schimmerte das lockige Haar unverhüllt über der Stirn, und weiße, flaumige Spitzen rieselten wie Wasserschaum um den schlanken Hals.
Der Graf hatte das Empfinden, als müsse er mit jubelnder Bewegung zu ihr hinübergrüßen, aber er wagt es nicht, er sieht aus wie aus Stein gemeißelt, und nur sein ehrliches Kinderauge spiegelt all sein Entzücken über dies unverhoffte Wiedersehen.
Die ältere Dame hebt die Lorgnette und sieht ungeniert zu ihm herüber, und um die Lippen seiner Meerfei spielt ein schnelles Lächeln.
Sie sieht ihn an, groß und gelassen, und dann schaut sie an ihm vorüber und nickt Komtesse Thea an seiner Seite zu, — die Offiziere in der Loge und deren Damen tauschen ebenfalls Grüße herüber und hinüber, und einer der Herren sagt laut und lebhaft: »Ah scharmant! Da ist ja Fräulein von Sprendlingen wieder zur Stelle! Es ging auch wahrlich nicht länger ohne sie, man ist so sehr an ihre reizende Erscheinung gewöhnt, daß der Ballsaal nicht komplett schien, wenn sie fehlte!«
»War Ihre Freundin Gabriele verreist, Komtesse?«
»Ja, Exzellenz! Sie war fahnenflüchtig! Hat ihre Tante Grüdner, die Hofmarschallin am Hofe zu X., anläßlich deren Silberhochzeit besucht!«
»Sie kann noch nicht lange zurückgekehrt sein?«
»Seit gestern mittag, gnädigste Frau! Hatte sogar noch ein Eisenbahnunglück hier in der Parkstraße zu überstehen —«
»Eisenbahnunglück? Parkstraße? bless me ! Sie sprechen in Rätseln, bester Baron!!«
»Na, einigen wir uns auf ein Schlittenunglück, Exzellenz! Der ›Schwan‹ kippte um, und Schön-Gabrielchen lag weich und warm ...«
»Im Schnee?!«
»O nein, an der Brust eines kühnen Retters, glaube, der alte Dienstmann Saul stürzte sich ihr nach auf Leben und Sterben!«
»Pfui, wie unpoetisch! Glücklicherweise scheint alles sehr gut abgelaufen?«
»Tadellos!«
»Wer weiß, ob nicht ihr Herzchen einen Knax davongetragen hat! Wenn der alte Saul sie im Arme hielt ...!!«
»Ungefährlich, Exzellenz! Da es noch früh am Tage war, hatten seine Augen noch nicht den unheilvollen denaturierten Spiritusglanz!« —
»Welch ein Glück!« —
»Aha — der Kammerherr erscheint drüben an ihrer Seite ... sie erhebt sich ...«
»Man hat sie wohl zu den hohen Herrschaften in das Teezimmer befohlen?« —
» Allright , — sie geht!«
»Wie schade, — es war ein so schöner point de vue für uns!« —
»Ein Glück für Ihr Herz, Baron! Bedenken Sie, daß die Kleine in festen Händen ist!«
»Hört, hört!« —
»Festen Händen?«
»Nun ja! Der alte Saul?!« —
Leises, übermütiges Lachen ringsum, nur Graf Hohen-Esp steht schwer atmend und lächelt nicht einmal.
Er hat Wort für Wort von der Unterhaltung gehört, obwohl er keinen Blick von dem reizenden Mädchenhaupt drüben gewandt.
Fräulein von Sprendlingen, — Gabriele heißt sie! — Nun hat er ihre Spur gefunden, nun weiß er, daß er sie wiedersehen, ihr sicher in den Salons begegnen wird.
Sein Herz schlägt aufgeregt in der Brust, das Blut brennt ihm in den Wangen.
Gabriele!
Wie durch Zauberspuk hat sie es ihm angetan, so wie die Nixen aus der Flut tauchen und den Seemann mit kristallenen Augen anlächeln, dann ist es um ihn geschehen. [S. 115] —
Sie hat mit dem Kammerherrn ein paar Worte gewechselt, dieser küßt die schmale Hand der Mutter und bietet der Tochter galant den Arm, sie hinauszuführen.
In das Teezimmer der hohen Herrschaften, richtig, der Hof hat die große Mittelloge, wie fast immer nach den Aktschlüssen, verlassen. Der Bär von Hohen-Esp setzt sich mechanisch wieder nieder, und als er aus seinen tiefen Gedanken emporschaut, weil die Unterhaltung um ihn her wieder laut und lebhaft wird, da sieht er direkt in das blasse, schmale Gesichtchen der Komtesse Thea, deren tiefumschattete dunkle Augen mit dem Ausdruck einer Madonna auf ihn gerichtet sind.
Er erschrickt beinah und hat das Gefühl, als müßte er ein Kompliment vor ihr machen, doch entsinnt er sich noch rechtzeitig, daß er ihr noch gar nicht vorgestellt ist.
»Ich habe Gabriele sehr lieb! Sie ist meine vertrauteste Freundin!« sagte die junge Dame just, — wie es ihm scheint, mit ganz besonderem Nachdruck, und bei Guntram Krafft wecken die Worte: »Ich habe Gabriele sehr lieb!« einen warmen Widerhall im Herzen.
Interessierter wie zuvor blickte er die Sprecherin an. —
»Nun, dann muß man sich also mit Ihnen recht gut stellen, Komtesse Sevarille, wenn man einen Verbündeten sucht, um das Herz der spröden Freundin zu erobern?«
Und abermals nickte die Genannte voll besonderen Nachdrucks und sagt, den Blick auf den Hohen-Esper gerichtet: »Das will ich meinen! Der Weg zu Gabrieles Herzen führt hart an mir vorüber! Wer zu ihr gelangen will, kann und darf mich nicht umgehen!«
Sie scherzt anscheinend, und dennoch haben ihre Worte einen seltsam ernsten Klang in Guntram Kraffts Ohr.
Er blickt sie in seiner naiven Weise an, als habe sie nur zu ihm gesprochen, — hocherfreut und dankbar zugleich.
Die dunklen, sanften Augen haben etwas sehr Vertrauenerweckendes für ihn, es muß herrlich sein, mit [S. 116] diesem anscheinend sehr liebenswürdigen und gütigen Mädchen über Gabriele zu sprechen.
Sagte sie nicht selbst: »Ich habe meine Freundin sehr lieb?«
Je nun, so muß ihr doch das Glück derselben ganz besonders am Herzen liegen!
Die Musik intoniert von neuem, und unruhig schaut der Graf nach seinem reizenden Gegenüber aus, — umsonst, der Platz an der Seite der Frau von Sprendlingen bleibt leer. Jetzt treten die hohen Herrschaften wieder ein, und hinter ihnen — richtig — da erscheint Gabriele und nimmt neben einer der Hofdamen Platz.
Erst nach der nächsten Pause kehrt sie an die Seite der Mutter zurück.
Mit strahlenden Augen begrüßt sie Guntram Krafft — doch seltsam ... sie, die ihm noch vorhin ein so anmutiges Lächeln spendete, blickt jetzt plötzlich über ihn hinweg, als existiere er nicht mehr für sie.
Die großen, hellen Nixenaugen blicken so kalt — so unheimlich kalt, und die feinen Lippen wölben sich so stolz und hochmütig, als habe sie der blonde Fremdling hier drüben nie und nimmer im Arm gehalten.
Was mag ihr plötzlich in den Sinn gekommen sein?
Der Bär von Hohen-Esp ist so in Schauen und Sinnen versunken, daß er für nichts anders mehr Augen und Ohren hat, — er bemerkt es nicht, wie Komtesse Thea keinen Blick von ihm wendet und ihn scharf beobachtet, wie das sanfte Madonnengesicht plötzlich einen sehr scharfen, ironischen Ausdruck bekommt, wie es in den schwärmerischen Augen aufglimmt. Er sieht nur das kühle, stolze Nixengesicht in der Loge drüben — und als die Senta auf der Bühne drunten mit weicher Stimme klagt: »Doch nie ein treues Weib er fand!« da geht es plötzlich wie ein Erschrecken durch das Herz des weltfremden Mannes.
Ein treues Weib! —
Wie oft hat er daheim im Ernst und Scherz aus den rauhen Seemannskehlen gehört:
Sein Blick schweift wieder hinüber wie in angstvollem Forschen, und ihm ist's, als ob sich im Dämmerlicht des verdunkelten Hauses ihr schneeweißes Antlitz ihm zuwende.
Lächelt sie?
Ja, sie lächelt wie zuvor ... und ihre kleine, weiche Hand liegt wieder mit sanftem Druck in der seinen, er atmet den süßen Veilchenduft, welcher aus ihrem Haar emporweht.
Wie erlöst von bangem Zweifel atmet er auf.
Wie kommt er dazu, sie eine Nixe zu nennen? Nur um der wundersamen, lichtklaren Augen willen? —
Das war eine sonderbare Idee von ihm.
Gott sei gelobt, sie ist eine Erdentochter von Fleisch und Blut, und in ihrer Brust schlägt ein warmes, treues Herz, für den, welcher es zu eigen gewinnen wird!
Warum ist er hier?
Wie der fliegende Holländer, der einsame, weltfremde und verlassene, kam auch er an Land, um ein Weib zu freien, — und so wie jener auf der Bühne drunten eine todgetreue Seele findet, so wird auch er sein zaubrisch Lieb sich heimholen. —
Ho — hohojohe! —
Horch, den Matrosenjubel! Horch, die brausende See und den tosenden Sturm!
Wieder weht es um seine Stirn wie heimatliche Luft, sein Herz wird weit und groß in heißem Sehnen nach dem Meer und all seinem herben Zauber!
Soll er heimkehren zu ihm? —
Lächelnd schließt er die Augen.
Nein! Mit noch zaubervolleren, tausendfachen Banden hält es ihn in der Fremde fest!
Während Guntram Krafft mit sehnsüchtigem Blick nach dem Logenplatz, welchen Gabriele am Arm des Kammerherrn verlassen, hinüberschaute, war Fräulein von Sprendlingen in das Teezimmer, welches hinter der großen Hofloge lag, eingetreten.
Prinzeß Amalie blickte ihr bereits erwartungsvoll entgegen.
Die hohe Dame, welche schon seit Jahren eines Knieleidens wegen nur mit großer Anstrengung zu gehen vermochte und meist in ihrem kleinen, eleganten und leicht beweglichen Rollstuhl gefahren wurde, nickte dem jungen Mädchen in ihrer herzgewinnenden Weise zu und fesselte sie sogleich an ihre Seite, nachdem Gabriele von den anwesenden Fürstlichkeiten durch ein paar huldvolle Worte der Begrüßung ausgezeichnet war.
Fräulein von Sprendlingen stand, die servierte Tasse Tee in der Hand, neben der Prinzessin und erzählte in ihrer frischen, anmutigen Art von den erlauchten Anverwandten der hohen Frau, welche sie während ihres Besuches bei der Hofmarschallin am Hofe zu X. noch vor wenigen Tagen gesehen und gesprochen hatte.
Da gab es viel zu berichten: von der jungen, liebreizenden Hoheit, welche diesen Winter zum erstenmal tanzt und auf einem Kostümfest im Ministerhotel als »Rautendelein« ganz besonders herzgewinnend aussah; von den jungen Prinzen, welche der Frau Herzogin bereits über den Kopf wachsen, sehr liebenswürdig und begabt sind, auch auf künstlerischem Gebiet, namentlich in der Musik, schon Hervorragendes leisten; von diesen und jenen alten Hofbeamten, welche schon zur Zeit der Prinzeß Amalie ihre Stellung innehatten und der [S. 119] hohen Frau ein ganz besonders treues und verehrungsvolles Andenken bewahren.
Wieviel hat sich aber auch gerade in dem letzten Jahrzehnt verändert!
Manch alte treue Seele ist heimgegangen, manch Glück ist zerschellt, manch Unglück hat sich noch in letzter Stunde gewendet, — die Jungen wachsen heran, und »neues Leben blüht aus den Ruinen!«
Die kurze Pause hatte kaum ausgereicht, all die vielen Erinnerungen neu aufleben zu lassen. Gabriele bleibt auf Wunsch der Frau Prinzessin in der großen Loge.
Und als sich die Herrschaften während der nächsten Pause abermals zurückziehen, wendet sich der Herzog mit einer Ansprache an Fräulein von Sprendlingen und verwickelt sie momentan in eine Unterhaltung.
Als er sich just voll liebenswürdigen Interesses nach dem Unfall erkundigt, welchen sie mit dem Schlitten gehabt, klingt das leise, beinahe übermütige Lachen des Prinzen Karl Emil an ihr Ohr, welcher mit einer der Hofdamen plaudert.
»Ich glaube, Gräfin, wir alle sind gespannt, den ›weisen Toren‹ kennenzulernen!« sagt er gerade mit vernehmlicher Stimme, »denn solch eine Bekanntschaft macht man nicht alle Tage, höchstens in Bayreuth!«
Der Herzog wendet den Kopf: »Von welchem ›weisen Toren‹ sprichst du?«
»Von dem modernen Parzival!« lacht der Prinz, »welcher heute abend dem fliegenden Holländer eine gewaltige Konkurrenz macht und das Publikum mehr interessiert wie der bleiche Kapitän auf der Bühne drunten!«
»So, so! — Der Graf von Hohen-Esp! — Der dürfte freilich die Attraktion der diesjährigen Saison sein! — Und ›Parzival‹ nennt Ihr ihn? — So übel nicht, wenngleich der Hof des Königs Amfortas recht wenig Ähnlichkeit mit dem unsern hat!«
»Parzival kam auch in Klingsors Zauberschloß und sah dort Blumenmädchen, die beinahe so schön waren [S. 120] wie unsere Balldamen!« neckte der Prinz mit einem Seitenblick auf Gabriele.
»Dürfen wir ... oder müssen wir jetzt erröten, Hoheit?« —
»Beides, mein gnädiges Fräulein, es steht Ihnen eins so gut wie das andere!«
»Laßt sehen, ob es den modernen Parzival von Burg ›Hohen-Esp‹ fesselt!« scherzte der Herzog und fuhr, direkt zu Fräulein von Sprendlingen gewandt, fort: »Was sagen Sie dazu, Gnädigste, daß die eifersüchtige Mutter Herzeleide, alias Gräfin Gundula, endlich den so lang versteckten Sohn freigibt?« —
»Ich höre es soeben mit Staunen, königliche Hoheit, daß Graf Hohen-Esp hier in der Residenz anwesend ist!«
»Sogar in nächster Nähe zu schauen! Bemerkten Sie noch nicht in der Loge, Ihnen gegenüber, einen blonden Mann, welcher nicht im mindesten nach einem Hinterwäldler ausschaut?!«
Gabriele blickte den Sprecher mit weit offenen Augen an. —
»Jener Fremde ... jener ist es, königliche Hoheit?«
»Gewiß! Sie erwarteten auch eine ganz andere Erscheinung in dem Einsiedler aus der Bärenhöhle?«
»Findest du wirklich, Vater, daß er so völlig von Europens Kultur beleckt ist?« lachte Prinz Karl Emil mit zwinkerndem Blick: »Der tadellos zugeschnittene Rock und die Krawatte à la fin de siècle machen es nicht allein! Ich finde, der Graf sieht trotz all des Goldschnitts, mit dem man ihn ›neu eingebunden‹ hat, doch aus, wie ein etwas verstaubter Foliant, welchen man aus wurmstichigem Archiv holt!«
Leises Gelächter, die Herzogin und einer der Flügeladjutanten sind herzugetreten und beteiligen sich voll Interesse an dem Gespräch, sie lachen ebenfalls über den drolligen Vergleich des Prinzen, nur der Herzog zuckt etwas ungeduldig die Schultern.
»Motiviere deine Ansicht!« sagt er kurz, »was mutet [S. 121] dich ›verstaubt‹ an der blühenden, reckenhaften Gestalt des jungen Mannes an?«
»Sein Anzug nicht, das haben wir bereits konstatiert!« fährt der Prinz mit lustig blitzenden Augen fort, »ich bin sogar überzeugt, daß Parzival das modernste Parfüm ins Schnupftuch goß, welches jemals Blumenmädchen fabrizierten. Aber ... es ist der Ton, welcher die Musik macht — und die Art und Weise, wie ein Mensch seine Kleider trägt, ist maßgebend für seine Persönlichkeit!«
»Ganz recht, — wie aber trägt Graf Guntram Krafft seinen Rock?«
»Wie ein Mann, der sich höchst fremd und höchst unbehaglich in der neuen Fasson vorkommt!«
»So? Das ist mir noch nicht aufgefallen!«
»Beobachte ihn! Jede seiner Bewegungen ist geniert, ungeschickt, — in Wahrheit ›bärenhaft‹! Man sieht, daß der junge Einsiedler es gewohnt ist, mehr mit Keulen dreinzuschlagen, als wie mit dem Operngucker zu hantieren!« —
»Mich überrascht am meisten der Ausdruck seines Gesichtes!« schaltete die Herzogin ein, »fraglos ist der Graf ein schöner Mann! Seine Züge haben etwas Edles, ich möchte beinahe sagen Heldenhaftes! Aber ihr Ausdruck nimmt ihnen vollständig diesen Charakter!«
»Er ist von all dem Neuen befangen!...«
»Und das wohl auch mit Recht! Seine Augen haben einen schier kindlichen Blick, so naiv wie er schaut kaum noch ein Backfischchen drein! — Was er denkt und fühlt, spiegelt sich auf seinem Antlitz, das beobachtete ich während der Vorstellung. Wenn er bemerkt, daß sich aller Augen aus dem Publikum auf ihn richten, wird er verlegen wie ein schämiges Jüngferchen, — ich möchte darauf wetten, daß er sogar errötet!« —
»Dies alles deucht mir kein Fehler!«
»Gewiß nicht, — aber auch kein Vorzug für einen Mann!« —
»Wir müssen bedenken, wie groß der Umschwung der [S. 122] Verhältnisse für den Ärmsten ist! In tiefster Einsamkeit aufgewachsen, steht er urplötzlich in dem bunten hochflutenden Strom großstädtischen Lebens, — sonst gewöhnt, stets die strenge, energische Mutter zur Seite zu haben, welche alles für ihn bedenkt und leitet ... ist er plötzlich ganz allein auf sich selbst angewiesen und muß sich ohne Kompaß und Steuer durch die Flut völlig fremder Verhältnisse lavieren ...«
»Er steht daheim vollständig unter dem Einfluß der Mutter?«
»Selbstverständlich! Er wird der Gräfin jetzt wohl mit Ausübung aller praktischen Arbeit zur Hand gehen, aber sicherlich Frau Herzeleide ebenso als ›hohe Obrigkeit‹ ansehen, wie Parzival der Ältere, ehe ihn sein Tatendrang hinaus in die Welt führte!«
»Die Verhältnisse sollen ja geradezu glänzende geworden sein! Man sagt, die Gräfin habe sich vollkommen arrangiert und das verlorene Vermögen sozusagen zurückgewonnen!«
»Hut ab! Sie ist eine vortreffliche Frau, welche jedermann die höchste Achtung abnötigt! Was diese Bärin für ihr Junges getan, macht ihr so leicht kein Mann nach!«
»Sie muß eine geradezu geniale Landwirtin, eine geborene Agrarierin sein! Allerdings hat sie auch viel Glück bei der Sache gehabt! Schon der Umstand, daß der alte Wattenburg seinen Sohn verlor und nun nicht mehr viel Interesse am Landbesitz hat! Dem allein verdankt sie es doch, daß sie Walsleben so ›portionsweise‹ zurückkaufen kann!«
»Nächstens geht das Gut wohl wieder völlig in ihren Besitz über! Der alte Inspektor hat mal kürzlich unserem Domänenrat erzählt, die Gräfin hätte es schon vor zwei Jahren kaufen können, die Barsumme läge bereit; aber sie ist so sehr vorsichtig, daß sie sich nie völlig verausgabt, sondern stets mit allen möglichen Eventualitäten rechnet, Mißernten usw., wo es gilt, die Löcher mit Kapital stopfen!«
»Sehr klug und vernünftig gedacht! — Ich bin sehr gespannt, den Sohn kennenzulernen, ob er von den großen Anlagen der Mutter geerbt hat!«
»Vorläufig machen Mutter und Sohn ja zusammen noch eine ›Zehne‹ aus!« zuckte Prinz Karl Emil voll Humor die Achseln.
»Was heißt das?«
»Nun — sie ist die eins — und er ... die Null!« —
Abermals ein leises Gelächter, nur der Herzog klappte mit verräterischem Zucken um die Lippen den Sohn mit dem Handschuh gegen den Arm und schalt: »Unverbesserlicher Spötter! Bei dir und deiner beklagenswerten Mama ist es freilich umgekehrt!«
In den Korridoren ertönte das Klingelzeichen, die hohen Herrschaften traten nach sehr huldvoller Verabschiedung in die Loge zurück, und Gabriele eilte, die Begleitung des Kammerherrn dankend ablehnend, zu Frau von Sprendlingen zurück.
Ihr Atem ging schnell und unruhig, ihr Herz schlug aufgeregt in der Brust.
Sie setzte sich schweigend auf ihren Platz nieder, und ein finsterer, beinahe verächtlicher Blick streifte den Grafen von Hohen-Esp, welcher sich mit aufleuchtenden Augen vorneigte und durchaus kein Hehl von seinem Entzücken machte, sie wiederzusehen. Also das Muttersöhnchen aus der Bärenhöhle war der mutige Retter, welcher mit so gewaltigen Fäusten ihren Schlitten ausgerichtet hatte, daß der Kutscher gar nicht genug davon schwärmen konnte, war der höfliche Mann, welcher sie emporgehoben und mit solch unverhohlener Bewunderung in ihr Antlitz geblickt hatte, daß sie lächeln mußte!
Der Bär von Hohen-Esp! Jener Held, welcher wegen einer kaum beachtenswerten Verletzung am Fuß nicht Soldat ward, welcher sich feige und schlapp hinter der Mutter Schürze verkroch, anstatt voll kühnen Wagemuts hinaus in die Welt zu stürmen, um Gut und Blut zu Kaisers Ehren zu wagen!
Und den nennen sie einen Parzival? Sie möchte schallend [S. 124] auflachen, und beißt doch wie unter physischem Schmerz die Zähne zusammen.
Nein! Parzival war zwar auch ein Kind weltabgeschiedenster Einsamkeit, welches die Mutter gegängelt hatte, solange sein Arm noch schwach und sein Schwert noch kurz war, — als aber dem jungen Löwen das Haus zu eng ward, als er die königliche Kraft in Herz und Faust verspürte, da riß er sich los von dem unwürdigen Gängelband, von Weiberrock und Schürze, sattelte hochgemut sein Roß und zog aus, in seines Königs Landen Frau Aventure die Fehde anzusagen!
Parzival, der weise Tor, ward ein Held, in dessen markiger Hand der Speer, der heilige, leuchtete; was aber ist Graf Guntram Krafft? Wahrlich ein Bär, welcher kampfmutig hervorbricht aus der Höhle, Sieg und Beute zu suchen? —
Nein, wahrlich nicht!
Er sitzt hinter dem Ofen und läßt Weiberhände für sich arbeiten, er erntet nur die Saat, welche die fleißige Mutter für ihn ausgestreut.
Und was tut er für Kaiser und Reich?
Nichts!
Für wen setzt er seine Bärenkräfte ein?
Nur für sich selbst!
Sagt er es sich nicht selbst, daß er als Mann, — als Edelmann heilige Pflichten zu erfüllen hat?
Nein!
In behaglicher Ruhe genießt er sein inhaltloses Leben, läßt das Schwert an der Wand rosten und stellt das Schild der Ahnen in die Rumpelkammer!
Was will er hier?
Sich gar ein Weib suchen, welches sein Schlaraffenleben mit ihm teilt?
Ein verächtliches Zucken um Gabrieles Lippen.
Auch eine solche wird sich wohl für ihn finden; es gibt Mädchen, welche wenig, sehr wenig von einem Mann verlangen, lediglich einen Trauring.
Gehört Gabriele von Sprendlingen zu diesen bescheidenen Seelen?
Nein, und tausendmal nein! In ihrer Brust glüht ein Feuer heiliger Vaterlandsliebe und stolzer Begeisterung, vor dessen Flammenschein selbst die reckenhafte Bärengestalt des reichen Grafen von Hohen-Esp wie ein Schatten kläglich zusammenschrumpft!
Ja, kläglich!
Gabriele ist wie eine Elfengestalt winzig und zierlich neben dem Riesen Guntram Krafft, und doch deucht es ihr, als blicke sie tief auf ihn herab, so tief, daß er gar nicht mehr für sie existiert!
Als die letzten Musikklänge verrauscht sind und der tosende Beifall sich gelegt hat, erhebt sich das junge Mädchen und schreitet hastig dem Ausgang zu; für den Grafen von Hohen-Esp, welcher noch immer zögernd in der Loge steht und zu ihr hinüberschaut, hat sie keinen Blick mehr.
In der großen Halle drunten stehen die jungen Offiziere und plaudern mit den Damen, welche hier das Vorfahren der Wagen erwarten. Auch Leutnant von Heidler ist Gabriele sporenklirrend entgegengetreten, küßt Frau von Sprendlingen die Hand und erkundigt sich nach dem Befinden der Damen.
Er hat Gabriele bereits auf dem Bahnhof begrüßt — daß seine Anwesenheit daselbst ein Zufall gewesen, hat er weder behauptet, noch hat es die junge Dame angenommen; auch jetzt blickt er ihr mit den kühnen, siegesgewissen Augen, wie in selbstverständlicher Vertraulichkeit in das reizende Antlitz und versichert ihr, daß die Residenz schauderhaft öde ohne sie gewesen sei und daß es eine ganze Menge zu erzählen gäbe! Gestern habe er mit etlichen Kameraden eine — soit dit Schnitzeljagd auf Schnee und Glatteis geritten, um die Dauerhaftigkeit der Gäule auszuprobieren, die guten Resultate habe man selbstredend mit etwas Alkohol gefeiert, und zwar sei die Sitzung so ausgedehnt worden, daß er nicht mehr dazu gekommen sei, einen von ihm beabsichtigten [S. 126] Besuch in Villa Monrepos zu machen. Ob er denselben jetzt noch nachholen und eine Tasse Tee bei den Damen trinken dürfe?
Frau von Sprendlingen hat durchaus nichts dagegen, obwohl ihr Lächeln ein wenig kühler scheint, wie sonst; Gabriele aber errötet unter dem zarten Spitzenschleier, welcher ihr Köpfchen verhüllt, und die Nixenaugen blitzen voll Interesse auf.
»Einen Übungsritt à la Heidler?« ruft sie lebhaft, »davon müssen Sie erzählen! Wie geht es Ihrer ›Gudrun‹ — hat sie das Glatteis mit bekannter Verve genommen?« —
»›Gudrun‹ hat brillant durchgehalten, aber Massenbach hat Pech mit seinem ›Slusohr‹ gehabt, — nahm einen Graben ... gegen die Sonne ... war natürlich geblendet und sprang zu kurz ...«
»O weh! Und ›Slusohr‹?« —
»Kocht bereits im Wurstkessel!«
» Pour condoler! « —
»Dem Besitzer des seligen Rosses oder denen, die es verspeisen müssen?!«
Sie lachen und bemerken kaum die hohe Männergestalt, welche dicht neben ihnen an einer Säule steht und keinen Blick von Gabriele verwendet. Nur Frau von Sprendlingen sieht den Erben von Hohen-Esp und zeigt ihm ein ganz besonders freundliches Gesicht.
Der Wagen wird gemeldet, Herr von Heidler bietet der Baronin den Arm, und Gabriele folgt.
Guntram Krafft schreitet so dicht an ihrer Seite, daß der lichtblaue, mit weißem Tibet besetzte Samt ihres Theatermantels ihn streift.
Die junge Dame bemerkte es nicht.
Wieder weht der süße Veilchenduft zu ihm empor und benimmt ihm schier den Atem, — der Einsiedler aus der Bärenhöhle hat nur Augen und Sinn für die schlanke Mädchengestalt neben ihm, — aber das stolze Antlitz wendet sich nicht ein einziges Mal ihm zu.
Er steht und sieht, wie der Dragoneroffizier sie in den [S. 127] Wagen hebt und dann selber einsteigt, — die Pferde ziehen an, und neue Wagen und Rosse drängen vor das Portal.
Wie im Traum schreitet der junge Graf in die kalte Winternacht hinaus.
In seinem Kopf wirbelt es von neuen, wundersamen Eindrücken.
Sein Herz schlägt heiß und ungestüm in seiner Brust; wie eine leidenschaftliche Glückseligkeit, eine jauchzende Lebensfreude kommt es über ihn. Morgen wird er seine Besuche fahren, er wird all die vielen, heiteren, freundlich lachenden Menschen kennenlernen, — auch Gabriele von Sprendlingen, — und dann ist er ihr kein Fremder mehr, er darf sie grüßen, darf mit ihr plaudern ... und sie wird ihn mit den süßen, rätselhaften Augen ebenso anblicken, wie vorhin den Dragoner ...
Noch nie hat sich der weltfremde Mann so frohen Herzens zum Schlafe niedergelegt, wie an diesem Abend, — vor seinen Ohren rauschen die Wogen des Meeres, klingen die Zauberweisen des »Fliegenden Holländers« — Sentas Antlitz trägt Gabrieles Züge, und sie breitet die Arme nach ihm aus und singt leise wie ein Hauch: »Ach, wann wirst du, bleicher Seemann, sie finden? Betet zum Himmel, daß bald ein Weib — die Treue ihm hält!« — Hohojohe! —
Die Villa Monrepos, welche der pensionierte General von Sprendlingen bewohnte, lag in einer jener stillen Vorstadtstraßen, in welchen nur Equipagen und elegante Passanten verkehren, wo kunstvolle Eisengitter die prächtig gepflegten Gärten einhegen und weiße Steinbilder aus Taxus und Lebensbäumen ragen.
Über den verschneiten Gartenweg eilte eine junge Dame in fußfreiem Tuchkostüm, welches die sehr kleinen Juchtenstiefelchen genügend sehen ließ, ein weiches Pelzkäppchen auf dem lose gepufften Haar, und die dicke lange Boa von rötlich-hellem Pelz um den zierlichen Hals geschlungen, zog eilig die Glocke und ging mit kaum [S. 128] merklichem Gruß an dem Portier vorüber, um die teppichbelegte Treppe emporzuhasten.
Sie schien kein seltener Gast bei Fräulein von Sprendlingen zu sein, denn der Diener öffnete sogleich wie ganz selbstverständlich die weißlackierten Flügeltüren und sagte mit kurzer Verbeugung: »Darf ich bitten, in das Musikzimmer, Komtesse, — das gnädige Fräulein spielen soeben!«
»Hm!« sagte Gräfin Thea von Sevarille, den Gruß ebenso unhöflich erwidernd wie zuvor denjenigen des Portiers, staubte die letzten Schneesternchen von dem Muff und schritt durch eine Flucht beinahe übereleganter Salons nach dem kleinen, turmähnlichen Anbau, in welchem Gabriele ihren Flügel aufgestellt hatte.
Fräulein von Sprendlingen klappte die Noten zu und erhob sich.
»Endlich, Thea! Es war mir schon ganz unheimlich, daß du noch nicht hier warst! Während meiner Abwesenheit hat sich doch gewiß mancherlei hier ereignet, was wichtig genug ist, um rapportiert zu werden! Komm mit hinüber, ich finde es heute kalt hier!«
»Dein eisiges Herz kühlt die Temperatur zu schnell ab!« lachte Thea und legte den Arm um die Schultern der Freundin. »Mir ist es recht, warm zu sitzen, ich bin bis zum Eiszapfen gefroren!« —
Sie traten in das lauschige Boudoir, in welchem sie ehemals schon als Backfische so oft beisammen gesessen; Komtesse Sevarille warf die Pelzjacke und Boa ab, zog den weißen Schleier über das spitze, scharfmarkierte Näschen empor und ließ sich wohlig vor dem Kamin in eins der hellseidenen Sesselchen sinken.
»Neuigkeiten!« lachte sie; »wenn du gehst, Liebste, steht die Zeit bei uns still, — und sowie du wieder auf der Bildfläche erscheinst, häufen sich die Ereignisse! Nummer 1! Du bist mit dem Schlitten umgekippt?« —
» En passant , — es war nicht der Rede wert!«
»Es genügte, um dich einem höchst gefährlichen Retter in die Arme zu führen!!« [S. 129] —
Thea dachte an den alten Dienstmann, von welchem man im Theater gesprochen, und belachte ihren harmlosen Witz sehr vergnüglich; um so mehr überraschte sie der plötzlich so ganz veränderte Ausdruck in dem schönen Antlitz ihres Gegenübers.
»Ein gefährlicher Retter?« spottete Gabriele, und ihre Augen wurden so groß und durchsichtig, als wollten sie einen Blick bis in ihr tiefstes Herz gestatten. »Wenn mir alle Menschen so ungefährlich wären wie der Bär von Hohen-Esp, so wäre es gut um mich bestellt!«
Schier atemlos starrte Thea sie an. »Der Bär von Hohen-Esp?« wiederholte sie gedehnt.
»Verlangst du, daß ich ihn voll ersterbenden Respekts Herr Graf nenne?!« —
»Der Hohen-Esper rettete dich?«
Gabriele zuckte beinahe ungeduldig die Achseln.
»Mein Gott, du fragst mich ja nach meinem Retter, und da muß ich dir doch begreiflich machen, daß nichts an der ganzen Sache gefährlich war, weder er noch der umgekippte Schlitten, noch die durchgehenden Pferde! Nichts von alledem hat eine Spur hinterlassen!«
Einen Augenblick starrte Gräfin Sevarille, noch aufs höchste betroffen, in das lodernde Kaminfeuer, dann faßte sie sich schnell und nickte sehr lebhaft: »Du sollst mir die ganze Begegnung mit dem sagenhaften Menschen einmal genau beschreiben! Ihr lerntet euch also bereits kennen?«
»Ebenso wie man sich mit einem Eckensteher kennenlernt, der zuspringt, wenn einem der Schirm hinfällt!«
Thea lachte gedämpft. »So stellte er sich nicht vor?« —
»Nein! Ich glaube nicht, daß der Einsiedler aus dem Hinterwald schon Knigges Umgang mit Menschen studiert hat!«
»Vorzüglich! Du bist fabelhaft amüsant, Gabriele! Und sehr gut warst du nie auf diesen Bär zu sprechen! Weißt du noch, wie du damals — hier an derselben Stelle — einen feierlichen Eid schwurst, den taten- und [S. 130] ruhmlosen Grafen nie zu erhören, und wenn er zehnmal dir zu Füßen liegen sollte?«
»Nein, diesen Schwur vergaß ich nicht und gedenke ihn auch unter allen Umständen zu halten!« spottete Fräulein von Sprendlingen mit demselben verächtlichen Zucken um die Lippen wie am Abend zuvor im Theater. —
»Wenn du gehofft hast, der Schlittenunfall sei das erste Kapitel zu einem Roman gewesen, so irrst du gewaltig!«
Theas Augen schillerten, sie rückte eifrig näher und verschlang die Hände um das Knie.
»Ich bezweifle es nicht! Ein Charakter wie du wechselt nicht die Ansichten wie die Handschuhe, — das wäre erbärmlich! Es wäre nur recht bedauerlich, wenn der arme Parzival sein Herz ernstlich an dich verlöre!«
»Warum nennt ihr alle diesen Herrn im Frack und Zylinder ›Parzival‹? Verzeih' die Offenheit, aber ich finde es als eine grobe Geschmacksverirrung!«
»Warum das? — Stimmt das Schicksal des Hohen-Esp nicht genau mit dem von König Gamurets Sohn überein?«
»Das ich nicht wüßte!«
»Lies einmal die deutschen Heldensagen nach! Gamuret fiel im Kampf, hinterließ seine Gemahlin Herzeleide, welche an allem Glück ebenso verzweifelte, wie die Gräfin Gundula, und einen ganz jungen Sohn, den er ebensowenig heranwachsen sah, wie weiland Graf Friedrich Karl seinen Erben in der Bärenburg! Und so steht es nun wörtlich bei Gustav Schalk zu lesen: ›O‹, schluchzte Herzeleide und drückte den schönen Knaben Parzival voll Zärtlichkeit an das Herz, ›O, sähen dich, du liebes Kind, die Augen deines Vaters, wie würden sie so innig lachen ob deiner Schönheit! Wehe, wehe uns beiden, daß er dahinfahren mußte! Dich aber will ich behüten vor solchen Fährlichkeiten. Du sollst nicht ein Ritter werden! Fern von der Welt sollst du aufwachsen und später als friedlicher Landmann den Acker bauen!‹
... So! Und nun ziehe den Vergleich! Die Gräfin Gundula sprach gewiß ebenso, mit etlichen kleinen [S. 131] Veränderungen nur! ›Wehe, daß er dahinfahren mußte nach Monte Carlo! — Dich aber will ich vor solchen Versuchungen und Fährlichkeiten wahren, mein Guntram Krafft! Du sollst kein Leutnant werden, sondern fern in den Wäldern von Hohen-Esp aufwachsen und als friedlicher Landmann deinen Acker bebauen!‹«
»Vortrefflich! Du weißt ja großartig Bescheid!«
»Seit ich in Bayreuth war, ist Parzival mein Liebling, mein Ideal, meine Leidenschaft!«
»Sehr begreiflich, denn der Bayreuther Parzival ist auch aller mütterlichen Schlappheit zum Trotz doch ein Ritter geworden, hat Heldentaten getan und die Welt mit seines Namens Ruhm erfüllt, — dahingegen Graf Guntram Krafft? Was tat er?«
»Er achtete und respektierte eine gramgebeugte Mutter zu sehr, um ihr durch trotziges Scheiden das Herz zu brechen, wie der ›ritterliche‹ Parzival es tat!«
Gabriele zuckte die Achseln.
»Der gute Sohn! Wenn ihm Mutter Herzeleide von Hohen-Esp nur kein Taschenmesser mitgegeben hat, daß er sich hier in die Finger schneidet!«
»Spotte nur, Gabriele! Ich kenne ja deinen Widerwillen gegen Männer, welche sich nicht aus Patriotismus spießen und hängen lassen! Mag Graf Guntram Krafft in deinen Augen keine einzige von all jenen hohen Tugenden besitzen, welche du so gebieterisch forderst, — eins mußt du ihm dennoch zugestehen, daß er hübsch ist! Bildhübsch! Reichlich so schön wie jener Parzival, welcher auf den weltbedeutenden Brettern unter Schminke und Lampenlicht alle Welt bezauberte!«
Thea hatte mit beinahe schwärmerischer Ekstase gesprochen, sie preßte die Hände gegen die Brust und schaute träumerisch in das Schneetreiben hinaus, Gabriele aber lachte ein wenig erstaunt und schüttelte den Kopf.
»Du scheinst ihn gestern abend genauer angesehen zu haben wie ich! Fürerst finde ich es nur schade, daß so männlich edle Züge einen solch weichlich naiven Ausdruck [S. 132] tragen! Das kommt bei der Erziehung in Waldeinsamkeit heraus! Aber gleichviel, — er gefällt dir! Und das ist viel Glück für den Bärenhäuter ...«
»Nenn' ihn nicht so, Gabriele! Du tust ihm unrecht, und ich mag es nicht hören!«
»Ei, ei! So gewaltig hast du schon Feuer gefangen? So ganz prima vista dich erobern lassen?!«
Komtesse Sevarille schlang leidenschaftlich den Arm um die Sprecherin und drückte ihr Gesichtchen mit den nervös bebenden Lippen an die Schulter der Freundin.
»Ach, Gabriele, du hast gut spotten und dich über einen neuauftauchenden Heiratskandidaten lustig machen!« sagte sie leise, sehr innig und sehr aufrichtig, »du Glückliche hast dein Teil erwählt, du wirst geliebt und liebst wieder! Wenn du es auch noch ableugnest, — wir wissen es doch, daß du mit Heidler einig bist! Warum auch nicht? Wenn man so reich ist wie du, kann man sich den Luxus gestatten, den Löwen der Saison an die Rosenkette zu legen — ich armes Wurm muß bescheidener sein und Gott danken, wenn es nur ein Bär ist, dessen Herz ich bändige! — Und er gefällt mir schon jetzt so gut, dieser Bär! — Gabriele! Du hast stets gesagt, daß du meine treue, aufrichtige Freundin bist, betätige es! Hilf mir, daß ich auch so glücklich werden möchte, wie du!« Ein seltsamer Ausdruck lag auf dem reizenden Antlitz mit den hellen Nixenaugen.
Gabriele sah aus, als wolle sie sagen: »Wie schnell hat sich schon eine gefunden, die dem Freier aus der Bärenhöhle mit offenen Armen entgegenläuft!« — — aber sie sprach ihr Empfinden nicht aus, kämpfte auch den Widerwillen, welcher sie überkam, nieder, und antwortete so freundlich, wie es ihr möglich war: »Wenn ich jemals etwas dazu tun kann, dir das Herz des Grafen zuzuwenden, so soll es gewiß geschehen, obwohl ich glaube und hoffe, daß er ohne fremdes Zutun solch einen guten Geschmack entwickeln wird! Was aber Heidler anbelangt« — — die Sprecherin erglühte bis auf den weißen Hals hinab, — »so bist du gewaltig im Irrtum, [S. 133] wenn du glaubst, daß ein einziges Wort zwischen uns gefallen ist, was mehr besagt, wie freundschaftliches Interesse. Wir sind gute Kameraden, — weiter nichts.« —
»Je nun, was noch nicht ist, wird desto sicherer werden! — Apropos ... der Hohen-Esper fährt heute Besuche. — War er schon hier, und habt Ihr ihn angenommen?«
Wieder brach ein lauernder Blick unter den dunklen Augen hervor und forschte in dem Antlitz des Fräulein von Sprendlingen, Gabriele aber griff gelassen nach ein paar Karten, welche zwischen den Büchern des Nebentischchens lagen und reichte sie dar.
»Vor einer halben Stunde schickte mir die Mama die Karten herüber, soviel ich weiß, hat sie den hohen Besuch empfangen, — ich selber ließ mich entschuldigen, ich sei noch bei der Toilette!«
»Und spieltest Klavier? Du bist zum Totlachen, Gabriele! So etwas brächte keine andere fertig!« —
Mit beinahe gierigem Blick hafteten die Augen der Komtesse auf der Karte, sie war plötzlich sehr guter Laune, strahlend heiter und vergnügt. »Guntram Krafft, — Graf Bär von Hohen-Esp«, las sie mit viel Pathos. »Wie entzückend das klingt! Das mußt du selbst eingestehen, Liebste!«
»Der kleinste Titel darunter würde mir mehr imponieren wie der ganze Namen!« klang es trocken zurück.
»Du bist unverbesserlich, aber himmlisch amüsant, ich bewundere dich! Doch nun addio, cara mia , ich muß heim!« — und Thea schob die Visitenkarte in ihren Muff und griff hastig nach der Jacke.
»Bleib' doch noch! es gibt gewiß noch mancherlei zu berichten?!« —
Aber Komtesse Sevarille hatte es plötzlich sehr eilig.
»War der Graf denn schon bei euch?« fragte Gabriele noch zum Abschied.
Sie nickte flüchtig. »Die Tournee fängt ja meistens in unserer Straße an! — Empfiehl mich bitte deiner lieben Mutter ... und nochmals — addio! « —
Wie ein Schatten, schnell und lautlos, flog sie die Treppe hinab.
Auf der Straße überlegte sie einen Augenblick. Sie wußte genau, nach welcher Liste die Visiten zumeist abgefahren wurden, ihrer Berechnung nach mußte Graf Hohen-Esp jetzt bis zu dem Hause des Oberjägermeisters gekommen sein. Hastig schritt sie aus.
Ihr Gesicht sah so zufrieden und triumphierend aus wie selten zuvor.
Von weitem sah sie die Equipage, in welcher Guntram Krafft saß, in eine Nebenstraße einbiegen.
Vortrefflich! Auch sie wird einen Besuch bei der Oberjägermeisterin machen und noch einmal mit dem Grafen zusammentreffen, — »doppelt genäht reißt nicht!« sagt ein altes Sprichwort, und außerdem möchte sie es dem Erben von Hohen-Esp nahe legen, daß sie heute nachmittag auf dem Eis zu treffen ist. Auch Gabriele wird sie nennen, — als Lockvogel. —
Der erste Hofball!
Die ganze Residenz ist voll Interesse und Anteilnahme.
Alter Tradition gemäß muß es an Hofballtagen besonders kalt sein, ein frisches, fröhliches Schneegestöber muß die Luft erfüllen, und die Parkbäume und Bosketts rings um das herzogliche Schloß herum haben die Verpflichtung, weiß bereift, wie ein glitzernder Zauberwald, das Auge zu erfreuen, denn niemals sieht der malerische Rokokobau schöner und märchenhafter aus, als wie mit strahlend erleuchteten Fenstern inmitten der verschneiten Winterlandschaft.
Dann malen die rotgelben Lichter ihre langzitternden Streifen über die weißen Samtdecken der Rasenflächen, werfen flimmernde Reflexe auf dem gefrorenen Teich und glühen wie starre Augen durch die immergrünen Taxushecken, welche ihre mannigfachen Schatten in den fleckenlosen Hermelin des Winters zeichnen. —
Pechfackeln schweben zu beiden Seiten der Einfahrt, wo ein mächtiges, eisernes Tor in kunstvoller Schmiedearbeit den inneren Schloßhof abschließt. Da staut sich die Menge und ist hochbefriedigt, einen Blick in das glänzend erleuchtete Vestibül zu werfen, wo mächtige Palmengruppen in feuchtwarmer Treibhausluft die verträumten Blattwedel über Marmorfiguren breiten.
Lakaien in roten Galaröcken, weißseidenen Strümpfen und Schnallenschuhen, mit gepudertem Haar und geschmeidig-gleitenden Bewegungen huschen her und hin, neigen sich tief vor den eintreffenden Gästen und stehen an den Windungen der Treppen, voll nachdenklicher Andacht auf all die köstlichen Schleppen herniederstarrend, [S. 136] welche wie ein farbenschillernder Strom mit leisem Knistern über die Purpurteppiche rauschen.
Guntram Krafft stand noch immer zögernd neben dem Sockel einer Karyatide und umfaßte mit staunendem Blick das üppige Bild, welches sich seinen Augen bot.
Was er sein Leben lang in den einsamen, sturmumbrausten Hallen und Gemächern von Hohen-Esp gesehen, glich so ganz und gar nicht dieser strahlenden Pracht, wie sie wohl in seinen Märchenbüchern geschildert war, wie sie sich seine Phantasie aber nun und nimmer vorzustellen vermocht. Welch ein Lichtgefunkel! Welch ein Meer von Kerzen! Daheim brannte höchstens das Bärenweibchen von der getäfelt-dunkeln Decke, oder schaukelte sich ein Öllämpchen in schwerem Kettengehäng, einem Fünkchen gleich, über den gewundenen Stiegen. Unter den Fischerdirnen gab es wohl junges, schmuckes Blut, solch eine Blütenlese reizender, vornehm-schlanker Mädchengestalten wie hier aber hatte er nie zuvor geschaut, und die süße, herzbetörende Poesie einer Balltoilette deuchte ihm vollends ein Rätsel, welches sein armer, nüchterner Verstand nicht zu lösen vermochte! —
Anton hatte ihm gesagt: »Nun möchte ich mir erlauben, dem Herrn Grafen einen guten Rat zu geben. Da wird heute so viel Neues und Fremdes auf Euer Gnaden einstürmen, daß es den Kopf verwirren muß!! Das darf aber nicht geschehen. Am besten wäre es, wenn der Herr Graf diesen ersten Ball nur mehr wie eine Schaustellung an sich vorübergehen ließen! Sie stellen sich auf irgendeinen hübschen Platz, sehen sich alles erst mal genau an, mustern die Damen und lassen sich ein bißchen über die einzelnen orientieren. Auf diesen großen Bällen ist es nicht nötig, daß man sich jeder einzelnen Person vorstellen läßt, nur den Kammerherren und Adjutanten müssen Sie Ihre Verbeugung machen; die stellen Sie dann den Staats- und Hofdamen, den Marschällen und dem Zeremonienmeister vor, und die sorgen dafür, daß der Herr Graf den hohen Herrschaften präsentiert werden! — Alles hübsch in Ruhe und gemächlich! Man [S. 137] wird alles im Leben gewöhnt, auch das Leben und Treiben in Fürstenschlössern, und da Euer Gnaden noch nicht gut Bescheid wissen, so lernen Sie erst ein bißchen durch das Zusehen! Wenn man eine sichere Wand im Rücken hat, ist man stets gedeckt, und wenn man sich nicht in den Strom stürzt, kann man nicht darin ertrinken! — Das nächste Mal mischen Sie sich dann schon mit viel ruhigerem Blut unter die Tanzenden, lernen die Damen kennen und amüsieren sich herrlich!«
Er hatte Antons Rat sicher sehr gut gefunden, befolgte ihn allsogleich und stand fürerst schon hier in der Treppenhalle still, um mit einem Gefühl der Verzauberung um sich zu schauen.
Langsam streifte er die Handschuhe an; das war eine gute Beschäftigung und ein schöner Vorwand, länger verweilen zu können.
Da schwebten sie an ihm vorüber, lachend und scherzend und die guten Bekannten begrüßend, all die wunderholden Frauen und Mädchen, mit schimmernd-weißen Nacken und Armen, welche ihm in ihrer indiskreten Nacktheit zuerst ganz betroffen das Blut in die Wangen getrieben.
Aber das Auge gewöhnt sich auch an das Ungewohnteste, und fürnehmlich, wenn es so sinnbetörend und hübsch ist, wie eine junge Dame in großer Toilette.
Nein, das waren nicht die schweren, düstern Wollfalten, welche daheim der Mutter majestätische Gestalt umwallen, nicht die schweren Düffel-, Fries- und Warpstoffe, in welche sich die Fischerfrauen des Dorfes kleiden, das waren Wolken von Duft und Glanz, von Schaum und silberglitzernden Spinngeweben, das war kaum noch Wirklichkeit, das war ein Traum!
Wie das glänzt und gleißt und rieselt von Atlas, Seide und Samt, — wie die flaumigen Spitzen wogen, wie die Tüll-, die Gaze- und Florkleider wehen! — Silber- und Goldstreisen darin, Metalltupfen und Tautropfen, welche blinken und zittern und doch nicht zerrinnen!
Blumen in allen Farben und Arten, zart eingeschmiegt in die Kreppwogen und in die reizend frisierten Haare, keine frischen, lebenden Blumen, wie Guntram Krafft zuerst geglaubt, sondern wunderbar täuschend nachgeahmt, mit Blättern und Knospen, Blüten, wie man sie in gleicher Schönheit kaum im Lenz beisammensieht! —
Und welch ein Gefunkel von Edelsteinen!
Über Nacken, Brust und Arme sind sie gestreut wie ein versteinerter Funkenregen, in allen Farben der Iris leuchtend, — Diademe über der Stirn, goldene Spangen um die zarten Handgelenke, und wo die Frauenaugen besonders tief und schwärmerisch blicken, da glänzen die zauberschönen Schätze des Meeres, die Tränen der Nixen und Meerfrauen, welche die Menschen Perlen nennen!
Gar mancher Blick hat den Bär von Hohen-Esp gestreift, gar manch leises Wort ist über ihn gewechselt und manch rote Lippe hat seinen Namen genannt, — auch hat des jungen Grafen Blick sich selber im hohen Wandspiegel gestreift und voll beinahe scheuer Unsicherheit sein fremdes Bild gemustert.
Er trägt zum erstenmal einen Frack — die weiße Binde und Weste — zum erstenmal die spiegelnden Lackschuhe an den Füßen.
In Hohen-Esp war solch ein Luxus unbekannt, und weil sich der Einsiedler aus der Bärenhöhle so ungewohnt darin vorkommt, fühlt er sich beklommen und geniert.
Die Zahl der Gäste lichtet sich, es scheint nun die höchste Zeit zu sein, die Säle zu betreten, und langsam steigt Guntram Krafft die Treppe empor.
Er mustert die überlebensgroßen Gemälde fürstlicher Ahnherrn an den Wänden, er atmet schwer und tief den berauschenden Duft, welcher ihn geheimnisvoll umweht. Sind es die Veilchen, welche Gabriele jüngst im Schlitten getragen? —
Wie haben seine Blicke Fräulein von Sprendlingen gesucht, — wie zuckte sein Herz empor, als er sie noch im letzten Moment droben an der Treppenbiegung erblickte. [S. 139] Sie wandte just das Köpfchen und schaute zurück, ein paar jungen Damen drunten zuzunicken.
Ihr Blick streift auch ihn, — aber so fremd, so kühl, als habe sie ihn nie im Leben gesehen.
Wieder überkommt ihn ein Gefühl banger Ungeduld.
Er sehnt sich danach, ihr vorgestellt zu werden, damit sie auch mit ihm plaudert und ihn abermals anlächelt wie damals auf der Straße, als er ihre schlanke Gestalt in den Armen emporhob und sie sekundenlang an seinem Herzen hielt. Bei dem Eingang an der Bildergalerie steht ein diensttuender Kammerherr, um die Ankommenden zu begrüßen.
Er tritt auch dem jungen Grafen sehr liebenswürdig entgegen, nennt seinen Namen und spricht seine Freude aus, wieder einen Vertreter der Familie von Hohen-Esp hier begrüßen zu dürfen.
Er spricht mit leiser Stimme, sehr höflich und verbindlich, dennoch liegt etwas Zeremonielles in seinem Wesen, und sein Händedruck ist mehr förmlich wie herzlich.
Er geleitet den Neuling auf höfischem Parkett bis zu dem nächsten Saal, welcher seinen Namen von den kostbaren alten Gobelins, die seine Wände schmücken, erhalten hat, und in welchem sich die tanzende Jugend bis zu dem Eintritt der hohen Herrschaften versammelt. Zwei Adjutanten in großer Uniform halten sich in der Nähe der Tür auf, treten eilig herzu, und der Kammerherr stellt ihnen den Grafen vor, mit der Bitte, ihn bei den jungen Damen bekannt zu machen.
Ein paar sehr liebenswürdige Worte der vielbeschäftigten Herren, welche Guntram Krafft mit der ehrlichen Versicherung, daß er sich freue, diesem Feste beiwohnen zu können, quittiert, und dann murmelt ein sehr junger Leutnant hinter ihm einen unverständlichen Namen und offeriert die silberne Schale mit den Tanzkarten.
Der Graf stellt sich seinerseits vor und nimmt eins der eleganten Kartonblätter, auf welchem unter dem farbigen Fürstenwappen eine Anzahl Tänze notiert ist, von welchen er kaum die Namen kennt.
» The lancers « — »Menuett der Königin« — »Ouadrille à la cour « — nein, diese Kunstwerke sind ihm in Hohen-Esp fremd geblieben.
Polka und Walzer, — ja, die hat er voll fröhlichen Übermuts bei dem Hauslehrer gelernt und zeitweise in der »blauen Woge« praktisch angewandt, wenn irgendein besonderes Fest die Anwesenheit des gräflichen Schirmvogts erforderte, — er hat da unwillkürlich ebenso mitgetanzt wie die wetterharten Fischer, Matrosen und Seeleute es vorgemacht; und daß man in Lackschuhen, auf höfischem Parkett doch ein bißchen anders walzt wie in dem weltfremden Fischerdorf — das sieht der Bär von Hohen-Esp nur allzugut ein. Er verzichtet darum darauf, zu engagieren, obwohl einer der Adjutanten sich mit ihm durch die Menge drängt und den Versuch macht, ihn den Damen vorzustellen.
Lauter fremde Gesichter, — wie rosige Nebel wallt es vor den Augen des Grafen, er verneigt sich stumm und vermag kaum, die einzelnen jungen Mädchen mit dem Blick zu umfassen, geschweige all die Namen zu merken, welche, kaum verstanden, vor seinen Ohren schwirren.
Wozu auch? — Er sucht nur ein einziges Antlitz, er lauscht nur auf einen einzigen Namen, und just darauf vergeblich.
Noch sind sie nicht weit gekommen, als ein lautes, hartes Klopfen auf dem Parkett ertönt, die lachenden, schwatzenden Stimmen wie mit Zauberschlag verstummen und die Damen hastig nach der einen Seite des Saales, die Herren nach der andern zurückweichen.
Adjutanten und Kammerherrn schreiten geschäftig »die Fronten« auf und ab, herüber und hinüber werden noch ein paar Scherzworte und Grüße getauscht, dann klopft es abermals, die vergoldeten Flügeltüren schlagen auf, und unter Vortritt der obersten Hofchargen betreten die hohen Gastgeber, von den Privatgemächern kommend, den Saal. —
Tiefe, feierliche Verbeugungen rechts und links.
Die Herrschaften grüßen voll gewinnendster Leutseligkeit, lächeln und schreiten langsam durch die spalierbildende Jugend.
»Bleibt die herzogliche Familie nicht anwesend?« fragt Guntram Krafft den jungen Leutnant, an dessen Seite er zufällig steht, ein wenig betroffen, als der Hof in der gegenüberliegenden Tür verschwindet, und der Angeredete klappt mit etwas wunderlichem Ausdruck in dem bartlosen Gesicht die Hacken zusammen.
»Herrschaften treten fürerst in den Thronsaal, um die älteren Damen und Herren zu begrüßen! Findet in der Regel kleiner Cercle statt, aber dann geht es sofort los! — Werden uns gleich hier durch die Galerie in den Tanzsaal begeben. — Haben der Herr Graf schon alle Tänze besetzt?«
»Nein! Noch nicht einen einzigen.«
»Ah ... fatal ... sind ein wenig spät gekommen, ist aber kein Mangel an Tänzerinnen! Im großen Saal läßt sich das erst richtig übersehen.«
»Ich möchte heut nicht tanzen, sondern das Fest nur als Schauspiel auf mich wirken lassen!«
»Sehr wohl! Ist auch kaum ein Vergnügen, auf einem wie ein Präsentierteller großen Raum zu tanzen! Furchtbare Fülle heut! Man findet sich kaum durch! Aber immerhin engagiert man, um ein wenig mit den Damen zu plaudern. Superbe Erscheinungen heute ... alle Stars sind vollzählig vertreten.«
»Wer gilt für die schönste der Damen?«
Der junge Offizier lacht: » Mon Dieu , Verehrtester, das ist schwer zu sagen! Der Geschmack ist unberechenbar! Da ist die Hofdame der verwitweten Prinzeß Amalie, — Gräfin Dollen, eine vielgerühmte Schönheit, aber kühl ... kühl bis ans Herz hinan ... dann Fräulein von Lochau, pikant ... amüsant ... kapriziös.., Baronesse Sprendlingen, bezaubernd hübsch, aber rasend verwöhnt und anspruchsvoll ... Fräulein Karola von Erlau-Föhrbach, Tochter des Ministers ... ein Tanagra-Figürchen voll größten Charmes ... aber pardon ... wir [S. 142] wollen uns in den Tanzsaal begeben, damit die höchsten Herrschaften allzugleich das Zeichen zum Beginn des Tanzes geben können ... Sie gestatten, Herr Graf ...« und der Sprecher verneigt sich ein paarmal hastig nacheinander und schießt davon, um einer zierlichen kleinen Blondine den Arm zu bieten und sich dem »Zug nach dem Westen« anzuschließen.
Da hastet es abermals lachend und scherzend an ihm vorüber, und Guntram Krafft steht — um eines Hauptes länger denn alles übrige Volk — ruhig beiseite und überfliegt mit suchendem Blick die bunte Menge.
»Fräulein von Sprendlingen, — bezaubernd hübsch, aber rasend verwöhnt und anspruchsvoll!« klingt es noch wie ein Echo vor seinen Ohren, und dann denkt er wie in jubelnder Freude daran, daß er nicht zu tanzen braucht, sondern auch eine Dame zum Plaudern engagieren kann.
Und wie er mechanisch über die Menge hinblickt, — da zuckt er plötzlich empor und ahnt es nicht, daß ihm alles Blut in die Wangen steigt.
Dort taucht endlich, endlich Gabrieles Köpfchen auf. Sie scheint es nicht eilig zu haben, den Tanzsaal zu erreichen.
Sie hat einen großen, zartduftigen Marabu-Fächer entfaltet und bewegt ihn mechanisch vor dem Busen auf und nieder.
Die Spitzen des Ausschnitts wogen leise, wie ganz zarter, maigrüner Hauch, durch welchen sich ein Silbergekräusel zieht, und die wunderschönen Arme gleißen im Licht und sind ihm so bekannt ... ja, wo sah er sie schon?
Im Traum! Es sind die Arme jener Meerfrau, welche ihm die Perlenschnur entgegenreichten. Perlen!
Nein, diesmal träumt er nicht!
An ihrem schlanken Hals schimmern sie in mattem Glanz, eine Kette mit einem Brillantschloß ... und sie neigt den Nacken graziös zurück und lächelt zu einem Dragoneroffizier empor, welcher ihr gar schöne Worte zu sagen scheint.
Langsam, ganz langsam schreiten sie heran, als die letzten im Saal, und Guntram Krafft begreift es in dem Augenblick selber nicht, woher er den Mut nimmt, aber er steht in dem nächsten Augenblick vor den beiden, verneigte sich etwas linkisch und stammelt seinen Namen.
»Darf ich um einen Tanz bitten, mein gnädiges Fräulein?«
Sie schaut ihn mit den großen hellen Augen einen Moment sprachlos an, das Lächeln schwindet, ihre Lippen zucken ein Gemisch von Stolz und schroffer Abweisung.
»Bedaure, meine Tänze sind vergeben!« sagt sie kurz, klappt den Fächer zu und legt ihre Hand auf den Arm des Offiziers, um hastig weiterzuschreiten. Herr von Heidler hat seinen Namen ebenfalls mit kurzer Verneigung genannt und den Bär von Hohen-Esp mit etwas ironischem Blick gemustert, dann flüstert er seiner Tänzerin ein paar Worte zu, und beide entschwinden in die Galerie.
Einen Augenblick stand Guntram Krafft regungslos und starrte der entzückenden Erscheinung des jungen Mädchens nach.
Alles Blut, welches ihm zuvor nach dem Herzen gestürmt war, schoß ihm in die Wangen, und ein Gefühl tiefster Mutlosigkeit überkam ihn.
Er war viel zu harmlos und weltfremd, um in dem Benehmen der beiden eine Zurücksetzung oder Unhöflichkeit zu sehen; es erfüllte ihn nur mit tiefer Betrübnis, daß er zu spät gekommen war, und sein erster Gedanke war der, daß Gabriele wohl erwartet hatte, er werde früher den Weg zu ihr finden, um sie zu engagieren.
Fraglos war sie über sein langes Zögern ungehalten, denn zuvor hatte sie ihn doch nicht mit diesen stolz und kühl schimmernden Augen angesehen!
Sie lächelte ihm so wonnig zu, als er sie aus dem Schnee emporhob, und als sie zuerst in das Theater trat und seiner ansichtig wurde, da spiegelte es sich in ihrem Gesicht, daß sie ihn wiedererkannte, und abermals flog das süße, bezaubernde Lächeln um ihre Lippen. Nun zürnt sie ihm!
Wie soll er sich ihr wieder nähern, um sie zu versöhnen?
Er ist so fremd hier, unter all den vielen Menschen doch so allein.
Und sehr freundlich ist niemand zu ihm, keiner scheint Zeit und Lust zu haben, mit ihm zu plaudern.
Dieses Empfinden macht ihn noch befangener wie zuvor, und er, der noch nie ein Gefühl der Furcht gekannt, der sich todesmutig auf die brüllende See hinauswagte, voll kühnen Trotzes dem Tode sein Opfer abzuringen, [S. 145] er wagte es kaum noch, die Schwelle des Tanzsaals zu überschreiten, er steht zaudernd und verzagt beiseite und fühlt es plötzlich, wie heißes, ungestümes Heimweh sein Herz erfaßt.
Jubelnde Tanzweisen erbrausen durch die weitgeöffneten Saaltüren, — er hört nur noch den Klang von Gabrieles herben Worten, — eine bunte, glitzernde, farbenprächtige Menschenflut wogt vor ihm und lockt mit tausend Wundern, — er aber sieht nur noch zwei kalte, helle, kristallfarbene Mädchenaugen, welche ihn ansehen, daß er bis in das tiefste Herz hinein friert. —
Wie einsam, wie verlassen ist er auch hier! — Wie empfindet er es noch so viel schmerzlicher, als daheim in seiner Mutter Haus!
Da klingen leise, schnelle Schritte neben ihm, und eine milde, freundliche Stimme spricht ihn an. —
»Dachte ich es mir doch, Graf, daß Sie nach der ersten Niete, welche Sie gezogen, kaum noch Lust verspüren, in das volle Menschenleben hineinzugreifen! — Schade, daß ich Sie vorhin erst im Vorübergehen entdeckte und erst pflichtschuldigst meine Tour abtanzen mußte, ehe ich Sie holen konnte! Ich hätte Ihnen gern Gabrieles Abweisung erspart!«
Guntram Krafft hatte überrascht den Kopf gewandt.
Er blickte in die sehr sanften, liebenswürdigen Augen der Komtesse Sevarille.
Wie ein Aufatmen nach banger Spannung ging es durch seine Seele.
»O, Komtesse ... Sie gedenken meiner ... Sie nehmen meiner so freundlich wahr?!« stotterte er mit aufleuchtendem Blick und kämpfte gewaltsam seine Verlegenheit nieder.
»Selbstverständlich, Graf! ›Wenn der Berg nicht zu mir kommt, gehe ich zum Berg!‹ sagt Mohammed, und nach diesem praktischen Beispiel möchte auch ich handeln. — Ich kann mich so lebhaft in Ihre Situation hinein versetzen! Sie sind fremd hier, alles mutet Sie ungewohnt an, und niemand von diesen hastigen, vielbeschäftigten [S. 146] Menschen hat Zeit, Sie ein wenig in die Sitten und Gebräuche der großen Welt einzuführen!«
»Nur Sie allein, Komtesse, wollen diese große Freundlichkeit haben?«
»Wenn Sie sich meiner Fürsorge anvertrauen wollen, Graf?« lächelt sie herzgewinnend zu ihm auf: »Es sollte mich aufrichtig freuen, wenn ich recht viel zu Ihrem Amüsement beitragen könnte!«
»Ich danke Ihnen von Herzen!« Er sagt es sehr warm und herzlich und blickt ihr so ehrlich in die Augen wie ein Kind: »Wie schade, daß ich diesen freundlichen Schutzengel nicht früher fand! Sie hätten mich gewiß beizeiten zu Fräulein von Sprendlingen geführt, damit ich noch einen Tanz und nicht einen Korb von ihr erhalten hätte!«
Thea lächelt und zuckt die nicht allzu runden Schultern.
»Auf jeden Fall hätte ich Ihre Bitte um den Tanz zu gelegenerer Zeit angebracht wie Sie!«
»Gelegenere Zeit?«
»Sahen Sie nicht, wie sehr vertieft Gabriele und Herr von Heidler in ihre Unterhaltung waren?«
Der Bär von Hohen-Esp wurde abermals rot, als wäre er auf einer Sünde ertappt.
»Nein ... das sah ich nicht!« —
»Herr von Heidler macht ihr sehr die Cour! Wer weiß, was er ihr gerade sagen wollte, als Sie so störend dazwischentraten!«
Der Graf blickte sie starr, wie verständnislos an. »Ah!« sagte er nur.
»Und weil Sie fraglos einen sehr lyrischen Augenblick abkürzten, sah Gabriele Sie nicht sonderlich freundlich an!«
»Sie liebt ihn?«
»Ich glaube es wohl, — die ganze Stadt wenigstens erzählt es sich als Tatsache!«
Wie groß und geisterhaft seine Augen sie anstarrten!
»Sie sind schon verlobt, die beiden?«
»Das weiß man nicht genau, aber man vermutet es! — Nun aber kommen Sie, lieber Graf! es gibt noch so viele reizende Damen im Saal, welche alle sehr gern mit Ihnen tanzen möchten! Sehen Sie hier, meine Tanzkarte! Ihr Name fehlt auch noch darauf, und den Kotillon habe ich speziell für Sie aufgehoben!«
»Ich kenne diesen Tanz nicht, Komtesse ... außer Polka und Walzer lernte ich keine Reigen.«
»Gut! So setzen wir uns während dieser Zeit und sehen zu! Ich erkläre Ihnen die einzelnen Touren, und das nächste Mal wirbeln sie flott mit mir herum!«
»Das wäre sehr gütig, Komtesse!« er spricht wie einer, dem die Kehle zugeschnürt ist.
»Kommen Sie mit! Führen Sie mich in den Saal zurück! Wir haben eine sehr lustige, kleine Ecke gebildet, und wenn ich Sie all den jungen Damen und Herren bekannt mache, werden Sie sich vortrefflich amüsieren!«
Sie legt ihre Hand auf seinen Arm und blickt zu ihm auf.
So gütig und freundlich wie sie sah ihn noch niemand hier in der Residenz an.
Das fällt wie Sonnenschein in sein Herz.
»Ich danke Ihnen, Komtesse!« sagt er noch einmal; er möchte so gern mehr sprechen, aber er weiß nicht was. Er hat es nicht gelernt, das leichte, amüsante Geplauder, er vermochte auch nicht in diesem Augenblick von gleichgültigen Dingen zu reden, jetzt, wo sein Herz zum erstenmal im Leben schmerzt, als sei ihm ein grenzenloses Leid widerfahren.
Aber Gräfin Sevarille scheint keine Unterhaltungskünste von ihm zu verlangen, ihre dunklen Augen lachen fröhlich zu ihm auf, und sie spricht statt seiner, während sie nach dem Tanzsaal schreiten.
»Wissen Sie, Graf, was ich glaube? Sie finden unsere große Stadt, unsere lebhaften Feste, all die modernen Sitten und Gebräuche fürerst ganz greulich und sehnen sich heim in den köstlichen Frieden Ihres stillen Strandschlosses! O wie sehr begreife ich das! Auch für mich [S. 148] gibt es kein besseres Glück als eine Landidylle! Warum sehen Sie mich so erstaunt an? Scheint Ihnen das so unbegreiflich?«
Sein Blick haftet noch immer überrascht auf ihrem blassen Gesichtchen. Er muß sich beinahe herabbeugen, wenn er in ihre Augen schauen will, die sehr kleine, puppenhafte Gestalt hängt wie ein verwehtes Sommerwölkchen an seinem Arm.
»Ja, das finde ich sehr unbegreiflich, aber es freut mich um so mehr, es zu hören. Ich glaubte, die Leute der großen Welt hätten gar keinen Sinn und kein Verständnis mehr für die kleinen Genien des Friedens, welche sich aus dem Häuserlabyrinth heraus zu uns in die Stille der Wälder geflüchtet haben. — Lebten Sie längere Zeit auf dem Lande, Gräfin, daß Sie es liebgewannen?«
»Längere Zeit? O nein, Gott sei es geklagt! Nur ganz kurz und flüchtig lernte ich seinen Zauber kennen, und darum glüht die Sehnsucht desto heißer in meinem Herzen! — Sie müssen mir viel von Ihrer Heimat, von Ihrem Leben und Treiben dort, erzählen, Graf! Nachher setzen wir uns abseits auf einen Diwan in der Galerie, und dann wollen wir beide mit allen Gedanken so sehr in Hohen-Esp sein, daß Ihr Heimweh bald schwinden soll! Fürerst aber möchte ich Sie recht vielen Damen vorstellen, damit Sie ...«
Er blieb zögernd stehen und blickte in die offene Saaltür ein, vor welcher Kopf an Kopf die Herren in glänzenden Uniformen standen und mit mehr oder minder harmlosen Scherzen die Tanzenden kritisierten.
»Ein Plaudern in der Galerie dürfte also viel lohnender sein wie ein solches im Saal!« sagte er leise, und die Lichter flirrten vor seinem Blick, und die schmetternden Musikklänge taten ihm weh. »Lassen Sie uns also doch gleich hier bleiben, Komtesse, wenn Sie wirklich diesen Tanz für mich opfern wollen!«
»Opfern?« — sie neigte das Köpfchen mit den leuchtend roten Granatblüten zurück und lächelte: »Nicht im [S. 149] mindesten, — der Tanzsaal lockt mich ebensowenig wie Sie! Darin bin ich so grundverschieden von meiner Freundin Gabriele, daß sie sich einzig inmitten des amüsantesten Getriebes wohlfühlt, während mein Sinn sich seit jeher nach der beschaulichen Ruhe sehnte.« — Sie setzte sich auf den weißen, golddurchwirkten Brokat des Diwans nieder; die lichtrote Seide ihres Kleides leuchtete unter den duftigen Tüllwogen, und hinter ihr baute sich eine Kulisse von Kamelien und Fliederbäumen auf, welche die blühenden Zweige über ihr Köpfchen neigten.
Es war ein hübsches, anmutiges Bild, aber Guntram Krafft sah es nicht.
Es lag noch immer wie graue Schleier vor seinen Augen, und aus allen Worten seiner Partnerin hörte er nur das eine heraus, daß Gabriele sich einzig bei Spiel und Tanz wohlfühle.
Mechanisch setzte er sich an die Seite der Gräfin nieder.
»So würde Fräulein von Sprendlingen nie auf dem Lande glücklich sein?«
»Nein, soviel ich beurteilen kann, nie! Und das ist ja auch gut, denn aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie in eine Großstadt heiraten, da bleibt ihr ja alles zur Verfügung, woran ihr Herz hängt! — Nun aber sagen Sie mir einmal, Graf, wie geht es Ihrer lieben, hochverehrten Frau Mutter? Ich hörte durch einen Freund meines Vaters so viel von ihr erzählen, daß ich die seltene, vortreffliche Frau lieben lernte, ohne sie zu kennen! Sie muß ja in ihrer Jugend bildschön gewesen sein, und so fabelhaft liebenswürdig ... nicht wahr? Sie sehen ihr sehr ähnlich?«
Guntram Krafft war viel zu unerfahren, um die versteckte Eloge aus diesen Worten herauszuhören, er schaute sie nur abermals voll aufrichtigen Dankes an.
»O, wenn Sie sehen würden, was meine Mutter leistet, Komtesse, welch eiserne Energie, welch unermüdlichen Fleiß sie besitzt, Sie würden sie nicht nur lieben, sondern [S. 150] auch bewundern und verehren! Wenn die Bären von Hohen-Esp in alter Zeit die Schirmvögte des Landes gewesen sind, welche ihre starke Hand über die Schwachen und Notleidenden breiteten, so hat meine Mutter diese Zeit in ihrer Person wieder aufleben lassen! Wenn mancher Schiffbrüchige ahnte, wessen milde Hand ihn ins Leben zurückgerufen, der Name der Gräfin Gundula würde bekannter sein, als wie er es ist!«
»Was für ein guter Sohn sind Sie! — O, es ist ein Genuß, wenn man so von einer Mutter sprechen hört! Warum wirkt die herrliche Frau so ganz inkognito? Legt sie denn gar keinen Wert darauf, auch von der Welt anerkannt zu werden?«
»Von der Welt? Die ist ihr sehr gleichgültig!«
»Und wie denken Sie darüber?«
»Genau ebenso!«
»Sie streben nicht nach äußeren Ehren, nach Rang und Würden?«
Seine großen blauen Augen blickten sie verständnislos an.
»Nein! Was sollten die mir nützen?«
Sie schlang die kleinen Hände staunend ineinander.
»O, Sie Kinderherz! Wissen Sie nicht, daß der Ehrgeiz die Triebfeder jedweden modernen Schaffens und Handelns ist?« —
»Ich weiß es wohl, aber ich verstehe es nicht. Mir genügt der Beifall von zweien vollkommen.«
»Von welchen zweien?«
»Von Gott dem Herrn und meiner Mutter!«
»Ihre Mutter kann Ihnen wohl ein Lob sprechen und Sie dadurch beglücken, — der Beifall Gottes dürfte aber nur eine Illusion sein, denn er ist durch nichts zu beweisen!«
Wieder traf sie sein klarer, ernster Blick.
»Durch nichts im Sinne der Welt, — und doch ist er so fühlbar. Haben Sie es nach einer guten Tat noch nie im innersten Herzen bestimmt gefühlt und gewußt, daß Gott mit Ihnen zufrieden war? — Der Beifall [S. 151] der Menge mag schön sein, aber solch ein Gefühl glückseliger Erhebung und frommer Zufriedenheit, wie ich es als Gottes Segen empfinde, wenn ich meine Schuldigkeit und vielleicht noch ein wenig darüber ... getan, das kann aller Lorbeer der Welt nicht geben!«
Thea blickte vor sich nieder.
Hatte sie je eine gute Tat getan, hatte sie jemals derartiges empfunden? —
Sie zupfte ein wenig ungeduldig an den roten Blüten ihres Kleides; nur mit Mühe unterdrückte sie ein ironisches Lächeln, aber sie bewegte zustimmend den Kopf und sagte beinahe träumerisch: »Und ob ich dies Gefühl kenne! Sie glauben gar nicht, Graf, wie sehr Sie mir aus der Seele sprechen! Darüber müssen wir noch viel eingehender plaudern ... ah, Herr von Stetten! Holen Sie mich etwa schon zu unserer Française?«
Der Vortänzer stand vor ihnen und verneigte sich hastig mit sehr scharmantem Lächeln.
»Leider darf ich mich noch nicht so glücklich preisen, Komtesse, während eines ganzen Galopps bin ich noch verurteilt, auf diesen Vorzug zu warten! Jetzt gilt mein störendes Eingreifen lediglich dem Herrn Grafen!« — Abermals eine sehr höfliche Verneigung vor Guntram Krafft, welcher sich erhoben hatte und den Gruß erwiderte. »Der Kammerherr von Rheinsberg sucht Sie aller Ecken und Enden, Graf! — Seine Hoheit der Herzog haben den Wunsch geäußert, Sie zu sprechen! — Auch dürfte es alsdann gelegene Zeit sein, daß Sie den fürstlichen Damen präsentiert werden!«
»Ich stehe zur Verfügung, wollen Sie die Güte haben, mich dem Herrn Kammerherrn zuzuführen. Ich bitte um Verzeihung, Komtesse, und stehe bald wieder zu Diensten.«
Wie altmodisch und wohlerzogen das klang! So recht nach Gräfin Gundulas vergilbter Schule; Thea wollte es eigentlich nicht, aber sie wechselte doch einen schnellen Blick mit Herrn von Stetten, um dessen Lippen ein recht scharfes Zucken ging.
Dann schritten die beiden Herren eilig davon, und Komtesse Sevarille erhob sich ein wenig gelangweilt und wandte sich dem Saale zu.
»Thea!« —
Beinahe erschrocken schaute sich die Gerufene um. Hinter dem Boskett hervor traten Frau und Fräulein von Sprendlingen, sie hatten auf einem zweiten Wandpolster, welches ganz versteckt hinter der grünen Kulisse stand, gesessen und waren weder von der Komtesse noch von dem Grafen Hohen-Esp bemerkt worden.
»Gabriele ... gnädigste Frau ... um alles in der Welt — was tun Sie hier?«
Baronin Sprendlingen schritt mit einem merklich kühlen Gruß und ganz seltsam scharfem Blick an der jungen Dame vorüber, Gabriele aber blieb stehen und lachte.
»Solch indiskrete Lauscher hattest du nicht vermutet? Je nun, wenn man Pech hat! Als ich ein einziges Mal herumgetanzt hatte, riß mir plötzlich die Perlenschnur am Hals — zum Glück konnte ich sie gleich in der Hand zusammen fassen! Mama stand in meiner Nähe, wir flüchteten uns hierher in dieses lauschige Versteck, nahmen ein paar Perlen heraus, und Mutter knüpfte den Faden so gut es ging zusammen. Ich denke, jetzt wird sie halten. Du weißt, ich liebe einen völlig nackten Hals nicht.« —
»Und diese Prozedur dauerte so lange?«
Thea sah ein wenig verlegen aus und bemühte sich, desto harmloser zu erscheinen.
»Gerade als wir uns erheben wollten, kamst du mit dem Bären und setztest dich Posten, — da wollten wir nicht stören.«
Das war lachend gesagt und klang doch wie feiner Spott.
Auch Thea lachte. »Hast du dich an den Bekenntnissen seiner schönen Seele recht delektiert? Wie gefiel dir die Ansicht dieses prächtigen Menschen über eitle Ruhmsucht? [S. 153] O Gabriele, du glaubst gar nicht, wie gut er mir gefällt!« —
Die Komtesse flüsterte es sehr schwärmerisch, und doch hing ihr Blick in scharfem Forschen an dem reizenden Antlitz der Freundin, einer sehr abfälligen Kritik gewärtig.
Aber Gabriele sah an ihr vorüber und sagte nur kurz: »Er ist ein Kind!«
»Ja, ein goldenes Kinderherz!«
»Was man nicht kennt, entbehrt und verlangt man nicht! Wem nie der Gedanke kam, daß man nicht nur für sich, sondern in erster Linie für andere leben muß, dem genügt ein Seelenfrieden, welchen das Bewußtsein, ›nichts Böses begangen zu haben‹, verleiht.«
»Mein Gott, wie sollte jener einsame Mensch auf dem Lande Gelegenheit finden, sich um ein großes Ganzes, um Fürst und Vaterland, verdient zu machen!«
»Das ist es eben! Will er ein Parzival sein, so soll er sich von seiner Bärenhaut aufraffen, in die Welt hinausziehen und Taten tun! — Aber wir streiten da um Kaisers Bart; ich glaube kaum, daß der Graf uns jemals um unsere Ansicht befragen wird, — die seiner Mutter genügt ihm!«
Das klang wieder recht mokant, aber doch nicht ganz so spöttisch mehr wie früher.
Fräulein von Sprendlingen wandte sich ein paar Kavalieren zu, welche augenscheinlich auf ihr Kommen gewartet hatten und die junge Dame um eine Extratour bestürmten.
Da Gabriele nur mit einem der Herren tanzen konnte, — und sie tat es, wie eine Königin, welche einem Vasallen eine herablassende Huld erweist, — so war auch Gräfin Sevarille in diesem Augenblick begehrte Ware und flog ebenfalls im Arm eines Tänzers auf feurigen Galoppklängen dahin.
— — Graf Guntram Krafft war dem Herzog vorgestellt und wurde von dem hohen Herrn durch eine ganz besonders gnädige und lange Unterhaltung ausgezeichnet, und der Einsiedler von Hohen-Esp, welcher zuvor so zaghaft und unsicher auf dem Parkett gestanden, trat [S. 154] plötzlich fest und sicher auf, wie ein Mann, welcher über schwankendes Moorland geschritten ist und nun wieder festen Boden unter den Füßen fühlt.
Er wuchs unter dem Blick seines Fürsten empor zu dem alten, frischen Selbstbewußtsein, welches ihm die heimatliche Scholle gab, er redete frank und frei, in seiner schlichten, treuherzigen Weise, welche klug, verständig und liebenswürdig klang, — wenig von sich selber und seinem Tun und Handeln, aber dafür desto mehr von seiner Mutter. — Die begeisterte Verehrung für die Gräfin leuchtete ihm aus den Augen, und durch die Seele des Fürsten zog wie stille Wehmut der Gedanke: »Um wieviel reines und schönes Glück hat sich sein Vater selbst betrogen!«
— Das Wohlgefallen des hohen Herrn an dem jungen Grafen war ein ganz ersichtliches, er führte ihn persönlich der Herzogin und Prinzessin Amalie zu, und auch diese bezeigten ihm ein sehr freundliches Interesse.
Die jungen Herzoginnen und Prinzen des Hauses wechselten ebenfalls ein paar liebenswürdige Worte mit ihm, wenngleich aus ihren Augen ein etwas neugieriges Forschen blitzte, welches mehr dem vielbesprochenen Sonderling als der Person des Grafen galt.
Den Damen gegenüber stellte sich sogleich wieder eine gewisse Befangenheit bei ihm ein, und in seiner Feinfühligkeit empfand er es selber sehr peinlich, wie wenig gewandt er im Verkehr mit denselben war.
Gabriele hatte während des Tanzes zufällig in der Nähe des Herzogs gestanden, als hochderselbe den Bären von Hohen-Esp durch seine Ansprache auszeichnete.
Ihr Blick streifte die Sprechenden und schärfte sich plötzlich, als er das Antlitz Guntram Kraffts traf.
Die Veränderung in seinem Aussehen fiel ihr auf, — sie war sehr vorteilhaft.
»Sehen Sie doch, mein gnädiges Fräulein« — lachte auch ihr Tänzer, »vor Serenissimus wandelt sich der tolpatschige Bär zum Löwen! Er sieht wirklich ausgezeichnet aus, der Hohen-Esper, und wenn man ihn [S. 155] scherzend den modernen Parzival nennt, so hat man nicht so unrecht, denn Frau Herzeleides Sohn zeichnete sich ja auch durch besondere Schönheit aus!«
»Durch die Schönheit eines ritterlichen Kämpen.« —
»Denken Sie sich jenen Mann in die Rüstung eines Gralsritters, und er würde schön sein wie ein Gott!« —
»Er ›würde‹ — freilich! — aber er wird es nie werden!« —
»Leider, jene Zeiten sind vorüber!« —
»Sie leben noch in jedem Manne fort, welcher Säbel oder Degen führt, welcher kühn bereit ist, in den Kampf für Fürst und Vaterland zu ziehen!«
Der junge Assessor verneigte sich geschmeichelt.
»Sehr verbunden, mein gnädiges Fräulein, diese Anerkennung tut einem Soldatenherzen wohl! Ich bin zwar nur Reserveoffizier, aber zähle mich dennoch zum Ganzen!«
»Mit Fug und Recht! Sie dienen dem Vaterlande mit Feder und Schwert zugleich!«
»Der Bär von Hohen-Esp tut es mit dem Pfluge!« Sie sah ihn groß und erstaunt an. »Indem er sich selber zum reichen Mann macht?«
»Auch dadurch. — Wenn sich ein Landwirt bemüht, seine Güter auf eine stets höhere Kulturstufe zu bringen, sie stets ertragsfähiger und besser zu machen, so dient er damit indirekt auch seinem Vaterlande. Außerdem ist anzunehmen, daß ein Mann, dessen persönliche Lage sich ständig hebt, darauf bedacht ist, für seine Arbeiter und deren Wohlergehen, für seine Bediensteten und deren günstige finanzielle Lage zu sorgen. Er arbeitet dadurch am besten an der Lösung der großen sozialen Lage mit und schafft in seinem Kreise vielleicht mehr Gutes, als manch ein Held der Feder und des Säbels Zeit seines Lebens! — Ganz abgesehen von dem erziehlichen und fördernden Einfluß, den gerade der Gutsbesitzer in seinem kleinen Reiche ausüben kann!«
»Das mag alles sehr logisch sein,« zuckte die junge Dame etwas ungeduldig die Achseln, »aber es bezieht sich leider nur auf die Gräfin und nicht auf ihren Sohn! [S. 156] Außerdem sind wir Frauen zu kurzsichtig, um solch ein Wirken in der Stille genügend anzuerkennen. Für die Mutter genügt es mir, für den Sohn nicht!«
»Und warum nicht für diesen?«
»Weil ich bei einem Manne Taten sehen will! Es steckt in jedem Mädchenkopf ein gutes Stück Romantik, welches den Wert eines Mannes nur nach der Qualität von Mut und persönlicher Kühnheit bemißt, welche er zeigt. Die idealste Tat imponiert mir gar nicht, wenn der Betreffende, welcher sie ausübt, sich nicht dabei exponiert und sein Leben aufs Spiel setzt! — Wenn heute ein reicher Mann Hunderttausende hingibt für den Bau eines Krankenhauses, so finde ich das sehr edel, sehr lobenswert und schön, aber mein Herz wird für den hochherzigen Spender nicht um einen Hauch schneller schlagen wie vorher! Wenn aber ein Soldat mit kühnem Hurra im Kugelregen vorwärts stürmt, um für seinen Kaiser einen Sieg zu erkämpfen ... wenn ein Mensch sich mutig in ein brennendes Haus wagt, um ein Kind zu retten ... wenn er sich daherrasenden Rossen entgegenwirft, einen Greis zu schützen ... ja, das ist Heldenmut, welcher mich stets zu heißem Entzücken, zu flammender Bewunderung begeistern wird!« —
»Ich verstehe Sie und Ihre Ideale vollkommen, mein gnädiges Fräulein, und freue mich dessen, wenngleich Sie bei all Ihrer edlen Leidenschaftlichkeit doch etwas engherzig urteilen. Jeder leistet gewiß so viel, wie in seinen Kräften steht, aber jeder muß sich auch den Verhältnissen anpassen, in welche ihn Gottes Vorsehung gestellt hat. — Wenn die Völker nicht aufeinander schlagen, wird es schwer sein, sich blutige Lorbeeren auf dem Schlachtfeld zu pflücken, und wenn kein Haus brennt, hält es schwer, Gefährdete zu retten! — In unsern, gottlob so stillen Zeiten lassen sich Taten, welche man mit den Augen sieht, am wenigsten vollbringen; aber warten Sie nur, — wenn sich die Gelegenheit bietet, wird auch Graf Hohen-Esp seinen Mann stehen!«
Ein sarkastisches Lächeln zuckte um Gabrieles Mund, [S. 157] mit ungläubigem Blick streifte sie die Reckengestalt des Genannten, welcher soeben vor den jungen Prinzessinnen stand und so befangen in sich zusammensank, als fehle Mark und Kraft in seinen Knochen, — dann wandte sie mit aufleuchtenden Augen das Köpfchen und sah Herrn von Heidler entgegen, welcher sich hastig zu ihr Bahn brach und um eine Extratour bat.
Die breite Narbe auf seiner Stirn hob sich dunkelrot von dem erhitzten Gesicht ab, die Narbe, welche stets von dem schweren Sturz erzählen wird, welchen der schneidige Kavallerist sich bei tollkühnem Ritt geholt! — Gabrieles Herz schlägt hoch auf, sie legt die bebende Hand auf seinen Arm und blickt sekundenlang in das scharfgeschnittene, trainierte Gesicht mit den unruhig flackernden Augen empor. —
Hart, eisern — fest ist es — wie aus Bronze gegossen; der Griff, mit welchem er ihre schlanke Gestalt beinahe an sich reißt, hat nichts so Zartes, Rücksichtsvolles, wie die Hände des Bären von Hohen-Esp, als er sie, behutsam, wie ein zartes Vögelchen, aus dem Schnee hob.
Gabriele liebt solche Weichlichkeit nicht. Ihr Blick brennt auf dem roten Streifen, welcher seine Stirn zeichnet, und durch ihren Sinn zieht es wie jubelnde Weise: »Wie lieb' ich dich erst um die Narb' auf der Stirn — und das eiserne Kreuz auf der Brust!« —
Frau von Sprendlingen stand in etwas langweiligem Gespräch mit einer alten Exzellenz nahe der Empore, auf welcher die höchsten Herrschaften Platz genommen, dem Tanze zuschauten oder Cercle hielten.
Sie hatte beobachtet, wie huldvoll der Herzog mit Graf Guntram Krafft gesprochen, wie auch die fürstlichen Damen ihn auszeichneten, und wie der Erbe von Hohen-Esp sich bei dem neu beginnenden Tanz mit tiefer Verneigung zurückzog, um einen Augenblick an der blütenduftigen Wanddekoration stehen zu bleiben, um auf das farbenglänzende Bild im Saal herabzuschauen.
Baronin Sprendlingen verabschiedete sich mit ein paar liebenswürdigen Worten und schritt — anscheinend nur in den Anblick der hohen Herrschaften vertieft, langsam an dem Wanddiwan entlang.
Ein feines, nervöses Zucken spielte um ihre Augen, ein Zeichen, daß sie geärgert oder nervös war, und wenn ihr Blick zufällig Komtesse Thea streifte, so bekam er beinahe etwas Feindseliges.
Frau von Sprendlingen besaß viel Scharfblick und Menschenkenntnis, und das Gespräch zwischen Thea und dem Grafen, welches sie unfreiwillig belauscht, hatte ihr die Überzeugung gegeben, daß die Komtesse bemüht war, auf sehr feine und geschickte Art gegen Gabriele zu intrigieren.
Die Komtesse war bereits zu der Überzeugung gekommen, daß sie, als sehr wenig bemittelte junge Dame, kaum Chancen hatte, zu heiraten, geschweige eine glänzende Partie zu tun.
Der Hohen-Esper aber war eine solche, und die junge Dame schien klug genug, das Eisen allsogleich zu schmieden, [S. 159] solange es noch heiß und der Graf unbekannt in der Gesellschaft war.
Wenn man momentan auch noch ein wenig witzelte über den Einsiedler von Hohen-Esp und ihn mehr neugierig wie begehrlich betrachtete, so wußte Frau von Sprendlingen doch, daß er sich gar bald hier eingelebt und der Gegenstand brennenden Interesses für Mütter und Töchter sein werde.
Schon jetzt hörte man überwiegend mehr Anerkennendes aus dem Mund der Damen wie Spöttisches, und die Schönheit des jungen Mannes schien der Punkt zu sein, an welchem eine allgemeine Begeisterung für den reichen Grundbesitzer einzusetzen beabsichtigte.
Ganz wie von ungefähr näherte sich die Baronin dem Sohne Gundulas und bemerkte es voll äußerster Genugtuung, wie sein Blick, ein wenig verdüstert, aber sehr beharrlich ihrer Tochter folgte.
Sie nestelte die langstielige, sehr elegante Lorgnette an der goldenen Kette von dem Fächer los und hob sie an die Augen, und als der Graf mechanisch auf die elegante, noch immer sehr schöne und jugendliche Frau herniedersah, schien sie ihn just in diesem Moment erst zu bemerken und zu erkennen.
Sie wandte sich ihm sichtlich überrascht und erfreut zu und bot ihm die kleine Hand, über welcher die kostbaren Armspangen funkelten, entgegen.
»Sieh da, Graf Hohen-Esp! welch eine Freude, Sie hier bei Spiel und Tanz begrüßen zu können! Hoffentlich sind Sie schon bei der Jugend bekannt geworden und amüsieren sich vortrefflich?« —
Einen Augenblick schien der Genannte nicht recht zu wissen, wen er vor sich hatte.
Er verbeugte sich in seiner etwas linkischen und befangenen Weise und stammelte eine Antwort, von welcher Frau von Sprendlingen wenig verstand.
»Hoffentlich hat Ihnen meine Tochter Gabriele einen Tanz aufgehoben?« fuhr die schöne Frau mit anmutigem Lächeln fort. »Es ist heute einer jener seltenen Tage, [S. 160] an welchen die Herren in der großen Überzahl sind und die Tanzkarten infolgedessen bald ausverkauft sind!« —
Die Sprecherin beobachtete das Antlitz des jungen Mannes und war sehr befriedigt, als sie das jähe Aufleuchten seiner Augen sah, das plötzliche, lebhafte Interesse bemerkte, sobald sie den Namen Gabrieles nannte.
»Oh, Frau von Sprendlingen!« rief Guntram Krafft mit jäher Röte in den Wangen, in seiner so ehrlich-naiven Art: »Jetzt erst erkenne ich Sie, gnädigste Frau! Die Damen sehen in den Balltoiletten alle so märchenhaft verändert aus, daß man sich selbst mit dem besten Gedächtnis in dieser neuen Welt schlecht zurechtfindet!«
»Wie begreiflich ist das! — So fanden Sie auch meine Tochter noch nicht unter den vielen unbekannten Tänzerinnen heraus?«
»Fräulein von Sprendlingen? Selbst mit blinden Augen würde ich sie erkennen!«
Das klang aus tiefstem Herzen heraus, und die Generalin lächelte abermals.
»Wie liebenswürdig Sie das sagen! — Ich hoffe, daß Sie zum mindesten den Kotillon mit ihr tanzen?«
Ein Schatten flog über das strahlende Gesicht des jungen Bären.
»Ich kam zu spät, gnädigste Frau!« sagte er leiste.
»Oh! in der Tat? Darüber müssen Sie mich genau unterrichten! Sind Sie für diesen Tanz verpflichtet oder haben Sie Zeit, mir ein wenig Gesellschaft zu leisten? Hier unter dem Rundbogen der Nische sitzt es sich sehr nett, setzen wir uns zum Plaudern nieder.«
»Sehr gnädig — ich bin überaus dankbar!« stammelte Guntram Krafft, und abermals leuchtete ihm die Freude aus den Augen. Die schlanke, elegante Frau mit dem zarten, blassen Gesichtchen und dem so sehr gewinnenden Ausdruck in den schönen Zügen hätte nicht Gabrieles Mutter zu sein brauchen, um es ihm anzutun, er hatte schon bei seinem ersten Besuch lebhafte Sympathie für sie empfunden, und dieses Gefühl steigerte sich in diesem [S. 161] Augenblick zu herzlichster Begeisterung. Empfand er doch heute, inmitten all der fremden, so wenig entgegenkommenden Menschen, jedes freundliche Wort doppelt dankbar.
Nun war es Gräfin Thea nicht mehr allein, welche ihm wie ein rettender Engel in seiner Verlassenheit erschien, Gabrieles Mutter ließ sein Herz noch schneller und erregter in diesem Augenblick schlagen, und er empfand es schon als großes Glück, mit ihr von der Wunderlieblichen zu plaudern, welche es seinem Herzen wie durch Spuk und Zauber angetan. — — — Er setzte sich neben Frau von Sprendlingen auf den Diwan nieder, und die weichen, glänzenden Falten ihrer fraisefarbenen Atlasschleppe legten sich wie ein Traumgefilde um seine Füße.
»Also Sie kamen zu spät zu Gabriele?« fragte die Baronin abermals mit ihrer weichen, angenehmen Stimme und entfaltete den duftigen Marabufächer vor der Brust. — »Wie kam das? Wir waren heute sehr präzise zur Stelle!«
»Dessen kann ich mich kaum rühmen, gnädigste Frau! Ich habe das fremde Terrain Schritt um Schritt erobert und bedurfte der Zeit, um mich in diesem Zauberreich zurechtzufinden. Sie ahnen nicht, wie völlig neu es mir ist, wie ich gleich einem Kind erst das Gehen auf dem höfischen Parkett lernen muß!«
»Davon merke ich nichts — oder besser gesagt, Sie lernen zum Erstaunen schnell! Gleichwohl begreife ich, daß Sie heute nicht Herr der Zeit gewesen! So fanden Sie Gabriele erst jetzt während des Tanzes!«
Er senkte das Haupt tiefer und blickte auf die schimmernden Atlasfalten, auf das wirre, feine Spitzengeriesel, welches sie umsäumte, nieder.
»Doch nicht, gnädigste Frau ... ich konnte mich Ihrer Fräulein Tochter noch in der Galerie bekannt machen ... aber ... ich kam zu einer sehr ungelegenen Zeit ...«
Die letzten Worte klangen so leise, daß Frau von Sprendlingen sie kaum verstand. Sie hob jäh den Kopf.
»Ungelegenen Zeit? Was verstehen Sie darunter, lieber Graf?«
Da schauten sie seine großen, ehrlichen, blauen Kinderaugen unendlich traurig an.
»Ihr Fräulein Tochter stand im Begriff, sich zu verloben«, sagte er treuherzig.
Die Generalin machte eine beinahe entsetzte Bewegung. »Gabriele sich verloben? — Herr des Himmels, mit wem denn?«
»Mit jenem schlanken, dunkelhaarigen Dragoner, welcher eine breite Narbe auf der Stirn trägt; der Name ist mir wieder entfallen, gnädigste Frau!«
»Mit Heidler?« Frau von Sprendlingen klappte bewegt den Fächer zu: »O welch eine lächerliche, absurde Idee! — Wer hat Ihnen solch einen Unsinn vorgeredet, Graf?«
Schier atemlos starrt der Bär von Hohen-Esp die schöne Frau an seiner Seite an. Wieder stieg es heiß und rot in seinem Antlitz auf.
»Es ist nicht wahr? — Es ist ein Irrtum?« klang es wie leiser Jubel von seinen Lippen —: »O, das wäre ja ...« und er unterbrach sich plötzlich voll tödlicher Verlegenheit und starrte abermals auf die duftige Atlasschleppe nieder. —
»Solches Märchen hat Ihnen gewiß Gräfin Thea Sevarille vorerzählt!« lachte die Generalin, und doch flimmerte es in ihrem Blick wie geheimer Triumph, das Spiel der kleinen Intrigantin richtig durchschaut zu haben —: »Die jungen Mädchen wittern ja sofort eine Verlobung, wenn ein Herr etwas den Hof macht, und bedenken in ihrem mitteilsamen Eifer gar nicht, daß zum Verloben doch immer zweie gehören!«
»Herr von Heidler liebt Fräulein Gabriele wohl sehr?« fragte Guntram Krafft wieder in seiner beinahe kindlichen Aufrichtigkeit, und abermals klang es wie geheime Sorge durch seine Stimme.
»Je nun — er schwärmt meine Tochter an und zeigt das sehr aufrichtig!« lächelte Frau von Sprendlingen [S. 163] ein wenig ironisch —: »aber das tun doch sehr viele der jungen Herren, denn Gabriele ist allgemein beliebt und recht gefeiert! Aber an Verloben denkt sie durchaus nicht — und wenn sie zu Herrn von Heidler vielleicht etwas liebenswürdiger ist wie zu andern Herren, so kommt das einfach daher, weil sie ihn schon seit einer langen Reihe von Jahren kennt!«
Guntram Kraffts Blick hing in atemlosem Lauschen an den Lippen der Sprecherin.
Es war, als ob er aus jedem ihrer Worte neue Zuversicht und frischen Lebensmut schöpfte; seine Augen strahlten wie verklärt, und er bemühte sich auch gar nicht, seine Freude zu verbergen.
»So liebt er sie ... aber sie nicht ihn?« fragte er leise und sah die Baronin an, als habe er auch nicht das kleinste Geheimnis mehr vor ihr.
Frau von Sprendlingen lachte abermals.
»Es ist meine feste Überzeugung, und ich hoffe, daß ich mich nicht irre! Die Welt, und namentlich die lieben Freundinnen meiner Tochter, sagen Gabriele — ebenso wie jedes andere vielumschwärmte Mädchen — gern verlobt, in der Hoffnung, sie dadurch unschädlich zu machen; daran muß man sich hier in der Residenz gewöhnen, bester Graf, und durchaus nicht alles glauben, was die Leute sagen! Nun aber erzählen Sie mir weiter! Gabriele hatte keinen Tanz mehr frei?«
»Keinen, gnädigste Frau.«
»Aber Sie holten sich schon eine Extratour bei ihr?«
Da blickte er sie wieder recht treuherzig und verlegen an.
»Das wage ich nicht. Ich wollte überhaupt nicht mit Ihrer Fräulein Tochter tanzen, sondern nur plaudern.«
»Ah! Sie überraschen mich!«
»Ich kann nicht tanzen, Frau Baronin! Ich lernte es nie in der Art, wie man hier tanzt.«
»Sehr begreiflich! In der Einsamkeit Ihrer schönen Strandburg ist dazu wohl kaum Gelegenheit! — Aber [S. 164] in einer Pause könnten Sie das Versäumte doch nachholen?«
»Ich habe nicht den Mut dazu. Ich bin unbeholfen und weiß nicht, was ich mit jungen Damen reden soll. Meine einseitigen Interessen sind wohl nicht die ihren, und die große Welt ist mir fremd.«
»Sie waren so sehr liebenswürdig, meiner Tochter als Retter zu Hilfe zu kommen, als sie jüngst ein kleines Unglück mit dem Schlitten hatte?«
Seine Augen leuchteten wieder auf, er bejahte sehr lebhaft und freute sich des Zufalls, welcher ihn just in jenem Augenblick des Wegs daher geführt.
»Ei, so fragen Sie doch meine Tochter, wie ihr jene unfreiwillige Bekanntschaft mit dem Schnee bekommen ist!« scherzte die Generalin. »Wenn der Anfang zu einer Unterhaltung gefunden ist, haben Sie das Schwerste überstanden!«
»Fräulein von Sprendlingen ist stets sehr umlagert ... und ... sie möchte es wieder ungnädig aufnehmen, wenn ich störe!«
»Haben Sie bereits zu Tisch engagiert?«
»Nein, gnädigste Frau, daran dachte ich noch nicht. Muß man das?«
»Man muß nichts, was man nicht will! Aber ich möchte Ihnen einen guten Rat geben. Wie ich höre, ist die Jugend auch heute nicht plaziert, und Gabriele sagte mir, daß Herr von Heidler in der Bildergalerie an Tafel III Plätze belegt habe. — Nun kommen Sie einmal mit — ich führe Sie bis zu der Galerietür, — dann suchen Sie sich den Tisch Nr. 3 auf und belegen sich daselbst einen Platz mit Ihrer Visitenkarte!« —
»O, vortrefflich! In der Nähe Ihres Fräulein Tochter?«
»Wenn Sie das wünschen!«
»Über alles wünsche ich es mir!«
Der junge Bär von Hohen-Esp war wie ausgewechselt, er lachte und sprach lebhafter wie je zuvor.
»Gut! Reichen Sie mir Ihren Arm, Graf, wir wollen diese Quadrille benutzen, um uns den Weg zu bahnen!«
Er sah ihr noch einmal mit leuchtendem Blick in die Augen.
»Ich danke Ihnen!« sagte er wie aus tiefstem Herzen heraus.
Frau von Sprendlingen lächelte: »Glauben Sie in Zukunft nichts, was die Leute faseln! Sie sehen, wie falsch man Sie unterrichtet hatte!« —
Sie schritten an dem Diwan entlang, den großen, goldenen Saaltüren zu, und Frau von Sprendlingen hatte das Empfinden, als sei der Mann mit der hohen Reckengestalt an ihrer Seite ein Baby, welches sie mit einem einzigen Wort, einem einzigen Druck ihrer zierlichen Hand lenkt und dirigiert, wohin es ihr beliebt.
Ihr Blick flog hinüber zu Gräfin Thea, welche, sichtlich zerstreut, ihre Quadrille tanzte, — sie sah weder den Graf von Hohen-Esp noch seine Begleiterin — und ein feines Lächeln des Triumphes zuckte um ihre Lippen.
Guntram Krafft stand vor dem Tisch Nr. 3 und übersah die Visitenkarten, welche auf den Gläsern lagen.
Ein jeder Platz war besetzt.
Unschlüssig und tief enttäuscht schaute er über die Tafel.
»Wünschten der Herr Graf gerade an diesem Tisch zu sitzen?« fragte es hinter ihm.
Ein Lakai und der Haushofmeister, welcher mit jeder neuen Erscheinung am Hofe vertraut schien, trat diensteifrig näher und verbeugte sich ebenso höflich wie respektvoll.
»Es wäre mir allerdings sehr lieb gewesen!« versicherte der Hohen-Esper, sehr angenehm durch das Interesse des alten Hofbeamten berührt.
»Aber bitte, Herr Graf! Nichts leichter wie das! Es müssen sowieso noch Plätze eingeschoben werden, da der Herr Hofmarschall noch in dem letzten Augenblick Ansagen von benachbarten Garnisonen erhielt! Also fügen wir noch ein Kuvert ein ... befehlen Herr Graf vielleicht [S. 166] hier?« — und er neigte den wohlfrisierten Kopf und las: »von Heidler ... ah ... unser Vortänzer ... dann hier seine Dame ... und neben derselben ... befehlen der Herr Graf?... oder vielleicht hier an der Ecke ...«
»Nein, nein! Danke verbindlichst! Der Platz hier ... welchen Sie zuerst bezeichneten, ist mir sehr angenehm ...« und der Sprecher zog seine Visitenkarte aus der Brusttasche und reichte sie dar.
Wieder stieg die heiße Glut in seine Wangen, und voll verlegener Hast wandte er sich und schritt nach dem Saal zurück.
Ihm war's, als müßte man ihm all seine jubelnden Gedanken von der Stirn ablesen! Vor wenig Minuten hatte er gewähnt, all die hellen Kerzen ringsum seien erloschen und dunkle, trostlose Nacht umgebe ihn, seit er gehört, Gabriele sei die Braut eines andern, und nun plötzlich, als er vernimmt, daß dies Gerede eitel Lug und Trug ist, da schlägt sein Herz auf in ungestümer Glückseligkeit, und die elektrischen Flammen ringsum blenden ihm die Augen, so leuchten und funkeln sie!
Warum das? —
Er vermag sich selber kaum Rechenschaft darüber zu geben, er überläßt sich willenlos dem fremden, eigenartigen Zauber, welcher ihn gefangenhält.
In der mit Blumen dekorierten Vorhalle des Saales treten ihm ein paar ältere Herren mit Band und Stern entgegen und reden ihn in liebenswürdiger Weise an.
Sie sind Tänzer und Jugendbekannte seiner Mutter gewesen und erkundigen sich voll aufrichtigen Interesses nach Gräfin Gundulas Ergehen.
Guntram Krafft freut sich, von ihr sprechen zu können, er empfindet es voll stolzer Genugtuung, daß man seine Mutter so hoch schätzt und verehrt, und als der eine der Herren die Hand auf seinen Arm legt und sagt: »Kommen Sie, Graf, ich muß Sie zu meiner Frau bringen! Sie ist ebenfalls eine gute Bekannte Ihrer Frau Mutter von früherer Zeit und wird sich sehr freuen, von ihr zu [S. 167] hören und ihren Sohn kennenzulernen!« — da folgt der junge Mann so heiter und unbefangen, als ob ihn die letzte halbe Stunde heimisch auf dem Parkett gemacht habe.
Er sieht im Vorüberschreiten Gräfin Thea, welche ihm lebhaft zuwinkt.
»Wo um alles in der Welt stecken Sie denn, Graf? Ich möchte Sie gern den jungen Damen vorstellen! — Halten Sie ihn bitte nicht allzu fest, Exzellenz — zum nächsten Walzer ist er urkundlich verpflichtet!«
Sie hält lachend die Tanzkarte empor, und der Begleiter Hohen-Esps zuckt scherzend die Achseln. »Wenn Sie den Grafen allerdings an solch holde Pflicht gemahnen, Komtesse, wird er mir fahnenflüchtig, noch ehe er der alten Garde den Eid geleistet hat! — Aber unbesorgt — ich war zeitlebens ein unbescholtener Mann und begehre nicht meines Nächsten Weib, Knecht oder Walzertänzer!! — Au revoir! « —
Und als der nächste Tanz mit den weichen, lockenden Klängen der »Rosen aus dem Süden« einsetzt, stockt Guntram Krafft plötzlich in der Unterhaltung mit der Frau Minister und schaut abermals in Gräfin Sevarilles erhitztes Gesichtchen, welches ihm aus nächster Nähe zulächelt.
»Sie haben engagiert, lieber Graf?« fragte die alte Dame in schnellem Verstehen: »Das ist recht! Ich werde mich freuen, Sie tanzen zu sehen! Und den achtundzwanzigsten dieses Monats reservieren Sie uns also ... wir werden uns freuen, Sie zum Diner bei uns begrüßen zu können.«
Der Bär von Hohen-Esp dankt sehr erfreut, verneigt sich und steht im nächsten Augenblick an der Seite der Komtesse.
Er hat es so eilig, ihr zu erzählen, daß es mit der Verlobung Gabrieles ein großer Irrtum ist, aber er kommt fürerst nicht dazu, denn Thea spricht lebhaft auf ihn ein, wendet sich zu den nächststehenden jungen Mädchen und stellt ihnen den Graf vor.
Man lächelt ihm sehr liebenswürdig zu, beginnt ein allgemeines Gespräch und macht dem »modernen Parzival« klar, daß er unter allen Umständen tanzen müsse!
»Sie sehen, Graf, man tanzt hier keinen Walzer, sondern nur Galopp! Je nun, und das ist doch kein Kunststück! Wer so wie Sie eines Hauptes länger ist, wie alles übrige Volk, steuert doch ohne jedwede Gefahr durch all diese Wirbel und hohe Flut!«
Das ist ein Wort!
Guntram Kraffts Auge blitzt auf, — er lacht und verneigt sich vor Thea.
»Mut hat auch der Mameluck, Komtesse — riskieren Sie es mit mir Seebären?«
Einen Augenblick neigt sie das Köpfchen zurück und sieht zu ihm auf.
Welch ein Blick!
Wenn der Einsiedler von Hohen-Esp nicht arg zu naiv wäre, würde er viel, sehr viel darin lesen!
Aber der Graf denkt gar nicht darüber nach, was sich wohl in den Augen einer Komtesse Sevarille spiegeln möchte, er hat nur einen einzigen Wunsch, den — es zu versuchen, ob er sich wahrlich unter die Reihen der Tänzer wagen kann, ob er die Probe bestehen wird, um alsdann auch den Arm um jene andere, Einzigste legen zu können, welche all sein Sinnen und Denken gefangennimmt.
Und er tanzt, — wohl nicht ganz so gewandt und elegant wie die andern Herren im Saal, aber doch sicher und gut, ohne im mindesten unliebsam aufzufallen.
»Bei einem Galopp kommt es nur auf die sichere Führung an!« hat eine der Damen soeben noch ermutigend gesagt, nun, und sicher hat der bärenstarke Arm des Hohen-Esper seine Dame gehalten!
Mit heißgerötetem Antlitz führt er Thea an ihren Platz zurück, und die andern Damen und Herren, welche gewartet haben, voll neugierigen Interesses das »erste Debut des Parzival« zu beobachten, begrüßen ihn mit lebhaftem Beifall.
Guntram Krafft hat es gar nicht bemerkt, wie aller Blicke ihm während des Tanzes gefolgt sind, er hat es nicht gehört, daß der Herzog sich erfreut und anerkennend darüber äußert, — er schaut nur suchend über die bunte, wirbelnde Menge, ob er nicht Gabrieles Köpfchen erspähen kann.
Und er sieht sie plötzlich in nächster Nähe, sieht direkt in die wundersam hellen, großen Nixenaugen hinein, welche wie staunend auf ihn gerichtet sind.
Und Guntram Krafft lacht noch glückseliger wie zuvor, sagt Komtesse Thea ein herzliches Dankeswort und richtet sich hoch und kühn auf — in Wahrheit wie ein junger Bär, welcher sich plötzlich seiner Kraft bewußt wird, wendet sich und steht im nächsten Augenblick vor Fräulein von Sprendlingen. »Darf ich bitten, mein gnädiges Fräulein?«
Da starren ihn die meerfarbenen Augen abermals an wie aufs höchste überrascht ob einer solchen Zumutung, und dann wendet sie das Köpfchen und wechselt einen sekundenlangen, unendlich vielsagenden Blick mit dem schlanken, jungen Garde-Grenadier-Offizier, welcher neben ihr steht.
Der lächelt sehr verständnisinnig —: »Ich begreife, Baronesse!« dreht sich kurz auf dem Hacken um und eilt als vielbeschäftigter Vortänzer davon, — Gabriele aber legt langsam, beinahe zögernd den Arm auf den des Grafen und sagt: »Wir werden noch einen Augenblick warten müssen, es ist sehr wenig Raum zum Tanzen!«
»Wie Sie befehlen, Fräulein von Sprendlingen!« antwortet Guntram Krafft und umschließt mit bebender Hand ihre weiche, schmiegsame Gestalt.
Wie rote Nebel wallt es vor seinen Augen, die Aufregung schnürt ihm die Kehle zusammen, er hat das Gefühl, als wanke der Boden plötzlich unter seinen Füßen, und doch möchte er aufjauchzen vor Glückseligkeit, wie daheim, wenn er dem wilden, feindlichen Meer eine Beute abgetrotzt!
Einen Augenblick harrt er so ... noch einen ... und [S. 170] da ... gerade als er lostanzen will, bricht die Musik mit kurzem Schlusse ab.
Der Garde-Grenadier ist in die Mitte der Tanzenden getreten und hat die Hand mit kurzer Geste nach dem Orchester hinter dem Goldgitter der Galerie gehoben.
Guntram Krafft, der Neuling, bemerkte es nicht, er blickt nur erschrocken zu Gabriele nieder und sagt bedauernd: »O wie schade!« — und Fräulein von Sprendlingen lächelt ganz wunderlich, löst die Hand von seinem Arm und tritt von ihm zurück.
»Bedaure sehr!« sagt sie kühl, wendet das Köpfchen und begrüßt eine junge Hauptmannsfrau, welche jetzt am Arm ihres Tänzers vorüberschreitet und ihr zunickt.
Wenige Augenblicke, nachdem Gabriele sich so wenig höflich von Guntram Krafft abgewandt hatte, trat Frau von Sprendlingen zu ihrer Tochter heran und flüsterte ihr ein paar inhaltsschwere Worte in das Ohr.
Der breitgehaltene Fächer dämpfte den Klang derselben und verdeckte das Gesicht der Generalin, aber man bemerkte trotzdem, daß sie erregt und sehr energisch sprach.
Über Gabrieles reizendes Gesicht flog ein Schatten.
»Es war ja ein Glück, daß die Musik just schwieg.«
»Mama! Warum soll ich mit ihm tanzen? Es hat gar keinen Zweck! Begeistern werde ich mich nie für das Muttersöhnchen — warum also seine lächerliche Sympathie für mich durch irgend welche Höflichkeit nähren?«
»Es ist hier nicht Zeit und Ort, darauf zu antworten; ich befehle dir jedoch, den Grafen nicht unfreundlich zu behandeln, wenn er sich dir noch einmal nähern sollte! Hörst du, Gabriele? Ich verlange und fordere es von dir als ein Zeichen deiner Liebe für mich!«
Die junge Dame seufzte leicht auf.
»Ach, hätte Frau Gundula doch etwas Besseres getan, als ihrem Baby die verlorenen Taler wieder zusammengespart! Je nun ... ich werde versuchen, mich dem Reigen um diesen modernsten Götzen anzuschließen!«
»Frau Gundula handelte vortrefflich, indem sie für ihren Sohn sorgte, aber der alte Herr von Heidler, der die Güter verpraßte, anstatt sie seinem Erben zu erhalten ... wie handelte der?«
Gabriele kannte den scharf ironischen Zug um die Lippen der Mutter, sie zuckte beinahe wehmütig die schönen Schultern: »Geld macht ja doch nicht glücklich, Mama, — und es ist doch tausendmal besser und moralischer, einen [S. 172] armen Mann aus Liebe, als wie einen reichen aus Berechnung zu heiraten!«
»Narrheit! Wenn du doch endlich merken wolltest, daß gerade der ›arme‹ Mann viel zu klug und kaltherzig ist, um je aus Liebe ein unbemitteltes Mädchen zu freien!«
»Ich bin ja nicht unbemittelt, Mama!«
Frau von Sprendlingen biß momentan wie in großer Nervosität die Zähne zusammen. »Gleichviel, du tust, wie ich dir befehle!« sagte sie kurz, voll ganz ungewohnter Strenge, klappte den Fächer zu und wandte sich mit liebenswürdigstem Lächeln wieder ein paar Damen und Herren zu, welche sie schon seit Beginn des Festes wie den Stein der Weisen gesucht hatten! —
Man hatte sich zu Tisch gesetzt.
Gräfin Thea bemerkte es zu ihrem großen Verdruß, daß Graf Hohen-Esp sie nicht engagierte, so nahe sie es ihm auch gelegt hatte, daß sie das Souper »vorsichtigerweise« noch freigehalten habe.
Guntram Krafft reagierte nicht darauf. — Als er direkt nach seiner Extratour mit ihr zu Gabriele schritt und »beinahe« mit ihr getanzt hätte, grub Gräfin Sevarille die Zähnchen recht ärgerlich in die Lippen.
War denn der naive Schwärmer unverbesserlich, daß er so schnell den fatalen Eindruck, den die »Verlobung« des Fräulein von Sprendlingen auf ihn gemacht, abschüttelte und nach wie vor nach einem Zipfelchen ihrer Schleppe haschte, um es als blinder Sklave durch die Saison zu tragen?
Seltsam, seine erst so melancholische Stimmung schien der strahlendsten Laune Platz gemacht zu haben, welche selbst der »entgleiste« Walzer mit der Angebeteten nicht zu trüben vermochte.
Der Graf kehrte ebenso heiter und guter Dinge zu ihr zurück, als wie er von ihr gegangen, schien absolut kein Verständnis für die kleinen Bosheiten zu haben, welche Thea so geschickt auf Fräulein von Sprendlingen in Anwendung brachte, und bei welchen ihr ein paar [S. 173] verblühte Präsidententöchter und ein sehr dicker Jagdjunker eifrigst sekundierten. Er stand während der nachfolgenden Française vor dem erhöhten Wandpolster und folgte dem Tanz mit sichtlichem Interesse, dann sprach er noch recht lebhaft mit einem Ministerialrat, und als Gräfin Thea für etliche Minuten durch eine sehr amüsante Konfusion in Anspruch genommen ward und danach wieder verstohlen nach dem Bär von Hohen-Esp ausschaute, war derselbe zu ihrem nicht geringen Schrecken spurlos verschwunden!
Gerade jetzt, wo es zum Souper ging und Thea sich schon einen scharmanten kleinen Trick ausgedacht hatte, um sich den bis jetzt so unhöflich verweigerten Arm des Grafen zu erzwingen.
Wohin war er verschwunden?
Voll nervöser Unruhe schaute die junge Dame zuerst nach Gabriele aus und sah es zu ihrer großen Genugtuung, daß dieselbe am Arme Heidlers den Saal verließ.
Das beruhigte sie ein wenig, aber fatal war es momentan doch, daß sie über keinen Tischherrn verfügte.
Ein blutjunger Artillerist schaute sich suchend um und trat hastig näher.
»Sind Komtesse etwa nicht engagiert?«
»Selbstredend, — aber man scheint mal wieder Konfusion gemacht zu haben —«
»Darf ich gehorsamst bitten?« —
Etwas übellaunig und zögernd legte Thea die Hand auf den Arm dieses so sehr nichtssagenden und unbedeutenden Tischherrn. Seit zwei Jahren Leutnant! Gräßlich! So ein Gelbschnabel ohne jedweden goldenen Hintergrund rechnete bei ihr überhaupt nicht mit.
»Ich hatte mich mit Graf Hohen-Esp für denselben Tisch verabredet, Herr von Stark!« sagte sie schnell. »Der Graf ist fremd hier und wird gewiß hilflos umherirren und in den diversen Galerien nach mir suchen! Lassen Sie uns dem Ärmsten zu Hilfe kommen ...«
»Graf Esp? Haha ... moderner Parzival ... haha ... wird wohl schon seinen Platz an König Artus Tafelrunde [S. 174] gefunden haben! Müßte mich sehr irren, wenn er nicht von einem der Kammerherren in den Thronsaal beordert ist! Was denken Komtesse? Der Mann ist ja Landstand! Trotz seiner Hinterwäldlerart! — Die Güter verschaffen ihm Sitz und Stimme! — und wir ... haha ... in die Ecke, alter Besen! — Aber darum wollen wir in unserem Turmstübchen doppelt fidel sein! — Darf ich bitten, Gnädigste ... wir bekommen sonst überhaupt keinen Platz mehr!« —
Thea zog die Brauen sehr ungnädig zusammen und folgte in denkbar schlechtester Laune. Welch ein Pech, daß der naive Neuling nicht rechtzeitig daran gedacht, sie zu engagieren — im Thronsaal sitzen ist just das, was Gräfin Sevarilles Ehrgeiz endlich einmal befriedigen würde.
Dennoch wird es ihr in diesem Augenblick klarer wie je, daß Graf Guntram Krafft es sein soll und muß, welcher sie das nächste Mal nicht nur an die Tafel der höchsten Herrschaften, sondern baldmöglichst auch als Herrin und Gebieterin in die Burg seiner Väter führen soll.
Daß die alte Bärin in derselben noch ihre despotische Herrschaft führt, beunruhigt Thea durchaus nicht, denn wenn sie erst an der Seite des gutmütigen und willenlosen Gatten zu befehlen hat, wird sich gar manches ändern!
Die junge Dame hat schon ihren Plan fix und fertig ausgearbeitet, und der moderne Parzival und Frau Herzeleide spielen eine verschwindend kleine Rolle darin.
Graf Guntram Krafft gefällt ihr ja ganz gut, ja, sie müßte lügen, wenn sie ihn nicht hübsch fände, aber Thea Sevarille ist viel zu modern erzogen, ist viel zu sehr ein Kind ihrer übervernünftigen Zeit, um dem Herzen jemals eine bestimmende Macht in ihrem Leben einzuräumen.
Alles, was sie denkt und tut, ist sehr vernünftig, und wenn zufälligerweise das Herz mit der Klugheit Hand [S. 175] in Hand geht, so ist es ein Vorteil mehr, mit welchem sie rechnen kann!
Aber zu der »ungeheuren Fröhlichkeit«, welche Herr von Stark für ihre »unterste Ecke« prophezeit hatte, steuerte sie an diesem Abend wenig bei.
Währenddessen hatte Guntram Krafft mit hochklopfendem Herzen hinter seinem Stuhl gestanden und Fräulein von Sprendlingen entgegengeschaut.
Am Arm des Herrn von Heidler nahte sie, das sonst so kühle und spröde Antlitz rosig überhaucht und seltsam belebt, die herrlichen, wundersamen Nixenaugen zu ihrem Partner erhoben, so strahlend und bewundernd, daß dem Bär von Hohen-Esp der Atem stockt. Und als sie ihre Plätze erreicht haben, mustert der Dragoner den unvermuteten Nachbar mit einem seiner finster blitzenden, beinahe beleidigend arroganten Blicke und sagt laut: »Na nu! was ist denn das? An Ihrer Seite hatte doch Hardenstein belegt, mein gnädiges Fräulein?« —
Schon steht der Haushofmeister neben dem Sprecher und verneigt sich sehr devot.
»Um Entschuldigung, Herr Leutnant! Wir mußten auf Befehl noch Plätze einschieben!«
»Hätten Sie auch mehr an der Ecke besorgen können!« zuckt Heidler in seiner rücksichtslosen Art die Schultern und fügt brüsk hinzu: »Na — es hilft nichts, Fräulein Gabriele, nehmen wir Platz! Ist ja schließlich auch gleichgültig.«
Die junge Dame nickt und lächelt, wirft den Fächer auf den Tisch und läßt sich müde auf den Stuhl nieder, daß die starren Seidenfalten unter dem duftigen Goldflor leise aufrauschen.
Ihr Blick trifft den Bär von Hohen-Esp, und die Augen blicken wieder so kalt — so unsagbar kalt und abweisend drein, daß all die frohe, heitere Zuversicht des jungen Grafen sich an ihnen zu Tode friert. Aber sie erwidert wenigstens durch eine kaum merkliche Neigung des reizenden Köpfchens seinen stummen Gruß.
Während der ersten Zeit hat Fräulein von Sprendlingen kein Wort und keinen Blick für ihren Nachbar, sie plaudert leise und lebhaft mit Herrn von Heidler, wie Guntram Krafft aus vereinzelten lauten Worten des jungen Offiziers entnehmen kann über Reiten und Sport.
Erst als das Gespräch allgemein wird und sich um die letzten Rennen dreht, welche der Dragoner mit viel Erfolg mitgeritten hat, wendet sich Gabriele recht gezwungen, ja beinahe widerwillig zu Graf Hohen-Esp und fragt ihn, ob er auch ein passionierter Reiter sei?
Ihre erst so leuchtenden Augen werden wieder so kühl und gleichgültig, daß den Gefragten dasselbe Gefühl der Befangenheit überkommt, welches ihn in Gabrieles Nähe kaum noch verläßt.
Das Blut steigt ihm in die Schläfen.
»Reiten?« wiederholt er zögernd, »gewiß reite ich täglich auf die Felder oder in den Wald hinaus, je nachdem es meine Tätigkeit als Landwirt bedingt! Wir verfügen jedoch nur über Pferde, welche mehr dauerhaft wie elegant sind, denn wir brauchen in erster Linie Arbeitspferde, aber keine Vollblüter!«
»Dann ist das Reiten allerdings weder ein Sport noch ein Vergnügen!« zuckt Fräulein von Sprendlingen die Achseln, und ihre Augen sehen aus wie die klare See, wenn jähe Wolkenschatten sie dunkel färben, — Herr von Heidler aber lacht mit gedämpfter Stimme auf und fügt hinzu: »Donnerwetter, nein! ein Hürdenrennen auf einem Ackergaul gibt es nicht!« —
Gabriele sieht den Graf scharf an.
Wird er auf solch beleidigenden Spott eine stolze, energisch abweisende Antwort haben? Nein, das Muttersöhnchen lacht mutig mit und findet es entschieden viel zu gefährlich, mit dem schneidigen Dragoner Händel zu bekommen, er sagt sogar ganz zustimmend: »Ich möchte es wenigstens nicht versuchen! Selbst auf einem Ihrer gut trainierten Renner nicht, Herr von Heidler! Das Reiten ist eine Kunst, welche gelernt und viel geübt sein will, — beides habe ich bisher versäumt!«
»Es gehört auch recht viel Courage und Schneid dazu, um auf der Rennbahn etwas zu leisten!« lächelt Gabriele beinahe verächtlich und mustert noch widerwilliger wie zuvor ihren Nachbar, welcher so hünenhaft groß und gewaltig neben ihr sitzt und doch so kläglich vor ihrem kritischen Blick zusammenschrumpft, wie ein Schatten vor der Sonne. —
Auch diese Ironie scheint der zahme Bär entweder nicht zu verstehen, oder er hält es für praktischer, den Harmlosen zu spielen.
»Gewiß, mein gnädiges Fräulein! Es gehört viel persönlicher Mut dazu, um flott über alle Hindernisse hinwegzugehen, denn leider gibt es jährlich wohl traurige Beweise genug, daß auch der Turf seine Opfer fordert.«
» Traurige Beweise?« Heidler klemmt das Monokel ein und zieht die narbige Stirn in Falten: »Es ist meiner Ansicht nach nie traurig, wenn ein Mann sich in seinem Beruf aufopfert und einen frischen, schönen Reitertod stirbt! Gäbe es keine Gefahr bei Mauern und Gräben, würden sie jedweden Reiz für mich verlieren!«
Gabrieles Blick leuchtete wie verklärt zu dem Sprecher auf, und Guntram Krafft nickt zustimmend vor sich hin und sagt leise: »Ja, es ist seltsam, daß gerade die Gefahr einen so seltsamen Reiz ausübt!« und er denkt dabei an sein wildes donnerndes Meer und an das gebrechliche Lotsenboot, welches er auf Tod und Leben in die Brandung hinaustreibt.
Gabriele kann aber diese Gedanken nicht von seinem geneigten Antlitz ablesen, sie glaubt nur ein gewisses zaghaftes Gruseln aus seinen Worten herauszuhören, und ihr Blick flammt beinahe verächtlich zu ihm auf.
»Wenn Sie nicht reiten — was tun Sie sonst den ganzen Tag auf Hohen-Esp?« —
Er lacht, als ob ihn diese Frage amüsiere: »Ich bin der erste Arbeiter meiner Mutter und schaffe das Meine; wissen Sie nicht, daß es auf dem Lande unendlich viel zu tun gibt, wenn der Gutsherr nicht auf der faulen [S. 178] Haut liegt, sondern selber Hand anlegt, wo und was es auch sei?« —
Sie verzieht den Mund noch ironischer. »Ich kenne das Landleben nur vom Hörensagen und halte das Säen, Pflügen und Dreschen für recht harmlose Beschäftigungen. Irgendeinen Sport üben Sie gar nicht aus?«
Er sieht abermals sehr betroffen, beinahe verlegen aus, und dieser Ausdruck im Gesicht steht ihm nicht.
»Ich weiß nicht recht, was Sie unter Sport verstehen, mein gnädiges Fräulein! Wenn meine Arbeit getan ist, gewährt es mir viel Freude und Genugtuung, auf der See zu rudern oder zu segeln!«
»Also — also doch eine Art Wassersport! Das ist ja jetzt auch modern!«
»Lieben Sie das Meer?«
Sie schüttelt unendlich gleichgültig den Kopf.
»Nein! Ich habe nicht das mindeste Interesse dafür. So eine ewig gleiche, endlose Wasserfläche ist für mich unaussprechlich öde und reizlos!«
Mit weit offenen Augen starrte er sie an.
»Kennen Sie die See? Haben Sie schon einmal längere Zeit am Strande gelebt?«
»Nein! Gott sei Dank, wir mußten ja nach acht Tagen schon wieder von Heringsdorf abreisen, weil meiner Mutter die Luft nicht bekam. Ich denke mit großer Gleichgültigkeit an diese acht Tage voll blendender Sonnenglut, gelben Sandes und beinahe regungsloser Wasserfläche zurück. — Später suchten wir im Sommer nur noch Quellenbäder auf, und ich habe mich nie nach Heringsdorf zurückgesehnt!«
Noch immer starrte er sie an wie eine Vision. »Sind Sie im Boot gefahren?«
»Gewiß! Abends ruderten uns meine beiden Vettern in die ›blaue Unendlichkeit‹ hinaus, und wir schaukelten eine Zeitlang auf dem Wasser, sangen: ›Das Meer erglänzte weit hinaus!‹ und sahen die Sonne am Horizont verschwinden, — einen Tag wie den andern ...«
»Schwefelgelb und still und lautlos wie eine Apfelsine [S. 179] auf Gummischuhen!!« — warf Herr von Heidler mit übermütiger Grimasse ein, und ein schallendes Gelächter erhob sich im Kreise.
Nur Guntram Krafft lachte nicht mit.
Er starrte in sein Sektglas nieder und sah aus wie ein Mensch, welcher vor einem großen, unlösbaren Rätsel steht.
»Und einen Sturm, einen großen, gewaltigen Sturm sahen und erlebten Sie nie?« fragte er.
»Nein! Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, daß das Wasser, welches immer so glatt dalag wie ein Tischtuch, mal zornig aufbrausen kann! All die Seegeschichten, welche man hört oder liest, kann ich nie recht glauben, denn mir fehlt die Phantasie, um sie mir auszumalen!«
Heidler hob sein Sektglas und sah tief und leidenschaftlich mit einem seiner zündenden Blicke in Gabrieles Auge.
»Soll ich den Sattel an den Nagel hängen? Soll ich ein Seemann werden, und kommen Sie mit auf die weiten Meere hinaus, den fliegenden Holländer zu suchen?« —
Heiße Glut flammt über ihr Antlitz, die rosigen Lippen beben, und in ihren Augen steht die Antwort geschrieben, — aber sie beherrscht sich, schüttelt mit leisem Lachen das Köpfchen und antwortet: »Wenn Sie aufhören wollten zu reiten, würden Sie ein Verbrechen an dem modernen Heldentum begehen, und das würde ich Ihnen am allerletzten verzeihen! — Was wollen Sie auf dem Wasser? Da gibt es keine Lorbeeren zu holen ...«
»Erlauben Sie, meine Gnädigste! Die jüngsten, welche auf Chinas Boden sproßten, holte sich unsere Marine!«
»Die Marine! ja die!!« zuckte Gabriele die Schultern.
»Die besteht auch aus Soldaten und mutigen Männern, welche den Feind zu Schiff aufsuchen, weil sie ihn zu Lande nicht erreichen können! Die Marine imponiert mir fraglos, aber die Sportsmen, welche bei hellem Sonnenschein ein wenig die Ruder führen und in idyllischen Sommernächten eine Segelpartie machen, die können [S. 180] doch unmöglich mit unseren verdienstvollsten Männern rangieren!«
Der Blick der Sprecherin traf wie eine kühne Herausforderung den Bären von Hohen-Esp, welcher schweigend an ihrer Seite saß und vor sich nieder auf das Fürstenwappen inmitten seines Tellers sah, — er sah nicht den Ausdruck ihres Auges, er hörte nur ihre Worte, und sein erst so heiß gerötetes Antlitz ward um einen Schein blasser.
Die Umsitzenden hatten sehr betroffene Blicke gewechselt, Heidler murmelte sehr amüsiert: »Alle Wetter, mein gnädiges Fräulein, das war deutlich!« Dann lenkte ein gegenübersitzender Kammerjunker das Gespräch voll nervöser Hast auf ein anderes Thema und verwickelte Guntram Krafft voll besonderer Liebenswürdigkeit in ein Gespräch.
Gabriele aber warf triumphierend das reizende Köpfchen zurück und wandte sich wieder ausschließlich zu Heidler.
»Er mußte einmal meine aufrichtige Meinung hören!« flüsterte sie erregt, »es ist ja eine Schande, wenn ein Mensch, welcher wahrlich gewachsen ist wie ein Parzival, gar nicht zum Bewußtsein seiner Bärenkräfte kommt und ›das Eisen in der Halle rosten‹ läßt, anstatt es zu Ruhm und Ehren seines Vaterlandes im Feuer zu schmieden!«
Herr von Heidler gehörte zu den Menschen, welche ihr Licht mit Vorliebe auf Kosten anderer leuchten lassen, und da es seiner Eitelkeit schmeichelte, von dem reizendsten aller jungen Mädchen als Held gefeiert zu werden, so löschte sein scharfer Witz noch das letzte Fünkchen Sympathie, welches in Gabrieles Herzen für den Bären von Hohen-Esp geleuchtet hatte.
Das Souper näherte sich seinem Ende, und als man sich erhob, wieder nach dem Tanzsaal zurückzuschreiten, wandte sich Fräulein von Sprendlingen zum erstenmal wieder an ihren Nachbar zur Rechten und erwiderte [S. 181] seine stumme Verneigung nur durch ein kurzes, flüchtiges Nicken.
Sie wollte ihn nicht ansehen, aber ganz zufällig streifte ihr Blick dennoch sein schönes Antlitz und traf sein Auge.
Welch ein Ausdruck darin!
Nicht mehr das strahlende Entzücken, wie es ihr sonst daraus entgegengelacht, sondern eine schmerzliche, vorwurfsvolle Trauer, wie ein herb getadelter Knabe dreinschaut, ehe er anfängt zu weinen!
Mit jäher Bewegung wandte sich Gabriele ab.
Laut auflachen hätte sie mögen!
Jung-Parzival, welcher hinter Frau Herzeleides Schürze hervorschaut! —
Jung-Parzival, welcher noch nicht den Weg zu Frau Aventure gefunden hat, welcher auch nie und nimmer einen Platz unter den Rittern des Amfortas einnehmen und zeitlebens der beklagenswerte Tor bleiben wird, als welcher er auf seinem Ackergaul aus der heimatlichen Burg trabte!
Ja, Gabriele möchte lachen, wenn es ihr nicht gar zu traurig deuchte!
Die Zähne beißt sie zusammen und furcht die Stirn.
Schade ist es um die Reckengestalt! Ewig schade! — —
Ernst und schweigend steht Guntram Krafft in dem Tanzsaal und schaut mechanisch auf den wirbelnden Reigen, welcher wie ein wüster Fiebertraum vor seinen Augen kreist. —
Die Musik schmeichelt mit süßen Walzerklängen, — er hört sie nicht.
Vor seinen Ohren klingen nur Gabrieles Worte, jene unfaßlich grausamen Worte, daß sie das Meer nicht liebt!
Sein Meer! Das herrliche, majestätische, unbeschreiblich schöne Meer, welches keines Dichters Zunge genug rühmen, an welchem sich keines Menschen Auge jemals satt sehen kann!
Sein Meer! — Und sie liebt es nicht. — Sie schilt es langweilig, träge, reizlos. —
Und sie selber hat Augen, welche die Farbe dieses Meeres spiegeln, grünlich ... graublau ... schillernd wie Perlmutter ... dunkel und licht zu gleicher Zeit ... verkörperte Wassertropfen.
Wie ist es möglich, daß sie das, was er als Liebstes und Herrlichstes voll Leidenschaft preist, an welchem sein Herz voll unstillbarer Sehnsucht hängt, daß sie das verachtet und von sich stößt?
Die See! — Die blauwogende, unendliche See, deren brandende Wogen Pulsschläge der Ewigkeit sind, deren Sonnenlächeln wie bräutliche Wonne, deren zorniges Donnerrollen die Sprache Jehovas ist? —
Ach, daß sie ihm solches angetan!
Den herben Spott ihrer Worte, welche ihn selber als »armseligen Ruderer« so weit ab von allem Heldentum wiesen, welche in ihm nichts anderes als einen verdienstlosen Menschen sahen, welcher sein Vergnügen an ruhmlosen Spielereien findet — die Worte hatte er kaum gehört und beachtet.
Er war zu harmlos, zu unerfahren, um auf solche Anspielungen zu achten.
Sein Herz brannte nur in Schmerz und Weh um sein geschmähtes Meer.
Aus jedem anderen Munde würde ihm ein solches Urteil zu zornigem Widerspruch gereizt haben. — Gabriele von Sprendlingen gegenüber verstummte er in jener unerklärlichen Befangenheit, in welche ihn ihr Anblick vom ersten Moment an versetzt hatte.
Wie gleichgültig würde es ihm sein, ob fremde Menschen die See lieben oder nicht, — nur von einer einzigen würde es ihn namenlos beglücken, und gerade sie wendet das reizende Haupt gleichgültig ab und urteilt so hart, so grausam, so verständnislos ...
Ja, verständnislos!
Sie kennt ja das Meer gar nicht!
Jene acht Tage in Heringsdorf haben ihr nur ein [S. 183] einziges, winziges, unbedeutendes Bild in dem Kaleidoskop der unerschöpflich reichen, ewig wechselnden See gezeigt, ein Bild, welches durch den Staub des Modebades getrübt, mit kurzsichtigen Augen geschaut wurde!
Guntram Krafft atmet tief auf.
Ach, daß er sie lehren könnte, zu sehen, zu begreifen!
Die schnellebigen Stadtmenschen, welche ein paar flüchtige Wochen im Jahr an den Strand eilen, die müden Lebensgeister an Gottes Odem aufzufrischen, die haben keine Zeit, die erhabene Schönheit der Natur kennenzulernen.
Die promenieren bei rauschenden Musikklängen, diese sitzen in den eleganten Restaurants, die sehen nur die Toiletten, all die tausend bizarren kleinen Überraschungen, welche Göttin Mode und der Geschmack des zwanzigsten Jahrhunderts im Jugendstil auftischen, — die blicken kaum einmal hinab in ihr eigenes, ruheloses Herz, geschweige hinaus in die stille, weltfremde Götterherrlichkeit, welche auf den Wassern des Meeres wohnt. —
Ach, daß er, der Einsiedler, dessen Herz und Seele verwachsen sind mit der keuschen, unberührten Wunderwelt des Strandes, — wenn er der holden Spötterin Gabriele dieses Paradies erschließen könnte!
Ein tiefer Seufzer ringt sich über seine Lippen, die Musik schweigt, und neben ihm erklingt die Stimme Gräfin Theas, welche ihn aus seinen Träumen aufschrecken läßt.
»Endlich sieht man Sie wieder, Sie Fahnenflüchtiger!« drohte ihm die Gräfin lächelnd mit dem Fächer: »Wie von dem Erdboden verschwunden waren Sie, als wir unsere unendlich vergnügte und amüsante Ecke bildeten! Wie sehr schade, daß Sie in unserm kleinen Kreise fehlten, Sie würden sich fraglos sehr gut unterhalten haben!«
»Ich bezweifle es nicht, Gräfin!«
Das klang seltsam ernst, beinahe resigniert.
»Wie ist es Ihnen ergangen?« —
»Je weniger man erwartet, desto weniger kann man enttäuscht werden!«
Er sagte es sehr ruhig, und doch glichen seine Worte einem Seufzer.
Thea trat einen Schritt näher und sah mit ihren großen, dunklen Augen beinahe wehmütig zu ihm auf.
»Ich habe bereits davon gehört, wie unliebenswürdig Gabriele einmal wieder gewesen ist! — Es ist wirklich ewig schade darum, daß in diesem bildhübschen Körper eine so wenig sympathische Seele wohnt, denn diese Tatsache muß selbst ich, als beste Freundin, bestätigen!«
»Fräulein von Sprendlingen unliebenswürdig?« wiederholte Guntram Krafft beinahe erschrocken.
»Je nun! Haben Sie es noch nicht bemerkt? Man sagt mir, daß sie gerade gegen Sie recht beleidigend gewesen sei, und das hat mich ernstlich böse gemacht!«
Der Bär von Hohen-Esp hörte nicht den weichen, schmollenden Klang in Theas Stimme, welche sich so ostensibel zu seiner Anwaltin machte, er schüttelte nur betroffen den Kopf und strich mit der Hand die schweren Blondhaare aus der Stirn.
»Fräulein von Sprendlingen sprach sehr abfällig über das Meer, über das Rudern und Segeln — und das kann [S. 185] unmöglich mich beleidigen, so sehr ich ihre Abneigung auch bedauerte!«
Ein seltsamer Blick der Gräfin streifte ihn. »Wie freundlich und harmlos Sie sind, Graf! Wie fremd Ihnen unsere Welt und ihre Verderbnis doch ist! Es freut mich doppelt, wenn Gabrieles Worte Sie nicht kränkten, denn verliebten Menschen darf man nicht so genau nachrechnen, wie anderen Sterblichen!«
»Verliebten Menschen?«
Thea lachte. »Aber Graf! Haben Sie es denn noch immer nicht bemerkt, daß Fräulein von Sprendlingen keinen andern Gedanken mehr hat, wie ihren schneidigen Dragoner?« —
»Das wohl ... aber ...«
»Nun?...«
»Verlobt sind sie noch nicht!«
»Noch nicht öffentlich!« —
»Auf diese kleinen Unterschiede kenne ich mich noch nicht aus ...« murmelte er mit tiefem Atemzug.
Sie standen neben der Saaltür, ein lautes Lachen und Sprechen ließ sie momentan verstummen.
Ein paar junge Herren umringten eine sehr große, schlankgewachsene, junge Frau, von der man dem Grafen schon zuvor erzählt hatte, daß sie einen bedeutend kleineren Mann geheiratet habe. —
»Gnädigste Frau, ich habe eine Bitte!« rief einer der Herren mit übermütig blitzenden Augen. »Eine Frage hat man frei an das Schicksal — eine Bitte nicht!«
»Na — schießen Sie los, Karlchen, ich bewillige sie im Namen von Frau von Stark!«
»Oho!« —
»Also!« Der Kürassier legte beide Hände bittend auf die Brust: »Gnädigste Frau — pumpen Sie mir mal für vierzehn Tage Ihren Herrn Gemahl!«
»Wie? — Meinen Mann?!«
»Aber Karlchen! Jetzt schon? Vierzehn Tage nach der Hochzeitsreise??«
»Was wollen Sie mit ihm?« [S. 186] —
»Ich möchte ihn so gern auf meinen Kaminsims stellen.... da fehlt mir nämlich eine Nippesfigur !«
Schallendes Gelächter!
Die junge Frau ist zuerst entrüstet, aber schließlich lacht sie doch mit und tanzt mit dem Spötter eine Extratour. —
Ein paar junge Mädchen treten in den Saal. Sie sehen den Grafen Hohen-Esp nicht, denn er steht hinter ihnen an der Tür.
»Nein, nein, Kläre! Wir müssen erst mal sehen, ob Parzival wieder tanzt! —«
»Reizender Anblick! — Erinnert an die graziösen Matrosen im fliegenden Holländer!«
»Pfui! Schäm' dich! Parzival ist ein vortrefflicher Mensch! Lotte sagte ja vorhin: ›Der einzige Diamant unter viel Simili!‹« —
»Hahaha! — Ein Diamant!... Aber ein noch völlig ungeschliffener!«
»Ich fürchtete schon,« — lachte eine der jungen Damen, »er würde à la Jürgen Wansbeck hier auftreten!«
»Jürgen Wansbeck? Wer war das?«
»Ein sehr verbauerter Krautjunker, welcher hier an den Hof kam und bei einem Ball die Handschuhe sparte. Der Herzog sah ihn scharf an und fragte gedehnt: ›Sie tragen keine Handschuhe, Baron?‹«
Da schüttelte der Biedermann treuherzig den Kopf und antwortete: »Nee, Hoheit, ich frier' ja nich' an die Fingers !« —
Jubelndes Gelächter. —
»Großartig! Brillante Geschichte!«
Thea war dunkelrot geworden und winkte Guntram Krafft hastig beiseite.
»Hier ist ein solches Gedränge, Graf! Wir wollen uns dort auf den Diwan setzen.«
»Wie Sie befehlen!« nickte Guntram Krafft und sah dabei völlig harmlos aus: »Die Menschen hier scheinen viel zu spotten, — ich machte schon die Bemerkung, daß [S. 187] die meisten Scherze auf Kosten der lieben Nächsten gemacht werden!«
»Leider und seltsamerweise werden gerade diese Witze am meisten belacht!«
Der Graf setzte sich neben der jungen Dame nieder und blickte ihr plötzlich mit seinen klaren, grundehrlichen Augen voll beinahe kindlichen Vertrauens in das blasse Gesichtchen.
»Gräfin ... Sie sind eine Freundin von Fräulein von Sprendlingen?« —
»Sogar eine ihrer vertrautesten!«
»Und Sie meinen es auch mit mir gut?«
»Von ganzem Herzen gut!«
»Würden Sie mir einen großen Liebesdienst erweisen, es mir gestatten, Ihnen rückhaltlos zu vertrauen?«
Sie streckte ihm die kleine Hand hin, ihr Blick leuchtete bezaubernd zu ihm auf. —
Niemand konnte es sehen; eine dreifache Reihe von älteren Herren bildete vor ihnen Spalier, um einem »Menuett der Königin« zuzusehen, welches von den Prinzessinnen und Prinzen nebst einer kleinen Schar von Auserwählten soeben vor dem Herzog getanzt wurde.
»Sprechen Sie, Graf!« flüsterte sie, »kein Mensch hier meint es ehrlicher mit Ihnen, wie ich!«
Er drückte beinahe krampfhaft die dargebotene kleine Rechte und nickte erregt: »Das bemerkte ich bereits, Gräfin! Sie waren von Anfang an so sehr liebenswürdig zu mir, Sie nahmen sich meiner so besonders gütig an, und wenn ich diesen Abend eine heitere Stunde genoß, so verdanke ich sie Ihnen!«
»Sie Ihnen zu bereiten, war wenigstens mein herzlichster Wunsch —!«
»Wundern Sie sich nicht über mich, ich bin fremd in der Welt und es gewohnt, seit jeher nur nach meinen momentanen Eingebungen zu handeln. Auch jetzt weiß ich mir keinen andern Rat, als mich an Sie zu wenden. —« Wieder senkte sich sein Blick wie der eines vertrauenden Kindes in den ihren: »Sie meinen es ja so gut mit mir ...«
»Seien Sie dessen versichert!« In Theas Wangen stieg es immer heißer und röter, ihre Augen flimmerten vor Spannung, und ihre Lippen bebten wie bei einem Menschen, welcher mit fieberhaftem Eifer einem Ziel entgegendrängt.
»Sprechen Sie offen und ehrlich, Graf! Ich bin glücklich, Ihnen irgendwie behilflich sein zu können!«
Er zögerte und blickte momentan starr vor sich nieder.
»Ich möchte es so gern wissen, ob Fräulein von Sprendlingen den Dragoner wahrlich so sehr liebt!«
»Soll ich es auskundschaften bei ihr?«
»Sie sind doch ihre Freundin ...«
»Nichts leichter, als das zu erfahren! Immerhin glaube ich aber, daß es Sie noch mehr interessieren wird, ob sie tatsächlich mit ihm verlobt ist?«
Er schüttelt nachdenklich den Kopf. »Ich las in Romanbüchern, daß heutzutage die Mädchen auch ohne Liebe heiraten. Schon manch eine Verlobung wurde aufgelöst, weil die Braut schließlich noch einen Mann kennenlernte, welchen sie mehr liebte, wie den allzu leichtfertig gewählten Bräutigam!«
»Seien wir ganz ehrlich, Graf!« Thea entfaltete den Fächer und flüsterte zu ihm auf: »Sie möchten wissen, ob Sie Aussichten haben, Gabrieles Herz zu gewinnen?«
Er ward dunkelrot. — »Ich glaube ... Sie treffen das Richtige, Gräfin! Es würde mir von großem Wert sein, zu wissen, wie ich es anfangen muß, um mir die Gunst Ihrer Freundin zu gewinnen! Das war es, was ich Sie fragen wollte!«
»Ich ahnte es! Sie sind von Gabrieles Schönheit bezaubert, und es würde keine liebere Mission für mich geben, als Ihnen das Herz der Gefeierten zuzuwenden!«
»Wenn Sie mir nur eine kleine Anleitung geben wollten, Gräfin, von was ich Fräulein von Sprendlingen unterhalten soll, was ich tun muß, daß sie mir ihr Interesse zuwendet! — Wenn sie es wüßte, daß sie mir so sehr, sehr gut gefällt ...« er unterbrach sich und strich abermals mit der Hand über die Stirn: »Das Reiten [S. 189] scheint ihr viel Freude zu bereiten ... und wenn sie Wert darauf legt, will ich gern ...«
»Dragoner werden?!« Thea hob beinahe entsetzt die Hand und sah plötzlich ganz blaß aus. »Wäre das Ihr Ernst, Graf?« —
Er lächelt. »Nein, daran ist gar kein Gedanke, Gräfin. Wozu das? Ich habe daheim ernstere Pflichten zu erfüllen, als wie hier in behaglicher Friedenszeit eine Uniform spazierenzutragen —.«
»Ganz meine Ansicht! Und eine Frau, welche das nicht einsieht, verdient es nicht, Ihre Gemahlin zu werden!«
»Solange wie meine Mutter lebt, werde ich mein Leben genau nach ihren Wünschen regeln, denn ich weiß, wieviel ich ihr zu verdanken habe, und erachte den Gehorsam gegen sie als meine Schuldigkeit.«
»Wie edel, wie schön von Ihnen gedacht, Graf!« rief Thea mit begeistertem Aufblick in sein Auge: »Wie sprechen Sie mir aus der Seele! Wie billige ich Ihre Denkweise so völlig! Ich kenne zwar Ihre Frau Mutter nicht, aber nach allem, was ich von ihr hörte, verehre ich sie höher wie alle andern Frauen und denke es mir als höchstes Glück, ihr zu Diensten leben zu können! Welch ein sündliches Begehren wäre es, der einsamen Frau noch ihren letzten Trost, ihren Sohn zu entreißen, um einer nichtigen Eitelkeit willen!«
Guntram Krafft blickte voll ehrlichen Entzückens zu der Sprecherin nieder. Die Verehrung für seine Mutter gewann ihr vollends seine Sympathien, und seine große Harmlosigkeit war weit davon entfernt, irgendeine Verstellung hinter solch begeistertem Gesichtchen zu suchen.
»O, wenn Fräulein Gabriele doch ebenso denken möchte, wie Sie! — Nein, Dragoner kann ich um ihretwillen nie werden, denn trotz aller Bravour und aller Reiterstücklein reizt mich der Militärdienst in Friedenszeiten nicht sonderlich, — aber ein guter Reiter könnte ich ihr zuliebe trotzdem werden ...«
»Es wäre lächerlich, wenn sie es verlangen wollte! [S. 190] — Reiten lernt ein jeder Rekrut — aber ein Segelboot durch Sturm und hohe Flut steuern, das ist ein Wagnis, ein Heldenmut, wie ihn eine Landratte gar nicht kennt!«
Er blickte hoch aufatmend in ihr erhitztes Gesicht, seine Augen strahlten wie verklärt.
»Also Sie haben Interesse für den Seemann, Gräfin? Sie lieben das Meer und alle seine Herrlichkeit?...«
Sie preßte voll Leidenschaft die Hände gegen die Brust, — die roten Blüten des Kleiderausschnitts rieselten wie Funken über die nervös bebenden Finger.
»Und ob ich sie liebe! — Noch nie lernte ich das Meer kennen, Graf, und doch sehne ich mich voll glühenden Verlangens seit Jahren schon nach seinem Anblick! — Nicht ›Neapel sehen und sterben‹ — seufzt meine Seele, sondern ›die See sehen und in ihrem Zauberbann leben bis zum Ende meiner Tage!‹ Das ist das Gebet, welches in meinem Herzen zittert! — Noch ist es nicht erhört worden, aber ich lasse nicht nach, zu hoffen und zu harren, — einmal muß auch mir das Glück zu Willen sein!«
Er lauschte wie im Traum ihren Worten, welche sich so weich, so innig und aus tiefstem Herzen quellend, in sein Ohr schmeichelten, als höre er nach wirrem Lärm und Mißgetön wieder traute Klänge aus der Heimat.
Ganz unwillkürlich rückte er näher an ihre Seite und legte die Hand auf ihren Arm. »Sie sollen ... Sie werden das Meer sehen, Gräfin ... Sie müssen zu uns nach Hohen-Esp kommen! Sicherlich wird es Ihnen in dem alten Bärennest gefallen, und welch eine Freude für mich, Ihnen das Meer zeigen zu können!«
Ja, eine Freude!
Schon jetzt leuchteten seine Augen bei dem Gedanken, und das Blut stieg ihm abermals so rot und warm in die Schläfen, wie stets, wenn ein glückseliger Gedanke ihm das Herz bewegte!
Und in diesem Moment gaukelte es plötzlich wie ein süßes Traumbild vor seinen Augen; wenn Gabriele die Hausfrau von Hohen-Esp war, mußte dann nicht ihre [S. 191] Freundin kommen, sie zu besuchen und sich an dem weltfernen Glück des jungen Paares zu erfreuen?
Dieser Gedanke trieb ihm pochende Glut in die Wangen, Thea aber hörte nur seine Worte und paßte seine Erregung einzig ihnen an.
Ihr Blick war noch weicher und sehnsüchtiger, ihre Stimme klang noch jubelnder wie zuvor: »Und ob es mir in der Stille Ihres trauten Heims gefallen würde?« flüsterte sie. »O, Graf, ich liebe die bunte Welt mit all ihrem Lärm, ihrem Falsch und Schein nicht! Meine Seele dürstet nach der Ruhe, nach dem Frieden solcher Waldeinsamkeit! O, und Ihre Frau Mutter! Wie wollte ich bemüht sein, ihr die Tage kurz und lieb zu machen! Wie würde mein Leben in ihrem Dienst ein so reiches, hochbeglücktes sein! — Und dann der Gedanke, von Ihnen, Graf, in die Wunderwelt des Strandes eingeführt zu werden, mit Ihren Augen die unendliche Schönheit des Meeres schauen zu lernen, — mit zitternder Seele die dräuende Gottheit im Donnerrollen der Wogen anzubeten!«
Sie sprach voll schöner Leidenschaftlichkeit, mit dem einschmeichelnden Organ, welches sich wie Silberfäden um das Herz strickt, und Guntram Krafft blickte ihr wie verklärt in die Augen und empfand die Nähe der kleinen Gräfin noch mehr wie zuvor als Wohltat! —
Er wollte antworten, in demselben Augenblick drängte sich jedoch ein junger Infanterieoffizier durch die Spalier bildenden Damen und Herren und verneigte sich hastig.
»Darf ich bitten, Komtesse, die Polka, welche Sie so gütig waren, mir zu schenken.«
Thea erhob sich zögernd.
»Ah, die Polka! — Eigentlich dürfte ich nicht mehr tanzen, ich bin todmüde ...«
»Das wäre grausam, Komtesse! Diese eine kleine Polka schadet Ihnen sicher nicht!«
Die junge Dame lächelte, — ein wahres Märtyrerlächeln, blickte zu Guntram Krafft auf und sagte: »So will [S. 192] ich es machen wie die Schwalben, welche zwar scheiden, aber doch jedesmal versichern: Wir kehren wieder!«
»Scharmant gesagt!« applaudierte der kleine Leutnant und bot der Sprecherin den Arm.
Gräfin Sevarille kehrte auch wieder, aber sie fand den Erbherrn von Hohen-Esp in sehr eifrigem Gespräch mit einem Ministerialrat, welchem Guntram Krafft seine Absicht, in Sachen der Rettungsgesellschaft für Schiffbrüchige hier zu wirken, ausgesprochen.
Der alte Herr hörte voll liebenswürdigen Interesses zu und nannte die Bemühungen des Grafen sehr anerkennenswert und hochherzig, versicherte aber, daß er selber in dieser Angelegenheit absolut nichts tun könne und verwies ihn an eine andere Adresse.
Das Gespräch drehte sich zu Theas großem Mißvergnügen noch längere Zeit um lauter sachgemäße Auseinandersetzungen und wollte absolut nicht wieder in jene hochinteressanten Bahnen lenken, wie zuvor. Der Graf schilderte die Gefahren, welche das Hamelwaat für die Seefahrer berge, er sprach mit bewegten Worten von seinen kühnen, zuverlässigen Schiffern und von ihren redlichen Bemühungen, Hilfe in der Not zu bringen — und so aufmerksam Thea anscheinend auch zuhörte und begeisterte Bemerkungen einflocht, — die Spitze ihres zierlichen Füßchens bewegte sich dennoch sehr ungeduldig unter dem Kleidersaum, und das nervöse Spiel mit dem Fächer zeigte es, wie höchst langweilig ihr diese Unterhaltung war!
Zu ihrem Ärger kamen auch wieder neue Tänzer, welche sie nicht gut abweisen konnte, und entführten sie, und der Ball näherte sich seinem Ende, ohne daß sie die so mühsam errungenen Vorteile bei dem Bären noch weiter ausnutzen konnte!
Fraglos hatte sie seine Sympathien gewonnen; solange aber die törichte Schwärmerei für Gabriele noch anhielt, waren ernsthafte Aussichten für sie ausgeschlossen.
Der moderne Parzival war anscheinend doch nicht ganz so unerfahren und weltfremd, wie sie angenommen!
Er hatte bereits die Erkenntnis gewonnen, daß Menschen von der Liebe allein nicht leben können, und »daß die Summe immer klein bleibt, wenn sich nichts mit nichts verbindet!«
Sicher taxierte er den egoistischen und berechnenden Herrn von Heidler richtiger wie sie alle und rechnete mit der Wahrscheinlichkeit, daß derselbe durchaus keine Heiratsgedanken habe, sondern sich lediglich darin gefalle, von der gefeiertsten jungen Dame als Held der Zukunft angeschwärmt zu werden.
Daß aber ein Mann mit reellen Absichten stets den Sieg über einen Courmacher davonträgt, ist eine so alte Tatsache, daß sie selbst in dem weltfernen Hohen-Esp bekannt sein dürfte. —
Thea hatte es längst durchschaut, daß Herr von Heidler viel zu hohe Ansprüche an die Mitgift seiner Zukünftigen stellte, um sich mit Gabrieles Vermögen, so ansehnlich dasselbe auch sein mochte, zufrieden zu erklären; daß dies dem Grafen Hohen-Esp aber möglichst unbekannt blieb, ja, daß er so radikal wie möglich von seiner Schwärmerei geheilt werde, das mußte fürerst die größte Sorge der Gräfin sein.
»Sie kommen doch morgen abend in den Petersburger Hof, wo wir zu Ehren der auswärtigen jungen Damen und Herren noch einmal tanzen?« flüsterte sie zum Abschied zu Guntram Krafft empor. Der folgte just mit einem seltsam verschleierten Blick dem Fräulein von Sprendlingen, welche, ohne nur den Kopf nach ihm zu wenden, lachend und plaudernd vorüberschritt.
»Ich weiß es nicht, Gräfin! Was soll ich da? Es liegen auch so viele Dinereinladungen für mich im Hotel — —«
Was fragte Thea nach denen!
Junge Mädchen wurden selten, fast nie zu Diners eingeladen, — außer auf den Bällen und der Eisbahn hatte sie keine Gelegenheit, den Grafen wiederzusehen.
Sie entfaltete den glitzernden Fächer und winkte ihn näher herzu.
»Ich gehe morgen nachmittag zu Gabriele und forsche sie aus!« flüsterte sie. »Und abends, während des Balles, teile ich Ihnen mit, was geschehen muß, um Gabriele für Sie zu interessieren! Ich werde bei meinem Besuch schon alles tun, um das spröde Herzchen möglichst für Sie zu erwärmen, — hoffentlich gelingt es mir, daß sie Ihnen einen Tanz aufhebt!«
»O, Gräfin ... wie sollte ich Ihnen das danken?« stammelte er und sah abermals aus, wie ein Kind, welchem man lockende Märchen erzählt. »Unter diesen Umständen komme ich natürlich!«
Sie nickte ihm lächelnd und vertraulich zu und freute sich, daß ein paar andere junge Damen, darunter auch Lotte, welche den modernen Parzival für einen Brillant unter Simili erklärt hatte, ihr Einverständnis mit dem Hohen-Esper sahen. —
»Was wollen wir morgen zusammen tanzen, resp. ›absitzen‹, Graf?« — fuhr sie flüsternd fort; »lassen Sie uns besser allsogleich etwas Bestimmtes verabreden, sonst wandere ich wieder von einem Arm in den andern und kann Ihnen nichts erzählen!«
»O, gewiß ... alles, was Gräfin befehlen ...«
»Gut, sagen wir also den ersten Walzer und das Souper! Bei Tisch ist man oft am ungestörtesten! Vergessen Sie es aber nicht! Das Souper und den ersten Walzer! — Selbstverständlich trete ich die Tänze an Gabriele ab, falls sie dieselben beanspruchen sollte, — aber nur an Gabriele, an niemand anders! O, Sie ahnen es nicht, Graf, wie gut ich es mit Ihnen meine!«
»Doch, Gräfin! Ich überzeuge mich ja ununterbrochen davon!« antwortete er mit warmem Dankesblick und erglühte abermals bei dem glückseligen Gedanken, daß Gabriele mit ihm tanzen könne, bis unter die lockigen Haare. »Ich vergesse Ihre gütige Zusage gewiß nicht! Wenn Sie derselben nur eingedenk bleiben möchten!«
Thea nickte ihm mit reizendem Lächeln zu und drückte seine Hand zum Abschied, und als Guntram Krafft in dem Wagen saß und nach dem Hotel fuhr, sah er im [S. 195] Geiste das herzgewinnende Gesichtchen der Gräfin beinahe deutlicher vor sich, wie das kalte und abweisende Antlitz Gabrieles, deren Worte ihn erbarmungslos verfolgten bis in den kurzen, unruhigen Schlaf hinein. — —
Am nächsten Vormittag gedachte der Graf von Hohen-Esp für jene Angelegenheit zu wirken, welche ihn ursprünglich hierher in die Residenz geführt.
Er wollte den Finanzminister aufsuchen, um ihn, wie der Ministerialrat gestern abend geraten, für die Anlage einer neuen Rettungsstation zu interessieren.
Er mußte lange warten, bis Seine Exzellenz einen Augenblick Zeit erübrigen konnte, und kaum, daß er ein paar einleitende Worte gesprochen, lächelt der alte Herr sehr verbindlich und reicht ihm die Hand.
»Ich ahne bereits, um was es sich handelt, mein lieber Graf!« sagte er, »und möchte Ihre und meine Zeit nicht unnötig in Anspruch nehmen. All diese Angelegenheiten, welche Sie da berühren, sind nicht meine Sache, — Sie dürften in erster Linie das zuständige See- oder Hafenamt interessieren! Gestatten Sie einen Augenblick, ich werde mich informieren und Sie allsogleich vor die rechte Schmiede schicken.«
Und Guntram Krafft wartete, und man schickte ihn weiter von Pontius zu Pilatus, und überall begegnete er viel Liebenswürdigkeit und viel höflichen Worten, — nirgends aber einer Zusage oder energischer Hilfe. Man schien die ganze Sache nirgends so recht ernst zu nehmen und mehr an eine müßige Spielerei oder ungerechtfertigte Ansprüche zu glauben.
Einer der Herren, welche beim Mittagstisch neben dem Grafen saßen, und welchem er sein Leid betreffs all seiner vergeblichen Bemühungen klagte, schüttelte lächelnd den Kopf. »Das Hamelwaat ist den Schiffen so gefährlich? Verzeihen Sie, Graf, ich habe noch nie von einer ernsten Havarie gehört, welche ein Fahrzeug dort erlitten.«
»Weil wir glücklicherweise stets noch rechtzeitig zur Stelle waren, um eine solche verhüten zu können!«
»Wer vollführte die Lotsen- resp. Rettungsarbeiten?«
»Freiwillige Fischer aus meinem Stranddorf!«
»O, vortrefflich! Haben Sie die Leute zu einer Auszeichnung oder Belohnung vorgeschlagen? Bitte, versäumen Sie das ja nicht, verehrtester Graf, und zeigen Sie eventuelle Verdienste der Leute bei dem zuständigen Landratsamt an. Im übrigen aber rate ich Ihnen, die wackeren Fischer ruhig weiter für ihre Kameraden sorgen zu lassen! Diese Selbsthilfe ist meist die praktischste und beste. — Die Gründung einer neuen Station ist mit sehr vielen Kosten und Umständen verknüpft, und wo es nicht absolut nötig ist, unterläßt man sie!« —
»Aber sie ist absolut nötig!«
»Ihrer Ansicht nach, verehrtester Herr Graf. Gewiß liegt es in dem Wunsche eines jeden ehrenhaft denkenden Mannes, der Hilflosigkeit überall, — nicht nur auf eng bemessenen Strecken, beistehen zu können, und ich glaube, daß Menschen, die viel oder gar stets an der See kleben, die Notwendigkeit doppelt einsehen, daß noch gar viel geschehen muß, um all den großen und schwerwiegenden Anforderungen gerecht zu werden.«
»Aber es geschieht nichts, wenigstens nicht bei uns!« —
»Wie weit ist die nächste Station von Ihnen entfernt?« —
»Den Kilometern nach nicht direkt außer der Welt, und dennoch absolut nutzlos für uns, da sie in dringenden Fällen — und die sind es zumeist — nicht erreichbar ist!«
»Wie dürfte das zu verstehen sein, Herr Graf?«
»Die ganze Lage des Hamelwaats zwischen vorgestreckten Dünen und Sandbänken, welche ihre Beschaffenheit beinahe mit jedem hohen Seegang wechseln, die sehr zuwidern Strömungen, mit welchen gerade in seiner nächsten Umgebung zu kämpfen ist, machen diese meine kleine Küstenstrecke besonders gefährlich. Wenn ein Schiff aufläuft, so geschieht das meist sehr unerwartet und so gewaltig, daß wir, die beinahe ständig auf der Lauer liegen, um uns nicht überraschen zu lassen, kaum schnell [S. 197] genug zur Stelle sein können, um das Schlimmste abzuwenden. Meilenweit Boten schicken und dann warten, bis von fernher ein Wagen mit Rettungsboot und Mannschaft von keuchenden Rossen durch Sand und Schlick herangeschleppt wird, ist eine Unmöglichkeit! — Wenn ein Schiff tatsächlich Havarie erlitten hat, liegt es kaum noch in unserer, so schnell bereiten Kraft, die Mannschaft zu bergen, geschweige das Fahrzeug selber zu retten! Unsere hauptsächliche Aufmerksamkeit wendet sich daher einer vorbeugenden Hilfeleistung zu. — Wir leisteten mehr Lotsendienste wie Rettungsdienste bisher, wir suchten stets rechtzeitig zur Stelle zu sein, um einem arglos segelnden Schiff, welches sich in den Molochsrachen des Hamelwaats treiben ließ, Warnung und einen Lotsen an Bord zu bringen, welcher ihm half, in sicherem Fahrwasser seinen Kurs zu nehmen! Und weil wir so manchen Unfall noch rechtzeitig verhüten konnten, ist die Aufmerksamkeit der Strandbehörden noch nicht genügend auf die Gefährlichkeit jener Küstenstrecke gelenkt. Habe ich mich klar und verständlich ausgesprochen, sehr geehrter Herr? — Ich bemühte mich, mit Hintansetzung aller ›technischen‹ Ausdrücke nur möglichst anschaulich zu reden!«
»Das taten Sie, Herr Graf! Ich verstehe vollkommen, was Sie bezwecken und wünschen, und würde mit Freuden der erste sein, welcher Ihre so uneigennützigen Wünsche möglichst fördert. Aber, aber!!...« und der Sprecher zuckte sehr bedauerlich die Achseln und schwieg.
»Welch ein ›Aber‹? — läßt sich dasselbe nicht durch den guten Willen überwinden?«
Immer röter und röter stieg es in Guntram Kraffts Stirn, immer ungeduldiger blitzte sein Auge.
»Nein, Herr Graf! Gerade dieses ›Aber‹, welches man wohl Ihren Bemühungen als Schranke gegenüberstellen muß, ist das einzigste, welches sich selbst mit dem besten Willen nicht überwinden läßt —«
»Ah!?«
»Ich meine das Geld!«
Der Bär von Hohen-Esp neigte jäh das erst so stolz und fragend blickende Antlitz.
»Das Geld?« wiederholte er mit etwas unsicherer Stimme. »Ich nehme an, daß die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger über genügende Mittel verfügt?«
Der alte Herr seufzte tief auf und rezitierte mit einem Versuch zum Scherzen: »Wollte Gott, dem wäre so! Nein, Herr Graf, da befinden Sie sich leider in großem Irrtum. Die Ansprüche, welche von Jahr zu Jahr an diese unvergleichliche, so bienenfleißig arbeitende und schaffende Gesellschaft gestellt werden, schwellen mit der stets und ständig wachsenden Not bis ins Ungeheure an, — während sich doch keine Quelle erschließt, dementsprechende Mittel neu zuzuführen!«
»Aber die Sammlungen im Lande?!«
»Deren Erträge sind so unbedeutend, daß man sich ihrer schämen möchte!«
»Mein Gott, wie ist das möglich?«
Abermals ein resigniertes Achselzucken.
»Man interessiert sich nicht dafür! — Die paar wenigen Menschen, welche im Sommer in die Seebäder reisen, der kräftigen Salzluft neue Kraft und Stärkung verdanken und die wundervolle Poesie des Meeres und des Seewesens liebgewinnen, die steuern wohl teilweise ihr Scherflein dazu bei, an dem großen, wichtigen, herrlichen Werk edler Nächstenliebe zu helfen; aber was will dieser verschwindend kleine Bruchteil im Gegensatz zu den enormen Kosten besagen, welche die Hilfeleistungen erfordern? Die große Menge kennt und liebt die See kaum.« —
»Undenkbar! — Schon aus Patriotismus ist es doch die Pflicht eines jeden, gerade für die Küste eines Meeres einzustehen, auf welchem Deutschlands ganze Zukunft ruht!« —
»So denken Sie, mein lieber Graf!«
»Und andere nicht?« —
» Vorläufig noch nicht! Wenn unserm deutschen Volk die Augen aufgehen, wird es auch die Hand öffnen [S. 199] und der heiligsten seiner Missionen nicht mehr kalt und fremd gegenüberstehen!«
»Und bis dahin?!« —
»Bis dahin müssen wir uns gedulden, hoffen und mutig ausharren, lieber Graf, und vor allen Dingen bemüht sein, uns nach Kräften selber zu helfen! — Haben Sie nicht bisher die gute Sache in umsichtigster und opferfreudigster Weise gefördert? — Lassen Sie es sich auch ferner in gleicher Weise angelegen sein, das Ihre zu tun. Man wird es Ihnen Dank wissen!« —
»Auf diesen möchte ich lieber verzichten, wie auf das kleinste Zeichen tatkräftigsten Interesses!«
»Das läßt sich nicht erzwingen.«
»Gott sei es geklagt.«
Das Gesicht des jungen Mannes sah blaß und finster aus, und da die Tafel just beendet war, erhob er sich, um sich zu verabschieden.
Noch ein paar sehr höfliche Redensarten, Worte der Anerkennung und des Dankes für die warme Teilnahme, welche der Graf dem Rettungswesen entgegenbringe — und dann schloß sich die Tür hinter ihm.
In tiefe Gedanken versunken schritt Guntram Krafft nach seinem Zimmer empor.
Ein Gefühl großer Niedergeschlagenheit und Mutlosigkeit wollte ihn überkommen.
Seine liebsten, schönsten Hoffnungen waren fehlgeschlagen, und sein Herz, welches voll so heißer, wahrer Begeisterung für die gute Sache schlug, blutete aus der Wunde, welche Gleichgültigkeit und der Mangel an echter Nächstenliebe ihm geschlagen.
Man interessiert sich im Binnenland nicht für die See? — Gott verhüte es, du deutsches Volk, daß nicht ein eisenklirrender Sturmwind daherrast und dich mit eherner Faust aus dem Schlafe rüttelt! —
Gräfin Thea Sevarille hatte eine schlaflose Nacht gehabt.
Mit weitoffenen, brennenden Augen hatte sie in den Kissen gelegen und überlegt, auf welche Weise sie mit einem einzigen geschickten Schachzug die Königin Gabriele matt setzen und selber als Siegerin aus dem Spiel hervorgehen könne.
Daß Guntram Krafft ein Mann war, welcher überlegte, hatte sie bereits bemerkt.
Seine aufflammende Liebe für Gabriele war bereits so stark, daß er auf Einflüsterungen nichts mehr gab — das hatte sie erfahren, als die ihm so geschickt beigebrachte Verlobung Gabrieles mit Heidler nur die eine Folge hatte, daß der Graf sich bei dem Souper an ihre Seite setzte und sich doppelt zu bemühen schien, den Nebenbuhler rechtzeitig aus dem Sattel zu heben.
Der »weltfremde« Parzival war gar nicht so unerfahren, wie sie annahm, er hatte zu viel Bücher gelesen und wußte ganz genau, wie schwer ein reicher Freier gegen einen mittellosen Courmacher in die Wagschale fällt.
Er mußte durch ein drastischeres Mittel überzeugt werden, um sein Rennen aufzugeben.
Gabriele selber war eine Närrin und fanatisch genug, den Erben von Hohen-Esp einer idealen Schrulle zu opfern, — bis jetzt sah es tatsächlich aus, als ob sie nicht gewillt sei, Theas Pläne zu durchkreuzen, wenn dieses abstoßende Wesen nicht doch die berechnendste Koketterie war, um den naiven Parzival auf das äußerste zu reizen und desto sicherer zu gewinnen.
Thea glaubte es zwar nicht, denn sie hatte Gabriele als wahrheitliebend und aufrichtig kennengelernt.
Sie war ein spröder, stolzer, leidenschaftlicher Charakter, viel zu aufbrausend und heftig, um berechnend handeln zu können, viel zu ideal beanlagt und in ihre törichten Schwärmereien verrannt, um aus schnöder Gewinnsucht ihre Überzeugung aufgeben zu können!
Thea lacht ironisch auf.
»Das Herz eines heldenhaft mutigen Mannes und eine Hütte!« das genügt dem Fräulein von Sprendlingen, aber die Mutter! — die müßte eben keine Mutter sein, wenn sie nicht mit hundert scharfen Augen über der Tochter wachte und die Torheiten derselben mit allen Mitteln korrigierte!
Mit welch auffallender Liebenswürdigkeit begegnete sie dem Bären von Hohen-Esp!
Wie suchte sie so geschickt jeden fatalen Eindruck zu verwischen, welchen die rücksichtslose Tochter gemacht!
Herr von Heidler rechnet in den Augen der Mama gar nicht mit, denn sie sucht eine gute Partie für die Tochter.
Man sagt zwar, daß Sprendlingens recht vermögend seien, — freilich tauchen auch oft Gerüchte auf, daß sie sehr über ihre Verhältnisse gelebt und bei einem jüngst erfolgten Börsenkrach ganz bedeutend verloren haben sollen.
Dieses Gerücht hat Herrn von Heidler bisher abgehalten, aus seiner Courmacherei Ernst zu machen und sich zu erklären, denn der schneidige Dragoner ist das verkörperte Rechenexempel und wird seine begehrenswerte Hand nur zum höchsten Angebot losschlagen.
Aber selbst in dem Falle, daß die bösen Gerüchte nur auf Verleumdung beruhen, sind wenig Aussichten bei den Eltern seiner Angebeteten.
Frau von Sprendlingen ist noch viel zu hübsch, zu jung und lebenslustig, um zugunsten der Tochter auf ein Vermögen und mit demselben auf die gesellschaftliche Rolle zu verzichten, welche sie trotz der erwachsenen Gabriele noch immer spielt.
Geteilte Zinsen sind nur halbe Zinsen, und das weiß auch der pensionierte Oberst mit dem Generalstitel genau so gut, wie seine gefeierte Gattin.
Herr von Sprendlingen ist Lebemann, er liebt eine vorzügliche Speisekarte, er huldigt noblen Passionen und hat nie Anlage zur Selbstkasteiung und niemals Sinn für eine strenge Pönitenz gehabt! Auch er zieht den reichen Freier einem mittellosen Schwiegersohn vor.
Wenn aber Heidler von den Eltern in nicht mißzuverstehender Weise abgewinkt wird, wenn die Mutter das Ohr und Herz des Töchterleins dauernd und wirksam bearbeitet, wird Gabriele dann auch auf die Dauer der Werbung des Grafen von Hohen-Esp so ablehnend gegenüberstehen wie jetzt? —
Thea beißt die scharfen, weißen Zähnchen in die Lippe und atmet schwer auf.
Nein! Darauf darf sie es unter keinen Umständen ankommen lassen!
Sie muß die Fäden endgültig zerschneiden, ehe ein Netz daraus geflochten werden kann!
Aber wie? —
Nur etwas ganz Überzeugendes, Augenscheinliches wird bei dem verliebten Bären von entscheidender Wirkung sein.
Und wie Thea die ungeduldig zuckenden Hände gegen die Schläfen preßt und über das »was« und »wie« grübelt, da durchfährt sie plötzlich ein Gedanke und jagt ihr heiße Glut in die Schläfen.
Gabrieles Zettel!
Jener Zettel, welchen das törichte, selbstbewußte Backfischchen vor Jahren geschrieben, der Zettel, auf welchem sie erklärt, nun und nimmer den Grafen von Hohen-Esp heiraten zu wollen!
In fliegender Hast entzündet Thea das Licht, wirft ihr Morgenkleid über und eilt an den Schreibtisch im Nebenzimmer.
Wie war es möglich, daß sie diesen kostbaren, unersetzlichen Zettel vergessen konnte! [S. 203] —
Nein — vergessen hatte sie ihn nicht ... sie hatte ihn ja schon damals sorgsam aufbewahrt in dem Gedanken, daß er ihr einmal nützen könne ... Aber jetzt ... sie dachte nicht, daß sie ihn schon jetzt, so bald als schwerwiegendste Waffe gegen die Nebenbuhlerin ins Treffen führen werde! —
Besitzt sie ihn überhaupt noch?
Hat vielleicht ein tückischer Zufall ihn durch ihre Finger geblasen? —
Mit bebenden Händen durchwühlt Thea den Inhalt der Schublade, das Licht flackert und wirft rötlich zuckenden Schein über ihr blasses, aufgeregtes Gesicht.
Hier die altmodische kleine Schreibmappe, welche alle Raritäten aus ihrer Backfischzeit, der Tanzstunde usw. enthält.
In ihr liegt auch der bedeutungsvolle Zettel Gabrieles verwahrt!
Die dünnen, feingliedrigen Finger mit den langgebogenen Nägeln streuen achtlos die welken Blumen, Bandschleifchen und Tanzkarten, die Haarlocken und Stammbuchverse auseinander.
Hier! zwischen mehreren engbeschriebenen Blättern einer ausgeschriebenen Rolle, »Die Gouvernante«, von Körner, liegt das Gesuchte! Theas Augen leuchten auf, sie faßt den Zettel fest, so krampfhaft fest, als fürchte sie, er könne ihr noch jetzt entrissen werden, wirft den vergilbten Kram hastig in die Schublade zurück und eilt auf den weichen Sohlen ihrer roten Morgenschuhe fröstelnd in das Schlafzimmer zurück.
Dort liegt sie wieder in den Kissen und starrt mit brennendem Blick auf die noch sehr deutliche Bleistiftschrift hernieder.
Vortrefflich! Gabriele hat ihren Namen genannt, sie hat die Zeilen gewissermaßen an Thea gerichtet.
Der Inhalt ist überraschend gut.
Klarer, deutlicher und beleidigender kann er beim besten Willen nicht gedacht werden.
O, er wird Eindruck machen!
Die junge Dame lacht leise auf, ihre sonst so weichen, schwärmerischen Augen blitzen Triumph und hämische Freude.
Mit diesen wenigen, kleinen Bleistiftschnörkeln hat Gabriele das große Los durchgestrichen, welches ein gütiges Schicksal ihr so verführerisch präsentierte.
Die Herrschaft Walsleben, — Hohen-Esp, — eine Grafenkrone und ein bildschöner, ritterlicher Mann — dies alles zerrinnt wie Rauch und Nebel vor diesem winzigen Blättchen Papier, welches ein arrogantes kleines Fräulein sich selber zum Urteil schrieb.
Nun liegt es wie ein unüberwindliches Hindernis vor ihr auf dem Weg zu Glück, Reichtum und Rang, und eine andere kommt und nimmt Besitz davon.
Noch kurze Zeit wirbeln die Gedanken hinter Theas Stirn, dann ist sie einig mit sich, ihr Plan ist ausgereift.
Er ist einfach, sehr einfach, aber gerade dadurch verspricht er den Erfolg.
Gräfin Sevarille dehnt die Arme und schließt mit wohligem Lächeln die Augen.
Sie spielt ein Hazard um den Coeur-König, und schon morgen abend wird sie » va banque « sagen! —
Das Hotel St. Petersburg ist ein altes, bestrenommiertes Haus.
Man nennt es scherzweise »den russischen Krug« oder »die Petersburger Ausspanne«, weil es noch an die Zeit erinnert, wo die altehrwürdigen Kaleschen vor dem Dorfkrug Station machten, um die Pferde zu wechseln!
Ganz so schlicht ist das Hotel zwar nicht, aber es ist andererseits auch weit entfernt von den modernen Prachtbauten, welche ihre Marmorsäulen und Palmengruppen in elektrischem Licht spiegeln, — es hat schöne, einfache Räume, solide Preise, eine vorzügliche Küche und die beste Gesellschaft zu Gast. Daher besteht nach wie vor die Sitte, daß nach jedem Hofball eine Nachfeier im Hotel St. Petersburg stattfindet, eine Art Kavalierball, welcher sehr beliebt und viel besucht ist.
Auch Guntram Krafft hatte seinen Namen am Vormittag noch in die ausliegende Liste für die auswärtigen Herrschaften eingetragen, und er war auch schon als einer der ersten zur Stelle, als die Wagen heranrollten und all jene zauberhaft holden Frauen- und Mädchengestalten des verflossenen Abends aufs neue im Saal und in den Empfangsräumen zusammenströmten. Fräulein von Sprendlingen ließ, wie stets, sehr lange auf sich warten.
»Sie hat ja ihre Tanzkarte gestern abend schon gefüllt mitgenommen!« sagte einer der Herren zu einer jungen Dame, welche nach ihr fragte: »Warum soll sie sich da die Füße hier wund stehen? Auch Ballköniginnen pflegen erst zu erscheinen, wenn sich der Hofstaat vollzählig versammelte.«
Thea schwebte in einer rosa Tüllwoge in den Saal und winkte dem Grafen schon von weitem mit bedeutungsvollem Lächeln zu. Sie ward von Tänzern umringt, mußte die älteren Damen begrüßen und mit den jüngeren ein wenig plaudern, so daß schon die ersten Walzerklänge durch den Saal fluteten, ehe der Graf ihr guten Abend sagen und sie daran erinnern konnte, daß sie die Güte gehabt, ihm schon gestern zwei Tänze zuzusichern.
Sie reichte ihm mit reizendem Lächeln die Hand und sagte leise:
»Wie sollte ich diese Tänze vergessen! gerade auf Sie freue ich mich ja am meisten!«
Guntram Krafft ward dunkelrot und drückte die schlanken Fingerchen aufgeregt zwischen den seinen.
Thea freute sich auf die Tänze? Nun, dann hat sie ihm sicher etwas recht Angenehmes mitzuteilen!
Er wollte gern sofort mit ihr plaudern, sich auf einen Diwan mit ihr niedersetzen, wie dies auf dem Hofball der Fall gewesen; da aber am heutigen Abend sehr viel flotter getanzt zu werden schien, war es der vielen Extratouren wegen nicht möglich. Das sagten ihm schon etliche junge Damen, welche er gestern kennengelernt und soeben auch begrüßt hatte.
Gestern war der Tanz Nebensache.
Ein Hofball ist mehr eine glänzende Schaustellung, eine Parade, bei welcher nicht die Pickelhauben und Säbel, sondern die schönen Augen der Frauen blitzen, ein großes Stelldichein, welches sich Namen, Stellung, Prunk und Schönheit geben, gemeinsam dem Landesherrn und seinem erlauchten Haus ihre Ehrfurcht zu vermelden.
Der Hofball ist ein lebendes Bild, durch welches der Tanz nur ganz verschwindend seine goldenen Linien zieht; eine Nachfeier im Hotel St. Petersburg jedoch ist das schöne Recht der Jugend, wo sie alles nachholen will, was ihr die steifere Etikette der Hoffeste verkümmert hatte.
Gabriele war noch immer nicht erschienen; Guntram Krafft wandte kaum einen Blick von der Tür.
Er stand, in Wahrheit eines Hauptes länger denn alles übrige Volk, nahe am Eingang und schaute voll ungeduldiger Sehnsucht jener Einzigen entgegen, welche trotz ihres schroffen und abweisenden Wesens all seine Gedanken wie durch einen wahren Zauberbann gefesselt hielt.
Er hatte einmal in dem Bücherschrank seiner Mutter ein Gedichtbuch gefunden, welches er heimlich mit an den Strand nahm und, in dem knisternden Riedgras liegend, las. Da fand er ein paar Verse, welche ihn ganz besonders zum Nachdenken reizten; sie handelten von einer Rose »an Dornen ach nur allzu reich!« von der hieß es:
Dieses Gedicht kam ihm plötzlich in die Erinnerung, und was ihm ehemals so unverständlich schien, das begriff er jetzt.
Warum fesselte Gabriele ihn so wunderbar, sie, die dornenreichste aller Rosen, welcher er im Leben begegnet war?
Warum gefiel ihm Gräfin Thea in all ihrer anmutigen Liebenswürdigkeit nicht tausendmal besser?
Warum stand er hier und blickte voll sehnender Ungeduld jener Schönsten entgegen, welche die einzige im Saal war, die für ihn kaum einen Blick, kaum einen Gruß hatte? Und je länger sie zögert, zu erscheinen, desto unruhiger hämmert das Herz in seiner Brust.
Herr von Heidler ist bereits anwesend und scheint sich nicht viel Sorge um das Zögern seiner Herzenskönigin zu machen. Er tanzt bereits sehr flott mit der Tochter des Divisionärs, seines Obersten, mit der Nichte des Hofmarschalls und der gestern zuerst bei Hof präsentierten Enkelin des Ministers.
Ein überschlankes Püppchen, mit trotz ihrer Jugend schon recht blasiertem, ausdruckslosem Gesichtchen. Man erzählte sich aber heute morgen im Hotel, wo verschiedene Herren in Gesellschaft Guntram Kraffts frühstückten, daß Fräulein Henny ein goldenes Kälbchen sei, um welches wohl bald ein recht lebhafter Tanz beginnen werde, — ein Tanz, welcher in diesem Fall wohl nur dem Götzen Gold huldige. —
Ja, er beginnt bereits! Und Herr von Heidler verschmäht es nicht, in Abwesenheit seiner angebeteten Gabriele mit recht zündenden Blicken in das spitze, sommersprossige Gesichtchen zu sehen.
Schon der zweite Tanz näherte sich dem Ende, und noch immer ist Fräulein von Sprendlingen nicht erschienen.
Auch Thea fällt es auf.
»Wo steckt denn Gabriele?« fragte sie einen der Vortänzer: »Hat sie etwa abgesagt?«
»Leider! leider!« dienert der Vielbeschäftigte, »noch in letzter Stunde ...«
»Undenkbar, aus welchem Grunde?« ...
Der Gefragte zuckte die Achseln.
» Nur mündliche Bestellung!... Durch plötzliche Krankheit verhindert! Möglicherweise hat das gnädige Fräulein gestern doch zu viel getanzt! Einige zwanzig Kotillonsträuße! [S. 208] Das ist eine Anforderung, welche kaum große Füße leisten können, geschweige eine solche Miniaturausgabe, wie die des Fräulein von Sprendlingen!«
Beinahe atemlos vor Interesse hat Thea zugehört.
Gabriele krank?
Günstiger konnte es sich für ihre Pläne ja kaum treffen!
Wenn man krank ist, nimmt man keine Besuche an, dann schreibt man mit Bleistift auf kleine Zettel, — das muß doch selbst dem Argwöhnischsten einleuchten!
Gräfin Sevarille sieht strahlend heiter aus, der Triumph, die Genugtuung blitzen aus ihren Augen.
Ein französisches Sprichwort sagt: »Der Abwesende hat immer Unrecht!« Auch Gabriele, die Rivalin, wird geschlagen werden, während sie fernab von dem Schlachtfeld weilt!
Ist es nicht ganz auffällig, wie sich das Interesse des Grafen schon jetzt der kleinen, hilfsbereiten Freundin zuwendet?
Wie innig drückte er ihr vorhin die Hand, wie allerliebst errötete er bei ihren Worten — wahrlich ein moderner Parzival, ein Kinderherz ohne Arg und Falsch, ebenso leicht durch ein paar Zuckerplätzchen gewonnen, wie ein solches!
Und hoffentlich auch ebenso leicht getröstet, wenn ein hübsches, buntes Spielzeug, nach welchem es naives Verlangen trug, aus seinen Händen gewunden wird. Man gibt ihm dafür ein anderes ... und es wird sich zufrieden geben und sich artig dem Willen derjenigen fügen, welche so sehr, sehr viel klüger und weltgewandter ist wie das große Kind aus dem Strandschloß.
Thea hatte eigentlich noch ein wenig warten wollen, ehe sie den großen Trumpf ausspielte; nachdem sie aber die köstliche Nachricht erhalten, daß Gabriele krank sei, hielt sie nicht länger zurück, sie brannte darauf, das Eisen zu schmieden, so lange es heiß war. Geschmeidig wie ein schillerndes Eidechschen wand sie sich durch die Plaudernden und stand im nächsten Augenblick vor [S. 209] dem Bären von Hohen-Esp, welcher ihr bereits voll fiebernder Ungeduld entgegensah und zum erstenmal seinen Posten an der Tür verließ, um Gräfin Sevarille den Arm zu bieten.
»Jetzt kommt unser Tanz, Gräfin, nicht wahr?« fragte er hastig.
Sie lachte und legte das Händchen mit allen Zeichen großer Erschöpfung auf seinen Arm. »Nein, Gott sei Dank, noch kommt er nicht , Graf! — Ich bin halb tot! Ich muß mich erst eine Weile ausruhen, und darum will ich vor dem nächsten Galopp flüchten und biete ein Königreich für einen Sessel!«
»In des Waldes tiefste Gründe flüchtete die Seherin!« rezitierte ein ganz junger Offizier und trat lachend zur Seite, während Guntram Krafft sehr ernst und eifrig nickte.
»Ganz recht, Sie tanzen viel zu viel, Gräfin, es wird Ihnen schaden!« sagte er und wandte sich nach einem Nebenzimmer, an dessen Spiegelwänden nur eine Reihe von Wiener Stühlen stand: »Kommen Sie bitte hier herein! — Es ist kühl und menschenleer!«
Seitlich im Zimmer hatten sich etliche alte Herren zu einem L'hombre zusammengesetzt; sie blickten flüchtig auf, ließen sich aber nicht stören, als die jungen Leute entfernt von ihnen, in der Fensterecke, Platz nahmen.
Guntram Krafft stand noch vor Thea, welche sehr graziös und so matt wie ein rosa Wölkchen in der Sommerhitze auf einen der Stühle niedersank.
»Wo bleibt Fräulein von Sprendlingen?« fragte er ohne jedwede Einleitung, so, wie sich ihm die Worte ungestüm auf die Lippen drängten.
»Gabriele? Wissen Sie es noch nicht? Sie ist krank!«
»Krank?! — Mein Gott, was fehlt ihr?«
Thea zuckte mit umwölkter Stirn die Achseln. »Vielleicht erkältet ... vielleicht auch nicht. Herzlose Mädchen kokettieren ja oft nur eine Indisposition, um sich rar und interessant zu machen!«
»Herzlose Mädchen ... kokettieren ...?«.., stammelte [S. 210] Guntram Krafft beinahe erschrocken. »Urteilen Sie so über Ihre Freundin?«
Thea blickte ihn seltsam an, — so warm, so innig und traurig, daß ihm abermals das Blut in die Wangen schoß.
»Setzen Sie sich zu mir, Graf!« hauchte sie weich, entfaltete den Fächer und blickte tief aufatmend auf seine gemalten Narzissen nieder.
»Graf ...!«
Er starrte sie momentan an. »Warum sprechen Sie nicht weiter, Gräfin?«
»Wollen Sie es durchaus, daß ich von Gabriele spreche?«
»Und wollen Sie es durchaus nicht ?«
Sie seufzte: »Ich möchte Ihnen so gern alles Unangenehme ersparen! Ich meine es gut mit Ihnen, Graf, und bin auf Gabriele so sehr ... so ernstlich böse!«
Er hatte nur die ersten Worte gehört und zuckte unmerklich zusammen.
»Ich höre lieber Unangenehmes, wie gar nichts!« sagte er leise. »Und Sie sind so gut und rücksichtsvoll zu mir, Gräfin, daß aus Ihrem Munde sicherlich auch das Schlimmste noch erträglich klingt!«
Wieder traf ihn ihr Blick, in so herzlicher, ehrlicher Trauer, daß es ihm ganz wundersam zumute ward.
»Nein, Graf, ehe ich Ihnen so etwas unerhört Beleidigendes sagte, eher bisse ich mir die Zunge ab!« sagte sie erregt. »Ich finde meine Mission sowieso trostlos genug, denn wenn es nach mir ginge, sollten Sie wahrlich glücklich sein! Hätte es mir Gabriele nicht schriftlich gegeben, ich würde nie ...«
Er hatte sie erst mit warmem Dankesblick angesehen, jetzt hob er jäh das Haupt und unterbrach sie.
» Schriftlich gegeben?« wiederholte er erstaunt.
Sie zog ein Notizbüchlein aus dem Kleid und entnahm ihm einen Zettel, zog denselben jedoch hastig zurück, als Guntram Krafft mit allen Zeichen großer Erregung danach greifen wollte.
»Halt, Graf! Wenn ich Ihnen diesen Zettel zeige, begehe ich eine große Indiskretion an Gabriele, und ich tue es nur, weil Sie mich gestern zu einer gewissen Offenheit verpflichteten. Leicht wird es mir wahrlich nicht, ich leide unsäglich unter der Rolle einer Vertrauten, welche Sie mir zuerteilten! Wenn mich Ihr Schicksal nicht so außerordentlich interessierte, und wenn ich es nicht für meine heilige Pflicht hielte, Ihnen als guter Engel rechtzeitig die Augen zu öffnen, so würde dieser Zettel längst ein Raub der Flammen sein!« —
»Gräfin ... foltern Sie mich nicht ... lassen Sie mich lesen ...«
»Nur unter einer Bedingung ...«
»Ich gelobe alles, was Sie verlangen!«
»Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, schwören Sie es mir bei allem, was Ihnen heilig ist, daß nie ein Mensch, Gabriele selber am allerwenigsten — jemals es erfährt, wie indiskret ich handelte, Ihnen diesen Zettel zu zeigen! Sie geloben mir strengste Diskretion?«
»Ich gelobe sie und werde mein Wort halten!« Er bot ihr mit seinem offenen, grundehrlichen Blick die Hand entgegen, und Thea schlug ein.
»Gut; ich glaube Ihnen! Ich habe rückhaltloses Vertrauen zu Ihnen, Graf! Und nun lassen Sie mich erst erzählen, wie ich zu diesem Zettel kam!«
»Ich bitte darum!«
»Es interessierte Sie, zu wissen, welche Meinung Fräulein von Sprendlingen über Sie hege, und was Sie eventuell tun könnten, um sich ihre Sympathien zu erwerben!« Thea sprach schnell und leise, ihre schlanken Finger hielten den Zettel zwischen den rosa Tüllwogen auf ihrem Schoß. — »Ich wollte ihr demzufolge gestern morgen einen Besuch machen, um sie ein wenig auszuforschen, wurde aber nicht angenommen, weil das gnädige Fräulein um zwölf Uhr noch nicht aufgestanden war!! — Um zwölf Uhr! Das wird Ihnen so unglaublich scheinen wie mir! Aber Gabriele ist ja das verkörperte Großstadtleben: die Nächte durchwachen, die [S. 212] Tage verschlafen, das ist das Programm der Modedamen, welche nun einmal nicht für ländliche Verhältnisse geboren sind!«
»O, wie schade, daß Sie die Freundin nicht sehen konnten!« — Er strich mit der Hand über die Stirn, seine Stimme bebte vor Ungeduld.
»Ich ging nach Hause und versuchte mein Heil schriftlich. — Wahrlich, Graf, ich habe es sehr diskret angefangen und begreife nicht, wie Gabriele sogleich an Heiraten denken konnte, aber derart verwöhnte Mädchen wie sie wittern ja überall einen Heiratsantrag; selbst aus meiner durchaus harmlosen Plauderei las Gabriele einen neuen Sturm auf ihr so kaltes, anspruchsvolles Herzchen heraus. Hier, lesen Sie selber, in welch unerhört beleidigender Weise sie mir antwortet!«
Die Sprecherin reichte brüsk den Zettel dar, und Guntram Krafft nahm ihn und neigte das Haupt tief darauf hernieder.
Theas Blick heftete sich scharf auf sein Antlitz, sie sah, wie es erbleichte, wie sein Auge starr und glanzlos auf den Zeilen ruhte. Regungslos saß Graf Hohen-Esp, — sein Atem ging schwer, und der Zettel schwankte momentan in seiner Hand. —
Er antwortete noch immer nicht, und Thea legte leise und zart ihre Hand auf seinen Arm.
»O, sehen Sie, Graf, wie diese grausamen Worte Sie verletzten! O, wie beklage ich es, wie sehr bereue ich es nun, sie Ihnen gezeigt zu haben!«
Er schüttelte den Kopf, faltete den Zettel zusammen und schob ihn in die Brusttasche.
Thea griff hastig danach.
»O, geben Sie zurück, Graf ...«
»Unbesorgt, Gräfin, das Papier ist gut aufgehoben, — ich habe Ihnen ja Diskretion gelobt. Aber ich bitte Sie, mir den Zettel zu eigen zu lassen.«
Er sprach mit seltsam harter, klangloser Stimme, und Thea verschlang mit leiser Klage die Hände.
»Graf ... zürnen Sie auch mir ?«
Er blickte sie fragend an. »Zürnen? Ich zürne weder der Schreiberin noch Ihnen. Daß Fräulein von Sprendlingen sich nur für einen Helden begeistern kann und mich niemals heiraten wird, weil ich ihr nicht imponiere, ist Geschmackssache, — dagegen läßt sich nicht streiten.«
»Aber daß sie es so beleidigend ausdrückt, das verzeihe ich ihr nie!«
»Sie ahnte ja nicht, daß ich diese Worte lesen würde, und warum sollte sie Ihnen gegenüber in meinem Interesse rücksichtsvoll sein? Je klarer und deutlicher sie sich ausdrückte, desto sicherer war sie, richtig verstanden zu werden!«
Er sprach sehr ruhig, beinahe monoton, und sein Haupt sank noch tiefer zur Brust.
»Graf!«
Er schrak empor. »Ich danke Ihnen, Gräfin, daß Sie mir jetzt schon erfahren ließen, was mir später wohl noch schwerer angekommen wäre. Ich weiß, daß Sie mir gewiß lieber einen freundlichen Gruß überbracht hätten. Sie haben sich meiner so gütig angenommen, obwohl Ihnen mein Benehmen gewiß äußerst eigenartig erschien. Ich bin ein Fremdling hier, — ich kenne Ihre Sitten so wenig und handelte nur so, wie es mir just in den Sinn kam. Bitte, vergessen Sie diese traurige kleine Episode.«
»Ich soll sie vergessen?« — Thea neigte sich vor und sah ihm voll rührender Innigkeit in die Augen: »Nein, Graf, Sie sollen vergessen, und zwar so schnell und so gründlich wie möglich! Blühen nicht so viele andere holde Blumen um Sie her? Warum muß es gerade die Königin Rose sein, welche an Ihrer Brust blühen soll? Glauben Sie mir, Graf, es ist eine traurige Tatsache, daß die schönsten Mädchen nicht immer die besten sind! Sie werden verwöhnt, eitel, egoistisch und tyrannisch, sie lassen sich von ihren Launen beherrschen und urteilen herzlos und oberflächlich ...«
Er hob mit beinahe flehendem Blick die Hand. »Rauben Sie mir nicht den Glauben an die Schönheit, Gräfin!« [S. 214] sagte er weich. »Wer sein Leben lang im Banne eines holden Märchens gestanden, findet sich so schwer mit der herben Wahrheit ab! — Schön und gut war bislang ein unzertrennlicher Begriff für mich, — — und warum soll ein Weib, welches bis zur Schroffheit aufrichtig ist, nicht dennoch gut sein? — Und nun reichen Sie mir Ihren Arm, Gräfin, das Souper scheint angekündigt zu sein, — die alten Herren verlassen den Spieltisch!«
Thea erhob sich, — das ironische Lächeln, welches um ihre Lippen spielte und welches der beinahe lächerlichen Sanftmut ihres schwärmerischen Partners galt, verlor sich.
»Ja, lassen Sie uns gehen! Der Sekt soll Sie auf heitere Gedanken bringen, und wenn die Flöten und Geigen wieder erklingen, wollen wir jedwedem Mißgeschick ein Schnippchen schlagen und uns doppelt und dreifach des Lebens freuen! Sie haben mir das Ehrenamt einer Vertrauten übertragen, Graf, und deren erste Verpflichtung ist es, ein trauriges Herz zu trösten und zu erheitern! Carpe diem !«
Sie nickte lustig dem Vortänzer, welcher in die Tür trat und winkte, zu, hing sich wie ein rosiges Flöckchen an den Arm ihres bärenhaften Tischherrn und schritt mit ihm, Triumph und Zuversicht im Herzen, zum Souper.
So schweigsam wie Graf Hohen-Esp bei Tische war, so sprudelnd heiter und amüsant war seine Nachbarin.
Die kleine Ecke der langen Tafel war bald eine recht fidele, und Thea beobachtete es voll Genugtuung, daß Guntram Krafft energisch seine Mißstimmung bezwang und, wenn auch nicht fröhlich, so doch etwas gesprächiger wurde.
Als Komtesse Sevarille das Thema sehr geschickt auf die See lenkte und die umsitzenden Damen aufs eifrigste in ihr schwärmerisches Entzücken einstimmten, leuchtete es sogar in Guntram Kraffts ernsten Augen wie heiße Sehnsucht auf, und als man gar anfing, ihn um seemännische Dinge zu befragen und seinen Bemühungen, die Damen und Herren für das Rettungswesen Schiffbrüchiger zu interessieren, ein lebhaftes Verständnis entgegenbrachte, da bemächtigte sich seiner sogar eine gewisse freudige Erregung, welche für den Augenblick die Schatten von seiner Stirn scheuchte.
Dieses Gespräch währte freilich nicht lange, dazu war die Jugend zu übermütig gestimmt, ja, ein Referendar sagte sogar mit sehr tragischer Geste: »Es ist seltsam, daß man hier auf dem Festland so wenig Sinn und Teilnahme für das Rettungswesen hat! Die Küste mit all ihren drohenden Gefahren, ihrem ›Seemann in Not‹ und ihrer schauerlich-schönen Sturmpoesie liegt den Leuten hier zu fern, um sie zu interessieren! Eine Gefahr, welche sie sich nicht vorstellen können, existiert nicht für sie, und ein Eisenbahnunglück wird ihnen stets mehr zu Herzen gehen wie eine Schiffskatastrophe. Für die Waisenkinder, das Blindenasyl und Findelhaus zahlt wohl jede Mutter gerührten Herzens ihr Scherflein, aber eine [S. 216] wackere Gesellschaft, welche manch tapfern Seehelden den Wogen entreißen und manch unglücklichen Schiffer von seinem Wrack einholen möchte, für die findet sich kaum eine offene Hand!« —
»Und wie not tun unserm Vaterlande gerade die guten, starken Hilfen am Strand!« nickte Guntram Krafft mit finsterm Blick; seine vergeblichen Besuche des heutigen Morgens, seine gescheiterten Bemühungen kamen ihm mit all ihrer niederdrückenden Erfolglosigkeit in das Gedächtnis zurück: »Deutschlands Zukunft ruht auf der See! und jeder gute Patriot sollte bemüht sein, im Sinne seines Kaisers zu handeln und dem Seewesen in vollem Umfang, sei es der Marine, dem Lotsen- und Rettungswesen oder den Seemannsheimen, sein tatkräftiges Interesse zuzuwenden! Hier tut Hilfe not! Hier trägt jede gute Tat ihren reichen Segen! Warum begeistern sich die deutschen Frauen so viel dafür, die Vergangenheit zu ehren, gründen Schiller- und Bismarckvereine — und denken so wenig an die Zukunft ihres Vaterlands? Diese ist wichtiger wie alles andere! Einmal haben sich Deutschlands Frauen allerdings schon treu bewährt, haben das Schiff ›Frauenlob‹ von dem Ertrag ihrer Sammlungen gebaut und es bewiesen, daß selbst die kleinste Hand kräftig genug ist, an Deutschlands Macht und Herrlichkeit mitzuarbeiten! Jetzt aber ist — mit wenigen Ausnahmen — so gut wie gar kein Interesse für die dringende Not an der Küste vorhanden, und doch steht unser Rettungswesen noch auf recht schwachen Füßen, obwohl gerade in letzter Zeit so manche Kunde über das tragische Schicksal Schiffbrüchiger wie ein mächtiger Hilfeschrei durch das Land hallte!«
Mit erstaunten Blicken hatte man den Sprecher gemustert, welcher in seiner Erregung ein Bild edlen Eifers schien und in nichts mehr an den ungewandten, tolpatschigen Bären von Hohen-Esp erinnerte!
Die Damen stimmten lebhaft zu und ließen nur zum Schluß die etwas ängstliche Frage laut werden: »Wer soll aber so etwas in die Hand nehmen?«
Und die Herren zuckten zweifelnd die Achseln und versicherten: »Das ist ja ganz unmöglich! Ein einzelner kann dabei gar nichts tun, wenn die Sache nicht von maßgebender Seite angeregt wird!«
Ein grimmes Lächeln zuckte um die Lippen Guntram Kraffts.
»Diese Antwort ist mir heute schon öfters geworden,« sagte er beinahe verächtlich, »und ich fürchte, ich werde sie noch mehrfach hören müssen. Gerade in dieser Ansicht liegt der Fehler, welchen alle begehen, weil keiner den Anfang machen will. Warum ›von maßgebender Seite?‹ Dies ist die Schanze, hinter welcher sich die Tatenlosigkeit verkriecht! Wenn jeder einzelne und jede einzelne das Ihre täten, wäre uns geholfen.« —
Die letzten Worte verklangen bereits in dem Lärm, welchen das Zurückschieben der Stühle und die lebhaftere Konversation bei Aufbruch der Tafel verursachten — der Graf von Hohen-Esp schwieg und verneigte sich vor seiner Dame, sie in den Saal zurückzuführen.
Thea flüsterte begeisterte Worte der Anerkennung zu ihm auf, sie versicherte, daß sie noch mehr über dieses Thema hören müsse, welches ihr bis jetzt unbegreiflicherweise noch so fremd geblieben sei, — der Graf aber schien zerstreut, weit ab mit allen Gedanken. Er sah seltsam verändert aus, er hatte so gar keine Ähnlichkeit mehr mit dem ehedem so linkischen, bei jedem Wort errötenden Jüngling, welchen die Spottlust der Großstädter den modernen Parzival genannt.
Er neigte flüchtig den Kopf.
»Ich tanze keinen Walzer, Komtesse, gestatten Sie, daß ich Ihnen einen zuverlässigeren Tänzer besorge!«
»O nicht doch — ich möchte tausendmal lieber mit Ihnen plaudern, Graf! Jener Platz am Fenster dort ist so gemütlich ...«
Er schien ihre Worte zu überhören, wandte sich zu einem seiner Tischnachbarn, welcher keine Dame geführt hatte, und bat ihn, bei Komtesse Sevarille zum Tischwalzer für ihn einzutreten, da er nicht tanze.
»Selbstverständlich, mit größtem Vergnügen!« versicherte der Angeredete, nachdem er den Grafen ein wenig erstaunt gemustert hatte, verneigte sich vor der jungen Dame und flog auf wiegenden Klängen mit Thea davon.
Guntram Krafft aber wandte sich kurz um und schritt dem Ausgang zu.
Er dachte nicht daran, ob er sich verabschieden müsse oder nicht; es gingen verschiedene Damen und Herren schon jetzt nach dem Souper. So ging auch er, nahm hastig Pelz und Hut und trat in die kalte, stürmische Winternacht hinaus.
Seine Verpflichtungen gegen Thea hatte er erfüllt, nun hielt ihn nichts mehr. Wie ein Verdürstender atmete er die klare, kalte Luft, — sein gequältes Herz hämmerte in der Brust, und seine Augen brannten so heiß, als glühten ungeweinte Tränen darin. Welch eine Beherrschung hatte die letzte Stunde von ihm verlangt!
Als er Gabrieles Worte gelesen, war es ihm zumute wie einem Menschen, welchem das Glück jählings aus den Händen gleitet und in Scherben zerbricht.
Es war der erste große, leidenschaftliche Schmerz, welcher sein Herz traf, es war die erste tiefe, unaussprechlich wehe Wunde, welche ihm geschlagen ward.
Seine Seele, welche bisher nichts anderes gekannt hatte als den stillen Frieden der Heimat, als die Treue, Liebe und Aufrichtigkeit der Seinen, sie lernte zum erstenmal alle Bitterkeit einer Enttäuschung, alle Qual einer hoffnungslosen, unerwiderten Neigung kennen.
Wie Feuer brannte der kleine Zettel auf seiner Brust, wie verzehrendes Feuer glühte ihm das Leid im Herzen.
Jetzt erst, nachdem er Gabriele für immer verloren, begriff er es, wie voll, wie ganz und innig er sein Herz an sie gehängt hatte. So auf den ersten Blick! —
So gläubig und vertrauend wie ein Kind, welches die Schönheit in seinem Märchenbuch liebgewonnen und voll sehnenden Entzückens die Arme nach ihr ausbreitet, wenn sie ihm im Leben unverhofft begegnet. Welch ein [S. 219] schwerer, tosender Kampf in seinem Innern, nach all dem friedlichen Glück vergangener Jahre! —
Dazu kam die herbe Enttäuschung, welche er in der Angelegenheit seiner ersehnten Rettungsstation erfahren.
Dieser Mißerfolg allein hatte schon etwas sehr Niederdrückendes für ihn und trug auch noch dazu bei, seine Stimmung zu verdüstern.
Eine Mutlosigkeit, ein Widerwillen gegen Welt und Leben, wie er ihn zuvor kaum geahnt, überkam ihn plötzlich.
Die Luft in dem Ballsaal war so schwül, so heiß gewesen, die Menschen so ungewohnt, die Musik so schrill und laut.
Hier war es still und einsam in den verschneiten Parkanlagen, und der Wind sauste ihm so frisch und gewaltig entgegen, wie ein alter, treuer Freund, welcher in toller Wiedersehensfreude die Arme um ihn wirft, ihn reißt und schüttelt und ungestüm ruft: »Wo bleibst du so lange? Komm heim! Komm heim!«
Und über ihm das kahle Gezweig knarrt und greint wie Rahe und Segel ... und die fernen Wipfel rauschen wie brandende See ...
Da überkommt ihn ein wildes, unbändiges Heimweh! Ein übermächtiges Sehnen nach der stillen Heimat, nach allem, was er liebt und was auch ihm in treuer, schlichter Liebe ergeben ist!
Guntram Krafft breitet jählings die Arme aus und stöhnt aus tief verwundetem Herzen: »Heim! — ja, ich will heim! — Was soll ich noch hier? Meines Schicksals Würfel sind gefallen. Ich bin kein Held! — Nie und nimmer mehr wird Gabriele mir ihre Liebe schenken ... was hält mich noch hier?«
Und er stürmt mit hämmernden Pulsen in das Hotel und kündet dem äußerst betroffenen Anton an, daß er die Koffer packen solle, — am nächsten Tage kehre er nach Hohen-Esp zurück.
»Herr Graf!« stottert der alte Mann mit sorgenvoll [S. 220] prüfendem Blick in das verstörte Gesicht seines Herrn: »Was wird Ihre Gnaden, die Frau Gräfin sagen?«
»Gleichviel. — Ich reise heim.«
Anton hört es dem halberstickten Klang der Stimme an, hier gibt es kein Widersprechen. Was mag geschehen sein?
Eine Dame ist wohl nicht im Spiel, — es ist allein der Ärger über die Mißerfolge bei dem Minister und Geheimen Rat, — der Graf sprach ihm ja selber davon, wie wenig Verständnis und Teilnahme er für sein Projekt finde.
Man nimmt den Bären von Hohen-Esp nicht ernst, man legt den Worten und Wünschen des verbauerten Krautjunkers keinen Wert bei!
»Haben der Herr Graf daran gedacht, daß wir zuvor Abschiedsbesuche machen müssen?«
»Ja; ich bestellte bereits bei dem Portier den Wagen. Wir werfen nur Karten ab; einzig bei der Gräfin Sevarille wünsche ich gemeldet zu sein. Ich werde jetzt noch die neu eingelaufenen Einladungen beantworten.«
Und der Graf wirft Pelz und Hut ungeduldig ab und tritt mit umwölkter Stirn in das Nebenzimmer.
Dort sitzt er und erledigt voll nervöser Hast die Einladungen.
Es ist schon spät in der Nacht, — Anton lugt besorgt durch die Tür.
Da sieht er Guntram Krafft über einen kleinen zerknitterten Zettel geneigt, das Antlitz bleich und verfallen, wie bei einem Kranken. »Wollen Herr Graf nicht zur Ruhe gehen?«
Er schrickt empor, streicht langsam über die Stirn und nickt.
»Du hast recht, — ich gehe.«
Er ging — aber den Zettel nahm er mit sich. — — —
Am nächsten Morgen wurden in großer Eile die Besuche abgefahren.
Da es eine ungewöhnlich frühe Stunde war, nahm Gräfin Sevarille noch keine Besuche an.
»Frau Gräfin sind bei der Toilette, und Komtesse schlafen noch.«
Guntram Krafft nickte. »Weiter!« befahl er kurz. —
In seiner großen Harmlosigkeit fiel es ihm nicht einen Augenblick auf, daß Gräfin Thea ebenso großstädtisch lange schlief, wie ihre Freundin Gabriele, — und sie hatte das doch gestern abend noch so scharf verurteilt. Zum Bahnhof! Fort! Fort von hier! — Er stirbt vor Sehnsucht nach der Heimat.
Der Zug setzt sich langsam in Bewegung und fährt in den kalten, nebligen Wintermorgen hinein, und als die Häuser und Türme der Stadt hinter dem modernen Parzival versinken, da atmet er tief auf, wie erlöst von einer unseligen Last. —
Da wird es allmählich wieder still und ruhig in seinem Herzen, — und als er endlich im Schlitten sitzt und durch die heimatlichen Wälder dahinjagt, als er mit aufleuchtendem Blick und weitgeöffneten Armen das bleigrau rollende Meer begrüßt ... da schaut er plötzlich um sich, wie ein Mensch, welcher aus tiefem Schlaf erwacht, wie ein Mensch, welchen ein böser, quälender Traum befangen hielt.
Gräfin Thea war nie so aufgeregt, so übellaunig und nervös von einem Balle heimgekehrt, wie von dem Tanzfest in dem Hotel St. Petersburg.
Ihre Augen brannten wie im Fieber, mit unsicheren Händen riß sie den Kranz aus ihrem Haar. —
Warum hatte der Graf das Fest so unvermittelt hastig, ohne ein Wort des Abschieds verlassen? —
Wohin ging er? —
Wird er tatsächlich verschwiegen sein?
Hat sie vielleicht zu kühn gehandelt? Sprach sie zu unbedacht die Unwahrheit und grub sich selber eine Grube? —
Wenn Gabriele nun gar nicht krank war? Wenn der Hohen-Esper vielleicht schon nähere Beziehungen zu Gabriele [S. 222] hatte, als sie ahnte? — Wenn Frau von Sprendlingen des Grafen Bewerbung unterstützt hatte? —
Theas Zähne schlugen wie im Schüttelfrost zusammen.
Er war so seltsam verändert, als er den Zettel gelesen, — auch gegen sie verändert, kühl, zerstreut ... zum Schluß, als er ohne Abschied ging, sogar unhöflich.
Zweifelte er an der Echtheit des Zettels? Wollte er der Wahrheit nachforschen? War der junge Bär doch nicht so naiv und harmlos, wie sie angenommen? Was soll daraus werden, wenn ihre Intrigue an den Tag kommt?
O, welch entsetzliche Blamage!
Thea wühlt das Gesicht in die Kissen und beißt vor Aufregung die Lippen blutig.
Wie im Fieber rasen neue Gedanken, neue Pläne durch ihr Hirn.
Wenn jede Schuld ihre Strafe in sich schließt, so erleidet sie Gräfin Thea in dieser dunklen, endlosen Nacht.
Sie schläft nicht, sie ist aufgeregt bis zum Wahnsinn. —
Erst spät am Morgen, als das Mädchen schon im Ofen das Feuer anzündet, schläft sie ein.
Und als sie erwacht, erhält sie die Nachricht, daß Graf Hohen-Esp bereits dagewesen sei. — Sie starrt die Sprecherin an wie eine Vision.
»Er war hier?« — Das klingt wie ein heiserer, jubelnder Aufschrei.
Sie preßt die Hände gegen die Schläfen, sie lacht jählings auf, wie aus Todesängsten erlöst. Dann macht sie in rasender Eile Toilette, frühstückt und geht in sehr gehobener Stimmung auf das Eis.
Als sie wiederkommt, sieht sie trotz der Kälte blaß und verstört aus.
Um ihre Augen liegen tiefe Schatten, und der Mund zeigt die Linien, welche man im ganzen Hause fürchtet, — sie zeigen an, daß die Komtesse sich in höchst gereizter und schwer geärgerter Stimmung befindet.
Dann wirft und schleudert sie alles.
So auch jetzt.
Sie bringt zwei Neuigkeiten mit nach Hause.
Die erste ist die, daß Fräulein von Sprendlingen persönlich sehr wohl und gesund ist, daß aber ihr Vater, gerade, als er im Begriff stand, für das Tanzfest im Hotel St. Petersburg Toilette zu machen, von einem Schlaganfall getroffen wurde.
Er liegt seit gestern abend bewußtlos, und die Ärzte fürchten das Schlimmste.
Das würde Komtesse Sevarille ziemlich gleichgültig sein, im Gegenteil, wenn »die Königin der Feste«, Fräulein Gabriele, Trauer bekäme und keine Bälle besuchen könnte, würde es für die Freundin Thea nur vorteilhaft sein.
Aber die zweite Neuigkeit!
Graf Hohen-Esp ist Knall und Fall abgereist. Kein Mensch weiß warum. — Man vermutet, daß er Nachrichten von zu Hause erhielt.
Ob er wiederkommen wird?
Viele behaupten »ja«, manche »nein«. — Gräfin Thea weiß es genau, — nein, er kommt nicht wieder. Und diese Überzeugung kann sie wütend machen — wütend! — Sie schließt sich in ihr Zimmer ein und tobt.
General von Sprendlingen war begraben, und in der Residenz wurde nur ein einziges Thema besprochen, die finanzielle Lage seiner Gattin und Tochter.
Wie ein Lauffeuer war es durch die Stadt gegangen, daß der alte Herr infolge einer ungeheuren Aufregung den Schlaganfall erlitten hatte.
Viele behaupteten, es sei längst kein Geheimnis mehr gewesen, daß der pensionierte Offizier spekuliert hatte, um den Ausfall des hohen Gehaltes durch reichere Zinsen auszugleichen.
Seine Damen sowohl wie er selbst waren so sehr verwöhnt, ein Bankkrach hatte ihm vor kurzem schwere Verluste gebracht — was Wunder, wenn der alte Herr dem Beispiel so vieler folgte, welche das Geld für sich arbeiten ließen, nachdem sie selber als verabschiedete Offiziere die Hände in den Schoß legen mußten?
Das Glück ist aber heutigentags noch dasselbe wetterwendische und launische Weib, welches es stets gewesen, und so wandte es Herrn von Sprendlingen treulos den Rücken, um seinen Goldregen über andere zu streuen, welche für den Augenblick seine Günstlinge waren.
Der General erhielt die verzweifelte Nachricht, daß alles verloren sei, just in dem Augenblick, als er sich anschickte, mit Frau und Tochter den Kavalierball im Hotel St. Petersburg zu besuchen, und sie traf ihn derart, daß er als ein zu Tode getroffener Mann unter ihr zusammenbrach.
Frau von Sprendlingen schien nicht ganz so unvorbereitet gewesen, wie man anfänglich angenommen; sie war gefaßter, als man glaubte, und Gabriele blickte so ruhig und zuversichtlich aus den tränenglänzenden Augen, [S. 225] daß man wohl annehmen konnte, ihre Zukunft sei durch eine nahe bevorstehende Heirat gesichert.
In Villa Monrepos vollzog sich voll grausamer Hast und Nüchternheit die traurige Wandlung, welche derartigen Ereignissen zu folgen pflegt. Die notwendige Auktion hatte stattgefunden, und die Damen bereiteten sich zur Abreise vor; denn da sie über keine weiteren Mittel als die karge Witwenpension verfügten, schien es fraglich, ob sie ein eigenes Heim in der Residenz gründen konnten. Vorläufig folgten sie der Einladung einer kinderlosen Verwandten, welche Frau von Sprendlingen und Gabriele für die Dauer des Trauerjahres zu sich gebeten hatte.
Zum letztenmal saßen Mutter und Tochter in den liebgewordenen Räumen, in welchen sie so viele, glückliche Jahre verlebt, beisammen. Von allen Seiten waren ihnen viele herzliche Zeichen von Liebe und Teilnahme geworden, und fast ununterbrochen kamen und gingen die Visiten, — lauter gute Freunde, welche den so allgemein beliebten Damen vor dem Abschied noch die Hand drücken und ihnen Hilfe, Rat und Tat anbieten wollten. Frau von Sprendlingen stand am Fenster, und ihr erst so ruhiges, bleiches Antlitz sah plötzlich so verstört, so verzweifelt und verfallen aus, als sei eine letzte Hoffnung, welche sie im Herzen gehegt, für immer vernichtet worden.
In der ersten Zeit des Schmerzes und der Aufregung hatte sie an den Grafen von Hohen-Esp gedacht wie an einen Retter in der Not, welcher sicher kommen muß, das bitterste Elend von ihnen abzuwenden.
Sie hoffte von Tag zu Tag auf seinen Kondolenzbesuch, — er blieb aus. —
Sie brachte es nicht über sich, nach ihm zu fragen, und so erfuhr sie erst heute zufällig durch eine befreundete Dame, daß Guntram Krafft am Morgen nach dem Hotelball Knall und Fall abgereist sei, ohne daß jemand einen Grund für diesen fluchtartigen Abschied wußte. Den [S. 226] Tod des Herrn von Sprendlingen habe er wohl gar nicht erfahren.
Tränen tiefster Hoffnungslosigkeit glänzten in den Augen der verwitweten Frau, und als Gabriele an ihre Seite trat, zärtlich den Arm um die Weinende zu legen, da schluchzte sie laut auf und flüsterte: »Ach, meine arme, arme Gabriele! Was soll nun aus dir werden?«
Das junge Mädchen hob das Antlitz wie in seligem Vertrauen zum Himmel, — es sah in all dem Leid so verklärt und ruhig aus, als sei ihr nie ein Zweifel an dem Glück der Zukunft gekommen.
»Er liebt mich, Mama!«
»Wer?« —
Da senkte Gabriele das Köpfchen.
»Hans Heidler! — O, Mütterchen, du ahnst es ja nicht, wieviel liebe Worte er mir noch auf dem letzten Hofball sagte, wie er mir die Hand drückte, wie unaussprechlich viel sein Auge mir gestand —«
»Sein Auge, aber nicht seine Zunge!« murmelte Frau von Sprendlingen bitter. — »Gabriele, glaubst du wahrlich, daß Heidler je an Heiraten gedacht — und daß er sogar jetzt noch daran denkt?«
Das junge Mädchen atmete hoch auf, preßte wie in begeisterter Versicherung die Hände gegen die Brust und nickte.
»Ja, ich glaube es, ich weiß es bestimmt! Ein Mann, der so ritterlich, so heldenhaft, so edel ist wie Hans, betrügt kein Mädchenherz.«
»Sprachst du ihn nach Papas Tode?« —
»Ich sah ihn nur bei der Beerdigung! Aber die Weise, wie er mir die Hand küßte ... wie er mich ansah ...«
Frau von Sprendlingen machte eine ungeduldige Bewegung.
»O Kind! Kind!!«
»Er sagte mir, daß er in den nächsten Tagen kommen werde —«
»Aber er kam nicht!«
»Er wird kommen!«
»Morgen reisen wir ab!«
»So kommt er heute noch! Warum mißtraust du ihm so sehr, Mama? Warum zweifelst du an seiner Aufrichtigkeit?« —
Frau von Sprendlingen schlang krampfhaft die Hände ineinander. »Weil ich die Menschen besser kenne wie du, Kind!« sagte sie gepreßt.
»Du bist jetzt nervös und verbittert, Mamachen, du wirst einsehen, wie unrecht du ihm tust!«
Das scharfe Klingeln der Hausglocke drang zu ihnen herauf, — Gabriele zuckte mit leuchtenden Augen empor, und auch die Baronin blickte wie in jäher Hoffnung nach der Tür. —
Nach wenigen Minuten stand der Portier auf der Schwelle, er hielt einen köstlichen Strauß von Orchideen und Tuberosen sowie eine Visitenkarte in der Hand.
»Eine schöne Empfehlung von dem Herrn Leutnant von Heidler, und er ließe den Damen herzlichst Lebewohl sagen und eine glückliche Reise wünschen! Der Herr Leutnant wäre gern selber noch vorgekommen, er ist aber zu seinem großen Bedauern verhindert!« —
Da die beiden Damen bleich und schweigend wie zwei Marmorsäulen vor ihm standen und keine Hand sich hob, den Strauß in Empfang zu nehmen, legte ihn der Sprecher seitlich auf den Tisch.
»Es ist nämlich die Schlittenpartie heute, die der Herr Oberleutnant arrangierte!« fuhr er fort, mehr aus momentaner Verlegenheit wie aus Geschwätzigkeit. »Der Enkelin des Herrn Ministers zu Ehren, wie meine Frau sagt, die hilft ja manchmal in der Küche bei Exzellenz aus, wie die Damen wissen! Na, da hört sie so mancherlei. — Der Herr Oberleutnant ist jetzt beinahe alle Tage da im Hause! Die Fräulein Enkelin soll ja wohl steinreich sein, darum gibt's so ein Fest ums andere! Ja, und was ich noch sagen wollte, Frau Baronin, die Koffer werden morgen früh schon um sechs Uhr abgeholt ... die Dienstmänner können es nicht gut anders machen ... und ... wie ist es mit einer Droschke, soll ich sie für die [S. 228] Damen bestellen? — Ich gehe nachher doch noch mal aus ...«
»Ich danke Ihnen, Hartlich, wir gehen zu Fuß. Die Koffer stehen auf dem Flur bereit. Guten Abend!«
Der Portier blickte die Sprecherin betroffen an. So geisterhaft hatte er die Damen noch nie zuvor gesehen, und die Stimme der Gnädigen klang wie aus dem Grabe.
Er verbeugte sich und ging.
Wie schwer wurde den Ärmsten der Abschied! Du lieber Gott, ja, — wenn in solch feine Häuser mal das Unglück hereinbricht, dann liegt es immer doppelt so schwer als da, wo man gewohnt war, es von Kindesbeinen auf mit sich herumzuschleppen.
Als sich die Tür geschlossen, breitete Frau von Sprendlingen schweigend die Arme nach ihrer Tochter aus, und Gabrieles Köpfchen sank wie eine sturmgebrochene Blüte an die Brust der Mutter nieder.
Sie sprach nicht, nur ein leises Zittern rann durch den weichen, schmiegsamen, jungen Körper.
Und dann hob sie jählings das Haupt und blickte mit herzzerreißendem Lächeln empor.
»Ich kann es nicht glauben, daß er nicht mehr kommen wollte , Mama! Er muß ja all diese Vergnügungen arrangieren, er verkehrt viel im Hause des Ministers, weil man ihn viel einladet! — Sein Herz weilt sicher bei mir, Mama! Es ist ja ganz unmöglich, daß diese meine herrlichste Idealgestalt so kläglich in Dunst und Nebel zerrinne!«
Frau von Sprendlingen küßte die Stirn ihrer Tochter und wiederholte nur leise: »O, du armes, armes Kind!« — Dann wandte sie sich zur Tür, in welcher das Stubenmädchen erschien und mit betrübtem Gesicht die gnädige Frau um ihr Abgangszeugnis bat. —
Gabriele blieb allein.
Sie stand an dem Fenster und starrte mit erloschenem Blick auf die stille, winterliche Straße hinab, wo die Sonne auf Eis und Schnee glitzerte und fröhlich plaudernde Menschen mit den Schlittschuhen vorübereilten.
Schlittengeklingel ertönte von fern und näherte sich in flottem Tempo.
Gabriele schrak empor, neigte sich vor und starrte mit weitoffenen Augen hinab.
Die Schlittenpartie! —
Da flogen sie heran, die Rosse, mit den bunten, lustig flatternden Schneedecken, da klingelten und rasselten die Schellen durch die schmetternden Musikklänge, und die ersten Schlitten mit den Trompetern jagten vorüber.
Dann mehrere »Familienschlitten« mit den Müttern, Tanten und Papas, und dann, als Erster an der Tete der Jugend, Hans von Heidler neben Fräulein Henny von Larsen. Sie verschwindet beinahe in dem mächtigen, gelben Löwenpelz, ihr spitzes Gesichtchen ist dem Dragoner zugekehrt, und dieser neigte sich so vertraut und keck, wie es seine siegesbewußte Art ist, und lächelt der Kleinen just »tief in die Seele!«
O, Gabriele kennt dieses Lächeln — diese Augen, diese betörende und bestrickende Art! —
Ihr Herzschlag stockt, sie neigt sich noch weiter vor und starrt hinab ... ihre Lippen öffnen sich, als wollten sie voll herben Wehes aufschreien: »Hans! — Hans! Hast du keinen einzigen Blick mehr für mich?« —
Nein, er hat weder Blick noch Gedanken mehr für die öde, verlassene Villa, in welche über Nacht die Armut eingezogen ist.
Der Schlitten fliegt vorüber, ohne daß Herr von Heidler Zeit gefunden, einen einzigen Blick nach dem Fenster emporzuwerfen, hinter welchem das bleiche, liebliche Mädchen steht, dem noch vor wenig Wochen seine leidenschaftlichsten Huldigungen galten. Gabriele taumelt zurück und sinkt auf einen Stuhl, — sie schlägt die kalten, zitternden Hände vor das Antlitz und möchte weinen — weinen — daß ihre ganze Seele in den Tränen dahinschmelze, ... aber ihre Augen bleiben trocken und starr, und ihr Herz blutet still verborgen aus der Wunde, welche falsche Liebe ihr so grausam geschlagen. —
Ein Jahr war vergangen. Frau von Sprendlingen lebte mit ihrer Tochter fernab der Residenz in dem einsamen Landhaus der Tante, welche viel zu schrullenhaft, unliebenswürdig und schroff war, um den beiden verlassenen Frauen auf die Dauer ein behagliches Heim bieten zu können.
Mutter und Tochter hatten schweren Herzens beschlossen, sich zu trennen.
Frau von Sprendlingen konnte zur Not von ihrer Witwenpension leben, wenn Gabriele ein anderes Unterkommen fand.
Dieses aber fand sich trotz eifrigster Bemühungen nicht. — Die Stelle einer Hofdame, welche die Herzogin für sie an befreundetem Hofe erhofft, war gegen alles Erwarten anderweitig besetzt, — andere Aussichten zerschlugen sich ebenfalls.
Voll banger Sorge bewarb man sich dort und hier, — doch stets ohne Erfolg.
Da las Frau von Sprendlingen eines Tages in einer Frauenzeitung eine sehr annehmbar erscheinende Offerte.
Eine ältere Dame auf dem Lande suchte ein junges, liebenswürdiges und heiteres Mädchen aus vornehmer Familie zur Gesellschafterin. Die Einsendung einer Photographie war zur Bedingung gemacht.
Die Baronin las Gabriele die Anzeige vor, und beide blickten sich in stummem, wehmütigem Einverständnis in die Augen. Zur selben Stunde noch schickte Frau von Sprendlingen Gabrieles Bild an die angegebene Chiffre ab. —
Ernst und still blickte Gabriele in den leuchtenden Frühlingsmorgen hinaus. — Wird eine Antwort kommen? Wird sie die Stelle erhalten?
Ach, ihr Schicksal, ihre Zukunft sind ihr so gleichgültig geworden.
Seit sie, kaum drei Wochen nach ihrem Scheiden aus der Residenz, Herrn von Heidlers Verlobung mit Henny, der reichen Erbin, las, und sehr bald danach durch den Brief einer Freundin aus der Heimat erfuhr, daß die [S. 231] Hochzeit des schneidigen Dragoners trotz der großen Jugend der Braut schon in den ersten Tagen des Mai stattfinden solle, — war die Welt leer und tot für sie geworden.
Der Mann, welchen sie bewundert, verehrt, vergöttert hatte, trat ihr Herz voll egoistischer Rücksichtslosigkeit unter die Füße. —
Er, der kühne, mutige und unerschrockene Held, war zu feige gewesen, den Kampf um die Existenz an der Seite eines geliebten Weibes aufzunehmen. — Und diese Entäuschung traf Gabriele herber als der Verlust ihres eigenen Glückes.
Als Guntram Krafft so unvermutet schnell nach Hohen-Esp zurückgekehrt war, ruhten die Augen der Gräfin voll bangen Forschens auf dem ernsten Antlitz des Sohnes, als könne sie die Gedanken hinter seiner Stirn lesen und die Gründe erforschen, welche ihn so plötzlich heimgetrieben.
»Warum kommst du schon jetzt zurück, Guntram Krafft? Ist dir etwas Unangenehmes begegnet?«
Er blickte ihr, ganz gegen seine Gewohnheit, nicht in die Augen.
»Wenn du alle gescheiterten Hoffnungen betreffs einer eigenen Rettungsstation unangenehm nennst, dann freilich ist mir viel Ärgerliches begegnet!«
»Und nur darum bist du Hals über Kopf abgereist?«
Er antwortete nicht direkt auf diese Frage, sondern er strich sich langsam die blonden Haare aus der Stirn.
»Ich bekam Heimweh, Mutter!« sagte er leise, mit einem beinahe schwermütigen Klang in der Stimme, »es gefiel mir nicht zwischen all den fremden Menschen. Ich kam mir so überflüssig, so vereinsamt dort vor. Ihre Interessen sind nicht die meinen, ihre Sitten und Ansichten sind neu, die meinen alt. Ich verstehe das Tanzen und Plaudern gar nicht, oder doch sehr schlecht im Vergleich zu den andern Herren. Die Leute waren nicht unfreundlich zu mir, aber auch nicht so, daß ich mich [S. 232] tatsächlich unter ihnen wohlgefühlt hätte. — Dazu wehte der Sturm so vorwurfsvoll daher und mahnte mich, da es gerade jetzt viel ernste Arbeit daheim gäbe. — Da hielt es mich nicht länger. Ich sehnte mich heim zu dir, Mutter, — hier ist mein Platz! Du hast mich lieb ... gleichviel wie ich bin!« —
Die letzten Worte klangen noch leiser und wehmütiger wie zuvor, und Gundula trat neben seinen Sessel und drückte voll weicher Innigkeit das Haupt des Sohnes an die Brust.
Ihr Blick ward nachdenklich und verschleiert, wie eine bange Sorge kam es plötzlich über sie.
Waren dies die Früchte, welche sie von ihrer starren und eigenwilligen Erziehung erntete? Hatte sie ihr Kind der Welt und dem Leben so völlig entfremdet, daß es nun einsam und verlassen blieb, sein Leben lang? Wiederum durchbebte die alte Bitterkeit ihr Herz.
Hatte sie darum zeitlebens gearbeitet und rastlos geschafft, die verlorenen Güter zurückzuerwerben, um ihren Sohn als trübseligen alten Junggesellen darauf zurückzulassen? Oder war es eine heimliche Kinderliebe, welche Guntram Krafft so fest und treu im Herzen saß?
Er hatte stets so gern mit Mike, der blonden kleinen Fischerdirne gespielt, — er hatte als Jüngling im Dorfkrug mit ihr getanzt ... wäre es möglich, daß er sein Herz an sie verloren, trotzdem die Gräfin ihn so sorgsam in den Ansichten, Manieren und Pflichten seines Standes erzogen hat? —
Gundula seufzte tief auf.
Je nun, mußte sie das Glück für ihr Kind auch tief, tief von unten heraufholen ... es soll ihm werden, — besser er freit ein Fischermädchen, als keine.
Die anfänglich so schwermütige Stimmung des jungen Grafen schwand von Tag zu Tag. Der Sturm heulte daher und schien nur auf die Rückkehr Guntram Kraffts gewartet zu haben, um seine gewaltige Kraft mit der des Bären zu messen!
Da gab es keine müßige Zeit mehr, da war es vorbei mit dem wehmütigen Sinnen und Grübeln!
Täglich fast gab es schwere Arbeit!
Schiff in Not! — — Und der Bär von Hohen-Esp reckte voll kühnen Muts die Pranken, scharte seine Getreuen um sich und warf sich in tollem Wagemut gegen die brandende Flut, der Tiefe ihre Opfer zu entreißen.
Die Kälte ward von Tag zu Tag grimmiger, am Hamelwaat knirschte das Eis ... das war die böseste Zeit.
Zwei Tage lang lag der Nebel dick und fest wie ein Brett vor der See; als ihn ein neu einsetzender Sturm auseinanderriß, stürzte ein Schiffer zur Burg und meldete, daß aus dem Waat das Wrack eines gesunkenen Schoners rage. In den Masten sei noch Mannschaft zu erkennen. Das war ein fürchterlicher Tag und eine grauenvolle Fahrt! —
Das erste Boot zerschellte in der Brandung, und Guntram Krafft und seine freiwilligen Lotsen konnten selber kaum geborgen werden; doch kaum, daß sich die Erschöpften erholt, bemannte der Graf ein zweites Boot, welches er in aller Eile zweckmäßig eingerichtet hatte.
Er ließ den fehlenden Luftkasten durch leere Fässer, welche möglichst gut verspundet und unter die Duchten gelascht wurden, ersetzen, ließ Ballast einlegen und einen Lenzsack nachbugsieren, um das Boot möglichst vor See zu halten und ein Beidrehen zu verhindern.
Dann ging es mit frischem Mut abermals hinaus, und nach zweistündiger schwerer Arbeit brauste das jubelnde Hurra der Heimkehrenden durch das Heulen der Flut. Sie hatten sechs Mann eingeholt. —
Kaum, daß man die Schiffbrüchigen noch zu den Lebenden zählen konnte.
Zwei Tage und Nächte lang waren sie ohne Nahrung gewesen, ihre Lage in der Takelage bei Sturm und bitterer Kälte bedeutete eine geradezu unbeschreibliche Qual.
Gräfin Gundula ließ die Geretteten nach Hohen-Esp [S. 234] schaffen und nahm ihre erfrorenen Glieder in Pflege, bis ein Arzt zur Stelle war.
Diese heldenmütige Rettung wurde bekannt. Guntram Krafft und seine Lotsen erhielten die Rettungsmedaille und ein ansehnliches Geldgeschenk, und mit leuchtenden Augen stürmte der Graf in das Zimmer seiner Mutter: »Nun können sie heiraten! Ich habe meinen Anteil an Jöschen abgetreten, dann reicht's zur Ausstattung, und den kleinen Katen am Seehaus habe ich ihm ja schon lange versprochen, den kann er sich in Gottes Namen zur Wohnung einrichten!«
»Jöschen will heiraten?« fragte die Gräfin überrascht; »davon ahne ich nichts; wen hat er sich zum Schatz genommen?«
»Nun, die Mike! — Die beiden sind doch schon seit Kindesbeinen an Brautleute!« lachte der Bär von Hohen-Esp. »Wie manch liebes Mal hat der Jöschen ihr seinen Apfel geschenkt, und als er von der Marine zurückkam, brachte er ihr schon den Ring mit. Es sollte nur nicht laut werden, bis sie Aussicht hatten zu freien, — sind ja beide so blutarm! Aber nun ist das Geld beisammen, und ich denke, sie warten den Mai kaum ab!«
Gundula blickte starr in das frisch gerötete Antlitz des Sohnes.
Mike heiratet den Jöschen! Und Guntram Krafft erzählt es ihr mit lachendem Munde. Nein, so sieht keiner aus, der selber in das Mädel verliebt ist.
Nachdenklich senkt die Gräfin das Haupt, ihr Sohn aber setzt sich nahe an ihre Seite und nimmt zärtlich ihre Hand zwischen die seinen.
Er sieht sie an, — so kindlich bittend wie stets, wenn er etwas auf dem Herzen hat.
»Mutter!« —
»Was willst du?« —
»Warst du zufrieden mit unserer Arbeit?«
»Sehr zufrieden, Gott lohne sie euch!«
»Sie hat aber einen schweren Verlust für uns bedeutet!«
»Wieso das?«
»Unser einzigstes Rettungsboot, welches wir mit so vieler Mühe als ein Peake-Boot zurechtgemacht hatten, ist von der See zerschlagen!«
»Oh! — Es wird sich Ersatz finden!«
»Mutter!« flüsterte Guntram Krafft und legte den Arm um die Gräfin: »Möchtest du mich wohl einmal recht glücklich sehen?«
»Welche Frage!«
»Du botest mir jüngst an, — ich solle auf Reisen gehen, — fremde Länder und Völker sehen ...«
»Ganz recht! Hast du dich entschlossen?«
»Nein, Mutter. Ich möchte dich aber recht inständig bitten, mir das Geld, welches solch eine Reise kostet, zu geben!«
»Wozu das?«
Guntram Krafft hob mit leidenschaftlicher Bewegung das Haupt.
»Es ist seit Jahren mein sehnlichster Wunsch, eine regelrechte Rettungsstation hier zu errichten. Mit der nötigen Ausrüstung und Unterstützung brauche ich meine braven Jungens nicht annähernd so zu exponieren wie jetzt. Von fremder Seite haben wir keine Unterstützung zu erwarten, — wollte man uns helfen, so hätte man es jetzt getan, nachdem die Rettung der Schiffbrüchigen die Aufmerksamkeit auf uns gelenkt. — Da heißt es also — hilf dir selber! Ich habe keine andere Passion, keine anderen Interessen mehr auf der Welt, als wie das Rettungswesen, ich kenne keinen höheren Wunsch, als aus eigenen Mitteln einen Schuppen mit Ausrüstung, Boot und Apparaten hier aufzustellen.«
Gundula sah dem Sprecher tief in die Augen.
»Wenn es dir ernstlich darum zu tun ist, so steht der Ausführung deines Planes gewiß nichts im Wege!«
»Mutter!« — Der Graf war dunkelrot geworden, »und das Geld dazu?« —
»Du bist majorenn und kannst über dein Vermögen verfügen!«
Er umkrampfte die schlanke Hand der Gräfin: »Mein Vermögen? Alles, was wir besitzen, hast du verdient, es ist dein Eigentum, Mutter ... und zehntausend Mark ist wohl das mindeste, was ich benötige!«
Gundula lächelte; zum erstenmal sah ihr ernstes Antlitz beinahe heiter aus in dem Gefühl, dem Sohn, welchen sie über alles liebte, einen Wunsch erfüllen zu können.
»Du weißt, daß ich für dich arbeitete, und du hast mir seit Jahren redlich dabei geholfen. Die zehntausend Mark hast du dir selber reichlich verdient. Wie du sie anwenden willst, ist deine Sache — sie liegen bereit!«
Das Antlitz des Grafen spiegelte die unaussprechliche Freude, welche er empfand. Er schlang die Arme um die Sprecherin und dankte ihr so strahlend glücklich, als sei das Geld ihm zu Genuß und Vergnügen, nicht aber für fremde Not gespendet.
Seit langer Zeit hatte man Guntram Krafft nicht so heiter und lebhaft mehr gesehen, wie jetzt, wo er voll ungeduldigen Eifers sogleich den Bau des Rettungsschuppens in Angriff nehmen und seine notwendige Ausrüstung herstellen ließ.
Alles leitete und ordnete er selbst, und bei der regen Beschäftigung blieb ihm keine Zeit, trüben Gedanken nachzuhängen.
Die Gräfin atmete, wie von Zentnerlasten befreit, auf.
Sie glaubte nun überzeugt zu sein, daß keine unglückliche Liebe das Herz des Sohnes erkranken ließ und seine zeitweise, unerklärliche Schwermut in der Tat nur dem Kummer entsprang, welchen seine vergebliche Mission in der Residenz ihm verursacht.
Gundula grübelte und sann, wie sie ihren Liebling zu einem glücklichen Mann und Gatten machen könne.
Ihn in die Welt zu schicken, hatte keinen Zweck, denn der Graf war zu ungewandt und fremd in der Gesellschaft, um den Mut zu haben, als Freier aufzutreten.
Auch schien es ihr ratsamer, dem so sehr Unerfahrenen in dieser wichtigen Angelegenheit zur Seite zu stehen. [S. 237] So verging Monat um Monat. Da kam ihr ein guter Gedanke.
Sie suchte in einer vielgelesenen Frauenzeitung eine junge Gesellschafterin aus bester Familie und wählte aus den eingesandten Photographien diejenige heraus, welche ihrem scharfen Auge am passendsten für ihren Plan erschien.
Zu dicken Stößen kamen die Briefe an.
Die Gräfin saß in ihrem stillen Turmzimmer, in welches die Frühlingssonne ihre goldhellen Strahlen warf, und erbrach voll lebhaften Interesses ein Schreiben nach dem andern.
Wie viel verschiedene Schriften, Schicksale, Bilder! Gundula sah ein jedes derselben lange scharf und prüfend an, doch da war keines, welches ihr so recht von Herzen sympathisch war.
Die nächsten Tage brachten neue Massen von Zuschriften, und die Bärin von Hohen-Esp las und überlegte und prüfte, bis sie plötzlich das Haupt jählings vorneigte und beinahe betroffen auf ein reizendes Mädchenantlitz schaute, welches mit wundersam ernsten, großen, klaren Augen aus dem Brief zu ihr emporschaute.
Dem Anzug nach erschien sie in tiefer Trauer, schlicht, einfach und anspruchslos.
Die Gräfin überflog den Brief, welcher nur sehr kurz im Verhältnis zu den meisten anderen war. Sie sah nach der Unterschrift: »Marie Antoinette, Freifrau von Sprendlingen, geborene Freiin von Dryfurth.«
Ein guter Name. — Und sie schrieb, daß sie für ihre Tochter Gabriele, 23 Jahre alt, musikalisch, perfekt im Englischen und Französischen, geschickt in Handarbeiten, aber noch unerfahren im Haushalt, eine Stelle als Gesellschafterin suche. Ihre Verhältnisse, welche seit dem Tode ihres Mannes sehr traurige seien, zwängen sie leider, sich von ihrem Kinde zu trennen.
Gundula nickte nachdenklich vor sich hin. Eine Witwe, welche ein Unterkommen für die Tochter sucht ... Arme Frau!
Wieder und wieder nahm sie Gabrieles Bild zur Hand, auch dann noch, als sie alle anderen Schreiben geöffnet und die Photographien recht gleichgültig beiseitegelegt hatte.
Wie eine geheime, unerklärliche Gewalt zog es sie zu dem entzückenden Antlitz mit den rätselhaften Augen.
Ein Bild täuscht ja sehr, vielleicht war die Kleine in Wirklichkeit nicht annähernd so sympathisch; aber gleichviel, darauf mußte man es eben ankommen lassen und es abwarten, ob Fräulein von Sprendlingen dem Geschmack Guntram Kraffts entsprechen wird.
Kurz entschlossen griff die Gräfin zu Feder und Papier und schrieb an Frau von Sprendlingen, daß sie gewillt sei, ihre Tochter voll herzlicher Freundlichkeit in ihrem Hause aufzunehmen.
Ein paar Tage waren vergangen.
Es dämmerte. — Guntram Krafft war soeben von dem beinahe vollendeten Rettungsschuppen heimgekehrt, hatte die Kleider gewechselt und trat hastig in das große, uraltmodische Wohngemach der Gräfin, um ihr voll lebhafter Begeisterung von dem vorzüglichen Boot eigener Konstruktion — einem zweckmäßigen Gemisch von Françis- und Peake-System, welches man soeben geprobt hatte — zu berichten.
Gundula trat ihm entgegen, — lebhafter, elastischer schreitend wie sonst.
Sie hielt einen Brief in der Hand und hub bereits von weitem an zu sprechen:
»Endlich kommst du heim, Guntram Krafft; ich wartete mit Sehnsucht auf dich, um eine Angelegenheit mit dir zu bereden, für welche du bisher noch niemals recht Zeit hattest. Nun ist sie vollendete Tatsache — und die höchste Zeit, daß du davon erfährst!«
Der Graf blickte die Sprecherin erstaunt an, schob ihr voll ritterlicher Höflichkeit einen Sessel herzu und lehnte sich erwartungsvoll ihr gegenüber an den Tisch.
Die Gräfin setzte sich nieder und schien gewaltsam gegen eine gewisse Befangenheit anzukämpfen. »Ich bin seit langen Jahren so allein, entbehre jeden Verkehr mit Damen und werde nun auch so alt und abständig, daß ich kaum noch allein dem großen Hauswesen vorstehen kann ...«
Guntram Krafft lachte beinahe übermütig auf, schwieg aber und blickte die Sprecherin aufmerksam an. —
»Ich habe mir daher eine Gesellschafterin engagiert und hoffe, daß du aus Rücksicht für mich mit diesem Zuwachs einverstanden bist!«
»Ah! Das nenne ich vernünftig!« rief der Bär von Hohen-Esp sehr erfreut und durchaus harmlos: »Diese Idee ist einen Dukaten wert und hätte dir bereits zehn Jahre früher kommen sollen! Hast du schon jemand gefunden?«
Die Gräfin öffnete mit geheimnisvollem Lächeln den Brief, entnahm ihm eine Photographie und reichte sie dem Sohn dar.
»Wie gefällt dir meine künftige kleine Genossin, welche, so Gott will, frisches Leben und recht viel Sonnenschein mit in das Haus bringt?«
Guntram Krafft nahm lächelnd das Bild und trat damit in die Fensternische, um besser sehen zu können.
»Wenn sie nur deinen Beifall findet, Mama, dann bin ich gern mit einer jeden zufrieden!«
Er neigte sich vor und blickte auf das Bild. Einen Augenblick starrte er es an, — seine Hand zuckte, und sein Antlitz überzog eine tiefe Blässe.
Regungslos stand er und schaute in das süße, ernste, sinnende Gesichtchen.
Ein Zittern flog durch seinen Körper, wie feurige Nebel wogte und wallte es plötzlich um ihn her, und sein Herz lag regungslos, um plötzlich in desto wilderen Schlägen atemraubend loszustürmen.
Er stand abgewandt von der Gräfin, und diese sah nicht die auffallende Veränderung, welche mit dem jungen Manne vor sich ging.
»Nun?« fragte sie endlich, »äußere dich doch! Ist das Gesicht nicht entzückend? Wenn die Augen alles das halten, was sie hier versprechen, so muß die Kleine ein sehr liebenswertes Mädchen sein!«
»Wie heißt sie?« stieß Guntram Krafft kurz und beinahe rauh hervor.
»Ach so! Ich vergaß, dir Fräulein Gabriele von Sprendlingen im Bilde vorzustellen —«
»Gabriele von Sprendlingen!« Das klang wie ein leises, kaum verständliches Aufstöhnen.
Die Gräfin beachtete es nicht, sie sah nur voll großer [S. 241] Genugtuung, daß der junge Weiberfeind das Bild noch immer in der Hand hielt, daß sein Anblick ihn fraglos ebenso fesselte, wie zuvor die Mutter.
»Der Vater war General, starb vor einem Jahr ungefähr, ganz plötzlich, und da er durch das Fallissement einer bedeutenden Firma sein ganzes Vermögen verlor, hinterließ er Frau und Tochter in den drückendsten Verhältnissen. So entschloß sich Frau von Sprendlingen nun, die Tochter fortzugeben —«
»Bot sie dir dieselbe an?« — Guntram Krafft stieß die Worte kurz hervor.
»Auf meine Annonce in der Zeitung hin —«
»Inseriertest du unter deinem vollen Namen?«
»Aber Guntram: — Hier ist der Zeitungsausschnitt, ich erbat die Antworten unter Chiffre G. H. 1000.« —
»Und darauf antwortete sie?«
»Wie fragst du so wunderlich! Gewiß!« —
»Wo lebt Frau von Sprendlingen?«
Die Gräfin blickte auf den Brief nieder und nannte eine kleine Stadt des Herzogtums — der Bär von Hohen-Esp aber blickte starr zu dem Fenster hinaus und schwieg.
»Du meinst doch auch, daß ich den Versuch mit Gabriele wage?« fuhr die Gräfin ein wenig ungeduldig fort.
Er strich langsam mit der Hand über die Stirn, sein fahles Antlitz sah so gequält aus, wie bei einem Menschen, welcher die Folter erduldet. »Darüber hast du allein zu bestimmen —«
»Ich bin völlig einig mit mir und habe der Baronin bereits geschrieben!«
Wieder zuckte der Graf zusammen: »Nun, so ist es ja entschieden!« sagte er tonlos.
»Willst du das Bild noch behalten?«
Er machte eine jähe Bewegung. Sein Blick traf wieder das süße Antlitz, welches ihn mit den wundersamen Nixenaugen so groß und ruhig ansah. — Dann schob er die Photographie jäh von sich — seiner Mutter zu.
»Nein; — ich danke.« [S. 242] —
»Je nun, ich hoffe, du lernst bald das Original kennen.« —
»Wann ... wann trifft die junge Dame hier ein?« —
»Anfang nächsten Monats. Es gibt zuvor wohl noch verschiedene Angelegenheiten zu erledigen.«
»Sagtest du nicht, daß sie verlobt sei?«
Die Gräfin hob erstaunt ihr Haupt: »Durchaus nicht! Die Damen stehen ganz allein und ohne Schutz in der Welt! Wie kommst du darauf?«
Guntram Krafft neigte finster das Haupt. »Ich irrte mich wohl. — Mir geht heute so viel im Kopfe herum. Heute nachmittag haben wir eine kleine Probefahrt mit dem neuen Boot gemacht, darüber wollte ich dir berichten.«
Die Gräfin schob das Bildchen in den Brief zurück, erhob sich hastig und legte den Arm in den des Sohnes.
»Ja, — erzähle mir! Du hast soeben meinen Angelegenheiten dein Interesse geschenkt, nun wollen wir von dem plaudern, was dir am Herzen liegt!« — Sie trat in das hellere Fensterlicht und sah betroffen in das Antlitz des jungen Bären empor: »Hast du Ärger und Verdruß gehabt, Guntram Krafft?« fragte sie besorgt, »du siehst ganz verstört aus ... oder fühlst du dich etwa krank?«
Er zwang sich gewaltsam zu einem heitern Ton. »Seinen gesunden Hofjungenärger hat man ja öfters, Mutter, und daß die Eiche nicht auf den ersten Streich fällt, und hie und da noch kleine Mängel zutage treten, ist selbstverständlich. Im großen ganzen bin ich sehr zufrieden mit den Schuppen und voll Glück und Dank gegen Gott und dich! — Daß in Walsleben das neue Arbeitshaus schon im Rohbau aufgeführt ist, weißt du?«
»Selbstverständlich.«
»Wer beaufsichtigt die Sache eigentlich?« —
»Nun, der Inspektor, — du warst doch damit einverstanden!«
Der Graf wandte sich zur Seite und schob den schweren [S. 243] Damastvorhang noch mehr von den Butzenscheiben des Erkerfensters zurück.
»Ich habe viel darüber nachgedacht, Mama! Es ist eigentlich recht vertrauensselig und leichtsinnig von uns, daß wir uns nicht selber um den Bau kümmern!«
»Wir wissen, daß diese Angelegenheiten seit fünfzehn Jahren in den besten Händen liegen, Inspektor Braun ist doch wohl als durchaus zuverlässig erprobt.«
»Es würde mich interessieren, das Haus einmal in Augenschein zu nehmen, man kann doch so manches noch ändern und bessern ...«
»Selbstverständlich! Ich würde sehr glücklich sein, wenn du einmal hinführst! — Möchtest du gleich morgen ...«
»Morgen? nein!« Der Graf unterbrach die Sprecherin mit einer gewissen Hast: »Momentan kann ich nicht gut hier abkommen — ich muß die Zeit wahrnehmen, wo die Änderungen an dem Boot vorgenommen werden — die Takel hakt zu leicht aus ... und die Riemen müssen oben auf den Duchten festzulegen sein ...«
»Nun, wann denkst du zu fahren?« —
Guntram Krafft wandte sich noch mehr zur Seite.
»So bald wie möglich! Vielleicht Anfang nächsten Monats —« sagte er leichthin, wandte sich plötzlich und bot der Mutter den Arm: »Und nun begleite mich noch einmal in den Garten, Mamachen! Es ist ein wundervoller Abend, und ich möchte sehen, wie weit der Gärtner mit den neuen Anpflanzungen gekommen ist!«
Gabriele von Sprendlingen war im Reisekleid und legte noch die letzten Gegenstände in den kleinen Handkoffer, um pünktlich bereit zu sein, wenn der alte Kutscher vorfuhr, sie zur Bahnstation abzuholen. Sie sah so still und ernst und ruhig aus, als ob all der Wechsel und Wandel, welcher sich nun mit ihr begeben solle, nicht die mindeste Erregung wert sei. —
Sie sollte die Gesellschafterin einer alten einsamen Frau werden, einer Frau, welche man in der Welt als verbittert, hart und menschenfeindlich schilderte.
Es war selbstverständlich, daß ein junges Mädchen in ihrer Umgebung mit dem Leben abgeschlossen haben mußte, und weil Gabriele dies getan, weil es in ihrem Herzen kalt und dunkel geworden war, seitdem die strahlende Sonne ihres Ideals, ihres Schwärmens und ihrer Begeisterung aus ihrer stolzen Höhe herabgesunken war, zertrümmert und vernichtet für ewige Zeiten, weil seit dieser Stunde das Dasein doch allen Wert und Reiz für sie verloren, deuchte es ihr kein Opfer, sich jetzt schon lebendig in Hohen-Esp zu begraben. —
Als ihre Mutter mit aufgeregt heißen Wangen zuerst die Nachricht brachte, daß es die Gräfin Hohen-Esp sei, welche die Gesellschafterin suche, und daß sie Gabriele vor allen andern Bewerberinnen den Vorzug gegeben und sie engagiert habe, blickte das junge Mädchen so gleichgültig auf den Brief Gundulas nieder, als gehe sie derselbe kaum etwas an.
Und als Frau von Sprendlingen in ihrer Erregung eine Andeutung machte, daß nun das Glück vielleicht doch noch einmal bei ihnen anklopfe, wenn Guntram Krafft seiner ehemals so schnell entflammten Neigung treu geblieben, — da wuchs die schlanke Mädchengestalt hoch und stolz empor, und die klaren Augen blitzten so abweisend wie ehemals, als sie die Bewerbungen des Grafen voll ehrlicher Gleichgültigkeit zurückwies.
»Wenn du dich solch trügerischen Hoffnungen hingibst, Mama, ist es besser, ich nehme die Stelle überhaupt nicht an! — Glaubst du, die Armut und Verlassenheit hätten mich derart entnervt und erbärmlich gemacht, daß ich einen ungeliebten Mann heirate? — So unmoralisch werde ich niemals denken und niemals handeln!« —
»Wer sagt, daß du ihn nicht liebgewinnen wirst?!«
Ein herbes Lächeln spielte um Gabrieles Lippen. »Die Liebe ist ein so sehr verschiedener Begriff, dem einen ist sie nur Mittel zum Zweck — nur Zeitvertreib — ein Rechenexempel — oder Geschmackssache. — Für mich wird sie stets der Höhepunkt leidenschaftlicher Bewunderung [S. 245] und Verehrung sein ... Du hast oft über die schwärmerische und schrullenhafte Ansicht gelacht, Mama, — geändert habe ich sie trotzdem nicht. Ich will in dem Mann, welchen ich liebe und welchem ich angehöre, mehr sehen, wie einen Durchschnittsmenschen — er soll das Ideal verkörpern, welches mein Patriotismus, mein stolzer, begeisterter Sinn sich geschaffen. — Das kann der Graf von Hohen-Esp nicht, denn es ist nichts in seinem Wesen und Handeln, was mein Herz höher schlagen, was es in scheuem Staunen erzittern und in jauchzender Bewunderung erglühen läßt! — Sein Name, sein Geld, sein hübsches Gesicht existieren für mich nicht, denn sie machen mir nicht den mindesten Eindruck. Darum bitte ich dich von Herzen, Mama, nähre keine falschen Hoffnungen, die Enttäuschung würde zu bitter sein.« —
Seufzend neigte die Baronin das Haupt und schwieg; jetzt aber, als sie von der Tochter Abschied nahm und die schlanke, graziöse Mädchengestalt in die Arme schloß, da blickte sie noch einmal mit flehendem Blick in ihre Augen und sagte nur leise: »Wie würde ich so glücklich sein, Gabriele!«
»Das glaube ich nicht, Herzens-Mama! Eine Mutter, die ihr Kind wahrhaft lieb hat, ist niemals glücklich, wenn sie dasselbe unglücklich sieht!«
— Das war leider Gottes eine Wahrheit, gegen welche sich nicht streiten ließ, und so sah Frau von Sprendlingen ihre Tochter in der Überzeugung scheiden, daß Gabriele tatsächlich entschlossen war, eine glänzende Zukunft ihrer Gefühlsseligkeit und Phantasterei zu opfern.
Es war ein regnerischer Frühlingstag.
Der Himmel verschwamm in grauen Dunstmassen, müdes Dämmerlicht lag über den knospenden Wäldern, durch welche Gabriele der Burg Hohen-Esp entgegenfuhr, und nur hie und da strich ein seufzender Windhauch daher, die schweren Regentropfen gegen die Wagenfenster zu werfen.
Von der See sah man nichts, der Nebel hatte sie verschlungen, und als Hohen-Esp mit seinen dunklen, uralten, [S. 246] epheuumsponnenen Gemäuern aus den Wipfeln auftauchte, machte es einen noch melancholischeren und öderen Eindruck als sonst.
Der stumpfe Turm, der eckige Quaderbau mit den kleinen, unregelmäßigen Fenstern, der schilfbewachsene Wallgraben und die wunderliche Zugbrücke, welche immer noch zu dem grauen, mit Türmchen flankierten Tor aufgezogen werden konnte, machten den Eindruck eines verräucherten Spuknestes, einer echten, rechten Bärenhöhle, bei deren Anblick man sich eines leichten Grauens nicht erwehren kann.
Sehr günstig war der erste Eindruck, welchen Gabriele von dem Stammsitz der Hohen-Esp erhielt, nicht, aber das junge Mädchen war so weit entfernt von aller kindischen Furcht und Voreingenommenheit, daß sie, interessiert und von der Eigenartigkeit dieses Schlosses gefesselt, um sich blickte, als der Wagen langsam in den engen Burghof einfuhr. Da standen wie zwei gewaltige, unheimliche Wächter, gleich rechts und links vor dem Tor, die steinernen Bären, welche mit der einen Pranke das Wappenschild, mit der anderen eine Fackel emporhielten, in welcher abends eine rotleuchtende Laterne brannte.
Die alten Gesellen sind von grünlicher Moosschicht überzogen, ebenso verwittert und alt, wie die anderen Bären, welche auf den Sockeln der Freitreppe stehen.
Eine gewölbte, ziemlich niedere Pforte mit schweren Eisenbeschlägen führt in das Innere der Burg; über ihr prangt, abermals zwischen zwei liegenden Bären, das Wappen.
Die steingemeißelten Verzierungen, welche sich in schmalen Feldern unter den Fenstern hinziehen, zeigen ebenfalls Bärenköpfe, und wohin Gabriele im ersten Augenblick schaut, blickt sie auf grimmig geöffnete Rachen, drohend erhobene Pranken oder in zornmutige Bärenaugen, welche trotz Alter und Verstaubtheit wunderbar lebendig auf sie herabstarren. Und im ersten Augenblick erscheint ihr auch die hohe, markige Frauengestalt, [S. 247] welche ihr in der Pforte entgegentritt, mehr bärenhaft wie menschlich.
Das dunkle Trauergewand, welches an der imponierenden Figur in vollen Falten herniederfällt, der breite, schwarze Pelzkragen um die Schultern, welchen Gundula des kalten Wetters wegen umgelegt, lassen die Gräfin von Hohen-Esp noch gewaltiger erscheinen wie sonst.
Sie tritt der Ankommenden entgegen und bietet ihr mit herzlichem Willkommen die schlanke, weiße Hand zum Gruß, und unter den silbernen Scheiteln und der klaren, hohen Stirn leuchten Gabrielen ein paar so schöne, edelblickende Augen entgegen, daß sie das Empfinden hat, als ströme es unter diesem Blick ganz seltsam warm zu ihrem Herzen.
Sie küßt die Hand der Gräfin, sie dankt für das gütige Wohlwollen, welches sie hierherkommen hieß, — und Gundula schaut einen Augenblick tief und ernst in das Antlitz des jungen Mädchens, nickt freundlich und drückt die kleine Hand kräftig in der ihren.
»Gebe Gott, daß wir einander liebgewinnen und daß Sie gerne bei uns weilen!« sagt sie schlicht, wendet sich an den alten Diener und gibt Befehl, das Gepäck in das Zimmer des gnädigen Fräuleins zu schaffen.
»Ich führe Sie, liebe Gabriele! Wenn es Ihnen recht ist, schlafen Sie in meiner Nähe, denn anfänglich wird es Ihnen ungewohnt und unheimlich genug bei uns sein!« Sie schreitet nach der eng gewundenen, tief dunkelgebräunten Holztreppe und legt die Hand auf einen der Bärenköpfe, welche die Schnitzerei zeigt ... »Fürchten Sie sich nicht vor diesen zottigen Burschen, welche Ihnen hier auf Schritt und Tritt begegnen! Sie sind unsere lieben Freunde, sie gehören zu uns und in dieses Haus wie gute Schutzgeister, welche man nicht vertreiben darf. Fürchten Sie sich vor Bären?«
Gabriele lächelt.
»Nicht im mindesten, Frau Gräfin! Ich bin überzeugt, daß dieselben auch mich bald als Freundin dieses Hauses erkennen und beschützen werden.«
»Hier ist Ihr Zimmer, ein Turmstübchen, so klein und niedrig, wie es unsere Altvordern gemütlich fanden. Der Blick ist schön, — Sie sehen aus dem Fenster Wald und See, und wenn Ihr Herzchen nicht allzusehr an der bunten Welt und ihrem Leben und Treiben hängt, wird Ihnen diese stille Poesie sicher gefallen.«
»Ich wußte, daß Sie mich erwartet, Frau Gräfin, und bin gern gekommen. Wenn man die Welt durch Tränen ansieht, tun ihre grellen Farben dem Auge weh.«
Wieder blickt Gundula in das ernste, sinnende Antlitz der Sprecherin, sie legt die Hand auf ihre Schulter.
»Weh und Leid haben Ihr junges Herz krank gemacht, — gebe Gott, daß es hier gesunde! — — Bescheiden Sie die Leute, wo Ihre Koffer aufgestellt werden sollen, — rechts zur Seite hier befindet sich ein geräumiger Wandschrank. Packen Sie allein aus oder wünschen Sie Hilfe? Hanne steht zu Ihrer Verfügung.«
»Ich danke, Frau Gräfin; ich bin gewohnt, mich allein zu bedienen.«
Gundula nickt sehr befriedigt. »Das ist recht. Mir gefällt es gut, wenn ein Mädchen selbständig ist. In erster Zeit werden Sie allerdings noch manches erfragen müssen, bis Sie auf Hohen-Esp Bescheid wissen, — am liebsten ist es mir, Gabriele, Sie wenden sich an mich, ich habe stets Zeit für Sie.«
»Ich danke von Herzen, Frau Gräfin.«
»Und jetzt lasse ich Sie allein, — Sie werden eine kurze Zeit der Ruhe bedürfen. In zwei Stunden erwarte ich Sie zum Essen. Wir sind vorläufig allein im Hause, mein Sohn mußte für kurze Zeit nach Walsleben fahren. Also auf Wiedersehn, liebe Gabriele, — Gott der Herr segne Ihren Eingang in dies Haus.«
Die Sprecherin zieht das junge Mädchen an sich und berührt mit ernstem Kuß seine Stirn, dann geht sie.
Wie im Traum schaut Gabriele der hohen Frauengestalt nach.
Sie sieht aus wie ein schönes, ehrwürdiges Bild, [S. 249] welches aus dem Rahmen gestiegen, durch diese dämmrig stillen Räume zu schreiten. Wie paßt sie in dieses Haus!
Fürwahr eine Bärin von Hohen-Esp.
So hatte sich Gabriele sie nicht vorgestellt.
Sie glaubte eine finstere, strenge, kalte Matrone vorzufinden, eine Herrin, welche mit weltfeindlichem Sinne hier gebietet, — nicht aber diese friedliche, milde, schlichte und einfache Frau, welche bei all ihrer vornehmen Würde so viel herzgewinnende Güte hat.
Schon auf den ersten Blick gefiel ihr »Frau Herzeleide«, und Gabriele empfindet es wie eine glückselige Vorahnung, daß sie diese Frau liebgewinnen wird wie eine Mutter.
Der Sohn ist verreist!
Unwillkürlich atmet sie auf.
So warm es ihr bei dem Anblick der Gräfin um das Herz geworden, so unbehaglich wird es ihr zumute, wenn sie an den Sohn denkt. —
Sie kann sich diesen schüchternen, linkischen Menschen so gar nicht in diesem Bärennest vergegenwärtigen!
Hier in diesen Mauern weht ein Odem alter versunkener Ritterherrlichkeit.
Hier atmet alles trotzige, kernige, stolze Urwüchsigkeit.
Hier kann man sich die Bären von Hohen-Esp nur vorstellen als kriegerisch rauhe, kühne und wehrhafte Männer, — nicht als verlegen errötende Jünglinge, welche über ihre Lackschuhe stolpern.
Gabriele blickt sich sinnend um.
Welch ein Stück uralter, langvergangener Zeiten umgab sie!
Wie unverändert die Gesimse, Möbel und Geräte.
Einfach und anspruchslos, aber traut und gemütlich.
So wie Gräfin Gundulas Anblick anheimelt.
Auf der dunklen Holzkonsole neben dem Bett liegt eine Bibel.
Darin las wohl schon die Urahne.
Die Grafen von Hohen-Esp waren seit jeher fromme, [S. 250] gottesfürchtige Leute, darum ruhte der Segen des Herrn auf ihrem Hause.
Nur der Vater Guntram Kraffts, der hatte sein stilles Ahnenschloß verlassen und war in die verführerische, sündige Welt hinausgezogen. Da hatte er in dunkler, trostloser Stunde seinen Gott vergessen.
Schwere, seidendurchwirkte Gardinen hängen in steifen Falten zu beiden Seiten des Bettes hernieder, ein geschnitzter Sessel steht an dem spitzen Bogenfenster; unter altmodischem Spiegel, dessen verblaßter Goldrahmen in seinem Mittelstück eine Bärenjagd zeigt, steht der Waschtisch mit der eingelassenen Zinnschüssel von seltsamer Reliefarbeit. Gabriele tritt an das Fenster und blickt hinaus.
Der Regen rieselt an den kleinen, bleigefaßten Scheiben herab und trommelt einförmig auf dem Sims.
Man sieht nicht viel — nur den Eindruck hat man, daß man tief hinabblickt auf flaches Land und endlos gedehnte Waldungen. Fern im Hintergrund liegt wohl die See, die eintönige und einförmige See, welche sich so träge dehnt, sei es in blendender Sonnenhitze oder grau in grau, wie ein Nebelbild an regnerischem Frühlingstage.
Gleichgültig wendet sich Gabriele von ihrem Anblick ab und kniet vor dem Koffer nieder, um das Auspacken zu beginnen. Sie ist stets im Leben pünktlich gewesen und will bis zur Essensstunde fertig sein, um alsdann ihre Dienste der Gräfin widmen zu können.
Das schlechte Wetter hielt an und zwang die Damen, im Zimmer zu verweilen.
Gabriele war eifrig bemüht, sich mit den Räumlichkeiten der Burg bekannt zu machen und der Gräfin möglichst zur Hand zu gehen. Zu ihrer Überraschung bemerkte sie, daß es so gut wie gar keine Arbeit für sie gab, denn Gundula verrichtete nach wie vor alle Obliegenheiten der Hausfrau und beaufsichtigte, schaltete und waltete wie sonst in Haus und Hof.
Gabriele begleitete sie zwar auf Schritt und Tritt und bemühte sich, hier und da kleine Handreichungen zu leisten, doch schien ihr diese Beschäftigung schließlich so unbedeutend, daß sie die Gräfin um Arbeit bat.
Diese lächelte.
»Ihre Arbeit ist die, bei mir zu sein, liebe Gabriele!« sagte sie ruhig. »Fürerst sehen Sie sich alles an, wie ich gewohnt bin, den Tag einzuteilen, und falls es einmal nottut, vertreten Sie mich. — Am Nachmittag ist es oft stille Zeit, dann werde ich mich am meisten Ihrer Gesellschaft freuen. Heute zeige ich Ihnen die Zimmer der Burg, welche wir für gewöhnlich nicht bewohnen.«
Das geschah. —
Den riesengroßen Schlüsselbund an der Gürteltasche, schritt Gundula mit ihrem jungen Gast durch die wunderlichen Gemächer, in welchen eine längst vergangene Zeit gleich einem Dornröschen in tiefem Zauberschlafe lag.
Wie düster, wie still ringsum.
Die Schritte hallten auf den eingesunkenen Dielen, hier und da huschte der graue Schatten einer Maus unter altgeschnitztem Schrank oder silberbeschlagener Truhe hervor.
Am meisten interessierten Gabriele die Ölgemälde in dem Ahnensaal, einem viereckigen Gemach mit niedriger, getäfelter Decke und Parkettplatten, welche schreitende Bären als Muster aufwiesen.
Hier hingen die Familienbilder, und Gabriele las ernsten Blickes die Namen auf den kleinen Schildern, während Gundula wie in tiefen, schwermütigen Gedanken langsam weiterschritt und mit umflorten Blicken zurückschaute in eine Zeit, wo sie zum erstenmal am Arm des Geliebten diesen Saal betreten, ein überglückliches, leidenschaftlich empfindendes Weib, welches sich bei dem Anblick dieser alten Bilder zu all dem begeisterte, was sie später für ihren Sohn geschaffen, erstrebt und erreicht.
Gabriele las mit einigem Befremden unter verschiedenen Gemälden dieselbe Anmerkung.
Hier eine stolze, markige Männergestalt in schlichtem Wams und hohen Wasserstiefeln.
»Christoph Kaspar von Hohen-Esp, geb. anno domini 1522, ertrunken den 14. März 1570.«
Und hier eine schlanke, blühende Jünglingsgestalt, blondlockig, mit lachend hellem Blick — eine entschiedene Ähnlichkeit mit Guntram Krafft.
»Wulffhardt von Hohen-Esp, geb. 1481, ertrunken um 1503.«
Und dort —! Dieselbe reckenhafte Gestalt, wie sie fast alle Bären von Hohen-Esp aufweisen, dieselbe trotzig-feste Stirn, die kühn blickenden Augen und die energische Hand, welche hier ein breites Schwert über ein Segelschiff neigt.
»Diethelm von Hohen-Esp, Schirmvogt zu Land und See, geb. 1361, ertrunken im Kampf gegen seeräuberisch Gesindel um 1433.«
Und hier noch eins — zwei andere Bilder, mit lateinischen Inschriften, dem schwarzen Kreuz und der Wiederholung des Spruches: »Und das Meer wird seine Toten wiedergeben.«
Gabriele wandte sich zu der Gräfin.
»Wie kommt es, daß so viele Grafen ertrunken sind?« [S. 253] fragte sie leise, »mir deucht es seltsam, daß ein derart seltener Unglücksfall sich so merkwürdig oft in einer Familie wiederholt!«
Gundula blieb vor dem Bilde Wulffhardts stehen und nickte ihm wehmütig zu: »Das wundert Sie bei Männern, Gabriele, welche Schirmvögte einer Küste waren, die sowohl wegen ihrer gefährlichen Strömungen als auch wegen der Piraten, die in den undurchdringlichen Wäldern hier hausten, allgemein gefürchtet und verrufen war? Die Bären von Hohen-Esp haben aufgeräumt mit dem Gesindel, haben manch verwegenen Kampf zu Wasser und zu Lande mit ihnen bestanden und sind manch armem schiffbrüchigen Seefahrer in Sturm und Not zu Hilfe gekommen! Und wie gar mancher brave Soldat seine Treue mit dem Tod besiegelt, so haben auch die Hohen-Esp ihr Leben im Dienst für Fürst und Vaterland, für Recht und Pflicht gelassen! — Sehen Sie dort ... und dort ... und da drüben ... und an jener Seite dort ... sie alle sind den Heldentod auf dem Meere gestorben, Väter und Söhne, von den ältesten Tagen — bis in die heutige Zeit hinein! Ein ritterlich Geschlecht, dessen schönster Ehrenschmuck jenes schwarze Kreuz über dem Wappenschild, dessen heiligster Trost der Spruch des Herrn war: ›Und das Meer wird seine Toten wiedergeben!‹« —
Gundula schwieg, es war still und dämmerig, und Wulffhardts lachende Augen hafteten in beinahe unheimlicher Lebendigkeit auf Gabrieles Antlitz.
Dem jungen Mädchen war es plötzlich so feierlich, als stünde es in der Kirche.
Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust, ihre Wangen färbten sich höher, und ihr Herz, welches seit jeher so begeistert für Mannesmut und Heldentum geschlagen, hämmerte in ihrer Brust.
Und während Gundula an das Fenster trat, um es für kurze Zeit zu öffnen, stand sie und blickte wie im Traum zu Wulffhardts jungem Heldenantlitz empor.
Ja, er glich Guntram Krafft ... und doch ... nein! da war dennoch keine Ähnlichkeit!
Hier der kühne, mutige Blick mit den blitzenden Augen und der stolzen Haltung — er hatte nichts gemein mit dem schüchternen, errötenden Nachkommen, welcher nichts ist, nichts leistet ... welcher nur behaglich hinter dem Ofen sitzt und erntet, was die Mutter gesät!
Gabriele faltet bei diesem Gedanken unmutig die Stirn, wendet sich hastig und folgt der Gräfin, welche ihr zu der Waffenhalle vorausschreitet, vor deren schmiedeeisernen Tür zwei wirkliche, echte Bären, ausgestopft, staubig und mottenzerfressen, aber dennoch durch ihren Anblick Grausen erregend, die Wache halten.
Von Tag zu Tag gewann Gabriele die Gräfin lieber, und auch Gundulas Herz schlug immer wärmer und zärtlicher für das anmutige Mädchen, an welches sich ihre liebsten und geheimsten Zukunftspläne knüpften.
Der fast ununterbrochene Verkehr im einsamen Hause führte die Menschen schneller zusammen und gestaltete auch das Verhältnis zwischen Gundula und ihrem jungen Gast von Stunde zu Stunde inniger.
Das sehr ruhige, ernste und doch liebenswürdige Wesen des Fräulein von Sprendlingen war der alternden Frau sehr sympathisch, die große Aufrichtigkeit, ihr ehrliches Bestreben, sich nützlich zu machen und fleißig zu sein, sowie ihre anmutige Schönheit gewannen ihr vollends ihr Herz.
Immer ungeduldiger sah sie dem Tag entgegen, an welchem Guntram Krafft heimkehren wollte, und nun verschob er diesen Zeitpunkt bereits zum drittenmal und deutete an, daß er fürerst überhaupt noch nicht an die Heimreise denke.
Die regnerischen Tage hatten lachendem, sonnenhellem Frühlingswetter das Feld geräumt, und Gabriele schritt zum erstenmal an der Seite der Gräfin in den Park hinab.
Der Inspektor trat den Damen mit respektvollem Gruß entgegen, starrte einen Augenblick wie gebannt in das [S. 255] reizende Mädchengesicht, dessen Anblick ihm so überraschend wurde und in dieser kalten Welt doppelt wohltat, und meldete der Gräfin mit etwas unsicherer Stimme, daß das neue Reitpferd, welches der Herr Graf angekauft habe, nach Walsleben nachgeschickt werden solle.
»Das ist ein Unsinn, lieber Möller! Ich hoffe, daß mein Sohn dieser Tage zurückkommt, und will auf alle Fälle erst noch einmal schreiben, ehe dem Tier der unbequeme Transport zugemutet wird!«
»Befehl, Frau Gräfin!«
Die Damen schritten weiter, und Gabriele blickte voll harmlosen Staunens zu der Burgherrin auf.
»Seit wann reitet Ihr Herr Sohn so gern, daß er sich sogar das Pferd nachkommen lassen will! Er sagte mir doch in der Residenz, daß der einzige Sport, welchen er eventuell gern ausübe, das Rudern sei?«
Gundula war stehengeblieben und starrte die Sprecherin an, als höre und verstehe sie nicht recht.
»Mein Sohn sagte Ihnen ...« wiederholte sie langsam, »ja, um alles in der Welt, kennen Sie ihn denn, Gabriele?«
Gabrieles große Augen blickten ebenso erstaunt wie die der Gräfin.
»Ja, gewiß! Ich lernte den Grafen in der Residenz auf einem Hofball kennen und nahm an, daß ich es seiner gütigen Fürsprache verdankte, hier im Hause aufgenommen zu sein! Hat Ihr Herr Sohn meinen Namen nicht erfahren?« —
Gundula schüttelte langsam den Kopf. »Kein Wort hat er mir davon gesagt ... und er sah doch sogar Ihr Bild, Gabriele!«
Das junge Mädchen schritt ruhig an der Seite der Sprecherin weiter. »O, so hat er mich wohl gar nicht wiedererkannt! Er hat so unendlich viele fremde Gesichter zu sehen bekommen und so viele Namen gehört, daß es nur ganz natürlich ist, wenn er die einzelnen nicht im Gedächtnis behielt!«
Gundulas Augen bekamen plötzlich einen auffallenden Glanz.
»Aber er tanzte mit Ihnen?«
»Doch nicht, Frau Gräfin. Der Graf kam sehr spät zu mir, da waren meine Tänze vergeben!«
»So bat er wenigstens um einen?«
»Er war so höflich!«
Ruhig und gleichmütig wie stets klang ihre Stimme.
»Und holte sich keine Extratour?«
»Auch dabei waltete ein Mißgeschick. Gerade als wir tanzen wollten, schwieg die Musik.«
»Ach, das hat er gewiß sehr bedauert. Plauderten Sie nicht zur Entschädigung zusammen?«
»Bei Tisch, gnädigste Gräfin. Ihr Herr Sohn saß neben mir. Sehr viel sprachen wir aber nicht, und was wir sprachen, weiß ich nur noch dem Sinne nach. Wir waren verschiedener Ansicht, — der Graf liebte das Meer, ich nicht. Sehr liebenswürdig erschien ich ihm sicherlich nicht, wenn er überhaupt meinen Worten Wert beilegte, was ich bezweifle.«
»Die Jugend war nicht plaziert bei Tisch?«
»Nein, nur die verheirateten Herrschaften!«
»So wählte Guntram Krafft selber den Platz an Ihrer Seite?«
Gundula sprach heiter und sehr ruhig, wohl nur, um die Unterhaltung fortzuführen.
»Ihr Herr Sohn war sehr fremd in der Gesellschaft, und da ich ihm zufällig schon bekannt war, so dachte er wohl ...«
»Sie waren ihm schon bekannt?«
»Durch einen kleinen Unfall, welchen ich mit dem Schlitten auf der Straße der Residenz erlitt. Der Graf kam mir zu Hilfe, richtete den Schlitten auf und sammelte mich aus dem Schnee empor!« — Gabriele lächelte.
»Ich dankte meinem Retter in der Not, doch stellte er sich in der Eile nicht vor und erfuhr auch meinen Namen nicht!«
»Und dann sahen Sie sich erst auf dem Hofball wieder?«
»Einmal saß mir der Graf noch im Theater gegenüber, doch lernten wir uns dort nicht kennen.«
Die Burgherrin von Hohen-Esp fragte noch so mancherlei, und Gabriele erzählte von dem Leben und Treiben in der Residenz. Sie kannte so viele Menschen, für welche sich die Gräfin noch lebhaft interessierte, und so legten die Damen den Spaziergang in sehr angeregter Unterhaltung zurück.
In der darauffolgenden Nacht lag Gundula mit weitoffenen Augen schlaflos in den Kissen. Ihre Wangen brannten in heißem Rot, und ihre Lippen lächelten.
Eine außerordentliche Aufregung hatte sich der einsamen Frau bemächtigt, seit sie durch Gabriele erfahren, daß Guntram Krafft sie bereits kannte.
Da war es, als ob plötzlich ein Schleier vor ihren Augen zerrissen sei.
Sie entsann sich plötzlich der seltsamen Veränderung, welche mit dem jungen Mann vor sich ging, als er Gabrieles Bild sah, — sie rief sich sein Benehmen in das Gedächtnis zurück und hatte den Schlüssel dafür gefunden.
Guntram Krafft hatte sein Herz an das auffallend reizende Mädchen verloren, das bewies ihr sein Verhalten auf dem Balle und seine Erregung bei dem Anblick ihres Bildes.
Gabriele gab es selber ehrlich zu, daß sie nicht sonderlich liebenswürdig zu ihm gewesen sei; das hatte der weltfremde, unerfahrene Mann für eine direkte Abweisung gehalten und ergriff in planloser Verwirrung die Flucht.
Und so wie er damals die Residenz um des jungen Mädchens willen verließ, so kehrte er auch jetzt in der ersten Aufregung Hohen-Esp den Rücken, um ein Wiedersehen zu vermeiden.
Die Gräfin lächelte.
Welch ein Kinderherz! als ob sich diese Flucht auf die Dauer durchführen ließe!
Vielleicht macht ihn seine Liebe auch scheu und befangen — er flieht aus Verlegenheit. Seine Schwermut, sein so ganz verändertes Wesen seit der Heimkehr, bestätigten diese Ansicht.
Und nun fügt es Gottes Gnade und Barmherzigkeit, daß die Mutter selber die Geliebte des Sohnes unter sein Dach führt!
Welch eine wunderbare, unbegreifliche Fügung! Wäre tatsächlich von Gabrieles Seite eine schroffe und definitive Abweisung erfolgt, so wäre das junge Mädchen nach Anlage ihres Charakters nie nach Hohen-Esp gekommen. Auch hätte sie nie so ruhig und gleichmütig von Guntram Krafft gesprochen.
Gabriele ist durchaus ahnungslos, und ihre Ruhe und Gelassenheit sind echt.
Gundula besitzt Menschenkenntnis, und weil sich ihre liebsten und sehnsüchtigsten Pläne an das junge Mädchen knüpfen, hat sie dasselbe mit dem argwöhnischen Scharfblick einer sorgenden Mutter beobachtet. Das Resultat dieser Beobachtungen war ein sehr günstiges, denn die große Aufrichtigkeit, welche Gabriele hier und da vielleicht etwas schroff erscheinen ließ, schätzte die Gräfin als eine Garantie dafür, daß sie nie aus Heuchelei oder Berechnung nach dem Ehering streben wird.
Guntram Krafft ist noch zu jung und weltfremd, um dies richtig zu beurteilen, und wenn Gabriele selber sagt, daß sie ihm wohl nicht liebenswürdig erschien, weil sie absprechend über Meer und Strand geurteilt, so ist der Schwärmer Guntram möglicherweise tief verletzt vor dieser Offenheit.
Auf alle Fälle ist es seine Absicht, Hohen-Esp um Gabrieles willen fern zu bleiben, und mit Vernunftsgründen richtet man bei verliebten Leuten nichts aus; also muß die Gräfin eine kleine List gebrauchen, den Flüchtling heimzuholen. Der Zweck heiligt die Mittel.
Im Verkehr mit Gabriele wird sie den Sohn alsdann unauffällig beobachten, und es wird ihr nicht schwerfallen, seines Herzens heimlichste Gedanken zu erforschen.
Die Ehen werden im Himmel geschlossen, und wäre Gabriele nicht für ihren Liebling bestimmt, so würde Gott der Herr sie nicht in so wunderbarer Weise hierher in die Einsamkeit geführt haben.
Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief die Gräfin ein, und als sie früh am Morgen erwachte, schrieb sie alsogleich ein paar Zeilen an Guntram Krafft.
Sie teilte ihm mit, daß sie sich nicht wohl fühle, daß sie die Nacht meist schlaflos verbracht, sie sei eine alte Frau, welcher jeden Augenblick etwas zustoßen könne. Die Abwesenheit ihres einzigen Kindes sei ihr ungewöhnt und beunruhige sie, die Sehnsucht nach ihm wirke nachteilig auf ihren Zustand ein. So lieb wie sie Gabriele in der kurzen Zeit schon gewonnen habe, sei ihr dieselbe doch eine Fremde, welche den Sohn nicht ersetzen könne. Außerdem sei der alte Klaaden einige Male dagewesen, um voll Ungeduld nach dem Herrn zu fragen, wahrscheinlich sei seine Anwesenheit aus irgendeinem Grunde dringend notwendig. — Und zum Schluß bat sie den Sohn, unverzüglich abzureisen und zu kommen, falls er sie nicht noch kränker machen wolle!
Ein beinahe schelmisches Lächeln spielte um Gundulas sonst so herbe und ernst geschlossene Lippen, als sie das Schreiben adressierte und durch einen reitenden Boten sogleich besorgen ließ.
Nun wußte sie es bestimmt, daß Guntram Krafft noch an demselben Tage eintreffen werde. —
Aber ihre kleine Komödie mußte sie nun durchführen, und darum klagte sie auch Gabriele, daß sie eine schlechte Nacht gehabt und sich leidend fühle.
Das junge Mädchen war aufrichtig erschreckt und besorgt und bemühte sich, auf jede Weise die Kranke zu hegen und zu pflegen. Da sah Gundula, welch ein weiches, zärtliches Gemüt sich hinter all der ernsten Gemessenheit ihres Wesens versteckte, und sie freute sich dessen von Herzen.
Auch beobachtete sie es voll Interesse, mit wieviel Verständnis und Umsicht Fräulein von Sprendlingen [S. 260] das ihr so ungewohnte Amt einer Hausfrau übernahm und die Gräfin in Küche und Keller ersetzte.
Da lag es wie ein milder Sonnenglanz auf dem schönen, bleichen Antlitz der »Frau Herzeleide«, und zum erstenmal seit langen, schweren Jahren brannte ihr Herz in lebhafter, freudiger Erwartung auf ein Glück, welches sicher kommen mußte, — sicher und bald, das fühlte sie.
Als Gabriele in die große, gewölbte Küche trat, sah sie eine dunkel gekleidete, trübselig dreinschauende Frau, welche in einem Topf Essen empfing und mit bescheidenem Dank und Gruß davonschritt.
»Wer war die Frau? Eine Kranke?« fragte Gabriele die Mamsell.
»Nein, gnädiges Fräulein, das war die Witwe des Fischers Riek, welcher bei der letzten Rettung der Schiffbrüchigen von dem Wrack der ›Sophie Johanne‹ ertrunken ist.«
Ertrunken!
Gabriele sah plötzlich die Bilder aus dem Ahnensaal vor sich, unter denen neben schwarzem Kreuz dieses Wort geschrieben stand.
»Es ertrinken wohl viele Männer hier?« fragte sie nachdenklich.
Die Alte nickte laut seufzend. »Daß Gott erbarm! Ach, gnädiges Fräulein, es ist ein gar saures Stückchen Brot, welches die Fischer und Seeleute essen, und trägt wohl jeder alle Stund' sein Totenhemde auf dem Leibe.«
»Ich habe gar nicht gedacht, daß es so sehr gefährlich ist, auf dem Wasser zu fahren!«
»Im Binnenlande kann man sich das wohl meist nicht recht vorstellen! Wenn man die See aber einmal recht bös und grob gesehen und den Sturm aus Nordost pfeifen hörte, dann begreift man's.« —
»Kommt das oft vor?«
»Mehr wie zu oft, Gott sei gelobt, daß es gerade jetzt, wo der Graf abwesend war, nicht arg geweht hat!«
»Der befindet sich ja auf dem Lande in Walsleben! Da ist doch keine Gefahr für ihn!«
Es zuckte wie herber Spott um die Lippen der Sprecherin, aber die Mamsell sah es nicht, sie zerstampfte eifrig die Kartoffeln für den Schweinetrog.
»Für ihn nicht, bewahre! Aber für die Seefahrer! Und wenn was passiert wäre — meinte noch gestern der alte Klaaden — so hätten sie mit den neuen Apparaten doch noch nicht ohne den Grafen zuwege kommen können!«
»Ah — der Graf unterweist sie darin?«
»Wer anders denn er! — Ja, wenn der junge Herr nicht wäre, gnädiges Fräulein!«
Gabriele sah zwar noch nichts so Unersetzliches und kein so gewaltiges Verdienst darin, die Fischer ein wenig anzuleiten, aber sie nickte zustimmend und schritt weiter nach dem kleinen Küchengarten, welcher im hellen Sonnenschein seine jungen Kräutlein und frischerschlossenen Kirschblüten badete. Fern sah sie einen Strich der blauen See glänzen, so still und blau, wie sie damals in Heringsdorf vier Wochen lang gelegen, und sie schüttelte gedankenvoll den Kopf und begriff es nicht, daß dies glatte Wasser so gefährlich und unheimlich sein sollte.
Da es in dem großen, hallenartigen Speisezimmer noch kalt war, brannte ein loderndes Kaminfeuer, und Gräfin Gundula hatte ihren Sessel nahe hinzurücken lassen und verlangte nach ihrem Spinnrad.
»Ich kann es nicht ertragen, die Hände so müßig zu falten!« antwortete sie auf Gabrieles besorgte Bitte, heute ruhig zu bleiben, und als das Rad fröhlich schnurrte und der Faden lief, ließ das junge Mädchen die feine Stickarbeit sinken und blickte mit leuchtenden Augen zu.
»Wie schön! Wie poetisch das ist! O, das möchte ich auch lernen, Frau Gräfin!«
»Gewiß, liebe Gabriele, meine Mägde spinnen alle und können Ihnen sogleich ein Rad leihen! Ich bin so sehr für das eigengesponnene Leinen! Es ist derb und hält bedeutend länger als gekauftes Gewebe, namentlich [S. 262] in der Küche und für das Gesinde ist es durchaus praktisch!«
»So darf ich mir ein Rad holen?«
»Selbstverständlich; ich unterweise Sie gern!«
Gabriele eilte davon und trug sich nach kurzer Zeit ein Spinnrad herzu.
»Dieses ›Radeln‹ ist mir lieber, wie das moderne,« scherzte die Gräfin; »wir sind hier gut hundert Jahre zurück gegen die neumodische Welt!«
»Das ist schön, darum wohnt hier noch die Poesie in all ihrer unverfälschten Schönheit!«
»Sie lieben dieselbe?«
»Über alles. Mama neckte mich oft, daß es für mich besser gewesen wäre, zu eines König Artus' Zeiten zu leben. Ich begeistere mich so sehr für alles Ritterliche, Edle, Kühne und Herrliche — und gerade daran ist unsere prosaische Zeit so arm.«
»Nicht arm, Gabriele, — es tritt nur nicht so auffällig hervor wie ehemals.«
»Gibt es noch Helden im neunzehnten Jahrhundert?«
»Gewiß! Sie ziehen nur nicht mehr in glänzender Rüstung durch das Land und suchen Frau Aventure im Busch.«
»Unsere Männer und Jünglinge ziehen in den Krieg und werden totgeschossen, ehe sie dem Feind nur ins Gesicht schauen konnten; das ist kein heldenhafter Kampf, sondern nur Disziplin und müde Resignation, welche auf Kommando stirbt!«
»Oho, Gabriele! Dieses resignierte, gehorsame Sterben, dieses treue Ausharren auf dem Posten, inmitten des feindlichen Kugelregens, ist die höchste und heiligste Tugend des Soldaten!«
»Das wohl, — aber mir deucht, dieses kühne Aug' in Auge mit dem Feind, dieses todesmutige Hineingehen in eine Gefahr ist poetischer, und das findet sich im kleinen Überrest wohl nur noch bei der Kavallerie, welche eine schneidige Attacke reitet!« [S. 263] —
»Und der tapfere Infanterist, welcher die Düppeler Schanze — die Spichererhöhe im Sturme genommen?« —
»Das ist Todesverachtung! Das erkenne ich auch als schöne und glänzende Soldatentat an, aber man hat als Mädchen keine rechte Vorstellung von der Tat des einzelnen! Und gerade diese macht die Poesie des Heldentums aus! Hätte Parzival, Dietrich von Bern, Ekke oder Beowulf in der großen Menge mitgekämpft, man hätte nicht die kühne, heldenhafte Vorstellung von ihren Taten wie so, wo wir jeden ihrer einzelnen Kämpfe bis auf den kleinsten Schwertstreich verfolgen können! Ich tue unseren modernen Tapferen vielleicht sehr unrecht mit solcher Ansicht, aber einem Mädchen verzeiht man es wohl, wenn es sich seine Ideale etwas eigenwillig bildet. Ich möchte einen Helden sehen , seine tollkühne Tapferkeit selber schauen, und das ist doch nur noch bei einem waghalsigen Reiter der Fall, welcher alle Gefahren eines Rennens vor unsern Blicken herausfordert und überwindet!«
Gundula lächelte ganz seltsam. »Sprachen Sie über dieses Thema vielleicht auch mit meinem Sohn?«
»Ich glaube ja. — Möglicherweise verargte er es mir.«
Die Gräfin schob das Spinnrad ein wenig zurück und hob lauschend das Haupt.
Von dem Hof herein tönte Hufschlag, lautes Rufen und eilige Schritte.
Glückselig verklärt blickten Gundulas Augen, sie atmete, wie von Unruhe und Spannung erlöst, auf und sagte leise:
»Er kommt! Es ist Guntram Krafft!«
Gabriele erhob sich und trat eilig an das Fenster, um hinauszublicken.
»Ja, es ist der Graf!« — rief sie der Burgfrau zu, und ihre Stimme klang nicht um einen Hauch erregter wie sonst.
Gabriele wollte das erste Wiedersehn zwischen Mutter und Sohn nicht stören, und da bereits der schwere, spornklirrende Schritt Guntram Kraffts auf den Steinstufen der Vortreppe ertönte und sie die Tür der Halle nicht mehr erreichen konnte, ohne von dem Eintretenden gesehen zu werden, blieb sie an dem Fenster stehen und blickte mit nicht gerade sympathischen Empfindungen dem jungen Mann entgegen.
Wie ungeniert und behaglich hatte man ohne ihn hier gelebt!
Nun wird selbstredend ein gewisser Wandel eintreten und das gemütliche Zusammensein beeinträchtigen.
Gabriele wird sich gern einem jeden Zwang fügen, welchen der Verkehr mit einem jungen Herrn mit sich bringt, wenn ihr der Bär von Hohen-Esp nur nicht mit dem anbetenden Entzücken begegnet, wie in der Residenz!
Das würde ihr furchtbar sein und ihren Aufenthalt hier unmöglich machen, und doch tät es ihr leid, von der Gräfin und der Burg hier zu scheiden.
Die Gräfin hat sie bereits sehr liebgewonnen, und das alte Bärennest ist just das, was auf ihr so poetisch veranlagtes Gemüt einen hohen Reiz ausübt!
Guntram Krafft als Freund — wie schön wäre das! — Als Bewerber um ihre Gunst und Liebe — wie unerträglich! —
Mit heimlichem Seufzer schlingt sie die Hände ineinander und blickt der hohen Männergestalt entgegen, welche voll ungestümer Hast über die Schwelle tritt und mit ausgebreiteten Armen der Gräfin entgegeneilt.
Er hat den weichen Filzhut abgerissen, die blonden Haare fallen etwas wirr und von dem eiligen Ritt gefeuchtet [S. 265] in die Stirn, und auf dem heißgeröteten Antlitz liegt ein Ausdruck großer Angst und Sorge, welcher bei dem Anblick der Gräfin schwindet und einer beinahe leidenschaftlichen Zärtlichkeit Platz macht.
»Mutter! Du bist hier! Du liegst, Gott sei Lob und Dank, nicht zu Bett?«
Er ruft es mit halberstickter Stimme, neigt sich über den Sessel und schlingt die Arme um die Gräfin, zart und behutsam, wie man etwas sehr Zerbrechliches anfaßt.
Sein Blick sucht den ihren, und Gundula küßt seine Lippen, streicht über sein Haar und sagt innig: »Du guter Mensch! Bist du den ganzen Weg dahergejagt? Solltest dich ja nicht ängstigen, sondern nur heimkommen!«
Er läßt sich neben ihr auf das Knie nieder, nimmt ihre Hand zwischen die seinen und blickt noch immer besorgt zu ihr auf.
»Was fehlt dir, Mutter? — Hast du schon zu dem Arzt geschickt? War es etwa wieder Atemnot, wie sie damals nach der Influenza kam?«
Gundula lächelt: »Ich werde alt, Guntram Krafft, und mag nicht mehr allein sein! So treu und lieb Gabriele mich auch hegt und pflegt, gegen die Sehnsucht hat auch sie noch kein Mittel entdeckt!« und die Sprecherin wendet plötzlich den Kopf: »Liebe Gabriele ... wo stecken Sie? — Sind Sie noch im Zimmer?«
Das junge Mädchen hatte nachdenklich auf das schöne Bild vor dem lodernden Kaminfeuer geschaut. — Ja, ein schönes Bild, und eine gerechtfertigte Angst und Sorge — und doch schien sie Gabriele nicht männlich und imponierend! Hatte sie nur ein Vorurteil, daß sie in Guntram Krafft nie mehr erblickte, als wie das bange Muttersöhnchen, welches nach wie vor an der Schürze der Mutter hängt?
Ja, er gleicht dem Wulffhardt auf dem Bilde droben, aber welch anderer Charakter und Mut trotzt auf dem lachenden Gesicht jenes Vorfahren!
Jetzt, als die Gräfin ihren Namen ruft, schrickt er empor, erhebt sich und weicht jäh zurück. Nun wird er [S. 266] sie wieder anstarren, verlegen lächeln und erröten, wie damals in der Residenz.
Gabriele tritt langsam von dem Fenster herzu, reicht dem Grafen sehr gelassen die Hand und sagt zwar freundlich, aber doch sehr förmlich und kühl: »Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Graf Hohen-Esp und hoffe, Sie gönnen mir ein Plätzchen an der Seite Ihrer Frau Mutter!«
Sie versucht sogar zu scherzen und ist ein wenig überrascht, daß Guntram Krafft nicht mit entzücktem Lächeln quittiert. Der aber berührt kaum ihre Hand in flüchtigem Gruß, verneigt sich sehr tief, ohne sie anzusehen und sagt so fest und ruhig, wie sie seine Stimme noch nie vernommen: »Ich danke Ihnen, mein gnädiges Fräulein, daß Sie den Opfermut besitzen, in diese Einsamkeit zu kommen und meiner teuren Mutter Gesellschaft zu leisten. Möchte Ihnen Hohen-Esp nicht allzu eintönig erscheinen!«
Und dann küßt er die Hand der Gräfin und bittet: »Gestatte, Mama, daß ich mich umkleide, der Ritt war eilig und der Weg grundlos! In kürzester Zeit stehe ich wieder zu deiner Verfügung!«
»Selbstverständlich, Guntram! Wir warten mit dem Abendbrot auf dich!«
Er verneigte sich noch einmal kurz und spornklirrend vor den Damen und schreitet durch die Halle zurück.
Nachdenklich blickt ihm Gabriele nach. Welch eine Veränderung ist in der äußeren Erscheinung des Grafen vor sich gegangen! Wie stattlich und markig sah er in diesem etwas verwilderten Reitkostüm aus, so ganz anders, wie in dem hocheleganten, gräßlichen Frack und den Lackschuhen, welche so geborgt und ungehörig an ihm aussahen. Gewiß wird er sich jetzt wieder als Dandy zurechtmachen und als sehr schicker, moderner Jüngling wiederkehren. —
Schade darum! —
Währenddessen stürmte Guntram Krafft die gewundene Holzstiege empor, nach seinen Zimmern.
Er stieß ungestüm ein Fenster auf und atmete wie ein Erstickender die kühle Abendluft.
Sein Herz hämmerte zum Zerspringen. Der qualvolle, gefürchtete Augenblick, das Wiedersehn mit Gabriele war überwunden, aber ihm deuchte es, als müßte dasselbe sichtbare Spuren in sein Antlitz gegraben haben. Er hatte es nicht für möglich gehalten, daß er ihre Hand halten, mit höflichen Worten zu ihr sprechen könne.
Er hatte gezittert vor seiner eigenen Schwäche, oder der wilden, leidenschaftlichen Heftigkeit, welche gegen dieselbe revoltierte.
Er glaubte, ihren Anblick nicht ertragen zu können, und hatte doch ruhig und ernst vor ihr gestanden und zu ihr geredet, ohne mit einer Wimper zu zucken.
Wie war das möglich gewesen?
Weil Gabriele selbst ihm so ruhig, so harmlos, so freundlich gelassen entgegenkam.
Da zuckte es ihm plötzlich durch den Sinn: »Du Narr! Warum erregst du dich? Warum fürchtest du es, ihr in die Augen zu sehen? Hast du es nicht auch in der Residenz getan? Und was ist seit jener Zeit anders geworden?«
Nichts!
Gabriele ahnt ja nichts von der Indiskretion, welche Thea an ihr begangen!
Sie läßt es sich nicht träumen, daß der kleine Zettel, auf welchem sie sich so grausam für ewige Zeit von dem ruhm- und tatenlosen Hohen-Esper lossagt, wie fressend Gift auf seiner Brust liegt!
Sie weiß es nicht, welche Qualen sein Herz um ihretwillen erduldet, wie es tropfenweise verblutet ist an dem ersten, großen, namenlos bitteren Leid, welches es erfahren.
Nein, davon ahnt und weiß sie nichts!
Guntram Krafft reckt sich plötzlich empor und drückt die Hände gegen die Brust, als sei ein eiserner Panzer, welcher sie eingepreßt, jählings zersprungen.
Er atmet hoch auf, — er wirft das Haupt in den Nacken und schließt momentan die Augen.
Daß er sich darüber nicht schon früher klar geworden ist!
Gabriele kam völlig ahnungslos und harmlos hierher, er braucht weder ihr Mitleid noch ihren Spott zu fürchten.
Weiß sie denn, wie sehr, wie unaussprechlich er sie geliebt?
Nein! —
Weiß sie, daß er um ihretwillen die Residenz verließ, wie in wilder Flucht?
Nein! —
Dies alles liegt in seiner Brust versargt, und keines Menschen Seele wird es je erfahren. Was fürchtet er?
Warum will er auch jetzt noch vor ihr, der Ahnungslosen, fliehen?
Das Vergangene ist überwunden.
Daß Gabriele ihn nie lieben und nie heiraten wird, weiß er, und daß er viel zu stolz ist, um die Liebe als Almosen zu erbetteln, das weiß er auch.
»Ritter ... treue Schwesternliebe widmet euch dies Herz —«
Heißt es nicht so im Gedicht?
Und warum soll sie nicht als Schwester neben ihm hergehen, warum soll er künftighin noch mehr in ihr sehen, denn solch eine stille, freundliche, gleichmütige Schwester?
Um der Mutter willen, deren Herz sie auch schon bezaubert und gewonnen hat, — um der armen, einsamen Mutter willen, muß er sich in das Unvermeidliche fügen.
Der Bär von Hohen-Esp lehnt sich weit vor in dem Fenster und blickt über die blühenden Obstbaumzweige hinweg, über die dunklen, schweigenden Wälder hinaus. Da hinten ... fern hinter den Wipfeln glänzt ein Streifen der See im silbernen Mondlicht! —
Wie hat Guntram Krafft sich in den stillen, einsamen Tagen von Walsleben nach ihrem Anblick gesehnt!
Voll leidenschaftlicher Innigkeit breitet er die Arme nach dem funkelnden Silberstreif aus.
»Du bist meine Geliebte, du blaue, herrliche, unergründliche See! Dir habe ich Treue gelobt, und dir halte ich sie! Auf deinem geheimnisvollen Grunde wohnen Nixen, die blicken aus denselben kristallhellen, wundersamen Augen wie Gabriele! Die haben Mitleid mit liebeskranken Menschenherzen und nehmen sie in die weißen Arme und betten sie drunten zu ewiger Ruhe, wenn ihnen das Leben zu schwer und unerträglich wird! — Dich will ich lieben, du blaue See — und du wirst den ruhm- und tatenlosen Mann von dir weisen!«
— Und Guntram Krafft hob mit finster trotzigem Blick das Haupt, entzündete eine Kerze und warf bei ihrem Flackerlicht die bespritzten Kleider von sich.
Sein Blick streifte die eleganten Anzüge, welche er aus der Welt draußen mit heimbrachte. Soll er sie jetzt wieder zu Ehren kommen lassen?
Ein beinahe rauhes Lachen.
Nein! Jene Zeit ist vergangen und nichts soll ihn mehr daran erinnern.
Kam das Fräulein von Sprendlingen in die Bärenhöhle, je nun, so mag sie sich auch mit dem bärenhaften Anblick ihres Bewohners abfinden!
Und er nimmt die schlichte Düffeljoppe und wirft sie über.
Der Bär von Hohen-Esp ist jetzt daheim! Da duldet sein zottiger Pelz den Tand nicht mehr, welchen man ihm in der Fremde um die Schultern gehängt! —
Guntram Krafft begreift es selber nicht, wie es ihm möglich ist, so ruhig und gleichmütig mit Gabriele zu verkehren.
Sie sehen sich allerdings nicht viel, eigentlich nur während der Tischstunden, und dann vermeidet er es, sie anzusehen, und antwortet ernst und zurückhaltend auf all das, was sie ihn freundlich und unbefangen fragt.
Er sieht und bemerkt es nicht, wie ihr Blick oft voll [S. 270] staunender Befriedigung seine hohe Gestalt streift, welche in der derben und praktischen Kleidung so ganz anders aussieht, so viel sicherer und selbstbewußter einherschreitet, wie dermalen auf dem Parkett.
Er beobachtet es auch nicht, wie erleichtert das junge Mädchen aufatmet, als sie seine Ruhe und Gelassenheit, die große Gleichgültigkeit im Verkehr mit ihr wahrnimmt.
Diese Veränderung deucht ihr eine Wohltat und macht sie fröhlicher und zutraulicher gegen ihn.
Sie redet ihn an, sie sucht ihn in das Gespräch zu ziehen, sie spricht selber lebhafter und heiterer wie zuvor, und wenn sein Blick sie hier und da flüchtig streift, so sieht er ihr sonniges Lächeln und die strahlenden Nixenaugen, welche zwar nicht mit dem Ausdruck auf ihm ruhen, wie ehemals auf dem bewunderten Dragoner, aber doch lange nicht mehr so kalt und abweisend blicken wie damals.
Und gerade dies wird ihm zur Qual und erschwert es ihm doppelt, seine unnatürliche Ruhe an ihrer Seite zu wahren.
Er hält sich beinahe den ganzen Tag am Strand auf und weilt nur so kurze Zeit wie möglich bei den Damen.
Gottlob hat sich die Gräfin schnell erholt, und es deucht Guntram Krafft, ihr sonst so strenges, resigniert dreinschauendes Antlitz habe das Lächeln gelernt, und in ihren Augen leuchte es jetzt oft so warm, wie nie zuvor.
Gabriele kehrt aus dem Garten zurück und schreitet über den Hof.
Da sieht sie den alten Anton im Sonnenschein stehen und eifrig an ganz seltsamen und lederartigen Kleidern hantieren.
Der Alte lächelte sie beinahe zärtlich an, denn die anmutige Schönheit der jungen Dame hat auch sein Herz im Sturm genommen, so wie alle in der Burg voll Entzücken den Zauber empfinden, welcher von ihrem Wesen ausgeht.
Fräulein von Sprendlingen nickt dem treuen Kammerdiener freundlich zu und tritt mit forschendem Blick näher.
»Ei, was haben Sie denn da für einen wunderlichen Anzug vor, Anton?« lacht sie. »Bei diesem schönen Wetter wollen Sie doch nicht Ihren Regenrock hervorholen?«
Anton dienert und freut sich der Gelegenheit, ein wenig plaudern zu können.
»Mein Regenrock? I bewahre, gnädiges Fräulein! Das ist ja das Ölzeug vom Herrn Grafen, welches ich mal wieder nachsehen und in den Rettungsschuppen hinabbringen soll!«
»Ölzeug des Herrn Grafen?« — Gabriele mustert überrascht den seltsamen Rock, die mächtigen Stiefel und den ganz eigenartigen Hut: »Zu was gebraucht der Graf diese schwere Kleidung? Zieht er die wirklich an?«
Anton reißt die Augen weit auf: »Nun, das versteht sich! Herr Graf muß doch Ölzeug tragen, wenn er in Sturm und Wogenschwall hinausfährt! Bei den Spritzern, die es da setzt, würde er ohne diese Schutzkleidung bald bis auf die Haut durchnäßt sein!«
»Er fährt mit hinaus? — Auch bei schlechtem Wetter?«
Antons Arm mit dem Putzlappen sinkt herab. Er starrt die Fragerin ebenso überrascht an, wie sie ihn. —
»Wissen denn das gnädige Fräulein nicht, daß unser Herr Graf alle Rettungen und Ausfahrten immer persönlich leitet? Daß er unser kühnster und unerschrockenster Seefahrer ist? — Seine Lotsen hat er sich alle allein herangebildet — ebenso wie er jetzt den ganzen Schuppen aus eigenen Mitteln erbaut und ausgerüstet hat! Nun ist er sein eigener Herr, so ein rechter, wahrer Lotsenkommandeur, wie man noch einen zweiten finden soll! Das Hamelwaat hat nun wohl seine Schrecken für die Schiffer verloren, solange der Herr Graf als Retter in der Not die Riemen führt! Wußten das gnädige Fräulein das wirklich noch nicht?«
Gabriele blickt wie im Traum auf den Anzug in Antons Händen nieder.
»Nein, — das wußte ich nicht!« sagte sie mit leiser [S. 272] Stimme. »Ist solch eine Rettung eigentlich gefährlich? Ich kann mir das gar nicht vorstellen!«
»Gefährlich? Gott im Himmel erbarme sich! Der arme Riek ist das letztemal dabei geblieben, und seine Leiche ist bis zum heutigen Tage noch nicht geborgen! Haben das gnädige Fräulein denn nicht von der kühnen Tat des Herrn Grafen und seiner Lotsen ... ich meine im vergangenen Winter ... gehört? Wie sie die Unglückskerle von dem Wrack der ›Sophie Johanne‹ geholt haben? Nein? Na, die Rettungsmedaille haben sie sich alle dabei verdient — —«
»Die Rettungsmedaille? — Auch der Graf?«
»Nun, der doch in erster Linie!«
Gabriele strich langsam mit der Hand über die Stirn: »Nein — das wußte ich nicht!« murmelte sie, »aber ... ich möchte doch wohl einmal an den Strand gehen und das Meer wiedersehen!«
»Und ob, gnädiges Fräulein! Etwas Schöneres gibt es ja auf der ganzen Welt nicht!«
Bei Tisch war Fräulein von Sprendlingen stiller wie sonst, — ihr Blick haftete oft sinnend und forschend auf Guntram Krafft, als schaue sie ihn heut zum erstenmal.
Die Gräfin schien ganz mit der Zubereitung des Salats beschäftigt.
»Gehst du heute wieder zum Dorf, Guntram Krafft?« sagte sie plötzlich leichthin, »so habe, bitte, die Güte und nimm Fräulein Gabriele einmal mit! Denk dir, sie hat, seit sie hier ist, noch nicht ein einziges Mal die See in der Nähe gesehen.«
Ein beinahe finsterer Ausdruck lag auf der Stirn des Grafen.
»Damit würde ich Fräulein von Sprendlingen kaum einen Dienst erweisen, — sie liebt das Meer nicht!«
»Nein, ich liebe es nicht und begreife auch nicht, wie man es so schön finden kann!« bestätigte Gabriele harmlos. »Aber gerade darum möchte ich einmal wieder an [S. 273] den Strand gehen, um zu sehen, ob es hier ebenso langweilig ist wie in Heringsdorf!«
Gundula lachte: »Wie habe ich Ihre Aufrichtigkeit so gern, Gabriele! Wenn Sie sich nun doch einmal zu ein paar anerkennenden Worten über unser liebes Bernsteinmeer hinreißen lassen, so weiß ich wenigstens bestimmt, daß es Ihre wahre Meinung und nicht nur eine höfliche Redensart ist!«
»Ich kann Fräulein von Sprendlingen unmöglich zumuten, so lange drunten zu bleiben, wie ich am Schuppen zu tun habe. Ich bitte dich, uns zu begleiten, Mutter, damit ihr beiden Damen jederzeit heimkehren könnt.« —
»Gut! Ich bin gern bereit!« Gundulas Blick streifte das geneigte Antlitz des Sohnes, und sie lächelte abermals.
Es war ein außergewöhnlich milder, sonniger Frühlingstag.
Kein Lüftchen regte sich.
Blau — weit ... unendlich lag die See.
Voll kristallener Klarheit spannte sich der Himmel darüber aus und verschwamm am Horizont mit der Wasserflut, daß man kaum die zarte Linie unterscheiden konnte, welche Himmel und Erde trennt.
Der Sonnenglanz lag breit auf dem Wasser, es spiegelte und schimmerte, und die weißen Segel der Fischerboote zogen traumhaft still durch die Ferne.
Der Strandhafer knisterte leis unter den Schritten der Nahenden und über ihnen stiegen zwei Lerchen mit hellem Jubel in den offenen Himmel hinein.
Die Gräfin hatte eine Fischerfrau, welche am Strand saß und Steine und Tang aus den Netzen las, angesprochen und blieb momentan neben ihr stehen, sich nach diesem und jenem zu erkundigen; Gabriele und Guntram Krafft schritten weiter, nahe herzu bis auf den festen, hartgewaschenen Sand, über welchen in graziösen Linien der silberschaumige Saum einer kaum merklichen Brandung spült.
Der Graf hatte den Hut von dem Haupt gezogen und blickte wie verklärt in die sonnige Pracht hinaus, [S. 274] — es lag ein weicher, beinahe kindlich milder Zug auf dem schönen Antlitz, und Gabriele schaute verstohlen zu ihm auf und fand es zum erstenmal, daß dieser Ausdruck doch nicht so unsympathisch sei, wie es ihr im Ballsaal geschienen.
»Es ist eine köstlich frische Luft hier!« sagte sie nach kurzem Schweigen: »Aber die See liegt ebenso still und träge, wie damals in Heringsdorf, und was Sie daran so schön finden, erklären Sie mir, bitte, Graf!«
Er sah sie nicht an, aber das Entzücken, welches sein Auge spiegelte, vertiefte sich.
»Wie kann man eine derartige Schönheit mit Worten nennen!« sagte er leise, »die analysiert man nicht, sondern empfindet sie! — Mir deucht, Sie haben sonst so viel Verständnis für Poesie, mein gnädiges Fräulein, und stehen ihr gerade hier, wo sie sich uns am reichsten und vollkommensten entschleiert, so blind gegenüber. Fühlen Sie es nicht mit allen Fasern Ihres Herzens, welch ein Stücklein Gottesfrieden sich rein und unverfälscht hier an der See erhalten hat? — Bekommen Sie nicht eine Ahnung von der Unendlichkeit, wenn Sie über diese weite — weite Flut schauen, die so ohne Anfang und Ende scheint, wie der Himmel uns zu Häupten? Und wenn Sie die Wellen schauen, wie sie in ewig gleicher Weise, Tag und Nacht, Jahr um Jahr, hier gegen den Strand rollen, von keines Menschen Kraft bewegt, geheimnisvoll kommend und gehend, dem ewig weisen Willen eines Gottes gehorchend, vor dessen Antlitz tausend Jahre sind wie ein Tag — — schauert Ihr Herz nicht zusammen in einem Gefühl unendlicher Andacht, in dem Empfinden jenes scheuen Entzückens: ›Jede dieser Wogen ist ein Pulsschlag der Ewigkeit?‹«
— Gabriele stand neben ihm, das Köpfchen lauschend erhoben, den Blick wie in staunendem Sinnen geradeaus gerichtet.
»Nein,« sagte sie leise, »diese Gedanken sind mir noch nie gekommen. In Heringsdorf wurde nur gescherzt und gelacht, aber nicht philosophiert.«
»Dies ist keine Philosophie!« lächelte er, »im Gegenteil, hier spricht nicht der Verstand, sondern lediglich Herz und Gemüt, aber gerade die — ich glaube es wohl — kommen überall zu kurz, wo der Lärm der bunten Welt sein Recht behauptet!«
— Gundula trat herzu, und Guntram Krafft wandte sich, ihr den Arm zu bieten.
»Ich habe in dem Schuppen einen kleinen Auslug anbauen lassen, wo die Damen hinter sicheren Glasscheiben, gegen Zug und Wind geschützt, ausruhen können. Darf ich dich hinführen, Mutter?«
»Macht es Ihnen Freude, die ›Rettungsstation‹ meines Sohnes zu sehen, Gabriele?«
»Ich bitte darum, denn ich interessiere mich dafür.«
»Dann laß uns getrost gehen, Guntram Krafft, und genaue Musterung halten, wir wissen ja, daß Gabriele keine Phrasen sagt!«
In den Augen des jungen Mannes leuchtete es auf, lebhafter wie zuvor unterhielt er die Gräfin, und schweigsamer wie sonst schritt Gabriele an Gundulas Seite.
Der Rettungsschuppen trug äußerlich die Form einer großen, massiv gebauten Scheune.
Zwei breite Tore gewährten den Eintritt, und unter dem spitzen Dach war das Wappen der Hohen-Esp unter dem roten Kreuz im weißen Felde eingefügt.
Alle modernen Errungenschaften auf dem Gebiete des Rettungswesens waren der inneren Einrichtung zugute gekommen.
Das Rettungsboot, eine Mischart der gebräuchlichsten Systeme, war aus Stahlblech gebaut und trug den Namen »Guntram Krafft« in goldenen Lettern.
Ein fester, sehr dauerhaft und widerstandsfähig gebauter Wagen trug es und diente zu dem Zweck, das Boot bequem zum Strand zu transportieren und es unmittelbar in das Meer zu lassen.
Auch ein Raketenapparat war zu schleunigstem Gebrauch auf dem Wagen montiert.
Seitlich und im Hintergrund des Schuppens waren alle erforderlichen Apparate und Gegenstände aufgestellt oder an Gestellen aufgehängt.
Die volle Ausrüstung der bedienenden Mannschaft, welche sich aus den wackeren, unerschrockenen Fischern rekrutierte, und von ihrem selbstgewählten Kommandeur, dem Grafen Hohen-Esp, befehligt wurde, die Rettungsgeschosse verschiedener Art, Raketen, Mörser und Handgewehre, Seelenretter, Korkjacken, Gürtel, Schläuche, Riemen, Schlepper, Segel und Loggleinen, Kompaß, Fernrohr und Handlot, Ölfaß, Eimer, Pfropfe und Reservedollen, Beil, Anker und Signalflaggen.
Gabriele konnte kaum so schnell schauen, als wie der junge Lotsenkommandeur an ihrer Seite mit blitzenden Augen erklärte und beschrieb, und während sie seinen Worten lauschte, streifte ihr Blick sein lebhaft erregtes Antlitz, und sie begriff es nicht, daß es dasselbe war, welches vor wenig Augenblicken noch in träumerischem Schwärmen hinaus auf die blaue See geblickt, dasselbe, welches im Ballsaal so weibisch schüchtern errötete und mit beinahe blöden Augen um sich schaute. Hier reckte und dehnte der Bär von Hohen-Esp die kraftvollen Arme, hier hob er schwere Lasten wie eine Feder hin und her, hier schritt er fest und selbstbewußt in den schweren Fischerstiefeln über einen Grund und Boden, welchem er aus eigener Kraft eine edle und hohe Bedeutung gegeben hatte. Warum hatte ihr kein Mensch zuvor gesagt, daß sich Guntram Krafft die Rettungsmedaille verdient? Warum heftete er sie nicht voll Stolz auf die Brust, so wie Heidler seinen Orden trug? — Und der war nur ein Kreuzlein, welches ihm ein königlicher Gast des Herzogs, bei dem er als Ordonanzoffizier Dienst tat, in Gnaden verliehen hatte!
Der Lenz hatte einen außergewöhnlich frühen Einzug gehalten, und wenn auch die Tage sonnenhell und warm waren, so strich doch am Abend eine noch recht empfindlich kühle Luft von der See herüber und machte den Aufenthalt in warmen Zimmern notwendig.
Guntram Krafft hatte sich anfänglich sogleich nach dem Abendessen empfohlen.
Er saß mit seinen Zeitungen und Büchern in seinem stillen Zimmer, stützte das Haupt träumend in die Hand und las nicht.
Oft war er voll nervöser Unruhe aufgesprungen und noch einmal hinaus in den Wald oder hinab an den Strand gestürmt, aber Ruhe für sein Herz fand er auch dort nicht, wo der silberne Mondschein so bleich und kühl auf den Wogen spielte und ihm immer dasselbe Bild vor die Seele zauberte, Gabriele! —
Je länger er mit ihr zusammenweilte, desto tiefer und inniger ward seine Liebe zu ihr, obwohl seine leidenschaftliche Erregung nachließ und ihr heiteres, gleichmütiges Wesen auch ihm Ruhe und Unbefangenheit gab.
Er gewöhnte sich an ihre Gegenwart, er genoß voll heimlichen Entzücken ihren Anblick, sein Herz erzitterte bei jedem freundlichen Wort, welches sie zu ihm sprach, bei jedem Anzeichen von Interesse an seinem Tun und Handeln, — und doch klang ihm unausgesetzt das Dichterwort durch die Seele: »Die Sterne, die begehrt man nicht, man freut sich ihrer Pracht!«
Auch Gabriele wollte er als einen jener holden, ewig fernen und unerreichbaren Sterne betrachten, welche dem sehnenden Schwärmer wohl freundlich zublicken, ohne jedoch gewillt zu sein, aus ihrer Höhe hernieder an sein Herz zu sinken. [S. 278] —
Als Fräulein von Sprendlingen an seiner Seite durch den Schuppen seiner Rettungsstation schritt und mit großen, staunenden Augen alles betrachtete, was er barg, eifrig um Erklärungen bat und in ihrer aufrichtigen Weise kein Hehl daraus machte, wie fremd ihr alle diese Dinge waren, da stürmte ihm das Herz in der Brust und blitzte aus seinen Augen, und er empfand es als unaussprechliche Wonne, die Teilnahme der Geliebten an dem zu erwecken, was zum heiligen Inbegriff seines Lebens geworden.
Auch während des Abendbrots hatte sich die Unterhaltung sehr lebhaft um seemännische Dinge gedreht, und als Anton die dicke, schwarzlederne Posttasche mit den Zeitungen brachte, erhob sich Guntram Krafft nicht wie sonst, sich in sein Zimmer zurückzuziehen, sondern trat näher an das Kaminfeuer und sagte:
»Es ist abends recht kühl bei mir droben, und ich vermisse jetzt den warmen Ofen doch noch in dem großen Erkerzimmer ...«
»Aber Guntram, so sage doch Anton sofort, daß morgen nachmittag geheizt wird.«
Der Graf warf gerade ein neues Buchenscheit in die Glut und beobachtete angelegentlich, wie die roten Flammen an ihm emporzüngelten.
»Das wird leicht zu heiß, Mutter, und die zu große Wärme geniert mich dann mehr wie die Kälte. — Am liebsten bliebe ich hier. — Was unternehmt ihr denn jetzt? Stört meine Anwesenheit?«
Ein ganz feines, schier unmerkliches Lächeln ging um die Lippen der Gräfin, so froh und zufrieden, wie bei einem Menschen, welcher geduldig gewartet hat und nun dafür den gewünschten Lohn erhält.
»Welch eine Frage!« schüttelte sie den Kopf und rückte sich behaglich in ihrem hochlehnigen Sessel zurecht. »Wir freuen uns deiner Gesellschaft. Geheimnisse haben wir durchaus nicht zu verhandeln! Ich lehre Gabriele den Gebrauch des Spinnrades und freue mich meiner fleißigen Schülerin.«
»Spinnen? Sie lernen spinnen?«
Guntram hob ganz betroffen den Kopf, als habe er nicht recht verstanden, Gabriele aber räumte die gemalten Wappenhumpen, aus welchen man zuvor ein Warmbier getrunken und welche Anton soeben wieder aus der Küche zurückbrachte, in den uralten Kredenzschrank und sang lachend, ohne sich umzusehen:
So fein, Graf, daß man fürerst noch Kettenhemden daraus schmieden kann!«
Guntrams Augen leuchteten.
»Da ich Ihnen diese Kunst doch nicht ablerne, so können Sie dieselbe neidlos in meiner Gegenwart ausüben!« scherzte er, rückte sich einen kleinen Tisch herzu, breitete die Zeitungen aus und nahm in einem der Rittersessel davor Platz.
Gabriele aber entzündete selber eine kleine Stehlampe, welche neben ihr auf dem Serviertisch stand, hielt sie, einen Augenblick sie stumm betrachtend, in der Hand und stellte sie dann vor dem Grafen nieder.
Dieser dankte durch eine höfliche Verbeugung, griff schweigend nach den Zeitungen und schien schon im nächsten Augenblick völlig in ihre Lektüre vertieft.
Aber er las nicht.
Er starrte wie ein Träumender gedankenlos auf das Papier und gab sich voll und ganz dem süßen Zauber, in Gabrieles Nähe zu weilen, hin.
So konnte er sie unbemerkt ansehen, konnte den weichen Wohllaut ihrer Stimme hören und voll und ganz das süße Behagen empfinden, welches ihre Anwesenheit dem ganzen Hause verlieh.
Wie Frieden zog es in sein sehnendes, gequältes Herz, und ein beinahe wunschloses Genügen, welches nicht mehr von dem Schicksal fordert, als wie es freiwillig gibt. Welch ein reizendes Bild war es, die beiden Damen [S. 280] am Spinnrad zu sehen! Über Gabrieles geneigtes Köpfchen zuckte das rötliche Flackerlicht des Kaminbrandes, das Antlitz trug den Ausdruck lächelnder Nachdenklichkeit, und die weißen Händchen arbeiteten, wenn auch noch unsicher und zaghaft, so doch graziös und anmutig, wie alle ihre Bewegungen es waren.
Neigte sich Gräfin Gundula helfend und erklärend näher, so traf sie der Blick der hellen Nixenaugen so warm und herzlich, daß das Herz des Beobachters schneller schlug in dem entzückten Empfinden: »sie liebt deine Mutter!« — und stand sie ihm selber auch ewig fremd und fern, diese Liebe zu Gräfin Gundula schlug dennoch eine Brücke zu seinem Herzen, welches ihn mit der Geliebten in gleichem Denken und Fühlen verband.
Die Bärin von Hohen-Esp nestelte an dem Wocken, dessen Flachsgewinde unter den Fingerchen Gabrieles etwas in Unordnung geraten war, und derweil flog der Blick des jungen Mädchens durch die mattbeleuchtete stille Halle und haftete wieder sinnend auf der Lampe vor Guntram Kraffts Platz, deren Fuß durch einen schreitenden Bronzebär gebildet wurde.
Und von da schweifte er weiter zu dem eigenartigen Kronleuchter, welcher von der gewölbten Decke herabhing und in Art der alten Leuchterweibchen gearbeitet war, nur schwebte anstatt des Frauenkörpers der Oberleib eines Bären in den schmiedeeisernen Ketten, und von ihm aus gingen acht mächtige Pranken, welche die Lichter hielten.
Die Sessel, auf welchen man saß, ruhten auf geschnitzten, behaglich ausgestreckten Bären, welche die Füße ersetzten, — braunzottige Bärenfelle lagen als weicher Teppich über den Estrich, Bären flankierten rechts und links den Kamin, und wohin man nur schauen mochte, zeigte die Täfelung der Wände das Bärenwappen, blickten von Schränken, Truhen und Geräten die Bärenköpfe mit starren Augen auf die einsamen Bewohner der Burg herab.
»Wie kommt es eigentlich, gnädigste Gräfin, daß alles [S. 281] und jedes in Hohen-Esp das Bild eines Bären zeigt?« fragte Gabriele leise und neigte das Köpfchen näher an die alte Dame heran, um den Lesenden nicht zu stören. »Man findet in andern Schlössern auch die häufige Wiederholung des Familienwappens, aber so, bis auf die kleinsten Gegenstände herab, sah ich es noch nie angebracht, und kam mir schon früher der Gedanke, daß dies einen besonderen Zweck haben müßte?«
Gundula schüttelte lächelnd das Haupt.
»Eine Liebhaberei! eine Laune der Besitzer! Die Bären von Hohen-Esp gefielen sich darin, ihre Höhle zu einem wirklich originellen, echten Bärennest zu gestalten. Der Urahne begann damit, und Kind und Kindeskinder führten es weiter und schufen halb im Ernst und halb im Scherz diese eigenartige Burg, in welcher die Nachkommen jenes ersten Bären von Hohen-Esp stets daran erinnert sein sollten, wem sie das Bestehen ihres Geschlechts verdanken!«
»Das Bestehen ihres Geschlechts? — Was haben die Bären mit Ihrer Familie zu tun, gnädigste Gräfin, und woher kommt es, daß die Hohen-Esp den seltsamen Namenszusatz: die ›Bären‹ von Hohen-Esp erhielten?«
»Wenn es Sie interessiert, so erzähle ich Ihnen gern unsere alte Familiensage, liebe Gabriele!«
Frau Gundula schob das Spinnrad der Genannten wieder zu und setzte ihr eigenes Rädlein abermals in surrende Bewegung, Guntram Krafft aber ließ mechanisch die Zeitung sinken und blickte wie in fragender Spannung zu dem jungen Mädchen hinüber.
»Und ob es mich interessiert, verehrte Frau Gräfin!« nickte Gabriele eifrig; »was könnte mir lieber sein, als wie mit der alten Welt, welche mich hier umgibt, recht vertraut zu werden! O, bitte, erzählen Sie! — Zu einem Spinnrad gehören seit jeher die Romanzen, wenn nicht die gesungenen, so doch die gesprochenen, und ich vermute, daß die Bärensage dieser Burg ein Stücklein jener poesievollen Ritter- und Heldenzeit ist, in welcher meine Gedanken so gern noch leben!« [S. 282] —
»Nun, so hören Sie, Gabriele! Und wenn Ihr Herzchen sich auch für die brave Bärin erwärmen kann, welche unserm Stammvater einst so große Dienste erwies, so bin ich überzeugt, daß die braunen Schutzpatrone dieser Burg all ihre schirmende Liebe auf Sie, die junge Gastin dieses Hauses, übertragen werden.«
Mit großen, forschenden Augen schaute das junge Mädchen auf, — ihr Blick hing an den Lippen der alten Dame, als ob sie, nur sie allein in dieser Halle anwesend sei, und Frau Gundulas Stimme klang tief und voll durch das leise, melodische Summen des Spinnrades:
»Unsere alte Familiensage ist anscheinend eine Nachbildung jenes phantastischen Ereignisses, welchem man die Entstehung Roms zu verdanken glaubt, — also weder neu noch originell, und doch aus jener grauen Vorzeit stammend, von welcher man wohl sicher annehmen kann, daß die Mär von Romulus und Remus ihr noch völlig fremd gewesen. Ein Beweis dafür, wie launig der Götterfunke Poesie um den Erdball blitzt und in Nord und Süd Flammen zündet, welche — durch eine halbe Welt getrennt — doch in geschwisterlicher Ähnlichkeit leuchten und ein und dasselbe Bild spiegeln, nur mit dem Unterschied, daß die rauhe, markige Wildheit der Deutschen sich die kraftvolle Bärin zur Amme eines ritterlichen Geschlechts wählte, während der kluge, geschmeidige und listige Römer die schlanke Wölfin dazu ausersah! — —
Eine Jahreszahl nennt unsere Wappensage nicht, sie greift weit, weit in die dämmernde Vergangenheit zurück und setzt da ein, wo die Grafen von Hohen-Esp bereits ein ritterliches und turnierfähiges Geschlecht, und als Schirmvögte bereits mit der Burg Hohen-Esp hierselbst belehnt waren. Da hebt sie an, von einer furchtbaren Seuche zu berichten, welche allerorts die Lande verödete und die Menschen dahinraffte wie Grashalme vor dem Messer des Schnitters. Auch hier an die Tore der Burg hatte die Pest mit knöchernem Finger geklopft.
Der Burgherr, seine edle Hausfrau, zwei Söhne und [S. 283] zwei Töchter starben in einer Nacht dahin, im Burgfried lag das Gesinde zu Haufen und hauchte sein Leben aus, und nur der Gräfin jüngstes, neugeborenes Söhnlein, eine alte Schwester des Hausherrn und die Amme des Kindes waren noch am Leben.
Da befahl das alte Fräulein in großer Angst und Sorge, daß die Amme mit dem Neugeborenen sich eilend aufmache und das Kind in das nahe Fischerdorf zu treuen Menschen bringe, welche es aufnehmen und warten sollten, bis daß der Würgeengel sei vorübergezogen in diesem Lande.
Ein Knappe stieg zu Roß, der Magd und dem Knäblein ein sicher Geleit zu geben. Da sie aber kaum eine halbe Stunde durch den Wald geflohen waren, kam den Mann die Todesschwäche an, er sank vom Roß und starb elendiglich am Wege.
Voll Angst und Grausen lief das Weib mit dem Kindlein in den finsteren Tann hinein, und kaum, daß sie das nahe Meer brausen hörte, sperrte ihr eine mächtige Bärin den Weg, stellte sich auf, hob dräuend die Pranken und brüllte aus blutigem Rachen.
Da wußte die Magd in ihrem Schrecken nicht, was sie tat, — sie warf das Kind, welches sie des kalten Windes wegen in einen warmen Fellsack gesteckt hatte, von sich und entfloh in sinnloser Furcht.
Sie kam in das Fischerdorf und verbarg sich in einer Hütte und wagte es nicht, von dem Ende des Kindleins zu berichten. Die Zeit verging, und eines Tages kam plötzlich das totgeglaubte alte Burgfräulein in das Dorf, erforschte die Magd, trat vor sie und forderte das Kind.
Die Ungetreue sank wehklagend in die Knie und beichtete von dem Tod des Knappen und dem Überfall des Bären, und daß sie bei der Flucht das Knäblein habe aus dem Fellsack verloren.
Ein großes Wehklagen erhob sich, und das Fräulein rief die Fischer und sprach: ›Lasset uns im Tann suchen! Die Heiligen im Himmel haben meine Gebete für das [S. 284] Kind erhört, so es ihr gnädiger Wille gewesen, erretteten sie es aus dem Rachen des Bären!‹
Die Fischer schüttelten zwar die Köpfe und meinten, das sei vor eines Mondes Länge geschehen und wohl kein Knöchelchen von dem jungen Grafenkind mehr zu finden; aber sie bewaffneten sich und gingen in den Wald.
Und als sie an die Stelle kamen, welche die Magd beschrieben, hörten sie ein gewaltiges Brummen als wie von einem Bären, und als sie durch das Dickicht herzuschlichen, sahen sie ein leibhaftiges Wunder. Da lag die Bärin im Moose ausgestreckt, und an ihr das noch in das Fell gewickelte Knäblein, welches sie säugte.
Sie lockten das Untier mit Geschrei heraus, und ein Beherzter sprang herzu und ergriff das Kind. — Das war lebend und gesund, stark und bärenkräftig, und solche Kunde drang bis zu dem Fürsten des Landes.
Der lachte der absonderlichen Mär, ließ das Knäblein vor sich bringen, wiegte es auf den Armen und lobte Gott:
›Ei, du Gräflein von Hohen-Esp, so dich Bärenblut gesäuget hat, so wirst du stark und kühn werden, und man wird dich hinfort ›den Bären von Hohen-Esp‹ heißen.‹
So sprach er und gab ihm den neuen Namen und den Bären in das Wappenschild, zur Erinnerung an das Gotteswunder, welches sich an dem Kind begeben.« —
Frau Gundula unterbrach sich und ließ momentan die fleißigen Hände ruhen; ihr Blick schweifte voll stolzer Zärtlichkeit nach dem Sohn hinüber und umfaßte seine hohe, markige Gestalt, dann zog sie abermals den feinen Faden aus dem Flachs und lächelte. — »Und nun gehen Sie hinauf in den Saal, Gabriele, und sehen Sie sich einmal das Bärengeschlecht an! Es ist wirklich ganz auffällig, wie die Bärenamme ihm ihren Stempel aufgedrückt hat! So hoch und kraftvoll gewachsen, so bärenhaft fest und trutzig ist kein zweites. — Die eckige Stirn und die große Gutmütigkeit haben die Hohen-Esp sicher von den Bären geerbt, vor allen Dingen aber das [S. 285] mutige und kühne Drauf- und Drangehen in Kampf und Gefahr, die Furchtlosigkeit, wenn es gilt, einen Feind zu packen, die zähe Ausdauer im Ringen mit dem Gegner, gleichviel ob derselbe aus Fleisch und Blut oder als Sturm und hohe Flut zum Gang auf Leben und Tod herausfordert!«
Gabriele hatte bisher nur Augen und Ohren für die Sprecherin gehabt, den schlanken, blonden Mann in dem Rittersessel vor dem Kamin schien sie völlig vergessen zu haben.
Jetzt plötzlich hob sie das Haupt, und ihr Blick traf Guntram Krafft.
Auge ruhte in Auge.
Wie wunderlich sah sie ihn an.
So groß, so forschend, so nachdenklich ... und doch brannte es wie ein geheimer Vorwurf in ihrem Auge, wie ein scharfer, ungestümer Widerspruch, welcher verächtlich sagt —: »nein! du irrst, Frau Gundula! Nicht alle Grafen von Hohen-Esp sogen Kraft, Mut und Kühnheit aus der Bärenmilch! — Hier, dieser letzte seines Geschlechts, ist entartet ganz und gar! — Er ist kein Held! er imponiert mir nicht! und darum werde ich nun und nimmer diesen ruhm- und tatenlosen Mann freien!« — Sprach es nicht so aus ihrem Blick? aus den großen, wundersam ernsten Augen?
Guntram Krafft hört und versteht nichts mehr als diese erbarmungslosen Worte, sein Vorurteil ist zu groß ... sein Blick ist verschleiert, er glaubt nicht mehr an das Glück und vermutet es nirgends.
Wieder steigt es heiß empor in Stirn und Schläfen, er senkt finster den Blick und begreift es nicht, daß er soeben noch sich ihres Interesses an seiner Familie gefreut.
Die Hohen-Esp sind keine verwegenen Reiter, welche in Kriegszeiten sich den Lorbeer aus feindlichem Feuer holen, — und nur solche Heldentaten imponieren dem stolzen Sinn einer Sprendlingen!
Nach wenig Minuten rafft der junge Graf die Zeitungen zusammen, steht auf und empfiehlt sich kurz.
Die Nacht ist so schön und mondhell, — er will mit den Fischern hinausfahren, wenn sie die Netze auswerfen.
Gabriele sieht ihn erstaunt an.
»Das tut man in der Nacht? — Warum das? Ist solche Arbeit am Tage nicht müheloser und bequemer?«
Ein herber, beinahe etwas spöttischer Zug liegt plötzlich um seine Lippen.
»Mühelos und bequem ist sie nach Ansicht der Binnenländer stets, gnädiges Fräulein, man rudert ein wenig hin und her und schöpft das Schiff voll Heringe und Dorsche! Ob bei Sonnen- oder Mondenschein — das ist höchstens eine kleine Abwechslung in dem ewigen Einerlei!«
Gräfin Gundula dreht mit ganz seltsamem Lächeln den Faden, welcher ihr gerissen, wieder zusammen, Fräulein von Sprendlingen aber sieht so harmlos aus, als ob sie von den Worten des Sprechers ganz überzeugt sei, und sagt nur nachdenklich: »Und doch ertrinken so oft die Menschen dabei! Ihre Fischer werden doch vorsichtig sein?«
Da lacht er laut und hart auf. »Unbesorgt, mein gnädiges Fräulein, die See ist wie ein Tischtuch, sie ist so, wie Sie's nicht lieben, träge, ruhig und langweilig, und dann fordert sie keine Opfer!«
»Wird sie nicht bald einmal böse und wild? Ich möchte so gern eine bessere Meinung von ihr bekommen!«
Ein beinahe finsterer Blick aus den sonst so lachenden Blauaugen trifft sie.
»Kurze Zeit müssen Sie sich wohl noch gedulden, die Ruhe scheint allen Wetterberichten nach noch anzudauern, aber in dieser Jahreszeit pflegt sie tatsächlich eine Ruhe vor dem Sturme zu sein!«
Er verneigt sich kurz, unhöflicher wie sonst, und geht, — Gundula aber schüttelt ernst das Haupt und sagt mit leisem Seufzer: »Sie wissen und verstehen es noch nicht, was Sie da wünschen, Gabriele! Für meinen [S. 287] Sohn bedeutet ein Sturm mehr wie ein schönes Schauspiel, und für seine braven Fischer ebenso! — Warum wollen Sie diese glücklichen Tage der Ruhe kürzen? Warum soviel Sorge und Not durch ein Unwetter heraufbeschwören? Ist das Meer in seinem ruhigen Schlaf wahrlich so langweilig? — Gehen Sie morgen einmal an den Strand und sehen Sie den Sonnenuntergang, — er ist verkörperte Poesie, das schönste Gedicht, welches unser lieber Herrgott mit Farben an den Himmel geschrieben!«
Gabriele nickte mit sinnendem Blick, ihr fielen plötzlich Guntram Kraffts Worte am Strand drunten ein.
Wenn er sie abermals lehren möchte, mit seinen Augen zu schauen! —
Die Gräfin schob ihr Spinnrad zurück und erhob sich. Sie war müde und wollte zur Ruhe gehen, man machte frühen Feierabend auf Hohen-Esp.
Gabriele stand an dem geöffneten Fenster ihres Turmzimmerchens und blickte hinaus in die stille, blütenduftige Pracht des kleinen Gartens, über welchen der Vollmond sein schier taghelles Silberlicht goß. Sie konnte nicht schlafen.
Wundersame Gedanken kreuzten hinter ihrer Stirn und nahmen ihr die Ruhe.
Sie dachte zurück an jene Stunde, wo sie neben Guntram Krafft am Strande stand und seinen so eigenartig poetischen Worten lauschte.
Gerade aus seinem Munde berührten dieselben so seltsam, weil Gabriele sie nicht erwartet hatte, und wenn ihr die Zartheit seines Empfindens zuerst auch etwas unmännlich erscheinen wollte, so ward doch dieser Eindruck schnell verwischt durch die Besichtigung des Rettungsschuppens.
Noch nie zuvor war ihr der Graf so kraftvoll männlich erschienen als wie hier in seiner energischen Art des Erklärens und Zufassens, in seiner so schönen und frischen Begeisterung für die Sache.
Gabriele verstand nicht viel von all den Dingen, aber sie fühlte instinktiv, daß es sich hier um mehr handelte, wie um einen harmlosen Sport.
Vielleicht war es auch das Ungewohnte in dem Anzug des Grafen, welches denselben schon während der ganzen Zeit seiner Anwesenheit auf Hohen-Esp so verändert erscheinen ließ.
Diese schmuck- und kunstlose, derbe Kleidung paßte so gut zu ihm, sie machte seine Erscheinung ernst und eigenartig, sie gehörte zu dieser Umgebung.
Ein Bär von Hohen-Esp ist keine Nippesfigur, er muß in die Höhle passen, welche er bewohnt. Deucht es ihr nur so, oder ist auch sein ganzes Wesen verändert?
Wie weggewischt ist das scheuverlegene Lächeln, die linkische Unbeholfenheit und Unsicherheit! —
Hier ist er Herr und Gebieter, — wohl ein gütiger, freundlicher Gebieter, aber dennoch einer, dessen Wort einen festen, stolzen Klang hat!
Das Anschmachten und entzückte Anstaunen hat er vollends verlernt.
Kaum, daß er sie beachtet, ihr die notwendigste Höflichkeit erweist! —
Er sucht ihre Gesellschaft nicht, — er meidet sie eher.
Und das ist keine Koketterie, kein Anreizen, — es ist seine ehrliche, schlichte Meinung.
Warum gefällt sie ihm nicht mehr?
Gabriele blickt gedankenvoll in die weißglänzende Pracht der Kirschbäume hinab.
Anfänglich war es ihr so angenehm, von ihm übersehen zu werden, — jetzt grübelte sie, aus welchem Grunde es geschehen mag.
Daß es so geschieht, ist gut, — es steht ihm wohl an, er gefällt ihr in dieser kühlen Gelassenheit.
Und wie seltsam schaute er sie heute abend an, als Frau Gundula von dem Mut und der Kühnheit der Hohen-Esp sprach?
Erriet er in jenem Augenblick ihre Gedanken?
Was dachte sie doch?
Sie sah ihn an — die große, eckige Stirn unter den blonden Haarlocken, die herrliche, »bärenhafte« Gestalt ... und sie dachte ... warum fehlt gerade ihm der Mut und die wilde Kühnheit, welche die verblendete Mutter an ihren Vorfahren preist? Er ist wie geschaffen zu einem Helden! — Warum ist er's nicht? —
Er schaut drein wie Parzival, der Schildträger — warum sitzt er ruhmlos daheim bei Frau Herzeleide? Verstand er diese Gedanken?
Las er sie von ihrem Antlitz ab?
Sein Blick ward so finster, so aufsprühend zornig, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen — und er stand auf und antwortete ihr voll spöttischen Trotzes auf ihre Frage ... und ging mit hallenden Schritten davon.
Das war schön! — da war Jung Parzival ein Mann! — und sein Bild schwebt ihr vor bis in diese stille, einsame Stunde der Nacht.
Warum ging er? Warum zürnte er?
Woher kennt er die geheimsten Gedanken ihres Herzens?
Er kann sie nicht wissen, — es war ein Zufall. Horch ... drunten auf dem schmalen Kiesweg, welcher durch den Garten nach dem Wald führt, erschallen Schritte.
Das junge Mädchen neigt sich unwillkürlich vor und schaut hinab.
Der Mond scheint so hell, sie erkennt jeden Grashalm am Wege, und jene Gestalt, welche naht ... wer ist das?
So hoch ist nur einer in der Burg gewachsen, so stolz und elastisch schreitet nur ein Herr unter Knechten!
Es ist Guntram Krafft!
Aber wie seltsam sieht er aus?
Ist's ein Scherz, daß er sich so kostümiert hat, wie man es an den Fischern und Lotsen auf Seebildern so malerisch dargestellt sieht? Nein, dem Grafen Hohen-Esp war es heute gewiß nicht nach Scherzen zu Sinn! Der breite Südwester sitzt ihm weit im Nacken und gibt seinem Antlitz einen eigenartig verwegenen Ausdruck, [S. 290] die Fischerjacke steht über der Brust offen, das weiße Hemd leuchtet breit hervor und fällt in weichem Streifen über den Halskragen hinaus.
Die hohen Wasserstiefel reichen bis über die Knie empor, aber sie sehen nicht plump und häßlich aus, sondern geben der schlanken Gestalt etwas Keckes und Ritterliches, obwohl der Gang sehr ruhig und ernst erscheint.
Mit weitoffenen Augen starrt Gabriele hinab.
Ja, so schaut ein Seemann aus! —
Sie hat früher die Gemälde kaum beachtet, welche ein Stück Seemannsleben vorstellten, sie las keine Romane über Schiffervolk und Matrosen ... was interessierte sie, die Residenzlerin, solch eine fernliegende Welt!
Jetzt mit einem Mal deucht es sie, als habe sie viel, sehr viel versäumt.
Die Schritte drunten verhallen, die Schatten des Gebüsches decken die hohe Männergestalt. Graf Guntram Krafft will mit seinen Fischern hinaus zum Fang fahren, er stellt seine starken Arme in den Dienst der Seinen, so wie sie zu ihm stehen, wenn er sie aufruft zu Schutz und Trutz der Gefährdeten.
Gabriele hat sich das nie so recht vorstellen können, jetzt aber ist es ihr, als ob ein ahnungsvolles Verstehen in ihrem Herzen aufdämmere.
Kreist vielleicht jener Tropfen wilden Bärenbluts dennoch in seinen Adern?
Er schritt still und ernst vorbei, er hob nicht das Haupt und blickte nicht empor zu ihr, und doch wußte er, daß diese Fenster ihrem Zimmer angehörten.
Langsam wich Gabriele zurück.
Drunten rauschten die dunklen Waldwipfel leise im Hauch der Nacht, und fernher glänzte die See wie ein silbernes Märchenland. —
»Nun wird es mit dem schönen, stillen Wetter vorbei sein!« sagte die Gräfin an dem Nachmittag des andern Tages: »der Wind hat aufgefrischt, und die See setzt kleine Kämme auf! Ich denke mir, mein Sohn wird dies Wetter benutzen, um mit dem neuen Segelboot hinauszugehen, er wartete auf eine frische Brise, um es ausprobieren zu können.«
»Gehen Sie heute an den Strand, gnädigste Gräfin?«
»Das glaube ich nicht. Der Inspektor hat sich mit den Abrechnungen angemeldet, und ich werde wohl den ganzen Abend mit ihm zu tun haben! — Wenn Sie aber einen Spaziergang machen wollen, liebe Gabriele, so können Sie getrost auch allein gehen. Hier in unserer Einsamkeit droht keinerlei Gefahr, der Weg zum Fischerdorf ist kurz und nicht zu verfehlen, und wenn mein Sohn noch nicht gegangen ist, wird er Sie gern bis an den Schuppen geleiten!«
»Ich danke, Frau Gräfin, und werde mir wohl einmal das Meer mit seiner grausen Stirn ansehen! Ich kenne es noch gar nicht, wenn es bewegt ist. Der Graf ging bereits nach dem Kaffee zum Strand und wird wohl längst auf hoher See schaukeln; ich fürchte mich aber durchaus nicht, allein zu gehen, und freue mich auf den Sonnenuntergang, von welchem Sie mir gestern so Rühmliches sagten, Frau Gräfin!«
»Das ist recht! Suchen Sie unsere herrliche See zu verstehen und liebzugewinnen! Sie können uns allen durch nichts eine größere Freude bereiten, als durch ein herzliches Einstimmen in unsere Loblieder!«
— Und Gabriele schritt nachdenklich die moosigen Waldpfade hinab nach dem Strand. Als sie das schützende Laubdach verlassen, brauste ihr der Wind entgegen.
Er riß an ihrem Mantel, er jagte ihr den Hut vom Kopf — und in lustiger Jagd eilte sie dem Flüchtling nach, ihn wieder einzufangen.
Welch ein Sturm war das!
Das ganze Haar zerzauste er ihr, und das Riedgras und die Seemannstreu bog er tief hinab zum gelben Sande!
Aber es war schön, wunderschön! Solch ein freies, ungestümes Wettlaufen mit dem Wind, das konnte sie in den engen, eleganten Straßen der Residenz freilich nicht! Und jetzt, als sie über die schützenden Dünen emporsteigt, da liegt es vor ihr, das weite Meer, dunkelblau gefärbt, im vollen Strahlenglanz der sinkenden Sonne — und es dehnt sich nicht mehr so träge und glatt wie ein Präsentierteller, sondern wogt und wallt und wirft hier und dort weiße Schaumköpfchen auf.
Ja, das ist wahrlich ein schöneres Bild denn sonst! Namentlich die Brandung gefällt ihr, welche sich wie duftige, schmale Tüllrüschen an dem Strand entlangschlängelt, spitz auslaufend wie ein zierliches Valenciennemuster, oder breit emporspülend um die Haufen von Seetang und angeschwemmten Gehölz! Ein zarter, silberduftiger Schaum, hier und da von der Sonne mit rosa Dufthauch gefärbt. Ja, die See ist im Sturm schön, fraglos schöner wie in ihrem bleiernen Schlaf, aber etwas sehr Gewaltiges und Imponierendes hat sie auch jetzt noch nicht nach Gabrieles Geschmack, und wenn die Gräfin in dem Sonnenuntergang ein verkörpertes Gedicht erblicken will, so begreift sie das auch jetzt noch nicht. Die rote Glut des Sonnenballs, die buntgefärbten Wolken ... ja, das ist fraglos ein schöner Anblick — aber mehr darin sehen, wie Sonne, Wolken und Wasser, nein, das kann sie nicht! —
Wie lustig dort ein Boot auf den Wellen schaukelt! Am liebsten möchte sich Gabriele hineinsetzen und auf- und niedergleiten durch die blauen Wogen!
Käme doch eine Menschenseele, welche sie darum bitten könnte!
Und Gabriele wendet sich zurück und blickt nach dem Rettungsschuppen und stößt einen leisen Laut der Überraschung aus.
Dort auf der Düne steht Graf Guntram Krafft! Ebenso gekleidet wie heute Nacht ... und er spricht mit zwei Fischern und scheint ihnen irgendwelche Anweisungen zu geben.
Jetzt sieht er sie, und Gabriele hebt freudig die Hand und winkt ihm zu.
Er scheint einen Augenblick zu zögern, dann verabschiedet er die Männer und schreitet ihr langsam entgegen.
Ein neuer Windstoß läßt den kleinen Filzhut auf Gabrieles Köpfchen abermals flüchtig werden, aber sie fängt ihn noch rechtzeitig auf und behält ihn in der Hand.
Immer langsamer schreitet Guntram Krafft. Sein Herz schlägt wieder heiß und ungestüm bei ihrem Anblick, der ihm reizender dünkt wie je.
Das dunkle Tuchkleid weht in weichen, graziösen Falten um die zierlichen Füßchen, die entzückend zarten Formen ihrer Gestalt zeichnen sich scharf gegen den schimmernden Hintergrund ab, und auf den lockigen Haaren, welche der Wind ihr um die weiße Stirn zaust, flimmert das rotgoldene Sonnenlicht und läßt tausend geheimnisvolle Fünkchen darauf brennen. Wie frisch und rosig ist das süße Gesicht, — wie lacht sie ihm mit weißen Zähnchen entgegen, wie leuchten die Nixenaugen hinter den langen, dunklen Wimpern hervor!
»Wie gut, daß Sie kommen, Graf!« ruft sie ihm heiter entgegen. »Ich hatte Sehnsucht nach Ihnen, große Sehnsucht! Und wissen Sie auch, warum?«
Er begrüßt sie von weitem, ohne ihr die Hand zu reichen.
»Warum?« wiederholt er beinahe mechanisch und drückt den Südwester fester auf den Kopf. — »Nein, das weiß ich nicht, mein gnädiges Fräulein!«
»O, Sie kennen meinen Egoismus noch nicht!« fährt sie harmlos fort; »ich möchte gern einmal in einem Boot [S. 294] hinausfahren in die See, weil es sich gewiß herrlich auf dem Wasser schaukelt!«
Seine Augen leuchten unwillkürlich auf, er tritt einen Schritt näher.
»Boot fahren, Fräulein Gabriele? — Solch ein langweiliges Vergnügen?!«
»So fand ich es ehemals in Heringsdorf, wo sich kein Lüftchen regte! Aber heute, wo solch hohe Wellen sind, wo wir solch argen Sturm haben ...«
Sein lautes Auflachen unterbricht sie.
»Sturm?!«
»Nun ja! Oder wollen Sie ihn ableugnen, wo ich nicht mal den Hut auf dem Kopfe haben kann?«
»Sie kennen noch keinen Sturm, heute weht es nur ein wenig, kaum daß man es eine frische Brise nennen kann!«
Er sieht heiterer aus, während er spricht, und Gabriele blickt überrascht empor.
»Ich wollte Ihnen durch meinen Mut, heute auf dem Wasser zu fahren, imponieren!«
»Sie imponieren mir jederzeit durch solch ein Verlangen!«
»Und werden Sie es erfüllen?«
»Wenn es Ihr Ernst ist, mit großer Freude. Wir sind eben von einer kleinen Probefahrt zurückgekommen, das Boot liegt noch dort an der Buhne —« er deutete mit der Hand strandab — »wollen Sie mir folgen, so fahre ich Sie gern!«
Er spricht so ruhig wie sonst, und Gabriele sieht nicht, wie seine Lippen beben.
Sie dankt ihm mit der freudigen Hast eines Kindes.
Ihr Wesen deucht ihm überhaupt verändert, sie ist so fröhlich und gesprächig wie noch nie zuvor, und ihre Augen leuchten zu ihm auf ... täuscht er sich? oder ist es wahrlich so?... Aber so warm und innig blickte sie ihn noch niemals an.
»Wissen Sie auch, daß ich das Meer heute wirklich schön finde? Und den Wind auch? — Nun lebt erst die [S. 295] Welt ringsum! Nun atmet sie Abwechslung, nun wird sie mir verständlicher! Ehrlich gestanden — habe ich mir das Meer im Sturm noch gewaltiger gedacht, weil ich darüber las, daß seine Wogen Schiffe zertrümmerten und ganze Landstriche wegschwemmten, aber wie Sie sagen, ist es heute noch kein richtiger Sturm —«
»Was nicht ist, kann bald werden —« er wich ein wenig zur Seite, da ihre Kleiderfalten weich und schmeichelnd um seine Füße wehten, und fuhr voll beinahe trockener Geschäftlichkeit fort: »Die Wetterberichte lauten ungünstig, wir erwarten stündlich eine Sturmwarnung. Vielleicht lernen Sie die träge See noch von recht ungemütlicher Seite kennen!«
»Ich liebe alles Gewaltige, Wilde, Trotzige! Am Menschen sowohl wie an der Natur — daher gefielen mir bislang die Alpen so gut, diese Titanen, welche den Himmel stürmen! Wie gern möchte ich auch hier solche Riesen finden, wilde, brausende Wogen, welche das Herz erzittern lassen ...«
»Und heldenhafte Menschen ... welche mir imponieren!« fügte er leise, mit wunderlichem Zucken der dichten Augenbrauen hinzu, — »das Meer wird Ihre Wünsche sicher erfüllen, in die Macht der Menschen aber ist es nicht gegeben, gewaltsam einen Himmel zu stürmen, vor dessen Tür das Schicksal sieben Siegel gelegt!«
Sie waren hastig ausgeschritten und standen jetzt vor dem Boot, welches zwei Fischer just an den Strand schieben wollten.
Zur Seite saß ein alter Mann auf einem Holzstamm und war damit beschäftigt, Reservedollen und Ruderklampen zu schnitzen.
Guntram Krafft rief die Männer in plattdeutscher Sprache an, — sie unterbrachen sich, wateten heran und schienen kurz mit dem Grafen zu beraten.
Ein prüfender Blick nach dem Horizont, eine ruhig zustimmende Handbewegung.
»Wenn dat nich länger wiehrt, a's 'ne half Stunn', dann geiht dat wull noch an'!« — und sie warfen die [S. 296] Riemen zurecht und bereiteten schweigend das Boot zur Fahrt.
Der alte Mann stand auf, nahm die kurze Pfeife aus dem Mund und fragte: »Sall ik Se beglieten, Herr Graf?«
»Nee, Klaaden, da sull keener mit mi gahn, — dat düert hüt nich lang.« —
Und dann flüsterte er noch ein paar Worte mit den Schiffern und wandte sich abermals zu Gabriele.
»Es hält sehr lange auf, das Boot an das Land zu ziehen, gnädiges Fräulein; Sie gestatten wohl, daß einer der Leute Sie in das Fahrzeug trägt!«
»Ja, so gehört sich das!« lachte Gabriele ein klein wenig verlegen. »Meine Freundin ward in Helgoland bei dem Landen auch in das Boot getragen.«
Der Bär von Hohen-Esp wandte sich ab und schien sehr interessiert eine zerbrochene Spiere, welche im Sande lag, zu besichtigen, der Fischer aber trat ruhig herzu, nahm Gabriele auf den Arm und watete mit ihr in das Wasser.
»Hollen Se' sick fast!« sagte er — und nach einem Augenblick mehr zu sich selber im Kommandoton: »Laß sack' —!« und gleichzeitig hob er die junge Dame und ließ sie in das schwankende Boot nieder.
Guntram Krafft kam nun mit schnellen Schritten durch das seichte Wasser, sprang in das Fahrzeug und griff nach den Riemen.
»Ich möchte heute nicht segeln, sondern mich in nächster Nähe des Ufers halten, um erst einmal zu sehen, ob Sie seefest sind, mein gnädiges Fräulein!« sagte er mit schnellem Lächeln. »Für meine Begriffe ist die See sehr ruhig, für die Ihren vielleicht nicht.«
Die starken Fäuste der Fischer machten das Boot frei, der Graf half mit den Riemen und stieß kräftig ab, — hochauf bäumte das leichte Fahrzeug und glitt über die erste Brandung hinaus.
»Und das nennen Sie ruhige See?« fragte Gabriele leise und blickte mit großen Augen in den Gischt, welcher [S. 297] um das Heck spritzte. »Sehen Sie doch, wie das schäumt und wogt!«
»Ich hoffe, Sie lernen es von sicherem Lande aus noch besser kennen! Heute scherzt und spielt das Wasser nur, wenn es aber ernstlich böse wird, fahre ich Sie nicht hinaus.«
»Dann ist es gefährlich?«
»Sehr gefährlich! Nicht für mich, sondern für Sie!« —
Wieder zuckte ihr Blick zu ihm hinüber.
»Als Sie die Leute der ›Sophie Johanne‹ retteten, war es da solch ein Wetter wie heute?«
Guntram Krafft wandte seine ganze Aufmerksamkeit dem Boote zu, da er gern jede gebrochene Welle, so gut es anging, meiden und das Fahrzeug in die Lage bringen wollte, daß die See vor demselben brach.
»Die größte Macht des Sturmes war wohl vorüber,« sagte er lächelnd, »und das war ein Glück für die Mannschaft, sonst wäre es unmöglich gewesen, bei derart schwerer See an dem Wrack anzulegen. Es hängt da so viel von der Geschicklichkeit, dem gesunden Urteil und der Geistesgegenwart des Lotsen ab, daß ein günstiger Erfolg nie mit Sicherheit vorausgesehen werden kann.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann fuhr Guntram Krafft fort —: »Würden Sie die Güte haben, sich mir gegenüberzusetzen, gnädiges Fräulein, — Sie haben alsdann den vollen Anblick der sinkenden Sonne.«
Das Boot hatte die Brandung passiert und glitt nun in großen, ruhigen Bewegungen über die Wogen; der Graf, welcher erst mit voller Kraft und Aufmerksamkeit gerudert hatte, hielt die Riemen ruhiger und schaute mit sinnendem Blick nach dem Horizont, welchem der feurigrote Sonnenball langsam entgegensank und einen breiten, funkelnden Goldstreifen auf das Wasser malte, in den das Boot just hineintrieb.
Gabrieles reizende Gestalt war von hellem Purpurlicht übergossen, und ganz verstohlen streifte sie der Blick des Grafen. — Sein Atem ging schwer, seine Hände umkrampften die Riemen.
War's ein Traum?
Wie oft hatte er es sich voll leidenschaftlicher Sehnsucht gewünscht, so allein — so weltfern und einsam mit der Heißgeliebten auf der wogenden Unendlichkeit des Meeres zu treiben, und nun war es geschehen, nun saß sie ihm nahe — ganz nahe gegenüber, die zauberischen Nixenaugen so oft mit langem Blick auf ihn gerichtet, das lockige Haar vom Wind verweht, das reizende Antlitz so träumerisch und ernst ihm zugekehrt. —
Damals, als er die Mannschaft der »Sophie Johanne« rettete, donnerte die See und heulte der Sturm, aber in seiner Brust war es still wie im Grab; und heute saust es nur linde und sacht in den Lüften, aber in seinem Herzen brandet wilde Flut, schlimmer und todbringender wie jene, welche er damals so heldenhaft bezwungen!
Und dieser soll er erliegen?
Er atmet schwer auf, streicht langsam über die Stirn und lauscht ihrer Stimme wie im Traum.
»Ihre Frau Mutter sagte mir: ein Sonnenuntergang sei ein verkörpertes, oder besser gesagt, ein gemaltes Gedicht! Ist das auch Ihre Ansicht? Ich sehe sehr viel Schönes, Glänzendes, Farbenprächtiges vor mir, aber seinen poetischen Sinn fasse ich nicht. Meine Phantasie ist wohl noch nicht aus dem tiefen Schlaf erwacht, in welchem sie inmitten alles Großstadtstaubes gelegen! Sie haben jüngst am Strande das schlafende Dornröschen schon einmal geweckt, Graf, tuen Sie es auch heute! Lehren Sie mich mit Ihren Augen sehen! — Was bedeutet für Sie solch ein Sonnenuntergang?« —
Er schiebt den Hut weiter aus der Stirn zurück, seine großen Blauaugen bekommen einen weichen, träumerischen Glanz, sein Blick schweift weit hinaus.
»Er bedeutet für mich einen Traum — er bezwingt mich wie das Opium seinen Raucher, alles logische Denken, alle Wirklichkeit versinkt in wallenden Nebeln — und alles Unorganische beginnt zu leben. — Wir Seeleute berauschen uns an der Einsamkeit, die heilige, erhabene Ruhe um uns her wirkt wie eine Narkose — die leise [S. 299] Musik des Windes, das Rauschen der Wogen, das Flüstern des Riedgrases, melancholischer Möwenschrei und das Rieseln des Sandes sind in wundersamem Gemisch ein Schlummerlied, welches uns einlullt und die Welt des Realen vor unsern Blicken verwischt. — Hier und da der grelle Blitz einer Welle, welchen die Sonne trifft — ein frischer Lufthauch, welcher die Stirn kühlt ... und man träumt — träumt wie ein Fiebernder, um dessen Lager giftige Blüten welken ...«
»Vom Sonnenuntergang?«
»Den sehe ich nicht. — Ich habe eine Vision. Vor mir wachsen die geheimnisvollen, glutroten Korallen aus der Tiefe des Wassers, sie breiten ihr mystisches Geäste aus über den Himmel, sie flechten ein Netz durch Luft und Wolken, ein Netz von blutfarbenen Zweigen, an welchem weiße Perlen schimmern. Über sie hin weht es wie lichte Schemen ... duftig ... wesenlos ... grau verhauchend, sie breiten violette Schwingen aus ... die reichen von einem Ende des Himmels bis zu dem andern ... sehen Sie dort? — da tauchten sie hinab in die grelle Feuerbrunst, die wabernde Lohe, welche hinter den Wolkenbergen lodert und ihre Blitzfunken weit empor gegen das Firmament wirft! Sehen Sie, wie die Farben kommen und gehen? In grellem Schein das grausame Schwefelgelb, welches dem Lächeln eines unbarmherzigen Weibes gleicht ... und das kranke Grün, das irisierende Weiß des Opals ... das süße, schmeichelnde Rosa ... einen Kuß, welchen Engelslippen auf eine Perlmuttermuschel hauchten! — Dort schießen mächtige Lilien empor ... wie Phantome ... ein Glorienschein umgibt sie ... riesenhafte Schmetterlinge umgaukeln sie ... und darüber wölbt sich eine Kirchenkuppel, an welcher grelle Rubine wie zornige Augen sprühen! — Sie stürzt zusammen, und nun schlägt eine ungeheure Flamme empor ... Sie wähnen, daß es die Sonne ist? Nein! Es ist das Stück eines Weltenbrandes, der entscheidende Augenblick im wilden Kampf der Titanen! Das Goldgeglitzer auf dem Wasser sind keine Wellen, es sind die goldenen Schuppenringe [S. 300] der Midgardschlange, welche sich schillernd windet und auf- und niederrollt, welche in zitternden Windungen durch das Weltmeer schießt und mit breitem, scharfgezähntem Rachen dem Feuermeer am Horizont entgegenbäumt! Sehen Sie, wie die Gewaltige den Glutenball verschlingt? — Mehr und mehr verschwindet er — und die roten Korallen erbleichen und sinken zusammen ... die weißen Lilien brechen wie stumme Klagen nieder ... die Schmetterlinge zerstieben und treiben wie müde, kleine Wolkenflocken in der Unendlichkeit ... aus dem Meere aber steigt ein wunderholdes Weib mit kristallenen Nixenaugen und windzerzaustem Kraushaar, — die hebt mit müdem, strengem Lächeln einen grauen Schleier und breitet ihn über Himmel und Erde, über die Augen des fiebernden Mannes, der solch wunderliche Träume hat, und sie sagt: ›Wach auf! Es ist Zeit, heimzukehren, die Sonne ging unter!‹«
Guntram Krafft schwieg, er sah Gabriele an und lachte plötzlich leise auf:
»Und solch närrisches Zeug denkt ein großer, vernünftiger Mensch bei dem Anblick eines Abendhimmels!«
Sie saß ihm gegenüber, die Blicke groß und sinnend auf ihn gerichtet. Unverwandt, wie in staunender Frage.
»Sie sind ein Dichter, Graf Hohen-Esp!«
»Wohl möglich, — ich weiß es nur nicht.«
Der Wind erhob sich stärker, das Boot stieg hoch auf und schoß tief hinab in grünglasigem Wassergebirge.
»Sie sehen so blaß aus, Fräulein Gabriele, frieren Sie?« —
Sie nickt. »Der Wind ist kalt, lassen Sie uns umkehren.«
Er griff hinter sich nach einem Lodenmantel, welcher auf der Bank lag, und reichte ihn zu ihr hinüber.
»Ich bitte, legen Sie ihn um. — In wenig Minuten sind wir am Strande.« —
Guntram Krafft wandte den Bug des Bootes nach der See hin und strich dem Lande zu, jeder heranlaufenden See einige Schläge entgegenrudernd, damit [S. 301] sie das Boot schneller passiere. Wie ruhig er sich bewegte, wie energisch und sicher seine starken Arme das Fahrzeug regierten!
Und wie schön er aussah!
Nie hatte Gabriele die glänzendste Galauniform eines Mannes besser gefallen, als dieser schlichte, so wunderbar kleidsame Fischeranzug.
Wie kernig, wie wetterfest und männlich sah der Bär von Hohen-Esp darin aus, wie edel und kühn sein Antlitz, welches sich soeben noch der sinkenden Sonne zugewandt und ein Märchen voll schwärmerischer Weichheit geträumt hatte! —
Gabriele war noch nie auf bewegter See gefahren.
Ihr deuchte das Auf- und Niedergehen des Bootes gefahrvoll und beängstigend, sie fühlte, wie ihr Herz schneller schlug, wie ihre Hände leise erbebten, wenn ein Schaumkamm hoch aufstieg und drohte, über das Schifflein hinwegzubranden.
Mit keinem andern Fährmann hätte sie in diesem gebrechlichen Fahrzeug sitzen mögen, als mit dem Bären von Hohen-Esp, welcher ihr so ruhig und unbesorgt gegenübersaß, als habe er nur seine herzliche Freude an dem scherzenden Spiel der Meerfrauen. Und immer stärker sauste der Wind, und immer schneller schoß das Boot der Küste zu. Guntram Krafft wandte sich um und blickte nach dem Strand.
Eine jähe Betroffenheit malte sich auf seinen Zügen.
»Die Fischer scheinen uns noch nicht zu erwarten!« sagte er, griff mit der einen Hand hastig in die Tasche und führte eine Torpedopfeife an die Lippen.
Niemand zeigte sich in den Dünen.
»Wir müssen landen, — es wird immer kühler, und der Wind kommt auf!«
»Sind wir noch nicht zur Stelle?«
Das Boot schoß auf den Sand und saß mit hartem Rucke fest; eine kräftige Welle schoß über und übergoß es mit einem Spritzer.
Guntram Krafft stand aufrecht und blickte noch immer [S. 302] hilfesuchend nach dem Strand. Dann warf er die Riemen hin und sagte zu Gabriele, indem er sich aus dem Boot schwang: »Wir haben leider keinen Landungssteg hier. Die Brandung duldet ihn nicht. Das Boot liegt aber noch halb im Wasser. Sie müssen gestatten, gnädiges Fräulein, daß ich Sie diese paar Schritte an Land trage!«
Gabriele fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß, aber sie erhob sich und trat sehr ruhig an den Rand des Kahnes.
»Das wäre sehr freundlich, Graf, meine Schuhe sind nicht auf Waten eingerichtet.«
Er stand halbabgewandt, legte den Arm um sie, ohne sie anzusehen, und hob sie an seine Brust.
Mit sehr hastigen Schritten erreichte er den trockenen Strand und ließ die junge Dame sanft hinabgleiten. Droben in den Dünen erschienen im Laufschritt die Fischer.
»Wollen Sie die Güte haben, vorauszugehen, wir müssen das Boot erst bergen!« — Seine Stimme klang rauh, atemlos.
»Ich habe Ihnen so viele Mühe gemacht, Graf, ich danke Ihnen von Herzen!« Sie reichte ihm die Hand hin, und er umschloß sie mit kurzem, krampfhaftem Druck. Er murmelte ein paar Worte — sie verstand sie nicht, der Wind brauste daher, und Gabriele eilte geneigten Hauptes zur Burg.
Die Bäume des Waldes rauschten im Wind und neigten sich, und blickten in das bleiche, ernste Antlitz Gabrieles, welches ihnen so seltsam verändert deuchte. —
Wo war die kühle, gleichgültige Ruhe geblieben, welche sonst aus ihren Augen geschaut?
Jetzt leuchtete es darin so schnell und irrlichtartig, wie Gedanken, welche aufzucken und schwinden, welche dem Frührot gleichen, dessen Strahlen gegen die Schatten der Nacht kämpfen müssen, ehe sie leuchtenden Sieg erringen.
War dieser kraftvoll energische Mann, welcher sie soeben durch schäumende Wogen gerudert, welcher sie mit starkem Arm gehoben und an der Brust gehalten hatte, — war es derselbe schüchtern verlegene Jüngling, welcher im Ballsaal der Residenz so unsicher über das Parkett schritt, als vermisse er das Gängelband der Mutter? —
War diese poetisch schöne Erscheinung des wetterharten Seemanns dieselbe, welche ehemals in Frack und Lackschuhen so ungeschickt einherschritt, wie ein täppischer Bär, welchen man zur Kurzweil in Maskentand gekleidet?
Nein, es war nicht derselbe! Es war nicht möglich, nicht denkbar, daß binnen kurzer Zeit ein solcher Wechsel und Wandel mit einem Menschen vor sich gehen kann!
Gabriele blieb stehen und blickte mit weitoffenen Augen dem vorjährigen Herbstlaub nach, welches der Wind raschelnd vor ihr her, den Burgberg hinantrieb.
Ein Wandel?
Nein, es ist kein Wandel.
Guntram Krafft ist wohl stets der kernige Mann gewesen, wie er jetzt vor ihre Augen tritt; die kurze Gastrolle [S. 304] aber, welche er in der Residenz gegeben, hatte ein Zerrbild aus ihm gemacht, dessen weichliche Züge in nichts der Wahrheit glichen.
Ist es nur das Neue, Überraschende, was Gabriele so fesselt, so ungewöhnlich erregt? Ist es Zauberspuk, daß sein schönes, eigenartiges Bild ihr vorschwebt, ob sie es sehen mag oder nicht?
Scharf wie ein Adlerblick war sein Auge, als er prüfend See und Himmel beobachtete, sichere Fahrt zu nehmen, und wie mild und träumerisch ward es, als der Sonnenuntergang seine geheimnisvollen Bilder vor ihm spiegelte, als er ihr leis und schwärmerisch seinen Zauber mit den Worten eines Dichters malte!
Das war nicht weibisch und sentimental, das war nur wie das linde Säuseln eines Windes, welcher stark genug ist, in nächster Stunde zum Orkan anzuwachsen.
Dieses Sinnen und Träumen paßt zu dem einsamen Mann, in dessen Herzen noch die Wunder der Natur leben, welche ihn rein und unverfälscht umgibt.
Herr von Heidler konnte auch flüstern in Worten des Dichters, aber das war eine schwüle, betäubende Poesie, der Gifthauch des Modernen, welches nur die Sinne berauscht und nichts gemein hat mit jenem unsterblichen Gotteshauch, welcher wie ein heiliger Lobgesang alles Schönen und Edlen über den Wogen des Weltmeers schwebt!
Herr von Heidler borgte sich den schillernden Mantel eines Dichters, um Erfolge zu erringen, um die Augen zu blenden und in frivolem Spiel Triumphe über Mädchenherzen zu feiern; Guntram Krafft aber sprach nur Worte, die seine eigene Seele geboren hatte, Worte, welche nicht um Beifall buhlten und keine selbstsüchtigen Zwecke verfolgten.
Er sprach wie in kurzem Traum ... und der Wind verwehte den Klang seiner Stimme, und als er erwachend das Haupt hob, war der Traum vergessen.
Da schafften seine starken Arme voll eiserner Kraft, [S. 305] — da machten sie sich die Elemente untertan und besiegten sie wie in harmlosem Spiel. —
Und dann ...
Gabriele atmete plötzlich schwer auf und schritt beinahe ungestüm weiter, — dann umfing sie dieser kraftvolle Arm und trug sie durch den kräuselnden Wellenschaum, und sie umschlang seinen Nacken und war seinem Antlitz so nahe — wenngleich er das seine auch abwandte in respektvoller Ritterlichkeit.
Warum schlug ihr Herz so heiß und leidenschaftlich auf in diesem Augenblick?
Warum gefiel es ihr so gut, daß er sein Gesicht weit wegkehrte von ihr, daß er so schnell und hastig ausschritt, daß er sie nicht ansah, als er sie sanft zur Erde gleiten ließ?
Gibt es dennoch jene stolze Männertugend, welche nicht das Ihre sucht?
O, wie anders hätte Herr von Heidler diesen Augenblick ausgenutzt!!
Wie würde er sie in wild begehrlicher Weise an sich gedrückt — wie süß und berückend, wie zwingend und lohnheischend würde er ihr in das Auge geschaut haben!
Langsam — ganz langsam wäre er wohl ausgeschritten, und die Worte, welche er in ihr Ohr geflüstert hätte, wären wohl auch Dichterworte gewesen, aber solche, welche wie sengende Höllenfunken in das Herz fallen! —
Im Spott und Übermut hat man den Bären von Hohen-Esp in der Residenz den modernen Parzival genannt! Und doch ... kein Name paßt schöner und besser für ihn, wie dieser! Einfalt, welche Tugend, — Weltunklugheit, welche Edelsinn eines Ritters ist, dessen Händen ein Heiligtum zum Schutze anvertraut wird! —
Parzival, der Held! —
Ist auch Guntram Krafft ein solcher?
Da zieht es wie ein Schatten über das verklärte Antlitz des jungen Mädchens.
Ach, daß er es wäre!
Daß sie eine einzige Tat der Kühnheit, des wagemutigen Heldensinnes bei ihm schauen könnte!
Horch, wie der Wind durch die Baumkronen braust, wie spöttisches, grimmiges Gelächter! Noch wenige Schritte, und die grauen, efeuumsponnenen Mauern von Hohen-Esp tauchen vor ihr auf. —
Die steinernen Bären sehen sie mit den bemoosten Augen an, als ob auch sie lachten, und sie heben die Pranken und kehrten ihr das alte Wappenschild zu.
Gabriele hat den seltsamen Spruch schon oft gelesen, — heute deucht es ihr, als schaue sie ihn zum erstenmal.
Schirmherr der Not! —
Gibt es einen edleren Helden als einen Mann, welcher hochherzig und selbstlos sein Leben einsetzt, der Not des Nächsten zu Hilfe zu kommen? —
Die Grafen von Hohen-Esp aber haben seit vielen Jahrhunderten ihr Schwert und ihren starken Arm in den Dienst der Not gestellt.
Auch Guntram Krafft ist ein Hohen-Esp!
Gräfin Gundula schien ihre junge Gesellschafterin bereits erwartet zu haben.
Sie trat ihr in der Halle entgegen und sah sehr heiter und zufrieden aus.
»Anton sollte dem leichtsinnigen, kleinen Fräulein noch ein warmes Tuch an den Strand nachtragen!« scherzte sie, »denn eine Stadtdame, wie Baronesse Gabriele, muß sich erst an unsere frischen Brisen gewöhnen! Statt dessen kommt der Alte unverrichteter Sache zurück und meldet, daß das gnädige Fräulein mit dem Herrn Grafen hinausgerudert sei! — Das nenne ich Courage, liebe Gabriele, denn soviel ich von hier aus beurteilen kann, ist die See bewegt!«
»Und wie bewegt, Frau Gräfin! Für meine Begriffe war es Sturm!«
Gundula lacht und kehrt das junge Mädchen dem Fenster zu.
»Lassen Sie sehen, wie Ihnen diese Extravaganz bekommen ist! Nun ja ... blaß, wie eine weiße Rose! Das konnte ich mir schon denken! Ich begreife meinen Sohn nicht, daß er Sie zum erstenmal bei Wind hinausgefahren hat! Schnell trinken Sie ein Glas Wein, damit Sie wieder Farbe bekommen!«
Jähe Glut stieg in Gabrieles Wangen, sie bemühte sich, so harmlos und heiter zu plaudern, wie sonst, und empfand es doch, daß es ihr heute nicht so leicht wurde, wie zuvor.
»Ihr Herr Sohn war völlig unschuldig, gnädigste Gräfin, und nur ein Opfer seiner großen Liebenswürdigkeit, welche ich hart auf die Probe stellte.« —
»Ah — so war es Ihr Wunsch, zu fahren?« unterbrach die Herrin von Hohen-Esp und sah noch erfreuter aus, wie erst: »Hat es unser schönes Meer Ihnen nun doch angetan?« —
»Es war in seiner Erregung entschieden viel berückender, wie in seinem dolce far niente !« lachte das junge Mädchen und trat noch weiter aus dem Fensterlicht zurück in die dämmrige Halle: »Ja, es war so herrlich anzusehen, daß mich das unwiderstehliche Verlangen ankam, mich einmal mutig hinauszuwagen. Der Graf kam mir just in den Weg, und da er die Gutmütigkeit der Hohen-Esp mit dem Bärenblut geerbt, so erfüllte er stehenden Fußes meinen unbescheidenen Wunsch!«
»Er wird sich gewiß sehr gefreut haben! Man kann ihm ja nichts Lieberes antun, als Interesse für die See und alles, was ihr angehört, zu zeigen!«
»Jedenfalls verstand er es meisterlich, sich in das Unvermeidliche zu fügen!«
»Und wo blieb er? Brachten Sie ihn nicht mit zurück?«
»Nein, liebe Burgfrau —« Gabriele neigte das Köpfchen und küßte beinahe zärtlich die Hand der alten Dame, [S. 308] welche sich auf ihre Schulter legte — »er muß nun erst wieder die Unordnung beseitigen, welche mein Übermut unter seinen Segeln, Riemen usw. im Boot geschaffen! Ich glaube, der edle Renner soll erst für die Nacht in den Stall geschafft werden!«
Gundula nickte heiter. »Der Wind scheint tüchtig aufzufrischen, da werden sie zur Nacht wohl alles am Strande bergen wollen, falls eine stärkere Boe einsetzt! Wie war Ihre Fahrt? Erwiesen Sie sich seetüchtig?«
»Es schaukelte furchtbar, und ganz unter uns gesagt, Frau Gräfin, ich habe mich schrecklich gefürchtet! Wollte mich nur nicht allzusehr vor dem Grafen blamieren, sonst wäre ich sehr bald wieder ausgestiegen, als ich merkte, wie hoch die Wellen gingen!«
»Fürchten? Wenn Guntram Krafft die Ruder führt?« — Wie ruhig, wie stolz und zuversichtlich klangen diese Worte. —
Gabriele neigte das Köpfchen: »Der Graf ist gewiß sehr stark und kräftig, aber gegen Sturm und Meer aufkommen, vermag schließlich niemand, und ich glaube, Ihr Herr Sohn wußte es anfangs selber nicht, wie arg der Wind war, sonst hätte er vielleicht die Fahrt gar nicht unternommen!«
Nun lachte die Gräfin ebenso laut auf, wie zuvor Guntram Krafft, als sie von dem Sturm gesprochen.
»Ich wünschte nur, Sie erlebten bald einmal das, was wir hier ›grobe See‹ nennen!« sagte sie dann mit seltsam leuchtendem Blick. »Ich glaube, Sie kennen bisher weder einen echten, rechten Seesturm, noch das Meer, wenn es zornig wird, noch den Bären von Hohen-Esp, wenn er beiden die Zähne weist. — Was bringen Sie, Anton? — Wollen Sie Licht anstecken? Wir warten mit dem Abendbrot auf den Herrn Grafen.«
Die Sprecherin war zu dem Kredenzschrank getreten, ein kleines Spitzglas voll Tokayer für Gabriele zu füllen, der alte Kammerdiener aber verneigte sich respektvoll und nahm eilig ein Tablett, dem gnädigen Fräulein den Wein zu servieren.
»Halten zu Gnaden, Frau Gräfin. Soeben bringt einer aus dem Dorfe die Nachricht, daß der Herr Graf nicht rechtzeitig zum Abendbrot kommen könne. Man wisse nicht, was die Nacht bringe, und es seien mancherlei Vorbereitungen zu treffen. Der Herr Graf lassen die Damen bitten, allein den Tee zu trinken, da es spät bis zu seiner Rückkehr werden könne.«
»Gut, Anton; ich dachte es mir schon. Es ist zwar noch keine telegraphische Sturmwarnung an meinen Sohn eingetroffen, aber der Seemann versteht sich schon auf die Anzeichen, welche Vorsicht gebieten. So stecken Sie die Lampe an und sagen Sie der Mamsell, daß für uns angerichtet werde.«
Gabriele hatte hoch aufgeatmet bei der Nachricht, daß Guntram Krafft heute fernbleiben werde. Sie wußte es selber nicht, warum sie ein gewisses Bangen empfand, ihm heute wieder in die Augen zu schauen. Noch schlug ihr Herz zu ungestüm, wenn sie an den Augenblick dachte, wo er sie an der Brust gehalten; es war gut, wenn sie Zeit gewann, ihre törichte Verlegenheit zu überwinden.
»Arme Mike!« fuhr die Gräfin mitleidig fort, »sie bekommt gewiß einen stürmischen Hochzeitstag! Das Heulen, Sausen und Wogenbranden ist zwar für eine wackere Fischerfrau gewohnte Musik, aber es sollte mir leidsein, wenn die kleine Frau ihren jungen Ehemann alsogleich in bös Wetter hinausschicken müßte!«
»Mike?« fragte Gabriele nachdenklich, »ist das nicht das blonde, hübsche Mädel, mit welchem Sie vorgestern im Dorfe sprachen, Frau Gräfin?«
»Ganz recht, dieselbe. Sie heiratet morgen den Jugendgespielen meines Sohnes, Jöschen Grotrian mit Namen, einen wackern, prächtigen Bursch, der beste unter Guntram Kraffts Lotsen. Vorhin war Mike mit der Mutter bei mir, um uns alle noch einmal feierlichst zur Hochzeit einzuladen! Ich habe zugesagt, auch für Sie, liebe Gabriele, denn ich hoffe, Sie teilen unsere Vorurteilslosigkeit in diesem Punkte! Wir Hohen-Esper und [S. 310] unsere braven Fischer drunten gehören in Freud und Leid zusammen! Wir sind in der langen Reihe der Jahre wie eine große Familie geworden, und gemeinsame Not, Angst und Sorge und manch einstimmiges Gebet am Strande waren der Kitt, welcher unsere Herzen treu zusammengefügt hat. — Da ist es undenkbar, daß sich im Dorfe drunten jemand freuen oder betrüben könne, ohne daß wir innigen Anteil daran nehmen. Sie haben gewiß noch keine Fischerhochzeit mitgemacht, liebe Gabriele, und die sehr primitiven Verhältnisse solcher Feiern sind Ihnen unbekannt! Dennoch hoffe ich, daß Ihr gutes Herz sich in all dies Fremde und für Sie gewiß sehr wenig ›Hoffähige‹ finden wird, und daß Sie mir zuliebe nicht das Näschen rümpfen, sondern lustig und guter Dinge mit den biederen Menschen sind!« —
Der Blick der Sprecherin hatte sich wie in nachdenklichem Forschen auf das reizende Antlitz des jungen Mädchens geheftet, und als sie das freudige Aufleuchten in den großen Augen und das Lächeln um die rosigen Lippen sah, streckte sie Gabriele jählings die Hand entgegen und sagte so herzlich, wie noch nie zuvor: »Ja, ich sehe es Ihnen an, Sie werden uns gern begleiten! Sie fühlen und denken, wie wir, Gabriele, und ich danke Gott dem Herrn, daß er Sie in unser Haus geführt!«
Wieder drückte Fräulein von Sprendlingen die Lippen auf die schlanken Finger Gundulas.
»Wo könnte es mir wohler sein, als wie in Ihrer Nähe, Frau Gräfin, gleichviel, wohin Sie mich führen! So neu wie mir diese Welt auch noch ist, so lieb ist sie mir doch schon geworden! Wo wird das junge Paar getraut werden? Müssen wir alle in das Nachbardorf zur Kirche?«
»O nein!«
»Aber drunten bei uns am Strande ist keine!«
»Sahen Sie noch nicht unsere alte, kleine Kapelle im Turm drüben?«
»Eine Kapelle? Hier in der Burg?«
»Wir benutzen sie für gewöhnlich nicht, um dem Pfarrer den sehr unbequemen Weg durch den Wald zu ersparen, auch müßte er zweimal an jedem Sonntag predigen, in Karstein und hier! Darum gehen wir alle zu ihm! Bei außergewöhnlichen Gelegenheiten aber kommt er hierher, und Mikes Hochzeit ist solch ein besonderer Fall.«
»O, wie praktisch ist das! Und wie angenehm für die Hochzeitsgesellschaft!«
»Wir lassen unsern lieben, kleinen Pastor mit dem Wagen holen, die Kirche wird geschmückt ...«
»O, herrlich! Wer besorgt das?« —
»Immer der, der fragt!« neckte die Bärin von Hohen-Esp. »Die Guirlande nagelt freilich einer der Knechte über die Tür, und die Tannenbäumchen stellt wohl die Mamsell mit den Mägden um den Altar herum auf, aber wenn sich sonst noch ein paar geschickte Händchen finden wollten, den Altar selber recht schön und poetisch zu schmücken, so wäre mir das sehr lieb, denn für gewöhnlich war das meine Sorge, welche ich jetzt aber gern jüngeren Kräften überlassen möchte!«
Gabrieles Wangen leuchteten in zartem Rot. »O, wie danke ich Ihnen für diese reizende Pflicht, Frau Gräfin, und wie freue ich mich darauf, die Kapelle zu sehen!«
»Wenn die Mägde morgen früh mit Fegen und Scheuern fertig sind, soll man Sie rufen, liebe Gabriele! Sie sorgen wohl selber im Garten für die Blumen! Kaiserkronen, Narzissen und Anemonen gibt es bereits, auch noch Krokus und Fürwitzchen, — nehmen Sie alles, was Sie brauchen, die Sträuße können dann später noch auf den Hochzeitstisch gebracht werden.« —
Die Damen plauderten, und die Stunden vergingen.
Spät erst kehrte Guntram Krafft heim.
Er sprach nicht mehr in dem Wohngemach der Gräfin vor, sondern schritt sogleich nach seinem Zimmer hinauf.
Auch Frau Gundula ward müde, küßte Gabriele auf die Stirn und sagte ihr »Gute Nacht«.
Wie allabendlich begleitete sie das junge Mädchen erst nach seinem Erkerstübchen.
Ganz erschrocken wich Gabriele zurück.
»Was ist das?« fragte sie betroffen.
Die Gräfin lachte und entzündete ihr Licht an der brennenden Kerze auf dem Toilettentisch. »Das ist der Wind! — Hörten Sie ihn noch nie um alten Gemäuer sausen und heulen? Die Burg liegt ziemlich frei, da braust es in allen Tonarten von der See herüber. Ich fürchte, die Nacht wird schlimm, — aber Gottlob ist niemand von unsern Leuten draußen. Die Armen aber, welche auf hoher See mit Wind und Wogen kämpfen! Vergessen Sie nicht, ihrer im Gebet zu gedenken, Gabriele, auch das ist so Sitte auf Hohen-Esp!« —
Das junge Mädchen stand regungslos und starrte nach den spitzen, kleinen Bogenfenstern, um welche es pfiff und schrillte.
»Fürchten Sie sich, liebes Kind?« Gundula legte zärtlich den Arm um die weiche, schmiegsame Gestalt ihrer jungen Gastin: »O, nicht doch! Sie sind hier sicher wie in Abrahams Schoß, und es ist heute nur das Ungewohnte, was Sie ängstigt! Für mich gibt es kaum noch ein behaglicheres Schlummerlied, als wie dieses Windesbrausen und das ferne Donnern der See! Auch Sie werden es bald lieb gewinnen! — Wenn freilich der Wind zum Sturm und Orkan wird, dann läßt einem der Gedanke an die Schiffe, welche draußen sind, keine Ruh ... dann kommt die Sorge, ob Guntram Krafft nicht hinaus muß, Hilfe zu bringen! Aber davon ist heute keine Rede, — diesen Wind haben wir oft, sehr oft, wir achten seiner kaum noch! Falls es ihnen aber lieber ist, Gabriele, will ich die Tür nach meinem Zimmer öffnen, — Sie fühlen sich dann nicht so vereinsamt!« —
»Nein, nein, liebe Frau Gräfin, das wäre noch schöner, wenn ich ein solcher Hasenfuß sein wollte! Nun, wo ich weiß, was für Stimmen da draußen lärmen, lachen und rufen, fürchte ich mich nicht mehr vor ihnen!«
Und als sich nach herzlichem »Gute Nacht« die Gräfin zurückgezogen, trat Gabriele an das Fenster und blickte in die dunkle Nacht hinaus.
Der Wind jagte schwarze Wolkenmassen über den Himmel — die Bäume drunten bogen sich und ächzten, und die Fensterriegel klappten und greinten wie mit leisem, wehmütigem Klagelaut.
Gabriele schloß die Vorhänge und begab sich zur Ruhe.
Aber sie fand lange keinen Schlaf.
Ihr war's, als säße sie noch in dem Boot, das auf und ab geschleudert ward von tosenden Wellen.
Guntram Krafft saß ihr gegenüber und führte das Ruder — und er sah sie nicht an, sondern blickte starr geradeaus in die gähnend finstere Nacht — und sein Angesicht glich dem jungen Wulffhardt von Hohen-Esp, der ertrunken war um 1503! —
Ertrunken! —
Gabriele schauerte zusammen und preßte das Antlitz in die Kissen.
Wie kam ihr plötzlich das Verstehen für dies grausige, entsetzliche Wort! —
Ertrunken!
Sie schlingt die Hände ineinander und betet mit zuckenden Lippen für alle die, welche mit Sturm und Wogen ringen — so wie Frau Gundula es ihr geheißen, aber ihre Gedanken weilen dabei nur bei einem, und vor ihren Augen schwebt ein Bild ... Guntram Krafft, — — und auch unter diesem starrt das furchtbare Wort: »ertrunken« ...
Sie schrickt empor ... sie lauscht ...
Droben, über Frau Gundulas Gemach liegt das Zimmer des Grafen.
Er schläft nicht, sie hört ihn auf und ab schreiten ... es schallt so sehr in dem grabesstillen Haus. —
Horch ... hin und her ... hin und her ...
Ruhelos wie sie! —
Gegen Morgen hat der Wind ein klein wenig abgeflaut.
Die Sonne leuchtet am Himmel, — hinter dem Wald blitzen die weißen Wellenkämme der See auf. —
Gabriele ist frühzeitig aufgestanden.
Sie hat gestern im Wald ein wildes Birnbäumchen gesehen, das stand in voller Blüte.
Welch sinnigeren Altarschmuck könnte sie finden, als diese duftigen, schneeigen Zweige?
Als sie in den Hof tritt, hört sie noch jenseits der Zugbrücke Hufschlag verklingen. Ein Knecht steht, die Arme behaglich in die Seiten gestemmt, und schaut dem Reiter nach.
»Ist eine telegraphische Nachricht gekommen, Christian? Die erwartete Sturmwarnung von der Seewarte?«
Der Mann lacht die Fragerin mit seinen hellblauen Augen vergnüglich an.
»Nee, gnä Frölen! Dat wi nähstens doch 'n ollen düchtigen Bö kreegen, dat weiten wi ganz alleen!«
»Wer ritt soeben fort?«
»Dat wier nur uns' junge Graf! He fall woll up'n Feldern nach'n Rechten kieken!«
»Auf den Feldern!«
»Wie hei seggt! — Du leiwe Tid! Wat het de Graf nich allens to bedenken! Keen Ruh' nich bi Tag un Nacht. Un hätt dat doch so goar nich nötig! Aber dat rackert sich af! Keen Dagelöhner duht sich so schinn'n as uns' leibe Jong! Um Glock fif rett hei weg, jeßt däht hei Frühstück eten, un nu heidi wedder up't Pierd!«
Tief in Gedanken verloren schritt Gabriele weiter.
Also drum war er so selten am Morgen zu sehen, darum kehrte er neulich so staubig und erhitzt zurück und hatte soviel Eiliges mit seiner Mutter zu verhandeln! Daß er nachts mit seinen Fischern ausfuhr, die Netze zu werfen, daß er am Tage oft segelte und ruderte und anstrengende Übungen mit seinen freiwilligen Lotsen machte, das war nur Erholung, nur Vergnügen nach der Arbeit!
Und diesen Mann hatte sie oft einen Bärenhäuter genannt, ihn als müßigen Tagedieb bespöttelt und verachtet?
Wieder schießt Gabriele das Blut heiß in die Wangen.
Wie traurig ist es doch, wenn ein Mädchen so gar keinen Begriff von Landarbeit und Seewesen hat. Was für falsche, irrige Ansichten bildet man sich in der Stadt davon, wie bitter unrecht tut man oft den Fleißigsten und Verdienstvollsten!
Gabriele ist es plötzlich zu Sinn, als habe sie ein schweres Unrecht an Guntram Krafft gutzumachen.
Nicht nur der Mann, welcher mit der Waffe in der Hand zu Felde zieht, für Kaiser und Reich zu kämpfen, erwirbt sich Verdienste um sein Vaterland, sondern auch der, welcher in stillem Fleiß seinen Grund und Boden kultiviert, für seine Arbeiter sorgt wie ein Vater, welcher gute Gesinnungen und edlen Patriotismus unter ihnen pflegt, welcher in treuer Selbstlosigkeit an der Küste Wacht hält, ein »Schirmvogt der Not« zu sein! —
Mit bebenden Händen pflückt Gabriele die blühenden Zweige im Wald.
Ein Flockenregen rieselt auf sie nieder und streut bräutlich-weiße Blättchen in ihr lockiges Haar, — in ihrem Herzen aber wächst aus kleinem Funken eine helle Flamme empor, noch flackernd und unsicher, aber dennoch stark genug, daß sie kein Aschenregen wieder ersticken kann.
Und diese Flamme brennt so vieles zu Tode, was ehemals in diesem Herzen als falsche Götzen gethront, — sie macht es so hell, wo es früher dunkel war, sie läßt es so warm, ach so warm werden, wo früher Schnee und Eis gestarrt ...
Die Arme und das hochgeraffte Kleid voll duftiger Blütenzweige geladen, kehrt Gabriele heim, und von der niedern, rund gewölbten Turmtür, welche zu der Kapelle führt, tönt das helle Gelächter und der Gesang der Mägde.
Sie sind noch fleißig bei der Arbeit, und die Mamsell tritt Gabriele entgegen und bittet: »Wollen das gnädige Fräulein nicht noch ein halbes Stündchen warten! Dann ist die Kapelle sauber wie ein Schmuckkästchen, und Baronesse haben einen so viel schöneren Eindruck davon!«
»Es ist aber schon recht spät geworden, liebe Mamsell, und die Hochzeit soll sehr präzise stattfinden! — Man heiratet hier schon zu recht früher Stunde!« —
»Ja, du liebe Zeit, gnädiges Fräulein, so verliebte Leutchen haben es immer eilig, und Mike und Jöschen vollends! Ist das ein Glück! Man braucht die beiden nur anzusehen, um zu wissen, wie gut sie einander sind! — Aber vielleicht machen das gnädige Fräulein erst Toilette? So ein bißchen was Weißes oder Rosiges gehört sich doch für den heutigen Tag!... Und die Zweige stellen wir derweil noch in Wasser! Je kürzere Zeit sie auf dem Altar liegen, desto frischer sehen sie aus!«
»Sie haben recht, Mamsell, das ist ein guter Gedanke! So will ich mir denn ein hochzeitlich Gewand anziehen und bin in einer halben Stunde wieder hier!« —
Da der Wind ganz plötzlich wieder bedeutend aufgefrischt hatte und merklich kühl durch die blühende Frühlingspracht brauste, hatte Gabriele ein wollenes Kleid zu ihrem Anzug gewählt, welches nun in zart weißen Crêpefalten an ihrer schlanken Gestalt herniederfloß.
Es war noch eins ihrer »Fünfuhr-Tee«-Kleider, welche sie ehemals in der Residenz getragen, schick und elegant gearbeitet und doch einfach und anspruchslos wirkend, einzig geschmückt durch ein duftiges Spitzengeriesel, welches über die Brust fiel und den Saum des Rockes wie kräuselnden Wellengischt zierte. Die weiße Perlenschnur, welche sie damals auf dem Hofball getragen, glänzte auch jetzt auf ihrem graziösen Nacken, und in dem Gürtel duftete ein kleiner Strauß weißer Narzissen.
Hastig schritt sie über den Hof nach der Kapelle, und die Mamsell trat ihr entgegen, faltete behaglich die fetten Hände über dem Magen und betrachtete das junge Mädchen mit unverhohlenem Entzücken.
»Das lasse ich mir gefallen, Baronesse!« nickte sie wohlgefällig. »Wenn jetzt ein Fremder hier einschaute, der gehört hätte: ›Auf der Burg gibt's eine Trauung‹, dann würde er Stein und Bein darauf schwören, daß das gnädige Fräulein selber die Braut sei, auf welche die Gespielinnen mit dem Kränzchen und Schleier warten! — Na, ich denke, den Tag erleben wir auch noch, und dann will ich aber den Backofen für den Hochzeitskuchen heizen, daß die Flammen oben zum Schornstein hinausschlagen!«
»Ja, nicht, Mamsell! Dann brennt der schöne Kuchen am Ende an!« lachte Gabriele, aber sie fühlte es doch, wie ihr das Blut unter dem schelmisch zwinkernden Blick [S. 318] der Alten in die Wangen schoß. »Der Mike steht das Heiraten besser an als mir, darum wollen wir ihr recht viele Blumen auf den Weg streuen!«
»Erst ihr, dann Ihnen, gnädiges Fräulein! Die Blütenzweige stehen in dem Wasserkübel neben dem Altar!«
Noch ein neckendes Nicken und Grüßen, und die Mamsell faßte Besen und Staubtuch und schritt über den Hof zurück, Gabriele aber trat in die Kapelle ein, welche leer und still im Schimmer der bunten, kleinen Glasfenster vor ihr lag.
Voll andächtigen Entzückens schaute Gabriele um sich.
Rechts und links die wenigen Reihen der dunkelgebräunten, hochgeschnitzten Kirchenstühle, geradeaus der erhöhte Altar in seinem verblichenen lila Samtschmuck, auf welchem die Silberstickerei längst schwarz geworden war. Hocharmige Silberleuchter, ein elfenbeingeschnitztes Kruzifix, an welchem noch die Rosenkränze der gräflichen Beter aus der katholischen Zeit hingen.
Rechts und links von dem Altar die Familienbilder frommer Hohen-Esp, hohe, steiflinige Gestalten in schwarzen Nonnengewändern und weißen Kopftüchern, mit betend zusammengelegten, wachsgelben Händen und starren, hohläugigen Gesichtern.
Direkt hinter dem Altar ein kaum noch erkenntliches Gemälde: »Die Auferstehung des Herrn.« —
An dem offenen Grab kniet anscheinend der Stifter des Bildes, ein Graf von Hohen-Esp, mit seiner Familie; die Burgfrau gleicht in der Tracht und Aussehen der Katharina von Bora, und ähnlich wie Luthers Kinder sind auch ihre acht kleinen Grafen und Gräfinnen gekleidet. — Der Vater trägt ritterliche Rüste, der älteste Sohn ein kleines Schiff in der Hand. Alle heben voll inniger Anbetung die Blicke zu dem segnenden Heiland.
Zur Rechten erhebt sich die alte Burg Hohen-Esp, wie sie damals wohl ausgeschaut, im Hintergrund wogt ein grellblaues, zackenwelliges Meer, aus welchem drei geisterhafte Gestalten emporschweben. Offenbarung Joh. 20. 13. —
Seitlich von dem Altarbild sind Gedenktafeln, zwei halb vermoderte Kirchenfahnen, Fischernetze und ein zerbrochenes Ruder aufgestellt.
Ein welker, fast zerfallener Totenkranz mit Trauerflor ist um das Ruder gewunden.
Gabriele schaudert zusammen.
Dieses Ruder war wohl das einzige, was von dem Boot eines ertrunkenen Hohen-Esp an das Land zurückgespült wurde. —
Ihr Blick irrte weiter, über die mächtigen Bärenwappen, über die steinernen Grabplatten, welche die Familiengruft schließen und steife, liegende Rittergestalten zeigen, hinauf zu der niederen, gewölbten Decke, von welcher an rostigen Ketten eine ganze Anzahl von kleinen Schiffen herabhängen.
Fromme Stiftungen der Fischer aus dem Dorfe drunten.
Grob und plump geschnitzte Segelschiffe, in Form und Bau ihr hohes Alter zeigend, kleine Boote und schwerfällige Kuffs, allerliebst und kunstvoll getakelte, kleine Dreimaster, an welchen fleißige Hände wohl ein Menschenalter gearbeitet haben.
»Modell der ›Anne Marie Karsten‹, Kapitän Jochen Ulrich Grot« — gestrandet bei Kap Horn im Jahre des Herrn 1760. — »Dein Wille geschehe.« — — steht auf schwarzer kleiner Tafel an dem einen.
Leiser Schritt erklingt auf den Steinfließen, und Gabriele schrickt aus tiefen Gedanken empor und blickt sich um.
Ein schmächtiges, altes Männchen steht hinter ihr und dreht respektvoll den schäbigen Filzhut in der Hand.
»Ach, verzeihen die gnädige Herrschaft« — flüstert er mit devotem Kratzfuß, die lichte Gestalt der jungen Dame wie eine Vision anstarrend — »ich bin der Küster aus Karstein und soll bei der Trauung das Harmonium spielen! Die Frau Gräfin schickte mich, daß ich die Lieder erst einmal durchspiele!«
»O, das ist ja schön, Herr Küster!« nickte ihm Gabriele mit herzgewinnendem Lächeln zu, »da habe ich den Genuß schöner Musik während meiner Beschäftigung!«
Der kleine Mann dienert sehr geschmeichelt und klettert die schmale Holzwendeltreppe zu der Empore hinauf, Gabriele aber tritt an den Altar, nimmt sinnend die weißen Blütenzweige und schmückt die teuern Heiligtümer.
Wie wundersam leuchten die frischen Blumenkelche auf dem uralten, verschossenen Samt, wie grell der Kontrast zwischen Tod und Leben, zwischen dem sonnigen, bräutlichen Jetzt und dem grabstillen, grauen Ehemals! —
Ein Sonnenstrahl bricht durch das bunte Fenster und malt goldige Lichter um die schlanke Mädchengestalt, welche mit graziös erhobenen Händen die Blüten um das Kruzifix schlingt, welche die zarten Zweige durch die Arme der Leuchter flicht, — dann niederkniet vor der Altardecke und auch an ihr empor den holden Schmuck ranken läßt, sinnig und schön, so festlich, wie wohl dieser Tisch des Herrn seit langen Jahren nicht mehr ausgeschaut hat. —
Und während sie, selber wie ein bräutliches, junges Weib anzuschauen, ihres lieblichen Amtes waltet, ertönen über ihr die jubelnden Klänge: »Lobe den Herrn meine Seele und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat!«
Immer voller und duftiger gestaltete sich der Altarschmuck unter Gabrieles Händen, sie streut auch noch die weißen Blüten über die Grabsteine, sie nestelt die duftigen Narzissen in die grünen Tannenzweige, welche das Geländer um den Altar verhüllten ... und dann steht sie plötzlich wieder schweratmend still und starrt auf das zerbrochene Ruder unter dem verstaubten Trauerschleier.
Einen Schritt tritt sie näher ... noch einen und noch einen ... bis sie davor steht und ihre Hände wie in scheuer, banger Innigkeit über das wurmstichige Holz gleiten.
Jetzt fällt ihr Blick auch auf ein kleines Pastellbildchen, welches an dem Pfeiler, kaum sichtbar von der Kirche aus, aufgehängt ist.
Eine schlechte Kopie jenes Gemäldes aus dem Ahnensaal [S. 321] droben. — Wulffhardt von Hohen-Esp; ertrunken um 1503. —
Armer, armer Jüngling!
Die jubelnden Orgelklänge sind leise und ernst geworden, sie hallen und klingen wie Seufzer der Wehmut durch die Kapelle, wie eine leise Engelsstimme, welche um die Toten klagt.
Gabriele weiß nicht, warum sie es tut, aber sie schlingt die schneeigen Blütenzweige zum Kranz und schmückt das Bild des Wulffhardt von Hohen-Esp — und seine Augen schauen so lebendig drein ... sein Blick senkt sich in den ihren, und seine Lippen lächeln unter dem bräutlichen Schmuck ...
Wie gleicht er Guntram Krafft! —
Wird auch sein Bild einst hier hängen, wird auch unter ihm das grausige Wort »ertrunken« stehen ... wird ...
Gabriele macht eine jähe Bewegung und preßt schweratmend die Hand gegen das Herz — und als sie sich hastig zurückwendet, ringt sich ein leiser Schreckenslaut von ihren Lippen.
Dort an dem Kirchenstuhl steht Guntram Krafft, mit gekreuzten Armen, still und regungslos, und starrt sie aus weitoffenen Augen an.
Blick ruht in Blick ..., und die Orgelklänge flüstern, schwellen wieder an und klingen so voll und feierlich, als trügen sie schon jetzt das Dankgebet vereinter Herzen zum Himmel.
Der Graf macht eine Bewegung, als wolle er sich mit beiden Händen schwer auf die Lehne des Kirchenstuhles stützen, dann schreitet er langsam näher, tritt neben sie und schaut auf das geschmückte Bild Wulffhardts nieder.
»Warum taten Sie das?« fragt er mit leiser, fremder Stimme.
Gabriele sieht nicht auf zu ihm, sie wendet sich und ordnet mit bebenden Händen unter den Blüten auf dem Altar, welche bereits so wohlgeordnet liegen.
»Das Herz tut mir weh, wenn ich daran denke, wie früh er sterben mußte!«
»Ja, er starb früh, — an der Schwelle des Lebens. Er kannte weder Glück noch Liebe — und doch wäre er wohl auch so gern glücklich gewesen!«
Auch glücklich gewesen! —
Klang das nicht wie ein geheimer, leidenschaftlicher Seufzer der Sehnsucht?
Gabriele antwortet nicht, sie neigt das Haupt nur tiefer.
»Ich danke Ihnen in dem Namen jenes Armen, Einsamen —«, fährt der Graf sehr ruhig fort, »dessen Sie so barmherzig gedachten. Mir ist's, als müßte er jetzt ruhiger in der Gruft drunten schlafen, als müßte er nun versöhnter mit seinem inhaltlosen Leben sein.«
»Ein inhaltloses Leben, wenn ein Mann dieses Leben dahingab für die Brüder?«
»Er tat seine Pflicht!«
»Er tat mehr denn sie!«
Ein beinahe düsterer Blick brach aus Guntram Kraffts Augen.
»Wohl doch nicht in Ihrem Sinne, Fräulein Gabriele; er zog weder in den Krieg, noch konnte er große Taten für sein Vaterland tun! Der liebe Herrgott im Himmel, welcher auch das geringste Streben nach treuer Rechtlichkeit in seinem Dienst anerkennt, war wohl zufrieden mit ihm, die Welt aber hat den einsamen Mann auf Hohen-Esp kaum gekannt, noch anerkannt! Sein Name ist in keinem Heldenbuch verzeichnet, sein Andenken wird weder durch Wort noch Lied geehrt, — jene Stelle, wo die tosende Flut einen Jüngling verschlang, welcher einem gefährdeten Schiff Rettung bringen wollte, ist durch keine Spur gezeichnet, die Wogen rollen darüber hin und der Wind verweht die Kunde. — Das Schicksal der Hohen-Esp! Mit weißen Totenblumen schmückt eine mitleidige Mädchenhand nach Jahrhunderten wohl noch unser Bild und Grab, — mit Lorbeerzweigen nicht.« —
Er brach kurz ab und trat zurück.
»Der Hochzeitszug scheint zu nahen, Sie gestatten, daß ich meinen wackeren jungen Freund im Burghof begrüße!« —
Gabriele stand regungslos und schaute starren Blicks aus das Bild, — war es nur Einbildung, oder sahen die lachenden Augen Wulffhardts plötzlich ernst, beinahe wehmütig unter dem weißen Blütenschmuck auf sie nieder?
... nicht mit Lorbeerzweigen ... nicht mit dem Ehrenkranz, welcher dem Helden geziemt!
Es lag etwas seltsam Herbes in der Stimme des Grafen, als er das gesagt, etwas Vorwurfsvolles, was sie nicht verstand.
Hatte sie vielleicht damals auf dem Hofball nur den Mann einen Helden genannt, welcher auf dem Schlachtfeld sein Leben für Reich und Kaiser läßt?
Wohl möglich; — so war es ja ehedem auch ihre Ansicht.
Und jetzt?
Nachdenklich streicht sie die krausen Löckchen aus der Stirn; jetzt ist es ihr wie eine Ahnung gekommen, als ob ein Mann, welcher sich kühn in Sturm und hohe Flut hinaus wagt, auch ein Held sein könne! —
Zur Überzeugung ist es ihr freilich noch nicht geworden, sie hat von Guntram Kraffts mutigen Taten gehört, ohne sich eine rechte Vorstellung davon machen zu können, ohne sie mit eigenen Augen geschaut zu haben.
Ach, daß sie es einmal, nur einmal tun könnte!
Wie eine heiße, leidenschaftliche Sehnsucht überkommt es sie, gerade von ihm, von Guntram Krafft überzeugt zu werden, daß sie ihm ehemals in der Residenz bitteres Unrecht getan!
Seine Persönlichkeit ist ihr so gänzlich verändert hier in Hohen-Esp entgegengetreten, ein Zug wundersamer Romantik verklärt sie, — der Bär von Hohen-Esp, der Schirmvogt der Notleidenden hat ihr Interesse aufs lebhafteste geweckt, eine einzige kühne, mutige Tat, so wie sie für diese reckenhafte und poesievolle Seemannsgestalt [S. 324] paßt — und das Interesse wird lodernde Leidenschaft, und die Leidenschaft wird Liebe, — Liebe, welche getreu ist bis in den Tod! —
Wehe ihr, wenn es geschähe!
Ehedem lachte ihr das Auge Guntram Kraffts voll ehrlichen Entzückens entgegen, jetzt blickt er ernst und gleichgültig über sie hinweg.
Warum das? —
Weil der Bär von Hohen-Esp zu stolz ist, um ein Weib zu werben, welches ehemals seine Annäherung so schroff und beleidigend zurückgewiesen hat, wie sie. —
Gabriele senkt das Köpfchen tief, tief zur Brust, schlingt die Hände ineinander und schreitet langsam die Stufen des Altars hinab, der Gräfin entgegen, welche die Kapelle betreten hat, den Brautzug in ihrem hohen Kirchenstuhl seitlich des Traualtars zu erwarten.
Gundula nimmt die kalte, bebende Hand des jungen Mädchens in die ihre, streift mit einem warmen Blick inniger Bewunderung die liebreizende Erscheinung ihrer jungen Gastin und tritt mit ihr nach dem erhöhten Sitz, — die Orgelklänge ertönen, und mit dem golden durch die Tür hereinflutenden Sonnenlicht erscheint das Brautpaar in der Kapelle.
Guntram Krafft führt es zum Altar.
Mike schreitet zwischen ihm und dem Geliebten, eine blühende, kraftvoll schöne Braut. Sie tragt das goldblonde Haar schlicht gescheitelt und in Zöpfen herabhängend, ein dicker grüner Myrtenkranz legt sich um den ganzen Kopf und endet in einer rosa Schleife, welche lang über den Rücken herabflattert.
Eine dunkelgrüne Tuchjacke, mit Ärmeln, welche oben sehr weit, unten sehr eng sind, ein buntes, mit breiten Fransen besetztes Halstuch, ein schwarzer Warprock, welchen eine mächtig breite, geblümte Schürze beinahe verhüllt, bilden den Staat der Braut, welche ihr Gesangbuch gegen das Herz preßt und mit niedergeschlagenen Augen und hochroten Wangen daherschreitet, wie die Verkörperung eines echten, rechten Glückes!
Und Jöschen an ihrer Seite sieht nicht minder strahlend aus, wenngleich sein frisches Gesicht mit den hellblauen, lustigen Augen und dem weißblonden Flaum auf der Oberlippe recht verlegen ob all der Ehre, welche ihm geschieht, dreinschaut.
Sein dunkler, großer Filzhut ist mit rotem Band und Blumenstrauß geschmückt, ein ebensolcher ziert die offenstehende Fischerjoppe, unter welcher eine schwarze Manchesterweste mit rotem und grünem Sternchenmuster sichtbar wird.
Der Hemdkragen fällt blendenweiß über und wird von einem sehr grellfarbigen Schlips geschlossen.
Da Jöschen sich just nagelneue, hohe Wasserstiefeln hat machen lassen, trägt er sie selbstredend an seinem Ehrentag und stampft so kräftig durch die Kapelle, daß es auf den Steinplatten hallt.
Dem Brautpaar folgt die Schar der Gäste, Fischer und Fischerfrauen, wohl die gesamten Einwohner des kleinen Dörfchens.
Alle ernst und feierlich, in ehrwürdig, altväterischem Staat, einem Gemisch von bäurischer Tracht und einem ersten Anfang städtischer Kleidung, wenngleich das bäurische in diesem weltfernen Dörfchen bei weitem überwiegt.
Kinder mit Blütenzweigen oder bunten Sträußchen in der Hand, drängen sich scheu an die Mütter, — alte, wetterharte Seeleute mit dem Priemchen zwischen Zahn und Backe und dem Tonpfeifchen in der Rocktasche, folgen langsam im Zug, und dann schließt sich das Gesinde von Hohen-Esp an, alle so strahlend heiter und festfreudig gestimmt, als gehe Mike und Jöschens Glück sie alle an, als sei diese Hochzeit ihr aller Ehrentag, von welchem ein warmer Sonnenstrahl in jedermanns Herz fällt. —
Zuerst wurde gesungen, sehr lange und viel gesungen, wie es die Sitte verlangte, und Guntram Kraffts Stimme klang fest und laut hervor, ebenso wie Gundulas weicher Alt und die helle, schmetternde Stimme der noch sehr stattlichen Brautmutter.
Gabriele hatte gesehen, daß der Graf ihr just an der andern Seite von dem jungen Paar gegenüberstand, sie fühlte auch, daß sein Blick beinahe unverwandt auf ihr ruhte, aber sie schaute nicht auf, sie sang leise, kaum vernehmlich die Worte des Chorals mit, nur ihre Lippen regten sich.
Der Pastor trat vor den Altar, sprach in schlichter, sinniger Weise viel schöne und herzbewegende Worte, und wandte sich ganz besonders an Mike, sie auf die schweren Pflichten der Seemannsfrau aufmerksam machend. Wie treu, wie selbstlos, wie aufopfernd muß das brave Weib eines Fischers sein, wie wenig an sich selbst und das eigene Glück denken, wie tapfer und mutig den Herzliebsten in Sturm und Gefahr hinausschicken, wenn es gilt, fremder Not und gefährdeten Menschenleben zu Hilfe zu kommen! Gerade in solchen Stunden höchster Angst und Gefahr müßte sich die wahre Liebe eines treuen Weibes bewähren, nicht durch stumpfes »Dreinergeben«, nicht allein durch Handreichungen und kräftige Hilfe, sondern vor allen Dingen durch Gebet und Fürbitte, welche den Geliebten auf seiner schweren Fahrt durch Sturm und Wogen begleiten.
Da ist kein besseres Steuer, als die inbrünstige Bitte zu Gott dem Herrn, da ist kein sicheres Segel, als das Flehen eines liebenden Herzens zum Himmel! Solch ein Steuer bricht nicht, solch ein Segel reißt nicht! — Die Hände, welche ein treues Weib im Gebet zu dem Herrn der Welten erhebt, sind der Talisman, welcher den Seefahrer auch in höchster Not beschirmt, sie sind der Felsen, an welchem die verderbenden Wogen zerschellen und des Sturmes Macht sich bricht. »Darum leget eure Lebensschifflein an den einzigen Anker, welcher noch nie versagt und im Stich gelassen hat, den Anker fester und freudiger Zuversicht auf Gottes Gnade, den Anker treuen Glaubens an seine Barmherzigkeit, den Anker frommer Ergebung in seinen Willen ... wenn derselbe uns auch andere Wege führt, als wie wir gehen wollen!«
Mike blickte dem Pastor mit ihren großen, treuherzigen Augen aufmerksam in das gütige Antlitz, und sie nickte ihm zustimmend und so recht von Herzen überzeugt zu, und Jöschen machte auch hier und da eine unwillkürliche Bewegung, als wolle er versichern: »Jawoll, Herr Pastur, dat wollen wi allens so maken!«
Und dann knieten sie nieder und wurden gesegnet, und der Prediger nahm die Ringe und steckte sie ihnen an.
Da raschelte es leise an dem Steinpfeiler. Ein Blütenzweig löste sich von Wulffhardts Bild und fiel nieder auf das morsche Ruder.
Niemand bemerkte es, nur Guntram Krafft und Gabriele schauten auf — und ihr Blick traf sich plötzlich, — sie sahen einander in die Augen. Da zog eine heiße Purpurglut über die Wangen des jungen Mädchens; sie blickte verwirrt zu Boden und neigte das Köpfchen noch tiefer wie zuvor.
In der kleinen Dorfschänke, welche über den einzigen Raum verfügte, in welchem ein bescheidenes Fest abgehalten werden konnte, hatte der Graf von Hohen-Esp den Hochzeitsschmaus für seinen Jugendgespielen herrichten lassen.
Hier in dem niedrigen, verräucherten Saal, an dessen Deckbalken das Haupt des hochgewachsenen Bären beinahe anstieß, feierten die Fischer »Kaisers Geburtstag«, »Sedan«, Hochzeiten und Kindtaufen, hier saßen sie Sonntags und rauchten ihre Pfeifen beim Glase Bier, hier versammelten sie sich, wenn es Außergewöhnliches zu besprechen gab, oder wenn ein Sohn, Vetter, Bruder oder Onkel nach langer Seefahrt heimkehrte und von viel schweren oder glücklichen Fahrten zu erzählen hatte.
Als einziger Schmuck hing das Bild eines lang verstorbenen Landesfürsten, sowie das Kaiser Wilhelms des Großen an der Wand, darum her vergilbte Stiche und gewöhnliche Kreidezeichnungen von Schiffen, mit welchen Dorfbewohner als Matrosen oder Kapitäne gefahren, [S. 328] und über der Tür, ganz nach gutem alten Brauch, der fliegende Holländer mit käseweißem Gesicht, schwarzem Bart und großem Fischerhut, welcher starren Auges auf den Beschauer herabsieht, und unter welchem der Spruch steht —: »Gott gnade dem Mann auf stürmischem Meer — geht ihm der flyende Dutschman die Quer!«
Auf den wurmstichigen, uralten Schränken liegen große Korallen und fremdartige Muscheln, steht eine chinesische Vase, der der eine Henkel fehlt, und ein paar grellbunte, furchtbar fratzenhafte Götzenbilder, vor welchen sich die Kleinen im Dorf über die Maßen »grugeln«! —
In großen Glashäfen sind seltene Fische aus dem Südmeer, Schildkröten und Seeteufel in Spiritus aufbewahrt, eine kleine, sehr giftige Herrgottsschlange befindet sich auch in einer Flasche, und von ihr herüber bis zu der Vase ziehen sich Schnüre von getrockneten Seesternen und fremdartigen Tangs, welche irgendein Angehöriger des Schankwirts aus fernen Zonen heimgebracht.
Ehemals lebte der schöne große Papagei und ergötzte die Gäste durch sein erstaunliches Geschwätz, jetzt ist er ausgestopft und sitzt recht verstaubt und struppig auf einem Baumast an der Ofenwand.
Heute ist eine lange, lange Tafel inmitten des Saales aufgestellt, mit groben weißen Tüchern belegt und durch Tannengrün und Blumensträuße ganz besonders feierlich geschmückt.
Teller von jeder Art und Sorte sind aufgestellt, Napfkuchen duften schon jetzt sehr locker und festlich von des Tisches Mitte, und seitwärts lagert ein großes Faß Bier, auf welches mit Kreide »Vivat« geschrieben ist, und von den eben ankommenden Fischern mit schmunzelndem Entzücken zuerst besichtigt wird.
Das junge Ehepaar und die Hochzeitsgäste nahen, fürerst noch so schweigsam und ernst, wie es in der Art dieser wortkargen Menschen liegt, welche es mehr gewohnt sind, den schweren, sorgenvollen Kampf um das Dasein zu führen, als heitere Feste zu feiern.
Der Wind, welcher mehr und mehr auffrischt und manch altem, wettererfahrenen Schiffer ein bedenkliches Kopfschütteln und »Hm-Hm!« abgenötigt hat, spielte in den rosa Kranzbändern der jungen Frau und färbte ihre Wangen noch röter, und wenn auch Mike mit festem Händedruck ringsum die schwieligen Hände faßt, und Jöschen manch lieben Freund innig auf den Rücken klopft, so herrscht dennoch fürerst noch die feierliche, erwartungsvolle Stille, welche dem Nahen des Pastors und der gräflichen Herrschaft vorauszugehen pflegt. —
Über die hohe Düne, welche das Fischerdorf von der See trennt, stieg Gräfin Gundula an der Seite des alten Pfarrherrn, gefolgt von Gabriele und Guntram Krafft.
Der Pastor hatte den lebhaften Wunsch ausgesprochen, das Meer bei dem immer stärker werdenden Wind in seiner wogenden Schönheit zu sehen, und darum hatte man den kleinen Umweg gemacht und nahte dem Dorf nicht von dem Burgberg, sondern vom Strande aus.
Die Gräfin sprach sehr lebhaft und angeregt, und Gabriele, welche ebenso schweigsam wie der Bär von Hohen-Esp an dessen Seite schritt, gedachte der Worte des Predigers, welche dieser kurz zuvor zu Guntram Krafft gesprochen. »Welch eine auffallende und sehr erfreuliche Veränderung ist mit Ihrer Frau Mutter vor sich gegangen! So heiter und lebhaft habe ich die Gräfin seit langen, langen Jahren nicht gesehen! Mir deucht, der finstere Ernst, die tiefe Schwermut sind erst jetzt von ihr gewichen, und dafür sei Gott gelobt!« — Er hatte dann Gabriele herzlich beide Hände entgegengestreckt, und fuhr fort: »Das haben wir ganz entschieden Ihrem so günstigen Einfluß zu verdanken, mein gnädiges Fräulein! Sie haben den Sonnenschein wieder in das Haus der so tief gebeugten Frau getragen!«
Der Blick des Grafen hatte sie abermals getroffen, als er sich stumm und höflich, wie in schweigender Zustimmung vor ihr verbeugte, und es hatte warm aufgeleuchtet in den ernsten, traurigen Augen.
Ein paar gleichgültige Worte hatten sie später auf dem Weg zum Strande gewechselt, und als sie über die waldige Höhe schritten und zuerst den Blick auf das Meer genossen, war Gabriele unwillkürlich stehengeblieben [S. 331] und hatte mit leisem Ausruf des Entzückens auf die weißschäumende, hochgehende See hinausgeblickt.
»Nicht wahr, so gefällt sie selbst Ihnen?« hatte der Graf gelächelt, und das junge Mädchen nickte mit seltsam leuchtendem Blick und wiederholte: »Selbst mir!«
Dann brauste der Sturm daher und riß die weißen Narzissen aus ihrem Gürtel und verstreute sie durch das Riedgras, und während Gabriele mit beiden Händen den Hut festhielt, eilte Guntram Krafft den Blumen nach und sammelte sie.
Sein Blick überflog ihre schlanke, schneeweiße Gestalt, um welche die weichen Kleiderfalten in graziösem Spiele flatterten, und er behielt den Strauß in der Hand und sagte: »Ich werde die Narzissen bis zu dem Dorfe tragen, Sie haben jetzt genug zu tun, Hut und Kleid zu halten!«
Und er trug sie, bis sie abermals in den Schutz der Dünen gelangten und das Wirtshaus »Zur blauen Woge« vor ihren Blicken lag.
Da reichte er die Blüten zurück.
»Wir alle haben uns festlich geschmückt, Graf, nur Sie allein tragen kein einziges Abzeichen, welches auf die frohe Bedeutung dieses Tages schließen läßt!«
Um seine Lippen zuckte ein resigniertes Lächeln.
»Ich selber vergaß es, und andere dachten nicht an mich!«
Da wählte sie die schönsten Blumen aus ihrem Strauß und bemühte sich, sehr unbefangen zu lachen: »Welch eine grobe Unterlassungssünde! Erlauben Sie, Graf, daß ich das Versäumte nachhole und Ihr Knopfloch schmücke!«
Er nahm die Blumen und befestigte sie an der Brust.
»Wie freundlich Sie sich heute der Hohen-Esp annehmen!« sagte er sehr ruhig. »Den Ahnherrn Wulffhardt und mich bedenken Sie in gütiger Weise mit solch lieblichem Schmuck.«
Alles Blut stieg ihr in die Wangen, — vor ihren Ohren schwirrten plötzlich wieder die Worte —: »Mit weißen Totenblumen ... doch nicht mit einem Lorbeerkranz ...«
Sie schüttelte den Kopf und sagte leise: »Ich verfüge ja über keinen besseren Schmuck, Graf!«
»Und weder Wulffhardt noch ich werden je einen besseren tragen!«
Das Gespräch ward unterbrochen, aus dem Saal des Wirtshauses erschallten die lustigen Weisen der Harmonika, und das junge Ehepaar trat den vornehmen Gästen entgegen, sie mit herzlichem Händedruck zu begrüßen und zum Hochzeitstisch zu geleiten.
Gräfin Gundula saß zwischen dem jungen Ehegatten und dem Pastor, — Guntram Krafft an der Seite des bräutlichen Weibes, zu seiner Rechten war Gabriele der Platz angewiesen. Auf der Ofenbank saßen die beiden Harmonikaspieler und sorgten durch lauter schöne Seemannslieder und lustige Stücklein für Unterhaltung, dieweil es bei Tisch selber sehr ruhig zuging.
»Unsere Anwesenheit scheint die Leute in ihrer Fröhlichkeit zu stören!« flüsterte Gabriele zu dem Grafen auf.
Dieser lächelte: »O, durchaus nicht! Es würde eine Nichtachtung gegen die vergötterte Weinsuppe und den obligaten Schweinebraten sein, wollte man während dieser Genüsse viel sprechen! Das ist nicht Sitte hier, und die ›Stimmung‹ kommt zumeist erst mit dem Tanz. Dann werden Sie sehen, daß wir unsere Getreuen nicht stören. Ich bin überzeugt, daß wir hier von allen noch sehr viel mehr geliebt wie respektiert werden!«
Und so war es auch.
Als das, nach Ansicht der so wenig verwöhnten Leute, glänzende Hochzeitsmahl beendet war, als die Tische beiseite gerückt wurden und der Kaffeeduft so lieblich durch den Saal zog, daß allen Frauen das Herz im Leibe lachte, da schallten die Stimmen lauter und lauter durcheinander, da wagten sich die ersten verstohlenen Jauchzer hervor, und als die Harmonikas mit schallendem Ton den »Großvatertanz« anhuben, da umfaßte Jöschen seine strahlende junge Frau und begann sich mit ihr sehr langsam und würdevoll im Kreise zu drehen.
Aller Augen schauten auf den Grafen, ob er nicht [S. 333] mit dem wunderschönen jungen Fräulein solchem Beispiel folgen werde, aber der stand und sprach so eifrig mit ein paar alten Fischern, daß er gar nicht an den Tanz zu denken schien.
Da wagte sich denn der Vater der Braut herzu, machte seinen Kratzfuß vor Gabriele und tanzte mit ihr, schwer und wuchtig, als gelte es, eine holländische Kuff bei konträrem Wind zu lavieren, — und als er zum Schluß die junge Dame mit freundlichem Lob auf den Arm gepatscht, stand schon ein junger Lotse bereit und sah sie treuherzig bittend an.
Gabriele nickte ihm lachend zu und tanzte weiter, und ihre schlanke weiße Gestalt tauchte wie ein Traum zwischen dem derben Schiffervolk auf, so daß der Pastor ganz begeistert zu Guntram Krafft trat und sagte: »Wissen Sie, Graf, was mir soeben bei dem Anblick des wunderholden Fräulein von Sprendlingen einfiel? Ein Gedicht von Heinrich Heine: ›Wohl unter der Linde, da tönt die Musik, da tanzen die Burschen und Mädel ... da tanzen auch zweie, die niemand kennt, sie schauen so schlank und so edel!‹ — Sagen Sie selbst, ist es nicht, als ob die weiße Wassernixe aus der Flut gestiegen sei, sich unter das lustige Fischervolk zu mischen? — Wie ein Märchen deucht mir die lilienhafte Mädchengestalt, und wen Fräulein Gabriele mit den großen, klaren, wundersam glänzenden Augen anlächelt, der lernt an die Macht der Meerfrau glauben!«
»Man sagt, die Meerfei bringt Unglück dem, der sie schaut! Hören Sie, wie der Sturm um das Dach heult? Vielleicht wählt sich die Undine bereits ihre Opfer für die kommende Nacht aus!«
»Das verhüte Gott! Fürchten Sie bös Wetter?«
»In wenig Stunden haben wir es.«
»Arme junge Frau! Das wäre eine üble Hochzeitsmusik!«
Jöschen stand mit leuchtenden Augen vor seinem Jugendgespielen.
»Wollen Sie heute gar nicht tanzen, Herr Graf!«
Guntram Krafft richtete sich jäh auf. »Ich warte nur, daß du Mike einmal freigeben sollst!«
»Dor steiht se!« lachte der junge Ehemann, wieder in sein gemütliches Plattdeutsch verfallend, und der Bär von Hohen-Esp nickte, drückte dem Glücklichen die Hand und holte sich die Braut mit den rotglühenden Wangen zum Ehrentanz.
»Nu leggt he los!« flüsterte es im Kreis, und man wartete, daß der Burgherr nach der Mike das »gnä Frölen« zum Tanze holen werde; aber er trat mit umwölkter Stirn zur Tür zurück und hatte mit Krischan Klaaden ersichtlich viel ernste Dinge zu reden.
Und trotzdem das Rollen und Branden der See immer stärker und stärker herübertönte und der Sturm immer schriller durch die Taue des vor dem Hause aufgepflanzten Flaggenmastes pfiff, ward die Stimmung immer fröhlicher und ausgelassener, und schließlich stand die Mamsell vom Schloß und tuschelte unter listigem Augenzwinkern mit Mike und Jöschen.
Die Weiber, Mädchen und Burschen drängten drum herum, es gab ein leises, jubelndes Gelächter, und dann lichtete sich plötzlich der Kreis, einer der Fischer trat vor und rief mit kraftvoller Stimme:
»Tom Brutdanz binnen! Uns' Mike sall sich sin' Nachfolgern söken!« —
Großer Jubel erhob sich, Mike ging mit sehr schalkhaftem Lächeln zu Gräfin Gundula und bot ihr eine Schere dar, mit welcher die Burgfrau die beiden rosa Bänder der Kranzschleife abschnitt.
Die alte Dame lächelte dabei sehr amüsiert, und in ihren Augen leuchtete es auf, wie ein sehr wohlgefälliges Verstehen.
»Möchtest du die Rechte treffen, Mike!« sagte sie und händigte der jungen Frau die Bänder aus. — Diese wandte sich, reichte Jöschen flink eines der Rosenbänder, und schnell wie der Gedanke stürmte das junge Paar unter die laut kreischenden und jubelnden Hochzeitsgäste.
Erstaunt hatte Gabriele dem Beginnen zugesehen, als [S. 335] sie ihren Arm auch schon von Mike gefaßt und mit dem Band umschlungen sah, gleicherzeit zerrten und drängten die Männer Guntram Krafft heran, an dessen Arm Jöschen das andere Band geknüpft hatte, und ehe die beiden aufs höchste betroffenen jungen Leute recht wußten, wie ihnen geschah, waren ihre Arme durch die Bänder zusammengebunden, und ein jauchzendes Geschrei erhob sich: »Tom Brutdanz! Tom Brutdanz!« —
Guntram Krafft stand momentan regungslos, nur seine Lippen bebten, und die breite Brust hob und senkte sich unter stürmischen Atemzügen, dann neigte er sich zu Gabriele herab und stieß kurz hervor: »Befehlen Sie zu tanzen, mein gnädiges Fräulein?« —
Sie blickte zu ihm auf, — ihm deuchte es, ebenso kühl und ruhig wie sonst — und die kristallenen Nixenaugen leuchteten ganz nahe den seinen, und ihr roter Mund antwortete: »Ich füge mich der Sitte, Herr Graf!«
Da umschloß sie sein Arm, er machte eine kurze Bewegung mit der freien Hand, daß man Raum gebe, und dann tanzten sie.
Wie feurige Nebel wallte es vor seinen Augen, siedend heiß brauste das Blut durch seine Adern, wie befangen von einem wilden, leidenschaftlichen Rausch flog er dahin, und die weiche, schmiegsame Gestalt ruhte wieder an seiner Brust, und ihre krausen Löckchen flimmerten vor seinem Blick.
Freiwillig wäre er nie zu ihr gekommen — nun trieb sie das Schicksal selber in seine Arme, und er hielt die bleiche Meerfrau ... und drückte sie fest — immer fester und aufgeregter an sich, so fest, als wolle er sie nie wieder freigeben.
Seine Augen brannten wie im Fieber, all die heiße, unaussprechlich innige Liebe, welche er so stolz und gewaltsam bekämpft hatte, loderte in verzehrenden Flammen in seinem Herzen auf und benahm ihm alles klare Denken und Handeln.
Er tanzte — tanzte ohne Aufhören ... und er hatte nur einen tollen, wahnwitzigen Gedanken — so hinab [S. 336] mit ihr durch Nacht und Sturm bis zu den schäumenden Wogen! Sein Lieb im Arm hinab in die kühle, geheimnisvolle Tiefe, in den Kristallpalast der Meerfei, wo die Perlen auf weißen Wasserlilien glänzen und rote Korallen bis an das Abendrot des Himmels emporwachsen ... da wird sie das bleiche Antlitz lächelnd zu ihm heben, wird mit ihren kühlen, meerfarbenen Augen sein Leben trinken und ihn küssen in traumhaft süßem Glück ...
Weiter und weiter tanzt er ... und um die Fenster schrillt der Sturm ... und die Brandung donnert lauter und lauter empor ...
Gabrieles Köpfchen aber sinkt plötzlich tiefer und tiefer, und ihr Körper ruht schwer in seinem Arm.
Da erwacht er plötzlich wie aus tiefem Traum und starrt sie an.
Wie blaß sie ist! —
Erschrocken hält er inne: »Verzeihen Sie, Gabriele,« — murmelte er, — »ich war unbescheiden ... ich tanzte zu lange — —«
Sie lächelt und ringt nach Atem — und um sie her erhebt sich abermals ein tosender Jubel. »Dat wier äwerst 'n Danz! Dat wier jo gliek haf 'n Dutzend Dänz'!« — schallt es lachend im Kreise, und dann plötzlich jähe Stille.
Ein Schuß? —
Ertönte nicht draußen auf hoher See ein Schuß? — ein Notsignal? —
Alles lauscht einen Augenblick wie erstarrt, Guntram Krafft reißt das rosa Band, welches ihn an Gabrieles Arm fesselt, mit scharfem Ruck durch und stürmt nach der Tür, Jöschen, Krischan Klaaden und die andern Fischer folgen in jäher Hast.
Die lachenden geröteten Gesichter sind plötzlich blaß und ernst geworden, die Klänge der Harmonika sind verstummt.
Gabriele ist an die Seite der Gräfin geeilt und hat mit angstvollem Aufblick ihre Hand gefaßt.
»Was bedeutet das, Frau Gräfin?«
Gundula legt den Arm um sie und schreitet nach dem kleinen Fenster, einen Blick hinauszutun.
»Gott der Herr verhüte es, daß ein Schiff in Not ist!« sagte sie mit schwerem Atemzug.
»O, welch ein Wetter plötzlich!« schaudert Gabriele, »wie schwarz die Nacht, und welch furchtbares Brausen und Donnern! Man hat es zuvor bei der Musik nicht gehört, — jetzt merkt man erst, wie schlimm es geworden ist!«
Eine alte Fischerfrau tritt herzu und faltet die runzligen Hände. »Das ist eine grobe See geworden«, sagt sie leise. »Arme Mike ... muß den Jöschen heute nacht wohl hergeben!«
»Heute nacht?« wiederholt Gabriele mit entsetzten, weitoffenen Augen, »was sollte denn Jöschen bei dieser Dunkelheit für ein Schiff draußen tun?«
Die Alte schüttelt mit wehmütigem Lächeln den Kopf: »Hinaus muß er und Hilfe bringen, falls es not tut!«
»Hinaus? in diese Finsternis?... in diesen Sturm?« Gabriele hebt wie beschwörend die Hände. »Das ist ja gar nicht möglich ... das wäre ja ein tollkühnes, nutzloses Aufopfern!«
»Es wäre seine heilige Pflicht!« unterbricht die Gräfin ernst und ruhig, »und wahrlich nicht das erstemal, daß Guntram Krafft seine wackeren Lotsen in ein Unwetter hinausführt!« —
»Der Graf?« stammelte Gabriele ..., »er selber ... er fährt auch mit hinaus?« —
»Wenn es nottut, jedesmal!«
Da ist es plötzlich, als wüchse die schlanke Mädchengestalt empor, als lausche sie atemlos diesen Worten wie einer Offenbarung.
»Wo ist er? Wo sind die Fischer?« stößt sie hervor.
»Wohl auf der Düne draußen, nach dem Schiff zu spähen!«
»Lassen Sie mich hin! Lassen Sie mich sehen, Gräfin! Ich bitte, ich beschwöre Sie!«
»Undenkbar, Kind ... Sie sind vom Tanz erhitzt, und Sie ahnen nicht, wie der Sturm draußen pfeift! Das Haus hier liegt ja noch hinter der Düne geschützt ... wenn Sie sich auf der Höhe hinauswagen, können Sie kaum atmen; Sie sind solch einen Wind nicht gewohnt, Gabriele!«
Eine fieberhafte Ungeduld leuchtet aus ihren Augen. »Gleichviel ... ich hülle mich warm ein ... ach, ich flehe Sie an, Gräfin, lassen Sie mich sehen, was da draußen vorgeht!«
Einen Augenblick noch zögert Gundula, dann sagt sie kurz entschlossen: »Gut; dort auf der Bank liegen die warmen Sachen, welche Anton für den Heimweg brachte. Nehmen Sie ein Tuch um den Kopf und einen Mantel um, ich werde mit Ihnen gehen.«
Gabriele begreift es nicht, wie diese Frau so ruhig und still bleiben kann, wo möglicherweise ihr einziges Kind sich im nächsten Augenblick auf Tod und Leben hinaus in den Sturm wagen wird! —
Ihre Hand zitterte nicht, als sie das weiße Spitzentuch nimmt, es sehr sorgsam um das lockige Köpfchen ihrer jungen Gastin zu schlingen, sie prüft, ob der Mantel warm genug sei, und scheint mehr um das junge Mädchen wie um den Sohn besorgt.
Gabriele dankt ihr sehr herzlich, dann schlingt sie den Arm um die hohe Frauengestalt und hastet nach der Tür.
Hu, welch ein Sturm!
Er braust ihnen entgegen, als wolle er sie voll zornigen Unwillens in das sichere Haus zurückdrängen, über ihnen kreischt die kleine Wetterfahne, pfeift und schrillt es im Tauwerk des Flaggenmastes; Fräulein von Sprendlingen preßt unwillkürlich die Hände gegen die Brust und ringt nach Atem, sie strebt vorwärts und hat doch kaum die Kraft, gegen das Ungewohnte anzukämpfen. Da umfaßt Gräfin Gundula die schlanke Gestalt mit ihrem kräftigen Arm und leitet sie wie ein sicherer Lotse durch das Brausen und Heulen.
Droben auf der Düne steht Guntram Krafft, sie sieht seine herrliche Gestalt wie ein Schattenbild gegen den bleifarbenen Himmel gezeichnet. Das Auge gewöhnt sich an die Dunkelheit. Die Nacht ist nicht so rabenschwarz, wie es ihr von dem erleuchteten Zimmer aus geschienen, schwarze, phantastisch wilde Wolkengebilde jagen über den Himmel und verhüllen den Mond, nur hier und da bricht sein falbes Licht hervor, wenn der Sturm die Massen zerreißt.
Noch verdeckt die Düne vor ihnen das Meer, man hört nur die Brandung in nächster Nähe — wie Donnerrollen und dumpfes, unheimliches Pfeifen schallt sie empor.
Gabriele hat sich im ersten Moment wie ein angstzitterndes Vögelchen an die Gräfin geschmiegt, aber sie überwindet das Grauen, sie fühlt, wie eine leidenschaftliche Erregung sich ihrer bemächtigt, die sie ungestüm vorwärtstreibt an Guntram Kraffts Seite.
Wie ein Bild aus Erz steht er vor ihnen, kaum daß der Sturm sein lockiges Haar zerwühlt. Seine breite Brust trotzt dem wüsten Gesellen, hoch und gebieterisch ist sein Arm im Gespräch mit den Fischern erhoben und weist auf die See hinaus, als sei es der Schirmvogt von Hohen-Esp, welcher hier zu gebieten hat, und nicht der zigeunerhafte, landfahrende Gesell, der Sturmwind!
Jöschen liegt im Riedgras ausgestreckt, stützt die beiden Ellenbogen auf und späht durch den langen Fernkieker auf die See hinaus.
Die beiden Frauen kämpfen sich vorwärts, Fischerfrauen und Kinder folgen ihnen, fest aneinandergedrängt, starren sie stumm und ernst hinaus auf die wild empörten Wasser. Der Schutz der Düne hört auf, mit voller Wucht wirft sich der Sturm den Nahenden entgegen. Einen Augenblick hat Gabriele das Empfinden, sie müsse ersticken, — die Gräfin faßt sie fester in den Arm und kehrt ihr Antlitz dem Lande zu, — da braust es über sie hinweg, und sie kann momentan aufatmen und neu zu Kräfte kommen.
Dann ringen sie abermals gegen Wind und Wetter, und Gabriele gewöhnt sich nach den kurzen Anweisungen Gundulas an das Atmen im Sturm, sie überwindet ihre Bangigkeit und Schwäche, sie will stark sein! Sie will vorwärts ... sie will sehen und hören!
Guntram Krafft wendet sich flüchtig und blickt zurück, aber all sein Interesse scheint im Dienst der Pflicht zu stehen.
»Ist es tatsächlich ein Notsignal?« fragt die Gräfin.
Er nickt. »Vorläufig läßt sich noch nichts erkennen, wir müssen warten, bis die Wolken vorüber sind, — minutenlang muß der Mond hervortreten!«
Dann trifft sein Blick Gabriele.
Sie steht neben ihm, die Hände gegen die Brust gedrückt, das Antlitz von dem weißen Spitzentuch umflattern, mit einem leisen Schrei die Augen starr, weitoffen auf die See gerichtet.
»Ist dies dasselbe Meer ... dasselbe Meer von gestern und ehedem?!« —
Schwarz und furchtbar gähnt es in weiter Unendlichkeit vor ihr, — der hohe Wogenschwall wälzt sich donnernd heran, in zwei-, drei- und vierfacher Brandung kocht der weiße Gischt am Strande auf, gespenstisch rollen die aufbäumenden Seen heran wie Ungeheuer, welche in wütender Gier Strand und Land verschlingen wollen.
Da teilt sich die dräuende Finsternis.
Der Mond bricht durch die Wolken, sein weißgelbes Licht fließt minutenlang wie ein magischer Schein über die Wasser.
»Dort ... dort ... dat Schipp!!«
Wie ein Schrei gellt es von Jöschens Lippen.
»Richtig — dort is't!« —
»A's'n Turpedo sieht's ut!!« —
»Nee! Nee! Is 'ne lüttje Brigg ...«
»Ich seh' keen Mast nich —«
»De warn ja woll verlurn sin!« —
»Un keen Licht nich ...«
»Doch — achterlich de gröne Lantern!« —
»Äwerst keen Signal nich ...«
»Doch! — Obacht!«
»Dat Blulicht!!«
Ein scharfes, bläuliches Licht blitzte auf See auf ... hielt sekundenlang an und verschwand wieder, — gleichzeitig ein Kanonenschuß ...
»Das Schiff treibt auf —! Brandung voraus!« schrie Guntram Krafft. »Vorwärts, meine Braven, da ist keine Zeit zu verlieren! Zum Schuppen! — Gebt Signal! — Boot klar zum Auslaufen!« —
Die Stimmen klangen sekundenlang in wilder Hast durcheinander, — die Männer stürmten die Dünen hinab nach dem Rettungsschuppen. Wie in jähem Entsetzen hob Gabriele die Arme. »Jetzt hinaus in See? — Gräfin ... auf diese See hinaus?!« —
Gundula nickte. »Gebe Gott, daß sie noch zur rechten Zeit kommen. — Kehren Sie jetzt zurück in das Zimmer, Gabriele ... ich muß in den Schuppen hinab und alles vorbereiten, falls es gilt, einem Verunglückten Hilfe zu bringen!«
Sie sprach ruhig, beinahe tonlos, und ihr blasses, schönes Antlitz sah in dem Mondlicht wie versteinert aus.
Das junge Mädchen schüttelte aufgeregt den Kopf, in ihren Augen leuchtete es plötzlich auf wie heiße, leidenschaftliche Begeisterung.
»Ich bleibe bei Ihnen! Schnell, Gräfin — schnell ... ach, lassen Sie uns eilen ... lassen Sie mich das Unbegreifliche schauen!«
Und sie wartete nicht mehr auf den schützenden Arm Gundulas, sondern flog wie von den Sturmesschwingen getragen, dem Rettungsschuppen zu.
Ein grelles Flackerfeuer, wie von geschwungenen Teerfackeln herrührend, flammte wieder auf dem gefährdeten Schiffe auf, gleicherzeit leuchtete am Strand drunten, dicht neben dem Schuppen, ein rotes Licht, mehrere Augenblicke gezeigt, dann wieder verschwindend.
Ein aufgeregtes, überhastiges Leben entwickelte sich am Strand.
Die Leute hatten in größter Eile ihre hochzeitlichen Kleider mit dem in dem Schuppen bereithängenden Ölzeug vertauscht und waren soeben, voll ausgerüstet, bereit, den Wagen, auf welchem das Boot stand, durch den tiefen Sand bis an die See zu schieben. Eine schwierige, unsagbar mühselige Arbeit bei solchem Sturm!
Gabriele hatte sich in den Schutz des Gebäudes gegen die Mauer gedrückt und starrte mit hochklopfendem Herzen das fremdartige Treiben an.
Sie sah Guntram Kraffts herrliche Gestalt in dem derben Lotsenanzug, — welcher ihr schöner und kleidsamer deuchte wie die reichste Galauniform, — grell beschienen von den lodernden Fackeln, welche von schwieligen Fäusten geschwungen wurden, — sah, wie er mit Bärenkräften zufaßte und half und schaffte, der erste seiner Lotsen, ein ruhiger, besonnener, gewaltiger Kommandeur, ein Mann, welcher nicht nur befiehlt, sondern selber arbeitet und Hand anlegt!
Eine leise Stimme klang neben Gabriele.
»Dat wir sneller kamen, as wie dachten!« seufzte Mike und knüpfte das wollene Tüchelchen fester um den zerzausten Brautkranz in ihrem Haar, ihre hartgearbeiteten Hände griffen ein wenig unsicher zu, und ihr erst so blühend frisches Gesicht war blaß geworden.
»Ach, gnä' Frölen — un dat ok grad an min Hochtid!«
Gabriele blickte voll tiefsten Mitleids in die traurigen Augen der Sprecherin.
»Arme Mike!« sagte sie weich; »ja, das ist eine traurige Hochzeit! Aber so Gott will, kehrt dein Schatz bald gesund und heil zurück, und dann kannst du doppelt stolz auf ihn sein!« — Sie atmete tief auf und wiederholte mit glänzendem Blick: »Ja, stolz! sehr stolz mußt du doch auf einen solchen Mann sein!« —
Mike schien nicht ehrgeizig. Sie wickelte die Hände in die geblümte Schürze und sagte resigniert: »Wenn he man wedder kümmt!« Und dann entsann sie sich, daß ja das gnädige Fräulein nicht gut plattdeutsch versteht und fuhr — nicht ganz ohne Mühe — fort: »Vielleicht kriegen sie die Mannschaft mit der Rettungsboje herüber und brauchen nicht selber hinaus. Sehen Sie dort? Da schaffen sie an dem Mörser! Der Graf schießt bannig gut, aber bei Dunkelheit ist es doch immer ein übles Ding damit, noch dazu bei dem Sturm heut, denn die Windrichtung und Stärke desselben kommt gar sehr in Betracht dabei!«
»Man schießt nach dem Schiff?« wiederholte Gabriele überrascht. »Um alles in der Welt, warum das?«
Mike war zu traurig, sonst hätte sie wohl gelächelt. Sie strich wieder seufzend mit der verarbeiteten Hand über ihren Brautkranz und fuhr erklärend fort: »Das tut ja keinen Schaden nicht, gnädiges Fräulein, im Gegenteil! An der Kugel ist man eine dünne Leine befestigt, — sie wird über das Schiff hinübergeschossen, und die Leute müssen die Leine so rasch wie möglich auffangen und festhalten. Wenn das geglückt ist, muß als Zeichen dafür ein Blaufeuer angesteckt werden, oder man schwenkt auch nur eine Laterne — wie sie's aus so 'nen wracken Schiff noch grad möglich machen können ... dann wissen die Unsern hier Bescheid ...«
»Was für Bescheid? Was nützt die Leine?«
»O, man alles nützt die! Die Schiffsmannschaft muß die Leine dann vom Lande her anholen, bis sie den Steertblock daran finden, durch welchen ein Jölltau geschoren ist!«
»Und was soll damit?« — Gabriele blickte die wortkarge Mike beinahe ungeduldig an, und das junge Weib fuhr monoton fort —: »Ja, so, — das kennen Sie man alles noch nicht! Dieser Steertblock muß am Mast unter der Sahling befestigt werden ... oder, wenn die Masten schon über Bord geschlagen sind, an einem andern hohen Gegenstand ... und dann geben sie vom Wrack wieder ein Signal, damit die auf dem Lande das Rettungstau an dem Läufer befestigen, das ziehen sie dann vom Strand 'rauf aufs Schiff ...«
»Und Unsere hier ziehen damit das Schiff aufs Land?«
Nun ging doch ein schnelles, breites Lächeln über das Gericht der jungen Fischerfrau.
»Ach, aber nee! Dat geiht jo nich!« schüttelte sie den Kopf und fuhr, sich verbessernd fort: »Daran wird man bloß die Hosenboje nach den Gestrandeten hinübergeschickt, da setzt sich die Mannschaft nacheinander ein und wird übergeholt! Jetzt gleich wird es mit dem Schießen losgehen ... der Krischan zeigt schon die rote Latern'!«
Eine immer größere Aufregung hatte Gabriele erfaßt. Die wundersame schaurige Poesie dieser nächtlichen Rettung wirkte wie berauschend aus ihr so leicht empfängliches Gemüt!
All dieses fremdartige Hasten und Treiben, die drohende Gefahr, die Angst und Sorge um eigenes und fremdes Leben, die unbeschreiblich großartige Schönheit der wild entfesselten Elemente übten einen nie geahnten Zauber aus; es war, als habe Gabrieles Herz in tiefem Schlaf gelegen und nur auf diese Stunde geharrt, welche es erwecken soll zu einem neuen, köstlichen Leben, zu der jauchzenden Erkenntnis alles dessen, was ihre Seele voll schwärmerischer Begeisterung seit jeher erhofft und ersehnt. Und voll ungestümer Leidenschaft wandte sie sich und kämpfte sich durch den Sturm näher und näher zu Guntram Krafft heran, bis sie beinahe an seiner Seite stand, bis sie sein Antlitz schauen — seine Worte hören — jede seiner kraftvollen Bewegungen beobachten konnte.
Ihr Auge glänzte wie im Fieber — ihre Lippen lächelten wie im Traum.
Die Stimmen der Männer hallten wirr und zumeist unverstanden zu ihr her, — mit gewaltigem Krach entlud sich das Rettungsgeschoß, — die Rakete zischte wie ein greller Feuerstreif empor, nahm die Richtung nach dem gestrandeten Schiff und verschwand im Dunkel der Nacht.
Voll banger Spannung harrte man auf das Signal, das die Leine getroffen habe.
Guntram Krafft stand hocherhobenen Hauptes, den adlerscharfen Blick seeein gerichtet, als könne und müsse sein Blick die gähnende Finsternis durchdringen.
Ein paar Augenblicke tiefer Stille, nur der Sturm heult über sie hinweg, und die See donnert und braust immer gewaltiger gegen den Strand.
Krischan Klaaden schüttelt den Kopf.
»Dat helpt nich ... dor sin' keene Mast's miehr, de Brandungen gahn all öwer dat Schipp weg!«
»Denn man tau! — wi möten klor maken!« Der Bär von Hohen-Esp wandte sich in hoher Erregung zu seinen Lotsen.
»Vorwärts, Kinder! — es ist keine Minute mehr zu verlieren, — wir müssen hinaus!«
Ein leiser, sturmverwehter Schreckensschrei. Mike wirft sich an den Hals ihres Mannes, umklammert ihn sekundenlang mit den Armen. »Nee! — nee!« schluchzt sie auf — »an dissen Dage nich!!« —
Guntram Krafft eilt bereits nach dem Rettungsboot, er wendet hastig das Haupt, ein Schein tiefer Wehmut geht über sein schönes Antlitz.
»Bliev torück, Jöschen!« — flüstert er, »dat geiht ok ahn di'!« —
Der junge Fischer richtet sich jäh auf, küßt sein bräutliches Weib noch einmal hastig auf die blassen Lippen und faßt sie derb an den Schultern. »Denk' doran, was de Pastur hüt seggt hätt'!« ruft er, springt hastig seinem [S. 346] jungen Kommandeur nach und lacht ein fast grimmiges Lachen.
»Dat wier' woll dat ierste Mal, dat ich fehlen deer!«
Gabriele hat keinen Blick für die schluchzende Mike, sie folgt atemlos nach dem Boot, sie preßt die bebenden Hände gegen das Herz, sie starrt mit weitoffenen Augen auf Guntram Krafft.
Sie sieht nicht, wie Frau Gundula und der Prediger die Düne hinabeilen, wie die Gräfin die gefalteten Hände zum Himmel hebt, wie ihr farbloses Antlitz die Qualen spiegelt, welche ihr Mutterherz in diesem Augenblick durchbeben, — sie sieht nur, wie der Bär von Hohen-Esp in das Boot springt, wie er ein paar kurze, begeisternde Worte an seine Getreuen richtet, sie zu vollster, heiligster Pflichterfüllung ermahnt, und sie der starken Hilfe dessen versichert, der Himmel und Erde gemacht hat! — Und dann entblößen sie alle das Haupt —
»Amen! — Amen!« klingt die Stimme des Predigers durch den Sturm, — und dann ein frisches, kraftvolles — »Hohojohe! — Rennen los!!« — —
Noch einmal wendet Guntram Krafft das Haupt.
Sein Blick sucht Gabriele.
Er hebt die Hand — er winkt ihr zu ... und dann steigt das Boot hoch auf, — weiße Gischtwogen scheinen es zu verschlingen ... es sinkt tief ... tief ... hebt sich ... wie furchtbare Wasserberge rollt es schwarz und grauenvoll gegen das winzige Fahrzeug heran ... gähnende Finsternis ... und der Sturm heult, und die Brandung kocht wild auf ...
»Laßt uns beten, meine Freunde!« ruft der Pastor, er entblößt sein Haupt ... die weißen Haare wehen um seine Stirn, — um ihn her sinken die Weiber und Kinder auf die Knie, banges Seufzen und Schluchzen klingt durch seine Worte, welche im Sturm verhallen. Auch Gabriele will niedersinken und die bebenden Hände zum Himmel heben — sie kann es nicht. —
Sie muß stehen ... hochaufgerichtet ... sie muß hinausstarren auf das Meer, als könne sie dem kleinen Boot mit den Blicken folgen. Der Mond tritt hell aus den Wolken — mit Jubel und Dank gegen Gott begrüßt. —
Ja ... man sieht das Boot ... man sieht das gestrandete Schiff ...
Gabriele atmet fast keuchend.
Ihre ganze Gestalt bebt und schüttert wie unter heißen Fieberschauern.
Was weint und schluchzt ihr Weiber und Kinder?
Gabriele möchte laut aufjauchzend die Arme ausbreiten, möchte wie berauscht von leidenschaftlicher Glückseligkeit in den Sturm hinausjubeln — möchte vergehen in der namenlosen Wonne und Begeisterung, welche ihre ganze Seele erfüllt und in blendende Helle taucht. Ist es ein Wahn? ein Traum?... eine Vision, welche sie schaut?
Ist jener heldenhafte, tollkühne Mann in jenem gebrechlichen Fahrzeug wirklich der Bär von Hohen-Esp, derselbe, welcher einst so linkisch und mädchenhaft errötend auf höfischem Parkett gestanden? —
Ist dieser unerschrockene, verwegene Held wirklich Guntram Krafft?
O, wie gräbt sich sein herrliches Bild in dieser Stunde, wie mit feurigen Linien gezeichnet, so unauslöschlich in Gabrieles Herz!
Wie in bangem, wonnig wehem Ahnen all dieser blendenden Erkenntnis hat es schon all die Tage vorher in ihrer Brust gezittert, aber sie hat sich gewehrt gegen diesen Gedanken, wie gegen eine Unmöglichkeit!
Noch vorhin, als er sie im Arm gehalten, als er sie in nimmer endendem Tanz heiß und heißer an die Brust gedrückt, da ging es wie ein Morgendämmern der Liebe durch ihre Seele, da war es ihr, als müsse sie das Antlitz auf seine starken, kraftvollen Hände drücken und sagen: »ich weiß, was sie Gutes tun und Edles schaffen — und ich bitte dir all das schwere Unrecht ab, du wackerer Mann, welches ich dir ehemals so verblendet zugefügt!«
Und in jener Stunde hatte sie nur seine Größe geahnt und noch nicht mit Augen geschaut, wie jetzt!
Flammende Begeisterung durchglüht sie! Der Traum von edlem Heldentum, von sieghaftem Mannesmut ist zur Wahrheit geworden! Welch eine Fahrt auf Tod und Leben!
Welch ein trotzigkühner Kampf gegen die furchtbarsten Gegner, gegen Sturm und donnernde Meeresflut, gewaltig wie die anstürmenden Heere des Feindes, verderblich wie die brüllenden Geschütze auf dem Schlachtfeld, welche Tod und Verderben speien! — Auch hier grinst der Tod aus jeder Woge, auch hier lauert Untergang und Vernichtung in der Tiefe, hier tost der Feind auch in den Lüften und setzt seine urgewaltige Titanenkraft gegen ein paar armselige Menschenfäuste ein! —
Wie ein eisiges Grauen will es Gabrieles Herz beschleichen, wenn sie hinaus in die Nacht, auf die finsteren, tosenden Wasser blickt!
Drüben liegt das Schiff!
Mattes Mondlicht huscht gespenstisch darüber hin. —
Man sieht, wie schwere Seen über sein Deck schlagen, wie es immer tiefer auf die Seite sinkt, wie das Lotsenboot sich gegen die furchtbare Strömung näher und näher herankämpft.
Wird es gegen die Schiffswand geschleudert werden und zerschellen?
Wird es durch das Zurückprallen der See vollschlagen und kentern?
Gabriele hört wie im Traum die Worte der Umstehenden.
»Man jo nich' von de Luvsit' angehn!« jammerte eine Alte. »Dat Schipp sitt' jo fest un' die See brandet öwer weg!«
»Äwerst Mutting! de Graf is jo doarbi, der weet jo Bischeid!«
»Wenn nur nicht zu viel Spieren und Stücke von der Takelung treiben!« nickt die Mamsell und trocknet die [S. 349] Augen; »ich denke, der Graf nimmt die Schiffbrüchigen wieder vom Bug oder Heck aus ins Boot!«
»Wenn sie nur erst rankommen!«
Der Mond versteckt sich wieder, — eine bange, lange Stille, — leis gemurmelte Gebete, Seufzen und Schluchzen.
Gräfin Gundula ist nach dem Schuppen zurückgegangen.
Sie hat dort einen Spiritusapparat entzündet, um starken, heißen Tee für die Heimkehrenden bereitzuhalten.
Auch richtet sie alles vor, im Fall sie einem Verunglückten die erste Hilfe angedeihen lassen muß.
Wie oft hat sie schon diese Frottiertücher, die Bürsten und belebenden Essenzen zurechtgestellt, jedesmal mit demselben angstbebenden Herzen, aber auch jedesmal mit demselben Gottvertrauen und der festen Zuversicht wie heute.
Ruhig und umsichtig waltet sie ihres Amtes. Ihr Sohn, ihr Liebling, ihr einziges Glück auf der Welt, wird auch heute von Gottes Vaterhand heimgeleitet werden, wie in all jenen anderen schweren Stunden, wo sie ihn dahingeben mußte als einen Schirmherrn der Not, als einen treuen, opfermutigen Mann, welcher für fremdes Leben sein eigenes wagt!
Warum sollte Gott seine wunderbaren Wege selber durchkreuzen, nachdem er sie so herrlich und unfaßlich bis hierher geführt? O, Gräfin Gundula hat in den letzten Tagen in dem Herzen ihres Sohnes gelesen, und sie hat Gabrieles erglühende Wangen geschaut, sie weiß, welch ein Kampf in diesen beiden jungen Menschenherzen tobt, und weiß, wie herrlich der Sieg sein wird, welcher schon jetzt seine leuchtenden Strahlen vorauswirft.
Wie ein Wunder deucht es ihr, daß sie Gabriele, just diese, zu sich in die stille Strandburg rief, wie ein Wunder, daß das so reiche, gefeierte Mädchen eine arme Waise ward, deren ehemals so blinde Augen sehend werden sollten!
Wie ein Wunder muß sie es ansehen, daß die Einzige, für welche Guntram Kraffts Herz in heißer Liebe erglühte, ihm hierher folgen mußte, nachdem er den Kampf um ihren Besitz als hoffnungslos aufgegeben.
Warum das? —
Gräfin Gundula weiß es nicht und fragt auch nicht danach.
Sie wartet, und sie ist gewiß, daß das, was Gott der Herr so wundersam begonnen, auch von ihm zu gutem Ende geführt wird!
Ein lautes, jubelndes Schreien, Jauchzen und Rufen ertönt wie ein verworrenes Echo von dem Strand empor.
Das Rettungsboot kehrt zurück!
Die Bärin von Hohen-Esp hebt inbrünstig die gefalteten Hände zum Himmel, ihre Lippen zittern und flüstern leise, ihre Augen glänzen feucht.
Und ruhig, ernst und hochaufgerichtet wie stets schreitet sie abermals über den losen, wehenden Sand hinab, den Sohn zu erwarten.
Ihr schwarzes Gewand, das Trauertuch um ihre Schultern flattern im Sturm, wie verklärt leuchtet das bleiche Angesicht in dem Flackerschein der hochgeschwungenen Fackeln. Sie sieht, wie das Rettungsboot sich durch die letzte Brandung kämpft, sie hört die aufgeregten Menschen lachen und jauchzen — »sie bringen die Schiffbrüchigen! — sie sind gerettet!« — dann sucht ihr Blick Gabriele.
Sie steht regungslos noch auf demselben Fleck wie vorhin, die Hände wie in Verzückung nach dem Boot ausgestreckt, das schöne Antlitz in Gluten der Begeisterung getaucht.
Ach, daß Guntram Krafft sie so erblicken möchte! Alles drängt den Nahenden entgegen, die Männer springen in das schäumende Wasser, das Fahrzeug mit hilfsbereiten Händen zu fassen, um es auf den Strand zu ziehen, aber die Stimme des Grafen klingt kräftig durch Wind und Wogengebraus — »Halt! — laßt ab! Wir müssen noch [S. 351] einmal zurück! — Landet die Mannschaft ... es sind Norweger! — Versorgt sie!«
Noch einmal zurück?
Der Jubel verstummt — jähes Entsetzen malt sich auf allen Gesichtern.
Gott erbarm sich! noch einmal zurück! Noch sind nicht alle Gestrandeten geborgen!
Die fremden Seeleute springen über, bleich und ermattet, aber alle gesund und lebend; nur einen Schiffsjungen, welcher bewußtlos scheint, hebt Guntram Krafft mit starken Armen und trägt ihn selber an Land. —
»Es ist nichts, Mutter!« ruft er leuchtenden Auges, »als er über die Reeling kam, ist er hart aufgeschlagen, — das betäubte ihn! den Kopf kühlen ... und einen Kognak! — Sonst allright !«
Gundula schlingt die Arme um den Sohn und drückt ihn sekundenlang an das Herz.
»Noch einmal zurück willst du?« seufzt sie tief auf —; » muß es sein, mein Sohn?«
Er küßt hastig ihre Hände.
»Ja, es muß sein, Mutter! Drei Männer warten noch auf unsere Hilfe, unter ihnen der Kapitän. Das Schiff hat bereits an sieben Fuß Wasser im Raum! Das Ruder ist weggestoßen, und der Fockmast schwankt derart, daß er jeden Augenblick über Bord gehen kann! Das einzige Boot, welches noch vorhanden war, ist völlig leck geschlagen! Da ist keine Minute Zeit zu verlieren, — gebe Gott, daß wir nicht schon zu spät kommen! Nur einen Schluck zur Stärkung für meine Leute, und dann wird uns der barmherzige Gott auch zum zweiten Male helfen!« —
Der Pastor hat die Hände des Sprechers ergriffen und drückt sie mit warmen Segensworten, die Frauen reichen den Schiffbrüchigen und Lotsen die Becher mit dem Gemisch von starkem Tee und Rum. Sie umarmen ihre Männer, stumm und ergeben wie zuvor, sie weinen und klagen nicht, sie erschweren ihnen ihre saure Pflicht [S. 352] nicht noch mehr, — auch sie sind stark und heldenhaft, — wie sich's gebührt.
Nur Mike klammert sich ein wenig fester an ihren Neuvermählten und blickt ihm wieder und wieder in die Augen, bis Jöschen die Zähne zusammenbeißt, sich losreißt und nach dem Boote zurückwatet.
Auch Guntram Krafft wendet sich hastig. Noch einmal drückt er seiner Mutter die Hände — dann trifft sein Blick Gabriele. Sie hat bisher stumm zur Seite gestanden, jetzt plötzlich ist es, als ob ein Beben und Schüttern durch ihre schlanke Gestalt gehe, sie will nicht — sie muß ihm entgegenwanken, ihm die Hände reichen — zu ihm aufblicken ...
Herr des Himmels, welch ein Blick! welch ein Ausdruck in dem wunderholden Antlitz! Er zuckt zusammen, — er starrt sie an ...
So sah sie selbst damals Herrn von Heidler nicht an, als sie den kühnen Reiter um seiner Heldentaten willen bewunderte!
»Gabriele!« — murmelte er. — —
Ihre Lippen zittern, — sie drückt seine Hände fester, krampfhafter zwischen den ihren.
»Sie sind jetzt erschöpft, Graf — Sie können , Sie dürfen das Furchtbare nicht zum zweitenmal wagen!«
Wie ein Angstschrei klingt es zu ihm empor. Heiße Röte steigt in sein Antlitz, dieselbe, welche ehemals im Ballsaal seine Stirn färbte und ihr so weibisch und verächtlich deuchte, — jetzt sieht sein edles, kühnes Angesicht noch schöner darunter aus wie zuvor.
»Ich weiß nicht, was ich kann und tun darf, ich weiß nur, was ich muß !« klingt es wie ein Aufjauchzen von seinen Lippen, — sein strahlender Blick trifft noch einmal den ihren, dann gibt er ihre bebenden Hände jählings frei und springt in das Boot zurück.
Und abermals bäumt sich das Boot hoch auf und schießt hinaus in die grauenvolle, schäumende Wildnis der Wasser ... in die gähnende Finsternis hinein. —
Die Gräfin legt die Arme um Gabriele und neigt sekundenlang das Antlitz auf die Schulter des jungen Mädchens.
»Beten Sie für ihn, Gabriele! Beten Sie! Diese zweite Fahrt ist schlimmer, viel schlimmer, wie diese erste!«
Und dann richtet sich die Schirmvogtin von Hohen-Esp energisch auf und folgt festen Schritts den Männern, welche den bewußtlosen Schiffsjungen nach dem Rettungsschuppen tragen.
Nun gilt es auch für sie, treu und umsichtig ihres Amtes zu walten.
Sie muß dem Kranken die erste Pflege angedeihen lassen, für seine Überführung nach Hohen-Esp sorgen und das Unterkommen der gestrandeten Mannschaft bedenken.
Noch einmal zögert sie und blickt zurück, sie will Gabriele zu Hilfe an ihre Seite rufen, da sieht sie im dämmernden Mondlicht, wie die schlanke, weiße Mädchengestalt auf die Knie herniederbricht, wie sie die Hände in heißem, inbrünstigem Gebet verschlingt.
Ein seliges Lächeln geht über ihr ernstes Antlitz. Nein, sie darf nicht rufen.
Dieser lichte Engel muß am Strande treue Wacht halten!
Es ist stiller wie zuvor um Gabriele, — die Männer bergen die Rettungsgeschosse, welche überflüssig geworden sind, die Weiber und Kinder üben Samariterdienste an den Schiffbrüchigen.
Boten müssen nach der Burg gesandt werden, das Ingesinde hat Frau Gundula heimgeschickt, alles für die Ankunft des Kranken und der Mannschaft, welche in der »blauen Woge« kein Unterkommen mehr findet, vorzubereiten. Nun beginnt das Hasten und Treiben nach [S. 354] Dorf und Burg zu, und nur wenige sturmzerzauste Gestalten stehen wie dunkle Schatten am Strand bereit, die Heimkehr des Bootes rechtzeitig zu künden.
Still und einsam ist es um Gabriele.
Die hohe, leidenschaftliche Aufregung, welche sich ihrer zuvor bemächtigt, ist gewichen. Alles, was sie bisher empfunden, war eine glühende Begeisterung gewesen, das namenlose Entzücken, endlich das Bild ihrer Träume verkörpert zu sehen, den todesmutigen Helden zu schauen, welcher seit Jahren zum Inbegriff all ihres schwärmerischen Sehnens geworden war! —
Mit stürmendem Herzen hatte sie gestanden und das herrliche Bild Guntram Kraffts mit den Blicken umfaßt, als könne sie sich nicht satt schauen an einem solchen Schauspiel. Da hatte ihre Seele gejauchzt und den höchsten Flug genommen, da jagten ihre Pulse wie im Fieber, und nur ein Gefühl hatte sie beherrscht, die unaussprechliche Bewunderung eines Heldenmuts, dessen Größe sie kaum zu erfassen und begreifen vermochte!
Er war zurückgekehrt von seiner verwegenen Fahrt, und ihr war es zu Sinnen gewesen, als müsse sie vor ihm niederknien, seine Hände an die Lippen drücken und stammeln: »Vergib, du Gewaltiger, Herrlicher! vergib einer Blinden, daß sie dich ehemals so bitter und so ungerecht gekränkt! — Jetzt erst sind meine Augen geöffnet, und ich habe gesehen, wer du bist!« —
Jetzt erst? —
Ja, es ist so warm und licht in ihrem Herzen geworden, als ob nach langer, dunkler Winternacht der goldene Lenz erwachen solle!
Und als er ihr soeben in die Augen schaute, der kühne, sieghafte Held, als er sich stolz von ihr losriß und nichts Höheres und Heiligeres kannte, als seine Pflicht, — da fluteten die ersten, heißen Sonnenstrahlen durch ihr Herz, — da jauchzte es nicht mehr — »fahr' hinaus, und sei ein Held, auf daß ich dich bewundern kann!« — nein, da schrie es auf in zitternder Angst —: »bleibe hier, damit ich dich liebe !« —
Verweht und vergangen ist all die stolze Begeisterung, mit welcher sie ihn das erstemal das Wagnis vollbringen sah, — da konnte sie nicht beten für ihn, sondern nur schauen, schauen wie eine Berauschte, mit blitzenden Augen und wogender Brust!
Jetzt plötzlich rieselt es eiskalt durch ihre Adern, zitternde Todesangst kriecht ihr an das Herz, und die bleichen Lippen möchten aufschreien in bitterer Not um den Geliebten.
Wie ein Gespenst taucht plötzlich das Bildnis Wulffhardts vor ihr auf ... das entsetzliche Wort »ertrunken!« starrt sie mit grellen Buchstaben aus der schwarzwogenden See an — »ertrunken! — ertrunken ...!« —
Sie hebt in qualvollem Entsetzen die Hände, sie bricht nieder auf die Knie ... der Sturm weht über sie dahin und reißt das Spitzentuch von ihrem lockigen Haar.
Scharf und schneidend peitscht er den feinen Sand gegen ihr Antlitz und trinkt gierig die Tränen, welche haltlos über ihre Wangen tauen.
Wie aus dem geöffneten Rachen eines Ungeheuers brüllte die See, — die ehemals bespöttelte, so verächtlich belächelte See, und Gabriele fühlt, wie das Grauen sie schüttelt angesichts dieser zürnenden, furchtbar Gewaltigen! —
Ertrunken! —
Herr des Himmels, erbarme dich! —
Die Worte des Predigers klingen ihr plötzlich im Herzen, hell und zuversichtlich, wie ein jauchzendes Hosianna, welches alle Totenglocken übertönt! — »Das Gebet seines treuen Weibes ist des Seemanns sicherster Anker, ist der Mast, welcher nicht brechen kann, ist das Segel, welches in Sturm und Wetter nicht verloren geht! Das Gebet der gläubigen Liebe ist die Engelsschwinge, welche sein Schifflein durch Sturm und hohe Flut sicher in den Heimatshafen zurückführt.«
Das Gebet der gläubigen Liebe! —
Gabriele ist nicht das Weib des Schirmvogts von Hohen-Esp, sie hat nicht das Recht wie Mike, die junge, [S. 356] bräutliche Frau, den Geliebten mit Engelsschwingen sorgender Fürbitte zu umgeben, — aber Liebe! gläubige Liebe! Ja, die flammt ihr heiß und todgetreu im Herzen, eine Liebe, welche die Angst und Qual dieser finsteren Nachtstunde geboren! —
Wo bleibt er? —
Die Minuten schleichen dahin, — wie lang, wie entsetzlich lang währt diesmal die Fahrt!
Dort drüben liegt das Wrack ... schwarze, undurchdringliche Nacht umgibt es! —
Werden es die kühnen Retter sehen und finden? Wird die tosende Flut ihr Boot gegen die Schiffswand schleudern, daß es zerschellt ... daß alles junge Leben — alle süße, junge Liebe ein kaltes und tiefes Grab auf dem Meeresgrunde finde?
Herrgott, erbarme dich! —
Immer inbrünstiger, immer leidenschaftlicher ringt Gabriele die Hände im Gebet — und durch den Sturm klingt es wie goldene Harfen, und fernher vom Strand gellt ein Jubelschrei: »Sie kommen! — sie kommen!« —
Ein Lächeln irrt um Gabrieles Lippen, ihre Augen haften an dem Himmel, sie regt sich nicht.
Voll jubelnder Hast stürmte es abermals die Düne von dem Rettungsschuppen herab.
Neue Fackeln glühten auf, und der Sturm griff in die knisternden Flammen hinein und jagte die funkensprühenden Stückchen des Teerbrandes über den Sand davon.
Allen voran drängte Mike nach dem Strand. Sie strebte dem nahenden Boot so ungestüm entgegen, daß die Spritzer der Brandung helle Tropfen in ihren Brautkranz warfen und die Frauen und Mädchen sie lachend und so lebhaft, wie während der ganzen Hochzeitsfeier nicht, zurückrissen und den guten Feststaat vor weiterem Verderben retteten.
Das Einlaufen des Bootes an Land erwies sich diesmal noch schwieriger als zuvor, da die Brandung von Minute zu Minute furchtbarer ward und das nicht allzu schwere Fahrzeug jeden Augenblick beizudrehen drohte.
Jede Welle, welche es überholte, warf den Heck empor und drückte den Bug nieder, und der erst so ungestüme Jubel der Harrenden verwandelte sich wieder in angstvolle Stille, als man den schweren Kampf beobachtete, in welchem die kühnen Retter rangen.
Das Sturmgewölk war beinahe völlig hinweggefegt, der Mond stand an dem bleifarbenen Himmel und beleuchtete hell den letzten Akt des aufregenden Schauspiels, welches sich in stiller Nacht an dem einsamen, weltfernen Strande abspielte.
Die Brandung rollte unter dem Kiel des Bootes fort, die Kämme der See hüllten es in wahre Schaumwolken, und das ganze Fahrzeug mit den kühn verwegenen Gestalten der so überaus angestrengt arbeitenden [S. 358] Männer erschien wie ein Schattenbild, welches sich in wildem Tanze nähert.
Und es kam näher und näher, und endlich konnten die zurückgebliebenen Fischer ihm mit rauhkehligem »Hojohe!« entgegenspringen, es kraftvoll zu packen und an Land zu schieben.
Im letzten Augenblick erst hatte sich Guntram Krafft von seinem Sitz erhoben, sein edles, leidenschaftlich erregtes Antlitz spiegelte noch die Anstrengungen, mit welchen man in dieser schweren Stunde gerungen, aber seine Lippen lachten, daß die festen, weißen Zähne durch den Schnurrbart blinkten, und die großen Blauaugen blitzten so siegesfreudig und glückselig, wie bei einem Menschen, für welchen die gute Tat schon allein ihren vollen Lohn in sich trägt! —
Wie schön war er! wie unbeschreiblich schön! — Gabriele ist Schritt für Schritt herzugewankt, mit glückzitterndem Herzen und brennendem Blick schaut sie ihm entgegen, und dann schlägt dieses Herz plötzlich so wild auf, daß sie vor seinem Ungestüm selber erschrickt und angstvoll zurückweicht, weiter und weiter ... dahin, wo die roten Lichter der Fackeln sie nicht mehr erreichen, wo keines Menschen Blick erspähen kann, welche Gefühle sich in ihrem Auge verraten! —
Voll toller, ausgelassener Freude springt Jöschen als erster über den Bootsrand, watet die letzten Schritte durch das weit ausrollende Wasser und umfängt sein junges Weib, um all das Glück dieses Wiedersehens in schallenden Küssen auszudrücken.
»Nu hev' ik mir min leif lüttj Fru erst ganz un gor verdeint!« lacht er mit weithin tönender Stimme: »Mike min Küking, bist ok tofreeden mit mi?« —
Da gibt's einen hallenden Jubel ringsum, und der sturmzerzauste Brautkranz fliegt vollends auf die blonden Zöpfe zurück, und Mike sieht wieder so glühend rot aus wie zuvor, als noch kein bös Wetter ihr das Glück streitig machte!
Der Bär von Hohen-Esp eilt in die ausgebreiteten [S. 359] Arme seiner Mutter und küßt ihr strahlend stolzes Gesicht voll inniger Zärtlichkeit, dann wendet er sich und führt den barhäuptigen, bis auf die Haut durchnäßten Kapitän des »Bror Thyrssen«, welcher mit Pitchpine Holz nach Pillau unterwegs ist, der Gräfin zu und empfiehlt ihn deren Gastfreundschaft und Sorge.
Kapitän Björnson spricht deutsch, er dankt der Gräfin mit warmen, aus dem Herzen quellenden Worten für die edle, opfermutige Tat ihres Sohnes, welcher just zur rechten Zeit gekommen, sie alle aus sehr übler Lage zu befreien. Der »Bror Thyrssen« hält zwar noch zusammen, aber er liegt schwer auf der Seite, und die See schlägt hoch über Deck und wäscht alles herunter, — — da handelt es sich wohl kaum noch um eine Stunde, daß sich eine Menschenseele an Bord halten kann. —
Dann fragt er nach dem Schiffsjungen und seinem Ergehen, und Gundula kann gute Nachricht geben, sie schreitet dem Kapitän nach dem Rettungsschuppen voran, bleibt aber noch einmal stehen und wendet sich zu dem Grafen. Sie hat gesehen, wie sein Blick umherirrt und unruhig unter den Anwesenden forscht — sie weiß, wen er sucht.
Lächelnd deutet sie seitlich nach dem Strand, wo ein weißes Kleid aus dem Dunkel schimmert.
»Willst du so gut sein, Guntram Krafft, und Gabriele nach dem Wagen führen? Der Kutscher hält am Tannenweg! Das arme Kind scheint von all der ungewohnten Aufregung todesmatt! Sage ihr, daß ich sie bitten lasse, mit dem Herrn Kapitän und Steuermann einstweilen nach der Burg zu fahren und den Wagen sogleich zurückzuschicken, wir folgen augenblicklich mit dem Kranken, sowie er sich noch ein wenig mehr erholt hat! — Mamsell weiß Bescheid und hat alles vorbereitet. Begleitest du uns, oder bringst du, gewohnterweise, erst das Boot und alles andere unter Dach und Fach?«
»Fürerst bin ich hier noch nicht abkömmlich, Mama!« antwortete er sehr schnell und lacht abermals über das ganze Gesicht; »ich hab' Jöschen heimgejagt und muß [S. 360] seine Faust noch beim Bergen der Sachen ersetzen. Aber Fräulein von Sprendlingen werde ich deine Bestellung ausrichten!« und schon stampfte er auf den schweren Wasserstiefeln davon, und das zerzauste Blondhaar hängt ihm wirr und feucht in die Stirn.
Da sieht er ihre schlanke, lichte Gestalt im Mondesglanz vor sich, und sein Herz, welches soeben noch ruhig und furchtlos dem Tode getrotzt, bebt plötzlich in seiner Brust.
Langsam tritt er näher.
Er denkt an den Blick, mit welchem sie ihm vorhin in die Augen geschaut, an den Ausdruck ihres süßen Gesichts, welches während seiner Todesfahrt durch Sturm und brandende Flut wie eine glückselige Vision ihn begleitete. Der weiße Spitzenschleier weht lang von dem Haupt herab, — der Sturm faßt ihn und wirbelt ihn dem Nahenden wie ungestümen Gruß entgegen.
Da steht er vor ihr, und sie hat die gefalteten Hände gegen die Brust gedrückt und sieht mit unaussprechlichem Blick zu ihm auf.
Was soll er bestellen?
Er weiß es nicht, — alles Blut braust ihm schwindelnd zum Herzen, er weiß selber nicht, was er tut, er reicht ihr nur im Übermaß seines Empfindens die Hand entgegen und sagt leise, wie in banger, sehnender Bitte um ein freundliches Wort — »Gabriele!« —
Da geschieht etwas Unfaßliches, Unbegreifliches. Sie nimmt seine Hand mit jäher Bewegung zwischen die ihren, neigt ihr Antlitz und drückt sie an die weichen, zitternden Lippen. Wieder und wieder ... und an ihren Wimpern glänzt es feucht und perlt herab über seine Rechte.
»Gabriele!« schreit er entsetzt auf. — »Um alles in der Welt, was tun Sie?«
Sie hebt das erst so demütig geneigte Köpfchen und reckt ihre schlanke Gestalt hoch und stolz empor und schaut ihn an mit den süßen Nixenaugen, aus welchen jubelnde Begeisterung und Bewunderung leuchten.
»Ich grüße einen Helden!« stößt sie mit halb erstickter Stimme hervor, »und danke ihm für all jene Menschenleben dort, welche diese kühne, gewaltige Hand gerettet!«
Er hat seine Rechte gewaltsam befreit und preßt sie gegen die Stirn, als könne er den Sinn ihrer Worte gar nicht fassen.
»Einen Helden!« wiederholt er leise; — »und das sagen Sie mir, Gabriele — Sie ?!« —
»Wem anders wie Ihnen, Graf! — Sie haben mich gelehrt, was es bedeuten will, ein Schirmvogt der Not zu sein, Sie haben es mir bewiesen, daß auch hier in tiefster, weltferner Einsamkeit ein kühner, unerschrockener Mann leuchtende Taten zu Ruhm und Ehre seines Vaterlandes tut! Sie haben es jenen Norwegern gezeigt, wie ein deutscher Mann im Sinne seines Kaisers handelt, — und ... Sie haben mich erkennen lassen, wieviel ... ach, wieviel ich Ihnen abzubitten habe!« —
Sie hatte hastig, aufgeregt, voll fieberischer Leidenschaft gesprochen; bei den letzten Worten sank ihre Stimme zu leisem Flüstern herab, und ehe sich Guntram Krafft aus seiner Betäubung aufraffen konnte, hatte sich die Sprecherin bereits dem eilig herzulaufenden Anton zugewandt.
»Gnädiges Fräulein ... der fremde Herr Kapitän sitzt bereits in dem Wagen!« meldete er atemlos. »Darf ich bitten, sogleich einzusteigen, die Frau Gräfin erwartet die Pferde umgehend zurück.«
»Ich komme!« nickte Gabriele hastig, der Bär von Hohen-Esp aber schrak empor wie aus einem Traum.
»Krischan Klaaden läßt den Herrn Grafen bitten, bei dem Boot mit Hand anzulegen! Sie quälen sich ab und wollen es auf den Wagen kriegen, aber ohne den Herrn Grafen wird's nichts damit! Und Krischan Klaaden meint, geborgen müsse es auf alle Fälle werden, denn die Flut steigt immer noch, und man könne nicht wissen, wie hoch sie in der Nacht noch käme!«
»Gut, gut, ich komme!«
Einen Augenblick noch rang er mit sich, ob er Gabriele nicht folgen und in den Wagen bringen solle, aber schon entschwand ihre lichte Gestalt wie ein Schemen, sie floh dahin über das knisternde Riedgras und mußte den Wagen bald erreicht haben. Wie war es auch möglich, mit diesem Sturm im Herzen ihr vor fremden Menschen gleichgültige Dinge zu sagen.
Guntram Krafft preßt die wetterharten Fäuste gegen die Schläfen, und seine Brust hebt und senkt sich unter keuchenden Atemzügen.
Wie ein Chaos von Licht und Schatten wallt es durch das finstere Gewölk der langen Leidensnacht in seinem Herzen, funkelnde Strahlengarben brechen hervor, und eine grelle, blendende, zauberhafte Sonne des Glücks steigt sieghaft über seinem Leben auf!
Gabriele hatte das Antlitz weinend auf seine Hand geneigt, — sie selber hatte ihn einen tapferen, heldenhaften Mann genannt, — ihn, der doch nichts anderes getan, als wie seine Pflicht!
Das war ein Wunder, ein Gnadenwunder Gottes des Herrn, welches ihm so jäh und wonnesam das Herz der Geliebten zugewandt! —
Wie ein Jubelschrei will es über Guntram Kraffts Lippen brechen, aber er schweigt, er blickt nur mit glänzenden Augen zum Himmel empor.
Und dann preßt er die Hand gegen die Brust, auf welcher noch immer der Zettel Gabrieles ruht, und atmet tief, tief auf.
Seine Zeit ist um.
Ein wüster, grausamer Schicksalssturm hat ihn ehemals auf seinen Lebensweg geweht, daß er sich zur himmelhohen Scheidewand zwischen ihn und all sein Glück baue, — und nun kam ein anderer, frischer, köstlicher Seesturm dahergebraust, der blies die trennende Schranke hinweg, der räumte alles aus dem Weg, was als Dorn und Nessel die roten Rosen seiner Liebe überwuchern wollte! —
Gabriele von Sprendlingen will Herz und Hand nur einem Helden zu eigen geben, und sie selber hat den Bären von Hohen-Esp einen Helden genannt! —
Drunten am Strand winken die Männer, ungeduldig harrend, mit den Fackeln, und Guntram Krafft schwenkt ihnen mit jauchzendem »Hojohe!« den Südwester zu und eilt heran, ihnen zu helfen, als flute neues Leben und neue Riesenkraft durch seine Adern! —
Als Gabriele Hohen-Esp erreicht hatte, bemühte sie sich, der Gräfin in jeder Weise hilfreich zur Seite zu stehen; Gundula aber tat nur einen schnellen Blick in ihr erregtes Antlitz, auf welchem Glut und Blässe wechselten, auf die kleinen, eiskalten Hände, welche es kaum vermochten, mit festem Griff zuzufassen, und sie schloß das junge Mädchen mit gar wundersamem Lächeln in die Arme und neigte die Lippen küssend auf den lockigen Scheitel.
»Gehen Sie zur Ruhe, mein Herzenskind, — ich wünsche es! — Sie sind von all der Aufregung nervös und ermattet und müssen schlafen, damit Sie morgen wieder bei frischen Kräften sind! Ich kenne diese Sturmnächte und lernte es in all den langen Jahren, ruhig Blut zu wahren! — Was wollen Sie noch hier? Der Kranke ist gebettet und schläft bereits den köstlichen festen Schlaf der Jugend, — den gebrochenen Arm habe ich ihm schon in dem Schuppen drunten in einen Notverband gelegt, — auch darin habe ich Übung! und der Schlag gegen den Kopf scheint durchaus nicht bedenklich, denn der Junge sprach nach seiner kurzen Betäubung völlig klar mit seinen Kameraden. Der Arzt wird morgen kommen, und, so Gott will, nicht viel Arbeit bei ihm finden. Der Kapitän und Steuermann haben ihre nassen Kleider gewechselt und sich mit Guntram Kraffts längst verwachsener Garderobe sehr spaßhaft kostümiert, sie sitzen bei einem steifen Grog in der Halle und wollen auf meinen Sohn warten, um noch so mancherlei mit ihm zu besprechen, ehe sie sich zur Ruhe legen, — ich glaube nicht, daß ihnen [S. 364] Damengesellschaft in ihrem momentanen Zustand sehr angenehm ist! Sonst aber gibt es keine Arbeit mehr, und auch ich gehe allsogleich zur Ruhe, sowie ich Guntram Krafft noch einmal die Hand gedrückt habe. Das ist so Brauch bei uns.« —
Gabriele atmete sehr schnell und machte eine jähe Bewegung mit dem Köpfchen, ihre Augen blickten so leuchtend und verklärt an der Gräfin vorüber, als sähen sie voll schwärmerischen Entzückens in nächtiger Ferne ein liebes, liebes Bild.
Sie zog die Hand der Sprecherin stumm an die Lippen, wieder und wieder ... wollte sprechen und schwieg dennoch.
»Der Sturm scheint abzuflauen ... morgen wird es gewiß ein ganz besonders sonniger, wonniger Maientag werden!« fuhr Gundula weich und leise fort, und sie strich mit der Hand über das rosa Brautband, welches noch immer, in der Hast und Eile vergessen, an Gabrieles Arm glänzte, — sie lächelte: »Heben Sie diese Schleife auf, — sie bringt Glück! — Und ehe Sie die Augen schließen, danken auch Sie Gott dem Herrn, daß er in dieser Nacht mit uns war!« —
Gabriele war heiß errötet, sie nickte erregt, ihre Lippen zitterten. Noch einmal neigte sie sich tief, tief über die Hand der Gräfin, und dann trat sie hastig über die Schwelle, ihr einsam stilles Zimmerchen zu erreichen. Sie preßte die Hände gegen die Schläfen und stand zögernd auf der Treppe still.
War es recht, daß sie ging? Gab es doch vielleicht noch Pflichten für sie zu erfüllen?
Sie konnte ihnen heute nicht gerecht werden, heute nicht!
Welch ein Aufruhr tobt in ihrem Innern! Sie wandelt, handelt und spricht wie im Traum, ihre Gedanken sind weit entfernt von dem, was sie tut. —
Ihr ganzes Sinnen und Denken weilt bei ihm! Sie sieht nur noch ein Einziges, — Guntram Kraffts kühnes, heldenhaftes Angesicht, — sie fragt sich tausendmal immer [S. 365] wieder dasselbe: Ist es denn kein Traum, kein Fieberwahn gewesen? Hat er wahrlich das Unfaßliche, Herrliche vollbracht?
Wo weilt er noch?
Fühlt, empfindet er es nicht, daß ihr Herz seinen Namen jubelt in heißem, leidenschaftlichem Sehnen und Entzücken?
Wo bleibt er?
Horch ... eine Regenboe braust nieder, die Tropfen werden prasselnd gegen das Fenster gepeitscht ... nach wenig Minuten ist es wieder still, und die Mondstrahlen huschen durch das zerfetzte Gewölk. —
Das Heulen in den Lüften läßt nach, die Riegel und Wetterfahnen kreischen nicht mehr so unaufhörlich wie zuvor.
Gabriele tritt an die kleinen, bleigefaßten Scheiben und neigt das fieberheiße Gesichtchen dagegen.
Wo bleibt er? —
Wird er wieder drunten auf dem Weg vorüberschreiten, ohne einen einzigen Blick empor nach ihrem Fenster zu tun? —
Wie in zitternder, qualvoller Angst preßt sie die Hände gegen das Herz.
Sie sieht es plötzlich wieder vor sich, sein ernstes, gleichgültiges, so ganz verändertes Gesicht, mit welchem er ihr begegnete, so lange sie hier weilt. Lebt kein Fünkchen jenes zärtlichen Interesses, welches er in der Residenz für sie empfand, mehr in seinem Herzen?
Gabriele schlingt wie in bebender Verzweiflung die Hände ineinander.
Wehe ihr, — und ihrem armen, armen, törichten Herzen!
Und doch ... jener Blick, als er von ihr schied, als er zum letzten Male noch ihre Hände faßte, ehe er zu jener furchtbaren Fahrt in das Boot sprang ... jener Blick war nicht mehr kühl und fremd, er war so liebesinnig — so heiß und weh ...
Gabriele schlägt plötzlich die Hände vor das Antlitz und schauert zusammen, — als ob er Abschied nahm für ewige Zeit! —
O, diese Qual der letzten Stunden!
Wo bleibt er, — wo bleibt er? —
Wie fände Gabriele Schlaf und Ruhe, ehe sie sein teures Haupt geborgen und unter diesem Dache weiß? —
Horch ... Stimmen ... Schritte drunten ...
Mit zitternder Hand löscht sie das Licht und öffnet lautlos das Fenster ...
Mondschein glänzt auf dem Weg ... das Gezweig rauscht und sprüht silbernen Funkenregen.
Die Bediensteten des Schlosses und zwei der fremden Matrosen nahen in lebhaftem Gespräch — und in ihrer Mitte ... diese hohe, königliche Gestalt ... so schreitet nur einer! — nur er! —
Und er zögert plötzlich und geht langsamer, er bleibt zurück und steht still.
Sein mondbeglänztes Antlitz wendet sich ihrem Fenster zu, wie mit jäher, leidenschaftlicher Bewegung hebt er die Arme und breitet sie nach ihr aus! —
Sieht er sie?
Nein, — es ist dunkel und still hier droben. Mit einem leisen Aufschluchzen des Entzückens sinkt Gabriele auf die Knie — und das rosa Band von Mikes Brautkranz glänzt wie holde, glückselige Verheißung an ihrem Arm. —
Gräfin Gundula hatte recht behalten.
Der Sturm flaute über Nacht und gegen Morgen mehr und mehr ab und wehte schließlich nur noch als kräftig frische Brise von der See herüber, dieweil die klare leuchtende Frühlingssonne an dem Himmel stand und die blühende Welt in goldenem Licht badete. Alle Wolken, alle Dunst- und Nebelschleier hatte der Sturmwind hinweggefegt, und nun wölbte sich das Firmament so tiefblau und fleckenlos wie ein einziger, funkelnder Saphir, und das Meer dehnte sich so azurfarben und endlos und wogte unter Tausenden von schneeigen Schaumkämmen so majestätisch, wie Gabriele seinen Anblick selbst im Traume nicht in gleicher Schöne geschaut!
Und weil Guntram Krafft jüngst einmal gesagt, daß die Farbe des Himmels und der See diejenige sei, welche er am meisten liebe, so hatte Gabriele zum erstenmal ein lichtblaues Kleid angelegt, just das, von welchem ihre Mutter stets gesagt, es stehe ihr am besten von allen.
Sie errötet, als sie ihr Spiegelbild erblickt, und lächelt ihm doch voll süßer, inniger Träumerei zu und atmet so tief und blickt mit so großen, glänzenden Augen umher, als schaue sie die sonnige Gotteswelt zum erstenmal, als sei in ihr und um sie her alles ganz und gar verändert seit der gestrigen Nacht. —
Guntram Krafft war mit den fremden Männern schon zu früher Stunde nach dem Strand hinabgegangen, um zu näherer Besichtigung des Wracks mit ihnen hinauszufahren; wie die Gräfin mit feinem Lächeln sagte: »So strahlend glücklich, wie noch nie zuvor im Leben!« —
Und dann, als sie verstohlen die entzückende Erscheinung des jungen Mädchens mit dem Blick umfaßt, legt sie lächelnd die Hand auf die fleißigen Fingerchen, welche eifriger als je nach dem Staubtuch greifen wollen, und sagt: »Hanna hat die Zimmer heute sehr gut in Ordnung gebracht, ich habe egoistischere Wünsche für Sie, liebe Gabriele! — Ist es ein Wunder, wenn nach all der Angst und Sorge des gestrigen Abends mein Herz heute desto glückseliger in den hellen Sonnenschein hineinlacht? Wissen Sie, wonach ich Sehnsucht habe, liebste Gabriele? Nach einem Lied! Derweil ich hier in meinem Schreibtisch Ordnung zu schaffen habe, singen Sie mir etwas vor! Und dann gehen Sie in den Garten und holen ganz besonders schöne Blumen zum Schmuck der Tafel! Der Kapitän und Pastor sind heute unsere Gäste, da kann der alte Jürgen Haas sein Gewächshaus aufschließen und uns einen Strauß seiner gehegten und gepflegten Lieblinge opfern, hören Sie, Gabriele? Holen Sie aus dem Gewächshaus heraus, was Ihnen hold und schön deucht! So; und nun? Bekomme ich ein Lied?«
Gabrieles Augen leuchteten auf.
»O, gern, wenn Frau Gräfin fürlieb nehmen wollen ... ich sang lange nicht!« —
»Und ich hörte gar lange, lange Zeit keinen Ton Musik in diesen Räumen!« nickte Gundula voll leiser Wehmut, dann aber ging wieder das friedlich stille Lächeln über ihr Antlitz, und sie fügte kaum verständlich hinzu: »Nun bricht aber eine neue Zeit für die Bärenburg an, und das Alte soll vergessen sein!« —
Und sie neigte sich, anscheinend sehr vertieft, über das geöffnete Schubfach, aber ihre Hände ruhten still im Schoß, und ihre Augen blickten voll lebhafter Spannung nach dem Flügel, auf welchem Gabriele zögernd ein Notenheft aufstellte.
Was wird sie singen?
Die Bärin von Hohen-Esp war eine gar gründliche Menschenkennerin, und was Gabriele im tiefsten [S. 369] Herzensgrund für Guntram Krafft empfand, das mußte jetzt als Sang und Klang von ihren Lippen strömen.
»Soll ich die Arie aus dem ›Fliegenden Holländer‹ probieren?« fragte sie zögernd, mit jähem Erröten; »ich studierte sie vor Jahren bei meiner Lehrerin, sang sie aber nicht oft.«
»Und warum nicht?« —
»Sie war mir damals so unverständlich, — ich kannte weder See noch Sturm ...«
»Noch einen armen, einsamen Seemann! O, wie freue ich mich gerade auf diese Arie!«
Und Gabriele sang, erst zaghaft, leise, unsicher, dann immer voller, erregter und inniger, bis ihr ganzes Herz durch die Töne zitterte in dem leidenschaftlichen Empfinden: »— betet zum Himmel! —«
Gundulas Haupt sank tiefer und tiefer zur Brust, immer glänzender ward ihr Blick, immer freudiger das geheimnisvolle Lächeln um ihre Lippen ...
Und Gabriele durchblätterte mit glühenden Wangen die Noten —
»Der Lenz ist da!« von Hildach.
Welch ein Jauchzen und Jubeln — welch ein Frohlocken dem Lenz entgegen! Und die Glocken läuteten so tief und wundervoll aus den Tasten empor, so ganz absonderlich, als seien es nicht Maien-, sondern Hochzeitsglocken!
Gundula erhebt sich und schreitet in das Nebengemach, — und über die Lippen des jungen Mädchens flutet es weiter wie ein alles vergessendes, glückseliges Geständnis.
»Er ist gekommen in Sturm und in Regen, er hat genommen mein Herz so verwegen!«
Und dann ward es still.
Als aber die Gräfin mit bebender Hand den Türvorhang zurückschiebt und leise in das Zimmer schaut, da sitzt Gabriele, hat das Antlitz in die Hände gedrückt und verharrt wie im Traum. — — —
Der alte Jürgen Haas hat seine blühenden Lieblinge im Gewächshaus stets mit Argusaugen gehütet; wie er aber in das wunderholde Antlitz des Fräulein von Sprendlingen schaut, welche ihn lächelnd um einen Strauß bittet, da erhellt sich das runzelige Gesicht des Getreuen, und er nickt mit beinahe zärtlichem Blick —: »So veel, als Jug dat leev is!« — und er schließt das geräumige Glashaus auf und sieht es ohne jedwedes Herzeleid, wie die kleinen weißen Hände nach seinen schönsten Blüten greifen.
Plötzlich zuckt Gabriele zusammen und starrt geradeaus in die Ecke des Treibhauses, woselbst die Oleander und großen Laurostinosbäume nebst etlichen Palmen aufgebaut sind.
»Ist das nicht ein Lorbeerbaum, Jürgen Haas?« fragt sie, und alles Blut steigt ihr in das ehedem so rosig zarte Gesichtchen.
»Ganz recht, een Lorbeer! Der is man torück bleeven von uns' Herrn Grafen sin Konfirmaschon! — Die Blätters sin ganz ampart un' nüdlich, äwerst Blaumens dreiht he nich!«
Gabriele war hastig herzugeschritten.
»Darf ich ein paar Zweige zu einem Kranz nehmen, lieber Haas? — Und haben Sie ein wenig Bast zur Hand, daß ich ihn gleich winden kann?«
Der Alte murmelte: »Allens, wat Se wollen!« kramte aus den grundlosen Tiefen seiner Jacke einen Flausch Bast, und derweil sich Gabriele auf eine leere Blumentreppe setzte und die graziösen Zweige mit bebenden Händen zusammenwand, stand er vor ihr, kraute sich den weißen Kopf und sprach in seiner kurzen, schlichten Weise von der vergangenen Sturmnacht, wo der liebe Herr Graf sich mal wieder Gottes Segen verdient habe. —
Gabriele nickte mit leuchtendem Blick, erhob sich und schüttelte die Blätter von ihrem Kleid. Zwei kleine Kränze hatte sie gewunden, die hing sie an ihren Arm, faßte den großen Strauß der blühenden Blumen zusammen und sagte dem beglückten Alten freundliche und herzliche [S. 371] Dankesworte, — dann schritt sie in tiefes Sinnen verloren durch die warme, lenzesduftige Luft nach der Burg zurück.
Über ihr jubelten die Vögel im blühenden Gezweig, und in ihrem Herzen klangen die Frühlingsglocken noch immer wie ein holdes, traumhaftes Echo!
In der Speisehalle ordnete sie still und geschäftig die Blumen in Schalen und Vasen auf der Tafel, dann stand sie einen Augenblick und schlang zögernd die kleinen Hände ineinander.
Alles war still im Hause.
Die Gräfin hatte sich in ihr Ankleidezimmer zurückgezogen, Anton hantierte an den Büfetts, und die Herren weilten noch am Strande.
Schnell stieg Gabriele die Treppe empor nach dem Wohnzimmer der Gräfin.
Ein Sonnenstrahl flimmerte über einen der braungeschnitzten Bären zu ihrer Seite — da sah es aus, als ob seine Augen sich bewegten, als ob das grimmige Gesicht ihr plötzlich entgegenlache.
Auf dem Schreibtisch der Burgfrau steht das große Brustbild Guntram Kraffts, in der Seemannsjacke, mit dem verwegenen Südwester auf dem lockigen Haar.
Gabriele neigt sich und blickt heiß errötend in das edle, kühne, wunderschöne Männergesicht, welches ihr mit den großen Blauaugen so ganz, ganz anders wie sonst entgegenschaut. Ihr Herz stürmt in der Brust, all die tiefsinnige, leidenschaftliche Seligkeit jungerwachter Liebe durchbebt sie, und sie nimmt den Lorbeer und legt ihn um das Bild des heldenhaften Mannes.
Und wie sie ihn in diesem Schmucke schaut, glühen ihre Wangen und ihr Blick flammt auf in jauchzender Wonne, wie Glut und Feuer rinnt es durch ihre Adern, ein kurzer, glückzitternder Kampf zwischen banger Scheu und allesvergessender Liebe, und sie drückt das Bild an die Lippen, es wie in einem süßen Wonnerausch zu küssen.
»Gabriele!« [S. 372] —
Gleich einem Schrei, halb erstickt in staunendem Entzücken, in namenloser Erregung, klingt es neben ihr.
Auf der Türschwelle des Nebengemachs steht Guntram Krafft, die Hände gegen die Brust gedrückt, das Haupt vorgeneigt, als könne er das Wunder, welches seine Augen schauen, nicht fassen und begreifen.
»Gabriele!!« — —
Sie schrickt zusammen, Leichenblässe bedeckt ihr erst so holderglühtes Antlitz, — das Bild sinkt aus ihren zitternden Händen auf die Schreibtischplatte nieder.
Sie will, — halb vergehend vor Scham und Entsetzen, entfliehen, aber sie macht nur eine unsichere, wankende Bewegung — und schon steht er neben ihr, faßt sie mit festen, starken, kraftvollen Armen und drückt sie an sein Herz, wild, ungestüm, wie der Bär, welcher sieghaft seine Beute nimmt! —
Nein, das ist nicht mehr der scheue Jüngling, welcher sie ehemals mit zarter Hand aus dem Schnee emporhob, dies ist ein trotzigkühner Mann, welcher sich seiner Heldenkraft bewußt geworden ist!
»Du hast mich einen Helden genannt, du hast mein Bild mit Lorbeer geschmückt und es geküßt, Gabriele, — damit hast du jenes Todesurteil zerrissen, welches du mir und meinem Glück geschrieben. Jener taten- und ruhmlose Hohen-Esp, welchen du ehemals verachtend von dir stießest, würde nie und nimmer mehr gewagt haben, die Hände begehrend nach dir auszustrecken, aber hier der Mann, welchen du selber durch Kuß und Lorbeer zu einem Ritter geschlagen, der wirbt nun voll kühnen Wagemuts um deine Liebe, der fordert diese Hand nun als sein heilig Recht! — Gabriele, hast du's gehört? Mein bist du, mein!«
Und wie ein Trunkener blickt er in das liebreizende Angesicht, welches mit den großen, zauberischen Nixenaugen zu ihm aufschaut, welches in holder Verwirrung nur leise, leise seinen Namen flüstert — —: »O, du Herrlichster!« — —
Wie ist es urplötzlich so warm — so duftig — so sonnenhell in dem sonst so kühlen und düsteren Gemach der Frau Gundula geworden!
Auf der Bank in der Fensternische sitzt Guntram Krafft, hält sein Lieb im Arm und bedeckt ihr lächelndes, überseliges Antlitz mit heißen, unersättlichen Küssen!
Goldener Sonnenglanz flutet über sie dahin, und fernher, durch die geöffneten Butzenscheiben, grüßt das weißschäumende Meer mit donnerndem Jubelruf.
Die Augen der Bärin von Hohen-Esp haben feucht geglänzt, als sie ihre Kinder mit leisem Segenswort an das Herz gedrückt, und während das Brautpaar auf Gabrieles Wunsch zur Kapelle schritt, dort auch das Bild des armen Wulffhardt mit Lorbeer zu kränzen, ist Frau Gundula vor ihrem Schreibtisch niedergesunken, hat seit langen Jahren zum erstenmal wieder die versiegelten Briefe und Photographien ihres Gatten zur Hand genommen und heiße, bittere Tränen darauf niedergeweint.
Dann ist es still in ihrem Herzen geworden, still und friedlich wie an einem lichten Sommerabend, wenn alle Wetterschwüle und alles Donnergrollen des Tages mit seinen dunklen Wolken wie ein unheilvoller Traum versunken ist. —
Das Vergangene verlor in dem sonnigen Glück der Gegenwart sein herbes Düster, und was für die einsame, schwergeprüfte Frau blieb, das war das stolze Bewußtsein, täglich ein Werk zu schauen, welches sie aus eigener Kraft und mit Gottes gnädiger Hilfe so wunderbar vollbracht und vollendet. — Welch ein Jubel hallte und schallte durch die alte Bärenburg, als Graf Guntram Krafft mit strahlenden Augen den Getreuen seine Braut zuführte! Da ging es wieder wie ein Raunen und Brummen und Summen durch die verschlafenen Hallen und Gemächer, und die steinernen Bären schüttelten Staub und Moos von den Schilden, die braunzottigen Gesellen rings im Haus erwachten aus tiefem Schlaf und hoben [S. 374] frohgemut die Pranken! Eine neue Zeit blühte heran, ein neues Glück hatte seinen Einzug gehalten, und in dem himmelaufjubelnden Klang der Hochzeitsglocken erstarben die letzten Seufzer, welche so lange gespenstisch um Turm und Söller geweht.
Nach dem Verlobungsessen ist das Brautpaar zum Strand hinabgewandert, und Gabriele hat voll leidenschaftlichen Entzückens die Arme nach der blauwogenden Unendlichkeit ausgebreitet! —
»Dich und das Meer habe ich gestern nacht in all eurer Größe und Herrlichkeit kennengelernt!« flüstert sie voll weicher Innigkeit zu Guntram Krafft empor, — »und weil von der Bewunderung bis zur Liebe bei uns Frauen nur ein kleiner Schritt ist, so nahmt ihr beide mein Herz — tatsächlich im Sturm! — Wenn ich jetzt hinaus in dieses Brausen und Schäumen, in dieses Sonnengefunkel und Geglitzer schaue, mit welchem ich gestern in verzweifelter Todesangst im Gebet um mein Liebstes — um dich! — gerungen, so kommt es mir ganz unfaßlich vor, — daß ich solche Allgewalt und Götterherrlichkeit jemals eintönig und langweilig nennen konnte! — O, wie blind bin ich gewesen, und wieviel blendende Schönheit sehe ich jetzt!«
Sein Arm umschlingt sie noch fester, seine Lippen glühen heiß auf diesen blinden Nixenaugen.
»Geschlafen und geträumt hast du, verzauberte Meerfei, im fernen, fremden Binnenland, bis du heimkehrtest zu uns, bis dich der Sturmwind in die Arme nahm und dir die trauten Wiegenlieder der Woglinde und Wellgunde sang, bis dich mein Kuß aufweckte zu glückseligem Begreifen und Verstehen!«
Ein jubelndes »Hojohe!« ertönt von der Düne herab, Jöschen und Mike stürmen Hand in Hand über den wehenden Sand, und der junge Ehemann schwenkt schon von weitem den Hut und lacht, daß seine kerngesunden Zähne im Sonnenschein blinken.
Atemlos erreichen sie das Brautpaar, und ihr Glückwunsch ist so ehrlich, so überströmend herzlich und aufrichtig, [S. 375] daß Guntram Krafft den wackeren Burschen in die Arme schließt und ihn beinahe übermütig schüttelt.
»Wat seggst nu, min oll Jung'? Dat heft di woll nich drömen laten, wat?« —
Da zwinkert der Lotse nur schalkhaft mit den Augen, und Mike hält Gabriele bei beiden Händen und flüstert ganz schämig: »Dat hevven wi längst mierkt, dat dor wat im Spöle was!« — Und sie gehen noch ein Stückchen plaudernd zusammen, und dann fällt Mike ein, daß sie ja einen Topf auf dem Feuer hat — »grad so weggestürzt sei sie bei der Nachricht!!« — und sie schütteln abermals die Hände und hasten davon durch Disteln und Riedgras.
Wie still ist's wieder, wie still! —
Eine Möwe flattert mit leisem Schrei über der Brandung, ihre Schwingen blitzen im Sonnenlicht grell auf wie silberne Schwertklingen — langsam sinkt sie der blauwogenden Flut entgegen und badet das leuchtende Gefieder im perlenden Schaum.
Voll träumerischen Sinnens folgt ihr Gabrieles Blick.
»Wie hätte ich mir jemals zuvor träumen lassen, daß gerade die See, um deren Gunst ich nie geworben, mir so verschwenderisch alles Glück schenken würde! Jetzt, in ihrer lichten, majestätischen Pracht, hat sie alle Schrecken verloren, welche in der vergangenen Nacht mein Herz erzittern ließen, und doch werde ich sie stets in ihrem tobenden Zorn am liebsten haben, weil gerade Sturm und wilde Flut es waren, welche mir dein heldenhaftes, unvergeßlich schönes Bild geboren!« —
Wieder umfaßt sie voll bebenden Entzückens seine Hand und schaut empor zu ihm mit demselben Blick heiß bewundernder Liebe, welcher sein Herz in unbegreiflichem Entzücken stillstehen ließ, — gestern in dunkler Nacht, als ihre Lippen auf seiner Rechten gebrannt.
Er schüttelt langsam, schwer atmend den Kopf. »Schon einmal hast du mich einen Helden genannt, Gabriele, und hast mein Bild mit Lorbeer geschmückt, und doch [S. 376] leistete ich nicht mehr und nichts Besseres, wie seit langen Jahren! Nur das verdiente Glück ist mir geworden, daß du mich und meine stille Arbeit kennenlerntest, daß du mir durch deine Anerkennung den Mut gabst, die Hände voll liebeheißen Verlangens nach dir auszustrecken ...«
»Das hättest du sonst nicht getan?«
»O, nie und nimmermehr, — und hätte ich sterben müssen an den Qualen, welche mein Herz zerrissen!«
Beinahe demütig blickt sie empor. »So sehr zürntest du mir, weil ich in der Residenz deine Neigung so kühl und schroff abwies? Weil ich dein Meer nicht liebenswert fand, weil ich dir, dem Fremden, nicht mit offenen Armen entgegenkam?« —
Ein schnelles, beinahe heiteres Lächeln zuckte um seine Lippen, Gabriele aber fuhr mit weicher Stimme, halb ernst, halb scherzend fort: »Glaubst du, Liebster, ich hätte es nicht empfunden, wie sehr verändert du mir in Hohen-Esp begegnetest? — Anfänglich war ich nicht böse darüber, im Gegenteil, es berührte mich sympathisch, weil mein Herz noch so weit ab von dem rechten Wege irrte und viel zu sehr von seinem törichten Wahn befangen war, um allsogleich seine Heimat zu finden! — Aber später, wie es immer wärmer und lichter in mir ward, wie dein Wesen mir immer unbegreiflicher schien, da habe ich oft darüber nachgedacht, warum du mir so sehr zürntest, denn, sag' selber, Herzlieber, ist es wahrlich eine so schwere Schuld, wenn ein Mädchen nur dem Mann angehören will, welchen es liebt?« —
Er lächelte noch mehr, beinahe geheimnisvoll.
»Nein, du Wonnige! Im Gegenteil, keine größere Tugend vermag es zu geben, als diesen Stolz, welcher sich nur einem Helden zum Preise setzt!«
»Und doch verargtest du ihn mir?« —
»O, wahrlich nicht! — Meine ganze Seele — all mein Sein und Wesen gehörten dir, Gabriele, und habe ich dich je geliebt, so war es in diesen bittersüßen Tagen, [S. 377] wo ich gegen diese Liebe kämpfen mußte, wie gegen eine Unmöglichkeit!«
»Du wolltest mir nicht gut sein?« —
»Ich durfte es nicht!«
»O, wunderlicher Mann — und wer verbot es dir?« —
Er nahm langsam eine schmale rotjuchtene Brieftasche von der Brust, öffnete sie und entnahm ihr einen kleinen, zerknitterten Zettel, dessen verwischte Bleistiftlinien kaum noch zu entziffern waren.
»Du selber, mein grausamer Schatz!« sagte er leise, und es war, als durchriesele ihn noch einmal wie ein banger Nachhall all das Weh, welches ihn so oft beim Anblick dieses kleinen Papierstreifens gequält. Federleicht war er und hatte doch schwer wie eine unerträgliche Zentnerlast auf seiner Brust geruht.
Mit staunenden Augen neigte sich Gabriele und blickte auf seine Finger, welche den Zettel entfalteten.
»Das sieht ja aus wie meine Schrift!« sagte sie überrascht.
»O, wie hätte ich ehemals so gern mein Leben gegeben, wenn sie es nicht gewesen wäre!«
Nicht ohne Mühe buchstabierte Gabriele die einzelnen Worte heraus.
Voll äußersten Befremdens blickte sie empor.
»Ja, dieses Bekenntnis einer schönen Seele habe ich geschrieben,« — nickte sie sinnend, — »vor langen Jahren schon — kaum weiß ich noch, wie und bei welchen Vorkommnis ...«
»Vor langen Jahren?« —
»Ah! Ganz recht, jetzt entsinne ich mich! In der Weihnachtszeit war es, als wir Backfischchen eines Abends zusammensaßen und heimlich die Überraschungen für den Christtisch häkelten und stickten. — Die ganze Residenz sprach damals von dir — selbstredend behandelten auch wir dieses interessante Thema!« —
»Von mir?... als Backfische?« wiederholte Guntram Krafft mit fragendem Blick.
»Ganz recht! Man erwartete dich als Freiwilligen bei Papas Regiment, wo du deiner Militärpflicht genügen solltest, aber statt deiner kam die Kunde, daß du wegen einer ganz unbedeutenden Kleinigkeit freigekommen seist und nicht dienen wolltest!«
» Damals ? Zu jener Zeit schriebst du diesen Zettel?«
»Gewiß! In allerübelster Laune sogar! Du kennst ja meine Ansichten über Tapferkeit und Heldentum! Nun, und ein Mann, welcher nicht mal den Schneid hatte, Uniform zu tragen, der imponierte mir wahrlich nicht, — der reizte mich zu trotzigster Opposition! Thea Sevarille verspottete mich um dieser heiligen Entrüstung willen — o ja! Nun entsinne ich mich plötzlich wieder ganz genau! — Sie behauptete, ›der geschmähte Hohen-Esp brauche nur auf der Bildfläche zu erscheinen, um all meine stolzen Grundsätze wie die Kartenhäuser über den Haufen zu blasen!‹ Das reizte mich zu noch lebhafterem Widerspruch. ›Gibst du es vielleicht schriftlich?‹ spottete Thea, und ich nahm einen der Zettel, welche schon für ein Schreibspiel vorbereitet zur Seite lagen, und schrieb im Übermut diese geharnischte Kriegserklärung gegen den Bär von Hohen-Esp, welcher damals in meinen Augen nichts weniger war wie ein Held! — Hier siehst du auf der Rückseite des Zettels, welcher zuvor ein Briefbogen gewesen, — noch das vorgedruckte Datum — S ..., Villa Monrepos ... und hier von mir vollendet: den 22. November 18 ...! Es ist mit Tinte geschrieben und noch deutlich zu erkennen!« —
Mit unsicherer Hand nahm der Graf das Papier, neigte sich und starrte die Zahlen an wie ein Träumender; dann strich er langsam mit der Hand über die Stirn und murmelte beinahe atemlos —: »Dieses Datum hatte ich nicht bemerkt ... wie war das möglich ... es muß mir in all der Aufregung, mit welcher ich je und je diese Zeilen gelesen, entgangen sein! — Ich war ja arglos wie ein Kind ...«
Gabriele blickte plötzlich ernst und forschend in sein tief erbleichtes Antlitz empor.
»Ich entsinne mich genau, daß ich ehemals diesen Zettel schrieb; wo derselbe aber an jenem Abend geblieben ist, weiß ich nicht. Geradezu unbegreiflich und unfaßlich aber deucht es mir, wie dieses Papier nach all den langen Jahren in deine Hände gelangen konnte! — Sag' es mir, Guntram Krafft, ich bitte dich darum!«
Heiße Glut stieg plötzlich in seine erst so farblosen Wangen, er knäulte den Zettel voll leidenschaftlichen Zornes in der Hand zusammen.
»Wohl wäre ich nicht mehr verpflichtet, einem solch schnöden Verrat gegenüber das gelobte Schweigen zu wahren, — aber ich will nicht ebenso verächtlich sein wie sie, ich will das Wort halten, welches ich gegeben!«
Und er drückte Gabrieles Hände an die Lippen und sagte: »Ich habe Diskretion zugesagt, — und ich bitte dich, sie halten zu dürfen, Herzlieb! Ich habe die große Welt ehemals nicht gekannt und beklagte oft voll geheimer Sehnsucht, daß sie mir so fremd und verschlossen geblieben, weil du darin lebtest und meiner Ansicht nach der Weg zu deinem Herzen nur durch sie führte! Jetzt danke ich es Gott auf Knien, daß sie mir mit all ihrem Falsch und Verrat so fernliegt. Mein teures, heiliges Meer hat mir das Glück gebracht, welches ich Tor so unerreichbar wähnte, Gott der Herr hat gewußt, Gabriele, daß du reine Perle nicht in den Staub der Großstadt, sondern hierher in deine sturmumbrauste Heimat gehörst!« —
— Mit tiefem, wundersamem Blick schaute sie ihn an. — »Nein — sag' nicht den Namen derer, welche ein so gewissenloses und egoistisches Spiel getrieben, ich kenne ihn ja! Sie hat dich selbst von dannen getrieben und dadurch wieder bewiesen, daß jede Schuld ihre Strafe in sich selber trägt. — So groß aber — ganz so groß, wie du wähnst, war ihr Vergehen jedoch nicht!«
Gabriele hob freimütig das schöne Haupt, ihr Auge leuchtete auf: »Hätte mich Thea an jenem Hofballabend noch einmal um diese meine Backfischansicht befragt, [S. 380] ich würde fraglos dieselben Worte noch einmal niedergeschrieben haben. Der Bär von Hohen-Esp war auch in jenen Tagen noch derselbe tatenlose und ruhmlose Schwächling für mich, welcher er gewesen, seit sein Name zuerst vor mir erklang! — Erst hier in Hohen-Esp lernte ich begreifen, welch ein bitteres Unrecht ich ihm getan! Erst hier erkämpfte der herrlichste und kühnste Mann seinen großen Sieg über mein stolzes Herz, welches er nun zu eigen genommen hat für alle Ewigkeit!« —
Sie erhob sich von dem Bootsrand, auf welchen sie sich momentan niedergesetzt, und strich die wehenden Haarlöckchen von den Wangen zurück, auf welchen heiß und ungestüm seine Küsse brannten.
»Wir wollen den Zettel zu Grabe legen, Geliebter!« — lächelte sie, »damit nichts mehr an die böse, vergangene Zeit gemahnen soll! — Das Meer soll jene Zeilen abwaschen und vernichten, und sie sollen vergessen sein in dem jauchzenden Glück, welches seine stürmende Flut uns geschenkt!«
Sie traten näher herzu an die schäumende Brandung, und Guntram Krafft zerriß das Papier und zerstreute seine kleinen weißen Flocken in den sprühenden Gischt. Eine Woge kam und wusch sie zurück auf den Meeresgrund, und die goldhaarigen Nixen sammelten sie und betteten sie tief unter Muscheln und wogendem Tang.
Frisch und köstlich rein streicht der Wind um die Stirn, und sie stehen Arm in Arm in wortloser Glückseligkeit und sehen zu, wie das letzte Streifchen im Wellenschnee verschwindet.
»Nun ist die letzte Spur von damals verwischt!« lächelte Gabriele und schmiegt sich fester an die Brust des geliebten Mannes.
»Damals! — und heute?« fragte er neckend. Da schlingt sie die Arme um ihn und flüstert voll strahlenden Stolzes: »Heute lautete der Zettel, welchen ich schrieb, freilich anders! Lasest du nicht die Depesche, welche ich meinem [S. 381] Mütterchen schickte? — O, Guntram Krafft, — wie wird sie sich unseres Glückes freuen!« —
Das hat Frau von Sprendlingen nun schon seit Jahren aus vollstem Herzen getan.
Sie ist ein häufiger, voll wärmster Freude begrüßter Gast auf Hohen-Esp geworden, eine scharmante Schwiegermama, der Guntram Krafft stets die warmherzigen Sympathien erhalten hat, welche er der so gütigen Mutter seiner Gabriele von Anbeginn entgegengebracht. — Auch eine liebe, vertraute Freundin Gundulas ward sie, deren Interessen so ganz und gar mit denen der Generalin verschmolzen.
Seit ein junges, frisches Geschlecht in der alten Burg emporblüht, und die kleinen Bären in Halle und Hof herumpurzeln, hat Großmutter Gundula alle Hände voll zu tun, und es ist ein wahrer Segen, daß sie nach wie vor als guter Schutzgeist auf Hohen-Esp waltet, denn auf Frau Gabrieles Hilfe ist nicht im mindesten zu rechnen.
Zum händeringenden Erstaunen von Frau von Sprendlingen hat ihre Tochter viel mehr Interesse für den Rettungsschuppen, wie für Haus und Hof, und nie zuvor hätte sie geglaubt, daß Gabriele sich so leidenschaftlich für die See und alles, was mit ihr und dem Rettungsschuppen zusammenhängt, begeistern könne. Aber gerade das bildet das jauchzende, unbeschreibliche Entzücken des Grafen, den Höhepunkt all seines Glückes.
Das verbindet sein Herz doppelt fest und innig mit dem seines heldenhaften Weibes, welches ihn hinausbegleitet auf die See, in Sonnenglanz und Mondenschein, bei Sturm und bösem Wetter.
Dann sitzt auch auf dem lockigen Köpfchen der Gräfin der Südwester gar bildhübsch und verwegen, auch sie trägt »Ölzeug« und weiß mit Ruder und Segel Bescheid wie der beste Lotse!
Einst hatte ein jäh einsetzender Sturm sie weit draußen auf dem Meere überrascht. Es gab eine grobe See und schweres Wetter.
Gabriele aber war fest und seetüchtig wie ein bewährter Matrose, — mit blitzendem Auge schaute sie kühn und unerschrocken in das Wetter hinaus, und als es immer gewaltiger stürmte, und das Schifflein von hohen Wogen geschleudert ward, da faßte sie die Hand ihres Mannes, schmiegte sich fest an ihn und blickte ihm in die Augen.
Er umschloß sie treu und innig: »Fürchtest du dich, Herzlieb?« —
Da lächelte sie, faßte seine Hand noch fester und sagte schlicht: »Wovor? Wir sind ja beisammen !« —
O, in diesem Augenblick hätte der Graf von Hohen-Esp sein schwankes Schifflein mit keinem Kaiserthron vertauscht!
Als Frau von Sprendlingen aus der Residenz die Nachricht mitbrachte, daß Herr von Heidler schon seit Jahr und Tag den Abschied genommen und in süßem Nichtstun von den Renten seiner Gattin lebe, — dies sei behaglicher wie das ewige Hetzen, Drillen und Streben im bunten Rock — da starrte Gabriele die Sprecherin mit weitoffenen Augen schweigend an, Guntram Krafft aber fragte überrascht: »Er war doch passionierter Sportsman, und so eine Leidenschaft liegt im Blut! Reitet er nicht mehr privatim die Rennen mit?« Da lächelte die Generalin: »O, nein! Anfänglich hatte er wohl den Wunsch, es zu tun, aber seine sehr verwöhnte, kindische und eigenwillige Frau hat es ihm streng verboten, da es zu gefährlich sei; und da Herr von Heidler sehr unter dem Pantoffel steht, fügt er sich willenlos den Wünschen seiner reichen Gattin.« —
Gabriele machte eine jähe, brüske Bewegung, mit beinahe verächtlichem Lächeln wandte sie sich ab.
»Und Gräfin Thea?« —
»Sie tanzte Winter für Winter vergeblich. Jetzt hat sie sich der Frauenbewegung angeschlossen und schreibt sehr zornmutige ›grünspanische‹ Artikel gegen die Männer. Wenn es ihr glückt, ist das starke Geschlecht binnen Jahresfrist vernichtet!« —
»Gottlob, daß Hohen-Esp so weit aus der Welt liegt,« lachte Guntram Krafft, »hier erreicht mich ihre Feder hoffentlich nicht im Todesstoß!« —
Die Rettungsstation des Bären von Hohen-Esp hat viel bewundernde Anerkennung gefunden, und sein edles Beispiel gab oft Veranlassung, auf diesem Gebiete nachzueifern und das Rettungswesen zur See zu fördern. Durch ihn ward in der Residenz die Aufmerksamkeit des großen Publikums auf die bittere Not gelenkt, mit welcher der Seemann an unserer heimatlichen Küste zu kämpfen hat, und manch hilfsbereite Hand tat sich auf, die Sammlungen der Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger durch ein Scherflein zu unterstützen.
Da hatte der Bär von Hohen-Esp auch in weiterem Sinn für das Vaterland gewirkt und zu sein und seines Kaisers Ruhm und Ehren zwar nicht das Schwert, wohl aber das Ruder mit kühner, tatenfroher Hand geführt.
Neben der Rettungsmedaille schmückt ein hoher Verdienstorden seine Brust, und es war einer der schönsten Tage in Gabrieles Leben, als sie denselben dem geliebten Mann voll stolzer Anerkennung auf sein schlichtes Fischerkleid heften konnte.
Von dem Rettungsschuppen flattert die Fahne der Hohen-Esp, weithin sichtbar nach dem blauen Meer, und um die Mauern und Zinnen des alten Bärenschlosses weht und rauscht es auf geheimnisvollen Schwingen, — ranken die roten Rosen und duften heimlich von dem unvergänglich großen Liebesglück, welches darinnen wohnt.
Unverändert, Jahr um Jahr, wogt die See gegen den gelben Dünensand, wirft Muscheln und Bernsteinbrocken aus und überschüttet die Kinder, welche jubelnd von der Burg zum Strand stürmen, mit blinkenden Tropfen, — ihre weißen Wellenarme breitet sie nach dem neu heranwachsenden Heldengeschlecht aus, und der junge Bär [S. 384] von Hohen-Esp setzt vorsichtig sein erstes, selbstgeschnitztes Schifflein auf das Salzwasser, schlingt den Arm um den Nacken von »Jöschen dem Jüngern« und sagt: »Auch ich werde ein Schirmvogt von Hohen-Esp sein, und wenn du und ich so groß sind wie der Vater, fahren wir beide als Matrosen zur See!«
Guntram Krafft hat's gehört, er zieht sein holdes Weib an die Brust, und sein glückstrahlender Blick schweift hinaus über die schimmernde Flut; wie ein Psalter heißen Dankes jauchzt es in seinem Herzen, und tausend blaue Wogen rauschen: »Halleluja! Amen!«
Eingefügt: Inhaltsverzeichnis am Beginn des Buches.
Unterschiedliche Schreibweisen wurden nicht geändert.
Typographische Fehler und einzelne Satzzeichen wurden stillschweigend geändert.