Title : Die Starken: Ein Athleten-Roman
Author : Dolorosa
Release date : December 27, 2019 [eBook #61032]
Language : German
Credits
: Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
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Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der 1907 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert.
In der gedruckten Ausgabe befindet sich zwischen den Kapiteln IV. und V. auf S. 44 ein weiteres Kapitel, welches mit ‚VI.‘ bezeichnet wurde, aber nicht identisch mit dem ebenfalls mit ‚VI.‘ nummerierten Kapitel auf S. 95 ist. Die Kapitelnummern wurden in der vorliegenden Fassung dahingehend neu geordnet, dass das Kapitel auf S. 44 nun mit V. bezeichnet wurde; alle folgenden Kapitelnummern verschieben sich entsprechend und bilden nun die Kapitel VI-XIV, wie aus dem vom Bearbeiter erstellten Inhaltsverzeichnis ersehen werden kann.
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Herren des Lebens.
Roman-Kranz in drei Büchern
von
Dolorosa.
I.
Die Starken.
Ein Athleten-Roman.
Leipzig, 38.
Leipziger Verlag, G. m. b. H.
Ein Athleten-Roman
von
Dolorosa.
Leipzig, 38.
Leipziger Verlag, G. m. b. H.
Jacob Koch,
dem Ringkämpfer.
Seite
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Kapitel
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I.
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II.
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III.
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IV.
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V.
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VI.
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VII.
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VIII.
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IX.
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X.
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XI.
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XII.
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XIII.
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XIV.
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Lange nach Mitternacht schloß Eberhard Freidank die Augen zu jenem kurzen, leichten und fieberigen Schlummer, der nach anhaltender, angespannter Anstrengung aller Geisteskräfte nicht eigentliche Erquickung bringt, sondern nur das Bewußtsein trübt, indes alle Glieder regungslos und wie zerschlagen daliegen. Als er nach einer Zeit, die ihm unglaublich kurz gewesen zu sein schien, erwachte, war schon der weißgraue Spätoktobermorgen am Himmel heraufgezogen und blickte matt hinein in das bescheidene Studentenstübchen, in dem Schlaf und Wachsein um Eberhard Freidank kämpften. Dieser Streit wurde aber alsbald entschieden durch den Briefträger, der eben die Treppen hinaufstieg und für Eberhard ein Briefchen brachte.
Der junge Mann wurde ganz wach, betrachtete das längliche Briefchen mit überaus freundlichen Augen und übersah durchaus, daß die Adresse von flüchtiger, ungeübter Hand geschrieben und daß die Marke schräg über Eck geklebt war; denn er liebte Fritzi l’Alouette, die den Brief gesandt hatte, und sie schrieb ihm nur in seltenen Fällen. Er öffnete den Brief mit liebevoller Hand und las:
„Liebster Ebi! Warum hast Du mich heute abend nicht vom Theater abgeholt? Ich hatte Dir gerade etwas Eiliges zu sagen. Ich bin nämlich in eine schreckliche Klemme geraten, und Du mußt mich unbedingt herausreißen. Bis morgen nachmittag muß ich unter allen Umständen zwanzig [S. 2] Mark haben. Ich brauche sie furchtbar notwendig, und Du mußt sie mir ganz bestimmt beschaffen, aber hörst Du, ganz bestimmt. Jetzt, wo Du Dein Stück fertig hast, ist Dir das ja eine Kleinigkeit. Lieber, süßer Ebi, lasse mich keinesfalls im Stich. Du hast mich doch so lieb und wirst Deiner kleinen Fritzi die Bitte nicht abschlagen. Komme um drei Uhr ins Café Prätorius und bringe mir das Geld mit. Es grüßt und küßt Dich Deine treue Fritzi.“
Du lieber Gott, sprach Eberhard erschrocken zu sich selbst, du lieber Gott, woher, in aller Welt, nehme ich bis heute nachmittag zwanzig Mark, um sie Fritzi zu bringen? Denn bringen muß ich sie; das eine ist ganz klar. Aber woher?
Er nahm das magere Portemonnaie aus der Hosentasche, öffnete es, obwohl er genau wußte, wie viel, oder richtiger, wie wenig darin war, und zählte melancholisch: eins, zwei, — sieben Groschen; und hier, in dem Extrafache, noch eine Mark; fehlten achtzehn Mark und dreißig Pfennige. Ein erheiterndes Rechenexempel!
„Deine treue Fritzi“, las er noch einmal und dachte betrübt: Das liebe Kind! sie hat auf mich gewartet, um mir ihre Verlegenheit zu klagen! sie hat endlich eingesehen, daß ich nicht gekommen war, und ist traurig allein nach Hause gegangen, während ich Barbar an diesem Tischchen saß, um mein Stück zu beenden! Das gute, ahnungslose Kind: mein Stück, so denkt sie in ihrem herzigen Vertrauen, wird uns beide sofort, da es kaum fertig ist, mit Reichtümern überschütten!
Eberhard griff halb schüchtern, halb stolz nach dem dicken Schreibbuche in schwarzem Wachstucheinband und betrachtete es mit der lächelnden, freudenvollen Befangenheit des jungen Autors, der ein Erstlingswerk vollendet und viel fröhliche Pläne und hochfliegende Hoffnungen, viel ju [S. 3] gendliche Zaghaftigkeit, viel Jünglingssehnsucht und Träume von Ruhm und Glück in die sorgsam beschriebenen Linien eingeschlossen hat. Er schlug das Manuskript auf und lächelte mit seinem frischen, gesunden und naiven Lächeln wohlgefällig den Titel an, welcher also lautete: Ein Kind der Straße. Volksschauspiel in vier Akten von Eberhard Freidank.
Das „Kind der Straße“ hatte auch schon eine kleine Tragödie hinter sich, die Tragödie der Ungedruckten und Unaufgeführten, die kein Mensch bedauert. Als es in Eberhard Freidanks Kopfe geboren wurde, stand es schon in seinen Umrissen fix und fertig da, und es sollte ein feines, nachdenkliches Drama voller Geist und Psychologie werden. So wollte es der junge Freidank. Als aber das Manuskript fertig vor ihm lag, glich es dann doch nicht der Lichtgestalt seiner Träume; die Glut seiner Gedanken war auf dem weißen, empfindungslosen Schreibpapier verblaßt, und die Worte standen so steif und leblos da. Immerhin sandte er sein Werk voll Zweifel und Hoffen an die Intendantur der königlichen Schauspiele. Nach einer langen Zeit, während deren er sich vergeblich einzureden versuchte, daß ihn das Schicksal seines Manuskriptes nicht im geringsten interessiere, bekam er es zurück. Da hatte er es umgearbeitet, hatte moderne, übermoderne Züge hineinverwebt und es einem intelligenten Theaterdirektor eingereicht, der gern Talente entdeckte. Nach vierzehn Tagen ließ der Direktor den Mann kommen, dessen unbrauchbare Arbeit den gewissen, ahnungsvollen Bühneninstinkt verriet. Als Eberhard das Bureau betrat, sah ihn der Bühnengewaltige von oben bis unten an und lachte dann hell auf: „So sehen Sie aus? So kerngesund, so unwahrscheinlich gesund, ein rotbäckiger Germane, direkt Athlet, und schreiben diffizile, pathologische Stücke? — Junger Dichter, wenn Sie den [S. 4] Rat eines alten Praktikers nicht übel nehmen, so lassen Sie sich sagen: Besinnen Sie sich erst auf sich selbst, auf Ihre eigne Kraft, und dann schreiben Sie ein neues Stück und bringen es mir.“ — Da hatte der junge Mann pikante Verwickelungen hineingebracht und es einem Theater eingereicht, welches französische Ehebruchsdramen aufführte. Aber der biedere, fröhliche, von Herzensgrund reine und gesunde Jüngling hatte keine Pikanterie schaffen können, und wieder kehrte das Stück zu ihm zurück.
Nun zürnte Eberhard sich selbst, wollte niemals wieder schreiben und tat sich selber leid, daß er in langen Winternächten mühsam die schwarzen Buchstaben aneinander gereiht hatte, anstatt sich von des Tages Arbeit auszuschlafen; denn er hatte einen Tag wie den andern am Morgen Kollegs gehört und nachmittags Privatstunden gegeben, um seine bescheidenen Einkünfte zu vermehren. Die Enttäuschung bewirkte nun, daß er die ganze Arbeit, das Studieren und Schreiben, aus tiefster Seele haßte. Zehnmal des Tages reckte er seine langen, starken Glieder, deren Kraft zu nichts gebraucht wurde, sehnte sich, schwere Arbeit zu verrichten, und wenn er einen Steinträger unter seiner Bürde keuchen sah, hätte er ihm am liebsten die Last abgenommen. Um jene Zeit ging er wieder zum Turnen und Fechten, machte weite Spaziergänge und ging oftmals zu Fuß nach Potsdam, statt in das Kolleg. Privatstunden hörten auf: er suchte keine neuen. Sie hätten ihm zu viel Zeit geraubt, denn inzwischen hatte er Fritzi kennen gelernt, Fritzi, die Chansonette.
Sie war kein großer Stern, sondern nur eines von den ganz kleinen Sternchen. Als Eberhard sie kennen lernte, machte sie gerade den unsicheren Sprung aus der Variétéschule ins erste Engagement. Er sah sie bei ihrem ersten Debüt, und wie sie mit ihrem muntern Stimmchen sang, [S. 5] mit zierlich schlanken, rotbestrumpften Beinchen tanzte und mit lieblichem Munde und blitzenden Augen lachte, sang, tanzte und lächelte sie sich geradenwegs in das ehrliche Herz des großen, starken Studenten hinein.
Da fing ein fröhlicher Frühling leichtlebiger junger Liebe an, die das Heute genießt, ohne der grauen Zukunft zu gedenken. Für ihre Gage hätte Fritzi sich nicht einmal die bunten, flatternden Kleidchen kaufen können, in denen sie abends über die Bühne hüpfte. Eberhard sorgte für alles, und Fritzi war ihm dafür gut. Der Jüngling dachte nie daran, daß sein kleines Erbe einmal aufgezehrt sein könnte, und ein wunderlicher Schreck, mehr Staunen als Entsetzen, durchzuckte ihn an jenem Tage, an dem der Bankier ihm die letzten zweihundert Mark seines Kapitals nebst einer Schlußabrechnung sandte. —
Er mußte nun in kurzer Zeit Geld verdienen, um für sich und Fritzi sorgen zu können. Zufällig fanden sich nicht sogleich Privatstunden. Was tun, um schnell zu verdienen? Man schreibt etwas; ein Buch, ein Stück... Da wurde triumphierend das alte, verstaubte und vergilbte Manuskript hervorgesucht und kritisch, mit der naiven Überlegenheit des Menschen, der inzwischen zwei Jahre älter geworden, von neuem studiert.
Gerade in diesen Tagen machte Eberhard die Bekanntschaft des Direktors vom Odeontheater. Den hat der Himmel mir geschickt, dachte Eberhard. Dem fröhlichen, jovialen Manne, der abends am Artistentische ein so angenehmer Kneipgenosse war, würde er sein Stück anbieten und sicher keine Ablehnung erfahren. Das Drama, welches schon so viele Metamorphosen erlebt hatte, sollte aus dieser letzten Häutung als Volksschauspiel in vier Akten erstehen, grausig und rührend, pomphaft und populär, wie das Publikum des Odeontheaters es liebte. Ohne Furcht sah nun der junge [S. 6] Freidank seine Barschaft auf die Neige gehen und war nur traurig, daß er Fritzi ein wenig knapper halten mußte. Aber nur erst fertig sein, dann würde schnell der Umschwung zum Guten kommen! Er arbeitete fieberhaft, mit fliegender Feder, und gerade am Abende, ehe Fritzis Brief ankam, hatte Eberhard, bebend vor Stolz und Hoffnung, den Schlußstrich unter dem „Kind der Straße“ gezogen.
Eberhard heuchelte vor sich selbst Gleichgültigkeit, als er das umfangreiche Manuskript zu sich nahm und sich auf den Weg zu Direktor Immermann vom Odeontheater begab. Immermann! sagte er mit zuversichtlichem Lächeln zu sich selbst, der teure Name soll mir ein gutes Omen sein! — freilich, außer dem Namen ist nichts Immermannsches weder an diesem Direktor noch an seinem Theater. —
Man gelangte zu dem Bureau des Direktors Immermann durch einen schmalen, finsteren Korridor, der auf einen freien Vorraum führte, wo allerlei Kulissengerümpel lag und stand. Eberhard durchschritt diesen Raum, klopfte an und trat in das Bureau.
Direktor Immermann war nicht darin; ein blasser, verkümmerter Schreiber präsentierte dem Besucher einen Sessel und vertiefte sich dann wieder in die Unterhaltung mit einem temperamentvollen Juden, der Herr Markus genannt wurde. Herr Markus hatte viele Photographien und farbige Plakate auf einem Zähltisch ausgebreitet und redete lebhaft und unter Anwendung unverständlicher Fachausdrücke auf den Theaterschreiber ein. Er führte ein großes Wort, und der blasse junge Mann hörte ihm voller Interesse zu.
Eberhard sah sich ein wenig neugierig um. Alle Wände und überhaupt alle vorhandenen Flächen waren mit bunten Artistenplakaten tapeziert; dazwischen fanden sich hier und da verstaubte Schleifen und ein alter Lorbeerkranz. Die [S. 8] meisten dieser großen, bunten Blätter hingen schon lange an den Wänden und hatten keine Beziehung zu dem gegenwärtigen Repertoire des Theaters. Aber nun fiel Eberhards Blick auf ein schreiend gelbes, mit Riesenlettern bedrucktes Plakat, welches besagte: Am 1. Dezember beginnt im Odeontheater eine große internationale Ringkampf-Konkurrenz um die Meisterschaft von Deutschland und den großen Preis von Berlin im Betrage von achttausend Mark. 24 Ringkämpfer ersten Ranges haben sich bis jetzt gemeldet. — Um dieses auffällige Plakat, welches die Mitte der Wand einnahm, waren die prächtigen, überlebensgroßen Reklamebilder berühmter Athleten gruppiert. Jetzt verstand Eberhard mit einem Male die Unterhaltung der beiden Männer am Zähltische. Immer noch erzählte Herr Markus voll Leidenschaft, mit orientalischem Temperamente, von „unserer Konkurrenz“ und setzte dem aufhorchenden Schreiber auseinander:
„Dies Bild? — Ein Schwarzer natürlich, ein pechschwarzer Sudanneger; er heißt Mansur! — Sie sagen, er hat auf der Photographie einen Trauring auf? — Ja, den hat er wohl abzunehmen vergessen.“
„Trägt er ihn denn sonst?“ fragte der Schreiber mit neugierigem Lachen. „Seine Frau sitzt doch wahrscheinlich in Afrika, im Harem, und sieht ihn nicht!“
„In Afrika? Im Harem?“ schrie der Manager und schüttelte sich vor Lachen, während er mit seinen übermäßig beringten Händen heftige Gesten machte, „da kennen Sie Mansurs Frau schlecht! O nein! Sie läßt ihn nicht einmal allein ausgehen. Abends sitzt sie im Theater und hält beide Augen offen, daß er nicht etwa mit einer Verehrerin spricht. O Himmel, ja, die Frau Mansur hat Schneid! — Eine Wienerin, wissen Sie, so eine richtige mollige, aber sie steckt ihren Mansur, so groß und dick er ist, zehnmal [S. 9] in den Sack, obwohl sie ihm gerade bis an den Ellenbogen reicht!“
Eberhard fing eben an, sich für die Unterhaltung zu interessieren, als man schwere Schritte die Treppe, die zur Bühne führte, herunterkommen hörte. Sofort änderte sich das Bild im Bureau; der Schreiber ging langsam, mit müder Geschäftsmiene, an sein Pult zurück, während Herr Markus, der bis jetzt, nach jüdischer Gewohnheit, mit bedecktem Kopfe gestanden hatte, schnell den Zylinder abnahm und auf einen Stuhl setzte. Mit dieser einzigen Bewegung hatte er eine devote, beflissene Haltung eingenommen, und eifrig lief er den Ankommenden entgegen. Es war Direktor Immermann, der einem andern Herrn höflich den Vortritt ließ.
Der Direktor ging auf Eberhard zu, der sich beim Eintritt der Herren erhoben hatte, und begrüßte ihn in seiner munteren, kordialen Weise:
„Ah, junger Freund, das ist aber hübsch, daß Sie einmal kommen! — Gleich stehe ich zu Ihrer Verfügung! Nur wenige Minuten noch habe ich mit Herrn Thyssen zu sprechen! — Die Herren gestatten: Herr Freidank; Herr Thyssen, unser berühmter Weltmeister... Sie entschuldigen mich ein Weilchen, mein junger Freund; nehmen Sie Platz indessen...“
Eberhard verbeugte sich tief vor dem berühmten Athleten und setzte sich wieder. Hermann Thyssen aber nahm den angebotenen Platz nicht an und ging langsam, mit schweren Schritten, an den Tisch, auf dem die Photographien ausgebreitet lagen, während er Direktor Immermann mit einer kaum merklichen Kopfbewegung zu sich winkte.
Es konnte kaum ein größerer Unterschied zwischen zwei Männern gedacht werden, als zwischen dem Theaterdirektor und dem Ringkämpfer, wie sie jetzt nebeneinander [S. 10] standen. Immermann war ein kleiner, blonder, fröhlicher Mann, dessen rundes Bäuchlein ihm nichts von einer angeborenen heiteren Behendigkeit geraubt hatte. Er hatte hellblondes Haar und einen lustigen, goldblonden Spitzbart. Seine lebhaft gefärbte Kravatte war mit einem großen Brillanten geschmückt, und auf seinem Bäuchlein schaukelte eine dicke Uhrkette mit zahlreichen Berlocken. Herr Thyssen überragte den Direktor fast um einen Kopf. An ihm war alles von unaufdringlicher Gediegenheit und Eleganz. Seine Kleider verrieten den ersten Londoner Schneider, seine Knopfstiefel den feinsten englischen Schuster. — Auf einem starken Halse erhob sich selbstbewußt, fast hochmütig, der interessante, prachtvolle Kopf. In den dunklen Augen blitzte ein ernstes, schönes Feuer, die kühne Stirn war hoch und überaus edel geformt, die schwarzen, nicht allzu kurz geschnittenen Haare waren über der linken Schläfe in einen Scheitel gekämmt. Den starken, schwarzen Schnurrbart trug Herr Thyssen nach preußischer Mode gerade nach oben gebürstet. Aber in diesem stolzen, herrischen Gesichte frappierte der weiche, feine, köstlich geformte Mund. Dieser Mund war hellrot und schwellend, wie der zarte Mund eines Kindes, und von jener klassisch edlen Form der Lippen, die der hellenische Phidias seinen unsterblichen Jünglingsangesichtern lieh. Darunter wölbte sich dann ein festes, willensstarkes Kinn. Die breiten Schultern, die ganze hohe und breite Gestalt des Weltmeisters waren von jener ruhigen, gleichmäßigen Schwerfälligkeit, die aus dem Bewußtsein einer sicheren, überlegenen, ungeheuren Kraft entspringt.
Eberhard freute sich, den berühmten Athleten, den Sieger in allen Wettkämpfen der Welt, mit bürgerlichen Kleidern angetan, von Angesicht zu Angesicht betrachten zu können. — Herr Thyssen sah ruhig die Photographien durch und ließ alle Fragen, die Immermann zu stellen hatte, [S. 11] durch sein Faktotum Markus, welcher als der Manager vorgestellt wurde, beantworten. Doch nun wendete sich Immermann direkt an Thyssen:
„Sie aber wissen allein, Herr Thyssen, auf welche Teilnehmer wir mit Sicherheit rechnen können? Ich muß die Namen vorher haben, wegen der Reklame...“
Thyssen war kein Freund vom vielen Reden. Er schob dem Direktor einige Bilder zu und sprach langsam und bedächtig:
„Bernhard Meinken aus Hamburg; Paul Kiesling aus Westfalen; vielleicht den Münchner Binder. — Raymond Poing de fer; Pierre le Forgeron, genannt Oeillet rouge, die rote Nelke; Champion von Paris! — Jan van Muyden; Ola Carstensen; Frank Argyll aus Texas; Manuel Gomez, el Toro de Granada; Giacomo Petrocchi und Vittorino Cardo, sein Bruder; Sergej Roditscheff aus Rußland; Jimmy Holyhead, ein Schwarzer; Mansur, the Lion of the Sudan, auch ’n Schwarzer; haben Sie?... William H. Lanfrey; Karl van dem Domhoff...“
„Kenn’ ich nicht,“ sagte Immermann dazwischen.
„Ob Sie ihn kennen oder nicht, ist doch ejal,“ sagte der Athlet gleichmütig in seinem wohllautenden niederrheinischen, etwas schleppenden Dialekte. „Hauptsache ist doch, daß ich ihn kenne. Kann Ihnen aber zu Ihrer Beruhigung sagen: seriöse Meisterschaft im Schwergewicht, 1904 in Lüttich. Jenüjend, allright? — Überhaupt, was soll Ihnen die Aufzählung? Ich versteh’ nicht, wozu Sie die heut’ brauchen. Das schreibt Ihnen Markus alles... Wichtiger ist mir: Ich brauche dann noch ’n paar Berliner, die ’n bischen hermachen. Müssen immer ’n paar Einheimische ’bei sein.... Die könnten Sie mir besorjen, Immermann. Da hätt’ ich ’n’ jroße Arbeit weniger...“
„Professionals?“ fragte Immermann.
„Ach nee!“ erwiderte der Athlet, ärgerlich, daß er Erklärungen geben mußte. „Die kann ich doch allein krieje, nicht? — Auch keine Klubleute. Wird mir sonst zu jroße Klubmeierei; ’n paar jute Amateure. Werden sich schon denken können, was ich brauche. Im Notfall ist einer jenug...“
Der Direktor behauptete, daß er nun genau wüßte, was Herr Thyssen wünschte, und er würde einen solchen jungen Mann besorgen. Inzwischen hatte der Manager Markus sämtliche Photographien eilfertig zusammengerafft und erinnerte Thyssen respektvoll, daß es hohe Zeit sei, wenn man den Hamburger Zug noch erreichen wollte. Darauf reichte Hermann Thyssen dem Theaterdirektor die große, starke Hand und verabschiedete sich, ohne viele Worte zu machen. Beim Hinausgehen streifte er Eberhard mit einem scharfen, prüfenden Blicke. Eberhard sah eine Sekunde lang in die stolzen, flammenden Augen, während ein warmes, eigentümlich wohltuendes Gefühl eigener junger Kraft und Gesundheit durch seinen Körper zog...
„Das sind Kerls!“ rief Immermann, der seinen berühmten Gast bis ans Tor begleitet hatte und nun aufgeregt zurückkehrte, in heller Begeisterung. „Donnerwetter, das sind Kerls! Dieser Thyssen! Dagegen kommt sich unsereins wie ’ne Mücke vor... Diese Tatzen, was? Damit eins kriegen, muß ’n Vergnügen sein, was? — — Aber womit kann ich Ihnen dienen, junger Freund?“
„Ich bringe Ihnen ein Stück,“ sagte Eberhard hoffnungsvoll, indem er das Manuskript hervorholte. „Ein Stück für Ihr Theater, extra für Sie geschrieben. Können Sie es nicht gleich lesen? Es würde Ihnen sicherlich gefallen... Das ist etwas für Ihr Publikum, glauben Sie mir! Vier kurze Akte...“
Eberhard brach ab, da der Theaterdirektor keine Miene [S. 13] machte, nach dem Hefte zu greifen, sondern es mit jovialem Lächeln ein wenig zurückschob. Er blickte Eberhard mit seinen freundlichen, hellen Augen an und sagte munter:
„Dichter sind Sie auch? — Wußte ich gar nicht. — Haben Sie nicht die kleine Fritzi aus dem ‚Goldsalon‘! Nicht wahr? Ja, wußte ich doch noch. Und die läßt Ihnen Zeit zum Dichten? Komisch. Solche lebenslustigen, kleinen Käfer lassen den jungen Herren gewöhnlich gar keine Zeit! Wohl eine feurige, kleine Kröte, was? Ja, ja, diese schwarzen Augen!“
Eberhard ärgerte sich. Er mochte keine Diskussion über das Temperament seiner Fritzi, hier, vor den Ohren des Schreibers. Er begann von neuem:
„Wollen Sie nicht mein Stück lesen? Es paßt wirklich großartig für Sie. Es heißt: „Das Kind der Straße“. Nun, gefällt Ihnen das? Das wird bei Ihnen ziehen, passen Sie auf!“
Immermann nahm das Manuskript, blätterte darin, lachte behaglich und sagte mit vergnügtem Schmunzeln:
„Ein richtiges Theaterstück, wahrhaftig! Hätte wirklich nicht gedacht, daß Sie auch dichten können. Ist sicherlich ein sehr hübsches Stück! Warum sollte es nicht hübsch sein? — Aber für mich? Nein, lieber Herr Freidank! Ich kann doch keine Stücke von den Herren Dichtern brauchen!“
„Aber Sie führen doch fortwährend neue Stücke auf!“ sagte Eberhard aufgeregt. „Die muß doch irgend jemand schreiben! Also warum sollten Sie nicht ein Schauspiel von mir bringen?“
„Ich beziehe doch meine Stücke fix und fertig von meinem Agenten,“ erwiderte Immermann freundlich beschwichtigend. „Gleich mit allen Regiebemerkungen, mit der notwendigen Musik — wie gesagt, die Mimen können gleich losspielen! — Jeden Gefallen tue ich Ihnen gern, [S. 14] junger Freund, aber ein Stück von Ihnen spielen? Es ist unmöglich, so gerne ich’s täte, es ist wahrhaftig unmöglich!“
Freidank geriet angesichts dieser lächelnden, jovialen Ablehnung in Verzweiflung. Er versuchte einen letzten Ansturm:
„Aber nehmen Sie es doch, Herr Immermann! Die Regie richte ich Ihnen sehr gern ein. Das ist das wenigste! Sie bekommen es billig... Es ist doch direkt für Sie geschrieben...“
Endlich hörte der Direktor den bangen, flehenden Ton der Sorge aus Eberhards Worten.
„Ah so!“ sagte er freundlich, „das ist’s, darum liegt Ihnen so viel an Ihrem Stück... Nun, das passiert Jedem ’mal! Das kenne ich! Das hätten Sie doch gleich sagen können! Hier, Herr Freidank!“
Er griff in seine Westentasche und holte ein Zehnmarkstück heraus, welches er Eberhard in die Hand drückte, indem er bemerkte:
„Können mir’s ja wiedergeben, wenn es Ihnen paßt. — Nein, nein, nehmen Sie nur, keine Widerrede, junger Freund! — Weiß ja, junge Leute brauchen immer Geld, ja, ja!“
Eberhard sah alle seine Hoffnungen zerschellen. Eine wilde, finstere Verzweiflung tat sich vor ihm auf. Jetzt entschloß er sich, dem behäbigen, gutmütigen Direktor sein Leid rücksichtslos anzuvertrauen, trotz der Anwesenheit des Schreibers, die ihn unendlich genierte. Aber der Schreiber, der viel wechselvolle Schicksale und Artistenelend alltäglich sah, interessierte sich gar nicht für diesen dichtenden „Herrn Doktor“; übrigens nahm er jetzt Hut und Überzieher und ging zu Tisch. Da faßte Eberhard sich ein Herz und sagte dem Theaterdirektor ehrlich, aber in schamhaft abgerissenen Worten, wie es um ihn stand und wie er auf diese Arbeit seine letzte, ja, seine einzige Hoffnung gesetzt habe. In [S. 15] einiger Zeit werde er ja wieder Beschäftigung finden, aber jetzt... kurz vor Weihnachten...
Fritzi fiel ihm ein; die Ratlosigkeit übermannte ihn. Er zuckte die starken, breiten Schultern und starrte finster die bunten Bilder der phantastisch gekleideten Tänzerinnen und der stereotyp lächelnden Komiker an.
„Ja, das ist sehr schlimm!“ sagte Immermann bedächtig, „da ist schwer raten... Ein junger Herr Doktor, nun, das ist eine schrecklich brotlose Arbeit... Das ist doch nichts, wenn man bloß dichten kann, und Lateinisch und Griechisch, und so Kram, was kein Mensch brauchen kann... Ja, wenn Sie irgend etwas Reelles könnten! Komiker, oder Gymnastik, oder Athlet, oder so... Das ist was! Dafür habe ich immer Verwendung! Zum Athleten paßten Sie zum Beispiel brillant, mit Ihrem Wuchs!“
Eberhard lachte ärgerlich, aber Immermann nahm sein Lachen für Zustimmung:
„Was sagen Sie nun? — Nicht, das gefällt Ihnen? Sehen Sie, das ist was Rentableres, als Stücke schreiben! — Dichten kann jeder, aber nicht jeder is ’n Athlet! — Ziehn Sie ’mal Ihren Rock aus und zeigen Sie Ihre Muskeln! — Was wollen Sie eigentlich mehr? Zum Donnerwetter, ja, das nenne ich ’n Biceps! Sie sind wohl ’n heimlicher Ringkämpfer, Sie...?“
Und er klopfte dem jungen Manne, dem er kaum bis an die Schultern reichte, derb auf die Arme und Schenkel.
Der junge Freidank wußte nicht recht, ob Immermann im Scherz oder im Ernst redete. „Nein!“ sagte er zögernd, „nein, Ringkämpfer bin ich, weiß Gott, nicht!“
„Können Sie werden, können Sie werden,“ antwortete Immermann rasch, „das läßt sich lernen! Wer die Kraft hat, lernt schon die Technik! — Nun, nicht wahr, Sie haben Lust? — Da könnte ich Sie nämlich sofort engagieren, ja! [S. 16] — Zwar — erst für den Dezember; bei der Meisterschafts-Konkurrenz mit Thyssen! — Bis dahin... Sie brauchen Geld... Darüber ließ sich reden... Man könnte Ihnen eine Vorschußzahlung geben. Mit Ihnen würde ich die Ausnahme machen...“
Der junge Freidank war so überrascht, daß er weder zustimmende, noch ablehnende Worte fand. Etwas in ihm sprach dagegen. Und dann schrie doch auch etwas in ihm auf, das war dafür, und das reckte sich in den jungen Muskeln, das sprang heftig durch alle Adern, das war wie ein heißes Verlangen, die Kräfte an fremder Kraft zu messen...
„Also, ist gut!“ sprach Immermann inzwischen mit seinem gutmütigen Lächeln, „Sie lassen den gelehrten Kram und die Dichterei schießen und kriegen bei uns Kontrakt... Bin ich ein anständiger Mensch, ja? — Helfe ich Ihnen vernünftig aus der Patsche oder nicht? — Gut. Sie lernen bis zum 1. Dezember gut ringen. Es ist ein Stück Arbeit, aber es geht. Nehmen Sie einen Trainer, der was versteht, und arbeiten Sie fleißig. Ich schreibe Ihnen eine Anweisung auf fünfzig Mark aus, damit Sie den Trainer bezahlen können... Nein, Sie brauchen sich nicht zu bedanken!“ rief der kleine, blonde Herr freundlich, „Sie geben mir ja eine Quittung dafür!... Wollte, ich hätte ’mal ’n Jungen wie Sie. Meiner ist mir mit zwölf Jahren ertrunken... Ja, was ich sagen wollte: wissen Sie ’n guten Trainer? Ich wüßte einen. Hier ist die Adresse, notieren Sie: André Leroux... Also, abgemacht, junger Freund! Montag holen Sie sich den Kontrakt!“...
Es schwirrte Eberhard vor den Augen, als er auf die Straße trat, und in seinen Gedanken war eine sonderbare Leere. Er hatte dieses Haus mit gar so anderen Hoffnungen und Wünschen betreten und wußte nun nicht, ob er besser oder schlechter dran war, als zuvor.
Im Hauseingange, nahe dem Tore, hing wieder das gelbe Plakat aus dem Theaterbureau. Vorher war es dem jungen Manne nicht aufgefallen, jetzt blieb er davor stehen. Zwei ganz junge Mädchen, die leichtfüßig durch den Torweg geschritten kamen, blieben ebenfalls stehen, lasen von den vierundzwanzig Ringkämpfern und lachten. Dann sagte die eine, sie habe noch nie Ringkämpfer gesehen; was das wohl für Leute sein möchten? Das andere Mädchen, welches Annette genannt wurde, machte bewundernde und schwärmerische Augen und erwiderte: „Natürlich sind sie schrecklich stark; furchtbar groß und breit; ungefähr zwei Meter groß oder so...“ „Ich bin ein Meter fünfundfünfzig,“ sagte die erste leise.
Eberhard fiel es ein, daß er zweihundertfünf Zentimeter hoch war, und er richtete sich unwillkürlich straff auf. Die jungen Mädchen aber hinter ihm mußten plötzlich auch seine Größe und Stärke bemerkt haben, denn ihr Lachen und Zwitschern brach jäh ab und sie gingen stumm von dannen.
Der junge Mann unterdrückte ein stolzes Lächeln und schritt festen, langsamen Ganges weiter. Ein merkwürdiges [S. 18] Gefühl lag schwer und beruhigend in seinem Körper; er fühlte die Glieder so sonderbar fest und sicher in den Gelenken ruhen, er preßte die Fäuste zusammen und dachte: so viel Kraft, so viel Kraft, mit der man nichts beginnt...
Durch das grauweiße Gewölk des spätherbstlichen Himmels war die Sonne durchgebrochen und ihr warmes, gelbes Mittagsleuchten zauberte einen künstlichen Sommer auf der Straße hervor. Studenten kamen ihm entgegen, die ihre bunten Mützen und dreifarbigen Bänder im Sonnenschein spazieren führten, und andere, die Bücher unter dem Arme trugen. Eberhard Freidank mußte fortsehen und dann wieder gewaltsam hinsehen. Er gehörte ja doch zu ihnen, noch... und immer... Ihr Reich, das Reich des Geistes, der Pläne, Hoffnungen und Ideale, war auch sein Reich, ihr Streben war sein Streben, und die Schätze des Wissens waren der unversieglich reiche, ewig frische Born, aus dem auch er den Lebenstrank schöpfen wollte...
Er blieb an dem Schaufenster einer Buchhandlung stehen, in der er seine Bücher zu kaufen pflegte. Bis heute hatte er nur Augen für jene dickleibigen, schlichten Bände gehabt, die er zu seinem Studium brauchte, und für die modernen, farbenfrohen Umschläge der schönen Literatur. Jetzt eben sah er zum ersten Male die Bücher, die von Sport und Körperkultur handelten. Es waren ihrer allein in diesem Schaufenster fünf oder sechs. „Was ist das?“ fragte sich Eberhard mit flüchtigem, innerlichem Erschauern, „was ist das, daß in so vielen dieser Bücher die Lehre von der alleinseligmachenden Kraft ausgesprochen wird? Der Geist ist doch mehr, die Weisheit ist doch höher...“ Und er wendete sich dem Schaukasten an dem seitlichen Pfeiler zu. Dort waren Bilder und Reproduktionen auf Ansichtspostkarten ausgestellt. Eberhards Blick ging die Reihe der Karten entlang; es waren Nachbildungen antiker Marmor [S. 19] werke auf schwarzem Grunde. Da stand der borghesische Fechter, da standen die florentinischen Ringer, der Apoxyomenos, die laufende Atalante....
„Höre doch endlich, Freidank!“ sagte eine helle junge Männerstimme dicht neben ihm, daß Eberhard sich schnell umwendete. „Ich rufe dich schon zum dritten Male an! Wer steht denn am lichten Mittage so versunken da? Zu einer Zeit, wo jeder Mensch den Fleischtöpfen Egyptens zustrebt, wenn er den Mammon dazu hat?“
„Du bist es, Tönnies,“ sagte Eberhard. „Warum bist du also auch hier, anstatt nach den Fleischtöpfen zu eilen?“
„Ich sagte es ja,“ antwortete Tönnies mit verdrießlichem Lachen, „kein Geld... Und ich habe noch keinen Menschen gefunden, der mir etwas pumpen kann... Ich bitte dich, am Dreiundzwanzigsten noch Geld... Nein, das ist zu viel verlangt! Dir wird es nicht besser gehen! Oder...?“
„Komm mit,“ sagte Eberhard mit seinem ruhigen, fröhlichen Lachen, indem er den Arm des Kommilitonen unter den seinen zog. Der junge Tönnies sah mit seinen hellen, runden Augen erstaunt auf.
„Du hast?... Am Dreiundzwanzigsten?... Ja, wo schleppst du mich denn hin? Heut’, am Dreiundzwanzigsten?“ —
Gemeinsam betraten die jungen Männer eines jener Bierhäuser, in denen die akademische Jugend verkehrt. In diesem Augenblicke drängte es Eberhard förmlich, die Gemeinschaft anderer Studenten aufzusuchen, mit ihnen am Tische zu sitzen, mit ihnen zu essen und zu trinken! Er mußte sich selbst überzeugen, daß er einer der Ihren war; kein Ringkämpfer, sondern ein Strebender, ein Suchender, ein Werdender, einer vom jungen Deutschland....
Hin und her flog die Rede der jugendlichen Wissens [S. 20] sucher. Es wurde von den höchsten und den kleinlichsten Dingen gesprochen, von Goethe, von Gott und Vaterland, von jungen Mädchen und Mensuren, von einer fremden Burschenschaft und Kneipen. Man speiste mit gesundem Appetit, man schlug die zinnernen Deckel von den Seideln zurück und sprach dem Biere zu, man plauderte, philosophierte und urteilte....
„Du mußt eine Erbschaft gemacht haben,“ sagte Tönnies tiefsinnig zu Eberhard, „oder einen Einbruch begangen...“
„So ähnlich,“ sprach Freidank mit ruhigem Lächeln, „du mußt es ja wissen, Tönnies!“
Und er ließ seine Augen auf der Tischrunde der Kommilitonen ruhen und dachte mit einer stillen, starken Zufriedenheit im Herzen: „Hier bin ich — ich; unter meinesgleichen; an meinem Platze...“
„Du lieber Gott, halb drei!“ rief Tönnies plötzlich und sprang auf, „und um halb vier habe ich in Charlottenburg eine griechische Stunde zu geben... Bis zum Ersten — indessen nur vielen Dank, Eberhard! — — Du mußt doch eine Erbschaft gemacht haben, sonst hättest du nicht...“
„Am Dreiundzwanzigsten — ja,“ sagte Freidank und sah dem Freunde, der ihm lustig und dankbar derb die Hand schüttelte, lachend ins Gesicht. „Nun, auf Wiedersehen, Adolf!“
„Auf Wiedersehen!“ rief Tönnies, schon unterwegs.
Es war auch für Eberhard mittlerweile Zeit geworden, ins Café Prätorius zu Fritzi zu gehen. Er winkte den Kellner herbei, bezahlte — wieder gab es ihm einen Stich ins Herz — mit dem Gelde des Theaterdirektors, und ging davon.
Er ging mit langen, schnellen Schritten dorthin, wo seine Freundin Fritzi ihn wohl schon erwartete; denn Eberhard hatte sich gegen seine Gewohnheit um einige Minuten verspätet. Hastig trat er in das kleine, um diese Stunde [S. 21] wenig besuchte Caféhaus ein und sprang die schmale Wendeltreppe ins obere Stockwerk empor, wo er die zierliche Gestalt der Freundin in eins der kleinen Ecksofas geschmiegt zu sehen erwartete. Aber Fritzi war noch nicht da, und der junge Mann hatte noch länger als eine Viertelstunde in Sehnsucht und Ungeduld an seinem Fensterplatze auszuharren, ehe er seine Freundin mit keck hochgehobenen Röcken über den Straßendamm hüpfen sah. Er wollte sich ein wenig über ihre Unpünktlichkeit ärgern, aber als er ihre flüchtigen Tritte auf der Stiege hörte, verging sein Herz vor Liebe und vor Freude, die Geliebte zu sehen...
„Liebe Fritzi!“ sagte er alsbald, „sage mir, wozu du das Geld so notwendig brauchst, und... ich werde es beschaffen, wahrhaftig, ich werde es beschaffen... Zwanzig Mark wolltest du... Ich habe sie nicht, Fritzi... Oder vielmehr, ich habe sie, aber sie sind, sozusagen, nicht mein... sie sind fremdes Geld... für einen bestimmten Zweck mir übergeben...“
Fritzi lächelte kindlich: „Wieviel kannst du mir geben, Ebi?“
„... Fünf Mark,“ sagte Freidank nach einem kurzen, heftigen Kampfe mit sich selbst. Er hatte das Geld aus der Tasche reißen, hatte es Fritzi geben wollen; aber dann hatte doch die Anstandspflicht gesiegt, die ihm befahl, das Geld entweder zu dem Zwecke zu gebrauchen, zu dem er es von Immermann erhalten hatte, oder es zurückzugeben.
„... Fünf Mark, Fritzi,“ wiederholte Eberhard. „Aber, wenn es durchaus sein muß, so...“
„Ach Gott, nein!“ sagte das junge Mädchen, indem es drollig die Lippen verzog, „wenn es nicht geht, Ebi.... Gieb mir inzwischen die fünf Mark.... danke.... Sage mir, wann verkaufst du das Theaterstück? Bekommst du sehr viel Geld dafür?“
Der Student besann sich einen Augenblick, trank aus dem dünnen, hohen Bierkelche, blickte auf die Straße hinaus und wieder auf Fritzi hin: er wollte ihr alles mit einem Male sagen, denn er liebte nicht das Versteckenspielen und die halben Erzählungen. Er sagte ihr also in den einfachsten Worten das, was sich heute zugetragen hatte und fragte sie, was sie dazu meinte, wenn er nun in der Zukunft ein Ringkämpfer sein würde. Aber er sagte nur die Tatsachen und verschwieg seine heimliche Angst vor einem Schritte, der ihn für immer aus den Reihen der Werdenden, der akademischen Jugend hinausziehen würde.
Fritzi, die in die Sofaecke gedrückt dagesessen hatte, bog sich vor Erstaunen und Vergnügen weit vor, sie schob ihre Kaffeetasse mit energischer Bewegung fort, legte beide Arme auf den Tisch und fragte leise und fröhlich:
„Das ist wahr? — Ein Ringkämpfer? — So stark bist du?“
„Ich weiß nicht, Fritzi! Ich denke wohl! So stark, — o ja! — Und sonst — sonst hättest du nichts dagegen einzuwenden, gar nichts? — Schließlich ist es doch ein ganz — ganz anderer Beruf...“
„Beruf! Beruf!“ schrie Fritzi entzückt, „ein himmlischer Beruf ist es! — Aber natürlich, Eberhard, du wirst Ringkämpfer! Ist doch ein besserer Beruf als Student?“
Es lag in ihrem fröhlichen, strahlenden Gesichtchen etwas Primitives, die Unfähigkeit, zu unterscheiden, Differenzen zu fühlen... Wie jung ist sie! dachte Eberhard, sie kennt nichts, sie weiß noch nichts, sie sieht kaum die Unterschiede im Leben... Er fragte, von ihrer Munterkeit ergriffen, selbst etwas heiterer und sicherer:
„Das ist alles, was du darüber zu sagen hast? — Du bist also eigentlich ganz einverstanden?“ —
„Aber, Eberhard!“ sagte die kleine Brünette, „warum [S. 23] sollte ich wohl nicht einverstanden sein? — Bedenke doch: du verdienst viel Geld... sehr viel Geld wahrscheinlich... du kannst auftreten... du hast Erfolg... O, und nun kann ich auch außerhalb Berlins ins Engagement gehen! Wir können natürlich immer zusammen bleiben! Ich lasse mich einfach immer in derselben Stadt engagieren, wo du sein wirst! Wir bleiben zusammen, und du verdienst sehr viel Geld!“
So weit waren seine Zukunftsträume noch gar nicht geflogen. Er sah ein, daß sie darin recht hatte. Gewiß, sie konnten zusammen bleiben, und er würde dem süßen, schwarzhaarigen Kinde wieder jeden Wunsch erfüllen können. Jetzt, da sie um seinetwillen nur in Berlin Engagements annahm, war er ihr ja sogar im Wege... er versperrte ihr die Karriere... Wenn er über alle anderen Bedenken hinwegkommen könnte...
„Setz’ dich einmal neben mich,“ sagte Fritzi mit einer Zärtlichkeit, die er sonst nicht an ihr gewohnt war. Und als er an ihrer Seite saß, fühlte er mit innigem Erschauern den jungen, zierlichen Mädchenkörper, der sich herzhaft an ihn preßte; warme Hände suchten die seinen, und eine zärtliche Stimme sagte flüsternd:
„Athlet wirst du sein, nicht wahr? Stärker als alle andern... Ach, wie werde ich dich lieb haben, wenn du die andern besiegst!“
Er sah ein Flackern in ihren Augen, jenen Glanz, der bei dem Anblick brutaler männlicher Kraft in Frauenaugen aufleuchtet. Sie wollte ihn betören, ihn entzücken mit ihrer weichen, schmeichelnden Bewegung, und doch wurde Eberhard ein wenig verstimmt und fragte:
„Du wirst mich mehr lieben, Fritzi? Kann das sein?“
„Was stellst du für Fragen!“ erwiderte das junge Mädchen lachend, „mehr... weniger... Ich bin dir gut, das [S. 24] ist doch genug... du fragst immer so komisch, Eberhard!“
Eberhard war erregt; seine Gedanken flatterten hierhin und dorthin:
„Gute Fritzi! — hast gar nichts mehr von dem Gelde gesagt; brauchst du es sehr notwendig, Fritzi? Vielleicht ... in einigen Tagen... könnte ich...“
„Ach, laß!“ sagte Fritzi leichthin, „im Augenblick, na ... Ich habe mir... von einer Kollegin zwanzig Mark geborgt, ja...“
Der junge Mann hob überrascht den Kopf: „Von einer Kollegin? Aber, du — das mußt du doch so schnell wie möglich wiedergeben!“
„Es eilt nicht so,“ antwortete Fritzi schnell, und dann, als sie sein erstauntes Gesicht sah, fuhr sie fort: „Sie braucht es nicht so notwendig... Es ist die Liane Fanchon ... Die hat immer! Die ist nie in Verlegenheit!“ Dabei seufzte Fritzi leise.
Eberhard sah das junge Mädchen an; sein Blick blieb, ohne daß er selbst es wußte, auf der schmalen, modernen Nadel haften, mit der ihr Kleid am Halse geschlossen war. Ohne daß er etwas dabei dachte, wurde sein Auge durch das vielfarbige Glitzern mehrerer wasserheller Steine gefangen. Aber er sah das Schmuckstück erst, als Fritzi in einiger Verlegenheit mit der Hand danach griff und hastig fragte:
„Ach — du siehst die Brosche an? Ich habe sie gekauft ... vorhin... als ich mit Liane aus der Probe kam... Sie ist niedlich und glänzt beinahe wie echt...“
Jetzt erst wurde Eberhard aufmerksam. Es war eine schöne Nadel, auf der drei klare Steine funkelten. „Das ist unecht, Fritzi?“ fragte er langsam, zögernd, indes ein feiner Strahl des Mißtrauens spitz und scharf aus den blitzen [S. 25] den Steinen fuhr und sich in sein Herz bohrte. Die Chansonette fühlte seinen unausgesprochenen Zweifel... „Etwa echt?“ fragte sie heftig, „etwa echt? Woher sollte ich denn das haben? Von dir etwa?“ Und dann, schnell und lustig: „Du, ob echt oder unecht, ist mir doch ganz gleich! Wenn ich irgendeine Brosche habe, bin ich zufrieden... Ich hatte keine... Liane war dabei...“
Eberhard wußte nichts darauf zu sagen. Er dachte, es sei verwunderlich, aber doch... Fritzi log nicht... Wer übrigens hätte ihr eine so kostbare Nadel schenken sollen? Untreu... nein, Fritzi war ihm nicht untreu...
„Ich muß nun gehen, Liebste,“ sagte er sehr sanft. „Da du auch meinst, daß ich... Ja, da muß ich zu einem Trainer gehen. Je eher ich anfange, desto mehr Hoffnung hab’ ich, in den wenigen Wochen ringen zu lernen. Ich hole dich heute abend aus der Vorstellung ab, Fritzi. Bis dahin, Geliebte...“
Er schlang den Arm um ihren Leib’ und wollte sie küssen, sie aber wehrte lachend: „Aber Ebi! Wenn das die Leute sehen!“
„Sollen sie doch,“ sagte Eberhard. „Mir soll nur einer kommen... Ich werde ihn schon... Liebe Fritzi, auf Wiedersehn!“
Der Trainer wohnte in der Linienstraße, in jener Gegend von Berlin, die allen nivellierenden Einflüssen der Hauptstadt zum Trotz noch immer etwas von der Ungebundenheit des Quartier latin bewahrt hat. Dort hausen neben Geschäftsleuten und ehrsamen Bürgern Studenten, Artisten, Künstler, Modelle und Dirnen, dort finden sich originelle Artistenkneipen, Dirnenlokale und Verbrecherkeller, und typische Persönlichkeiten fallen hier weniger auf, als in anderen Stadtteilen.
Eberhard durchschritt die Einfahrt des Hauses, ging über den ersten Hof und durch ein Fabrikgebäude und kam auf den zweiten Hof, wo er den Trainer finden sollte. Dieser Hof inmitten der Stadt hatte einen ländlichen Charakter. Er war nicht durchweg mit Steinen gepflastert und mehrere Bäume standen darin. Eine Anzahl Hühner scharrten die Erde, ein Hofhund lag vor seiner Hütte und hinter einem Drahtgitter spielten ein halbes Dutzend Kaninchen. Aus dem Pferdestall zur rechten Seite kam eine Katze geschlichen und ging langsam an der Mauer entlang, während sie die Augen auf die Hühner gerichtet hielt. An der linken Hofseite stand aber ein vierstöckiges Wohnhaus. Dort wohnte zu ebener Erde der Trainer André Leroux.
Als Eberhard klingelte, rief eine laute Stimme: herein! Der junge Mann öffnete die Tür, trat ein und sah den Trainer mit eisernen Gewichtkugeln hantieren. Der Athlet legte seine Gewichte nicht fort; er sah nur flüchtig auf den Besucher hin und sagte: „Setzen Sie sich inzwischen, [S. 27] bitte; ich muß meine Übungen beenden.“ Eberhard setzte sich auf das alte, grüne Ripssofa und der Athlet fuhr mit seinen Übungen fort.
Eberhard sah sich ein wenig um. Er befand sich in einer großen Küche, die augenscheinlich als Wohngemach und auch zum Kochen benutzt wurde. Obwohl alles praktisch hergerichtet und ordentlich aufgeräumt war, trug der Raum doch das charakteristische Gepräge einer Junggesellenwirtschaft, welches das Fehlen einer Hausfrau verrät.
Die Wände waren sämtlich mit Bildern bedeckt. Plakate mit bunten Abbildungen von Ringern und Kraftmenschen waren mit Reißnägeln befestigt, über dem Sofa hingen gerahmte Photographien einzelner Athleten und ganzer Klubs; ein Kranz aus künstlichen Eichenblättern hing über einem Diplom, und zwischen den Athleten lächelten auch hier und da die Bildnisse von Damen, die dem Trainer mit ihrer Neigung auch ihr Bild geschenkt hatten... Trotz der späten Jahreszeit stand das Fenster weit offen. Ein breites Blumenbrett vor dem Fenster war ganz mit Blumentöpfen besetzt, in denen immergrüne Gewächse standen, dazwischen blühte noch ein rotes Geranium.
„Noch ’n Momang,“ sagte der Athlet zwischen seinen Übungen. „Bin jleich fertig.“ Und wieder hob er die Kugelgewichte bis zur Schulterhöhe und stieß die Arme abwechselnd kraftvoll hoch.
Er trug ein schwarzes, ärmelloses Trikot, welches auf der Brust mit einem gelben Stern benäht war. Die schwarzen Trikothosen reichten nur bis an die Knie, unter denen die festen, braunen Beine, die nackt in Sandalen steckten, hervorsahen. Die Mitte des Leibes war mit einem breiten Lederriemen eng umgürtet. Der Athlet hatte hübsch gewelltes, blondes Haar, muntere, graue Augen und einen überaus fröhlichen, herzförmigen, sehr roten Mund. In [S. 28] seinem Gesichte wäre sonst nichts Auffälliges gewesen. Merkwürdig war allein die braune Tönung seiner Haut. Der ganze Körper des Athleten war tief dunkel, er hatte die eigentümliche, durchsichtige Farbe des braunen Bernsteins. Das Genick, die Oberarme, der Rücken und die Brust waren noch dunkler, als die übrige Haut. Dazu bildete das helle Haar einen seltsamen Kontrast.
Der Trainer stieß seine Gewichte noch zwanzigmal in die Höhe, legte sie dann auf den Boden und rieb sich die kleinen Schweißperlen von Hals und Armen mit einem groben Tuche ab. Dann reichte er Eberhard mit starkem Druck die Hand und sagte lächelnd:
„Sie müssen entschuldjen; Training is Training; darin lass’ ick mir nich störn! — Womit kann ick Ihn’ denn dien’?“
Eberhard nannte sein Begehren: in etwa einem Monate als Ringkämpfer ausgebildet zu werden. Der Trainer schwieg eine Weile und sagte dann:
„Also längstens fünf Wochen... Das is vadammt wenig ... Ringen will ich Ihn’ schon beibring’ in die Zeit. Aba die Kraft, die Se nich haben, kann ick Sie nich jeben... Wie schwer stemm’ Sie denn?“
Das wußte der junge Freidank nicht. „Was, Sie wissen nich mal, wieviel Sie stemmen könn’?“ fragte der Athlet mißbilligend, „na, denn ziehn Sie ’mal ’s Jackett aus und probiern Sie! Das is ’ne 30 Kilostange!“
Aber es ergab sich, daß die Stange viel zu leicht gewählt war. Nun brachte der Trainer eine verstellbare Stange, die er beschwerte, bis sie hundertdreißig Pfund wog. Er lächelte ironisch:
„Na, versuchen Se noch mal... Jetzt wird se Ihn’ woll schwer jenuch sind...“
Er dachte nicht anders, als daß Eberhard nicht imstande sein würde, das Gewicht aufzuheben. Eberhard faßte die [S. 29] Stange fest und drückte sie langsam, erst mit dem rechten, dann mit dem linken Arme, hoch...
Mit dieser Leistung hatte Eberhard sofort die Hochachtung des Trainers, der ihn bis dahin ein wenig von oben herab behandelt hatte, gewonnen. Nun setzte der Athlet sich gemütlich zu seinem Besucher, verabredete mit ihm die täglichen Übungsstunden und erzählte ihm allerhand von seinem Privatleben. — Er tat sich viel auf seine Abstammung aus einer französischen Emigrantenfamilie zugute und behauptete mit sichtbarem Vergnügen, er sei ein halber Franzos. Später fand sich aber, daß er trotz der gallischen Abstammung kein Wort Französisch verstand und selbst die technischen Bezeichnungen des Ringkampfs unglaublich falsch aussprach. Außerdem prunkte André Leroux mit seiner Bildung. Er hatte bei berühmten Bildhauern Modell gestanden und von ihnen allerhand Redebrocken aufgeschnappt, und der große Virchow hatte an seinem geradgewachsenen, schön ausgebildeten Körper oftmals seinem Auditorium die Anatomie demonstriert. Der Trainer zitierte nun Virchow jeden Augenblick und explizierte dem jungen Freidank mit einiger Fachkenntnis die Anatomie des Armes, wobei er ihm zeigte, welche Übungen den Biceps stärkten, und welche zur Ausbildung des Deltamuskels dienten... Er selbst hatte über seinen Körper eine solche Herrschaft erlangt, daß er willkürlich jede Muskelgruppe seines Armes nach Belieben spielen lassen konnte.
Alles dieses sagte der Halbfranzos im unverfälschten Berliner Dialekt; nur wenn er Virchow und andere Größen zitierte, sprach er hochdeutsch. Dabei kam es ihm auf die Echtheit der Zitate nicht so unbedingt an...
„Nich?“ sagte er, „det wundat Ihn’, det ick so braun bin, wie ’n leibhaftja Indjana? Det kommt allens von die Sonne... von die freie Natur... ‘Imma naturell!‘ sagte [S. 30] der sel’je Virchow. ‚Meine Herren!‘ sagte er, ‚an diesem Modell könn’ Sie sehen, was das naturelle Leben ausmacht...‘ Ja, ick lebe aba auch naturell!! In Somma, jeden Sonntach un jeden Nachmittach, wenn ’ck jrade nischt zu dun habe, raus in Wald... in Jottes freie Natua! Un denn Jacke aus, Hosen aus, Hemde aus... Hut ab... un nu Luftbeda! Un Sonn’beda! Un zwee Steine jesucht, oda zwee Holzkletza, un denn los mit meine Jebung’n! Det macht aba ooch jesund! Det jibbt Kraft, sowat! Kraft muß da Mensch haben, un jesund sind, allet andre kommt denn beinah von alleene! — ‚Wissen Se, Leroux,‘ hat Bejas mich schon manchmal jesacht, ‚det ha’m schon die ollen Jriechen jesacht, un da ha’m se Recht: die Kraft jeheert den Manne!‘ Un wat meen’ Se, ob ick jetzt in de Kälte meine Jebung’ vabummle? Nischt zu machen. Imma noch raus in Wald... Luftbeda...“
Er schwätzte abwechselnd vernünftiges und sinnloses Zeug. Eberhard hörte ihm höchst amüsiert und interessiert zu. Das war nun der erste, der ihm begegnete, aus jener Berufsklasse, der er selbst sich anschließen wollte. Der Trainer hätte noch lange weiter geredet, wenn ihm nicht eingefallen wäre, daß er heute abend die athletischen Übungen des Kraftsportklubs „Hermes“ zu leiten hatte. „Ein äußerst feiner Klub,“ erklärte er seinem zukünftigen Schüler, „lauter feine Herren! Alles Kaufleute un Buchhalters und so —! Ja, ein sehr nobler Klub!“ —
Das Trainierlokal befand sich auf einem schmalen, tiefen Grundstück der Fennstraße, welches nur mit Schuppen bebaut war. In den gegen die Straße hin gelegenen Schuppen lagerten Hölzer und Preßkohlen. Einen dieser Schuppen, der ganz am hinteren Ende des Grundstückes lag, hatte der Unternehmer als Übungsraum für Sportsleute eingerichtet und ihm den stolzen Namen „Training-Hall“ gegeben. Vor [S. 31] mittags war er meist an Variété- und Zirkusartisten vermietet, die in dem hohen, weiten Raume genügend Platz hatten, um ungestört neue Tricks probieren zu können. Um die Mittagsstunde erschienen dann Berufs- und Amateurathleten, die unter Leitung André Leroux’ ihr Krafttraining vornahmen.
Eberhard war des Morgens noch schnell zu Fritzi hinaufgeeilt, um ihr zu sagen, wo er seine Übungen beginnen werde. Fritzi hatte ihn im Wohnzimmer der Wirtin empfangen. Sie war eben aus dem Bette gesprungen und hatte über das Nachthemd nur einen weichen, wolligen Morgenrock gezogen; über die nackten Füßchen hatte sie nur kleine Pantoffel gestreift. Sie hüpfte ihm nach ihrer Gewohnheit mit leichtsinniger Wildheit entgegen, so daß sie einen Pantoffel verlor, warf sich ungestüm eine Sekunde lang an Eberhards Brust und sprang sofort zurück, ihren Pantoffel zu suchen. Und wieder kam sie ihm unbeschreiblich naiv und reizend vor, hold und prickelnd zugleich mit dem vom Schlaf noch rosigen Gesichte und den wirren, dunklen Haaren. Das junge Mädchen fing sofort an zu betteln: „Ich darf doch hinkommen? Ich darf mir das doch ansehen?“ Er wußte nicht, was er ihr erwidern sollte. Er hätte es lieber gesehen, wenn sie nicht gekommen wäre. Aber da rief sie schon fröhlich: „O ja! o ja, ich komme! Sage, wann es anfängt, eine Stunde später bin ich da!“ Und sie hob, unwillkürlich, beide Arme, um ihren Zopf festzustecken, dessen Pfeilnadel sich gelöst hatte. Die weißen Ärmel glitten ihr über den Ellenbogen zurück, Eberhard sah die lieblich weiche, rosige Haut der Arme reizend aufleuchten und hatte nicht den Mut, ihr den Wunsch zu versagen... „Komme, Fritzi, und sieh dir alles an,“ sagte er, „es wird dir wohl nicht sehr gut gefallen!“ —
In der Trainierhalle waren mehrere kräftige junge Leute [S. 32] damit beschäftigt, ärmellose Trikotjacken über den Oberkörper zu ziehen. Eberhard nahm den Hut ab und sagte guten Morgen. Die jungen Leute dankten ziemlich kollegialisch für den Gruß, einige musterten ihn mit spähenden Blicken und alle nahmen dann ihre Unterhaltung wieder auf, ohne sich um den Neuankömmling weiter zu kümmern. Sie sprachen von den geschäftlichen Erfolgen, die einer von ihnen den Sommer über im Zirkus Blumenfeld gehabt hatte. Dieser junge Mensch war ziemlich klein, hatte eine gelbbraune Haut und schwarze, widerspenstige Haare, die dem Versuche, sie in der Mitte zu scheiteln, trotzten. Er hatte sehr kurze Hände und plumpe Beine und Arme; sein Hals war überaus dick, fast ebenso dick wie der Kopf, was ihm den Anschein ungewöhnlicher Stärke gab. Man konnte nicht leicht auf den Gedanken kommen, daß dieser starke und dicke Zirkusathlet ein besonderer Liebling der Frauen sein könne; darum war Eberhard ein wenig überrascht, den jungen Mann von seinen Erfolgen erzählen zu hören. Der Athlet renommierte nicht einmal, sondern plauderte leichthin:
„Wirklich komisch, die Weiber; draußen in der Provinz sind sie toller als in Berlin! — In Posen hatte ich auch herausgefordert; da meldeten sich ein paar Leute zum Ringen, richt’ge Ochsen... Na, unter uns, regulär hätt’ ich sie nicht gekriegt... Ekelhaft starke Kerls! — Aber da habe ich ihnen unversehens eins mit der Handkante auf den Hals gegeben, auf die Schlagader... so ’n bisken Dschiu-Dschitsu! Da flogen sie ja gleich... Ach, die Briefchens alle, die da kamen! Rosarote, blaue, lila... alle Farben... Rochen so jut, wie ’ne janze Parfümfabrik. ... Ick hatte die Auswahl!!“
Er lachte leise in der Erinnerung an seine galanten Abenteuer mit Provinzdamen....
„Na, jehste denn jetzt nich ’mal bei deine Adele...? [S. 33] “ fragte einer der herumstehenden jungen Leute den Zirkusathleten, „weißt doch, die Jelbseidne, Willi?“
„Bei so eene wer’ ick jehen!“ erwiderte der Ringer grob, „bei die jelbseidne Adele! — Nee, laßt mir mit die Berliner Mechens in Ruh! — Ja, wenn se allens abliefan wollten, wat se vadien’! Aba nee, is nich, wird imma Schmuh jemacht! Keile könn’ se kriejen, soviel man will, da jeben se ein’ doch nich allens ab! Imma ha’m se dann zu schlecht vadient! — Nee, laßt ma in Ruh, sach’ ick!“
Der ehemalige Zuhälter hatte sich in Eifer und damit in seinen ordinärsten Jargon hineingeredet. In dem Grade, wie er sich nun beruhigte, fing er wieder an, hochdeutsch zu sprechen und erklärte:
„Vom Zirkus aus, da kriegt man janz was andres... anständ’je Frauen, sage ich euch, Damen... Damen, die mitunter noch nie in’ Leben uff Seitenweje jegang’ sind. Aba wenn se unsaeen’ sehen, sind se futsch... Wenn se ’n Athleten vor sich haben, jeht die janze Anständigkeit zum Teufel! Offiziersdamen hab’ ich gehabt, jawohl... In Breslau hatt’ ich ne richtige Jräfin... Ach, Gott, wie hat mir die jeliebt! In ’ner Equipage ist sie immer mit mir ’rausgefahren nach einem Nest, was, glaub’ ich, Trebnitz heißt. Da sind wir spazierenjegang’ und sie hat lauter verliebte Wörter jered’t... Ach, ich bete dir an, hat sie immer jesacht, weil du mir vernichten könntest, wenn du wolltest! — I, wo wer’ ick denn sowas machen, mein Puppchen, hab’ ich ihr dann gesagt. Wer sollte mir denn seidne Taschentücher und seidne Strümpfe und Wäsche und die juten Zigaretten und alles schenken, wenn ich mein Puppchen vernichtete! — Dann hat sie gelacht und mir mit ihren weißen Pfötchen den Mund zugehalten und gesagt: ach, Willi, du sollst nicht immer so materiell reden! Du mußt mich doch um meiner selbst willen lieben und nicht an die [S. 34] törichten Kleinigkeiten denken, die ich meinem starken Helden zu Füßen lege. — Sowas Komisches hat sie aller Augenblicke jeredet! — Und nicht nur die, sondern alle die feinen Damen! — Nee, das ist was andres als das Mädchenspack hier in Berlin! Dabei hat man von den feinen Weibern noch mehr, wie von die Mächens! Die jeben, was man verlangt! — Ich hab’ mir nun mal uff die anständ’jen Damen jeschmissen, und dabei bleib ich!“
Die jungen Leute belachten die harmlos gesagte Äußerung als einen rohen Witz. Während sie noch lachten und sich freuten, betrat André Leroux die Halle. Er war schlechter Laune und schimpfte; es waren ihm im „noblen Klub“ die Ringstiefel gestohlen worden. Der Zirkusathlet klopfte ihm so stark auf die Schulter, daß ein normaler Mensch davon zusammengebrochen wäre, und sagte tröstend: „Na, laß dir man von deine Lowise neue koofen... Ach so, du hast ja keene... Na, is ooch bessa! — Is aber zum Schreien, daß die Leute in diesen Sportklub ooch schon sonne Dinger machen un’ klauen... Sind doch bloß Amateure!“
Das ließ der Trainer nicht auf den Athleten sitzen.
„Na, Willi!“ sagte er, indem seine starken, blonden Augenbrauen sich zornig zusammenzogen, „du willst doch nicht etwa behaupten, det alle Athleten klauen? Nee, det sind jrade bloß die dreckijen Amateure! Bei uns jibbt et sowat nich! Oda willst du etwa...?“
Während er dieses sagte, hatte er die Jacke ausgezogen, unter der er bereits das Trikot trug. Er streckte die muskulösen, kaffeebraunen Arme mit einer heftigen Bewegung von sich, als wollte er seine Kraft erproben... Dabei funkelten seine grauen, energischen Augen den Zirkusathleten eigentümlich an. Willi verglich flüchtig die braunen, gewaltigen Glieder des Trainers mit seinen eignen Armen, und der Ver [S. 35] gleich mußte wohl zugunsten André Leroux’ ausfallen; denn er entschuldigte sich mit den Worten:
„Na, ’n jeder einzige klaut da nich un da nich —! Ick meente man!“ und wendete sich dem eisernen Gestell zu, von dem er eine Fünfundzwanzigkilostange herabnahm und seine Übungen begann. —
André Leroux trat zu Eberhard und schüttelte ihm mit fürchterlicher Gewalt die Hand:
„Na, ooch schon uff’n Posten? Un schon in Dreß? — Na, denn woll’n wa mal anfang’!“ —
Und nun fing er an, dem neuen Athleten die Griffe des Ringkampfs zu demonstrieren: Armfallgriff aus dem Stand, bei dem der Ringer seinen Gegner am Handgelenk und Unterarm mit einem Ruck zu Boden reißt, indem er selbst auf die Kniee fällt; Hüftschwung mit Kopfgriff oder mit Untergriff... Kopfschwung, bei dem der Gegner rücklings um den Hals gefaßt und in großem Bogen nach vorn geschleudert wird... Ausheber, Untergriff... Paraden... „Bei Ihre Jröße,“ sagte der Trainer mit einer Art von Bewunderung, „bei Ihre Jröße kenn’ Se se amende alle uff’n Ausheber kriejen... Et jibbt keen’ scheenan Jriff, als ’n Ausheber... Aber er ist bloß wat for jroße Ringer... Da is zum Beispiel Jankowsky — Se kenn’ doch Jankowsky’n? — na, der hat ne feine Spezialität von ’n Ausheber ausjeknobelt. Er tut, als wenn er Krawatte jreifen wollte, ja, — schiebt seine Arme aber plötzlich bis unter den Oberkörper des Jejners und drückt mit sein’ janzen Jewicht nach... So kriegt er erst ’mal jeden parterre... Finden Sie det scheen? Ich finde det jeistvoll... raffiniert... Dafor heißt der Jriff ooch mit Recht Krawattenausheber à la Jankowsky...“
Eberhard begann der Kopf von Fachausdrücken zu schwirren; er war froh, als das praktische Training begann. [S. 36] Von der Grenze der Ringmatte aus ging er auf den Trainer los, so daß sie sich in der Mitte trafen, reichte ihm flüchtig die Hand, wie er in der Arena von Ringern gesehen hatte und neigte sich ein wenig nach vorn, indem er mit beiden Händen nach den Handgelenken des Trainers griff...
„Ach, du hast schon Ringkampf trainiert,“ sagte einer der jungen Athleten, die zur Seite standen und dem Kampfe zusahen. „Du jehst jar nich erst in tiefe Jarde, bloß hohe... Mit deine Jröße aber auch... Mensch, du bist wohl ’n Zweemetermann?“ —
Es fand sich, daß Eberhard Freidank sich überaus schnell an die Technik des Kampfes gewöhnte. Ihm lag das ruhige Zuwarten und das blitzschnelle Einspringen im Blute. Seine Stärke machte ihn mutig, der Beifall der jungen Leute ermunterte ihn, und als Fritzi kam, merkte er es nicht einmal. Er hatte den Trainer zu Boden gerissen und bemühte sich, ihn mit einem der neuerlernten Griffe auf die Schultern zu drehen. Er kniete am Boden, einen Fuß aufgestellt, und überlegte mit leidenschaftlichem Eifer, innerlich glühend, wie er den kräftigen, braunen Menschen, der fest auf den Knieen und Händen hockte, umdrehen könnte. —
Fritzi trat heran, von den Kämpfenden nicht bemerkt, und reckte sich ein wenig auf den Fußspitzen auf, um den vor ihr stehenden Männern über die Schultern sehen zu können. Der Zirkusathlet wich einen Schritt zurück, um dem jungen Mädchen Platz zu machen, und sah ihr dabei mit Interesse ins Gesicht; seine Erfolge in der Provinz hatten ihn noch nicht so blasiert gemacht, daß er einem hübschen Mädchen keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt hätte. Sie gefiel ihm; er stellte sich dicht hinter sie und legte den Arm um ihre Taille. Fritzi bog den Körper zur Seite, aber Willi ließ nicht los und faßte sie nur noch fester. Sie drehte sich ärgerlich um; sie wollte dem jungen Menschen, [S. 37] der sie so keck umfaßte, sagen, daß er frech wäre. Aber als sie in sein gelbes, grob geschnittenes, rohes, dabei einigermaßen hübsches Gesicht blickte, fand sie seine Frechheit plötzlich amüsant und lachte ihn mit blitzenden Zähnchen an. Doch alsbald wurde ihr Blick wieder durch die Ringer gefesselt.
Eberhard, dem in diesem Training die Rolle des Angreifers zufiel, während Leroux seine Griffe nur durch regelrechte Gegengriffe parierte, schob seinen rechten Arm unter der Schulter des Trainers durch und faßte das Genick fest mit der flachen Hand. — Fritzi wendete sich unwillkürlich wieder nach dem Zirkusathleten um, der ihr zuflüsterte: „Det ’s Halbnelson, Fräulein.“ — Eberhard zog mit seiner großen Kraft den Trainer am Genick; da gelang es Leroux, erst mit einem und dann mit dem andern Bein langsam aufzustehen. Es war ein spannender Moment; ohne daß Fritzi sich dessen bewußt wurde, schmiegte sie sich, wie schutzsuchend, in den nackten, braunen Arm des Athleten, der sie immer noch halb scherzhaft, halb verliebt umschlang. — Leroux stand auf, während Eberhard, mit der ungeschickten Kraft des Neulings, seinen Griff zu behaupten suchte. Plötzlich sprang der Trainer mit einem Ruck um, faßte Eberhard von der Seite um den Leib, hob ihn hoch und warf ihn auf den Rücken... Fritzi sank zurück, als sie ihren Freund fallen sah; und Willi, mit schneller, stürmischer Gewalt, riß das zarte Mädchen mit beiden Armen an seine breite Brust und küßte sie zweimal, dreimal voll Heftigkeit auf den blühenden Rosenmund. —
Er vergaß einige Sekunden lang in der Tat seine Umgebung, seine Augen waren geschlossen und seine Lippen bebten noch auf ihren, als sie schon einen schnellen Blick auf Eberhard warf, ob er auch nichts gesehen hätte... Nein, er hatte nichts bemerkt. Er hatte an nichts, als an [S. 38] seinen Kampf gedacht. Nach der Wucht des Falles stand er eben wieder jugendlich elastisch vom Boden auf und sah nun erst sein kleines Mädchen, das lächelnd und rosig auf ihn zuging und ihm die Hand reichte.
„Na, sind Sie gekommen, ’mal nachsehen, wie weit er schon is?“ fragte André Leroux, indem er dem jungen Mädchen die Wange streichelte, „na, das is recht! — Komm’ Se man öfta! — Junge Mechens sehn wa hier imma jern, überhaupt sonne nette, wie Sie!“ —
Fritzi lächelte verlegen und geschmeichelt. Eberhard aber runzelte die Stirne; er bereute, daß er Fritzi erlaubt hatte, an diesen Ort zu kommen, wo die neugierigen, zudringlichen Blicke, die naiven, rohen Vertraulichkeiten der Athleten die Geliebte beleidigten! Er sah sich um, ob es nirgends einen Platz gäbe, von dem aus Fritzi unbehelligt dem Training zusehen konnte. „Setze dich, bitte, auf jene Bank, Fritzi,“ sagte er so laut, daß die Athleten es hören mußten. „Du bist dort allein, und du siehst den Ringkampf ebensogut.“ Und er blickte mit zornigen Augen über die Athleten hin, die gleichgültig herumstanden. Fritzi setzte sich, und das Training begann von neuem.
Diesesmal rang Eberhard mit einem der Athleten, die vorher zugesehen hatten. Es war ein Budenringer, der an mehreren Abenden der Woche in einer Schaubude auf einem Volksvergnügungsplatze seine Kraftleistungen zeigte. Aber dieser Beruf befriedigte ihn nicht; er strebte nach Höherem. Er wollte sich an Ringkampfkonkurrenzen beteiligen. Er war ziemlich stark, aber mit seiner Ringkunst war es nicht weit her. Trotzdem hätte er leicht Engagements gefunden, da er hübsch und kräftig war, aber durch seine Budenringerei war er zu stark kompromittiert; kein Manager mochte ihn engagieren. Nun trainierte er jeden Tag, um seine technische Fertigkeit bis zur Vollendung auszubilden. [S. 39] Einem technisch vollkommenen Ringer gegenüber konnten nicht mehr jene Standesvorurteile gelten, die wie eine weite Kluft die Budenringer von der vornehmeren Klasse der Konkurrenzringer trennten...
Fritzi langweilte sich; der Kampf Eberhards mit dem „schönen Adolf“ war ihr weniger interessant, als der Zirkusathlet, der sie vorhin so selbstverständlich umarmt und geküßt hatte. Sie fand ihn frech, natürlich; aber doch so interessant frech.... Ob er wohl auch nach ihr hin sah? Sie drehte das Köpfchen, wendete sich aber schnell wieder voll Verlegenheit ab, denn Willi sah sie ungeniert an und hatte sie gewiß schon eine ganze Weile beobachtet. Und, als ob er nur auf ihren Blick gewartet hätte, legte er ruhig seine Hanteln nieder, kam zu ihr und setzte sich neben sie. Und während der schöne Adolf sich die allergrößte Mühe gab, seinen großen und starken Gegner durch seine überlegene Technik zu werfen, hielt der Zirkusathlet Fritzi wieder mit seinem nackten Arm umfaßt und sagte ihr allerhand plumpe Liebesworte ins Ohr....
„Nein,“ sagte Fritzi lachend, „nein, sowas dürfen Sie nicht sagen... Das kann ich mir nicht gefallen lassen... Ich habe doch meinen Bräut’jam!“
„Den da?“ fragte der Athlet mit einem etwas unbehaglichen Gefühle, „den Großen, der heut das erstemal hier is? — Was is er denn? Ringt er professionell?“
„Natürlich,“ erwiderte Fritzi schnell, mit einem stolzen Blick auf ihren Freund.
„So!“ — fragte Willi, „Sonntags auch? — Sonst könnten wa doch ma’ zusamm’ ausjehn? — Er paßt doch nich imma uff Ihn’ uff!“
Ihre lachenden Augen sagten: o ja, das möchte ich wohl! — ihr Mund aber sprach zögernd, zweifelnd:
„Wohin denn?“...
„Na, ’n Sonntach, uff’n Rummel,“ erwiderte der Zirkusathlet, „da könn’ Se doch ma’ mitkomm’?“
„Ach nein,“ sagte Fritzi betrübt. „Da hab’ ich ja Nachmittagsvorstellung... Nein, das geht nicht! — Außerdem geh ich nicht ohne mein’ Bräut’jam aus.“
„Na, du bist ’n süßes Schaf,“ sagte Willi. „Wir wer’n uns schon noch bessa vastehn... Einstweilen jibb ma mal ’n Küßchen!“
Aber er hielt es für geraten, das Küßchen nicht zu geben, denn Eberhards Ringkampf mit dem schönen Adolf war soeben zu Ende und der junge Freidank sprang auf wie ein gereiztes Tier, als er seine Freundin wieder mit dem Athleten schäkern sah.
„Was tust du, Fritzi?“ fragte er, indem er dem Athleten empört ins Gesicht sah, „was tust du hier?“
„Du hast mich ja selbst hierher geschickt,“ antwortete sie kindlich. „Der Herr hat mir die Griffe erklärt...“
Der Zirkusathlet war selbst überrascht von ihrer schnellen Ausrede. Eberhards Gesicht aber wurde sofort freundlicher. Er wußte nicht, ob er nicht einen künftigen Kollegen vor sich hatte, gegen den er nicht ohne Grund grob sein durfte. „Das ist ’was andres,“ sagte er ruhiger.
Willi nahm seinen Vorteil wahr: „Sie jehn aba jut los! — Det ’s natierlich nich det erste Mal, heute?“ —
Eberhard war noch ein wenig mißtrauisch. Er gab dem Athleten eine unverständliche, mürrische Antwort und kehrte verdrießlich an sein Training zurück, indem er beschloß, Fritzi ein für allemal das Betreten dieses Ortes zu verbieten. —
Eberhard war sehr erschöpft, als André Leroux ihm endlich erklärte, daß es für heute genug sei. In der Tat war der junge Mann blaß und seine Gesichtszüge waren erschlafft, wie nach einem starken, körperlichen Schmerz. [S. 41] Leroux hieß ihn sich auf eine Bank legen und massierte ihm noch den ganzen Körper; indessen war Fritzi mit Willi und dem schönen Adolf in der großen Halle allein... Der Trainer rieb ihm mit einer starken Spirituslösung die heftig schmerzenden Muskeln ein, dann mußte Eberhard sich schnell ankleiden. In seinen Kleidern merkte er erst, wie steif ihm alle Gelenke waren. — Fritzi war ganz allein, als Eberhard die Halle wieder betrat. Ehe er etwas sagen konnte, rief sie ihm entgegen:
„Komm schnell mit mir fort! — Ich friere so sehr!“
Er faßte sie bei der Hand; ihre Hand war weich und warm, und sie fror gar nicht... Warum also log sie? Um ihn abzulenken?... Er sah sich um; die beiden Athleten, mit denen er sie zuletzt hatte stehen sehen, waren nicht mehr da. „Nach wem siehst du dich um?“ fragte Fritzi schnell, „nach den Herren? Die sind schon längst fortgegangen!“
Er suchte voll Verdruß und Mißtrauen in ihrem Gesichte etwas, irgend etwas... und fand nicht... Sie lächelte ihn mit ihrem hübschen, kindlichen Lächeln an, wie immer. Nein, ihr konnte er keinen Vorwurf machen! „Gehen wir, Fritzi,“ sagte er, indem er den Arm des jungen Mädchens unter den seinen schob. Im Hinausgehen sagte er dann leichthin: „.... Das sind übrigens keine Herren, Fritzi....“
„Nicht?“ fragte sie erstaunt, „was denn sonst? Das sind doch auch Ringkämpfer?“
„Auch Ringkämpfer,“ erwiderte er bitter, „wie ich, nicht wahr? Das meinst du doch wohl? Nun, ich bin es aber noch nicht, und ich kann noch immer etwas anderes werden.... irgend etwas.... Privatsekretär... oder sonst etwas... Es ist alles einerlei....“
Er schwieg; die Gedanken drängten sich in seinem [S. 42] Kopfe. Schweigend gingen sie fünfzig, hundert Schritte weiter Arm in Arm der Stadt zu. Dann kam ihm mit einem Male die liebliche Wärme, das leichte Gewicht ihres schlanken Körpers, der an seinem Arme hing, zum Bewußtsein; er sah sie voller Liebe an. Sie machte ein verdrießliches Gesicht, als sich aber ihre Augen trafen, lächelte sie und sagte:
„Das wirst du doch nicht tun?.... Ich hatte mich schon so sehr gefreut!“
„Auf was, Fritzi?“
„Dich als Ringkämpfer zu sehen,“ sagte sie verliebt und schmeichelnd. „O, wie hübsch wirst du aussehen!... Versprich mir, daß du nichts anderes werden willst!“
Da drückte er ihren Arm und neigte sich tief herab zu ihr und sagte mit dunkler Leidenschaft in der Stimme:
„Aber ich will dich allein haben, Fritzi, begreif das doch, begreif das doch... Sie sollen dich mir nicht wegnehmen. Nein, Fritzi, verzeih mir, ich rede ja Wahnsinn! Du läßt dich ja nicht mir wegnehmen, du bist mir ja gut... Aber schon um ihrer Blicke willen könnte ich sie niederschlagen, ich könnte sie ohrfeigen um ihrer frechen Worte willen... O Fritzi, das kannst du nicht verstehen... Ich will dich doch nur ganz allein haben...“
Fritzi verstand ihn nicht. Er sagte ihr öfter solche Worte, die erfüllt waren von einer exklusiven, eifersüchtigen Zärtlichkeit. Sie wußte, daß er sie am liebsten eingesperrt, vor aller Welt verschlossen gehalten hätte, damit kein fremder Blick ihr huldigte. Sie konnte es nicht begreifen, aber ein weiblicher Instinkt sagte dem unerfahrenen, leichtfertigen Mädchen, daß sie dieses tiefe Empfinden nicht zurückstoßen dürfe.
„Ich verstehe dich nicht, Ebi,“ sagte sie langsam. „Ich weiß nicht, was du willst... Du hast mich allein... [S. 43] Konnte ich dafür, daß der freche Athlet mich ansah? Ich habe es nicht gewollt, ich habe ihm zu verstehen gegeben, daß ich nichts von ihm wissen wollte... Ich finde, er ist ein Ekel!“
„So, findest du?“ erwiderte Eberhard erheitert. Er hatte noch nicht die Erfahrung gemacht, daß junge Mädchen in den stärksten Ausdrücken über die Männer schimpfen, welche ihnen gefallen, und fuhr vergnügt fort: „Das freut mich! — Nun, hast du es ja nicht nötig, wieder hinzugehen!“
„Warum nicht?“ fragte sie harmlos. „Wegen dieses Menschen? Ach, dann glaubte er am Ende, daß ich mich vor ihm fürchte... Nein, Eberhard, das sollen sie nicht denken!.... Ich komme doch wieder hin!.... Ich will dich doch sehen! — Ich bin ja so froh, daß du Ringkämpfer wirst!“
Es war am Vorabende des ersten Dezembers, an dem Eberhard zum ersten Male als einer der „vierundzwanzig Ringkämpfer“ vor die Öffentlichkeit treten sollte.
Eberhard ging des Nachmittages um die fünfte Stunde zu seiner Freundin. Fritzi hatte ihr Ausgehjäckchen an und setzte soeben vor dem Spiegel ihren Hut auf. „Ach, du bist’s,“ sagte sie und winkte grüßend mit der Hand, ohne sich in ihrer Beschäftigung stören zu lassen, „ich gehe eben fort, wie du siehst.“ „So begleite ich dich,“ sagte der junge Mann. „O,“ erwiderte das junge Mädchen, wie es ihm schien, in einiger Verlegenheit, „so wirst du nicht weit mitkommen können, denn ich gehe ins Theater.“ „In die Garderobe? Jetzt schon?“ fragte er, „es ist kaum fünf Uhr!“ „Es muß schon später sein,“ antwortete sie schnell, „und ich muß heute mindestens eine Stunde früher dort sein, da ich an einem Kostüme zu nähen habe.“
Dagegen war nichts einzuwenden. Trotzdem fragte Eberhard noch:
„Kannst du kein anderes Kostüm anziehen, Fritzi? Ich wäre so gerne noch ein Stündchen mit dir zusammen!“
„Gerade heute?“ lachte sie. „Aber es ist unmöglich! Es ist gerade mein schönstes Kostüm, das grüne, du weißt.. Der Agent kommt heute abend ins Theater, nur meinetwegen! — Aber hübsch wäre es, wenn du mir ein paar Mark auf Handschuhe geben wolltest; nach der Vorstellung bekomme ich erst Gage, und ich kann mich vor dem Agenten nur in eleganten Handschuhen sehen lassen!“
„Hast du auch dem Agenten zuliebe den neuen Hut gekauft?“ fragte Eberhard.
Sie zögerte einige Sekunden und sah sich nach ihm um, dann lachte sie hell: „Neuen Hut? Ein ganz, ganz alter, Eberhard!“
„Nun,“ sagte der junge Mann, „ich habe doch auch Augen im Kopfe... Soviel ich sehen kann, ist dies ein Hut nach der neuesten Mode, und ein sehr eleganter dazu!“
Da machte Fritzi ein böses Gesicht und erwiderte verstimmt:
„Nun gut, du hast recht, und ich lüge.... Du hast ja immer recht, natürlich.... Ist es so weit gekommen, daß du mir nicht mehr glaubst? Vielleicht schenkst du Frau Krichelmann, meiner Wirtin, mehr Glauben, als mir! Ihre Nichte ist in einem Putzgeschäft Verkäuferin und hat mir diese alte, vorjährige Hutfasson wieder aufgeputzt! Gehe doch hin und frage sie! Sie ist ja viel glaubwürdiger, als ich... O, du bist schlecht, Eberhard! Du verdächtigst mich wegen meines armseligen Hutes... Als wenn du mir Hüte kauftest! Liane hat seit Anfang des Winters schon mindestens acht Hüte bekommen... O, du bist geizig und schlecht! Du behauptest mich zu lieben und kaufst mir keine Hüte... O Gott, wie bin ich unglücklich!...“
Sie hatte sich so in Eifer hineingeredet, daß ihr nun wirklich einige Zornestränen in den Augen blinkten. Hastig wischte sie die Tropfen mit dem Tüchlein fort und fuhr mit der Puderquaste über Augenlider und Wangen. Eberhard aber, obwohl noch immer zweifelnd, war besiegt. Er fühlte sich im Unrecht und sagte gequält:
„Du weißt doch, Fritzi, ich konnte dir nichts kaufen in dieser Zeit... Wie gern hätte ich dir alles gegeben, wenn ich’s gehabt hätte! Aber du, du hast dich ja mit der Garderobe vom vorigen Winter behelfen können... [S. 46] Ich habe mich oft gewundert! Alles verstehst du so geschickt herzurichten, wie neu... Meine Fritzi sieht immer aus, wie nach der neuesten Mode gekleidet... Warte nur noch ein Weilchen, geliebtes Kind, so sollst du wieder alles haben!“
Das junge Weib lachte triumphierend. Wieder einmal war es ihr geglückt, seine Zweifel zu zerstreuen und den schönen, starken Menschen zu beruhigen! O, sie fand ihn so hübsch, so kräftig, so männlich, und dachte gar nicht daran, auf ihn zu verzichten! — Sie lief an den Tisch, steckte rasch das Fünfmarkstück, welches er für ihre Handschuhe gegeben hatte, in das silberne Kettentäschchen und hüpfte dann auf Eberhard zu, stellte sich auf die Fußspitzen und sah ihm lachend in die Augen:
„Nun, wollen wir uns zanken oder vertragen?“
Ihre dunklen Augensterne funkelten unter dem schmalen Strich der Brauen, die mit dem schwarzen Stifte noch schärfer und feiner nachgezogen waren. Gelblicher Puder lag auf der zarten Haut, der rosige Mund war noch röter, lockender geschminkt und glühte wie frische Erdbeeren... Er wollte sie küssen, sie aber sprang neckend fort:
„O, das gibt’s jetzt nicht! — Ein andermal! — Jetzt würdest du mir nur die Schminke verwischen! Und nun schnell, schnell, komm hinaus, ich muß in die Garderobe!“
Sie trippelte eilig auf der Straße neben ihm her. Bald war das Theater erreicht; Eberhard reichte ihr die Hand und ging fort. An der nächsten Straßenecke verglich er seine Taschenuhr mit dem großen Chronometer vor dem Laden eines Uhrmachers. Es fehlten in der Tat noch mehrere Minuten an fünf Uhr. Er schalt sich selbst aus. Nun hätte er noch lange Zeit gehabt, mit Fritzi zu plaudern! Am liebsten hätte er das junge Mädchen zurückgerufen. Er zauderte kurz, besann sich, ob er sie aus der Theatergarde [S. 47] robe noch einmal zu sich bitten sollte, wendete sich dann aber dennoch um und ging nach Hause. Er sah nicht mehr, daß Fritzi an der Kassiererin des Variététheaters, die bereits in ihrem Verschlage saß, wieder vorbeistürmte, dem betreßten Portier, der ihr schnell eine Droschke besorgt hatte, ein Geldstück in die Hand drückte und eilends in den Wagen stieg, um ihr Rendezvous um fünf Uhr nicht zu versäumen... Der Portier schloß den Wagenschlag und das Gefährt rollte davon. Der Türhüter aber trat in seiner bunten Uniform wieder in den Hauseingang zurück und blinzelte die Kassiererin verständnisinnig an. Das Fräulein am Kassentische lächelte maliziös:
„Ja, die avanciert rasch! — Komisch, daß ihr Mensch nichts davon merkt, den großen Blonden meine ich! Den macht sie doch alle Tage zum Nulpen!“
„Er is ihr eben jut,“ sagte der Portier. „Amende meent er’s reell mit se und will ihr heiraten!“
Das belachten sie aber beide wie einen gelungenen Witz. —
Eberhard bog langsam in die Straße ein, in der er wohnte. Er hatte noch das bescheidene Studentenquartier inne, in dem er gelernt und gearbeitet, gedichtet, gehofft und gelitten hatte. Er dachte an den Abend des kommenden Tages und ein leichtes, nur von ihm selbst gefühltes Lächeln zog fröhlich, abenteuerlustig und verlegen um seine Lippen. Er ging langsam, den Kopf sehr gerade aufgerichtet, die Hände in den Manteltaschen. Es fiel ihm selber auf, wie schwer sein Schritt geworden war. Der ehemalige Turner, der seit Jahren gewöhnt war, die Zehen zuerst auf den Boden zu setzen, fing nun an, schwer und wuchtig mit der ganzen Fußsohle gleichzeitig aufzutreten. Sein Gang war breit, langsam und schwerfällig geworden, der Gang des Athleten, der gleichsam bei jedem Schritte seine Kraft [S. 48] und sein schweres Gewicht empfindet und beisammenhält. — Donnerwetter! sagte er zu sich selbst, bin ich wirklich nur noch im Trikot elastisch? — Und er ging durch die kühle Frische des Abends eilig den kurzen Rest des Weges nach Hause und sprang absichtlich behend die Treppen hinauf.
Er brauchte die Korridortür nicht aufzuschließen, sie war nur angelehnt. Er drückte die Tür hinter sich zu und trat rasch in seine Stube.
Es war darin schon dunkel; nur das Fenster schimmerte noch weißlichgrau im letzten, matten Lichte des scheidenden kurzen Wintertages. Aber auf dem Tische brannte eine Kerze, und davor war, tief über ein Buch gebeugt, ein Mädchenkopf, der bei Eberhards Eintritt erschrocken auffuhr. Gleich darauf aber lächelte Fräulein Therese Ambrosius, die Tochter der Zimmerwirtin, und sagte in einiger Verlegenheit:
„Sie werden doch nicht böse sein, Herr Freidank, daß ich in Ihren Büchern gelesen habe? — Es war das erste Mal, wirklich!“ —
„Aber ich denke nicht daran, böse zu sein,“ erwiderte der junge Mann mit seinem ruhigen Lächeln, „warum sollte ich? — In der Tat, ich habe nie bemerkt, daß Sie hier gelesen haben... Ich bitte Sie, Fräulein Ambrosius, lesen Sie alles, was Ihnen Spaß macht! — Ich schlage diese Bücher nicht mehr auf, darum werden sie sich doppelt freuen, wenn sie in zarte Damenhände kommen,“ fügte er mit einem linkischen Versuche, zu scherzen, hinzu.
Er war es nicht gewöhnt, mit Frauen umzugehen; darum fühlte er, in Gegenwart von Frauen, eine sonderbare Bedrückung. Er wurde nicht verlegen und nicht verwirrt. Aber wenn er einem dieser zarten und empfindsamen Geschöpfe, als welche die Frauen ihm erschienen, gegenüberstand, war es ihm, als ob etwas Weiches, Schweres auf ihm [S. 49] lastete, welches ihn zwang, mit diesen andersgearteten Wesen überaus sanft, fein und behutsam zu verkehren. Über die Frauen, welche einen Beruf ausüben, hatte er sich noch keine dauernde Meinung bilden können, weil er keine kannte. Mitunter hatte er ein lebhaftes, peinliches Bedauern empfunden, wenn er Fräulein Ambrosius zu später Abendstunde vom Telephondienste nach Hause kommen hörte. Sie erschien ihm zugleich unweiblich und beklagenswert. —
Fräulein Therese klappte das Buch zu, legte es nieder, machte sich irgend etwas zu schaffen; dann blickte sie auf und sagte schnell:
„Ihr Schneider war hier, mit der Rechnung; er behauptete, daß er nicht länger warten könnte.“
Eberhard fragte: „Nun, und dennoch ist er fortgegangen?“
„Er mußte wohl,“ sagte Therese heiter. „Mutter ist nicht zuhause; ich fertigte ihn ab... In zwei Wochen, bestimmt aber in drei Wochen bekäme er, was ihm zusteht, versicherte ich ihm... O, ich habe noch hernach lachen müssen, wie mißtrauisch der Mann mich betrachtete! — Ist das aber auch gewiß wahr? fragte er immer wieder. Ei freilich! sagte ich ihm, wenn ich es Ihnen sage, so ist es ganz gewiß!“
Ihre geringe Befangenheit, die leichte Verlegenheit, weil er sie bei seinen Büchern überrascht hatte, war dahin.
Eberhard sah über das Mädchen weg und sagte, mehr zu sich selbst, als zu Therese:
„Das ist ja nun auch gewiß — endlich. O, vorher hatte ich fast niemals Gewißheit. Endlich wird die Misere ein Ende haben.“
Das Fenster war nun schon ganz dunkel. Eberhards Blick glitt von dem Himmel, der in den Finsternissen der Nacht verschwamm, hernieder zu dem Kopfe des jungen [S. 50] Mädchens, der gerade von dem gelben Kerzenlichte bestrahlt war. Er hatte sie vorher eigentlich nie genau betrachtet. Der Dienst hielt sie meistens gerade in den Stunden fern, wenn er zuhause war. Nun sah er zum ersten Male mit Bewußtsein, daß die „filia hospitalis“ ein schönes, stolzes Gesicht hatte, welches von sanften, braunen Haarwellen umgeben war. Die beiden kräftigen Zöpfe waren in einen griechischen Knoten gesteckt. Tat es die Haartracht oder die edle Art, wie der schlanke Hals die Bürde des Hauptes trug, oder tat es das kühne Profil Thereses, daß sie ihm wie eine junge Diana erschien? Jedenfalls war sie hübsch und stolz, und ihr Kleid saß schmuck beim einfachsten Schnitt. Dies sah er mit natürlichem Wohlgefallen, plötzlich aber bemerkte er, daß das Fräulein ihn lächelnd und, wie er meinte, spöttisch ansah. Da sagte er, nun wirklich verwirrt:
„Pardon. O —, pardon. Ich bin ein schlechter Gesellschafter. Und dann, verzeihen Sie — ich kannte Sie ja eigentlich nicht, obwohl ich schon sieben Monate bei Ihnen wohne. Ich — hatte — Sie mir — ganz anders vorgestellt.“
Nun lachte Therese hell:
„Wie denn?“
„Sie werden mir auch sicherlich nicht zürnen? Nein? — Ich hatte Sie für emanzipiert gehalten.“
Sie bog den Kopf zur Seite, nach dem dunklen Fenster hin. Der junge Mann, der sie unverwandt beobachtete, sah einen leichten Schatten über ihre Stirn und ihre klaren Augen fliegen. Aber er wußte nicht, ob eine Verstimmung ihr die Augen verdunkelte und ihre weiße Stirne faltete, oder ob nur der Kerzenschein flackernd über ihr Gesicht hingehüpft war. Dann erwiderte sie gelassen:
„Nein! Emanzipiert bin ich nicht. Ich lasse mir keine [S. 51] Rechte schenken... Ich habe sie, oder ich habe sie nicht .... Ich bin gesund, ich bin stark, ich kann arbeiten: das genügt mir... Das ist mir alles...“
Es war ein kurzes Schweigen zwischen den jungen Leuten. Eberhard drehte gedankenlos an dem Leuchter, so daß die Flamme unruhig an dem Dochte auf und nieder sprang. Therese fuhr fort:
„Aber Sie sind noch immer im Dunkeln; ich hole die Lampe!“
Sie lief hinaus und kam sehr schnell mit der brennenden Lampe in der Hand zurück. Nun schien das Licht durch die Glocke aus weißem Milchglas hell in alle Ecken. Therese zog geschäftig den Fenstervorhang zu; dann zögerte sie, faßte aber plötzlich einen Entschluß und sagte:
„Morgen also wird man Sie auf der Bühne sehen können?“
Er sah sie an, ungewiß, wie sie es meinte, und fing an zu spotten:
„Sagen Sie lieber gleich: bewundern, Fräulein Ambrosius!“
„Auch bewundern, gewiß,“ erwiderte sie freundlich. „Ich hätte Sie in der Tat gern gesehen...“
„O, wenn es das ist —!“ antwortete der junge Mann, „ich gebe Ihnen Karten... Wenn es Ihnen Spaß macht, Ringkämpfe zu sehen...“
Er zog die Brieftasche und nahm zwei Karten heraus. Die Theaterbilletts steckten neben Photographien. Er zog auch diese Photographien aus dem Fache, betrachtete sie einen Augenblick und legte sie dann auf den Tisch vor Fräulein Therese.
„Ach!“ sagte Therese fröhlich, „das sind Sie... Das sind Sie... O, hübsch, Herr Freidank!“
Mit naivem Vergnügen sah sie die beiden Bilder an, [S. 52] ohne ihr Interesse zu verhehlen. Sie stellten beide Eberhard im Sportanzuge dar. Im engen, dunklen Trikot mit bloßem Hals und nackten, gekreuzten Armen stand er gegen einen dunklen Hintergrund, von dem der kraftvolle Körper sich stark und plastisch abhob. Therese schaute auf die Photographien, dann auf den jungen Mann. Es war ein Zufall, daß Eberhard auch jetzt gerade mit verschränkten Armen dastand, genau wie auf einem der Bilder. Das weiße Lampenlicht fiel voll auf sein ruhiges, kluges Gesicht und seine schöne, hohe Gestalt. Die Blicke der jungen Leute begegneten sich, und voll Überraschung sah Eberhard über die ausdruckvollen Züge des Fräuleins ein Spiel lebhafter Empfindungen gehen, und dann ein starkes Erröten... Unfähig, ihren Eindruck zu verbergen, sagte sie mit einiger Heftigkeit:
„Ach, wie schade... wie schade...“
„Was ist schade, Fräulein Ambrosius?“ fragte er, während seine Brauen sich zusammenzogen.
Sie bereute ihren Ausruf, stockte und wollte ihn zurückziehen, aber es war zu spät; nun war sie ihm eine Antwort schuldig.
Das fremde, junge Mädchen hatte eine Wunde in ihm berührt, die er sich selbst noch nicht einmal eingestanden hatte. Wer war sie, daß sie gedankenlos den Schleier von seinen tiefsten, unausgesprochensten Heimlichkeiten ziehen durfte? Und heftig wiederholte er seine Frage:
„Um was ist es schade? — Um mich vielleicht?“
Es war zu spät; sie konnte nicht mehr zurück...
„Um Sie!“ sagte sie mit einem entschlossenen Blick in seine zornigen Augen, „jawohl, um Sie!“
„Ach, sehr freundlich!“ antwortete Eberhard, dessen Gesicht den Zornesausdruck verlor, verdrießlich und höhnisch. „Warum denn schade? — Vor einer Minute fanden [S. 53] Sie das Bild hübsch... Ich bin nicht eitel genug, dieses Lob anzunehmen; aber warum die plötzliche Sinnesänderung?“
Da sagte Therese Ambrosius schnell:
„Ich kenne Sie ja nicht... Ich kenne Sie ja gar nicht näher... Und meine Meinung ist Ihnen auch ganz gleichgültig ... Aber mir scheint, es ist schade, daß Sie in Zukunft nichts tun wollen, als sich anschauen lassen... Von fremden, neugierigen Leuten... Daß Sie alle anderen Zukunftspläne so ohne Bedauern über Bord geworfen haben .... Das finde ich traurig...“
„Finden Sie? —“ fragte er, immer noch spöttisch. „Nun, wenn Sie meinen, daß ich mich einfach ausstellen lasse, wie eine Bestie im Käfig... Und der Sport, Fräulein Ambrosius? Den Sport rechnen Sie für gar nichts?“
Therese sah ihn unsicher an und sagte:
„Es war unrecht von mir, etwas zu sagen, da ich doch wohl nicht ausdrücken kann, was ich meine... Ich zähle den Sport schon mit! Ich habe ehrliche Freude an der Kraft und am Sport! — Nur, wenn die Kraft allein das Ziel des Lebens sein soll, das finde ich traurig... Ich hielt den Sport immer nur für ein Mittel zum Zweck... Zu dem Zwecke nämlich, gesund und arbeitsfreudig zu bleiben oder zu werden...“
„Ich nicht,“ sprach Eberhard Freidank trotzig, „ich nicht, Fräulein Ambrosius! Wer keine Kräfte hat, kann sie nicht anwenden... Ich habe sie, und ich gebrauche sie... Der Teufel hole die Arbeitsfreudigkeit! Ich habe sie nicht mehr. Ich bin von diesem Irrtume genesen. Ja, genesen.“
Er hatte es laut und fest und schnell gesagt, in einem starken, jugendlichen Trotze, mit dem er sich selbst überreden und das jähe Zagen und Schwanken seiner Seele be [S. 54] schwichtigen wollte. Und da er nun schwieg, vergaß er die Gegenwart des Mädchens und wußte nicht mehr, daß er nicht allein war. In seiner Haltung drückten sich Energie und Entschlossenheit aus; sein Haupt, das helle, blonde Niedersachsenhaupt, war zurückgebogen, die ernsthaften Lippen schmal zusammengepreßt. Ich bin von dem Irrtum genesen, sagte er noch einmal in Gedanken, während sein Mund fest geschlossen blieb. Und dann flog sein Geist doch nachdenklich zurück zu früherer stiller Arbeit in demselben Zimmer, aus dem er jetzt ausziehen wollte, um als ein neuer Siegfried, ein Held der Gliederkraft, die Welt zu erobern. Wie hatte es dem ruhig fröhlichen Norddeutschen so fern gelegen, mit der Schönheit und Stärke seiner Muskeln zu prunken! Das Gottesgeschenk seiner Kraft hatte er als eine selbstverständliche Gabe angenommen und sich ihrer erfreut, als eines unveräußerlichen Besitztums, so sicher, wie die Luft, die man atmet! — O, andere Ideale hatten sein Herz schneller und höher schlagen lassen; aus dieser stillen Stube hatten Werke des Geistes ausziehen sollen, die der Jüngling, über diesen Tisch gebeugt, in dem starken, wohlgebauten Schädel ersonnen und mit der großen kräftigen Rechten niedergeschrieben hatte! — Seine Blicke wurden dunkel, wie der Himmel, über den eine schwarze Wetterwand dahingezogen ist. Nun sah er sich um und entdeckte das Mädchen Therese, die kein Auge von ihm verwandt hatte.
Er mußte sich einen Augenblick besinnen, was sie in seinem Zimmer wollte; dann sagte er finster:
„Wie sehen Sie mich an? Bin ich ein Meerwunder? — Ach, Sie brauchen nicht rot zu werden... Genieren Sie sich nur nicht, mein Fräulein! Ich weiß nun Ihre Ansicht, sie ist nicht sehr schmeichelhaft... Sie finden den Sport verächtlich, allright... Bureaumenschen gefallen Ihnen [S. 55] wahrscheinlich besser... Nun, nichts für ungut, Fräulein Ambrosius! Ein jeder hat seinen besonderen Geschmack. Bei den modernen Damen ist er sogar sehr ausgesprochen..“
Er lachte sein gutes, verlegenes, jugendliches Lachen. Er schämte sich, das fremde Fräulein mit einiger Heftigkeit aufgezogen zu haben. Wie kam man auch dazu, mit einem dieser gebrechlichen Wesen über ernsthafte Dinge zu reden? Wie dieses Mädchen jetzt vor ihm stand... Gewiß, er hatte sie beleidigt...
Therese Ambrosius sah betrübt und ernsthaft aus. Die dunklen Augen standen groß und verwundert in dem weißen Gesicht.
„O,“ sagte sie langsam, „o, Sie haben mich mit Absicht falsch verstanden. Sie wissen das auch... Gute Nacht, Herr Freidank.“
Sie neigte leicht den Kopf und wollte an ihm vorüber zur Tür. Im nämlichen Momente flog ein schriller Klingelton durch die Wohnung. Frau Ambrosius kehrte von ihrem Ausgange zurück. Als Eberhard das Glockenzeichen hörte, war er mit einem Sprunge neben dem Mädchen. Nein, zornig brauchte sie nicht von ihm zu gehen! Er reichte ihr impulsiv die große Hand und flüsterte schnell:
„Fräulein — Fräulein Therese — habe ich Ihnen weh getan?“
Da schlug das Mädchen die Augen auf und erwiderte, gegen ihren Willen lächelnd:
„Mir — nein. O nein, mir nicht. — Doch nun, gute Nacht! Ich muß der Mutter öffnen...“
Während sie eilends hinausschlüpfte, sah sie Eberhard noch einmal bedeutungsvoll an, indem sie den Zeigefinger auf den Mund legte. Dann hatte sich die Tür geschlossen und Eberhard war allein.
Er trat an den Tisch zurück, nahm die Photographien [S. 56] auf und barg sie, ohne sie anzusehen, wieder in der Brieftasche. Das Werk, in dem Fräulein Therese Ambrosius gelesen hatte, lag auch noch auf dem Tische, gerade in dem gelben Lichtkreise der Lampe. Er stellte das Buch an seinen Platz auf dem bescheidenen Regal zurück. Dabei fiel ihm etwas ein: er sah sich um, ob nicht eine Kiste im Zimmer stände, oder sein Koffer, worin er alle Bücher, die ihm vordem zum Studium gedient hatten, verschließen konnte. Der Anblick dieser schlichtgebundenen Werke im schwarzen Kalikorücken war ihm plötzlich zuwider. Morgen, dachte er, morgen, oder in den nächsten Tagen, werde ich eine Kiste kommen lassen. —
Er ging noch einmal an das Fenster, öffnete es und sah hinaus in die Novembernacht. Draußen hatte ein leichter Schneefall begonnen. Der Schneehauch kühlte Eberhards Gesicht und strich ihm angenehm über die Haare hin. Eberhard fühlte plötzlich ein Verlangen nach dieser Kälte; er zog die Jacke aus, tat den steifleinenen Halskragen ab und stand in Hemdsärmeln mit bloßem Halse am Fenster. Der Schnee fiel dichter, wie ein flimmernder, beweglicher Vorhang vor einem unergründlichen Hintergründe....
Er stand lange, und dunkle, fragende, ahnungsvolle Gedanken, denen er keine Worte hätte leihen können, tauchten aus dem Grunde seiner Seele auf. Aber der leise, ununterbrochene Schneefall lenkte ihn immer wieder ab, zog seine Blicke hernieder, hernieder in den Tanz der wirbelnden Flocken.
Die leichte Kälte wehte an seine heiße Brust, er knöpfte das Hemd über der Brust auf und bot seinen warmen Leib der winterlichen Nachtluft, indes er langsam den Körper wohlig ausreckte....
Dann schloß er das Fenster, ging in das Zimmer zurück, löschte die Lampe aus und ging im Finstern schlafen, wäh [S. 57] rend er ohne große Verdrießlichkeit, aber ein wenig unsicher dachte:
„Was versteht sie davon, sie ist ein törichtes Ding, — jawohl, ein törichtes Ding, — und außerdem, was geht sie mich an...“
Tagsüber ruht das Odeontheater stumm, grau, unschön und unzugänglich, wie ein ungastlicher, schlafender Koloß. Der Torweg, rechts und links von Sandsteinsäulen flankiert, ist mit einem schwarzen, gußeisernen Gitter verschlossen. Aber wenn die Dämmerung alle Konturen verwischt hat, beginnt hier und dort ein Licht aufzublitzen, dem bald ein anderes folgt. Es werden immer mehr der Lichter. An allen Enden des großen Eckhauses steht abendwaches Leben auf. Nun erscheint über dem gemeißelten Sandsteinportale inmitten eines blendendweißen Flammenkranzes elektrischer Lampen der Name „Odeon“ in hohen goldenen Buchstaben. Jetzt ist an dem großen Gebäude nichts mehr grau und trist. Alle Konturen, alle Linien, alle Ecken treten klar, scharf und glänzend aus dem hellen, freudigen Lichte hervor; alle Fenster spiegeln heiter und einladend den Glanz der Bogenlampen wieder. Das Leben blitzt und lacht und funkelt aus dem erleuchteten Hause heraus, und darüber breitet die Freude ihre starken, sieggewohnten Schwingen. —
Die ersten Theaterbesucher erscheinen an der Abendkasse und lösen ihre Karten. Sie kennen die guten Plätze, sie verhandeln mit dem Kassierer und erhalten, da sie zeitig genug erschienen sind, ihre Lieblingssitze. Dann wenden sie sich zur Rechten und treten mit ihrem galantesten Lächeln in das elegante Theaterrestaurant ein, wo Fräulein Krömer, die Schwester der Frau Direktor Immermann, in ihrer üppigen, reifen Brünettenschönheit selbst an dem [S. 59] Büfette thront und mit stolzem, nachsichtigem Lächeln die Huldigungen ihrer Verehrer entgegennimmt. Welcher Theaterbesucher verehrt sie nicht? Kein Herr aber darf sich rühmen, jemals von Fräulein Leonie Krömer mehr empfangen zu haben, als ein freundliches Wort und ihr berühmtes, zugleich pikantes und selbstbewußtes Lächeln, das Lächeln, welches sich niemals das geringste vergibt, das Lächeln, welches rot und stolz wie Julirosen blüht. —
Im Theater brannten, da es noch zeitig war, nur erst die Wandleuchter und die Öllämpchen in den Gängen. Im Orchester war noch alles finster. Zwei Theaterarbeiter kamen durch den Spalt im Vorhange auf die Bühne hinaus, bis nahe an die Rampe, und schraubten ein Loch in den Fußboden; dann krochen sie durch denselben Spalt wieder zurück.
Auf der Galerie am hinteren Ende des Saales, wo die Sitze nicht numeriert sind, erschienen die ersten Besucher, wurde halblaut geflüstert, raschelten Programme.
Die Zeit war da; die unerklärliche, erwartungsvolle, aufreizende Theaterstimmung kam, als die bronzenen Riesengirandolen, die an starken Ketten von der hellen, hohen Decke des Saales herniederhingen, mit einem Schlage im Lichte ihrer elektrischen Kerzen erglänzten.
Im Orchester wurde hinter den dunkelgrünen Schirmchen hier und da eins der Pultlichtchen angezündet; dann schwirrten leise, nervöse Töne auf beim Stimmen einer Violine.
Die hohen Flügeltüren des großen, weiten, schönen Theatersaales standen weit offen, bereit, die Gäste aufzunehmen, die vorerst noch vor den Garderobespiegeln lächelnd ihr eigenes Bild bewunderten und heitere Blicke aufeinander warfen. Stets ist das Publikum der großen Variétés seltsam gemischt; heute aber hätte die Verschiedenheit dieser Gäste auch dem Unkundigsten auffallen müssen. Es gab da viele [S. 60] große, vierschrötige Männer mit herkulischem Körperbau und groben Gesichtszügen, Amateurathleten und Freunde des Kraftsports. Sie hätten, in so großer Zahl an einem Orte versammelt, zu jeder anderen Zeit Aufsehen erregt. Aber heute glitten die Blicke interesselos über sie hin, denn alles wartete auf die Starken, die erprobten, gefeierten Athleten.... In den Augen der Frauen glühte ein eigentümliches, heimliches Feuer. Es waren auffallend viele, schöne und elegante Frauen erschienen. Sie alle waren von einer Nervosität beherrscht, die sich hinter belanglosem Lächeln und kokett gesenkten Augenlidern verbergen wollte, und die heimlich fiebernde Unruhe zog ihre Blicke doch immer wieder auf die drei Meter hohen Plakate mit dem Bilde Hermann Thyssens, des Matadors, die den ganzen Raum dominierten. Auf blutrotem Grunde stand der Ringkämpfer, kampferbittert und siegessicher, und hielt seinen schwarzen Gegner kopfunter mit fürchterlichem Griffe hoch empor, bereit, ihn zu Boden zu werfen. Man sah die verzweifelte Gegenwehr des Negers, man sah die Anstrengung der starken Muskeln, den eisernen Griff der unwiderstehlichen Hände, die Energie der blauen Augen und des zusammengepreßten Mundes.... Sie lasen die Unterschrift: Hermann Thyssen, Champion of the World in Graeco-Roman Style — und ihre verschleierten Blicke sagten lautlos und bebend: Champion... Herrscher... Herr... Herr....
„Was siehst du an dem Bilde?“ fragte Frau Ambrosius ihre Tochter, die nachdenklich vor dem Plakate stand. „Komme auf den Platz, Therese! Es hat schon geschellt.“
„Ja, gewiß,“ erwiderte Therese, „nur noch einen Augenblick, Mama!“
Das junge Mädchen konnte sich nicht versagen, noch einen eitlen Blick in den Spiegel zu werfen. Therese konnte zufrieden sein; die rosige Farbe der Erregung stand gut [S. 61] auf ihrem Gesichte, und die zierliche, weiße Bluse umhüllte eine anmutige und kräftige Mädchenbüste. Im nächsten Augenblicke aber schreckte sie leicht zusammen und wendete sich unwillkürlich um. Im Spiegel hatte sie Fritzi erblickt, Fritzi, deren Bilder in graziösen, lockenden Posen auf der Kommode in Eberhards Zimmer standen. Sie erkannte sie gleich so bestimmt, daß ihr kein Zweifel blieb. Das kecke, zierliche Geschöpf zupfte an ihrem Lockenscheitel, strich den prallsitzenden Rock noch glätter und hing sich dann wieder an den Arm ihres Begleiters, mit dem sie stolz durch das Vestibül in den Theatersaal hineinschritt.
Therese blickte dem Paare finster nach. Eine dumpfe, zornige Eifersucht stieg plötzlich in ihr auf. Diese kecke Chansonette mit dem schwarzen Haar und dem tänzelnden, spielerischen Schritte liebte Freidank... diese schmale, geschnürte Taille hatten seine starken Arme umfangen... Was war ihr Freidank, was konnte er ihr sein? Sie hätte es in dieser Stunde nicht sagen können; aber mit hellsehendem, weiblichem Instinkte faßte sie eine tiefe Abneigung gegen die andere...
„Kommst du nicht?“ fragte Frau Ambrosius ungeduldig, und dann, indem sie dem finstern Blick ihrer Tochter mit den Augen folgte:
„Wem siehst du dort nach? — Wer ist denn das? — Ach, ist das nicht Herrn Freidanks Dame?“
„Es scheint so,“ erwiderte Therese kühl.
„Bestimmt!“ sagte Frau Ambrosius lebhaft. „Aber mit wem geht sie da, Therese? — Man kann von diesem Manne doch nur sagen: ein Kerl! — Ist das vielleicht ’n Bruder von ihr? Oder ’n Vetter? Ich habe ja immer gesagt, sie ist ’n ganz gewöhnliches Frauenzimmer!“
„Ich habe es nie bezweifelt. Übrigens geht sie uns gar nichts an, Muttchen,“ sagte Therese mit absichtlicher [S. 62] Gleichgültigkeit. Doch ihr Zorn gegen Fritzi verstärkte sich, da sie nun ihren Begleiter ins Auge faßte. Es war ein kräftiger, grobknochiger junger Mann mit ordinären, hübschen Gesichtszügen, aus denen Energie und Sinnlichkeit sprach. Fritzi lehnte sich kokett an ihn an, verschwendete ihr süßestes Lächeln an den Athleten und grüßte dazwischen mit blitzenden Augen ihre anderen Bekannten aus André Leroux’ Training-Hall, welche den hübschen Budenringer sämtlich um diese Eroberung hinter dem Rücken Freidanks beneideten....
„Ekelhaft,“ sprach Mama Ambrosius halb neugierig, halb entrüstet. Und dann eilten beide Damen, ihre Plätze zu erreichen; denn das dritte Klingelzeichen war soeben ertönt, und die Musik setzte mit einem schmetternden Marsche ein. —
Auf der Bühne zogen in farbigem Wechsel eine Sängerin, ein Akrobatenpaar, ein Hundedresseur vorüber; andere Artisten folgten; dann eine Pause... Und wieder Musik, und neue Menschen auf der Bühne. Man spielte eine Posse voll derber Komik. Aber je weiter der Abend vorschritt, desto mehr erlahmte das Interesse der Männer und Frauen, die den Zuschauerraum füllten und die tollen Witze da oben mit müder Gleichgültigkeit anhörten. — Nur zu Ende, zu Ende, daß die Ringkämpfer erscheinen konnten, die Ringkämpfer.
O, die Ringkämpfer —!
Blaß und schweigsam saßen die Frauen da. Sie wagten nicht, ihren Gatten, ihren Bräutigamen, ihren Vätern, ihren Brüdern, die sie ins Theater geführt hatten, ins Angesicht zu sehen, aus Furcht, ihre Ungeduld zu verraten, die grausame, schmerzhafte Erwartung, die ihre Nerven auf die Folter spannte. Auf mancher Mädchenstirn perlten Schweißtropfen, bleiche Lippen wurden nervös zernagt und hungerige Blicke irrten immer wieder von der Bühne auf knisternde [S. 63] Programme, dahin, wo die stolzen Namen der vierundzwanzig Ringkämpfer verzeichnet standen. Und mit wollüstigem Grauen studierten die Frauen und Mädchen die Kampfregeln, deren technische Ausdrücke so unverständlich und doch süß brutal klangen....
Wie mit bleibeschwerten Flügeln zogen die Minuten der Erwartung über den menschengefüllten Saal hin. Als endlich das letzte Wort der Komödie gesprochen war, brach ein jubelnder, exzentrischer Beifall los, ein hysterisches Toben und Händeklatschen... O — es war zu Ende, o... die Ringkämpfer.... Könnte man die Minuten peitschen!
Noch eine Pause...
Aber als man sich nun auf die Plätze zurückbegab, gingen die Mädchen und die Frauen wie mit federnden Schritten; auf ihren Stirnen thronte die heitere Weihe naher Seligkeit, ihre Lippen, in welche die Farbe zurückgekehrt war, waren im Lächeln geöffnet, aus ihren Augen leuchteten Sterne der Liebe... Ja, nun war die Zeit gekommen!
Aus dem Orchester sprang mit aufreizenden, feurigen Trompetenklängen der Ringkämpfermarsch, der überall gespielt wurde, wo Hermann Thyssen, der Matador, im Trikot zum Kampfe trat, und dann schwebte langsam der Vorhang empor.
Im Halbkreis standen sie da, die Vierundzwanzig, die Erwählten, die Halbgötter, die Starken!
Die Musik schwieg; — ohne Ende hätte man schwelgen mögen im Anblick der riesigen, kraftvollen Gestalten, die so ruhig und massig nebeneinander auf der Bühne standen, die starken Arme auf den Rücken gelegt, die breite Brust mit der Schärpe in den Landesfarben eines jeden geschmückt. Ihre Gesichter blickten ernst und unbewegt, wie Gladiatoren. Nur wenige suchten mit den Augen irgend jemanden im [S. 64] Zuschauerraume, und unter denen, die ein vertrautes Antlitz suchten, war Freidank. Wen suchte er, wen? — Therese erbleichte, Therese schlug zitternd die Augen nieder, — aber Eberhard hatte nicht Therese gesucht, sondern Fritzi...
Fritzi, die vorn in der Loge saß, sprang entzückt auf, setzte sich sofort wieder nieder und wendete das pikante, gemalte Gesichtchen ihrem Begleiter zu:
„So sehen Sie doch nur! — Sieht er nicht famos aus?“
„Warum sollte er nicht,“ sagte der junge Mensch, der Budenringer Gustav, verdrießlich, bemüht, seinen Neid nicht zu zeigen. „Hat mehr Jlück wie Vastand jehabt... Er kann jenau so ville wie wa alle kenn’, nich mehr und nich weniga... Jott weeß, mit was for Zicken er sich an Thyssen ranjeschlängelt hat...“
„Na, quatsch’ nicht, Justav!“ flüsterte die Chansonette ungeduldig und aufgeregt, „hör’ zu...“
Die Musik schwieg; Herr Markus, Thyssens Sekretär und Faktotum, durchbrach den geschlossenen Halbkreis der Athleten. Er war im Frack und in weißer Weste; seine Augen, die vor Hitze, Erregung und Bewußtsein seiner Wichtigkeit funkelten, wetteiferten an Glanz mit dem dicken, echten Solitär auf seiner Krawatte. Er machte, so gut es ihm gelang, eine Reverenz und begann in das atemlose Schweigen hinein mit lauter Stimme die Namen der Vierundzwanzig auszurufen:
„Jan van Muyden, Meisterringer von Holland...“
Ein dicker, hübscher Ringkämpfer mit rosigem Teint und kurzgeschorenem, ganz hellblondem Haar, ein echter Holländer, trat vor, ließ aus seinen grauen, stahlharten Augen einen großen Blick über die Menge schweifen und verbeugte sich kurz. Als er in den Halbkreis zurücktrat, sah man ein brutales Lächeln um seinen hübschen Mund spielen....
„... Pierre le Forgeron, genannt Oeillet rouge, die rote Nelke; Champion von Paris!“
Es hatte noch niemand Beifall geklatscht. Le Forgeron, der ehemalige Schmied, der sich ernsthaft, mit pariserischer Höflichkeit, verneigte, war nicht größer als hundertundachtzig Zentimeter, aber die cyklopische Gedrungenheit seines Körpers, die Riesenkraft seiner breiten Schmiedehände mochten ihn zu einem furchtbaren Gegner machen...
„Paul Kiesling, Meisterringer von Rheinland und Westfalen ...“
Paul Kiesling hatte einen ungemein proportionierten, sehnigen, schlanken und edelgebauten Körper. Einzig seine breite Brust und die stark ausgebildeten Muskeln der schönen Arme verrieten den Athleten. Seine Hände und Füße aber waren verhältnismäßig klein, und seine Gelenke nicht im mindesten plump. Er war stolz auf seinen schlanken Leib, und Tausende von Frauen in aller Welt hatten die herrliche Linie seiner schlanken Hüften angebetet...
„... Sergej Roditscheff, Rußland...“
Kiesling und Roditscheff wurden immer zusammen genannt. Seit zwei Jahren waren diese beiden Ringkämpfer unzertrennlich. Roditscheff galt als der Mann von morgen und übermorgen. Zwei Meter hoch, stark und ruhig, ein fairer Sportsmann, ein guter Kamerad, gleichmäßig verehrt von Männern und Frauen, hatte der junge, blonde Riese die Sicherheit einer glänzenden Zukunft in seinen starken Händen. Sergej Roditscheff begnügte sich nicht mit einer kurzen Verbeugung. Er trat mit gekreuzten Armen bis nah vor die Rampe, lächelte stolz und ließ seine schönen, fröhlichen Augen siegesbewußt auf der Menge ruhen. Ein stürmischer Beifall brach laut und jubelnd aus. Der große, schöne Jüngling lächelte noch stolzer, noch strahlender und trat mit zwei gewaltigen Schritten in die Reihe zurück....
„... Aloys Binder, München, Meisterringer von Bayern....“
Aloys Binder war der Meistgeliebte. Ihm flogen die Frauen zu, und er verhöhnte sie, spielte mit ihnen, trat sie buchstäblich mit Füßen. In jeder Stadt, wohin er kam, hatte er bereits am zweiten Tage eine Schar demütiger Verehrerinnen, die er alle insgesamt wie Sklavinnen traktierte, ohne einen Unterschied zu machen zwischen Baroninnen und Cocotten, Kellnerinnen, Bürgerdamen und jungen, feinen Mädchen. Sein Äußeres war nicht einmal verführerisch. Die Roheit stand ihm auf der niedrigen Stirn geschrieben. Er trug die starken, braunen Haare steil hochgekämmt. Seine kleinen, meist halbgeschlossenen Augen funkelten böse und mißtrauisch. Am unsympathischsten aber war die untere Hälfte seines Gesichts, das spitze und doch starke Kinn, das auffällig weit vorgeschoben war und seinem Ausdruck etwas Tierisches gab. Tierisch waren auch seine Bewegungen, sprunghaft und raubtiergleich. Er warf einen hochmütigen Blick in das Parkett, wo in der ersten Reihe eine zarte, liebliche Dame im feinen, weißseidenen Gewande saß und anbetend zu ihm emporblickte. Unter seinem frechen Besitzerblicke errötete die junge Frau bis unter die schwarzen Scheitel...
„... Giacomo Petrocchi, Matador von Sizilien...“
Petrocchi lächelte selig, wie ein gutes, dickes Kind. Er war ganz ungeheuerlich dick und stark. In aller seiner dicken Gutmütigkeit aber war er ein fürchterlicher, fast unbesieglicher Gegner. Lächelnd, gleichmütig, ohne aus der Ruhe zu geraten, ließ er seinen Partner sich müde arbeiten, ohne andern als passiven Widerstand zu leisten. Mitunter glaubte man ihn verloren, wenn man ihn fallen sah. Aber er fiel nie, wenn er nicht wollte, denn er fiel immer in die Brücke. Sein gewaltiger Hals von mehr als fünfzig Zenti [S. 67] meter Umfang hielt jeden Druck aus; er hätte eine halbe Stunde unerschüttert in der Brücke bleiben können. Dann stand er plötzlich auf und machte seinen ermatteten Gegner rasch nieder, ohne daß das glückselige Kinderlächeln einen Augenblick von seinem dicken Gesichte gewichen war....
„... Vittorino Cardo, Messina...“
Das war der Bruder des dicken, hübschen Giacomo. Vittorino war von ganz anderer Art, ein schlanker, rassiger Italiener. Er war Ingenieur gewesen und hatte eine hohe Bildung genossen. Dann hatte er der sterbenden Mutter der beiden versprochen, über ihren Liebling Giacomo zu wachen. Von demselben Tage an verließ er alles, wurde ein Ringkämpfer und pflegte und hätschelte den um zehn Jahre jüngeren Bruder mit Mutterliebe und Muttertreue. Giacomo hing wie ein zärtliches Kind an seinem Vittorino... Es war ein unendlich inniges Verhältnis zwischen den Brüdern, ein zartes, rührendes Idyll unter den rauhen und brutalen Athleten. Vittorino hatte dem Jüngeren alles geopfert, alles, sogar seinen Ehrgeiz; denn er, der erst im Alter von siebenundzwanzig Jahren ringen gelernt hatte, war nur ein mittelmäßiger Ringkämpfer geworden und hatte jetzt, mit dreiunddreißig Jahren, keine Chancen und keine Wünsche mehr, als den ihm anvertrauten Liebling seiner schwärmerisch geliebten toten Mutter reich und glücklich werden zu sehen...
„... Karl van dem Domhoff, Champion der Normandie; — William H. Lanfrey, Irland....“
Das Publikum nahm die Ankündigung der beiden ruhig hin, ohne zu applaudieren. Sie waren beide unschön und erweckten keine Sympathie, der fuchshaarige Holländer und der lange, hagere englische Boxer mit dem unnatürlich kleinen Kopfe und den großen, knochigen Boxerhänden. Herr Markus war ein gewandter Sprecher; er witterte es sofort, wenn ein Ringkämpfer dem Publikum gefiel, und wußte [S. 68] mit Geschicklichkeit Beifallspausen zu machen oder weiterzugehen. Jetzt ließ er ein prachtvolles Dekorationsstück unter den Athleten vortreten:
„... Mansur, the Lion of the Sudan, der sudanesische Löwe!“
Mansur, der große, dicke Sudanneger mit den lachenden Wulstlippen, der platten Nase und den kleinen Ohren, an denen massive Ringe baumelten, erregte leidenschaftlichen Beifall. Sein mächtiger, tiefschwarzer Körper war in ein zartrosa Trikot gepreßt, welches die verschwenderische Fülle seiner Muskeln in herausfordernder Weise markierte. Die breiten Lenden, die enormen Schenkel des Schwarzen mußten die Wünsche der Weiber bis zur heulenden Gier aufstacheln ...
„... Kasimir Zabolotny, der Riese von Polen! — Mikita Zirkovitsch, Serbien! — Bernhard Meinken, Hamburg, Champion der drei Freien Reichsstädte, Meisterringer von Europa!“
Bernhard Meinkens Name war einer der gefeiertsten in der Sportwelt. Stark, ruhig, klug, schön und proportioniert, hatte er sich schon als Jüngling dem großen Abs als Freund und Schüler angeschlossen und von ihm, dem die Athletik Kunst und Lebensinhalt war, die große Ringkunst der antiken Welt, der Griechen und Römer, mit allen ihren Feinheiten erlernt. Dann kam das tragische Ende des großen Abs, dem seine Kraft eines Übermenschen zum Schicksal wurde. Bernhard Meinken hatte den schmerzlichen Verlust seines Freundes und Meisters nie ganz überwinden können. Eine ruhige Melancholie war in ihm geblieben, die selbst in den heitersten Stunden dunkel in seinen Augen stand. Seine Berühmtheit und seine fürstlichen Einnahmen hatten ihn niemals berauscht. Er hatte ein zartes, feines, blondes Fräulein, die Tochter eines dänischen Etatsrats, geheiratet, hatte ihr eine Villa in Uhlenhorst erbaut und die vier Monate des [S. 69] Jahres, die er bei seiner holden, kindlichen Gattin und seiner immer noch schönen Schwiegermutter, der Etatsrätin, die sich längst mit der Ringkämpferheirat ihrer Tochter ausgesöhnt hatte, zubrachte, waren eine Zeit voll des reinsten, intimsten Familienglückes.
„... Jimmy Holyhead, Australien! — Frank Argyll, Texas! Sala ben Brahim, Champion der Türkei! — François à la Crinière, der Herkules von Frankreich! — Raymond Poing de Fer, Lutteur-Matador der Provence! — Willi Lehmann, Berlin!....“
Der Lokalpatriotismus brach in helle Begeisterung aus. Das heftigste Klatschen aber drang aus einer Loge zur Rechten, in der elegante Demimondänen in hochmodernen Roben und auffälligen Hüten saßen. Sie kannten ihn alle, den einstigen Freund der „gelbseidnen Adele“, den Matador sämtlicher Berliner Athletenklubs, den gefürchtetsten Zuhälter Berlins. Wie hatten sie die gelbseidene Adele um den gelbbraunen Athleten mit den schwarzen, borstigen, widerspenstigen Haaren beneidet! Er war Adelen ein strenger, furchtbarer Herr gewesen, aber er hatte sie gezwungen, Karriere zu machen. In einem Jahre war sie von einer gewöhnlichen Tanzbodendirne zu einer der gesuchtesten Demimondänen avanciert. Als er sie so weit gebracht hatte, war sie ihm plötzlich langweilig. Er wollte sogar wieder arbeiten, um sie los zu werden. Da wurde er als Zirkusathlet engagiert, reiste kurze Zeit mit Zirkussen, die ihn wegen seiner entsetzlichen Roheit immer gern wieder entließen, kam im Herbst auf gut Glück nach Berlin und beabsichtigte nichts, als seine Einnahmen aus dem Zirkus hier durchzubringen. Da traf ihn plötzlich das unerhörte Glück, in eine angesehene Konkurrenz eintreten zu können. Am Tage vor Beginn der Berliner Konkurrenz hatte Ola Carstensen telegraphisch abgesagt. Hermann Thyssen empfing das Tele [S. 70] gramm in einer Athletenkneipe des Nordens, dessen Wirt er aus den Anfängen seiner Laufbahn kannte. Der Wirt, ein ehemaliger Ringer, winkte Willi Lehmann, der zufällig in der Nähe stand, herbei, und fragte Thyssen ohne Besinnen:
„Kannste nich den da statt dein’ ollen Schweden jebrauchen?“
Thyssen mußte über den „ollen Schweden“ lächeln, und fünf Minuten später war der Zirkusathlet für die bedeutendste und geachtetste Ringkampfkonkurrenz engagiert...
Nun folgte ein Schlager dem andern; jeder Name, der genannt wurde, entfesselte rasenden Enthusiasmus:
„.... Manuel Gomez, el Toro de Granada!“
Der „Stier von Granada“ hatte den olivenfarbigen Teint der Südspanier, einen häßlichen Gorillakopf mit wilden, schwarzen Locken, einen unwahrscheinlich breiten Brustkasten, unmäßig breite Schultern und die größten Hände, die man je gesehen hatte. Das waren wahrhaftig keine Hände, sondern die Tatzen eines großen, wilden Tieres. Dazu war sein Gesicht über alle Maßen häßlich, von einer Häßlichkeit, die fast schon wieder imponieren konnte. Der Toro de Granada klappte plump und grob zusammen, anstatt sich zu verbeugen... Jeder fühlte, daß man diesem olivegrünen menschlichen Stier gegenüber nicht würde unparteiisch bleiben können. Man würde wohl gegen ihn Partei nehmen, aber Partei nehmen in jedem Falle....
„... August Bluhm, der Apollo von Berlin —! — Roland, Berlin!“
Das war Eberhard Freidank. Er hatte den Athletennamen „Roland“ gewählt. Fritzi schrie Hurra, Therese Ambrosius, von den widersprechendsten Gefühlen bewegt, fühlte sich einer Ohnmacht nahe....
Es gab noch eine Sehenswürdigkeit. Triumphierend verkündete Markus:
„Ingvar Mô, Meisterringer von Lappland!“
Und dann machte er eine Pause. Es war wie der Augenblick allerhöchster Spannung, wenn ein Todesmutiger im Zirkus die steile Fahrt durch den Todesring antritt, es war ein atembeklemmendes Schweigen, als wenn die Natur in Gewitterschwüle den ersten Donnerschlag erwartet....
„.... Hermann Thyssen, Weltmeisterringer.“
Und in den Jubel der Menge hinein bliesen die Trompeten, jauchzten alle diese leblosen Instrumente mit beseelten Stimmen....
Die Menge hatte sie gesehen, die Starken, die Spannung war gelöst; man konnte wieder atmen, wieder um sich blicken, wieder lachen! Die Ringkämpfer hatten die Bühne verlassen. Nun bekam man nur noch jene sechs zu sehen, die paarweise gegeneinander ringen sollten. Jan van Muyden, der blonde Holländer, gegen den Apollo von Berlin, der braune Argyll gegen den langen Irländer Lanfrey und zum Schluß der Türke gegen Thyssen.
Die Ringkämpfer verließen die Bühne, um sich in den Garderoben umzukleiden. Nur die sechs Ringer des Abends blieben auf der Bühne. Van Muyden und der Berliner mußten sofort zum Kampfe antreten, die übrigen vier hüllten sich in Laken und Bademäntel. Sie standen plaudernd beisammen und schimpften auf Englisch über die Kälte. Sala ben Brahim verstand nicht viel Englisch, aber er schimpfte mit. Thyssen, dem Mikita Zirkovitsch den hellen Mantel um die Schultern gelegt hatte, sprach noch einige Worte mit dem Serben und verabschiedete ihn dann durch eine einfache Kopfbewegung. Er stand nun allein, fest in seinen Mantel gewickelt, und sah schweigend hinter der ersten Kulisse dem Ringkampfe zwischen van Muyden und August Bluhm zu. Niemand sprach ihn an, und er schien niemanden zu sehen. Doch als Eberhard an ihm vorbeiging, fühlte er wieder, wie [S. 72] vor einigen Wochen im Theaterbureau, jenen ruhigen und dabei flammengleichen, unergründlichen Blick des Matadors auf sich gerichtet. Er spürte ihn noch, als er in die Garderobe trat, in der ein Teil der Athleten schon mit dem Umkleiden beschäftigt war, während andere noch plaudernd umherstanden.
Vittorino Cardo war seinem Bruder behilflich, das Obertrikot über den Kopf zu ziehen. Inzwischen fragte Giacomo mit knabenhaftem Lächeln:
„La réprésentation finie, où irons-nous?“
„Nach Hause,“ erwiderte der Ältere freundlich. Auf jede Bildungsmöglichkeit bedacht, sprach er mit Giacomo gern in der Sprache des Landes, wo sie jeweilig auftraten.
Giacomo sah ihn unglücklich und erschrocken an, und der Ausdruck seines Gesichtes war so entsetzt, so kindlich betrübt, daß Vittorino rasch sagte:
„Va, nous irons souper quelque part.... ou au café... ou même ce que tu voudras....“
Da war Giacomo wieder fröhlich und lachte wie ein zufriedengestelltes Kind. —
Manuel Gomez, der immer ungeduldig war, hatte sich eben durch seine rohen, heftigen Bewegungen das Trikotbeinkleid zerrissen. Nun besah er den Schaden und stieß auf Spanisch die gotteslästerlichsten Flüche aus, in denen allen Heiligen übel mitgespielt wurde und besonders „el culo de la Madona“ in unehrerbietiger Weise erwähnt wurde. Willi Lehmann sah dem Spanier zu, wie er über ein kleines Mißgeschick wütete, und mußte über Gomez’ Zorn und seine unanständigen Flüche so sehr lachen, daß er die Schnürbänder seiner Ringstiefel nicht aufknüpfen konnte. Immerfort lachend reichte er Eberhard, seinem Bekannten aus der Traininghalle André Leroux’, die Hand und erkundigte sich nach Fritzi. Eberhard erwiderte wortkarg, daß es ihr [S. 73] gut gehe, und brach sofort die Unterhaltung mit dem Zirkusathleten ab.
Eben kam ein Kellner in die Garderobe und fragte nach Herrn Binder. „Das bin ich,“ sagte Aloys Binder, „was willst du denn von mir?“ Er saß in Unterhosen auf einem Koffer und sah den hübschen Kellner frech und neugierig an. „Ich bringe Briefe,“ erwiderte der Kellner, „fünf Briefe — bitte.“ „Weiter nichts?“ sagte der Ringkämpfer verdrießlich, „Briefe? — Richtig, vier Briefe und ein Zettel! — Natürlich von Weibern... Hat einer von euch vielleicht Verwendung für die Weiber?“ fragte er mit zynischem Lachen, indem er die Briefe in der Luft schwenkte.
„Wenn du se nich brauchen kannst —,“ sagte Willi Lehmann gierig, „denn zeig ma’ her... Ick könnte ja vielleicht eena oda zwee’n den Jefallen tun... Ick bin for die Weiber, aber ick jenieße se sehre mit Vorsicht!“
Und er griff nach den Briefen, die Aloys Binder ihm ohne weiteres zum Öffnen überließ. Eberhard staunte, wie gut der Zirkusringer sich dem Verkehrston der Champion-Athleten anpaßte. Jetzt riß er die Briefe auf; Binder, der immer noch in Unterhosen herumlief, und Lehmann lasen sie unter Gelächter durch und verkündeten ungeniert ihren Inhalt...
Diese Briefe, stammelnde, sinnlose Beteuerungen und Bitten voll Bewunderung und Leidenschaft, stammten seltener von jungen Mädchen, als von Frauen. Nur sehr blasierte junge Mädchen, die schon mancherlei Liebe genossen hatten, erlagen dem Zauber der athletischen Muskeln. Aber die jungen Frauen, jene, die an einen ungeliebten oder älteren Mann gekettet waren, jene, die in ihren Kreisen für keusch und unnahbar galten, sie brachen zusammen beim Anblick soviel starker, gesunder, muskulöser, wohltrainierter Männlichkeit. Die Flammen, die sie daheim unter [S. 74] Schweigen und Tränen, im verborgenen geweint, zu ersticken suchten, sie schlugen plötzlich auf und fraßen die natürliche Scham der Weiber auf, jene Scheu, die dem Weibe verwehrt, ihren Leib dem Manne selbst anzubieten. Dann verlangten sie, gleich im Theater, errötend, mit niedergeschlagenen Augen, Schreibzeug, spendeten dem Kellner, der ihr Liebesbote sein sollte, üppige Trinkgelder und warteten zitternd und verlangend auf den Starken, ob es ihm gefallen möchte, ihre Liebe anzunehmen...
Diesmal hatten die Schreiberinnen Glück. Willi Lehmann übernahm zwei der Briefe. An eine Dame wollte er schreiben, die andere hatte gleich einen Rendezvousort unweit des Theaters angegeben. Aloys Binder interessierte sich nur für eine Journalistin, die ihre Visitenkarte mit voller Adresse gesandt hatte. „Sowas habe ich gern,“ sagte er, „Malerinnen, Schriftstellerinnen, Journalistinnen, die machen Spaß... Die machen alles mit, kennen alles, sind nicht zimperlich und trotzdem nicht gerade gemein... Das einzige ist, sie zahlen nichts! Künstlerinnen zahlen nichts, und schenken auch nichts! Höchstens Bücher und solches Zeug! — Aber diese kleine Zeitungsschreiberin, oder Dichterin, oder was sie ist, werde ich mir morgen mal ansehen. Schreibt, daß sie dreiundzwanzig Jahre alt ist. Wenn’s wahr ist....“ Dazwischen kam ihm ein Gedanke: „Hast du denn Geld genug bei dir?“ fragte er lauernd.
Willi Lehmann, der gerade vor einem halbblinden Spiegel seine grellfarbige Krawatte umband, drehte sich schnell um, als ob er schlecht gehört hätte:
„Jeld? — Mensch, ist das dein Ernst? — Wenn man von ’ne Donna injeladen wird, ooch noch wat bezahlen? — Ach nee, Willi Lehmann nich! Da müss’n se de Zeche zahlen un außerdem noch orntlich blechen, die Weiber, wenn ick mir for ihr Vajniejen bemüh’n soll!“
Er setzte den runden, steifen Hut auf und verschwand. Gleich hinter ihm verließen Sergej Roditscheff und Paul Kiesling die Garderobe. An der Tür kehrte Kiesling noch einmal um. Er hatte bemerkt, das Roditscheff seinen Koffer nicht abgeschlossen hatte, ging zurück und steckte den Schlüssel zu sich.
„Immer die Ordnung!“ sagte der Russe in seinem harten Deutsch halb anerkennend, halb spöttisch. Kiesling begnügte sich damit, die Achseln zu zucken, und Roditscheff fuhr fort:
„Wohin schleppst du mich jetzt, Paul? Ins Theaterrestaurant?“
„Höchstens, um dort zu essen,“ versetzte der Westfale, „hernach gehen wir zu Jolly!“
„Kennst du das?“ fragte Sergej, „gibt es dort nette Pummels?“
„Das nicht,“ erwiderte Paul lächelnd, „mußt du gleich am ersten Abend wieder Mädels haben? — Aber ’n kleines Spielchen gibt es bei Jolly.“ —
Das war dem Russen auch recht, und sie gingen zusammen fort.
Aloys Binder wollte auch zu Jolly gehen; er verabredete sich mit Eberhard, daß man sich später dort treffen wollte. Manuel Gomez hatte sich mittlerweile unter schrecklichem Fluchen angekleidet. Er verstand Französisch und ließ sich ebenfalls die Adresse des Restaurants Jolly geben. Dann setzte er seine großkarrierte Schirmmütze auf den wilden, eckigen Lockenkopf und stampfte ohne Gruß hinaus.
Binder war endlich mit seiner Toilette fertig geworden. Er stand von seinem Koffer auf, reckte seine nervigen Arme aus und sagte mit einem tiefen Seufzer:
„Jetzt fängt mein Nachtdienst wieder an. Mein Drachen hat Ordre, vor dem Theater zu warten... Will mal sehen, [S. 76] vielleicht schicke ich sie direkt nach Hause... Ich kann Ihnen sagen, Roland, so’n Reisedrachen ist das schlimmste, was man sich auf den Hals laden kann!“
Eberhard wußte nicht, von wem der Athlet sprach, und fragte darum vorsichtig: „Wieso?“
„Wieso —?“ fragte Binder gedehnt, „das fragen Sie? Ein Frauenzimmer, das einem Tag und Nacht nicht vom Halse geht? Das einen wie ’n Schatten verfolgt? — Und nimmt man sich mal irgend ’n andern hübschen Balg mit nach Hause, ist gleich der Teufel los mit Heulen und Vorwürfen .... Na, mein Drachen ist ja kusch! Die hat’s ja endlich gelernt.... Die ist so zahm geworden... Wenn ich mir ’n andres nettes Ding zum Besuch mitbringe, zieht sie ihr Schuhe und Strümpfe aus, wenn ich’s verlange, und bringt uns morgens den Kaffee ans Bett!.... Ja, das hat aber genug Hiebe gekostet!“
Eberhard Freidank war entsetzt. Wie zynisch renommierte dieser häßliche, rohe Münchener mit seiner perversen Verworfenheit! Zum Überflusse zog er jetzt die Brieftasche und nahm eine Photographie heraus, die er mit den Worten: „Da sehen Sie meinen Drachen!“ vor Eberhard auf den Tisch warf. Trotz seines Widerwillens konnte Freidank nicht anders, als das Bild ansehen.
Es war das Porträt einer unbeschreiblich lieblichen Dame, die acht- oder neunundzwanzig Jahre alt sein mochte. Das zarte, vornehme Gesicht hatte einen kindlichen, rührenden Reiz, die schmale Aristokratennase und die großen, zugleich unschuldigen und sehnsüchtigen Augen waren auffällig schön. Unter diesem Bilde stand: In Ewigkeit. Celeste.
Eberhard gab schweigend die Photographie zurück. Er wußte nicht, wie er die zynischen Reden des Athleten mit diesem Porträt des lieblichsten Engels in Einklang bringen sollte. Übrigens kamen eben Jan van Muyden und August [S. 77] Bluhm von der Bühne zurück, wo sie eine halbe Stunde miteinander gerungen hatten, ohne daß einer von ihnen gesiegt hatte. Von einer Gegnerschaft der Beiden war nichts zu bemerken. Sie trockneten sich den Schweiß ab und rieben sich dann gegenseitig den Oberkörper mit wollenen Frottiertüchern. Wenige Minuten später erschienen auch Lanfrey und Frank Argyll. Der kleine, braune Neger war von dem langen Irländer zwei Minuten nach Beginn des Kampfes besiegt worden. Er schüttelte wehmütig sein häßliches, braunes Köpfchen und erklärte melancholisch, daß Lanfrey nicht nötig gehabt hätte, ihn mit so viel Wucht über die Schulter zu werfen; er hätte ihn doch besiegt, no doubt... Und er schüttelte fortwährend den Kopf. Lanfrey hörte gar nicht auf die Vorwürfe Argylls in dem schlechten Neger-Englisch. Er war Temperenzler, hielt alle übrigen Menschen für Säufer und verachtete sie wegen ihrer Trunksucht tief. —
„Guten Abend!“ sagte Eberhard energisch. Er sehnte sich, ins Freie zu kommen. Das kindische und sinnlose Treiben seiner Kollegen in der Garderobe widerte ihn an. Die Bühne war augenblicklich ganz leer, da Thyssen vorne mit Sala ben Brahim rang. Dabei duldete der Weltmeister niemanden in den Kulissen. Eberhard trat aus dem Bühnenraum durch eine kleine Tür, die auf den schmalen Gang hinter den Logen führte. Er suchte seine Freundin Fritzi. Zu seiner Überraschung war Fritzi nicht mehr da. Sollte sie schon nach Hause gegangen sein? Er fragte den Schließer, der nur wußte, daß eine kleine brünette Dame mit einem Herrn fortgegangen war... Eberhard dankte; das konnte also Fritzi nicht sein. Wo aber war sie dann? —
Er stieg die Treppe hinunter und gelangte in den Theatersaal. Dort war das Fieber der Sportleidenschaft aufs Höchste gestiegen. Auf der Bühne rangen, balgten und wälzten sich die ineinander verschlungenen Leiber Thyssens [S. 78] und des Türken. Eben gab der Manager dem Orchesterdirigenten einen Wink; die Musik mußte schweigen. Bisher hatte der laute Marsch das Geräusch des Ringkampfes übertönt und immer noch ein wenig die Aufmerksamkeit abgelenkt. Nun breitete sich herzbeklemmend eine aufregende Stille aus und nur von der Bühne drang das heftige, animalische Stöhnen des Türken. Der mattbraune Leib Sala ben Brahims war schon ganz mit Schweiß bedeckt. Der Schiedsrichter pfiff und unterbrach die Ringer auf eine Minute, während welcher die Gegner abgetrocknet werden sollten. Der Türke verschwand; Hermann Thyssen blieb mit ruhigem, hochmütigem Gesicht nahe an der Kulisse stehen, fing ein ihm zugeworfenes Handtuch auf und trocknete flüchtig über Arme und Hände. Seine zähe Germanenkraft war noch lange nicht erschöpft.
Dann trat Sala wieder auf, eine Hand an dem Amulett, welches er selbst beim Ringkampfe nicht vom Halse ließ. Ein Pfiff, und wieder gingen die Ringer hart aufeinander los. Thyssen machte jetzt Ernst. Der Türke, in seiner blinden Wut, stieß heulende, gurgelnde Töne aus; schon wieder war er in Schweiß gebadet, und man meinte das Dampfen seiner Flanken zu sehen und den bitteren Duft seines erhitzten braunen Leibes zu spüren. Da warf ihn Thyssen zu Boden; und ehe der Türke sich von der Matte erheben konnte, war sein Gegner blitzschnell neben ihn getreten, hatte den langen, dampfenden, widerstrebenden Körper um den Gürtel hochgehoben, so daß die Beine über seinem Kopf zappelten, und ließ den gänzlich Wehrlosen kopfunter zu Boden gleiten...
Es war der vollkommene Triumph der intelligenten, gebändigten Technik über die tierische Naturkraft. Und, durch einen Zufall, bot dieser Ausgang des Kampfes genau dasselbe Bild, wie das Plakat, welches noch in den Gedanken aller war. Ein wahnsinniger Beifallstaumel erhob [S. 79] sich; Männer und Jünglinge klatschten hingerissen dröhnend in die Hände, sprangen von den Sitzen auf, stürmten auf die Bühne, falteten die Hände und riefen in exaltierter Verzückung Thyssens Namen... Eine Demimondäne, eine allerliebste Blondine, die keine Blume zu werfen hatte, löste ihr Brillantarmband und schleuderte es nach dem Gefeierten; eine reife, schöne Frau von vielleicht vierzig Jahren sank ohnmächtig in die Arme ihres korrekten Gatten. Es war ein tosender Jubel, wie das Branden und Wogen eines großen Meeres, das zu Füßen des Athleten rauschte und tobte und über alle Ufer strömte. Es fehlte nur der Raum, daß alle die verzückten, außer sich geratenen Menschen vor ihrem Idol auf die Kniee gestürzt wären, um ihm göttliche Ehren zu erweisen.
So also wurden die Starken geehrt...
— Eberhard ging schnell aus dem Theater. Er war doch bewegt von der imponierenden Szene, gewaltig durch die Einmütigkeit der Massen, der er soeben beigewohnt hatte. Als er in den Vorraum trat, wo die kalte Nachtluft ihm entgegenschlug, fiel ihm wieder ein, daß er Fritzi suchen wollte.
Er ging durch das Theaterrestaurant. Fritzi war nicht da. Er bestellte ein Glas Bier, um den Kellner unauffällig fragen zu können. Indessen besann er sich anders und fragte nicht. —
Am Nebentische saß Paul Kiesling und verzehrte ohne Hast sein Abendbrot. Sergej Roditscheffs Suppe stand auch auf dem Tische und wurde kalt. Denn der Russe lehnte an dem Büfette und plauderte mit der schönen Leonie. War es ohnehin ein Wunder, daß Fräulein Krömer sich so lange mit einem Herrn unterhielt, so verlangte der Ringkämpfer erst recht Unmögliches von ihr. Sie sollte von ihrem Thron an dem Büfette hinabsteigen und sich mit Roditscheff und [S. 80] Kiesling an den Tisch setzen. Die schöne Brünette konnte vor Lachen kaum zu Worte kommen. Mein Gott, hatte schon jemals ein Mensch ein solches Ansinnen an sie gestellt? Sie war doch keine Kellnerin? Dieser Athlet war wirklich unglaublich!
„Schade,“ sagte der Russe halb lachend, halb bedauernd. „Ein anderes Mal werden Sie bei uns sitzen, das weiß ich heute schon... Sie sind nur heute so stolz, Fräulein... Wie heißen Sie übrigens, Täubchen!“
„Leonie Krömer,“ sagte die Schwägerin des Direktors.
„Lona also,“ versetzte Roditscheff lächelnd und zeigte seine schönen, breiten Zähne. „Ich sage Lona zu dir... Das erlaubst du doch? — Jetzt merke dir, Lona: ich kann nicht leiden, wenn die Mädel zu stolz sein wollen! — Also vielleicht morgen, Lona!“
Er reichte ihr die Hand, in die sie zögernd einschlug, und ging mit seinem hohen, charakteristischen Gange zu seinem Freunde Kiesling an den Tisch. Fräulein Krömer sah ihm sprachlos nach mit merkwürdig brennenden Augen, Siegerin und doch besiegt...
Ein Schwarm der Gäste drang in das Restaurant. Eberhard ging hinaus. Eine fieberhafte Unruhe um Fritzi hatte ihn ergriffen. Er rief eine Droschke an und fuhr nach Fritzis Wohnung.
In dem Wagen, bei dem gleichgültigen Rollen der Räder, stieg all das Dumpfe, Zweifelvolle in ihm langsam empor, welches er in den letzten Wochen beständig unterdrückt hatte. Es war das: er vertraute ihr nicht mehr. Das ist ein schreckliches Ding, das Mißtrauen. Das bohrt und wühlt — und dann wird es wieder beschwichtigt. Man schließt die Augen, man tröstet sich selbst, man belügt sich selbst. Man glaubt, das schreckliche Ding ist tot und hat nie gelebt und hatte überhaupt kein Recht, zu leben. Und dann ist [S. 81] es mit einem Male wieder da, ganz groß und lebendig und wild, und bohrt und wühlt und wütet weiter...
Und die Liebe? — —
— Fritzi war nicht in ihrer Wohnung. Er hatte es sich gedacht. Und da kam ihm jählings ein süßer, liebreicher Gedanke: sollte Fritzi heimlich, gegen die Verabredung, in seine Wohnung geeilt sein, um ihn traulich zu empfangen? Sein Kopf sagte: nein. Aber die Liebe sprach: das törichte Kind, — möglich wäre es... Die Droschke jagte nach seiner Wohnung. Er schloß leise, leise auf, daß Frau Ambrosius und Therese ihn nicht hörten. Es war alles dunkel und unverändert, wie bei seinem Fortgehen.
In sein Hirn bohrte sich der Gedanke ein: Ich muß sie finden. Durch die nächtlichen Straßen führte der eilende Wagen ihn in das Café Prätorius, wo er wohl hundertmal mit Fritzi gesessen hatte. Lauter fremde Gesichter; die Geliebte war nicht unter ihnen.
Und weiter fuhr er und blickte interesselos aus dem Wagenfenster. Draußen begann in linden Flocken der Schnee zu fallen. Die weichen, feinen Sternchen rieselten hernieder, tanzend, taumelnd, und glitten lautlos auf die Erde hinab. Eberhards Seele aber blieb dem sanften, beruhigenden Schauspiele des friedlichen, schimmernden Flockenfalles verschlossen. Seine Gedanken flogen dem dahineilenden Wagen voraus,... vielleicht, daß er Fritzi doch in dem Theaterrestaurant traf...
Direktor Immermann saß mit einer kleinen Gesellschaft um einen Tisch in der Nähe des Büfetts, wo er den ganzen Raum übersehen konnte. Als er Eberhard bemerkte, sprang er auf und lud ihn fröhlich und jovial an seinen Tisch ein. Eberhard, mit seinem Herzen voll Unruhe und Verzweiflung, konnte nicht anders, als der Einladung nachkommen. Immermann, behende und munter wie immer, zog den jungen [S. 82] Mann am Rockärmel heran und stellte ihn seiner Gesellschaft vor: „Herr Ringkämpfer Roland....“ Und er nannte die Namen der um den Tisch versammelten Personen. Es waren seine Gattin Adelheid, eine üppige, schönfrisierte Dame, ein Variétéagent, Fräulein Coeur de Rose, die Soubrette, ferner Thyssens Manager Herr Markus und Leonie Krömer. Roland mußte zwischen dem Direktor und seiner Frau sitzen. Er sagte der hübschen Dame einige Artigkeiten, über die sie höchst geschmeichelt mit charmantem Lächeln quittierte. Sie interessierte sich lebhaft für den jungen Riesen, von dessen romantischem Berufswechsel ihr Mann ihr erzählt hatte. Immermann selbst strahlte förmlich vor Bonhommie und vor Stolz, den neuen Athleten, der heute abend auf der Bühne eine äußerst stattliche Figur gemacht hatte, entdeckt zu haben. Auch Markus war von seiner Erscheinung eingenommen, obwohl er ihn noch nicht hatte ringen sehen. Auf viele Fragen mußte Eberhard aufmerksam Bescheid tun. Zum Überflusse fing jetzt auch noch Coeur de Rose an, mit ihm zu kokettieren. Da war seine ohnehin aufs höchste gespannte Geduld zu Ende. Er sagte hastig und überstürzt, daß er noch eine Verabredung habe, dankte für die Einladung Immermanns, noch ein Stündchen mit ihnen zu verbringen und stand auf, ohne den schmachtenden Blicken der galanten Soubrette Beachtung zu schenken. Während er mit Hilfe des Kellners in den Mantel fuhr, hörte er, wie Markus zu Immermann bemerkte: „Die Ringer sind einer wie der andere. Nein, es ist nicht leicht, mit ihnen auszukommen.“ Eberhard lachte grimmig; gut, mochte an diesem Abende, wo all sein Glück auf dem Spiele stand, nicht mit ihm auszukommen sein! Er verabschiedete sich vom Direktor und seiner Gattin, grüßte die übrige Gesellschaft durch eine rasche Verbeugung und eilte von dannen.
Wohin aber nun? —
Vor dem Theater war es dunkler geworden. Ein Teil der elektrischen Lampen war ausgelöscht. Der Schnee fiel immer noch, gleichmäßig, sanft und leise, und senkte sich auf die Erde nieder, wie große Flügel weißer Gottesengel. Nur die Seele des Mannes hatte keinen Frieden und war voll Bitterkeit und wilder Gefühle. Ihm war, als gleite er ins Bodenlose. Plötzlich fiel ihm die Verabredung bei Jolly ein. Also gut: gehen wir zu den Athleten! Und schließlich: wäre es denn so ganz unmöglich, daß Fritzi....
Eberhard schlug den Mantelkragen hoch, schob, mit einem Male unternehmend geworden, den Hut ziemlich weit auf den Hinterkopf, so daß ihm die Flocken auf Stirn und Schädel fielen, und schritt, beide Hände in den Taschen, zu Jolly. Er ging über die Spreebrücke und noch durch eine ganze Anzahl Straßen; er hatte die Straße, in der das Lokal sich befand, früher nie betreten. Es war eine alte Straße im Zentrum der Stadt, nicht weit von der Gertraudtenbrücke.
Das Restaurant Jolly sah äußerlich genau so aus, wie die meisten Berliner Wirtshäuser, in denen Kleinbürger und bessere Handwerker verkehren und abends ihre Partie Billard oder ihren Pfennigskat spielen. Das Wort „Sportrestaurant,“ welches sich auf dem Schilde zur Rechten der Tür befand, tat sich nicht besonders hervor. Es hieß Sportrestaurant, weil der Inhaber, ein ehemaliger Amateurathlet von gutem Rufe, es verstanden hatte, eine ganze Anzahl jüngerer Sportkollegen als Stammgäste seiner Wirtschaft heranzuziehen. Er hatte sie dann in einer Art Klub vereinigt und ihnen aus einem alten Lagerraum ein kleines, primitives Trainierlokal hergerichtet.
Heute, da die große Konkurrenz im Odeon eröffnet worden war und zwei Dutzend berühmter internationaler Champions der Kraft ihren Einzug in Berlin gehalten hatten, [S. 84] hatte das Restaurant Emil Jollys seinen großen Tag. Die Mitglieder des Amateurklubs Herkules, die sonst in diesen Räumen das Wort führten, sahen sich heute auf die Rolle der stummen, bewundernden, fast nur geduldeten Zuschauer angewiesen. Zu dieser späten Stunde — es war ein Uhr des Nachts — waren sie überhaupt schon fast sämtlich verschwunden; nur wenige der jugendlichen Herkulesse saßen und standen hier und dort schweigsam herum.
Eberhard schloß langsam die Türe und blickte sich um, indem er den Hut auf dem Kopfe behielt. Zur Linken des Einganges befand sich das Büfett, das von blankem Zinn und Messing glänzte. Aus kleinen, messingenen Brunnen sprudelte durch einen Hebeldruck das Bier. Auf hölzernen Zapfen standen viele Gläser, wie man sie für verschiedene Getränke braucht; ein hoher Likörschrank mit vier langen Reihen bunter, geschliffener Flaschen war in die Wand eingelassen. Dieses lustige Flaschenbataillon und die blanken, gelben Bierbrünnchen wurden von der Hausfrau selbst verwaltet. Frau Jolly, ein kräftiges, appetitliches junges Weib mit vollem, hochgeschnürtem Busen war sehr adrett und stattlich anzusehen im schwarzen, prallen Damastkleide mit der weißen Halsrüsche und dem weißen Tändelschürzchen, das chic und hausfraulich den runden Leib bedeckte. Und heute abend wurde ihrem frischen, rotbäckigen Charme die denkbar höchste Anerkennung zuteil, denn Hermann Thyssen, der Weltmeister, stand schön und würdevoll vor dem Büfette und beliebte mit der Hausfrau zu scherzen. Er, um dessen Huld sich die schönsten und elegantesten Frauen aller Länder bewarben, dem Prinzessinnen von Geburt und amerikanische Dollarladies zu Füßen lagen und an dessen breiter Brust, wie alle Welt wußte, eine leibhafte junge, anmutige, lebenslustige Königin geruht hatte!
Hermann Thyssen wendete sich nach dem eintretenden Eberhard um, noch mit dem heiteren Licht in seinen sonst so hochmütigen Augen, den reizenden, klassischen Mund vom liebenswürdigsten Lächeln verschönt. Eberhard begriff plötzlich die wilden Leidenschaften, die der schöne Champion diesseits und jenseits des Ozeans entfesselt hatte, und die Geste, mit der er den Hut zog, war mehr als ein einfacher Gruß. „Ah, Roland!“ sagte Thyssen kollegial, „Sie finden die andern im Klavierzimmer!“
Das Klavierzimmer war sehr klein für die Menge von Menschen, die darin Platz gefunden hatten. Man hatte mehrere der weißgescheuerten Tische zusammengerückt und sich rundum gesetzt. Hermann Thyssens Platz war leer. Am Tische saßen Mansur mit seiner Frau, der molligen Wienerin, Bernhard Meinken, Emil Jolly, Jan van Muyden, Giacomo Petrocchi und Vittorio Cardo, Aloys Binder mit seiner Freundin Celeste, der dickköpfige Pierre le Forgeron mit einem hübschen, jungen Dinge, welches er vorhin im Hausflur entdeckt und gleich mit hineingenommen hatte, Paul Kiesling, Sergej Roditscheff, August Bluhm und Zirkovitsch. An einem Extratisch beim Fenster saßen zwei schweigsame Zecher, die sich von den andern abgesondert hatten, Sala ben Brahim und der Stier von Granada. Der Türke, in einem phantastischen Gewande, in grobem Hemd, besticktem Jäckchen, Pluderhosen und breitem Gürtel, in dem ein Dolch steckte, den Fez auf dem schwarzen, spärlichen Haar, soff trotz dem Koran und starrte gleichgültig in sein Glas. Manuel Gomez saß faul hintenübergelehnt, in einer unglaublich nachlässigen Stellung, die großen Füße weit von sich gestreckt. Er war zum ersten Male in Berlin, hatte aber als findiger Zecher, der sich an allen berauschenden Getränken, die auf Erden erzeugt werden, schon betrunken hatte, sofort den Landwehrtopf entdeckt und [S. 86] handhabte ihn geschickt, wie ein geborener Berliner. Sein häßliches, olivenfarbiges Gesicht mit der breiten Nase und den finster beschatteten Augen drückte die äußerste Indolenz aus. Er verriet durch kein Zeichen Teilnahme an dem, was um ihn vorging, und bewegte sich nur, um mit seiner enormen Tatze den Landwehrtopf zum Munde zu führen oder um von Zeit zu Zeit eine neue Zigarette zu entzünden.
Am Tische war man guter Dinge. Frau Anna, die Gattin des schwarzen Mansur, war in der besten Laune und sprudelte in ihrer allerliebsten Mundart die drolligsten Einfälle heraus. Die kleine, runde Frau hatte einen losen, kecken Mund und ein vorzügliches Gedächtnis und hatte sich, wie es schien, alle Schnurren und Anekdoten gemerkt, die sie jemals hatte erzählen hören. Die erzählte sie nun, eine nach der andern, in unerschöpflicher Folge. Ihr Mann verstand nicht viel davon; er sprach fast nur Englisch und begnügte sich damit, verklärten Gesichtes dazusitzen. Sobald er aber den Mund auftat, schlug sie ihm mit der kleinen, fetten Hand auf die wulstigen Negerlippen und forderte:
„Still bist, Mansurl! Nöt an anzig’smal läßt dein rechtmäßig’s Weiberl zu an Wort kommen! — Da fallt mir noch a G’schichten ein — — —“
Das junge Ding an Pierre le Forgerons Seite, eine kleine Näherin, war fast außer Atem vor Lachen. Sie kümmerte sich gar nicht um den „Champion von Paris,“ der sie hereingeführt hatte und nicht mit ihr sprach, weil er kein Deutsch konnte; sie hörte nur der lustigen Wienerin zu. Jan van Muyden, der Frau Annas Anekdoten längst kannte, begann unterdessen ein verliebtes Spiel mit der niedlichen Schneiderin. Er saß ihr gerade gegenüber, trat ihr unter dem Tisch auf die Füße und versuchte, seine Kniee ihren schmächtigen Mädchenknieen zu nähern. Aber er hatte keinen Erfolg. Endlich fühlte sie das Knie des Holländers und [S. 87] blickte überrascht zu ihm hinüber. Jan van Muyden hatte die Zigarre aus dem Munde genommen und gähnte eben in ungenierter Weise. „Ach!“ rief das kleine Fräulein ihn an, „ach Sie!! — Sie sollten schlafen gehen, wenn Sie so müde sind!“ Van Muyden fuhr polternd auf: „Halte dein Maul, du freches Ding! Was denkst du denn, wen du vor dir hast?“ „Die Fräul’n denkt, s’ ist besser dran mit aan’, der wo scho’ müd’ ist!“ rief die zungenfertige Anna spitzig. „Fräul’n, der Forgeron geht auch bald z’Haus!“ — Pierre le Forgeron hatte nichts verstanden; er hatte nur begriffen, daß seine Dame beleidigt war. Sein Kopf wurde dunkelrot bis unter die pomadeglänzenden Locken, er sprang mit solcher Vehemenz auf, daß mehrere Biergläser ihren Inhalt über den Tisch und die Umsitzenden ergossen und wollte dem Holländer durchaus zu Leibe gehen. Paul Kiesling gab sich Mühe, zu vermitteln. Er wollte keinen Streit. Sein schmales, hartes Gesicht sah indigniert aus; er war gekommen, um Karten zu spielen und mußte nun ohnehin die allgemeine Unterhaltung über sich ergehen lassen. Er riß den wütenden Franzosen mit einer Hand, die tödlich erschrockene Näherin mit der andern Hand vom Tische weg, zur Türe hinaus in das Billardzimmer hinein. Jan van Muyden wollte nach. Da schlug der friedliebende Westfale kurz entschlossen die Verbindungstüre zu, gab dem jungen Mädchen ihren Schal, dem Franzosen Mütze und Paletot in die Hand und drängte alle beide ruhig und energisch zum Restaurant hinaus, indem er abwechselnd auf beide einredete:
„Tu t’en vas, Pierre, avec ta petite dame, c’est entendu! — Allons marsch, du dummes Ding, nimm ihn mit oder macht, was ihr wollt, aber schert euch fort! — —“ Wenige Sekunden später war der Champion von Paris, die „rote Nelke,“ samt seiner Schönen ins Freie befördert. Paul [S. 88] Kiesling wendete sich um; seine schmalen Lippen umspielte ein flüchtiges Lächeln.
„Was war denn das, Paul?“ fragte Thyssen, der immer noch bei der hübschen Frau Jolly an dem Schenktische stand.
„Nichts,“ versetzte der Westfale ruhig, „du weißt, ich kann Radau absolut nicht leiden... Ein Spielchen wäre mir lieber...“
„O Gott!“ schrie die Wirtin unter Lachen, „Sie sind mir einer.... Wie Sie das Mädchen am Arm hatten, grade wie eine junge Katze...“
„Genau so,“ sagte Kiesling ernsthaft. „Die Mädchen müssen ihren Herrn spüren, dann sind sie leichter zu behandeln, wie junge Katzen.“
Er blieb noch einige Minuten am Büfett stehen und trank einen Schnaps, den er sich aus Wermut und Sherrybrandy selber mischte. Dann ging er in das Klavierzimmer zurück.
Jan van Muyden hatte schon zu viel getrunken. Er kokettierte jetzt mit der Geliebten Aloys Binders, Madame Celeste. Er hatte den leergewordenen Platz des Franzosen eingenommen und redete leise auf die schlanke, schöne Frau ein. Celeste saß in ihrer weißseidenen Theaterrobe stumm da, hatte die wunderschönen, feinen Hände im Schoße gefaltet und blickte mit weitoffenen, sehnsüchtigen Kinderaugen vor sich hin. Sie hatte noch kein Wort gesprochen und lehnte Jan van Muydens Reden nur mit traurigem, stillem Kopfschütteln ab. Zum Glück hatte Binder, der mit Eberhard in ein eifriges Gespräch gekommen war, noch nichts bemerkt, denn wenn seine Eifersucht einmal erregt gewesen wäre, hätte niemand mehr eine furchtbare Szene aufhalten können. Paul Kiesling übersah mit einem Blick [S. 89] die Situation. Er legte dem Münchener die Hand auf die Schulter und sagte:
„Es ist nicht richtig, Aloys, daß Madame sich den ganzen Abend langweilen muß... Sieh her, sie schläft fast ein... Du, Jan, ich mache dir einen Vorschlag: mache mit mir und dem Sergej ein Spielchen! Wir haben noch genug Zeit....“
Das war dem Holländer recht. Auch Roditscheff stand auf, und die drei Athleten gingen ins Büfettzimmer, wo sie nahe dem Ofen sich um den runden Tisch setzten. Roditscheff zog ein neues Spiel aus der Tasche und begann die Karten zu mischen. Inzwischen öffneten Kiesling und van Muyden ihre Geldbörsen und legten jeder ein Häufchen Gold- und Silbermünzen vor sich auf den Tisch. Der harte Zug um Kieslings Mund vertiefte sich, seine stahlfarbigen Augen blitzten. Liebe und Karten gingen ihm über alles in der Welt; aber noch lieber als die reizendsten Frauen waren ihm diese bunten Blättchen....
An den Tisch war der Friede zurückgekehrt. Man unterhielt sich freundschaftlich in fünf verschiedenen Sprachen, trank helles Bier aus geeichten Gläsern, und einige rauchten. Hermann Thyssen stand immer noch bei der appetitlichen Wirtin am Schenktische und zählte die Knöpfe an Frau Jollys schwarzseidener Taille, indem er mit dem Finger auf die Knöpfe tupfte, die in enger Reihe vom Halse über die volle Brust gingen. Plötzlich hielt draußen mit großem Lärm ein Automobil, und dann hörte man den Tritt von flinken Frauenfüßen und ausgelassenes Mädchenlachen; die Türe wurde aufgerissen, und herein wirbelten und flogen fünf lachende Geschöpfe in eleganten Toiletten und prächtigen Hüten, die den frischen Hauch der nächtlichen Schneeluft und teure, starkduftende Parfüms in ihren Röcken mitbrachten. Hinter ihnen erschien [S. 90] Willi Lehmann, der heute abend seinem Prinzip, sich in Zukunft nur noch von anständigen Damen verehren zu lassen, untreu geworden war. Die gelbseidne Adele, seine Freundin aus früherer Zeit, stieß einen lauten Freudenschrei aus, als sie die vielen Athleten im Nebenzimmer erblickte, warf Hut und Pelzcape in eine Ecke, raffte ihre Röcke mit einem sichern Griffe bis über die Kniee hoch und sprang Eberhard Freidank ohne weiteres auf den Schoß.
„Heißt du nicht Roland?“ rief sie unter Küssen, „ja, siehst du, Dicker, ich habe mir sogar deinen Namen gemerkt!“
Nun kamen die andern Mädchen auch herbei. Es war ein allgemeiner großer Aufstand, mit dem jeder einverstanden war. Im Klavierzimmer stand ein altväterisches Ledersofa, mit altmodischen, weißen Porzellanknöpfen genagelt. Auf dieses Möbel ließen sich zwei der lustigen Frauenzimmer kreischend niederfallen, die Tische wurden herangerückt, die Athleten mit den beiden Damen rückten nach; ein Mädchen setzte sich neben Petrocchi, die kleine Blondine, die das Brillantarmband nach Thyssen geworfen hatte, nahm zwischen dem „Apollo von Berlin“, den sie früher als Modell gekannt hatte, und Mikita Zirkovitsch Platz, und die gelbseidne Adele blieb auf Freidanks Schoße sitzen. Die Mädchen schrien und lachten durcheinander und ließen einander nicht zu Worte kommen; Willi Lehmann erzählte gleichfalls schreiend von seinem Rendezvous, welches nur sehr kurze Zeit gedauert hatte, denn seine Dame, eine Rechtsanwaltsfrau, hatte ihn nur auf morgen in ihre Wohnung bestellen wollen; glücklicherweise kam gerade, als er der Dame die Hand zum Abschied reichte, die gelbe Adele mit ihren Freundinnen daher, die Mädchen umringten den alten Bekannten mit lärmendem Entzücken, Adele hängte sich in seinen rechten Arm ein, ihre Busenfreundin Magdalene [S. 91] Leblanc in den linken, und so waren seine Grundsätze kraftlos geworden... Alle fünf Mädchen hatten heute abend ihre Verehrer und ihr Gewerbe im Stich gelassen um des ordinären, häßlichen Athleten willen; die tolle Schar war mit ihm durch eine ganze Anzahl von Halbweltlokalen gestürmt, um den plumpen Menschen mit der Mongolenfarbe und den struppigen, schwarzen Borstenhaaren im Triumphe zu zeigen. Endlich war es Adele plötzlich in den Sinn gekommen, zu Jolly zu gehen; sofort waren alle sechs in ein Automobil gesprungen, und da waren sie...
Hermann Thyssen bequemte sich jetzt auch, seinen Platz am Tische wieder aufzusuchen. Er hatte die kokette Sprödigkeit der Wirtin lange genug genossen, und der schwüle Chypreduft der Demimondänen stieg ihm freundlich und verheißungsvoll in die Nase. Langsam, mit stolzem, liebenswürdigem Lächeln, den Hohenzollernschnurrbart steil aufgerichtet, kam er näher. Magdalene Leblanc, die auf dem Kanapee saß, flog auf, wie der Pfeil vom Bogen, und zog den Weltmeister mit verliebter Gewalt zu sich heran. Er mußte zwischen ihr und der roten Alli sitzen. Er sah sich nun seine beiden Nachbarinnen an. Magdalene war eine blasse Brünette mit lilienschlankem Körper und einem perversen lüsternen Gesicht, aus dem die dunkeln, schwarzumränderten Augen wie meerestiefe Fragen blickten. Der schlanke, lasterhafte Leib trug mit aparter Grazie ein feuerrotes Prinzeßkleid, das bis unter die Hüften eng wie eine Schlangenhaut anlag und erst bei den Knieen in weichen Falten auseinanderfloß. Die rote Alli war ein bequemes, üppiges Frauenzimmer mit phlegmatischen Gesten und gutbürgerlichen Manieren, deren Spezialität darin bestand, ganz unsäglich gemeine Geschichten zu erzählen, über die selbst Lebemänner erröten konnten. Alli besann sich nicht lange und begann sofort voll Behaglichkeit ihre gepfefferten Ge [S. 92] meinheiten vorzutragen. Hermann Thyssen saß zurückgelehnt, von den schlanken Armen der lasterhaften Magdalene zärtlich umrankt, und war fast außer sich vor Vergnügen. Im Leben hatte er noch nicht so gemeine Redensarten aus dem Munde eines weiblichen Wesens, selbst wenn es eine Dirne war, vernommen. Und diese hier erzählte ihre schamlosen Eindeutigkeiten mit freundlicher Seelenruhe, als ob sie aus der Zeitung vorläse....
„Jolly!“ rief Hermann Thyssen schallend durch das Zimmer, „Jolly, was hast du für Wein? — Ihr seid alle meine Gäste — —!“
Der Wein wurde gebracht; wie Hochwasser stieg die Fröhlichkeit und schwoll zu immer lauterem Jubel an. Einmal ärgerte sich Roditscheff, der noch mit Kiesling und van Muyden am Spieltisch war, daß er nichts von der Gesellschaft der Weiber haben sollte, und während Paul die Karten mischte, ging er an den Tisch hinüber und bändelte mit der roten Alli an:
„Na, Pummel, wie ist’s? Kommst du mit mir?“
Das Mädchen fühlte sich beleidigt; sie hielt die Anrede des Ringkämpfers für eine Anspielung auf ihre phlegmatische Wohlbeleibtheit, und gerade die haßte sie; denn sie wollte durchaus als schlank gelten. Sie erwiderte giftig:
„Ich denke nicht daran! — dein Genre liegt mir nicht! Ich bleibe bei Thyssen... Wenn du mit Thyssen zum Ringen kommst, fliegst du doch auf den Hintern!“ —
„Du bist gut unterrichtet, mir scheint! —“ rief Kiesling, der die Karten ausgegeben hatte, hinüber. „Komm her, Sergej, und laß die freche, rote Wanze sitzen!“
Sergej ging zum Spiele zurück. —
Längst hatte Emil Jolly die Außentür des Lokals geschlossen.
Die gelbseidene Adele saß frech und verführerisch auf [S. 93] Eberhard Freidanks Knieen und trank mit ihm aus einem Glase. Die gesuchte Demimondäne trug eine tiefausgeschnittene Robe von schwarzen Spitzen über gelbem Atlas. Ihr heißer Körper lehnte sich an seine Schultern, und mit jedem Atemzuge trank er den üppigen Duft des eleganten Frauenzimmers, fortwährend sah er den weißen, gepuderten Hals dicht vor sich. „Dir scheint ja furchtbar warm zu sein, Roland!“ sagte Adele, „macht das meine Nähe? — Warte, ich knöpfe dir den Kragen ab!“ Mit großer Geschwindigkeit befreite sie ihn von der Krawatte und dem Halskragen, legte ihren Arm um seinen nackten Hals, suchte mit der Hand seine breiten Schultern...
Frau Anna, die energische Wienerin, stand auf und nahm ihren Mann mit, der sehr ungern ging. Da herrschte Aloys Binder seine Freundin an: „Du ziehst dich an, Celeste, und gehst mit Frau Helu nach Hause! — Mußt ohnedies bei unserer Wohnung vorbei! Schnell, marsch, nach Hause mit Dir!“ Celeste gehorchte ohne Widerrede, und alle drei entfernten sich...
Die rote Alli hatte Appetit bekommen; Emil Jolly mußte herbeischaffen, was das Lokal um diese Stunde bot. Unter Freudengeschrei verzehrte die ganze Gesellschaft eine Dose Rollmöpse, kalte Schweinskoteletts, einige Endchen Wurst, eine Büchse Sardinen und eingemachte Pfeffergurken. Alle speisten ohne Messer und Gabeln, ohne Teller und Tischtuch von dem rohen, reichlich mit Bier und Wein begossenen Tische.
Die Gegenwart der wohlgepflegten, eleganten Dirnen entflammte in allen diesen berauschten, starken Männern die wildesten Triebe. Ihre Wünsche wurden immer rückhaltloser, ihre Zärtlichkeiten immer verwegener. Aber die Frauenzimmer hatten sich mit dem eigensinnigen Wohlgefallen der Freudenmädchen, die einmal selbst [S. 94] wählen konnten, bestimmte Ringkämpfer herausgesucht. Die Polenkascha, eine starke, sinnliche Slavin, küßte fortwährend den dicken Giacomo Petrocchi ab, ohne für einen andern ein Auge zu haben; die kleine, blonde Brillantenfrieda hatte ihr Herz für diese Nacht an August Bluhm, den Apollo von Berlin, verloren, und Hermann Thyssen hatte sich längst mit Magdalene und Alli verständigt; er wollte die originelle Lasterhaftigkeit von allen beiden genießen... Und die gelbseidene Adele, die Willi Lehmann endgültig untreu geworden war, herzte Eberhard ohne Pause. Sie sprang hinter seinen Stuhl und legte ihm ihre vollen, weichen Arme um den Hals, hüpfte wieder auf seinen Schoß und ließ sich von ihm füttern. Sie neigte ihren Mund zu seinem Ohre und flüsterte verlockende Worte hinein... „Ja — —,“ flüsterte Eberhard mit heiserer, erstickter Stimme zurück. Er ging in den Korridor hinaus, um seinen Mantel zu holen; als er zurückkehrte, stand Adele schon in Hut und Pelzcape da. Jetzt erst bemerkten die anderen ihren Aufbruch; man wollte sie zurückhalten, man rief ihnen rohe Zweideutigkeiten zu, aber nicht einmal die neuerwachte Passion Willi Lehmanns, ihres ehemaligen Zuhälters, der an seine alten Rechte erinnern wollte, vermochte sie zu halten. Eberhard Freidank rief mit starker Stimme: „Gute Nacht!“ und ging schnell davon; ihm nach, mit pikant hochgehobenen Röcken, unter denen die duftenden Jupons knisternd rauschten, flog die gelbseidene Adele. — —
Es war anderthalb Wochen später, des Vormittags um elf. Fritzi war gerade aufgewacht. Sie lag auf der Seite, mit dem Kopf auf ihrem rechten Arm, und betrachtete blinzelnd die Tapete an der Wand. Sie überlegte, ob sie endgültig aufwachen oder versuchen sollte, noch einmal einzuschlafen. Da ging die Türe auf und wurde wieder geschlossen. Die Chansonette sah sich gar nicht erst um, denn das Klirren der Kaffeetasse auf einem Tablett verriet ihr, daß die Wirtin ins Zimmer getreten war. Und Fritzi war so faul!
„Fräulein!“ sagte die Witwe strengen Tones, „Fräulein, sind Sie schon munter?“
Das junge Mädchen zog vor, abzuwarten, ob sie für die Hausfrau schon aufgewacht sein sollte oder nicht und blieb unbeweglich liegen. Die Wirtin wartete den Erfolg ihrer Anrede ab und begann wieder:
„Ich meine Ihnen, Fräulein! Geben Sie doch Antwort, wenn man mit Sie redet! — Ich wollte Ihnen nur sagen: ich dulde es nicht länger, und es ist mir mit Sie schon längst zu dumm geworden! Nein, es paßt mir nicht mehr!“
Die Frau hätte noch lange weiterreden können, aber jetzt konnte die Chansonette zu ihrem Leidwesen das Lachen nicht mehr verhalten. Langsam und behaglich schob sie sich im Bette herum, dehnte sich und fragte, während sie sich mit beiden Fäustchen den Schlaf aus den Augen rieb, vergnügt:
„Was denn, Frau Krichelmann?“
„Was?“ versetzte entrüstet die Hausfrau, „das fragen Sie noch? Na, wenn Sie es durchaus hören wollen: Ihr Lebens [S. 96] wandel ist mir zu bunt! — Als der Herr Freidank die Stube für Ihn’ mietete, sagte er: „Meine Braut ist ein sehr anständiges junges Mädchen.“ Gut, sagte ich, soll mir lieb sein. Wenn ’n junges Mädchen ihren Bräutigam hat, dagegen ist nichts einzuwenden. Ich sage nichts gegen den Herrn Freidank, o nein! Der ist sehr anständig! Er hat mir Ihre Miete immer pünktlich bezahlt! — Aber mit Ihnen, Fräulein... Finden Sie das anständig, so oft Besuch zu kriegen und mitzubringen? — Und was bringen Sie sich alles mit! Ich habe gestern abend aufgepaßt... Einen Menschen, wie ’n Steinträger, anders nicht... Das müßte Ihr Bräut’jam wissen! — Ich sage Ihnen, es ist mir zu dumm, Fräulein. Ich will mein Haus rein halten! — Ich sage es Herrn Freidank, und Sie müssen ziehen! Für dreißig Mark werde ich meine Stube jeden Tag mit Kußhand los!“ —
Fritzi hatte den Redestrom nicht unterbrochen. Jetzt hörte sie endlich auf, in ihren Augen zu reiben, schüttelte die Locken, die sich wie lustige schwarze Schlangen um ihre Stirn ringelten, zurück und sagte mit strahlendem Lächeln nichts als:
„Ach nee?!“
„Das sagen Sie!“ erwiderte Frau Krichelmann empört, „aber ich sage: ach ja! — Was denken Sie von mich und meinem Haus? Ich habe eine anständige Pension und keinen Taubenschlag! Und darum bleibt es dabei, Sie ziehen!“
„Nun seien Sie mal gemütlich, Olleken!“ sagte die Chansonette mit ihrem niedlichen Kinderlächeln, indem sie die spitzigen Mäusezähnchen zeigte. „Ich gehe ohnehin bald fort, wenn Eberhard nach auswärts ins Engagement geht!... Aber bis dahin nicht! Ich habe Sie grade fragen wollen, ob Sie mir nicht lieber das Vorderzimmer vermieten wollen. Das ist ja leer geworden. Ich habe heute grade Zeit, meine Sachen umzuräumen!“
„Die Stube mit dem Flureingang?“ fragte die Hausfrau milder, „ja, die kostet aber sechszig Mark ins Monat! Das wird Herr Freidank wohl nicht bezahlen wollen!“
„Bisher kostete die Stube fünfzig Mark,“ konstatierte Fritzi, „aber es ist mir einerlei, ich zahle auch sechszig... Nein, Freidank braucht das nicht zu wissen, sonst wird er am Ende neugierig, wozu ich einen eigenen Eingang brauche ... Na, seien Sie vernünftig, Olleken! Wer wird denn gleich am frühen Morgen ’n Krach machen?“
„Das ist also abgemacht,“ sagte die vorsichtige Hausfrau nun ganz besänftigt, „Sie nehmen von heute ab das Flurzimmer! Ist mir schon recht, wer über’n Flur geht, geht mich nichts an... Na, Sie verstehen mich, Fräulein Fritzichen! Von Krach ist nicht die Rede... Übrigens trinken Sie jetzt mal Kaffee, Kindchen! Warten Sie einen Augenblick, ich habe noch ’n Stückchen Napfkuchen von gestern; das hole ich Ihnen schnell!“
Sie war jetzt ganz Sorgfalt und mütterliche Fürsorge, brachte den Kuchen, goß Fritzi Kaffee ein, zog sich einen Stuhl ans Bett und während das junge Mädchen zu frühstücken begann, fragte Frau Krichelmann, den Oberkörper vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestüzt, vertraulich mit neugierigen Augen:
„Wer war denn nun der Herr von gestern Abend, Fräuleinchen?“
„Ach, Sie!“ sagte Fritzi mit ärgerlichem Lachen, indem sie den Kuchen in den Kaffee tauchte, „erst erzählen Sie mir was von Lebenswandel und so, und dann wollen Sie wieder alles wissen! —“
„Fritzichen!“ erwiderte die Wirtin, „mich kennen Sie doch! Ich nehme es doch einem hübschen, jungen Mädchen nicht übel, wenn sie sich amüsiert! Aber in meiner Wohnung .... Was nicht über meinen Korridor geht, sehe ich nicht! [S. 98] Davon weiß ich nichts! Sie wissen nicht, wie es mich freut, daß Sie das Zimmer zu sechszig genommen haben —! Na, nun erzählen Sie mal!“
„’n Ringkämpfer,“ sagte Fritzi einsilbig.
„Einer von Herrn Freidanks Bekannten aus’m Theater? Da nehmen Sie sich man in acht, Kindchen, daß Ihrer nicht dahinter kommt!“
„Nee, bloß aus der Ringkampfschule,“ vertraute das junge Mädchen nun der Wirtin an. „Er ringt in ’ner Bude, auf’m Rummel! Freidank kennt ihn aber! — Ich kann gar nicht begreifen, Frau Krichelmann, daß mein Bräutigam nichts von allem bemerkt hat! — Gestern war es ja ungefährlich; da ist er gleich nach der Vorstellung zu seinen Studenten auf die Kneipe gegangen. Seine Bekannten haben keine Ahnung, daß er jetzt Ringkämpfer ist! — Ja, sonst müssen wir schlauer sein, Justav und ich! Denn am ersten Abend waren wir zu unvorsichtig... Da hat er mir im Theater so viel zugesetzt, bis ich mit ihm losgegangen bin, ehe die Vorstellung zu Ende war. Freidank wollte mich aus der Loge abholen, aber als er mich suchen kam, bin ich längst mit Justav’n auf und davon gewesen! — Daß er davon nie ein Wort gesagt hat, nicht einmal gefragt, wo ich hingegangen war, das versteh’ ich nicht, Frau Krichelmann. Eberhard war an dem Abende zum ersten Male auf der Bühne, und das wollten wir doch zusammen feiern!“
„Vielleicht hat er sich selber an dem Abend etwas vorgenommen, was er Ihnen auch nicht sagen durfte!“ meinte die welterfahrene Wirtin nachdenklich. „Aber wie ist es denn mit Herrn Justav’n, bekommen Sie von dem auch was Reelles geschenkt?“
„Ach nein!“ lachte Fritzi belustigt. „Der tut so, als ob ich noch froh sein könnte, daß ich ihn überhaupt habe! — Da ist mein Bankier freilich anders... Wenn ich den [S. 99] nicht hätte, Frau Krichelmann! Gestern hat er mir wieder drei seidne Blusen und einen Hut gekauft —!“
Die Hausfrau packte neugierig die Kartons aus, bewunderte mit neidischem Staunen die Geschenke von Fritzis Kavalier und erkundigte sich:
„Nun, und Er? Merkt er das nicht?“
„Keine Spur,“ sagte Fritzi. „Sie wissen ja, Männer... Mitunter wird er mißtrauisch und fragt. Nun, ich gebe ihm immer die richtige Antwort, und sofort ist er wieder zufrieden... Jetzt zumal, Frau Krichelmann! Könnte er nicht froh sein, daß er eine gute Stelle hat, wo er so schön verdient? Nein, er grübelt fortwährend. Seine Stückeschreiberei steckt ihm im Kopfe und sein Studieren... Er redet fast nichts anderes! —“
„Komisch! — Und dabei ringt er so großartig, der Herr Freidank! Ich habe ihn doch nun schon dreimal gesehen! — Vorgestern, als er den dicken Menschen, der sich Herkules von Frankreich nennt...“
„François à la Crinière....“
„Na ja! — als er den herumwirbelte und auf die Matte schmiß, daß es ordentlich krachte, das war doch wirklich ’n Ding! — Mein Schwestersohn, aus dem Amateurklub „Jugendkraft“, sagte, das wäre ’n wunderbarer Armfallgriff mit Mühle gewesen! Das Herumwirbeln, bis einem schwindlig werden kann, nennen sie ’ne Mühle! — Und außerdem verdient er doch ordentlich —,“ sagte Frau Krichelmann und fuhr brutal fort: „Sonst, wenn es Ihnen nicht mehr paßt, lassen Sie ihn doch einfach laufen! Sie finden doch alle Tage ’n andern! Überhaupt, Fräulein Fritzi, ’n Ringkämpfer ... Nein, ich weiß nicht!“
Sie wiegte den Kopf mit dem graublonden Scheitel hin und her. Fritzi erwiderte:
„Grade das finde ich aber schön! Er hat doch zuerst durchaus nicht gewollt, aber ich habe ihm immer zugeredet! Nein, das ist zu hübsch, Athlet! Und so interessant! Und er verdient wirklich sehr schön! — Außerdem bin ich ihm doch auch gut,“ fügte sie hinzu.
Sie plauderten noch eine Weile. Die Chansonette erzählte, daß mehrere Ringer von der Konkurrenz ihr den Hof machten: Casimir Zabolotny, der dicke Pole, der Provençale Raymond Poing de Fer, schließlich Aloys Binder, der Münchener...
„Na, welcher ist es denn davon?“ erkundigte sich die Hausfrau, welche die Athleten schon mehrmals im Theater gesehen hatte, teilnehmend, „der Pole? nein? Also der stramme Franzose! Auch nicht? — Was, grade den frechen Bayer mit dem spitzen Kinn mögen Sie leiden? — Fräulein Fritzi, der könnte mir nicht gefallen! An dem werden Sie nicht viel Gutes erleben! Die Augen von dem Kerl... Nein, der hat keinen guten Blick! Da guckt der Herr Freidank aber ganz anders!“ —
„Da haben Sie recht,“ sagte die Chansonette und fügte leichtfertig hinzu: „Gott, ich habe ihn ja auch am allerliebsten —! Aber es ist doch nichts dabei, wenn man sich auch mal mit ’nem andern amüsiert! Zu gern, Frau Krichelmann, zu gern ginge ich mal zu Justav’n auf den Rummel! Da ringt er nämlich.“
„Wann ist das immer?“ fragte die Alte.
„Heute, am Sonntag, den ganzen Nachmittag,“ sagte Fritzi, „und an einigen andern Tagen des Abends. Glauben Sie, daß Freidank mit mir hingehen würde? Bewahre! Ich habe ihn gebeten, aber er hat es mir einfach abgeschlagen.“
„Da hat er ganz Recht,“ erwiderte die Hausfrau phlegmatisch, „aber Sie haben ebenso recht, wenn Sie einfach [S. 101] allein hingehen! Heut ist ja Sonntag, warum tun Sie es nicht, Fritzichen? Falls Herr Freidank kommen sollte, werde ich ihm sagen, daß Sie mit Fräulein Liane ausgegangen sind!“ —
Der Rat der alten Kupplerin ging Fritzi nicht aus dem Kopfe. Der Wunsch, die Budenringer zu sehen, brannte sich förmlich in ihre Sinne ein, während sie gemächlich Toilette machte. Der allabendliche Anblick der vierundzwanzig trefflichen Athleten genügte ihr nicht; sie wollte die unberühmten, ordinären Ringer, an denen sich das gewöhnliche Volk ergötzt, in ihrer Umgebung sehen. Diesen fühlte sie sich näher... Die großen Champions mit dem abweisenden Auftreten und den fürstlichen Einnahmen waren ihr fremd und unsympathisch. — Sie beschloß, zeitig zu speisen und Eberhard im Vorübergehen einen kurzen Besuch zu machen, um ihn ganz in Sicherheit zu wiegen. Dann wollte sie auf den Rummel gehen, von dem sie sich großes Vergnügen versprach. —
Eberhard Freidank hatte am Sonnabend die Kneipe wieder einmal aufgesucht, die er lange vernachlässigt hatte. Er gehörte einem literarischen Verein von Hochschülern an, dessen Mitglieder den schönen Künsten Interesse entgegenbrachten, ohne darum auf das ritterliche Dekorum der strengsten Vorschriften studentischer Ehre zu verzichten. Die Freunde hatten ihm über sein seltenes Erscheinen Vorwürfe gemacht und damit wieder den Zwiespalt in seiner Seele vermehrt. Er war sehr lustig gewesen, hatte viel getrunken und war erst als einer der letzten nach Hause gegangen. Als er in seinem Zimmer war, hatte er keine Lust, zu Bette zu gehen. Er wusch sich sehr ausgiebig, um sich nach der durchkneipten Nacht gründlich zu erfrischen, zog Trikot, eine Hausjoppe und Pantoffeln an und erwartete den Morgen, während er auf dem kleinen Kanapee saß und [S. 102] die Zeitung las, die schon so früh ins Haus gebracht worden war. — Der sportliche Tagesbericht lobte ihn über alle Maßen, obwohl er am Sonnabend im Kampfe gegen Aloys Binder unterlegen war. Der Artikel rühmte die sympathische, kühne, germanische Draufgängerart, mit der er auf den berühmten und technisch immerhin weit überlegenen Münchner losgegangen war. Eberhard freute sich der Anerkennung nicht recht. Er fühlte den Riß in seiner Seele brennen, wie eine offene Wunde. —
Dann wurde es Morgen. Eberhard stand gähnend vom Sofa auf, ließ die frostige Morgenluft zum Fenster herein und spazierte pfeifend langsam im Zimmer herum, bis Frau Ambrosius ihm den dampfenden Kaffee brachte. Die Hausfrau schalt ihn gutmütig aus, daß sein Bett unberührt stand. Dann blieb sie noch ein wenig bei ihm stehen, unterhielt sich mit ihm und sah zu, wie dem jungen Manne, den sie fast mütterlich in ihr Herz geschlossen hatte, der Kaffee, die Butterbrötchen und die frischen Eier schmeckten. Eberhard erzählte lachend von den Brüdern Petrocchi-Cardo. Kürzlich war er zu ihnen gekommen und hatte sie beim ersten Frühstück gefunden. Zu dieser Mahlzeit hatten sie eine ganze Mandel Eier, fünfzehn Stück! über einem Spirituskocher selbst gekocht und sich, der eine sieben, der andere acht Eier in ein großes Bierseidel eingeschlagen! Er mußte noch in der Erinnerung an den Anblick dieses ungeheuren Appetits lachen.
„Die Zeitung!“ rief Therese, die eben die Post abgenommen hatte, auf dem Korridor. „Komm ruhig herein,“ sagte Frau Ambrosius. Therese kam und brachte die Athleten-Fachzeitung für Eberhard. Sie war schon in Toilette. Sie sah sehr groß und vornehm aus in dem knappen, blauen Kleide, und er hatte wieder die Empfindung: eine Diana in modernem Gewande.
„Wie groß sind Sie eigentlich, Fräulein Ambrosius?“ fragte er unvermittelt.
Therese sagte lachend: „Ach, viel zu groß für eine Frau. Ein Meter siebzig! — Kein Vergleich mit Ihnen, aber doch zu groß...“
„Auf der Bühne müßten Sie schön aussehen,“ sagte Eberhard.
„Nun hören Sie auf, sonst werde ich böse!“ rief das Fräulein. „Ich habe aber keine Zeit, ärgerlich zu werden!“
„Müssen Sie wieder zum Dienst, Fräulein?“
„Nein,“ sagte Therese, „zur Kirche.“
Eberhard sah sie an und sagte lächelnd: „Bitte, Fräulein Ambrosius, beten Sie auch für mich!“
Das Mädchen richtete ihre braunen Augen auf ihn und sagte ernsthaft: „Ja, das werde ich tun. Das werde ich ganz gewiß tun.“
Tönnies kam um die Mittagsstunde zu Eberhard. Er fand ihn, nur mit Hosen, Schuhen und Strümpfen bekleidet, beim Hanteltraining.
„Ach, bist du wieder einmal beim Turnen?“ begrüßte er ihn gutmütig spöttisch, „ich glaube, du tust überhaupt nichts anderes mehr, Freidank! Mein Himmel — dort liegt ja sogar ein Kraftmenschenjournal!“
„Ich tue auch noch anderes,“ sagte Eberhard und schüttelte dem Freunde die Hand. „Aber alle Vormittage trainiere ich eine Stunde oder eine halbe... Du weißt, ich gehe nicht mehr auf den Paukboden.“
„Ja so,“ sprach Tönnies. „Du weißt, Eberhard, daß ich für alle diese Dinge wenig übrig habe.“
„Aber du schlägst gut, Adolf!“
„Das tut nichts dazu,“ erwiderte Tönnies. „Ich pauke, wie jeder andere, aber nicht gern... Ich habe auch für den Sport wenig Interesse... Denke dir ein Radrennen, [S. 104] Eberhard! Du siehst einige Fahrräder rund um die Bahn fliegen, darauf junge Leute in Trikot, so weit vornübergebeugt, daß sie fast schon liegen, in einer unmöglichen, unwahrscheinlichen, unhygienischen Stellung... Und der Endeffekt? Die Sieger mit Schweiß und Staub bedeckt, die Gesichter verzerrt wie von fürchterlichen Schmerzen... Ist das ein Ziel? Ist das eine Aufgabe? — Ich möchte mir nicht die Ringkämpfer im Odeon ansehen, Freidank! Alle Welt spricht von ihnen, ganz Berlin ist voll davon.... Alle Welt ist begeistert von einfacher, gewöhnlicher Roheit! — Brutale Kraft hat aber auch der Ochse.“
„Und die Ringer im Stadium zu Athen, Adolf? Und die Gladiatoren? — Die ausgedehnte antike Sportbetätigung?“
„Geschah unter ganz anderen Voraussetzungen, Eberhard! Damals hatten die Völker ein Interesse daran, daß jeder Mann im Einzelkampfe die möglichst höchste Leistungsfähigkeit besaß. Darum pflegten die Griechen den Sport! Es kam ihnen auf Erzielung der größten Kraft, des größten persönlichen Mutes an.“
„Tout comme chez nous!“ sagte Eberhard lächelnd.
„Nein, bei uns ist es leider anders,“ antwortete der Student Tönnies. „Bei uns kommt es allein auf Rekordleistungen an, mag die eigentliche Kraft dabei zum Teufel gehen oder nicht! Ich mag gar nicht daran denken, Freidank. Ich bezweifle, daß so ein Rekordathlet, oder Rennfahrer, oder was sonst für ein Sportsmann, zu einer wirklichen, ausdauernden Arbeit fähig ist. Dazu reicht die gefeierte Kraft nicht aus!“
Er rollte zornig die runden, grauen Augen. Eberhard hatte immerfort Einwendungen machen wollen, hatte seinen Freund unterbrechen wollen; aber er brachte die Lippen nicht auseinander in der starrköpfigen Verschlossenheit des Norddeutschen, die nicht aus Furcht, sondern einfach aus [S. 105] Trotz manche Dinge für sich behalten muß. Als aber Tönnies noch einmal anfangen wollte, sagte er mit zerstreutem Lächeln:
„Was geht das nun dich und mich an, Tönnies? Wir sind ganz einer Meinung... Und du bist wahrhaftig auf dem besten Wege, dich über des Kaisers Bart aufzuregen!“
„Hast recht, Eberhard,“ sagte der junge Mann vergnügt, „sprechen wir von vernünftigeren Dingen... Ich kam heut eigentlich zu dir wegen... ich wollte... Nun, frei heraus! Ich habe deine filia hospitalis kennen gelernt! Auf einem Vereinsballe! Sie ist ein schönes Mädchen, Freidank, das schönste Mädchen, welches ich kenne!“
„Und dir das liebste Mädchen!“ vollendete Eberhard und fühlte, er wußte selbst nicht warum, einen Stich im Herzen.
„So schnell geht es nicht!“ rief Adolf Tönnies. „Aber denke dir, es hat sich herausgestellt, daß wir ein wenig verwandt sind... Sie ist so etwas, wie eine Cousine zweiten Grades... Soll ich, unter solchen Umständen, die Bekanntschaft wieder in Vergessenheit geraten lassen, Freidank? Ein Narr, der ich wäre!“
„Ich rate dir, den Damen jetzt deine Aufwartung zu machen,“ sagte Eberhard mißvergnügt. Er hätte am liebsten etwas ganz anderes gesagt, aber Therese ging ihn doch wirklich, wirklich nichts an...! Zumal, da sie seine Fritzi nicht leiden konnte. Sie hatte sich neulich gegen seine Freundin ausgesprochen. Nicht mit direkten Worten, o nein! Dazu war dieses „törichte Ding“ doch zu klug. Die Mißachtung hatte mehr im Ton der Stimme gelegen, in ganz flüchtigen Andeutungen, in einem und dem andern Wort, gleich als ob sie etwas Ungünstiges von Fritzi wußte und so verschwieg. Er hatte nicht gefragt, dazu war er zu stolz. Aber er hatte aus dieser Unterhaltung ein peinliches [S. 106] Gefühl davongetragen. Denn — eigentlich — war diese Therese Ambrosius... doch kein törichtes Ding, und ganz bestimmt nicht das Mädchen, welches ins Blaue hineinschwatzte ...
Als hätte Tönnies nur auf Eberhards Anregung gewartet, lief er davon und machte Mama Ambrosius und ihrer Tochter eine Visite. Eberhard kleidete sich, als sein Freund das Zimmer verlassen hatte, schnell an. Er war eben damit fertig, als er draußen in der hastigen Art schellen hörte, wie Fritzi bei ihren seltenen Besuchen anzuläuten pflegte. Er ging schnell hinaus, es war die Kleine; gerade trat auch Therese Ambrosius, die ebenfalls das Läuten vernommen hatte, aus ihrem Wohnzimmer und wollte öffnen. Doch als sie Fritzi bemerkte, zog sie sich sofort wieder zurück, mit beleidigender Eile, wie es Freidank schien...
Fritzi warf den Muff aufs Bett, die Handschuhe auf den Tisch, stellte sich auf den Zehenspitzen hoch, gab Eberhard mit gespitztem Mäulchen einen Kuß und fragte gleich, ob er nichts zu naschen für sie hätte. Ja, er hatte Konfekt für sie gekauft; sie sollte suchen! Sie stürzte sich auf ganz unmögliche Verstecke, zog den Kasten des Waschtisches auf, kramte in seiner Kragenschachtel und riß sogar das Stiefelschränkchen auf. „Aber Fritzi!“ sagte er, von ihrer Unvernunft entzückt, „welcher Mensch auf der ganzen Welt würde Konfekt an solche Orte stecken?“ Dann holte er aus der Manteltasche die kleine Schachtel, und Fritzi grub ihre niedlichen Zähne mit kindlicher Gier in die braune Schokolade ein.
„Gut, daß du kommst,“ sagte Eberhard, „wir hatten nichts für diesen Nachmittag verabredet.“
„Ich kam nur, um dir zu sagen, daß ich heute zu Liane Fanchon zum Kaffeeklatsch gehe! Sie hat den Geburtstag, mußt du wissen.“
Eberhard wollte ihr die Absicht ausreden. „Ich liebe nun Fräulein Fanchon durchaus nicht,“ sagte er.
„Um so besser, mein süßer Bär, sonst müßte ich eifersüchtig sein! Aber ich habe es so bestimmt versprochen,“ plauderte sie. „Es sind noch mehrere Kolleginnen aus der Variétéschule da, und kein einziger Herr! — Und du gibst mir auch Geld zu einem Geburtstagsgeschenk, bitte! bitte!“ bettelte sie in einem plötzlichen Anfall von Habgier.
Freidank seufzte. Er wußte, er würde ihr wieder einmal nachgeben. „Aber du wirst wenigstens mit mir zusammen speisen?“ fragte er verdrießlich. „Gewiß!“ sagte Fritzi. „Zieh nur gleich deinen Mantel an und komme mit! Du weißt, ich muß vorher noch ein Geschenk für Liane kaufen. Gib mir schnell Geld!“ Sie überlegte blitzschnell, daß sie einen eleganten Toilettegegenstand kaufen würde, den sie selber brauchen konnte...
„Ja, du mußt vorausgehen, Fritzi,“ sagte Freidank. „Tönnies ist bei mir und ist eben nur im Zimmer drinnen bei Frau Ambrosius. Er wird wohl bald wiederkommen, aber vielleicht machst du inzwischen deinen Einkauf. Ich kann dir doch nicht kaufen helfen, weil ich nichts davon verstehe!“ — Sie ging mit einem Kusse.
Adolf Tönnies kehrte zurück und sagte, daß Frau Ambrosius die beiden Freunde, Freidank und Tönnies, auf den Nachmittag zum Kaffee eingeladen habe. Eberhard kam diese Aufforderung sehr gelegen, da seine Freundin zu Fräulein Liane gehen wollte, und er sagte gerne zu. Dann gingen die beiden jungen Männer miteinander fort. Fritzi erwartete Eberhard auf der Straße, sie gingen zum Diner und Adolf schloß sich ihnen an.
Fritzi hatte während des Mittagsmahles kleine Gewissensbisse. Sollte sie doch nicht zu dem Budenringer gehen? Sie überlegte noch, als Eberhard erzählte, daß er [S. 108] mit Adolf bei Frau Ambrosius den Kaffee nehmen würde. Da schwanden Fritzis letzte Bedenken. Um so besser, dort war er gut aufgehoben! Nun war eine Entdeckung ausgeschlossen! —
Nach Tisch begleiteten die jungen Männer Fritzi bis an Fräulein Lianes Wohnung. Unterwegs mußte Fritzi noch mit ihnen einkaufen gehen. Die Freunde hatten Frau Ambrosius um Erlaubnis gebeten, den Kuchen zum Kaffee mitbringen zu dürfen. — Eberhard raunte seiner Freundin noch ein „auf Wiedersehen im Theater“ zu.
Fritzi sprang die Treppen hinauf, um Freidank zu täuschen, blieb mit pochendem Herzen auf dem Flure stehen und stieg nach etlichen Minuten leise, wie eine Katze, wieder hinunter. Dann wagte sie es, vor die Haustüre zu treten. Die Freunde waren schon um die nächste Ecke verschwunden. Sie atmete auf, ging schnell in der entgegengesetzten Richtung davon und stieg in eine Straßenbahn.
Jetzt, kurz vor dem Tage der winterlichen Sonnenwende, brach schon um die vierte Stunde die frühe Dämmerung herein. Fritzi sah aus dem Fenster und erblickte durch die angelaufenen Scheiben in der Ferne einen Stern, der aus bunten Lampen gebildet war. Sie zog die Uhr; sie war bereits eine halbe Stunde gefahren. Kein Zweifel, das war ihr Ziel, der „Volksvergnügungspark Nordstern“.
Der Eingang dieses Jahrmarktsplatzes war durch ein weitoffenes, rohes Lattentor gebildet, durch welches eine große Menschenmenge hineinströmte: Soldaten, Arbeiter mit Frau und Kindern, sogar mit Säuglingen und Kleinen, die im Wagen gefahren wurden, junge Burschen und Mädchen. Die Chansonette blickte sich entzückt um. Sie vergaß ganz, daß sie in ihrer flotten Toilette, dem eleganten, pelzbesetzten Kostüm, unter den einfachen Leuten Aufsehen erregen mußte. Ach, hier mit einem Begleiter die Jahrmarktsherr [S. 109] lichkeiten genießen dürfen, wie schön mußte das sein! Fritzi dachte nicht mehr daran, daß sie äußerlich eine Dame geworden war; sie fühlte sich wieder ganz als das einfache Mädchen aus dem Volke, welches an Lärm, primitiven Schaustellungen und großen Menschenansammlungen seine Freude hat. Am Eingang des Platzes war eine ganze Wagenburg der grünen Wohnwagen aufgestellt. Inmitten des Platzes wogte und drängte sich das Volk; ringsum waren die Buden und die Stätten des Vergnügens. Jede einzelne Schaustellung war von entsetzlichem Lärm begleitet; alle Gassenhauer, Trompeten, Karussellmusik, Klappern und Pfeifen schollen wüst durcheinander. Fritzi blieb mit freudeglänzenden Augen vor dem elektrischen Karussell stehen und sah dem Kreistanz der bunten, hölzernen Tiere, auf denen junge Mädchen und Burschen saßen, zu. „Ist das nicht ’n Roland seine Braut?“ hörte sie plötzlich Roditscheff in seinem harten Russendeutsch fragen, „Servus, Pummel!“ „Sind Sie allein, Fräulein?“ erkundigte sich sein vorsichtiger Begleiter. „Ja? Ist das eine Freud’! Wir sind auf gut Glück hergekommen und finden gleich ein nettes Mad’l mit Lokalkenntnis ... Sie kennen doch den Dult dahier?“
Sie hatte in der Tat durch Zufall Roditscheff und Aloys Binder getroffen. Die Ringkämpfer nahmen sie sofort in die Mitte. Sie sagte, es wäre kein Dult, sondern ein Rummel, und sie möchte würfeln gehen. Arm in Arm zogen alle drei nach der Würfelbude, würfelten und gewannen nichts. Dann setzten sie sich in ein großes Schiff, welches an einem hohen Gerüst hin und her schaukelte, und trieben darin Allotria. Dann zog ein unartikuliertes Geheul, wie von Wilden, Fritzis Aufmerksamkeit an, und die Athleten waren gleich bereit, mit ihr in die Bretterbude, welche die Aufschrift „Wildafrika“ trug, hineinzugehen. In der jammervollen, halbdunklen Bude, die über der bloßen Erde stand, war ein dicker [S. 110] Dunst von Holzkohlen und Petroleumqualm; ein einziger magerer, frierender Neger sprang unter eintönigem Geschrei von einem Fuß auf den andern, und ein heiserer junger Bursche behauptete, daß der Wilde Kriegstänze aufführte. Fritzi war in ihrem Elemente. Sie schrie und lachte und klatschte in die Hände, während Binder und Roditscheff ihr die Wangen streichelten und sie verliebt in die Arme zwickten. Endlich war sie der Schaubuden müde und wollte nun zu den Ringkämpfern. Lachend kamen die Athleten auch diesem Wunsche der Chansonette nach.
Ein rundes Leinwandzelt bildete den Zirkus, in dem die Kraftmenschen zu sehen waren. Gartenstühle, die von Lehrlingen und Burschen eingenommen waren, schlossen die Arena ab. Das Zelt war nur durch Petroleumlampen erhellt, und statt der Ringmatte gab es nur ein wenig Lohe. Als die drei das Zelt betraten, waren die in schmutzige, geflickte Trikots gekleideten Kraftkünstler gerade damit beschäftigt, Gewichtstangen mit übermäßig großen hohlen Kugeln zu stemmen. Das dankbare Publikum, welches die Gewichte für echt hielt, jauchzte den vermeintlichen enormen Leistungen leidenschaftlich zu... Dann kam der zweite Teil der Vorführung. Gustav, Fritzis Freund, ließ die Stangen und Gewichte aus dem Wege räumen und hielt eine kleine Ansprache an das Publikum. Er war bei weitem der hübscheste, stärkste und ansehnlichste Athlet unter seinen vier Kollegen, die mit ihm in dieser primitiven Arena standen. Anstatt aber die wirklichen Namen der jungen Leute, die sämtlich dem Athletenklub „Deutsche Eiche“ angehörten, zu nennen, rief er hochklingende und berühmte Namen auf:
„Winzer, Hamburg! — Franz Sauerer, München! — Albert Sturm, Berlin! — Lassartesse, Frankreich! —“
Er kam nicht weiter; Binder und Roditscheff waren [S. 111] in dröhnendes Gelächter ausgebrochen, und Roditscheff schrie, stoßweise, unter Lachen:
„Ach, du freches Tier! — Der Sauerer! — Der Sturm! — Der Lassartesse! — Die müßten dich auf den Hintern setzen, hier, auf deinem Rummel! —“
Das Publikum, welches nicht wußte, um was es sich handelte und in den laut lachenden Herren nur Störenfriede sah, begann zu murren. Der Ringer Gustav aber, der mit einem Blicke die Situation übersehen hatte, war mit einem Sprunge, wie ein Tiger, außerhalb des Zuschauerringes bei den Champions und flehte sie leise und hastig an, ihn nicht zu kompromittieren. „Nein, nein! ist allright!“ versicherten Roditscheff und Binder. Gustav schleuderte einen wuterfüllten Blick auf Fritzi, raunte ihr aber zu, daß sie sofort nach dem Ringkampfe hinter dem Zelt sein sollte; er müßte ihr etwas sagen. Fritzi nickte, und schon war er wieder in seiner Arena. Das Publikum applaudierte in der Meinung, daß er die Störenfriede beruhigt hätte. Nun konnte der Ringkampf endlich anfangen!
Gustav verkündete laut die hier geltenden Kampfregeln: jeder Kampf sollte drei Minuten dauern. Seine Stimme klang rauh und heiser vor Wut. Wer anders, als Fritzi, hatte die beiden Athleten, vor denen er sich mit der von ihm geleiteten kleinen Truppe lächerlich gemacht hatte, indem er die Namenlosen mit klangvollen Namen schmückte, hierher auf den Rummel geschleppt? — Mit heiserer Stimme, Zorn und Rache im Herzen, erklärte er nach Ablauf der drei Minuten, daß der Kampf als unentschieden abgebrochen sei. Nun führten zwei der jungen Budenringer eine offenbar vorbereitete Komödie auf. Derjenige, der hier unter dem Namen des Hamburger Athleten Winzer figurierte, nannte den schwarzlockigen, jungen Menschen, dem der Name Lassartesse beigelegt wurde, einen „Schieber“ und forderte [S. 112] ihn zu einem Match heraus. Einen Taler sollte der Einsatz von beiden Seiten betragen! Der junge Mensch, der das Deutsche übertrieben radebrechte, erklärte sich dazu bereit. In unternehmender Haltung traten sie zum Kampfe an und ehe zwei Minuten um waren, lag der echte oder scheinbare Franzose auf dem Rücken. Nach Ansicht des Publikums hatte der Deutsche einen schwerwiegenden Sieg errungen und einen Taler dazu! —
Gustav kündigte an, daß nach einer Pause von fünf Minuten die nächste Vorstellung stattfinden werde, und ging, ehe die Zuschauer das Zelt verließen, noch mit dem Teller sammeln. Roditscheff und Binder warfen zwischen die Nickelstücke jeder einen Taler, für die Gustav, innerlich fast erstickend vor Wut, noch eine Verbeugung machen mußte... Als die Champions das Zelt verließen, blickten sie sich nach ihrer kleinen Begleiterin um. Fritzi war verschwunden. „Ach, der Pummel wird schon wiederkommen!“ meinte Sergej, „wir gehen langsam weiter, Aloys.“
Fritzi war geschwind, wie eine Eidechse, hinter das Zelt geschlüpft. Auch sie ahnte nichts von der Ursache des Intermezzos. Gustav stand schon da, eine Jacke über das apfelgrüne Trikot gezogen. Die Chansonette sprang flüchtigen Fußes zu ihm hin, aber ehe sie ein Wort, eine Frage aussprechen konnte, trat Gustav mit verzerrtem Gesicht einen Schritt vor und hieb ihr rechts und links mit den großen Tatzen fürchterliche Ohrfeigen, während er ihr heiser zuflüsterte:
„Du Dirne! — du! — mußtest auch noch mit diesen Kerlen anfangen —! mir zum Possen, du Bestie! — Lasse dich nie wieder vor mir blicken, sonst schlag’ ich dich tot! —“
Sie wollte eine Erklärung haben, aber er ließ sie nicht zu Worte kommen, und als er eine Sekunde von ihr abließ, [S. 113] lief sie heulend, wie gehetzt, davon. Gustav tat einige Schritte hinter ihr her, kehrte aber alsbald wieder um. Wenigstens hatte er seine Rache an ihr gekühlt! „Gemeines, schamloses Frauenzimmer,“ murmelte er zwischen den Zähnen und kehrte in sein Zelt zurück. —
Binder hatte Fritzi inzwischen erspäht; sie stand schluchzend abseits und hielt das Taschentuch vors Gesicht.
„Was hast du denn?“ fragten die Athleten.
Fritzi antwortete nichts und weinte nur noch stärker. Roditscheff, mit seiner starken, lächelnden Gutmütigkeit, zog ihr die Hände weg. Sie sahen das niedliche Mädchengesicht von Tränen des Zornes und Schmerzes überströmt und die zarten Wangen geschwollen und brennend gerötet. Beide wußten sofort, was geschehen war und ahnten den Zusammenhang. „Na, Mäderl —!“ tröstete Aloys, „mach’ dir nichts aus dem frechen Kerl und höre auf zu weinen... Wenn ich ihn wieder treffe, spreche ich noch ein Wörtchen mit ihm; dann kann er sich die Ecke aussuchen, in die er fliegen will —! komm her, mein Kätzchen, sei wieder lustig! wir lassen uns zusammen photographieren! —“
Langsam beruhigte sie sich. Alle drei spazierten nach der Bude des Momentphotographen. Vorher machten sie an einer Würstelbude Station, und während sie mit Appetit mehrere Paar Würstchen verzehrte, fand die kleine, eitle Person noch Zeit, ein Pudernecessaire herauszuziehen und das Gesichtchen weiß zu pudern. Noch ein Strich mit dem roten Taschenstift über die zitternden Lippen; nun trug ihr Antlitz fast keine Spuren der Ohrfeigen und der hastig geweinten Tränen mehr. Sie lächelte schon wieder, als sie die Photographenbude betraten.
Sie stellten sich nebeneinander auf, Fritzi in der Mitte. Während der Photograph seinen Apparat einstellte, griff Aloys Binder der Chansonette von hinten um die Taille, [S. 114] suchte ihren Busen mit der Hand... In diesem Augenblicke flammte das Blitzlicht des Photographen auf. — —
Es war für die Athleten Zeit geworden, sich zur Vorstellung in die Stadt zu begeben. Sie fuhren im geschlossenen Wagen, eng aneinandergedrängt. Schwül hing die Glut der Sinnlichkeit zwischen dem Athleten und dem jungen, lebensgierigen Weibe. Fritzi saß auf Binders Schoß. Er hatte ihr den Kopf mit dem zierlichen Pelzbarett weit hintenübergebeugt und drückte wilde Küsse auf ihren schmachtend geöffneten Mund. Fritzi hatte eine seltsame Empfindung, als ob sie in ein weiches, lauwarmes Meer hinabgleite. Immer tiefer, immer tiefer.... Jetzt gab es schon gar keinen Widerstand mehr...
Roditscheff pfiff leise die melancholische Melodie eines russischen Volksliedes durch die Zähne. Er hatte den Kopf von dem Paare abgewendet und betrachtete beim wechselnden Scheine der am Wagenfenster vorüberfliegenden Straßenlaternen nachdenklich das verräterische photographische Momentbild.
Der akademische Verein Gryphius feierte Weihnachten. Es fehlten zwar noch drei Tage bis zum Feste, aber die jungen Herzen waren schon längst in der fröhlichsten Weihnachtsstimmung. Am nächsten Morgen wollten dann mehrere der Mitglieder in die Heimat reisen.
Tönnies kam nachmittags zu Eberhard und hätte ihn am liebsten gleich mitgenommen.
„Sonst schwänzest du womöglich die Weihnachtskneipe,“ sagte er und sah seinen Freund forschend an.
„Das traust du mir hoffentlich nicht zu,“ lächelte Eberhard. Er mußte sich abwenden, um die aufsteigende Röte zu verbergen. Der gutmütige, heitere Adolf aber, der Eberhard als weit überlegen empfand, hatte schon wieder das Gefühl, etwas gutmachen zu müssen:
„Du wirst mir das doch nicht übelnehmen, Eberhard! — Aber leider fehlst du jetzt so oft... Läßt die Kleine dich gar nicht von ihrer Seite?“
„Ach Gott — das ist’s auch,“ sagte Freidank mit innerer Qual. „Man hat Zeiten, Tönnies, in denen man keinen Menschen sehen möchte... Keinen... Das geht wieder vorüber...“
„Hoffentlich,“ sprach Tönnies herzlich. „Du wirst kein Pessimist werden, Freidank. Das wäre nicht richtig, glaube mir... Nun, du wirst selbst wissen, was du zu tun hast! Ich weiß, du gehst deinen geraden Weg... [S. 116] “ „Ja,“ antwortete Eberhard fest, während sich in seinen Kopf der Gedanke einschlich, ob Tönnies sein Tun wohl für den geraden Weg halten würde....
„Also das ist sicher, du lässest uns nicht sitzen!“ mahnte Tönnies noch einmal beim Abschiednehmen. „Auf Wiedersehen!“ —
Im Theater war Eberhard heute der Held einer Sensation. Im Vestibül klebten riesige, rote Plakate und dem Programm waren gleichlautende Zettel beigegeben, welche besagten, daß Roland den Münchener Binder zu einem freien Revanchekampfe herausgefordert habe. Das Publikum versprach sich von diesem Kampfe einen besonderen Genuß; sollte doch ohne Pause bis zur Niederlage einer der beiden Athleten gerungen werden.
Eberhard runzelte die Stirne, als er die schreiend grellen Plakate erblickte. Das war wieder so ein Trick der Kampfleitung, das! Er selbst hatte nicht daran gedacht, Aloys Binder herauszufordern. Aber es mußte um jeden Preis eine Sensation in die Ringkämpfe hineingetragen werden. Jetzt, um die Weihnachtszeit, erwiesen sich nicht einmal die Entscheidungskämpfe, die gegen Mitte des Monats begonnen hatten, als genügend wirksamer Kassenmagnet. Darum wurden Extrakämpfe eingeschaltet, die, wie das Publikum glauben mußte, lediglich aus Ehrgeiz, außerhalb der Konkurrenz, zwischen einzelnen Ringern ausgetragen wurden.
Im Foyer blühte heute das Geschäft der Buchmacher. Bereits wurden allabendlich hohe Summen auf die endgültigen Sieger der Ringkämpfe gewettet. Aber die letzten Entscheidungen lagen noch in weitem Felde. Inzwischen wurde lustig auf die Extra-Kämpfe gewettet und verloren...
Als Eberhard das Vestibül durchschritt, hörte er hinter sich und zu beiden Seiten flüsternde Stimmen, die seinen [S. 117] Namen nannten. Er wendete sich nach niemand um und blickte finster gradeaus. Er hatte sich bereits jene düstere, abwehrende Haltung angewöhnt, mit der die großen Champions sich die unerwünschten Verehrer fern halten. Er wußte es selbst, es war eine theatralische Pose, aber dennoch hatte er nicht die Absicht, sie aufzugeben. Es war ein Leben des Scheins, ein Leben voller Scheinerfolge, welche aber ebenso bejubelt und so glänzend honoriert wurden, wie echte Erfolge. Die Kraft allein war echt....
Es war noch so zeitig, daß Eberhard hoffen konnte, in der Garderobe keinen Kollegen zu treffen. Aber Binder saß doch schon am Tische und versteckte bei Eberhards Eintritt einen Zettel.
„’n Abend,“ sagte Freidank, wider Willen unangenehm berührt. „Ach, ich habe Sie nicht stören wollen!“
„Sie stören mich nicht,“ sagte Aloys. „Ich schreibe nur ’ner Chansonette... einem hübschen, brünetten Pussel.... Sie sind auch für so was, Roland...!“
Hatte Eberhard recht gehört? Lag ein Unterton des Hohnes in Binders Worten oder witterte nur seine Abneigung gegen den Münchener Böses?
„Pardon — —,“ sagte er hart. „Ich möchte nicht... Sie verstehen...“
„Ach, Sie sind eifersüchtig!“ erwiderte der Münchener unvermittelt mit einem frechen Aufblick.
„O nein! Ich habe keine Ursache dazu!“ entgegnete Eberhard bestimmt und ging wieder hinaus. Im Artistenfoyer, einem langen, breiten Korridor, blieb er noch einmal lauschend stehen: war nicht ein höhnisches Lachen hinter ihm hergeklungen? Aber alles blieb still. Nur die Soubrette, Fräulein Coeur de Rose, strich wie eine verliebte Katze im Foyer herum. Sie war schon zur Vorstellung angekleidet und hatte ihren dekolletierten Busen mit einem durchsich [S. 118] tigen Schleiergewebe bedeckt, um den ärgsten Anschein der Koketterie zu vermeiden. Er wendete sich brüsk von dem geschminkten Weibe ab und ging durch das ganze Haus hindurch in das Theaterrestaurant.
Unwillkürlich suchten seine Blicke beim Eintritt Fräulein Leonie Krömer. Doch die schöne Brünette thronte nicht auf dem gewohnten Platz. Sie hatte endlich kapituliert und saß neben Sergej Roditscheff an einem der kleinen Tischchen von gelblichem Marmor. Das Bild prägte sich fest in Freidanks Gedächtnis ein: Leonie war verwirrt, rot und schön in ihrer Leidenschaft und ihrem Schuldbewußtsein. Roditscheff hatte sich ihrer Hand bemächtigt und spielte mit den Ringen an ihren schlanken Fingern. Er war blaß, lächelnd, ruhig und siegesbewußt, wie immer... Nur ein sehr geübtes Auge hätte ihm den letzten Zweifel an seinem Siege über diese Spröde vom Gesicht ablesen können. Denn Leonie schwankte noch, während Roditscheff sie zuversichtlich fragte:
„Gleich nach der Vorstellung kann ich dich abholen, Lona?“
„Um Gotteswillen, nein!“ erwiderte Leonie hastig flüsternd, „mein Schwager... und überhaupt...“
„Um zwei Uhr wird das Restaurant geschlossen,“ sagte Sergej, „also um zwei Uhr, Lona, um zwei Uhr, Lona...“
Unter seinen hellen, hypnotisierenden Blicken senkte Leonie Krömer den schwarzen Kopf....
Eberhard verbarg sich hinter der größten Zeitung, die er finden konnte. —
Von einem Tisch, an dem ziemlich viele lebhaft redende Männer saßen, löste sich jetzt ein Mann und begann ein Gespräch mit Freidank. Er war ein Buchmacher namens Goldschmidt, der mit großer Geschicklichkeit das Gespräch auf den Revanchekampf des heutigen Abends zu lenken [S. 119] wußte. Er redete in einem seltsamen Fachjargon, der aus jüdischen und sportlichen Redensarten bestand, allerlei krausen Unsinn, welcher schließlich in der vorsichtig umschriebenen Frage gipfelte, ob Roland oder Binder bei dem Ringkampfe Sieger bleiben würde?
„Zum Teufel, kann ich das wissen?“ fragte Freidank über die Zeitung hinweg.
„O, Herr Roland — —! — sagen Sie mir nicht so was! — Ich bin nicht einer von ’s dumme Publikum... Ich wollte Ihnen vorschlagen ein gutes Geschäft, ein sicheres Geschäft ....“
Eberhard legte die Zeitung hin:
„Ich bitte, Herr Goldschmidt, sagen Sie klipp und klar, was Sie von mir wollen!“
Er wollte.... nun, Herr Roland sollte es nicht übel nehmen... Gegen seine Ehre ginge es ja nicht, — und außerhalb der Konkurrenz... und ein glattes Geschäft wäre es...
Und als Freidank gelangweilt die Stirne furchte, erklärte er ihm das beabsichtigte Geschäft. Von den Wettenden — und es wurden sehr hohe Wetten heute abend abgeschlossen — hielten die meisten auf Roland, obwohl er schon von Binder besiegt worden war. Es waren Gerüchte von „Schiebungen“ durchgesickert, die das Publikum lebhaft erregt hatten. Den heutigen „Revanchekampf“ hielten die Leute aber für echt. Hohe Summen waren auf den Sieg Rolands gesetzt worden, die im Falle von Rolands Niederlage dem Buchmacher zufielen. Mit der Kunst der Überredung und mit der Zusicherung eines hohen Gewinnanteils suchte Herr Goldschmidt Eberhard nun zu bewegen, Aloys Binder den Sieg zu lassen. —
Eberhard mußte über die Unverfrorenheit lachen, mit welcher der Buchmacher ihm dieses Geschäft anbot. Aber [S. 120] Goldschmidt verlor keine Zeit; er zog schnell einen Hundertmarkschein aus der Tasche, den er unauffällig in Eberhards Rocktasche beförderte.
„Schön! Herr Roland!“ sagte er dabei mit vergnügtem Lächeln, „wir sind einig, nicht wahr? Das ist die Anzahlung ... Den Rest zahle ich Ihnen nach der Vorstellung ... Es bleibt dabei... Ein gutes Geschäft für Sie, ein ausgezeichnetes Geschäft!“
Strahlend vor Vergnügen kehrte er zu seiner Gesellschaft zurück und versicherte seinen Wettlustigen, daß sie unbedingt gewinnen würden, denn Roland würde natürlich Sieger!
Eberhard trank sein Bier aus und dachte kaum mehr an den Zwischenfall, als er die Ringkämpfergarderobe betrat. Alsbald brachte ihm der Kellner ein Briefchen, in dem Fritzi ihm in ihren kindlichen, ungeübten Schriftzügen mitteilte, daß sie nicht ganz wohl sei und darum’ früh nach Hause gehen würde, um auszuschlafen. Während er den Zettel las, fühlte er Binders höhnisch funkelnde Blicke auf seinem Gesichte. Aufblickend, gewahrte er auch ein fatales Lächeln des Müncheners, der in seiner Lieblingsstellung in Unterhosen auf einem Koffer hockte.
„Was haben Sie?“ fragte Eberhard, indem er sich mühsam beherrschte.
„Ich? — Zehn Rendezvous, zwanzig Liebesanträge!“ lächelte Binder, „und Sie haben wahrscheinlich einen Brief von Ihrer Dulcinea... Ich kenne das... Na, lassen Sie sie schießen! Ich trete Ihnen als Ersatz gern meinen Reisedrachen ab... Celeste, die Sie im stillen anschmachtet..“
Eberhard sagte zornig: „Ich danke.“ Er ging mit schweren Tritten an seinen Koffer und kleidete sich an, während er ohne Unterlaß an Fritzi dachte, an Fritzi, die krank war, während er auf die Weihnachtskneipe mußte. [S. 121] In dieser Stunde verfluchte er sich selbst, sein Leben, seinen neuen Beruf und seine Zukunft. Er verfluchte seine Kollegen, die unter läppischen Gesprächen herumstanden und sich zur Vorstellung ankleideten. Er wußte selbst nicht recht, was er heute abend gegen die Ringkämpfer hatte. Sie kamen ihm sämtlich so ordinär vor, so brutal, so gemein... Oder war daran nur dieser Kerl, der Binder, schuld? Binder erzählte laut und schamlos von seiner Freundin Celeste, während er mit ruckweisen Bewegungen die Trikots anlegte:
„Sollte man es denken, Kiesling? — Vorgestern wurde sie frech. Ich kam abends mit ’nem Weib nach Hause; Celeste saß am Tisch und wartete auf mich. Das Weib war ’ne Dame, müßt ihr wissen, darum ließ ich sie erst im Korridor warten, schob meine Celeste in die Wohnstube und sperrte die Tür zu. Dann holte ich meine Dame herein. Kaum wird die Dame etwas warm, kriegt der Drachen nebenan einen Weinkrampf... heult... schreit... poltert gegen die Türe... Die Dame bekommt einen Mordsschreck und will wissen, wer da lärmt. Ach, eine dumme Chansonette, die ich mir aus dem vorigen Engagement mitgenommen habe, weiter nichts, sage ich. Aber trotzdem ließ die Dame sich nicht mehr beruhigen und lief mitten in der Nacht davon!“
„Und?“ fragte Kiesling ohne besonderes Interesse.
„Und? —“ erwiderte Binder höhnisch lächelnd, „und Celeste hat zwei Tage nicht ausgehen können, so viel Schläge hat sie bekommen. Ich habe sie gehauen, bis sie freiwillig versprochen hat, zukünftig die Damen, die mich besuchen, wie eine Magd zu bedienen, wie eine Sklavin... auf den Knieen, wenn ich’s verlange...“
„Deine Sache...“ sagte Kiesling gelassen, und Binder fuhr fort:
„Ihr Geld reicht ohnehin nur noch ein paar Monate... Ihre Mitgift kann sie nicht angreifen; ich hab’ nur ihr per [S. 122] sönliches Vermögen in den Händen... Wenn ihr Geld zu Ende ist, kann sie meinethalben zu ihrem Ehemann zurückkehren, dem sie mit mir davongelaufen ist!“
Mehrere Athleten lachten, andere, welche diese unnoble Handlungsweise nicht billigten, zuckten die Achseln. Niemand aber fand, daß diese Liebesaffäre des Ereiferns wert gewesen wäre. Mein Gott.... jeder nahm, was er bekommen konnte....
Als die Ringkämpfer die Bühne betraten, bemerkte Eberhard, daß Madame Celeste doch im Theater war. Sie hatte sich also von ihrem Schmerzenslager aufgerafft, nur um ihren Peiniger ringen zu sehen... Sie sah sehr blaß aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Freidank war es auch, als ob Celeste heute nicht anbetend, wie sonst, sondern mit einem eigentümlich entschlossenen, harten Ausdruck im Gesicht zu Binder hinaufsah. Er konnte nicht zum zweitenmal hinsehen, weil er nun seine ganze Aufmerksamkeit auf den Kampf gegen Aloys richten mußte.
Ein Pfiff gellte durch das stille Theater. Die beiden Athleten gingen schnell aufeinander los, Binder, nach seiner heimtückischen Art, mit gesenktem, vorgestrecktem Kopfe, Freidank mit äußerer Ruhe. Jeder hielt die Augen fest auf die Hände des andern gerichtet, jeder griff nach des Gegners Handgelenken und suchte den andern von Zeit zu Zeit durch einen schnellen, listig angebrachten Griff zu überrumpeln. Aber keiner bekam ein Übergewicht über den andern.
Das Theater lag in atemlosem Schweigen. Mit Herzklopfen verfolgten die Hunderte im Saal und in den Logen den Kampf, in dem die Kämpfer ihre besten Kräfte noch zurückhielten. Die Sekunden dehnten sich endlos lang, die Minuten wuchsen in die Ewigkeit hinein. Plötzlich, mit einem gewaltigen Schritt, waren beide Ringer dicht anein [S. 123] ander und umschlangen sich gegenseitig mit einem Griffe, der jedem gleiche Chancen bot und welchen die Ringer Zwiegriff nennen.
Und wieder ein herzbeklemmendes Zuwarten! welcher wird seine Chance ausnützen? — Der Münchener! Er hob Roland wild, zornig, ruckweise auf und schleuderte ihn zu Boden. Beide wälzten sich übereinander, Roland hockte auf dem Teppich, und Binder bemühte sich mit aller Kraft vergebens, den unbeweglich Dasitzenden aus seiner Stellung zu bringen.
Der erste Gang war vorüber; die Ringer traten schweißbedeckt, mit verwirrten Haaren, von der Bühne ab und wurden mit rauhen Handtüchern abgetrocknet. Währenddessen trat Markus auf Freidank zu und flüsterte:
„Wie lange wollt Ihr ringen? Länger als dreißig Minuten?“
„Möglich —,“ sagte Eberhard mit einer unbestimmten Geste.
„Zum Teufel, Roland, das muß doch abgemacht sein!“ sagte der Manager ärgerlich, „hab’ ich ’ne Ahnung, wann ich abpfeifen soll?“
„Werden es schon merken,“ erwiderte Freidank kurz und ging wieder aus der Kulisse heraus, um weitere Fragen abzuschneiden.
Wer von den Zuschauern den Ringkampf für ein Spiel gehalten hatte, der wurde an diesem Abende inne, daß es auch Kämpfe von blutigem Ernst gibt. Die Spannung und Erbitterung der beiden Athleten, die einander lauernd gegenüberstanden, teilte sich langsam dem Theater mit. Die verhaltene Kraft, die scharfe Anspannung aller Sinne trieb den Kämpfern den Schweiß aus allen Poren, jagte ihr Blut in rotem Wirbel durch die Adern. Wenn sie einander gewaltsam anpackten, schallte das Klatschen der grob ge [S. 124] faßten Griffe bis in die hintersten Winkel des weitläufigen Theaters.
Wieder einmal waren beide blitzschnell vom Boden aufgesprungen und standen sich gegenüber; da packte Binder Freidanks rechten Daumen mit der Linken und schlug ihm mit der Rechten gegen den Ellenbogen. Freidank aber hatte die tückische Absicht gemerkt, sprang wie ein Löwe herum und riß den Bayer zu Boden. Er hielt ihn fest und flüsterte ihm zähneknirschend zu:
„Was fällt dir ein? Willst du disqualifiziert werden?“
„Nein!“ flüsterte Binder frech zurück, „aber heute geht’s im Ernst.... Um die kleine Katze, die Fritzi....“
Eine Sekunde lang sah Freidank alles rot, dann faßte er sich:
„Also um Tod oder Leben.... um dein oder mein Leben....“ „Immer tragisch!“ höhnte der Münchener, der unter Eberhard lag, ein wenig keuchend. „Ums Leben ja gerade nicht, aber meinethalben um die Fritzi... die Fritzi ist mir ja doch sicher...“
Eberhard hörte nichts mehr. In Berserkerwut stürzte er sich über den Gegner. Das, was ihn ergriffen hatte, war nicht mehr bloße Kampflust. Es war Mordlust...
Und mit dieser Mordgier in dem fiebernden Blute stand er vor Hunderten von Zuschauern und war gezwungen, den Kampf nach seinen Regeln, mit allen Finessen, die das Publikum entzücken, zu Ende zu führen...
Die Zuschauer waren von jenem leidenschaftlichen Taumel ergriffen, der sich seit Jahrtausenden gewaltigen Menschenmassen mitteilt, sobald zwei feindliche Kräfte sich vor ihren Augen messen. Genau so verfolgten einst die Griechen die Kämpfe ihrer Ringer im Stadion, so und nicht anders saß das alte Rom rund um die Arena und blickte [S. 125] gebannt und gespannt, mit fieberndem Parteinehmen und grausamer, zitternder Lust, auf Siegen oder Unterliegen.
Die ersten drei Gänge, jeder zehn Minuten lang, waren längst vorüber. Jetzt ging es weiter ohne Pause, bis einer von beiden am Ende seiner Kräfte war. Das pfeifende Keuchen harter Atemzüge rang sich mühsam von den Lippen der Ringer; es kam aus den schwer arbeitenden Tiefen ihrer Brust, es erfüllte mit leisem, aber deutlichem, aufreizendem Geräusch das ganze Theater. Keine Wollust ist so groß, als die Wollust des Zuschauers beim mörderischen Kampfe..
Eberhard spannte seine letzten Kräfte an, und Binder ließ alle Rücksichten fallen. Er stieß und schlug, wo die Gelegenheit sich bot, sinnlos auf seinen Gegner ein. Bereits war er zweimal verwarnt worden, versuchte aber zum drittenmal, Roland mit einem rohen Halsgriffe die Luft abzuschneiden. Er stand tiefgebeugt, den Rücken gebogen, den Kopf gesenkt, heimtückisch, wie ein Raubtier vor dem Sprunge. Da, als er sich noch tiefer duckte, griff Eberhard zu, langte mit den starken, weißen Armen über Binders Kopf hinweg, umschlang den Feind an den Hüften und hob ihn rücklings auf. Binder, der kopfüber in der Luft hing, merkte, daß er verloren war. In den Armen des Starken zappelnd, blickte er Freidank haßerfüllt an und flüsterte mit erlöschender Kraft:
„Die Fritzi ist mir doch sicher...“
Eberhard hob ihn noch höher und schleuderte ihn von bedeutender Höhe herab mit brutaler Wucht auf den Boden.
Er vernahm nicht mehr das ausbrechende Beifallsgeheul der leidenschaftlichen Menge, die seinem Siege zujubelte, er wollte in die Garderobe stürzen. Markus lief ihm nach, zerrte ihn am Trikot auf die Bühne, stieß ihn hinaus; er mußte sich verbeugen, zweimal, dreimal, während das wilde Rauschen des Beifalls ihn umtobte, wie ein Meer im Sturme.
Seit dem Augenblicke, wo sie sich als Abschiedsgruß auf der Bühne die Hände gereicht hatten, kümmerte sich keiner der Kämpfer mehr um den andern. In der Garderobe halfen Kameraden den zu Tode Erschöpften aus den Trikots und rieben ihnen die zuckenden Glieder mit Branntwein ein. Dann lagen sie beide blaß, mit geschlossenen Augen, auf harten Matratzen und kehrten langsam zum normalen Atmen zurück. Ihre Lungen waren bis zum letzten Atemzuge ausgepumpt. Sie hatten nahezu zwei Stunden gerungen.
Thyssen erschien unter der offenen Türe, beide Hände in den Taschen, und blickte schweigend die ermatteten Ringer an. Sein heller, scharfer Geist hatte in dem grauenvollen Kampf des Abends eine Tragödie gespürt, für die es vorher nicht einmal die leiseste Andeutung gegeben hatte. Er ließ seine dunklen, zwingenden Augen auf Eberhard ruhen und fragte:
„Warum habt Ihr nicht aufgehört, als Markus euch das Zeichen gab? Was habt ihr miteinander vor?“
Eberhard richtete sich halb auf. Das Unausgesprochene, es sollte niemals ausgesprochen werden, Fritzis Name sollte unversehrt bleiben, die Tragödie sollte in Schweigen erstickt werden. Vielleicht war sie zurückzuhalten... vielleicht war die rollende Lawine in ihrem Laufe zu hemmen....
Er blickte Binder, der möglicherweise eine hämische Bemerkung auf den Lippen hatte, stahlhart an und erwiderte, ohne die Augen von seinem besiegten Gegner zu lassen:
„Sie irren sich, Herr Thyssen. Es ist nichts.“
„Dann ist es gut,“ sagte der Weltmeister langsam...
Eberhard stand auf. Seine Glieder schmerzten, seine Gelenke brannten. Nur schlafen — schlafen! Aber er mußte ja auf die Weihnachtskneipe....
Im Vestibül, welches Eberhard durchschreiten mußte, wartete Herr Goldschmidt, der Buchmacher. Als er den [S. 127] Ringkämpfer kommen sah, sprang er mit rotem Kopf auf ihn los und fauchte ihn zornig an:
„Was haben Sie gemacht? War das nach unserer Verabredung gehandelt? Was stellen Sie sich vor unter einem Geschäft? Und meine Anzahlung?“
„Verabredung! Geschäft! Anzahlung!“ sagte Freidank erbittert, „was wollen Sie eigentlich von mir, Sie....? Sie....?“
„Sie behaupten, daß Sie das nicht mehr wissen?“ zischte der Buchmacher, „Sie leugnen, daß ich Ihnen hundert Mark auf Ihre Niederlage angezahlt habe? Das leugnen Sie, Herr....?“
„Reden Sie keinen Blödsinn!“ sprach Eberhard zornmütig von oben herab, „ich habe den Kerl geschmissen... Der Kerl hat es nicht besser verdient... Lassen Sie mich in Ruhe! Ein anständiger Mensch bietet nicht solche Geschäfte an... Ihre sogenannte Anzahlung, Herr... Goldschmidt,“ Eberhard lachte den bebenden Hebräer hochmütig und höhnisch an, „um Ihre Anzahlung wiederzubekommen, dürfen Sie mich verklagen... Ich schmeiße, wen ich will, und nicht, wen Sie wollen!“
Er ging mit schweren Schritten an dem Buchmacher, der ihm in ohnmächtiger Wut nachblickte, vorüber und trank am Büfett des Theaterrestaurants hastig mehrere Gläser Kognak aus, welche seiner Gedanken Qual so weit zerstreuten, daß er Binders Reden über Fritzi vergaß. Das Kind lag längst zu Hause im Schlafe, das war gewiß. Er hatte Fritzis Hausschlüssel in der Tasche. Aber warum die Geliebte im Schlafe stören? Besser, auf die Kneipe zu gehen....
Die Nacht war mild und dunkel. Warme Lüfte strichen über den Schnee hin und von den Dächern rieselten dünne Bächlein. Eberhards Schritte knirschten leise in dem tauenden [S. 128] Schnee, als er in die Linienstraße einbog, wo die Kneipe des Vereins Gryphius im ersten Stock eines Hinterhauses lag. Im zweiten Stock desselben Gebäudes hauste die „Munichia“, deren Angehörige den Gryphianern nicht besonders freundlich gesinnt waren. Man hielt offizielle Freundschaft, während man einander insgeheim nachspürte, um eine Veranlassung zum Abbrechen der freundschaftlichen Beziehungen zu finden.
Eberhard kam spät, aber die Freunde hatten fest auf sein Erscheinen gezählt. Der kleine, lustige Tönnies sprang sofort auf, drückte Eberhard herzlich beide Hände und zog ihn auf den Platz neben sich, den ein Fuchs alsbald räumen mußte. Es war kurz vor Beginn der Fidelitas. Frohe Gemeinsamkeit strahlte allen diesen jungen, enthusiastischen jungen Männern aus den Augen, gemeinschaftliche Interessen, gemeinschaftliche Hoffnungen zogen ihren Zauberring um den Jünglingskreis. Eberhard beantwortete heiter ein paar Fragen, tat den Freunden mit dem kühlen, schäumenden Bier Bescheid und lehnte sich dann, das Kneipcerevis auf dem Kopfe, behaglich hintenüber mit dem vollen Frohgefühl: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein! —
In der Ecke stand ein Weihnachtsbaum, der von den Füchsen scherzhaft und phantastisch herausgeputzt war. Zur Beleuchtung des Baumes hatte man zufällig starke, gelbe Wachskerzen gekauft, die ihren süßen, edlen Duft in feinen Wogen durch das Kneipzimmer sandten. Die Lichter knisterten leise; man hatte ein mechanisches Musikinstrument eingestellt, welches nun einen großen Kinderchor erklingen ließ. Wie aus weiter Ferne, aber dennoch deutlich, zogen die glücklich-naiven Worte dahin:
Von den Wänden grüßten die vertrauten Bilder alter Kommilitonen; das Bild Andreas Gryphius’ war von einer jungen, pietätvollen Hand mit grünen Tannenzweigen bekränzt worden. Die jungen Männer, der holden Kinderzeit noch nah und nicht entfremdet, wollten sämtlich unter Lachen und Necken ihre mildgerührte Stimmung verbergen und vermochten es nicht....
Der Kinderchor sang’s aus der Walze des leblosen Musikinstrumentes heraus. Und wieder einmal, wie so oft, träumte Eberhard von ernster Geistesarbeit und ehrlichen Erfolgen, von stillem Schaffen und Freude an erreichten Zielen....
— Die Kneipe der Munichen im oberen Stockwerk war schon zu Ende.
Man hatte sie ihr Kneipzimmer verlassen und die Treppe hinabsteigen hören. Dann trat Tönnies einmal zufällig auf den Treppenflur hinaus und lief gegen einen Munichen an, der gerade die dunkle Treppe herabkam. Er entschuldigte sich höflich und bat den Munichen, ein Weilchen Gast der Gryphianer zu sein. Gemeinsam traten beide junge Männer ein. Die Türe blieb offen stehen. Ein kalter Luftzug fuhr Freidank ins Gesicht; er drehte sich um:
„Tönnies, bitte, schließe die Tür!“
Der Muniche sah Freidank ins Gesicht, fragend, erschrocken, unsicher... Aber er hatte keine Zeit, irgendwelche Zweifel oder Vermutungen auszusprechen, da er von dem Kneippräsiden begrüßt und gastfrei aufgenommen wurde. Eine halbe Stunde flog dahin in munterem Gespräch. Und dann, jäh, zwingend, wie das Grauen sich immer zu nahen pflegt, trat plötzlich ein unsichtbarer, eisiger Gast [S. 130] in den Kreis der jungen Männer, lähmte die plaudernden Lippen, hielt den Schlag der Herzen zurück. Das Schweigen breitete sich aus, jeder fühlte es, obwohl es keiner sah, ohne Grund richteten alle Augen sich auf Eberhard Freidank....
Aber der Präside sprang auf; mit einem Schwerthieb wollte er das Grauen töten, entzweischneiden, in Nichts auflösen:
„Freidank! Kommilitone Freidank! von Herrn Höpfner-Munichiae ist soeben eine — ganz — erstaunliche — Beschuldigung gegen dich erhoben worden....“
Die Stimme des jungen Mannes bebte, die jungen, zuckenden Lippen wollten den Dienst versagen. Zu ungeheuerlich erschien ihm die Behauptung des Munichen, zu phantastisch die Idee.... Er rang nach Haltung und fuhr fort:
„Du sollst — im Odeontheater — einer der Konkurrenzathleten sein, du sollst — heute abend — mit einem — gerungen haben.... Freidank, sage, daß es nicht wahr ist......“
Unser Leben ist ein Würfelspiel; wir heben die Würfelbecher, betrachten die Würfel, zählen die Augen, wägen unsere Chancen.... Aber manchmal nimmt uns Einer den Becher aus der Hand, schüttelt ihn und schleudert den Inhalt heraus, daß wir das Aufklirren der beinernen Würfel hören. Ich habe es in schrecklichen Stunden gehört, und vielleicht auch du, und du kennst vielleicht das Grauen jener Sekunden, in denen die Schicksalswürfel dröhnend niederfallen. —
Eberhard Freidank stand auf und sagte leise und ernsthaft:
„Ja, das ist wahr.“
In schweigender Erschütterung blickten die jungen Männer vor sich nieder. Alle hatten sich erhoben. Der Muniche stand blaß und abgewendet, selbst ergriffen von der Wirkung seiner Anklage.
Freidank machte eine unwillkürliche Bewegung, um das Zimmer zu verlassen. Da faßte sich der Präside und sagte, ohne seinen Schmerz zu verhehlen:
„Freidank, das tut mir weh, — bei Gott, — als ob’s mein eigener Bruder wäre... Du warst uns wie ein Bruder, Freidank.... Aber... daß man das sagen muß! — Freidank, so leid es uns allen tut... aber.... Mit der blanken Waffe.... ist das nicht auszutragen....“
„Ich weiß schon,“ sagte Freidank erschöpft. „Lebt wohl! Und es soll euch im Leben gut gehn, und ihr sollt erreichen, was ihr erstrebt.“
Und er wendete sich zur Türe. Keiner hielt ihn zurück. Im Flur gab der Vereinsdiener ihm den Mantel um und reichte ihm die Pelzmütze. Da kam ihm einer nach: das war Tönnies.
„Verzeih,“ sagte Adolf Tönnies gedrückt, „ich schuldete dir noch fünf Mark, Freidank... Erlaube, daß ich diese Schuld berichtige....“
Alles, was vorhergegangen war, war nichts gegen diesen Schmerz. Adolf brachte ihm fünf Mark zurück, die er wohl von dem Studenten hatte leihen können, von dem Ringkämpfer aber nicht...
„Deshalb bist du mir nachgegangen, Tönnies?.....“
„Pardon —, ja, deshalb! Denn ich fürchte, daß ich in Zukunft dazu keine Gelegenheit mehr haben Werde, in Anbetracht deiner neuen Karriere....“
Freidank ließ das Silberstück fallen, daß es klirrend fortrollte. —
Die meisten Straßenlaternen waren ausgelöscht; die Straße war noch finsterer. Tauwind flog über die Stadt, fraß die letzten Schneereste und glitt weich durch die Haare des Ausgestoßenen. Eberhard hatte keinen Gedanken....
Ein einsames Mädchen strich langsam vorbei; da fiel ihm Fritzi ein. „Zu Fritzi!“ sagte er sehr sanft vor sich hin, und ein liebeseliger Frieden zog in sein Herz ein, „zu Fritzi!“
Er kam an das Haus, wo Fritzi wohnte, stieg vorsichtig die Treppen hinauf und schloß die Türe auf. Er wollte das kranke Mädchen nur sehen, einen Kuß auf ihre weiße Stirn drücken und wieder von dannen gehen. Aber das Zimmer war leer, und Fritzi war nicht darin.
Er sah sich um, er griff an seine Stirn. Wahrhaftig, es war Fritzis Zimmer.... Das Bett war unberührt, das Mädchen war nicht heimgekommen. Er stand eine Weile am Fenster und sah zwecklos hinaus, dann fing er an, zu toben und zu fluchen. Das Dröhnen seiner Stimme lockte Frau Krichelmann, die Wirtin, herbei. Sie erschien in Nachtjacke und Unterrock und fragte entsetzt, was geschehen sei?
„Sie wissen es besser als ich!“ stöhnte Freidank, „wo ist Fritzi?“
„Das Fräulein Fritzi?“ Die Wirtin besann sich nach einer Lüge, „das Fräulein Fritzi ist, so viel ich weiß, zu Fräulein Liane gegangen....“
„Liane!“ sagte Eberhard bebend, „aber Liane ist nicht in Berlin... Fritzi ist anderswo... Wenn Sie keine Wahrheit wissen, so sagen Sie wenigstens keine offne Lüge....“
„Das dürfen Sie mir nicht ins Gesicht sagen!“ erwiderte Frau Krichelmann, „ich habe Fräulein Fritzi nicht zu hüten! [S. 133] Ich weiß nur, daß sie bei Fräulein Liane schlafen wollte! — Sie zahlen pünktlich die Miete für Fräulein Fritzi, Sie sind mir ein lieber Mieter, Herr Freidank! aber ich bitte Sie, machen Sie keinen Lärm hier.... mitten in der Nacht....“
Freidank warf die Türe zu und jagte die Treppen hinunter. Er dachte daran, wie er sie vor drei Wochen unter tausend Zweifelschmerzen gesucht und nicht gefunden hatte und ihr dann selber untreu geworden war.... Er hatte nie den Mut gefunden, Fritzi zu fragen, wo sie jenen Abend verlebt hatte. Und heute? — Ganz flüchtig kamen ihm Aloys Binders Reden in den Sinn. Aber das war nichts, konnte nichts sein, als haltlose Prahlerei. Seine Fritzi... und dieser rohe, tierische Mensch mit der niedrigen Stirn und dem steilen, borstigen Haar... Und dann — bei dem Kampfe des heutigen Abends mochten Binder die Liebesgedanken für diese Nacht wohl gründlich vergangen sein. —
Eberhard lief durch die Straßen; ohne daß er eigentlich die Absicht hatte, gelangte er zu dem Hause, in dem Aloys Binder mit Madame Celeste wohnte. Die drei Fenster im ersten Stock, die dicht verhängt waren, gehörten zu Binders Zimmern. Schmale Lichtstreifen schimmerten durch die Ritzen. Jetzt wurde an einem Fenster der Vorhang aufgezogen und das Fenster geöffnet. Eine weibliche Gestalt beugte sich hinaus, sah den Himmel an, trat wieder zurück und schloß die Fenster. Eberhard hatte sie genau erkannt; es war Madame Celestes zarte, schlanke Silhouette. —
Die Nacht ging schon auf den Morgen zu. Ein dünner, warmer Regen floß grau aus schweren Wolken. Eberhard ging mit matter Seele und erschlafften Sinnen in das Kaffeehaus, in dem die Ringkämpfer den größten Teil ihrer Nächte [S. 134] zuzubringen pflegten. Jetzt erst gehörte er ganz zu ihnen....
Aber die Kollegen waren zum größten Teil schon fortgegangen; nur Manuel Gomez und der stille Türke waren noch anwesend. Der unverträgliche Spanier fand keinen Zechgenossen mehr außer dem Türken, mit dem er sich in keiner Sprache verständigen konnte. Faul, fast unbeweglich, lagen sie auf den Stühlen und betranken sich schweigend.
Eberhard ging aufs Geratewohl in ein anderes Kaffeehaus hinein. Dort saßen, vor neugierigen Blicken durch einen Vorhang ein wenig geschützt, Kiesling, Roditscheff und Leonie Krömer. Leonie erschrak, als sie Freidank erblickte, aber Kiesling beruhigte sie:
„Der spricht nicht, Fräulein, er ist ein honetter Kerl! ... Am besten, wir holen ihn an unsern Tisch und lassen ihn merken, daß er zu schweigen hat....“
Eberhard kam. Er hatte die Situation schnell begriffen. Leonie saß mit dem Russen auf dem kleinen, roten Ecksofa und hielt die schönen Augen auf den Maiglöckchenstrauß gesenkt, den Roditscheff ihr gebracht hatte. Ihre letzte Widerstandskraft war zerbrochen. Von Zeit zu Zeit zuckte es leise um ihren Mund, ein Lächeln schamvoller Verlegenheit. Aber ihre Seele hatte sich dem riesigen, helläugigen Ringkämpfer schon ergeben. Leonie wartete in Scham und Sehnsucht, bis Sergej sie an der Hand nehmen und im Triumphe als sein Eigentum und sein Liebchen nach Hause führen würde....
„Hatten Sie ein Stelldichein hier, Roland?“ fragte Kiesling mit seinem flüchtigen, schmalen Lächeln. „Alsdann ist Ihnen die Dame ausgerückt, wie mir scheint.“
Freidank kämpfte mit sich. Sollte er sprechen und Fritzi [S. 135] kompromittieren? Aber die beiden, die von ihm Verschwiegenheit über Fräulein Krömer erwarteten, konnten ihn vielleicht aufklären, konnten vielleicht die zermalmende Ungewißheit lösen.
„Kein Stelldichein,“ sagte er, und seine Stimme klang rauh. „Ich suchte meine — Freundin... Fräulein Fritzi .... Sie ist nicht zu Hause....“
Freidank sah den Blick des Einverständnisses, den Kiesling und Roditscheff wechselten. Also sie wußten... wußten mehr, wie er selber wußte....
Kiesling war ein verschwiegener Mensch und konnte Skandalgeschichten nicht leiden. Aber in diesem Augenblicke hielt er es für eine natürliche Anstandspflicht, Freidank zu warnen:
„Hören Sie, Roland —! Meine Affaire ist es nicht.... Aber, wenn Sie klug sind, so ziehen Sie Ihre Hände zurück ..... Wir sprechen doch, nicht wahr, von Fräulein Fritzi l’Alouette, der Chansonette. Fräulein Fritzi l’Alouette ist heute abend beim Binder.“
Und er nickte ernsthaft mit dem Kopfe. —
Freidank ließ die Faust auf den Tisch fallen. Das Blut war aus seinen Lippen gewichen, seine Augen wurden starr:
„Das wissen Sie? — das ist sicher und wahrhaftig, und nicht nur eine von den vielen Klatschgeschichten aus der Garderobe, daß es der Binder mit meiner Fritzi hat?“ —
„.... Also zeig’s ihm, Sergej,“ sagte Kiesling.
Der Russe zog ein juchtenes Portefeuille und sah mit nachdenklichem Gesicht eine Anzahl Bilder durch. Einen Augenblick hielt er das Momentbild aus der Photographenbude vom Rummelplatze zwischen den Fingern und legte es dann schweigend vor Eberhard auf den Tisch.
Das Bild stellte Fritzi inmitten ihrer beiden Begleiter dar. Sie war gar nicht zu verkennen. Den Lockenkopf mit dem kecken Pelzmützchen hatte sie zärtlich an Binders Schulter gelehnt, und Binder hielt sie fest im Arm, die Hand auf ihre zierliche Taille gepreßt....
„Ich danke Ihnen,“ sagte Freidank heiser. „Ich danke Ihnen vielmals. Ja, das ist Fritzi.“ —
Eine halbe Stunde vor Mitternacht kam Aloys Binder aus dem Odeontheater und traf an der nächsten Straßenecke Fräulein Fritzi l’Alouette. Fritzi ging bereits seit einer vollen Stunde an dem Platze auf und ab und dachte daran, daß Eberhard sie niemals hatte warten lassen. Nur flüchtig kam ihr indessen der Gedanke, heim zu gehen und den Ringkämpfer im Stiche zu lassen. Sie fürchtete sich vor diesem Menschen, der doch gegen sie bisher nur sanft und freundlich gewesen war. So wartete sie mit einem seltsamen Gemisch von Zorn und Demut im Herzen. Als Binder endlich kam, machte Fritzi ihm nachträglich Vorwürfe. Er hörte sie schweigend an und sagte nach mehreren Minuten:
„Es wird Tauwetter, du kleine Katze!“
„Was hat das mit meinem Warten zu tun?“ fragte Fritzi verblüfft.
„Nichts!“ erwiderte Binder lächelnd, indem er die Zähne zeigte, „wie lange du gewartet hast, ist mir höchst gleichgültig, du schwarzes Kätzchen! Du mußt auf mich fünf Stunden warten, wenn es mir paßt, zehn Stunden, die ganze Nacht! — Oder würdest du nicht warten?“ fügte er drohend hinzu.
„Ja....“ sagte sie eingeschüchtert und blieb nahe an seiner Seite, während er weiterging. Sie trippelte schlank und zierlich neben ihm, dann hängte sie sich an seinen Arm:
„Sag’, wohin führst du mich, Aloys?“
„Zu mir, nach Hause!“ sagte der Mann inniger, als er sonst sprach, und preßte die kleine Mädchengestalt fest und inbrünstig an seinen starken Körper.
„In kein Lokal? In kein Café?“
Sie zwitscherte, wie ein zutrauliches Vöglein, sie war so kindlich-schlau, so naiv-kokett, daß der Athlet nicht imstande war, sie grob zu behandeln.
„Mein Kind,“ sagte er freundlich, „wir würden von Roland gesehen werden, darum mußt du mit mir kommen!“
„O, Aloys! — bist du ihm böse wegen deiner Niederlage? Ich habe das Publikum darüber sprechen hören, als es das Theater verließ! — Aber dein Fall war doch vorher ausgemacht?“
„Laß das, Fritzi,“ sagte der Ringkämpfer finster. „Natürlich war es ausgemacht... Meinst du, Roland wirft mich im Ernst?“
„Dich nicht,“ erwiderte Fritzi eifrig, „so viel verstehe ich auch schon davon!“
„Gar nichts verstehst du, du kleine Katze,“ beschloß Binder die Unterhaltung und gab seiner Begleiterin einen Kuß.
Sie standen vor der Haustür. Binder führte das Mädchen ins Haus. Fritzi überwand eine letzte Bangigkeit und flüsterte:
„Ist niemand oben? Werden wir ganz allein sein?“
Der Ringkämpfer würdigte sie einer Antwort:
„Celeste ist natürlich oben. Du kennst sie ja, Fritzi!“
Madame Celeste? Sie, die doch nur Binders Geliebte war, sie war Fritzi immerhin als ein Bild alles Reinen und Hohen erschienen. Die kleine, leichtfertige Chansonette, welche das zermalmende, brutale Leben noch nicht in all seiner Raffiniertheit und Roheit kennen gelernt hatte, zitterte unwillkürlich bei dem Gedanken, als eine Sünderin [S. 139] vor den ernsthaften, reinen Augen Madame Celestes zu stehen. Binder aber, in dem alle niedrigen Instinkte wieder munter geworden waren, als er mit Fritzi durch das dunkle Treppenhaus schritt, verstand ihr Zittern falsch:
„Sie tut dir nichts, mein schwarzes Kätzchen! O nein!“ er lachte höhnisch, „im Gegenteil! — Bedienen wird sie dich, Fritzi, sie wird tun, was du verlangst....“
Zwar war er seiner Sache nicht ganz sicher, betrat aber doch mit herrischer, siegesgewisser Miene an Fritzis Seite den kleinen Ecksalon. Er war leer, aber das Glühlicht der mehrarmigen Lampe leuchtete über einem weißgedeckten Tische mit freundlich angerichteten Erfrischungen.
Binder selbst war bei diesem Anblicke betroffen. Celeste war also seinem kaum ernstgemeinten, frechen Befehle, ein kleines Abendessen für ihn und eine Dame herzurichten, nachgekommen? Und ihre Unterwerfung rührte ihn nicht, sondern machte ihn nur übermütiger. Er zog ein Pfeifchen, um Celeste wie einen Hund herbeizupfeifen. Ehe er aber den Pfiff ausgestoßen hatte, trat Celeste selbst über die Schwelle des Schlafzimmers und begrüßte Binder mit seiner Begleiterin, ohne daß das Lächeln von ihren Lippen wich...
Wahrhaftig, Madame Celeste lächelte! Das Lächeln hielt ihre schönen Lippen geöffnet, so daß die blanken, schmalen Zähne sichtbar wurden. Sie hatte die dunkeln Ringe unter ihren Augen mit Schminke überdeckt. Wie der weiße Hauch auf üppig reifen Früchten lag ein zarter Puderschleier über ihrer Haut. Sie hatte das schwarze Haar zu einer hohen Frisur anmutig aufgebaut. Ihr hoher, schlanker Leib war heute in ein rotseidenes Kleid gehüllt, halb Hauskleid und halb Festgewand. Jung, schön, bizarr und phantastisch sah Madame Celeste aus, eine reizende, geschmückte Sklavin...
Binder starrte ihr mit unverschämter Siegermiene ins [S. 140] Gesicht und sah ihr unveränderliches, seltsames Lächeln. Sie lächelte, so meinte er, aus Verlegenheit... aus Scham .... O, sie sollte noch verlegener werden! Sie sollte noch tiefer gedemütigt werden! Jetzt war er über ihre Seele Herr geworden, nachdem er längst ihres Leibes Herr geworden war. Jetzt hatte er die Macht, die feine, stolze Seele bis zur letzten Erniedrigung zu zertreten! —
„Wir setzen uns auf das Ecksofa, Fritzi,“ sagte Binder. „Du, Celeste, darfst dich mit uns zu Tisch setzen... vorausgesetzt, daß du uns dabei alles nett servieren kannst...“
„O, du wirst zufrieden sein!“ erwiderte Celeste und hörte nicht auf, zu lächeln. „Der Tee, Aloys, ist frisch und heiß, der Sekt steht auf Eis.... Was befiehlst du?“
„Erst Tee, später Sekt,“ sagte Binder. „Liebe Fritzi, greife zu, meine kleine Katze! Nimm von diesen Kaviarbrötchen, die Celeste uns bereitet hat....“
Er geriet in vortreffliche Stimmung. Den Arm um Fritzis Taille gelegt, wurde er fröhlich und begann, über seinen Kampf und seine Niederlage gegen Roland zu scherzen. Celeste, der ein natürliches Rot die Wangen färbte, hielt mit. Fritzi allein konnte sich von einem rätselhaften Grauen nicht frei machen. Denn Madame Celeste — sie war schmiegsam und unterwürfig, lieblich ohne Koketterie, freundlich ohne Hohn, und sie lächelte, sie lächelte.... Ihr Lächeln war ein wenig starr, ein wenig seltsam, wie das Lächeln schöner Wachsköpfe. Aber immerhin: sie lächelte! —
Sie hatte längst den Teetisch abgeräumt. Nun goß sie den gelblichen, schäumenden Wein in die flachen Schalen.
„Ziehe doch den Kühler heran, Celeste!“ sagte der Ringkämpfer, „und fülle die Gläser auf dem Tische!“
„Verzeih!“ sagte Celeste lächelnd, „er ist zu schwer ... Ich kann ihn nicht allein heranschieben!“
„Auch gut,“ bemerkte Binder und wendete sich Fritzi wieder zu. Fritzi taute endlich auf; sie fing an zu schäkern, ließ die kleinen Künste ihrer Gefallsucht spielen und schlang die Arme mit allerliebster Zärtlichkeit um Binders Hals.
„O, der Sekt macht dich mobil, du kleine Katze!“ rief Aloys, „wir hätten zum Essen schon Sekt trinken sollen .... Holla, mein Kind, das geht ins Blut! Celeste, stoß’ mit uns an!“
Er sprang auf und riß Fritzi mit sich in die Höhe. Er hielt die Schale in zitternder Hand, er schwang sie über den Tisch und lachte brutal:
„Stoß’ an, Celeste, auf die Liebe! Und auf ein langes, lustiges Leben!“
„Auf ein langes, lustiges Leben!“ sprach ihm Celeste nach, setzte das Glas an die Lippen und trank. Und als sie ausgetrunken hatte, setzte sie das Glas zurück, so daß der schlanke Stiel zerbrach und der Trank über den Tisch hinfloß.
„Ungeschicktes Ding!“ rief Binder grob, aber Celeste hatte von dem Mißgeschick nichts bemerkt. Ihre Leidenschaft, ihre Verzweiflung brachen eine Minute lang durch die lächelnde Maske; sie riß Binders Kopf in ihre Hände und küßte ihn wütend und fassungslos zwischen die dunklen, starken Augenbrauen....
„Nein, heute nicht! heute nicht, Celeste!“ rief Aloys, „siehst du nicht diese kleine Katze hier, die schon müde wird? Meinst du, ich habe mir die Fritzi nur zum Soupieren mitgebracht? O nein... Sie wird müde... Das eine Glas Sekt, komisch! Aber ich werde auch schon müde... Merkwürdig, Celeste!.... Schenk’ uns ein, Celeste, schenk’ ein!“
Und die junge Frau mußte wieder und abermals die Schalen füllen. —
Aber ein Geier mit grauen Flügeln breitete seine weiten Schwingen über dem Zimmer aus, bis sich das Licht vor den Augen des zechenden Liebespaares verdunkelte. Wie? brannte das Glühlicht so trübe oder sanken den Verliebten die Lider immer wieder über die Augen? Wer wird so müde nach einigen Gläsern Champagner? Celeste trank doch auch! Aber ihre Augen wurden immer heller; ihre schwarzen Augen brannten, wie von einem inneren Licht verklärt. Sie lächelte noch immer, das Lächeln war um ihre Lippen geschmiedet ....
„Hol’s der Teufel, ich kann nicht länger wachen!“ rief Binder und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Der Halunke, der Roland, ist schuld daran. Anders kann ich mir’s nicht erklären! — Aber wir wollen es wettmachen, wir wollen es ausgleichen.... wir wollen in seinem Revier pürschen... Wie, meine kleine Katze! mein kleiner Hase! bist du auch so müde wie ich? — Celeste, kleide die Kleine aus!“
Celeste stand langsam auf. O, sie tat auch das noch. Viel war es ja nicht mehr....
„Wird’s bald?“ schrie der Ringkämpfer grob, „oder willst du mir erst die Peitsche bringen?“
„Aber, Liebling!“ erwiderte Celeste lächelnd, „aber, Liebling! Warum sollte ich dir nicht den Gefallen tun?“
„Recht so, Celeste! O, ich habe immer gewußt, daß du gehorchen lernst! — Du bringst den kleinen Hasen auch zu Bett, Celeste!“
„Ja, ich bringe den kleinen Hasen auch zu Bett,“ wiederholte Celeste, „und dich bringe ich auch zu Bett, Aloys, dich auch!“
Diese Müdigkeit! Sie warf den starken Menschen einfach um. Aber ihm war pudelwohl dabei, so wohl! Blinzelnd sah er zu, wie Madame Celestes schlanke, ge [S. 143] pflegte Hände die Chansonette auskleideten. Die schöne Aristokratin kniete ohne Zögern nieder, um Fritzis Knopfstiefel zu lösen, ihr die Strümpfe auszuziehen.... Sie holte eins von ihren eigenen Nachthemden aus mattweißer Waschseide herbei und zog es Fritzi l’Alouette an. Sie führte die Buhlerin ihres Geliebten selbst ins Schlafgemach ...
Fritzi blickte sich schlaftrunken, mit lüstern geöffnetem Mündchen, um:
„Und du, Aloys?“
„Ich komme,“ sagte Binder, „Celeste muß mir auch helfen... mich auch bedienen... Ich bin zu müde...“
Fritzi sank auf die Kissen und schlief sofort. Celeste kehrte zu Binder zurück. Und da sie ihn nun allein sah, um den sie ihren Gatten, ihre Ehre, ihr Vermögen und alles geopfert hatte, wurde sie eine Sekunde lang weich. Wie vom Blitz getroffen, stürzte sie Binder zu Füßen, preßte ihre Lippen auf seine muskulösen Hände, beugte den Kopf auf seine Kniee...
„Was treibst du für Firlefanz!“ schrie Binder erbost. „Dummes Weib, was willst du von mir! Zieh’ mir die Stiefel aus, schnell...! Du bist meine Magd, du bist meine Sklavin... vergiß das doch nur nicht.... Zieh’ mir die Socken ab, Celeste....!“
Ihre Weichheit war erstarrt, wie glühendes Eisen, wenn es in kaltes Wasser fällt. Er wollte es nicht anders ... er wollte es nicht anders!
Er schlief schon fast, als er, auf ihren Arm gestüzt, ins Schlafzimmer trat. Die rosa Ampel erhellte das Gemach mit mildem Schein. Fritzi schlief sanft und unbeweglich. Celeste bettete Aloys an ihrer Seite und deckte beide Schläfer mit der seidenen Steppdecke zu.
Aloys Binder lag regungslos im Schlafe. Kein Zug des [S. 144] unschönen Gesichts bewegte sich. Madame Celeste hatte einst die starke, urwüchsige Raubtierähnlichkeit dieses Antlitzes geliebt. Jetzt betrachtete sie mit dem tiefsten Haß die schmale Stirn unter der kräftigen, braunen Haartolle, die groben Backenknochen, die spitze Nase, das spitze und doch starke Kinn, welches abnorm weit vorgeschoben war. Sie prägte das häßliche, hochmütige Gesicht in ihr Gedächtnis ein, wie man das spitze Eisen in die wächserne Schreibtafel drückt, und ihr tödlicher Haß grub unauslöschliche Linien in das Gedächtnis.....
Celestes Lächeln war nun erstorben. Die junge Frau ging in den Ecksalon, wo die schalen Reste des Weins in den Gläsern standen. Sie wollte einen Schluck trinken, aber sie vermochte es nicht. Sie ging ans Fenster, zog den Vorhang zurück, öffnete das Fenster und sah hinaus. Sie wußte nicht, daß Eberhard Freidank unten stand und mit heißen Blicken hinaufspähte.
Der Kopf war ihr schwer, die Haare lasteten ihr mit unnatürlicher Wucht auf dem Schädel. Celeste schloß das Fenster und ihre Ruhe kehrte zurück, als sie sich dem Zimmer wieder zuwendete. Dort im Champagnerkühler lagen die weißen Papierhüllen, aus denen sie Trional in den Wein geschüttet hatte. Sie kannte die unfehlbare Wirkung des Schlafmittels, welches den stärksten Menschen mit tödlicher Sicherheit in Morpheus’ Arme zwingt. Der Arzt hatte es ihr gegen Schlaflosigkeit verschrieben. Ach, ihre Schlaflosigkeit hatte Gründe gehabt, gegen die man nicht mit Trional ankämpft. In diesen langen, schlummerlosen Nächten voll Sehnsucht, Scham und Reue war Celestes Seele, die von sinnlicher Lust eingeschläfert war, grauenvoll erwacht. Sie war nun wach, so furchtbar wach, daß sie wußte, sie würde niemals mehr Ruhe finden. Nun sollte der Genosse ihrer Schuld schlafen, schlafen.
Die junge Frau zog die Haarnadeln aus ihrer Frisur und ließ die Haare lose niederhängen. Dann spürte sie die leise Reibung des Haares an ihrer bloßen Haut. Sie dachte daran, wie einst ihr Gatte, den sie verlassen hatte, und nach ihm Aloys Binder, das volle, schwarze Haar geliebt hatten. Wie hatte sie Aloys in heimlichen Stunden süßer, ehebrecherischer Zärtlichkeit in ihre Haare eingehüllt und eingesponnen, wie hatte sie ihm die schönen Strähnen um Hals und Arme gewickelt und die dunkle Woge ihres Haares als einen Schleier über ihn gebreitet! Jetzt war ihre Liebe zertreten und ihr Herz ausgebrannt. Celeste warf einen unwillkürlich flehenden Blick rund um sich her, sie bog die Kniee, sie lag auf den Knieen, rang die weißen Hände und schluchzte lautlos:
„O Gott, o Gott, ich kann nicht anders, ich darf nicht anders, nun hilf mir, Herr Gott!“
Es kam ihr nicht zum Bewußtsein, daß sie Gott lästerte. Ihr war es, als wäre von dem lästerlichen Gebete Kraft von oben zum schweren Vollbringen in ihr Herz geflossen. Mit finsterem Entschlusse stand sie auf.
Im Schlafzimmer goß die Ampel ihr sanftes Rosenlicht auf Aloys und Fritzi l’Alouette. Fritzi hielt noch im Schlafe kokett den Arm erhoben, auf dem ihr zierliches Haupt ruhte. Binder schlief nach seiner Gewohnheit auf dem Bauche liegend.
Celeste griff — sie hatte es so lange überlegt! — nach einem der damastenen Handtücher und legte es mit Händen, die nicht zitterten, um Aloys Binders Hals. Dann knüpfte sie die Enden zusammen. Sie wollte ihn in der Handtuchschlinge erwürgen. Sie fing an zu drehen. Binder schlief so fest, todesähnlich... Er spürte nicht, daß sie ihn würgte.... Dann ließ die Kraft ihrer Hände nach, sie suchte nach einem Knebel. Ein buchener Kleiderbügel, der [S. 146] zufällig auf dem Nachttische lag, war ein passender Knebel zum Drehen der Schlinge. Celeste drehte mit wilder Kraft, denn jetzt — jetzt zuckte Aloys Binder, jetzt erwachte er unter dem mörderischen Drucke der Schlinge, jetzt setzte seine Gegenwehr ein..... Oder waren es nur die konvulsivischen Zuckungen des Todeskampfes?
Die kleinen, tückischen Augen! sie quollen groß aus den Höhlen, sie schauten auf Celeste mit einem gräßlichen Blick; Schaum trat aus dem Munde, und unter einem fürchterlichen, knarrenden Gurgeln ging die bläuliche Zunge des Erwürgten aus dem Halse hervor. Celeste wendete sich ab und drehte, drehte.... drehte die Schlinge.... drehte.....
*
*
*
In der Morgenfrühe wurde wild an Aloys Binders Wohnungstür geklingelt. Eberhard stand draußen und riß fast die Schelle ab. Niemand öffnete ihm. Der helle Ton sprang von dem Korridor in die Zimmer, hüpfte auf das breite Doppelbett im Schlafzimmer und weckte Fritzi aus törichten, lüsternen Träumen. Schon Morgen? — Und wo — wo war denn Aloys Binder? Hier war er, neben ihr... Er hatte geschlafen, wie sie....
Fritzi rieb sich die Augen, richtete sich auf und sah mit ihrem ersten klaren Blick gerade in die erstarrten, offenen Totenaugen des Erwürgten. Sie stieß einen entsetzlichen, gellenden Schrei aus und sank, von allen Schauern des Todes gepackt, auf das Bett zurück. Sie wagte nicht einmal, sich von der Leiche fort zu rühren. Sie hatte die Beine an den Leib gezogen und lag halb kauernd auf dem Spitzenkissen, während ein mörderisches Grauen ihre Glieder und ihre Zunge lähmte. Käme doch nur noch einmal der Klingelton, so würde sie wagen, sich aufzuraffen! Alles blieb still...
Dann wurde draußen die Tür vom Schlosser geöffnet. Eberhard hatte die Wirtin, welche den gräßlichen Schrei vernommen hatte, herbeigerufen, und man hatte die nahe Polizei alarmiert. Ein Polizeiwachtmeister kam mit zwei Schutzleuten. Ihre harten Schritte schallten über den Flur und stampften in den Ecksalon hinein.
„Im Namen des Königs!“ rief der Polizeiwachtmeister laut und drang mit seinen Untergebenen in das Schlafzimmer ein. Eberhard und die Wirtsfrau folgten ihnen.
Auf dem Bette kauerte Fritzi wie erstarrt, mit glühenden Augen, und neben ihr lag, wie ein verendetes Tier, die Leiche Aloys Binders. Das Gesicht des Ringkämpfers war mit blauen Flecken bedeckt, sein Haar stand borstig in die Höhe und zwischen den blauen Lippen hing die Zunge, zerbissen und blutig.
Auf dem Teppich vor dem Bette hockte Madame Celeste. Sie hatte ihrem Opfer die Totenwache gehalten. Die Nacht lang, bis der Morgen graute, hatte sie sich an dem Anblick des entstellten Gesichts geweidet. Merkwürdig, wie dieses Antlitz sich verändert hatte, als gegen Morgen die Ampel blasser brannte und der graue Tag auf die scharfen, unschönen Züge fiel! Celeste hatte kein Auge von Binders Angesichte abgewendet. Sie spürte nichts, als die gewaltige, satte Befriedigung des Raubtieres, welches seine Gier in Blut gestillt hat.
Ein höherer Polizeibeamter trat ein, er brachte den kleinen Pendelschlag des Alltags in die große Tragödie. Er kam, um festzustellen, zu vernehmen....
Fritzi hatte eine Bettdecke um ihren schlanken Leib gezogen: sie zitterte vor Frost, blickte aus entsetzten Augen auf die fremden Menschen, konnte all das Grauen noch kaum fassen und schluchzte wie ein Kind. Sie schämte sich... vor Eberhard... vor den Beamten... vor den [S. 148] fremden Männern.... aber am allermeisten vor Eberhard ....
Madame Celeste allein saß ruhig mit untergeschlagenen Beinen auf dem geblümten Bettvorleger. Ihr Kleid floß weich und unzerzaust um ihre Gestalt. Die Haare hingen wie dünne Schlangen um ihre Schultern. In dem schmerzverwüsteten Gesicht lebten nur noch die Augen, die trauerten, daß ihnen ein großes Unrecht geschehen war.
Sie sprach auch nicht anders, als daß ihr Unrecht angetan war:
„Meinen Namen? Den wissen Sie ja. — Ob ich....? Ja. Ich habe ihn... ihn... Aloys Binder... erdrosselt. Ja. Warum? Was geht das Sie an? Es war nur Revanche ... Revanche.... Erst hat er mich erdrosselt.... dann habe ich ihn erdrosselt. Sie glauben das wieder nicht, weil ich mit Ihnen rede. Aber er hat mich erdrosselt, seit Jahren schon.... Mehr als das. Zertreten hat er mich, in Stücke gerissen... Was wollen Sie wissen? —.... Streit?... Wir haben keinen Streit gehabt, nein. Ich habe ihn mit seiner Geliebten zu Bett gebracht.... erst die Geliebte, dann ihn... und dann... habe ich ihn erwürgt, ja. — Ich? Reue?....“
Celeste lachte, ein schreckliches, klirrendes Lachen.
Sie hatte den Verstand verloren.
Dann waren sie alle fort. Man hatte Fritzi l’Alouette gestattet, sich anzukleiden und in ihre Wohnung zu gehen. Selbst schwankend, wie ein Trunkener, ergriff Eberhard Freidank Fritzis Arm und führte sie fort.
„Eberhard!“ begann sie schüchtern, indem sie sich wie ein Kätzchen an seinem Ärmel rieb, „Ebi... lasse dir erklären ...“
„Spare deine Erklärungen,“ sagte er langsam. „Dazu ist es zu spät. Ich bin dir nicht böse. Du bist eben eine [S. 149] Dirne... Du hast eben einen ganz erbärmlichen, jämmerlichen Charakter... Darüber ist nichts zu heulen, Fritzi! Ich nehm’ dich, wie du bist.... Es wäre dumm, dir aus deiner Niederträchtigkeit einen Vorwurf zu machen....“
„Der Aloys....,“ sprach Fritzi weinend, „der Binder....“
„Hör’ auf!“ unterbrach der Ringkämpfer sie brutal. „Der Binder.... er ist tot.... Verstehst du, Fritzi, er ist tot für mich! Ich will ihn nie mehr in deinem Munde hören.... Du erbärmliches, niedriges Ding! Du Nichts! Du Dirne!! —“ er rüttelte mit seinen Eisenfäusten an ihrer schlanken Schulter, „versteh’ mich, der Binder ist tot!“
„Hören Sie, Roland!“ sagte Thyssen zu Eberhard Freidank, „ich habe mir da von Immermann allerhand über Sie erzählen lassen. Sie sind Student oder Schriftsteller, oder?!“
Eberhard sah einen Augenblick finster vor sich hin und erwiderte:
„Ich war. Das ist endgültig abgetan.“
„Das ist ein Wort!“ sprach Thyssen. „Ihre Gründe gehen mich natürlich nichts an.... nein, ich frage nicht danach. Sie wollen also Ringkämpfer bleiben. Sie sind zwar noch neu... das schadet aber nichts...“
Die Athleten wußten untereinander nicht genug Gehässiges von Thyssens Geiz und Eigennutz zu erzählen. Alle paar Tage kursierte eine neue Anekdote, wie Thyssen versucht haben sollte, die von ihm engagierten Ringkämpfer zu übervorteilen. Darum horchte Freidank auf, was Thyssen ihm für Vorschläge machen würde.
„Der Binder ist aus der Konkurrenz heraus,“ fuhr Thyssen fort. „Schade um ihn! Er schlug eine meisterhafte Pirouette... Auch der Skandal um seine Ermordung war ja übel... Aber.... Was wollen Sie, dergleichen bringt das Geschäft so mit sich! Die kleine, schwarze Chansonette, der Sie wohl inzwischen den Laufpaß gegeben haben, war nicht daran schuld, wenn sie auch eine sehr verliebte kleine Krabbe ist... Nun, das sind alles Privatangelegenheiten! [S. 151] Das interessiert mich nicht! Hauptsache: Binder ist heraus. Er war als voraussichtlicher dritter Preisträger engagiert...“
Thyssen brach ab und spielte mit seinem Portefeuille. Er ordnete die Reichskassenscheine darin nach Farben und Jahrgängen. Dazwischen sagte er unvermittelt:
„Sollte man es glauben? — Ihre Freundin, die kleine Fritzi, behauptete neulich, noch keinen Tausendmarkschein zu kennen. Ein so hübsches Mädchen... keinen Tausendmarkschein ....“
Eberhard blickte abwartend vor sich hin auf das dunkelgraue, polierte Tischchen des Kaffeehauses. In drei und einer halben Woche unter den Ringkämpfern hatte er gelernt, sich nicht mehr aufzuregen, wenn seine Geliebte in die Unterhaltung gezogen wurde. Thyssen begann wieder:
„Ich Erster, nicht wahr. Meinken Zweiter. Binder Dritter. — Nun brauche ich doch einen andern Dritten, nicht wahr...“
Eberhard sah den Weltmeister an; das Blut schoß ihm ins Gesicht bis über die hohe Stirn, seine Augen strahlten:
„Und das sollt’ ich sein? Ich?“
„Warum denn nicht,“ sagte Thyssen. „Wer denn sonst?“
„O....,“ Eberhard errötete abermals vor Stolz und froher Überraschung, „Muyden..., Roditscheff..., Gomez..., Forgeron..., Petrocchi..., Kiesling...“
„Sie werden alle zweiundzwanzig aufzählen,“ sprach Thyssen ironisch. „Aber Sie sind neu... Sie wissen auch noch nicht recht Bescheid unter unsern Leuten. Darum werde ich Ihnen mal explizieren, warum die alle nicht in Betracht kommen. Muyden ist nie Dritter, verstehn Sie, nie... Entweder Erster oder gar nicht... Kurz, Muyden zieht sich heute abend, beim Ringen mit dem ohnehin unbeliebten Spanier, eine Muskelzerreißung zu, wird von der Bühne getragen und reist ab. — Gomez... der grobe [S. 152] Patron? Das Publikum würde ihn mit Bierseideln werfen... Forgeron, einen Franzosen? Ausgeschlossen. Wir sind doch Patrioten, nicht? — Petrocchi, Preisträger? Er hat ohnedies den Größenwahn, weil sein Hals 52 Zentimeter dick ist und geht mit dem Plane um, eine eigene Tournee zu begründen... Kiesling aber ist in meinen Augen ein Lump. Ich kann den Kerl nicht leiden. Und Roditscheff ist sein Freund, verstehen Sie. Ich kann die beiden Kerle nicht leiden...“
Das sagte er ohne Begründung, Haß in Augen und Stimme.
„Bleiben Sie ,“ fuhr Thyssen fort. „Sie wissen, daß auch ein seriöser Geldpreis damit verbunden ist. Aber das ist nicht die Hauptsache. Es ist wegen der Reklame. In meiner Konkurrenz Dritter, als Neuling — das leuchtet Ihnen ein, was Sie dadurch für Ihre Karriere profitieren...“
„Das würden Sie...?“ sagte Freidank stammelnd, „das wollten Sie...?“
Er griff nach Thyssens Hand, die schön und fest auf dem Tische lag, und preßte sie in ehrgeiziger Leidenschaft:
„Herr Thyssen! — und wodurch könnte ich das wettmachen? Was könnte ich Ihnen denn dafür...?“
Thyssen zögerte. Leicht wurde ihm die Antwort nicht, diesem anständigen und freudestrahlenden Jüngling gegenüber. Aber dann — weshalb hätte er sonst das Gespräch bis auf diesen Punkt gebracht? Er handelte doch schließlich auch sehr anständig, er bot Freidank einen Vorteil, der des Preises wert war...
„Ihre verflossene... oder halbverflossene Fritzi...,“ sagte er.
Eberhard war betroffen, nicht beleidigt. Wie? Fritzi, welche durch ihre Beteiligung an dem großen Skandal so stark kompromittiert war, daß sie kaum unbehelligt durch die Straße gehen konnte, sie gerade hatte das Wohlgefallen [S. 153] des wählerischen, exklusiven Champions erregt? Er wunderte sich selbst, daß sich keine Eifersucht noch Zorn über die Zumutung, eine Geliebte um den dritten Preis zu verschachern, in seinem Herzen regte. Er freute sich nur, daß er sie los wurde! —
Er verbarg sein spöttisches Lächeln und sagte:
„Abgemacht! — ich werde Dritter und Sie nehmen Fritzi l’Alouette — zu Deutsch die Lerche. Hoffentlich singt sie Ihnen ein netteres Lied vor, als mir... und dem Binder...“
„Ach, Sie verekeln sie mir nicht —!“ erwiderte Thyssen, „ich bin ein wenig resigniert... Vorgänger stören mich nicht mehr... Kein Mensch findet, was er sucht. Ich, wissen Sie, ich liebe die Kleinen, Schlanken, Zarten... Ich liebe sechzehnjährige Jugend... Und gerade diese Kleinen... es gehört Zeit dazu, in ihnen die Liebe zu erwecken. Diese Zeit habe ich nicht, nirgends... Da helfe ich mir mit Surrogaten... Fritzi l’Alouette — sie hat so schmale Schultern, so kindliche Hüften... so naive Händchen... sie tanzt so rührend ungeschickt...“
So war Fritzi l’Alouette Thyssens Freundin und Begleiterin geworden, zwei Tage vor Beginn des neuen Jahres, eine Woche nach Aloys Binders elendem Sterben. Die „fröhliche, selige“ Weihnachtszeit lag dazwischen. Eberhard hatte es nicht über sich gewonnen, die festlichen Tage mit Fritzi zu verleben. Am Weihnachtsabende, als das Theater geschlossen war, hatte er allein zu Hause gesessen und trüben Gedanken nachgehangen, bis Frau Ambrosius an seine Tür geklopft und ihn gebeten hatte, an ihrer Weihnachtsfeier teilzunehmen.
Die Damen Ambrosius hatten einen kleinen, hübschen Tannenbaum nur mit wächsernen Engelchen und Kerzen aus weißem Wachsstock aufgeputzt. Als die Lichter freundlich [S. 154] brannten, kam Freidank dazu und schämte sich, daß er mit leeren Händen kam. Aber das Beschenken war nicht Mode bei Mama Ambrosius. Man freute sich einfach an einem gut zubereiteten, hübsch servierten Mahle, am Glanz der Flammen, dem herben Waldduft der Tanne und dem süßen Honigduft des heißen Wachses. Schließlich hatte Therese doch, ein wenig verschämt, ein Monogramm herbeigeholt, welches sie in ihren Freistunden mit Goldfäden auf schwarze Seide gestickt hatte. Es war sehr nett, sehr gemütlich und festlich gewesen, und Eberhard hatte sich in dieser Atmosphäre von bürgerlicher Behaglichkeit und Wohlanständigkeit den ganzen Abend lang sehr wohl gefühlt, bis Mama Ambrosius den Fehler beging, von Adolf Tönnies zu sprechen.
Tönnies hatte sich natürlich nie mehr blicken lassen, zum großen Schmerze von Mama Ambrosius, die ihn als einen annehmbaren Verehrer Thereses estimierte. Als Therese auf einige Minuten in die Küche gegangen war, scheute sich Frau Ambrosius nicht, offen mit Eberhard über diese Idee zu sprechen:
„Er ist noch jung, Herr Freidank! Genau so alt, wie Therese. Aber immerhin... sie könnten warten... Therese hat inzwischen ihr sicheres Brot! Ein studierter Mann, Herr Freidank, ist ein studierter Mann.... Was sagen Sie dazu?“
„Sie haben recht, Frau Ambrosius,“ sagte der Ringkämpfer kalt. „Nur hoffe ich von Fräulein Thereses gutem Geschmack, daß sie nach der Zuneigung wählen wird und nicht nach dem Studium.“
„Begeben Sie sich an das Studium meiner selbstgebackenen Weihnachtskringel!“ rief Therese, die beim Eintreten das letzte Wort gehört hatte, und stellte mit dem Erscheinen ihrer frischen, gesunden und heiteren Persön [S. 155] lichkeit die gute Laune wieder her. Aber Eberhard war nicht mehr recht froh geworden. Er gönnte Therese keinem jener falschen Freunde, die ihn ausgeschlossen und verstoßen hatten. Mit bitterem Gefühl bedachte er, daß Mama Ambrosius Lust hatte, ihre Tochter für diesen Tönnies aufzusparen, für diesen engherzigen Menschen das blühende, lebenslustige Mädchen zu reservieren und einzusperren...
In den Feiertagen hatte er alle früheren Bekannten gemieden und nur einige Zechgelage der Ringkämpfer mitgemacht. Es war aber kein Vergnügen. Sobald es ans Trinken kam, gaben sie sich sämtlich der ärgsten Ausschweifung hin. Am schlimmsten trieben es jeweils Sala ben Brahim, der Mohammedaner, und der „Stier von Granada.“ In der näheren und weiteren Umgebung des Odeontheaters war Manuel Gomez wegen seiner Trinksitten in allen Bierlokalen und Kaffeehäusern gefürchtet, seit er aus Wut über einen Kellner, der ihn nicht schnell genug bedient hatte, mit einem einzigen Fausthiebe eine starke, marmorne Tischplatte in drei Stücke geschlagen hatte. In einem andern Lokal hatte er ein Stuhlbein abgerissen und sämtliche Gäste hinausgejagt, weil der Wirt dem bis zur Sinnlosigkeit Berauschten nichts mehr verabreichen wollte. Den Wirt und die Kellner hatte er bis unter das Büfett gejagt, wo sie zitternd hockten und um ihr Leben baten. Als endlich ein Schutzmann erschien, trieb Manuel auch diesen mit dem drohend geschwungenen Stuhlbein in die Flucht und ging dann, die Jockeimütze auf dem schwarzen Lockenkopf, die riesigen Tatzen in den Taschen der großkarrierten Hose, als Sieger unbehelligt nach Hause.
Mit diesen Kameraden wollte Freidank nicht Silvester feiern und ließ sich von Mama Ambrosius einladen. Nachmittags ging er aus und schickte einen dicken Karpfen, braune, verzuckerte Silvesterpfannkuchen, Konfekt und alle [S. 156] Zutaten zu einem kräftigen Punsch ins Haus. Abends hatte er nicht zu ringen und kam zeitig aus dem Theater. Man hatte seine Sendung vergnügt und ohne Ziererei angenommen und eine appetitliche Festmahlzeit zubereitet. Als um Mitternacht der Punsch in einer porzellanenen Suppenterrine brennend auf den Tisch kam, als die Gläser gefüllt waren und die Frauen mit ihrem Gaste auf alles Gute im neuen Jahre anstießen, meinte Eberhard, seit undenklicher Zeit nicht so glücklich gewesen zu sein. Vielleicht bestand auch sein Glück nur in dem Hauche von Gesundheit und Jugendfülle, der von Therese Ambrosius ausging und sich wohltätig an Freidanks überreizte Nerven anschmiegte.
Sie hatte eine helle Bluse an, die den Hals frei ließ, und ihre braunen Zöpfe waren als einfacher Kranz rund um den Kopf gesteckt. Sie sah heute nicht wie eine Diana aus, sondern wie ein hübsches, lustiges junges Mädchen. Eberhard vergaß die Schatten des Todes, unter denen seine Liebe zu Fritzi in Asche zusammengesunken war, und gab sich ohne Nebengedanken dem Reize dieser ungefälschten Behaglichkeit hin. Zum Überflusse tat ihnen Mama Ambrosius, die an starke Getränke nicht gewöhnt war, absichtslos den Gefallen, in ihrer Sofaecke einzuschlummern. Sie hatte die verarbeiteten Hände über dem altmodischen Grünseidenen gefaltet und lächelte im Schlaf.
Dann wollte Eberhard frisch eingeschenkt haben und hielt Therese sein Glas hin. Lachend griff sie nach der Suppenkelle, die als Schöpflöffel diente, und füllte das Glas. Als sie es zurückreichte, hielt er ihre Hand fest und bat sie, den ersten Schluck zu trinken. Er trank an derselben Stelle, wo ihre Lippen geruht hatten, und als sich ihre Augen dabei trafen und Eberhard ihre natürliche Verlegenheit sah, nahm er die liebliche Stunde wahr und küßte Fräulein Therese Ambrosius.
Therese war zweiundzwanzig Jahre alt, und sie hatte bis zu dieser Silvesternacht nie geküßt. Von ihren Lippen ging ein reizender, frischer Hauch aus, der Hauch naiver, jungfräulicher Sinnlichkeit. Der junge Mann konnte sich an diesem blühenden Munde mit den gesunden, klaren Zähnen nicht sattküssen, er legte den Arm um Thereses Schulter und zog sie nah, noch näher, er bog den wohlgestalteten Hals zurück und fand kein Ende des fröhlichen Kusses, und da endlich spürte er den sanften Gegendruck von ihren Lippen.
Aber im nämlichen Augenblicke löste sie sich schnell und kraftvoll aus seinen Armen, trat einen Schritt zurück, streckte die Hände zur Abwehr vor und sprach bestürzt:
„O, was tun Sie da? — Was haben wir getan?“
„Fräulein Therese —,“ sagte er, „liebe Therese!“ Und er wollte sie wieder an sich ziehen. Aber Therese schaute ihm mit Schrecken und Abwehr ins Gesicht und stammelte:
„O — nein! Tun Sie das niemals mehr! O Gott, das ist eine Sünde!“
„Liebe Therese!“ sagte er milde, „gegen wen wäre das Sünde, daß Sie gut zu mir sind?“
Das junge Mädchen zögerte, sah ihn zweifelnd an, und Tränen stiegen in ihre Augen; dann deckte sie die Augen mit der Hand und flüsterte:
„Es wäre Sünde gegen Ihre Braut.“
„Ich habe keine Braut mehr, Therese,“ sprach er und seine Stimme zitterte, „und die Sie meinen, Therese, verdient nicht, von Ihnen genannt zu werden. Fragen Sie nicht, wenn Sie es nicht wissen, und bemitleiden Sie niemanden, Therese... Schenken Sie Ihr Mitleid dem armen Wandersmann, der vor Ihnen steht und um Ihre Güte bittet...“
Therese wollte sagen: so schnell machen Sie sich von Banden und von Treue los? Aber sie brachte das harte [S. 158] Wort nicht über die Lippen, als sie ihm in die aufrichtigen Augen sah. In denen stand Schmerz und Erschütterung über die jüngste Vergangenheit, und neue, freundliche Hoffnung. Und ein Lächeln schwebte um seinen Mund, das war so rein und liebevoll, daß Therese vertrauensvoll ihre Arme freiwillig um seinen Hals schlang und ihm im Sturme heißer Jugend seine Küsse wiedergab.
Dann kamen freundliche Tage und Abende voll Liebe und Heimlichkeit. Wenn Freidank und Therese sich in der Wohnung begegneten, sahen sie einander nur an und lächelten, ein liebes Lächeln des Einverständnisses. Zum ersten Male in ihrem Leben hatte Therese vor ihrer Mutter ein verliebtes Geheimnis. Zum ersten Male kam sie unregelmäßig aus dem Telephondienste nach Hause. Er holte sie aus dem Bureau ab und sie ging mit ihm spazieren, stolz von ihm am Arme geführt.
Einmal fragte sie ihn nach seinen Kollegen. In übermütiger Laune ging er mit ihr in das Kaffeehaus, wo die Athleten nachmittags saßen und Karten spielten. Einige spielten mit fremden Herren, reichen Kaufleuten, Offizieren in Zivil und Bankiers, die sich eine Ehre daraus machten, an die berühmten Champions Geld zu verlieren. Denn die Fremden verloren immer. Die Athleten spielten mit ihren Partnern Hazard mit zwei Spielen französischer Karten. Die Spielregeln waren, wie es den Anschein hatte, merkwürdig primitiv. Die Anfänger lachten darüber und behaupteten, das Spiel wäre harmloser wie Sechsundsechzig. Aber wenn sie einige Stunden gespielt hatten, waren sie auf die primitivste Weise ein kleines Vermögen losgeworden.
Thyssen spielte mit Kiesling. Sie haßten einander, aber die Leidenschaft für die Karten trieb sie immer wieder zusammen. Heute hatte Kiesling beharrlich Unglück. Seine schmalen Lippen waren fest aufeinander gepreßt, seine Augen [S. 159] waren ganz klein und von den Lidern fast bedeckt. Die Passion des Spiels hatte in das hübsche Gesicht des jungen Mannes tiefe, häßliche Furchen gezogen.
Roditscheff, der nur selten spielte, ging an Kiesling heran und sagte halblaut:
„Höre auf, Paul! Du weißt, daß du von ihm nichts erbst.“
Kiesling erwiderte mit einem schmalen, bitteren Lächeln:
„Deine Warnung kommt schon wieder zu spät. Ich bin bereits blank.“
In allen andern Dingen vernünftig und besonnen, konnte Kiesling der Spielwut nicht widerstehen. Er kämpfte einen kurzen Kampf mit sich selbst und fragte mit gezwungenem Lächeln:
„Würdest du mir Geld zu ein paar Revanchepartien bergen, Thyssen?“
Thyssen schob seinem Spielgegner wortlos, scheinbar ohne zu zählen, ein Häufchen Goldstücke zu, und das Spiel begann von neuem.
„Mit Verlaub!“ sagte Roditscheff, der seinen Freund willenlos in die Krallen des Spielteufels zurücksinken sah, und nahm an Eberhards Tische Platz.
„Sie spielen nicht?“ fragte Therese Ambrosius freundlich, nur um etwas zu sagen, als Eberhard den Tisch einmal verließ, um mit einem Herrn zu reden.
„Ich denke nicht daran,“ erwiderte Sergej verächtlich. „Ich nehme den Brüdern, die sich auf die Bekanntschaft mit Ringkämpfern etwas einbilden, ohne die bunten Blättchen und ohne alle Aufregung das Geld ab...“
„Das können Sie?“ fragte Therese naiv.
„Natürlich!“ lachte Sergej, „und wenn du es heute noch nicht kannst, so lernst du es noch, Thres’!“
Fräulein Ambrosius sah erstaunt auf. Sie glaubte nicht recht gehört zu haben. Da kehrte Freidank zurück und brach wenig später mit seiner Freundin auf. Draußen hängte sie sich fest an seinen Arm und sagte:
„Sie sind nicht wie du, du gehörst nicht zu ihnen...“
„Wer denn?“ fragte er lachend, „meine Kollegen? Sie sind nicht schlimm, Therese! Sie sind nur rauh... Sie sind so stark und glauben darum, sich über manches hinwegsetzen zu dürfen. Sie dürfen es auch. Man rechnet es ihnen nicht schwer an...“
Therese sprach von etwas anderem, aber der kleine Zwischenfall hatte sie doch nachdenklich gemacht. —
Zu schnell vergingen die Tage; die Scheidestunde rückte näher. Sie versuchten beide, sich den nahen Abschied aus dem Sinne zu schlagen, aber alle Sorglosigkeit konnte nichts daran ändern, daß am zehnten Januar die letzte Entscheidung fallen sollte. Thyssen, Roland, Kiesling, Roditscheff, Meinken und Gomez waren als die sechs Besten übriggeblieben; die Kämpfe des letzten Abends mußten die drei endgültigen Sieger ergeben.
Im Theater war heute eine festlich gehobene Stimmung. Im Vestibül prangten drei große, breite Lorbeerkränze mit seidenen Schleifen in den Landesfarben, welche Direktor Immermann den Siegern spendete. Sportsleute und vornehme Freunde der Athleten hatten ebenfalls Kränze und silberne Geräte zur Ehrung der Sieger gesandt. Der herbe Lorbeerduft zog kräftig durch das ganze Haus.
Die Zuschauer fieberten auf die endgültige Entscheidung. Mancherlei Bande, sündige und ehrbare, verknüpften heute die Starken auf der Bühne mit ihren Bewunderern im Saal und in den Logen. Thyssen konnte seine Verehrer, Herren und Damen, nach Dutzenden zählen. Ihm, der unbesiegt war, sprach die allgemeine Erwartung den ersten Preis zu. — [S. 161] Um Roditscheff zu sehen, waren viele vornehme Russen und Sportsleute der höheren Stände erschienen. Junge Männer aus den ersten Familien, darunter ein junger Erzherzog, hatten sich diese sechs Wochen lang um seine Gunst bemüht. Aber eine unberechenbare Laune hatte ihn, den Ungetreuen, diesmal an Fräulein Krömer gefesselt, welche ihm überdies freiwillig so kostbare Geschenke gemacht hatte, daß sein ausgeprägter Erwerbssinn völlig zufriedengestellt war.
Mama Ambrosius und ihre Tochter hatten Parkettplätze inne. Therese freute sich jetzt leidenschaftlich an der unverhüllten Schönheit ihres starken Freundes, während die Mama jedesmal von neuem indigniert war, ihren Mieter im prallsitzenden Trikot zu erblicken.
Er war heute in Grün gekleidet, die Kniee von grauem Gummistoff geschützt, die Füße mit hohen, weichen Lederstiefeln bekleidet. Sein blondes Haar war kurz geschoren, seine norddeutsche helle Haut leuchtete in Jugend und Gesundheit.
Er bildete mit Manuel Gomez das erste Paar. Seltsam stach seine blonde Schönheit von der düsteren Erscheinung des „Stiers von Granada“ ab, der mit seinem olivefarbigen Teint, dem schwarzen, häßlichen Lockenkopf und den einfarbig schwarzen Trikots wie ein Sohn der Nacht gegen ein Kind des Lichtes stand. Wer war unter den Tausenden von Zuschauern, welcher dem lichten Roland den Triumph mißgönnt hätte? Der „Stier von Granada“ wehrte sich erbittert, er geriet, wie es den Zuschauern schien, in tolle Kampfeswut. In Wahrheit wurde Manuel Gomez bei den großen Konkurrenzen nur engagiert, um durch die Geschicklichkeit, mit welcher er beim Ringkampf den wilden Mann spielte, Farbe in die Kämpfe zu bringen. Seine natürliche Roheit kam ihm bei diesen Mätzchen zustatten.
Heute, beim Entscheidungskampfe, versuchte er Roland in das Orchester hinabzuwerfen. Als ihm dies nicht gelang und die empörten Zuschauer heulend und stürmisch protestierten, überrannte der temperamentvolle Spanier den Preisrichtertisch im Hintergrunde der Bühne, so daß die entsetzten Unparteiischen sich am Boden überschlagen und von der Szene flüchten mußten, bis der „Toro de Granada,“ der in diesem Zustande wirklich einem wütenden Kampfstiere glich, sich beruhigt hatte und nun von Roland mit einem kunstgerechten Doppelnelson besiegt werden konnte.
In der Garderobe gab es inzwischen eine peinliche Auseinandersetzung zwischen Kiesling und Thyssen. Kiesling verlangte seinen Schuldschein über die Spielschulden von Thyssen zurück. Thyssen behauptete, daß er den Schein nicht bei sich trage. Aber Kiesling blieb fest:
„Wenn du einen glatten Sieg haben willst, wie er dem ersten Preisträger zukommt, so rat’ ich dir, Hermann, schaffe den Schuldschein und vernichte ihn hier vor meinen Augen!“
„Findest du dein Verhalten fair?“ fragte der Champion erbost, „und meinst du übrigens, daß Roditscheff mir den Sieg sehr erschweren kann?“
„Fair oder unfair in deinen Augen ist mir einerlei!“ sagte Kiesling kühl, „und wenn du nicht glaubst, daß Roditscheff sich im Endkampfe mindestens zwei Stunden gegen dich behaupten kann, so riskier’ es doch. Riskier’ es doch!“ wiederholte er mit schwachem, aufreizendem Lächeln und ging auf die offene Bühne hinaus, um mit Bernhard Meinken zu ringen.
Thyssen sah ihm von der Kulisse aus zornig zu. Der Teufel steckte in diesem Kiesling, machte seinen gestählten Körper elastisch und biegsam, wie einen Schlangenleib! Keiner flog aus beliebiger Höhe so exakt in die Brücke, wie er, keiner schlug zum Entzücken der Zuschauer so [S. 163] elastische Pirouetten, keiner bot in jeder erdenklichen Stellung ein so vollendet schönes Bild. Er ließ auch Bernhard Meinken keinen regulären Sieg. Nachdem der Kampf eine volle Stunde gedauert hatte, warf er sich so geschickt hintenüber, daß er sich selbst den Fuß verstauchte. Durch diese Verletzung wurde er kampfunfähig. Meinken wurde als Sieger erklärt, aber die Zuschauer waren verstimmt, daß einer ihrer Favoriten Schaden genommen hatte.
„Wie denkst du über die Spielschuld?“ fragte Kiesling Thyssen, sobald er hinkend in die Garderobe zurückkehrte. „Roditscheff hält mit mir zusammen....“
„Ist das wahr? Du bist ebenso unfair, Sergej?“ fragte Thyssen zornig.
Roditscheff schnitt sich gerade die Fingernägel und zuckte nur die Achseln, ohne sich umzusehen.
„.... Eure Gage....,“ murmelte Thyssen, aber Kiesling unterbrach ihn:
„Spielschulden dürfen von der Gage nicht gekürzt werden .... Überdies waren wir so vorsichtig, uns unsere Gage vor zwei Stunden von Immermann auszahlen zu lassen. Halt’ dich damit an unsern Direktor....“
Thyssen sah ein, daß die beiden starrköpfigen, unbedenklichen Freunde ihm alle Waffen aus der Hand genommen hatten. Wortlos zog er den Schuldschein aus seinem Portefeuille und reichte ihn Kiesling, der ihn schweigend durchlas und ihn dann auf den kleinen, rotglühenden eisernen Ofen legte, wo er zu Asche verschwelte.
Kaum zehn Minuten später wurde Thyssen auf der Bühne als Sieger mit unendlichem Enthusiasmus bejubelt. Er hatte den langen, starken Russen mit einem herrlichen Untergriff hingelegt....
Da oben standen die Starken, groß und herrlich, wie Halbgötter, und nahmen ihre Lorbeerkränze in Empfang [S. 164] und die versiegelten Hüllen, in welchen die Geldpreise verschlossen waren; die silbernen Geräte wurden Roland, Meinken, Kiesling, Roditscheff und Gomez überreicht, und Thyssen bekam einen feuervergoldeten Pokal. Und die Musik blies Tusch, und schmetternde Fanfaren feierten die Starken...
In der Garderobe sagten die Ringkämpfer einander Lebewohl und Auf Wiedersehen. Ein Teil reiste nach Holland zu einer Konkurrenz ab, die Jan van Muyden unterdessen arrangiert hatte.
„Das war ’n jutes Debüt, allright?“ sprach Thyssen liebenswürdig zu Roland, indem er die kornblumenblauen, wollenen Trikotbeinkleider abstreifte. Einen Augenblick nur stand er nackt in seiner reifen Schönheit da, denn schon kam Mikita Zirkovitch, der dem Champion fanatisch ergeben war, um ihm den Mantel aus Kräuselstoff umzugoben.
Freidank konnte sich nicht mehr zurückhalten. Das kühle, reservierte Benehmen des Weltmeisters ließ nur selten eine Annäherung zu. Jetzt war er mit Thyssen allein; nur Zirkovitch, der wenig Deutsch verstand, befand sich mit ihnen in der Garderobe. Eberhard streckte dem Rheinländer erschüttert beide Hände hin und sagte mit schwerer Zunge:
„Das kann ich Ihnen nie danken... das werde ich Ihnen nie vergessen....“
„Auf gute Freundschaft!“ sagte Hermann Thyssen mit einem Lächeln, welches sein schönes, ernstes Gesicht unvergleichlich erhellte, „und auf’s Du, Roland!.... Von Dank kann keine Rede sein. Aber Gott weiß, daß du an mir immer einen guten Kameraden finden wirst, wenn du nicht mein Feind wirst... wie die andern... wie die meisten....“
*
*
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Auf gute Freundschaft! Das sagte auch Therese dem Ringkämpfer, als sie ihn weinend beim Abschiednehmen umarmte.
Eberhard hatte sich von dem schönen Mädchen nicht trennen mögen, ohne vorher ein gutes, bindendes Wort gesprochen und gehört zu haben. Darum hatte er am Morgen nach Beendigung der Konkurrenz Besuchstoilette angelegt, Frau Ambrosius eine offizielle Visite gemacht und um Thereses Hand gebeten.
Wider alle Erwartung hatte Frau Ambrosius ihre mütterliche Einwilligung versagt.
„Es tut mir herzlich leid, Herr Freidank, daß eine solche Erörterung zwischen uns stattfinden muß! Aber es sind schwerwiegende Gründe, die mich zwingen, Ihren Antrag nicht anzunehmen. Und Therese ist eine viel zu gute Tochter, um gegen meinen Willen...“
Freidank gab das Mädchen nicht kampflos auf; er bat um Gründe, wollte sein Einkommen darlegen, seine sportlichen Chancen...
„Ich glaube Ihnen, Herr Freidank,“ hatte Frau Ambrosius geantwortet, „daß Sie nicht um eine Dame anhalten würden, wenn Sie nicht wüßten, daß Sie sie ernähren können. Aber — wie peinlich mir das ist! — ich kann nicht Ja sagen, weil Sie durch Ihren jetzigen Beruf doch gewissermaßen — aus Ihren Kreisen herausgetreten sind. Mein verstorbener Gatte, Herr Freidank, war Amtsrichter. Wenn er lebte, er würde niemals zugeben, daß...“
„Daß seine Tochter einen Ringkämpfer liebt,“ sagte Freidank bitter.
„Sie sagen es selbst,“ erwiderte Frau Ambrosius verlegen. „Wer, wie Sie in Zukunft tun wollen, von Ort zu Ort reist... sich auf der Bühne oder im Zirkus mehr oder minder — preisgibt, kann — nach meinem Ermessen [S. 166] — eine Frau nicht dauernd glücklich machen... Nehmen Sie mir dieses Wort nicht übel, Herr Freidank! und versuchen Sie, meine Gefühle als Mutter zu verstehen....“
Thereses Neigung war noch nicht stark und unbedenklich genug, um der Mutter mit Überzeugung gegenüber zu treten. Erziehung und Gewohnheit stritten noch mit ihrer Liebe. Liebte sie ihn denn wirklich? fragte Eberhard sich in Zorn und Schmerz. Oder hatte ein Rausch der Sinne sie umgarnt, wie so viele Frauen, die den bejubelten Athleten ihre Ehre und ihre Leidenschaft ohne Besinnen hinwarfen, die aber niemals mit ihnen vor den Altar treten würden? Nein, Therese Ambrosius war nicht so!
An dem Nachmittage, ehe Freidank nach Amsterdam abreisen wollte, ging Frau Ambrosius aus. Sie fühlte dunkel, daß sie die Verpflichtung hatte, den beiden jungen Leuten eine ungestörte Abschiedsstunde zu gewähren.
„Wir wollen Freunde bleiben!“ schluchzte Therese Ambrosius, an Eberhards Halse hängend.
„Du hattest mir mehr sein sollen, meine Geliebte! meine Süße,“ sagte er flüsternd und küßte ihr braunes Haar. „O! die Achtung vor den Frauen, die ich verloren habe, du solltest sie mir wiedergeben, du stolzes Weib. Ein Vorurteil trennt uns, eine Marotte... Ich werde darüber hinwegkommen!“ fügte er mit einem Anfluge von Hochmut hinzu.
„Aber ich nicht! Niemals!“ weinte das junge Mädchen. „Du wirst fortgehen, Eberhard; du wirst andere Frauen lieben, die dir den Hof machen... die dich verehren... nur weil Du als Athlet vor ihnen stehst... Und ich werde hier bleiben, einsam... O, wie ich dich liebe! — Wie ich mich nach dir gesehnt habe... Tage lang — Nächte lang...!“
Nächtelang! hatte sie gesagt, nächtelang! — Das halblaut gesprochene Wort drang in seine Seele, wie Trompetenstöße. Nächtelang! Es brauste mit hellem Klang in seinen Ohren. Das war der Ruf der Leidenschaft, der ihm noch niemals erklungen war, das war das brünstige Locken des Weibchens, welches nach dem Gatten schrie. Und das war nicht spielerisch gesagt und nicht unkeusch. Das war in reiner, überwältigender Sinnlichkeit herausgestoßen, wie der naive Naturlaut eines Tieres. Nie hatte Fritzi l’Alouette, die mit der Liebe spielte, ihm gesagt, daß sie sich nach ihm gesehnt hatte — Nächte lang. —
Er sprang auf, er packte sie an beiden Schultern:
„Was hast du damit gesagt, Therese? Was — hast du — damit — gemeint?“
Seine Blicke bohrten sich in ihre Augen, wie Schwerter. Klar war es zwischen ihnen, als sei ein Blitz niedergefallen. Und der junge Mann warf sich auf die Kniee nieder, schlang die Arme um ihre Hüften, preßte sie wild und stöhnte zu ihr hinauf, wie zu einem Heiligenbild:
„Um Gottes willen, Therese, sag: was hast du damit gemeint?“
Sein heißer Atem schlug ihr ins Gesicht, seine lodernde Leidenschaft fuhr wie der Samum über ihre jungfräuliche Seele. Sie wollte sagen „gar nichts hab’ ich gemeint —“ aber ihre verdorrten Lippen blieben hilflos offen stehen und ihr Kopf bog sich nach hinten über, wie das Haupt einer welkenden Blume.
Er sprang von den Knieen auf, er küßte ihre trockenen Lippen mit wilden, rücksichtslosen Küssen, er riß sie in die Höhe und stöhnte, während er sie fest umklammert hatte, unter den heftigsten Küssen:
„Was hast du gemeint, Therese?“
Sie wußte, er hatte sie recht verstanden. Oh — nein! schrie ihre Sittsamkeit — um Gotteswillen, ja! schrie das Verlangen ihrer Jugend. Und da flog in ihre Herzensangst und Leidenschaft hinein eine jähe, wahnsinnige Hoffnung: Wenn er bliebe? Wenn es möglich wäre, den Starken, den Geliebten zu halten?
„Liebst du mich, Therese?“ stammelte Eberhard, „Therese, liebst du mich?“
Feuer schien aus seinen Augen zu springen. Er rang mit Therese, sie wehrte sich. Seine Kraft war groß, aber ihre Geschmeidigkeit, die noch einen Rest von Besonnenheit bewahrt hatte, war noch größer.
„Therese, liebst du mich?“ —
Sie riß sich plötzlich von ihm los, kreuzte die Arme über der jungen, vollen Brust und flüsterte lockend und geheimnisvoll:
„Wenn du nicht abreist... wenn du bei mir bleibst...“
„Dann tust du mir alles zu Liebe?“
„.... Ja,“ sagte sie und schlug die Augen nieder.
„Aber Therese, ach Therese! das ist ja unmöglich....“
„Das ist schon möglich....“
Und wieder rang er mit ihr, versuchte, die schöne Beute mit Gewalt zu nehmen. Sie sprühte vor Leidenschaft, Trotz und Abwehr, sie entwand sich ihm mit ungeahnter Kraft...
„Und wenn ich bleibe, Therese, dann.....?“
„Dann....“
„Jetzt, Therese, in dieser Stunde, in dieser Minute...?“
„Jetzt.......“
„Therese, ich bleibe — — — — —!“
— — O du uralte, lockende Eva-Macht! O du schillernde Schlange des Paradieses! — O du Apfel in der Hand des Weibes, welcher den Hungernden, den Dürstenden reizt und [S. 169] den Leidenschafterschöpften im seligsten Rausche erquickt! — — — —
In dieser Stunde wurde Therese Eberhards Geliebte und seine verlobte Braut. —
Als Mama Ambrosius nach Hause zurückkehrte, fand sie die Liebenden Hand in Hand am Fenster des Wohnzimmers sitzen. Sie hatten schon von der Zukunft gesprochen, und beide strahlten von jugendlicher Zuversicht.
„Ich liebe ihn, Mutter!“ sagte Therese fröhlich, „und er bleibt hier, er geht nicht fort... Er ist so begabt! Er wird sein Drama schreiben, er wird Erfolg haben...“
Frau Ambrosius lächelte mütterlich:
„Ja, so — so ist es etwas anderes, lieber — Schwiegersohn! — Sie sind beide jung, Sie können warten, bis Sie... Die Geistesarbeit wird Ihnen eine andere Karriere gewähren, als diese, diese....,“ sie schüttelte sich ein wenig, „als diese Kraftmeierei!“
Als Eberhard der Kraft untreu wurde und sich dem Geiste zuwendete, war er auf einige Monate hinaus vor quälenden Nahrungssorgen geschützt. Während der letzten drei Wochen der Konkurrenz, seit Beginn der Entscheidungskämpfe, hatte er täglich fünfzig Mark verdient, seine einfache Lebensweise aber nicht geändert, so daß er an siebenhundert Mark Ersparnisse besaß.
Als Thereses Bräutigam hatte er von Mama Ambrosius fortziehen müssen und nicht gar zu weit ein neues Logis gefunden. Nun gehörten seine Tage, wie vordem, der Arbeit und der Liebe. Die sechs Wochen voll von Triumphen, Erfahrungen und Leidenschaften lagen hinter ihm wie ein Traum. Er wollte auch nicht mehr denken an den Traum. Jedesmal, wenn sein Blick auf seine Hanteln traf, oder auf ein Stück seiner Bühnenkleidung, oder auf ein Bild, das ihn im Dreß darstellte, furchte sich seine Stirne und er hatte ein leise schmerzendes, bitteres Gefühl, als ob er einem guten Engel aus dem Wege gegangen sei. Wenn aber Therese ihm zur Seite war, ihre Augen ihn klug und freundlich ansahen und ihr Mund gescheit und lieblich plauderte, zerstob der kleine Schmerz.
Er schrieb ein Drama, und er stürzte sich mit temperamentvollem Eifer auf die Arbeit, als gelte es, das Werk in der allerkürzesten Zeit zu schaffen. Nach einigen Tagen besann er sich, daß sein Werk nicht vor dem Ende des [S. 171] Sommers aufgeführt werden könnte. Nun teilte er die Arbeit ein, schrieb ruhig und planmäßig. Tagelang arbeitete er in Bibliotheken, um seinem Werke das richtige Kolorit und die lebendigen Züge des Zeitalters geben zu können.
War seine Kraft gewachsen? Hatte die Liebe ihn umgewandelt, daß alles, was er schrieb, unter seinen schaffenden Händen feste Formen annahm?
„Besinnen Sie sich auf Ihre Kraft!“ hatte ihm — es war ungefähr ein Jahr her! — ein erfahrener Theaterdirektor gesagt.
In der Zeit, die zwischen damals und heute lag, hatte der ungelenke und zähe Niedersachse sich auf seine ganze Kraft besonnen. Jetzt wurden seine Gedanken präzis und logisch, jetzt rundeten sich seine Sätze zu Fülle und Wohlklang, jetzt blühten kräftige, energische Bilder unter den Händen auf, die starke Gegner mit kühnen Griffen erfaßt und niedergeschleudert hatten.
Ein Bild vor allem war ihm im Gedächtnisse geblieben und hatte seine Gedanken also durchdrungen, daß er es auch in seine Arbeit verwob: das Bild jener Mordnacht bei Aloys Binder. Jetzt, da er still am Tische saß, um sein Werk zu schaffen, trat der Anblick des Ermordeten greifbar aus den Schatten der Erinnerung hervor:
Der Mann, der tot und starr auf dem buhlerischen Lager ruhte und das Mädchen, welches mit schwarzen, entsetzten Augen auf die Leiche stierte — und sich mit gedankenloser Lebenslust schon auf der Treppe wieder dem Lebendigen zuwendete, während der Tote oben allein in dem verschlossenen Zimmer schlief.
Und es stiegen Personen und Ereignisse aus der stolzen Zeit der italienischen Renaissance vor seinem Geiste auf. Welche Zeit war ein einziges Loblied auf die Kraft, wie diese? Wann hatten die Starken so selbstherrlich Gebrauch [S. 172] von ihrer Kraft gemacht, wie die Mächtigen zur Zeit der Borgia und der Colonna?
Die Kraft wollte er verherrlichen, die Starken wollte er preisen, die über Leichen in ihre Freudengemächer eingehen! — Mit Therese besprach er Szene für Szene seines Stückes. Er arbeitete mit Fleiß und Inbrunst. Und als er dieses Mal das letzte Wort schrieb und nach ordentlicher Gewohnheit einen geraden Schlußstrich darunter zog, tat er es ohne Fieber und ohne Wildheit in dem ruhigen Bewußtsein, etwas Tüchtiges vollendet zu haben. —
Die Arbeit hatte ihm kaum Zeit gelassen, an die Unterbringung seines Stückes zu denken. Jetzt, da das Manuskript vollendet vor ihm lag, befiel ihn Schrecken über seine Sorglosigkeit, und sein Mut erschlaffte jählings. Wie? sollte auch dieses Werk nur geschrieben sein, um nach jedem Schritte vorwärts denselben Schritt nach rückwärts zu tun?
Therese war wieder die heitere, ermutigende Trösterin. Des Abends holte er sie vom Bureau ab und beide gingen Arm in Arm nach Hause, wo Mama Ambrosius sie mit dem bürgerlich bestellten Abendbrottische erwartete. Oft fühlte er sich müde, während ihre Augen trotz dem anstrengenden Dienst des ganzen Tages glänzten. Mit ihrer Fröhlichkeit, mit ihrer immer gleich bleibenden Zuversicht gewann sie langsam ein Übergewicht über den Mann, welches er lächelnd anerkannte.
„Ich bitte dich, Lieber,“ sagte sie, „geh selbst zu dem Theaterdirektor, der dich damals ermutigt hat, ihm später einmal ein neues Stück zu bringen.“
„Therese! Ich habe wenig Hoffnung. Anerkannte Größen arbeiten für seine Bühne. Wie käme er dazu, einen Neuen, Unbekannten einzuführen?“
„Hast du nicht auch bei Immermann Glück gehabt? Warst du als Athlet nicht ebenso unbekannt? Habe Mut, Eberhard! Wer soll denn das Glück zwingen, wenn es den Starken nicht gelingt!“
Therese behielt Recht mit ihrer hoffnungsvollen Zuversicht, daß dem Starken das Glück hold ist. Mit unruhigem Herzen kam Eberhard in die Theaterkanzlei und bat, zu dem Direktor vorgelassen zu werden.
„In welcher Angelegenheit?“ fragte der Sekretär gleichgültig und mechanisch.
„Um mein neues Drama vorzulegen,“ erwiderte der junge Mann und sagte seinen Namen.
Kurz darauf erschien der Sekretär unter den höflichsten Verbeugungen wieder und bat Eberhard, ihm zu dem Bühnenleiter zu folgen. —
Ein schlimmer Winter lag hinter dem Direktor. Mißerfolge über Mißerfolge hatte es gegeben. Stücke, an deren Erfolg der erfahrene Theatermann kaum leise gezweifelt hatte, hatten dem Publikum mißfallen. Nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen hatte er dann mit dem lauten Getön einer geschickten Reklame das Lustspiel eines gefeierten Dramatikers angekündigt. Dieser Dichter war einer von denen, deren Ruhm so anerkannt und festbegründet scheint, daß ein völliges Versagen ihrer Werke niemandem glaublich oder möglich vorkommt. — Kaum war die Ankündigung erlassen, so setzte eine eigentümliche, feindliche Bewegung gegen den Dichter ein. Ruhm ist wie die Wogen des Meeres, unberechenbar, neidisch, tückisch und treulos. Das treulose Meer seines Ruhmes wurde gegen den Dichter von Grund aus aufgewühlt. Jeder, der konnte, half mit, und am Abende der ersten Aufführung war die Atmosphäre im Theater wie vor einer Explosion. Noch eher, als man es hatte befürchten können, brach dann auch die große Woge der Feindschaft [S. 174] und Mißgunst über des Dichters Werk herein. Es wurde ein Theaterskandal, wie die Mauern des Theaters ihn noch nicht gesehen hatten.
Nach diesen Erlebnissen hatte Direktor Holderbaum Lust, einen homo novus zu entdecken, der ohne Feinde und ohne Freunde als ein Freier auf den Schlachtplan des Geistes trat, und es war ihm nicht unangenehm, als in dieser Vormittagsstunde der junge Freidank sich bei ihm melden ließ. — O, vielleicht brachte er es schon mit, das hoffnungsvolle Werk, welches die kommende Saison mit einem glücklichen Erfolge einleiten und einweihen sollte!
Nie hätte Eberhard auf einen so freundlichen Empfang gehofft, wie er ihn bei dem Leiter der berühmten Schaubühne fand.
„Also: was bringen Sie mir heute? Ein Trauerspiel? Ein Lustspiel?“
„Ein Schauspiel,“ sagte Eberhard mit erheucheltem Mute.
„Hoffentlich kein ultramodernes Stück, wie das letzte?“
„Gar nicht modern! — Aus der Renaissancezeit.“
„Renaissance? — Hm, vielleicht ganz gut.... Ist nicht zu oft da... Gibt eine prächtige Dekoration...,“ erwiderte der kleine, energische Bühnenmann, der in Gedanken blitzgeschwind die ganze Ausstattung des Dramas entwarf.
„Packen Sie aus, packen Sie aus, junger Dichter,“ fuhr der Direktor lebhaft fort, „geben Sie mir das Manuskript... setzen Sie sich mir gegenüber... und geben Sie mir so kurz wie möglich den Inhalt der einzelnen Akte an. Ich habe nur wenig Zeit... muß zur Probe. — Aber Ihr Stück interessiert mich... also sprechen Sie....“
Er warf einen Haufen Papiere, die vor ihm auf dem Schreibtische lagen, beiseite, legte das Manuskript an ihre [S. 175] Stelle und begann darin zu blättern, während er das scharfgeschnittene, geistvolle Gesicht dem Autor zuwendete, der den Inhalt der drei Akte zu erzählen begann. —
Astorre Braglione, der Sohn und Erbe der herrschenden Familie in Perugia, ist ein gütiger, nachdenklicher und schwacher Mensch. Wird er dereinst der rechte Mann sein, um das Erbe der Väter gegen alle Gewalt und List der feindlichen Nachbarn zu schützen? Ach, daß er dem jungen Filippo gliche, dem unehelichen Kinde seiner schönen, lasterhaften, herrschsüchtigen Tante Atalanta Braglione, von der Filippo die unbändige Stärke, die verführerische Schönheit und die kraftvolle Schändlichkeit geerbt hat! Nicht einmal gegen seinen Vetter Carlo Braglione kommt er auf, dem Bosheit und Scheelsucht aus den tiefliegenden, schwarzen Augen funkeln. Astorre kommt noch zu Lebzeiten seines greisen Vaters zur Herrschaft; die Feindseligkeiten Filippos, des Bastards, und Carlos, verbittern sein Leben, bis die eine, die ewige Liebe in sein Herz einzieht und mit ihrem Scheine alle Schatten vertreibt. Die schöne Lilie Roms, Lavinia Colonna, ist Astorres Braut geworden. Nun mögen Filippo und Carlo an sich reißen, wonach ihr böses Herz steht! Was tut ihm das, wenn erst die edle römische Lilie mit ihrer Pracht und ihrem Duft an seinem Herzen ruht. — Der alte Fürst Colonna gibt den Verlobten zu Ehren ein prunkvolles Maskenfest; Lavinia, nur mit kostbaren, flimmernden, rosenfarbenen Schleiern und mit dem wallenden Mantel ihres Haares geschmückt, lehnt als Venus an einer Marmorsäule. Da plötzlich — was erbleicht Lavinia, die herrliche Jungfrau? Warum greift sie mit der Hand zum Herzen, warum werden ihre Lippen blaß wie Narzissen? Filippo hat in der Tracht des Orpheus den Festsaal betreten. Sein Haupt ragt über die ganze Schar der Gäste hinaus, obwohl zahlreiche stattliche Edelleute sich auf dem glatten Fußboden bewegen. Sein [S. 176] Arm hält die bekränzte Leier, Rosen krönen sein Haar. Er ist so groß, stark und brutal, seine Augen blicken so hart ... Seine Blicke treffen gerade in Lavinias Augen, werden weich und flammen dann begehrlich auf... Ihr ist, als ob ihre Seele versinkt in den Flammen dieser Augen.... Aber Astorre, der beglückte Bräutigam, tritt galant zu seiner Verlobten hin und legt die Hand auf ihren Arm. Lavinia zuckt zusammen, wie unter der Berührung eines eklen Gewürms, doch sie besinnt sich: immerhin — ihr Bräutigam ist der Herr von Perugia. Jener — er ist ihr ein Fremder; — sie wird ihn vielleicht niemals wiedersehen....
Und dann ist die Hochzeit in Perugia. Die Kavaliere und die edlen Damen, sie alle schwelgen in Lust und Übermut. Im schönsten Saale des Palastes Broglione ist dem jungen Paare das Hochzeitsbett bereitet, dessen hohes, geschnitztes Gestell ganz mit purem Golde überzogen ist. Die Neuvermählten werden unter Fackelglanz und Rosenregen ins Brautgemach geführt. Wer sieht den Stahl des Todes, der unter den Rosen der Liebe blitzt?
Filippo hat seinen Hass und Neid nicht länger bändigen können. Es wird ihm nicht gelingen, in das hochzeitliche Gemach Astorres und Lavinias allein einzudringen. Aber wozu fremde Meuchelmörder dingen? Feinde genug hat Astorre in der eignen Familie: einer der ärgsten ist Carlo Braglione, der immer zurückgesetzte, ärmere Vetter des Bräutigams. Carlo zieht noch einen Todfeind der Braglione, Herrn Girolamo della Penna, in die Verschwörung. In der Nacht, als Amor das hochzeitliche Zimmer mit seinen höchsten Fröhlichkeiten erfüllt, dringen die drei ins Gemach, nachdem sie die Wächter, erprobte Diener der Braglione, niedergemetzelt haben. Astorre springt vom Lager auf, er sucht sein Schwert; da durchbohrt ihn von vorn der Damascener Dolch des furchtbaren Filippo, während Carlo [S. 177] ihm seinen Degen durch den Rücken rennt. Ein gewaltiges Getümmel entsteht; der greise Vater und der junge Bruder Astorres kommen zu Hilfe: Carlo und Girolamo schlachten beide in wilder Mordlust, sie schlachten und durchbohren, was vor ihre Klinge kommt. Filippo allein hat an dem einen Opfer genug. Heulend, wie ein wildes Tier, wirft er sich über Astorre, der im letzten Kampfe röchelt, reißt ihm die Brust auf, zerrt das blutende Herz hervor und beißt mit seinen Tigerzähnen in das blutende Herz. — Da ist seine Gier gestillt, nun kann er an die lebendige, blühende Beute denken. Es wird noch einen heißen Kampf kosten, Lavinia Braglione zu erobern! — Und das Unfaßliche geschieht, selbst dem Mörder unerwartet: Lavinia stürzt freiwillig in die Arme des Starken.... Mitten in dem Hochzeitsgemach, das mit Leichen angefüllt ist, steht die Jungvermählte und reicht Filippo die geöffneten Lippen zum Kuß....
„Ich werde es mir überlegen —,“ sagte Direktor Holderbaum, innerlich freudenvoll, „ich werde es mir überlegen ... Immerhin eine Idee darin. Der Triumph des Starken...“
„Über die Schwachen, ja,“ sagte Eberhard.
„Von Ihrem Stück abgesehen: glauben Sie, daß die Starken ein moralisches Recht haben, die Schwächern einfach niederzutreten?“
„Sie tun es doch....,“ erwiderte der junge Mann nachdenklich. „Wer fragt den Sieger nach Recht oder Unrecht?“
„Und unsere Religion, Herr Freidank, welche die Hilflosen schützt? Und unsere moderne Staatskunst?“
„Sie haben uns beide keinen Gefallen damit getan, Herr Holderbaum, daß sie die Minderwertigen protegieren. Diese Schwachen nehmen den Starken Platz weg.... Licht und Luft weg....“
— — Zwei Tage später wurde Eberhard wieder zu dem Theaterdirektor beschieden. Der kleine Mann tat heute ganz [S. 178] vertraut und familiär und zog Eberhard in sein Privatkabinett. Bei Wein und Zigarren plauderte er:
„Hören Sie an, mein lieber junger Dichter, was ich Ihnen sage! Ihr Stück ist gut. Es ist sogar sehr gut. Aber .... Nun gut, kommen wir zur Sache! — Ich selbst habe eine Idee! Eine brillante Idee! Für ein Theaterstück. Es soll, gewissermaßen, ein Sensationsstück werden. Ein Kassenstück! Die Kunst ist schön und erhaben, gewiß. Ich lebe nur für die Kunst! — — Aber was nutzt die beste Kunst, wenn mir mein Kassierer nicht bestätigen kann: Es ist eine gute, es ist eine einträgliche Kunst —!“
Auf solchen Umwegen kam er endlich zu dem Kern seiner Rede. Er hatte eine Lustspielidee. Es war eine banale, dabei aber tolle und verwickelte Handlung. Er brannte darauf, dieses Stück auf seine Bühne zu bringen. Dabei hatte er nicht den mindesten Autoren-Ehrgeiz, o nein! Er hätte das Stück nicht selbst schreiben können. Er wollte auch gar nicht als Verfasser gelten. Freidank sollte — o gewiß, das könnte er! — seiner Idee Worte und Ausdruck leihen. Schließlich rückte er mit seinem Vorschlage heraus:
Freidanks Renaissance-Schauspiel sollte zu Beginn der kommenden Saison aufgeführt werden. Als erste Winterneuheit, jawohl! — Er steckte nicht im Publikum und in der Kritik drin. Aber so viel glaubte er als erfahrener Bühnenmann heute schon sagen zu können? es würde ein literarischer Erfolg werden. Dadurch wären eine Reihe von Aufführungen gesichert.... Als nächste Neuheit sollte dann das Lustspiel nach Holderbaums Idee folgen. Wenn Freidank einverstanden wäre, dann wäre sein Drama angenommen. Jawohl, angenommen!
Freidank war einverstanden. Ach, es war ja alles so viel mehr Glück, als er hatte hoffen dürfen! — Als er auf die Straße hinaustrat, kamen ihm alle Menschen geputzt [S. 179] vor. Ein kleines, armes Mädchen, welches ihm Blumen anbot, schien eine lächelnde, verschwenderische Fee zu sein. War keiner da, mit dem man reden konnte? Keiner, in dessen Gesellschaft man sein Glück feiern konnte? Freidank sah unwillkürlich die Straße entlang. Dort unten — oder täuschten ihn seine Augen? — dort kam Hermann Thyssen, die Hände in den Taschen, die schönen Augen über alle Menschen, die den großen, auffälligen Mann neugierig anstarrten, hinweg in die helle, sonnenscheindurchleuchtete Frühlingsluft gerichtet. Thyssen wollte ihn indessen vielleicht nicht mehr kennen, nachdem er seiner Laufbahn als Ringkämpfer so schnell den Rücken gekehrt hatte, ohne viele Gründe anzugeben? — Aber er irrte sich. Thyssen erblickte ihn einen Moment später. Seine dunkeln, hochmütigen Augen leuchteten flüchtig auf, als er lächelnd den „Dritten“ seiner großen Dezemberkonkurrenz begrüßte:
„Tag, Roland! Ausreißer müßt’ ich eigentlich sagen. Du bist also doch lieber bei deinem jeistigen Jeschäft jeblieben? Schade um dich. Du bist jute Klasse... wärst erste Klasse jeworden...“
Nachdenklich sah er Eberhard an.
„Na, du bist wohl jetzt unter den Berliner Amateurringern Hecht im Karpfenteich?“ fragte Thyssen.
„Auch das nicht,“ sagte Eberhard betrübt. Es war plötzlich eine Freude in ihm klirrend zersprungen, wie eine Geigensaite. Beim Anblick des stolzen Champions, der die kleinen Menschen auf der Straße überragte, wie die Tanne das Unterholz, schien ihm mit einem Male, daß er einen schlechten Tausch gemacht hätte. Die große Freude, die ihn kurz vorher erfüllt hatte, war seltsam matt geworden...
„Wollen ’mal ’n lütten Frühschoppen machen, allright?“ schlug Thyssen vor. „Hast doch Zeit, Roland?“
Er hatte Zeit. In der farbigen Dämmerung der alten [S. 180] Weinstube saßen sie bei den Römern und redeten über leichte und ernste Dinge.
„Von Nizza komm’ ich. Gott, da unten haben sie einen Enthusiasmus — —! Obwohl es den Französ’chen nicht gerade gefiel, daß ich alle ihre Landsleute aufs Kreuz legte, waren sie doch... Nein, das ist unbeschreiblich! Das muß man gesehen haben! — Hernach ist man dann doch froh, wenn man zu Hause in Deutschland gerade in den herben Frühling hineinkommt.“
„Und wohin reist du jetzt, Thyssen?“
„Nach Kölle —!“ sagte der Champion lächelnd im wohlklingenden, schleppenden Dialekt seiner Heimat. „Da unten bin ich doch am liebsten. Ich hab’ überall gerungen, nicht wahr. In London, in Paris — in Rußland — in Persien — in der Türkei — nun überall... Ich hab’ über hundert Meisterschaften. Aber in Köln — —! Wenn ich nach Kölle komm’, sagt jeder köll’sche Jung’: verdammt, dat Hermännche ist wieder da — —!“
Er schlug lachend und ein wenig verlegen mit der starken Faust auf den Tisch. Gewiß, er war stolz auf seine Kraft und seine Volkstümlichkeit. Aber wie liebenswürdig war er in diesem natürlichen Selbstbewußtsein! Wahrlich, er hatte Grund, stolz auf sich zu halten!
„Und du?“ fragte Thyssen jetzt, die Augen fest auf Freidank gerichtet. „Examen gemacht? — Schulmeister in spe?“
„Ich hab’ ein Stück geschrieben,“ sagte Freidank.
„Ach?! Wann wird es denn aufgeführt?“
„Ende August, hoff’ ich.“
„Laß’ mal sehen,“ überlegte Thyssen. „Ich werde vielleicht zu dieser Zeit hier sein. Im Juli bin ich in Ostende... im Dezember in Wien... Ich werde also bei der Premiere klatschen helfen können...“
„Wenn mein Stück nicht durchfällt!“ scherzte Eberhard.
„Das wär’ auch kein besond’res Malheur,“ sagte der Champion, der schon viel Glück und Leid hatte aufblühen und vergehen sehen, freundlich. Er, der so stark und ruhig war, nahm die Widerwärtigkeiten des Lebens, die zu jeder Zeit auch an ihn herantraten, nicht recht ernst. Mit seinen starken Händen und seinem ausgeglichenen Charakter schob er Menschen und Schicksale, die sich ihm hindernd in den Weg stellten, mit ruhiger Rücksichtslosigkeit beiseite. „Kein besond’res Malheur,“ wiederholte er gleichmütig. „Dann wirst du einfach wieder Ringkämpfer. Ich kenn’ kein Malheur außer Krankheit — — Alles andre läßt sich schieben... entweder, oder...“
Da war er, der harte, hochmütige Zug in dem schönen Gesichte, der Hermann Thyssen manchen Feind gemacht hatte. Jetzt wußte Freidank, weshalb man ihn anfeindete. Die Schwachen, die dem Schicksal und seinen Launen hilflos unterworfen waren, sie beneideten den Starken, der ein Meister nicht nur im Ringkampf war, sondern auch ein Herr und Meister im Leben...
„Ich wette,“ sagte Thyssen jetzt mit klugem Lächeln, „ich wette, daß ein Mädchen dich damals festgehalten hat?“
„Ein Mädchen,“ sprach der junge Mann.
„Sie sind schlimm, die Mädchen! Man muß sich vor ihnen in Acht nehmen,“ scherzte Thyssen. „Fräulein Fritzi l’Alouette zum Beispiel — mein Gott, schlank, niedlich und kindlich war sie doch ! — hab’ ich leider schon in Amsterdam nach vierzehn Tagen verloren. Sie bevorzugte meinen schwarzen Diener und Masseur gar zu auffällig... Vierzehn Tage treu zu bleiben ist eine harte Aufgabe für ein hübsches Mädchen!“ fügte er mit heiterem Spott hinzu.
Auch nachdem Eberhard sich von Thyssen getrennt hatte, hielt die Freude über die Begegnung an. Eine merk [S. 182] würdige Heiterkeit, die sein Lebensgefühl aufs Angenehmste erhöhte, verklärte ihm heute selbst gleichgültige Handlungen. Am abend, als er Therese abholte, war ihm dann mit einem Male, als ob er dem Mädchen durch diese Freudigkeit ein kleines Unrecht zugefügt hätte. Da versuchte er sich selbst glauben zu machen, daß die Annahme seines Schauspiels ihm die glückliche Stimmung gegeben habe und stellte durch diesen bescheidenen Selbstbetrug sein Gleichgewicht wieder her.
An diesem Abende überschüttete er Theresen mit dem Reichtume seines Gefühls und trug diesen Überschwang auch in die nächsten Monate hinein. Er behandelte nun seine Braut mit um so größerer Güte, als er sich selbst im stillen fortwährend Vorwürfe machte. Der plötzliche Übergang aus einer Periode lebhafter Denk-Arbeit in eine fast beschäftigungslose Zeit hatte seinen Geist erregt und beunruhigt. Dazu kam, daß er nach der Begegnung mit Thyssen an seine Ringkämpferlaufbahn mit dem süßen und bitteren Schmerz einer unglücklichen Liebe zu denken begann. Der süße und bittere Schmerz steigerte sich nicht bis zu ernsten Leiden, nicht einmal bis zur Sehnsucht; aber er war immerfort da und brannte, als wäre seine Haut mit glühendem Eisen in Berührung gekommen. Um zu vergessen, übernahm er ab und zu kleine Arbeiten, die eine Spanne Zeit ausfüllten und ihm ein wenig Geld einbrachten.
Seine Liebe zu Therese gewann durch den Aufschwung seiner Gefühle an Inbrunst und Tiefe. Die zeitweilige Trennung und die keuschen abendlichen Zusammenkünfte unter den Augen der Mutter, bei denen niemals mehr etwas geschah, was den Brautleuten nicht erlaubt war, hielten seine Sehnsucht beständig wach. Dennoch trug er aus diesen Wochen keinen Gewinn davon, da eine Spannung, die niemals nachließ, ihn quälte und in Ruhelosigkeit versetzte.
Es war für ihn eine Erlösung aus müder, unfruchtbarer Zeit, als die Proben zu seinem Schauspiel auf der Höhe des Sommers einsetzten. Direktor Holderbaum hatte die Proben frühzeitig begonnen, um durch einen moralischen Druck zu erreichen, was seinem Drängen bisher nicht gelungen war, nämlich die Ausarbeitung seiner eigenen Lustspiel-Idee. In der Tat ging Eberhard sofort an dieses Werk mit einem gewissen Ungestüm, welches so kräftig war, daß es alle seine Unlust und seine Bedenken gegen die Arbeit überwand. In kaum drei Wochen vollendete er das Stück. In diesen drei Wochen war es seinem Herzen nicht um einen Schritt näher gekommen, wiewohl es in seinen Gedanken fortwährend gelebt hatte. Herr Holderbaum war von dem Gewande, welches Freidank seinem Geisteskindlein gegeben hatte, so entzückt, daß er nichts lieber getan hätte, als das Lustspiel zuerst aufzuführen und das Schauspiel später folgen zu lassen. Aber diesmal bestand Freidank starrköpfig auf seinem Kontrakte. Nun begann Holderbaum, an einzelnen Szenen des Dramas zu mäkeln. Wie? Filippo reißt dem Astorre das Herz aus der Brust und zerfleischt es mit seinen Zähnen? Und Lippen, die rot vom Herzensblut des jungen Gatten sind, soll Lavinia küssen? Welchem Publikum könne man so entsetzliche, bluttriefende Szenen zumuten?
Eberhard bestand weder auf seiner wörtlichen Fassung, noch auf der historischen Treue. Er gab nach, wo nachzugeben war, er ließ streichen, was gestrichen werden sollte. Aber in der Hauptsache blieb er zäh. Sein Schauspiel sollte die Reihe der Neuheiten einleiten. Dann konnte man das Lustspiel aufführen... oder was man sonst wollte...
Er hatte früher nie gedacht, daß die Aufführung eines Schauspieles so viele unerfreuliche Stunden, so kleinliche [S. 184] Verdrießlichkeiten und langwierige Verhandlungen mit sich bringt. Oft kam er verärgert von der Probe nach Hause, und eines Abends erklärte er Theresen leidenschaftlich, daß er nun vor der öffentlichen Aufführung keinen Fuß mehr in das Theater setzen werde. Irgend jemand hatte irgend etwas von seiner kurzen Athletenkarriere aufgeschnappt und kolportiert. Nun gab es hier und dort törichte Anspielungen und hinterhältige Bemerkungen, die dem ehrlichen, schweigsamen Menschen das Blut in den Kopf trieben. Mit der Feder, ja, und mit der Faust wollte er jeden Halunken bedienen, der ihm übel wollte. Aber wer kam gegen die verschleierten Stachelreden dieser Zwergenzunft auf?
Therese lachte über seinen Zorn:
„Ist das möglich, daß mein lieber großer Roland so viel Ärger aufbringt, so lang und stark wie er ist? Du hast keine Ursache, beleidigt zu sein, Eberhard! Wenn dich jemand verletzen will, so höre nicht darauf... Oder noch besser: bleibe den Verdrießlichkeiten fern. Tu’ irgend etwas anderes...“
Er sah über sie hin und sagte, wie beiläufig:
„Wäre ich Ringkämpfer geblieben, auch du wärest besser d’ran...“
Sie blickte ihm ernsthaft ins Gesicht, welches seit einigen Wochen oft müde und verdrießlich aussah. Ein Gedanke kam ihr:
„Was hindert dich, Eberhard, zu deinem Vergnügen zu trainieren? du hast Zeit genug. Es wird dir gut tun. Trainiere bei André Leroux, Eberhard!“ —
André Leroux war stolz, daß Roland, der sich damals mit einem Schlage in den Sportkreisen einen Namen gemacht hatte, wieder zu ihm kam. Er hatte sich inzwischen mit einem jungen, vermögenden Mädchen verheiratet und konnte nun der Sportleidenschaft, die sein Herz fast ganz aus [S. 185] füllte, in größerem Maßstabe huldigen. Er hatte sich den sehnlichen Wunsch erfüllt, die Trainierhalle auf längere Zeit zu pachten und mit modernen hygienischen Einrichtungen nach englischem Muster und eigenen Ideen auszustatten.
Mit wahrer Schöpferfreude führte er Freidank herum. Es gab jetzt in André Leroux’ Trainierhalle warme und kalte Bäder und Douchen, Feldbettstellen mit wollenen Decken und einen elektrischen Massage-Apparat. Herren und Damen konnten jetzt jede sportliche Bequemlichkeit bei ihm haben!
„Damen?“ fragte Freidank, „Artistinnen haben doch schon immer hier geübt?“
„Nee, Damens! Feine Damens! ’n janzer Damen-Ringkampfklub!“ versicherte Leroux, freudestrahlend, daß er auch das weibliche Geschlecht für den athletischen Sport zu interessieren gewußt hatte. „Meine Frau, Lina heißt sie, trainiert die jung’ Damens. Eine Freude, sach’ ick Ihn’! Eine Lust, wie die junge Meechens ringen! Ringen und stemmen besser wie die Kerls, wahrhaftig... Es ist ’ne Schande für die junge Kerls, aba et is wahr! Meine Frau is aba ooch ’n Trainer, der sich jewaschen hat! Ooch naturell... Imma liejt se in de liebe Sonne, wie ick... Na, Sie müssen ihr seh’n! Braunjebrannt is se... dajejen sehe ick weiß wie’n Eisbär aus... Se is direkt schwarz... wie ’n Neja..., wie so ’n kleena Affe... Na, ick hab’ et jut jetroffen mit se, det muß wahr sind!... Aba nu woll’n wa ma’ ranjehn, Herr Roland —!“
Der Trainer sah übrigens, als er seine Jacke auszog und sich im ausgeschnittenen Trikot präsentierte, durchaus nicht „weiß wie ein Eisbär“ aus, sondern seine Haut glänzte in einem tiefen, natürlichen Braun. Er brauchte seit seiner Verheiratung nicht mehr Modell zu stehen und da er seine [S. 186] ganze Zeit auf die Pflege seines Körpers verwendete, war er noch kräftiger und elastischer geworden. Mit seiner glühenden Sportbegeisterung, seiner Munterkeit und seinen im Grunde vernünftigen Ansichten, die er drastisch und unter allerhand drolligen, sinnlosen Redensarten vortrug, war er ein idealer Trainer, der jeden, der sich ihm anvertraute, bis zur denkbar größten Höhe körperlicher und sportlicher Entwickelung führte.
Er ging mit Freidank äußerst scharf ins Training und erreichte damit, daß der junge Mann sich schon nach wenigen Tagen wieder frisch und lebhaft zu fühlen begann. Die Verdrießlichkeiten der jüngsten Zeit traten in den Hintergrund; er sprach nicht mehr davon und lachte sorglos, wenn Therese das Gespräch auf die nahe Aufführung brachte.
In dem Maße, in welchem der junge Mann sich der wiedergewonnenen Lebenslust überließ, wurde indessen Therese nachdenklicher und wohl auch sorgenvoller. Sie wußte, daß die nächste und auch die fernere Zukunft von der Aufnahme des Schauspieles abhing. Diese Verschiedenheit ihrer Sorgen und ihrer Auffassung von dem, was eine Entscheidung und Wendung in ihrem Leben bezeichnen sollte, führte eine unausgesprochene, stille und bittere Entfremdung zwischen den Brautleuten herbei, die Theresen tagsüber mitten unter dem Lärm und Klappern ihres Telephondienstes schmerzhaft quälte und ihren Nächten den Schlummer nahm und dafür die einsamen, heimlichen Tränen gab.
Therese saß mit klopfendem Herzen vor dem Vorhange, der sich in wenigen Minuten heben sollte, um das Werk ihres Bräutigams zu enthüllen. Es war ein kurioser und absonderlicher Gedanke für sie: diese Menschen, die ringsum die Reihen füllten, waren gekommen, um über seines Geistes Frucht Richter zu sein. Frau Ambrosius hieß das junge Mädchen aufstehen und nach irgendwelchen Bekannten ausschauen. Therese sah sich um. Sie überragte die meisten dieser Männer und Frauen. Sie kam sich in ihrer schlanken Höhe plötzlich einsam vor. Eberhard fehlte ihr. Sie dachte daran, daß er und sie in den letzten Wochen verschiedene Gedankenwege gegangen waren und sie empfand ein heißes Verlangen, in dieser Stunde, ach, in dieser Minute! alles, was sich störend fremd zwischen sie gestellt hatte, mit einem brennenden Kusse zu vernichten. Sie war doch da, die Liebe! sie lebte doch wie an jenem dämmernd grauen Januarabende, da ihre Lippen sich mit seinen aufs innigste vereinten, da die Macht ihrer Liebe so stark und sieghaft gewesen war, um den Losgelösten, Enteilenden zu fesseln und zu halten. Was hätte sie darum gegeben, hätte sie ihren Bräutigam jetzt, ehe die Aufführung begann, noch einmal umarmen und ihm mit einem Kusse ins Ohr flüstern können, daß sie eins mit ihm sei und daß sie fröhlich zu ihm halten wolle, was beiden auch der Zufall brächte! Aber sie mußte sich damit begnügen, nur ein zärtliches Gedenken dorthin zu senden, wo Eberhard weilte. —
Über einem fremdartig glanzvollen Bilde ging der Vorhang auf. Die Zuhörer waren sichtbarlich gefesselt von der Kraft einer Sprache, die mit vielem Glück die südliche Glut der Renaissancestimmung wiedergab. Die reichen Kleidertrachten, die den Augen von den Bildern der italienischen Meister her bekannt waren, erschienen seltsam und doch vertraut. Man kannte die Fabel des Stückes nicht; die Geschichte des Hauses Braglione war nicht genügend bekannt, um den Ausgang vorherwissen oder auch nur ahnen zu lassen. Darum nahm man den ersten Akt mit einem Wohlgefallen auf, der Thereses Herz in hellen Jubel versetzte.
Der zweite Akt brachte den Konflikt zwischen den feindlichen Verwandten. Da stand auf einer Seite das Paar, dem die Sympathie gehörte, Astorre mit der ihm angetrauten Lavinia. Die Bösewichter, die feindliche Partei, schmieden im Garten ihre finstern Pläne, während der Freudenlärm des Hochzeitsbanketts die Säle durchrauscht. Ein Engel wird mit den Guten sein, wird die Schwachen stützen, die feindlichen Mächte zunichte machen! — Der Akt ging zu Ende, die Jungvermählten wurden in strahlender Fackelprozession ins Hochzeitsgemach geführt. Dieses reizende Bild entzückte und riß hin; der Name des Dichters erklang von hundert Lippen, und wieder einmal, wie vor acht Monaten, stand Freidank vor einer Menge, die ihm Beifall klatschte... Irgendwo pfiff einer; der wurde niedergeklatscht ...
Hinter dem Vorhang beglückwünschten sie den Dichter, umarmten ihn in auflodernder Begeisterung. Holderbaum schüttelte ihm wild die Hände, gratulierte ihm und sich:
„Himmel, Mensch! Herr Freidank! freuen Sie sich denn gar nicht?“
In ihm war etwas... wie eine große Enttäuschung [S. 189] ... Wie anders hatte der Beifall einst im Odeontheater geklungen, da Tausende seinem schlanken Leibe, seiner Kraft und Schönheit freiwillig huldigten! Das war gewesen wie ein Meer, das dröhnend und schmeichelnd zu seinen Füßen rauschte....
„Einer hat gepfiffen!“ erwiderte er und lachte, „einer hat gepfiffen, Herr Holderbaum!“ —
„Sie sind nicht recht gescheit! Und die andern, die Bravo klatschten?“
„Immerhin!“ sagte Freidank eigensinnig, „es hat doch einer gepfiffen!“
Nein, sie huldigten nicht einem Geiste, der ihnen etwas zu sagen hatte, der sein Herzensblut und die Arbeit langer Tage und Nächte in sichtbare und hörbare Formen gepreßt hatte, um ihnen Geist von seinem Geiste darzubringen. Sie waren alle, fast alle! nur gekommen, um an dieser Stätte ihre eigenen Ideen nachgebetet, ihre privaten Meinungen bestätigt zu hören. Sie wollten gar nicht, daß der starke Überwinder Sieger bleibe und die Braut heimführe. Sie gönnten Astorre, dem guten, schwachen, friedliebenden Astorre Triumph über den kraftvollen Schurken. Ein Schrei des Mitgefühls, der Entrüstung bebte auf allen Lippen, als Astorre unter dem Mordstahl seines Feindes fiel... O, dennoch wird der Mörder unterliegen! niemals wird er Lavinia, die wunderschöne Lavinia, sein eigen nennen! — Da... wer sollte es glauben? — Lavinia, von der gesagt ist, daß sie „schön und stark ist, wie ein Tier der Wildnis,“ — sie wendet sich, wie ein Tier der Wildnis, dem siegreichen Nebenbuhler zu... Ohne Scham und ohne Mitleid, wie eine Löwin, die ohne Besinnen dem stärksten Männchen nachgeht, reicht sie dem Mörder die Lippen zum Kusse, die noch von den Küssen des ermordeten Gatten brennen...
Ein Sturm der Empörung brach los. Wie? so sollte ein Mensch, einfach weil er physisch größer und stärker war, über Moral und Recht triumphieren? Der Legitime, auf dessen Seite das Recht und die Ehre waren, mußte der brutalen Übermacht der Körperkraft weichen? Und das zuchtlose Weib dort oben, auch sie warf sich in tierischer Wahl dem kräftigen Mörder in die Arme? Ein Dichter wagte also, aller Gerechtigkeit zum Hohne, die rohe Faust zu verherrlichen, den Friedliebenden ein solches Entsetzen einzuflößen, den Frauen ein solches Beispiel aufzustellen? An allen Enden des Hauses brach der Tumult aus. Jeder einzelne fühlte sich ins Gesicht geschlagen. Jeder einzelne wollte dazu beitragen, diese Moral der Kraft niederzuschreien... niederzutreten... totzupfeifen... Einige Hände klatschten zum Hohn Applaus, einige Stimmen schrien aus Freude am Skandal nach dem Dichter. Da erschien Eberhard, der bei dem Übermaß von Wut und Mißfallen plötzlich befreit und wie erlöst sich selbst wiedergefunden hatte. Mit Entrüstung sahen es die Tobenden: er stand selber da, als der Stärkste von Allen, und er war nicht blaß, und er war nicht verlegen, sondern er lachte und machte in den Spektakel hinein eine ironische Verbeugung. Damit noch nicht genug, begann er als Antwort auf das Pfeifen und Heulen seinem eigenen hoffnungslos verlorenen Drama Beifall zu klatschen. —
Dann, als der Vorhang gefallen war, stand Direktor Holderbaum vor dem ausgepfiffenen Dichter. Er gestikulierte wild mit den Händen, schrie Eberhard an und weinte fast:
„Ich habe es Ihnen gesagt: hätten Sie auf mich gehört! Aber Sie mußten — ach, dieses Unglück! — Ihr Stück herauskriegen, statt meiner Idee...“
„Ihre Idee ist ebenfalls Dreck!“ sagte Freidank grob, [S. 191] „gehen Sie zum Teufel mit Ihrer Idee! Ich habe genug von den Ideen...“
Mama Ambrosius war nach Hause vorausgefahren; Therese stand vor dem Theater und hatte das Spitzentuch, das den Kopf verhüllte, bis übers Gesicht gezogen, um die unwillkürlich rinnenden Tränen zu verbergen. Als Eberhard kam, tupfte sie schnell mit dem Taschentuche die Augen trocken, aber er hatte ihre Tränen schon gesehen und rief mit hellem, echtem Lachen:
„Mein Liebling! Du weinst?! Aber lache doch, Therese! Aber freu’ dich doch, mein Herz, daß nun alles klar ist und klarer, als es früher war!“
Er sandte eine Botschaft nach Hause an Mama Ambrosius, daß er mit Therese noch eine Flasche Wein trinken wollte und daß er seine Braut später wohlbehalten heimbringen werde. Dann fuhren sie, fest aneinander geschmiegt, Hand in Hand, im offenen Wagen fort. Er schlug ihr mit der freien Hand die Kopfmantille zurück und sah ihr fröhlich in die Augen:
„Gott sei Dank, Therese, nun lachst du doch wieder!“
Sie fuhren durch stillere Straßen, in denen der Tageslärm schon verhallt war, durch die warme, dunkle Sommernacht dahin. Sie waren allein, erregt von den wilden Ereignissen des Abends und erfüllt von der Freude, einander so nahe zu sein.
„Ich bin so froh, Therese!“ sagte er immer wieder. „Was kann uns anfechten, Therese, da wir jung und stark und gesund sind? Heute abend wollen wir nicht von der Zukunft sprechen, mein Liebes. Heute wollen wir uns allein unserer Liebe freuen! Aber wenn du mit mir einig bist, Therese, so weiß ich, was ich tu’!“
„Ich auch!“ sagte Therese, nun ganz getröstet, „ich auch!“
Am andern Tage kam er gegen Mittag zu seiner Braut, hübsch, energisch und aufgeräumt. Mama Ambrosius tat pikiert, weil Therese viel später, als es sich nach Ansicht der Mutter geziemt hätte, nach Hause gekommen war. Sie machte Freidank darüber Vorwürfe und sagte, daß er zu allem Unrecht, was er ihrer Tochter bereits angetan habe, nun noch die schlimmste Sünde füge, ihren ehrbaren Ruf zu rauben.
„Ich will gar nicht von der entsetzlichen Blamage des gestrigen Abends reden,“ fuhr sie bitter fort. „Sie wollten den Erfolg mit aller Gewalt erzwingen... Da haben Sie das, was man mit Gewalt ausrichtet! — Hätten Sie Ihr Staatsexamen gemacht... nachher, wenn es Sie schon dazu zog, für Zeitungen geschrieben... kleine Artikel...“
„Wie Adolf Tönnies, nicht wahr?“ fuhr er dazwischen.
„Allerdings! — Er hat bescheiden angefangen... er wird sich hinaufarbeiten...“
„Erlauben Sie, liebe Schwiegermama,“ sagte Freidank höflich, „daß Therese und ich es anders anfangen! Nämlich, daß wir es doch mit der Gewalt erzwingen. Ich bin doch kräftig genug... nicht wahr?“
Er lächelte gutmütig und streckte seine großen, starken Hände aus.
Ehe indessen der Sinn seiner Rede der zornigen Dame ganz klar geworden war, schellte es und es kam Besuch; Therese, die durch einen Spalt in der Türe hinausgelugt hatte, kam zurückgesprungen, flog Eberhard um den Hals und flüsterte lachend:
„Es ist Adolf Tönnies!“
Tönnies wußte nicht, daß Eberhard und Therese Verlobte waren und war darum ein wenig erstaunt, Freidank bei den Damen zu finden. Er hätte viel darum gegeben, wenn er sich in diesem Augenblicke hätte unsichtbar machen [S. 193] können; aber er war nicht nur gezwungen, zu bleiben, sondern er mußte sogar höflich mit dem Manne reden, mit dem er vor Monaten so auseinandergegangen war! Denn Eberhard, der den Damen offenbar nichts von den Ereignissen auf jener Weihnachtskneipe der Gryphianer erzählt hatte, hielt die hellen Augen so befehlend, so zwingend auf den kleinen Tönnies gerichtet, daß Adolf die schreckliche Empfindung hatte, unter den herrischen Blicken des andern gleichsam zusammenzuschrumpfen.....
„Nun, Tönnies,“ sagte Eberhard in einer Aufwallung von Mitleid, um dem unglücklichen Kleinen über die Situation hinzuwegzuhelfen, „hast du die Zeitungskritiken über meinen ergötzlichen Skandal gelesen? Ich habe sie nämlich nicht gelesen!“ setzte er lachend hinzu.
„Ich bin wirklich — wirklich entzückt, Freidank, dich trotz dem ärgerlichen Ereignisse bei so gutem Humor zu finden! — Ja, ich habe die Kritiken gelesen... Wie? du hast in der Tat noch keine Zeitung zur Hand genommen!“
„Warum sollte ich?“ fragte er munter, „kann ein Zeitungsbericht an den Tatsachen etwas ändern?... Nun also! — Damit soll keineswegs gesagt sein, daß ich mich jetzt nicht noch dafür interessiere... Hast du zufällig Morgenblätter bei dir?“
Tönnies zog dienstbeflissen mehrere Zeitungen heraus. Da fand sich, daß die Kritiker der Zeitungen das vernichtende Urteil der Zuschauer nicht bestätigten. Sie rühmten die Fabel, sie lobten den Dialog, aber sie verwarfen eines: das, was sie die Tendenz des Stückes nannten. Die Zuschauer, so behaupteten sie, hätten ein richtiges, gesundes Gefühl bewiesen, indem sie eine Dichtung ablehnten, in der die verwerflichen Instinkte des Menschen: Mißbrauch seiner Stärke, verbunden mit Roheit und Grausamkeit, auf den Thron gehoben würden...
„Nebenbei...,“ sagte Eberhard mit freundlichem Ernste, „nebenbei hatte mein Stück keine Tendenz. Böswilligkeit hat eine Absicht hineingelegt... Das ist aber nun gleichgültig. Mich treffen keine Pfeile mehr. Die fliegen daneben. In die Luft!“
Er lachte, sein gutes, gesundes Knabenlachen, welches dem jungen Manne, der schon einige frohe und schmerzliche Erfahrungen hatte, ebenso schön anstand, wie es ihn in der sorgenlosen, unschuldigen Jünglingszeit geschmückt hatte. Tönnies sah es und fühlte, daß dieser jungen Kraft nicht durch Verrat der Freunde, nicht durch Verachtung, noch durch Mißerfolge und Widerwärtigkeiten beizukommen war. Der war aus dem Eichenholze seiner Niedersachsenheimat, der stand auf starken Wurzeln, freute sich in naiver Selbstsucht der eignen Kraft und verspottete, die ihm feind waren!
Als Tönnies sich empfahl, reichte er dem ehemaligen Freunde die Hand. Es war fast, wie eine Abbitte, und er tat es nicht ohne Überwindung. Aber Eberhard nahm sie nicht. Heut’ stand er, obwohl er dazu gar keinen Grund zu haben schien, wie ein Sieger da und rächte sich an Tönnies, der seine runden Augen auch jetzt noch in heller Bewunderung auf Thereses Dianengestalt ruhen ließ:
„Ja — du kannst mir auch gratulieren, Tönnies! Therese und ich, wir haben uns lieb! Und wir heiraten in der allernächsten Zeit... Du siehst, ich habe mehr wie gewöhnliches Glück gehabt!“
— „Wie stellen Sie sich das ‚Heiraten in der allernächsten Zeit‘, von dem Sie soeben Herrn Tönnies Mitteilung gemacht haben, vor, Eberhard?“ fragte Mama Ambrosius giftig, als kaum die Schritte des Besuchers auf der Treppe verhallt waren.
„Sehr einfach, liebe Schwiegermama! — Sie glauben [S. 195] doch selbst nicht, daß ich mich nach dem negativen Erfolg meines Stückes auf diesem Gebiete noch öfter auslachen lassen möchte? — Ich hätte auch nicht die Mittel zu solchem Luxus. — Und soll ich mich in irgendeine Schreibstube setzen? Vielleicht Bureaubeamter werden? — Ach nein! Dazu hat mir der liebe Gott die gesunden Glieder nicht gegeben. Auch will ich meiner Frau eine bessere Zukunft bieten, als die, die sie an der Seite eines schlechtbezahlten Beamten erwarten würde!“
„Was haben Sie also vor?“ fragte Frau Ambrosius beunruhigt.
„Erraten Sie es nicht? Ich werde sofort wieder Ringkämpfer!“ sagte Eberhard gelassen. „Die Gage, die ich dabei verdiene, erlaubt mir, mich in wirklich sehr kurzer Zeit zu verheiraten... Und das ist unser sehnlichster Wunsch!“ setzte er hinzu und blickte Therese innig an.
Frau Ambrosius war außer sich. Wie? das wagte er ihr zu sagen? Hatte er denn vergessen, was sie ihm vor acht Monaten deutlich genug gesagt hatte? Wäre es noch nicht genug des Unerfreulichen, ja, des Skandalösen! das er über sie gebracht hätte? — Niemals würde ihre Tochter Therese....
„Das traf vielleicht damals zu,“ sagte Eberhard sanft. „Heute, verehrte Schwiegermama, ist Therese wohl anderer Meinung geworden. Liebe ich Therese, weil sie das Telephon bedient? Nein! ich liebe sie selbst, ihren Leib und ihre Seele. Nun, darum glaube ich auch und weiß, daß Therese mich liebt, mich, und nicht meinen Beruf...“
Frau Ambrosius geriet in unendlichen Zorn. Mit ihrer Einwilligung, das schwor sie, sollte Therese nicht die Frau eines Ringkämpfers werden, der herumreiste, wie ein Zigeuner, der sich auf öffentlicher Bühne preisgab, ja, allen Blicken preisgab!
Freidank antwortete auf ihre überstürzten Reden, auf ihre Vorwürfe und ihre Tränen mit großer Sanftmut. Er wollte keine bindenden Zusagen haben, nicht heute, nicht in dieser Stunde! In einigen Wochen würde Frau Ambrosius ruhiger über diese Dinge denken.
„Nie werde ich darüber anders denken!“ rief Madame Ambrosius empört, „nimmer werde ich dazu meine Einwilligung geben! — Therese bleibt bei mir..! Gar nichts gilt die Verlobung in meinen Augen! — Oh! hätten Sie nicht Ihren Ruf aufs Spiel gesetzt! hätten Sie meine Tochter nicht kompromittiert — —! Was Sie tun, geht mich und meine Tochter in Zukunft nichts mehr an! Gehen Sie hin, werden Sie Ringkämpfer! Werden Sie unserthalben Clown! Tun Sie, was Sie mögen, nur verlassen Sie mich jetzt!“
„Leben Sie wohl, verehrte Schwiegermama!“ sagte Eberhard gelassen. „Sie werden gestatten, daß ich mich von Therese verabschiede... Therese, mein Lieb!“ — — —
Frau Ambrosius verließ das Zimmer, Eberhard und Therese waren allein. Der junge Mann reichte dem Mädchen die Hand und sagte, während seine Augen hell lächelten:
„Ob das nun sein mußte?“
„Laß es gut sein,“ lächelte Therese vertrauensvoll zurück. „Sie meint es zuletzt doch herzensgut, die Mutter!“
„Auf Wiedersehen, Liebe!“
„Auf Wiedersehen, mein Freund!“
Unter so wenig tragischen Worten gingen sie auseinander, während sie sich warm die Hände schüttelten.
*
*
*
„Liebe Therese!“ schrieb er ihr einige Tage später, „Thyssen war gestern hier. Er kam zu spät nach Berlin, um bei der Première klatschen zu helfen. Nun, er wäre ja nicht dazu gekommen! — Liebe Therese, morgen abend [S. 197] geht’s mit dem Nachtschnellzuge davon, nach Wien, zu Thyssens Konkurrenz! Herzinnig Dein E.“
Es war der erste Brief, den er ihr seit dem Auseinandergehen schrieb; sie hatten sich inzwischen nicht gesehen und nichts verabredet. Er erwartete auch keine Antwort auf den Brief und stand am Abende des folgenden Tages im Vorraume des Bahnhofes, immerfort zwischen Gewißheit und halben Zweifeln schwankend, ob sie wohl kommen würde. Nun trat er an den Billettschalter — sie war noch nicht erschienen — und warf noch einen Blick auf den Eingang. Da trat sie gerade ein, und ihre Augenpaare trafen sich über die Schar der Reisenden hinweg mit dem Gruße des Einverständnisses.
„Zwei Billetts nach Wien!“ forderte er, ohne sich erst überzeugt zu haben, ob sie mit ihm fahren wollte. Kaum hatte er die grünen Kärtchen in der Hand, so war auch schon Therese bei ihm und sagte lächelnd:
„Du hast doch beide Karten, nicht wahr!“
„Aber gewiß, Therese! Wie könnte es anders sein?“
Sie lebten gemeinsam in jenem morgenfrischen Glück, das allein denen zuteil wird, die zum ersten Male in aller Reinheit und ohne Zagen den Kelch der Liebe an unentweihte Lippen führen. Der Mutter sandte Therese jeden Monat eine Summe Geldes, welche der gleichkam, die sie vorher im Amte verdient hatte. Sie schrieb auch Briefe. Wenn sie nun nichts von dem, was sie sandte, zurück erhielt, so bekam sie von der Mutter auch keine Antwort. Zu tief waren die mütterlichen Begriffe von dem, was man seinem Stande schuldig war, verletzt worden, als daß Frau Ambrosius in kurzer Zeit über die Flucht ihrer Tochter hinweggekommen wäre.
Die künftigen Wochen und Monate fanden Eberhard und Theresen fast immer beisammen in einer glücklichen Intimität, die sie beide noch nirgends kennen gelernt hatten. Therese ging an jedem Abend mit ihrem Geliebten in den Zirkus, in dem die Schar der Athleten ihre Kraft erprobte. Nach der Vorstellung verbrachten sie zuweilen Stunden und halbe Nächte mit den Freunden, mit denen Therese harmlos, wie eine Schwester, umging. Eine vertrauensvolle Einfalt ließ in Eberhard nicht einmal den Gedanken aufkommen, Therese von den Kollegen fernzuhalten. Ihre Gefühle waren viel zu einfach, ihre Liebe viel zu kräftig, um in Eifersucht auszuarten. Tagsüber waren sie lachend, scherzend und plaudernd beieinander, wie zärtliche und manchmal gar unvernünftige Geschwister. In der Nacht aber, wenn Eberhards Haupt auf dem blühenden Busen seiner Freundin ruhte [S. 199] und er durch das Nachtgewand hindurch das gleichmäßige Pochen ihres Herzens hörte, wurde seine Liebe so tief und groß, daß es ihnen beiden täglich von neuem schien, als sei dieses Heute der erste Tag ihres Lebens und der erste Tag der Schöpfung überhaupt, und als sei die ganze schöne, selige Welt nur geschaffen worden, um Eberhard und Therese zur Lust und Freude zu dienen.
Thereses Heiterkeit wurde sanfter, wandelte sich in Weichheit und Süßigkeit um. Es trat in die Reihe ihrer Empfindungen eine zarte, frische und naive Sinnlichkeit ein, die ihr ganzes Wesen durchdrang, untrennbar von der Summe ihres Daseins, doch nach einiger Zeit auch untrennbar selbst von der geringsten ihrer Gesten. Sie wußten in unschuldiger, verliebter Genügsamkeit beide nicht, daß Thereses sinnenfesselnde Schönheit einer reizend erblühten Rose Aufsehen und Bewunderung erregte.
Vier Wochen waren sie in Wien gewesen, dann einen Monat in Lemberg und einen und einen halben Monat in Warschau. Hier trennte sich Freidank von Thyssen, der auf Weihnachten in seine Heimat reiste, und trat alsbald in die Konkurrenz Gregor Kaufmanns ein, der zu Sankt Petersburg dreißig der größten Champions zum Kampfe um die Meisterschaft von Rußland vereinigt hatte. Im Laufe der Konkurrenz sollte zwischen einigen ausgewählten Ringern der Kaufmannschen Konkurrenz und einer anderen, die ein französischer Champion zusammengestellt hatte, ein Wettbewerb um das Championat von St. Petersburg ausgetragen werden.
Gregor Pawlowitsch Kaufmann selbst kam zu Roland ins Hotel, um die Gagebedingungen und die besonderen Abmachungen innerhalb der Konkurrenz mit ihm durch einen geschriebenen Kontrakt festzulegen. Er fand Eberhard und Therese am Frühstückstische, als er sehr ungeniert ein [S. 200] trat; Therese erhob sich alsbald in einer Verwirrung, die ihr ungemein anmutig stand; denn sie befand sich in einem lichten Morgenkleide, welches nur für den häuslichen Gebrauch bestimmt und mit seinem legeren Schnitte, der manche Reize des jungen Mädchens enthüllte, keineswegs für fremde Augen berechnet war.
„Bleiben Sie, Madame, bleiben Sie!“ rief Gregor Kaufmann in seinem harten Russendeutsch, „sonst, bei Gott, laufe ich Ihnen nach und schließe mit Ihnen den Kontrakt ab...“
„Bleibe, Therese!“ lächelte Freidank. Sie sah ihren Geliebten freundlich an und ließ sich leise wieder nieder, indem sie mit einer lieblich schamhaften Bewegung ein weißes Tüchlein, das ihr von den Schultern geglitten war, um den Hals zog und seine Enden vorne kreuzweise übereinander legte.
Der fremde Ringkämpfer sah ihr interessiert zu. Gewöhnt, daß die Frauen ihm zufielen, wie reife Äpfel beim Schütteln, fand er die wenigen Frauen, die sich nicht um ihn kümmerten, originell und begehrenswert. Ihm fiel übrigens soeben der Handel ein, der sich unter den Ringkämpfern herumgesprochen hatte, jene unbedenkliche Vereinbarung zwischen Freidank und Thyssen, bei der Freidank den dritten Platz in der Konkurrenz gegen Abtretung seiner Freundschaftsrechte auf Fräulein Fritzi l’Alouette erhalten hatte ... Eine sonderbare Gedankenverbindung durchkreuzte sein Hirn:
„Madame, wollen Sie, daß Roland Zweiter wird?“
„Habe ich das zu wollen?“
„Würde ich Sie sonst fragen, Madame?“
Sie sah ihn an, zweifelnd, ob er scherze. Aber er sah gar nicht scherzhaft aus. Er lehnte nachlässig an dem Kamine und rauchte eine dünne, parfümierte Zigarette. [S. 201] Seinen kurzgeschorenen Kopf mit dem scharfen Profil, dessen Züge gleichzeitig Begehrlichkeit, Übersättigung und gesunde Roheit verrieten, hatte er weit nach hinten auf das grüne Kachelsims gelegt. Er trug keine weiße Wäsche. Sein Hals ragte aus einem gleichgültig umgeschlungenen, baumwollenen Tuche empor, und seine Kleider sahen aus, als wenn sie nicht für ihn gemacht wären.
„Also bitte, Madame,“ sagte er zwischen zwei Zügen, ohne die Zigarette aus dem Munde zu nehmen.
„Gewiß,“ sagte Therese verlegen, „natürlich, Herr Kaufmann!“
„Sie hören es, Roland,“ sagte Gregor nonchalant, „ce que femme veut, Dieu le veut, Sie wissen...! Also ich engagier’ Sie als Zweiter. Championat von Sankt Petersburg gehört dazu. Unterschreiben Sie doch diesen Wisch da... Madame, sind Sie die junge Frau, die Roditscheff die „Thres’ Roland“ nennt?“
„Wenn Herr Roditscheff sich so ausdrückt,“ sagte Therese nun tief errötend, „so bin ich dieselbe....“
„Aha,“ sagte Kaufmann, ohne etwas hinzuzufügen, stülpte seine Kosakenmütze auf den kahlgeschorenen Schädel, fuhr in seinen dicken Pelz und verabschiedete sich, ohne ein weiteres Zeichen irgendwelcher Teilnahme zu geben.
— — Frühling wird zu Sommer, Tulpen, Narzissen und Hyazinthen müssen abblühen und die Flamme auch der höchsten Leidenschaft muß nach einer gewissen Zeit auf eine Weile kleiner und matter brennen: so will es ein ewiges Naturgesetz.
Die glühenden Tulpen, die fremdartig holden Narzissen und die duftgefüllten Hyazinthen in Eberhards und Thereses Liebesfrühling waren nun abgeblüht, ihres Sommers Rosen setzten noch kaum Knospen an und bis die Rosen ihrer Liebe sich vollblätterig öffnen sollten, mußte noch eine Spanne [S. 202] Zeit verfließen... Diese Zeit zwischen ihrem Lenz und ihrem Sommer war jetzt gekommen. Es geschah ohne Verabredung und ohne die geringste Abkehr der Liebenden voneinander, daß Eberhard ab und zu ohne seine Freundin mit Kollegen oder fremden Herren einen Abend oder einen Teil der Nacht verbrachte. Therese ihrerseits schloß sich mit einiger Zuneigung an eine wunderschöne Tänzerin an, die den süßen und geheimnisvollen Namen führte: Nuit d’étoiles, das ist: Sternennacht. Sie war ein apartes Geschöpf, in Griechenland von einer französischen Mutter geboren und als Tänzerin erzogen. Die Tanzszene, die sie jeden Abend auf der Bühne als die letzte Programmnummer vor den Ringkämpfen aufführte, war von einer zarten, hinreißenden Schönheit. Sie tanzte einen phantastischen, von ihr selbst erfundenen Tanz, bei dem sie ganz in tiefblaue Schleier gehüllt erschien. Ihre Füße waren nackend. Sie schwang die Schleier mit wilder Grazie um ihren Kopf und ihren Körper, dann machte sie ergreifend feierliche, priesterliche Tanzschritte, während hinter ihrem Haupte eine große Mondesscheibe silbern aufzublühen begann, die Lichter des Theaters eins nach dem andern verlöscht wurden und endlich nichts mehr sichtbar war, als Nuit d’étoiles, von deren Schleiergewändern, erst langsam, dann immer schneller, ein silberner, blitzender Funkenregen niederzurieseln schien. Wie Kometen schossen einige stärkere Strahlen dazwischen. Und Nuit d’étoiles tanzte ihren himmlischen, märchenhaften Sternentanz, während hinter ihr die große Mondesscheibe silbern glühte und auch die Musikanten einer nach dem andern zu spielen aufhörten, bis es ganz stille war — und bis dann plötzlich wieder alle Lichter im Theater aufflammten und die süße, geheimnisvolle Sternennacht hinter dem Vorhange verschwunden war. Mit dieser jungen Frau, die im gewöhnlichen Leben Madame Chrysée genannt wurde, brachte [S. 203] Therese manche Tagesstunde zu und sah nie etwas anderes von ihr, als demütige Ehrbarkeit.
Aber niemals war Chrysée zu bewegen, mit der übrigen Künstlergesellschaft nach Schluß des Theaters in eines jener großen Vergnügungsetablissements zu fahren, in denen die Künstler und ihre reichen, vornehmen Freunde manche Nacht in Lust und lautem Jubel bei Liebe, Wein und Karten verbrachten.
War Chrysée in ihrer langen Theaterlaufbahn, die sie schon als halbes Kind begonnen hatte, so rein geblieben, daß ihr die Teilnahme an diesen Vergnügungen so tief zuwider war? Therese wußte es nicht. Aber wenn Chrysée ruhig und entschieden ablehnte, mit den andern im Schlitten fortzufahren, leuchtete so ein eigener, stiller und tiefer Glanz in ihren Augen... als ob Altarkerzen daraus hervorsahen ... Therese konnte dann nie auf ihrer Bitte, Chrysée möchte mitfahren, bestehen, und es war ihr, als müßte sie sich vor der Tänzerin schämen.
Immerhin gab es in der Gesellschaft von Sportsleuten und Sportverehrern angeregte, lustige Stunden, die Theresen, welche nie über die bescheidenen Grenzen ihres kleinen Heims hinausgekommen war, mit verlockender Macht in ihre bunten Kreise zogen. An Bewunderern fehlte es nicht. Das schöne, große „Mädchen aus der Fremde“, wie sie sie nannten, das aus einer ganz andern Sphäre kam und dennoch jedem die Gaben ihrer Fröhlichkeit und Anmut lieblich auszuteilen wußte, reizte manchen Kavalier zu mehr oder minder verhüllten Anträgen. Thereses Staunen, als sie zum erstenmal den Sinn eines solchen Antrages begriff, war unbeschreiblich; voll Schrecken teilte sie Freidank ihr Erlebnis mit. „Aber, Närrchen!“ lachte Eberhard, „was ficht dich dabei an? Laß die Schwätzer reden! Du bleibst meine schöne, stolze Liebe, du kehrst dich nicht an das Geschwätz und [S. 204] wirst selbst am besten verstehen, die Zudringlichen in ihre Schranken zu weisen...“
„Das sagst du?“ fragte Therese, „das sagst du? — Du bist ein Anderer geworden, als der du warst, o Eberhard!“
„Ich bin nicht anders geworden,“ sagte er und zog ihren Kopf an seine Brust. „Nur — ich nehme diese Kleinigkeiten nicht mehr recht ernst... Was liegt daran, ob einer, der weiß, was schön ist, sich für mein unerreichbares liebes Weib interessiert? Das nehm’ ich ihm nicht übel. Im Gegenteil: ich freue mich. Denn ich sehe daraus, der Mann hat Geschmack. Gregor Kaufmann, zum Beispiel. Ich wette, daß er dich reizend findet!“
Sie wußte es längst, aber sie bestritt es:
„Nun, Eberhard! Er wäre töricht, dieser Vielgeliebte, wenn er einen Funken Gefühl an mich verschwenden wollte! Andere bringen ihm entgegen, was er bei mir nie finden würde...“
„Unter anderen deine Freundin Nuit d’étoiles...“
„Ich bitte dich, Eberhard, wo denkst du hin? Chrysée lebt wie eine Lilie unter uns. Ihr Leben gehört allein ihren beiden Kindern, für die sie arbeitet, und dem Andenken ihres toten Gatten...“
„Bei Tage, ja, wenn du bei ihr bist, meine liebe Therese. Aber des Nachts nur so lange, wie es Gregor Pawlowitsch gefällt...“
„Das sagst du von Chrysée?“ fragte sie erschrocken.
„Nun, was wäre dabei?“
„Gregor Pawlowitsch ist verheiratet...“
„Wenn schon,“ sagte Freidank kurz. „Chrysée ist eine hübsche Frau. Es lohnt sich immerhin, sie einmal ans Herz zu drücken...“
„Solche Dinge sprichst du aus?“
„Warum nicht,“ sagte Eberhard und lachte. „Ich sage: Nuit d’étoiles ist eine hübsche, sogar eine interessante Person. Nun, vielleicht findest du Gregor Pawlowitsch hübsch und interessant... Was könnte ich dagegen einzuwenden haben?“ —
Sie hatte dergleichen leichtfertige Reden noch nie aus seinem Munde vernommen und war davon so betroffen, daß sie ihren Freund am Abende dringend bat, nach dem Theater mit ihr nach Hause zu gehen und nicht nach Strelna hinauszufahren. Aber er lachte ihr ins Gesicht:
„Warum denn gerade heute, mein Kind? Wenn wir zurückkehren, haben wir noch genug Zeit, einander in den Armen zu liegen... Gerade heute, Therese, müssen wir unbedingt hinausfahren. Die Schlitten stehen schon vor dem Hause. Iwan Lejkin, der Generaldirektor der Kurskschen Elektrizitätswerke, gibt sein Abschiedssouper... Du sollst in Leikins Troika fahren, du —! Der gute Iwan Iwanowitsch scheint ein Auge auf dich geworfen zu haben... Sei freundlich mit ihm, Therese! Ich hoffe, ein sehr gutes Geschäft mit Iwan Lejkin abschließen zu können... heute abend...“
Therese fragte nicht nach dem Geschäft. Zorn und Trotz übermannten sie. Um irgendwelcher Geschäfte willen sollte sie einem fremden Finanzmanne freundlich entgegenkommen!
„Tue, was du willst,“ sagte sie kühl. „Ich — ich werde nur mitfahren, wenn Chrysée mitfährt..!“
Chrysée war in ihrer Garderobe. Sie hatte schon das dunkelblaue Sternengewand an. Ihre Augen waren verweint, und sie deckte die Tränenspuren immer wieder mit Puder und Schminke zu. Therese trat hastig ein und sagte:
„Ach, ich wollte Sie nur etwas fragen.. Aber Sie weinen, Chrysée! O, warum weinen Sie, Chrysée?“
„Sie würden es nicht begreifen, Liebe! Es ist auch nur eine große Torheit... Was wollen Sie fragen?“
„Nun habe ich eigentlich gar keine Lust mehr zu fragen... Würden Sie heut’ abend mit uns nach Strelna fahren? Wir feiern Iwan Lejkins Abschied... Er reist morgen nach Italien...“
„Wer ist sonst von der Partie?“
„Alle!... Der Fürst Nemetzki... die Radewskaja ... Roditscheff... Gregor Pawlowitsch....“
„So?...“ unterbrach Nuit d’étoiles mit Ungestüm, „nun, ich werde heute abend mitfahren, Liebe!“
Iwan Lejkins Troika stand vor dem Eingange. Der Generaldirektor wartete voll Ungeduld auf Therese Ambrosius, mit der er seinen Schlitten besteigen und nach Strelna davonfahren wollte. Ein Teil der Schlittengesellschaft war schon vorausgefahren. Auf der Bühne hatten Roland und Gregor Kaufmann als letztes Kämpferpaar unentschieden miteinander gerungen. Nun wartete Chrysée mit Theresen, Chrysée ganz von der leidenschaftlichen Hoffnung erfüllt, daß es ihr gelingen werde, einen Schlitten mit Gregor Pawlowitsch zu erhalten. Lejkin, in seinem kostbaren Zobelpelz, stand und fluchte, daß Therese nicht kam. Nun würde er sie schließlich trotz aller Mühe nicht auf der Fahrt allein für sich haben! Endlich kam die Gesellschaft herbei. Kaufmann und Freidank waren in lebhaftem Gespräch. Mit jedem Moment sah Nuit d’étoiles ihre Hoffnung auf ein ungestörtes Beisammensein mit dem Champion mehr schwinden ... Es gab noch zwei Schlitten. Die Troika bot ausreichend Platz für drei Menschen, der andere Schlitten nur für zwei. Chrysée gelang es, Gregor Pawlowitsch unbemerkt zuzuflüstern:
„Fahr’ mit mir, ich bitt’ dich, Gregor, ich bitte dich...“
„Sei nicht so zudringlich!“ sagte er halblaut über seine Schulter hin, und laut:
„Väterchen Iwan Iwanowitsch hat den Vortritt! Wir [S. 207] überlassen ihm unsere Damen... la belle Nuit d’étoiles und die allerschönste Thres’.... Wir verzichten beide...“
Innerlich fluchend, mußte Generaldirektor Lejkin mit beiden Damen seinen Schlitten besteigen. Die beiden Ringkämpfer stiegen in den Mietsschlitten. Die Pferde zogen an, die abgestimmten Schellen erklangen, und sausend jagten die Schlitten über den schimmernden Schnee der nächtlichen Straßen dahin. Dann blieben die belebten Straßen hinter ihnen. Die Troika fuhr wie der Sturm dahin und überholte eine Menge anderer Schlitten, die dasselbe Ziel hatten. Die drei Insassen saßen dicht nebeneinander, Chrysée in der Mitte. Noch hatte keiner ein Wort gesprochen. Da griff Lejkin, ärgerlich, daß er Theresen nicht neben sich hatte, unter der Pelzdecke nach Madame Chrysées Hand, um sich an ihr einigermaßen schadlos zu halten. Bei seiner Berührung zuckte Chrysée zusammen, brach jäh in bittere Tränen aus und weinte haltlos:
„O, mein Gott, er hat mich verraten! Der Entsetzliche, der Treulose — er will nichts mehr von mir wissen! — So lange er mich brauchte, früher, in Südrußland, zu Anfang seiner Karriere, da tat er, als ob er mich liebte! — Alles, was ich hatte, habe ich ihm gegeben! Alles! — Aber es ist nicht um das... Es ist nur um seine Liebe...“
Der kalte Wind fuhr Nuit d’étoiles ins Gesicht und ließ die Tränen auf ihren Wangen zu Eis erstarren...
„Wer denn? Von wem reden Sie denn?“ fragte Therese mitleidig und erschrocken, während Lejkin, der schon viele stürmische Szenen mit Theaterprinzessinnen erlebt hatte, ziemlich gleichmütig zuhörte.
„... Gregor Pawlowitsch!“ weinte Chrysée herzbrechend.
„Ja, weshalb denn!“ sagte Therese und fuhr in der Absicht, zu trösten, ahnungslos fort: „Warum läßt sich das nicht wieder ändern? nicht gutmachen?“
Chrysée stieß unter Tränen hervor: „Um Ihretwillen! — um Ihretwillen kann er mich nicht mehr leiden... stößt er mich weg...“
„Um meinetwillen? — O Gott, welch’ ein Irrtum!“
Therese konnte kein Wort hervorbringen; sie konnte nichts gegen Nuit d’étoiles Behauptung sagen. Sie hielt die kleine, zerbrechliche Hand der Griechin in ihren warmen Händen, während Chrysée in ihren schluchzenden Bekenntnissen fortfuhr:
„Um Sie näher kennen zu lernen, verkehrte ich mit Ihnen... Sie taten nichts Schlechtes, Thres’; Sie sind gut... O, Thres’, aber ich liebe Gregor Pawlowitsch! Nehmen Sie mir Gregor Pawlowitsch nicht weg!“ —
Der Schlitten hielt an, das Vergnügungsetablissement war erreicht. Diener in altrussischer Tracht nahmen den Herrschaften die Pelze ab; alle begaben sich in den kleinen Palmensaal, der für Lejkins Gesellschaft reserviert war. Lejkin selbst führte Therese zur Tafel, stolz, wie ein König seine Königin. Er war sterblich in das schöne Mädchen verliebt. Jeder einzelne mußte es bemerken. Auch Nuit d’étoiles, die die Tränenspuren nach Möglichkeit verwischt hatte, hätte blind sein müssen, wenn sie seine offenkundigen Huldigungen nicht gesehen hätte. Diese Beobachtung tröstete sie ein wenig, zumal als sie bemerkte, daß Therese die Bewunderung des reichen Generaldirektors Lejkin nicht ungern zu sehen schien....
Eine kleine Kapelle geputzter Zigeunerinnen spielte pikante, ins Ohr fallende Melodien. Die Primgeigerin, eine prächtige Ungarin, war in Sergej Roditscheff verschossen. Sie wollte durchaus mit ihm nach Hause fahren.
„Wenn ich dir doch sage: ich mag nicht, Mütterchen Ilonka!“ rief Roditscheff lachend, „ich werde dir aber einen anderen Verehrer besorgen, tiens!“
Er ging hinaus. Im großen Kameliensaale des Etablissements wurde an einzelnen Tischen soupiert. Herren aus der Aristokratie und der reichen Börsenwelt suchten lustige Gesellschaft oder hatten sie bereits gefunden. Ein hübscher, bartloser junger Offizier und sein Vetter, ein hoher Ministerialbeamter, stürzten auf den Ringkämpfer zu und flehten ihn an, an ihren Tisch zu kommen. Der Ministerialbeamte, der von der leidenschaftlichen Schwärmerei seines Vetters für Sergej Roditscheff wußte, versuchte, ihn durch ein Kleinod, welches er von seiner Uhrkette abhängte und an Roditscheffs Berlockenring befestigte, umzustimmen. Aber er erreichte nur, daß Sergej die beiden Herren bat, zu seiner Gesellschaft in den Palmensaal zu kommen.
Nun mischte sich die Gesellschaft Lejkins allmählich mit anderen Gästen. Der junge Offizier trank mit der Primgeigerin aus einem Glase, die Radewskaja, eine Sängerin, saß einem reichen, lustigen sibirischen Fellhändler, einem Mann mit schneeweißem Apostelkopfe, auf dem Schoße und ließ sich unaufhörlich Goldstücke in den Kleiderausschnitt werfen, Chrysée wollte Gregor Kaufmann eifersüchtig machen und verschwendete darum ihre Liebenswürdigkeit an Freidank, und Lejkin stand ganz in Flammen für Therese. Er führte sie hinter eine Palmengruppe und wollte sie zum Trinken aufmuntern:
„Auf Ihr Wohl, gnädiges Fräulein! Ihr Wohl und meines zusammen...“
Therese lachte und schlug ihn mit dem Handschuh. Ihr kühngeschnittenes, stolzes Dianengesicht hob sich wie eine Gemme von dem dunklen Hintergrunde der samtenen Wandbekleidung ab.
„Ich liebe Sie, gnädiges Fräulein,“ sagte Lejkin, der sich nicht länger beherrschen konnte, indem er einen Kniefall tat.
„Mein Gott, was denken Sie, Iwan Iwanowitsch? Wissen Sie nicht, daß Roland mein Bräutigam ist?“
„Nun, Fräulein, lassen Sie uns ein offenes Wort miteinander reden!“ sprach der Generaldirektor und erhob sich von den Knieen. „Sehen Sie: ich kenne das Leben. Junges Blut ist entzückt von Ringkämpfern, Athleten — kurz: Kraftmenschen. Sie mögen mir glauben oder nicht, das ist nichts für die Dauer... nicht fürs Leben...“
„Auf wie lange das ist...,“ sagte Therese stolz, „das müßte doch wohl meine Sorge sein!“
„.... Nein, laufen Sie nicht fort!“ rief Lejkin, als sie Miene machte, aufzustehen, „bleiben Sie, ich bitte Sie! Und lassen Sie uns ein verständiges Wort miteinander reden! — Ihr Freund tröstet inzwischen die verlassene Nuit d’étoiles... Gnädiges Fräulein! liebe Therese! — ich würde Ihnen einen annehmbaren Vorschlag machen. Für die Zukunft ... fürs ganze Leben... Ich würde Sie auf Händen tragen, Therese! Ich reise... morgen... ab... Ich reise nach der Riviera, dann weiter... Liebe, schöne Therese, kommen Sie mit mir! O Therese, Sie würden es nicht bereuen!“
Therese war von einer humoristischen Stimmung erfaßt. Sie wollte diesen Mann mit seinen ungeheuerlichen Wünschen, gegen den sie nach Eberhards Wunsch recht freundlich sein sollte, wenigstens bis zu Ende anhören.
„Und mein Freund?“ sagte sie.
„Ihr Freund, Therese!... Glauben Sie mir, Nuit d’étoiles ist schon bereit, seinen Trennungsschmerz zu lindern. Halten Sie Ihren Ringkämpfer im Ernst für einen guten Menschen?“
„Ach — gut!“ sagte sie geringschätzig. „Er ist einfach zu stolz, um schlecht zu sein. Er ist zu stark, um kleinlich und miserabel zu sein!“
„Weiter haben Sie nichts vom Leben erhofft, Therese? Sie haben nicht einen Gefährten gesucht zur gemeinsamen Weiterbildung, zu gemeinsamem Genießen idealer Herrlichkeiten? O, Therese!“ —
„Hören Sie auf, Iwan Iwanowitsch,“ sprach Therese bebend. „Ich hätte Ihnen nie gestattet, dies alles zu sagen, wenn ich Sie nicht für einen braven Menschen hielte... neben Ihrem Gelde... Denn Ihr Geld imponiert mir nicht. Mir nicht, Herr Lejkin!“
„Ihrem Freunde desto mehr!“ rief Lejkin nicht ohne Schadenfreude. „Ihr Freund hat mit mir — eine Art Geschäft vor. Ich will ihm die Mittel geben, ein eignes Ringkampfwettstreit-Unternehmen zu begründen. Nun, Therese, ich wollte nicht wie ein Räuber sein, der im Dunkeln in Nachbars Haus einbricht. Herr Roland hat mir gewissermaßen erlaubt, Ihnen... so etwas... wie die Cour zu machen. Ich gebe ihm achttausend Rubel für seine Ringkampfkonkurrenz. Und Sie... Sie reisen... morgen... mit mir, Therese... liebe, schöne Therese...“
Sie hörte ihn nicht mehr. Sie war aufgesprungen, um von der Stimme des Versuchers weg zu ihrem Freunde zu eilen. Roland saß auf einem niedrigen Bänkchen. Chrysée saß an seiner Seite. Sie saß kaum mehr; halb lag sie auf der Erde, hielt seine große, feste Hand in ihren schmächtigen Fingern und drückte heiße Küsse auf die Hand des Ringkämpfers. Gregor Kaufmann ging gerade allein vorbei, die Hände in den Hosentaschen, das wollene Halstuch noch nachlässiger wie gewöhnlich umgeschlungen.
„Chrysée!“ rief er laut, „es ist ein Vergnügen für mich, dich so gut versorgt zu sehen!“
Chrysée geriet bei dem Klang seiner Stimme in wahre Raserei. „O, nicht ihn meinte ich! Dich lieb’ ich, dich! Wer kann mir dich ersetzen?“
„Rege dich nicht auf, meine Liebe,“ sagte er zynisch. „Wenn du sie haben willst, Roland, so kannst du sie behalten!“
Mit harten Schritten ging er in ein Nebengemach. Nuit d’étoiles sprang auf und flog ihm nach. Sie wollte ihn um jeden Preis zurückgewinnen...
„Nette Familienszene, nicht?“ sagte Eberhard lachend zu Theresen, die blaß vor Zorn zu ihm trat. Aber Therese war viel zu sehr erregt, um sich jetzt um Chrysée zu kümmern. Sie sah auch nicht, daß Freidank zu viel des schweren Weins genossen hatte; sie flüsterte hastig:
„Komme fort von hier... gleich... Wenn du wüßtest! Er... Lejkin hat mir....“
Sie erzählte alles, verschwieg kein Wort, welches gesprochen worden war. Eberhard hörte ihr zu. Er gab kein Zeichen von Entrüstung, zog die Augenbrauen hoch und sagte:
„Was tut das? — Gewiß, er ist unverschämt... Aber ich muß das Geld von ihm haben! Ich muß! — Therese, versteh das doch: mit diesem Gelde werde ich mein eigner Herr sein! Gehe scheinbar auf seine Vorschläge ein.... sage zu allem Ja... bis ich das Geld habe...“
„Und zu einer so schmachvollen Komödie soll ich mich herleihen?“
„Therese, welche exaltierten Worte! Tu’ es um meinetwillen ... tu’ es mir zu Liebe!“
Therese wollte hinausgehen, um sich zu verstecken... irgendwo... Aber sie lief dem Generaldirektor grade in die Hände.
„Therese! Meine Diana! O, ich wußte, daß Sie mich nicht fliehen werden! O Therese, sagen Sie ein Wort, daß Sie mit mir kommen werden!“
„Ja,“ sagte Therese tonlos und mit niedergeschlagenen Augen, „ja, Iwan Iwanowitsch, ich werde mit Ihnen gehen.“
„Therese,“ sagte er, ergriff ihre Hand und seine Stimme klang feierlich, „Gott weiß, Therese, daß ich alles tun werde, um Ihren Lebensweg süß und freundlich zu machen. Was Kunst und Wissenschaft bieten... was auf der schönen Erde zu sehen ist... was in meinen Kräften steht, soll Ihr eigen sein...“
Seine Worte erstickten in echter Bewegung. Therese sagte flüsternd:
„Ja, Iwan Iwanowitsch... morgen... aber jetzt... lassen Sie mich allein... Ich denke, Sie haben noch mit Roland über ein Geschäft zu reden...“
Sie mußte an sich halten, sie entlief, um nicht laut aufzuweinen. O, welche Komödie war das, welch ein doppelter Betrug!
Freidank, der Lejkin allein stehen sah, kam mit den schwankenden Schritten des Trunkenen auf ihn zu.
„Sie haben sich mit meiner Freundin unterhalten,“ sagte er lachend, „hoffentlich haben Sie sich gut unterhalten...“
„Ausgezeichnet!“ sagte der Generaldirektor. Er war voll bebender Freude, das schöne Mädchen überredet zu haben. „Ausgezeichnet, Herr Roland! — Und wir haben uns auch noch zu unterhalten, nicht wahr? Es ist eine Kleinigkeit... Ein Geschäft... etwas der Art... Also rund heraus, Herr Roland! Nicht wahr, Sie brauchen achttausend Rubel?“
Sie sprachen flüsternd an einem der kostbar gedeckten Tischchen, während rings um sie her der Lärm der lustigen Gesellschaft tobte. Iwan Lejkin legte sein Notizbuch offen auf den Tisch und ein langes, schmales Buch, welches Scheckformulare enthielt, daneben. Eberhards Gesicht glühte vom Weine und vor Erregung. So schnell schüttete ihm das Schicksal ein Glück in den Schoß, welches andere nur nach jahrelanger Mühe erreichen! — Lejkins kleines, kluges [S. 214] Gesicht war sehr bleich. Er wollte den Ringkämpfer jetzt beschwichtigen, ihn taub, blind und stumm machen... um jeden Preis...
„Achttausend Rubel...,“ sagte Freidank mit ein wenig schwerer Zunge. „Wenn es zehntausend sein könnten, Iwan Iwanowitsch! Ich zahle sie Ihnen zurück... gewiß zahle ich sie Ihnen zurück...“
„Zehntausend Rubel,“ schrieb Lejkin auf das Scheckformular und sprach die Worte, die er schrieb, laut nach. Er, setzte in zierlicher, feiner Kaufmannschrift seinen Namen darunter, riß das gewichtige Blatt aus dem Buche und reichte es dem Athleten.
„Einen Schuldschein —,“ sagte Roland, trotz seinem Rausche, erschüttert durch den Anblick der Geldanweisung, welche ihm Selbständigkeit und vielleicht Ruhm und Reichtum sicherte. „Schreiben Sie mir, Iwan Iwanowitsch, einen Schuldschein in der gesetzlichen Form vor, daß ich meinen Namen darunter setze.“
Der Generaldirektor schrieb den Schuldschein aus, während ein unmerkliches Lächeln um seine Lippen zuckte. Eberhard unterschrieb mit Feierlichkeit und sagte:
„Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Iwan Iwanowitsch! Sie werden sehen, daß...“
„Ach, es ist ein Geschäft, wie jedes andere!“ wehrte der Generaldirektor ab und beschrieb mit der rechten Hand einen weiten, leichten Bogen. „Ich erhalte ja auch das Meinige... ich auch, Roland Alexandrowitsch...“
Er hatte jetzt die ganze Überlegenheit des großen Finanzmannes wiedergefunden, die auf der Überzeugung ruht, daß alles käuflich ist und daß niemand den Willen hat, der gewaltigen Sprache des Goldes zu widersetzen. Therese allein war unter all’ diesen Habgierigen am schwersten zu durchschauen. Denn warum sie mit ihm [S. 215] ging, die bei dem Ringkämpfer kaum etwas entbehrt hatte... das wußte er nicht... Aber sie ging... sie hatte es versprochen... O, diese Diana! —
Chrysée war Gregor Kaufmann, der in ein kleines, zufällig leerstehendes Souperzimmer hineingegangen war, nachgeeilt. Der Ringkämpfer wollte sich gerade lang auf dem Sofa ausstrecken, als er die Frau bemerkte.
„Zum Teufel, was willst du von mir!“ rief er grob und richtete sich mit einer brüsken Bewegung auf, „siehst du nicht, daß ich ein wenig ruhen will?“
„Das ist mir einerlei!“ rief die Tänzerin hitzig. Sie hatte zu viel Champagner getrunken, war berauscht und überlegte nicht mehr, was sie redete. „Du bist schlecht zu mir... du vernachlässigst mich... du läufst andern nach...“
Gregor Kaufmann hob den Kopf und sah das zornige, kleine Geschöpf aus halbgeschlossenen Augen hohnlächelnd an: „Hab’ ich dazu ein Recht, mein Kind, oder nicht?“
Sofort schlug ihre Stimmung um; sie lief zu ihm hin, stürzte ihm zu Füßen und weinte wie ein Kind:
„Ach, liebe mich doch! Gregor Pawlowitsch, liebe mich doch! Ich werde alles ertragen, auch daß du mich betrügst ... Du tust es ja ohnehin... Ich werde dir alles geben, was ich verdiene...“
Sie umschlang seine Kniee mit ihren hübschen, zarten Armen, ihr schmächtiger Körper zitterte vor Leidenschaft und unter heißen Tränen rief sie wild und fast schreiend immer wieder:
„Ach, liebe mich doch, liebe mich doch, Gregor — —!“
„Oh —,“ sagte der Champion kaltblütig und stand auf, „jetzt wird es mir zu bunt, meine liebe Chrysée. Versuche einmal, dich ein halbes Jahr ohne mich zu behelfen. Es [S. 216] wird vorzüglich gehen, tu verras... Du bist mir so entsetzlich langweilig geworden...!“
Sie ließ seine Kniee nicht los und wiederholte nur:
„Liebe mich doch, du...!“
Gregor Kaufmann, halb ärgerlich, halb amüsiert, löste mit einer schroffen Bewegung die Umklammerung ihrer Hände und stieß die Tänzerin mit dem Fuße fort:
„Nein, Chrysée! Mein letztes Wort! — Laß mich allein!“
Lejkin war in den kleinen Palmensaal zurückgekehrt. Es war Zeit zum Aufbruch nach der Stadt geworden. Aber vorher hatte der Generaldirektor noch das Bedürfnis, mit allen denen, die hier seine Gäste gewesen waren, auf ein Glück anzustoßen, welches doch sein innerstes Geheimnis war... Er ließ neuen Champagner kommen. Alle sollten ihre Gläser an seines klingen lassen, auch Therese, mit der er sich im Einverständnis glaubte, auch Roland, den er mit den zehntausend Rubeln erkauft zu haben meinte, auch Gregor Pawlowitsch, der Nuit d’étoiles nicht mehr ansah und der schönen Therese ungeniert ins Gesicht starrte.
„Keinen Trunk mehr aus den Gläsern nach diesem Trunk!“ schrie Lejkin in die Schar seiner Gäste hinein und schmetterte den kristallenen Kelch zu Boden. Die berauschten Gäste taten ihm jubelnd nach. Chrysée griff unsinnig nach den Scherben von Gregor Kaufmanns zerbrochenem Glase, zerschnitt sich die Finger und ein dünner, heller Blutstrom lief über ihre kleine Hand. Freidank griff sofort zu und drückte ihr die Schnittwunde fest zusammen. Chrysée, in wilder Erregung, wußte nicht mehr, was sie tat. Unter trunkenen, hysterischen Tränen warf sie sich Roland an den Hals und rief:
„O Roland, du bist gut zu mir! Ich liebe dich! Fahr [S. 217] ’ mich nach Hause, Roland... fahr’ mit mir im Schlitten... Ich fürchte mich so sehr!“
„Tun Sie es ohne Sorge!“ rief Lejkin fröhlich. „Das gnädige Fräulein fährt gut und sicher in meinem Schlitten!“
Die ganze Gesellschaft fuhr unter großem Lärm und Jubel ab. Die Peitschen knallten, die vielen Schellen läuteten, und heim ging es unter Geschrei und Jauchzen durch die totenstille Wintersnacht. Nur das dumpfe Aufschlagen der Pferdehufe scholl matt durch die frostklare Luft, die den Schall nicht trug, nur der Klang der Schellen und das Kreischen der betrunkenen Zigeunerinnen.
Allen Schlitten vorauf flog Lejkins Prachtgespann. Jetzt saß der Generaldirektor allein neben der schönen Freundin des Ringkämpfers, aber er hatte sich diese erste Fahrt anders vorgestellt. Nicht einen Schritt kam sie seinem verliebten Begehren entgegen. Die süße, helle Sinnlichkeit, die wie Mittagssonnenschein auf ihrem Wesen und ihren Zügen geruht hatte, war ausgelöscht, und Therese schien wieder kühl und jungfräulich, wie eine Landschaft im Frühlicht. Lejkin versuchte sie um die Taille zu fassen und nahm mehrmals ihre Hand. Aber mit sanfter Entschiedenheit machte Therese sich jedesmal wieder frei:
„Heute nicht, Iwan Iwanowitsch. Wenn Sie es wirklich gut mit mir meinen, so wird es Ihnen ein Leichtes sein, bis morgen zu warten....“
Und dann schwieg sie wieder weite Strecken lang. Sie fühlte sich wie die erbärmlichste Kreatur, schlechter wie eine Verbrecherin, weil sie ihn belog, weil sie ihn in dem Glauben ließ, daß sie mit ihm nach Italien fahren würde, während sie fest entschlossen war, ihrem Freunde treu zu bleiben... obwohl sie Freidank bitter zürnte, daß er sie um schnöden Geldes willen zu dieser Komödie veranlaßt hatte... obwohl er vor allen Leuten Madame Chrysée [S. 218] in die Arme genommen hatte... Therese schlug den Schleier, der ihr Gesicht bedeckte, zurück und Lejkin blickte fortwährend mit Begeisterung auf ihr klares, kühnes Profil. War keine Hoffnung, sie schon heute abend zu entführen?
„Heute abend? O nein!“ sagte Therese und ihre Augen blitzten zornig auf. „Wir haben von morgen gesprochen, nicht von heute...“
Lejkin mußte sich fügen. Sie waren nicht mehr fern vom Hotel. Der Generaldirektor sah das Mädchen, das ihm kaum einen Blick schenkte, mit sehr herzlichen Gefühlen an und sprach ernsthaft:
„Ich begreife, daß Sie ihm noch diese Stunden schenken wollen... wenn er kommt, Therese. Wenn er nicht bei der trostbedürftigen Nuit d’étoiles....“
„Nein! o nein! das kann er nicht! das darf er nicht!“ rief Therese zum erstenmal in heller Verzweiflung. Was sie selbst gefürchtet hatte, hatte sie dennoch nicht einmal vor sich selbst in Worte kleiden mögen...
Lejkin sprach über diese Sache kein Wort mehr und fuhr fort:
„Wann Sie kommen, Therese, sind Sie erwartet und willkommen. Sie sollen nichts haben, Sie sollen nichts mitbringen. Am Nachmittage fahren wir aus und kaufen alles, was Sie zur Reise brauchen... Und haben Sie Vertrauen zu mir, Therese!“ sagte er beschwörend. „Ich werde Sie glücklich machen, soweit es in der Macht eines Menschen, dem Manches zugänglich ist, liegt...“
„Auf Wiedersehen, Iwan Iwanowitsch...“ flüsterte Therese, sprang aus dem Schlitten und eilte die Treppe des Hotels hinauf, ohne sich umzusehen...
Dann brannten in dem Hotelzimmer die elektrischen Birnen und verbreiteten Tageshelle, aber in Thereses Seele war schwarze Nacht. Eberhard kam nicht. —
Er kam nicht! — Er hatte sich nicht von der Tänzerin trennen können, die schmachtend und girrend an seinem Halse gehangen und um seine Liebe gebettelt hatte. Und das hatte er gerade an dem Abende getan, wo sie ihrer Liebe das größte Opfer gebracht hatte. —
Er kam nicht. — Sie ging nicht zu Bett. Sie wartete, bis die Nacht grau und blaß wurde und der Morgen zu dämmern begann. Da verblaßte allmählich auch ihre nächtliche Verzweiflung und wurde zu spöttischer Abkehr von dem Freunde ihres Herzens.
Zur gewohnten Stunde brachte man das Frühstück. Sie fror und trank eine Tasse Tee, aber sie konnte keinen Bissen von dem Brote genießen. Sie wettete zornig und stolz mit sich selber: „Eine halbe Stunde werde ich noch auf ihn warten. Wenn er dann nicht hier ist.....“ Als er dann noch nicht da war, gab sie wieder Zeit zu....
Um zwölf Uhr wurde sie von unsäglicher Wut gepackt. Sie schellte nach Schreibzeug und schrieb hastig auf den Bogen:
„Du hast mir keine Enttäuschung bereitet. Nachdem Du mir gestern abend im Ernst eine so unwürdige Verstellung zugemutet hast, mache ich nun Ernst — ganz ohne Verstellung. Du darfst nicht denken, daß ich Dir zürne, o nein. Ich wundere mich nicht einmal. Du hast dein Geld, ich habe einen reichen Verehrer gewonnen: wir haben beide von dem Handel profitiert. Viel Vergnügen, mein teurer Freund! Th. A.“
Sie kleidete sich zum Ausfahren an, bestieg einen der vor dem Hotel haltenden Mietsschlitten und fuhr in die Wohnung des Generaldirektors Lejkin. Er war in aller Frühe noch einmal in seinem Bureau gewesen und sehr bald zurückgekehrt, um Therese nicht eine Minute warten zu lassen. Nun wartete er, das kleine, intelligente Gesicht in finstere [S. 220] Falten gelegt, voll Unruhe und einer Sehnsucht, die ihm bisher fremd gewesen war. Er hatte in seinem Leben schon auf viele Frauen gewartet, aber so unruhig, mit soviel Zweifeln und Wünschen auf keine...
Wieder blickte er auf seine Taschenuhr; sie zeigte halb Eins....
Sein Diener Alexander klopfte an, trat ein:
„Gnädiger Herr... die Dame, welche der gnädige Herr erwarten, ist soeben gekommen. Sie beliebt im Bibliothekzimmer zu sein...“
Der Generaldirektor schritt an dem ehrfurchtsvoll dastehenden Bedienten so hastig vorbei, daß der Diener ihm nicht einmal mehr die Zimmertür öffnen konnte. In der Bibliothek stand Therese, das stolze Profil hell beleuchtet.
„Therese —!“ sagte er und bedeckte ihre Hände mit Küssen.
Von einem der großen Magazine aus gelang es ihr, unbemerkt von Lejkin, der nicht mehr von ihrer Seite wich, noch einmal in das Hotel zu telephonieren, wo sie mit Freidank logierte. — Herr Roland sei noch nicht gekommen, wohl aber habe er vom Hotel de Suède aus telephonisch sagen lassen, daß er mit Geschäftsfreunden zusammengetroffen sei und daß Madame ihn nicht zum Diner erwarten möge...
Um acht Uhr trug der Luxus-Expreß Therese und Lejkin in die sonnige Ferne.
Möchten dir und mir die Schmerzen erspart bleiben, die Freidanks Brust durchwühlten, als er müde, reuevoll und wie zerschlagen gegen Anbruch der Dämmerung heimkehrte und Theresen nicht fand! Im Rausche, in jenem wunderlichen Taumel, den Wein und Habgier im Verein erzeugt hatten, war er, wie mancher Samson vor ihm, dem süßen Girren einer buhlerischen Dalila erlegen. Therese war von ihm gegangen und hatte ihm nicht einmal ein Abschiedswort, aus dem Schmerz oder Empörung schrie, hinterlassen. Mit Verachtung hatte sie sich von dem Treulosen gewendet! —
Im ersten Schmerze kehrte sich seine Wut gegen Nuit d’étoiles. Ach, hätte er sie gegenwärtig gehabt! Er hätte sie niedergeschlagen! Dann fiel dem Reuevollen ein, daß er, der hätte stark sein sollen, dem schwächlichen, zärtlichen Geschöpfe mit seinen naiv animalischen Trieben keinen Vorwurf machen durfte.
Aber die Natur in ihrem milden, weisen Walten läßt nicht eines ihrer starken Kinder an einem unmäßigen Kummer zugrunde gehen. Sie sänftigt, sie lindert und heilt zuletzt, bis von der heißen Verzweiflung nur die ernste, reuige Trauer bleibt.
Roland war, mit dem Ehrennamen des „Champions von Sankt Petersburg“ geschmückt, nach Deutschland zurückgekehrt und hatte selbst eine Ringkampfkonkurrenz veranstaltet. Mit der Größe und der Kraft seines jungen, [S. 222] unverbrauchten Körpers riß er ohne Mühe den Ruhm an sich und dazu den silbernen Eichenkranz, der dem Sieger als Ehrenpreis winkte.
Jedes weitere Auftreten band den Ruhm fester an seinen Namen. Materielle Erfolge blieben nicht aus. In seinem Portefeuille häuften sich die bunten Scheine, deren jeder eine Handvoll Goldstücke wert ist, und es kam ein Tag, da er bei einem großen Bankhause einen nennenswerten Kredit besaß. Roland, der Ringkämpfer, schien plötzlich in der Lotterie des Lebens das große Los gezogen zu haben...
Er fragte nicht viel danach. Er rang nicht nur um des Ruhmes willen und nicht allein dem Reichtum zuliebe. Er liebte nur noch seinen eigenen Körper, seine Kraft, seine Frische, seine Gesundheit. Seine Lebensweise fing an, für die Ringkämpfer vorbildlich zu werden. Wer mied, wie er, den Alkohol, das unnütze Durchwachen der Nächte, das entnervende Glücksspiel und den leichtfertigen Umgang mit Frauen? Wer stand, wie Roland, jeden Morgen frisch beim Training? Er füllte fast den ganzen Tag mit der Pflege seiner Gesundheit aus. Dies alles heilte seine Seele nicht, aber es brachte ihre Schmerzen und ihre Vorwürfe zum Schweigen.
Im Anfange seiner Laufbahn hatte es ihn über die Maßen gekränkt, bei seinen Kollegen so wenig von dem zu finden, was er als Student geistige Regsamkeit genannt hatte. Jetzt wußte er, daß die meisten Menschen sich um kleine, unbedeutende Bruchstücke des Wissens abmühen und ihnen unruhevoll nachjagen, wie ein Knabe, der einem Schmetterlinge nacheilt und dabei die blühenden Beete zertritt. Rolands Leben war reich, einfach und kräftig geworden. Er spürte nicht mehr in heißer, nächtlicher Denkarbeit den Goldadern des Geistes nach, die mühselig auf [S. 223] zugraben sind und sich oft genug, wie oft! in taubem Gestein verlieren. Ihm war, als wäre er einst mit seinem schmerzlichen Ehrgeiz und aller Sehnsucht, aus toten Steinen Gold der Gedanken zu graben, in finsterer Nacht gewandelt. Er hatte an die Tore der Kunst geklopft, aber sie hatten sich ihm nicht auftun wollen; er hatte die Wissenschaften gefragt, aber auch was der Gelehrteste weiß, ist nur Stückwerk und nur ein Teil des Wissens, also daß keiner die Tiefen des Wissens je durchdringen kann. Da hatte er sich der guten, einfachen Natur ergeben; und da wuchs er nun, wie eine große, schöne, unschuldige Pflanze Gottes, sog die frischen Lüfte und den Sonnenschein der Erde in sich ein und strahlte sie in Kraft und Gesundheit wieder aus.
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Die Fédération des Sociétés françaises de lutte hatte die Weltmeisterschaft im Ringkampfe ausgeschrieben. Von jeher pflegte Lutetia, die Stadt des Lichtes, die Hauptstadt aller Freude und Schönheit, auch die Helden der Kraft in ihren Mauern zu versammeln. Im Theater Folies-Bergère sollte der Wettstreit ausgetragen werden. Auch Roland mit einem Teil seiner Ringer war eingeladen, an den Kämpfen teilzunehmen. Er kam, und der Ruf, der ihm vorausgeeilt war, wurde durch den Eindruck seiner Persönlichkeit noch übertroffen. Er war so blond, sein Gesicht war so jung, sein Wuchs so schlank, seine Muskeln so stark, und er stand im Kampfe so ruhig! Paris war entzückt und vergab ihm seine deutsche Herkunft. Und ... wahrhaftig! es gab sogar Pariser und Pariserinnen, die dem blonden deutschen Riesen lieber den Sieg gegönnt hätten als ihrem eigenen Landsmanne Claude le Titan, der unter allen französischen Ringkämpfern die meisten Aussichten auf den Endsieg hatte.
Die Kämpfe sollten einen ganzen Monat lang dauern. In den Sportklubs, in Kaffeehäusern und Werkstätten, besonders aber im Theater Folies-Bergère, wurden schon nach dem Ablaufen der zweiten Woche Wetten abgeschlossen. Da stellte es sich heraus, daß die Mehrzahl der Wettenden doch lieber auf ihren französischen Champion halten wollte, als auf Roland. Nach einem ungeschriebenen Gesetze gewann fast niemals ein Fremder das „Championat du Monde“ zu Paris. Warum also sollte es diesem Deutschen, so groß und schön er war, gelingen, die heißumstrittene Weltmeisterschaft an sich zu reißen?
In diesem Jahre waren die exotischen Ringkämpfer in der Mode. Aus der Türkei, aus Afrika, aus Amerika, aus Persien und Japan waren Athleten gekommen, die indessen außer ihrer fremdartigen Erscheinung nicht viel an geschulter Kraft und Gewandtheit in die Wagschale zu werfen hatten. Jeder Ringer, der viermal besiegt worden war, schied aus der Reihe der Teilnehmer aus. So waren die Fremdlinge, die nur der Schaulust dienten, bald ausgeschieden und die ernsten Entscheidungskämpfe begannen. —
Schon nach den Gesängen Homers erhielten die Sieger im Ringkampf blühende Mädchen als Siegespreis und Lohn. Süß ist es für den Sieger, in weichen, zärtlichen Armen auszuruhen. Aber geschwächt und entnervt wird der Kämpfer, der auch mitten im Kampf nicht dem Locken der Sirenen widerstehen kann...
Claude le Titan widerstand nicht. Zu viele weiche, kleine Hände streckten sich lockend nach ihm aus, zu viele Frauenlippen dürsteten nach seinem Munde. Warum sollte er die Rosen nicht pflücken, die so nahe an seinem Wege blühten? Er fühlte sich ja ganz sicher. Mit den bedeutenden Teilnehmern der Konkurrenz hatte Claude le Titan geheime Abmachungen getroffen, nach denen er, der populärste Cham [S. 225] pion Frankreichs, der endgültige Sieger bleiben mußte. Und da Roland, der Deutsche, übrigens der einzige unter den Ringern war, der ihm ernstlich gefährlich werden konnte, so sollte Roland der zweite Sieger sein.
Freidank hatte bis zum letzten Abende nicht an die Möglichkeit gedacht, daß es anders sein könnte. Er wußte sich frei von dem Verlangen, den goldenen Gürtel von Frankreich, die berühmte „Ceinture d’or“, um seine Hüften zu legen. Am Morgen des Entscheidungskampfes kam ein großer Buchmacher zu ihm ins Hotel. Er zeigte dem deutschen Champion Zeitungsartikel und Briefe, die sich mit den Aussichten der beiden Favoriten, Claude Titan und Roland, beschäftigten. Mehrere Zeitungen empfahlen ihren wettenden Lesern, auf den Franzosen zu halten. Die Eingeweihten wußten doch genau, daß Claude le Titan sich mit der Ceinture d’or umgürten würde.... Nun kam der Buchmacher und stellte Roland vor, daß es für ihn vielleicht möglich sein würde, den französischen Champion im Endkampfe zu werfen. Freilich: das Publikum würde wüten, wenn der Franzose fiel. Aber was lag daran? Die Hauptsache war doch, daß man bei dem gerechten und doch illoyalen eventuellen Siege das Geld aus den Wetten einstrich. Der Totalisator war nicht öffentlich, sondern geheim, und dieses allbekannte Geheimnis reizte auch Leute zum Wetten, die sich an einem öffentlichen Totalisator vielleicht nie beteiligt hätten. Natürlich sollte Roland einen erheblichen Teil des Gewinnes einstreichen!
Als der Buchmacher vertraulich und geheimnisvoll seine Vorschläge gemacht hatte, mußte Roland herzlich lachen. In aller Welt erlebte man Ähnliches! Just so, fast mit denselben Worten, hatte ihn damals ein Buchmacher überreden wollen, sich von Aloys Binder im Revanchekampfe besiegen zu lassen. Und dann war es recht wunderlich gekommen, also daß [S. 226] er über Binder im bittersten Ernst Sieger geworden war... als es um Fritzi l’Alouette ging.... Er wurde in der Erinnerung einen Augenblick lang ernst und dann doch wieder heiter, und halb im Scherz sagte er dem Buchmacher zu, er würde Claude le Titan werfen... Der Buchmacher wollte einen schriftlichen Kontrakt machen und ihm schwarz auf weiß eine hohe Summe für seinen Sieg zusichern. Da wurde Roland verdrießlich. Er sagte, was vereinbart wäre, gelte auch ohne Papier und Tinte, nahm Hut und Überzieher und ging ins Theater, um seine Briefe in Empfang zu nehmen.
Es war ein Brief aus Deutschland dabei, der viele Stempel trug und der ihm an alle Orte nachgereist war, die er besucht hatte, seit er Berlin verlassen hatte. Der Brief aber lautete:
„Lieber Herr Freidank! Es ist nun über den ärgerlichen Abend, da unser armes Paar Filippo und Lavinia so energisch ausgepfiffen wurden, schönes, dichtes Gras gewachsen und ich kann es zuversichtlich wagen, meinen Gästen das wunderhübsche Lustspiel vorzusetzen, welches Sie damals nach meiner Idee geschrieben hatten. In der ersten Aufwallung über unser gemeinsames Mißgeschick wollte ich Ihnen das Lustspiel zurückschicken; aber Sie waren plötzlich verschwunden. Dann habe ich es nochmals durchstudiert, und nun hoffe ich, daß es einen Erfolg bringen soll. Kommen Sie, lieber Freidank, zur Première am 29. Oktober! Wenn es an irgend etwas mangeln sollte — Sie verstehen mich schon — so schreiben Sie es ruhig. Diesmal wird es kein Mißerfolg, das ist mir ganz klar. Meine Idee damals war doch brillant....“
Eberhard griff an seinen Kopf. Niemals mehr hatte er sich an dieses Stück erinnert, welches er einst in Un [S. 227] lust und Eile nach einem fremden Plane zurechtgezimmert hatte. Unwillkürlich sah er auf den Abreißkalender, der an der Wand hing. Es war der Einunddreißigste. Zwei Tage zuvor war in Berlin ein Lustspiel mit seinem Namen aufgeführt worden... Natürlich, es mußte noch schlimmer aufgenommen worden sein, als das Drama. Doch, was ging es ihn heute an? Er hatte sein Leben auf eine andere Grundlage gestellt, als auf das Spiel der Worte, das Spiel der Gedanken, das heute gefeiert und morgen verhöhnt werden kann. Zum Teufel, was ging ihn das Lustspiel an? — Und doch — dennoch weckte der Brief schlummernde Gefühle und schlummernde Schmerzen. Denn es war eine Erinnerung und ein Zeichen aus jener toten, holden Zeit voll Hoffnungen und voll Liebe...
Er lief in das Café de la Paix, wo deutsche Zeitungen liegen und las mit unendlichem Staunen, daß das schlechte Lustspiel vor den Zuschauern Gnade gefunden, ja: daß es einen großen, lärmenden Erfolg errungen habe! Er verlor ein wenig seine Fassung. Sollte er nach Berlin telegraphieren, sollte er... ja, was sollte er? Jedenfalls doch durfte er heute nichts tun, sich nicht aufregen, da ihm am Abende ein anstrengender Kampf mit Claude le Titan bevorstand. Zuerst kamen doch Beruf und Pflicht! Er hatte ohnehin das Morgentraining versäumt. Er gab sich Mühe, sich das schlechte Lustspiel aus dem Sinne zu schlagen und fuhr zum Speisen. Dann machte er einen kurzen Spaziergang und kehrte in das Hotel zurück, um einige Stunden zu schlafen. Vor dem Ringkampfe tat die Ruhe gut.
Als er aufwachte, fühlte er sich frisch und gestärkt. Alle Zweifel waren verflogen, alle Bedenken besiegt. Was zog ihn zurück in das Ägypten, das er verlassen hatte? Hier war Klarheit, hier war Gesundheit und Natur, hier konnte jeder nach seiner Kraft sich durchsetzen und behaupten. [S. 228] Jeder galt hier so viel, wie er wert war. Hier war die Kraft...
Er wanderte langsam durch die hellerleuchteten Straßen dem Theater zu. Alle Plätze waren ausverkauft. Roland trat in das Theater ein und hörte eine Weile den Künstlern auf der Bühne zu. Ein berühmter Tenor, ein Kind der Provence, sang schöne französische Liebeslieder. Gerade beendete er ein heiteres Liedchen mit dem Schlußrefrain:
„A nos dames donnez le prix!“
Die Zuhörer jubelten; die hübschen, koketten Pariserinnen klatschten entzückt in die Hände und ihre schwarzen Augen in den gepuderten Gesichtchen funkelten vor Vergnügen ...
„A nos dames donnez le prix...,“ wiederholte Roland heimlich für sich. „Ach, ich weiß eine Dame, eine schlanke Diana mit blondbraunem Haar, der ich viel lieber den Preis gäbe, als euch, ihr dunkelhaarigen, sprühenden Geschöpfchen ....“
Der Sänger sang ein neues Lied. Er spielte die Laute dazu, er stand wie ein Minstrel und sang herzlich rührend und innig den letzten Vers:
„Vous êtes si joli—e!“ klang die Melodie in ihm nach, als er die Ringkämpfergarderobe betrat, um sich umzukleiden. Er war ergriffen; er dachte rein und sehnsüchtig an Theresen.... „Pour vous plaire, la mort ne me serait qu’un jeu! Je deviendrais infâme.....“
Claude le Titan, der Champion, saß im Trikot an einem Tische und war vor einem Spiegel eifrig damit beschäftigt, sich zu schminken. Dabei erzählte er ein galantes Abenteuer, welches er gestern erlebt haben wollte und welches erst an dem eben verflossenen Nachmittage ein Ende gefunden hatte....
„Zu was schminkst du dich, Claude?“ fragte Pierre le Forgeron, die „rote Nelke“.
„Ich muß doch den Damen gefallen,“ erwiderte Titan mit ordinärem Lachen.
„Ach, heute abend gefällst du ihnen doch!“ meinte Oeillet rouge, „und wenn du noch so häßlich wärst... Dem Sieger laufen sie in jedem Falle nach....“
Ein Marsch erklang, und ein Pfiff; die wenigen übrig gebliebenen Ringkämpfer marschierten auf. Zum letzten Male wurden sie vorgestellt, und Beifallsgebrüll grüßte jeden einzelnen. Und noch einmal wurde das Ringkampfreglement verlesen.
Breitspurig, selbstbewußt und selbstgefällig standen die Ringkämpfer auf der Bühne, Claude Titan mit seinem eitlen Lächeln, Pierre le Forgeron in seiner ganzen, stumpfen Vierschrötigkeit, Syrin mit seiner lächelnden Frechheit eines frühreifen Knaben.
Roland ließ seine Blicke gleichgültig über das Theater schweifen, dann durch den Kranz der Logen, in denen geputzte Damen saßen, um die Starken zu bewundern und anzubeten.
Aber dort in der ersten Loge, ganz nahe der Bühne, saß eine Schlanke im hyazinthenblauen Kleide. Zwischen den weißen Spitzen, die den Ausschnitt umsäumten, blühte ein Strauß weißer Camelien. Das lichtbraune Haar ihres Hauptes lag wie ein Krönlein über dem stolzen Gesicht, die [S. 230] Hände hatte sie, ohne es zu wissen, auf ihre bebende Brust gepreßt....
Das war Therese Ambrosius.
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Während auf der Bühne Pierre le Forgeron, die „rote Nelke,“ mit dem Kosaken Syrin rang, trat Freidank zu Claude le Titan und sprach gelassen:
„Dites-donc, Claude! — bist du in Form?“
„Qu’importe?“ erwiderte der Champion nachlässig. Aber etwas im Tone seines deutschen Gegners, was wie verhaltenes Ungewitter klang, ließ ihn aufblicken, und er fügte hinzu:
„Ich bin immer in Form!“
„Dein Glück!“ sagte Eberhard mit ungewöhnlicher Ruhe. „Denn sonst könnte heute abend vielleicht etwas passieren, was viele Leute nicht voraussehen. Enfin — es wäre kein übergroßes Unglück! Unter Kollegen gibt es bekanntlich nur ehrliche Rivalität. — Wir haben ungefähr gleiches Hüftmaß. Die Ceinture d’or würde mir so gut passen, wie dir...“
Der dumme, ungebildete Mensch wußte noch nicht ganz genau, wo Freidank hinaus wollte; aber er hörte den Hohn aus seiner Stimme und begann sich plötzlich so unbehaglich zu fühlen, wie nie zuvor in seinem Leben:
„Du sagst doch nicht......?“ fragte er dumpf.
„Ich sage!“ antwortete Freidank scharf.
Die blanken Blicke der beiden Ringkämpfer kreuzten sich, wie Klingen. Claude le Titan duckte sich wie ein Tiger, als ob er Roland an den Hals springen wollte, richtete sich aber wieder auf:
„Fichtre....! — — du willst seriös ringen!“
„Ja!“ sagte Freidank achselzuckend.
„Sacré nom de Dieu! — — Roland, bist du wahnsinnig geworden!“
„Entschuldige.....“ sprach Roland gelassen, „ist es mein Recht, seriös zu ringen, oder nicht? Willst du, daß ich das Schiedsgericht anrufe, ob ich Falle machen muß oder nicht? Da draußen sitzen sechs, acht Sportjournalisten im Schiedsgericht...... Ich bin Sportsmann, cher ami! Ich ringe im Ernst — wenn du erlaubst! — Bei uns in Deutschland wird ernsthaft gerungen! Bei uns ist, was du noch nicht zu wissen scheinst, der Sieger wirklich — der Stärkste!“
Er kreuzte die Arme, stand breitbeinig da und sah dem Franzosen in das tiefgerötete Gesicht, welches von Wut und Haß verzerrt war.
„C’est raide!“ sagte der Franzose und atmete tief auf. „Und du weißt, Carogne! daß ich die ganze Nacht und den ganzen Tag gelumpt habe... Wenn ich es wenigstens vorher gewußt hätte! — Ah, du Judas, das ist ein verfluchtes Stück! — Tu es infâme, toi.....! Infâme! Infâme! — Mais je m’en fiche pas mal! — Also gut, ringen wir seriös!“
Roland trat neben die Kulisse. Der Kampf zwischen dem Kosaken Syrin und Pierre Forgeron ging zu Ende. Man hörte in der aufgeregten Stille das derbe Klatschen der Griffe und das schwere Schnaufen des Russen. Aber Roland dachte mit seinem frohen Lächeln allein an sein schönes Mädchen, der zu Ehren er den langen, dicken Franzosen trotz aller Abrede, wie ein Ritter im Turnier, niederschmettern wollte, wenn das Schicksal ihm nur ein wenig günstig war, und in seiner Seele sang und klang es:
„Pour te plaire, la mort ne me serait qu’un jeu....! Je deviendrais infâme.......! Pour te plaire, Therese, meine Therese!“
„Vainqueur Pierre le Forgeron, 27 minutes!“ schrie der Obmann des Schiedsgerichtes in das Beifallsrasen der Zuschauer hinein, und:
„Match dernier: Roland, Allemand, Champion de St. Petersbourg, avec Claude le Titan, Paris, Champion de France!“
Claude le Titan sprang auf Roland mit jenem wilden Tigersprunge, den er eine Viertelstunde vorher in der Garderobe unterdrückt hatte.
So hatte Claude le Titan noch nie gerungen, so wild und voller Leidenschaft hatten die Pariser den allezeit Ruhigen noch nie gesehen. Er schlug Roland ins Genick, er versuchte ihm einen betäubenden Schlag mit der äußeren Kante der Hand gegen die Halsschlagader zu versetzen, welcher in den rohen Ringkämpfen der Ecole Bordelaise und der Ecole Marseillaise als „Colbac“ eine gefährliche Rolle spielt.
Die Pariser heulten vor Wut. Wie? Ihr Favorit, ihr Champion ließ sich derartig plumpe Reglementswidrigkeiten gegen diesen Prussien zu Schulden kommen? Wo blieb denn die Nationalehre, wenn ein Pariser sich im freien, öffentlichen Sport unfair gegen einen Allemand benahm? —
Dann besann sich Claude, daß er seine Kräfte nicht vorzeitig ausgeben durfte. Jetzt stand er ruhiger im Kampfe. Die Pariser wurden ihres Champions wieder froh. Parbleu, ja: man wußte doch, was man an Claude le Titan hatte, auch wenn sein Temperament ihm einmal durchgegangen war!
Und die Viertelstunden dehnten sich.
Die beiden bleichen Körper glänzten schweißbedeckt, reckten sich aus und zogen sich wieder zusammen, schnellten sich herum, wie von ungeheurer Federkraft getrieben, und ruhten wieder unbeweglich, wie Steinklumpen, am Boden.
Claude le Titan hockte seit einiger Zeit wieder einmal [S. 233] auf dem blutroten Teppich. Roland kniete neben ihm und versuchte, den rechten Arm des Franzosen unter seinem Körper durchzuziehen. Die Kenner lachten höhnisch. Ramassement de bras! Ach nein, so plump ließ Claude le Titan, der alte Fuchs, sich nun doch nicht fangen. Er stützte sein mächtiges Bein auf und war mit einem starken Schwunge seines Körpers wieder auf den Füßen.
Da war Roland mit einem gedankenschnellen Sprunge hinter ihm, faßte ihn um beide Hüften, hob den schweren Körper hoch auf,... noch höher..... bog sich weit zurück und warf sich selbst rücklings nieder:
In weitem Bogen flog Claude le Titan nach rückwärts über Rolands Schulter hinweg und lag gerade, wie ein gefällter Baum, auf beiden Schultern platt am Boden! — — — Ceinture en souplesse.....
„Vainqueur Roland, Allemand, — — une heure dix minutes! ....“
Und die Musikanten bliesen Tusch, Lorbeerkränze häuften sich ringsum, — dann wurde Roland der goldene Gürtel von Frankreich um die Hüften gelegt. In einem Blumenregen stand er, mit der berühmten Ceinture d’or de France und mit der Meisterschaft der Welt geschmückt, aber in all seiner Siegerherrlichkeit sah er nichts, als das Mädchen im hyazinthenblauen Kleide mit dem Strauß von weißen Camelien vor der Brust......
Dann wartete sie auf ihn, und er kleidete sich mit fiebernden Händen an und eilte hinaus. Sie hätten einander in die Arme fliegen mögen, um sich festzuhalten für Zeit und Ewigkeit, sie hätten vor Liebe und Freude sterben mögen, aber sie hielten ihre Gefühle stolz zurück, reichten einander nur die Hände und flüsterten mit bebenden Lippen:
„Grüß’ dich Gott, Eberhard — Therese, grüß’ dich Gott!“
*
*
*
Und als nach vielen Stunden der ganze Siegestrubel verrauscht, das Festmahl zu Ende war und die glänzenden Augen der Festteilnehmer matt geworden waren, waren allein zwei Augenpaare noch kerzenhell, und der neue „Champion du Monde“ flüsterte in Liebe und Seligkeit:
„Therese, hast du mir vergeben?“
„Ach, wirst du mir je verzeihen können, du Lieber?“
„Therese, wir sprechen heute davon und dann niemals mehr! Alles muß klar sein zwischen uns. Dann aber soll die Vergangenheit schlafen. Und wir wollen eine fröhliche Zukunft an uns reißen!“
„Sage, mein Freund, wie siehst du die Zukunft?“
„Sage zuerst, Therese, wie du sie siehst!“
„Du bleibst, was du heute geworden bist!“ sprach Therese mit freudigem, tiefem Erröten. „Obwohl.... Eberhard, ich habe in Berlin dein zweites Stück aufführen sehen....“
„Therese, was denkst du über das Stück?“
Sie zögerte einen Augenblick, denn sie wollte ihm nicht weh tun, erwiderte dann aber tapfer:
„Ich mag’s nicht leiden! Obwohl die Leute klatschten ... Du hättest sie applaudieren hören müssen! — — Aber was war das für ein Gefühl, dieselben Menschen jubeln zu hören, die damals gepfiffen haben! Sie sind so gemein... so launenhaft... so gedankenlos.....“
„Gedanken!“ sprach der Ringkämpfer mit leuchtender Stirn, „Gedanken! — Sie sind ein Wahn, sie sind eine Qual! — Ein Ruck tut mir die Dienste des sorglichsten Denkens, ein Recken der Glieder schüttelt die Qual der Gedanken ab! — Ich habe den Gedanken Valet gesagt, Therese! Mein Training ist meine Denkkunst, mein Ringkampf ist meine Philosophie. Im Reiche der Kraft bin ich vorläufig der Herr! —“
„Ich habe auch gelitten unter schlimmen Gedanken,“ sagte sie leise. „Meine Sinne haben genossen, mein Geist hat geschwelgt, aber mein Herz blieb leer. Was hat er....“ sie sprach den Namen nicht aus, „was hat er nicht alles getan, um mich zu erfreuen! Bücher und Kunstwerke hat er gebracht, eine ganze Bibliothek... Und er war so zart, Eberhard, so zart — — —! Seitdem wir aus Italien zurück waren, besaß er nur noch das Bewußtsein meiner Treue... sonst nichts..... nichts... Und doch kam der Tag, an dem die Sehnsucht mir bis an den Hals stieg und ich darin untergegangen wäre, wenn ich nicht fortgereist wäre... zu dir... ob du mich wieder haben willst.....“
Er ging auf ihren demütigen Zweifel nicht einmal ein und blickte ihr strahlend in die Augen:
„Wie gut, Therese, daß du nun ganz eines Sinnes mit mir bist! — Denn nun hält uns ja nichts mehr ab, den Bund unserer Liebe durch berufene, geweihte Hände segnen und heiligen zu lassen..... Du lächelst, meine Geliebte?“
„Nur vor Glück,“ erwiderte sie und wischte sich eine klare Träne von der Wange.
„Das mein’ ich auch, mein liebes Weib. Wir können uns vor Gottes Altar in allen Ehren finden und binden. Da geh’ ich mit Goethe, welcher es so frei und edel aussprach, daß die Trauung zwar nur eine Formel ist, aber eine so schöne: der Segen des Himmels zu dem Segen der Erde.“
Interessante
belletristische Werke
aus dem
Leipziger Verlag
G. m. b. H.
in Leipzig, 38.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen,
auch vom Verlag.
Ausführlicher, reich illustrierter
Verlags-Katalog, Preis 50 Pfg.
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig.
Hochaktuell! Sensationelle Novität!
Das Buch der Saison!
Unfruchtbarkeit
Roman von DOLOROSA.
Mit künstlerischem bunten Umschlagbild
von
RAPHAEL KIRCHNER-PARIS
.
Umfang ca. 300 Seiten.
Preis Mk. 3.—.
Das Tiroler Tagblatt schreibt u. a.:
„Dolorosa’s neuester Roman „Unfruchtbarkeit“ ist ein Gegenstück zu Zolas „Fruchtbarkeit“. Ein Grosstadtroman, der die Schattenseiten der menschlichen Fortpflanzung bis ins kleinste Detail schildert und schliesslich in dem Axiom ausklingt: „Die Fruchtbarkeit ist das grösste Verbrechen .....“
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig, 38.
KORSETTGESCHICHTEN
von
DOLOROSA
Mit farbigem Umschlag von Raphael Kirchner, Paris.
Preis Mark 3.—
Gibt es ein Thema, welches des Interesses so sicher ist, wie Schönheit und Liebe, wie die zarten Geheimnisse des Toilettenzimmers und des Damenboudoirs?
Wenn aber das Thema mit so entzückenden Variationen und mit so pikantem Charme vorgetragen wird, wie in der vorliegenden liebenswürdigen Novellensammlung der beliebten Autorin, so ist der Erfolg besiegelt. Die Grazien haben Pate gestanden bei dieser anmutigen Schöpfung, die von einem heitern, leichtlebigen, pariserischen Geiste durchweht ist. Wie bunte Falter um duftende Rosen, so gaukeln diese leichtbeschwingten Erzählungen um die entzückten Sinne des Lesers. Ist der fröhlich galante Geist Boccaccios wieder lebendig geworden? Sind all’ die Rosen und Kränzchen, die flatternden Schleifen und weissen Täubchen, die brennenden Herzen und verliebten Sentiments der Rokokozeit vom langen Schlafe erwacht? Man sollte es meinen, wenn man die gefühlvollen Helden dieser graziösen Novellen neckisch und zärtlich mit den Korsetts ihrer Herzensdamen schäkern und karessieren sieht.
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig, 38.
Tagebuch einer Erzieherin
von
DOLOROSA
Mit farbigem Umschlag von Raphael Kirchner, Paris.
12. Auflage. Preis Mark 3.—
Dieses Buch ist das zweite Romanwerk der jungen, um der unerhörten erotischen Kühnheit ihrer Dichtungen willen so schnell berühmt gewordenen und so viel gelästerten Dolorosa. Diese jugendliche Dichterin liebt es, merkwürdige und nicht alltägliche Schicksale zu schildern. Von dem „Tagebuche einer Erzieherin“ sagt sie selbst in der Einleitung:
„Ich will euch, meine Freunde, eine Geschichte von einem trüben Leben sagen; dieses Leben gehörte zu den Dingen, die so niedrig und alltäglich und gemein erscheinen, dass man nicht davon singen kann. Keine grosse, herrliche Tragödie, wie ein Gewitter. Kann einer davon singen, dass ein edles Purpurgewand durch den Staub der Strasse geschleift wurde?
„Einige ausgeschriebene Tagebücher kamen mir in die Hände, Briefe und sonst Blätter, und ein eichener Kasten mit allerlei Tand: eine kostbare Reitpeitsche, und seltsame Bilder und Gedichte und Kindersächelchen, und..
„Aber was liegt daran? — Ich will euch die schlimme, trübe Geschichte sagen; nur vergesst mir nicht, ihr Freunde, dass aus all dem bizarren Lärm doch immer Harfenakkorde der Liebe hervorklingen.“
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig, 38.
Schuhgeschichten
von
Restif de la Bretonne
übersetzt von E. LAFIÈRE
Mit künstlerischem Umschlagbild von
RAPHAEL KIRCHNER-PARIS
Preis Mark 2.—
I n seinen Schuhgeschichten erzählt uns Restif de la Bretonne von den Liebeswonnen und Qualen zweier „Schuhfetischisten“ . Er malt das Erwachen ihrer Leidenschaft, die Zuckungen ihrer krankhaften Sinnlichkeit mit einer Kraft, einer Anschaulichkeit, die erschreckend wäre ohne Restifs Meisterschaft, ohne die vollendete Kunst seiner Schilderung, die selbst die krassesten und gewagtesten Situationen zur Schönheit verklärt.
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig, 38.
Venus im Pelz
Novelle von
Leopold von Sacher-Masoch
Reich illustriert
Preis Mark 5.—
Von allen Werken Sacher-Masochs erfreut sich keines so ausgedehnter Popularität wie „ Venus im Pelz “. Sie ist die typischeste Schöpfung ihres Meisters bezüglich alles den tiefsten Wesenskern seiner Individualität Betreffenden, und verdient überhaupt die klassische masochistische Novelle der Weltliteratur genannt zu werden. Besitzt sie schon darum Leben, Reiz und Wert, übertrifft sie durch blendenden Stil und glänzendes Kolorit an sich schon das meiste, was der eminente Sprachkünstler geschaffen, erweckt sie noch aus einem anderen Grunde besonderes Interesse, weil sie eine Episode aus dem Leben ihres Schöpfers erzählt und darum als ein Stück seiner Selbstbiographie gelten darf. — Severin ist Sacher, Wanda — nicht etwa seine spätere Gattin, sondern eine seiner vielen, der österreichischen Aristokratie angehörenden Herzensköniginnen, die er in einem Ischler Hotel kennen lernte, und mit der er später jene wunderliche phantastische Reise nach Florenz unternahm, während welcher er halb gezüchtigter Sklave, halb der in allen Himmeln schwelgende Liebhaber einer strengen Herrin war.
„Habent sua fata libelli“ sagt eine oft zitierte Sentenz. Da sich in keiner der Schriften ihres Verfassers Sachersche Individualität und masochistische Eigenart so rein wiederspiegelt wie in der „Venus im Pelz“, ist es als ein glücklicher Umstand anzusehen, dass gerade dieses Buch Sachers Namen lebendig erhalten hat und erhalten wird.
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig, 38.
DÄMONE
Roman in 2 Bänden
von
R. BRÖHMEK
Mit buntem Umschlagbild von Raphael Kirchner-Paris.
Preis Mark 5.—
In vorliegendem Roman zeichnet der bekannte Verfasser mit gewandtem Griffel das Treiben zweier dämonischer Menschen, die Triebfedern ihrer absonderlichen Leidenschaften und Gelüste. Im Vordergrunde steht das Weib, eine jener herzlosen, raffinierten Koketten, welche zu den Teufelinnen gehören, hinter deren Schönheit und Majestät Härte und Grausamkeit, Tod und Verderben lauern. Sie weiss das traurige Geschick eines adeligen Hauses zu benutzen, um das junge, männliche Haupt der Familie, welches schon als Knabe ihre strenge Behandlung mit pathologischer Hingebung ertragen hat, in ihr gefährliches Garn locken. Sie demütigt ihre Nebenbuhlerin, deren Liebreiz die Sinne ihres adeligen Seladons von ihr abgewandt hat, verfolgt die Unschuldige mit ihrem Hass und facht die extremen Neigungen der Knabenseele zu wildem Sinnestaumel an. Und wie sich bekanntlich tausend Männerköpfe unter den Fuss eines schönen, grausamen Weibes beugen, so verliert auch der junge Baron den moralischen Halt, die Herrschaft über sich selbst, und erliegt der tödlichen Gewalt der dämonischen Messaline.
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig, 38.
Der Hass der Polin
Roman von
KURT FELSINGEN
Mit buntem Umschlagbild von
RAPHAEL KIRCHNER-PARIS
Preis Mark 3.—
Der Roman schildert die Geschichte eines vornehmen, stolzen und herrschgewohnten Weibes, das, erfüllt von fast fanatischer Menschen- und Mannesverachtung, dem Drange diese ihrer Gelüste zu befriedigen freien Lauf lässt.
Doch diese Frau selbst schafft sich die Sühne.
Ein stolzer selbstbewusster Mann ist von ihr aufs Ungeheuerlichste gedemütigt worden in brutaler Vergewaltigung, und nun nimmt dieser Mann Rache. Die Schilderung dieser Vergeltung, die erst nach Jahren und unter den romantischsten Umständen eintritt, ist von wunderbarer Feinheit und packendster Wirkung, der Aufbau der Handlung derart spannend, dass der Leser bis zum Ende vollständig im Banne der Darstellung bleibt.
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig, 38.
Die Venuspeitsche
von
Carl Felix von Schlichtegroll.
Band I:
Die Hexe von Klewan
Novelle .
Preis Mk. 3.—
Ungewöhnlich wie der Titel dieses Buches dürfte auch der Inhalt erscheinen. Der Verfasser hat es unternommen, in ihm ein sexual-pathologisches Problem, nämlich das der Algolagnie (Masochismus) in verschiedenen Einzeldarstellungen dichterisch zu behandeln. Er zeichnet in seiner Titelheldin eines jener dämonischen Weiber, deren schrankenloser Gewalt fast jeder ihr nahende Mann willenlos unterworfen ist. Durch seine Kenntnis der Völker des Ostens und die Schilderung des an religiösen Wahnsinn grenzenden Kultus einer der zahlreichen russischen Geheimsekten weiss er den Leser durch eine Reihe teils grausiger, teils ergreifender Bilder in gleicher Weise zu fesseln, wie zu erschüttern.
Sacher-Masoch urteilte über von Schlichtegroll in bezug auf die vor mehreren Jahren erschienenen „Totentänze“:
„Schlichtegroll ist ein bedeutendes Talent, auch besitzt er jene Eigenart, welche heute unerlässlich ist, wenn man im Gewühl der literarischen Menge nicht unbemerkt bleiben soll. Seine Sprache ist lebendig und bildlich. Stoff und Kolorit werden ungleich bunter bei ihm durch die Vertrautheit mit der Welt des Ostens, der er verschiedene gelungene Bilder entlehnt; er trifft ebenso sicher den Ton für rumänische oder serbische oder galizische Stimmungen und Vorgänge. Alles in allem eine jener wenigen Sammlungen, die beachtet und vor allem gelesen zu werden verdienen.
Man braucht nicht gerade ein Prophet zu sein, um voraussehen zu können, dass wir von dem Dichter, der seines Zeichens eigentlich ein Maler ist, noch manches Schöne zu erwarten haben.
Man sieht es seinem starken Talent an, dass er noch lange nicht sein letztes Wort gesprochen hat.“
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig, 38.
Die Venuspeitsche
von
Carl Felix von Schlichtegroll
Band II:
Ulrich von Liechtenstein
Novelle .
Preis Mk. 4.—
Der Autor führt auch in diesem Bande den sexualpathologischen Grundgedanken des ganzen Werkes konsequent weiter. Freilich bietet er diesmal kein Bild aus der Gegenwart, noch ein solches aus dem reizvollen Milieu Halbasiens, sondern er hat jetzt einen weiten Ritt in die Vergangenheit, in die Minnesängerzeit unternommen, aus welcher schöpfend er ein farbenreiches und zum Teil drastisches Gemälde vor unseren Augen aufrollt.
Die Seltsamkeiten, welche das Leben des Helden charakterisieren, schliessen sich, so ungeheuerlich sie erscheinen mögen, der historischen Überlieferung auf das Engste an. Ebenso kann für jeden Zug des monströsen Charakters der Pfannenbergerin, der Geliebten des berühmten Ritters, mehr als ein historisches Beispiel geliefert werden.
von Schlichtegrolls Werk liefert somit einen höchst interessanten Beitrag zur Charakterisierung jener fälschlich als sentimental angesehenen, in Wahrheit jedoch sinnlich-derben, ja brutalen Epoche unserer Vergangenheit.
Die Freunde, die der Autor sich durch seine „Hexe von Klewan“ erworben, werden auch in diesem seinem neuesten Buche die Kraft rücksichtsloser Schilderung wiederfinden, die jenes Werk auszeichnet.
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig, 38.
Die Venuspeitsche
von
Carl Felix von Schlichtegroll
Band III:
Satans Töchter
Roman .
Mit künstlerischem bunten Umschlagsbild.
Preis Mk. 4.—
In ruhigem Flusse setzt die dem modernen Leben entnommene Erzählung ein. Alltägliche Vorgänge, nur ganz leise von Tönen der Leidenschaft durchzittert, spielen sich zunächst vor den Augen des Lesers ab, bis plötzlich ein Orkan wilder Gewalten, in den Gang der Handlung hereinbrechend, den Helden des Buches in tollem Wirbel und atembeklemmender Hast durch alle Höhen des Himmels und die Abgründe der Hölle hindurchjagt.
Je mehr der Gang der Ereignisse fortschreitet, desto verwirrender, grausiger und farbenglühender offenbaren sich die in kühnen Zügen entworfenen Bilder, bis endlich unerwartet hereinbrechendes Licht alle nächtlichen Wolken verscheucht und den Leser erlöst aufatmen lässt.
Die beiden Frauengestalten, denen das Buch seinen Titel verdankt, sind in ihrer skrupellosen Energie, in der Leidenschaftlichkeit und der Zügellosigkeit ihrer Natur mit Fug und Recht dem Dämonenreiche entstammende Geschöpfe zu nennen. Aber nicht nur ihre bis zu äusserster Konsequenz durchgeführte Charakteristik verleiht dem Werke Reiz und Glanz, auch die prachtvollen Schilderungen des landschaftlichen Milieus verdienen ausdrückliche Betonung und werden mit dazu beitragen, dem Autor als eigenartigen Schilderer absonderlicher Verhältnisse und Situationen neue Freunde zu gewinnen.
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig, 38.
Die Venuspeitsche
von
Carl Felix von Schlichtegroll.
Band IV.
Die Wölfin.
ROMAN
Mit künstlerischem bunten Umschlagbild
Preis Mk. 4.—
Der Verfasser führt den Leser in die wildbewegte Epoche der französischen Revolution.
In jenen blutbesudelten und nach Umgestaltung alles Bestehenden ringenden Zeiten trat eine Anzahl politischer Amazonen auf, und eine dieser ist es, deren Werden und Vergehen Schlichtegroll in der Gestalt „Der Wölfin“ gezeichnet hat.
Théroigne de Méricourt ist ihr Name. Ein Geschöpf von brennendem Ehrgeiz und rasenden Leidenschaften; eine durch und durch Verworfene ihrem Wandel wie ihren Taten nach, und dennoch ein Weib, dessen starkem Geiste, dessen unerschrockenem Mute schaudernde Bewunderung gezollt werden muss, selbst von denen, die in ihr nichts als die Verkörperung weiblicher Bestialität zu erblicken vermögen. Eine Jeanne d’Arc d’impur hat Limartine sie genannt und mit diesem Ausdruck ihr Bild auf das schärfste und treffendste gekennzeichnet.
Doppelt interessant für die Gegenwart dürfte dies geniale Ungeheuer schon darum sein, weil sie ähnlichen Wünschen und Bestrebungen, wie unsere Frauenrechtlerinnen solche verfechten, bereits in ihren Tagen energischen Ausdruck verlieh. Sie wollte den Mann entthronen und die Herrschaft des Weibes begründen, da sie sich als berufene Rächerin ihres Geschlechts an dem anderen, dem stärkeren, fühlte.
In diesem Kampfe und an der Unmöglichkeit, ihre ehrgeizigen Phantastereien verwirklichen zu können, wie an der Unmässigkeit ihrer eigenen Natur ging sie unter — und aus diesem tritt ihr Schicksal uns als ein tief tragisches entgegen.
So leidenschaftlich, erschütternd, grausig und ungewöhnlich die Taten und Schicksale „der Wölfin“ auch erscheinen mögen, so gilt doch auch von ihnen das Wort Shakespeares:
„Alles ist wahr.“
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig
In Servitute Felicitas
von Irene Brug
Preis Mk. 2.—
E
E ine neue Romandichterin tritt mit dem vorliegenden Buche zum erstenmale vor die Öffentlichkeit. Sie erzählt uns keine süßliche und sentimentale Liebesgeschichte von zwei Menschen, die sich nach Überwindung von allerlei Hindernissen glücklich „kriegen“, sondern sie greift mit anerkennenswertem Freimut ein Problem an, das mit gleicher Geradheit und Ehrlichkeit wohl noch nie von einer Frau behandelt worden ist: Das Problem der Herrin Weib, des Weibes, welches in maßlosem Geschlechtsstolz sich selbst zur Königin des Mannes ernennt und hochmütig, rücksichtslos und ränkevoll genug ist, um den liebenden Mann ihrer Herrschaft zu unterwerfen. In jeder Frauenseele liegt, mehr oder weniger bewußt, dieser herrschsüchtige Weibstolz, aber schwer und ungern entschließt sich das Weib, diese innere Triebfeder ihres Handelns einzugestehen.
Die Geschichte eines merkwürdigen Seelenlebens ist von der Autorin mit schlichter Einfachheit, ohne viel Ausschmückungen und Rankenwerk, erzählt, und diese große Natürlichkeit der Sprache und Schilderung bildet nicht den geringsten Charme dieser reizvollen Geständnisse einer Frau.
Sinnen und Lauschen
Briefe an einen Freund
Ein Beitrag zur Psychologie der Homosexualität
von
Hanns Fuchs
Preis Mk. 5.— ord., eleg. geb. Mk. 6.—
E
E in homosexueller Briefwechsel! Über Homosexualität und Homosexuelle ist bis jetzt so viel geredet und geschrieben worden, daß es an der Zeit erscheint, die Homosexuellen selbst über sich und ihre Frage, über ihre Stellung in Welt und Gesellschaft, über ihre Psyche zu hören.
In fesselnden Briefen, die auf Rat eines weltbekannten Arztes und Psychologen der Öffentlichkeit übergeben werden, erhält der Leser interessante Einblicke in das Innenleben, in den Vorstellungskreis eines Homosexuellen. Dieses Werk dürfte eines der interessantesten Bücher der Gegenwart sein.
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig.
Ein neuer Roman von Hanns Fuchs
Verfasser von
„Claire“ und „Auf Dornenpfaden“
In purpurnen Schmerzen
Stationen von einer Lebensreise
Roman von HANNS FUCHS
Mit Umschlagbild von Raphael Kirchner, Paris
Preis Mk. 3.—
D
D er Verfasser ist zu dem Problem seines ersten grossen Romans, zu dem des Masochismus, zurückgekehrt. Er selbst nennt diesen Roman eine neue Studie über den masochistischen Mann, und er schildert uns mit seinen bekannten leisen und eindringlichen Mitteln einen Mann, der zwischen Arbeit und Genuss als willenloser Spielball seiner Leidenschaften hin- und hergeworfen wird. Alles Äusserliche dieses ergreifenden Problems hat sich Hanns Fuchs in früheren Romanen von der Seele geschrieben, und so ist hier alles nur innerlich und seelisch.
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig.
Im Erscheinen begriffen:
Dominatrix
Roman-Zyklus von R. Bröhmek .
Band I
Der Sklave der schönen Despotin
Mit künstlerischem Umschlagbild von Raphael Kirchner, Paris
Preis Mk. 3.—
Band II
Fräulein Lehrerin
Mit künstlerischem Umschlagbild von Raphael Kirchner, Paris
Preis Mk. 3.—
E in altes deutsches Sprichwort sagt: „In jedem Weibe steckt ein Teufel“, und ein französisches Sprichwort lautet: „Tout homme diable et la femme surtout“.
Nun, das Dämonische mag der Natur des schönen Geschlechtes besonders eigen sein, doch bedarf es stets genügender Momente, um die schlummernde Leidenschaft des teuflisch Bösen im Herzen der Frauenseele zu erwecken. Wir stehen hier vor keinem Rätsel mehr, längst sind die Verschmelzungen von weicher Sinnlichkeit und harter Strenge, von Wollust und Grausamkeit bekannt, und die Bemerkung, die man oft beim Anblick eines weiblichen Wesens hört „das Weib ist schön wie ein Teufel“ entbehrt nicht ihrer Berechtigung. Und ist ein Weib schön, so findet es feurige Verehrer und Anbeter ihrer die Sinnlichkeit berauschenden Reize.
Jugend und Schönheit sind keine Bürgen gegen Grausamkeit, und gerade in jungen, schönen Weibern wächst die Sucht nach Herrschaft, weil das eigene Bewusstsein die Stärke hierzu verleiht. Die Grausamkeit liebt aber auch die Schwäche, und je haltloser sich ein Mann zu den Füssen einer grausamen Schönen zeigt, um so straffer wird diese die Zügel der Herrschaft spannen, um so herzloser mit ihrem Besiegten verfahren. Mit der Hilflosigkeit des Unterlegenen nimmt die Grausamkeit des Siegers zu, bis dieselbe in Verachtung übergeht. Wer ist grausamer als die schöne Frau, welche kokett vom Scheitel bis zur Sohle ihrer Schönheit huldigen lässt, die sich daran ergötzt, Männer zu ihren Sklaven zu machen, die Vergnügen und teuflische Freude daran findet, ihr Opfer bis zum Wahnsinn zu quälen und die Wirkung ihrer despotischen Gelüste mit katzenartigen Augen beobachtet, bis sie glaubt, weit genug gegangen zu sein. Frauen lieben die Macht mehr als die Männer, und das meist unterdrückte Verlangen nach Macht ist die Quelle von vielem Bösen, wenn sich einem Weibe die Gelegenheit bietet, ihre schlummernden Herrschgelüste zu entfalten.
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig.
Den Fuss im Nacken
Roman von R. Bröhmek .
Mit künstlerischem bunten Umschlagbild v. Raphael Kirchner, Paris.
Preis Mk. 3.—.
(Der Romanserie „Dominatrix“ dritter Band.)
D ie Natur treibt mit dem Menschen oft ein lächerliches Spiel. Sie stattet den einen trotz seiner körperlichen Schwäche und Unansehnlichkeit mit eminenter Willens- und Charakterstärke aus, während sie umgekehrt dem anderen kraftstrotzenden Hünen die Anwandlungen eines Schwärmers verleiht. Solch letztere Extreme weist der Held des vorliegenden Romanes auf. Er ist von Statur ein Riese, ein Urgermane mit lockigem Blondhaar und stahlblauem Auge, er besitzt die elementare Kraft seiner Urväter und mag auch stolz gewesen sein auf seine Mannesstärke, sich im Bewusstsein dieser Männlichkeit erhaben gefühlt haben bis zu jenem Momente, wo sich das Weib mit all ihren bestrickenden Reizen zum ersten Male voll und ganz seiner Sinne bemächtigt.
Das junge liebreizende Mädchen, welches er im Herzen Brasiliens kennen lernt, und welches tatsächlich von faszinierender Schönheit ist, lässt alle Gluten verhaltener Leidenschaft hell in ihm auflodern, reisst ihn zu rasendem Liebesparoxysmus fort. Und seine Leidenschaft wird noch mächtiger, als sich das schöne angebetete Mädchen, das junge königliche Weib als stolze herrische Dame zeigt, die gewohnt ist, ihre Negersklaven zu züchtigen, deren Mund sich zu grausam spöttischem Lächeln verzieht, wenn der Sklave ihr zu Füssen kniet. — — —
Auch in diesem Roman zeigt sich der Verfasser als meisterhafter Schilderer der menschlichen Psyche, er beweist, wie schnell die Leidenschaft alle Würde, alles Selbstbewusstsein abstreift, wie die stärkste Natur sich sklavisch demütigt, wenn die Sinnenlust sie treibt, und wie fest und energisch sich auch ein weiblicher Fuss auf den Nacken eines Mannes setzen kann, dessen Sinnenrausch ihn unter die Peitsche eines angebeteten Weibes zwingt.
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig, 38.
Grausame Frauen
von
Leopold von Sacher-Masoch.
Preis jeden Bandes Mk. 1.—.
Bd. I. (Sphinxe)
Inhalt:
Bd. II. (Starke Herzen)
Inhalt:
Bd. III. (Sieger u. Besiegte)
Inhalt:
Bd. IV. (Amazonen)
Inhalt:
Bd. V. (Richter und Henker)
Inhalt:
Bd. VI. (Weiberrache)
Inhalt:
Jeder Band ist einzeln abgeschlossen und einzeln käuflich.
Preis für jeden Band Mark 1.—.
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig
Memoiren
der
Schwester Angelika
einer entlaufenen Nonne des Klosters zu Cork
Dritte Auflage. Mit Illustrationen.
Nach dem Englischen von
J. Johnson
Preis Mk. 2.—
Afrika’s Semiramis
Roman von
Leopold von Sacher-Masoch
herausgegeben von
C. F. von Schlichtegroll
Preis Mk. 3.—
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig
Unter dem Bakel
Erzählungen
von W. Reinhard .
Preis Mk. 3.—
Inhalt : I. Die Folgen einer Fahnenweihe. II. Bruchstücke aus dem Tagebuche eines Russen. III. Der Student auf der Strafbank. IV. Die Brautfahrt nach Surinam. V. Plauderei mit einem Zuchthausaufseher. VI. Die Lederhose als Ehestifterin.
Der Kaibenturm
Eine Hexengeschichte
Nach Schweizer Prozessakten der dreissiger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts erzählt von Heinrich Schmidt von Kirchberg .
Preis Mk. 3.—
Inhalt der einzelnen Kapitel:
Leipziger Verlag G. m. b. H. in Leipzig.
Im Lande der Souldrivers
Geschichten aus den Sklavenstaaten Nordamerikas
von William Taylor .
Band
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I.
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Als Quarteronen verkauft. Illustriert Preis Mk. 2.—. |
„
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II.
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Unter der Peitsche Donna Isabellas. Illustr. Preis Mk. 2.—. |
„
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III.
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Am Abgrund der Schande. Illustriert Preis Mk. 2.—. |
„
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IV.
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Sklavenliebe. Illustriert Preis Mk. 2.—. |
„
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V.
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Im Hause des Sklaven-Reverend. Illustriert Mk. 2.—. |
„
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VI.
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Unter Maronnegern. Illustriert Mk. 2.—. |
Soeben erschien ein neues Werk aus der Feder des bekannten Schriftstellers William Taylor , dessen Werke „Auf Hearneshouse“ und „Quenqueza“ so schnell die weiteste Verbreitung fanden und sich die Gunst der Leser im Fluge eroberten.
Unter dem Gesamttitel:
Im Lande der „Souldrivers“
Geschichten aus den Sklavenstaaten Nordamerikas
schildert der Verfasser, gestützt auf authentische Quellen und Zeugnisse von Sklavenhaltern, Sklavenhändlern und von Personen, die jahrelang in den Pflanzerstaaten des südlichen Nordamerikas lebten, in einer Reihe in sich abgeschlossener, aber untereinander zusammenhängender Erzählungen, das Elend und die Leiden, denen dort die Sklaven beiderlei Geschlechts unterworfen waren. Die entsetzlichen raffinierten Martern, die von grausamen Herren und Herrinnen mit geradezu teuflischer Phantasie ersonnen, über sie verhängt wurden, die schmachvollen Demütigungen und schändlichen Zumutungen, denen namentlich heranwachsende Mädchen und junge Frauen von Seiten der Sklavenhalter ausgesetzt waren, die systematische Vernichtung jeglichen Selbstbewusstseins im männlichen Quarteronesklaven durch die Gattinnen und Töchter der Sklavenhalter, alle diese Greuel führt der Verfasser in plastischer Weise dem Leser vor Augen — kurz, William Taylor reisst hier mit mutiger Hand den Schleier von den Greueln, die einst unter dem Schutze und mit Zustimmung der Regierung in den Sklavenstaaten Nordamerikas verübt wurden.