The Project Gutenberg eBook of Aus grauen Mauern und grünen Weiten

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Title : Aus grauen Mauern und grünen Weiten

Author : Gustav Riess

Release date : November 19, 2021 [eBook #66770]

Language : German

Credits : The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK AUS GRAUEN MAUERN UND GRÜNEN WEITEN ***

Anmerkungen zur Transkription

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Aus grauen Mauern
und grünen Weiten

Schauen und Sinnen
auf Heimatwegen

Von

Gustav Rieß

»Nehmt die Wünschelrute deutschen Findergeistes in die Hand, durchwandert mit ihr die deutschen Städte, die deutschen Fluren, die deutschen Wälder, die deutschen Berge: und ihr werdet Quellen finden und erschließen, aus denen Tiefsinn und Schlichtheit, Schönheit, Großartigkeit und Anmut, Kraft und Milde, Erhabenheit und Einfachheit in Überfülle hervorsprudeln, als segenspendende Ströme für unser Volk und für die Welt.«

Paul Graf v. Hoensbroech.

5. Band der Heimatbücherei

des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz

Dresden 1924


Otto Wigand’sche Buchdruckerei G. m. b. H., Leipzig.


Meiner Frau und Wandergenossin
durch Heimat und Leben


Inhaltsverzeichnis.

Seite
1. Alt-Freibergs Romantik 5–19
2. Von festen Mauern und festen Herzen 20–59
3. Gesichte und Geschichten vom Freiberger Rathaus 60–103
4. Was der Petriturmknopf erzählt 104–125
5. Spruchweisheit in alter und neuer Zeit 126–170
6. Im Freiberger Dom 171–213
7. Vor der Goldenen Pforte 214–229
8. Haldenwanderung 230–243
9. Das Tännichttal im Tharandter Wald 244–272
10. Der Königstein 273–322
11. Eine Fahrt ins Weihnachtsland 323–361
12. O du fröhliche, o du selige Weihnachtszeit 362–370

[5]

Alt-Freibergs Romantik.

Nicht lange vor dem Kriege hatte ich mit meinem Freunde Heinz eine köstliche Wanderfahrt ins Blaue mit dem Rade unternommen. Die alten lieben Städtchen am Main, wie Wertheim und Miltenberg, übten ihren mittelalterlichen Zauber, die Landschaft und der Frankenwein ließ unsere Herzen höher schlagen. Wie auf leichten Schwingen flogen wir durchs liebliche Taubertal. Eines Tages war das alte herrliche Rothenburg o. T. unser lockendes Ziel. Wir hatten das schöne Weickersheim mit seinem mächtigen Hohenlohe-Schloß und vergessenem, verwunschenem, verträumtem Park besucht und kamen gegen Sonnenuntergang über die Höhen an den Rand des Taubertales. Wir traten aus dem Walde: da lag plötzlich vor uns wie ein Märchen in rotglühendem Abendschein aus duftigem Talgrunde aufsteigend die alte herrliche Stadt mit ihren Mauern und Türmen, mit ihren Giebeln und Dächern und malerischen Toren in wundervollem Umriß vor dem leuchtenden Abendhimmel. Wir konnten nur stumm und atemlos schauen und schauen und haben den unvergeßlichen Eindruck nie wieder aus dem Herzen verloren. – Einige Jahre nach dem Kriege kam ich mit der Bahn von Würzburg nach dem alten herrlichen Rothenburg, um meiner Frau dieses Kleinod der Erinnerung zu zeigen. Wehe – ein nüchterner Bahnhof, eine langweilige Landstraße zur Stadt – – nichts von Romantik [6] bis wir in der Stadt waren und der mittelalterliche Zauber unsere empfänglichen, zunächst so enttäuschten und ernüchterten Herzen wieder umsponnen hatte. –

Freiberg ist kein Rothenburg, und Tausend mögen durch seine Gassen wandern ohne je eine Spur von Romantik oder mittelalterlichem Zauber zu finden. Tausend mögen kopfschüttelnd wieder davongehen mit enttäuschtem, ernüchtertem Herzen, weil der karge, spröde, ernste Geist und Charakter der Stadt kein Lächeln für sie fand, das ihre Seele aufschloß und warm machte, wie jenes heitere, köstliche Stadtjuwel im Süden so leicht es vermag.

Und doch kann Romantik in Freiberg lebendig noch werden, wenn auch die grausame Gegenwart unendlich viel davon geraubt hat. Die rechte Stunde, den rechten Ort, die rechte Art zu schauen und zu lauschen, muß man haben, muß man suchen und finden, dann wird der Zauber lebendig und die verschütteten Brunnen der Erinnerung fangen an zu strömen, verstummte Glocken tönen, die Augen und Herzen werden sehend, das Verlorene ist wieder da und lebt und füllt mit seinem wundersamen Leben und Weben die Stätten, welche zuvor leer, öde, karg und nüchtern schienen. Öffne dein Herz der Heimat, dann nimmt sie dich an ihr Herz und raunt dir wundersame Kunde zu und stille Geheimnisse, die dich reich und froh und stille machen. Heimat ist nicht Sache der verstandesmäßigen Vorstellung, sondern der seelischen Empfindung. Die Heimat hat nur der, welcher Heimatgefühl hat. Die Heimat liegt nicht draußen irgendwo, wo der nüchterne Verstand und kritische Geist seine harten, kalten Grenzsteine setzt, nein, wer sie sucht, der muß im eigenen Herzen suchen, muß die Arme ausbreiten, wie das Kind der Mutter entgegen, er muß glauben und lieben.

[7]

Willst du an das Herz und das innere Wesen der alten getreuen Bergstadt herankommen, willst du willig den spröden Reiz ihrer Herbheit kennenlernen und dir erobern, dann darfst du nicht mit der Bahn zu ihr kommen und durch das geräuschvolle Gewühl des nüchternen Bahnhofs und die Langweile der freudlosen Bahnhofstraße in die Altstadt wandern.

Stelle dich mit mir an den Hang des Muldentales oberhalb Halsbach im Osten der Stadt. Tief im Grunde windet sich die Mulde zwischen den grünen Abhängen. Hie und da tritt der nackte Fels schroff zutage. Häuser und kleine Gehöfte sind da und dort wie ein Spielzeug hingestellt. Birken leuchten mit ihren weißen Stämmen und winken mit ihrem grünen, zarten Schleier. Und droben, gegenüber auf den Höhen, die aus dem Talgrunde aufsteigen, türmt sich nicht ein malerisches Stadtbild mit Zinnen, Mauern und Toren, es türmen sich riesenhafte Halden mit ihren Werkbauten, Stätten der Arbeit vieler Jahrhunderte, die der Landschaft ihren Stempel aufgedrückt hat. Die Romantik der Arbeit, die Romantik, welche in die Tiefe der Erde, ins Dunkel hinabsteigt, die Schrecken der Finsternis mit kühnem Wagemut und raschem Erfindergeist besiegt, blinkende Schätze zutage fördert und aus dem Gestein der Tiefe Berge zum Himmel türmt von gigantischer Wucht und Denkmalsgröße, diese heroische Romantik der Arbeit schuf das Landschaftsbild.

Stelle dich mit mir an den Hang des Muldentales am linken Ufer gegenüber Muldenhütten. Wie ein schwarzer riesenhafter Kessel liegt es vor dir im Grunde. Schwarz blinkend fließt die Mulde und trägt weiße Schaumflocken, wie eine langsam gleitende gefleckte Schlange der Unterwelt scheint sie in der Tiefe unheimlich zu schleichen. Und es türmen [8] sich bergaufwärts vom Grunde schwarze Schlackenmauern, Dächer über Dächer, Häuser über Häuser, Giebel über Giebel, die Essen rauchen und recken sich wie schlanke Türme dazwischen, und es ist als zitterte und dröhnte eine ungeheure Spannung, eine unbändige Lebenskraft und unzähmbare Arbeitswucht im Körper eines gefesselten Riesen. Sein heißer Atem stößt empor und flockt in weißlichen Wolken in den blauen Himmel hinein. Kahle mächtige Halden schieben sich hervor mit steil abstürzenden Seiten in ihrer schwarzen Nacktheit wie aus der Unterwelt und Nacht emporgehobene Felsenklippen mit trotziger Stirn in die flimmernde Welt des Lichtes starrend. Und darüber die Talhänge in goldgelber Farbe des herbstlichen rauhen langen Grases leuchten wie ein ungeheurer goldener Reif über dem Haupte des arbeitenden Giganten. Romantik der Arbeit schuf dieses Landschaftsbild als Ausdruck heroischer Schönheit und Kraft der Industrie. – Wandere mit mir durch das Muldental, wo steil die Halden der Bergwerke ins Tal abstürzen. Der Ludwigschacht mit seinen riesenhaften Sturzmassen schwarzer Blöcke schiebt sich wie ein gewaltiger Felsriegel dunkel und drohend ins Landschaftsbild. Aus finsterem Stollenmundloch strömt das Wasser des Kunstgrabens hervor und eilt hellgrün schimmernd neben unserem Pfad. Hie und da ein Häuslein am Wege oder dort auf grüner Halde unter leuchtenden Birken zierlich ein freundliches Idyll. Die Mulde strömt in raschem Flusse bald dicht an unserem Wege, bald in weitem Bogen im breiteren Talgrunde. Bald lieblich und freundlich, bald ernst und schwermütig oder gar finster ist diese Landschaft des Muldentales, geworden und gestaltet durch die Arbeit der Jahrhunderte, durch das Ringen starker Fäuste von tausend Geschlechtern im Bergmannskleid. [9] Die Romantik der Arbeit mit Schlägel und Eisen geht im Bergkittel und mit dem Bergleder neben dir auf dem Weg durchs Muldental und raunt dir ins Ohr und fragt dich stolz: Wo gibt es Täler, deren Eigenart und Schönheit, deren landschaftlicher Charakter erst durch die industrielle Arbeit zu solcher Größe und Bedeutung im Wandel der Zeiten emporgehoben ist? –

Und dann komm und steige mit mir den steilen Weg der alten Dresdner Straße am linken Muldenhang, den Hammerberg, aufwärts, vorbei an der riesigen Halde des Abrahamschachtes, deren schwarze Steinmassen an der Straße zu mächtigen Mauern gepackt sind und weiter hinauf in steiler Böschung sich türmen. Wir gehen zu der etwa 100 m vom Wege rechts liegenden Grube Elisabeth, zur »Alten Liese«, wie sie der Freiberger Volksmund nennt. Ihre Grubengebäude über der mächtigen grau und weiß und gelblich schimmernden Haldenböschung sind echte Charakterbauten des Bergbaus mit ihren hohen, durch Fensterluken geteilten grauen Dächern und niedrigen hellen Mauern. Als wären sie aus der Halde gewachsen und geworden wie ein Naturgebilde, nicht wie gebaut oder hingestellt, sind sie echt, wahr und bodenständig.

Da liegt die alte Bergstadt vor uns in malerischer Umrißlinie mit ihren Türmen, Dächern und Giebeln, mit ihrer sturmerprobten, verwitterten Stadtmauer und dem starken Donatsturm und dem buschigen Grün der Wallpromenade im Vordergrunde. Die ruhende Masse des Domes, die beiden Türme von Nikolai und als stolzragende Krönung die Türme von St. Petri und Rathaus gliedern das Stadtbild in klarem, klingendem Rhythmus. Lachende Felder und Fluren weitumher, dort die grünen Wogen des Waldes, der bis in die Stadt seine harzduftigen Grüße [10] schickt, und in der Ferne die Linien der Berge und Höhen, die in dem leuchtenden Himmel mit wundersamer Zartheit ferner und ferner, weicher und weicher sich zeichnen. Zu unseren Füßen blühende Gärten, in denen Kinder lachen und spielen, und dort drüben ein andrer großer Garten, wo stille Schläfer ruhen von ihrer Arbeit, der ehrwürdige Donatsfriedhof.

Vergangenheit und zukunftsfrohe Gegenwart, Geschichte, Sage und tausend Erinnerungen, das Leben, welches heute in den alten Gassen und Häusern wirkt und drängt, die Gestalten, Herzen und Gedanken, welche diese Giebel und Mauern, Türme und Straßenbilder einst schufen, darin lebten, liebten und schließlich dort drüben ihre Ruhe fanden, alles vereinigt sich zu einem geheimnisvollen Zauber, der verklärend über dem Alltag des Lebens liegt und über Nüchternheit und kalte Prosa und graue Sorge erhebt. Und mögen wir nichts wissen, was dort in jenen winkligen Gassen und alten Häusern an Leid und Lust geschah, wir fühlen es, daß sie viel erlebt haben und erzählen können, daß ihre heimlichen Worte die Romantik uns erwecken könnten, die mit ihrem Lächeln das Herz gewinnt und warm macht. Der Bergbau ist zur Rüste gegangen, aber immer noch klingt seine Poesie über die Firste der alten Häuser, wenn das Bergglöckchen noch läutet wie einst zur Schicht. Sie schreitet durch die alten Gassen mit den schlichten Häusern und lugt um die Ecken winkliger Straßen, die mit ihm jung waren, wo an Portalen hie und da die Gestalt des Bergmanns oder das Bergmannszeichen in Stein gehauen, Schlägel und Eisen, dich grüßt oder irgendein frommer Spruch oder Gruß, wie ihn unsre Zeit nicht mehr kennt. Poesie wandert hinaus zu den alten Schächten und Halden, die wie Hünenmale uralter Zeit die [11] Höhen rings um die Stadt krönen. Sie steigt hinab in die tiefen dunklen Schächte, die jetzt so still und einsam sind. Wo einst des Fäustels muntrer Schlag erklang, »und sie gruben das Silber und das Gold bei der Nacht,« und wo das funkelnde Erz aus schwarzer Tiefe zur strahlenden Sonne gleißend emporstieg, wo man die Grubenwässer murmeln und fließen hört, und die Gänge und Stollen in schweigender Finsternis sich tief unter der Stadt und weit darüber hinaus wie ein ungeheures Netz meilenweit erstrecken, da lugt sie aus Spalten und Klüften, da huscht sie um die Ecken und Winkel, da hörst du sie flüstern vom Berggeist, von Gnomen und Kobolden, von den märchenhaften Schätzen der Berge, von den »Walen«, den zauberkundigen Venetianern, die ihren Ort wußten, von all den Wundern der Tiefe, die noch kein Menschenauge geschaut und der Erlösung harren, von den Geheimnissen der Wünschelrute. Da werden die Schatten lebendig, Vergangenheit wird Gegenwart, zeitlos und ohne Stunde ist das Dasein. Du weißt nicht, ist es droben Tag oder Nacht, Sommer oder Winter – eine Poesie ganz eigener Art hat dich in ihr Reich geführt, hält dich in ihrer Macht. –

Dort der alte Donatsfriedhof, ist er nicht auch Poesie? Seit 400 Jahren fast schlafen im Ringe seiner altersgrauen Mauern Freiberger Geschlechter. Sie zogen aus dem weiten Ringe der starken Mauern der Stadt, aus ihren schönen steinernen Häusern in den engeren Mauerring des alten Friedhofes, in die schmalen hölzernen Wohnungen aus sechs Brettern. Über ihren alten Grüften rauschen hohe Bäume. Um ihre schönen Denkmäler rankt sich der Efeu und Heckenrosen, duftet der Flieder und jubeln die Singvögel das Lied des Lebens und der unvergänglichen Liebe. – Pestzeiten waren es, als Herzog Heinrich der [12] Fromme 1531 diesen Friedhof anzulegen befahl. Das Sterbeglöcklein stand nimmer still. Mit immer neuer Furchtbarkeit erhob die Seuche ihr schreckliches Haupt und erstickte mit ihrem giftigen Hauche das Leben, schonte weder jung noch alt, nicht arm noch reich, nicht Mann noch Weib. Die Friedhöfe an den Kirchen reichten nicht aus und aus den Grüften schien der Tod allnächtlich aufzustehen und mit gespenstischer Faust an die Türen von Hoch und Niedrig zu pochen, oder aus zahnlosem Knochenmunde seine Opfer grinsend anzuhauchen. Da befahl der Herzog, daß »wegen der Dünste, so sich in den gefährlichen und geschwinden Sterbensläuften aus den Todtengräbern ziehen und erheben, und manchen Menschen tödtlich vergiften mögen, daß ein gemeines Begräbniß außerhalb der Stadt zu halten sei«. Wo die Kapelle des heiligen Donatus stand, dicht vor dem Tor der Stadt, am Wege nach der Grube Himmelfahrt, zog man den ovalen Mauerring um die neue Stadt der Toten. Sinnvolle Beziehungen für gläubige Herzen mag man daraus erkennen: draußen der Weg der Bergknappen zur Arbeitsschicht in das Dunkel der Grube Himmelfahrt, drinnen der Gang zur letzten Schicht in das Dunkel einer Grube, deren Rätsel noch kein Wissen erleuchtet hat, die der Glaube in den Sprüchen auf Steinen und Kreuzen als »Himmelfahrt« deutet. Wie ist es doch auch so sinnig und tief empfunden, den ernsten Baum, der so feierlich und schön an den Gräbern steht, »Lebensbaum« zu nennen, und so in einem Namen sinnbildlich eine ganze Lebens-, Welt- und Religionsauffassung zusammenzufassen, nämlich, daß es keinen Tod gibt, sondern nur Wechsel und Übergang, Himmelfahrt.

Auf dem ergreifenden Gefallenen-Gedächtnismal des Friedhofs stehen die Worte: »Euer Tod soll Leben werden, [13] deutscher Zukunft edle Saat.« Saat ist Leben und Sterben, Saat ist Tun und Denken, Saat ist Anfang, Ernte ist Vollendung. –

Eine tiefe, sinnige Poesie lebt so in den grünen Räumen des alten Friedhofes, der Ruhestätte des alten Freibergs, heute der stimmungsvolle Vorhof der neueren weiten Gräberfelder. – –

Wo sollen wir noch die Poesie und Romantik in Freiberg suchen? Ach, du brauchst sie nicht zu suchen, denn draußen, über das Friedhofstor hinweg, siehst du den gewaltigen Donatsturm ragen und in den Friedhof hineinschauen. Als Wahrzeichen der Stadt reckt sich seine wuchtige Gestalt empor wie ein Bild echten Bürgertrotzes und kernhafter Treue. Die Dohlen, die in den zahlreichen Mauerlöchern unzugänglich nisten, gehören zum Turm, wie seine Gestalt ins Bild der Stadt. Da scharen sich die schwarzen Gesellen zusammen zu einer Wolke, zu einem flatternden Geschwader; schreiend beraten sie, wohin der Flug sie tragen soll. Zum Spittelwald? Hin und her schwebt die Wolke, bald dicht zusammengeballt, bald weit auseinandergezogen droben in der blauen Luft und entschwindet schließlich in der Ferne am Saume des Waldes. Der Donatsturm, die Stadtmauern mit ihren alten Verteidigungswerken und Türmen, mit den Gräben, in denen jetzt die Bäume rauschen, wissen zu erzählen von alter Zeit, und ihre Steine reden von Kampf und Blut und Not und dem Heldentum schlichter Bürgertreue. Da klirrt es von Waffen, da kracht es aus den groben Stücken und Kartaunen, da rühmt es von kühner Tat, da raunt es aber auch von Verrat, da ist die Romantik der Geschichte lebendig, deren Zeuge diese Mauern und Steine waren. –

Und mitten im Herzen der Stadt, wo der Puls des [14] Lebens am kräftigsten, am raschesten pocht, lacht oft die Poesie aus blanken jungen Augen, die Poesie der Jugend und fröhlicher Burschenzeit trotz trüber schwerer Gegenwart. Der Marktbrunnen rauscht und plätschert neben dir. Aus breitem vierteiligem Granitbecken steigt die wuchtige Mittelsäule auf, die vier kleinere Becken mit wasserspeienden Löwenköpfen trägt. Die Bronzegestalt Ottos des Reichen, des Gründers der Stadt steht mit wallendem Mantel in Panzer und Helm als Säulenheiliger oben auf dem romanischen Schaft und hält die Gründungsurkunde in der Rechten, den Griff des langen Schwertes in der Linken. Vier Bronzelöwen halten am Sockel der Säule Wacht und speien im Bogen Wasser in die unteren Granitschalen. Das unvermischte nasse Wasser, wie hier von allen Seiten es den Wettiner wie einen Wassergott umsprüht, umrieselt, umplätschert, und die von Löwen bewachte Säuleneinsamkeit dort oben mag nicht sein besonderer fürstlicher Geschmack gewesen sein. Das empfinden die Herren Studenten, denen anderer Stoff lieber ist als Wasser, mit unfehlbarem Feingefühl und wie der Hanfried auf dem Markte zu Jena spürt auch der reiche Otto flotten Burschengeist und kecken Übermut.

Nacht ist es. Der Vollmond leuchtet mit märchenhaftem Schein über die alten Giebel. Wie Silber blinken die Dächer und Erker der ehrwürdigen Häuser und blinzeln mit verschlafenen Augen in die Träume der Nacht. Der Rathausturm ragt hoch in den schimmernden Glanz. Wie das große rote Auge eines Zyklopen schaut seine Uhr auf den stillen Markt, als wollte es spähen und wachen für die Sicherheit der Stadt, ob nicht in den breiten schwarzen Schatten der Häuser oder in den engen Finsternissen der Straßenmündungen sich Geheimnisse verbergen. Da regt [15] es sich gespensterhaft. Da klingt es wie heimliches Gemurmel. Ein Klappen, ein Schleifen, ein Trappeln und Huschen. Im Gänsemarsch zieht es herbei und bewegt sich im großen Kreise um den Brunnen, wie eine geisterhafte Prozession. Ein Ruck, die Prozession erstarrt, ein leises Kommando und ein kräftiger Salamander steigt auf dem granitenen Brunnenrand oder auf dem schwarzen Stein, da Kunz von Kaufungen, der Prinzenräuber, einst enthauptet wurde, eine Ansprache an den ehernen Brunnenfürsten dort oben, der wahrhaftig sein hartes Gesicht zum Lächeln verzieht, ein Prosit auf sein wässeriges Wohl in braunem Bier, das seine steifen Lippen nicht erreicht, ein brausender Burschensang, der von den Häuserwänden widerhallt, ein »Glückauf, Glückauf, der Steiger kommt« und der Spuk ist spurlos verschwunden, als die Polizei erscheint. – Ruhig grinsend spucken die Löwen ihr Wasser im plätschernden Bogen, ein Philister schimpft zum Fenster heraus und Otto der Reiche guckt in den Mond. –

O Mondnachtmärchen und Mitternachtszauber am Obermarkt!

O Romantik jugendfrischer Studentenzeit, wie steigst du auf und lächelst dem Frohsinn ungebrochener Jugendlust und übermütiger Studentenstreiche. Auch der Löwenritt zwischen sprudelnden Strahlen und tiefem Wasserbecken zu mitternächtiger Stunde, unmittelbar angesichts der Polizeiwache, hat gar manchem üppigen Füchslein zu unfreiwilligem Bad oder Strafmandat, dem bronzenen Säulenheiligen dort oben aber öfter zu einer »feuchtfröhlichen« Huldigung in seinem steifen Dasein verholfen. Ja einstmals hielt dieser hochgestellte Erzheilige am Morgen eine große Klingel in der Hand, welche am verborgenen Drahte gezogen, frisch in den Morgen schellte, als wäre [16] er der Ortsdiener und wollte seinen getreuen Freibergern ausschellen, daß der alte Burschengeist noch lebt. –

Was wallen die bunten Studentenfahnen aus den Fenstern, wo ein flotter Bursche wohnt, und flattern fröhlich im zausenden Winde, wenn irgendein Verbindungsfest oder ein Ehrentag der ehrwürdigen alma mater im Reigen der Zeit uns grüßt! Sie werfen buntjubelnde Freude ins Straßenbild. Der behäbige Bürger lächelt zu ihnen empor und freut sich, wenn die schlanken Burschen durch die farbenfrohe Poesie ihrer Jugend den grauen Alltag vergolden. Es lächeln aber auch lieblich verschämt oder auch keck und bewußt, je nach Temperament, die jungen Damen, wenn abends um 6 Uhr auf dem Bummel an der östlichen Marktseite die bunten Farben sich zeigen und mancher Gruß und mancher Wink aus schönen Augen spricht von Suchen und Finden, von Maienzeit und seligem Hoffen – »denn du weißt, du weißt es ja!«

Wenn der neue Rektor der Bergakademie durch seine Studenten mit einem Fackelzug begrüßt und der Scheidende zum Abschied geehrt wurde, was war das für ein Leben in der alten Bergstadt! Der Ausschuß der Studierenden in seiner eigenartigen kleidsamen bergmännischen Tracht voran, die bunten Farben und Mützen, Pekeschen und Jacken in reichem lebendigen Wechsel, der kräftige Sang froher Burschenlieder, die lodernden Fackeln mit ihrer roten Glut in den alten Gassen, die jugendfrohe, frische Begeisterung in lachenden, leuchtenden Augen, und herzudrängend in froher Teilnahme alt und jung, die liebe Mädchenwelt und die begeisterten Schüler, als wäre es ein Fest der ganzen Stadt, nicht bloß der alma mater : die Poesie des ganzen Studentenlebens schien sich in einem lachenden Bilde zusammenzuschließen. – Die harte Not der Zeit hat [17] dieses herrliche Bild in den letzten Jahren nicht wieder lebendig werden lassen, hat die lodernden Fackeln ausgelöscht, hat aber nicht den feurigen Mut löschen können, der in den jungen begeisterten Herzen lebt, der auch das deutsche Leid überwinden wird.

»Frei ist der Bursch« klingt und singt es durch die Straßen nicht minder als durch die Herzen in Alt-Freiberg, der einzigen sächsischen Stadt, die noch den Zauber der Romantik studentischen Lebens bei allem tiefgründigen Ernst der Arbeit trotz aller Lebensnot uns spüren läßt. Wie klingen die alten Bergmannslieder, wie jauchzt das »Glückauf« in begeistertem Zuruf in froher studentischer Runde und machen die Romantik der bergmännischen Vergangenheit der Stadt und der eigenen bergmännischen Zukunft den jungen Sängern voll Begeisterung lebendig: »Glück auf! ihr Bergleut’, jung und alt!« Und wenn der Bursche hinauszieht ins Philisterland, wie begleitet ihn noch die Poesie bis in die rauchige Prosa der Bahnhofshalle, wenn das Abschiedslied in mächtigem Chore klingt und die farbigen Mützen dem Scheidenden winken: »Sing sang und kling klang, es zog ein Bursch hinaus in die Welt. Sing sang und kling klang, es zog ein Bursch hinaus!« – Die Fahrgäste schauen und winken mit aus dem Zuge, der aus der Halle schnaubend davonkeucht. Die Poesie Alt-Freiberger Romantik und frischen Burschengeistes hat sie berührt und klingt in ihren Herzen noch, wenn längst die Petritürme am Horizont versunken sind.

Ja die Romantik der Stadt! Wandere durch den Dom, tritt vor die goldene Pforte oder vor die schwarze Rüstung des Kurfürsten Moritz aus der Todesschlacht von Sievershausen, stelle dich unter die Torstensonlinde und laß dir von ihren Blättern zuraunen, wie der podagrageplagte [18] Feldherr über das »Hexennest« Freiberg fluchte, oder steige hinab in das Verließ des Kunz von Kaufungen, oder denke an Friederikus Rex, wie er durch Freibergs Straßen ritt, oder an nächtliche Bergparaden beim wuchtigen, ehernen Klange der russischen Hörner bei Fackelschein und rhythmischer Bewegung der brennenden Froschlampen, denke an die feierlichen Leichenbegängnisse in düsterer Pracht, wenn ein Fürst im Dome beigesetzt wurde. Die Bilder drängen sich, Gestalten und Männer treten vor dein Auge und Herz und füllen dich mit Heimatstolz, denn nun erst hat die Stadt eine Seele bekommen, eine Seele, die mit dir wandert und spricht; du hast die Seele der Heimat gefunden.

Ja die Romantik in Freibergs Mauern, das ist die Geschichte der Stadt, die in ihr lebendig wird und in Erinnerungen redet. Ihrem ernsten Gewande braucht man nicht den Flitterkram phantasievoller Erfindung anzuhängen, um zu fesseln, zu packen und zum Sinnen und Denken und innerlichen Schauen anzuregen, daß es uns nicht wieder losläßt. Vieles ist vergessen, zerstört, hinabgesunken in das dunkle Reich des Schweigens, aber schaut die alten Häuser und Mauern, die alten schönen Portale, den herrlichen Dom mit seiner goldenen Pforte, den Kanzeln und der Wettiner Gruft, die anderen Kirchen, die altertümliche »Thümerei« mit ihren Museumsschätzen, das Rathaus mit dem, was diese Bauten in sich bergen, blättert in den alten Chroniken, Urkunden oder Akten, dann steigt es herauf und wird wieder lebendig, dann blüht ein verklärendes Lächeln auf, das Lächeln, das wie ein geheimnisvoller Zauber die alte getreue Bergstadt verschönt und die Herzen an sie fesselt. Verschüttete Brunnen der Erinnerung fangen an zu strömen, verstummte Glocken tönen, versunkene, verwunschene Schätze steigen empor, die Augen und [19] Herzen werden sehend, das Verlorene ist wieder da und lebt und füllt mit seinem wundersamen Leben und Weben die Stätten, welche zuvor leer, öde, karg, ernst und kalt und nüchtern schienen: Du hast die Seele der Heimat gefunden.


[20]

Von festen Mauern und festen Herzen.

Drei trotzige Türme mit Zinnen und flachen Kegeldächern, und ein zinnengekröntes Mauertor, in dem ein Herzschild mit wehrhaftem Löwen den Zugang sperrt, das ist das Wappen des alten Vriberch, » Sigillum Burgensium in Vriberch «, »das Siegel der Bürger in Vriberch«. An einer der ältesten erhaltenen Freiberger Urkunden von 1227 hängt es bedeutungsvoll, und man darf annehmen, daß seit der Stadtgründung, etwa 50 Jahre zuvor, dieses Wappen geführt wurde und den Stolz und trutzigen Sinn der Stadt auf dem freien Berge, der deutschen Bergmannsstadt in slavischer Wildnis, zum Ausdruck brachte. Dieses Siegel sagte Freund und Feind, daß die junge Stadt eine ummauerte, wohlbefestigte sei, an deren Toren der Freiberger Löwe Wache hält und seine Klauen zum mächtigen Schlage dem Freunde zum Schutz, dem Feinde zum Trutz erhebt. Ein »redendes« Wappen, dessen Rede im Lauf der Geschichte zu Taten wurde.

Durch alle Jahrhunderte hat die Stadt dies Wappen mit den silbernen Türmen geführt, festgegründet auf silberdurchwachsenem freiem Felsengrunde.

Märchen gingen durch alle Lande von dem wunderbaren Reichtum der Stadt, wo die Ziegel auf den Dächern von Silber wären, und Bürger und Bergmann von Gold und Silber speisten. Wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht klingt es z. B., was uns der Chronist über das große [21] Turnier berichtet, welches im Jahre 1263 der Markgraf Heinrich der Erlauchte von dem Freiberger Silber in Nordhausen ausrichtete: »Da er in der Mitte der Bahn einen gantzen silbernen Baum aufrichten lassen von halb gülden und halb silbern Blettern, auch einem jeden, welcher im rennen seinen Speer gebrochen, und auf dem Rosse sitzen blieben, ein silbern Blat, welcher aber den andern gar herabgestochen, ein gülden Blat verehret; dabey denn eine solche kostbare Zubereitung in allen Sachen gewesen, und gegenwärtige Fürsten, Graffen, Herren, Ritter und Adels Personen 8 Tage nacheinander dermassen stadlich tractiret worden, daß es, wie die alten historici berichten, einem Keyser schwer würde gefallen seyn, solches nachzuthun.« Von diesem Markgraf sagte man, daß er durch seinen »fürtrefflichen Reichthum gantz Böhmen mit baaren Gelde hette bezahlen, auch sonst andere Länder an sich und seine Nachkommen bringen können«. Auch die Chronik der Stadt Schneeberg, welche 1470 gegründet war, berichtet aus dem Jahre 1477: »Auch war in St. Georgen die große Silber-Stuffe wie ein Tisch verstrosset, darauff Herzog Albrecht Tafel gehalten und daraus hernachmals 400 Zentner Silber geschmelzet worden.«

Solche reiche Silberausbeute mußte wohl märchenhaft erscheinen und die Phantasie des Volkes mächtig anregen.

Hat man doch sogar in neuerer Zeit noch erstaunliche Funde gediegenen Silbers gemacht, wie z. B. im Jahre 1847 auf der Grube Himmelfahrt 17 Zentner auf einem Gangkreuz, im Jahre 1857 auf der Grube Himmelfürst sogar 91 Zentner plattenförmig auf einem Punkte beisammen. Da war es kein Wunder, daß in der Zeit, als das Silber fast zu Tage lag und das Erz mühelos gebrochen wurde, Markgraf Otto, der Gründer der Stadt, [22] der »Reiche« genannt wurde, daß er dieses Schatzkästlein mit festen Mauern und Türmen umgab, und daß er die Wehrhaftigkeit durch Siegel und Wappen besonders betonte. Reste dieser ersten Mauer darf man wohl heute noch in den unteren Teilen der erhaltenen alten Stadtmauer am Donatsring vermuten. Ein stolzes Bild hat durch die Jahrhunderte die mauerumgürtete, turmgekrönte, zinnenumwehrte Stadt geboten, namentlich nachdem im Laufe des Mittelalters alle Erfahrungen und Künste der Befestigung und des Wehrbaues an ihre Wehrhaftmachung gesetzt waren. Sie war mit doppelten Mauern, 44 Türmen, fünf starken Torbauten, mit Gräben und breiten Teichen gesichert.

Der Chronist Möller schreibt im Jahre 1653:

»Die Ringmawern sind dick und stark, umb und umb zwiefächtig mit einem Zwinger. Die eine ist sehr hoch, und mit vielen Außwerken und Thürmen befestiget. Die andere, welche sonst die Zwinger Mawer genennet wird, ist etwas niedriger, und hat auch etliche besondere Thürmlein und Außwerke. Für den Ringmawern gehet umb die Stadt ein tieffer gefütterter Graben, welcher zum theil voll Wasser, zum theil leer ist. Man hat für diesen zur Lust etliche Stücke Wild drinnen gehalten und vermehret, wie auch noch bei Mannes gedenken etliche weisse Hirsche, sampt anderen Stücken, von der hohen Obrigkeit deßwegen dahin gesendet, und der Stadt verehret worden.

In den Ringmawern seynd fünff Haupt Thore, welche alle mit festen Thürmen, Brustwehren, Rondelen, hangenden Zugbrücken, und drey unterschiedlichen grossen Pforten, theils auch mit starken Schutzgattern, und anderen zur Defension und wider feindlichen Anlauff gehörenden Stücken wol verwahret seynd.«

[23]

Möller erwähnt hier nicht die Befestigung durch die Teiche, obschon sie bereits auf dem Stadtplan von 1554 vorhanden sind. Vom Peterstor bis dicht zum Meißner Tor, zehn an der Zahl, waren sie mit ihren senkrechten gemauerten Ufern oder Böschungen ein starkes Hindernis noch vor der Stadtmauer. Auch heute noch bietet sich, namentlich im Winter, dem Blicke, z. B. über den Schlüsselteich, auf die hohen Mauern und Türme ein trotziges stolzes Bild der alten Wehrhaftigkeit.

Von den fünf starken Torbauten ist nichts erhalten geblieben als der gewaltige Donatsturm im Osten der Stadt. Immer noch steht er, als kraftvolles Wahrzeichen der Stadt, wie ein treuer Wächter und ragt weit über Dächer und Giebel in die blaue Luft. Wie zu unzerstörbaren Felsenmauern gefügt türmen sich seine braunen und schwarzen Gneisquadern zu mächtigem Rundbau empor. 5 m stark sind seine Wände, so daß er auch für die schwersten Geschütze der älteren Zeit als unzerstörbar gelten mußte. Sein Umfang ist 44 m , sein Durchmesser 14 m und seine Höhe 29 m . So ragt er gen Himmel, über die Stadt und die Jahrhunderte, wie ein trotziger Fels, an dem die Wogen der Zeit und die Stürme des Schicksals sich brechen und zerstieben.

Die Rüstlöcher der fleißigen Werkleute sind in regelmäßigen Abständen sein einziger Schmuck. Schießscharten mit Rundöffnung für die Rohre der kleinen Feldschlangen, Geschütze, Doppelhaken und Falkonetlein und mit Schlitzen für die Beobachtung und den Abzug der Pulvergase durchbrechen im oberen Teil des Turmes 18 m über der Erde in drei Reihen übereinander von je neun Stück das Mauerwerk und sind von innen durch gewölbte, tunnelartige, ringförmige Umgänge im Mauerkerne zugänglich. Oben öffnen [24] sich im Ringe dicht unter dem spitzen Kegeldach die neun Schießluken oder Scharten für die groben Stücke. Von hier brüllten sie dem Feinde ihre rauhen Grüße zu. Die letzten Kanonen sollen erst 1796 herabgestürzt und von Hammerschmieden als altes Eisen gekauft worden sein.

Im vorigen Jahrhundert erst wurde das eigentliche Tor mit dem weitvorspringenden Rondell abgebrochen, und weit klaffte die große Lücke zwischen dem mächtigen Turm und dem Reste der Stadtmauer. Erst im Jahre 1922 wurde von mir ein Wohnhaus für die Stadt dort errichtet. Durch weitgespannten Torbogen ist es mit dem Turm verbunden und zu einer malerischen, geschlossenen Gruppe zusammengefaßt, welche das Straßenbild abschließt. Am Tor ließ ich in Sandstein die Sprüche meißeln: »Gemeinwohl geht über dein Wohl« und »Eintracht bricht Not, Zwietracht bringt Tod«. Dafür ist der Turm selbst Zeuge und Mahnung durch seine Entstehung und seine Geschichte.

Bergmannstreue soll ja diesen starken Schutz und Wächter der Stadt geschaffen haben, indem jeder Bergmann für das Gemeinwohl sich von seinem Schichtlohn einen Betrag kürzen ließ, und indem er selbst mit Hand anlegte. So wuchs das Bollwerk empor, seiner Bestimmung entgegen und hat in den Stürmen der Jahrhunderte unerschüttert und unzerstörbar, wuchtig und stolz seinen Platz in der Mauer, im Stadtbilde und vor dem Feinde ausgefüllt, denn Eintracht bricht Not, Zwietracht bringt Tod!

Er sah trotzig hernieder mit seiner Felsenstirn auf Sorben und Hussiten, auf Wallensteins Söldner und schwedische Heerscharen, auf die Füsiliere des Friderikus Rex, auf Napoleons Truppen und die Sieger von 70. Wie brandete um seine Mauern die sturmbewegte Geschichte der Stadt und der ganzen Heimat! Er hörte einst die dunkle bittere [25] Kunde von Sievershausen, da Herzog Moritz, die Hoffnung des evangelischen Deutschlands, fiel, von Lützen, da Gustav Adolf starb, die Siegeskunde von Leuthen und Leipzig, die Schmach von Jena, von Moskaus Brand und von dem Fall von Paris, von Sedan, von Lüttich, Tannenberg und Skagerrak. Das deutsche Leid sank lastend auf ihn nieder, und schwarze Wolken deckten blühende Fluren.

An ihm rumpelte die gelbe Postkutsche mit hellem Hornruf vorbei, und lustige Wagen mit Maien und lachenden Mädchen, und auch der dunkle Wagen mit seinen schwarzen Rossen zum nahen Donatsfriedhof und seinem grünen Frieden. So viele Bergmannsgeschlechter, die längst vergessen dort der Ewigkeit entgegenschlummern, hat er gekannt, wie sie als Kinder zu seinen Füßen spielten.

Johann Tetzel verkaufte zu seinen Füßen seine Ablaßzettel an die Bergknappen und schleppte viel Geld mit fort, denn er predigte, daß alle Schächte verfallen würden, wenn man nicht reichliche Spenden in seinen Ablaßkasten werfen würde. Bruder Martinus, der Bergmannssohn aus Wittenberg sah vielleicht mit seinen tiefen Augen dieses trotzige Bollwerk der Stadt, den Psalm und sein Lied von der festen Burg im Herzen. Er trug Seelen und Herzen mit sich fort und riß die Geister zu höherem Fluge mit sich empor.

Des Alten Fritzen blaues Königsauge maß den alten Turmrecken mit prüfendem Feldherrnblick, nachdem er schon sechs Jahre im Heldenkampfe siegreich einer Welt von Feinden Trotz geboten und neuen Lorbeer um seine kriegs- und siegesmüde Stirn geflochten.

Humboldt, der die Welt umwanderte und neu als Kosmos in seinen Werken erstehen ließ, Goethe, der eine Welt in seinem Herzen trug, und neue Geisteswelten schuf und [26] deutschen Geistes stolze Stirn zu den Sternen hob, sie schauten empor zum alten Turm, der wie etwas Zeitloses am Wege steht und mit stummer Sprache raunt von ewigen Dingen.

Theodor Körner im Bergkittel sang zu ihm seine Burschen- und Bergmannslieder empor und trug seine begeisterte Seele von hier wie einen lodernden Opferbrand ins Morgenrot der Freiheit.

An ihm schritt der Handwerksbursche vorbei, die Wahrzeichen der Stadt sich noch einmal bedenkend, hinaus, wo ihm das Leben und die Zukunft lachte.

Der Bergmann zog vorüber mit Glückauf zur Schicht in schwarzer Tiefe, zum Schacht anfahrend, dessen Glöckchen traulich herüberklang.

Die Wogen und Wellen der Zeit und der Menschen strömten dahin. Das Tor und die Mauern fielen zum Teil. Der alte, graue, riesige Wächter aber blieb und sah sinnend, wie zu seinen Füßen buntes Bürgerleben hinausquoll über Wälle und Gräben, wie die frische neue Jugend hinausdrängte in Gärten und Grün, in Wälder und Berge, zu Sport und Spiel, in Sonnenglück und stählende Winterlust, wenn sie Gott oder ihrer eignen Seele tiefste Sehnsucht fühlten im Wehen der Halme, im Rauschen der Bäume, im weißen Glanz der Winterpracht, in den Wundern der Weite, als sie die Heimat fanden und immer wieder suchten in Sehnsucht und in der Heimat die Seele und die Kraft, welche sie gesund und reich macht.

Goldene Volkslieder klingen empor zu ihm wie aus dem Zauberbrunnen der Märchenzeit, die süßen Wunderweisen von Schubert und Silcher. Sehnsuchtsklänge von Herrmann Löns und erzgebirgischer Heimatsang von Anton Günther [27] ranken sich mit Lautenklang um die mondscheinumflimmerten Mauern des Turmes und der alten Stadt.

Der alte graue Landsknecht aber, mit seinen mächtigen breiten Schultern, der alte getreue Ekkehard und Hüter der Stadt schaut hernieder und lächelt über das bunte Getriebe, über das Lieben und Leiden, das Eilen und Weilen, das Hasten und Rasten, das Jagen und Plagen der Ameisen zu seinen Füßen.

Wie um seine Stirn die Dohlen schreien und flattern, abstreichen und heranschweben, so eilen und ändern sich Geschichte, Geschlechter und Geschicke; Seelen und Gedanken flattern und schweben. Warum? Wohin?

Der Donatsfriedhof, der Gottesacker mit seinen rätselhaften Schollen, die Jahrhundert für Jahrhundert immer aufs neue umgestürzt werden, ist so nah, in dem von Ewigkeit so viel gesprochen wird, und die Vergänglichkeit so grausam uns ins Antlitz starrt, in dem die Blumen der Hoffnung und die Dornen der Verzweiflung dicht nebeneinander wachsen, welken und immer wieder sprießen, in dem die Fragen und die Rätsel keimen, und die bangende Seele Antwort und Lösung pflücken will und sucht, bis ihr hier draußen die Antwort wird, wenn einst hinter dem dunklen Tor sich ihr die letzten Rätsel lösen.

Wohin rinnt der Strom des Lebens, der unaufhaltsam durch die Jahrhunderte fließt, an dessen Ufer der alte Turm wie ein Felsen unerschüttert steht? Über ihn spannt sich des Himmels unendliches dunkles Gewölbe mit seinen Myriaden flimmernder Welten. Ein Stern schießt seine leuchtende Bahn in weitem Bogen und ist verschwunden. Warum? Wohin?

Weltall und Ewigkeit – unfaßbare Gedanken nicht auszudenkender Gewalt! Menschenseele! nicht faßbares Wunder [28] von unerklärlicher Größe! Leben und Vergänglichkeit, Menschenseele und Ewigkeit, die Rätselfragen alles Seins, schweben empor über die mondscheinumflimmerten Dächer. Nie gestillte, nie erfüllte dürstende Sehnsuchtsgedanken wandern in den dunklen Abgrund des Weltalls, in die schweigenden dunkelblauen Fluren der Unendlichkeit.

Selig sind, die da Heimweh haben,
Denn sie sollen nach Hause kommen.
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Die anderen Tore schienen wohl auch für die Ewigkeit gebaut zu sein. Doch was durch Jahrhunderte feindlichen Stürmen Trotz geboten und der Stadt und ihren Bürgern als Schutz und Hort gedient hatte, das mußte unter der Spitzhacke dieser Bürger fallen.

So sank ein prächtiger, wehrhafter Torbau nach dem andern, ein malerisches Bild alter Stadtherrlichkeit nach dem andern dahin. Wenn man die alten Darstellungen der Tore betrachtet, so könnte man glauben, jene Zeit der Spitzhacke, des Meißels und Brecheisens sei blind und gefühllos gewesen gegen die reizvolle Schönheit und gegen den Zauber der Geschichte, welcher die alten Türme und Mauern mit ihren Ranken umsponnen hielt. 1846 fiel z. B. das Erbische Tor, das einen Ludwig Richter zu einer entzückenden Kupferradierung begeistert hatte. Wie ein Blick auf das Juwel mittelalterlicher Stadtschönheit, auf Rothenburg ob d. Tauber, wirkt dieser Ausschnitt aus Alt-Freibergs verlorener alter Herrlichkeit. Aus tiefem Wallgraben rauschen die Baumwipfel empor, aber höher steigen die trotzigen Türme und Mauern, über welche Giebel und Dächer schauen, und zwischen ihnen der Torturm des Erbischen Tors, feingegliedert, auf vierkantigem Unterbau [29] achteckig aufragend. Acht große ovale Schießluken für die schweren Geschütze und darüber, getrennt durch ein glattes Gesimsband, acht schmale horizontale Schießschlitze sind der wirksame und zweckvolle Schmuck des wuchtigen Bauwerkes. So friedlich und gar nicht kriegerisch mehr schaut das Tor darein.

Die vier letzten, alten, eisernen Kanonen, welche einst grimmig von hier oben hinabdrohten, wurden 1802 verkauft und der Erlös wurde zur Stärkung der Laternenkasse verwendet, die zur Einrichtung einer öffentlichen Beleuchtung gegründet war. – Liegt nicht darin die ganze Behaglichkeit des Spießbürgers, den Krieg und Kriegsgeschrei nicht stört, weil er meint, ihm sei der Friede sicher und der Krieg dahinten weit in der Türkei so fern, so fern, und doch stand Mars schon drohend am Himmel und die apokalyptischen Reiter hatten ihre Rosse gezäumt zum Ritte durch Deutschlands blühende Fluren und auch Freibergs Gassen in der napoleonischen Zeit. Hier, auf unserem Bilde von Ludwig Richter, sind diese schweren Tage vorübergebraust und das friedlich behagliche Leben macht sich wieder breit und vergißt so gern die dunklen Tage. Zum Turme staffeln sich auf, wie mächtige Stufen, die Mauern des »Rondells«, des Vorhofes oder Vortores. Stolze Pappeln stehen wie ragende Wächter daneben und breite Baumkronen lehnen sich an das alte Mauerwerk. Im Vordergrunde aber bewegen sich die lieben Gestalten, mit welchen Ludwig Richters sonniges Kinderherz in stets wechselnder Fülle seine Werke zu beleben wußte. Der vornehme Bürger mit hohem Hut, der seine zwei Damen im Reifrock auf dem Walle spazieren führt, zwei Bergleute in ihrer altertümlichen, charakteristischen Tracht, die Bauersfrau, welche ihren schweren Korb zu Markte trägt, das dralle Mädchen mit [30] einem wackeren Handwerksmeister, Hunde und Zicklein und fernes Gewimmel. –

So friedlich und freundlich diese Bilder ausschauen, so bittere Not, Wunden und Tod haben doch diese Mauern gesehen, wenn der Feind vor ihnen lag, die Häuser der Vorstädte brannten und die Pest und der Hunger durch die Gassen schlich und mit knöchernem Finger an die Pforten pochte. Das waren die Notzeiten und Heldenzeiten der Stadt, wenn Kriegsstürme diese starken Mauern und Türme umtobten und manch wackeres Stücklein von trotzigem Bürgermut und unverzagter Treue aus harter Faust und festem Herzen sprang. Not lehrt beten und Not macht Helden! Eintracht bricht Not! Das Peterstor war es vor allem, dem immer wieder die Wut der Feinde, die furchtbarsten Angriffe galten. Seine stärkste Probe mußte dieses Bollwerk mit seinem gedrungenen vierkantigen Turme und mächtigem Rondell im dreißigjährigen Kriege aushalten. Doch was nützen Mauern und Türme, wenn nicht heldenmütige Treue die Wache hält. Es ist ein Ruhmesblatt von höherem Werte als ein Blatt von jenem silbernen Baum einst im Turnierhofe zu Nordhausen, welches sich hier tapferer Soldatengeist und Bürgermut für alle Zeiten errang.

Furchtbares hatte die Stadt bereits erlitten. Plünderungen und Kontributionen von Freund und Feind, Einquartierungen, Seuchen und Brandschatzungen.

Besonders schwer war das Jahr 1632. Bald waren churfürstliche Truppen, bald Wallensteins Regimenter, bald die berüchtigten Horden des Holck, bald kaiserliche »Krabaten«, bald Böhmen oder andere Völker in der Stadt oder vor ihren Mauern. Dann kam der kaiserliche General Feldmarschall Graf von Gallas auf Wallensteins [31] Befehl Ende September mit großer Übermacht und bombardierte die unglückliche Stadt. Granaten bis zu 90 Pfund hämmerten auf das Peterstor mit furchtbaren Schlägen und auf die Straßen, und Brandgeschosse »viel Fewerballen« fielen auf der Petersgasse und Fischergasse auf die Dächer der Häuser immer und immer wieder und bedrohten mit Feuersbrunst die Stadt. Den tapferen Verteidigern, welche schon 300 feindliche Soldaten erschossen, ging die Munition aus und an Lebensmitteln war Mangel, der Feind legte die Sturmleitern an und hat »dannenhero hoher Beträwungen verlauten lassen, alles ohne unterscheid nieder zu hawen, und die Stadt gäntzlicher zu verderben, wo sie nicht ohne ferneren verzug auffgegeben würde, ist der Schrecken in der Stadt bey den Einwohnern und Eingefleheten desto grösser worden, und ist dieses eine recht ängstliche Nacht, und die Stadt in grosser Gefahr gewesen.« Die Stadt mußte sich ergeben und den übermütigen Feind in ihre Mauern lassen. Die kurfürstliche Garnison mußte die Waffen ablegen und erhielt freien Abzug. Von den Bürgern wurden aber 50 000 Reichstaler verlangt als Ablösung für die Plünderung innerhalb 3 Tagen aufzubringen. Auf inständiges Bitten wurde durch Vermittlung des Feldmarschall-Leutnants Holck diese Summe auf 30 000 Taler ermäßigt. Da aber die Bürgerschaft schon zuvor für die Garnison an Verpfleggeldern innerhalb 6 Wochen 45 143 Taler, 5 Groschen, 3 Pfennige hatte aufbringen müssen, so war sie »dermassen erschöpffet und verarmet, daß aller Vorrath hinweg, und bey vielen mehr nicht als das liebe Leben übrig. Drumb gab es wegen Einbringung dieser hohen Rantzion große difficulteten , und mußte alles, was noch etwan an güldenen Ketten, silbernen Bechern, Gürteln, Messerscheiden, und dergleichen [32] Geschmeide bey einem oder dem andern vorhanden, herausgegeben werden.«

So wurde zwar die Stadt vor der Plünderung noch bewahrt, aber tief und bitter war noch trotzdem der Leidenskelch, den die unglückliche Bürgerschaft leeren mußte. Die Bürger mußten ihre Waffen und Harnische abliefern und wehrlos gemacht, wurden sie durch übermütige Einquartierung geschunden, gepeinigt und ausgesogen und »also ausgezehret, daß der Vorrath an victualien und fourage aller gantz dahin, und nicht ein bißlein Brods mehr bey den Becken, oder ein trunck Biers, viel weniger etwas von Saltze, Gewürtze, und anderer Nothdurfft zu bekommen, deßwegen auch etliche Personen auff den offnen Gassen niedergefallen, verschmachtet und Hungers gestorben.« »Dessen aber allen ungeachtet wurden bey manchen Bürger 10, 12, 15, 20 auch wohl mehr Soldaten einquartiret, welche ihre volle verpflegung haben wollten.« »Die arme Bürgerschafft wurde also geängstet, daß ihrer viel mit Weib und Kindern aus den Häusern entwichen, und alles im Stiche liessen, (wie man denn nach abzug des Feindes fünffhundert Häuser in der Ringmauer befunden, welche gantz leer und wüste gelegen).« Über dieses alles war kein Mensch in seinem eigenen Hause sicher, denn die Soldaten »grossen Muthwillen und Frevel verübeten, zumal des Nachts, da mit Gewalt in die Häuser, Gewölbe und Keller gebrochen, und alles auffgeschlagen, durchsuchet und weggestolen war. Darzu fiel wegen mangelung nothdürfftiger victualien viel und mancherley Krankheiten, und endlichen eine geschwinde infection und Pest ein, welche inkurtzen etliche tausend Menschen in und vor der Stadt hinrisse, und fast den dritten Theil der Bürger mit wegraffete. Die meisten wurden heimlichen begraben, öffentlichen hat man [33] dreytausend Personen gezehlet, die mit gewöhnlichen Ceremonien zur Erden bestattet worden.«

Wenn man bedenkt, daß diese Häufung von Elend und Jammer sich auf zwei Monate, Oktober und November, zusammendrängte, daß die Stadt klein und wahrscheinlich nicht mehr als 10 000 Einwohner zählte, so gewinnt diese Zahl an unheimlicher Bedeutung, denn heute beträgt die Zahl der jährlichen Todesfälle 500 bei rund 35 000 Einwohnern!

Wie ein Würgeengel ging die Pest durch die Häuser und klopfte fast an jede Türe. Die Särge reichten nicht aus und viele wurden heimlich verscharrt, weil die Not dazu zwang. Die lateinische Schule war zehn Wochen lang geschlossen, und als sie wieder eröffnet wurde, fand sich noch nicht die Hälfte der Schüler wieder ein. Die größere Hälfte dieser blühenden Jugend war verloren, verdorben, verstorben.

Doch nicht genug »der außgestandenen so grossen Noth, Angst, Elendes und Jammers, so sich diese zeit über bey der guten Stadt Freybergk befunden!« Die Schlacht bei Lützen war geschlagen, der Schwede rückte heran und trieb die kaiserliche Armee vor sich her. Da ließ »der Commendant anfahen, und die schöne grosse Vorstadt mit allen Forwercken fürm Meißnischen Thore, wie auch die eine Seite fürm Petersthore, sambt der Viehgassen anzünden, und in die Asche legen. Was nicht brennen wollte, ward niedergerissen, oder sonst durchlöchert und verwüstet, und geschach diesen und hernachfolgende Tage mit abbrennen und niederwerfung derer so alten wolgebawten und weitläufftigen Vorstädte, und schönen Forwercken, Scheunen, Mühlen und anderen sowol gemeinen als Privat-Gebäuden solcher Schade, der nicht genugsam zu schätzen.« Sogar [34] die Friedhöfe entgingen der Vernichtung nicht, indem »auch die schönen Bogen und Mawren eingerissen, und alles schändlichen verwüstet« wurde. Doch alle diese furchtbaren Leiden hatten den Mut und die Treue der Bürger und des Rates nicht gebrochen. Die Hammerschläge des Schicksals hatten ihre Herzen fest geschmiedet. Es leuchtet ein Wort aus jenen dunklen Tagen wie ein silberner Turm herüber in unsre dunkle Zeit, dessen strahlende Zinne echter Mannesmut und echte, in Schicksalsglut gehärtete Treue ist. Der Schwede, mit dem der Kurfürst verbunden war, rückte heran, der Feind in der Stadt richtete sich auf eine Belagerung ein und wollte ihm trotzen.

Da rief der kaiserliche Kommandant Mohr vom Walde die Bürgermeister der Stadt und etliche Ratsmitglieder zu sich, ob sie zu ihm halten und die Stadt mit ihm verteidigen wollten: Er habe Befehl, sich, solange er könnte, zu halten, hernach aber auf das Schloß sich zurückzuziehen und die Stadt an 20 Orten in Brand zu stecken. Die tapfere Antwort war, »daß sie wider ihren gnädigsten Landsfürsten, und ihm geleistete Pflicht, derer sie noch nicht loßgezehlet weren, nicht thun könnten noch wollten, hetten deßwegen einmütig beschlossen, wo sie mit dergleichen Anmutungen nicht könnten verschonet werden, lieber die Stadt und alles das ihrige zu verlassen, da sie auch gleich betteln gehen solten, als wider Pflicht und Gewissen, auch wider die löblichen exempla ihrer in Trewe hochberühmten Vorfahren zu handeln. Bäten den Herrn Commendanten, ihrer und der armen Bürgerschaft hierinnen gnädig zu verschonen. Wo es aber nicht seyn könte, ihnen zu vergönstigen, daß sie mit Weib und Kindern dürfften abziehen, und sich nach Dresden begeben.« Es klingt der Trotz des Lutherliedes aus diesen Worten. Es waren nicht leere [35] Worte schlauer Berechnung, denn dazu war man zu tief durch Blut, Brand und Greuel des Krieges gewatet. Man kannte den Gegner nur zu gut und hatte am eigenen Leibe verspürt, was die Wut und Zuchtlosigkeit des Feindes bedeutete. Nicht leere Worte, sondern opferbereite, tatenmutige Entschlossenheit war das Wort:

Nehmen sie den Leib
Gut, Ehr, Kind und Weib,
Laß fahren dahin
Sie habens kein Gewinn
Das Reich muß uns doch bleiben.

Doch es kam nicht zum Äußersten: der Kommandant bekam plötzlich Befehl vom kaiserlichen Hauptquartier in Böhmen, die Stadt zu räumen. Das war die Rettung vor dem angedrohten furchtbaren Schicksal. Nachdem noch die wilde Soldateska Tag und Nacht geplündert und gebrandschatzt hatte und man von der Stadt noch 900 Taler Kontribution erpreßt hatte, rückte der Feind über das winterliche Gebirge nach Böhmen ab, die Wagen mit gestohlenem Gute der Stadt und der Bürger gefüllt. Hinter ihm jagte aber die Angst vor dem Schweden. Auf rauhen Wegen im tiefen Schnee, auf steiler vereister Straße blieb manch Wagen mit reicher Beute stecken und manches kostbare Stück aus Silber, Zinn oder Kupfer, welches beim Rückzug hinderlich war, wurde auf die Straße geworfen. Manch Bäuerlein oben im Gebirge mag da ein kostbares Stück heimlich auf einsamem Hofe geborgen haben.

Die Stadt war frei nach einer furchtbaren Leidenszeit von zwei Monaten. Tore, Mauern und Türme waren hart mitgenommen, aber die silbernen Türme des Mutes und der Treue waren ungebrochen.

Immer wieder und wieder tobten die Stürme und Wetter [36] des unseligen Krieges um diese Türme und Zinnen der Stadt. Es war die Zeit, wo jeder Soldat an sich schon Feind des Bürgers war, ob nun lutherisch oder papistisch, ob kaiserlich oder sächsisch oder schwedisch. Der Feind von heute konnte morgen der Freund sein, mit dem man Schulter an Schulter kämpfte, der gemeinsame Feind der Soldaten war aber der Bürger und Bauer, den zu schinden ein Teil der Soldatenfreude und des Lohnes war.

Die schweren Einquartierungen einer durch die langen Kriegszüge ganz verwilderten rohen Soldateska, welche meist sich selbst versorgen mußte, drückten als harte Last gleichviel ob Freund oder Feind. Jetzt war der Schwede der Befreier von der Belagerung durch das kaiserliche Heer. Zehn Jahre später war es der kaiserliche Graf Pikkolomini, der als Befreier vom schwedischen Joch freudig begrüßt wurde. Und zwischendurch wurden bald kaiserliche, bald schwedische Truppen abgewiesen und erhielten keinen Einlaß in die feste alte Stadt, sondern eine tapfre Antwort voll männlicher Energie.

Dem kaiserlichen Oberst Ulefeld, der 1633 mit starken Truppen vor der Stadt erschien und drohend Einlaß begehrte, antwortete man, daß man ihm, »so er die Stadt attakieren wolte, mit nichts als Kraut und Loth begegnen wolle, wo er nicht Churfürstl. Befehl brächte, die Stadt zu öffnen«.

Auch dem kaiserlichen Oberst Abraham Schönnickel, der aus Chemnitz stammte, ist 1634 nur eine »schlechte Antwort und nichts als Kraut und Loth gewilliget worden«. Der Bürgermeister Jonas Schönlebe verhandelte mit ihm vor dem Tor und sagte auf seine Verheißungen des Schutzes und seine Drohungen mit Plünderung und Brand, »daß man nechst Gott, sonst keiner Beschützung von nöthen [37] hette« und warf ihm vor, daß er ein Landeskind sein wollte »und fürgebe, er were dem Lande und der Stadt zum besten ankommen, und verderbete doch alles in grund, und man jetzo für Augen sehe, wie der alte schöne Hospital für der Stadt liechter Lohe brennete«. Das war dem Schönnickel zu viel! Nach vielen Wortwechseln ist er im Zorn davongerannt mit wilden Drohungen und hat die ganze Vorstadt und Scheunen vor dem Peterstor in Brand gesetzt, so daß »letzlichen das an der Stadt gelegene große Glockengießhaus ergrieffen, davon eine solche Brunst und flammende Hitze entstanden, daß die Funken in und über die Stadt hauffenweise geflohen, auch schon allbereit ein Hauß in der Ringmauer am Thore zu brennen angefangen«. Dieses Gießhaus war die Werkstatt des berühmten Gießergeschlechts der Hilliger vor dem Peterstor, aus welcher die herrlichen Grabplatten aus Messing und die Bronzedenkmäler in der Begräbniskapelle der sächsischen Fürsten am Dom, ferner die schönsten Glocken in Sachsen, heute noch ein Stolz der Gemeinden, und weiter über seine Grenzen hinaus und nicht zuletzt künstlerisch mit besonderem Reichtum und Geschmack verzierten Bronzegeschütze in großer Zahl hervorgegangen waren. Das Stammhaus der Hilliger stand in der Petersstraße, nicht weit vom Tore. Ihr Familienwappen, ein Bär mit einem Zirkel oder Taster in den Vorderpranken, ziert noch heute das alte Portal. Welcher Grimm und Zorn mag Hilliger durchtobt haben, als wenige 100 Schritte von seinem Hause die Stätte seiner Arbeit und Erfolge, seines Ruhmes und seiner Existenz in Flammen aufging und der Funkenregen vom Westwinde über die Stadt getragen wurde, als in Asche sank, woran sein Herz und seine Kunst hing, und er ohnmächtig zuschauen mußte, ohne den Mordbrennern [38] heimzahlen zu können. – Schönnickel zog ab, ohne sein eigentliches Ziel zu erreichen.

Viele Stürme und Wetter brausten so im Laufe der Jahre noch über die starken Tore, Mauern und Türme, wie über die trotzigen Häupter der Bürger dahin. Kein Sturm aber war stärker, kein Wetter war furchtbarer als das der Belagerung der Stadt durch den schwedischen Feldherrn Torstensson. Vom 27. Dezember 1642 bis zum 17. Februar 1643, rund 50 Tage, dauerte diese furchtbare Zeit, in der die Bürgerschaft mit den Bergleuten und der kleinen Garnison einen Heldenmut gegen gewaltige Übermacht und Ausdauer in größter Not bewiesen hat, so daß diese Tat sich würdig neben die größten Heldentaten der Geschichte stellt, ein leuchtendes Beispiel in dem Jammer und Elend jener Tage, ein leuchtendes Beispiel und Fackel auch im Dunkel unserer Zeit!

Auf einem der ältesten Freiberger Stadtpläne steht der Spruch: » Salus urbis est concordia civium! « Das Heil der Stadt ist die Eintracht der Bürger. Dies Wort stand nicht nur auf dem Stadtplan eingeprägt, sondern stand auch im Herzen und im Hirn jedes Bürgers und Bewohners festgeprägt, eingehämmert durch die jahrzehntelange gemeinsame Not.

Erst 1639, also 4 Jahre zuvor hatten sie zwei Belagerungen durch den schwedischen General Banner ertragen und siegreich überstanden. Vom 2. März bis 20. März und dann zum zweiten Male vom 10. April bis 17. April hatte Banner versucht, die Stadt zu stürmen und manche mannhafte Tat und mannhaftes Wort ist uns aus diesen schweren Tagen überliefert.

Mit gewaltiger Übermacht war Banner vor die Stadt gerückt und stand plötzlich vor den Toren, denn ein dicker, [39] finsterer Nebel war eingefallen und hatte sich über die Stadt und das Land gewälzt, so daß man sich nicht hatte in der Nähe erkennen können. »Solches hat bey drey Stunden gewehret, daß jedermann dafür gehalten, es sey dieser Nebel von Finnen oder Lappländern gemacht.« Banner nahm im Freibergsdorfer Rittergut Quartier und begann alsbald mit der Beschießung, Schanzen und Laufgräben zu bauen und in der Vorstadt zu sengen und zu brennen. Mit seinem schweren Geschütz hat er angefangen »auff das Peters und Erbische Thor zu spielen, und an beyden Orten über hundert Schösse anbracht, dadurch die Brustwehren durchlöchert«. Er drohte, falls die Stadt nicht übergeben würde, »wollte er keines Menschen schonen, sondern allen die Hälse brechen!« Der Kommandant von Haubitz gab die unerschrockene Antwort, »daß er den vertrawten Platz, vermöge seiner Pflicht und geleisteten Eids mainteniren müste, solches auch biß auff den letzten Blutstropffen trewlich thun wolte.« Es erinnert dieses Wort an das berühmte Telegramm des unverzagten Verteidigers von Tsingtau, des Gouverneurs von Meyer-Waldeck, in den ersten großen Tagen des Weltkrieges: »Einstehe für Pflichterfüllung bis zum Äußersten«. Durch Ausfälle und tapfere Gegenwehr wurde dem Feinde viel Schaden zugefügt. Am 9. März sollte das Peterstor erstürmt werden und alle feindliche Macht richtete sich gegen das Bollwerk. Nach starker Beschießung stand der Feind mit Sturmzeug und Leitern bereit und versuchte von dem vor dem Tore stehenden Zollhaus aus das Rondell, den schützenden, runden Mauerbau vor dem eigentlichen Torturm, zu ersteigen. Sie sind aber tapfer empfangen und mit Verlust zurückgetrieben und es ist auch »durch außgeworffenes Geströde, Pech und Fewerkugeln, das Zollhauß in brand gerathen, [40] daß ein groß Fewer auffgangen, und sich der Feind mit schimpff reterieren müssen. Die Schösse, so beyderseits geschehen, sind unzehlich gewesen«. Während hier am Peterstor so der wilde Kampf tobte, machte der Hauptmann Thörmer am Meißner Tor einen Ausfall, fand keinen Widerstand »indem alles zum Hauptwerke fürs Petersthor gelauffen, und auff eingebildete Eroberung der Stadt gewartet, hat er nicht allein des Feindes angefangene Baterien niedergerissen, sondern auch so lange sichere Verweilung gehabet, daß er viel Hew und Stroh, so wegen der Pferde und Viehes fast beynötig gewesen, in die Stadt einbringen können.« Dieses Stücklein zeigt, welch kecker Mut die Verteidigung beseelte.

Trotz dieses Mißerfolges schickte der Feind wieder einen Unterhändler, dieses Mal einen ehemaligen Kriegskameraden des Kommandanten, der jetzt im anderen Lager focht und nun die frühere Kameradschaft geltend machen wollte. »Hat sich dabey beklaget, daß ihnen die weile gar lang für der Stadt were.« »Dem der Commendant zur Antwort gegeben, die weile zu vertreiben, wolte er ihm ein baar Spiel Charten liefern, inmassen er auch dieselben hinauswerffen lassen.« Ein grimmiger Humor klingt aus dieser Art der Verhandlung. Wort und Tat, Geist und Schwert werden von einem entschlossenen und geschlossenen Willen geführt!

Einer späteren Aufforderung, das arme Volk, Weib und Kinder aus der Stadt zu schaffen, damit nicht unschuldig Blut vergossen würde, ferner die Stadt in Güte auffzugeben, sonst sollten die Bergwerke eingefüllt und alles verwüstet und verdorben werden, setzte Haubitz die Antwort entgegen: »Er wüste von keinem armen Volcke, und hette man in der Stadt genung zu leben, deßwegen er nicht [41] einen Hund naußgeben wolte; die gantze Stadt were unschuldig, und hette wider die Kron Schweden nichts verbühret, wolte der General sich nicht mit unschuldigen Blute beflecken, so solte er für sich selbst der Stadt und der unschuldigen Einwohner schonen. Mit dem Bergwercke müste er geschehen lassen, was der General nicht unterlassen könte.«

Nach diesen Abweisungen verdoppelte der Feind seine Anstrengungen, den Trotz der Stadt zu brechen. Durch eine trommelfeuerartige Beschießung wurde eine Bresche in die Mauer gelegt in der Nähe des sogenannten Pestturmes, wo der Pestprediger, der pestilentialis , während der Seuche seinen vom Verkehr gesperrten Wohnsitz nehmen mußte, um seinen Kranken mit Gefahr seines Lebens, aber ohne Gefahr für die Allgemeinheit dienen zu können. Der Turm und die Mauer stehen heute noch im städtischen Bauhofe an der Mönchsstraße. Der Turm ist jetzt bis übers Dach mit Epheu umsponnen, ein rechter alter, sturmfester Geselle mit grünem Wettermantel, und draußen auf der Feldseite zieht sich am Fuße der starken Mauern der alte Stadtgraben entlang, und über lauschige Promenadenwege rauschen hohe stolze Bäume. Wenn diese alten grauen Quadern und Blöcke des Turmes und der Mauern erzählten könnten, welch ein Heldenlied würde erstehen, wachsen und klingen von wuchtiger Größe, von Tapferkeit im Kampfe, von todesmutigem Ausharren in Not und Tod, von seelischer Größe und Opfermut im Ringen und Ausharren gegen die furchtbare Seuche, welche als Geißel des Krieges die Seelen und Körper des armen, mißhandelten, aus tausend Wunden blutenden, hinsiechenden Volkes schlug! Doch die Steine schweigen. Ist es vergessen und verklungen, daß Mannesmut und Opfergeist, daß zähe [42] Treue und Gottvertrauen den Sieg auch gegen Übermacht über Pest und Tod und widriges Schicksal erzwingen können? – –

Als der Sturm des Feindes gegen diese Bresche einsetzte, haben die Verteidiger anfangs ein wenig zugesehen, »biß eine gute anzahl, und wie man vermercket bey vierhundert im Graben, theils auch im Zwinger und auff den Leitern gewesen, da dann die Trajoner und Bürger, so im Zwinger hinter den Abschnitten im Fewer gelegen, eine grimmige Salve unter sie gegeben, daß sie mit hauffen herunter gepurtzelt, und bevoraus der Oberste Magnus Jahnsohn, welcher diese Völcker angeführet, und sich hoch vermessen, er wollte und müste diesen Tag in der Stadt seyn, nachdem er auff der Leiter kaum zur Bresche hinein gegucket, geschwinde einen Schoß durch den Kopff bekommen und abgestürtzet worden, welches, als es die andern, so hernach getrungen, und den Sturm auch antreten wollen, ersehen, wie es noch außwendig der Stadt so scharff hergangen und leicht erachten können, daß sie inwendig der Mawren ein viel ärgeres zu erwarten hätten, haben sie weiter nicht fortgewolt, ob sie schon von Officirern mit blossen Degen hefftig angetrieben, auch etliche erstochen worden, sondern haben ihre Mußqueten und ander Gewehre in Zwinger und Stadtgraben geworffen, und sich reteriret , denen die in der Stadt eilends nachgesetzet, mit kurtzen Wehren, Schlachtschwerdten, Morgenstern und dergleichen ihrer noch viel niedergemacht, und gute Beuten davon bekommen. Was und wieviel vom Feinde diesen Tag umbkommen, hat man nicht eigentlich wissen können, denn sie unterschiedene Personen der Beschädigten und Toden weggeschleppet, auch unter andern einen Obersten Leutenant, laut der Gefangenen Aussage, auff dem Rücken mit fortbracht. In Zwinger [43] und Graben sind etwan hundert Mann liegen blieben, darunter sich ernenter Oberster Jahnsohn, ein Hauptmann, und etliche andere Officirer mehr befunden, dabey zweene gequetzschte, die also fest und gefroren gewesen, daß man ihnen auch mit Beilen die Köpffe nicht hat abhawen können. Fünffe sind lebendig in die Stadt bracht, der Oberste, der so gern in der Stadt seyn wolte, und der Hauptman beygesetzt, die andern begraben worden. In der Stadt ist kein einiger Mensch umbs Leben kommen, aber für dem Sturm über der Arbeit sind drey Bergmänner in Schaden gerathen, darunter der eine verstorben.«

Der Oberst Jahnsohn »soll zwar ein statlicher Soldat, doch ein sehr grimmiger und blutgieriger Mensch (wie auch das Gesichte fast außgewiesen) und laut der Gefangenen Bericht des Banners Schwester Sohn gewesen seyn, deßwegen er von selben sehr lieb gehalten und hoch betawert worden«. Wie vom Kampf um Trojas Mauern und wie von der Trauer des Achill um seinen gefallenen Freund Patroklos’ klingt es aus dieser Schilderung des Zeitgenossen, der selbst diese schweren und großen Tage in den Mauern Freibergs mit durchlebt hat.

Nach diesem Sturme war die Stoßkraft des Feindes erlahmt. Nach drei Tagen kam der Stadt Hilfe von kaiserlichen und kurfürstlich sächsischen Truppen. Banner zog sich zurück in der Richtung auf Chemnitz.

Er soll geklagt haben, daß er soviel Verlust gehabt und daß ihm das Glück in allen zuwider gewesen wäre, »sonderlich, daß er für diesem Rattenneste etliche hohe liebe Officirer und über tausend Mann hatte einbüssen müssen«.

Banner dachte aber an Rache! Drei Wochen später stand er wieder mit mächtigem Heere vor der Stadt. 20 000 [44] Mann und etliche 70 große und kleine Stücke sollten die Stadt in seine Hand bringen und er dachte mit Durst die trotzigen Bürger zu zwingen. Die Quell- und Röhrwässer, deren Lage ihm Verräter gewiesen hatte, schnitt er ab und den Münzbach, welcher die Stadt durchfließt, ließ er abstechen und in einen Schacht leiten, so daß dadurch auch die Gruben überschwemmt, der Bergbau zerstört und gefährdet und der heimliche unterirdische Verkehr der eingeschlossenen Stadt mit der Außenwelt auf Gängen und Stollen tief unter Tage behindert war. Gleichzeitig ließ er mit glühenden Brandkugeln die Stadt beschießen. So glaubte er endlich den harten Mut der Freiberger erschüttern zu können. Mit der Drohung, »daß keines Menschen solte geschonet werden, so man sich ferner opponiren würde«, schickte er seinen Generaladjutanten: »Er wüßte, daß nicht viel zu leben und gantz kein Wasser in der Stadt sei« Die tapfere Antwort des Kommandanten dagegen lautete, daß er seiner Pflicht genug tun und sich wehren müste. »Es weren, Gottlob, bey der Stadt noch nirgends solche extrema , daß man nichts solte zu leben haben. Was an Wasser abgienge, were an Wein und Biere vorhanden, und dürffte ihm der General hier keine andere Willfährigkeit als Kraut und Loth einbilden.« Nachdem er noch einige Tage vergeblich vor der Stadt gelagert und manchen Schuß in ihre Mauern gesandt, sah er wohl ein, daß nicht so leichten Kaufes das »Rattennest« auszuheben sei. Nach einer Belagerungszeit von etwa 7 Tagen brach er auf und zog nach Böhmen. Die Stadt war frei! Vor den Feinden draußen hatten die starken Mauern und Türme und der trotzige Mut geschützt, doch wehe, wer schützt die Stadt vor den Freunden? Starke Einquartierungen, Kontributionen, Steuern, Lieferungen drückten die Bürger. [45] Das ganze Land war unsicher. Feindliche Reiter schwärmten überall umher und Marodebrüder folgten wie die Aasgeier den Spuren der Truppen, sei es Freund oder Feind. Die Bestellung der Felder konnte nur mangelhaft erfolgen und »über die grossen herumbstreifenden vielfältigen Kriegsmäuse, hat es auch eine gewaltige Menge kleiner Feldmäuse in Gärten, Äckern und Wiesen gegeben, welche nicht allein das Getreide in Scheunen, sondern auch die Wintersaat im Felde durchfahren und platzweise gefressen«. Wo noch etwas geblieben war, wurde es gestohlen, obschon der Bürger kaum mehr das Brot zahlen konnte.

Drei Jahre gingen so in Not und Sorgen, Kriegsgefahr und drückenden Ängsten und Leiden dahin, eine Zeit, geeignet auch den härtesten Sinn, die stärksten Herzen zu beugen und mürbe zu machen. Da zog sich ein neues Wetter unheildrohend, finster um die Stadt zusammen. Das war das Wetter, aus welchem die schwersten Blitze zuckten und das so recht eigentlich die Feuerprobe für die Türme, Mauern und Bollwerke der Stadt, wie für die silbernen Türme unentwegter Treue der Bürgerschaft werden sollte. Die Schweden rückten mit neuer furchtbarer Macht heran. Tilli war bei Breitenfeld am 23. Oktober 1642 geschlagen und seine fliehenden Truppen eilten raubend und sengend vor den Schweden her, an Freiberg vorbei nach Böhmen. Leipzig war am 26. November gefallen und in der Gewalt des schwedischen Feindes, dem nichts mehr widerstehen konnte, der »das gantze Land in grosse zerrüttung und verderbnüs versetzet«. Wehe dir, kleines Freiberg, du Städtchen, dessen Mauerring nur 2700 m lang und in einem halben Stündchen leicht umschritten ist, dessen Längsachse nur 1000 m , dessen Querachse nur 700 m [46] mißt, dessen Bürgerschaft durch Not und Teuerung, durch Pest und Brandschatzung seit Jahren geschlagen und gepeinigt und mehr und mehr vermindert und verarmt war, du willst mit deinen Mauern und Türmen und deinen wenigen Männern dem Feinde trotzen, dem furchtbaren, erbarmungslosen Torstensson, dem noch keine feste Stadt widerstanden, der sieggewöhnt soeben erst in offener Feldschlacht auf dem blutigen Plane von Breitenfeld 46 Stücke Geschütz eroberte!? Du Städtchen mit deiner Besatzung von nur 290 Soldaten des Kurfürsten, wie willst du der ganzen, von Sieg zu Sieg stürmenden schwedischen Armee trotzen, 8 Brigaden Infanterie, 104 großen und kleinen Stücken Geschütze, 5 Feuermörsern, 700–800 Reitern und noch 3 Reiterregimentern? Wie von einer furchtbaren Lawine wirst du doch hinweggefegt werden, wie von einer Sturmflut, die über dich zusammenschlägt, dich zerschmettert und nur Trümmer hinterläßt! – –

Und dennoch hat sie es gewagt! Sie sprachen trotzig ihr »Dennoch!« und glaubten an das Wort: »Eine feste Burg ist unser Gott!« Täglich wurden in jeder Kirche drei bis vier Betstunden abgehalten und als der Feind Bresche geschossen hatte, hat der Vesper-Prediger Glaser jeden Tag zweimal »und zwar offters mitten unter der Gefahr, und zunächst bey den geschossenen brechen , in mit anhörung der Feinde, die Betstunden gehalten und verrichtet«. Das Gebet war ihr Harnisch, das Gebet war ihre Mauer, die sie bauten, wo die Stadtmauer in Trümmer ging, im Gebet überwanden sie die Schrecken und Verzagtheit, als strömten immer wieder neue Kräfte ihnen zu und verzehnfachten die Zahl, die Kraft und den Mut der Verteidiger. Die starken Kräfte der Seelen, die in unergründlichen Tiefen des Glaubens wurzelten und daraus emporwuchsen, [47] waren die silbernen Türme der Stadt, welche keine feindliche Übermacht erstürmen oder in Trümmer legen konnte. Wenn unser deutsches Volk im tiefsten Innern seiner Seele sich solche silbernen Türme erst wieder baut, dann hat noch heute die deutsche Not ihr Ende, denn stärker als das Schicksal ist doch der Mut, der’s unerschüttert trägt. –

Die Führer in diesem Heldenkampf waren der tapfere Kommandant von Schweinitz und der Bürgermeister Jonas Schönlebe. Als v. Schweinitz zur Übergabe aufgefordert und gefragt wurde, ob er sich wehren wolle angesichts der Übermacht, antwortete er, »der Feldmarschall solle nicht fragen, er würde einen Soldaten an ihm finden.« Er hat dieses Wort eingelöst und dem furchtbaren Ansturme des Feindes getrotzt. Als schwedische Hauptstellung, die stark mit Geschützen besetzt war, war die Johanniskirche und das alte Johannishospital mit seinem Garten ausgebaut. Wo die alten Hospitaliten beteten oder ihre Ruhe genießen wollten, brüllten die Kanonen, wieherten und stampften die Pferde, heulten die glühenden Brandkugeln ihrer Vaterstadt entgegen und donnerten an die Mauer des starken Petersturmes. Der Friedhof um das alte Spittelkirchlein herum war von Schanzen und Laufgräben durchwühlt. Den Toten war ihre Ruhe geraubt, um von dort Tod und Verderben zu säen. Heute noch rauscht dort der grüne Wipfel der mächtigen, ehrwürdigen Spittellinde, der Torstenssonlinde, unter der Torstensson sein Zelt hatte, von wo er, durch die Gicht oft an den Stuhl gefesselt, die Angriffe und wilden Sturmläufe auf das Peterstor leitete, ein lebendiger Zeuge schwerster und großer Tage, ein Natur- und Geschichtsdenkmal von besonderer heiliger Bedeutung.

50 Tage dauerte die Belagerung und Bestürmung, vom [48] 27. Dezember 1642 bis zum 17. Februar 1643, während harter Winterkälte. Immer wieder richtete sich der Sturm mit ungeheurer Wucht gegen das Peterstor. Das Rondell, das starke, im Halbkreis vor den eigentlichen Torturm vorgeschobene Mauerwerk, wurde von den Schweden erobert und bildete nur noch einen Trümmerhaufen. Der Turm selbst war fast ganz zerschossen. Von Stockwerk zu Stockwerk wurden die Geschütze tiefer gestellt, weil Mauern und Gewölbe zusammenbrachen unter dem Gehämmer der aus nächster Nähe feuernden Geschütze. Die vordere Hälfte des Turmes wurde schließlich ganz in Trümmer gelegt, so daß nur noch die Rückwand als zerschossene Ruine in die Lüfte ragte.

Neben dem Turm wurde die Mauer zerschmettert, so daß eine Bresche von 20 Ellen Breite offenen Eingang in die Stadt verhieß. Offenen Eingang – wenn nicht der Wall tapferer Männerherzen als eiserne Wehr die Bresche geschlossen hätte, so daß kein Feind eindringen konnte!

»Als zerbrochen war der Stein,
Stellten Bürger sich zu Mauern.
– – – – – – – – –
Und aus allen offenen Lücken
Tritt hervor manch Angesicht,
Brust an Brust zusammenrücken,
Und die Mauer selber ficht.«

In jenen Tagen war mancher Bürger vier, fünf oder mehr Tage und Nächte auf seinem Posten mit der Waffe in der Hand, das Gesicht zum Feind.

Mit Laufgräben und Mörsern, mit Handgranaten und Minen und Gegenminen wurde gekämpft. Wie ein Bericht aus dem Schützengrabenkriege im Weltkrieg klingt es zuweilen in der Chronik, wenn man liest, wie die Bergleute [49] den Feind beim Bau seiner Laufgräben und Minen belauschten und ihre Gänge dagegen trieben, Wasser hineinschlugen oder mit Feuer und Pulver entgegenarbeiteten. Der Feind suchte den Mut der Verteidiger, der tapferen Bürger, vor allem dadurch zu lähmen und zu brechen, sie von den Mauern wegzulocken und die Verteidigungskraft zu zersplittern, daß er ihre Straßen und Häuser immer wieder in Brand zu schießen unternahm. Wenn ihre Häuser brennen und von ihren Dächern die Brunst zum Himmel lodert, so war seine Rechnung, sucht jeder das Seine zu retten. Die gierige Flamme im Rücken der Verteidiger sei der Bundesgenosse. Feuerballen und Granaten wurden in die Stadt geworfen. Pechkränze und brennende Lunten zusammengebunden, mit Schwefel untermischt und dergleichen Mittel der Brandstiftung fielen auf Straßen und Dächer tagaus tagein, fielen und entzündeten manche Feuersbrunst, fielen auch und verlöschten. Was aber nicht fiel und verlöschte war der Mut der Verteidiger. Da versuchte es der Feind mit Drohung und mit Verheißung: Wenn die Stadt sich nicht ergeben wolle, ließ er dem Woledlen, Vest- und Mannhaften Herrn Obrister Leutenant und Commandeur und durch ihn der ganzen Bürgerschaft sagen, so habe sie »sich dieses gäntzlich zu versehen, daß nicht allein die Stadt und Bürgerschaft mit Fewer und Schwerd zu grund gerichtet, sondern auch Weib und Kind nicht verschonet, und also verfahren werden, daß andere obstinate Örter ein Exempel daran haben sollen«. Der Kommandant würde selbsten, »weil er einig und allein ursache an dem unschuldigen Blut, so vergossen werden möchte, und keine gütliche Offerten annehmen will, nicht als ein cavallier tractiret werden.«

Welche schwere Versuchung für ein schwaches, ängstliches [50] Herz, für friedliche, stille Gemüter, die nur in Ruhe ihrer Arbeit, ihrem stillen Berufe leben und verdienen wollten, jetzt nachzugeben, schwach zu werden, die Tore zu öffnen und den so freundlichen Feind, der so viel versprach, einzulassen! Dem aussichtslosen Kampfe, dem doch keine Märtyrerkrone winkte, diesem Schrecken ohne Ende, ein glimpfliches Ende zu bereiten, ein glimpfliches, nicht ein schimpfliches, denn der »Ehre« war schon genug getan, mehr als in andren deutschen Städten mit stärkeren Mauern und Türmen! – Doch nein, in Freiberg schlugen Heldenherzen unter dem Bürgerrock wie unter der bunten Jacke des Soldaten. Die Stadt hielt stand, weil kein Verräter sich fand. Die Stadt hielt stand, weil in der Bresche Männer als lebendiger Wall todesmutig den Angriffen wehrten, die Stadt hielt stand, denn ihr Spruch lautete » urbis salus est civium concordia «, das Heil, die Rettung der Stadt ist die Eintracht der Bürger! concordia bedeutete hier mehr als nur Eintracht, es war das Zusammengeschmiedetsein der Herzen, zusammengeschmiedet durch Not und Tod zur Einheit für Leben und Sterben. Nur solche concordia konnte die Rettung sein.

Die Antwort auf die Drohung und Verheißung des Feindes war, daß man dem Kurfürsten die Treue halten müsse, und im übrigen »dahin es lassen muß, was Gottes Allmacht schicken wolle«.

Ähnliche tapfere Worte klingen noch mehr herüber. Auch auf die furchtbarsten Drohungen »es würde keines Menschen, auch des Kindes im Mutterleibe nicht verschonet«, merkt man kein Schwanken in der mannhaften Sprache, keine Übergabe: »Der Feind solle erfahren, daß so viele redliche ehrliche Leute in der Stadt finden würde, die ihr Eyd und Pflicht in acht haben, und biß auff den letzten Blutstropffen [51] ritterlich fechten, ja auch lieber sterben als zugeben würden, daß diese freye Bergstadt und die ihrigen unter das schwedische Joch gelangen solten«.

Torstensson war es jedoch Ernst mit seinen Drohungen. Er unternahm den Generalsturm auf die unglückliche Stadt, indem er zunächst durch eine furchtbare Beschießung sie sturmreif zu machen suchte. Zwei Tage lang hat er sie bombardiert und 2500 Stück Schüsse in ihre Mauern geschleudert. Dann kam der eigentliche Sturm »mit unaussprechlicher furi und Geschrey« zugleich auf das Peterstor, Erbische Tor und Meißner Tor. Der Hauptangriff galt dem Peterstor, »da zugleich mit und unter den stürmen die Feuerwerker, theils aus Mörseln, große schreckliche Hauffen Steine, Ballen und Granaten in die Stadt geworffen, theils aus groben Stücken auf die breche gespielet, und sonsten Creutzweiß und also hefftig durch die Häuser flanquiret , daß alles erbebet, und ein solcher lerm in der Stadt worden, als wenn Himmel und Erden ineinander gingen«.

Während dieses furchtbaren Sturmes lag alles Volk, das nicht Waffen führte, in den Kirchen betend auf den Knien und alle Glocken läuteten und trugen mit ihrem Dröhnen den Notschrei der Stadt zum Himmel empor, um schließlich mit dem Sange des Te Deum laudamus den Dank der Erretteten emporzujubeln.

Auch dieser furchtbare Angriff wurde zurückgeschlagen, so daß die Feinde unter großem Verlust sich zurückziehen mußten »in großer confusion «, wobei »aus Stücken mit Hagel und Kardetzschen, wie auch aus Doppelhacken, gezogenen Röhren und Musqueten, noch großen schaden unter ihnen gethan, ohne was durch ihr eigenes hefftiges schiessen wider die brechen und Thürme geschehen, dadurch sie selbst von zurück schlagenden Stückkugeln nicht wenig verletzet, [52] theils auch mit Steinen verfallen, und übel beschädigt worden«. Bei diesem Kampfe hat jeder, der kämpfen konnte, die Waffe geführt. Der Kommandant Georg Hermann von Schweinitz an der Spitze, nicht nur in Worten tapfer, hat »sich tapffer und rühmlich sehen lassen, indem er nicht allein in allen gute anstellung gemacht, und stets bey der höchsten Gefahr sich funden, sondern auch selbst aus einem Schießloch am Thurme, zeit wehrenden Sturms, Fewer gegeben, und Granaten außgeworffen, daß er dadurch vom Pulver im Gesichte verletzet, und ihm der eine Schenkel blaissiret worden«. Seinem Beispiele der persönlichen Tapferkeit folgten die Offiziere, Soldaten, Ratsherrn und Beamten, Bürgerschaft und Bergleute. »Ist auch jedermann darby unerschrocken, mutig und frewdig gewesen, also daß etliche Mußquetirer, ungeschewet aller Gefahr, und des so grimmigen Schiessens, auff die brechen gesprungen, mit Morgenstern und Schlachtschwerdten agiret und Fewer auff den Feind im Graben gegeben. Die eine Seite des Zwingers, da die breche am niedrigsten und gefährlichsten gewesen, haben die Bürger, welche unter die Defension Fahne gehören, innen gehabt, und männlichen beschützt, dabey sich der Stadt Leutenant Peter Schmol befunden, und tapffere Gegenwehre gethan.«

An diesen wackeren Peter Schmohl erinnert uns heute noch der letzte Rest des Stadtmauerturmes am Peterstor, der uns an jener Stadtseite erhalten geblieben ist aus der Heldenzeit der Stadt. Es ist der letzte Stumpf des alten Rotgießerturmes, den Schmohl verteidigte. Wenig beachtet und kaum verstanden steht er im grünen Rasen und über ihm rauschen die hohen Bäume. Was könnte er wohl erzählen aus jenen Tagen des Sturmes, als die weiße und die blaue schwedische Brigade heranrückte mit fliegenden [53] Fahnen und vollem Spiel, mit Leitern und Sturmgerät, und des kleinen Häufleins todesmutige Tapferkeit dennoch den Sieg errang! Diese wenigen Steine, dieser schlichte Mauerrest verkörpert Geschichte, die mit der stolzesten Heldensage aller Zeiten sich messen kann. Noch ein anderes schlichtes Zeichen, das sich im Altertumsmuseum befindet, erinnert an den tapferen Peter Schmohl. Es ist der Ehering, den er einst seiner Gattin Catharina am 3. Februar 1635 in der Nikolaikirche an den Finger gesteckt. Sie mag in den Tagen der Belagerung und des Krieges besonders schwer getragen und gelitten haben, da sie ihren Helden kannte, der sich nicht schonte, den sie stets an dem gefährlichsten Posten wußte. Sie mag durch Seelenstärke ihm eine starke Stütze gewesen sein. Eine treue Gattin und Mutter war sie, und ihre Ehe war ein glückliche und kinderreiche, denn es entstammten ihr 7 Söhne und 7 Töchter. – Beim Bau der 3. Bürgerschule auf dem Gelände der alten Nonnen- oder Jakobikirche stieß man im Jahre 1902 auf die Schmohlsche Gruft und fand außer den Resten eines braunen Sammetkleides den Trauring. Der künstlerisch schöne goldene Reif, wohl eine Arbeit Samuel Klemms, zeigt äußerlich ein zierlich gestaltetes Sternenmuster, innerlich die Inschrift: » Peter Schmol den 3. Febru. 1635« auf schwarzer Emaille. Nicht ohne Rührung schaut man diesen Ring, der für das Leben des alten Freiberger Helden von so großer Bedeutung war, und damit vielleicht auch für das Schicksal der Stadt in schweren Tagen wichtige innere Werte umschloß. Seine Sterne haben nicht getrogen. – Auch das Wappen Peter Schmohls erzählt von seiner Art und entsprach seinem Leben und seinen Taten. Es zeigte einen bewehrten Arm mit einem Säbel in der Faust, die Helmzierde trägt drei Straußenfedern. Er war ja der tapfere Arm seiner Vaterstadt, [54] ein Kriegsmann, der schon in der Schlacht bei Lützen und bei Nördlingen unter den Schweden gekämpft hatte, ehe er heimkam und der Heimat diente. Am alten Zinnpokal der Freiberger Defensionerschaft im Museum mit der Jahreszahl 1639, der auf dem Deckel einen alten Defensioner in Eisenrüstung trägt, ist dieses Wappen im Lorbeerkranz an bevorzugter Stelle angebracht mit der Inschrift:

PETTER SCHMAL. LEUTENAMPT.

Er war der erste Vorsteher der Gesellschaft und hat vermutlich den Pokal mit anderen Mitgliedern unmittelbar nach seiner Ernennung zum Defensionerleutenant gestiftet. Die schöne Form des Pokals mit dem Schmuck der angehängten Münzen und den Gravierungen zeugt ebenso wie der künstlerisch feine Ring dafür, daß Schmohl nicht ein roher, ungebildeter Kriegsmann war, sondern daß lebhaftes Schönheitsempfinden in ihm lebendig war.

Drei Dinge erinnern so an Peter Schmohl, drei Dinge, die viel sagen und zu deuten vermögen: Der Turm, der Ring, der Pokal, der mannhaft erfüllte Beruf, die glückliche Ehe und die Geselligkeit mit wackeren Männern, welche wie Sinnbilder die Summe seines Lebens, die Sinnesart und die Taten dieses echt deutschen Mannes und Kämpfers für die Heimat erklären, eines Mannes, dessen Freiberg dankbar gedenkt. Er stand auf schwerstem Posten bei der Belagerung und mit wenigausgebildeten Leuten, die sonst nur gewöhnt waren, ihren friedlichen Beschäftigungen nachzugehen, denen er erst seinen Heldengeist einhauchen mußte durch Wort und Beispiel und rücksichtsloses Einsetzen seiner Person. Seinem Namen begegnen wir in den Berichten auf Schritt und Tritt und können ihn noch zwischen den Zeilen vielfach lesen: Peter Schmohl einer der besten Söhne Alt-Freibergs in schwerster Zeit!

[55]

50 Tage dauerte die Belagerung, 50 Tage, von denen jeder mit neuer Not und Gefahr, mit neuen Leiden, Sorgen und Ängsten blutigrot am Morgenhimmel emporstieg und blutig in der Nacht versank. Der Mut der Verteidiger blieb unerschüttert. In immer neuen Ausfällen und tapferster Gegenwehr taten sie dem Feinde Abbruch, wenn auch der Entsatz und die Hilfe, welche der Kurfürst versprochen hatte, und das kaiserliche Heer, welches sie von Böhmen erwarteten, länger und länger auf sich warten ließen.

Die Not in der Stadt stieg immer höher, und sehnsuchtsvoll schaute man von den Türmen in die Ferne nach Frauenstein, wo die Straße zu den Höhen des Gebirges sich emporzieht, ob nicht die Kaiserlichen nahten. Jede ungewöhnliche Bewegung bei den schwedischen Belagerern wurde als hoffnungsreiches Zeichen nahender Hilfe gedeutet und brachte doch immer wieder Enttäuschung. Am 23. Januar hatte ein wackerer Bergmann, der sich bis zum Feldmarschall Octavio Piccolomini nach Böhmen durchgeschlagen und heimkehrend von den Schweden vor der Stadt aufgefangen, ihnen aber wieder entwischt und in die Stadt zurückgelangt war, Briefe des Feldmarschalls gebracht, daß er in wenig Tagen die Stadt entsetzen werde und daß sie bis dahin, »wie bishero zu ihrem unsterblichen Ruhm geschehen, dem Feinde noch mehrere gute Resistenz erweisen, und zu keinem accord sich einlassen« solle. Dieses Schreiben ist »der Stadt sehr tröstlichen gewesen«, aber 25 Tage lang wurde jeder Tag eine neue Enttäuschung, denn das kaiserliche Heer kam nicht. Immer wieder sandte man Botschaft an den Kurfürsten nach Dresden und nach Böhmen an Piccolomini. Aus allerlei Zeichen des Himmels suchte man Trost und Hoffnung zu gewinnen. Bald war es ein schwarzes Kreuz, das am Himmel stand und [56] sich zum Feinde hin bewegte, bald war es brausender Sturm mit Donner gleich einem Erdbeben, ein Ungewitter, das mit Feuer und Wasser den Feinden schadete, die Stadt aber verschonte, bald waren es feurige Kugeln am nächtlichen Himmel, welche rotfeurige Strahlen von sich gaben, bald hat es beim Feinde Blut und Feuer geregnet, ohne daß die Stadt etwas davon verspürte, bald sind Kinder und Bürger der Stadt in wunderbarer Weise vor Schüssen, die ihre Umgebung zerschmetterten, unverletzt bewahrt geblieben, bald sind Minen und Schüsse, welche der Stadt galten, den Feinden selbst verderblich geworden. Alle diese tröstlich ausgelegten und empfundenen Zeichen änderten aber nichts daran, daß täglich die Lage der Stadt schlimmer wurde und der Grimm der Feinde, die Gewalt der Angriffe mit allen Mitteln, namentlich mit Minen, Handgranaten und Feuer von Tag zu Tag furchtbarer wurden. Am 9. Februar geriet das Peterstor in die Gewalt der Schweden, und ihre Schüsse fegten von dort in die Petersgasse und ihre Häuser, auf die Mauern und Türme, welche von dort im Rücken oder Flanke beschossen werden konnten. Doch grimmig wehrte sich der Freiberger Löwe: War auch das Tor gebrochen, die Straße, den Weg gab er nicht frei. Eine starke Batterie wurde in der Petersstraße gebaut, welche das jetzt feindliche Tor unter wirksames Feuer nahm, so daß der Feind sich in die unteren Torgewölbe zurückziehen mußte. Alle Häuser der Petersstraße wurden durchbrochen, so daß sie wie ein Wehrgang untereinander verbunden und mit Musketieren stark besetzt zu feuer- und verderbenspeienden Mauern werden konnten, falls der Feind hätte weiter vordringen wollen. Der Schwede erkannte wohl, daß dieser Weg in die Stadt, den nicht mehr Mauern, sondern eine eiserne Wehr von Männern verriegelte, ein Todesweg für [57] ihn sein würde und wagte sich nicht weiter vor zwischen die grimmigen Tatzen des Löwen.

Der letzte wilde Verzweiflungskampf der Stadt schien heranzunahen. Doch auch bei den Feinden machte sich Unruhe bemerkbar, da sie wohl Kunde hatten vom Heranrücken des kaiserlichen Heeres. Am 10. Februar langten Boten in der Stadt an, daß in längstens acht Tagen die kaiserliche Armee Freiberg befreien werde und ihre Ankunft durch ein oder zwei brennende Häuser in Lichtenberg und durch Kanonenschüsse von der Höhe melden würde. Diese Frist war noch eine harte Probe für die Verteidiger, denn der Feind setzte alles daran, die Stadt noch zu gewinnen. Tag und Nacht dauerte das Schießen und das Granatenwerfen. Granaten von 1 Zentner Gewicht fielen in die Straßen und auf den Obermarkt, töteten Bürger und richteten manchen schweren Schaden an. Mit Minen wurde ein unterirdischer Kampf geführt: »Abends sind des Feinds Minirer und die Bergleute in der Stadt unter der Erden so nahe zusammen kommen, daß die Bergleute den Feind hören reden.« Auch durch Verhandlungen und Versprechungen suchte nochmals der Schwede die Stadt zu gewinnen. Alles vergeblich, alle Versuche prallten an der todesmutigen, stahlharten Treue wirkungslos ab.

Man glaubte mit allen Fasern des Herzens an die baldige Erlösung, und als in der Nacht vom 15. zum 16. Februar die verabredeten Zeichen die Nähe des kaiserlichen Heeres kündeten, konnten weder Drohungen noch glatte Worte, noch alle Wut des Ansturmes den tapferen Mut mehr erschüttern.

Das Morgenrot des 17. Februars 1643 brachte die Befreiung aus der furchtbaren Not. Der Feind rückte ab, die Stadt war frei. Staunend sahen die kaiserlichen Offiziere, [58] an ihrer Spitze Oktavius Piccolomini, was die Stadt geleistet, und man hat sich verwundert, »wie man gegen einen dermaßen mächtigen und grimmigen Feind solchen Ort also lange halten können; deßwegen auch die Standhafftigkeit, Fleiß und tapffere Gegenwehr der redlichen Guarnison und trewen Bürgerschafft hoch gerühmet«.

Der Feind aber hat die »Stadt Freybergk verwüntschet und verfluchet, und das schöne Volk beklaget, so dafür sitzen blieben«. Man hätte Nachricht, »daß über dreytausend Mann für der Stadt sich verlohren: Man hette ingemein die Stadt nur die Hexenstadt genennet, und dafür gehalten, es gienge mit zaubern zu, daß man bey so überaus grossem Ernste eine Landstadt nicht gewinnen könte«. »Der General Torstensohn were darüber so erzürnet gewesen und hette ihm gäntzlich fürgesetzet, außzutawren, und die Stadt sambt aller Zubehör ohne Schonung einiges Menschen in grund zu schleiffen«.

4500 Schüsse aus großen Kanonen, etliche hundert Würfe aus Mörsern, 14 Minen hat er angebracht und hat dennoch, trotzdem er »schon den Stadtgraben, Zwinger, und das eine Thor, sambt den beygelegenen Thurm in seiner Macht gehabet, und die Ringmawer auff etliche zwantzig Ellen also niedergefüllet, daß er ebenes Fusses in die Stadt lauffen können, sich doch derselben nicht vollends bemächtigen mögen«. Wohl nie zuvor war das Te Deum laudamus so »mit hertzlicher Freude und Andacht« gesungen und im jubelnden Dankgottesdienst das Jauchzen der Erlösten zum Himmel gestiegen, und auch nach den Predigten so froh »mit allerley instrumenten lieblich musiciret « worden, um den Dank emporzutragen, als bei dem Dankfeste am 26. Februar 1643. Der Feind hatte gar übel draußen gehaust. Die Hospitalkirche war verwüstet und entweiht, [59] Gestühl, Kanzel, Emporen, Bilder usw. verbrannt und zerstört. Häuser waren abgebrochen, verbrannt und vernichtet, Balken ausgeschnitten, Tür und Tore ausgerissen, die Obstbäume nah und fern abgehauen. In den Bergwerken waren »die Fahrten verderbet, der Vorrath an Ertzen verschüttet, die Wercke, Glethe, Herd und anders in Hütten weggenommen, die Räder und Wellen zerhawen, die Öfen eingerissen, die Künste und Zeuge verbrennet und solcher schade geschehen, der nicht genugsam kan geschätzet noch beschrieben werden.«

Die festen Mauern, die festen Tore und Türen haben nicht dem Ansturm des Feindes standgehalten, die festen Herzen blieben unerschüttert, sie blieben stärker als das Schicksal! – – – –

Im Albert-Museum zu Freiberg liegt im Kleinodienschranke eine schimmernde, kunstvoll aus massivem, goldenem Bande geflochtene Kette. Kaiser Ferdinand III. hat sie als Lohn und Dank für die tapfere Verteidigung nach der Belagerung dem wackeren Bürgermeister Jonas Schönlebe verliehen und ihm zugleich den Adel angeboten. Für die Stadt hatte Schönlebe seine ganze Kraft und Leben, seine ganze Persönlichkeit eingesetzt und mit ihm seine Freiberger bis zum letzten Mann. Wenn er diesen goldenen Schmuck sich über die Schulter legte, so trug in ihm die ganze Stadt gleichsam dieses Kleinod als Ehrung für ihren Mut, ihre Treue und Tapferkeit, ein unschätzbares Sinnbild und redendes Zeichen von der Treue wie Gold. Mit leuchtenden Worten singt es und sagt es seit Jahrhunderten und in die kommenden Tage hinein von der Ehre der Stadt, der alten, freien, getreuen Bergstadt, von der Stadt mit den silbernen Türmen, den Türmen der Treue, von festen Mauern und festen Herzen.


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Gesichte und Geschichten vom Freiberger Rathaus.

Aus dem Stadtplan von Freiberg kann man auch die Entwicklungsgeschichte der alten Stadt lesen, die in großen unverwischbaren Zügen ihr aufgeprägt ist. Der Stadtplan ist gebaute Geschichte. Da ist die erste dörfliche Siedlung des alten Christiansdorf in den unregelmäßig und scheinbar willkürlich sich zusammenschließenden Gassen der Sächsstadt erkennbar, da zeigt sich die Unterstadt mit dem Untermarkt und Dom als weitere Stufe der Entwicklung zur Stadt und endlich schließt das Gründungswerk Ottos des Reichen und seiner Nachfolger die Stadtbildung ab. Die westliche Hälfte der Stadt mit dem Rechtecksschema des Straßennetzes, das sich an die von Norden nach Süden durchlaufende Hauptachse des Straßenzuges der Erbischen Straße und Burgstraße anschließt, verrät deutlich und klar die ordnende Hand des Städtebauers, der nach bestimmtem Plane Straßen und Plätze anlegt und die Bauflächen absteckt und schließlich das Ganze mit starker, wehrhafter Mauer umgibt. Im Herzen der ganzen Anlage, dort wo der Hauptverkehr vom Peterstor und Erbischen Tor und von den anderen Himmelsrichtungen her zusammenströmt, liegt der große, rechteckige Obermarkt mit dem Rathause. Dort erhebt sich in unmittelbarer Nähe am höchsten Punkte der Stadt mit dem höchsten Turme der Stadt die Peterskirche als Hauptpfarrkirche der neuen Gründung und bereichert durch ihre wirkungsvolle [61] Baugruppe das Stadtbild. Der Obermarkt selbst ist ein Meisterwerk geschlossener Raumbildung und wirkt mit seinen harmonisch gebildeten Häuserwänden und hohen, altertümlichen Dächern wie ein gewaltiger Saal unter freiem Himmel. Die Türen, welche in diesen stolzen Saal hineinführen, die Straßenöffnungen, sind so geschickt angelegt, daß nirgends die Geschlossenheit der Wände unangenehm unterbrochen wird. Es sind keine Prachtgebäude mit üppigem Beiwerk, mit sprudelndem Reichtum der Formen und Ornamentik, von denen eins das andere wohl überbieten möchte, nein es sind einfache schlichte Glieder einer großen Familie, die zusammengehören und zusammenhalten, die ihr bescheidenes Gewand mit Würde tragen. Es sind anständige, ehrenfeste Bürger, die dort um den Markt sich sammelten und nun Schulter an Schulter stehen. Nur hie und da ein reicheres Portal, ein Giebel, ein Erkerchen, ein Bildwerk, eine schöne Haustür unterbricht die Schlichtheit und Ruhe der Fassaden ohne viel Gesimse, Fensterumrahmungen und Ausladungen.

Und alle diese wackeren, wortkargen Bürger schauen hinüber zum Rathause, dem Hause, in dem sie seit alters Rat geben, Rat nehmen, Rat suchen und Rat finden, wo das Herz der Stadt liegt, das durch seine Arbeit den Lebensorganismus der Stadt im Gange hält, das den Lebenssaft des Blutes durch alle Adern, Nerven und Muskeln des Körpers treibt und ihn lebendig und regsam erhält.

Das Rathaus paßt so recht in seiner behäbigen Ruhe und Schlichtheit zu den Bürgerbauten des Obermarktes. Breit gelagert mit ragendem Turm und zierlichem Erker aus alter Zeit, mit Giebeln und Dachaufbauten aus neuer Zeit, ist es ein Ausdruck geschlossener Kraft und stolzen Bürgertums, anspruchslos aber in ruhiger Sicherheit [62] seinen Platz behauptend. Seine Geschichte zu erzählen, hieße die Geschichte der alten Bergstadt selber erzählen, denn auf dem Obermarkt und in den Räumen des Rathauses pochte am lebendigsten das Wollen und Wirken, das Leben und Weben aller geistigen und wirtschaftlichen Kräfte der Stadt, und so wurde es zum Ort und Ausdruck allen Geschehens, zum Sinnbild des Geistes und der Geschichte der Stadt.

Viele Jahrhunderte hat es den Stürmen schon Trotz geboten, hat es im Krieg und Frieden, bei Belagerungen und allerlei Not, bei Seuchen, Pestzeiten und Stadtbränden, aber auch bei rauschenden Festen der Bergknappschaft, der Bürgerschaft, dem Rate, den Zünften, und ja, auch Herzog, Kaiser, König und Fürsten ein schützendes Dach geboten. Von Treue und von Bürgerstolz, von Tapferkeit und Aufopferung, von Blut und Tod, von jauchzendem Leben und Kerkernacht flüstern und raunen die mächtigen Quadern der Wände und alten Gewölbe, singt und stöhnt der Wind, wenn er um Turm und Dach und Giebel saust und die Fledermäuse im krachenden Gebälk über der Stundenglocke aufscheucht. Und tief drunten in den unterirdischen Gewölben werden um Mitternacht unheimliche Schatten lebendig, Schatten, vor denen dein Herz vor Grauen bebt wegen der furchtbaren Taten, die sie getan, Schatten, vor denen dein Herz vor Erbarmen zittert, wegen der furchtbaren Strafen, die sie erlitten, erlitten wohl manchmal ohne Schuld.

Dieses unterirdische Rathaus mit seinen wuchtigen Tonnengewölben stammt aus den ältesten Zeiten der Stadt und hat in seiner urtümlichen Gestalt alle Stadtbrände und Zerstörungen, Umbauten und Neubauten unversehrt überstanden.

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Die etwa 1170 neugegründete Stadt war rasch emporgeblüht. Aus allen Stämmen Deutschlands war die Bevölkerung gemischt. Abenteurer und Glücksjäger, die rasch reich werden wollten und Gott und Teufel nicht fürchteten, verwegene Gesellen aller Art mögen nicht selten gewesen sein. Eine eiserne Rechtspflege und rasche schwere Sühne jedes Verbrechens konnte da nur Rechtssicherheit schaffen und erhalten. Der Obermarkt war das » forum «, die Dingstätte, wo unter freiem Himmel Recht gesprochen, wo auch die Strafen an Leib und Leben vollzogen wurden. Am Obermarkt wurde dann in der Mitte der Ostseite das »Dinghaus«, vermutlich nur eine offene Halle, eine »Gerichtslaube«, errichtet, zunächst nur, um eine geschützte Stätte für Recht und Gericht, verbunden mit Gefängnis, zu haben, dann in weiterer Entwicklung für Beratung und Verwaltung gemeinsamer Angelegenheiten. Dieses uralte Dinghaus ist nach meinen Untersuchungen in seinen Grundmauern oder besser Kellergeschoß noch wohl erkennbar und erhalten. Es ist z. T. umschlossen von den Grundmauern und Kellerräumen der späteren Erweiterungsbauten des Mittelalters und mag etwa 11 m Tiefe bei 9 m Frontlänge am Markte gehabt haben. Vielleicht ist auch das Erdgeschoß wenigstens z. T. in den Wänden noch erhalten in dem Raume, der jetzt die Feuerwehrgeräte birgt und in früheren Jahrhunderten die alte Wage, »die Ratswage für Kaufmannsgüter«, enthielt. Es ist ein hallenartiger, rundgewölbter, nach dem Obermarkt offener Raum, der sehr wohl als offene Halle zum Gerichthalten vor allem in frühester Zeit gedient haben mochte, von wo aus der Verurteilte unmittelbar hinaus zum Markte, zur Richtstätte, zum Tode geführt werden konnte. Der schwarze Stein, der die Stätte der Enthauptung Kunzens von [64] Kauffungen bezeichnet, liegt grade gegenüber. Kunz mag nicht der erste gewesen sein, der an jener Stelle gerichtet wurde. Offene Hallen, die »Gerichtslauben« am Markte, sind noch in manchen mittelalterlichen Städten in Verbindung mit dem Rathause erhalten.

Unter dieser Halle, ursprünglich nur durch einen Schacht mit Leiter zugänglich, liegt der im Volksmunde mit »Marterkeller« bezeichnete Raum, das wuchtige schwere Kellergewölbe des Dinghauses der ältesten Zeit, Gerichtslaube, Marterkeller und Gefangenenzelle in engster furchtbarer Verbindung. Nur sehr wenig Freiberger sind in diesem schwerzugänglichen Raum gewesen, dessen Dasein nur noch wie eine dunkle Kunde in der Öffentlichkeit hie und da bekannt oder halb vergessen ist. Es ist ein Raum von etwa 4 m Breite und 8 m Länge mit einer tiefen seitlichen Nische von 1,50 m Tiefe und 2,70 m Breite. Er ist von schwerem Tonnengewölbe aus Bruchsteinen überdeckt und seine Wände sind z. T. in Felsen gehauen. Kein Lichtstrahl fällt hier herab, kein Schrei eines zermarterten und gefolterten armen Sünders oder auch nur Verdächtigten drang aus dieser schwarzen grauenvollen Tiefe durch die Felsenmauern und Gewölbe zur barmherzigen Oberwelt.

Eine winzige Zelle, z. T. aus dem Felsen gehauen, öffnet wie ein schwarzes Grabgewölbe seine schmale, enge, niedrige Tür zum Marterkeller. Nur zwei Schritt lang in der Länge und Breite ist dieses furchtbare Verließ, so daß der, der hier sitzen mußte in Finsternis und Dunkel, in Zwang und Eisen, gefesselt in Ketten, mit Gewichten belastet, nicht einmal auf dem feuchten, harten Felsboden sich ausstrecken konnte. Bei jeder Bewegung in dieser schwarzen Nacht der Verzweiflung konnte er sich am harten Stein den [65] Schädel einrennen. Der Unglückliche, welcher hier der hochnotpeinlichen Frage entgegenbebte, mochte glauben, in einen wahren Höllenabgrund gestürzt zu sein, aus dem ihn wahre Teufel zu weiteren Höllenqualen führen sollten. Wie Furchtbares mögen diese Wände und Gewölbe gehört und gesehen haben an Qualen, Blut und Not an Leib und Seele, an Roheit, Grausamkeit und unmenschlicher Verworfenheit, wovon ein Kind unserer Zeit sich schwer einen Begriff zu machen vermag. Die jetzt im Freiberger Altertumsmuseum befindlichen Marterwerkzeuge, die ehemals an diese Mauern geschmiedeten Halseisen und Ketten, die Daumenschrauben, der »gespickte Hase«, das Streckbett und wie diese Henkerswerkzeuge alle heißen mögen, die Haken in der Decke, an denen die Opfer der Tortur zur Peinigung in die Höhe gezogen wurden, sie legen Zeugnis ab von den blutigen Schrecken und Entsetzen der »scharfen Frage«, die hier in verschiedenen Graden gestellt wurde.

Der Chronist Möller berichtet einmal von den furchtbaren Strafen, die hier vollzogen wurden. Ein Tagelöhner, Simon Kastner, hatte einen Bürger und Kramer, Andreas Köhler, mit seinem Weibe, dem Sohne und der Tochter in seinem Hause auf der Futtergasse mit der Holzaxt erschlagen und das Haus, nachdem er es beraubt, in Brand gesteckt. Er wurde aber ergriffen und man hat »weil er nicht allein diese, sondern mehr andere grewliche Thaten bey der tortur bekennet, ihm seinen verdienten Lohn, nach ergangenen Urtheil und Recht, wiederfahren lassen, also daß er erstlich sechsmal mit glüenden Zangen zerfleischet, als einmal für dem Rathhause, zweymal für der Erschlagenen Hause, zweymal auff dem Markte, und einmal auff der Petersgasse, für dem Kramladen in Michael Pragers Hause, daraus er den Sohn selbst abgeholet [66] und heimkommen heissen, ehe er ihn erschlagen. Hernach ist er auff dem Rabensteine, damit es jederman sehen könne, von unten auff gerädert (da er denn, als er schon sieben und zwantzig starke Stösse mit dem Rade auff die Schenkel, Arme und Leib außgestanden, noch den Kopff auffgerichtet, und zu trincken begehret) letzlichen auff ein hohes Rad geflochten, die Mordaxt über ihn auffgestecket, und zu dessen Gedächtnis eine Schrifft auff ein Täfflein an die Seule, darauff das Rad gestanden, angeheftet worden.« Für die mittelalterliche Justiz ist bezeichnend, daß die Rechtsprechung und Strafe in vollster Öffentlichkeit geschah und bei den Strafen vor allem durch Abschreckung »zum Abschew und Exempel« gewirkt werden sollte. Der Verbrecher wird durch die ganze Stadt geschleppt und dann erst auf dem Rabenstein, »damit es jedermann sehen könne« langsam zu Tode gemartert. Wir gehen jetzt mildere, vielleicht allzumilde Wege in den Strafurteilen und der Strafdurchführung. Die Strafe soll zur Besserung dienen. In jenen Zeiten mag durch solch blutiges, widerliches Schauspiel zum Abscheu und Exempel wohl mehr die Roheit des gemeinen Pöbels gesteigert als eine Steigerung der sittlichen Kräfte erreicht worden sein.

Wieviele, auch unschuldige Menschen und adlige Seelen mögen hier im Marterkeller unter blutigen Folterqualen zu furchtbaren, unmöglichen Geständnissen gepreßt worden und zu einem qualvollen Verbrechertode geschleppt worden sein! – Gespenstisch zucken die Schatten im Raum, den unsere Leuchte nur schwach erhellt. Hören wir nicht ächzen und stöhnen hinter uns oder dort vor uns? Kam nicht ein schwerer, todesbanger Seufzer, ein grauses Röcheln aus jenem dunklen Winkel? Ist dort nicht Blut, Menschenblut an jenen Steinen der Wand? – Es schnürt uns [67] die Kehle zu, als griffe jemand mit kalter, klammernder Faust uns an die Gurgel, ein Schauer geht über den Rücken, als hauchte uns der kalte, keuchende, gespenstische Atem Gefolterter an. Es ist uns, als senkte sich das schwere Gewölbe mit seiner Last von Blut und Schuld über uns hernieder, als rückten die Wände in ihrer schreckhaften Finsternis näher und näher zusammen, um uns zu erdrücken, als kämen wir nimmermehr aus dieser grauenhaften Nacht zum barmherzigen Lichte empor – – – – hinaus! hinaus! Wir wenden unsere Schritte zum schmalen Ausgang zur steilen Treppe, die in die Tiefe führt, die uns wieder zum Lichte führen soll.

Draußen aber atmen wir tief und voll die köstliche Luft der goldenen Freiheit. – –

Wenn für die älteste Zeit und bei der raschen Rechtspflege, die nicht viel Umstände machte, der Marterkeller mit der einen Einzelzelle genügte, so brachte das Anwachsen der Bevölkerung, die erweiterte Gerichtshoheit der Stadt und auch vielleicht der Stadtbrand von 1375 den Zwang und die Gelegenheit, Erweiterungswünschen und Neubauabsichten nachzugehen. Ein regelrechtes unterirdisches Gefängnis wurde im neuen Rathausbau angelegt mit drei nebeneinanderliegenden Zellen, die z. T. in den Felsen gehauen sind und Mauern von 1½ m Stärke haben. Im Erdgeschoß des Rathausturmes wird uns eine Falltür geöffnet und wir steigen durch die viereckige Schachtöffnung auf einer Leiter in die schwarze Tiefe hinab. Dumpfe Luft, wie aus einem Grabgewölbe, schlägt uns entgegen. Am Ende eines 7 m langen, mit schwerem Tonnengewölbe überdeckten, 2 m breiten Ganges befindet sich eine kleine, schmale Türöffnung in der Seitenwand, welche wir nur tief gebückt durchschreiten können, um zu [68] den engen Vorplätzen der Einzelzellen zu gelangen. Drei Vorplätze und drei Zellen reihen sich aneinander, derart, daß jede Zelle besonders verschließbar ist und einen besonders verschließbaren, engen Vorraum hat. Wie eine enge Spalte im Felsen wirken die drei Vorräumchen, zu denen sich die winzigen Öffnungen der dunklen Zellengräber wie schwarze Stollen unheimlich öffnen. Die Türöffnungen oder besser Türschlitze in den meterdicken Mauern sind nur 50 cm breit und so niedrig, daß nur ein Kind ohne tiefes Bücken hindurchzuschlüpfen vermag. Kein Lichtstrahl fällt in diese Räume, keine Lüftung ist vorhanden. Durch die Spalten im Felsen sickert das Grundwasser und feuchtet den Boden und die Wände.

In der letzten dieser unheimlichen Zellen hat Kunz von Kaufungen, der Prinzenräuber, seinem Spruche entgegengeharrt. Sechs Türen mußten geschlossen werden ehe man bis zu diesem Gefangenen vordringen konnte. Hier in diesem finsteren, unterirdischen Felsengrabe und dort oben an der Stelle des schwarzen Steines auf dem Markte fand ein Schicksal seinen Abschluß, das für ein Drama wirkungsvollen Stoff bieten könnte.

Wer war dieser Kunz von Kaufungen? Ein Michael Kohlhaas, der um sein Recht bis zur Selbstvernichtung kämpft, oder ein gewöhnlicher Raubritter, Verbrecher und gemeiner Verräter? Nein, nicht mit einem Namen, Wort oder Etikett ist ein Charakter, ein Menschenschicksal erschöpft und beurteilt. Verstehen ist mehr als richten! Kunz war ein ganzer Mann, ein tapferer Ritter, der sich in vielen Schlachten bewährt und den Herren, für welche er das Schwert gezogen, treue Dienste geleistet hatte. Im sächsischen Bruderkriege, der fünf Jahre dauerte, hatte er für den Kurfürsten Friedrich den Sanftmütigen tapfer gekämpft, [69] denselben Kurfürsten, gegen den er sich später erhob und der sein Schicksal wurde. Seine Bildung scheint eine für einen Edelmann des 15. Jahrhunderts nicht gewöhnliche gewesen zu sein; er war nicht nur des Lesens und Schreibens kundig, sondern die unter seinem Namen ausgegangenen Schriften zeugen auch von einer gewissen Kraft und Gewandtheit des Ausdrucks. So wurde er Hauptmann und Voigt auf dem Schlosse zu Altenburg und der Kurfürst sagte von ihm nach dem Prinzenraube: »Kunz sei ihm nie, kein Tag und keine Stunde, unsicher gewesen und habe von ihm und den Seinen viel Gutes empfangen, alles auf guten Glauben und Vertrauen, die er zu ihm vor Andern gehabt habe.« Sollte dieses Urteil unverdient gewesen sein? Später finden wir Kunz im Dienste der alten Reichsstadt Nürnberg im Kampfe gegen den Markgrafen Albrecht Achilles. Er war der Hauptmann der Armbrustschützen und hat mit großer Tapferkeit und Treue für die Stadt gefochten und auch sein Blut vergossen. Die Nürnberger Chronik sagt von einem Ausfall: »… auch ward Kuntz von Kauffungen auf den Tag mit einem Pfeil durch den leib geschossen, doch ward er geheilt und gesunt (der war der stat diener, ein Edelmann).« In einem anderen Schlachtbericht heißt es: »Ein ander Hauf ward gemacht, der waren bei 50 gereisigen und des was ein Hauptmann der edel und menlich Conrat von Kauffungen; be ihm waren die erbern (Patrizier) Gabriel Tezel, Wilhelm Loffelholz und mere erbern auß der edeln stat Nürnberg.« Wenn man bedenkt, wie selten in diesen Kriegsberichten die Anführer genannt und die Taten Einzelner hervorgehoben werden und daß in seiner Schar die stolzen Patrizier sich befanden, so kann man auf die hohe Achtung schließen, welche Kunz sich erworben hatte. Das [70] zeigt auch der Bericht von der Schlacht am Pillenreuter See, durch welche der Krieg gegen Albrecht siegreich für Nürnberg entschieden wurde: »Also ließ der edel Herr von Blawen aufdrumeten und legt’ ein sein sper und rait frischlich gegen den feinten. indem ward sich auch mengen der edel und fest Conrat von Kauffungen mit seinen gesellen unter die feint. Indem sich die mennlichen der spitzen von Nürnberg so hart hielten und so keck und menlich gegen den feinten ritten gar in still und mit keinem geschrei, da hub sich zu fliehen der Fürst« (Markgraf Albrecht). Ja, auch im Liede wurde Kunz von Kauffungens Anteil an diesem stolzen Siege gefeiert und der Rat zu Nürnberg erneuerte den Soldvertrag mit ihm auf weitere drei Jahre unter Erhöhung seines Soldes und es heißt von ihm: »er hielt sich gar redlich also, daz in meniglich liep hat.« Und dieser tapfere, redliche Kriegsmann, den man in Nürnberg im Jahre 1452 »meniglich liep hat«, soll im Jahre 1455 nur ein Räuber sein? Nein, nimmermehr! Ein Mann war er, der herrisch für das, was er für sein Recht hielt, eintrat bis zum äußersten, und im trotzigen Vertrauen auf seine Kraft, wenn ihm sein Recht nicht wurde, sein Recht sich selber holte. Die mittelalterliche Auffassung vom Rechte und der Freiheit eines Ritters, der nur dem gehorcht, dem er gerade seine Dienste geweiht, und der auf eigne Hand Fehde führen darf, stieß hart zusammen mit der stärker und stärker sich ausprägenden Macht des Landesfürsten und dem Untertanenverhältnis und mit neueren Rechtsauffassungen und Auslegungen, die ihm zuwider waren. Es ist das Drama des ausgehenden Rittertums. Der Grund zu den Zwistigkeiten zwischen dem Kurfürsten und Kunz war der Streit um das leidige Mein und Dein! Kunz fühlte sich ungerecht behandelt; [71] ein Gut, das ihm zustand, sei ihm trotz treuer Dienste vorenthalten worden. Der Kurfürst beschuldigte ihn verschiedener Raubrittertaten, feindseliger Gesinnung und des Verrates mit Böhmen, das ihm feindlich gesinnt war. Eine Einigung kam nicht zustande. Einen anscheinend stark vom Kurfürsten beeinflußten Schiedsspruch eines Schiedsgerichtes erkannte er nicht an, und so griff er denn trotzig zur Selbsthilfe. Vielleicht auch standen wirklich weitergehende politische Absichten im Hintergrunde und dadurch, daß er sich mit dem Raub der Prinzen vom Schlosse zu Altenburg Geiseln und sichere Unterpfänder schaffte, diente er nicht nur seiner Rache, indem er das Herz des Vaters traf, und seine Forderungen durchsetzen zu können glaubte, sondern er hatte vielleicht einen Mächtigeren im Auge, Georg Podiebrad von Böhmen! Dieser konnte die Geiseln wohl brauchen, um seine ehrgeizigen Pläne auf sächsische Gebiete besser durchzusetzen, und Kunz war verdächtig oft in Böhmen gewesen, wo er das Schloß Eisenberg bei Brüx besaß.

So geschah in der Nacht vom 7. zum 8. Juli 1455 der Prinzenraub vom Schlosse zu Altenburg, die Tat, welche weithin größtes Aufsehen erregte. Kunz wurde bald ergriffen und samt einem Teil der Steigleiter als handgreiflichem Merkmal der Tat – corpus delicti – nach Freiberg gebracht, um dort sein Urteil zu empfangen. Warum nach Freiberg? Freiberg war damals die größte Stadt Sachsens, die freie stolze Stadt auf dem Berge! Das Freiberger Stadtrecht, dieses berühmte, alte deutsche Rechtsbuch, hatte hier seine Stätte und Anwendung. Der Rat zu Freiberg, die zwölf Geschworenen, hatte die Gerichtsbarkeit und führte ein strenges und gerechtes Gericht. Er hatte vom Landesherrn das alte Privilegium vom Jahre [72] 1294 als Lohn für die vielfach bewiesene Treue erhalten: wenn sich jemand gegen den Landesherrn vergehen sollte, so solle die Entscheidung dieses Falles den Geschworenen zu Freiberg überlassen werden. »Vorwirket sich eymand gen uns das wollen wir rugen unde teidingen nach irme rate.« Der Kurfürst mag auch durch kluge Rücksichten auf die öffentliche Meinung bestimmt worden sein, über Kauffungens Tat durch einen Gerichtshof, der aus unabhängigen Bürgern bestand und als völlig unparteilich gelten mußte, anstatt von einem seiner eigenen Beamten oder durch einen von ihm eingesetzten Sondergerichtshof entscheiden zu lassen.

Der Spruch lautete nach mündlicher Verhandlung, wie nicht anders zu erwarten war, auf den Tod durch das Schwert. Am 14. Juli 1455 wurde Kaufungen auf dem Markte hingerichtet. Vielleicht hat das uralte Freiberger Richtschwert im Albert-Museum sein Blut getrunken. Das Urteil mußte so fallen, wie geschehen, denn er war auf handhafter Tat ergriffen, der Tat überführt und auch wohl geständig. Durch weitverzweigte Verschwörung hatte er den Landfrieden gebrochen, er war als »vridebrecher« »mit unrechter Gewalt und gewappneter Hand und geruckter Wehre« in das Haus eingebrochen, und darauf stand das Schwert! So wurde z. B. auch im Jahre 1493 zu Freiberg ein Herr v. Carlowitz, welcher mit gespannter Armbrust durch die Stadt geritten war und den Bürgermeister mit Erschießen bedroht hatte, gefangengesetzt und enthauptet. Vielleicht hat Carlowitz auch in jener unterirdischen Zelle seinen Spruch erwartet und hat droben auf dem Markt an gleicher Stelle mit seinem Blute den Sand genetzt, wie Kaufungen 38 Jahre zuvor. Das Freiberger Stadtrecht sagt: »Ist ir vire, sechse oder cehene derselben [73] vridebrecher oder wi vil ir ist da gewest an handhafter tat, man slet in abe die Helse mit rechte.« Sie waren dem Freiberger Stadtrecht verfallen! Das Schwert in jener Zeit war rasch und das Hälseabschlagen eine glatte Sache, denn ein toter Hund kann nicht mehr beißen. Recht und Vorteil mag öfter Hand in Hand gegangen sein und manchmal mag der Richter auch unbewußt Partei zwischen Gerechtigkeit und Staatsklugheit gewesen sein.

Wir blicken in das feuchte, enge Verließ, das viele Jahrhunderte als Gefängnis gedient hat. Wenn diese Mauern erzählen könnten, welche grauenhafte Reihe schauerlicher Taten, Reden, Gedanken, Flüche und Seufzer, welcher Jammer, Elend, Schuld und Sünde, aber auch unschuldige Leiden und Qualen, zertretene Hoffnungen, zerschmettertes Glück würde uns da offenbar werden, so daß wir nimmermehr froh werden könnten unter der Last der Geschichten und Gesichte aus der dunkelsten Nacht des Lebens.

Dort sitzt der gefürchtete Kunz von Kaufungen, ein starker Mann mit schwarzem Vollbarte und Haupthaare auf dem rohen Steinsitz seiner Zelle, und hofft auf die Stunde der Freiheit, die doch nicht schlagen sollte. Er grübelt und knirscht in verzweifelter Wut. Mächtige Freunde hat er, die nicht dulden werden, daß einer ihres Standes dem Schwerte verfallen soll, weil er sich selbst sein Recht gesucht. Den jungen Prinzen ist kein Leid geschehen, das etwa mit Leib und Leben zu büßen wäre. Das Fehderecht in seiner gerechten Sache gegen den Kurfürsten ist gutes ritterliches Recht. Was gilt ihm das Freiberger Stadtrecht! Die Tat geschah nicht im Banne des Freiberger Stadtrechtes! Kann der Kurfürst als Kläger sich Recht und Richter selber wählen? Wird der Kurfürst, welcher der Sanftmütige genannt wird, das Schwert gebrauchen, [74] obschon er einst sein treuer Diener war, will er die Tat sühnen oder will er einen Feind vernichten? – – Er grübelt und grübelt und dazu diese rabenschwarze Finsternis, diese Totenstille, in welcher er lebendig begraben sich glaubt. Ist es Nacht, ist es Tag, ist es Zeit oder ist es schon schaurige Ewigkeit? Er stöhnt in verzweifeltem Grimm und schlägt die Faust sich blutig an den eichenen Bohlen der schmalen Tür, doch nur die unbarmherzigen Ketten klirren. Er brüllt wie ein verwundeter Bär, doch niemand hört ihn, niemand kommt, ihn in die Freiheit zu führen. Vier Tage und Nächte vergehen so in Nacht und Grauen, und als man ihn zum Lichte führt mit der Last seiner Ketten, da führt man ihn zum Tode, da blitzt über seinem Nacken das Schwert, sein Haupt rollt in den Sand. Die Tat hat ihre Strafe, die Schuld ihre Sühne gefunden. Gerechtigkeit und Staatsklugheit reichen sich die Hand und die Bänkelsänger ziehen durch die Märkte des Landes und singen das Lied von Kaufungens Glück und Not und Ende, und später, im Kasperletheater, erregt das Spiel vom Prinzenraub das Grauen und Entzücken der Kinder. Ein altes Lied singt von ihm:

»Was blast dich, Kunz für unlust an,
daß du ins Schloß neinsteigest
und stiehlst die zarten Herren raus,
als der Kurfürst eben war net zu Haus,
die zarten Förstenzweige?
So geht’s, wer wider die öberkeit
sich unbesonnen empöret.
Wer es nicht meint, der schau an Kunzen
sin Kop tut zu Freiberg noch herußen schmunzen
und jedermann davon lernt.«

Ein schwarzer Stein mit verwischtem Kreuz liegt an der Stelle, wo sein Haupt fiel, und ist seit Jahrhunderten eines [75] der Wahrzeichen der alten Bergstadt, die jeder wandernde Handwerksbursche und Zunftgenosse als Ausweis seiner Ortskenntnis kennen und nennen mußte. Heute noch speit auf den Stein jeder Schulbube, der vorübergeht: Er meint nach alter Sage, es ginge ihm besonders in der Schule gut, wenn er zuvor als braver Knabe dem Andenken des bösen schwarzen Raubritters und Prinzenräubers seine Nichtachtung bezeigt hätte. 123 Jahre später, im Jahre 1578, wurde das Rathaus von Andreas Lorentz »des Rats Steinmetz«, mit einem Erker geziert. Aus dem Giebel schaut weit herausgereckt das Haupt eines Geharnischten mit Eisenhaube mit trotzigen Mienen hernieder auf den schwarzen Stein. Es soll Kunz von Kaufungen sein, der nach seiner Richtstätte schaut und keine Ruhe findet, bis ihm Gerechtigkeit nach seinem Sinne geworden.

Noch ein anderes Erinnerungsstück hält das Gedächtnis an Kunz von Kaufungen den wechselnden Geschlechtern lebendig. Es ist die Steigeleiter, welche er zur Tat benutzt hatte und welche seit jenen Tagen im Rathause zu Freiberg aufbewahrt wird. Der untere kürzere Teil befindet sich im Schlosse zu Altenburg. Die Beschaffenheit der Leiter zeigt, daß es sich nicht um eine rasche Tat handelte, sondern mit welcher kalten Überlegung und Sorgfalt lange vorher die Tat vorbereitet und geplant war. In diesem Sinne mag sie in den Augen der Richter besonders belastend und für das Urteil mit entscheidend gewesen sein. Sie ist aus doppelt genähten, starken Ledergurten mit Holzsprossen hergestellt und hat eine Länge von 7,50 m mit 30 Sprossen. Jede Sprosse ist mit hölzerner Mutter sorgfältig von außen an den seitlichen Gurten befestigt und gesichert. Mit jeder achten Sprosse sind fest zwei Stützhölzer von etwa 20 cm Länge verbunden, durch welche die an der [76] Mauer hängende Leiter eine ziemliche Steifigkeit erhielt, so daß sie, sich fest gegen die Wand stützend, genügend Abstand halten und auch ein Hin- und Herschwanken und Pendeln vermeiden konnte. Drei Paare solcher festen Sprossenstützen sind vorhanden.

Das obere Ende der Leiter ist durch ein Dreieck von Rundeisen an einem eisernen Bügel oder Überwurf befestigt, der ähnlich einer festen Klammer über die Fenstersohlbank des zu ersteigenden Fensters geworfen wurde und sich dort fest einbiß. Dieser Klammerbügel ist jedoch lang genug, daß das obere Leiterende entsprechend den Sprossenstützen im Abstand von der Mauer gehalten wurde, um ein bequemes Steigen mit Hand und Fuß zu ermöglichen. Es ist eine Arbeit raffinierter Überlegung und Erfahrung, an welcher lange gearbeitet ist, um nur nicht etwa an einem technischen Mangel den kühnen Plan scheitern zu lassen. – –

An den gotischen Spitzbögen der oberen Ratsdiele befinden sich noch zwei andere Zeichen mittelalterlicher Rechtspflege. Es sind zwei große, schwärzliche Steine von halbkugeliger Form mit einem scharfkantigen Eisenringe. Auf dem Stein ist das Bild zweier zänkischer Weiber zu erkennen, die sich gegenseitig die Haare raufen. Sie stehen in steifer Haltung mit erhobenem Arm nebeneinander in ihrer Renaissancetracht, – roter, langer Rock, weißem Mieder und schwarzer Jacke mit Puffärmeln – und rollen mit den Augen. Im Bautzener Stadtmuseum befindet sich ein ähnlicher Stein in Form einer runden Pilgerflasche und daher »Büttelflasche« oder auch »Graue Suppe« genannt. Sie trägt die Umschrift: »Mägde und Weiber, die sich schlagen, müssen diese Flasche tragen.« Dieser Widmungsspruch erklärt auch unsere Steine dort oben. Mit ihnen, [77] den Prangersteinen, am Halse wurden vom Stockmeister oder Büttel zänkische Weiber auf dem Markte an den Pranger gestellt. Der eiserne Ring von 29 cm Durchmesser konnte bequem über den Kopf gestreift werden. Der Stein ist aus Granit zurechtgehauen und glatt bearbeitet. Auf der Rückseite ist eine Höhlung für den Busen der Delinquentin herausgearbeitet. Das Gewicht beträgt 25 Pfund. In der rückwärtigen Höhlung des einen Steines ist, von grünen Zweigen eingerahmt, folgende Inschrift angebracht: Renoviret im Jahre Christi 1769 auf Anordnung Tit. Herrn Stadtr. Gottlob Hieron. Waegers durch Joh. Gottlob Blöden. Stockmeister.

Dieser Stein war also schon vor mehr als 150 Jahren durch fleißigen Gebrauch so abgenutzt im Laufe von vielleicht 200 Jahren, daß er im Anstrich und Malerei neu aufgefrischt werden mußte. Der Stockmeister hat sich mit großer Liebe und Sorgfalt, wie die saubere Inschrift beweist, dieser Aufgabe unterzogen und sich selbst dabei mit verewigt. Er glaubte wohl sicher, daß dieses drastische Erziehungsmittel holder Weiblichkeit zur Friedfertigkeit, das zugleich eine derbe Volksbelustigung von Rechtswegen war, noch lange sich seiner Beliebtheit erfreuen würde. Abgesehen von der demütigenden Wirkung und moralischen Pein, bedeutete diese Strafe auch körperlich eine Qual, denn der Druck des scharfkantigen Ringes im Nacken und auf den Schultern, dazu das schwere niederziehende Gewicht des Spottsteines, mehrere Stunden hindurch die Roheit und Gehässigkeit und niederen Leidenschaften des Pöbels dazu, mochten fast unerträglich gewesen sein. Es mochte ein eigenartiges für unser heutiges Empfinden abstoßendes Volksschauspiel abgegeben haben, wenn solche unholde Unglückliche entweder allein oder paarweise sich [78] gegenüberstehend, mit ihrem schweren Halsschmuck geziert, mit Schimpf und Schmutz, faulen Eiern und anderen übelriechenden Dingen beworfen wurden, und wenn sie dann ihre losen, scharfen, schimpffertigen Zungen mit mittelalterlicher Deutlichkeit und Schlagkraft gegeneinander und gegen ihre Angreifer rücksichtslos gebrauchten, ein Wettkampf der Bosheit und giftiger Leidenschaften, der wohl schwerlich zur Hebung und Läuterung des sittlichen Empfindens beitragen konnte. Der derbe Volkswitz wird dabei manche kräftige Blüte getrieben haben, die unserem heutigen Empfinden vielleicht etwas zu urwüchsig erscheinen würde. Der erzieherische Wert der Strafe für die Gestraften und das Volk mag nur gering gewesen sein. Zweifellos sind diese echten alten Prangersteine im Freiberger Rathause wichtige und interessante Zeugen alter Rechtspflege und Strafauffassung. Was könnten diese Zeugen wohl berichten von menschlicher Schuld, Tücke und innerer und äußerer Qual! – –

Das Obergeschoß des Rathauses war einst eine einzige große Halle, an deren Westende das Archiv und die alte Gerichtsstube, jetzt Stadtverordnetensaal, am Ostende die frühere Kommissionsstube, jetzt Ratssitzungszimmer sich befanden. Alle anderen Räume und Flure, vierzehn an der Zahl, welche jetzt die alte Halle einnehmen, sind erst später durch Einziehen von Wänden und Decken eingerichtet worden. Diese einstige große Ratshalle hatte eine Breite von 16½ m und war von der Marktseite und Burgstraßenseite her durch stattliche Fenster gut beleuchtet. Die hohe, buntbemalte, hölzerne Balkendecke wurde durch sechs gotische Spitzbögen auf fünf kräftigen, kurzen Pfeilern von Grillenburger Sandstein getragen, so daß die mächtige Halle in zwei gleich breite Schiffe getrennt wurde. Das [79] Schiff an der Marktseite zwischen Kommissionsstube und Gerichtsstube hatte 28½ m Länge, während das nördliche Schiff an der Burgstraße die ganze Ausdehnung des Rathauses mit 50 m Länge einnahm. Dieser gewaltige Saal, in dessen Mitte die Spitzbögen mit ihren starken Pfeilern wie im wuchtigen Gange einherschritten und den aufstrebenden elastischen Schwung ihrer Linien zur Decke emportrugen, mit seinen bunten Farben, Gemälden und dem Schmucke von Waffen, Schilden, Panzern, Sturmhauben, Harnischen, Fahnen u. dgl. muß eine starke Raumwirkung gehabt haben, die anderen berühmten Rathaussälen wohl gleich kam, oder sie vielleicht gar übertraf.

Hier vereinte sich das ganze festliche Leben der reichen Silberstadt und brachte glanzvolle Tage und Nächte, deren malerische Wirkung und derbe Fröhlichkeit wir uns nur schwer vorzustellen vermögen.

Hier hielt 1512 Herzog Heinrich seine Hochzeit und den Hochzeitstanz ab. Welche Pracht der Gewänder, kostbarer Stoffe und herrlicher Schmuckstücke mag da entfaltet worden sein. Hier gab der Rat den Fürsten, die in Freiberg residierten oder zu Gaste waren, üppige Prunkmähler, hier feierten die stolzen Patrizierfamilien ihre Feste, weswegen der Saal auch das »Tanzhaus« hieß, hier fanden die Bergknappschaftsfeste statt, welche alle Männer vom Leder, den Oberberghauptmann mit Berggeschworenen und Knappen, den reichen Silberherren und den armen Bergjungen zu gemeinsamer Feier bei reichem Mahle, gutem Trunke und schließlich fröhlichem Tanze vereinten. Hier fanden auch Theateraufführungen fahrender Künstler und die Festspiele des Gymnasiums statt. Längst sind die Feste verklungen, die Fröhlichkeit verrauscht, die Blumen verwelkt und Nelkenkränze verdorrt. Andere Zeiten kamen, nüchtern, sachlich, [80] kalt und sorgenschwer, in denen die Fröhlichkeit andere Stätten suchte, der Sinn der Zusammengehörigkeit auch in der Freude wie bei der Arbeit zersplitterte und sich nach hie und da verkroch. Die Handwerker kamen, nahmen die Waffen und allen Zierrat von den Wänden und bauten in den herrlichen Saal Zimmer auf Zimmer ein, mauerten drei Bogenöffnungen zu, so daß aus dem fröhlichen Tanzhaus, aus dem ernsten Rüsthaus mit seinen Waffen zu Schutz und Trutz, ein nüchternes Geschäftshaus oder Verwaltungsgebäude wurde. Nur die Feder und das Wort sind die Waffen, die hier noch geführt werden. An die Stelle von Tanz und lauter Fröhlichkeit ist stille Emsigkeit, treue Arbeit und unermüdliche Pflichterfüllung im Dienste der Allgemeinheit getreten.

Nur die Ratsdiele ist vom alten fröhlichen Saale noch übrig geblieben. Durch zwei Fenster wird sie beleuchtet mit tiefen Nischen der starken Mauern, in denen Banksitze Platz gefunden haben. Eine schwere, spätgotische Sandsteinbrüstung grenzt die Öffnung der von unten aufsteigenden Treppe ab. Stumm schauen die Gestalten der sächsischen Fürsten in Lebensgröße von den Wänden hernieder.

Mit Panzer oder seidenen Prachtgewändern bekleidet, mit Hermelinmantel, mit Schwert oder Feldherrnstab in der Rechten, sind diese stolzen Herren und Herrscher charakteristische Vertreter ihrer Zeit mit allen ihren Vorzügen und Schwächen. Mag einzelnen Bildern die letzte Meisterschaft fehlen, so sind sie doch ein künstlerisch und historisch wertvoller Besitz und Schmuck des Rathauses, welchen die Jahrhunderte seit Herzog Heinrich d. Frommen (1505 bis 1544) zusammengetragen und sorgfältig bewahrt, gehegt und gepflegt haben. Vierzehn Fürstenbilder hängen auf der Rathausdiele, sechs im Stadtverordnetensaale. Es ist ein [81] gutes Stück sächsischer und deutscher Geschichte, die an uns vorüberzieht, wenn wir der Zeiten und Geschicke jener Männer und Frauen gedenken. Dort Johann Georg I. und seine Gattin, die Kurfürstin Sibylla Magdalena, haben die furchtbare Prüfung des dreißigjährigen Krieges über ihr Land dahinbrausen sehen. In ganzer Figur am Tische stehend trägt er ein grünseidenes Prachtgewand. Dunkel ist sein Haar und Spitzbart. Drei Jahre vor Ausbruch des großen Krieges hat ihn und auch seine Gattin, eine blonde anmutige Frau mit schönem weißem Spitzenkragen, gleichfalls mit einem grünen, prachtvoll geschmückten Seidengewand angetan, sein Hofmaler Johann Gerhardt, in voller jugendlicher Kraft und Schönheit dargestellt.

Dort das Bild des Kurfürsten Johann Georg III., des Türkensiegers mit rötlichblondem, lockigem Haar und Schnurrbart, der an der Befreiung Wiens durch die Schlacht am Kahlenberge am 12. September 1683 so ruhmreichen Anteil hatte. Zur großen Siegesbeute jener Schlacht gehörten bekanntlich große Mengen Kaffee. Der Genuß des Kaffees, die Entwicklung des »Wiener Kaffees« datiert aus jener Zeit, und auch die besonderen engen Beziehungen des Sachsen zum Kaffee mögen in jenem Siege ihres Kurfürsten ihren Ursprung gehabt haben. Er ist in Rüstung mit malerisch zusammengefaßtem Hermelinmantel dargestellt und weist mit dem Feldherrnstab auf den Feind. Eine Kanone mit dunklem, drohendem Rohr spricht von seinen Schlachten.

Dort ist August der Starke in dunkler Rüstung mit blauem Samtmantel und dem Bande des Weißen Adlerordens. Welche Fülle von Bildern, Vorstellungen und Geschichten tritt uns vor das geistige Auge, wenn wir seinen Namen hören und ihn im Bilde in seiner etwas theatralischen [82] Haltung betrachten. Mag er ein großer Egoist gewesen sein, ein Genießer von besonderem Ausmaß, so ist doch seine Prachtliebe, sein Sammlungseifer, seine Kunstfreude, seine Baulust für die Entwicklung und Befruchtung der Kunst in Sachsen und insbesondere Dresden von unschätzbarer Bedeutung gewesen. Durch ihn wurde Dresden zum Elbflorenz. –

Dort fällt uns ein Bild ganz anderer Art durch seine Farbenpracht in die Augen, das Bild des Königs Anton, der 1827–1836 regierte, ein König der Biedermeierzeit. Er ist ein kleiner Mann mit gemütlichem aber doch ernsthaftem Gesicht, dem man glaubt, daß er kein Feind des Schnupftabaks und eines guten Rotspohns, aber mit Maßen und gehöriger Würde und Herablassung ist. Er trägt einen scharlachroten Frack mit schwefelgelber Weste und breitem, grünem Ordensband und dazu hübsche, enge, mattblaue Hosen und hält in der Hand einen großen zweispitzigen Federhut mit mächtiger Feder. Er sieht aus wie der König im Bilderbuch, und, hätte er den schönen Federhut auf, würde er einem der schönsten Papageien mit großem Schopfe im Zoo gleichen. – Ist es erst wirklich hundert Jahre her, daß sich ein König so verewigen ließ? oder ist es nicht doch etwa ein König aus Biedermeiers buntem Bilderbuch? Das fröhliche gemütliche Bild lacht als lustiger Farbenfleck in die ernste Ratsdiele so leuchtend herunter, wo so viel Sorgen und schwere Gedanken hin- und hergetragen werden, daß mancher mit Lächeln zu ihm aufsieht, ihm zunickt und denkt: Du bunter Vogel, wie kamst du hierher aus dem lustigen Märchenbuch. »Es war einmal ein König, der hatte einen …?« –

Die wertvollsten Gemälde der Fürstengalerie hängen im Stadtverordnetensaale. Es sind die Bilder Herzog Heinrichs [83] des Frommen, des Kurfürsten Moritz, des Kurfürsten August und seiner Gemahlin Anna.

Herzog Heinrich der Fromme, der Freund und Gönner Freiberger Art und Bürgertums, der Gründer Marienbergs, zeigt sich in seiner waffenfrohen, ja waffenklirrenden Art. Es ist eine feste Mannesgestalt, der Herzog Heinz, der da vor uns steht, mit braunem Vollbart und Haupthaar. Er ist schwer gepanzert mit Kettenringkragen, Brust- und Beinharnisch. Die Panzerschuh und Panzerschilde an den Knien sind vergoldet. Im rechten Arm liegt ihm ein gewaltiges, bloßes, zweihändiges Schwert, mit großem, goldenem Griff hoch an der Brust, das fast so groß wie der Herzog selbst ist. Die linke Hand hält er am Griff eines zweiten, an der linken Seite hängenden Schwertes, und an der rechten Seite trägt er noch einen Dolch. Waffen und Kanonen waren seine Leidenschaft, und im Zeughaus des Schlosses Freudenstein unter seinen schönen blanken Bronzekanonen mit ihren Bildwerken und anzüglichen Sprüchen sein liebster Aufenthalt. Einen kräftigen Trunk unter seinen ehrenfesten Bürgern in der Ratstrinkstube, oder auch ein fröhliches Schützenfest mit eigenhändigem Armbrustschießen nach der Scheibe, eine weidgerechte Jagd in den Wäldern des Gebirges verschmähte er jedoch nicht. Sein Mohr und sein großer englischer Windhund durften jedoch nicht fern sein. Dafür hatte jedoch sein Kanzler Freydiger desto mehr Mühe, ihn zum Schreiben zu bringen, und wenn es nur eine einfache Unterschrift war. Lieber ein zweihändiger Riesenflamberg in beiden Händen, als einen Gänsekiel zwischen den Fingern einer Hand! – Heinrich hatte jedoch mehr noch als kriegerischen Mut, er hatte Bekennermut und seelische Kraft. Trotz des grimmigen Drohens und Schnaubens seines mächtigen Bruders Georg schaffte er Luthers Lehre freie Bahn in [84] Freiberg und ließ sich auch durch Versuchungen nicht in seiner Treue und Festigkeit erschüttern. Als Herzog Georg mit Zorn und Gewaltdrohungen nichts bei ihm erreichte, versuchte er’s mit schlauer Überredung und Bestechung: Er schickte Gesandte an Heinrich, um ihm sein Herzogtum als Erbe anzubieten, falls er wieder zur alten päpstlichen Lehre sich wenden wollte. Der Chronist sagt: »Die Gesandten wiesen auf die Fürtrefflichkeit des Landes und großen vorhandenen Vorrates an Silberkuchen, baren Gelde, Golde, Kleinodien und vielen köstlichen Zierrathe hin ohne ihn bewegen zu können.« Heinrichs Antwort lautete:

»Es gemahne ihm ihr fürbringen nichts anders, als da der Satan dem Herrn Christo alle Reichthume und Herrlichkeiten der Welt zeigete und zu ihm sagete, dieses alles will ich dir geben, so du niederfällest und mich anbetest, welches er nimmermehr thun, noch seinen Herrn Christum um des Zeitlichen willen verraten würde, wenn er auch gleich mit seiner Gemahlin an einem Stäblein betteln aus dem Lande gehen sollte!«

Er liebte sein Freiberg, in dem er seit 1506 fast 35 Jahre Hof gehalten und ließ in sein Testament als letzten Willen schreiben, »er hette die Freyberger in aller Trew und Gehorsam gegen Gott und ihm befunden, drumb wolte er auch bey denselben ruhen und schlaffen«. Unter ihm und seiner milden aber starken Hand hat Freiberg wohl seine glücklichste Zeit erlebt.

Unruhige Jahre kamen unter der Herrschaft seines Sohnes, des Kurfürsten Moritz, dem Sachsen viel zu enge war, der mit hochfliegenden Plänen sich trug, und dem Religion mehr ein Mittel der Politik und hohen Ehrgeizes war. Vielleicht wären seine Pläne zum Wohle des Reiches gewesen, wäre er nicht zu früh, erst 32 Jahre alt, [85] dahingerafft. Welchen Lauf hätte wohl ohne den heimtückischen Schuß die Weltgeschichte genommen? Vielleicht wäre Deutschland der dreißigjährige Krieg erspart geblieben.

Dort aus dem Bilde neben seinem Vater schaut uns im Schmucke seines rötlichen Vollbartes sein edler, ernster, länglicher Kopf mit klugem, festem Blicke an. Man fühlt, daß hier ein Besonderer steht und den Feldherrnstab in der Hand trägt. Er ist mit einem Panzer von dunkler Farbe und gelber Feldbinde darüber gerüstet. Ist es derselbe schwarze Panzer, den er in der Schlacht von Sievershausen trug, als ihn am 9. Juli 1553 der meuchlerische Schuß von hinten traf, der Panzer, der nun schon Jahrhunderte im Dome zu Freiberg sich befindet? Die bei Sievershausen erbeuteten Fahnen dort im Dom, von denen fast nur die Schäfte noch mit wenig Resten, Fetzen und Fasern übrig sind, wissen zu erzählen von jener Schlachtennot und frühem Schlachtentod, durch den Deutschland seiner besten Hoffnung mit beraubt wurde. Der uralte deutsche Mythos vom blinden Hödur, der den lichten Baldur durch heimtückischen Schuß tötet, wird immer wieder neu und wahr bis in die neueste Zeit. Dieser Mythos ist der Mythos von Deutschlands Schicksal und Leid. –

Die Bilder des Kurfürsten August und seiner Gattin Anna stammen von Lukas Cranach d. Jüngeren. Sie sind in schwarzer, spanischer Tracht mit vollendeter Kunst gemalt. August trägt ein reiches, mit Gold gesticktes Wams mit schwarzem, goldgesticktem Mantelkragen darüber und enganliegende hohe, schwarze Strümpfe. Die Hand hält er links am Degengriff. Nichts Kriegerisches liegt in dieser Erscheinung, sondern mehr von einem eleganten Hofmann. Sein rötlichblonder Vollbart ist kurz geschnitten und gepflegt. [86] Auf seinem Haupte trägt er eine eigenartige Kopfbedeckung, die etwa einer weichen, hohen Bergmannskappe gleicht.

Seine Gattin ist auch in Schwarz gekleidet. Das ganze untere Drittel des Kleides, die Puffärmel und der Latz, sind reich in Gold gestickt. Ihr helles, rötlichblondes Haar legt sich glatt gescheitelt über Haupt und Schläfen und ein kleines Barettchen mit Feder deckt rechts den Scheitel. Mit rührend schlichter, steifer Haltung steht sie da, hat die Hände zusammengelegt und schaut mit blassem, kindlichem Blick auf den Beschauer, wie eine Konfirmandin, die auf ihren Pfarrer lauscht.

Der Hintergrund beider Bilder, die als Gegenstücke gemalt sind, ist ein großer hellgehaltener Fensterbogen, durch welchen der helle Himmel hineinschaut, vor dem die schwarzen Gestalten stehen.

Das also ist »Vater August« und »Mutter Anna«, der kluge Volkswirt und Haushalter seines Volkes und die treue Landesmutter neben ihm! Wie so ganz anders stellt man sich dieses Fürstenpaar vor, als hier auf diesen Cranachbildern! Nicht modisch elegant mit sattem, zufriedenem, geistig unbedeutendem Antlitz wie er es zeigt, nicht geistig so unentwickelt und schüchtern und leer, wie sie sich stellt, nein, als tatkräftige, geistig bedeutende Persönlichkeiten, denen der geistige Adel und das tüchtige Wollen und Können von der Stirne und aus den Augen leuchtet. Nein, da sind die Bronzedenkmäler von Carlo de Cesare in der Begräbniskapelle des Domes doch schöner, überzeugender und vielleicht auch trotz aller Steigerung doch noch wahrer als hier, wo mehr der körperliche als der geistige Mensch gegeben ist. –

Neben dem Stadtverordnetensaale, dessen alte Holzdecke von zwei gewaltigen gotischen Unterzugbalken mit reicher [87] Profilierung getragen wird, liegt das alte gewölbte Urkundenarchiv. Durch einen gotischen Türbogen mit tiefen Kehlen und Rundstäben, durch eine wuchtige eiserne Plattentür mit schönen durchbrochenen Beschlägen und alter kunstvoller, mehrfacher Verriegelung, die nur durch Drehung des prachtvollen messingnen Löwenkopfes in der Mitte gelöst werden kann, ein Meisterwerk der Schmiedekunst, und dann durch eine zweite, mit Eisenplatten beschlagene Tür mit mächtigem, altem Kunstschloß treten wir in diesen altertümlichen Raum, in dem wie in einer weltentrückten Klause das Leben draußen schweigt und die Jahrhunderte zu uns zu reden und lebendig zu werden scheinen. Eine andere Luft und anderer Duft ist in diesem Raum wie in den übrigen Räumen des Rathauses. Ein schönes Kreuzgewölbe spannt sich über uns. Der Boden ist mit roten Ziegelplatten belegt, die dem Raume eine warme Farbstimmung geben.

Wir sind in der alten Silberkammer des Rathauses, dem feuer- und diebessicheren Ort, wo die Kostbarkeiten und die Geldvorräte der Stadt in schweren eisernen Truhen mit kunstreichen Schlössern und Riegeln einst aufbewahrt wurden. Im dreißigjährigen Kriege 1632 brachte man hier die städtischen Urkunden und kostbaren Stadtbücher unter. Das große Fachwerk dort mit seinen vielen bunten Kästchen, das uns anschaut wie die Wand einer altertümlichen Apotheke, wurde 1635 von dem Tischler Georg Köhler hergestellt und nahm in seinen sogenannten »Kammerkästchen« wohlgeordnet alle Urkunden, Verträge, Briefe usw. auf bis auf den heutigen Tag, welche für die Stadt von besonderem Werte und Wichtigkeit sind. Jedes Kästchen kann an einem hübschen, hängenden Handgriff herausgezogen werden und ist mit fröhlichem Blattornament in bunten Farben [88] bemalt. Den Sockel dieser Kammerkästchenwand bilden vorspringende Truhen, die für die Aufbewahrung von Bücherschätzen ebenso wie als Sitze dienen können.

In der Mitte des ehrwürdigen Raumes steht ein uralter Tisch in der Form des Tisches der Lutherstube auf der Wartburg und wohl aus derselben Zeit stammend. Der Wurm hat eifrig schon sein Werk an ihm getan. Verborgene Schubkästen sind unter seiner Platte. Ein Archivar soll einst mit besonderer Begeisterung gerade an diesem Tische in den alten Stadtbüchern geforscht haben. Ein feiner Duft stieg nämlich von dem Tisch in seine Nase, denn hier im geheimen Schubfach hatte er seinen besten Tabak heimlich geborgen, der ihn begeisterte wie einen schwärmenden Jüngling das Veilchen, das im Verborgenen blüht. Freudig schnuppernd graste er so auf den Feldern des Mittelalters und der Stadtgeschichte.

Das Regal der zweiten Wand ist dicht mit Bänden aus allen Jahrhunderten besetzt. Da sind vor allem die mächtigen Stadtbücher und Ratsprotokolle in Schweinsleder gebunden, Bände von einer Größe und einem Gewicht, daß sie nur schwer zu heben sind. Andere alte Bände sind in Pergamentblätter mit gotischer Schrift gebunden, die aus alten Klosterbüchern stammen. Kostbare Bände liegen auf dem alten Tisch. Wir schlagen einen uralten Band auf mit schwerem Deckel aus Holz mit Spuren eines roten abgeschabten Überzuges und mitgenommenen Messingbeschlägen und fünf sehr starken, großen Messingnägeln auf beiden Deckeln. Es ist das alte berühmte rote Freiberger Stadtrecht vom Jahre 1294, ein kostbares, unersetzliches Werk, in prachtvoller gotischer Schrift auf starkem Pergament geschrieben, mit vielen schönen Initialen. Das erste herrliche Initial in Blau, Grün und Gold gehalten, über die ganze [89] Seite reichend, klingt noch in der Ornamentik an romanische Formen an und umschließt in dem Buchstaben » G « das Wort »Got«. Die Einleitung dieses ehrwürdigen, durch Jahrhunderte und weit über Sachsens Grenzen anerkannten Gesetzbuches lautet:

»Got der Himel und erde geschuf,
der helfe uns volbrengen diz buch,
des helfe uns got amen. Ich hebe an
in gotis namen. Unde schribe
vribersch recht. wer mir helfe
der si gotis knecht.
Diz ist von deme erbe«

womit dann bezeichnenderweise der erste Abschnitt beginnt.

Daneben liegt die berühmte Handschrift des Freiberger Bergrechts von 1324, ein Band von ähnlicher Art und Schrift. Markgraf Heinrich hatte im Jahre 1255 den Bergschöppenstuhl errichtet mit der Befugnis, in allen Bergsachen Recht zu sprechen. Bis 1856, also 600 Jahre bestand dieser Berggerichtshof. Er hat das Bergrecht entwickelt, welches hier auf diesen schönen Pergamentblättern seine erste Niederschrift fand und für ganz Sachsen maßgebend war. Bereits im dreizehnten Jahrhundert fand es im Ordensland Preußen, in Schlesien und Mähren, ferner in Siebenbürgen und Serbien Eingang und übte einen bedeutenden Einfluß auf die gesamte deutsche Berggesetzgebung aus. Im Jahre 1332 betrieben schon sächsische Freiberger Bergleute in Serbien fünf Gold- und Silbergruben und wendeten ihr heimisches Bergrecht an. –

Ein anderer schmaler, langer aber starker Band in Schweinsleder gebunden und in mittelalterlicher Handschrift und Sprache geschrieben erregt besonders unsere Aufmerksamkeit. » Catalogus Truffatorum oder Schwarze Register« steht auf seinem Rücken. Wir blättern darin und [90] fühlen uns versetzt in das alte Dinghaus am Markte vor die Schranken des Gerichtes, um die sich Volk drängt. Der Angeklagte fehlt, aber ein Ankläger schildert mit zorniger Stimme die Verbrechen des Entwichenen und fordert seine Strafe, Verbannung bei Todesstrafe od. dgl. Es ist das Verzellbuch oder Verzählbuch, das wir aufgeschlagen haben, die schwarze Liste, in welcher seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts bis 1518 über 2100 Übeltäter verzeichnet sind. Der Verzählung, einer Art Verbannung und Ächtung, fiel anheim, wer wegen eines Verbrechens flüchtig geworden war und auf Anklage nicht vor den Schranken des Gerichtes erschien, um sein Urteil zu empfangen. Wurde ein so Verzellter später ergriffen, so wurde ohne weitere Verteidigung und Gerichtsverfahren das Urteil an ihm vollstreckt. Von wieviel menschlichen Leidenschaften, Schuld und Sühne aus früheren Jahrhunderten weiß dieser Schweinslederband zu berichten, und zu erzählen von der straffen Strenge der Rechtspflege und der Sitten und den harten Strafen alter Zeit. »Uff den Hals« verzählen, d. h. Todesstrafe wird nicht selten verhängt, und mancher mag seinen flüchtigen Feind, der sich nicht verteidigen konnte oder wollte, auf diese Weise vernichtet haben. Da lesen wir z. B.: »Reinfried Große hat lassin vortzeln Frantzen Hekeler uff sinen Hals darumb das er ym gedreuwet hat er wolle im schaden am lybe und am gute.« Also auf eine Drohung wurde Todesstrafe gesetzt!

»Die Burger lassen vertzeln uff synen hals Hans Ysenhut darumb daz er in dem frauwenhuße gewest ist und dorinne geunfugit hat.« Unfug im Frauenhause oder im Weinhause mit leichten Frauenzimmern fällt öfter der Verzählung anheim. – Als Kuntze Braun »eyner frauwe by nacht in yr huß gelaufen und sie obil behandelt« hatte, [91] wurde er »uff sinen hals« verzählt und sie »lysen ym darumb seinen kopp abehawen«. – Einem anderen Übeltäter, der einen Beutel, worin das Erz gewaschen wurde, »abegesnyden« hatte, hat man »laßin die oren absnyden« und verbannte ihn »uff seynen hals« auf ewige Zeiten aus Stadt und Land. Ja sogar darauf, daß fremdes Bier ausgeschenkt wurde, stand Verbannung: Meister Nikols des Zimmermanns swester wurde bei Todesstrafe auf Jahr und Tag verbannt »darumb das sy Kemnitzer bier geschenkt hat wider der Burgergebot uff iren hals«.

Anfangs wendete man die Verzählung nur bei schweren Verbrechen an, später, gegen Ende des 15. Jahrhunderts, wurden aber sogar geringe Vergehen und Übertretungen damit gestraft. Es konnte jedoch zuweilen die Strafe losgekauft werden. Thomas Strellers »Wyb« wurde verzählt, weil sie gesagt hatte: »Nein – die Burger allhie eßen nicht die großen heringe sondern wenn dy von Zeydaw (Sayda) die großen guten heringe eßen so müssen sie hie den dregk essen.« Zwei Burschen wurden verzählt, weil sie »uff der Paucke geslagin habin«, ein anderer, weil er Spottverse gedichtet und gesungen hat, Kaspar Kirchberger »darumb das er an dem Tore gehüt hat und hat geslaven«. – Herzog Heinrich der Fromme verbot 1525 die Verzählungen, weil offenbar viel Mißbrauch damit getrieben wurde und z. T. auch mündliches Verfahren üblich geworden war.

Wir schließen das ehrwürdige Buch, in dem sich uns wie in einem Spiegel Alt-Freiberger Leben zeigte, ein Leben so tüchtig und ehrenfest in festen Sitten und Gesetzen gehalten, daß wir nicht ohne Beschämung darauf zurückschauen müssen.

Dort weiter lockt uns das alte mächtige Bürgerbuch, in ihm zu blättern. Das älteste Bürgerbuch, welches 1404 begonnen [92] ist und über längst dahingesunkene Geschlechter Auskunft gibt, trägt auf seiner ersten freien Seite spätere Einträge zum Lobe Freibergs z. T. in lateinischer Sprache, etwa aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Aussprüche Herzog Georgs:

»Leipzig die beste, Freybergk die größte,
Chemnitz die feste, Annabergk die liebste,«

ferner » Lipsia ter in anno, Friberga vero quater fructum refundit. « Leipzig schüttet dreimal im Jahre, Freiberg aber viermal Frucht! –

Dieser Stolz auf die Stadt war wohl begründet, denn 1474 belief sich die Zahl der Hausgrundstücke auf 579 in Freiberg, in Leipzig 519, in Dresden 427. Bereits 1400 hatte Freiberg eine Wasserleitung und dafür einen Röhrmeister angestellt. Eine unterirdische Beschleusung hatte ihre Anfänge den Bergleuten zu verdanken. 1484 war bereits eine Bauordnung erlassen, welche steinerne Häuser, harte Dachung und massive Brandgiebel vorschrieb. 1490 hatten die Tuchmacher schon eine Kranken- und Sterbekasse. Freibergs Handel und Privilegien reichten über das ganze Erzgebirge. Manche der alten Bürgergeschlechter hatten Besitzungen und Reichtümer wie kleine Könige und blühten durch Jahrhunderte. Das Bürgerbuch war so ein Buch des Stolzes für sie. Die Namen der Prager und Alnpeck, der Schönlebe und Schönberg, der Lingke, Monhaupt und Molsdorf usw. waren weit berühmt im Lande. – Wir schauen auch in die bunten Kammerkästchen und nehmen von den kostbaren, ehrwürdigen Urkunden einige zur Hand mit ihren mächtigen Siegeln in Holzkapseln. Die älteste ist ein kleines Schreiben auf Pergament, etwa 50 Jahre nach der Gründung Freibergs geschrieben, eine Bulle des Papst Honorius III. vom Jahre 1224, in welcher er versichert, [93] daß er das zu Freiberg neu gestiftete Hospital St. Johannis in seinen Schutz genommen habe. Ein bleiernes Siegel hängt daran in vorzüglicher Prägung mit den Köpfen zweier Heiligen und einem Kreuz dazwischen. Ehrfürchtig betrachten wir dies 700 Jahre alte Schreiben, welches das heute noch blühende Hospital in seinem Geburtsjahr grüßt und bestätigt. Honorius III., der Stifter des Dominikaner- und Franziskanerordens, der den glänzenden Hohenstaufen Friedrich II. zum Kaiser krönte, sandte es aus der Weltstadt Rom in das rauhe, unwirtliche Gebirge hoch im Norden, wo eine junge Siedlung als neuer Kulturmittelpunkt in Urwäldern unter heidnischen Sorben sich ausbreitete und aufblühte. Welch ein Gegensatz echt deutscher Art und Schicksals wird uns bei dieser Urkunde lebendig: Dort der deutsche Kaiser im sonnigen Sizilien, im schimmernden Palermo seinen halb sarazenischen Hof haltend, der in sich alle Pracht des Morgenlandes und des Abendlandes vereinigte, dem deutschen Lande und deutscher Not fremd geworden und seine ganz große, staatsmännische Begabung auf Kunst und Wissenschaft und die wirtschaftliche Entwicklung, auf Handel, Rechtspflege und Heer in Italien und Sizilien verwendend, seine deutsche Heimat vergessend und der Gesetzlosigkeit und Raublust innerer und äußerer Feinde überlassend, hier dagegen gleichzeitig im Norden ein hartes, eisernes, einfaches Geschlecht von deutschen Bürgern, Bergleuten, Bauern in dunkler Waldwildnis und rauhem Gebirge in unermüdlicher Arbeit die Heimat sich erobernd, dem heimatlichen Boden Schätze abringend und aus eigener Kraft und tiefster Seelenstärke eine Kulturblüte hervortreibend, die durch die Jahrtausende leuchtet. Die goldene Pforte und die Kreuzigungsgruppe des Domes, Werke erhabenster Kunst und deutschester Art, [94] Gesetzbücher und soziale Einrichtungen des Erzbergbau- und Hüttenwesens mit ihrer glänzenden Entwicklung sind heute noch redende Zeugen dieser alten schwer errungenen Kultur.

Eine andere Urkunde fällt uns besonders durch ihre zwei köstlichen, großen Wachssiegel in Holzkapseln auf, wahre Meisterwerke der Kleinkunst. Sie haben 11 cm Durchmesser und stellen in feiner gotischer Zeichnung einen Ritter auf anreitendem, gepanzertem Turnierroß dar mit Fahne im Arm und einzelnen wunderbar zart durchgeführten Wappen in der freien Fläche. Es ist die Urkunde, in welcher Bischof Johannes zu Meißen am 25. August des Jahres 1480 die Kirche unsrer lieben Frau zu Freiberg zu einer Stiftskirche erhob und das Domkapitel daselbst einrichtete. Vor unserem Auge steigt die Zeit der ausgehenden Spätgotik auf, als im deutschen Boden tausend neue Keime sich regten und Altes fallen und sterben sollte, als ein Suchen und Fragen durch die Lande ging und neue Welten aus dem Dunkel emporstiegen. Wir sehen Freiberg in Flammen stehen, den alten Dom stürzen und wieder aufsteigen aus den Trümmern mit schlanken Schäften und kunstvollen Netzgewölben, während eine neue Kunst mit belebendem Hauche neue frische Blüten sprießen läßt. – Dort der Ablaßbrief mit seinen bunten Heiligenbildern aus jener Zeit erinnert uns an Johann Tetzel, der auch in Freiberg seinen einträglichen Handel trieb. Freilich erkannte der gerade ehrliche Sinn gar bald, wie hohl und unwürdig dies Treiben war. Luthers Hammerschläge am Tor der Schloßkirche von Wittenberg hatten auch in Freiberg kräftigen Widerhall gefunden. Als Tetzel kurz nach dem weltgeschichtlichen 31. Oktober 1517 nach Freiberg mit seinem Ablaßhandel kam, »hat es ihm so wol als zuvor nicht glücken wollen, [95] also gar, daß mehr allein wenig Personen seiner geachtet, sondern auch die Bergleute ihn zu beschimpffen sich unterstanden und verlauten lassen, das gesamlete Ablaßgeld ihm gar abzunehmen, deßwegen er bald fortgewandert …«

Aus den Kammerkästchen im alten ehrwürdigen Archiv, aus den Urkunden und pergamentenen Handschriften, aus den mächtigen Foliobänden längst vergangener Tage steigt so altes deutsches Leben, großes Geschehen, das Gedenken großer Taten und Männer auf. Luther und Melanchthon, Johann Sebastian Bach und Bismarck wandeln an uns vorüber, werden lebendig, wenn wir ihre Handschriften sehen und in der Hand halten. Wir sind nicht mehr im Urkundenarchiv zwischen engen Mauern abgeschlossen vom Leben, von dem kaum ein Laut hereindringt, nein, wir stehen wie auf einer hohen Warte und schauen hinein in das flutende Leben, wie es durch die Jahrhunderte strömt und seine Wellen aufwirft, und in seinem Vorwärtsdrängen die Geschlechter durcheinanderwirbelt und treibt, aneinanderreibt, emporträgt und niederreißt, aus dem Ursprung ferner Vergangenheit her aus dem Zeitenwandel Geschichte schaffend; das Schauen wird uns Erlebnis, Erlebnis der Heimat, Erlebnis ihrer ringenden, kämpfenden Seele; das Leben der Heimat rauscht uns, und die Liebe zur Heimat ist die aus dem inneren Erlebnis emporwachsende Frucht.

Aus dem Urkundenarchiv, wo vergangene Zeiten eindringlich zu uns sprechen, gehen wir hinüber zum Ratssitzungszimmer, wo mit den Forderungen, Leiden und Nöten der Gegenwart gerungen wird und ernste Männer raten und taten, sich mühen und sorgen um das Wohl der Stadt. Wir schreiten durch eine altertümliche doppelflüglige Eisentür, die aus geschmiedeten Platten [96] zusammengenietet und mit durchbrochenen Auflagen und Bändern reich verziert ist, ähnlich der schönen Eisentür am Archiv. Ein mächtiges Kunstschloß dient zur besonderen Zierde und Sicherung. Eine zweite Tür aus starkem Holze in eingelegter Arbeit mit reicher Profilierung liegt hinter der Eisentür und wird umrahmt von einem reichen Renaissanceportal im Ratszimmer. Der Raum ist 7,50 × 9 m groß und ist mit einem flach gespannten Netzgewölbe mit aufgeputzten Rippen überspannt, in das die Stichkappen über den Fenstern tief hineinschneiden. Die Stimmung des Raumes, ein sattes Grün der Wände mit leuchtendem Goldgelb der Wölbung, mit dem großen länglichrunden Ratstisch und den hochlehnigen, geschnitzten Stühlen ist ungemein behaglich. Dazu trägt nicht zum mindesten bei die den ganzen Raum beherrschende kostbare Vertäfelung der Ostseite mit ihren Gesimsen, Pilastern, Füllungen aus edlen Hölzern in eingelegter Arbeit und reichen Profilierungen. Beim näheren Zuschauen finden wir, daß diese hoch bis an den Gewölbekämpfer hinaufgehende Vertäfelung ein wunderbares Schranksystem ist, das in tiefen Wandnischen mit vielen Fächern eingebaut ist. Die Türen dieser Wandschränke haben zierliche durchbrochene Beschläge, welche von demselben geschickten Schlosser stammen, der die Türen zum Archiv und zum Ratszimmer schuf, dem Ratsschlosser Paul Winkler, der 1630 acht Gulden für seine Arbeit erhielt. Die Kunst der Schlosser und Schmiede stand in Freiberg in hoher Blüte, und gar manches prächtige Werk zeugt heute noch von ihrer geschickten Hand. Da sind vor allem die köstlichen geschmiedeten Tore und Einfriedigungen am grünen Friedhof am Dom aus der Hand Gabriel Mehners (1653–1705) mit ihrer reichen, materialgerechten Ornamentik, Spiralen, [97] üppigen Blumen und Rankenzügen, zu nennen, ferner die schönen Gitter in der Begräbniskapelle und in der Annenkapelle am Dom, geschmiedete Grabkreuze, Vorhangträger, Schlosserzeichen, Türbänder, Fenstergitter usw. im Altertumsmuseum. Der Rat der Stadt wußte den Wert solcher kunstvollen Handwerksarbeit wohl zu schätzen nicht nur dadurch, daß er die tüchtigsten Meister zur Arbeit heranzog, sondern auch dadurch, daß er schön gearbeitete Meisterstücke ankaufte und gelegentlich verwendete. Durch diese Art praktischer Kunstpflege wurde das Handwerk gestärkt, der Wetteifer geweckt und die Leistungsfähigkeit erhöht, so daß der Ruf der Freiberger Arbeit sich weit verbreitete.

Der Wandschmuck des Ratszimmers ist sonst schlichter Art. Zwei mächtige Geweihe, Zwölfender aus den Rehefelder Waldrevieren stammend, mit blank gefegten, weißen Enden bringen einen Hauch von Harzduft, frischer Bergluft und der grünen Freiheit der Berge in den gestrengen Raum städtischer Verwaltung und Sorgen. Ein Ölbild des früh verstorbenen trefflichen Malers Mißbach an der anderen Wand führt in die heimische Landschaft, in ein grünes Wiesental, über dem blauduftiger Waldhang sich erhebt. Im Wiesengrün leuchten blaue Blumen als hätte der blaue Frühlingshimmel seine Pracht mit vollen Händen darin ausgestreut, und ein Busch glänzt mitten im Grün im funkelnden Sonnenglanz als sollten Wiese und Wald, Himmel und Sonne nur seiner Schönheit dienen.

Gar manchmal, wenn in schwerer Beratung die Geister sich erhitzen, oder im Redefluß die Stunden zähe sich dehnen, mag ein Auge in diesen grünen Frühling sich flüchten, sich erfrischen und den Geist zurücklenken von trocknem Aktenstaub und grauer Theorie, zum grünenden frischen Leben freier Entschlüsse.

[98]

Noch ein anderes Bild erregt unsere Aufmerksamkeit, der alte Kupferstich von F. B. Werner »Freyberg in Meißen«, etwa aus der Zeit um 1710, aus welchem man so recht die stolze Wehrhaftigkeit der alten Stadt erkennen kann. Mit peinlicher Genauigkeit und Schärfe und großem malerischen Reize sind die Türme und Mauern, die Wälle, Gräben und Teiche der Befestigung dargestellt und über sie hinausragend das bunte Gewirr der Dächer und Häuser und hoch in die Lüfte steigend die Türme der Kirchen und des Rathauses. Ja, wenn einst ein Stadtkind von außen sich dieser seiner Heimatstadt näherte, oder von einer der hochgetürmten Halden hinabsah auf dieses stolze wehrhafte Stadtbild, so mochte ihm mit Recht sein Herz höher schlagen, denn kaum eine andere in weiten Gauen mochte ihm gleichen an Schönheit, Eigenart und trotziger, auf sich selbst gestellter und bewährter Kraft. Die Stadt ist die Krone der Landschaft und damit der künstlerisch vollendete Ausdruck, die echte Ausprägung ihrer Geschichte und ihrer inneren Bedeutung und Kraft. –

Hier im Ratszimmer, wo die Geschicke der Stadt seit Jahrhunderten sich flechten und lösen und die Gedanken und Sorgen um ihr Wohl und Wehe seit Jahrhunderten sich kreuzten, aufwuchsen und wieder zur Ruhe gingen, hier spricht eine Stimmung voller Eigenart zu dir, wenn du es hören und fühlen willst, als wäre dort das Herzpochen eines lebendigen Wesens, das groß und heilig ist, viel erfuhr und viel erfühlte, viel erlitt, doch nie erlahmte, als wären wir in einer der Herzkammern der Heimat, durchpulst von warmem, lebendigen Blute und Geiste, voll des Großen und Schönen, voll von Erinnerungen und Geschichte, voll von Drang, Arbeit, Hoffnung, Zukunft. –

Noch einen Raum müssen wir betreten, ehe wir das alte [99] Rathaus verlassen, den Raum, in dem Einzelgeschicke sich flechten, in dem Gedanken sich kreuzen und binden, in dem Herzen pochen ganz anders, als wie sonst im Leben, Herzen voll von Entschlüssen, Plänen, Drang, Hoffnung, Zukunft – es ist das Eheschließungszimmer, die alte Lorenzkapelle im Rathausturme.

Der Turm, die beherrschende Zierde des Rathauses und Marktes, ist von dem Bürgermeister Nikol Weller von Molsdorf auf seine eigenen Kosten erbaut worden, »der Stadt Freyberg zu Ehren, weil ihn Gott der Herr durch das Bergwerck und geführte Handlungen reichlichen gesegnet«. Schon von außen sieht man, daß das Geschoß der Lorenzkapelle seine besondere Bedeutung hat, denn an den Außenkanten des Turmes sind zwei Nischen ausgespart mit schlichtem, kleinen Baldachin, in welchen einst die Gestalten der Mutter Gottes und des heiligen Lorenz, als der Schutzheiligen des Rathauses, sich befanden.

Von der großen Ratsdiele her betreten wir durch einen halbdunklen Vorraum die alte gotische Lorenzkapelle. Es ist ein neckischer Zufall, daß gerade der heilige Lorenz der Schutzheilige des jetzigen Raumes für die bürgerlichen Eheschließungen mit den beiden feierlichen Stühlen vor dem grünen Tisch ist, denn dieser Märtyrer wurde auf dem Rost gebraten. Hoffentlich bleiben derartige Märtyrergefühle allen erspart, die zum Lebensbunde sich auf die entscheidenden Stühle niederlassen.

Zwei andere Schmuckstücke aus der Zeit der Erbauung passen sich in sinnig symbolischer Weise dem jetzigen späten Zweck der alten Kapelle an, die in Stein gehauenen Wappen ihrer Erbauer, der Bürgermeister Weller von Molsdorf und Jobst Krohe. Das Molsdorfsche Wappenzeichen stellt zwei Schwanenhälse dar, die in den Schnäbeln einen [100] goldenen Ring halten, das Symbol der Treue, welche zwei Seelen bindet, das Krohesche Wappen, eine Krähe, welche sich die Brust aufreißt, das Symbol der Aufopferung, welche das eigene Herzblut hingibt.

Diese redenden Wappen alter Freiberger Geschlechter, die heute noch so ganz besonders zur Zweckbestimmung des Raumes sprechen, sind über dem herrlichen Eingangsportale zur Kapelle angebracht. Dieses reiche gotische Portal ist das prächtigste Stück gotischer Kunst, – wenn man die unvergleichliche Tulpenkanzel im Dome ausnimmt, – welches in Freiberg erhalten ist. Reiches Stabwerk von Rundstäben, tiefen Hohlkehlen und scharfen gratartigen Profilen mit kräftiger Schattenwirkung schließt sich in schräger Laibung von 1 m Tiefe in kühnem Schwung zum edlen Spitzbogen zusammen. Die schlanken Rundstäbe haben schöne senkrecht oder schraubenförmig geriefte Sockel. Der äußerste Stab rechts und links blüht zu einer schlanken Säule auf mit schönem, spätgotischem Blattkapitell, das auf einem glatten Kämpferblock je eine schlanke Fiale trägt mit zierlichen Kantenblättern und Kreuzblume als Abschluß. Zwischen den Fialen ist ein schwungvoller Kielbogen, wie ihn die spätere Gotik liebte, eingespannt, aus dem reich und stark modellierte Blätter hervorwachsen und der schließlich zu einer stolzen Kreuzblume mit doppeltem Blätterkranz bis fast an das Gewölbe oben aufschießt. Überrascht stehen wir vor diesem Meisterwerke der Steinmetzkunst, das etwa um 1440 von Freiberger Handwerkern geschaffen, ein Beweis für den großzügigen, künstlerischen Sinn der Erbauer und das Können jener Zeit ist. Ein schönes, hochgeschwungenes Sterngewölbe mit edel profilierten Rippen überdeckt den etwa 12 qm großen, quadratischen Raum. 3 große, farbig verglaste Fenster mit tiefen Nischen [101] in den starken Turmwänden, die als Rosenlauben zart bemalt sind, spenden eine Fülle von Licht und geben dem Raume eine festlich feierliche Wirkung.

Zierliche symbolische Malerei an den Türen der eingebauten Schränke ist wie eine liebliche Begleitmelodie zu dem Rhythmus und der klangvollen Harmonie des ganzen Raumes. Die alte Lorenzkapelle, das Eheschließungszimmer, ist als ganzer Raum und in ihren Teilen wie ein Symbol ihrer Bestimmung, ein Symbol des tiefen Sinnes und Zweckes des Ehebundes, daß Treue und Hingebung, Klarheit und Harmonie erst die rechte Vollendung geben, daß das Einzelne dem Ganzen dienen muß, um seine Bestimmung zu erfüllen, und daß das Ganze erst durch die Harmonie der einzelnen Teile lebt und gewinnt. – – – –

Sollen wir noch weiter durch das Rathaus wandern und uns erzählen von Räumen und neuen Dingen, die noch keine Geschichte haben? Gar manches wäre noch der Beachtung wert. Da hängt in der großen Diele ein mächtiger Kronleuchter aus Holz von der bunten Balkendecke herab, der in eigenartiger Zusammenfügung und Gestaltung schlichter erzgebirgischer Volkskunst dem Raume einen volkstümlichen Heimatklang verleiht. Da steht in der kleinen Stadthausdiele auf der Treppensäule frei im Raume die Gestalt eines Bergmanns mit dem Wappen der Stadt und einem großen Hammer über der Schulter, der Sohn der alten Bergstadt, der über ihr Wohl und Wehe, über Recht und Ehre Wacht hält. Da hängt an der Wand das eiserne Kreuz, welches 1915 opferbereite Hände nagelten.

»Dies Denkmal eisenharter Zeit,
gehüllt in schlichtes Eisenkleid
künde der Heimat Dankbarkeit«

ist sein Widmungsspruch.

[102]

Welche Gedanken und Erinnerungen werden da lebendig. Dinge, die keine Geschichte haben? Ach, wir haben Geschichte erlebt, daß uns das Herz stolz und groß und doch wieder weh und wund wie von sieben Schwertern wird. –

Ein großes Schlachtenbild von 1870 hängt dort an der Wand, wo stolz der Kommandeur mit seinen Offizieren hoch zu Roß auf der Höhe hält; die besiegten und gefangenen Franzosen ziehen ab, und Sieg klingt es wie mit jubelnden Fanfaren aus dem Bilde. Wir haben Geschichte erlebt!

Einst hing dieses Bild im Kasino der Offiziere des Freiberger Jägerbataillons Nr. 12, das ruhmbedeckt aus dem Weltkriege heimkehrte. Das Offizierkasino ist nicht mehr. Das Rathaus nahm das Bild als Zeugen ruhmreicher Tage des der Stadt so eng verbundenen Bataillons in treue Verwahrung. Unser Herz ist stolz und wund!

Unten im Rathausflur ist die große Ehrentafel mit den Namen derer, die treu im Dienste der Stadt gestanden, ihr Leben dem Vaterland geopfert haben. Lang sind die Reihen, zahlreich die Namen, welche uns die Treue bis in den Tod für Vaterland und Heimat predigen. Eine trauernde Mutter mit ihrem Säugling im Arm als Sinnbild der verlassenen Familie, ein bärtiger Krieger mit Stahlhelm in der Hand, das Sinnbild des treuen Kameraden, stehen links und rechts von den Namen der dreiteiligen Tafel. Unser Herz ist wund, wenn wir ihrer gedenken, und an das deutsche Leid, die dunkle Zeit seit jenen Tagen, doch wenn wir zurückschauen in unsere Geschichte, die Geschichte der Heimat, deren stummer Prediger auch das alte Freiberger Rathaus ist, dann spüren wir die Gewißheit, daß aus dem Heimatboden und der Heimatliebe neue Kraft emporwachsen wird.

[103]

Die Freiheit und das Glück der Heimaterde kann nur aus dem Heimatgeist geboren werden. O Heimat, Heimat, wann wirst du erwachen, wann wird dein Tag kommen und neuer Heimatstolz deinem Morgen lachen?

Wir stehen wieder auf dem Obermarkt und um uns hastet, lärmt und eilt das tägliche Leben. Da hebt das Häuerglöckchen vom Petriturm, der hoch in den Markt hereinschaut, zu rufen und zu klingen an, so wie seit Jahrhunderten seine helle Stimme mahnend über die Straßen, die Dächer und Giebel ging. Mitten im lärmenden Leben drängender Gegenwart faßt uns der Zauber der Vergangenheit, der Zauber der alten Stadt, welcher Geschichte und Kunst, Bergmannsleben und Bürgerkraft einen besonderen, eigenartigen Charakter gegeben hat.

Glück auf! Glück auf! Du alte getreue Bergstadt! Hüte deine Vergangenheit, dann blüht dir der Segen der Zukunft!


[104]

Was der Petriturmknopf erzählt.

Eines Tages schaute aus der obersten Turmluke hoch über den Glocken des hohen Petersturmes ein Mann heraus. Das war ein seltener Besuch dort oben in luftiger Höhe, und erregt flatterten und kreischten die Dohlen um den funkelnden goldenen Turmknopf und die knarrende Wetterfahne. Was wollte dieser Eindringling dort oben im Reiche der Dohlen, der Schwalben und Fledermäuse, hoch über den Glocken, wohin nicht Treppe noch Leiter führt, sondern nur gefährliche Kletterkünste über den Bronzeleib der Glocken, durch Streben, Stiele, Sparren und Gebälk?

Im Sturme hatte die Spitze des Turmes geschwankt, und die Wetterfahne mit dem eisernen Gestänge hatte sich geneigt. Heute fand der Zimmerpolier Dietrich, daß das Holzwerk des »Kaiserstils«, welcher die eiserne Spille der Wetterfahne und des Turmknopfes trägt, morsch geworden und ihr Absturz möglich war. Da galt es denn, die Turmspitze über den Glocken zu erneuern, denn auch Streben und Sparren hatten gelitten. In schwindelnder Höhe schoben sich nun Balken und Streben, Stiele und Zangen heraus und fügten sich zu kühner, luftiger Konstruktion, anzuschauen von unten wie ein zierliches, feines Gespinst, das die Konturen der schlanken Spitze umhüllte und in dem die Männer wie kleine Spinnen kaum sichtbar umherstiegen.

O wie weit und wie frei ist von dort oben der Blick! Auf dem Turmknopf hab ich gestanden und über die Wetterfahne [105] weggeschaut in blaue, unendliche Fernen, in schimmernde Sehnsuchtsweiten, wo Erde und Himmel eins sind, und habe jäh hinabgeblickt in die Tiefe unten, in die Straßen und Höfe der Stadt, wie in dunkle Gräben und Schächte, so eng und so klein, in denen geschäftiges Ameisenleben wimmelt, so fern und so fremd uns und so sonderbar und zwecklos uns scheinend, als wären wir in einer anderen Welt, als schauten wir von einem Stern, als ein von Erdendruck und Zwang befreiter Geist.

O ihr Ameisen dort unten im Schatten, was rennt und eilt ihr hin und her, der eine hier sein Ziel, der andere dort seinen Weg suchend, ruhelos hier im Gewühl sich drängend und stoßend, rennend dort den Nachbar überholend, mit den Augen gebannt auf die niedrige Enge, die dumpfen Gassen und selten einer den Blick in die Höhe, zum Lichte, das über jeder Dunkelheit und Enge wartet. O, ihr Ameisen dort unten im Schatten, jede ein Menschenschicksal, jede mit dem Verlangen nach Glück und jede mit der Saat der Schmerzen und des Leides in der Seele, jede mit hundert Banden an die Erde gefesselt, und jede doch mit heimlicher, oft unbewußter stummer Sehnsucht, über dies Dunkel sich zu erheben: Des Himmels blaue Kuppel steht über euch! Er ist das hohe Dach der engen Gassen, er ist das hohe Dach auch für das engste Leben! Hebt nur die Augen empor aus dem Zwang der dumpfen Höfe eures Schicksals, und eure stumme Sehnsucht wird Flügel gewinnen, die euch emportragen. Greift nur zu und packt mit den Armen eurer Seele und drückt an die Brust, was euch, ja jedem von euch, die Heimat und der Himmel der Heimat bietet und geben kann an tiefem Erleben von Schönheit und innerem Glücksbewußtsein: Alles ist dein, was dein Herz sich zu eigen macht, dann fühlst du es: Der Wald rauscht nur für dich [106] allein, die Wiese lacht nur dir mit ihrem leuchtenden Grün und bunten Blumen, dir schmettert der Vogel sein Lied, dir raunt der Bach mit seinem Plaudermund seine trauliche Melodie, für dich segeln am Himmel die Schiffe der Sehnsucht mit schimmernden Segeln, die ziehenden Wolken, für dich wandern die funkelnden Sterne durch die schwarzen Abgründe des Weltalls von Ewigkeiten zu Ewigkeiten, für dich baut sich Berg und Tal und blauende Ferne, das goldene Ährenfeld und die purpurne duftende Kleebreite, die Pracht des Winters mit seinen stillen, reinen Wundern und kristallenem Zauber an Halmen und Zweigen, dein, dein ist die Heimat, dein alle ihre Herrlichkeit, und dich macht sie reich, deine Augen helle, dein Herz froh und stolz und deine Seele rein und edel. Laßt nur durch enge Gassen und dumpfe Mauern die Seele nicht enge und dumpf, nicht dunkel und klein werden. Vergeßt nicht im Ameisengewimmel und Tagesgewühl von den köstlichen Einsamkeiten der Heimat zu schmecken und ihre heilige reinigende Kraft in euch zu trinken. Auch über dunklen Gassen steht der blaue Himmel und er ist dein, wenn du mit deiner Seele dich zu ihm erhebst. –

Es saust der Wind in starken Stößen, als wollte er den einsamen Träumer von seinem Stern, von seinem luftigen Standpunkt, dem höchsten Punkte der alten Bergstadt, herunterwehen, und Schwalben schießen sirrend und schwirrend vorüber, wie stahlblaue und silberne Pfeile. Wollen sie necken und spotten, daß der Träumer doch keine Flügel hat?

Aber unsere Blicke trinken die Ferne. Dort die blauen Linien der Bergzüge duftiger und duftiger in fernen Himmeln versinkend, ertrinkend, dort die dunkleren Wogen des Tharandter Waldes. Dort, wie ein ungeheures, buntes [107] Tuch über die steigenden und fallenden Wellen des Landes gezogen, wie lebend, mit leisem Atem sich hebend und senkend, die Felder und Wiesen, die Äcker und Fluren in allen Tönen von Grün zum Braun, von Blau, Violett und Gelb, Wälder und Bäume, darin Hügel und Halden, Häuser und Höfe und Dörfer wie wunderfeines Spielzeug eingestreut, Teichspiegel blitzend wie Silberfunken, schimmernde Straßen wie leuchtende Bänder mit dem dunklen Perlensaum der Bäume, Wolkenschatten fliegen, bald leuchtend und lächelnd, bald ernst und trübe, bald hell in Freude, bald dunkel in Schwermut. Über alles gespannt so hoch und licht und weit des Himmels blauseidenes Zelt in dem die silbernen Wolken wie selige Gestalten einherziehen. Die blaue Erdenferne, die blaue Himmelsferne hat mich verzaubert. Ich stehe auf dem goldnen Knopf, auf meinem Stern im Mittelpunkt der Welt, außerhalb der armen Erde hoch im Licht, und um mich dreht sich Himmelsferne wie eine leuchtende Glocke von schimmerndem Opal und der schwebende Reigen träumender Wolken hebt über alles Irdische empor, und die blaue Erdenferne grüßt im ungeheuren Rund von aller Erdenschwere befreit in einer leuchtenden Schönheit, die sich in Sehnsucht wandelt und die Flügel der Seele spannt zur Unendlichkeit. Ich schaue nur empor in die blaue Gottesferne und grüße die Wolken, die stillen Gefährten der Höhengedanken, die schwebenden Wandrer des Lichtes. Ihr Wolken dort oben, wie nahe bin ich euch, als schwebte ich mit leise tragender Schwinge in eurer schimmernden Schar, wie seid ihr das Bild menschlicher Sehnsucht, menschlicher Träume! Aufsteigend, schwebend, dahinziehend in ziellose Ferne, zur Sonne sich erhebend und selig zerfließend im Licht, neu sich schließend zu leuchtenden Gestalten, zwischen Himmel und Erde wandernd. [108] In Farben sich wandelnd, zu Purpur und Gold, zu Silber und Schwarz, zu blauem Sammet und rosenfarbener und blaßblauer Seide, vom Lichte strahlend durchwirkt, von Goldfäden zart durchsponnen. Ruhelos und ewig wechselnd, bald dunkel und schwer wie ein lauerndes Schicksal, bald silbern und glänzend wie strahlende Erfüllung, bald zart und schimmernd wie träumende Erwartung, bald jagend und eilend wie trotziges Begehren, bald stille rastend wie wunschloses Glück, bald sich ballend und türmend zu goldenen Gipfeln mit sehnsuchtsblauen Tälern, bald wandernd wie zarter Schaum ziehender Wogen, die aus dem tiefen Blau der Unendlichkeit quellen und wallen, wie weichen Nebels Spitzengeriesel fließend und fallend, immer neu und nimmer Ruhe, immer wechselnd und nimmer bleibend, zwischen Himmel und Erde wandernd, steigend und sinkend, werdend und vergehend, – menschlicher Seelen, menschlicher Sehnsucht Gleichnis und Abbild seid ihr dort oben, ihr Wolken des Himmels, ihr Wolken der Erde, euch fühle ich mich nahe, ihr schwebenden Wandrer des Lichts.

»Kein Herz kann sie verstehen,
Dem nicht auf langer Fahrt
Ein Wissen von allen Wehen
Und Freuden des Wanderns ward.
Ich liebe die Weißen, Losen
Wie Sonne, Meer und Wind,
Weil sie der Heimatlosen
Schwestern und Engel sind.«

Hermann Hesse.

Aus der Stadt dort unten dringt kaum ein Laut herauf zu meinem Stern. Nur ein fernes Summen und Sausen [109] eint sich mit der großen Harmonie der Schöpfungsmelodie, welche aus den tausend Stimmen des Lebens und der Natur emporrauscht und mich umflutet. – – – –

Wie lustig sind die Dächer in der alten Stadt in der Tiefe zu unseren Füßen, welche der grüne Ring der Promenaden auf dem Gelände der alten Gräben und Wälle umgibt. Rot und braun, schwarz verräuchert und violett getönt, bei aller Buntheit eine fröhliche Harmonie in Ziegelfarben auf steilen Dächern. Hie und da ein Treppenturm dazwischen mit geschwungener Haube oder Kegeldach, oder dort ein kecker Giebel. Dort wieder stehen wie schweigende Hirten inmitten wimmelnder Herde die großen Gestalten der ragenden Türme von St. Nikolai, der Donatsturm, der Rathausturm und in breiter Masse gelagert des ehrwürdigen Doms mächtiger Bau und dort die klotzigen Mauern, breiten Dächer und der Rundturm des Schlosses Freudenstein mit spitzem Kegeldach. Blau kräuselt sich der Rauch empor und zerfließt in der klaren flimmernden Luft. Weiße Taubenschwärme flattern über die Dächer dahin. Ein aufgeschlagenes Buch ist uns die Stadt, in dem die Züge der Straßen hier so gerade und rechtwinklig sich schneidend, dort in unregelmäßiger Krümmung scheinbar regellos sich windend die Zeilen sind, aus denen wir Geschichte lesen. Das eine ist die Stadt, welche Otto der Reiche baute, dessen Denkmal wie ein Tafelaufsatz mitten auf blanker Tischplatte dort unten auf dem rechteckigen Obermarkt steht, das andere ist die Sächsstadt, die Stätte des alten Christiansdorf, der alten Siedlung, aus welcher die freie Bergstadt emporwuchs. Was der grüne Promenadenring umschließt, das ist die alte, freie, getreue Bergstadt, von deren Glück und Leid, Geist und Leben, Kraft und Treue in alter Zeit uns Andreas Möllers [110] Chronik von 1653 so stolze, ruhmreiche Dinge zu berichten weiß.

Über den Dächern, Giebeln und Türmen, über den alten Wällen, Gräben und Mauern liegt der Zauber der Geschichte und der Sage, liegt der träumerische, anheimelnde Reiz der alten Stadt, welche Jahrhunderte kennt, welche Geist und Schicksal hat, welche sicher auf heimatlichem Grunde ruht, wie eine steinerne Riesenblume aus Jahrhunderten herangeblüht und in weitere Jahrhunderte hineinwachsend aus Felsengrunde dem Lichte entgegen.

Es ist mir, wie ich auf die alte Stadt herniederschaue, als blickte ich tief hinein in ihre Seele und hinab auf ihre Geschicke und sähe Geschlechter kommen und gehen, schaffen und leiden für ihre alte Heimatstadt, die Stadt, die heute noch der Ausdruck ihrer Seele ist und bleiben soll. – – –

Die Turmspitze ist nun erneuert und verspricht wieder 100 Jahre und mehr unter dem Schutze der neuen kupfernen Dachhaut Sturm und Wetter zu trotzen. Der goldene Turmknopf funkelt hell und blitzend im Sonnenschein. Er scheint ein schweigsamer Geselle zu sein und nicht ohne weiteres zur Zwiesprache aufgelegt, wenn die Schwalben um ihn her schwirren oder die Dohlen ihn umschreien. Er will auch nicht mit jedem sprechen, den nur die Neugier juckt. Seine Höhengedanken sind schwer zugänglich für den, der nicht in die Tiefe dringen will, oder nicht Welt, Leben und Seele aus der Höhe beschauen will.

Die Wetterfahne ist schon lebendiger und gesprächiger. Wenn der Wind sie dreht, dann klingt wohl das Sprüchlein, das auf ihr angebracht ist und mit dem Hugo Meeser bei seiner kühnen Turmknopfbesteigung ohne Gerüst zur Fahnenreparatur sich einst verewigte:

[111]

»Mußt durch die Zeit du sehr auch leiden
Mit Gott hab ich dich jung gemacht.
Drum drehe dich der Stadt zur Freude
Sei stets auf guten Wind bedacht.«

Hugo Meeser ,
Mechaniker, Freiberg.

Gesprächiger sind auch die Glocken tiefer unten, deren hallender Mund über die Stadt täglich eherne Klänge dröhnen läßt. Die Läuteglocke von 1570 ruft zum Kirchgang mit dem Spruch:

»Mein Klang ruft dich zum Kirchgang, merks Wort,
Gott dank, sing Lobgesang.«

Das Bergglöcklein aber ruft zur Arbeit mit vertrautem Klingen:

»Auf auf zur Grube ruf ich euch,
Ich, die ich oben steh,
So oft ihr in die Tiefe fahrt,
So denket in die Höh!«

»In die Höhe denken« tut uns allen heute mehr denn je not, und dem, was die Glocken uns sagen und erzählen können, sollte man wohl gerne lauschen, denn Leben und Dasein des einzelnen Menschen, wie von Stadt und Volk, sind von ihnen durchklungen und sind begleitet von ihren ehernen schwingenden Schritten hin und her.

Der Turmknopf dagegen, so hoch erhaben über den Glocken, besitzt den Stolz und die Verschlossenheit der Einsamen und ist ein schweigsamer Geselle. Er schaut sich still die närrische Welt von oben an, und selten, selten öffnet er den schweigsamen Mund. Doch als ich bei ihm oben war, hat er doch manches mir ins Ohr geraunt. Manches, was ich da erlauschte hoch über dem Brausen der geschäftigen und ach so kleinen Welt da unten, und was er so lange [112] schweigend bei sich bewahrte, gibt einen Höhenblick über Zeit und Menschen, als stünden wir bei ihm auf der Spitze oben an der Wetterfahne und sähen den Geist der alten Stadt an seinem Schicksal weben, als sähen wir die Geschlechter kommen und gehen, schaffen und leiden. Wie manche Menschen scheint zwar der brave Knopf zu sein: »Außen blank und blendend, innen nichts, hohl und leer!« Doch nein, »er hat es in sich!« Wenn er auch nur vielleicht alle hundert Jahre einmal spricht, und man ihm dazu erst recht energisch auf seinen runden Leib rücken muß, um ihn zum Reden zu bringen, so ist doch das, was er dann sagt, um so bemerkenswerter, denn Stimmen und Geister von Männern und Geschlechtern früherer Jahrhunderte werden lebendig und steigen empor aus enger Haft und reden von dem, was Ihnen einst wichtig war. – – –

Eine alte gute Sitte ist es, in Grundsteine, Schlußsteine, Turmknöpfe bemerkenswerter Gebäude, Urkunden einzulegen und mit ihnen Zeugnisse über die Zeitverhältnisse, Proben von Geldmünzen und was etwa besonders bemerkenswert erscheint. Diese Dinge müssen gut verwahrt sein, denn bei dem Wechsel von Frost und Hitze und der Möglichkeit von Zutritt von Feuchtigkeit z. B. als Schweißwasser würden die Urkunden sonst bald zerstört sein. Man verwahrt sie darum in besonderen metallnen Kapseln, die verlötet oder verfalzt und dann dem Turmknopf einverleibt werden. Im Jahre 1580, als die ersten Urkunden in unseren Turmknopf eingelegt wurden, beachtete man dies nicht. Die Urkunden sind daher fast ganz zerstört und nur dadurch z. T. erhalten, daß sie im Jahre 1803 in die Kapsel mit aufgenommen wurden.

Der Turmknopf des hohen Petersturmes ist eine Hohlkugel aus Kupferblech von 70 cm Durchmesser, d. h. von [113] einer Größe, daß zwei Knaben von 10 Jahren darin zusammengekauert Platz fanden, als bei der Erneuerung sein goldenes Kleid neuen Glanz erhalten sollte und er auf die profane Erde dazu herniederstieg. Zwei kupferne Kapseln zylindrischer Gestalt von etwa 35 cm Länge waren sein Inhalt, welche Urkunden auf Pergament, Drucksachen und in besonderen kleinen Behältern Geldmünzen enthielten. Die Urkunden stammen aus den Jahren 1822, 1803, 1731 und 1580. Der Inhalt der Urkunden ist einander ziemlich ähnlich. Er behandelt zunächst die Gründe der Ausbesserungsarbeiten, dann die Zusammensetzung des Rates und schließlich die Preise von Lebensmitteln und einige Zeitereignisse, die besonders bemerkenswert erschienen. Die älteste Urkunde von 1580 auf Pergament ist stark beschädigt und nur schwer noch leserlich. Diese Urkunde beginnt: »Anno Domini. Tausendfünfhundertundachtzig, als man die Spize auf den runten Thurm zu St. Peter renoviret, den Knopff neu vergoldet, und gewahr wurde, daß die Spize uf den andern und höchsten Thurm auch wandelbar ward, hat man die aus Noth anderthalben Ellen oben herab abschneiden müssen, denn die Spille so hoch uf der einen Seiten gar verfaulet war, so lang hat man Nikol Schmiden einen Bergschmid, uf der Peterstraßen, so allerhand künstlich Schmiedewerk machen können, wiederumb einen eisernen Schuch und Stange machen lassen.« Der wackere Bergschmied bewährte seinen Ruf. Er schmiedete einen Engel mit einer Armbrust und brachte ihn über dem Knopfe an. Leider fing dieses Schmiedewerk zu viel Wind, so daß es 1589 herabgenommen und durch die Fahne mit dem Stadtwappen ersetzt wurde. Es war die Zeit des Kurfürsten August, des »Vater« August und der »Mutter« Anna, aber doch wird in der Urkunde über die Zeit geklagt: »zu dieser Zeit waren diese [114] Lande, sowohl die Bischoffthümer harte betränget, mit dem Wildpret von Hirschen und wilden Schweinen, deren in großer Anzahl in diesen Landen gehegt waren. Man mußte auch von jeden Fasse Freybergischen Biere 22 gr. Tranksteuer und 27½ gr. Ungeld geben, dadurch die Leute gar verarmeten und große Wehklagen unter dem Volke war, denn man muste von jedes Kandel Wein über die Tranksteuer 2 Pf. Ungeld, und von einer Kandel Bier 1 Pf. geben. War hierzu große Theurung, man muste um Pfingsten einen Scheffel umb 5 alte Schock bezahlen usw.«

Dieser Stoßseufzer aus schweren Herzen, der dem verschwiegenen Innern des höchstgestellten Knopfes der Stadt anvertraut wurde, zeigt, daß die Landes»kinder« doch wohl nicht mit ihrem Landes-»Vater« und -»Mutter« ganz einverstanden waren, sondern auch die Faust in der Tasche oder im stillen Turmknopf ballten. Es wirft diese Klage auch ein helles Licht auf die Jagdleidenschaft des Kurfürsten, dem das Wohl des Wildes bei weitem höher stand als das Wohl des Bauern. Die Jagdstrecken der alten weidwerksfrohen Wettiner waren ja so ungeheuerlich groß, daß man ebenso staunen muß über den Wildreichtum des Landes wie über die Zeit und das Geld, welche die Fürsten dieser Leidenschaft opferten. Wo gar einem hohen Gaste eine Jagd geboten wurde, scheute man nicht vor verschwenderischem Aufwand zurück, um durch glanzvolles Schauspiel zu blenden. August I. hielt in Lichtenburg eine Jagd mit dem Könige von Preußen im Jahre 1730 ab: Alle Jäger erhielten dazu neue Uniformen und silberne Hifthörner, auch sogar die Treiber grüne Westen und Schärpen aus »Silberlahn«. Für die höchsten Herrschaften war ein hölzernes Jagdschloß mit vergoldeten Simsen und Fensterrahmen erbaut. Man erlegte an diesem Tage an 600 Hirsche [115] und Rehe und über 400 Keiler, Bachen und Frischlinge. Es fällt uns hierbei die ungeheure Zahl des Schwarzwildes auf, das aus sächsischen Forsten jetzt wohl fast ganz verschwunden ist. Welchen Schaden mögen diese Wühler den Feldern der Bauern zugefügt haben!

Der Jagdgast in Lichtenburg war der strenge, sparsame Vater Friedrichs des Großen, Friedrich Wilhelm I. Es war das für Vater und Sohn so furchtbar tragische Jahr, in welchem Friedrich in Küstrin gefangen saß und sein Freund Katte zum Tode geführt wurde, der Riß zwischen Vater und Sohn am tiefsten und schmerzlichsten war, ja unheilbar schien. In dieser düsteren Tragik die silbernen Hifthörner von Lichtenburg und der leichtsinnige Tand und die wilde Genußsucht Augusts des Starken, ein seltsamer Gegensatz, so scharf wie der Unterschied zwischen der Auffassung von Königsberuf und Herrscherpflicht bei diesen beiden Männern. –

Aus dieser Jagdleidenschaft, welche alle alten Wettiner mehr oder weniger beherrschte, und der rücksichtslosen Pflege des Wildes, läßt sich ermessen, wie »harte betränget« namentlich der Bauer und gemeine Mann gewesen sein mußte. Und dazu das Bier und der Wein so hoch besteuert, daß man nicht mal seine stille Wut ertränken konnte! Da war die heimliche Faust in der Tasche oder im stillen Turmknopf der letzte Ausdruck nicht sehr untertäniger Gefühle sogar zur Zeit und im Lande des »Vater« August und der »Mutter« Anna, und nach heutigen Begriffen nicht ganz unberechtigt!

Als bemerkenswertes Ereignis wird in unserer Urkunde weiter noch folgendes erzählt: »Im Junio diss Jahr, stach Hanss Harrer, Churfürstl. Kammermeister zu Dresden im Schlosse, ihme mit des Churfürsten Taffel Messer, selbst [116] die Gurgel dreymahl entzwey, ward vermutet, er hätte helffen das Ungeld aufbringen, hat aber den Pfeffer Handel in diese Lande bracht, und viel Rotte von Augspurg, der ihn darauf geführt, aufgestanden und Pankrott gemacht, hat er Ihme in die 70 bis 80 tausend Gulden mitgenommen.«

Bei der Aufzählung der Ratsmitglieder fällt auf, daß eine Reihe von ihnen nicht aus Freiberg stammte. Da ist der Bürgermeister Kilian Steck, von St. Gallen, der Kamerer Ludewig Budewitz von Erfurt, Hanß Pocksch von Pauzen, Jakob Heindel von Lengefeld, Adam Bellmann, der gelehrte Stadtschreiber, welcher die Urkunden verfaßt hat, stammt von Sayda. Er setzt seinem Namen den Sinnspruch bei: Virtuti fortuna comes , auf deutsch »Das Glück begleitet die Tüchtigkeit« oder »Jeder ist seines Glückes Schmied«. Er war also anscheinend von seiner Tüchtigkeit und seinen Erfolgen sehr überzeugt. Seinem Ratskollegen Christoph Rudolf von Leisnig gibt er auch ein paar lateinische Worte mit: »Dieser war so arm, ut hostiatim quereret eleemosinar «, d. h., daß er um Almosenopfer bat. Soll diese Bemerkung für Christoph Rudolf eine Auszeichnung sein oder einen Makel bedeuten? – Im Bergamt regierte »Herr Wolff von Schönberg, uf Reinsberg« als Berghauptmann. Oberbergmeister war Martin Planer. Martin Planer war ein berühmter Mann, ein hervorragender Techniker, der durch seine Tüchtigkeit dem Bergbau großen Nutzen bis auf den heutigen Tag gebracht hat. Er hat die großen Teiche im Hospitalwalde, den Hüttenteich, Erzengler und Rotbächer Teich angelegt, in welchen er das Wasser für bergbauliche Zwecke als Kraft aufstaute. Die Planersche (Kannegießer) Wasserleitung, die aus dem Hospitalwalde kommt, führt heute noch seinen Namen. Er führte [117] im Bergbau die Wasserhaltung durch Kunstgezeuge ein, während bis zu seiner Zeit das Wasser durch Göpel und Haspel, Pferde und Knechte mit Kübeln bewältigt wurde. 38 Zeuge hat er so eingerichtet, und er rechnet in einer Aufstellung aus, daß er dadurch jährlich 102 400 fl. 8 gr., das sind rund 650 000 Mark an Betriebskosten erspart hat. In Posern bei Weißensee und in Artern hat er Salzwerke angelegt. Der berühmte Brunnen auf der Augustusburg, 170 m tief in den Felsen getrieben, ist von ihm erbaut. Auch am Ausbau des Schlosses Freudenstein in Freiberg, das als prächtiger Renaissanceneubau unter Hans Irmischs Leitung der Fertigstellung entgegenging, mag er nicht unbeteiligt gewesen sein.

Noch andere bekannte Namen aus der Freiberger Geschichte werden in unserer Urkunde genannt. Michael Schönleben der Ältere, Oberhüttenverwalter, und Michael Schönleben der Jüngere, Hüttenreuther. Sie sind die Vorfahren des Bürgermeisters Jonas Schönlebe, der Freiberg gegen die Schweden verteidigte und die Bergmannskanzel im Dom stiftete, und dessen Wappen heute noch an ihrem ehemaligen Hause, Obermarkt, Ecke Erbische Straße von dem alten Geschlecht redet, das dort für Freiberg lebte und arbeitete. – Schließlich erwähnt die alte Urkunde das, was in dieser Zeit gesteigerten religiösen Lebens und religiöser Kämpfe alle Gemüter besonders bewegte, die Einigung auf die sogenannte Konkordienformel: »Diese Zeit war die reine heilsame Lehre, wie der Hr. D. Martin Luther seel. durch den heil Geist ans Tage Licht bracht, sehr gefälschet, dadurch Churfürst Augustus, der Gottes Wort lieb hatte, geursacht, uf Wege zu denken, damit die Verführer ausgerottet, und das Göttl. Wort lauter und klar, rein erhalten würde, ließ die alte Augspurgische Confession ufs neue [118] drucken und ward ein Buch gemacht, welches man die Concordiam nennete, welches viel Chur- und Fürsten im Reiche unterschrieben, und alle Vornehme Theologen im Lande. Gott helf, daß es wohl gerathe, und das Göttliche Wortt bis an der Welt Ende bey uns bleibe.« – – –

Doch wir wollen uns nun der Erneuerung von 1731 und ihrer Urkunde zuwenden. 150 Jahre stand die Peterskirche stolz und sicher. Die Stürme des Dreißigjährigen Krieges und die zweimalige Belagerung und Beschießung Freibergs hatte sie ohne Schaden überstanden, da traf sie ein furchtbares Geschick. Unsere Urkunde berichtet: »Anno Christi. Ein Tausend Sieben Hundert und Acht- und Zwanzig den 1. May an einem Sonnabend, ist allhier in der Stadt Freyberg auf der Petersgasse in Johann Jakob Schossens, eines Böttgers Hause (No. 6) vermutlich durch Fahrlässigkeit eine Feuersbrunst entstanden, welche jähling um sich gegriffen, und überhand genommen, daß nebst 16 in die Asche gelegten Bürgerhäusern auch die Kirche zu St. Petri mit dem höhesten Turm und den runden sogenannten Hahnsturme in den Brand geraten und gänzlich verdorben, darbey aber der Glockenthurm noch unverletzet stehen blieben.« Wie an anderer Stelle berichtet wird, löschte man zwar von außen her ein paar mal von den Türmen, aber leider war in der Kirche aller Rat und Hilfe vergebens. Der damalige Superintendent D. Wilisch, welcher vor dem Altar auf den Knien betend lag, mußte samt den übrigen Anwesenden der Gefahr wegen, sich zurückziehen, und diese so schöne Kirche ward »mit allen ihren inwendigen Gemählden und Denkmählern ein Morgenopfer der wüthenden Flammen«. »Um Mittag brach das helle Feuer bey dem hohen Thurme heraus und nach etlichen Stunden zerschmolz die Saigerschelle; der Knopf aber samt seiner Spindel [119] fiel in die Frühpredigerwohnnung durch das Dach, jedoch ohne zu schaden.« Außer den stark zerstörten Umfassungsmauern und dem Glockenturm blieb nicht viel von der Kirche übrig. Sie mußte fast völlig neu aufgebaut werden. Unsere Urkunde sagt dazu: »E. E. Rath hat sobald zu Wiederaufbauung der abgebranden Peterskirche sorgfältige Anstalt gemachet, daß die äuserlichen Mauern um in den Schiffe, in der Höhe mehreren Plaz zu gewinnen, annoch in besagten 1728ten Jahre erhöhet, das Sparrwerk darauf gesezet, Ao. 1729, im Chore das alte Gewölbe, welches nach der zwar anfangs gemachten Hoffnung, nicht zu erhalten gewesen, abgetragen, und ein neues geschlossen, ferner ao. 1730 im Schiffe das alte Gewölbe gleichfals abgetragen, Vier neue steinerne Pfeiler von Grund aus, aufgeführet, und ein neues Gewölbe verferttiget, auch die Fenster allenthalben adaptiret, in diesen 1731 Jahr aber, die Kirche inwendig abgepuzet worden. Hiernechst hat man bey dem eingeäscherten großen Peters Thurme zu Erhaltung des Mauerwerks anno 1728 nur einen Schauer aufgesezet, anno 1730 das Mauerwerk am Gesimsse ausgebessert, mit großen neuen Ankern befestiget, und die hölzerne Haube glücklich gehoben, solche auch ao. 1731 vollends ausgebauet, und mit Kupffer gedecket, worauf heute den 6. July ao. 1731. Der große Knopff aufgestecket, und diese Nachricht vor die liebe Posteritaet mit eingeleget worden.«

In dem Berichte unserer Urkunde folgen nun die Namen von Kaiser, König und Prinzen, von den Ratsmitgliedern, Stadtgeistlichen und den Beamten des Bergamtes mit ihren alten schönen Titeln. Dann wird über das kirchliche Leben berichtet und daran erinnert, daß im Jahre zuvor (1730) das zweihundertjährige Jubiläum der Augsburgischen Konfession gefeiert sei: Hierüber ist von diesem [120] Jahre anzumerken gewesen: »In Ecclesiasticis, daß man Gott sey gepreiset alhier zu Freyberg mit der Protestantischen Kirche das Wort Gottes, rein und lauter prediget, die beyden heil. Sacramente nach ihrer Einsetzung administriret, und von andern Gottes Dienst, oder Religion nichts weiß, vielmehr bey der unveränderten Augspurgischen Confession in völliger Gewissens-Freyheit geblieben, auch in abgewichenen 1730 Jahre, das andere Evangelische Jubileum hochfeyerlich begangen habe.«

Kurz wird über die Bergwerke u. a. berichtet: »Das Bergwerk ist unter Göttl. Seegen aniezo in guten Flor und Aufnehmen.

In was vor Werth die Kuxe stehen, solches besagen die beygefügten Ausbeuth-Zeddul.« Zum Schluß der Urkunde wird über den Holzmangel bei den Bergwerken geklagt: »indem der Preiß desselben bey dem gemeinen Einkauf gegen eine Zeit von 10 bis 12 Jahren noch einmal so hoch gestiegen, daß man deswegen auf Künfftigen Zeiten sich allerhand Besorgniß machet. Jedoch auch hierbey Göttlicher Providenz vertrauet.« –

72 Jahre bis zum Jahre 1803 blieb der Turmknopf unberührt. Da meldete der Türmer auf dem hohen Petersturme, Johann Gottfried Drese, »daß ihm bey Zerstörung eines Dolennestes in der obersten Kuppel dieses Turmes faules Holz in die Hände gefallen sey«. Die nähere Untersuchung ergab zwar keine Einsturzgefahr, jedoch mußten größere Erneuerungsarbeiten vorgenommen werden. Als die Kapseln für die alten Urkunden geöffnet wurden, ergab sich, daß Feuchtigkeit eingedrungen war, obschon sie fest verlötet schienen, und den Inhalt beschädigt hatte. »Auch eine steckende Dunst verbreitete sich, wovon die Schriften und selbst die beygelegten Münz Sorten einen sehr heftigen [121] Gestank angenommen hatten; da hingegen die im Knopfe ohne besondere Verwahrung aufgefundenen Druckschriften fast ganz verfault befunden wurden.« Auch hier wird über Teuerung geklagt. Es wird »bey den immer höher steigenden Preisen aller Lebensmittel, ein zunehmender Verfall der bürgerlichen Nahrung bemerket, so, daß für die Zukunft, wenn nicht dem städtischen Gewerbe durch kräftige Maasregeln aufgeholfen wird, sehr traurige Zeiten zu befürchten sind«.

Freiberg hatte 1802 eine Einwohnerzahl von 8299 Personen.

Nach kurzer Zeit, nach nur 17 Jahren, bereits im Jahre 1820, mußte die Spitze des hohen Petriturmes aufs neue einer Ausbesserung unterzogen werden. Es stellte sich heraus, daß das Gebälk stark verfault war und Einsturz drohte. Es wurde daher »die Thurmspitze über dem Durchsichtigen mit langen hölzernen Schienen belegt, mit eisernen Ketten und starken Seilen zusammengeschnürt, und nun mit größter Behutsamkeit, aber auch mit unaussprechlicher Gefahr die Fahne, der Knopf und die eiserne Spindel abgenommen«. »Der Thurm wurde dazu vom Durchsichtigen aus, äußerlich fünfmal übereinander, in 26 Ellen Höhe berüstet.« In dieser Urkunde werden auch einige historische Notizen gegeben. War doch die Zeit der Fremdherrschaft und der Befreiungskriege noch frisch im Gedächtnis. Nachdem die Jahre 1803–1809 kurz behandelt sind, heißt es weiter: »Nur wenig Jahre genoß Sachsen Ruhe; denn im Jahre 1813 wurde dieses Land aufs neue von Franzosen, Russen, Preußen und Österreichern mit Krieg überzogen und unaussprechlich hart mitgenommen. Freybergs Einwohner insbesondere hatten, was schon bey den im vorhergegangenen Jahre 1812, und in den Jahren 1806, 1807, [122] 1808 und 1809 stattgefundenen Durchmärschen zahlreicher Heerschaaren ausländischer Kriegvölker in fast unerträglicher Masse auch der Fall gewesen, durch kostspielige Verpflegung dieser Soldaten nicht nur, sondern auch durch andere, ihnen von den Heerführern und ausländischen Behörden, welche nach der Völkerschlacht bey Leipzig im Oktober 1813, und nachdem Sachsens ehrwürdiger König in fremde Gewalt gerathen war, unter dem Namen General-Gouvernement dieses Land beherrschten, aufgebürdete Leistungen unendlich viel zu dulden und die ganze hiesige Commun kam noch überdies in Gefolg dieser anhaltenden, bis in Jahr 1815 fortgedauerten Kriegsunruhen in eine Schuldenlast von nahe an 200 000 Thlr. Der 18. September 1813 war insbesondere für Freyberg ein schrecklicher Tag, indem in den frühesten Morgenstunden dieses Tags der österreichische General Scheiter mit Freyjägern und Dragonern hiesige Stadt, in welcher französische und westphälische Truppen sich eingeschlossen hatten, überfiel, wobey im Rathause ein Wachtmeister erschossen ward.«

Die Einwohnerzahl Freibergs betrug 8320 Personen, also fast genau derselbe Stand wie 1803.

Berghauptmann war zu jener Zeit Siegmund August Wolfgang Freiherr von Herder, der letzte große ungekrönte König des Bergbaues, der Sohn des Dichters Herder, der seinen Vornamen Wolfgang von seinem Paten Goethe erhalten hatte. Goethe war mehrmals bei ihm in Freiberg zu Gaste und holte sich hier Anregungen für seine mineralogischen Studien.

Den Kapseln waren auch alte Ausbeutebogen beigefügt, aus welchen die Namen längst verschwundener Schächte mit seltsamem altertümlichem Klange uns grüßen, ferner [123] ein Stadt-, Land- und Bergkalender vom Jahre 1822 und andere Schriften.

Ein gewisser Humor liegt in der Form, in welcher der Bauschreiber des Jahres 1803 seinen Namen dem Gedächtnis zu überliefern suchte. Auf einem Pergamentblatt von Besuchskartengröße schreibt er in schöner Druckschrift: »Bauschreiber E. E. Raths war im Jahr 1803 Hr. Johann Christian Friedrich Herrmann 51 Jahre alt, mittlerer Statur, belebten Temperaments.« Dies Blättchen hat er offenbar heimlich mit eingeschmuggelt und so seine Verewigung im Turmknopf erreicht.

Besonders interessant sind die Beigaben von Münzen. Im Jahre 1803 wurden die aufgefundenen Münzen der Beigaben von 1580 und 1731 und neue Münzen in einer sehr schönen, aus Serpentin gedrehten Dose gesammelt, zusammen 26 Münzen. Sie haben zum Teil noch Stempelglanz.

Die ältesten Silbermünzen sind vom Jahre 1559 und 1580. Sie zeigen in sehr schöner Prägung, mit der sich unsere jetzigen Münzen bei weitem nicht messen können, auf der Vorderseite das Bild des Kurfürsten August mit dem Kurhut auf dem bärtigen Haupte und dem Kurschwert über der hermelingeschmückten Schulter, auf der Rückseite das einfache sächsische Wappen mit den Kurschwertern. Unter den Münzen von 1731 ist besonders bemerkenswert ein Speziesthaler von 46 mm Durchmesser mit dem Bilde des Königs Friedrich August mit lang herabwallendem Lockenhaar mit einem Lorbeerkranz. Die Rückseite zeigt das sächsische und das polnische Wappen unter der Königskrone. Die Münzen des Jahres 1822 sind in einer stark verzinnten Blechdose verwahrt. Es sind 13 Stück und sie zeigen fast alle noch Stempelglanz. Auf der Vorderseite [124] das Bild König Friedrich Augusts, auf der Rückseite das sächsische Wappen. Drei dieser Münzen sind für Freiberg besonders bemerkenswert. 1. Ein Ausbeutethaler mit der Umschrift auf der Rückseite »Der Segen des Bergbaus«. 2. Ein Speziesthaler von 46 mm Durchmesser. Auf der Vorderseite das Bild des Königs in starkem Relief, matt gehalten auf poliertem Grund, auf der Rückseite das Bild der Grube Bescheert Glück mit der umgebenden Landschaft und der Umschrift: »Beschert Glück Fdgr. Ohnweit Freiberg« und der Unterschrift: »Kam in Ausbeuth im Quartal Crucis 1786 1 / 5 Mark Fein Silber.« 3. Eine Denkmünze von 67 mm Durchmesser vom Jahre 1818 mit dem Bilde des Königs Friedrich August matt auf blankem Grund in starkem Relief mit der Umschrift: »Friedrich August König von Sachsen seit 50 Jahren Vater seines Volks und Beschützer des Bergbaus«. Unter dem Kopf des Königs im ovalen Ring einer Schlange, die sich in den Schwanz beißt, das Datum »Am 15. Sept. 1818«. Am erhabenen Rande darunter stehen die Worte: »Gott seegne Sachsen«. Die Rückseite zeigt das Bild der Grube Himmelsfürst, matt gehalten auf blankem Grund, das mit seinen Fichten und Häusern sehr reizvoll wirkt. Die Umschrift lautet: »Himmelsfürst Fundgrube hinter Erbisdorf gab seit 50 Jahren 1 100 458 Thlr. 16 Gr. – Ausbeute.« Unter dem Relief ist Schlägel und Eisen angebracht und auf dem erhabenen Rande darunter die Worte: »Gott erhalte den Bergbau.«

Hundert Jahre sind vorübergezogen, seitdem diese Münzen dort oben im Turmknopf ihren Platz gefunden. Auch unsere Zeit hat in ähnlicher Art der Nachwelt kurzen Bericht überliefert und mit den Urkunden von 1822 und 1803 im Turmknopf geborgen, während die stark beschädigten [125] Urkunden von 1580 und 1731 im Urkundenarchiv des Stadtrates aufbewahrt werden. Jedoch nicht blankes, hartes Geld nahm dieses Mal die Kapsel auf, sondern als echten Ausdruck unserer Notzeit unser Notgeld von Papier, unsere Nahrungsmittelkarten und Bezugsscheine.

Die neue Urkunde schließt mit den Worten: »Mögen, wenn einst diese Kapsel wieder geöffnet und diese Urkunde gelesen wird, glücklichere Zeiten in unserem Vaterlande sein. Möge in einem neuen stolzen Reiche ein kräftiges, tüchtiges, junges, selbstbewußtes deutsches Geschlecht in Frieden den Segen und die Früchte seiner Arbeit genießen zu eigenem Glück und des deutschen Namens Ehre!

Das walte Gott!«

Nun ist der Mund des einsilbigen Knopfes da oben wieder geschlossen, und ob die Sonne ihn mit heißem Strahl durchglüht, ob der Mondenschein mit silbernem Glanz ihn umhüllt, ob knisternd oder krachend elektrische Ströme und Funken ihn umzucken, oder ob geschwätzige Regentropfen auf seiner blanken Schädelwölbung trommeln, er wird schweigend in die Ferne schauen, einsam der Einsamkeiten tiefste schauend unter seinem Fuß, denn er ist älter als alles Leben um ihn, er sah und hörte mehr als irgend ein Auge und Ohr der vergänglichen Wesen dort unten, er muß allein sein, ein Einsamer bleiben, um von Höhengedanken beseelt seines Daseins Hochziel zu erfüllen. –

Oh, hätten wir recht viele solche Knöpfe, hoch geartet, alles überschauend, viel Inhalt, aber wenig redend!


[126]

Spruchweisheit in alter und neuer Zeit.

Unser Volk, das Volk der Denker und Dichter, hat immer seiner Seele tiefstes Fühlen in feste Formen gebannt. Nicht nur in Heldenlied und Sage, sondern auch im wuchtigen Hünengrabe, im stolzen steinernen Male, um das die Vergangenheit märchenhaft rauscht und raunt, im rheinischen Dome mit der anmutigen Zier der Zwerggalerien und Säulchen, im gotischen Münster mit himmelstürmenden Türmen und zur Andacht geheimnisvoll zwingenden Hallen, schaut uns die Seele unserer Vorfahren, die ja auch unsere Seele ist, aus tiefen, mächtigen Augen an.

Manche Sitte, manches Wort aus uralter, nebelgrauer Zeit klingt noch heute in unser Kulturleben hinein, und in Volksbrauch, Festen, Aberglauben, Namen und Zeichen sehen wir die Spuren des Geistes germanischer Urahnen und mittelalterlicher Gedankenwelt.

Das gefundene Hufeisen, welches das Schulkind als glückbringend heimträgt, verbindet es wie mit einer eisernen Brücke über den Strom der Zeit und vieler Jahrhunderte hinweg mit dem blonden Germanenkinde im deutschen Urwalde, das im Sausen des Sturmes in den Wipfeln der Eichen den Götterkönig von Walhall, Wodan, auf seinem schwarzen Rosse daherbrausen sah. – Das uralte heilige germanische Zeichen des Hakenkreuzes und das Symbol des Sonnenrades kehrt in den Kunstäußerungen der ganzen [127] deutschen Vergangenheit bis auf die neueste Zeit immer wieder.

Wie der alte Germane mit Runen und heiligem glückbringenden Zeichen das Gebälk oder die Tür seines Hauses schmückte und jedes Gerät, jede Waffe vor allem, mit seiner Hausmarke versah, wie er in seinen Schnitzereien in wundersamen Rankenzügen und Verschlingungen geheimnisvolle Dinge rätselhafter Symbolik erzählte, so ist auch in den Steinbauten des Mittelalters das Steinmetzzeichen Rune und Hausmarke zugleich, so spricht aus den alten Fachwerkbauten mit ihren eigenartigen Balkenstellungen und Holzverteilungen eine tiefe Symbolik, die allerlei menschliche und übersinnliche Beziehungen auszudrücken vermochte.

Die bunten Schnitzereien der Holzhäuser in unseren mittelalterlichen Städten sind nicht nur lustiger, sinnloser Zierrat. Nein, sie sollen auch etwas sagen und erzählen und dadurch dem Hause einen besonderen Charakter und geistiges Antlitz geben. Das geistige Leben und das, was die Erbauer besonders erfüllte und beschäftigte, wird darin offenbar und lebendig.

Sinnvolle Beziehungen zwischen dem Hause und seinen Bewohnern, zwischen Gerät und dem Besitzer fanden ihren Ausdruck und drängten sich zusammen in einem Bildwerk oder einer Tafel oder einem Hausspruch oder einem Schmuckstück eigenwilliger Art.

Persönliche Erlebnisse und Anschauungen und die großen Zeitereignisse spiegeln sich oft darin wieder, und es ist darum die Sammlung und Erforschung solcher Haussprüche und Gerätesprüche, wie sie z. B. die Vereine für Volkskunde betreiben, ein wichtiger Beitrag zum Lebens-, Kultur- und Geistesbilde unseres Volkes.

[128]

Während in früheren Zeiten der Städte wohl jedes Haus seinen besonderen Namen trug, ist dies auch in kleinen Städten heute fast nur noch bei den Wirtshäusern, Gasthöfen und Apotheken erhalten geblieben.

Wie anheimelnd klingen Namen von Bürgerhäusern wie z. B. »Das Haus zur weißen Tür«, der Löwe, der grüne Sittich, das goldene Schiffchen, zum Läubchen, der Lindwurm, usw. Ein Haus in Würzburg hieß »Zum großen Schmied Wieland«. Das Haus hatte einst wohl einem Schmied gehört, der sein Haus nach dem alten deutschen Patron der Grobschmiede nannte. Der Lindwurm und der Schmied Wieland führen uns so aus lebendiger Gegenwart zur deutschen Sagenwelt, zu den frischen Quellen der Jugend unseres Volkstums zurück, das Haus »Silberschmied zum gekrönten Hecht« an den Märchenborn sonniger Kinderträume. Manche solcher kleinen Namenskleinodien sind noch hier und da zu finden und zu erlauschen.

Die Erhaltung solcher Namen und charakteristischer Hauszeichen, wo man sie nur finden mag, ihr Schutz vor Entstellungen oder ihre künstlerische Ausgestaltung in wirksamster Weise sollte eine besondere Sorge ihrer Besitzer und aller Heimatfreunde sein.

Eine Sammlung aller Hauszeichen, Hausmarken, Spruchbilder, Innungszeichen u. dgl. würde uns manche ungeahnten Schätze deutscher Kunstübung und deutschen Wesens vor Augen führen und zeigen, woran wir lernen können, wie in früheren Jahrhunderten Reklame mit Kunst und kerniger Volksweisheit, tiefes Empfinden mit praktischem Wollen und Können Hand in Hand gingen.

Schauen wir uns nur um in den alten Städten und forschen wir in dem Erbe, welches unsere Väter in den Straßen und Plätzen, in Kirchen und Häusern, in Akten [129] und Archiven hinterlassen haben, reicher und reicher werden die Quellen fließen. Für uns selbst und für unsere Zeit und Zukunft werden wir gewinnen! Paul Graf von Hoensbroech sagt in seiner Schrift »Wenn die Toten erwachen«:

»Nehmet die Wünschelrute deutschen Findergeistes in die Hand, durchwandert mit ihr die deutschen Städte, die deutschen Fluren, die deutschen Wälder, die deutschen Berge: und ihr werdet Quellen finden und erschließen, aus denen Tiefsinn und Schlichtheit, Schönheit, Großartigkeit und Anmut, Kraft und Milde, Erhabenheit und Einfachheit in Überfülle hervorsprudeln als segenspendende Ströme für unser Volk und für die Welt.« –

Der alten Berghauptstadt Freiberg hat in älterer Zeit nicht nur der Silberbergbau, der seine kulturfördernde Kraft für das ganze Land segensreich erwies, sondern auch die sich herausbildende Eigenart des echt deutschen Volkslebens und blühender bergmännischer Sitten und Gebräuche ein besonderes Gepräge gegeben.

Der Bergbau ist freilich zur Rüste gegangen, und die alten charaktervollen Bergmannsgestalten sind verschwunden. 1913 wurde die letzte Schicht verfahren. Aber in tausend Erinnerungen lebt sein Wesen und der Ausdruck seiner besonderen Art in Freibergs Mauern noch weiter. Versetzen wir uns einmal in die noch nicht gar lange entschwundene Zeit zurück, um manches Gewordene und Erhaltene zu verstehen, nehmen wir die Wünschelrute deutschen Findergeistes, mit welcher gerade der Bergmann so häufig nach verborgenem Erze forschte, zur Hand, und wir werden wertvolle Aufschlüsse finden.

Der Bergmann, welcher in der stummen, geheimnisvollen Tiefe seiner dunklen Schächte sein Berufsleben abgeschlossen [130] verbringt, erhält eine ganz besondere Ausprägung des Charakters. Sein geistiges und seelisches Leben wird dort unten wunderbar berührt und angeregt. Bei den gefahrdrohenden Mächten der Tiefe, die nur spärlich sein Grubenlicht erhellt, streckt sich und sehnt sich sein Inneres zum Licht: In der Weltentrücktheit baut er sich in seinem Inneren eine neue Welt auf, in der auch bunte Kristalle der Phantasie und Silberadern geistiger, höherer Werte schimmern.

Fromm und gottesfürchtig, arbeitsam, zufrieden und genügsam, dabei auch oft voll kecken Übermutes und Freude an Scherz und Neckerei, steckt er voller Spruchweisheit. Er drückt gern sein Empfinden in Reimen und Verszeilen aus. Die Bergsänger mit ihren »Bergreyhen« erinnern an die Barden, die einst das Heldenlied pflegten, oder an die Bänkelsänger, welche von Ort zu Ort zogen. Die Bergmusikanten mit ihren Liedern und eigenartigen Instrumenten waren überall im ganzen Lande gern gesehene frohe Gäste. So ist es denn nicht wunderbar, daß gerade in Freiberg eine Fülle von Reimen und Zeilen alter Spruchweisheit erhalten und durch die Überlieferung bewahrt geblieben ist, daß auch heute noch in Freiberg so mancher ehrwürdige Hausspruch und bergmännischer Zierrat uns grüßt, und daß diese echt deutsche, uralte Sitte, durch Sinnbild und Sinnspruch zum Denken und sinniger Betrachtung anzuregen, oder durch Sprichwort oder Neckwort zu mahnen, zu reizen oder zu spotten, auch in weiteren Kreisen heimisch wurde und sich auf allerlei Geräte und Stellen ausdehnte, an denen sonst ein Spruch nicht gesucht wird.

Ein besonders reimfreudiges, verslustiges Völkchen scheinen auch die Ziegelstreichergesellen gewesen zu sein, [131] die oft mit großem Geschick ihre Einfälle den Dachziegeln anvertrauten. Von der Rechnung des Wirtes im schwarzen Walfisch zu Askalon, die für den seßhaften Gast in Keilschrift auf sechs Ziegelsteinen eingegraben stand, war ihnen sicher nichts bekannt, denn viele Jahre später erst sang Scheffel sein feuchtfröhliches Lied. Auch die beschriebenen Tontafeln von Babylon und Ninive waren ihnen fremd, denn sie harrten noch tief unter Schutt und Lehm der Ausgrabung, Auferstehung und Deutung. Aus sich selbst heraus fanden die Ziegelstreicher den naheliegenden Zeitvertreib, sich ihre einförmige Arbeit durch eingeritzte Inschriften auf den Dachziegeln zu verkürzen. In den bildsamen, lufttrockenen, weichen Dachziegel ist mit einem spitzen Werkzeug oder eisernem Griffel die Schrift und Verzierung ziemlich tief eingegraben. Dann sind die Ziegel kräftig gebrannt und beliebig auf diesem oder jenem steilen Dache, manchmal sogar mehrere zugleich, mit den anderen weniger ausgezeichneten Ziegelgenossen verlegt worden. Der älteste dieser Ziegel trägt die Inschrift »Anno 1692. J. W.«, der jüngste stammt aus dem Jahre 1839.

Es mag für die Ziegelstreicher ein lustiger, lockender Gedanke und vielleicht manchmal nicht ohne gewisse Anzüglichkeit gewesen sein, daß ihre Einfälle und Inschriften hoch über der Straße den Augen der Menge entzogen waren, aber doch ein heimliches Dasein und Leben hatten, und zwar nur vielleicht einmal einem Essenkehrer oder Ziegeldecker, den Wolken und Vögeln sichtbar wurden, aber doch einem späteren Geschlechte von ihnen künden konnten, wenn vielleicht längst ihr Leib in Staub zerfallen war. Denn nur durch Zufall beim Umdecken alter Dächer kommen auch heute noch ab und zu solche Ziegel zum Vorschein. Auf [132] manchen alten Dächern in Freiberg mögen noch hie und da solche bemerkenswerte Ziegel ruhen, aber die meisten mögen verwittert, zerbrochen, mit Kalk verschmiert, verrußt, unleserlich und unkenntlich geworden oder verlorengegangen sein. Einzelne dieser seltsamen Ziegel sind in Privatbesitz gelangt. Eine größere Anzahl befindet sich im Museum des Freiberger Altertumsvereins, dem König-Albert-Museum. Die Schrift ist klar und leserlich in schönem Schwunge und Verteilung meist in lateinischen Druckbuchstaben scharf in den Ziegel geritzt und am Rande des Ziegels durch Zierlinien in Bogenzügen schmückend eingerahmt und abgegrenzt. Bei manchen dieser Ziegel fühlt man es, mit welcher Freude und Stolz der Schriftkünstler sein kleines bescheidenes Meisterwerk so schön wie nur möglich gestaltete und seine Geschicklichkeit zeigte.

Was schrieben nun jene einfachen Menschen auf die Dachziegel? – Das, wovon ihr Herz gerade voll war!

Da standen z. B. ein paar Gesellen im Ziegelschuppen, hatten Frühstückspause, neckten sich, und sprachen von ihren Mädchen oder Frauen: der brummige Alte dort hatte wohl öfter über sein Hauskreuz geklagt. Ihm schreibt der Schriftkundige das steinerne Stammbuchblatt, das er selbst dann rasch in den Brennofen schafft:

Ein altes Weib, ein Tudelsack,
das sumpt und brummt den gantzen Tag.
1822.

Wenn nur nicht seine Alte etwas davon erfährt! Jener Schwarze dort mit den funkelnden Augen hat viel Glück bei den Mädchen. Sie laufen ihm nach, er küßt sie und lacht und sagt zu seinen Gesellen:

»Alle Mätchen auf der Erden
wollen gern geweibet werden.«

[133]

Er denkt natürlich von ihm selbst geweibet und meint wohl: »Da habe ich noch lange Zeit und große Auswahl für die »Heurath«, sonst gehts mir wie unserem Alten dort mit seinem Stammbuchblatt.« Flugs schreibt man dem Schwarzen sein Verschen von den »Mätchen« auf den Dachziegel und setzt den Tag, »den 9. Juni 1822« darunter.

Ob er sein Glück gefunden hat?

Es klingt nicht gar so glücksgewiß von einem Ziegel von 1834:

»Es ist kalt, es ist kalt,
Und ist doch kein Winter.
Liebt mich mein Schatzgen nicht
Hol sie der Schinder.
den 28. Juni 1834.«

Ein anderer Ziegel, mit dem Datum »d. 9. Juli 1835« und einem Monogramm gezeichnet, sagt schmachtend:

»Wenn ein hübsch Weibchen
kommt zu mir
Da mein ich es recht gut
mit ihr.«

Vielleicht ist der Schwarze doch noch sitzengeblieben und vertraut seine Sehnsucht, Anschluß zu finden, dem nicht gar so redseligen Ziegel an. Der steinerne Liebesruf oder Liebesbrief hoch auf dem Dache wird kaum ein weibliches Herz erweichen.

Ein anderer Ziegelstreicher, namens Oehlschlegel, hat eine höhere Auffassung von seiner Zukünftigen und vertraut seine Wünsche im Jahre 1832 in folgenden Zeilen dem Ziegel an.

»O Liebe willst du mich erfreun,
so laß mein Weib einst also sein,
recht schön damit sie mir gefällt,
klug, daß sie mich beständig hält,
[134]
und endlich wünsch ich sie auch reich
Doch ist sie nicht getreu zugleich
so sey sie englisch von Gesicht
und klug und reich, ich mag sie
nicht.«
Oehlschlegel
1832.

Er mag sein Ideal gefunden haben.

Wir wollen ihm wenigstens die Inschrift des Ziegels gönnen, aus welcher das ersehnte und erfüllte Glück strahlt:

»Dich besten Engel, schönes Weib,
Dich lieben ist mein Zeitvertreib.
den 16 July 1836.«

Das Verhältnis zu dem anderen Geschlecht behandeln die Inschriften öfter, denn offen wird eingestanden:

»Auf den Walltersdorffer
Ritterguth sind die
Mädgen den Bürschgen gut
den 8 Sept. 1810.«

Das steht auf einem Firstziegel und scheint in Waltersdorf gute Tradition zu sein, denn 1838 heißt es:

»Der Ziegeldecker dreht sich
wie ein Rädchen,
Er liebet auch die hübschen Mädchen.
Waltersd. Zieg.
den 22 Mai
1838«

Es wird auch der Weg zur Gunst der Schönen gewiesen:

»Wer bey Jungfern will gut stehn,
muß wissen mit ihn umzugehn.
Freybergische Hochedle
Rats Ziegelscheune
d. 22 Juni
1810.«

[135]

Sie mögen es wohl öfter ausprobiert haben in lustigen Stunden:

»Alte Thaler und junge Weiber
sind die besten Zeitvertreiber.«
F. C. Z. 1835.

Oder aus dem Jahre 1813 kurz und bündig:

Vivat es lebe Wein und Liebe
1813
F. H. R. Z.

Doch die leichte Ware dieser Gattung scheint doch nicht so ganz nach ihrem Geschmack zu sein:

»Jungfern, die des Nachts auslaufen
sind um leichtes Geld zu kaufen.«

und mit Spott singt er dann, wenn die Folgen sich herausstellen, das Verschen:

»Ey Mutter, kocht Ludeln, thut Gundeman nan,
mein Freyer wird kommen, wird Stiefeln anham,
ach wenn er nur käm, und das er mich nähm
und das der Spektakel von Leuten wegkäm.«
E. z. F.

Ja, es tauchen in dieser Beziehung Verse auf so derber Art, daß man nicht bedauern kann, daß sie oben auf dem Dache so wenige, seltene Leser fanden. Vielleicht ist mancher dieser Ziegel mit heimlicher Anspielung auf einen Bewohner oder Bewohnerin auf diesem oder jenem Dache verlegt worden.

Andere Verse reden von dem, was gut schmeckt:

»Fische, Vögel und Forellen
essen gern die Ziegelmachergesellen.
Waltersdorffer Ziegelscheine
den 28 May 1805.«

Von den Vögeln wird der Martinsvogel am wenigsten verachtet:

[136]

»Im Sommer mögen sich die Gänse baden,
Um desto schöner schmeckt uns dann ihr Braten.
den 7 July 1810 J. J. W.«

Dieser J. J. W. ist ein Arbeiter, namens Wolf, der in der »hochedlen Ratsziegelscheune« tätig war und in manchem Verslein sich verewigt, so manchen raschen Einfall nicht zu Papier, sondern zu Ziegel, Brand und Dach gebracht hat:

»Man gebe auf die Trescher acht,
damit das Stroh wird rein gemacht.
den 11 Sept. 1819
J. J. W.«

oder:

»Nun kömmt die kalte Winterszeit, man sorge
für ein warmes Kleid.
Freybergische Hochedl. Raths Ziegelscheine, den 15
Okt. 1812. J. J. Wolf. Ein sehr kalter Wind.«

oder:

»Wenn Schnee und kalte Winde blasen,
verfolgt der Reuter und sein Hund die Haasen.
Freybergische Ziegelscheine. 1811.«

Eine Hasenjagd im Schneetreiben zu Pferde scheint nach heutigem weidmännischem Brauch etwas eigenartig zu sein. Oder wurde der arme Meister Lampe vor hundert Jahren gehetzt, wie man heute noch hie und da, namentlich in England, den Fuchs hetzt?

In einem inneren Zusammenhang stehen drei Ziegel, die von der Liebe und Freude des schlichten Ziegelstreichers an der Natur erzählen:

»Der Landmann streut mit allem Fleiß
den Saamen in die Erde aus.
d. 2 May 1839.«

In jenem Jahre muß die Saat recht spät in den Boden gekommen sein! Aber 14 Tage später macht er einen [137] schönen Waldspaziergang und denkt dann beim eintönigen Ziegelstreichen seiner grünen Freude:

»Geh ich in den grünen Wald,
sing die Vöglein jung und alt.
Waltersdorffer Ziegelscheune
den 15 Mai 1839.«

Fünf Wochen später freut er sich des wogenden Ährenfeldes:

»Begrüßt das schöne Saatenfeld,
wo schlank der Halm die Aehre hält.
W. Z.
den 21 Juni 1839.«

W. Z. bedeutet »Waltersdorffer Ziegelscheune«.

Ziegelinschriften politischer Art oder mit Anspielungen auf Zeitereignisse kommen kaum vor. Der Gesichtskreis der Leute war eng, und was außer diesem engen Kreise lag, berührte ihr Herz wenig. Nur in einer Inschrift eines Ziegels aus der Burgstraße klingt es wie ein Nachhall der napoleonischen Zeit:

»Trompet und Trommelschall ruft oft zum
Krieg und Tod. Nie freue uns der Krieg,
um Frieden bitte Gott!
Freybergische Hochedl. Raths-Ziegelscheune
Wolf. 1817«

Seit den fröhlichen Verslein von 1810, 1812 und 1813 waren die Befreiungskriege an unserem wackeren Wolf vorübergebraust, und da findet sein Griffel ernstere Worte. Doch eine bittere, ernste Inschrift dürfen wir unserem Ratsziegeldichter Wolf noch zuschreiben, welche auch in der heutigen Zeit von vielen Dächern als Klageschrei in unsre Ohren schallen könnte. Der Ziegel stammt bezeichnender- und sinniger Weise von einem alten, abgetragenen Grufthause des Donatsfriedhofes, als ob dort die letzte Ruhestätte [138] für Glaube, Liebe, Treu und Recht zu finden wäre. Die Inschrift lautet:

»Glaube, Liebe, Treu und Recht haben sich alle vier
schlafen gelegt und wenn sie werden wieder
auferstehn, wirds besser in der Welt aussehn.
F. H. R. Z. d. 21 Juni 1811.«

Die Buchstaben bedeuten: F reybergische H ochedle R aths- Z iegelscheune.

Wir schauen in unsere Zeit und fühlen die Bitterkeit, den Schmerz und doch wieder Glaube und Hoffnung auf eine bessere Zukunft, wie Wolf es in seiner Inschrift ausgesprochen. Notzeit ist heute, da uns dieser Ziegel vor Augen liegt. Notzeit war, als er geschrieben wurde. Eine eigenartige Fügung will es, daß ein Ziegel mit ähnlicher Inschrift aus ähnlicher Notzeit in diesen Tagen in Mecklenburg zufällig beim Umdecken der Kirche in Lübz gefunden wurde:

»Globen, Leiw, Tru und Recht
Hebben sick all 4 slopenlegt.
Un wenn sei weder uperstahn,
Ward beter in dei Welt hergahn! Lübz 1628.«

Die Zeit des dreißigjährigen Krieges, in der diese Zeilen in den Ziegel gebrannt wurden, hat mit der Zeit von 1811 und mit der Gegenwart, an die der Spruch nun seine Weisheit richtet, vieles gemeinsam. Sorge jeder, daß Glaube, Liebe, Treu und Recht auferstehen mögen!

Ganz andrer Art als die Ziegelstreichersprüche, welche nicht für die breite, sondern nur für die »höchste« Öffentlichkeit bestimmt waren, sind freilich die Sprüche, welche uns von den Portalen grüßen. Verdanken die Sprüche auf den Dächern wohl meist nur einer scherzhaften oder verliebten Laune oder einem Zeitvertreib ihr Dasein, so sind die Sprüche an den Portalen Haussprüche, welche uns tief [139] in die Seele derer schauen lassen, die sie einst anbringen ließen, Sprüche, die jedem Vorübergehenden etwas sagen sollten.

Die ältesten stammen aus einer Zeit, da das Innere der Menschen und Völker aufgewühlt war durch die Fragen der Religion, durch Glaubenskämpfe und Gewissensnot, da eine neue Weltanschauung sich Bahn brach.

In der Petersstraße, dicht am ehemaligen Peterstor, steht ein schlichtes Bürgerhaus mit gotischem, reichem Portal, einfachen Fensterwänden aus Sandstein mit Stabwerk. Im Erdgeschoß befinden sich reichgewölbte Räume mit Sterngewölben von besonderer Pracht und Wucht. Der Bürgermeister Nikolaus Monhaupt erhielt 1469 vom Papste die Erlaubnis zum Bau einer Hauskapelle. Hier baute er sich diese Kapelle in seinem Hause und überspannte sie mit diesen kunstvollen Gewölbebildungen, deren Rippen zu reichgegliederten Mustern sich zusammenschließen. 60 Jahre später, im Jahre 1529, wurde hier, der Überlieferung nach von Martin Luther persönlich, zum ersten Male das heilige Abendmahl in beiderlei Gestalt gereicht, an welchem auch die Herzogin Katharina, Herzog Heinrich des Frommen Frau Käthe, heimlich teilgenommen haben mag. Die Schauseite des Hauses ziert eine alte Schrifttafel aus Sandstein, welche auf diesen Vorgang hinweist. Die Inschrift besteht aus lauter anscheinend zusammenhanglosen einzelnen Buchstaben. Es sind die Anfangsbuchstaben der Einsetzungsworte des heiligen Abendmahles. Die Überschrift bilden die Buchstaben: V · D · M · I · Æ · , d. h. verbum domini manet in aeternum , oder zu deutsch: Gottes Wort bleibet ewig. In der untersten Zeile findet sich die Jahreszahl 1529, aus welchem Jahre auch offenbar die Tafel stammt.

[140]

Dieser Reformationsspruch, ein Kampfruf und Wort des mutigen Bekenntnisses, findet sich und war auch noch an anderen Freiberger Häusern angebracht, sei es auch nur in Anfangsbuchstaben, sei es in der deutschen Form, wie am Hause Pfarrgasse 18: »Gottes Wort Bleibet Ewik.« mit der Jahreszahl 1528. Sechs Jahre also nach Luthers Übersetzung des neuen Testamentes wurde einer seiner Kernsprüche an einem schlichten kleinen Bürgerhause zu Freiberg in Stein gehauen.

Luthers Lehre war damals verboten, ihre Anhänger wurden verfolgt. Die Häuser mit diesem Spruch waren die Stätten, an denen sich die Bekenner der neuen Lehre trotz Not und Verfolgung zusammenfanden, um in der Gemeinschaft Kraft und neue Erkenntnis zu suchen. Ein tapferer Mut gehörte dazu und ein festes Herz, sein Haus unter dieses Zeichen zu stellen. Bald freilich schwand unter Herzog Heinrichs milder Hand die Gefahr, und er selbst ließ u. a. an besonders eigenartiger Stelle diesen Spruch anbringen: Verbum domini manet in aeternum findet sich nämlich mit der Jahreszahl 1538 und dem Sächsischen und Freiberger Wappen sogar auf einer Bronzekanone, die der Gießer Hilger in Freiberg für den Herzog goß. Die Kanone sollte als Glaubenskünderin so ihre Stimme nach seiner Meinung besonders wirksam und überzeugend zur Geltung bringen. Das ganze Denken war damals von diesen Fragen bewegt und suchte überall Ausdruck zu finden.

Auf zahlreichen Glocken des Erzgebirges aus der Gießhütte der Hilliger ist dieses Wort in Erz geprägt und ruft sein Bekenntnis mit eherner Stimme in die Enge der Herzen und Häuser und in die Weite der Welt. Auch in der Johanniskirche zu Leipzig trug die größte Glocke, welche [141] Wolf Hilliger 1553 goß, die Bekennerinschrift: Verbum domini manet in aeternum.

Auch auf einem der »Kleinodien« der Freiberger Bergknappenschaft, auf dem silbernen Sinnbilde des Bergbaues »Schlägel und Eisen«, findet sich dieser Reformationswahlspruch in lateinischer Sprache mit der Jahreszahl 1534. Es ist dies ein Beweis, wie gerade auch die Bergleute sich mit Feuereifer der neuen Lehre annahmen und in den Mittelpunkt ihres Daseins stellten. Wird doch auch überliefert, daß die Bergleute 1517 den Ablaßmönch Tetzel vertrieben, verprügelt und um seine Gelder erleichtert hätten.

Auf einem Spruchband dieses Kleinodes von 1534 findet sich noch der Spruch: »Die Heier, die sind hochgenant, sie ritzen uf manche feste band mit ihren klugen Sinnen, darmid sie es gebinen.«

Tiefer religiöser Sinn spricht noch aus vielen anderen dieser alten Sprüche: Donatsgasse Nr. 23 schmückt das Haus eine Tafel mit dem Bilde eines Bergmannes, der einen Barren Erz trägt, und mit dem Spruche:

Ich · Weis · das · Mein · Erlöser · lebt · 1 · 5 · 6 · 1 ·

Das Gedächtnis der Reformation wird gefeiert im Jahre 1617 durch einen lateinischen Spruch, der an der alten Löwenapotheke angebracht ist:

Sunt iubilo D. Mart. Luth.
magna huius pars est extructa
habitaculi in anno quo vox in
caetu est iubila laeta canens.

D. h.: »Ein großer Teil dieser Häuser ist an dem Jubelfeste Dr. Martin Luthers errichtet worden, in dem Jahre, in welchem die Gemeinde frohe Jubellieder anstimmte.«

Zur Zeit dieser Jubellieder ahnte man nicht, daß das deutsche Land vor dem unermeßlichen Elend des dreißigjährigen [142] Krieges stand, so wenig wie man 1913 bei der hundertjährigen Jubelfeier der Schlacht bei Leipzig ahnte, daß der Weltkrieg mit all seinem Elend und furchtbarem Ausgang vor der Türe stand.

Luthers Geist und kernige Art spricht auch aus dem kurzen Hausspruch von Burgstraße Nr. 10, der auf das stärkste Fundament für inneren und äußeren Aufbau weist:

»Ich bau auf Gott« 1736.

Inniger Glaube, Gottvertrauen und Frömmigkeit klingt aus der Inschrift eines Hauses der Erbischen Straße:

»1669. Der Hüter israel kann durch der Engelscharen
Diß Hauses Thür und Pfost für immer uns bewahren,
Hilf, daß ein jeder Christ, o Jesu, Lebensthür,
Der diese Schwell betrit Dich tieff in Hertze führ.«

Ein Haussegen ähnlicher Art ist der Spruch des Hauses Erbische Straße 9:

»Die Engel des Herrn behüten, bewahren dieses Haus,
Alle, so bei Tag und Nacht hier gehen ein und aus.«

Dieser Gedanke, das Haus unter den Schutz der Engel Gottes zu stellen, findet auch in symbolischer Form seinen Ausdruck. Das schöne Portal am Obermarkt, welches mit seinen reichen Formen dem Meister des Georgentores in Dresden, Schickentanz zugeschrieben wird, eines der frühesten Werke der Renaissance in Sachsen, schmücken im innersten Türbogen drei Engelsköpfe. Nach dem mittelsten Kopf züngeln zwei delphinartige Ungeheuer. In künstlerischer Form sagt hier der Erbauer, daß die Engel Hüter vor den züngelnden Mächten des Bösen und des Unheils an »des Hauses Tür und Pfost« sein sollen.

Gottvertrauen und Lebensmut spricht auch aus einer Haustafel aus neuerer Zeit mit folgenden Worten:

[143]

»Im Jahre 1846 d. 23 Juli Nachts ¼ auf 12 Uhr
Wurde dieses Haus durch den Blitz ein Raub.
Der Jahre 1846–47 wurde es neu erbaut.
Wird Gottes heiliger Schild uns decken,
Wird auf uns ruhen Seine Hand,
Dann kann der Donner uns nicht schrecken
Und nicht des Blitzes schneller Brand:
Denn Treu wird Tag und Nacht
Dann unser Haus bewacht.

Johann Gottfriedt Kunadt.«

Dasselbe treuherzige Gottvertrauen, wie aus diesen Versen klingt auch aus einem alten Wirtshausschild, das der ehrwürdige Gasthof zum Goldenen Löwen zugleich als Sinnbild und Haussegen an seiner Schauseite zeigt:

»Diß gast Hof Stehet in Gottes Handt
Zum Gülden Löwen wird es genant.«

An einem anderen Hause Alt-Freibergs ist sogar der seltene Fall zu verzeichnen, daß sich der Bauherr und der Baumeister verewigt haben. Es ist dies das kleine freundliche Stadttheater, welches 1790 aus einem alten, stattlichen Bürgerhause, gegenüber der Nikolaikirche, und benachbarten Gebäuden zum Theater umgebaut wurde und allmählich sich zu seiner jetzigen Gestalt entwickelt hat. 1880 fand der letzte größere Umbau statt, bei dem noch schöne Schmuckteile gefunden wurden. – Dieses Bürgerhaus erbaute sich einst der ehrwürdige Magister Caspar Neander, Prediger an St. Nikolai, der dort im Anfange des 17. Jahrhunderts seines Amtes waltete. Er schmückte sein Haus mit einem reichen Renaissanceportal mit ornamentierten Tragsteinen für die profilierten Balken, mit reich gemalten Holzdecken, die er mit schönen Profilen und vergoldeten Holzknöpfen besonders verzieren ließ. – Es ist bemerkenswert, daß dieser wackere Prediger auch die [144] Schätze dieser Welt durchaus nicht verschmähte, sondern glücklich mit Bergwerkswerten spekulierte und gute Kuxe hatte, so daß er sich davon dieses stattliche Haus bauen konnte, wie er in seiner Inschrift mit dankbarem Gemüt mitteilt:

»Dis Haus Und all mein Fähr und Haab
Der Reiche Gott Aus milder Gab
Mir Bscheret hat durch Ausbeuth guth
Der halts auch stets in seiner Huth.
M. C. N. C. 1623.«

1623, als der große Krieg schon fünf Jahre im Lande war, blühte also der Bergbau noch ruhig fort, brachte Geld und Gut, »Fähr und Haab« und ließ dieses stattliche Haus erstehen. – Vielleicht hat aber der würdige Amtsprediger Neander doch zuviel nach unwürdigem Irdischen getrachtet, denn wie überliefert wird, ist er schon 1626 seines Amtes entsetzt worden. Bei der Belagerung Freibergs durch die Schweden unter Torstensson 1643 war er aber wieder Garnisonfeldprediger und stand seinen Mann in schwerer Zeit.

Sein Baumeister, der »Mewrer« Michael Kästner ist nicht bei der Errichtung des Hauses mit der Welt so zufrieden wie Neander, denn ihm hat man beim Bau und nachher offenbar das Leben schwer gemacht, die Besserwisser und Alleskönner, die Pflastertreter und Bierbankweisen müssen ihn recht gekränkt haben, denn er läßt in den Sandstein hauen und ruft uns über 300 Jahre zu und in das bunte Marktgewühl hinein:

»Man sagt wer baun Thut an die Gassen
Muß manchem Eine Feder lassen
Wenn ich es dann also wil han
Lieber was geht es dich doch an.
Michael Kästner Mewrer m 1623.«

[145]

Michael Kästner war offenbar ein Mann mit selbstsicherem Wesen, der sich nicht das Reden und den Spott übler Zeitgenossen viel anfechten ließ.

Hier über diesen Platz am Stadttheater, den Buttermarkt, raunt noch ein anderer Spruch, freilich nicht in Stein gehauen, aber im Volksmund lebendig: »Himmel, Hölle, Teufelskapelle.« Es liegt dort nämlich dem Theater gegenüber die Nikolaikirche, und zwischen beiden am Platz die alte Gastwirtschaft »Zur Hölle!« »Es hatten drei Gesellen ein fein Kollegium.« Ein Reim oder Verslein ist auch heute noch in Freiberg sehr bald gefunden und lebendig wie in früheren Jahrhunderten.

Die ehrwürdige Freiberger Schützengilde, welche die tüchtigen Bürger zu kriegerischem, unabhängigem Geiste erzog, der sich nachmals in der Schwedenbelagerung unter Torstensson so glänzend bewährte, hatte sehr reimfrohe Mitglieder, denn ihre sogenannte Königstafel ist eine ganze Sammlung von volkstümlicher Spruchweisheit. Sie ist ein flaches bemaltes Schränkchen für Kleinodien und Urkunden der Schützengilde und enthält die Namen sämtlicher Schützenkönige vom Anfange des 16. Jahrhunderts an nebst vielen Sprüchen und Reimen. Ein Spruch aus dem Jahre 1626, d. h. also als der Dreißigjährige Krieg schon acht Jahre tobte und Wallenstein, Tilly und Mansfeld mit ihren Heerscharen durch die deutschen Lande zogen und Verwüstung und Verderben mit sich trugen, hat folgenden Wortlaut:

»Wer ein Sohn hat, der gerne spihlt,
Eine Tochter die ihm heimlich stihlt,
Ein Knecht so schwatzet aus dem Haus’,
Ein Katz so nimmer fengt ein Mauß,
Ein Henn, die ihm kein Eyer legt,
Ein Schwein das nimmer Junge tregt,
[146]
Ein Weib so gantz geneigt zum Wein
Und stettig Herr im Hauß will sein,
Ein Dienstmaagd so geht mit ein Kindt,
Der man hat ein böß Haußgesind.«

Das Gegenstück zu diesem bedauernswerten »man« wird in folgenden Reimen ebenda geschildert:

»Welcher hat ein Muht als ein Held,
Ein beuttel gut nimmer ohn geldt,
Einen hundt der deß nachts wol hutt,
Ein frommes Weib die allezeit gutt,
Ein kleineß Hauß und fröhlichen Mutt,
Rein gewissen und messig Gut,
Ein schönes Weib und wenig borg,
Kann allzeit lebenn ohne sorg,
Ein gesunden Leib der allzeit steht,
Der man hatt ein gutt Hausgereht.«

Der wackere Dichter dieser echt volkstümlichen Reime ist völlig im Rechte, wenn er weiter singt und sagt:

»Eine Kunst die man verborgen held
Und nicht gebraucht zu nutz der Weld
Die gildt so viel, allß wer sie nit,
Drum wer was kan; dien andern mit.«

Er diente mit seiner Verskunst den anderen und ergötzte damit nicht nur seine Zeitgenossen, sondern auch die wackeren Schützenbrüder späterer Jahrhunderte.

Die Freude am Sinnspruch steckt den alten Freibergern, die ja alle mehr oder weniger mit dem Bergbau verbunden und bergmännischen Geistes voll waren, im Blute. Der Bergmann schmückt seine Geräte, insbesondere seine Barte, die aus der Streitaxt entwickelte eigenartige Ehrenwaffe, mit Bildern seiner Tätigkeit und Sprüchen von allerlei Prägung. Nur einige Proben mögen dafür zeugen:

»Gib Zubus, arbeit, wart dein Zeit
Es folgt Ausbeuth, die dich erfreut.«

(Abbildung vor Ort arbeitender Bergleute.)

[147]

»Ich geh’ und fahre meine Schicht,
Ohn’ Arbeit ist nichts ausgericht.«

(Abbildung einfahrender Bergleute.)

»Halt Jesum, laß ihn nicht herauß,
Hilf ziehen, so schont Gott dein Hauß,«

(Abbildung stellt Jesus in der Grube dar, die Hand auf die Fahrt legend. Ein Bergknappe will ihn zurückhalten. Ferner sind haspelnde Bergleute und ein Haus mit brennenden Kerzen dargestellt.)

»Rechnung recht halt, Treu’s Ampt verwalt.«

(Abbildung von Bergbeamten und Bergleuten an der Tafel.)

»Bergwerk will haben Verstand
und eine getreue Hand.«

steht im Eingangsflur des Revierhauses.

Auch die Kleinodien der Freiberger Bergknappschaft sind mit bergmännischen Darstellungen und Sprüchen geschmückt.

Der prächtige, kunstvoll gearbeitete Weinhumpen aus dem Jahre 1679 trägt reichen bergmännischen Bildschmuck und die Inschrift:

»Such, schärffe, fahre ein,
Zerstuffe fest Gestein
So nimmstu Ausbeuth ein.«

Nicht nur bei der täglichen Arbeit und bei fröhlichem Fest sind so die Denksprüche ein gedankenreicher Schmuck des Daseins. Auch in die Kirche begleitete den alten Freiberger die aus Beruf und innerem Erleben geschöpfte Spruchweisheit.

So hängen z. B. im Dom, den die Bergmannskanzel und noch andere Darstellungen bergmännischer Art schmücken, zwei messingene Kronleuchter aus dem 16. Jahrhundert mit der Inschrift:

»Wer will Bergwerk bauen, der muß Gott vertrauen«

[148]

und

»An Gottes Segen ist Alles gelegen.«

In der Petrikirche war auch, wie der alte Chronist Möller überliefert, in einem Fenster eine Bergmannsfigur dargestellt mit dem Spruche:

»Bawst tu Viel Ertz, gib Gott die ehr
Brauchs recht, bis fromm, so beschert Gott mehr.«

In einem anderen Fenster daselbst findet sich heute noch das alte Innungswappen der Leineweberinnung, das Weberschiffchen mit Spulen von zwei schwarzen Löwen gehalten und mit der Inschrift:

»Das allertheuerste Pfandt in der Erden
Muste in Reine Leinwandt gewickelt werden.«

Hoch oben aber auf dem Turme der Petrikirche hängt das alte Bergglöckchen, das früher viermal am Tage zur Schicht rief und heute noch mittags um 12 Uhr und abends um 7 Uhr je eine Viertelstunde geläutet wird. Wenn seine traute Stimme über die hohen Giebel und steilen Dächer der alten Häuser und Gassen dahinklingt, dann wird eine ganz besondere Stimmung lebendig und für die alten Kinder der Stadt ist es die redende und mahnende, lockende und rufende Stimme der Heimat und Jugend, die da laut wird und anders noch ins Herz ruft als andere Glocken auf fremden Türmen:

»Auf, auf! Zur Grube ruf ich euch,
Ich, die ich oben steh,
So oft ihr in die Tiefe fahrt,
So denket in die Höh!«

ist der sinnige Spruch, den sie mit ihrem ehernen Klang über die Häuser der Menschen bis zu dem Kranz der Gruben und Schächte draußen hinausruft.

Die Läuteglocke von 1570 neben ihr im niedrigeren [149] »faulen« Turme hängend, ruft nicht zur Arbeit wie sie, sondern zum Kirchgang mit dem Spruch:

»Mein Klang dich ruft zum Kirchengang,
merks Wort, Gott dank, sing Lobgesang.«

Wie schön ist hier bei beiden Glocken in kurzem deutschen Wort ihre Bestimmung gesagt. Es ist nicht nötig, immer zur lateinischen Sprache zu greifen. Deutscher Geist und deutsche Kraft kann und muß auch für solche Zwecke in deutsche Kernsprüche gebannt werden. Freilich werden auf die Glockensprüche wohl meist die gelehrten Herrn Geistlichen Einfluß genommen haben und neben lateinischem Bibelspruch gern einen lateinischen Vers geformt haben, der ihnen dann vielleicht monumentaler klang als das ungefüge Deutsch. Kirchliches Herkommen, Handwerksbrauch und Bequemlichkeit stellte oft das gelenke Latein über das ungelenke Deutsch der alten Zeit.

Die Glocken auf den Petritürmen entstammen der Werkstätte des berühmten Gießergeschlechtes der »Hilger« zu Freiberg, welches während des 15. bis 17. Jahrhunderts in Freiberg blühte, und nicht nur für ganz Sachsen, sondern weiter hinaus im Reiche bedeutsame Werke schuf. Kaum ein größeres Dorf oder Stadt ist im Erzgebirge, wo nicht im Turm eine Hilgerglocke hängt und ihre Stimme tönen läßt. Lauschen wir einmal den Klängen ihres ehernen Mundes und den Worten, die sie zu uns sprechen:

Auf der Jakobikirche zu Freiberg ruft uns die größte der Glocken, welche 1684 Gabriel Hilliger goß und mit schönem Fries und dem Hilligerschen Wappen schmückte, in lateinischen Reimen und Worten zu, was ihre Lebensaufgabe ist:

»Laudo deum verum , plebem voco, congrego clerum , mortales ploro defunctos festa decoro

[150]

Ich lobe den wahren Gott, ich rufe das Volk, ich sammle die Geistlichkeit, die Toten beweine ich, festliche Tage schmücke ich.

Dieser lateinische Reimspruch aus dem Jahre 1684 ist ein alter Glockenspruch, den wir auch auf der großen Glocke der Kreuzkirche in Dresden von 1503 namens Scholastica finden. Sie hatte einen Durchmesser von 1,82 m und war von Heinrich Kannengießer gegossen. Diese Glocke in Dresden von 1503 versprach aber noch etwas mehr als die von 1684 in Freiberg: » pestem fugo « stand noch im Glockenspruch: »Ich verjage die Pest!« – Es steckt im Kern darin der uralte mittelalterliche Glaube, daß vor dem Glockenklang die Schlangen fliehn. 1684 hatte man in Freiberg entweder diesen Glauben nicht mehr, oder man kannte die Furchtbarkeit der Pest nicht mehr, die im Mittelalter und im Kriege als Würgengel die Städte und Dörfer durchschritt, während unaufhörlich wimmernde Glockenklänge die Toten beklagten und die furchtbare Seuche durch ihren heiligen Klang wie eine böse Teufelsmacht verjagen wollten und jammernd zum erbarmungslosen Himmel ihre Hilfe- und Gebetsrufe sandten. 1503 ist dieses » pestem fugo « noch ein Glockenklang aus tiefstem Grunde der Zeit und des Volkes.

Die kleine Glocke in Hilbersdorf von Zacharias Hilliger gegossen und mit seinem Wappen geschmückt ist auch solch ein Denkmal aus schwerer Zeit, das mit eherner Zunge sein Schicksal kündet aus den Jahren des Dreißigjährigen Krieges, als Freiberg und seine Umgebung bald von den Kaiserlichen, bald von den Schweden, bald von Freund, bald von Feind mißhandelt, geschunden und gemartert wurde. Die Umschrift der Glocke lautet:

[151]

»Feuer durch Krieg nam Weck mein Hall Anno 1639
Gott gab mir wieder nawen Schall Anno 1641. Z. H. «

Gar manche Glocken in Sachsen sind durch Krieg und Brand zerstört und umgegossen worden und erzählen in kurzem Wort so ihr Schicksal. Die Glocke der Liebfrauenkirche (Gottesackerkirche) in Zschopau wurde 1748 durch Brand vernichtet und meldet nun, was ihr geschah und was ihre Aufgabe ist, mit folgenden Worten:

Für dem Brande dient ich Leichen,
Itzo da die andern schweigen
Ruf ich euch zu Gottes Wort
Laßt es seyn der Seelen Hort.
Anno 1751 goß mich Johann Christoph Hose.

Von den Glocken aus dem Reformationsjahrhundert, welche der Gießhütte unsers Hilger entstammen, seien besonders zwei große Glocken der Thomaskirche in Leipzig genannt. Wie oft mag ihr voller Klang das Ohr des großen Thomaskantors Johann Sebastian Bach berührt und ihre tönende Seele seinen Geist über die Niederungen des Lebens zu seinen ewigen, gewaltigen Harmonien emporgetragen haben. Die Schlagglocke, 1,55 m breit, wurde 1539 auf Kosten des Rats von »Martin Hillger, Kannen- und Glockengießer von Freyberg«, an Stelle einer zerbrochenen alten für 123 Schock 17 Gr. 3 Pf. gegossen. Zur Beschaffung der Glockenspeise kaufte man eine alte Glocke von »eynem pfaffen«. Sie trägt außer der Jahreszahl den Spruch aus dem 127. Psalm:

»Nisi dominus custodierit civitatem frustra vigilat qui custodet eam.«

»Wenn der Herr nicht die Stadt behütet, wachen ihre Wächter umsonst«. Der gleiche Spruch findet sich auf der Stundenglocke des Freiberger Domes von 1540, die Martin [152] Hillger nahezu gleichzeitig mit er Leipziger Thomasglocke gegossen hat.

Die andere Thomasglocke von 1,72 m Durchmesser hat 1574 Wolff Hilliger gegossen und mit seinem Wappen geschmückt. Die Rüstung für die Glocke machte Hieronymus Freiberger und 21 Männer mußten die Glocke zu ihrem luftigen Stuhle emporziehen, damit sie ihre Stimme erheben konnte, wie ihre Inschrift sagt:

In laudem aeterni dei, cui soli sempiterna gloria.
»Zum Lobe des ewigen Gottes, dem allein ewiger Ruhm gebührt.«

203 fl. erhielt Wolff Hilliger für sein Werk.

Auch auf dem Turme der Stadtkirche zu Pirna, der so malerisch im Stadtbilde steht, hängt eine Glocke von Wolff Hilliger aus dem Jahre 1561 mit lateinischem Spruche:

» Ordine bis senas lux quaelibet exit in horas
hora sed in curas crescere quaeque solet.
Wolf Hilger czu Freibergk gos mich.«
»Der Regel nach schwindet das Tageslicht binnen 12 Stunden.
In Sorgen pflegt aber jede Stunde zu wachsen!«

Es ist kein sonderlich froher Spruch, der hier auf der Stundenglocke von Pirna seine Sorgenweisheit kundgibt: Jeder Schlag dieser Sorgenglocke Ende einer Sorgenstunde? Anfang einer Sorgenstunde? – Nein, die Sorgenglocke will vor unnützen Sorgen warnen, weil auch die Sorgenstunden vergehen und auch die Sonne eines Sorgentages sich nach 12 Stunden neigen muß, so lang seine Stunden auch scheinen.

Nicht weit von Pirna, im Schlosse von Groß-Sedlitz ist eine Glocke von Michael Weinhold in Dresden erhalten mit der Inschrift: » Scias, qui audis me admetiri partes vitae. « Wisse, der du hörst, daß ich die Teile des Lebens [153] zumesse. Ein ähnlicher Gedanke ist es wie in Pirna, zum Ernste mahnend, auf die Vergänglichkeit weisend, wie so manche alte Sprüche an Sonnenuhren, z. B. » Una ex hisce morieris «. In einer von diesen (Stunden) wirst du sterben, oder noch kürzer in zwei Worten gesagt: » Una ultima «. Eine ist die Letzte.

Das Jahrhundert der Sorgen war in Deutschland vor allem das des unheilvollen Dreißigjährigen Krieges. Im Jahre 1617, ein Jahr vor Beginn des Krieges, wurde in Hennersdorf eine Glocke von Andreas Herold auf den Turm gezogen, welche den Spruch verkündete:

»Ich melde Beten an, Sturm, Feuer, Leuchen, Pracht
Andreas Herold mich hat gemacht. 1617.«

Ist es nicht wie ein Sturmsignal, wie eine düstere Prophezeiung der kommenden Not und Drangsale? Wenige Jahre nach Beginn des Krieges, 1621, klingt ergreifend der Glockenton von Röhrsdorf bei Pirna über die Dächer ins Land hinaus als Gebetsruf zum Himmel sich schwingend:

Da pacem domine in diebus nostris
Jo. Hilliger F. anno MDCXXI.
»Herr gib Frieden in unseren Tagen!«

Die Glocke von Lauter aus jenen schweren Zeiten, von Gabriel und Zacharias Hilliger gegossen, weist aus dem Elend der Zeit auf die künftige Herrlichkeit, im sinnigen Wortspiele den Namen des Ortes in den Spruch aufnehmend:

» Lauter Freud und Herrlichkeit
Ist den Frommen dort bereit.«

Das Jenseits als Ort der Zuflucht aus der Not des täglichen Lebens.

Das Glockengießen mag bald in jener Leidenszeit aufgehört haben und die Stückgießerei mehr Anklang gefunden [154] haben, ganz wie in unseren schweren Weltkriegstagen. Mit Tausenden von Dörfern und Kirchen, die in Asche sanken, schmolzen Glocken dahin, um nie wieder zum klingenden Leben zu erwachen. Viele mögen auch zu Geschützen geworden sein! Und wo noch Glocken in Dörfern auf den Türmen hingen, da schwiegen sie, um nicht den Feind, der wie Wolfsrudel durch das Land strich, herbeizurufen, und wenn eine Glockenstimme klang, dann kündete sie Sturm, Mord, Brand, Elend und Tod. Neue Glocken aus dieser Zeit sind kaum vorhanden. Sie hätten ja nur eine Stimme für Klagerufe, eine Stimme mit Tränen haben können. In Lichtenberg bei Freiberg hängt auf dem Turme eine Glocke von Gabriel Hilliger aus dem Jahre 1648, dem Endjahre des großen Krieges, als seine stürmischen Wogen sich schon sänftigten. Sie trägt Hilligers Wappen und die Umschrift: » Si deus pro nobis quis contra. anno 1648. « Ist Gott für uns, wer wider uns! Man spürt aus diesem Wort, wie neue Hoffnung und neues Leben mit starkem Gottvertrauen sich regt, und doch ein gewisser kriegerischer Unterton noch mitklingt, voller Luthertrotz. Die Kriegszeit stand noch zu frisch vor Augen und Erinnerung und schwingt noch mit im Glockenklang.

Fünf Jahre später, 1653, wird in Niederpretzschendorf eine Glocke desselben Gabriel Hilliger aufgehängt. Die weiß nichts mehr von den Kriegsnöten zu berichten.

Libe Gott sag ich Lob, Preis und Dank
Mein Klang dich rufft zum Kirchengang.
Gabriel Hilliger zu Freibergk goß mich.
1653.

Wie das Läuten zum Sommertag einer behaglichen, friedlichen, ländlichen Gemeinde scheint dieser Spruch dahinzuwallen über satte, saubere Höfe, über wogende Felder, [155] über rauschenden Wald. Dieser Spruch wäre zehn oder zwanzig Jahre früher wohl kaum auf einer neuen Glocke denkbar gewesen.

Das Leben nach dem großen Kriege mag freilich oft noch übergesprudelt sein, und die leere Kirche mag manchem Pfarrherrn Gewissensnöte gebracht haben, wenn die räudigen Schäflein seitab getrabt waren. Ist es zu verwundern, wenn der Pfarrer von Markersbach sich 1660 bei Gabriel Hilliger eine Glocke bestellt mit dem lateinischen Hexameter: » Campana vult populum sonans ad sacra venire «. Die klingende Glocke will, daß das Volk zur Kirche komme. Es ist freilich nicht überliefert, ob die Markersbacher diesem Notruf ihres Pfarrers und ihrer Glocke besser gefolgt sind als zuvor. Auch heute noch klingt ihre mahnende und rufende Stimme über Dach und Dorf.

Noch zwei Glocken aus dem Jahrhundert des großen Krieges sollen uns ihre Weisheit künden: Die große Glocke von Kreischa aus dem Jahre 1672, von Herold gegossen, ruft uns ein musikalisch Gleichnis und Mahnung zu, aus welcher auch ein gewisser Stolz des Gießers auf sein Werk mitklingt: »Gleichwie die Glocken fein zusammenstimmen, also soll auch unser Leben mit Gottes Wort übereinstimmen und ein feine Harmoniam mit demselben machen.« Nichts von Krieg und Sorgen und Nöten, alles Stimmung und Harmonie, als ob man in ein freundliches altes Pfarrhaus schaut, wo Friede wohnt und gespendet wird und alle bitteren Gegensätze sich aufzulösen scheinen, wo ein milder, musikliebender Pfarrer in stiller Studierstube sich dieses zarte Mahnwort für seine neue Glocke erdenkt – und doch sieht das Leben so ganz anders aus; nicht die Harmonien, sondern die Dissonanzen sind darin so oft bestimmend und wirksam und machen die Menschen so oft elend! –

[156]

Die andere Glocke in Gersdorf bei Döbeln von 1696 kennt das Leben besser. Im Westen verheerten schon wieder französische Mordbrennerbanden das Land und im Süden bebten die Völker vor der neuen Türkengefahr. Ihr Spruch lautet:

1696 Goß mich Johann Jakob Hoffmann von Halle.
»Zum Gottesdienst ich rufe zur Freud und auch zum Leid.
Ach Gott behüt für Feind und Feuers Noth Allzeit.«

Das ist schon wieder der Notschrei, wie er so oft durch unser deutsches Land erklang und von den Türmen ins Land hinausrief, und der wie ein bitteres Wehe durch unser deutsches Schicksal klagt!

Der Notschrei klingt auch aus der Stimme der kleinen Glocke von Oberwiesa aus dem folgenden Jahrhundert:

»O Got las dir befohlen sein die Glocke und auch die Kirche dein.

Soli Deo gloria anno 1708 «

Der nordische Krieg mit dem kühnen Schwedenkönig Karl XII. hatte seine blutigen Schatten bis ins Sachsenland geworfen. Vielleicht war die Glocke der schwererrungene Ersatz für eine im Dreißigjährigen Kriege verlorene. Ein volles Jahr lang, bis kurz ehe sie gegossen wurde, hatte ein großes Schwedenheer im unglücklichen Sachsenlande gelegen und nicht weniger als 23 Millionen Taler, ungerechnet die Naturallieferungen herausgepreßt, sodaß unter diesem Drucke und unter der ungeheuren Steuerlast, welche die teuere Hofhaltung August des Starken und seine Leidenschaften erforderten, die Bauern kaum den notdürftigsten Lebensunterhalt hatten. Die Zeiten des großen Krieges schienen wiedergekehrt zu sein. Da wurde jedes Glockenläuten schon von selbst ein Angstruf um Schutz für die Glocke und Kirche und damit für die ganze Gemeinde, [157] und wurde ihr Spruch so recht ein Ausdruck seiner Zeit und ihrer Not und ganz besonderen Seelenstimmung.

Wenige Jahre später, im Jahre 1712, ließ in Crandorf eine Glocke von Michael Weinhold zum ersten Male ihren ehernen Klang über die Dächer dahinschallen mit lateinischen Worten: » ignes festa. deum, stata tempora, funera, plebem, nuncio, honoro, cano, denoto, ploro, voco. « »Feuer, Feste, Gott, bestimmte Zeiten, Begräbnisse, das Volk, melde ich, ehre ich, lobsinge ich, bezeichne ich, beklage ich, rufe ich.« Man hört es aus diesem Spruche schon, daß die Zeiten ruhiger geworden sind, daß ein lateinsicherer Pfarrer sich heiß um diesen etwas holperigen lateinischen Vers bemüht hat und gewiß sehr stolz auf ihn war. Wie viele aber seiner Schäflein verstanden haben, was er in gut Deutsch hätte sagen können, das mag ihn nicht sonderlich berührt haben. Er kannte wohl seine Leute! Der feierliche Klang der fremden Worte macht ja unverstanden oft tieferen Eindruck von geheimnisvoller Kraft auf schlichte Gemüter als einfaches Deutsch. Man denke an Zauberformeln u. dgl., deren Wunderkräfte meist nur in ihrer Unverstandenheit und dem daraus entstehenden blinden Glauben an ihre Gewalt beruhen. Immerhin ist es bei diesem Glockenspruche bezeichnend, daß ignes , die Feuersbrunst, und ihre Meldung als erste Aufgabe der Glocke an der Spitze steht. Es mag doch nicht so ganz selten der Feuerruf nötig gewesen sein.

Wem klingen dabei nicht Schillers wundervolle Verse durch Herz und Ohr, in denen er die Feuersbrunst schildert und die Glocke als ihre Künderin: »Hört ihrs wimmern hoch vom Turm? Das ist Sturm!« Wer denkt nicht an den Spruch dieser unsterblichsten, ja ewigen Glocke: » Vivos [158] voco. Mortuos plango. Fulgura frango «? »Die Lebendigen rufe ich, die Toten beklage ich, die Blitze breche ich«?

Dieser weltbekannte Glockenspruch Schillers findet sich fast wörtlich auf einer Glocke in Reinhardtsgrimma aus dem 15. Jahrhundert: » vivos voco, fulgura frango, defunctos plango «. Ob der Dichter diesen Spruch gekannt und von dieser Glocke die Worte entnommen hat, welche er seinem unsterblichen Gedichte vorangestellt? –

Daß die Metallmassen der Glocken einen Einfluß auf elektrische Spannungen, d. h. die Blitzgefahr, haben und ihr Unheil abzuwenden vermögen, ist eine Beobachtung und Erkenntnis, welche man im 15. Jahrhundert nicht vermutet. Erst in Schillers Tagen ist ja durch Benjamin Franklin durch die Erfindung des Blitzableiters diese Wirkung des Metalls technisch ausgenutzt worden, und unsere Zeit erst faßt wieder alle Metallmassen an Dach und Haus zum gesammelten, geschlossenen Blitzschutz zusammen, ein Gedanke, der im Kerne schon im Glockenspruche von Reinhardtsgrimma aus dem 15. Jahrhundert liegt.

Doch kehren wir nun zur Gießhütte der Hilliger in Freiberg zurück. Nicht bloß zahlreiche vielgerühmte Glocken mit trefflichem Klang und Spruch und von schöner Form gingen daraus hervor, sondern auch die köstlichen messingenen und bronzenen Grabplatten in der kurfürstlichen Grabkapelle am Dome zu Freiberg, diesem herrlichen Mausoleum sächsischer Kunst und Geschichte, und so manche Platte hie und da im weiten deutschen Reich, die Stolz und Zierde ihrer Stätte ist. Aus ihrer Hütte stammen auch zahlreiche figurengeschmückte, künstlerisch durchgebildete Kanonen in reichen Renaissanceformen. Auch bei diesen Geschützrohren zeigt sich die Lust am Sinnbild und Sinnspruch, am derben Witz und kräftigen, treffenden Reimspiel. Wie während [159] des Krieges die 42 cm -Mörser den Namen »Dicke Bertha« führten, so trug in jenen Zeiten jedes Geschütz seinen Namen, der durch den künstlerischen Schmuck und Denkspruch erklärt wird.

Aus der großen Reihe dieser Werke des Freiberger Gießergeschlechtes seien nur einige ihrer Sprüche wegen hervorgehoben. Diese Sprüche sind ausnahmslos deutsch und manchmal in recht grober, ungefüger Sprache verfaßt, wie sie vielleicht zum rauhen Handwerk und den groben Stücken am besten stimmte.

Der »Rautenkranz« vom Jahre 1557 war verziert mit Wappen und einem Rautengewinde, das sich spiralförmig um das Rohr legte. Sein Sinnspruch lautete:

»Ich bin genant der Rawtenkrantz,
mein Feind ich bin ein bitter Tranc.«

Der »Wilde Mann« trug als Schmuck zwei kniende, sich packende wilde Männer mit den sich kreuzenden Kurschwertern und den Spruch:

»Halt fest, wilder Man
Was dw hast, las nicht gan.«

Die »Sachsenländerin« mit dem Spruche:

»Ich heis die Sachsenlenderin.
Wenn du meinst ich sei weit von dan,
so bin ich bei dir dinne«

Das »Krokodil« von 1574 verschoß Kugeln von 42 Pfund Eisen und brüllte ins Feld seinen Spruch:

»Churfürst Augustus lies uns nennen
Die Crocodyl. Man wird uns kennen
In gantz Europa. Wo wir krachen
Muß man uns Thür und Thor aufmachen.«

Namen von Tieren waren besonders beliebt.

Das »Rhinozeros« trägt den schönen sinnigen Spruch:

[160]

»Renocerus thv mich nennen,
thvren vnd mavren ich thv trennen.«

Der »Wolf« oder »Isegrimm« mit einem Schaf im Rachen dargestellt, ruft drohend den Spruch:

»Her Eisegrei bin ich genant
ich werf nider Maver und Wandt.«

Die »Sirene« vom Jahre 1635 trägt den in den ersten beiden Zeilen ganz neuzeitlich klingenden Spruch:

»Dem Vaterland zv Schvtz
Dessen Feinden zvm Trvtz
Seind wir Sirenen Nvtz.«

Eine metallene Feldschlange von 1538, die auf dem Donatsturm stand, wurde, wie die Beschreibung sagt, geschmückt »mit einem › Cupido ‹, der mit seinem Pfeil auf einen vor sich auf dem Bauch liegenden geflügelten Knaben nach dem Hintern zielet«, ferner mit einer »nackenden Weibes-Person, spielt auf einer Violine ›ich bi de fitlerines‹«. Die Melodie, welche diese fitlerine vom Donatsturme hören ließ, mag oft nicht angenehm geklungen haben.

Der »Drache« vom Jahre 1637 droht mit folgendem Spruch:

»Ich bin auch als der Trachn
Spei Feier und Hagel aus mein Rachn
All mein Feinde toth zu machn.«

Und der »Drache« von 1573:

»Der Drach ists Teufels Bursgesel,
Bringt manchen blutig fur die Hell.«

Der »Bär« von 1607 warnt seine Feinde:

»Christian der Ander hat befohln
Uns Behrn zu gissen das wir soln
Sein Feind verfolgen mit Gewalt.
Hut dich. Mit Sachsen Fride halt.«

[161]

Der »Staar« vom Jahre 1572 läßt seine Stimme wie folgt vernehmen:

»Ich heis der Sprenclige Schwarze Staar
Mit dem Ich Red: Der Wirts Gewahr«

und der »Kauz« vom Jahre 1572 ruft mit derbem Humor:

»Ich bin genant der kleine Kauz
Hau manchem sehr hart vor die Schnauz.«

Solche kräftige Sprache gehört wirklich zum groben Geschütz! Ein artiger Zufall ist es, daß 1914 eine im Gebrauch befindliche französische Bronzekanone aus dem 17. Jahrhundert erbeutet und im Lichthofe des Berliner Zeughauses ausgestellt war, in welche nachträglich die Züge eingearbeitet sind. Sie ist mit schöner Renaissanceform und Zierrat geschmückt und führt den Namen: » L’Hirondelle «, »Die Schwalbe«! Ihr Spruch lautet:

» Ultima ratio regis. «

Es zeigt sich im Gegensatz zu den vorigen Kanonen darin der Unterschied des deutschen und französischen Geistes: Der Deutsche bringt Spruch, Namen und Sinnbild und den Zweck des Geschützes in einen inneren geistigen Zusammenhang und zu kräftigem Ausdruck, er sucht in jedem Ding den tiefen inneren Sinn. Der welsche Geist ist mit dem schönen Namen und der Form zufrieden, der sinnige Zusammenhang ist ihm gleichgültig. Daß »Die Schwalbe« des alten französischen Königs der Bote für die Grüße der uns feindlichen Republik war und als ultima ratio regis von den Feldgrauen des deutschen Kaisers eingefangen wurde, das war ein besonders sinniges Spiel des Schicksals.

Diesen echt deutschen Zusammenhang zwischen Namen, Spruch, Bild und innerer Bedeutung kann man auch an den deutschen Wappensprüchen kennenlernen. Auch hier [162] hatten die alten Freiberger Bürgergeschlechter ihre eigenartige Prägung gefunden.

So zeigt das Wappen des alten Bürgermeisters Lorenz Fleischer, † 1584, einen Mann mit Fleischerbeil und mit gewissem Bürgerstolz den Spruch:

»Es sind nicht alle Fleischhacker,
Die das Fleischbeil tragen so wacker.
Es steckt offt was darhinter mehr
Jedoch haben Handwerge auch ihr Ehr.«

Seine Gattin war eine Tochter des alten Geschlechtes der Alnpeck, das einen Adlerkopf auf schwarzem Grund im Wappen führte mit dem Spruch:

»Hoho, du werther Geyers-halß
Frisch dran und thu ja fressen allß
Was falsch und übermutigk ist,
Bestreidt meine Feind zu aller Frist.«

Das Wappen des wackeren Bürgers Lorentz Beyer führt einen Turm im roten Feld und den Spruch:

»Wer Gott dem Herrn vertrauet fest,
Thut besser, alß der sich verleßt
Auf Thurm, oder ander gewaldt
So oftmals betreugt mannigfalt.«
Darunter: » Nomen domini turris fortissima. «
»Der Name des Herrn ist der stärkste Turm.«

Klingt dieser Wappenspruch nicht wie Luthers machtvolles »Eine feste Burg ist unser Gott!«, das im Felde und daheim so oft seine alte, eherne und Erz in Blut und Herzen strömende Kraft bewiesen hat?!

Wie die wahren überwindenden Kräfte nicht in äußeren, materiellen Dingen liegen, sondern im tiefsten Urgrund der Seele wurzeln und von dort wirken und wachsen und Werte schaffen, das sagen uns noch andere Sprüche.

[163]

An der alten Ochsenbastion in Görlitz, welche unmittelbar an der Neiße liegt, als ein wuchtiger, malerischer Rest der alten Befestigung, steht ein lateinisches Wort aus dem Jahre 1530: » Civitatem melius tutatur amor civium quae alta propugnacula «. »Eine Stadt schützt besser die Liebe der Bürger als hohe Bollwerke.«

Auf einem der ältesten Freiberger Stadtpläne wird das Stadtbild unter einen ähnlichen Gedanken gestellt: » Urbis salus est civium concordia «. »Das Heil der Stadt ist die Eintracht der Bürger«. Es wird damit hingewiesen auf die ruhmvolle Verteidigung gegen die Schweden, wo sich die Wahrheit dieses Satzes so herrlich erwies. Und doch wieder klingt mit ernstem Glockenton dazwischen die Warnung vor zu stolzem Selbstvertrauen: An der Stundenglocke im Dachreiter des Domes zu Freiberg steht im Erz der Spruch von 1540: » Nisi dominus custodierit civitatem, frustra vigilat qui custodierit eam. « »Wenn der Herr nicht die Stadt behütet, so wachen ihre Wächter umsonst.« Vaterlandsliebe und Gottvertrauen werden in diesen Sprüchen als starke Wehr und Waffen gepriesen. Sie sagen uns das, was Fichte in schwerer Zeit seiner deutschen Nation zugerufen und was auch heute noch gilt: »Nicht die Gewalt der Arme, noch die Tüchtigkeit der Waffen, sondern die Kraft des Gemüts ist es, welche Siege erkämpft.« Wir sind zwar waffenlos, aber nicht wehrlos, nicht ehrlos, nicht sieglos, wenn diese Gemütskräfte unser Volk zusammenschließen zur Einheit und Tat.

Auch unseren Tagen, unserem Volksleben, unserer Kunst täte es not, nach dem Beispiel unserer Väter in kraftvollem Wort, Sinnbild oder Spruch an Haus und Gerät die Erinnerung an Männer und Taten und große Ereignisse zu pflegen und den Geist und das Herz zu stählen, wie es einst [164] die Männer des Reformationszeitalters taten, denen die Buchstaben V. D. M. I. AE. am Tore des Hauses ein Bekenntnis und ein Schwur, ein Halt und eine Tat war und bedeutete. In kernigem, gehaltreichem Sinnspruch oder tiefdeutigem Segenswunsch, mitten im flutenden, wirbelnden Strom des Lebens und der Arbeit, je nach Ort und Art und Zweck in künstlerischer Form soll diese alte schöne deutsche Sitte mehr und mehr lebendig werden und wirken.

Das alte ehrwürdige Rathaus, das so viel Freud und Leid gesehen, so viel Sturm und Drang erlebt hat, in dem so viel starke, tapfere, treue Herzen geschlagen haben, trägt mancherlei Sprüche, die auf seine Bestimmung hinweisen und den, der eines Amtes dort zu walten hat, mahnen und lehren und die besten Kräfte des Gemütes wecken wollen. Von dem neuen Eingang an der Burgstraße klingt jedem Vorübergehenden, jedem Eintretenden das Wort entgegen:

»Du bist ein Nichts im Ganzen,
wenn du ihm nicht dienst!«

Ein Führer im Wirtschaftsleben hat dieses Wort für falsch erklärt, weil der Zeitgeist jetzt umgekehrt sage: »Das Ganze ist mir ein Nichts, Wenn es mir nicht dient!« Ehe dieser Geist nicht überwunden ist und der echte Spruch nicht wahre Geltung gewinnt, kann nichts Ganzes sich bei uns gestalten. Hat der Mann Recht? –

Diese ernste Mahnung, die unsrer Zeit so besonders not tut, tönt auch vom neuen Torbogen am alten Donatsturm ins Straßenleben hinein mit den Worten:

»Gemeinwohl geht über dein Wohl!«

und mit dem anderen Spruche:

»Eintracht bricht Not, Zwietracht bringt Tod!«

Im Rathause selbst ist im Ratszimmer eine alte quadratische Tafel von 30 cm Seitenlänge mit vergoldetem [165] Barockrahmen und Stadtwappen geziert erhalten, welche aus der alten Gerichtsstube stammt und in schöner Reliefschrift in lateinischen Großbuchstaben sich mahnend an die Ratsherrn, die ja zugleich Richter waren, wendet:

Quiquis senator officii causa curiam ingrederis, ante hoc ostium privatos affectus omnes abiicito: Iram, vim, odium, amicitiam, adulationem, reipublicae personam et curam subiicito. Nam ut aliis aequus aut iniquus fueris, itaquoque iudicium dei expectabis et sustinebis.

Der Chronist Andreas Möller nennt diese Tafel bereits in seinem Theatrum Freibergense von 1653 und übersetzt die auch im Rathaus zu Regensburg befindliche Inschrift:

»Ein jeder, der als ein Raths Herr Amptwegen auffs Rath Hauß gehet, lege für dieser Thür ab alte Privat Affecten , als da sind der Zorn, Gewalt, Haß, Freundschafft, Schmeuchlerey etc. und unterwerffe seine Person und Sorge dem Gemeinen besten. Denn wie er gegen andere der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit sich befleissigen wird, also hat er auch das Gericht Gottes zu gewarten und außzustehen.«

Dieselbe Mahnung zur Gerechtigkeit finden wir auch auf einer anderen Tafel, welche über dem Eingang zum Ratszimmer hängt und mit goldener Schrift auf schwarzem Grunde die schönen Renaissanceformen ihrer Ursprungszeit 1582 zeigt:

Gleich und Recht theil mit menniglich
Und nicht nach Gunst das Urtheil bieg.
Den Armen hör, sein notturft betracht
So wirst du von Gott und der Welt geacht.
Denn wo du helst unrecht Gericht
Wirds dir Gott widerumb schenken nicht.
1582 Peter Zorn.

[166]

Die älteste Inschrift im Rathause jedoch ist der Spruch über der gotischen Spitzbogentür, welche in den jetzigen Stadtverordnetensaal, die frühere Rats- und Gerichtsstube, führt. In diesem Raum wurde dem mächtigen Kunz von Kaufungen das Todesurteil im Juli 1445 gesprochen. Die Inschrift mag aus dem Jahre 1416 stammen, als die Ratssitzungen in diesem neuentstandenen Raume aufgenommen wurden, und lautet:

»Auch sol eyn ytzlicher zcüchtigen seynn wort, der hyrinne zcu schicken hat.« Es fehlt der erste Teil des Spruches, den Möller überliefert mit dem bekannten Satze:

Halb ist eynes manes Rede
Darumb soll man hören beede.

Das sind goldene Worte für alle Stätten und Stellen, wo man zu rechten, zu raten und zu taten hat: Sein Wort züchtigen, d. h. in Zucht zu halten, ist eine passende Mahnung auch für die jetzige Bestimmung des Saales, für die Stadtverordnetensitzungen.

An Sprüchen und Schildereien hatten die alten Freiberger viel Freude, und manches Sprüchlein auch im Rathause ist längst dahingeschwunden. So stand mit feinem Humor über einem Schreiberstüblein, in dem auch »etliche besondere Acta ordentlichen verwahret« wurden, der Satz: » Nunquam recte regetur Respublica nisi ordine regatur. « Niemals wird ein Staat richtig regiert werden, wenn er nicht durch Ordnung regiert wird. Wie mögen die in der Kopistenstube regierenden Schreiberlein da Ordnung in ihrem Aktenstaate gehalten haben! –

Der obere Rathaussaal war im Mittelalter zugleich die Rüstkammer, in der die Armbrüste, lederne Schilde und andere Waffen hingen.

[167]

Es waren dies die Waffen gegen äußere Feinde, welche stets zur Hand und gebrauchsfertig sein mußten.

Im unteren Rathausflur hingen die Waffen gegen einen anderen grimmigen Feind, der öfter die Stadt zerstörte und vielen einzelnen Bürgern schweren Schaden zufügte, das Feuer. Zu Hunderten hingen Feuereimer aus Leder an der schweren Balkendecke, viele mit Zeichen und Malereien oder Verschen geschmückt. Aus dem Spittel wird uns solch Feuereimerverslein überliefert:

»Im Fall der Noth, da Gott vor sei,
muß jeder haben ihrer zwei
oder einen rechten großen.«

Daß auch in neuerer Zeit die Freude an Spruch und Reim nicht ganz erstorben ist und hie und da auch heute noch am Haus oder Tür ihren Ausdruck findet, ist nur zu begrüßen. Wer mag sich nicht freuen über die sinnigen, fein empfundenen Verse, die über einer Gartenpforte stehen, die man als Inschrift über jede Kleingartenanlage setzen könnte:

»Mein Garten dünkt mich kindisch klein,
Schau ich nur von ohngefähr hinein;
Doch fang ich an, ihn umzugraben,
Mein’ ich ein Königreich zu haben.«

Von der Türe zum stillen Reiche derer, die müde geworden von der Arbeit des Lebens, Feierabend machen durften, vom Haupteingange des Johannishospitals grüßt das Wort der Jünger von Emmaus:

»Herr bleibe bei uns, denn es will Abend werden.«

und von der Tür des Siechenhauses, vom Bartholomäushospital tröstet den matten Erdenpilger, der hier seine letzte Zuflucht und Pflege sucht, der Spruch:

»Ich will euch tragen bis ins Alter, bis daß ihr grau werdet.«

[168]

Das Gedächtnis des Weltkrieges aus einer Zeit, da die deutsche Kraft innen und außen, die deutschen Waffen noch unüberwindlich schienen, bewahrt der Neubau der alten Kreuzmühle.

Nicht lange vor dem Kriege ging der alte malerische, von wildem Wein dicht umsponnene Bau mit dem mächtigen Mansardendach in Flammen auf und wurde 1914 bis 1915 in verwandter Form dem neuen Wohnzwecke angepaßt, nach meinen Plänen wieder aufgebaut. Eine Schrifttafel über der Haustür und ein wuchtiges Schwert mit Lorbeer und den Jahreszahlen 1914–1915 als Sinnbild neben der Haustür geben der Stimmung der Zeit Ausdruck und sind damit ein Hauszeichen und Zeitdenkmal von besonderem Werte und Eigenart geworden, das sicher unseren Enkeln und Urenkeln viel zu sagen hat und besonders ehrwürdig sein wird. Der Hausspruch, in schönen deutschen Buchstaben in Marmor gehauen, lautet:

»Das alte Haus in Flammen stand
Kurz vor dem großen Weltenbrand,
Da deutsche Art und deutsches Schwert
In Not und Tod sich neu bewährt.
Das neue ward im Krieg geschaffen,
Gott segne Dach und Volk und Waffen!«

Sinnend schauen wir zur grünumrankten Tafel hinauf und auf das lorbeergeschmückte Schwert und denken daran, wie es war, wie es wurde und was noch werden mag. Auch unser alter Reichsbau ging in Flammen auf. Das neue Dach, das neue Haus ward im Krieg geschaffen und wird von Stürmen umtobt, von Feinden bedroht: »Gott segne Dach und Volk und Waffen!« Ja, auch die Waffen! – –

Worin soll die Spruchweisheit unsrer Tage bestehen? [169] Nicht in lockerem Scherz und leichten Reimen! Ausdruck der Zeit ist not. Heute liegt uns vor allem die Not des Vaterlandes, die Not der Heimat, das deutsche Leid am Herzen, das auch unser eigen Leid und Not ist. Wir spüren den inneren Zwang, in unserer eigenen Seele und in der Seele unseres Volkes und aller einzelnen Volksgenossen neue lautere Ströme der Kraft zu gewinnen, um rein und stark, fest und unüberwindlich zu werden im schweren Druck, in aller Kampfesnot des täglichen Lebens, in aller Sorge und Friedlosigkeit innen und außen. »Not brach Eisen, Eisen breche Not« steht auf dem Gefallenengedächtnismal des Jäger-Bataillons 12 und Infanterie-Regiments 182 in Freiberg. Eisen, nicht Gold braucht unser Volk, um seine Not zu überwinden. Gold macht schwach, Eisen macht stark, macht stark die Seele und den Willen, Gold bringt Not, Eisen bricht Not! Gold macht gemein, Eisen macht rein!

Der alte deutsche Trotz, wie er durch unsere alten und neuen Heldenlieder klingt, der auf sich selber steht auch gegen die ganze feindliche Welt, und doch ein Kind ist, wo ihm Treue und Gerechtigkeit begegnen, muß vor allem sich wiederfinden und wiederklingen. Solche Spruchweisheit sollte keimen und wachsen wie Samenkörner, die der Wind ausstreut, daß das öde, verwüstete Land wieder grün wird, die zertretenen Fluren der deutschen Seele wieder hoffnungsvoll aufblühen.

Manches köstliche Wort ist in der Dichtkunst früherer Zeiten und unserer Tage aus der Tiefe der Heimatliebe wie schimmerndes Edelmetall zum Lichte gebracht worden. Diese Schätze müssen dem täglichen Leben nahegebracht werden und hineinstrahlen in den Alltag, der heute so dunkel und schwer geworden ist, damit sie wirken können [170] zur neuen inneren Erhebung als Ausdruck deutschen Wollens und Sollens, Wissens und Müssens.

Jedes stolze, trotzige deutsche Manneswort aus tiefer heißer Seele, das wie Schwertschlag durch die Seele geht, wie mit eiserner Pflugschar tiefe Gründe aufreißt und den Geist seiner Zeit offenbart, mag es auch vor Jahrhunderten einem starken deutschen Herzen entsprungen sein, ist geeignet zur Wiedergeburt im deutschen Sinne zu wirken und uns zu Kraft und deutschem Stolz zu wecken und zu erziehen und heute wie in späteren Tagen Zeuge und Mahner zu sein zu deutscher Art und deutschem Geist und Wesen und deutscher Tat. Wie unsere Väter ihr Wesen und ihr Wollen in Haussprüchen und Denkversen zeigten, so gilt es für uns in und nach dem Kampfe für die Heimat Heimatkultur und planmäßige Erziehung zum Deutschtum zu treiben mit allen Mitteln und Formen, um unseres Volkes beste Art zu stärken und zu stählen, sein tiefstes Wesen in Treue zu klären, zu erklären und in Schönheit zu verklären.

Wo deutsch die Steine reden und deutsche Art uns künden, muß deutsches Wesen und deutscher Geist wie Felsen fest im Heimatgrunde stehen und stark allen Stürmen und Wettern trotzen! Aus heiliger Saat steigt die kommende, die stahlblanke Zeit:

Deutschland muß leben und wenn wir sterben müssen!

[171]

Im Freiberger Dom.

Bist du schon einmal im Freiberger Dom gewesen und hat deine Seele Zwiesprache gehalten mit den Gedanken der Ewigkeit, die dort in Stein gebannt sind? Hat einmal dein Herz es erlauscht, und ist es dir tief in dein Inneres gedrungen, daß hier nicht ein totes, steinernes Gefüge seine Blöcke zu Säulen und Wänden türmt und seine Gewölbe in kunstvollen Rippen und Kappen schließt, sondern daß das Ganze ein beseeltes Wesen ist, welches gewachsen ist, sich entwickelt zu einem höheren Dasein und lebt? In welchem Gedanken wirken und weben, schwingen und klingen, die aus dem tiefsten Innern des Volkes geboren, sich emporgerungen haben als Ausdruck der Sehnsucht und des Sinnens, wägender Weisheit, wähnenden Wollens und Waltens, ahnenden Schauens der Volksseele selbst? Komm mit mir und lausche, was die alten Wände raunen: Heimat, Heimat wird dich segnen und reich machen, erheben über die Zerrissenheit, Leere und Armut dieser Zeit, wird dich lohnen mit dem heiligen Gefühl des Heimatstolzes, daß was aus echt deutscher Seele geboren ist, unsterblich, unzerstörbar, ewig ist, weil es Keime immer neuen Werdens trägt, Keime der Auferstehung und des Emporringens aus der Tiefe zum Licht, zu heiliger Frucht, die wieder Samen streut auf Hoffnung und auf Erfüllung verheißende Zukunft!

[172]

Wir wollen heute nicht vor der goldenen Pforte, diesem Wunderwerke der Kunst aus der ersten Blütezeit der Stadt verweilen, sondern uns still an die Stufen des Altars setzen und schauen und hören, was an Stimmen und Stimmungen in uns und um uns laut und leise klingend wird, was aus fernen Tagen und Taten lebendig wird und Gestalt gewinnt. –

Leise singt die Orgel, sanft mit weichen Stimmen als streichele dir liebe Kinderhand die Sorgenstirne und nähme dir alles, was dich niederzieht, von der Seele und trüge dich weg von allem, was da draußen so grau und zwieträchtig dein Herz bedrängte. Dann braust sie gewaltiger empor mit mächtigem Klange jubelnd und jauchzend. Der ganze Raum wird ein himmelstürmender Jubel von eherner Wucht und unendlicher Reinheit und Schönheit, in dem deine Seele ergriffen und emporgerissen wird über Zeit und Ort als hätte sie Flügel, im Sturme zu eilen, zu schweben über Welten und Zeiten in strahlender Klarheit sieghaften Lichtes, Klarblick zu gewinnen über Weltweiten und Wesen der Dinge. Die schlanken Säulen scheinen zu beben als wollten sie sich lösen und emporwachsen und aufblühen zu höherer Schönheit. Die Kappen der reichen Gewölbe mit ihren Rippen, die wie die Maschen eines kunstvollen Netzes sich verschlingen, erzittern, als wollten sie zum Leben erwachen wie ein singender, klingender Vogel, der seine Fittiche spannt der Sonne entgegen.

Und auf den Wogen der Töne, die dahin quellen und schwellen, in wallender Flut sich drängen, überstürzen, eilen, sich suchen und fliehen und dann voll und breit dahinströmen, da kommen herbei die Gestalten, welche im Laufe der Jahrhunderte ihre Not und ihr Leid, ihre Freude und Hoffnung, ihre Sorgen und Pläne, ihre Schmerzen und ihr [173] Lieben an diesen heiligen Ort getragen. Unendlich unübersehbar ist die Schar. Ihrer aller Seele Sehnen suchte einst an dieser Stätte Frieden und Erfüllung und hat ihr eine unsichtbare Weihe gegeben, die Weihe, welche nur das höchste Denken und tiefste Fühlen inniger Gemeinschaft vor tiefsten Rätselfragen suchender Seelen zahlloser Geschlechter geben kann.


Was kommt dort für eine Büßerschar? Mit nackten Füßen paarweise mit zerrissenen Gewändern, die den nackten Körper nur wenig verhüllen, einen offenen roten spanischen Mantel mit Kreuzen an Hüten und Kleidern vorn und hinten tragend? Geißler sind es, auf der Wallfahrt zur schönen Marie von Freiberg, jenem wundertätigen, lebensgroßen Marienbilde von Wachs, um hier ihrer Sünden und ihrer Schmerzen ledig zu werden. Schaurig klingen ihre Bußgesänge, die sie singen, um die Pest zu bannen, und klatschend fallen auf den nackten Körper die Geißelhiebe, unter denen aus blutigen Striemen die roten Tropfen spritzen. Doch wende ab den Blick vom traurigen Zuge. Dort schreiten gar würdige Gestalten einher. Die Männer der Freiberger Treue, an ihrer Spitze der Bürgermeister Nikolaus Weller von Molsdorf und neben ihm Nikolaus Monhaupt und die Ratsherren, welche anno 1446 im sächsischen Bruderkrieg einst auf offenem Markte im Sterbehemd lieber ihr Haupt dem Richtschwerte boten als den Schwur der Treue ihrem Herrn brachen: »Wir sind dessen entschlossen, daß wir lieber, wenn es je anders nicht sein könnte, den Tod erwählen und sterben, denn unsere Treu und Seelen also hintan setzen wollen.« »Ehe ich soll meinen gnädigen Fürsten und Herrn, deme ich gehuldet und geschworen, verraten, lieber soll und [174] will ich mir jetzund alsbald meinen alten grauen Kopf abhauen lassen«, so klangen fest ihre Worte dem grimmigen Feinde ins trotzige Gesicht und überwanden ihn durch die adlige Kraft unbeugsamer Treue. »Nicht Kopf weg, Alter, nicht Kopf weg, wir bedürfen solcher ehrlichen Leute ferner, die ihr Eid und Pflicht also beherzigen«, war die Antwort des feindlichen, ritterlich denkenden Fürsten und dazu die Versicherung, nichts gegen Eid und Gewissen zu verlangen. So wahrten sie durch todesmutige Treue ihre Ehre und die Wohlfahrt der Stadt. Weller von Molsdorf, ihr Führer und Sprecher, war der Erbauer des Rathausturmes, den er der Stadt zum Geschenk machte, und sein Wappen, zwei Schwanenhälse, die einen Ring im Schnabel tragen, ziert in Stein gehauen noch heute die wundervolle gotische Lorenzkapelle im Turme mit ihrem schönen, reichen Portale. Wer hatte wohl mehr Recht als er in seinem Wappen das Symbol der Treue, den Ring, zu führen und das Wappen an heiliger Stelle anzubringen?

Nikolaus Monhaupt dort neben ihm war ein treuer und eifriger Sohn der Kirche. In seinem Hause auf der Petersstraße ließ er sich eine Kapelle bauen und vom Papste besonders begnaden. Herrliche gotische Sterngewölbe auf Rundpfeilern überdecken den Raum, in welchem er seine Gottesdienste hielt, diesen Raum, der später der kleinen Schar der Anhänger des Wittenberger Bruder Martinus als Zuflucht und Ort der Gemeinschaft in schwerer Zeit diente. Hier ward von ihnen das heilige Abendmahl in beiderlei Gestalt nach Luthers Lehre zum ersten Male begangen und die Herzogin Katharina, die Gemahlin Herzog Heinrichs des Frommen, die treue Bekennerin, mag heimlich zu dieser Feier in der Gemeinschaft ihrer Glaubensfreunde geschlüpft sein und neue Kraft und Erhebung [175] gesucht haben. Noch heute erinnert die steinerne Tafel am Hause an diesen Tag. Schon vor dem Bau dieser Kapelle hatte Monhaupt seine Frömmigkeit bewiesen durch die Stiftung einer steinernen, farbig bemalten Figur der Gottesmutter mit dem Kinde, die heute noch in der Annenkapelle am Dom mit ihrer milden Schönheit herniederschaut. Ein Englein trägt die mit seinem Wappen geschmückte Konsole, auf der so ruhevoll die Gestalt der Maria steht. Vierzig Tage Ablaß waren dem verheißen, der vor ihr ein Vaterunser und einige Ave Maria gebetet. Wieviele Tausende mögen vor ihr gekniet haben! In welche trüben Fluten von Leid und Not, von Sorge und Sünde, von Schmerzen, Tränen, Wünschen und Hoffnungen mögen ihre milden Augen geschaut haben. Wie Wallfahrtslieder klingt es uns, wie Weinen und Schluchzen zerbrochener Seelen, dann wie Jubeln und Jauchzen erfüllten Sehnens, befreiter Herzen.

Vorüber ihr Gestalten, die ihr dort drängt, ihr Fürsten und Reichen, ihr Stolzen und Frohen! Das Leid heiligt eine Stätte mehr als die Freude. Der Strom der Leidgeprüften ist breiter, ist tiefer als der Zug der Freude. Ein Weinen ging durch diese Kirche als Nikolaus Hausmann, der in ruhiger Würde dort schreitet und zur Tulpenkanzel hinüberschaut, während der Predigt vom Schlage getroffen auf dieser seiner Kanzel niedersank. Dieser Schlag traf auch das Herz der jungen Luthergemeinde mit schmerzlicher Gewalt. Die Gemeinde war durch den Eigenwillen und Übereifer des früheren Pfarrers Schenk in Angst, Not und Zwietracht versetzt worden, so daß das reine evangelische Feuer, welches hell aufgelodert war, zu erlöschen drohte. Da sandte Luther selbst seinen lieben Freund, den Superintendenten Nikolaus Hausmann, um [176] Abhilfe zu schaffen und selbst das Amt zu übernehmen, und nun? wo waren alle Hoffnungen?

Luther schloß sich in sein Zimmer ein bei der Todesnachricht und weinte bitterlich um ihn: » Quod nos docemus, ille vivit « hatte er rühmend einst von ihm gesagt: »Was wir lehren, lebt er.« Ist dieses Lutherwort nicht die herrlichste Grabpredigt, die einem treuen Seelsorger nachgerufen werden kann? Seit Hausmanns raschem Tode, am 1. September 1538 ist die Kanzel, auf der er hinsank, nicht wieder zur Predigt betreten worden. Die »Teufelskanzel« wurde sie vom Volke genannt.

Dort steht sie in ihrer bizarren Schönheit mit der sprühenden Lebendigkeit und sprudelnden Phantasie ihrer Formen und dem krausen Spiele aller Linien. Als wäre ein gewaltiger Blumenkelch emporgeblüht aus weißem, steinernen, felsigen Grunde. Aus der Wurzelrosette schießt der mittlere, palmenartige Schaft empor, der die seltsame Wunderblume auf einem Blätterkelche und Kranze von Weintrauben trägt. Lange Blütenstengel wachsen aus dem Blätterkranze am Grunde empor und sind mit Seilen zweimal an den Pflanzenschaft gebunden. Ihre Spitzen tragen große Knospen, deren Kelchblätter sich untereinander verschlingen. Schau, wie zwischen den Blütenstengeln auf Nebenblättern rings um den Schaft vier Englein sich tummeln und die Flüglein heben, als wollten sie sich haschen, im frohen Spiel rundherum springend im Kreise mit kindlichem Jubel. Der Blumenkelch oben ist von freibewegten, distelblattartigen Ranken umsponnen, wie von blühendem Steinfiligran in reichstem, zierlichen Linienspiel. Hier hat der Meister den starren Stein bezwungen mit seinem Meißel, die Ranken frei vom Untergrunde gelöst, als wären sie biegsames Edelmetall, das unter dem [177] Hammer sich schmiegt und windet, wie der Goldschmied es will, und zu höchster Feinheit und Zierlichkeit in wundersamen Formen und Linien sich bildet. Die vier Kirchenväter schauen ernst aus dem Geranke hervor, Bischof Augustinus, Papst Gregorius, Erzbischof Ambrosius und der als Kardinal dargestellte Hieronymus. Es sind die Helden des Glaubens, der Verkündigung des Wortes und des Bekenntnisses aus den Sturm- und Kampfzeiten der jungen christlichen Kirche. Edle charaktervolle Männerköpfe sind es, voll individuellen Lebens und persönlichen Ausdrucks. Sind es hier die Bildnisse edler Männer Alt-Freibergs aus jener Zeit? Fast will es uns scheinen! Geist und Wille und persönliche Bedeutung lebt in ihren Zügen und jeder einzelne ist ein selbständiges Werk ausgereifter frei schaffender Bildhauerkunst, fern von den Gebundenheiten und Starrheiten der späten gotischen Kunst, voller Eigenart und selbständigen Schöpferdranges einer aus deutschem Urgrunde heraufblühenden neuen Kunst.

Wer war der Meister? Zwei rätselhafte Buchstaben H. W. an seinem Werke verbergen seinen Namen. Es sprechen für ihn seine Werke in ihrer herben Kunst und gehaltvollen Schönheit. Dort sitzt der große namenlose Meister H. W. selbst in Stein gehauen, im schlichten Arbeitskittel bescheiden am Fuße der Kanzel neben der untersten Treppenstufe. Andächtig lauscht er empor zu den Worten der Schrift von der Kanzel. Ganz deutsch ist sein ehrliches Gesicht mit dem kurzen Vollbart, sprechend die Bewegung des Mundes, der Hände und des ganzen Körpers, so daß man es spürt, wie ihn so ganz das Wort mit Andacht erfüllt und in ihm lebendig ist. Neben ihm spielen die Engel zu seiner Rechten, sie sind das frohe, jauchzende Leben und zu seiner Linken schreiten grimmige Löwen mit [178] offenem Rachen um den Fuß der Kanzel. Sind sie die Versuchung, dunkle Leidenschaften oder die Sünde, »der Teufel«, der umhergeht wie ein brüllender Löwe, um zu suchen, wen er verschlinge? Stellt der Meister gar sich selbst nur als ein Sinnbild der andächtig lauschenden Gemeinde dar, welche unter der Kanzel alles, was aus der Andacht reißt und vom Gotteswort abzieht, draußen lassen und Gott allein dienend vergessen soll? – Die alten deutschen Künstler haben in ihren Werken die Sprache tiefer Symbolik ohne abgebrauchte symbolistische Zeichen besonders geliebt und ihre Zeit verstand die innigen Zusammenhänge dieser geheimnisvollen Sprache mit dem Leben und Wollen ihrer Tage. Das ganze Rechtsleben und kirchliche Leben war ja von Symbolen und sinnbildlichen Handlungen erfüllt, die jedem geläufig waren. Was uns zunächst vielleicht als ein willkürliches Spiel bizarrer Phantasie ohne inneren Zusammenhang erscheint, als Künstlerlaune oder Einfall ohne tiefere Bedeutung, das gewinnt in diesem Lichte vielleicht wunderbare Geschlossenheit und ist Ausdruck tiefster Gedanken, welche in jener Zeit lebten und von jedem verstanden wurden. – Das Hündchen des Meisters sitzt auf der als Baumstamm gebildeten Säule, um welche die Kanzeltreppe sich windet. Es war sicher der Liebling des Meisters, sein ständiger Begleiter und sollte auch hier bei ihm sein, und ist in köstlicher Naturwahrheit dargestellt. Bei der Arbeit ist es vielleicht einmal auf die Spille gesprungen. Der Meister hielt dies Bild fest und nun sitzt das Hündchen als das Sinnbild der Treue, als Wächter erhöht und schaut keck in die Welt. Nichts entgeht seiner Wachsamkeit und er wird eifrig melden jeden, der naht. Will er nicht auch der Gemeinde etwas sagen? »Seid wachsam, denn dunkle Gewalten und Leidenschaften [179] bedrohen ständig den Aufstieg zur Höhe?« Dieser Aufstieg ist hier durch die Kanzeltreppe dargestellt, deren Stufen auf starken Baumstämmen und Ästen ruhn. Ächzend unter der Last trägt sie eine Jünglingsgestalt auf ihrem Rücken, die rittlings auf einem Baumstumpf hockt. Er trägt schwer unter dem Joch der selbst auferlegten Last. Ist er ein Sinnbild der Menschenseele, die oft unter selbstgeschaffener Last oder schwerem Schicksal seufzt, während dies Schicksal doch nur einen Weg, Stufen zur Höhe bedeutet? Man glaubt das Stöhnen aus des Jünglings tiefster Brust zu hören, so schmerzlich verzogen ist sein Mund. Die ganze Gestalt ist so naturwahr und lebendig in Ausdruck und Bewegung geschaffen, ist so aus dem Leben unmittelbar gegriffen und dem Leben mit starker Kraft und Sicherheit nachgebildet, daß man nicht glaubt, ein Werk der sterbenden Spätgotik vor sich zu haben, sondern es fühlt, daß hier eine neue Kunst geboren ist, die Kunst einer deutschen Ur- oder Vorrenaissance aus deutschem Grunde, deutschem Fühlen voll eigenwüchsiger Selbständigkeit ohne südländisch italienische Muster. Ganz deutsch ist ja das ganze Werk, Wesen und innerer Gehalt der Kanzel mit ihrem Beiwerk, in dem der Künstler soviel erzählt und von seinem Denken und Fühlen, von der Traumwelt seiner Seele hineinlegt. Nur eines Deutschen, eines großen Künstlers suchende schöpferische Seele kann soviel geben und über die formale Schönheit hinaus die tiefe innige Welt seiner Seelengedanken in seinem Werke offenbaren, den eigentlichen geistigen Inhalt über Stoff und Form hinauszuheben. Nur ein Deutscher kann das Leben dieser Seele im Werke recht verstehen und würdigen. Die deutsche Phantasie hat diesen »hohen steinernen Predigtstuhl« daher auch mit ihren Sagenranken umsponnen, wie dort die [180] steinernen Ranken den Blumenkelch der Kanzel. Die Sage raunt, der sinnende Meister dort habe seinen jungen Gesellen erstochen, weil dieser einen besseren Entwurf zur Kanzel gefertigt und das Wunderwerk ausgeführt habe, dessen er nicht fähig gewesen wäre. So sei der Geselle als Träger des Werkes dargestellt, während der Meister klagend daneben sitzt und dem Werke des Nebenbuhlers den Rücken kehrt. –

Auf dem schwebenden Kanzeldeckel über dem Predigtstuhl sind die Zeichen der vier Evangelisten angebracht und über ihnen erhebt sich aus einem Blattkelch die rührende Gestalt der gekrönten Maria mit dem Jesuskinde. Das Kind hat eine Weintraube in der Rechten und eine saftige Beere in der Linken. Es scheint vor Freude darüber zu zappeln, so daß Maria, die sorgliche Mutter, mit der Hand fest das Füßchen faßt, damit das Knäblein in seiner jauchzenden Daseins- und Lebensfreude nicht vom Arme hüpfe. Das Ganze eine rein menschliche, liebliche Szene vom holden Mutterglück, die auf jedes Gemüt wirken muß, und doch auch hier tiefe symbolische Bedeutung, die das Werk über das rein Menschliche weit emporhebt: »Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben« und »Dieser Kelch, den ihr trinket, ist mein Blut, für euch vergossen«. Auf diese Worte deutet die Traube und die Beere in der Kinderhand hin. Das fröhliche Kind hält in seinen spielenden Händen sein schweres, gewaltiges Schicksal, seine heilige Aufgabe, das Schicksal der Welt und jeder einzelnen Seele. Über der Kanzel erhebt und schwebt das liebliche Werk als Symbol dafür, daß über jeder Predigt als Kern und Leitgedanke das Evangelium und das Wort von der Erlösungstat stehen soll. »Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium« steht in lateinischer Sprache auf der Unterseite des Kanzeldeckels [181] über dem Haupte des Predigers schwebend und mahnend.

Wie bei der goldenen Pforte ein tiefer Reichtum von symbolischen Gedanken die Fülle der Gestalten miteinander verbindet und der geistige und künstlerische Gehalt sich in wunderbarem Rhythmus zu ebenbürtiger Hoheit erhebt, zu einem Lobgesang auf die Jungfrau Maria, so ist die Tulpenkanzel eine steinerne Predigt, deren tiefer Inhalt in Verbindung mit der vollendeten Kunst die Herzen ergreifen und erheben muß. Sie steht mitten im Gotteshause, das als Predigtkirche, als freiräumige Halle mit steinernen Emporen errichtet ist, und verkörpert in sich lange vor der Reformation rein evangelische Gedanken, ein Predigtstuhl des Evangeliums inmitten der lauschenden Gemeinde, wie es seinesgleichen wohl kaum in deutschen oder fremden Landen gibt oder geschaffen ward.

Sinnend lassen wir die Kanzel auf uns wirken, suchen zu enträtseln und zu begreifen, und im Rauschen der Rhythmen der Orgel ist es uns, als bekäme sie selbst Zunge zu reden und zu hohen und weiten Gedanken zu erheben. Sie sah Fürsten und Gewaltige in ihrer Pracht und Herrlichkeit vorüberziehen, sie sah ihre sterbliche Hülle, ein Nichts, vorübertragen, Staub zu Staube werden. Die Hoffnung und der Stolz der evangelischen Christenheit, Kurfürst Moritz, der Löwe der evangelischen Sache, in der Blüte seiner Jahre von meuchlerischer Kugel hingerafft, wurde hier vorbei getragen, und düstere Pracht ehrte den toten Helden, mehr noch ehrten ihn die Tränen seines Volkes.

Es drängt die Fülle der Gesichte und Gestalten einer vergangenen Zeit und Welt, ohne deren Sein, Wesen und Wirken wir selbst ein Nichts wohl wären. Keine Gegenwart ohne Vergangenheit, und doch denkt die Gegenwart [182] so wenig der Vergangenheit, aus der sie selber stammt, zu der sie selber wird. Welche Vergangenheit war wohl furchtbarer für die Stadt, wie für Land und Reich, als die Jahre des Dreißigjährigen Krieges, als blutiger Tod, Hunger und Pest ihre grausigen Geißeln über unser unglückliches Vaterland schwangen. Wie kniet in zitternder Angst und Sorge um das armselige Leben und tägliche Brot hier das Volk auf den steinernen Platten des Fußbodens, unter denen schon viele Geschlechter schlummern, sucht Trost und Stärke im heißen Notschrei der Seele. Wie oft tobte Plünderung, Brand und Mord durch die Gassen, und Rat und Bürgermeister waren machtlos. Für Freund und Feind war die Stadt nur ein Ziel der Beutegier. Jonas Schönlebe, dessen Wappen heute noch sein Stammhaus an der Ecke des Obermarktes und der Erbischen Straße ziert, war in den schwersten Tagen Bürgermeister der Stadt. Schweres Schicksal hat er für seine Stadt auf sich genommen und erduldet: Am 29. November 1632 wurden er, der Superintendent Gensreff und der Ratskämmerer Lindener als Geiseln über das winterliche, fast weglose Gebirge durch Eis und Schnee nach Böhmen geschleppt und kehrten erst am 31. Dezember nach schwerer Drangsal glücklich wieder heim. In jenen furchtbaren Tagen der Not mag er, vielleicht angeregt durch seinen geistlichen Leidensgefährten Gensreff, gelobt haben, wenn er glücklich errettet würde, an Stelle des alten unscheinbaren hölzernen Predigtstuhles eine neue Kanzel zu stiften, eine Kanzel für Luthers reine Lehre, nachdem er unter der grausamen Faust der papistischen Soldateska des Kaisers geseufzt und in Luthers Lehre seinen Trost und seine Hoffnung gefunden.

Entsetzliche Jahre der Not und Angst folgten. Unsägliches hat die Stadt und ihre Umgebung gelitten unter den Besetzungen, [183] Belagerungen, Durchzügen, Kontributionen und Peinigungen von Freund und Feind. Der friedliche Bürger wurde heute von Schweden, morgen von Kaiserlichen oder den Soldaten des eigenen Landesherrn mißhandelt und ausgepreßt. Handel und Wandel war durch die Unsicherheit unmöglich gemacht. Wer sich vor die Tore der Stadt wagte, lief Gefahr, ausgeraubt oder gar ermordet zu werden. Wurden doch bei einem Begräbnis auf dem Donatsfriedhof dicht vor dem Tor das ganze Trauergefolge ausgeplündert. Die Zufuhren blieben aus, und weder Getreide noch andere Nahrungsmittel kamen zu Markte.

Häuser und Scheunen vor der Mauer wurden geplündert und verbrannt, und was nicht brennen wollte, ward niedergerissen oder sonst durchlöchert und verwüstet. Auch innerhalb der Mauer war die Unsicherheit groß und der ruhige Bürger gar oft der wilden Willkür, Habsucht und Wut fremden Volkes preisgegeben. Ständig waren Mauern und Türme von den Bürgern besetzt, und jeder rüstige Mann mußte Waffendienst bei Tage oder Nacht für seine Stadt leisten. Bald waren die »Blauröcke« Herren in der Stadt, bald bedrohte Oberst Ulefeld, bald Generalfeldmarschall Holk, bald »Krabatenoberst« Beygott, bald Oberst Taube, bald General Arnim die Stadt mit Plünderung und Brandschatzung. Im September 1634 bedrohten die Schweden unter Banner die Stadt mit Mord und Brand, im Oktober die Kaiserlichen unter Oberstleutnant Schütze und Schönickel und verbrannten alle Vorstädte, Freibergsdorf und Johannishospital und das vor dem Peterstor liegende große Glockengießhaus, »davon eine solche Brunst und flammende Hitze entstanden, daß die Funken in und über die Stadt haufenweiße geflohen und die Stadt in höchste Feuersgefahr geraten«. Viele Jahre kein Tag ohne Angst, Mord und [184] Brand! Seuchen und Pest wüteten in der Stadt. Im Jahre 1633 z. B. sind 1632 Personen öffentlich bestattet worden außer denen, die heimlich begraben wurden. Diese furchtbare Zahl wird recht deutlich, wenn man vergleicht, daß heute bei etwa der doppelten Bevölkerungsziffer jährlich rund 500 Todesfälle zu verzeichnen sind. Die Zahl der Todesfälle in jener Zeit beträgt also das Sechsfache bis Achtfache der normalen Sterblichkeit.

Welche Bergeslasten von Sorge, Not und Angst für sich, die Seinen und vor allem für die ihm anvertraute Stadt mögen auf dem Herzen des tapferen Bürgermeisters Schönlebe gelegen haben! Und doch, das Werk seiner Kanzel fördert und treibt er »aus besonderer Andacht und zu Beförderung des Gottesdienstes und Zierde der Kirchen« trotz aller Nöte und Unruhen, so daß es im Jahre 1638 im Dome am mittelsten Pfeiler aufgestellt werden konnte. Hans Fritzsche, »der lange Bildenhauer«, scheint der Meister dieser Kanzel gewesen zu sein. Wie mag in der Werkstatt des Künstlers in seltener, ruhiger Stunde der tapfere Bürgermeister dem Werden des Werkes zugeschaut, Anregungen, Vorschläge und Wünsche gebracht haben, während draußen schon die Sorgen lauerten und mit knöchernem Finger an die Türe pochten. Ein Friedensdenkmal aus Freibergs schwerster, furchtbarster Zeit, aus grimmiger Kriegsnot, wo das Sterbeglöcklein nicht stille stand und täglich der rote Hahn seine feurigen Flügel schlug, wo blutiger Mord durch die Gassen schlich oder des Todes eiserne Würfel vor den Mauern rollten, ein Denkmal innigen Glaubens aus einer Zeit, wo Leidenschaften und Laster regierten, alles Heilige nur ein Spott war, und das wilde Leben der Begierden die kurze Spanne der zugemessenen Zeit genießen wollte in Saus und Braus, wo zwischen Blut und Pest das üppige [185] Leben leidenschaftlichen Genusses in um so wilderen Strudeln schäumte. Ein stilles Denkmal der Kunst aus einer Zeit, wo alle Musen schwiegen und in glücklichere Lande entflohen schienen, wo Zerstörung und Vernichtung alles Schönen, der Untergang aller Kunst und edleren Kultur unter den eisernen Schritten des unersättlichen Krieges gewiß schien, wo tausend Kirchen und Altäre, Schlösser und stolze Häuser mit ihren Kunstschätzen in Staub und Asche sanken, geplündert und vernichtet wurden, und alle Keime und Blüten der Kunst und höheren Schaffens und Denkens zertreten und zermalmt schienen, ein heiliges Werk, emporgeblüht wie eine stille, edle Blume aus blutgetränktem Boden, eine Blume, an derem Werden und Wachsen sich in jener wilden Zeit vielleicht alle edlen und feinen Geister, alle sehnsüchtigen Herzen der Stadt erfreuten und aufrichteten wie an einem Symbol, daß einmal doch noch Friede und bessere Tage kommen müssen, ein Werk, das vielleicht heimlich an verborgener Stätte, von der kein Feind oder Verräter wußte, Gestalt gewann, und gerade dadurch den Treuen und Starken, den Trägern einer besseren Zukunft, um so teurer und heiliger, um so bedeutungsvoller und erhebender war.

Betrachten wir uns das Werk jener wilden blutigen Zeit, so fühlen wir es heute noch, wie hier die Stürme schwiegen und die Innigkeit des Glaubens, der Sehnsucht nach einem höheren Frieden seinen Ausdruck suchte. Vielleicht könnte im Leidenswege des Heilandes, der in den Feldern der Brüstung der Kanzeltreppe dargestellt ist, etwa ein Gleichnis, ein heiliger Widerklang der eigenen Leidenszeit, des schweren Kreuzes, das die treue Gemeinde selbst zu tragen hatte, angedeutet sein und gefunden werden. An der Kanzelbrüstung selbst ist der Gekreuzigte in Alabaster angebracht. [186] Links und rechts davor knien anbetend die Freifiguren des Stifters Jonas Schönlebe und seiner Gattin Anna geb. Horn aus edlem Marmor gefertigt. Sie wollten selbst an heiliger Stätte mit betend emporgehobenen Händen verewigt sein. Sie, die so viel gesorgt, geschaffen und gelitten, wollen ihre Demut bezeugen, daß mit eigener Kraft nichts getan ist und nur der Glaube in schwerer Zeit aufrecht erhalten kann und die Kraft zum Durchhalten bei aller Not gibt. Wie oft mag so dieses Ehepaar gekniet haben in der Angst und unter der Verantwortungslast für die ihnen anvertrauten Leben und Güter der alten Stadt während der furchtbaren Tage der Belagerungen und blutigen Kämpfe, unter feindlicher Faust und giftigen Seuchen.

Den Kanzeldeckel ziert der aus dem Grabe auferstehende Erlöser. Ein Bergmann mit Fahrkappe, Kniebügeln und Barte ist einer der Wächter am Grabe. Dieser oberste Abschluß des Kanzelbaues war dem Stifter und Künstler wohl ein Sinnbild der Hoffnung und heiligen Glaubens auch daran, daß es aus der Grabluft, dem Blut und Tod der furchtbaren Zeit doch eine Auferstehung und Erlösung geben müsse.

Die Kanzeltreppe wird getragen von einem kauernden Bergknappen mit starkem Nacken und muskulösen Armen. Er ist ein Sinnbild der breiten Masse des Volkes der Arbeit, auf dessen Hingabe zur Sache, auf dessen fester Treue das Wort ruhen und sich stützen soll, in dem es fest wurzeln muß, wenn es Frucht bringen soll.

Den Rumpf der Kanzel selbst trägt auch ein Bergmann, ein Steiger, auf seinem Haupte und stützt sie mit seinen Händen in geschlossener ruhiger Haltung. Sein Kopf mit langem, lockigem Barte ist fein geschnitten, geadelt durch [187] geistige Arbeit und mit gedankenreicher Stirn. Ist es der Künstler selbst, der sich hier dargestellt hat? – ein Künstlerkopf könnte es wohl sein – oder ist diese Gestalt das Sinnbild der geistigen Macht, des geistigen Erlebens, des Forschens und Denkens, des geistigen Ringens, aus welchem die Verkündigung des Wortes hervorwachsen muß, soll sie nicht verflachen, inhaltlos, leer und kalt werden? Das Bergmannskleid mag sagen, daß du wie ein Bergmann in die Tiefe schürfen und in die Höhe denken mußt, in unablässiger Arbeit, in Arbeitssüßigkeit und Arbeitsqual, du und jeder, der edle Erze fördern und die Tiefe des göttlichen Wortes ausschöpfen, erleben und dem Herzen nahebringen will. –

Welch eine lange Reihe von geistesgewaltigen Predigern und Seelsorgern hat auf dieser Kanzel gestanden und ist durch die reizvolle, künstlerisch geschnitzte Renaissancetür geschritten, welche die Kanzeltreppe abschließt. Der Schwung und die Anmut des Linienspiels dieser Tür ist wie eine künstlich verschlungene liebliche Melodie, welche vor der Predigt in hellen Akkorden sich aufwärts schwingt.

Die Bilder der alten Pfarrherrn und Superintendenten hängen oben auf der Orgelempore im Vorsaal zum Orgelraum am großen Wendelstein und schauen aus ihren dunklen Rahmen so ehrwürdig und ernst hernieder.

Sie, die Redner der Bergmannskanzel, ruhen zum Teil draußen auf dem »grünen« Friedhof, dessen Baumwipfel durch die Fenster des Domes schauen und mit Zweigspitzen wie mit zarten Fingern an die runden bleigefaßten Scheiben pochen. Sind die Wurzeln der Bäume tief im Grunde durch ihre Herzen gegangen und steigen nun ihre Herzensgedanken sehnend empor zum Licht und begehren Einlaß in das Heiligtum, welchem sie ihr Leben geweiht? – Andere [188] schlummern hier unter den Fliesen im Dom, im Bereiche ihrer alten Kanzel, der Auferstehung entgegen als Ausklang und Ziel ihrer Predigt und ihres Lebens, wo die Kanzel selbst mit steinernem Munde predigt: Aus dunklem Grunde aufwärts auf Leidenswegen durch Not und bitteren Tod zur Auferstehung, zu einem schöneren Licht.

Ihre Worte sind verklungen, ihre Gedanken sind verschwunden, die einst geistesmächtig den Raum füllten und die Gemeinde stille machten. Die Gedanken und die Stimme eines anderen sind aber geblieben. Wir hören die Stimme in zarten weihevollen Tönen, in flutender Harmonie und im Brausen der mächtigen Akkorde, es ist die Orgel, die Stimme Gottfried Silbermanns, die Jahrhunderte nun schon zu den Herzen spricht, sie erbaut und ergreift und auch heute uns in geheimnisvolle Zauber spinnt, uns Vergangenheit und Gegenwart lebendig macht, verbindet und verschmilzt zu einer wunderbaren Einheit. Dort im alten Hause am Schloßplatz, das die Tafel mit seinem Namen trägt, hat er vor 200 Jahren seine Meisterwerke geschaffen. 54 Orgeln gingen aus seiner Werkstatt hervor, eine immer die andere übertreffend, so daß auch neidische Gegner ihre Bewunderung nicht verhehlen konnten. Er selbst stellte die höchsten Anforderungen an sich und sein Werk und war ein so eigensinniger Künstler, daß er im künstlerischen Jähzorn gleich ganze Instrumente zertrümmerte, wenn sie ihm nicht Genüge leisteten und seinen Erwartungen nicht entsprachen. Sein größtes und letztes Werk, mit 2896 klingenden Stimmen, ist die Orgel in der katholischen Hofkirche in Dresden, die er in besonderem Auftrage August III. schuf. »So wie diese Orgel gebaut ist, wird keine mehr gebaut«, sagte voller Begeisterung der Dresdner Orgelkönig Johann Schneider von ihr.

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Unsere Freiberger Domorgel gibt ihr nichts nach mit ihren 2674 klingenden Stimmen, welche allen Jubel und alles Leid des Menschenherzens singen und tönen können. Im Vertrage erklärt er, es solle »das Hauptmanual einen gravitätischen Klang bekommen, das Oberwerk scharf und etwas spitzig, die Brust recht delikat und lieblich intoniert werden, in Summa das ganze Werk soll also beschaffen sein, daß es, wenngleich die ganze Gemeinde beisammen ist, dennoch seinen rechten Effekt zeugen kann und kapabel ist durchzudringen.« Zwei Jahre arbeitete er mit seinen zehn Gesellen daran, so daß das Werk 1714 vollendet ist. Mit dem bescheidenen Preis von 1500 Talern ist der schlichte, redliche »Orgelmacher«, wie er sich nannte, zufrieden. Ihm war der größte Lohn, daß sein Werk der Gemeinde und der Kunst dient, wie noch keine Orgel zuvor. Ein Kantor aus Leipzig und ein Hoforganist aus Altenburg übernehmen die Prüfung der neuen Orgel und kommen zu dem Schlusse, daß zu solchem Werke nur von Herzen Glückwünsche auszusprechen seien.

Ist auch der Klang das Wichtigste, gleichsam die Seele und das Leben der Orgel, so ist doch auch ihre äußere Form für den Kirchenraum von größter Bedeutung. Bewundernswert ist es, wie der Meister Silbermann die Orgel in den Raum hineinpaßt, so daß sie eine künstlerische Steigerung der Raumwirkung von großer Schönheit bedeutet. Wie sind die Scharen der mattschimmernden Zinnpfeifen zu gewaltigem Eindruck und mächtig schwungvollem Abschluß des Kirchenschiffes zusammengefaßt, von reich bewegter Schnitzerei umschlossen und seitwärts von musizierenden Engelsgestalten begleitet. Die Wirkung des Kirchenraumes erfährt hier eine Steigerung, in welcher Musik, Architektur und Plastik zu einem rauschenden Psalm zusammenklingen, [190] ein Psalm, der erhebt und erbaut und aus dem Zusammenwirken der Künste einen heiligschönen Gottesdienst macht. Was für ein herrliches Bild mag die stolze Halle des Domes gegeben haben, als die Orgel zum ersten Male vor der versammelten festlichen Gemeinde erbrauste und wie in Engelchören alle ihre Stimmen und Register jubelten und sangen und wiederum im dröhnenden Fortissimo die Pfeiler und Wände zu erbeben schienen. Niemals vorher war ein Orgelwerk von gleicher Tonfülle, Macht und Harmonie geschaffen worden. Dort saßen alle die stolzen Bürger und Ratsherren, der Oberberghauptmann mit seinen Beamten in ihren bunten Uniformen und kleidsamen Trachten der Barockzeit. Das Haupt deckte die gewaltige Lockenperrücke, welche den Köpfen jener Zeit eine so besondere Würde und Bedeutung verleiht. Dazu die Reihen der Bergleute in ihren dunklen Bergkitteln mit blitzenden Barten über die Schulter, die den ernsten Hintergrund für das buntfarbige Bild abgeben. Noch lebte überall an Wänden und Pfeilern die Fülle der künstlerischen Bildwerke, mit denen Jahrhunderte das Innere des Domes geschmückt hatten, durch welche ein natürliches Kunstempfinden und tiefes religiöses Gefühl den Dom zu einer Weihestätte vieler Geschlechter, zu einem Heiligtum und Denkmal Alt-Freiberger Kunst und Pietät gemacht hatte. Einer späteren Zeit blieb es vorbehalten, viele dieser Kunstdenkmäler in Museen zu schaffen und dort einzusargen, oder zu zerstören und den Dom in engherzig beschränkter, nüchterner Auffassung zu stilreiner Gotik zu »reinigen«. Da stand noch über dem Altar das gewaltige romanische Kunstwerk aus Freibergs Frühzeit, die in Eichenholz geschnitzte Kreuzigungsgruppe, der Heiland am Kreuz mit Maria und Johannes zur Seite. Der Heiland breitet sterbend die Arme aus mit ergreifendem [191] Ausdruck der Milde und Hingabe an die Menschheit: »Es ist vollbracht.« Maria ist wie eine edle römische Matrone gestaltet, mit antikem Faltenwurf des Gewandes, aber mit echt deutschem Gesicht, in dem Schmerz und Hoheit wunderbaren innigen Ausdruck finden. Es ist eine Frau unseres Blutes und Stammes, der dort sieben Schwerter des Schmerzes das Herz durchbohren. Sie preßt die Hand in bitterem Weh mit tiefbeseelter Bewegung an das zuckende Herz. Johannes steht wie ein römischer Senator, der mit der Linken die reichen Falten seines Gewandes rafft, die Rechte aber wie beschwörend oder gelobend erhebt. Das verklärende Licht der Antike scheint noch aus diesen Werken zu leuchten in unbesieglicher Schönheit, jedoch inniger christlicher Beseelung. Das ganze Werk gehört zum Höchsten, was die deutsche romanische Kunst des Mittelalters geschaffen hat.

An den Pfeilern der Emporen leuchten die zwölf Apostel in Gold und bunter Farbenpracht, und an den freien Pfeilern des Schiffes sind die Gestalten der fünf törichten und fünf klugen Jungfrauen angebracht. Sie sind in der reichen Tracht der Zeit um 1500 wie deutsche Edelfrauen dargestellt, deutsche Mädchengestalten im deutschen Dom, um die Lehren und tiefen Gedanken des Evangeliums der Gemeinde nahezubringen. Köstlich ist der frohe Gesichtsausdruck der klugen, mit Kronen geschmückten und der verdrossene, träge der törichten Jungfrauen getroffen.

Weiter glänzen überall an Pfeilern, Wänden und Gewölben die bunten Wappen der alten edlen Freiberger Geschlechter, reich geschnitzte Epitaphien in Gold und Weiß und bunten Farben, und die kapellenartigen Nischen zwischen den Pfeilern unter den Emporen sind durch Holzeinbauten mit üppigen Schnitzereien von Rankenzügen und [192] Blattwerk in schwungvollen Windungen und Verschlingungen abgeschlossen.

Fürwahr, die Gemeinde, über welche die Wohllautströme der neuen großen Orgel des großen Meisters Silbermann sich ergossen, der herrliche Raum des Domes, in welchem echt deutsche Kunst von Jahrhunderten sich zusammendrängte wie in einem geschliffenen Kristall, alles schloß sich zusammen in ehrfürchtigem Erschauern mit der gewaltigen musica sacra zu einer Einheit, in der nichts Fremdes, Unharmonisches war, zu einem Gesamtkunstwerk, wie es nur in besonders leuchtenden Stunden sich für sehnende und schauende Seelen gestalten kann. – Nicht einer kann es gestalten, nicht Geschlechter könnens schaffen, nicht der Künstler allein kann es aus den Tiefen seiner Seele emporheben, nein, du selbst mußt mit der Schöpfer des Gesamtkunstwerkes sein; denn die Kunst ist nur da, wo sie erlebt, erfühlt und mit dem Herzen ergriffen wird. Ohne dieses Erleben und Ergriffenwerden, ohne dich ist keine Kunst für dich vorhanden, und mag sie noch so herrlich leuchten und anderen Offenbarung und tiefes Glückserlebnis bedeuten. –

Die spätgotische Halle des Domes mit ihren Kunstwerken ist eine Schöpfung des Bürgertumes der alten getreuen Bergstadt. Sie diente der Gemeinde und ihrem Leben als heiliger Raum, in dem ihre innere Gemeinschaft und ganze Innigkeit zum Ausdruck kam und ihre Anschauungen und Gefühle Form und Gestalt gewannen. Dort hinter dem Altar aber, wo eiserne Gitter den langen Chor mit der Vierung vom Kirchenschiff abschließen, dient der Raum nicht den Lebenden, sondern den Toten. Nicht das freischaffende Bürgertum, sondern fürstlicher Wille, Reichtum, Prachtliebe und Kunstfreude und nicht zuletzt der Stolz auf die Ahnen und edles altes Geschlecht hat dort einen Raum [193] geschaffen, wie es nur wenige seinesgleichen gibt in weiten Landen, die Fürstengruft der evangelischen Wettiner.

Wie eine rauschende, strahlende Melodie steigen von den Wänden in leuchtendem, edlem, farbigem Marmor die Säulen und Pilasterstellungen zu tabernakelartigen Aufbauten empor, mit Kapitälen und Gesimsen, mit Nischen und reichgegliedertem Gebälk in zwei Geschossen übereinander, mit reichem Schmuck von Ornamenten, von Maskenwerk, Frucht- und Laubgewinden, farbigen Wappen und anderen Verzierungen in Marmor, Alabaster, Gold und Bronze in kunstvollen, feinempfundenen Renaissanceformen. In der unteren Reihe der Nischen die knieenden Bronzegestalten der Fürsten und Fürstinnen zwischen korinthischen Säulenpaaren, zwischen den Pilasterstellungen der oberen Ordnung acht Propheten und oben auf den Gesimsen eine lustige Schar musizierender Engel, 34 an der Zahl, mit allen möglichen echten Instrumenten, die heute noch benutzt werden könnten, wie z. B. Mandoline, Geige, Harfe mit echten Saiten, Flöte, Posaune, Cymbal, Triangel usw., und über den ganzen Raum eine Decke gespannt, in der im blauen Himmel mit hängenden Wolken das Nahen des Jüngsten Gerichts durch die Posaunen der Engel, durch den Erzengel Michael mit Schwert und Wage und den Weltheiland mit der Erlöserfahne, umgeben von wimmelnder Engelschar in malerisch-plastischer Buntheit dargestellt ist, – ein Drängen von Gestalten, Formen und Farben, daß das Auge nur schauen und schauen kann und von der Fülle der Eindrücke überwältigt wird.

Zu den Füßen im marmorbelegten Fußboden liegen die großen Grabplatten aus Messing mit den Bildnissen der Fürstlichkeiten, welche hier ihre letzte Ruhe fanden. Die Bildnisse sind nach der Art des Kupferstiches mit Meißeln [194] in das Metall eingegraben. 28 solche kostbare Platten mit wundervoller Zeichnung und Ornamentik, zumeist aus der Werkstatt der Hilliger stammend und von sächsischen Hofkünstlern entworfen, bilden so ein gewaltiges, ehernes Bilderbuch, wie es seinesgleichen kaum sonst zu schauen ist. Da ist die herrliche Grabplatte Herzog Heinrichs des Frommen, welche diesen mannhaften, waffenfrohen Fürsten in ähnlicher Darstellung wie auf dem Bilde im Rathause zeigt, im Panzer mit Arm- und Beinschienen, mit langem zweihändigen Schwert in den Händen, mit Schwert an der Linken und Dolch an der Rechten. Ein reich ornamentierter Rahmen mit Wappen auf üppigen Akanthusranken, in denen Genien herumklettern, umschließt das plastisch wirkende charaktervolle Bild des Fürsten. Er war es ja, der die kurfürstliche Begräbniskapelle gestiftet hat und 1537 testamentarisch bestimmte:

»Und wann wir dann nach dem wyllen des Herrn verstorben und entschloffenn sein, und uns der Allmechtige Gott aus diesem Jammerthal gefordert hatt, So wollenn wir das unnser Corper in unnser Stiefftkirchenn zu Freybergs soll bestattiget und begrabenn werdenn, und kain erhohet grab, Sondern ain schlechter (schlichter) Leichstein mit einem messingenn Pleche, darauf ein biltnuß mit umbschrieft unnsers titels gemacht werden soll.«

Da sind die Bilder fürstlicher Damen in kostbarer Kleidung mit reichem Spitzenschmuck angetan. So fein und zart ist die Zeichnung der Spitzen durchgeführt, daß kunstgeübte Hände nach diesen herrlichen Mustern diese zarten Wunderwerke neu schaffen könnten. Da sind die Bilder fürstlicher Kinder, welche, früh verstorben, nur durch diese künstlerischen Darstellungen der ewigen Vergessenheit entrissen sind. Eine solche Platte zeugt besonders von tiefem, echtem, unter [195] Tränen lächelndem Humor: Das kleine frühverstorbene Söhnlein des Kurfürsten Johann Georgs I. in steifem Röckchen und mit dicken Pausbäckchen trägt eine Blume in der Hand und hört recht mißvergnügt, verdrießlich und mißtrauisch auf die überredenden Worte eines köstlichen Engelbuben, der ihn mit listiger Miene mit einem Apfel in das Paradies locken will. »Paradies, Paradies, wie ist deine Frucht so süß«, dieser Sehnsuchtsvers aus einem Kirchenliede ist dem kleinen Kerl oder vielmehr Prinzlein anscheinend nicht recht geheuer. Er wäre offenbar lieber bei der lieben Mutter geblieben und hätte mit den Geschwistern getollt, als daß er mit fremden Engeln Äpfel äße! – Ein echtes, tiefes, kindliches Künstlerherz kann nur so Leben und Tod, Leid und Hoffnung verbinden und versöhnen durch die überwindende künstlerische Empfindung und Kraft der Seele. Wie der wehmütige Klang eines alten Volksliedes, in dem von Jugend, von Liebe, von Rosen, Lilien und Tod gesungen wird, rührt dieses Bild auf der Grabplatte an das Herz. Wir denken an jene Grabplatte an der Nikolaikirche von Dippoldiswalde vom Jahre 1628, auf der ein Mägdelein dargestellt ist, das einen Blumenstrauß an sich drückt. Sie trägt den wehmütigen Vers:

»Begrabn Ligt ein Roselein hie,
Welchs abgebrochen etwas früh
Durch Todes Hand, der nicht ansiht
Obs Reiff sey oder hab verblüht.«

Der Tod in blühender Jugend, brechende Knospen, der Reif in der Frühlingsnacht wirken besonders tief auf das menschliche Gemüt und haben in der Dichtung ergreifenden Ausdruck gefunden:

»Es ist ein Schnitter, heißt der Tod,
Hat Gwalt vom großen Gott.
[196]
Heut wetzt er das Messer, es schneidt schon viel besser,
Bald wird er drein schneiden, wir müssens nur leiden:
Hüt dich, schöns Blümelein!«

In der Begräbniskapelle jedoch, wo alles von des Todes Gewalt predigt, von dem grausamen Schnitter, der kein Blümlein, Narzissen nicht noch Kaiserkronen verschont, ist dennoch bei allem Ernst und aller Feierlichkeit nichts Düsteres, Schweres, was das Herz niederdrücken oder traurig stimmen könnte. Nicht Trauer, nicht Grab und Verwesung und Hoffnungslosigkeit sind die Raumgedanken, sondern Überwindung und Erlösung, ja ein gewisses Rauschen festlicher Pracht, und darüber hinaus ein Aufsteigen zu himmlischer Klarheit nach einem Leben voll Kampf und Arbeit.

Doch immer wieder gehen unsere Blicke zu den knieenden Bronzegestalten dort in den Nischen, die Carlo de Cesare’s Meisterhand schuf, zu der prachtvollen Mannesgestalt Herzog Heinrichs des Frommen mit breitem Vollbart, der die Linke auf die gepanzerte Brust legt und die Rechte beteuernd erhebt, als wollte er sein tapferes, glaubensmutiges Wort wiederholen, daß er lieber am Stabe bettelnd sein Land verlassen, als das Evangelium verleugnen wolle, dort Kurfürst August mit dem Zweihänder über die rechte Schulter gelegt, und ihnen gegenüber die edlen Frauen, die Herzogin Katharina und die Kurfürstin Anna in fürstlichem Gewande, anbetend knieend mit andächtig edlem, mütterlichem Gesichtsausdruck. Neben diesen vier Gestalten vermag die Gestalt Christians I. von Cesare und Johann Georg I. von dem Venetianer Pietro Boselli nicht in gleichem Maße zu fesseln.

Carlo de Cesare war ein Schüler des Giovanni da Bologna (1524–1608) und stammte aus Florenz. Um den rechten Künstler für die Bronzegestalten seines Werkes zu [197] gewinnen, reiste Nosseni zu Pferde nach Italien und durch Vermittlung Giovanni’s holte er sich als Mitarbeiter den begabten Cesare vom glänzenden Hofe der Mediceer nach dem rauhen Freiberg. Im Oktober 1590 kam Cesare mit einigen Gehilfen hier an und hat 2 Jahre 8 Monate hier gewirkt, »Epitaphia von metallischen und andere Bilder von Sculpturn possirt, formirt und gegossen«. Von seiner Hand stammen an Gußwerken außer den Gestalten der fünf Fürstlichkeiten, die Figuren Johannes des Täufers und des Apostels Petrus, sowie das Kruzifix auf dem Altar, die Bildnisse der Gerechtigkeit und Liebe, der Hoffnung und des Glaubens am Chorschlusse und acht als Schildhalter verwendete Engel, ferner eine Reihe von in Stuck gebildeten Figuren.

Während des Baues der Kapelle mag Freiberg an eine der großen italienischen Kunststätten der Renaissance erinnert haben. Da wurde kostbarer Marmor in mächtigen Blöcken herbeigefahren, und in den Werkstätten der Steinmetzen arbeiteten kunstfertige Hände. Hieronymus Eckhart, Michael und Jonas Grünberger, Peter Beseler, Tobias Lindner, die Meister aus Freiberg, beschäftigten eine Fülle von Gesellen aus allen deutschen Gauen. Aus Straßburg, Metz, Heidelberg, Bamberg, Budweis, Dresden, Leipzig, aus Westfalen und anderen Gegenden des Reiches kamen sie herbei, um bei dem für Deutschland unerhörten Werke Lohn und Arbeit zu finden und vielleicht auch von der Kunst der Italiener zu lernen. Italienische Sprache und Laute klangen auf den Straßen der Stadt und die stolzen Südländer gingen keck einher und ihre Dolche saßen locker in den Scheiden. Ohne Eifersucht und Reibereien ging es unter den italienischen und deutschen Bildhauern nicht ab, denn Künstlerstolz und Künstlerblut ist rasch und heiß. Am [198] 27. Dezember 1590 z. B. schrieb der Stadtschreiber in das Protokoll der Ratssitzung: »Die Steinmetzen, die welschen, richten allerhand Unlust an, haben ihre Dölche und Wehren.« Auch manche Freiberger Mädchen, denen schon damals ein schwarzhaariger, fremder Geselle oft besser gefiel, als ein ehrlicher deutscher Bursche, mögen an manchem Griff nach dem Dolche nicht schuldlos gewesen sein.

Fürsten, Edelleute, Bildhauer, Maler, Baumeister, Kunstgießer, Goldschmiede, vornehme Kunstfreunde, Reisende aller Art aus Deutschland und Italien kamen herbei, um diese neue glänzende Kunststätte zu sehen und ließen sich vom Baumeister Nosseni selbst oder vom Meister Hieronymus Eckhart, dem Steinmetzen und Pfleger der Fürstengruft führen, um dann den Ruhm des neuen großen Werkes weiterzutragen, denn wo gab es sonst in deutschen Landen ein ähnliches Zusammenwirken der Künste und Künstler zu großem, fürstlichem Werk und künstlerischer Tat wie hier?

Nosseni war auf sein Werk sehr stolz und eifersüchtig auf seine Rechte bedacht. Gleichwohl aber war er nicht zu stolz, bei fröhlichen Taufen und Hochzeiten in der Bürgerschaft mitzufeiern, Pate zu stehen und Trauzeuge zu sein. Als Bürgermeister Löser am 19. September 1594 Hochzeit hielt, waren Johann Maria Nosseni und der Baumeister Hans Irmisch unter den fröhlichen Gästen. Hans Irmisch war vielbeschäftigter kurfürstlicher Baumeister und hatte den Bau des Schlosses Freudenstein geleitet, auf dem Königstein, in Frauenstein, Torgau, Dresden und an anderen Orten größere Bauten ausgeführt und nun am Chor des Freiberger Doms die Vorbereitungen und Arbeiten zur Umwandlung zur kurfürstlichen Begräbniskapelle geführt. Die Buchstaben H(ans) I(rmisch) B(aumeister) und der Spruch: »Wer Gott vertraut, hat wohlgebaut« an der nördlichen, [199] äußeren Chorseite sind die bescheidenen Zeichen, durch welche er an sich und seine Tätigkeit beim Umbau erinnert.

Wie sehr unterscheidet sich diese echt deutsche schlichte Sachlichkeit, die die Person hinter das Werk zurückstellt, von der Ruhmredigkeit des eitlen Italieners Nosseni, der hinter dem Altar der Kapelle auf weißem Marmor in lateinischer Sprache sich und sein Werk mit folgenden anmaßenden Worten preist:

Fremder, steh und lies! Was ich sage, ist nur wenig. Dies köstliche Begräbnis, das du siehst, ist in fünf Jahren mit wunderbarer Kunst, vieler Arbeit und wirklich sehr großem Aufwand errichtet worden. Bei seinem Bau war ich nicht nur zugegen, sondern ich habe ihn auch immer geleitet, ich, Johannes Maria Nosseni aus Lugano, ein Italiener. Doch nicht nur die Form allein dieses prächtigen Werkes ist von mir, als Architekten, geschaffen, sondern ich habe selbst das Material in diesem Lande in eigener Person ausgeforscht, gefunden und künstlerisch nutzbar gemacht. Dies habe ich geglaubt mitteilen zu müssen, damit du Leser nicht unwissend bleibst, zum ehrenvollen Gedächtnis nicht so sehr von mir als dieses Landes, in welchem jederlei Art von Marmor gebrochen wird, dann vor allem der tapferen Fürsten Sachsens, welche über dieses reiche Land glücklich und ruhmvoll herrschen. Ich habe gesprochen, gehe weiter, lebe wohl und verkünde den Ruhm des Künstlers, wenn du überhaupt Kunstgefühl genug hast, um dieses herrliche Kunstwerk zu würdigen.

1603.

Mit keinem Worte erwähnt in dieser geschmacklosen Prahlerei Nosseni seine Mitarbeiter, einen Carlo de Cesare oder gar die wackeren deutschen Meister, welche so hohen Anteil am Gelingen des Werkes hatten. Im Gegenteil [200] rühmt er sich gar fremder Verdienste, denn die Marmorbrüche, welche er benutzte, waren meist schon vorher gefunden und bei seinen Untersuchungen waren ihm sachkundige Meister zur Hand. Gleichwohl ist die künstlerische Verwendung der edlen Materialien, womit ihn Kurfürst August beauftragte, seine besondere Stärke. Der Kurfürst drängte ihn immer wieder, kostbares Gestein ausfindig zu machen, teils aus Prachtliebe, teils der wirtschaftlichen Bedeutung wegen, und daraus Kunstgegenstände zu schaffen. Alabaster aus Weißensee, rotweißen Dolomit von Schwarzenberg, Serpentin aus Zöblitz, bunten Marmor von Lengefeld, Rauenstein, Kalkgrüna, Wildenfels und Crottendorf, Kristalle, Amethysten, Topase, Achat, Jaspis und andere Halbedelsteine verarbeitete er. Ja, er erhielt sogar das Privilegium, einige dieser wertvollen Brüche für sich abzubauen, zu brechen und zu verkaufen und errichtete vor dem Wilsdruffer Tore zu Dresden eine Marmorschneidemühle an der Weißeritz, die auch für das Schleifen und Polieren von Halbedelsteinen eingerichtet war.

Heute noch können wir im Dresdner historischen Museum einige dieser kostbaren Marmormosaikwerke bewundern und uns an dem Glanz und der Fülle der Farben und Äderungen des heimatlichen Marmors erfreuen. Steinerne Tische »von Bildwerk und andern Ornamenten«, zwölf Stühle »mit mancherlei Steinwerk aufs höchste« geziert und andere kostbaren Werke sind vorhanden. Handbecken, Kannen, Leuchter, Schüsseln, Teller, Schalen, Löffel, Messerhefte, Büsten römischer Kaiser, Marmorfußböden für fürstliche Gemächer gingen aus seiner Hand hervor. Nicht immer ist der Kurfürst mit ihm zufrieden, sondern er erteilt ihm gelegentlich einen kräftigen Wischer: »Wir spüren aber daraus, das du nicht fast große lust zur arbeit [201] hast und dein Besoldung lieber mit müßig gehen verdienen wollest.« –

Alle diese mehr kunstgewerbliche Verwendung des sächsischen Marmors war mehr vorbereitende und begleitende Arbeit zu dem Hauptwerke Nossenis, der Begräbniskapelle, wo in unübertrefflicher künstlerischer Weise das edle Material verwendet und in seiner Farbenpracht im matten Glanz der Polituren sich gegenseitig steigernd zu vollendeter Wirkung gebracht ist.

Durch dieses großartige Werk und Nossenis kunstgewerbliche Leistungen wurde der sächsische Marmor weithin berühmt und Proben dieser Kunst gingen auch ins Ausland und kündeten den Ruhm des sächsischen edlen Gesteins und der Kunstfertigkeit sächsischer Marmorbildhauer und Dreher. – – Wenn wir heute diese Werke schauen, so fragen wir uns, warum diese Edelindustrie untergegangen ist? Sind die Brüche erschöpft? Sind die Stätten verlorengegangen, wo »so herrliche, schöne Steine gefunden werden«, wie Nosseni 1580 dem Kurfürsten August mitteilt; sind sie vergessen, verschüttet? – Nur die Serpentinsteinindustrie von Zöblitz hat ihre bescheidene Blüte und erweckt größere Hoffnungen, nachdem der Geist modernen Kunstempfindens mehr und mehr die Erzeugnisse formt und adelt. Aber wo sind die anderen Stätten und Fundorte edlen Materials? Wie Kurfürst August sein Land durchforschen ließ, um fremdes Material zu vermeiden und im eigenen Heimatboden diese Schätze an kostbarem Gestein sich zu erschließen, so sollte man auch heutzutage »die Rute deutschen Findergeistes« zur Hand nehmen und forschen, bis man findet, was vergessen oder unentdeckt und unerschlossen im heimatlichen Boden ruht und zum Aufbau und neuer Blüte der Heimat beitragen und helfen mag. –

[202]

Doch wenden wir uns nun zu dem Werke, dem nach dem Plane und der Absicht des Kurfürsten August in erster Linie der Umbau des Domchores gelten sollte, dem Grabdenkmale des Bruders des Kurfürsten, dem Moritz-Monumente in der Vierung des Chores. Wie das gewaltige Modell einer Gralsburg aus Marmorgestein türmt es sich auf, auf deren höchster Zinne die Marmorgestalt des Kurfürsten in Panzer mit dem geschulterten Schwerte barhäuptig anbetend vor dem Gekreuzigten kniet. Helm, Streithammer und Pistole und das farbige Kurwappen sind vor dem Kreuzesstamme niedergelegt. Panzer und Waffen sind den Stücken nachgebildet, die der Kurfürst in der Schlacht bei Sievershausen trug. In feiner, sinniger Weise sagt so dieses Grabdenkmal, daß der Fürst seine Waffen und sein Leben seinem Glauben geweiht, und sich und sein Land im Leben und im Tode unter das Kreuz gestellt haben wollte. Dreigeschossig erhebt sich diese Marmorburg auf drei schwarzen Marmorstufen, auf denen zwölf weibliche Figuren aus Alabaster sitzen, die Musen der Geschichte, Künste und Wissenschaften. Bunte rote, gekuppelte Marmorsäulchen tragen das reiche rotbraune, vielverkröpfte Marmorgebälk des unteren Geschosses und auf ihm die Gruppen der vor dem oberen Geschosse Wache haltenden Krieger mit den farbigen Wappen der Länder des Kurfürsten. Das oberste Geschoß ist ein sarkophagartiger Aufbau, der von zehn in Messing gegossenen Greifen getragen wird. Engelsfiguren mit Sanduhr, Helm, Wappen und ähnlichen Sinnbildern sitzen am Rande der Deckplatte, auf welcher der Kurfürst kniet.

Reicher Schmuck an Reliefplatten aus Alabaster, symbolische Darstellungen aus Krieg und Frieden, Kunst und Wissenschaft, Handel und Gewerbe und andere köstliche [203] Ornamente und Figuren beleben die Flächen des gewaltigen Unterbaues in künstlerischer Vollendung und reden im Sinnbilde von dem, was der Kurfürst geleistet und gewollt hat.

Auf 20 Inschrifttafeln aus schwarzem Marmor am Denkmal sind sein Leben und seine Taten im Frieden und Kriege in goldenen Buchstaben in lateinischer Sprache rühmend geschildert. Diese Inschriften sollte ursprünglich Melanchthon verfassen, der aber darüber hinstarb. Nach anderen Versuchen übernahm es schließlich der Kanzler Dr. Ulrich Mordeisen, die Aufgabe mit anderen gelehrten Männern zu lösen. Auf seinem Gute Kleinwaltersdorf bei Freiberg, das er sich erworben und umgebaut hatte und dessen Eingangstür heute noch sein Wappen mit der Jahreszahl 1560 schmückt, versammelte er vier Leuchten der Wissenschaft zu diesem Zwecke. Fünf der gelehrtesten Männer ihrer Zeit spitzten dort ihre Federn und schärften ihre Gedanken, um das Lebenswerk eines Zweiunddreißigjährigen in würdiger Form zu feiern – und wahrlich das Leben des Kurfürsten Moritz war kurz, aber voll von sprühender Tatkraft, von Taten, Gedanken und großen Plänen: Vielleicht war das, was an Hoffnungen mit seinem Tode ins Grab sank, viel größer und bedeutungsvoller als das, was er getan und erreicht hatte. – Ulrich Mordeisen, der drei Kurfürsten treu gedient, starb am 5. Juni 1572 und liegt unter dem Altar in der Kirche von Kleinwaltersdorf begraben. Das Altarwerk dort ist zugleich das Epitaphium für den Kanzler und zeigt ihn mit seiner Familie vor dem Gekreuzigten knieend dargestellt. In lateinischen Worten dort wird seine Treue und sein kluger Rat gerühmt. Auch hier bei dem Moritz-Monument hat sich sein kluger Rat bewährt, denn er war offenbar der Vertrauensmann des Kurfürsten, der [204] mancherlei Aufträge zu erledigen und Verhandlungen wohl zu führen wußte. Das Moritzdenkmal ist das erste monumentale Freigrab Sachsens, das in Renaissanceformen ausgeführt ist. Es könnte auch in irgendeiner italienischen Stadt, einer Kirche von Florenz z. B. stehen, so italienisch ist seine Art. Nicht deutsche Hände haben dem deutschen Fürsten das Kunstwerk geschaffen.

Gabriel und Benedikt v. Thola aus Brescia »die welschen maler« am Hofe zu Dresden – es war Mode, italienische Künstler sich zu halten –, hatten die Entwürfe gemacht, nach denen erst ein Modell des Denkmals hergestellt wurde. »Vater« August war nun aber ein sparsamer Landesvater, der den Daumen auf seinen Beutel hielt und oft lieber seine lieben Landeskinder huldvollst für seine Passionen zahlen ließ, statt in die eigene Tasche zu greifen. So befahl er hier einfach dem Rate zu Freiberg, seine Domsakristei aufzugeben und ihm zur Verfügung zu stellen und die Allerheiligenkapelle am Chore, wo Freiberger Bürger der ersten Geschlechter begraben lagen, und heilige Ehrfurcht ihnen ewige Ruhe gelobt hatte, rücksichtslos zu räumen, die Grabmäler herauszubrechen und unter peinlichster Schonung der Gruft seines Bruders Moritz für seine Zwecke umzubauen, zu erweitern, den Domaltar in das Schiff hineinzurücken und Weiteres zu verändern. Er zwang sie sogar gnädigst noch die Fundamente zum Denkmal auf Stadtkosten zu errichten und die Abschlußgitter herzustellen. So ehrte er pietätvoll das Andenken seines tapferen Bruders aus der Tasche der Stadt Freiberg in landesväterlicher Huld. Wo die Gebeine der alten Freiberger blieben, kümmerte ihn wenig. Diese huldreiche, väterliche Sparsamkeit und Fürsorge bewies er auch weiter bei der Ausführung des Denkmals. Zwei Dresdner Bildhauer, [205] Melchior Barthel und Christoph Walther forderten für die Ausführung des gewaltigen Marmorwerkes 6000 Taler. Bei dieser Summe versanken alle schönen Grundsätze von der Kunst, Arbeit, Verdienst im eigenen Lande, von landesväterlicher Fürsorge zur Hebung von Gewerbe, Handwerk und Steuerkraft, denn das ging schmerzhaft an den eigenen Beutel! August übertrug die Arbeit an Hans Wessel in Lübeck und dieser verdingte sie weiter für 2800 Taler an Meister Antonius von Zerun zu Antwerpen. Dieser ist später erst durch Klagedrohung zu der Restsumme von 613 Talern gekommen, welche weder der Kurfürst noch Hans Wessel bezahlen wollte! Aus belgischem Marmor von Dinant ist das Moritzdenkmal gefertigt. Dinant ist die Stadt, um welche zu Beginn des Weltkrieges das Blut der Freiberger Jäger besonders geflossen ist bei der Eroberung und durch Verrat und Hinterhalt im Straßenkampf. Diese belgische Stadt hat einen blutigen Namen für Freiberg voller Tränen und wehen Stolzes.

Von Antwerpen wurde das Marmorwerk in einzelnen Teilen zu Schiff über Hamburg elbaufwärts nach Torgau, wo der Kurfürst Hof hielt, und von dort nach Dresden und mit Wagen nach Freiberg geschafft und von Zerun und seinen Gesellen aufgestellt. So kam es, daß deutsches Geld, aber nicht deutsche Kunst und deutsche Hände dieses italienische Werk mitten im Herzen Deutschlands für den deutschen Fürsten geschaffen haben. Fremd ist es auch unserem Empfinden und fern von der innigen Gemütstiefe z. B. der Tulpenkanzel.

Der Kurfürst war sehr stolz auf das Werk und besorgt um den kostbaren Marmor und Alabaster, daß er zur rechten Wirkung käme und nicht durch Farbe übermalt [206] würde. Er schreibt: »das man an den bildern nur die augenn und meuler mit ihren natürlichen farben anstreichen und sonst gar nichts mit farben daran schmieren solle außerhalb was vorguldet werden mus«, weil sonst »das gantze werck vorstellt und verunadelt würde«.

In diesen wenigen Worten kennzeichnet sich ein grundsätzlicher Unterschied fremdländischer gegenüber der deutschen mittelalterlichen Kunstauffassung, wie sie sich bis in die Renaissancezeit hinein erhalten hatte, die in der kräftigen Farbengebung und in der Steigerung des Materiales und der Formen durch Malerei große, feierliche und charaktervolle Wirkungen erzielt hatte.

Tilman Riemenschneider (1460–1531), der berühmte süddeutsche Meister, hat z. B. seine köstlichen Marmorwerke im Dome zu Würzburg farbig bemalt, ohne daß »das gantze Werck vorstellt und verunadelt« worden wäre, sondern nur an lebendiger künstlerischer Wirkung erhöht und gesteigert worden ist. Wir denken ferner an die goldene Pforte unseres Domes mit ihrer wunderbaren, uns kaum mehr faßbaren und erreichbaren Farbenpracht. Unsere ganze mittelalterliche, so echt deutsche, tiefe Kunst lebt und ist stark durch die Farbe. Das wundersame Leben in den köstlichen Altarwerken auch in den kleinsten Dorfkirchen ist auf die Farbe abgestellt. Diese Werke sind aus dem Seelenleben und tiefstem Empfinden und oft unbewußtem, künstlerischem Wollen unseres Volkes geboren und auf diesem Grunde hat sich echt deutsche Kunst zu eigenartiger, schöner Blüte entfaltet.

Die Farbe in der Baukunst und plastischen Kunst unserem Volke wiederzugewinnen und damit wieder zu den Quellen und Urgründen deutscher, starker, stolzer, nackensteifer Eigenart und Kunstauffassung zurückzukehren [207] nach jahrhundertelanger undeutsch und falsch empfindender Fremdtümelei »mit dem Hute in der Hand«, wäre auch eine Arbeit an unserem Volk und unserer Heimat auf dem steinigen Wege zur Selbstbesinnung, Selbstbehauptung, zur Höhe. –

Im nördlichen Teile des Querschiffes, das durch ein köstliches Gitter reicher, alter Freiberger Schmiedearbeit abgetrennt ist, steht auf einer Konsole die schwarze Rüstung des Kurfürsten Moritz, welche er in der Schlacht bei Sievershausen 1553 getragen hat. Seinen Sieg in jener Schlacht hat er mit dem Tode bezahlt. Die breite Öffnung links unten am Brustharnisch zeigt den Weg, den die tückische Bleikugel gesucht hatte. Schwarze Straußenfedern nicken vom Helm herab und die gepanzerte Rechte hält den Rennspieß des Kurfürsten. Sein Schwert und der Dolch mit dreischneidiger Klinge sind vortreffliche Arbeiten mit zum Teil kunstvoll in Eisen geschnittenen Gefäßen mit silbernen Auflagen.

Acht Reiter- und vierzehn Fußfahnen, die in der Schlacht bei Sievershausen erbeutet sind, an denen kaum ein Rest von altem Fahnentuch mehr ist, sind als eindrucksvolle Ruhmeszeichen und Zeugen jener Schlacht an den Seitenwänden angebracht.

Diese schlichte, schwarze Rüstung und diese erbeuteten Fahnen sind nicht laut und ruhmredig wie dort die Marmorburg, auf der der Kurfürst kniet, aber sie reden eindringlicher und wirken tiefer, denn sie erzählen als echte, treue Zeugen von großen Dingen, von Sieg und Tod, von Mannesmut und Opfer. Sie sind Leben und Geschichte, während jenes Denkmal von Kleinlichkeit erzählt, klein ist, weil es prahlt, arm an innerem Gehalt, trotzdem es viel [208] redet und rühmt, fremd uns bleibt, weil unser Herz nicht dabei warm wird, wenn wir auch seine Kunst bewundern.

Zu Füßen dieser Rüstung stehen die Zinnsärge der Fürsten und Fürstinnen der evangelischen Wettiner, die älteren Särge in einfacher Truhenform, mit ebenem, glatten Deckel, die jüngeren mit hochgewölbtem Deckel, reich profiliert und zum Teil vergoldet. Auf den Särgen der Frauen ein Kruzifix, auf den Särgen der Männer ein Schwert. Wir blicken über diese Reihe von Särgen dahin und lesen die Täfelchen mit ihren Namen. Welche Fülle einst von Glanz und Macht, von Stolz und Kraft im Leben, über Tausende gebietend und heute nur noch ein Name, ein Nichts, im Dunkel der Vergangenheit versunken. Wie wenig sagen uns ihre Namen und hohen Titel, wenn nicht ihre Taten für Volk und Land für sie zeugen. Nur das, was sie zum Segen ihres Landes geschaffen, geleistet und gewollt, hielt ihren Namen lebendig. Durch Opfer haben sie sich das Leben gewonnen.

Diese Särge standen bis vor kurzem in der unterirdischen Gruft, wo ihr Zerfall durch die Zinnpest und andere Zerstörungen im feuchten, dunklen Raum immer stärkere Fortschritte machte. So wurden sie denn hier zu würdiger, vor Zerstörung, Feuchtigkeit und Moder gesicherter Aufstellung gebracht. Sarg auf Sarg wurde die enge, steile Grufttreppe mühevoll mit Flaschenzügen heraufgezogen und, wenn die Mittagsglocke oder Feierabend schlug, blieb auch wohl ruhig der Sarg in den Seilen hängen, bis wieder die Arbeit begann: Einst ein mächtiger Fürst, jetzt nur ein schweres Laststück, von dem rasch und gleichgültig die Hand des Arbeiters sinkt, wenn die Mittagsglocke schlägt oder gar mehrtägige Arbeitsunterbrechung ihn fortruft. Für die Vergänglichkeit irdischer Größe, [209] äußeren Glanzes und Ruhmes ist dieses Hängen des verlassenen Fürstensarges im Flaschenzug ein bitteres, mahnendes Zeichen und Gleichnis:

Erde gleißt auf Erden
In Gold und in Pracht;
Erde wird Erde
Bevor es gedacht;
Erde türmt auf Erden
Schloß, Burg, Stein;
Erde spricht zur Erde:
Alles wird mein.

(Fontane.)

In tiefen Gedanken schreiten wir dem Ausgange der kurfürstlichen Begräbniskapelle zu. Wo die Großen, die Fürsten und Gewaltigen dieser Erde ruhen, prägt sich der Eindruck des Allbezwingers Tod besonders tief in die Seele:

»Siehst du nicht, wie schön von Gestalt, wie stattlich Achilleus?
Dennoch harrt auch seiner der Tod und das dunkle Verhängnis!«

So singt der blinde Sänger Homer seine Jahrtausende alte Klage!

Am Ausgange, in der ehemaligen Allerheiligenkapelle mit ihrem schönen, wappengeschmückten, sternartigen Rippengewölbe, fesselt uns noch das Grabdenkmal zweier edler, fürstlicher Frauen, der Kurfürstin Anna Sophie, der Gemahlin Johann Georgs III. und ihrer Schwester, der Kurfürstin Wilhelmine Ernestine von der Pfalz, die hier im Tode vereint ihren letzten Schlummer tun. Hundert Jahre ungefähr hat dieses Denkmal mit den Särgen der edlen Frauen im Schlosse Lichtenburg nördlich von Torgau bei Prettin gestanden.

Lichtenburg hatte die Kurfürstin Anna, Mutter Anna, als Schloß sich ausbauen lassen. Nosseni hatte die Ausstattung mit Alabaster- und Serpentinarbeiten übernommen und durch »etliche erfahrene und wohlgeübte [210] welsche Gesellen« ausführen lassen. Auch bei Deckenmalereien und Friesen mit Wappen und Sprüchen hat Nosseni dort seine Kunst walten lassen. Doch war das Schloß später ein stiller Witwensitz geworden. Kurfürstin Hedwig, die Gemahlin Christian II., hatte 28 Jahre, von 1613–1642, dort gewohnt und viel Wohltätigkeit geübt. Als sie hier in Freiberg beigesetzt wurde, folgten 22 Prediger und vier Superintendenten aus freiem Antriebe dankbar ihrem Sarge, weil sie namentlich für Kirchen und Schulen reiche Stiftungen hinterlassen hatte.

Anna Sophie und Wilhelmine Ernestine wirkten in ihrem Geiste in ihren Landen und auf dem stillen Schloß bis an ihren Tod. Ihr Grabdenkmal erzählt in stiller Symbolik von ihren edlen Frauenherzen, wie einst in Lichtenburg, so seit 1811 hier im Freiberger Dom. Als 1811 das Zuchthaus von Torgau nach Lichtenburg verlegt wurde, ließ König Friedrich August das Grabmal mit den Särgen an die Stätte, wo die Ahnen ruhen, bringen und hier neu erstehen.

In den Jahren 1703–1704 hatte im Auftrage des Königs August I. der Bildhauer Balthasar Permoser (1650–1732) dieses Denkmal geschaffen. Das Denkmal stellt ein schlichtes ernstes Grufthaus in strengen Barockformen aus schwarzem, weißgeflecktem Marmor dar, das in seinem dunklen Raum die schwarzen Marmorsärge der Fürstinnen birgt. Rechts und links von der dunklen Pforte, die in den Raum der Ruhe und des Todes führt, stehen zwei wundervolle weibliche Gestalten aus weißem, graugemasertem herrlichem Marmor von des Künstlers Meisterhand als der innige Ausdruck der mütterlichen Liebe und fürstlicher Güte und Wohltätigkeit. Die eine Frauengestalt, welche ein sich zärtlich anschmiegendes Kind auf dem Arm trägt, ein anderes liebevoll [211] an der Hand führt, trägt die Züge von Anna Sophia, die andere mit dem reichen Füllhorn, aus dem sie spenden will, das Antlitz der wohltätigen Wilhelmine Ernestine von der Pfalz, welche kinderlos war.

Über der dunklen Tür ist als Bekrönung und Sinnbild der ernsten Bestimmung des Raumes ein Sarkophag mit Urne angebracht, an den sich die Gestalten des Glaubens und der Buße lehnen. Hoch hält der Glaube das Kreuz über den Sarg als Zeichen, daß der Glaube den Tod überwindet. Im Giebeldreieck des Grufthauses dient das in einer Kartusche vereinigte Doppelwappen der beiden Fürstinnen unter einer Krone als bedeutsamer Schmuck und Sinnbild der innigen Verbundenheit der Schwestern im Leben und im Tode. Der Totenkopf unter den Wappen weist auf die äußerliche leibliche Trennung im Tode, der Engelskopf darüber aber auf die Erlösung und das Wiedersehen in himmlischer Klarheit. Kindergestalten umgeben die Wappen, welche Himmel und Hölle, Tod und Gericht versinnbildlichen.

Schlicht und edel, von tiefem Ernst und strenger Wucht und Auffassung ist dieses Denkmal der beiden im Tode vereinten edlen Schwestern, so ganz anders als drüben Nossenis reiches buntes Werk oder dort das Denkmal des Kurfürsten Moritz. Es spricht nicht von Ruhm und Glanz, nicht von Macht und hohem Rang, nicht von Prachtlust und Reichtum, es spricht als echtes Grabdenkmal von der Vergänglichkeit und von dem, was über die Vergänglichkeit siegt und den wahren, echten Ruhm des Menschen ausmacht, von den inneren Werten, von der wahren, höheren Menschlichkeit edler Herzen und Geister. Durch diese zeitlose Sprache, welche uns berührt wie ein schöner echter Klang, der auch Jahrhunderte durchtönt, wird dieses Denkmal [212] unserem heutigen Denken und Fühlen besonders nahe gerückt, als wäre es ein Werk unserer Zeit und nicht schon über 200 Jahre alt.

Wir sind am Ausgange, und hart klirrt die eiserne Tür ins Schloß, welche dieses Mausoleum sächsischer Kunst und Geschichte hinter uns wieder verschließt. Welche ungeheure Fülle hoher und schwungvoller Gedanken und tiefer reicher Empfindungen, von starkem Wollen und Können, von edler reifer Künstlerschaft, von Schuld und Schicksal, von buntem, vielgestaltigem Leben der Vergangenheit, von Wagen und Wirken und auch von bitterem Leid und dunklem Tod hält dieser hohe lichte Raum umschlossen. Ein Denkmalsraum ist es von eindringlichster Kraft und Wirkung, doch wer kennt ihn wirklich in Sachsen oder gar im Reiche? Wer hat diesen Raum, den alten Dom, die goldene Pforte wirklich erlebt? –

Wenn man die Räume im Geiste werden und wachsen sieht und in die Jahrhunderte blickt, welche ihnen den Wert und die Weihe gaben, wenn wir mit inneren Augen schauen, wie die Väter ihre Werke hier wollten und mit sinniger Seele schufen, wenn ihres Geistes Wehen und Wirken unser Herz berührt, daß seine Saiten miterklingen in verwandter Harmonie, wenn ihr künstlerisches Wesen und Wollen uns gefangen nimmt, wie etwas, das uns wesensgleich im höchsten Sinne ist, dann erst erleben wir recht solchen Denkmalsraum, den Kunst und Geschichte geweiht haben. Die Heimat und ihre Kunst, so vielen unbekannt und fremd, von so vielen vergessen, verachtet, wird dir ein Erlebnis sein, reiner und reicher als viele gepriesene Wunder der Fremde und Ferne! – – –

Geh einmal in den Freiberger Dom und lasse deine Seele Zwiesprache halten mit den Gedanken der Ewigkeit, die [213] dort in Stein und Erz gebannt sind, mit den Gedanken und Träumen, mit dem Wollen und Wirken, dem Schaffen und Leiden der alten Geschlechter, die einst Erhebung hier gesucht, dann wirst du Antwort erhalten, die in deinem Herzen klingen wird, dann wird wie leiser Orgelton in deiner Seele das Erlebnis der Heimat sein. Und wenn du hinausschreitest nach stiller Weihestunde auf den grünen Friedhof und über dir dröhnen die alten Bronzeglocken der Hilliger, die große Susanna summt ihre wundertiefen weichen Akkorde, und das Silberglöckchen singt ihre helle Melodie dazu, – weit über die Dächer und Giebel schwingen und dringen, wogen und wandern sie in die blaue Ferne wie die Stimmen der Heimat und rufen wie die Sehnsucht stilleuchtender Stunden ganzer Geschlechter – dann rauscht es dir im Blute, denn du fühlst die Seele der Heimat, und du bist eins mit ihr.


[214]

Vor der Goldenen Pforte.

Die Westfassade des Domes türmt sich in wuchtiger Einfachheit empor wie ein breitschultriger steinerner Riese, der den Himmel stürmen will. Doch dort, wo die Vollendung den Bau in der Höhe krönen soll, bricht er plötzlich unvermittelt ab, als wäre dem Riesen das Haupt abgeschlagen, und starr und tot ragen die eckigen Schultern über die Dächer. Schaust du zu diesen Baumassen empor und lässest deine Blicke über dieses Gefüge von starken Blöcken aus dem Gneisgefels des heimischen Bodens schweifen, das ohne jeden Schmuck in schlichter Größe und zwingender Gewalt kantig vor dir aufsteigt, so mußt du vor der Baugesinnung und dem monumentalen Bauwillen seiner Erbauer staunen.

Nach ihrem Willen sollte der Westbau als riesenhafter monumentaler Abschluß den ganzen Dombau krönen und als selbständiger, gewaltiger Bauteil neben dem Hallenbau den Ruhm, den Stolz und die Macht des jungen Domkapitels zur höheren Ehre der heiligen Jungfrau verkündigen. Die Breite des Schiffes genügte nicht für diesen stolzen Gedanken. Weit springt über die Schiffsmauern der Westbau nach Süden vor und setzt seinen Fuß tief in den grünen Friedhof hinein, äußerlich scheinbar ein breiter Riesenbau für sich, aber doch innerlich innig mit dem Schiffsbau verbunden und verwachsen. – Wir wissen es nicht, wie der Meister des Baues sich den oberen Abschluß [215] dachte, aber wir können aus der ganzen Anlage des Westbaus schließen, daß er als gewaltiger Schlußakkord in geschlossener Wucht in die Höhe strahlen sollte, so daß vor ihm in seiner monumentalen Größe und Ruhe im Verein mit den mächtigen Flächen des Domdaches alle anderen Bauten sich beugten. – Neue Zeiten stiegen herauf, ehe die Westfront vollendet war. Die Stürme der Reformation umbrausten die langsam wachsenden Mauern, bis schließlich der letzte Maurer herabstieg und Notdächer dem unvollendeten Werke einen Abschluß gaben, Abschluß, aber nicht Vollendung! – Wann wird die Vollendung kommen? – –

Jahrhunderte gingen hin. Da griff ein Meister unserer Zeit zum Griffel, ein Meister, der Massen zu türmen verstand, der in der Wucht der Gedanken und Massen, in der kraftvollen Einfachheit die Schönheit suchte und aus der monumentalen Baugesinnung der alten Zeit heraus die Vollendung im Geiste neuer Zeit suchte, Bruno Schmitz.

Doch als das, was er im Geiste überragender Künstlerschaft geschaut und gebaut, zu Stein gewordener Geistestat emporwachsen sollte, da brachen die Stürme des Weltkrieges hervor. Wie vor 400 Jahren – o rätselhafter Doppelfall des Schicksals! – mußten die Künste schweigen, und der Meister legte sich selbst zum letzten Schlaf. – Wann wird die Vollendung kommen?

Sinnend stehen wir in der grünen Stille des Domfriedhofes, schauen die alten mächtigen, grauen Mauern und türmen in der Phantasie die Baumassen empor nach den Plänen des Meisters zur Vollendung in ruhiger monumentaler Wucht. Eine Amsel flötet im grünen Wipfel ihr Lied. Um uns schweigen die alten stillen Gräber, aber ihre schlichten, schönen Denkmäler reden eindringlich von einer verlorenen Kultur. Eine neue Zeit ist heraufgestiegen, [216] wird eine neue Kultur heraufsteigen? Sind es Frühlingsstürme, welche uns umbrausen, oder sind es Herbststürme, die noch das Letzte rauben vor der Ruhe des Todes und winterlicher Unfruchtbarkeit? Tausend Hoffnungen sind geknickt, tausend Pläne sind zerflattert in diesen Stürmen! Werden diese Stürme auch Knospen wecken, daß sie aufbrechen und einmal Frucht tragen für eine neue Kultur echt deutscher Art? – Die Amsel singt ihr fröhliches Lied so jauchzend in die Frühlingssonne hinein und schwingt sich auf den First des Kreuzganges. Frühling und Wachstum, Knospen und Vogelsang über Gräbern! Die Hoffnung bleibt lebendig, und das Leben ist stärker als der Tod! Sei stille, das Leben wird neue Knospen ansetzen und Blüten und Frucht bringen, und es wird gesegnet sein aus den tiefen Quellen, welche die Jahrhunderte durchströmen und unversieglich sind, den Quellen deutscher Tiefe und inniger seelischer Kraft, die manchmal freilich verschüttet scheinen, aber in der Tiefe weiterströmen und dann plötzlich hervorbrechen mit neuer Frische, Kraft und Reinheit.

Wir schreiten zur Goldenen Pforte herüber und hören vor ihrer göttlichen Ruhe das Rauschen dieser Quellen deutscher Tiefe und inniger, seelischer Kraft. Mit schlichtem Worte preist sie der Chronist von 1653:

»Die Pforten dieser Kirchen seynd auch wohl außgearbeitet, sonderlich ist an der einen, welche seitwärts gegen Morgen nicht weit von Altar lieget, großer Fleiß und Kunst bewiesen worden, welche auch daher, und weil sie gantz übergüldet gewesen, die güldene Pforte genennet wird.«

Vor der Goldenen Pforte mußt du allein sein, oder ganz stille mit einer engverbundenen, hochgestimmten Seele. »Auf leisen Sohlen wandeln die Schönheit, das wahre Glück und das echte Heldentum«, sagt Wilhelm Raabe. Sei stille [217] drum, wenn du hier nahe trittst. Aus dem Dome muß dazu die Orgel klingen in feierlichen Akkorden, oder droben müssen die Glocken ihr ehernes Lied summen, weit über die Dächer empor zu den Wolken, und dein Herz muß offen sein, offen für Klänge aus einer reinen, hohen, heiligen Welt, für Klänge aus der Höhe. Ganz stille dann und schauen und schauen. Dann wird es in dir anfangen zu schwingen und zu klingen, und auf leisen Sohlen kommt die Schönheit und das Glück, und du hörst ferne Stimmen, die mit dir reden, und Gedanken gehen wie strahlende Wolken über den weiter und weiter sich spannenden Himmel deiner Seele.

Der Dichter des Nibelungenliedes, der Dichter des Gudrunliedes, der größten Lieder deutschen Heldenmutes und deutscher Treue, sind uns unbekannt geblieben, aber in ihrem Heldensang zittert und bebt und lebt unser Blut, unser Geist, unser Herz und Seele. Sie schufen ihr Werk fast zu gleicher Zeit als unsere Goldene Pforte aus gleicher Seelentiefe, Herzensreinheit und Geistesfülle erstand. Vor 700 Jahren hat ein tiefer deutscher Künstlergeist dieses Wunderwerk geschaffen. Niemand kennt seinen Namen, aber sein Genius ist heute noch lebendig und schlägt dich in seinen Bann und nimmt dich im Fluge empor zu den neun Himmeln der Verheißung und Erfüllung, die er in tiefer Symbolik hier gestaltete. Sein Werk ist heute noch frisch und jung, als habe der Künstler eben erst den Meißel weggelegt, so klar, daß es jedem Kinde etwas sagt, so rätselhaft, daß seine restlose Deutung tiefster seelischer Zusammenhänge und Erklärung vielfach verschlungener Symbolik und kunstwissenschaftlicher Rätsel noch keinem Denker gelang. Wenn man einem tiefen Eindruck nachsinnt, bleibt immer etwas Unergründliches, Unerklärliches, was unter der Schwelle [218] des Erkennens ruhend den tiefen göttlichen Urgrund ahnen läßt. Soll man sagen, warum etwas von Beethoven z. B. ergreift, so muß man zuletzt verstummen. Vor der Goldenen Pforte kann man das letzte nicht sagen, man muß stille sein und in der Seele die Unergründlichkeit spüren.

So jung ist das Werk, als wolle der Meister den weggelegten Meißel wieder aufnehmen, um die letzten unvollendeten Teile, die er vor 700 Jahren verließ, fertigzustellen, dort den Flügel des Engels im Tympanon, dort die Konsolen in den gewaltigen Rundbögen. Das Fehlen dieser letzten Meißelhiebe gibt den sinnenden Gedanken neue Rätsel auf und webt einen feinen Schimmer der Romantik und spürenden Phantasie um Künstlerhände, die zu frühe müde wurden, um Künstlerschicksal, das sich zu früh erfüllte, um Künstlernamen, der im Dunkel versank, während er unter den hellsten Sternen der deutschen Kunst leuchten müßte. Doch was soll uns der Name, wenn das lebendige Werk laut seinen Meister durch die Jahrhunderte preist?

Durch Feuersnöte und Einsturzgefahren, durch Kriegsstürme und Belagerungen, durch Abbrüche und Umbauten, durch Glaubenskämpfe, Fanatismus und Bildersturm, durch Empörung, Aufruhr, Bubenspott und wilden Übermut, durch Regen, Frost, Blitz und Wetter, durch Roheiten und Zerstörungslust, durch Aberglauben, Gleichgültigkeit und tausend andere Gefahren von sieben Jahrhunderten steht die Goldene Pforte in wunderbarer Erhaltung bis auf unsere Zeit.

Das Gotteshaus, zu dem sie gehört, hat öfter seine Gestalt gewandelt, sie ist in ihrer Herrlichkeit geblieben und zeugt in ihrer strahlenden Schönheit von dem Geist und der Kunst der alten Zeit, uns so nahe verwandt und verbunden und doch so fern, so still erhaben in seiner stillen Hoheit [219] und Geschlossenheit über der lärmvollen Zerrissenheit unsrer Tage.

Es ist, als ob ihre Schönheit, wie einst die Klänge des Arion wilde Tiere besänftigten, so alle Zerstörungslust und wilden Übermut gebändigt habe, daß sie stille wurden und vor ihr in scheue Bewunderung und heilige Ehrfurcht sich wandelten. Die Macht der Schönheit hat sich selbst behütet und bewahrt.

Und doch ist es nicht nur die Schönheit, die hier zu uns spricht, es ist das tiefste Fühlen und Denken eines ganzen Zeitalters hier in Stein gebannt und wie ein gewaltiges Glaubenslied, wie der Schrei der verlangenden Seele eines ganzen Volkes nach dem, was göttlich ist und über die Nichtigkeit zur Ewigkeit erhebt, klingt es empor.

Du fühlst es, denn du bist Blut von ihrem Blut, und das wird dir unaussprechlich klar, daß die Kunst arm ist, wenn sie nur diesseitig ist. Du spürst in dir das Erkennen, daß die Kunst die Sprache der Seele zu der Gottheit ist, daß in ihr das Göttliche in uns seinen sehnsuchtsvollen Ausdruck sucht. –

Das Volk jener fernen Tage konnte nicht lesen, aber es konnte deuten und die Sprache der Symbole, sinnbildlicher Bewegungen, Stellungen und Gestalten verstehen, wie es unsrer Zeit ganz verlorengegangen ist. So war ihm ein reiches Bildwerk symbolischer Art wie ein Buch, das mit ihm redete in stummer, lebendiger Sprache und sich einprägte wie eine gewaltige Predigt oder wie wuchtige Glaubenssätze. Es erkannte in ihm das, was es im Innersten erfüllte und wonach ihre Herzen verlangten. Es war ihm ein Ausdruck des eigenen besten Seins, Fühlens, Verlangens und Glaubens. Es war ihm eine gewaltige Predigt, welche ihre Seelen von der Geburt des Weltheilands, [220] den die Könige anbeten, bis zu den Donnern des Jüngsten Gerichts, da die Gräber springen, von den Verheißungen des alten Testaments zu der Erfüllung des neuen Bundes trug.

Solch ein Werk wie die Goldene Pforte konnte nur geboren werden aus einer Zeit höchster religiöser Empfindung und gesteigerten kirchlichen Lebens, als die Macht der Kirche und ihrer Lehren und Auslegungen besondere Gewalt über die Seelen und Gedanken hatte. Es war die Zeit der Kreuzzüge, in welchen so viel religiöse Inbrunst verloderte und deutsche Kraft verblutete für weltenferne Träume und wirklichkeitsentrückte Gedanken. Es war die Zeit der Gründung des Franziskaner- und Dominikanerordens, die mehr als andere im Volke ihre Wurzeln schlugen und ausbreiteten, dadurch, daß sie in den breiten Massen wirkten und nicht sich abschlossen wie die anderen Orden, die bald auch in Freiberg ihre Klöster gründeten und bauten.

Die geistigen Strömungen wirkten sich in kirchlichen Gedanken aus. Da blühte dieser Gedanke in der jungen Bergmannsgemeinde auf, ihren Reichtum und ihren kirchlichen Sinn zu zeigen. Statt der schlichten, alten romanischen Pforte aus der ersten Bauzeit in der Gründungszeit der Stadt, deren Reste noch auf uns gekommen sind, sollte ein großes, stolzes Marienportal das Gotteshaus schmücken, schöner und reicher als irgendein anderes in deutschen Landen! Nach einem tüchtigen Meister hielt man Umschau. Man mag im Kloster Altzella bei den feingebildeten, kunstverständigen Benediktinermönchen, ferner in Wechselburg und auch in anderen Städten herumgehorcht haben. Die Ordensbeziehungen der Klosterleute und die Handelsbeziehungen der Bürger reichten ja weit und machten nicht [221] vor den Landesgrenzen halt. Die bunt aus allen Stämmen gemischte, zum Teil auch weitgewanderte, geistig regsame Bevölkerung hatte manchen klugen und gebildeten Kopf, und der den Verkehr anziehende Segen des Bergbaues und die uralten Handelswege mögen auch manchen Welt-, Menschen- und Kunstkenner herbeigeführt und sein Wort und Ratschlag zur Geltung gebracht haben.

Den rechten Meister zum Werke zu finden, das war jedoch ein Glücksgriff besonderer Art, und wie ein Meteor taucht der Künstler aus dem Dunkel auf, helleuchtend mit seiner Schöpfung, und verschwindet wieder im Dunkel. Wir können nur vermuten und ahnen, auf welchem Wege er gefunden wurde und aus welchen Einflüssen heraus der Meister dieses herrliche Werk schuf. Keine Urkunde und keine Chronik meldet seinen Namen, aber aus dem Werke seiner Hand können wir fühlen, wie seine Künstlerschaft zu dieser Vollendung reifte und Anregungen aus Jugend, Heimat und Fremde verarbeitete und mit schöpferischer Kraft gestaltete. Er stammte vielleicht aus Magdeburg, wo in der alten Bischofsstadt ein neuer Dom entstehen sollte. Dort in der Dombauhütte war er wohl als junger Künstler tätig, der sich schon ausgezeichnet hatte, weit durch Deutschland gewandert war und vielleicht in Regensburg, wahrscheinlich aber auch in Halberstadt gearbeitet hatte und dort den Dom und die Liebfrauenkirche genau kannte, ihre Formen, Bildwerke und Malereien mit ihrem Gedankenreichtum in sich aufgenommen, gezeichnet und verarbeitet hatte, dessen Künstlerschaft an diesen Werken gewachsen war. Sein Meister in der Dombauwerkstatt von Magdeburg war aber auch in Frankreich gewesen. Ihn hatte der Erzbischof Kardinal Albrecht II. dorthin geschickt, um Anregungen für den neuen Bau zu schöpfen, aus den [222] gewaltigen Kathedralen von Paris, Chartres und Laon, die der Kardinal in seiner Jugend gesehen hatte.

Dieser Meister hatte den Kopf und das Herz voll sprudelnder neuer Gedanken und Bilder mitgebracht und ein Skizzenbuch voll Zeichnungen von Portalen und Figuren und allerlei Einzelheiten, Notizen und Motiven, um, befruchtet durch fremdes, neuartiges, künstlerisches Schaffen und Gestalten sein eigenes Können und seine künstlerische Phantasie zur höchsten Blüte zu entwickeln. In diesem Skizzenbuche seines Meisters mag nun mit feuriger Seele unser Künstler studiert haben, um das, was an alter deutscher Kunst ihm herrlich schien, nach Form und Inhalt mit diesen neuen Gedanken zu verbinden und zur Vollendung zu führen.

Die junge Kunst der aufblühenden Gotik, wie sie in Frankreich emporwuchs, mit ihren neuen Konstruktionsgedanken lag ihm fern. Er fühlte mehr als Bildhauer und wendete seine Neigung dem bildnerischen Schmucke zu. Er zeichnete eifrig und entwickelte sich seine Gedanken und ließ sich von seinem Meister erzählen, wie an den französischen großen Kathedralen die Portale geschmückt waren: Ein Marienportal mit der Darstellung der Erhebung Marias zum Himmel und Krönung, ein Christusportal mit dem Heiland in der Glorie, mit den Evangelistensymbolen und der Königsreihe seiner Vorfahren, und schließlich ein Portal mit der Darstellung des Jüngsten Gerichtes. Wie mag der Künstler mit der Fülle der neuen Gesichte und Vorstellungen und Anregungen und Formen gerungen haben, mit denen die junge Gotik seine Feuerseele bedrängte. Das Neue, das ihm entgegenblühte, zu verstehen und aufzunehmen, und neue Gedanken mit der klaren, einfachen, alten, lieben Sprache der Heimat auszudrücken, das wurde [223] das Ziel seines Ringens. Im benachbarten Halberstadt zeichnete und studierte er viel an den neuen Werken der kirchlichen Baukunst und Bildnerei. Auch manches Werk der Antike in edler Einfalt und stiller Größe mochte ihm bekannt geworden und von ihm in seiner Schönheit im heißen Glück empfunden und gezeichnet worden sein und ihn emporgehoben haben zu reifer, abgeklärter Kunst.

Es erging vielleicht durch Vermittlung seines Meisters in Magdeburg an ihn der Ruf von Freiberg, ein Prachtportal zu bilden zur Ehre der Jungfrau Maria und zum Schmucke der jungen, stolzen Silberstadt, deren Ruhm weithin durch das alte Sachsenland erklang. –

In welcher bewundernswerten Weise er diese Aufgabe anpackte und löste und eines der größten Meisterwerke deutscher romanischer Kunst schuf, wie er unter meisterhafter Beherrschung aller romanischen Schmuckmittel und künstlerischen Möglichkeiten und Formenreichtums alle Tiefen inniger Glaubensgewißheit und kirchlicher Lehre durchmaß und in seinem Werke ihnen Sprache und Leben gab, wie er mit der Glut seiner deutschen Seele die Klänge ferner, fremder Kunst in die göttliche Harmonie und Reinheit seiner heimischen Kunst voll ursprünglicher, selbständiger künstlerischer Eigenart einordnete, das ist Zeugnis für den Himmelsflug seines Geistes, die Tiefe seiner Seele und seine schöpferische Kraft. Und sehen wir vom geistigen Inhalt des gewaltigen Werkes ab, so ist schon die rein bildnerische, künstlerische Schönheit des Ganzen und aller einzelnen Teile so vollendet und ergreifend, daß es weit über alle Werke jener Zeit emporragt.

Die Goldene Pforte ist noch ganz romanisch, ein stufenförmig gestaffeltes Portal mit Säulen in den Winkeln der Stufen von reinromanischer Kapitälbildung. In der Ornamentik [224] der mächtigen Rundbögen finden wir die kräftigen Zickzacklinien, wie sie besonders gern und häufig irische Mönche verwendeten, welche als Missionare Deutschland und Frankreich durchzogen und ihre einheimischen Formen zur Geltung brachten. Diese »Schottenmönche« hatten z. B. in Regensburg zwei Kirchen nach ihrer Art gebaut und geschmückt, und es ist wohl möglich, daß auch bei der Goldenen Pforte mit ihren Zickzackornamenten, die sich bis in die Schäfte der Ecksäulen zart fortsetzen, solche irische Einflüsse, sei es über Regensburg, sei es über andere Studien und Skizzen des Meisters wirksam gewesen sind. Alle Gebundenheit und Steifheit der Ornamentik und namentlich des Figürlichen, in der die mittelalterliche Kunst noch gefesselt lag und die mittelalterliche Figuren neuzeitlichem Empfinden oft so schwer verständlich macht, ist aufgehoben. Die Gestalten leben und sprechen und sind erfüllt von innerer geistiger Spannung je nach ihrer Bedeutung und Bestimmung. Sie sind mit einer plastischen Sicherheit und Kenntnis des menschlichen Körpers und seiner Bewegung hingestellt, als wären sie vom Frühlingshauche der jungen Renaissance, die doch erst 300 Jahre später nach Freiberg kam, berührt und erweckt, von formaler Schönheit erfüllt und über ihre Zeit hinausgehoben worden.

So ist die Goldene Pforte zu dem strahlenden Juwel geworden, das durch die Jahrhunderte leuchtet und auch heute noch jeden Beschauer zur Andacht zwingt, daß er empfindet: Hier stehst du an heiliger Stätte, an einer Stätte der Offenbarung deutscher Seele, deutscher Kunst und deutscher Gedankentiefe. Die Kunst erhebt sich hier in der Tat zu einer so ergreifenden Großartigkeit, sagt Richard Freiherr von Mansberg, ihr geistvoller Erklärer, dem wir hier folgen wollen, daß in dem ganzen Gebiete der Erzeugnisse [225] dichtender und bildender Kunst außer dem gigantischen Werk eines Dante wohl keines zu nennen ist, welches an tiefer Durchdringung des geistigen schwer zu bewältigenden Stoffes bei gleicher Formvollendung dem unsrigen ebenbürtig zur Seite gestellt werden könnte. »Noch einmal,« sagt er, »verschmelzen hier antiker Schönheitssinn und deutsche Empfindung, getragen von einem Naturgefühl, das bis ins kleinste der Gesichtszüge, der Hände und Füße, voll Adel und Lebenswahrheit ist«.

Neun Bogen schließen sich so zusammen zu einem gewaltigen Halbrund, das als Symbol des Weltalls gilt mit den neun Himmeln, in welchen die beim Jüngsten Gericht aus ihren Gräbern auferstehenden Märtyrer, die Apostel und die Scharen der Erzengel, Cherubinen und Seraphinen Gott in seiner Dreieinigkeit in den Scheiteln der Bögen thronend schauen und in feierlicher Würde verehren. Die Figuren sind wie die Juwelen eines Diadems in köstlicher Vollendung dem reichen Rahmenwerk eingefügt.

Dieses gewaltige Diadem umspannt das Bogenfeld (Tympanon) als Herz der ganzen Komposition. Die Jungfrau Maria mit dem Jesusknaben ist hier thronend dargestellt, wie die drei Weisen aus dem Morgenlande, als Vertreter der Völker der Erde, ihre Gaben bringen und huldigen. Sie ist der Mittelpunkt des Weltalls, als die reine Jungfrau, die Gottesmutter, die Himmelskönigin, die Mutter der Gnaden in nahezu vollkommener Weise dargestellt. Hoheit und Demut und eine überirdische Verklärung spricht sich in den ernsten und doch weichen Zügen aus, die immer stärker fesseln, je länger man sie aus der Nähe betrachtet.

»Die Gottesmutter, die Himmelsfrouwe und der Engel Kuniginne«, wie der alte Dichter sagt, ist selten wieder in gleicher Tiefe, Innigkeit und Vollendung dargestellt worden.

[226]

Über ihrem Haupt runden sich die Himmelsbögen, in denen Engel, Apostel und Auferstehende die Erfüllung und Vollendung des göttlichen Erlösungswerkes symbolisieren. Zu ihren Füßen aber stehen Gestalten des alten Bundes, als Verkünder, Vorläufer und Ahnen des Heilandskindes, das sie in den Armen hält. Zugleich aber sind diese Gestalten als Sinnbilder zu deuten, die Maria feiern als eine Jungfrau, Gottesmutter, Himmelskönigin und Mutter der Gnaden. Zwischen den herrlichen Säulen mit ihren köstlichen Kapitälen, welche die Himmelsbögen tragen, stehen so auf kleineren Zwergsäulen sich gegenüber die Gestalten des Propheten Daniel und des Aron, der Königin von Saba und der Bathseba, des Königs Salomo und des Königs David, Johannes des Täufers und des Propheten Nahum.

Doch noch tiefer und weiter greift die Symbolik: Die neue Pforte zum Gotteshause sollte für die Freiberger Bergmannsgemeinde eine Bergmannspforte sein! Nicht ohne Absicht steht darum Aron auf der ersten steinernen Säule des Gewändes. Im Orient haben Namen ihre besondere Bedeutung. Der Name steht für das, was der Mensch selbst ist. Aron, das arabische Harun, von dem Märchenkalifen Harun als Raschid bekannt, bedeutet »Bergmann«! Aron, der Bergmann, steht als erster an der stolzen Pforte der Pfarrkirche der jungen Berggemeinde und weist so auf die Bergstadt hin.

Über der zweiten Säule ist die Stadt Freiberg, das alte »Vriberch« selbst dargestellt durch einen weiblichen Kopf mit Mauerkrone. Das Symbol der Mauerkrone kennzeichnete ja bereits in der Antike die Stadtgöttinnen.

Den ersten der neun Bogen tragen Löwen als Wächter des Heiligtumes, den dritten trägt die Stadt Freiberg als der Ort, der das Heiligtum baut, erhält und trägt, den [227] fünften Bogen trägt links ein Bergmann in der alten Fahrhaube und rechts ein Mönch mit Fischen, der Bergmannsstand, der die Gemeinde bildet, und der Mönch, der die Gemeinde sammelt und pflegt nach dem Wort des Herrn: »Ich will euch zu Menschenfischern machen«.

Über 80 figürliche Darstellungen schmücken die Pforte in unerhörtem Reichtum aber ohne Überladung in köstlichem Rhythmus der künstlerischen Formen und der tiefen Gedanken. Die stets wechselnde Fülle der Ornamentik und aller Schmuckbildungen an Kapitälen, Gesimsen, Säulen und Bögen, in welchen Menschen- und Tiergestalten in echt deutscher Phantasie mit verflochten sind, ist staunenswert.

Hier zum ersten Male werden in Deutschland sitzende Figuren in den Nischen der Bögen verwendet, das einzige Mal im romanischen Stil, was später der gotische Stil häufiger zeigt.

Hier zum ersten Male in Deutschland wird eine Krönung Mariä dargestellt im untersten Bogen über dem Tympanon, die zwei bis drei Jahrhunderte später ein so beliebtes Motiv der Plastik und namentlich der Malerei wurde.

Hier zum ersten Male wird in der deutschen Kunstsymbolik das Jesuskind mit dem Apfel als Sinnbild der Welt dargestellt.

Eine Fülle von neuen Gedanken sind hier zum ersten Male ausgedrückt, die für Jahrhunderte die Kunst befruchteten und anregten. Hier ist die Kunst nicht nur ein Können voll Schönheit und nur der äußeren Form, welche die Augen beglückt, nein, sie ist eine Stein gewordene Weltanschauung von unendlicher, echt deutscher Seelentiefe, innerem Gehalt und unwiderstehlicher Gemütskraft. Sie ergreift das Innerste, weil hier eine gottbegnadete Künstlerseele [228] ihr künstlerisches und seelisches Bekenntnis ausströmte und in wundervoller tiefer Einheit formte zu einem Werke voll leuchtender Klarheit, Schönheit und heiliger Innigkeit, einem Werke, in welchem das edelste Wollen und Fühlen seines ganzen Volkes und seines Zeitalters erhabenen Ausdruck fand.

Um die Wirkung seines gewaltigen Werkes auf das höchste zu steigern, hatte der Künstler dann das Ganze vergoldet und in reine leuchtende Farben, in strahlendes Rot, tiefes Blau und sattes Grün gehüllt. Das Gold und die Farben sind im Laufe der Jahrhunderte geschwunden, doch noch heute lassen sich Farbenspuren hie und da an versteckter Stelle finden und aus älteren Berichten kann die Farbengebung der einzelnen Teile mit einiger Sicherheit festgestellt werden. Die unverbildete Farbenfreude des Mittelalters, welche sich ja auch in der Tracht ausspricht, liebte es, architektonisch ausgezeichnete Bauteile, wie Portale, Erker, Giebel u. dgl. als besondere Schmuckstücke farbig zu bemalen und auch breite Wandflächen innen und außen mit Gemälden zu schmücken. Kaum ein mittelalterliches Bauwerk höheren Ranges wird auf die kräftige, belebende Wirkung reiner leuchtender Farben verzichtet haben. Das Erbe dieser Farbenfreude hat ja nur unsere Volkskunst in schlichtester Weise festgehalten, vermehrt und zu mancher neuen Blüte gefördert. Diese Farbenfreude, welche durch die mißverstandene Antike und Klassizismus verlorengegangen zu sein scheint, ist ein inneres Bedürfnis unseres Volkes und müßte wieder ihren Platz sich erobern im Leben des Volkes und im Straßenbilde.

Die alten Beispiele und die alte Volkskunst könnte da anregend und befruchtend wirken im Sinne einer farbigen, malerischen Bereicherung unserer so nüchternen, modernen, [229] Grau in Grau gehaltenen und Grau in Grau die Seelen stimmenden Straßen und Plätze.

Wie ein Märchen voll Schönheit, Glanz und Farbe muß dagegen die »Goldene Pforte« einst gewirkt haben, und so manchen schlichten, rauhen Besucher aus harter, unwirtlicher Wald- oder Bergeinsamkeit überwältigt haben, als stünde er vor der Pforte des Himmels, wo alle Schönheit und aller Glanz vereinigt ist, so daß er geblendet die Augen schließen muß, nein, tief in die Seele die Herrlichkeit hineintrinken möchte und an dem Trunk genesen muß von dem, was schwer und trüb und dunkel seine Seele bedrückt und bedrängt, daß er alles vergißt, was dahinten ist und seine Sehnsucht nach dem ewigen Lichte strebt, und die Arme hebt dem leuchtenden Glanze entgegen. – – – –

Doch wir müssen scheiden. Die Glocken droben sind längst verklungen, aber im Herzen klingen lauter und lauter die Glocken, welche das Lied von deutscher Seele und deutscher Kunst, von deutscher Kraft und Schönheit singen, welche nach 700 Jahren noch jung ist und jung bleiben wird, solange noch eine deutsche Seele dem Lichte entgegenringt und goldene Pforten sich baut, leuchtend im Grau der Tage, hoch über dem Schmutz der Straße, hoch über den dunklen Tiefen des eigenen Herzens, die ihre goldenen Bögen öffnen der Erfüllung und Vollendung entgegen.


[230]

Haldenwanderung.

Ja freilich ist es über die Maßen herrlich, unterzutauchen in die Tiefen des grünen Meeres der Wälder, wo die Wipfel wie Wogen rauschen und wallen, und dort in kraftspendender Einsamkeit aus der Unruhe und den Irrungen und Wirrungen zurechtzufinden.

»Da mag vergehn, verwehen
Das trübe Erdenleid,
Da sollst du auferstehen
In junger Herrlichkeit!«

Einsamkeitsgänge sind oft Genesungsgänge, Gänge der Erhebung, des Aufrichtens und Abschüttelns von allerlei Last und Leid. Meister Eckhart (1260–1327) sagt: »Ein auferhobenes Gemüt sollst du haben, nicht ein niederhangendes, ein brennendes Gemüt – in dem doch eine ungetrübte schweigende Stille herrscht.« Stunden der Stille sind Stunden der Kraft, wenn du der Stille die Tiefen deiner Seele öffnest, damit sie stille wird.

»Da draußen, stets betrogen, saust die geschäft’ge Welt!«

Doch da drinnen kann auch das Herz betrogen werden und leer bleiben trotz der Stille, wenn es nicht den Stimmen der Stille recht lauscht und aufnimmt, was sie sagen und geben wollen.

Wer diesen Stimmen recht zu lauschen vermag, der findet Reichtümer und Schätze, wo den andern alles arm und öde ist, dem blüht Leben und Freude, wo dem andern alles tot [231] und leer ist, der gewinnt Kraft und neuen Schwung, wo der andere müde und stumpf wird. »Auf leisen Sohlen wandeln die Schönheit, das wahre Glück und das echte Heldentum«, sagt Wilhelm Raabe.

In der Stille wachsen große Gedanken,
Aus der Stille reifen wahrhafte Taten,
Aus der Stille blüht die Stärke der Seelen!

Sagt doch schon der Prophet Jesajas: »Wenn ihr stille bliebet, so würde euch geholfen«.

Was vermag aber am meisten die Seelen zu erheben und still zu machen? Großes Gotteswerk und großes Menschenwerk, die Ewigkeit und die Vergänglichkeit!

Aus der Stille heraus erst vermagst du oft die Heimat zu verstehen und ihre Wunder zu erkennen, ihre Werte zu finden und dir zu gewinnen, die sie dem Lärm verborgen und verschlossen hält, in der Stille erst vermagst du für dich in der Heimat das große Gotteswerk und das große Menschenwerk, die Ewigkeit und die Vergänglichkeit mit deiner Seele zu suchen und zu erkennen. In der Stille erst vermagst du dich selber zu finden und dein Bestes zu verstehen.

»Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.« – – –

Wir wollen einmal wandern, dort, wo es stille ist, dort, wo großes Menschenwerk, wo die Vergänglichkeit in stummer Größe uns anschauen und uns erzählen von vieler Geschlechter Mühe und Arbeit und von ringenden Kräften ferner Tage. Eine Wanderung über die alten Bergwerkshalden in der Umgebung der alten Bergstadt vermag uns gar stille und nachdenklich zu machen. Gar oft ist die [232] Romantik der alten Burgen und Schlösser und ihrer trotzigen Ruinen besungen worden. Sagen und Geschichten umranken die Trümmer mit stimmungsvollem Zauber und beflügeln die Phantasie sogar auch manches nüchternen Spötters zu höherem, reinerem Flug.

Wir sind stolz auf diese Herrlichkeiten der Heimat, die uns vom Glanz, von urwüchsiger Kraft und kriegerischem Tatenmut unsrer Vergangenheit erzählen, und empfinden sie froh und tief. Doch hier unsere Halden und schlichten Bergwerkshäuser sind von gleichem Werte und gleicher oder tieferer Wirkung auf die sinnende Seele, wenn sie nur in ihr stilles, schicksaldurchfurchtes Antlitz schaut. Wir wollen sie suchen und lieben, wir wollen stolz auf sie sein und von ihrem stimmungsvollen Zauber in der Stille uns umfangen lassen und von ihnen reden und sagen, nicht wie von etwas, das der Menge und dem Geschrei gefallen muß oder etwas geben könnte, sondern wie von etwas, das den feinen Seelen, den stillen Herzen unendlichen Stimmungszauber gibt. Auch die alten Halden erzählen, wie jene stolzen Burgen, von untergegangener Herrlichkeit, und der silberne, mit bunten Blumen durchwirkte Mantel der Romantik liegt über ihnen. Es ist nicht die Romantik klirrender Waffen von Blut und Streit, sondern die Romantik klirrenden Werkzeugs, ringender Arbeit und sauren Schweißes von tausend Geschlechtern, welche in unermüdlicher Treue mit den Geistern der Tiefe den täglichen Kampf der Arbeit und Pflicht durchkämpften und in den dunklen Schächten die blutenden Silberadern der Felsen durchforschten. Es ist die Romantik, welche nicht Wunden schlug, sondern aus den Felsen die edlen Erze schlug und sie zum Zauberstabe machte, daß aus dem Lande ein Garten wurde, in welchem die Kultur und edelste Kunst erblühte.

[233]

Diese Arbeit von Jahrhunderten hat die Landschaft gestaltet und ihr so charaktervolle Formen gegeben, daß die Landschaft selbst dadurch ein Riesendenkmal des untergegangenen Bergbaues geworden ist. Die Kräfte, welche sie zu ihrer Eigenart herausgestaltet haben und in ihr wirksam waren, werden deutlich sichtbar, und jede Halde, jeder Hügel, jede Binge erzählt uns von dem Ringen, den Siegen und dem Segen zäher Arbeit zahlloser namenloser Geschlechter. Die Halden sind die Riesendenkmäler der Namenlosen der Arbeit! So trägt die Landschaft die tiefe geistige Schönheit eines durchgearbeiteten Charaktergesichts, und dies ist schöner und packt mehr die Seele und forschende Gedanken, als die leere Schönheit der äußeren Form, in der kein geistiges oder seelisches Erleben, kein Schicksal und kein Kampf sich ausprägt und uns mitleiden und mitfühlen läßt. Wie gewaltige Hünenmale des alten Bergbaues türmen sich rings die Halden mit ihren mächtigen Steinmassen. Blaue und violette Schatten auf dem schwarzen, braunen, gelben und roten Gestein und wieder der rote Glast der Sonne verleihen ihnen ein eigenartiges Leben und wundersame Stimmung. Bald im Sturze in natürlicher Böschung übereinandergerollt und durcheinander gekollert, bald wieder mit steiler Steinpackung wie in Felsenmauern gefügt, schwarz vom Wetter und finster-gewaltig in den mächtigen starren Linien des Umrisses gegen den blauen Himmel mit den schwebenden weißen Wolken stehend, liegen die Steinmassen nackt und ohne Grün da, gekrönt von den hellschimmernden, zusammengedrängten Häusern der Grube mit ihren grauen Dächern, die in feiner Massenabstufung dem Bilde den harmonischen Abschluß geben. Finster-dämonisch wirkt das Bild zu manchen Zeiten und Stimmungen. Ja, im Grauen des Gewitters, [234] wenn Sturm und Wetter auf ihren blauschwarzen Wolkenrossen durch die bebenden Lüfte sausen, dann steigert sich die Wirkung ins Heroische. Die Wucht und Schönheit der einfachen Linie, der kantigen Form und Masse hält uns in ihrem Bann.

Ja, wie mächtige Festungsmauern, steil und unersteiglich, finster und wuchtig wirken manche dieser Riesenmale, welche der Bergbau sich gesetzt. Wie Titanenwerke ragen sie auf und beherrschen die Landschaft. Bedeckt doch z. B. die Halde des Davidsschachtes bei 27 m Höhe eine Fläche von fast 40 000 qm , und ihre Steinmassen betragen etwa 1 Million cbm .

In der Nähe aber wird das Einzelne lebendig. Farben leuchten auf in allen Schattierungen, von Schwarz und Grau und Weiß, vom Braun bis zum leuchtenden Gelb und Rot und Zinnober, Grün, Rosa und Violett, und suchst du mit dem scharfen Blicke des Sammlers und wendest oder zerschlägst du gar die Steine hier und dort, so blitzt bald hier ein Kristall, Quarz oder Feldspat, bald schimmert dort eine Ader von Bleiglanz oder Schwefelkies oder es fesselt dich das feine Geäder baumartiger Zeichnung auf einer bunten Fläche. Und richtest du dich auf, so schweift dein Blick über die malerische Umrißlinie der Stadt im grünen Grunde unter dir mit ihren Türmen und Mauern, mit ihren sich drängenden steilen, roten, grauen und schwarzen Dächern. Dicht vor dir der mächtige Donatsturm mit seinem spitzen Kegeldach, um welches die Dohlen flattern und schreien. Die altersgraue Stadtmauer schaut durch grüne Wipfel. Dort die beiden stumpfen Türme von St. Nikolai, die mit ihrer schlichten Wucht so recht in die alte Bergstadt passen, dort der hohe schlanke Petriturm, der über alle Dächer, Giebel und Türme weit hinausschaut [235] ins grüne Land, der Rathausturm dicht dabei mit seiner barock geschwungenen Haube und endlich das mächtige Dach des altehrwürdigen Domes, das wie eine Henne weit seine Flügel breitet über die Schar der anvertrauten Küchlein, und dazwischen hinein das lustige Gewimmel von Giebeln und Dächern und Schornsteinen wie die Heerschar, welche sich um die hohen stolzen Führer freudig drängt und zu ihnen vertrauend aufschaut. Blauer Rauch wirbelt aus den Essen empor und ein Glockenklingen grüßt uns von den Türmen wie Stimmen aus den Seelentiefen der Stadt. Und wendest du dich um und schaust du weit ins Land hinaus, da sind die blauen Wogen des Waldes in der Ferne und vor dir in der Nähe und in der Weite im gewaltigen Ringe umher, die Halden, die schweigenden Beherrscher der weiten, stillen Landschaft. Bald träumen sie einsam im Felde wie ein gewaltiges Grab der Vergessenheit, der Vergänglichkeit entgegen, bald wandern sie in langen Zügen wie sagenhafte urweltliche Ungeheuer mit ihren Rücken und Kuppen durch das Zwielicht in geheimnisvolle Dämmerung hinein, bald türmen sie sich zu riesenhaften Kegeln empor, als sollten Pyramiden auf eines Pharao Geheiß zum Himmel emporgeschichtet werden, bald strecken sie sich lang und flach mit kurzem Steilhang wie vom Winde geformte, vom Sturm zerrissene Dünen, bald bäumen sie sich kurz, steil und trotzig empor wie eine vom Riesenpflug emporgeworfene Scholle. Bald weißschimmernd wie märkischer Sand, bald rot leuchtend, als bluteten alte, schmerzhafte Wunden, bald grünumwuchert, bald laubüberdacht, bald tot und nackt und kahl, stets wechselnd und doch immer dieselben schweigsamen und doch so vielsagenden Gestalten, sind diese Halden gewaltige und klingende Akkorde in der Landschaft Freibergs, welche [236] die jahrhundertelange Arbeit des Bergbaues schufen und fügten zu einer heroischen Symphonie der Arbeit.

Die Bauten, welche die Halden hie und da krönen, klingen in dieser Symphonie mit und stimmen zur Ruhe und Macht der stillen Massen, als könnte es gar nicht anders sein. Wie träumend in weltenweiter Vergessenheit schaut uns so manche alte Kaue, so manches alte Grubengebäude an wie aus Märchenaugen aus der Zeit »Es war einmal«! Des Fäustels munterer Schlag ist längst verklungen, die fleißigen Häuer, die frischen Bergjungen, der bedächtige Hutmann sind davongezogen, und es ist still, ganz still geworden, wo einst des Bergmannes herzhaftes Glückauf erklang. –

Kein Haus, kein Dach in der Nähe, kein menschlicher Laut! Verlassen, vergessen steht die alte Kaue auf der Halde, ohne Fenster, ein Dach auf vier verwitterten Wänden, von denen der Putz herunterrieselt. Die Bruchsteine schauen braun und grau hervor, und die gelblichen Fugen sind ausgewittert vom Sturm und Regen, von Frost und Hitze, die hier auf einsamer Halde um das einsame Haus ihr Wesen treiben. Gestrüpp, langes, graues raschelndes Gras und Binsenbüschel haben sich angesiedelt. Nacktes Geröll und Sand in bunten Farben, gelb, grau, braun und rot und weißlich tritt überall in unfruchtbaren, toten Flächen zutage. Eidechsen huschen umher, ein bunter Schmetterling gaukelt müde und träge vorüber, hängt sich dort an die langgestielte Blüte der Skapiose, als wäre er verzaubert, der Schrei einer ziehenden Krähe, ein Rascheln in den spröden, langen Halmen und darüber des Himmels unendliche blaue Glocke, in der es summt wie geheimnisvolle Stimme, wie die Stimme der Einsamkeit.

[237]

»Auf den Halden schläft der Wind.
Leise Schmetterlinge fliegen.
Wege weiß ich, still verschwiegen,
Nur die kleine Grille singt.
Duft von Heu schwimmt überm Grunde,
Und wo froh die Sichel klingt,
Geht des Tages müde Stunde.«

So breitet sich schwermütiger Zauber über viele der alten Halden, der dich gefangennimmt, wenn du dich stille zur rechten Stunde ihnen nahst.


Doch in manche der alten Berggebäude ist neues Leben eingezogen, arbeitet und kämpft mit vorwärts gerichtetem Blick und greift auf jahrhundertealtem Arbeitsgrunde kühn in die Zukunft und in die Welt, das Alte mit neuem Geiste erfüllend. Auf der riesigen Halde des David-Richtschachtes wachsen mächtige Bauten empor, in welchen zur Flachsbereitung zahlreiche fleißige Hände sich regen. Wie eine stolze Burg der Industrie auf riesenhaftem Sockel reckt sie sich auf. Auf dem Abraham- und auf dem Turmhofschachte regen Maschinen die stählernen Gelenke. Und dort auf der Reichen Zeche, die hoch und beherrschend die Landschaft krönt, regt sich in den alten Gebäuden das frische Leben der Wissenschaft, wächst und schafft sich neue Bauten und Stätten der Arbeit. Die Bergakademie hat hier für Arbeit und Forschung, Lehre und Übung fest ihren Fuß auf alten bergmännischen Boden gesetzt, aus dessen Berührung ihr immer neue Kräfte zuwachsen. Das modernste Wissen von der Braunkohle und der Maschine, der Glaube an die Zukunft und das Hoffen haben ihre Fundamente gelegt auf den festen Grund bergmännischer Vergangenheit, Treue und Tüchtigkeit.

Und auf dem Dreibrüderschacht und auf dem Konstantinschacht sind aus den alten Grubengebäuden Kraftwerke geworden. [238] Unten in der Tiefe des Schachtes im mächtigen, gewölbten, unterirdischen Felsensaal von 20 m Länge und 12,5 m Breite sausen die Turbinen 230 m unter Tage, getrieben von den auf diese Tiefe verfällten Aufschlagwässern, welche früher dem Bergbau dienten. Wie eherne Sehnen und Nerven ziehen sich die Drähte vom Schachte als Kraftmittelpunkt durch das Land und spenden Kraft und Leben tausend surrenden Rädern und Maschinen, tausend fleißigen Händen, Licht in tausend Dunkelheiten.

Braust hier auf diesen Halden das Leben modernster Arbeit und schmückt sie mit neuem Reiz und einer Wirkung von besonders eigenartiger Kraft, so liegt über anderen Stätten des Bergbaues, wo neues Leben eingezogen ist, ein inniger poetischer Hauch wie aus Märchenzeiten.

Durch den Hochwald, den duftenden, grünen Freiwald wanderst du dahin. Ein eigener Gedanke ist es, daß hier tief unter den Wurzeln der ragende Fichten einst das Silber wuchs, daß hier, wo jetzt der Wald seine grünen Geheimnisse rauscht, vor fernen Tagen der Knappe sein Glück suchte, in dunklen Schächten und Gängen das Silber grub, Halden türmte und seine Mauern und Giebel schichtete und richtete.

Die Meisen flattern zirpend von Zweig zu Zweig. Von ferne klingt die Holzaxt durch die grüne Einsamkeit und harzduftige Stille. Da leuchtet es hell durch die schlanken, goldbraunen Stämme, eine weiße Wand, braune Holzverschläge, grüne Fensterladen und ein graues Schindeldach, »das Schindelhaus« auf grüner Lichtung wie in einen Saal mit weichem, grünem Teppich gestellt, einst für bergmännische Zwecke erbaut. Wir tauchen weiter in die grünen Tiefen des Waldes und folgen dem schmalen Pfad, der uns [239] hineinlockt, das Flüstern und Rauschen der Wipfel zu hören und ihren köstlichen Duft zu trinken. Da tritt heimlich aus tiefer Einsamkeit ein graues Dach hervor. Auf einer Halde, das taube Gestein ganz überwuchert von Grün, liegt dort ein altes Scheidehaus, jetzt das Heim anspruchsloser Waldarbeiter, »das Silberschnurer Scheidehaus«. Mächtige Fichten im grünen Kreise schauen hernieder wie hütende Wächter. Die Könige dieser grünen Riesen sind zwei Hängefichten, deren Äste mit langen hängenden Zweigen wuchten, als wären sie von den Feen der Waldeinsamkeit und deutscher Waldherrlichkeit mit Prachtgehängen geschmückt.

Wie zwei Türme wachsen sie empor in den blauen Himmel, zwei Türme, die die grüne Gotik des Waldes mit zartestem Astfiligran geziert, zwei Türme, die leben und duften, die eine Seele und eine Stimme haben zu singen und zu sagen. Leise, leise wiegen und rauschen ihre Zweige, als webten darin die Klänge von deutscher Sehnsucht und deutschem Leid, von alter Heldenzeit und jungem Trotz. Vorn im Gärtchen leuchtet es von Blumen im bunten Flor. Da stehen steif gravitätisch die hohen Malven mit ihren zarten Farben, die Kresse mit feurigen Blüten schlingt sich am niedrigen Gitter, Rittersporn und Eisenhut, Rosen und Nelken duften. Die Bienen des nahen Bienenstandes summen durch den Wohlgeruch und die Farbenpracht und sammeln ihre süßen Schätze ein. Kinderlachen klingt um das Haus, Windeln und bunte Lappen flattern am Seile. Im wärmenden Sonnenstrahl sitzt Großmutter am Klöppelstock. Auf Stufen führt gewunden ein schmaler Pfad hinauf auf die Halde, deren altes verlassenes Scheidehaus nun frisches, junges Leben birgt, Leben, Zukunft, Behagen und Zufriedenheit, eine Heimat [240] tief im grünen Walde, eine Heimat aus Waldmärchenland auf uraltem, bergmännischem Grunde. –

Doch auch die letzte Heimat hat ein Großer des Bergbaues einst in einer Halde gesucht und dort seine Ruhe gefunden. Dicht bei Freiberg auf der Höhe liegt die Halde der alten Grube zu den heiligen drei Königen. Inmitten eines kleinen Haines von im Winde rauschenden Laubbäumen, grün umwuchert und laubüberdacht ist diese Halde ein Grab und ein Grabmal, wie es sinniger und stimmungsvoller kein Bergmannsherz finden kann. Hier auf freier Höhe angesichts der alten Bergstadt, die unten gleich einer malerischen dunklen Silhouette auf goldenem Grunde erscheint, inmitten der Freiberger Gruben, Halden und Hüttenwerke verfuhr der Oberberghauptmann Freiherr von Herder, ein Sohn des Dichters und Patenkind von Goethe und Matthias Claudius nach seinem eigenen letzten Wunsche seine letzte Schicht.

»Und sink ich einst in jenes dunkle Reich der Nacht,
aus dem auf seine Berge keiner wiederkehrt,
erhebt dann hoch, ihr treuen Knappen, mir das Grab;
nur aufgehäufte Erd und graue Stein,
ein Zeichen eurer Liebe, Knappen! –
Sitzt dann ermüdet an dem grünen Hügel einst der Wandrer
und gedenkt der Tag entflohener Zeit:
›Hier‹, sagt er ›ruht der Knappen treuster Freund! –
ihr Erster einst – ihr Erster auch in Wort und That,
galt es der Berge und der Knappen Ruhm und Wohl.‹
Erhebet hoch, ihr Knappen, mir mein Grab,
und denkt des treuen Freundes liebend nach,
wenn längst das enge Haus ihn deckt.«

Das sind seine Worte!

Ein kalter Wintertag war zur Rüste gegangen, Ende Januar 1838, tief lag die Stadt und draußen das Feld [241] verschneit, da wurde er auf den Schultern seiner treuen Knappen den letzten Weg zu seiner Lieblingsstätte, die nun seine Grabstätte werden sollte, nachts bei Fackelschein emporgetragen. Durch den tiefen unwegsamen Schnee hatte man tags zuvor erst den Weg ausgeschaufelt und gebahnt und dann durch Hin- und Herreiten von Reitern der Garnison feststampfen lassen. Nun dröhnte das feierliche Trauergeläute von allen Türmen der Stadt herüber. Die letzte Bergparade zur letzten Schicht des toten ungekrönten Königs der Bergwerke entwickelte sich in düsterer Trauerpracht. Die schwere Seide der altehrwürdigen Knappschaftsfahnen knisterte, und schwer wallte der schwarze Trauerflor hernieder. Blank und rot blitzten im Lichte der Fackeln die Barten und das Gezähe der Knappen auf, so kriegerisch als zöge die dunkle Schar auf geheimnisvolle Heerfahrt. Ihre brennenden Froschlampen trugen sie in der Hand und leuchteten so ihrem Herrn zur letzten Fahrt zum dunklen Schacht des Grabes, aus dem noch kein »Glückauf« den Bergmann wiedergrüßte. Die altertümlichen russischen Hörner dröhnten mit mächtigem Klange ihre wuchtigen ernsten Weisen und steigerten die Wirkung zu einem gewaltigen, erschütternden Erlebnis. Wie die Beisetzung eines alten germanischen Heerkönigs im gewaltigen Hünengrabe auf windumbrauster beherrschender Höhe mutet dieses nächtliche Bild an.

Diese Stimmung klingt heraus aus zeitgenössischen Berichten und Gedichten:

»Beim Fackelschein sie trugen
den Sarg durchs Tor bei Nacht,
Ein Hüttenmann hält zur Linken,
ein Bergmann zur Rechten Wacht.«

[242]

Ja, wie Kaiser Karl im Untersberg und Barbarossa im Kyffhäuser schläft er nur und wird einst wiederkehren:

»Doch schwieg rings auf den Bergen
das Grubenglöckelein
und fuhr kein Knapp am Morgen
zur Tagesschicht mehr ein,
dann wirst du aus dem Schlaf dich
wie Barbarossa ringen
und deinem Freiberg wieder
die alten Tage bringen!«

Sinnend stehen wir und schauen auf die große Bronzetafel, welche den Namen und das Wappen des letzten großen Berghauptmanns alter, versunkener Bergherrlichkeit trägt, schauen auf die in Stein gehauene Grabschrift: »Hier ruht der Knappen treuster Freund« neben der rechts und links ein Bergmann und Hüttenmann das Berg- und Hüttenwappen hält. 75 Jahre nachdem Herder hier seine letzte Schicht verfuhr, verfuhr der Freiberger Bergbau selbst seine letzte Schicht, das Grubenglöcklein schwieg rings auf den Bergen, und wie eine Sage klingt nur noch das Wort von der Berge und der Knappen Ruhm. Über uns rauschen die Wipfel der hohen Bäume, rauschen und flüstern von alter Zeit. In Barbarossas Tagen, als Ströme teuren deutschen Blutes im heiligen Lande und im falschen schönen Welschland so nutzlos für die Heimat vergossen wurden, blühte der junge Bergbau auf als eine der schönsten Blüten deutscher Kultur und Tatkraft von größerem Werte für Volk und Heimat, als alle Kreuzzüge und Römerzüge, und nun, nach siebenhundertjährigem Glück und Glanz, wo der Bergbau zur Rüste gegangen, soll der stille Schläfer dort in der Halde der Barbarossa sein, welcher die alte Herrlichkeit wiederbringt! – O ihr Träume, ihr Gedanken und geheimnisvollen Triebe, ihr silbernen starken Flügel der [243] deutschen Seele! Ihr habt unser Volk über vieles hinweggetragen, was andere vielleicht zerbrochen hätte. Ihr habt unser Volk in Begeisterung stark gemacht und schwach und elend in manchem leeren Wahn. Ihr habt unserem Volke, unsrer Heimat manches Schicksal bereitet, dem andre vielleicht entgangen wären. Ihr habt hier, wo die Halden jetzt ragen, in dunklen Schächten Schätze geschürft und das Land reich gemacht an Kunst und Kultur und edlen Gütern aller Art, ihr habt aus der eigenen Seele Schätze gespendet an alle Welt und Haß und Dornen sind eure Ernte. Auch Träume können Tat und Schicksal werden. Träume blühen in der Stille. Die Stille ist ein Spiegel, in dem Welt, Zeit und Ewigkeit sich dir spiegeln, wenn du nur zu schauen verstehst.

In der Stille wachsen große Gedanken, aus der Stille reifen wahrhafte Taten, aus der Stille steigt die Stärke der Seelen.

Wir wollen der Stille lauschen und in ihren klaren Spiegel schauen. Die stillen Halden um Freiberg mögen dir da vieles sagen und geben, da mag großes Gotteswerk und großes Menschenwerk, Ewigkeit und Vergänglichkeit zur fruchtbaren Stille führen.

Hünenmäler der Arbeit vergangener Tage, tot und doch lebendig, stumm und doch mit gewaltiger Sprache künden sie weit über das Land, daß Arbeit Schicksal, daß Träume Schicksal sind, daß aus Arbeit und Träumen die deutsche Seele sich ihre Zukunft formt, wenn sie nur erst starke, silberne Flügel zur Höhe emporhebt.

Vergiß nicht, Seele, daß du Flügel hast!


[244]

Das Tännichttal im Tharandter Wald.

Lange hatte mein treues Rad gerastet! Was bindet oft die Pflicht so fest und umschnürt die Seele und das Wollen mit bitteren Fesseln und nimmt sie in enge Haft, daß sie sich kaum mehr hervorwagen, Fesseln abzuschütteln, frei zu sein, vogelfrei in ziellosem Fluge der Sehnsucht hinaus! – Heute lacht so frisch der Sonnenstrahl des taufrischen Sommermorgens und lockt hinaus und es treibt und drängt ein inneres Müssen, daß ich nicht widerstehen kann. Hinaus aus den alten Mauern und drückender Enge, hineinfliegen auf flüchtigem Rade in die blaue Sonnenwelt, als wäre ich ein Vogel mit jungen Schwingen, der sein Lied jubelnd zur strahlenden Höhe trägt.

Die wuchtige Stadtmauer Alt-Freibergs mit ihren Türmen und der Graben mit seinen grünen Bäumen, das alte, mächtige Bollwerk des Donatsturmes gleiten an mir vorüber. Leb wohl, du alter, fester Kumpan, mit deinem spitzen Kegeldach, heute treibts in die Ferne mich mächtig hinaus. Und ihr Dohlen dort oben in euren schwarzblauen Röcken so vornehm angetan, die ihr dort flattert und schwebt und mit hellem Rufe freudig im Schwarme in den blauen Äther euch schwingt, heute neide ich euch nicht, heute bin ich mein eigen, heute bin ich mein selbst, ein freier, wilder Vogel! Meine Seele ist ein Vogel, der über allen Tiefen schwebt, dessen Flügel in alle Weiten [245] strebt, der tief das Glück und die Sehnsucht eines freien Sonnentages spürt. –

Die Straße ins Muldental hinab fliegt das Rad, daß ein Jauchzen aus der Brust wie ein lachender, springender Brunnen emporsteigt. Halli und Hallo! Die Sommerwelt ist mein, die rechts und links an mir vorüberstürmt, die grünen Hänge, die saftigen Wiesen und dort der rauschende Fluß im tiefen Grunde, mit seinen weißen Schaumflocken auf dunklem, sprudelndem Wasser. Die Heimat ist mein, denn meine Seele ist ihr offen, sie ist mein, denn sie gibt sich mir, weil ihrem Zauber und ihrer Wesensinnigkeit sich meine Seele gibt. Jenseits geht es steil bergauf. Steinig und heiß ist der Pfad, das Geröll rutscht unter dem Fuß, und die glimmerblinkenden Gneisplatten flimmern wie Silber. Auf dieser jähen Straße zogen schon die wilden Haufen der Schweden und Kaiserlichen einher, die Grenadiere des Alten Fritz und das Heer Napoleons. Kanonen und Packwagen sind unter Fluchen der Soldaten und Keuchen und Schnauben der Rosse mit vielfachem Vorspann, mit Seilen und Hebeln den steilen Hang mit seinen glatten Felsplatten hinaufgezogen. Manch wilde Verwünschung und grimmiges Wort, manch sauren Schweiß hat dieser Weg gekostet. – Wie stille ist es heute hier! Es knistert leise das Rad. Geröll löst sich unter dem Fuß. Rötlich blüht schon das Heidekraut in dichten Polstern am Wege.

Auf der Höhe schöpft die Brust tief Atem und dann wandern die Augen hinab ins tiefe grüne Tal, wo die Mulde schäumt, und dort nach den Höhen, wo die Halden und Bergwerke, Alt-Freibergs Wahrzeichen und Hünenmale des Bergbaues, sich türmen, und weit in die blaue Ferne, wo die duftigen Linien der Berge in unendlicher [246] Zartheit sich am Horizonte dehnen. Doch nun wieder vorwärts, dem Walde entgegen, in dessen grünem Meere ich untertauchen will. Über breiten Höhenrücken geht die Fahrt. Die Felder reifen der Ernte entgegen. Wie lange noch, dann klingt die Sense und die Pracht sinkt vor dem Schnitter dahin. – Hast du Frucht gebracht? – –

Die Vogelbeerbäume schmücken sich schon mit roten Beeren. Wie lange noch, und die Drosseln ziehen, die Beeren fallen und liegen wie Blutstropfen am Straßenrande. – Blutstropfen! – Wieviel Blut mag auf dieser Heeresstraße sächsischen Schicksals geflossen, am Wegrande versickert, vom Regen verwaschen sein? Tropfen am Wege, verronnen, vergessen, vom Baume des Lebens blutrot geschüttelt, zertreten, verloren im Staube – Menschenschicksal, wie dunkel ist dein Lauf, aus Dunkel kommend, im Dunkel vergehend, rote Beeren nur hie und da im Staube deiner Straße! – –

Drüben am Höhenrande des Horizontes steigen die Häuser von Konradsdorf bergaufwärts, und der Kirchturm ragt spitz über die gelagerten niedrigen Dächer, weithin als Landmarke die Gegend beherrschend. Wie friedlich und still das Bild, der Blick über die fruchtbaren Breiten, und doch, wieviel Stürme sind darüber hingebraust. Alte Kunde erzählt von Konradsdorf aus dem Jahre 1632: »Den 16. April eben dieses Jahrs, morgens um 5 Uhr, da Kaiserliche Völker eingefallen, ist Nikol Kirbach von zwei Kroaten niedergesäbelt worden. Um eben diese Zeit haben auch die Kaiserlichen Kroaten die Kirche allhier erbrochen, was darein geflüchtet ermordet, den silbern Kelch und 100 Fl. mitgenommen, wobey Pfarr und Schulmeister beynahe das Leben eingebüßt, davon man die Spuren in der Kirchthüre noch findet.«

[247]

Die Kirche zu Hilbersdorf dort drüben, dessen Flur an unsere Straße grenzt, wurde 1639 von den Schweden unter Banner eingeäschert und Mord und Blut war in seiner stillen Dorfstraße.

Menschenschicksal, Völkerschicksal, wie geht ihre Straße über lichte Höhe und dunkle Täler, durch Sonne und tiefe Schatten! Rote Beeren am Straßenrand, deuten sie Freude, deuten sie Leid? –

Herbstmahnung, Schicksalsmahnung, Sommerwende leuchten uns die roten Beeren am Wege, am Baume im Laube, das hie und da leise vergilbt, im Staube, der ihr brennendes Leben mit Asche bestreut. Wie lange noch, dann klirrt der Frost, dann schnaubt der Schnee in mächtigen Wehen und Wirbeln gleich wilden weißen Rossen über die starren Felder und kahlen Höhen und hinter ihnen der eisige Ost mit scharfen Peitschenschlägen. –

Wohl dem, der eine Heimat hat! –

Doch heute weht ein süßer Duft wie Honig herüber. Ein blühendes Kleefeld strömt des Sommers ganze Lieblichkeit in Duft und Farbe in die blaue Luft. Ich steige vom Rade und lausche dem Liede des glühenden, blühenden Klees. Millionen von Bienen und anderen Insekten singen und summen in dem purpurnen Blütenmeer ihr Lebenslied und taumeln von Kelch zu Kelch. Als klänge ein seliger Harfenton dem Sommer und der Sonne entgegen, voll gesättigt vom süßen Drange des Lebens und Blühens. Schwer und wonnig steigt der Duft des Feldes empor, und ich trinke ihn mit tiefen Zügen, als wäre es ein alter, köstlicher Wein. Ein purpurner Teppich aus Duft und Licht, Farbe und Leben gewoben, auf dem nur die Sonnenstrahlen mit leichten, schwebenden Füßen dahingleiten dürfen. Ein Teppich, wie ein dunkler purpurner Orgelton, den der [248] Sommerwind leise dahinträgt, daß die Herzen stille werden. Als ob das heilige Herz der Mutter Erde unter ihnen schlägt, so geht geheimnisvolles Leben durch die Millionen Blütenköpfe, ein Beben, ein Atmen auf und nieder – o du Heimatflur! –

Und dort das Ährenfeld neigt schon die Halme. Der Wind geht drüber hin in flüsternden Wellen. Die Lerchen steigen empor in die flimmernde Luft und taumeln selig der Sonne entgegen als gäbe es keine Erdenschwere und hätte ihre singende Seele dort oben den Weg zur Heimat gefunden. –

Dort drüben grüßt in breiten Wogen das grüne Meer des Tharandter Waldes. Mein Rad fliegt wie ein Vogel hinab ins Bobritzschtal. Sanfter sind die Hänge hier als im Muldentale. Malerische Höfe und Häuschen klimmen auf und ab, drängen sich am Bach und drücken sich in die Talwinkel. Naundorf ist es, dessen Kirchturm auf der Höhe wie ein Hirte über seine Herde wacht. Die Straße führt talaufwärts am Bach entlang. Die Wellen hüpfen mit Murmeln und Plaudern über die runden Steine, und flinke Forellen schießen blitzschnell daher. Einst war dieser köstliche Fisch so häufig hier, wie ein altes Naundorfer Kind erzählt, daß für wenige Groschen eine ganze Schüssel voll im Fuhrmannsgasthof an der Straße geliefert wurde. Heute mag wohl kaum ein Fuhrmann mehr Forellen dort essen wie in der alten, stillen, einfältigen Zeit, als es noch zufriedene Menschen gab.

Ein Seitenweg führt von der Dorfstraße am Hange aufwärts zur Kirche, die seit Jahrhunderten inmitten des Gottesackers von hier über die Dächer und Höfe der Gemeinde herniederschaut. Eine Mauer umschließt den Friedhof, und hohe Bäume überschatten den Eingang. Vogellied [249] aus den dichten grünen, lichtdurchfunkelten Zweigen, Choralgesang und Orgelklang aus der Kirche vereinen sich zu einer stimmungsvollen Sonntagsharmonie, als ginge leise mit uns über die stillen, grünen Gräber mit schwebendem Schritte der Frieden suchender, findender, erlöster Seelen und segnete uns. Ein Gottesdienst in Einsamkeit still neben der Kirche kann feierlicher, kann tiefer und gehaltvoller wirken als in der Gemeinschaft einer gefüllten, aber doch »leeren« Kirche. Die einsam grüne Stätte mit ihrem Lobgesang aus der Höhe und aus der Nähe war uns ein Gotteswinkel stiller, tiefer Andachts- und Feiergedanken von weltfreier Entrücktheit. – – –

An der Friedhofsmauer stehen ein paar alte verwitterte Grabsteine in barocken Formen mit verwischten, fast unleserlichen Schriftzügen, grünlich angeflogen und von grauen Flechten hie und da betupft. Die Urenkel derer, die sie nennen, sind längst zu Staub geworden. Wie stumme Prediger der Vergänglichkeit lehnen die alten Steine dort an der Mauer und fragen dich: Wer bist denn du?! – Der Staub zu deinen Füßen, auf dem du stehst, atmete einst, liebte einst, lachte einst wie du! Wer bist denn du?! – Sinnend betrachten wir den schlichten, etwas nüchternen Kirchenbau aus dem Jahre 1783 mit seinem holzbeschlagenen Turmaufbau, gekrönt von spitzer achteckiger Haube. Wievielen werden die Glocken dort oben noch zum letzten Gange läuten? –

An der Südseite der Kirche ist ein alter Grabstein eingemauert, der ein Denkmal ganz eigener Art ist, und ein schönes Zeugnis dafür, daß die Gedanken des Heimatschutzes und der Denkmalpflege nicht etwa etwas künstlich Gezüchtetes, Literarisches, sentimental ins Volk Hineingetragenes sind, sondern aus dem Verlangen und der Seele [250] unseres Volkes mit ursprünglicher Gewalt hervorgegangen sind und seinem tiefsten Empfinden entsprechen.

Der Stein ist über 200 Jahre älter als die jetzige Kirche und wurde beim Neubau der Kirche 1783 in die Mauer an geschützter Stelle eingelassen, um ihn vor Vernichtung zu bewahren. Dem wackeren Fuhrmann Melchior Heber, der im Jahre 1580 starb, ist er gewidmet. Seine Ururenkel haben den Stein erneuert, ein späterer Enkel hat ihn in die Wand der neuen Kirche gesetzt, und heute liegen die Urenkel jenes Nachfahren in Gräbern unter jenem Stein des alten Melchior Heber, und ein junges Geschlecht des alten Namens und Blutes wirkt im Heimatdorfe seiner bäuerlichen Ahnen heute noch, festgewurzelt im heimischen Boden seit Jahrhunderten.

Der Stein stellt in seinem oberen Teil den alten Melchior dar in der Tracht seiner Zeit betend vor dem Bilde des Gekreuzigten knieend. Als unterer Abschluß der Platte ist der starke Fuhrmannsfrachtwagen im Relief abgebildet, mit hochgespanntem, rundem Plane überdeckt und sechs starken Pferden als Bespannung. Die Inschrift lautet:

»Im Leben hatte ich an fahren mein Vergnügen
Und fuhr an diesen bald und bald an jenen Ort,
Im Tode spannt ich aus und ließ alles fahren liegen
Und fuhr andern Seelen nach in sichren Himmelsport.

Anno 1580. Den 11. Tagk Aprillis um 6 Uhr Nachmitt, den Montag Quasi modo geniti ist der Ehrsame Melchior Heber in Gott selig entschlafen. D. G. G. Seines Alters 60 Jahr.« Auf dem Stein finden sich noch folgende Nachrichten eingemeißelt: »Diesen Stein hat Georg Heber seinem Groß-Groß-Väter zum Andenken renoviren lassen den 10. Juli 1743.« Und weiter: »Dies Denkmahl lüß bei dem neuen Kirchenbau seinem Ur-Ur-Großvater zu Ehren [251] abermals erneuern Karl Gottlob Heber 1783.« Treuer Familiensinn hat so ein Denkmal von kulturgeschichtlichem Werte bewahrt in seiner treuherzigen Schlichtheit und biederen Berufsfreude, wie es wohl einzigartig ist, namentlich wenn man bedenkt, daß heute noch nach rd. 350 Jahren die bäuerlichen Enkel seine Denkmalpfleger auf dem kleinen Dorffriedhofe sind.

Wir nehmen Abschied und lenken wieder der Dorfstraße zu. Die zahlreichen Gänse, Enten und Hühner auf der Straße sind dem Rade nicht gewogen. Mit Flattern, Fauchen und Geschrei entrüsten sie sich oder suchen durch ängstliches Hin- und Herlaufen dem allzuraschen, gefürchteten Feinde zu entkommen. Heil uns, daß wir ohne unfreiwillige Tötung eines »Rassehuhnes« – überfahrene Hühner sind immer »Rassehühner« – am Ausgange des Dorfes anlangen. Dort macht die Bobritzsch eine starke Krümmung, fast im rechten Winkel. Ein stattlicher Hof liegt im Winkel und mächtige, alte Bäume beschatten den Platz. Dort mündet der Colmnitzbach, und eine Brücke führt über die Bobritzsch, von der aus du in das Strudeln der klaren Wasser hinabschauen kannst, die goldbraunen und grünen Steine siehst, an denen die Forellen stehen oder blitzschnell vorbeihuschen, wo du die ganze Lieblichkeit dieses stillen Winkels mit seinem Wasserrauschen und Vogelsang unter grünem Blätterdach empfinden kannst. Wie Sonntag, durch den leise der Glockenton der Andacht klingt, liegt es immer hier unter sonnenstrahlendurchflochtener Laubkuppel. –

Auf schmalem Wege über dem breiten Wiesengrunde des Colmnitzbaches geht es aufwärts. Wie ein leuchtend grüner Teppich ist der Grund zwischen die Hänge eingespannt. Doch bald verwahren uns hohe, dichte Hecken [252] den Blick auf diese grüne Herrlichkeit. Zwei Höfe am Hange liegen vor uns, die Gippenhäuser. Das Gebell des wackeren Spitz an der Hütte und sein wildes Umherrasen an rasselnder Kette zeigt, unter wie guter Hut die stillen, einsamen Häuser stehen. Eine bleiche Dame sitzt dort drüben am Wiesenrande, ein Kind spielt in der Nähe und trägt ihr duftende Blumen herzu. Sommerfrischler! Ja, hier könnt ihr gesunden und wie Joseph Viktor von Scheffel, der leider Halbvergessene und doch so echt deutsche Mann, in seinen Bergpsalmen singen und sagen:

»Du hast eine Ruhe, ein Obdach gefunden,
Hier magst du gesunden,
Hier magst du die ehrlich empfangenen Wunden
Ausheilen in friedsamer Stille.«

Zwischen duftendem, rauschendem Wald und saftgrüner, blumiger Wiese, in der die Margareten mit weißen Sternen leuchten, fern vom Staub der Straßen der Welt, den Blick auf sanft geschwungene edle Höhenlinien, abgeschlossen doch nicht eingeschlossen, so recht ein Ort friedsamer Stille! –

Friedsame Stille? – Ich denke eines kalten stürmischen Herbstes im Jahre 1697. Der Schnee hatte schon kalt und naß über die Stoppeln gefegt. Es war ein Wetter, wo man näher an den Ofen rückt, in dem die Scheite knacken und knistern. Ein Wetter, bei dem im Felde nicht viel zu tun ist, und Großmutter vielleicht die Bibel vom Bortbrett nimmt, die große Hornbrille aufsetzt und langsam liest die Geschichte vom barmherzigen Samariter: Wie der Mensch unter die Mörder fiel, und sie schlugen ihn und gingen davon und ließen ihn halbtot liegen. Und da der Priester ihn sah, ging er vorüber, desgleichen auch ein Levit, sah ihn und ging vorüber. Da der Samariter ihn sah, »jammerte [253] ihn sein, ging zu ihm, verband ihm seine Wunden und goß drein Öl und Wein und hob ihn auf sein Tier und führte ihn in die Herberge und pflegte sein.«

Sie las just diesen Vers, da kam der Sohn herein, schüttelte den nassen Schnee ab, stampfte mit den schmutzigen Schuhen und rief: »Draußen auf dem Acker oben am Walde steht ein fremder, mit Stroh belegter Leiterschlitten und drinnen liegt verlassen ein armer, todkranker Mann! Er kann kaum mehr sprechen. Ich habe es gleich dem Gutsherrn und dem Pfarrer gemeldet. Sie werden schon sorgen, mich gehts nichts weiter an. Gib mir meine warme Suppe, es ist ein Wetter, um keinen Hund hinauszujagen.« – »Ach der arme Mann! Nur gut, daß du so gescheit warst, das gleich zu melden, sonst hätten wir am Ende noch allerlei Umstände bei dem schlimmen Wetter. Man weiß doch nie, was das für Leute sind! Es ist schon besser, das macht der Pfarrer!« –

Der Gutsherr und Pfarrer waren nicht sehr erbaut gewesen von der Nachricht. Und dazu das schlechte Wetter! Was tun? – Sie riefen den Ortsdiener und schickten ihn zum Kranken auf dem Acker oben am Walde, um zu eruieren und zu konstatieren, wer er sei, wie er dorthin komme, wer ihn dorthin gebracht, und ob sie vielleicht gar nicht etwa zuständig seien, in dieser Sache etwas zu befinden. – Der Kranke konnte nicht mehr sprechen, so die Nachricht des Ortsdieners! Das war ein schwieriger Fall! Verlegen saßen das geistliche und weltliche Haupt des Dorfes und kratzten sich bei dieser Nachricht hinter den Ohren: »Vielleicht würde dieser fremde, ganz unbekannte, nicht ortsansässige Mensch gar auf der Gemeindeflur sterben wollen! Das wäre ein höchst unangenehmes Vorhaben und gegen die Gemeinde wenig rücksichtvoll, denn [254] sie hätte davon Kosten und Scherereien! Ihn ins Dorf holen? Nein! Wer soll ihn aufnehmen?« Sie grübelten über diesen Fall, bis die frühe Finsternis kam, und hatten dann einen bauernschlauen Einfall. Sie schickten zwei Wächter zum verlassenen Sterbenden hinauf, »daß ihm kein Unheil zustieße«, die ihre eigentliche Aufgabe aber verständnisinnig wohl erfaßt hatten und bei Sturm und Regen den Schlitten mit dem Todkranken von der Gemeindeflur fort in den Tharandter Wald, auf kurfürstl. Grund und Boden, brachten. Um Mitternacht starb der arme Mensch 12 Ellen von der Grenze entfernt auf kurfürstlichem Gebiete. Am nächsten Tage, den 22. September, wurde Bericht an das Amt in Grillenburg erstattet, daß auf kurfürstlichem Gebiete ein Mensch verstorben sei, und um Bescheid gebeten. Dieser fiel zunächst dahin aus, daß ihnen bedeutet wurde, »wie ihnen aus christlicher Liebe wohl zugestanden hätte, den todtkranken Mann, welcher ihrem Anführen nach wenig oder gar nichts am Leibe habe, in eine warme Stube zu bringen und sein zu pflegen, nicht aber ihn in der Kälte liegen zu lassen und auf seinen Tod zu warten. Die Leiche sei einstweilen zu bewahren.« Bei den weiteren Nachforschungen des Amtes wollte zunächst niemand davon wissen, wie der Kranke auf das Feld gekommen. Durch Peter Henker zu Fördergersdorf stellte sich indes heraus, wie ihm Jakob Kirsten zu Herzogswalde berichtet, daß am 19. September die Colmnitzer einen halbtoten Mann auf einem Schlitten vor ihre Kirche gebracht und daselbst stehengelassen haben; die Herzogswalder hätten ihn darauf wieder nach Colmnitz gebracht. Der Colmnitzer Richter gestand nun zu, daß die Niederbobritzscher den Mann mittelst Fuhre zu ihm, dem Richter gebracht; da er aber abwesend gewesen, so habe, ohne sein [255] Geheiß, Andreas Bormann daselbst ihn nach Herzogswalde weggeführt.

Es war ein armer Schuster aus Naumburg, der kurz vorher in Tharandt in Arbeit gestanden hatte. – Regierung zu Dresden und Amt zu Grillenburg ordneten nun unter Ermahnungen zu mehr christlicher Liebe an, daß der Körper des Verstorbenen auf Colmnitzer Flur gebracht, ein Sarg von den Colmnitzern angefertigt werde und die Beerdigung in Colmnitz erfolgen solle. So hatte endlich ein armer, müder Erdenpilger, dem in drei Dörfern keine Stätte zum Sterben in friedsamer Stille gegönnt wurde, seine letzte Ruhe gefunden. – –

Wie heißt es doch im Gleichnis? »und gingen davon und ließen ihn halbtot liegen. Und da der Priester ihn sah, ging er vorüber, desgleichen auch ein Levit, sah ihn und ging vorüber!« Jawohl, die harten Herzen aus dem Gleichnis waren hier in der Wirklichkeit alle da, wo aber war der barmherzige Samariter? Drei Dörfer am Tharandter Walde und kein barmherziger Samariter darin! – Über 200 Jahre ist diese Geschichte her. Ob es heute mehr Barmherzigkeit an der Straße gibt? Ach, unserem Volke ist Liebe so bitter not! – »Friedsame Stille!« Wo findet man sie, wenn man nicht Raum dafür im eigenen Herzen hat? Wir schauen noch einmal zurück in das weite, weiche, von Sommer gesegnete Land, wo soviel Unfriede und Unbarmherzigkeit wohnt, und tauchen dann ein in den herrlichen Wald, dies grüne Kleinod zwischen Freiberg und Dresden, den Tharandter Wald. Wie viele Stunden tiefster Freude danke ich dir, du deutscher Wald und deinen stillen Wundern, wenn draußen das Leben trübe und schwer und drinnen das Herz trübe und schwer ward.

[256]

»Wer einmal diesen Jungbrunn’ fand,
Der schöpft aus keinem andern!
Denn das ist deutschen Waldes Kraft,
Daß er kein Siechtum leidet,
Und alles, was gebrestenhaft,
Aus Leib und Seele scheidet.
Daß ich wieder singen und jauchzen kann,
Daß alle Lieder geraten,
Verdank ich nur dem Streifen im Tann,
Den stillen Hochwaldpfaden.«

(Scheffel, Aventiure.)

Solch ein stiller Hochwaldpfad, über den die knorrigen Wurzeln laufen, führt mich in die harzduftige grüne Tiefe, und ein Singen und Jauchzen geht mir durch die Seele, doch es schweigen meine Lippen, und leise ist mein Gang. Es ist mir, als ob meine Seele in dem Vogel wäre dort oben auf der höchsten Spitze jener stolzen Fichte. Sein Lied steigt jubelnd empor, da leuchtet der Himmel noch blauer, der grüne Tann wird hundertmal grüner als sonst, die Luft wird luftiger, klarer, der Duft des Waldes wird stärker, herbsüßer und, was von Schleiern und Düsternis in mir war, sinkt hernieder, als wären alle Rätsel und Fragen in Licht und Klarheit gelöst und überwunden. Es schweigen meine Lippen und leise ist mein Gang. Nur ab und zu knistern die Nadeln oder ein Ästlein unter den Reifen des Rades, welches ich führe.

»Willst du dein Herz mir schenken, so fang es heimlich an,« das gilt auch vom Walde, dessen Seele man nur findet, wenn leise unsere Seele sich an seine schmiegt. Dann öffnen sich uns seine grüngoldnen Augen und schauen uns an voll unergründlicher Tiefe, dann spricht sein Mund im geheimnisvollen Raunen, und wir hören im stundenlangen leisen Wipfelrauschen, wie des Waldes Seele mit uns [257] spricht und ihre Wunder uns offenbart. Und wenn der Sturm in den Zweigen und Ästen wühlt und sein urgewaltiges brausendes Lied durch die bebenden Wipfel wie Meereswogen sich stürzt und schäumt, dann fühlen wir unser tiefstes Inneres mit gepackt, geschüttelt, erschüttert, und alles Kleine schwindet, alles Welke wird abgerissen, alles Dürre wird geknickt. Willst du des Waldes Wunder lernen, dann darfst du nur lauschen, schauen und vergessen, was draußen ist, mußt du deiner selbst vergessen. Was er dir zeigt und sagt, was er dann deiner Seele gibt, das wird dich reich und froh machen. Der Wald ist dein geworden, weil er dir seine tiefsten Geheimnisse gab und du seiner wundersamen Kräfte kund wurdest. –

Eine im Sonnenschein flimmernde Blöße öffnet sich. Ein kräftiger, warmer Harzduft steigt empor und füllt die Brust, als sollten die Lungen besonders in Waldeskraft gebadet werden, und in tiefen Zügen atmen wir den starken Duft wie einen köstlichen Trank. Die Grillen zirpen ihr heißes Sonnenlied, und über den Halmen und Spitzen der Schonung zittert die Luft, als wäre sie durch das schwirrende, wie in Wellen flirrende unendliche Grillenlied zum Schwingen gebracht. – Ein Blick in die Weite auf blauferne Höhenlinien, dann ein dunkler, grüner, kurzer Waldpfad, und plötzlich gibt es mir einen Riß durch die Seele. Wie eine ungeheure rote, offene Wunde in der Felsenflanke des Berghanges liegt es vor mir, von rauher, rücksichtsloser Hand geschlagen, dort eine Schutthalde von kleingeschlagenem Porphyrgestein, daß aus dem Abhange herausgeschlagen und gesprengt ist. Hier hatte ein Steinbrecher mit gierigen Zähnen gearbeitet. Und weiter strecken sich Schienen eines Bahnneubaues, der sich mitten durch eine [258] Felsengruppe voll malerischer Wucht eine klaffende Lücke gebrochen hat.

Bitterkeit steigt dir auf, daß Schönheit und Friede nicht mehr heilig sind, sondern wehrlos – das Zarte und Edle, das Tiefe und Heilige ist ja immer wehrlos – der Rücksichtslosigkeit und ehernen Notwendigkeit unterliegen müssen! Schillers Nänie klingt schmerzvoll durch die Seele:

»Auch das Schöne muß sterben.
Siehe, da weinen die Götter,
Es weinen die Göttinnen alle,
Daß das Schöne vergeht,
Daß das Vollkommene stirbt.«

Der Blick senkt sich rechts durch die Stämme und über schwankende Wipfel und wiegende Fichtenspitzen hinab in einen Talgrund wie in einen Trostgrund, der noch als ein stilles Märchenland des Friedens und der Schönheit grün heraufleuchtet. Es ist das Tännichttal. Wir blicken mit frohem, innerem Glücksgefühl hinab, denn durch die Arbeit des Heimatschutzes wird es uns in seiner unberührten taufrischen Lieblichkeit erhalten bleiben und noch viele stille Wanderer entzücken. Die tiefmelodischen Stimmen der wilden Tauben, des Pirols Flötenrufe und der Finken schmetternder Schlag, und alle die anderen tausend Stimmen des Waldes werden nicht verstummen vor lärmender Industriearbeit, Kreischen von Maschinen und Knirschen und Rasseln der Steinbrecher. Die malerischen Felsklippen, die wie Türme und Mauern aus den grünen Wipfeln und Wogen des Waldes emporsteigen, sollen noch länger ihre trotzigen Stirnen dem Wind und der Sonne stolz entgegenheben.

Dort unten blitzen die Wellen des Colmnitzbaches aus dem Smaragdgrün des Wiesenbodens herauf. Er kommt [259] weit von draußen her, aus der waldarmen Gegend, um hier zwischen Wald und Felsen seines Daseins schönste Strecke zu durchlaufen. Wie die anderen Bäche der Freiberger Gegend hat er sich schon draußen ein tiefes Bett gegraben und windet sich in vielen Krümmungen durch die hügelige Landschaft. Die begleitenden Höhenkuppen des Gneismassivs von breitgelagerter rundlicher Art, welche mit ihren langen, schöngeschwungenen Linien ungeheuren Wogen gleichen, haben an der Quelle 500 Meter, an der Mündung in die Bobritzsch rund 400 Meter Höhe. Draußen im freien Lande haben sich im Colmnitzbachtale in der langgestreckten, dem Wasserlaufe folgenden Siedlungsweise des Kolonistendorfes die Dörfer Pretzschendorf, Ober- und Niedercolmnitz angesiedelt. Ihre Wiesen und Felder mit ihren besonderen Reizen von Saat, Ernte und Wiesenduft geben der ganzen weiten Gegend draußen einen ausgesprochen landwirtschaftlichen Charakter, aber auch mit ihrer ausgesprochenen Kahlheit, welche außer den Bäumen an den Straßen, am murmelnden Bach und in den Gärten des Dorfes kaum einen Baum duldet, der nur der Schönheit, nicht aber besonders dem Nutzen dient. Nur hie und da krönt irgendeine ferne Kuppe ein einzelner Baum mit mächtigem Wipfel und verstärkt das Gefühl der Weite und Freiheit, der Ruhe und Größe der Landschaft. Fünf Sechstel seines Laufes hat so der Colmnitzbach kahles Gelände durchströmt, bis er hier im waldigen, engen, malerischen Tännichttal sich heimfindet zu Bergeshang mit dunklen Fichten, zu Wiesengründen mit leuchtendem Grün. Der schluchtartige Charakter dieses Tales mit seinen steilen, bewaldeten Abhängen im Gegensatz zu den sanfteren Hügelwogen des freien Landes, ist überraschend und gibt malerische Bilder, gleichviel, ob man von oben hineinschaut in die saftigen Gründe einer stillen [260] smaragdenen Märchenwelt, oder ob man von unten zu den Höhen hinaufschaut, die mit ihren Wänden einzelne Kessel abschließen und bei einer neuen Krümmung neue Bilder friedsamer Stille öffnen. Der Talboden hat nur fünfzig bis sechzig Meter Breite. Die anschließenden steilen Hänge steigen rund 100 Meter auf, zum Teil mit hohen Felswänden, Zacken und ragenden roten Porphyrklippen, die wie zinnengekrönte Burgmauern aufsteigen. Dieser schluchtartige Charakter des Tales im Gegensatze zur breiten Landschaft draußen, ist das Ergebnis urgewaltiger Kräfte aus der Werdezeit unserer Erde und des Wirkens von Jahrmillionen der Arbeit des Wassers und des Wetters, und ist insofern ein Naturdenkmal von besonderer Bedeutung für die Freiberger Gegend.

Das flachgeschichtete, im Laufe der Jahrmillionen rundlich abgeschliffene Urgebirge des Gneises der Freiberger Landschaft ist hier mit ungeheurer vulkanischer Gewalt vom Porphyr durchbrochen. Durch die Gneisüberlagerungen und das harte Porphyrmassiv hat sich der Bach hindurchgenagt und die schmale Talenge hineingefressen. Dort drüben, mitten in dieser malerischen Talenge, an ihrem schönsten Punkte, ragen die zackigen Spitzen und Kämme der gewaltigen roten Porphyrklippen in den blauen Himmel vom grünen Waldhange empor, die Diebskammer. Diese Felsgruppe ist die Krönung der Schönheit des ganzen Tales, das urgewaltige, zu Stein erstarrte Denkmal gigantischer, aus der Tiefe emporglutender Naturkräfte. Wir stellen das Rad in das Dickicht und klettern näher heran durch Fichtengezweig und Ginstergestrüpp, die trotzigen Zacken zu betrachten. Da sehen wir und erleben es fast an der eigenartigen Faltung und Schichtung des Gesteins, wie einst in ungeheuren Wehen und Ringen lebendiger Kräfte [261] die Massen emporstiegen, sich zusammenpreßten und neigten, sich kristallisierten und zu besonderer Lagerung und Schichtung versteinten.

Das Tännichttal streicht von Osten nach Westen. Die Strahlen der Morgensonne und das rote Licht des untergehenden Tagesgestirnes läßt die roten Klippen in feuriger Glut aufleuchten, als wären sie von innerem Feuer durchglüht und wollten zu neuem vulkanischem Leben erwachen. Ein Naturdenkmal ist dieses Tal mit seiner Felsengruppe, das im geologischen Anschauungsunterricht für jedermann von der Natur selbst unübertrefflich dargeboten ist und zu uns redet vom Werden unserer Erde, Heimat und Landschaft mit deutlicherer Zunge als Bücher, die das Volk nicht liest, als Gelehrte, die das Volk nicht hört, als Weisheit, die in den Hörsälen oder bei den Spezialisten bleibt. Es tut einen Dienst an der deutschen Seele, wer für diese Werte der deutschen Natur und Heimat kämpft, ein Kampf für die deutsche Seele und ihre Rechte an der Heimat, ein Kampf für die Seele der Heimat gegen kalte, harte Seelenlosigkeit der Ausbeutung. Unser Volk hat ein Recht darauf, daß diese Naturdenkmäler, die Eigenart und besondere Schönheit der Heimat geschützt und ihm und der Nachwelt ungeschmälert erhalten bleiben und nicht der Ausbeutung einiger Nurgeldmänner überlassen werden. Das was der Allgemeinheit und der Heimat dienen kann und im höchsten Sinne zur geistigen und seelischen Förderung dient, darf niemals käuflich sein, darf niemals nur dem Interesse eines Einzelnen um materiellen Gewinnes willen ausgeliefert werden, sondern muß unbedingt als Besitz der Allgemeinheit, als ein Denkmal gehütet und gepflegt werden.

Solches unverletzliches, der Allgemeinheit, dem Volke gehöriges Naturdenkmal wird auch diese Felsengruppe [262] mit dem ganzen Tale sein und bleiben, bei dessen Anblick und sinnender Betrachtung Tausenden das Herz aufgehen muß für die Schönheit der Heimat, und das Verständnis und die Freude wachsen soll an ihrer Seele, an ihrem Leben, Sein und Werden.

Freibergs Umgebung ist nicht reich an solchen Punkten, wo Wissenschaft und beseelte Schönheit sich in gleicher Weise vereinen, um den Ort reizvoll zu machen, und wo als Drittes noch die Sage hinzukommt, um mit den krausen Ranken der Phantasie und der Erinnerung den Ort geheimnisvoll zu schmücken.

Der Lips-Tullian-Felsen dort drüben im Tale ist in unmittelbarer Nähe, der Felsen, wo der große verruchte Räuber einst hauste. Auch die Diebskammer hier mag ihm und seinen dunklen Zwecken gedient haben. Die echte Räuberromantik spinnt ihre bunten Fäden um die zackigen Zinnen dieser aus grünen Fichten ragenden Räuberburg, die bald wie Blut, bald wie Gold in der Sonne leuchten, bald wie von Rauch geschwärzt und Krähen umflogen im Schatten liegen. Lips Tullian, den jeder im Freiberger Bezirk kennt, denn im mittelalterlichen, grausigen unterirdischen Gefängnisse des Freiberger Rathauses, wo auch Kunz von Kaufungen, der Prinzenräuber, schmachtete, mußte er 1715 sein Todesurteil erwarten. Seine in den Felsen gehauene Zelle, Ketten und Handschellen werden heute noch gezeigt.

Lips Tullian war weit und breit gefürchtet, und wenn auch die Sage manches angedichtet hat, so mag seine »Schreibfeder«, die schwere Brechstange, manche blutige Seite in seinem Lebensbuch geschrieben haben.

Es war zur Fastnacht 1710, da klopfte es um die Mitternachtsstunde beim Branntweinbrenner Jakob Hähnel in [263] Tuttendorf an die Türe. Eine fremde Männerstimme bat um etwas Branntwein, um einer unwohl gewordenen Frau beispringen zu können. Der gutmütige, vertrauensselige Mann öffnete die Tür. Aber sofort fielen über ihn und sein Weib drei Raubgesellen her, banden und knebelten sie und mißhandelten sie so hart, daß die Frau ein Auge einbüßte. Außer anderen Dingen, die ihnen gefielen, raubten sie 42 Taler bar Geld, die der Mann im Keller verwahrt hatte. –

Lips Tullian war zu Besuch gewesen. – –

Die unter Georg dem Bärtigen im Jahre 1532 gegründete Schützengilde in Glashütte besaß, ähnlich wie die Freiberger Schützengilde heute noch, ehemals einen reichen Kleinodienschatz, den sie in einer großen schöngeschnitzten Truhe mit kunstreich gearbeitetem Schlosse in der Sakristei der Stadtkirche aufbewahrte. Das Hauptstück bildete ein silberner, auf einem Aste ruhender Adler mit Rubinenaugen, der Stolz der Gilde und Königsschmuck. Eines Tages im Jahre 1710 fand man die Sakristei und die Truhe erbrochen. Das Kleinod war gestohlen. –

Lips Tullian war zu Besuch gewesen. – –

Ein Anschlag auf den Freiberger Silberwagen, der mit den Schätzen der Münze zwischen Freiberg und Dresden verkehrte, sollte wohl ein Hauptschlag seines tatenreichen Lebens sein. Im Dickicht des Tharandter Waldes, vielleicht nicht weit von seinem Schlupfwinkel hier im Tännicht, wollte er mit seinen Raubgesellen in der Nacht dem Wagen auflauern. Er hatte eine Schmiede erbrochen und als geeignetes Werkzeug sich große Hämmer und Bohreisen gestohlen und beim Hinterhalte vergraben. Vorspringen, den Widerstand niederschlagen, den Wagen erbrechen und mit dem geraubten Gelde auf den vier schönen Pferden des [264] Wagens auf und davon, vielleicht ins nahe Böhmerland, das war der verwegene Plan der Spießgesellen. Doch einer war unter ihnen, dem sie nicht trauten, den sie fernhalten wollten und der dann aus Rache durch einen noch erhaltenen Brief ohne Unterschrift den Anschlag verriet. Auf der Münze hatte er den Brief eingeworfen mit folgendem Wortlaut: »Lüeber Herr mintzmester ich gebe nachricht das man erfahren hat das sich reber gesamlet haben in dem walt bey der Hutte bey der nacht den sielber wagen wolten angreiffen so er mit dem gelte hin wartz füere die angebung ist von einen Knecht der zuvor bei den silber wagen gewest ist welcher sich in Freiberg auffhelt die reber halten sich auch in Freiberg auff sie können in den wertzheusern nachforschen lassen waß vor fremde sich da aufhalten diese Nachricht ist gewißlich war sie mugen wol den wagen ohne koeinfoie bey der nacht nicht lassen durch den walt gen sonst moechten sie alles köbbut machen ich wolte mir wol selber melten ich kan es nicht recht er weilen ich habe es hinder wartlich gehoirt und moechte mich auch gefar trohen,

den 5 Nofemmer 1704.«

Der Verräter hatte vielleicht selbst den ersten Gedanken dazu gegeben und den Plan geschmiedet, denn er war, wie er schreibt, als Knecht »zuvor bei den silber wagen gewest« und kannte daher jede Gewohnheit und Gelegenheit am besten.

Man handelte nach dem Ratschlag des Briefes. Durch Stollenarbeiter, welche dem Wagen weit entgegengeschickt wurden, durch den Förster und schließlich durch einige Mann Kavallerie wurde der Weg des kostbaren Silberwagens so stark gesichert, daß der verwegene Lips Tullian seinen Plan aufgeben mußte.

Doch auch eines Lips Tullian Verwegenheit und Raubsucht [265] fand ihr Ende und wohlverdiente Strafe. Er, der starke Räuberhauptmann und Führer tollkühner wilder Verbrecher, wurde von einem Schneidergesellen überwunden. Zu Freiberg wars, am 19. September 1710, als Lips Tullian im Jägerkleide das Erbische Tor durchschritt. Der Torschreiber, Stadtkorporal Wilde, hielt den fremden, finsteren Gesellen an und fragte ihn nach seinem Passe. Lips ging frech vorbei und trat in das große Eckhaus mit den Worten: »Warum die Frage? Alle Wochen bringe ich Wildbret in die Stadt. Ich bin der Förster des Herrn von Hartenstein und brauche keinen Paß!« Der Torschreiber eilte ihm in den dunklen Hausflur nach, doch der Räuber packte ihn und stieß ihm den Hirschfänger in die Brust, ehe jener noch viel Lärm schlagen konnte. Doch ein Weber hatte die Untat gesehen und schrie Mord, ein Schneidergeselle sprang den riesenstarken Mann von hinten an und riß ihn zu Boden. Nach kurzem, wildem Kampfe war er gebunden und gefangen. »Freibergs armselige Spießbürger haben Lips Tullian überwältigt!« brüllte er wie ein Tier in ohnmächtiger, schäumender Wut. Mehr als ein Jahr saß er dann gefangen in der unterirdischen Zelle des Rathauses, aus der es kein Entrinnen gab, den stärksten Graden der Folter trotzte er hier, bis er am 14. November 1711 nach Dresden geschafft und im Gefängnisse »die Mohrenkammer« angeschmiedet wurde. Drei Fluchtversuche mißlangen ihm, ehe sein Mut gebrochen war und er seine Schandtaten alle eingestand. Zwei Tage und eine Nacht dauerten diese Geständnisse voller Blut und Grauen. Am 8. März 1715 wurde Lips Tullian dann mit seinen inzwischen auch ergriffenen Spießgesellen Sawberg, Eckold, Schöneck, Lehmann und Hentzschel in Dresden enthauptet. Ihre Körper wurden aufs Rad geflochten. –

[266]

Die Räuberromantik im grünen Walde, die wilden Raubfahrten durch Nacht und Gebirge, der Schrecken der Dörfer hatten ihr grausiges Ende gefunden, aber noch immer sind die Stätten seines unheimlichen Wirkens von einem unbestimmten Grauen umwittert, ein Grauen, daß ein furchtbares, unheimliches Geschehen ahnt und der geschäftigen Phantasie so weiten Spielraum gibt.

Was das Wandern im Thüringer Land so unvergleichlich genußreich und poetisch macht, ist, daß überall die Gestalten der Sage und Geschichte, von Poesie und Märchen mit uns wandern und das, was wir schauen, beleben und verklären. Sachsen ist nicht reich an solchen Stätten, aus denen uns Sage oder Märchen mit verträumten Augen anschaut und die Romantik uns grüßt. Sorgfältig müssen wir die wenigen Stätten solcher Romantik schonen, und wäre es auch nur Räuberromantik, und müssen wir pflegen, was durch die Phantasie und die Erinnerung des Volkes oder durch irgendeine halbverschollene Sage sein besonderes Gepräge, seine besondere Weihe erhielt. Jedes alte Sühne- oder Mordkreuz, um welches irgendeine dunkle Kunde wie ein Ton aus einem alten, verlorenen, vergessenen Liede klingt, hat so die Denkmalsweihe erhalten. Das Gedenken des Volkes schafft erst die rechten Denkmäler. Hier, dem lieblichen Tännichttal, das durch seine landschaftliche Schönheit und seine geologische Eigenart schon seine Weihe als Naturdenkmal in sich trägt, hat das Volk im gesunden, tiefen Empfinden noch diese besondere geistige Denkmalsweihe der Phantasie gegeben, den Schimmer der Räuberromantik. – Eine andere Romantik, die Jugendromantik, vermag auch das dürftigste Stückchen Erde zu verklären. Von einem ehrwürdigen Freunde des Heimatschutzes, der hier vor siebzig Jahren jung war, liegt ein [267] Brief vor, aus dem diese Romantik herausklingt über das Tal wie das Rauschen von Bach und Bäumen, und die leisen wehmütigen Töne des Liedes: »Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit klingt ein Lied mir immerdar.« Er schreibt:

»An dieses liebliche Stückchen Erde, im besonderen an die über der ›Diebskammer‹ sich aufbauenden Felsenpartien knüpfen sich für mich die angenehmsten Erinnerungen aus meiner Jugend. Als Naundorfer Pfarrerssohn habe ich dort von meiner Tertianerzeit an bis in meine ersten akademischen Semester (1855–1861), in welch letzterem Jahre nach des Vaters Tode unsere Familie den Ort verlassen mußte, in den Ferienzeiten zahlreiche glückliche Stunden verlebt. Mit Hilfe eines mir befreundeten, jungen, für Romantik empfänglichen Lehrers hatte ich hier in etwa halber Höhe des Felsens ein Plätzchen für längeren Aufenthalt hergerichtet, einen Felsblock als Tisch, einen anderen moosbedeckten als Sessel, und in diese durch keine Straße gestörte Weltabgeschiedenheit flüchtete ich mich so oft wie möglich mit meinen Freunden aus dem altklassischen Altertume, Homer, Sophokles, Horaz usw. oder mit unseren deutschen Dichterheroen. Hier beschäftigte ich mich mit ersten poetischen (richtiger wohl›gereimten‹) Versuchen, übersetzte ich in das Deutsche einen Teil von Ovids Metamorphosen, und ich hatte immer die Empfindung, daß mir hier alles leichter von statten ging. Auch verträumte ich manche Stunde unter dem Rauschen der Tannen, dem Gesange der damals noch zahlreichen Vogelwelt, unter dem Murmeln des zwischen saftig grünen Wiesen durch den Grund fließenden, kristallhellen, von Forellen und Krebsen dicht bevölkerten Colmnitzbaches. Der Felsen senkte sich winkelförmig in die Erde und schien in eine Höhle zu [268] führen, die von Steinen verschüttet war, in deren Geheimnis ich aber nie eingedrungen bin. Ob der berüchtigte, 1715 in Dresden hingerichtete Lips Tullian auch hier sein Wesen getrieben hat, weiß ich nicht, wäre aber bei der versteckten Lage der Diebskammer nicht unmöglich. Es wurde zu meiner Zeit von diesem Tale nur mit einer gewissen Scheu von den Dorfbewohnern gesprochen. Ich habe seinerzeit bei den Freiberger Gymnasialspaziergängen, die gewöhnlich über Niederbobritzsch nach Naundorf führten, nie versäumt, meine Freunde an diesen meinen Lieblingsort zu führen, ihn auch später ab und zu aufgesucht.«

O Klang der Jugendromantik und echter deutscher Träumerei aus dieser lieblichen Taleinsamkeit heraus, der wie von fernen süßen Glocken noch durch das Greisenalter tönt! Es klingt wie ein Vers von Mörike:

»Dämonischer Stille unergründlicher Ruh’
lauschte mein innerer Sinn.
Eingeschlossen mit dir in diesem sonnigen
Zaubergürtel, o Einsamkeit, fühlt ich
und dachte nur dich!«

Und dieser Felsen, dieser Ort, die so noch klingen und Tausenden noch klingen mögen, sollten dem Steinknacker ausgeliefert werden!? Damit einige geschickte Geschäftemacher gute »Geschäfte tätigen«, sollten die Felsen zu Straßenschotter verarbeitet werden und allmählich Meißel, Bohrer und Brechstange sich hineinfressen in die Talwände, bis alles weggefressen ist, was an Schönheit und höheren Werten Tausenden zur Freude, Erquickung und inneren Bereicherung diente.

Wir freuen uns mit dankbarem Herzen, daß diese drohende Gefahr gebannt ist und schauen mit besonderer Liebe der stillen Stätte des Friedens in die tiefen Augen [269] und versenken uns ganz in die »Stille unergründlicher Ruh« der Einsamkeit, des Alleinseins, Geborgenseins vor dem Tosen und Staub der Welt da draußen.

»Selig wer im stillen Lauschen
Einsam hier die Waldrast hält,
Wer beim flüsternd stillen Rauschen
Das Getös vergißt der Welt.«

(Scheffel.)

Langsam steigen wir nun die Straße in den grünen Talgrund hinab. Hier ist es zu schön, um auf flüchtigem Rade vorbeizufliegen, hier möchte man weilen und träumen und warten, ob nicht irgendein liebliches Wunder geschehen möchte, daß drüben aus dem Waldesdunkel die Elfen auf die leuchtende Wiese schweben oder daß die Elfenkönigin auf schlankem weißen Reh aus dem Dickicht kommt, an dir vorüberstreift und aus wundersamen Märchenaugen dir tief in die Seele schaut, daß du es nimmer vergessen kannst.

Dort steht der Fels wie ein Wächter am Wege, dicht am Bach, wo die Brücke in die Wiese führt. Will er hüten, daß kein Unberufener, kein Feind hier eindringe? Ist er der Riegel, der die Welt und den Lärm abschließt vom stillen Lande der Poesie?

Den Wipfel hoch die Tanne hebt,
Im Winde schwankt die Birke,
Und Gottes goldne Sonne schwebt
Still über dem Bezirke.
Ein harziges Gedüfte
Durchwogt die warmen Lüfte.

(Scheffel.)

Wie ein silberner Steg für überirdische Füße schimmert der Bach im Grün und windet sich durch die saftige Aue, als wollte er diese Stätte nicht verlassen, sondern immer noch einmal umkehren und bleiben. Einzelne Baumgruppen von herrlicher Gestalt stehen hier und da mitten [270] in der Wiese und flüstern ihm zu, und im weichen blauen Dufte dämmern die fernen Abhänge des Tales.

Dann fliegt unser Blick noch einmal hinauf zu den Felsschroffen, die dort oben rot in der Sonne leuchten, aus dem Waldesdunkel schimmernd emporsteigen. Wir schreiten dann weiter am Wiesenrand im smaragdenen Grund. Weiß glänzen die Stämme der Birken, jung und frisch, am Wege. Die Felsen dort oben entwickeln sich beim Rückschauen zu einer langen, gewaltigen Mauer, die mit schroffen Seiten, scharfen Spitzen und Kanten, nackt und kahl, nur mit dem bunten Gewande der Farbe bekleidet, aus dem Walde aufragt. Der Reichtum der Farben, die je nach Beleuchtung wechseln, je nachdem die Schatten der Wolken den Wald, die Wiese oder die ernsten Felsenstirnen streifen, gibt dem Bilde einen besonderen überraschenden Reiz. Wie ein tiefes, tiefes weiches, buntgesticktes Kissen ist die Wiese mit ihrem Duft und ihren Blumen, in das man sich hineinschmiegen möchte. Es plaudert der Bach unermüdlich an unserer Seite mit melodischer Stimme. Birken und Erlen streuen ihren Schatten mit den zarten Sonnenringeln auf Weg und Wiese und flüstern im weichen Sommerwinde leise von den alten Geschichten, die hier geschehen, denn dort drüben ragt aus dem Walde der Lips-Tullian-Felsen, der noch viel mehr davon weiß und erzählen könnte, daß – –! Der ist aber ein rauher, schweigsamer Geselle, der seine Geheimnisse wohl hütet und das junge Volk der Pflanzen und Bäume raunen und flüstern läßt. In seine Felsenstirne zogen die Jahrhunderte und Jahrtausende ihre tiefen Runen. Was ist ihm da noch kurzlebiges Werden und Wachsen, Menschenleid und Menschentat, was sind da die Geschlechter der Menschen, die hier vorüberschritten, was ist da Jugend und Alter? Gras, das zu seinen Füßen [271] wächst, Bäume die an ihm wurzeln und abgehauen werden, wieder kommen und wieder vergehen in unendlicher Folge! Er schweigt und läßt die Sagen und Geschichten, welche aus Dickicht und Höhlen und Löchern hervorkriechen, welche mit geraubtem Golde funkeln und rotes Blut am Wege zeigen, wie Spukgestalten ihres Weges ziehen, schweben und zerflattern in Wind und Nebel und dem Rauschen des Waldes, daß niemand sie fassen mag, sondern die Angst scheu umschaut und nur ein unnennbares, unbestimmbares Grausen unheimlich um den Felsen mit dem Namen des Verruchten schleicht.

Wir wandern weiter und nähern uns dem oberen Ausgange des Tales. Der Weg steigt wieder an und löst sich vom Talgrund. Unter schönen, alten Fichten, aus dunklem Schatten hervor, blicken wir weit über die grünen Gründe, die im Sonnenlichte flimmern, hinaus in die duftige Ferne, wo blauende Höhenzüge sich zart vom Himmel abzeichnen. Der Bach ist ein silberner Spiegel im Vordergrunde, in dem sich Wolken und Bäume spiegeln.

»Ich steh im Waldesschatten,
Wie an des Lebens Rand,
Die Länder wie dämmernde Matten,
Der Strom wie ein silbern Band.«

Ein langer Blick dann zurück in das stille Tal Eden, das wir nun verlassen, und es geht uns durch die Seele ein Klang der Sehnsucht:

»Du bist Orplid, mein Land,
Das ferne leuchtet!«

Bald treten wir aus dem Walde auf kahle Höhe mit weitem Fernblick. Die Sonne brütet heiß, und die Grillen zirpen am Feldrain, wo die Grasnelken nicken. Dann fliegt das Rad hinab durch steilen, krummen Hohlweg, [272] zwischen Wiese und Feld in das Dorf Colmnitz, dessen Höfe sich rechts und links von Bach und Straße, unter Eschen und Birken, oft in malerischer Lage und Gruppe siedeln. Doch wir sind noch wie im Traume. Wir achten nicht viel, nicht so wie sonst, auf jedes Haus und jede Gruppe von Bäumen und Bauten, auf jede Eigenheit der Bauart oder neckischer Laune, auf Vogel und Blume und die blitzenden Wellen im Bach. Wir sind im geschäftigen Leben draußen, aber unsere Seele weilt noch dort drüben im stillen Tale, wo die Welt schweigt; sie wandert noch auf dem silbernen Steg in den smaragdenen Elfenwiesen, an derem Rand die dunklen Fichten Märchen träumen, und wo um die Felsen geheimnisvoll die Sage raunt.

Colmnitz liegt hinter uns. Von der Höhe schauen wir noch einmal lange über den weiten Acker, über das Dorf hinweg, das sich mit seinen Häusern fast versteckt und tief in das Tal duckt. Dort drüben liegt der Wald in langgestreckten, feierlichen Wogen im blauen Dufte, dort drüben das Tal, dort drüben – dort drüben –


»Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus!«

[273]

Der Königstein.

Eugen Bracht, der große Meister der Farbe und Stimmung, hat ein kleines Gemälde vom Königstein geschaffen, in welchem mit poetischer Gewalt die Wucht dieses Felsblockes dargestellt ist. Wie ein ungeheurer Altar eines überweltlichen Riesengeschlechtes steigt er aus dunkelblauen Tales- und Waldestiefen in einen wolkenlastenden Gewitterhimmel empor. Gleich dem Rauch unermeßlicher Opfer ballen sich die Wetterwolken und ziehen in dunklen Geschwadern am Himmel über ihm. Will Asathor ausfahren, um Blitze über die Erde zu säen und seinen Donnerhammer gegen den Felsaltar zu schleudern? Ist es ein Riesendenkmal, in welchem sich ungeheures Geschehen, eines ganzen Volkes Schicksal, sein Jubel und sein Jammer, in wuchtiger Form ausprägt?

Es ist heroische Stimmung, welche uns der Maler in seiner Leidenschaft der Farbe und Stimmung hier im Bilde erleben läßt, Stimmung, wie er sie selbst einmal in besonderer Stunde empfunden und mit tiefer Seele aufgenommen hat.

Schildern und Emporheben, das Suchen nach der äußeren und das nach der inneren Wahrheit verschmilzt sich in ihm, wird ihm zum Bild, zum einheitlichen Ausdruck künstlerischen Erlebens.

Ja, der Königstein will belauscht, will erlebt sein. In Gewittertagen und im wonnigen Mai, wenn die Buchen [274] leuchten in seligem Grün, im weißen Prachtgewande des Winters, der silbernes Geschmeide um die Herrscherstirne legt, und im goldenen Königsmantel des Herbstes, dessen schimmernde Schleppe in die Fluten der unaufhaltsam strömenden Elbe taucht, im Abendrot, wenn in feurigen Gluten Himmel und Erde, Nähe und Ferne brennen und langsam verglühen, im Nebelgewoge, das die Täler und Gründe mit weicher, geisterhafter Flut erfüllt, auf dem die Kuppen und Gipfel schwimmen wie blaue, mit blassen Opalen geschmückte Inseln auf märchenhaftem unwirklichem, milchweißem Meere, in dunkler weicher Nacht, wenn droben die unzähligen Sterne ihren schimmernden, ewigen Reigen durch die Unendlichkeit wandern und im Gebüsch die Leuchtkäfer als grüne Funken leise ihren kurzen nächtlichen Lebens-, Liebes- und Sternenreigen ziehen und schweben, während im Walde der Ruf der Eulen geisterhaft tönt, wie die Klage und der Sehnsuchtsruf armer, verlorener Seelen nach Erlösung, nach Erhebung aus bitterer Not und Leid. –

Um diesen Stein ist es etwas ganz Besonderes. Es ist als ob er eine Seele hätte, die vieles erlebt und empfunden, gelitten und genossen hat, davon zu schweigen weiß, die aber auch dem, der sie sucht, sich zu offenbaren weiß. –

Wir wollen diese Seele suchen gehen. Vielleicht wird sie sich finden lassen. – – –

Durch grünen Buchenwald steigen wir an der Flanke des Berges auf dem alten, mit Sandsteinblöcken gepflasterten Kanonenweg zur Festung empor. Weite Ausblicke ins Elbtal und auf die gegenüberliegenden Abhänge des rechten Ufers und drüben auf die dunklen Schroffen des Liliensteines, des stolzen Bruders des Königsteins, wechseln mit dichtem Wald und grünen Wänden von Buchen, Fichten [275] und Gebüsch von Farnkraut, Heidelbeeren und Brombeergerank. Wuchtige Felsblöcke recken sich links am Wege hoch aus dem Dickicht, deren einer in einer Inschrift den Erbauer dieser Straße rühmt. Vom steilen Fahrweg windet sich dann ein steilerer Fußweg links zur Höhe. Da tauchen graue Mauern zwischen den Stämmen des Waldes über uns auf. Es sind die Mauern der »Flesche«, welche als niedrigeres mächtiges Außenwerk wie ein Sporn weit hervorspringt und das Tor, die Zugangsstraße und die Flanke der Festung schützt.

Vor uns leuchtet auf der Höhe des Weges beim Austritt aus dem Walde, wie ein Saal mit weichem, grünem Teppich die ebene Lichtung einer köstlichen Wiese, der Louisenwiese, zur Linken von steiler Mauer umfaßt. Darüber türmen sich wandsteile Felsen und schroffe Quaderwände zu unersteiglicher Höhe mit Vorsprüngen und Zinnen bewehrt und mit keckem Turm auf weitausladender Bastion, die Georgenbastion. Und droben, auf diesem gewaltigen Sockel thront die stolze Georgenburg, vier Geschosse hoch in die Lüfte ragend, welche die ältesten Teile der Burganlage umfaßt. Auf breiterer Straße stehen wir dann unmittelbar am Fuße der senkrechten Felsenmauern, aus denen das Quaderwerk der von Menschenhand geschichteten Sandsteinblöcke aufwächst. Weit springt im Rechteck ein gewaltiger Vorbau auf seinem Felsenunterbau hervor, das Horn, von dem die Seiten und die Zugangsstraßen wie von einem riesenhaften Turm vom Geschützfeuer bestrichen werden können. Ein rundes Türmchen mit Kuppeldach, Laterne und spitzem Helme klemmt sich malerisch in den Winkel des Vorsprunges. Es ist der kleine Seigerturm mit seiner Stundenglocke von Hans Hilliger in Freiberg aus dem Jahre 1603, welche das kursächsische Wappen und Widmungsinschrift [276] trägt. Von dort oben schaute einst im Jahre 1698 der Zar Peter der Große in das wonnige, blühende Land mit seinen Feldern und Dörfern und reichen Kultur und dachte an sein fernes, wildes Rußland. Er nahm den Meißel zur Hand und ritzte seinen Namenszug in die innere Wand des Seigertürmchens zum Gedächtnis dieser Stunde, da er als Gast und Freund deutscher Art und Kultur hier geweilt. Der junge Goethe ritzte in begeisterter Stunde so seinen Namen in den Stein des Straßburger Münsterturmes, ehe er sein Werk begann, eine neue Welt des Geistes zu schaffen und zu beherrschen, seinem Volke und der Welt zu schenken. Des jungen Goethe Namen an der Stätte höchster geistiger und künstlerischer Kraft. Peters Name am Turm der Festung, wo Kraft und Herrschaft sich in wuchtiger Erscheinung zusammenballen, geritzt, ehe er sein Werk begann, seinem Rußland neue Welten der Bildung und Kraft zu erschließen, um so äußere Macht und Herrschaft in wuchtiger Form zusammenzuballen. – –

216 Jahre vergingen. Hindenburg hatte Tannenberg geschlagen. Da zogen die gefangenen Offiziere der russischen kaiserlichen Eliteregimenter hier ein und mußten Wohnung nehmen, unfreiwillig, vier Jahre lang und schauten sehnsüchtig in das wonnige, weite Land und dachten an Freiheit und das ferne Mütterchen Rußland und standen oft sinnend vor dem Namenszuge ihres großen Zaren.

Der große erste Zar, ein Freund der deutschen Kultur, führte sein Land aufwärts zur Höhe, der kleine, schwache, letzte Zar ein Feind der deutschen Art, führte sein Land in den Abgrund. Er wollte zermalmen und wurde zermalmt.

Die Straße am Fuße der Felsenmauer führt uns über eine Zugbrücke, die rote Brücke, durch ein offenes Vortor [277] zum eigentlichen Festungstor. Gut ist die Straße durch Erdwälle geschützt, und einige stolze Pappeln stehen am Rande wie gewaltige Wächter oder eine königliche Leibgarde. Durch ein klirrendes, starkes, eisernes Gittertor treten wir auf einen kleinen Vorhof, von dem unsere Blicke aufwärts fliegen zu den mächtigen Felsen und Wänden, die uns fast im Halbkreis, wie in einem Kessel, umschließen. Felsen, aus denen wieder himmelansteigende Gebäude emporwachsen, die Georgenburg, Streichwehrgebäude und Kommandantenhaus mit funkelnden Fenstern. Vor uns liegt ein anderes Tor in wuchtigen Renaissanceformen, mit einem Gorgonenhaupt als Schlußstein, gekrönt von einer Wappenkartusche mit Königskrone und Waffentrophäen. Der Festungskommandant und Architekt des Königs August II., des Starken, Johann von Bodt (1670–1745) hat den Entwurf dazu gezeichnet, der noch erhalten ist mit dem Handzeichen des Königs und auf dem Architrav die nicht ausgeführte Inschrift trägt:

»Konistein bin ich genant
Ein Konig bracht mich in Stand.«

Wir durchschreiten den gewölbten Torweg und stehen im zweiten, feuchten, finsteren, engen Hofe, unmittelbar am Fuße der ungeheuren Mauern. Bedrückend wirken diese aufgetürmten Massen über diesem engen, verließartigen Kessel, auf dessen Grund kaum ein Sonnenstrahl gelangt. Eine steile Bohlenrampe steigt aus ihm aufwärts zu dem hochliegenden Tore einer schwarz gähnenden Tunnelmündung, in der ein starkes Fallgatter aus eisenbewehrten, spitzigen Pfählen drohend herniederhängt.

Über diesem Tor mit Dreiecksgiebel und Rüstungstrophäen über den Eckpilastern ist das Reliefbild Augusts des [278] Starken angebracht, dessen königliche Baulust auch hier auf dem Königstein sich betätigte.

In dem finsteren Tunnel, der »Appareille«, geht es steil aufwärts. Feuchte, kalte Kellerluft weht uns an, als müßten wir in ein unheimliches Felsverließ hinein. Unsere Schritte hallen wieder von den gewachsenen Felsenwänden, aus denen dieser Aufgang herausgehauen ist, hallen wieder von dem schweren Gewölbe, das schwarz über uns lastet. Als hier die gefangenen Russen 1914 aus lichtem, warmem Tage diesen unheimlichen schwarzen Gang aufwärts geführt wurden, da wurde auch mancher tapfere Mann bleich, denn sie glaubten, sie müßten für immer vom Sonnenlichte scheiden.

An einem Knickpunkt des Aufganges ist eine mächtige Winde angebracht, durch welche die Wagen die schiefe Ebene aufwärts gewunden oder vorsichtig herabgelassen werden. Mag heute auch meistens der elektrische Aufzug an der Außenwand der Festung diesem Zwecke dienen, so ist doch diese altertümliche, gewaltige Wagenwinde noch keineswegs ganz außer Dienst gestellt. Unter der Decke des Aufgangs gewahren wir hier Schießscharten, von welchen der Aufgang mit Feuer bestrichen werden kann, so daß dieser Aufgang geradezu zu einer Blut- und Todesgasse für den Angreifer werden müßte, der hier zu stürmen wagte.

Da leuchtet uns endlich wieder das Tageslicht, und zwischen den Felsmauern ansteigend führt uns der gehauene Gang unter freiem Himmel das letzte Stück aufwärts. Wir sehen grüne Baumkronen hoch über uns im Winde sich bewegen, hören den jubelnden Sang der Vögel und über die Mauer hängt ein Fliederbaum seine duftenden Dolden in die kalte, enge Felsengasse, wie einen Gruß [279] aus Sonnenwärme und Licht. Tief atmen wir auf und unsere Brust hebt sich dem goldenen Tage entgegen. Die Hochfläche des Steines, des königlichen Felsens betritt nun unser Fuß, und es ist uns, als wären wir in einer anderen Welt und Zeit, fern vom Alltage, über dem Tagesgetriebe und näher der Vergangenheit.

Im Herzen der Festung befinden wir uns, auf dem Königsplatz, um den sich die Hauptgebäude gruppieren, Kommandantur und Brunnenhaus, Magdalenenburg, Kirche, neues Zeughaus und Kommandantenhaus. Kunstreich gezierte bronzene Kanonenrohre mit Kurwappen und Medaillons, die Monate darstellend, aus dem Jahre 1686 und andere ähnlich geschmückte aus dem 18. Jahrhundert liegen im Kreise unter den hohen rauschenden Bäumen des Platzes.

Unser Weg führt uns dann rings auf dem Wall an den Zinnen und Brüstungsmauern der Festung entlang, um unsere Wimper erst mal satt trinken zu lassen von dem goldenen Überfluß der Welt, die sich zu unseren Füßen breitet, und Erinnerungen steigen auf an Stunden, die vorüber sind, an Zeiten, Männer und Schicksale ferner Vergangenheit. Die Steine fangen an zu leben, zu flüstern, und ihr heimliches Raunen eint sich mit den großen Linien und Rhythmen der Landschaft ebenso wie mit ihrer wonnigen Lieblichkeit zu unsern Füßen zu einer einzigartigen Symphonie, der auch dunkle Untertöne und Mißtöne nicht fehlen. Es mag im Sachsenlande wohl kaum eine Stätte geben, wo die umfassende Herrlichkeit der Landschaft sich mit Sage und Geschichte zu so eindringlicher Wirkung verbindet. Es mag kaum eine Stätte geben, wo neben rauschenden Festen, königlichem Prunk und übersprudelnder Genußfreude soviel Elend, Verzweiflung, Wut [280] und Schmerzen ihren Weg zum Himmel suchten, wie hier auf dem Königstein, ein Stein des Fluches einst für viele und doch ein königlicher Stein.

Wir stehen an der Friedrichsburg, ursprünglich Christiansburg genannt, welche 1589–1591 Kurfürst Christian I. durch seinen Architekten Paul Puchner aus Nürnberg und Hans Irmisch aus Freiberg auf einem Felsenvorsprung der Nordseite hoch über der Elbe errichten ließ. Christian I. war es ja, der den Felsen eigentlich erst zu einer Festung ausbauen ließ. Er ließ 1589 rings den Felsenrand mit starker Brustwehrmauer versehen und schuf den neuen, sicheren Aufgang, durch den wir auch heute den Felsen betreten haben, unter Benutzung einer natürlichen Kluft, die er überbaute und befestigte, so, daß »die seite des ganzen Berges sampt des Weges und Porten mit 10 oder 12 Soldaten verwarrt werden« konnte. Er legte auch eine ständige Besatzung auf die Festung, und baute für sie eine Kaserne, die heute noch erhalten ist, und in ihrer charakteristischen Anlage wohl eines der ältesten Beispiele derartiger militärischer Bauten ist.

Die Christiansburg auf ihrer sturmfreien, unersteiglichen Höhe an einem der schönsten Punkte des Sachsenlandes galt aber nicht der Befestigung, sondern ist ein Lustschlößchen mit wunderbarer Aussicht elbaufwärts und elbabwärts und auf die malerischen Felsen der sächsischen Schweiz im Basteigebiet und drüben auf den stolzen Lilienstein. Tief unten im Grunde zieht der Strom majestätisch in großer Windung dahin und trägt die Kähne und die Flöße aus dem Böhmerland vorbei und aus dem Walde zu den Füßen steigt der Duft der Buchen empor, klingt das Lied der Singvögel und das Kichern des Spechtes. Ein uneinnehmbarer Festungsklotz, ein unzerbrechlicher Felsenriegel [281] für das Elbtal und doch ein Ort für jauchzende Lebenslust und jubelnder Daseinsfreude in seiner landschaftlichen Schönheit. Da ist es kein Wunder, daß Sachsens Fürsten immer wieder hierher geeilt sind zur Freude und auch in der Stunde der Gefahr, und daß sie auch ihre Gäste hierherführten. 1652 weilte hier der große Kurfürst, 1698 Peter der Große, 1728 Friedrich Wilhelm I. von Preußen, der Soldatenkönig mit seinem Sohn, dem großen Friedrich, der später hier wieder ein freilich unwillkommener Gast war, 1813 Napoleon I., der Franzosenkaiser kurz vor seinem Sturz. Hier in der Friedrichsburg, hoch über der Landschaft königlich thronend, fanden die frohen Feste und Gastereien statt. Es ist ein äußerlich schlichter, achteckiger Pavillonbau von 11,4 m Durchmesser von zwei Geschossen mit gebrochenem Mansardendach. Ursprünglich führte nur ein rundes Treppentürmchen zum oberen Spiegelsaal mit seinen Deckengemälden und den zehn großen Aussichtsfenstern, durch welche sich nach jeder Richtung ein neues, reizvolles Landschaftsbild bietet.

August der Starke ließ jedoch an Stelle des Türmchens 1721 eine zweiarmige Freitreppe mit reicher Balusterbrüstung und Vasenschmuck anlegen. Seine Absicht, auch noch durch Flügelbauten und Bogengänge dieses architektonische Schmuckstück noch weiter auszubilden, die in noch erhaltenen Zeichnungen festgelegt ist, ist nicht zur Durchführung gekommen.

Im unteren Saale der Friedrichsburg feierte am 12. August 1675 der Kurfürst Johann Georg II. ein Hoffest. Sein Page Karl Heinrich von Grunau hatte dabei dem guten Meißner Wein, der im großen Fasse der Magdalenenburg ja unerschöpflich schien, zu ergiebig zugesprochen im Hochgefühl der Stunde auf dem königlichen [282] Stein. Die Umtrunkhumpen jener trunkfesten Zeit hatten auch noch etwas anderes Format als unsere Gläschen heutzutage. Bunte Gläser von 2–3 Liter Inhalt sind heute noch in der Friedrichsburg zu sehen. Im Rausche stieg Grunau aus dem Fenster auf einen schmalen, etwa 60 cm breiten Felsenvorsprung herunter und legte sich mit der Sicherheit eines Nachtwandlers am Rande des Abgrunds nieder auf dem harten Stein und schlief, in der Meinung daheim im Bette zu sein, fest und sorglos ein. Nur der geringsten Wendung bedurfte es, und er stürzte in die Tiefe hinunter. Glücklicherweise wurde er zeitig entdeckt. Als man dem Kurfürsten das halsbrechende Ruheplätzchen zeigte, ließ er den Schlummernden erst anbinden und dann mit Trompeten und Pauken wecken. Grunau mag in seinem Leben dieses gefährliche Lager, das man heute noch »das Pagenbett« nennt und zeigt, nicht vergessen haben, obschon er 106 Jahre alt wurde und erst beinahe 70 Jahre später, am 9. Dezember 1744 starb. Er war kein unreifer Jüngling mehr, obschon er Page war, als er dieses steinerne Bett am Abgrund sich suchte, sondern ein Mann von 37 Jahren. Als Greis von 102 Jahren machte er noch in Bischofswerda 1740 August dem Starken auf seiner Reise nach Polen seine Aufwartung.

Im Jahre 1756 stand hier ein anderer sächsischer Fürst, August III., mit seinen beiden Söhnen, den Prinzen Xaver und Karl, und mit seinem mächtigen, unheilvollen Minister Brühl an der Friedrichsburg und schaute schweren Herzens in ohnmächtigem Zorn hinüber nach dem Lilienstein, nach der Ebenheit, aus welcher sich der Felskoloß dort drüben erhebt, und sah den Untergang seines Heeres. Das sächsische Heer, 18 000 Mann stark, hatte nicht vom Lager in Pirna her rechtzeitig die Verbindung mit den Österreichern [283] unter Brown aufgenommen, der bei Schandau stand und mit 9000 Mann auf die Sachsen vom 11.–14. Oktober wartete. Diese waren, nachdem sie das letzte Brot gegessen hatten, erst in der Nacht auf den 13. Oktober auf einer Schiffbrücke über die Elbe gegangen und standen nun dort am Fuße des Liliensteins bei strömendem Regen in einem ungangbaren Gelände, und konnten nicht vorwärts und rückwärts. Von allen Seiten rückten die Preußen heran, wie in einem Kesseltreiben. Ein Durchbrechen ihrer Reihen war nicht möglich. Am 14. Oktober erteilte August, der von dort oben mit eigenen Augen voller Grimm zusehen mußte, wie Friedrich die Schlinge zusammenzog, seinem Halbbruder Rutowski die Vollmacht zum Abschluß der Kapitulation mit Friedrich. Die ganze sächsische Armee wurde kriegsgefangen, die Mannschaften durch einen erzwungenen Fahneneid dem preußischen Heere einverleibt, den Offizieren die Wahl zwischen Gefangenschaft oder Übertritt in den preußischen Dienst gelassen. Doch die Ehre wurde gewahrt: 568 Offiziere gingen lieber in Kriegsgefangenschaft, nur 53 Offiziere in preußischen Dienst. Die Mannschaften entflohen später zum großen Teil und flüchteten sich nach Polen und Österreich. Der König selbst verließ am 20. Oktober 1756 früh 5 Uhr mit seinem Gefolge den Königstein in 33 Wagen, um nach Polen zu eilen und traf am 27. Oktober in Warschau ein.

Der siegreiche Feind im Land, der König und sein allmächtiger Minister auf eiliger Flucht, das Volk und Land in seinem Elend und Not verlassend, um sich in bequeme Sicherheit zu bringen. – – Wie stimmte das zu seinen stolzen Worten in der Schicksalsstunde seiner Armee, als er vor ihrer Kapitulation vom sicheren Königstein ihr zurief: »Der König zieht es vor zu sterben, mit seinen Offizieren [284] zu sterben, als solch eine Schmach zu überleben!« Worte, denen keine Taten folgten! Er war kein Held. Die von Brühl geflissentlich genährte Bequemlichkeit war sogar stärker als das einfache Pflichtgefühl. Das erste Jahr des siebenjährigen Krieges hatte hier unter den Felsen des unüberwindlichen Königsteins unter den Augen eines energielosen, mißleiteten Königs eine für Sachsen verhängnisvolle Wendung genommen. – Heute noch werden hie und da Kanonenkugeln aus jenen schicksalsschweren Tagen auf der Ebenheit aus dem Ackerboden gepflügt.

Auch Napoleon suchte vergebens 1813 auf der Ebenheit sich einen Stützpunkt am Fuße des Liliensteines zu schaffen durch Errichtung eines befestigten Lagers, als Mittelpunkt einer starken Verteidigungslinie gegen die Österreicher von Stolpen über den Lilienstein bis an die böhmische Grenze bei Peterswalde. Reste der Schanzen sind noch vorhanden. Doch Napoleons Stern war erblichen. Auf Leipzigs Fluren sank er in den Staub. – – –

Als 1914 nach dem großen Kesseltreiben Hindenburgs bei Tannenberg die russischen Offiziere auf dem Königstein unfreiwilliges Quartier fanden, wurde ihnen der obere Saal der Friedrichsburg zunächst für ihre Gottesdienste zur Verfügung gestellt. –

Wunderbarer Wandel der Geschicke! Der Raum ausgelassenster Weltfreude eines August des Starken und seiner Nachfolger wird Stätte des mystischen, fremdartigen, russischen Gottesdienstes. Der Pope mit schwarzem Bart und langen schwarzen Locken aus dem Innern Rußlands steht im bunten, reichgestickten, langwallenden Ornat vor dem Altar mit der großen Bilderwand, die einer der gefangenen Offiziere gemalt hat. Daneben der Männerchor, aus allerlei Stämmen Rußlands, der die Orgel ersetzt, mit [285] seinen tiefen, weichen, dunklen Stimmen und den eigenartig schwermütigen, einförmigen Gesängen, welche die Molltonarten und Tonfolgen in halben Tönen so bevorzugen. Von oben schauen verwundert die Köpfe der Zwölf- und Sechzehnender mit ihren gewaltigen Geweihen hernieder auf dieses seltsame Tun und Treiben, das zu dem deutschen Königsfelsen hoch über deutschem Wald und Strom, zu diesem Raum, in dem noch das Lachen derber Weidmannslust, das Jauchzen lebensfroher Trinkgesellen aus zwei Jahrhunderten zu hängen scheint, so gar nicht recht passen und stimmen will. –

Einer der gefangenen Generäle, General von Dehn, aus deutschem Blut und baltischem Geschlecht, sah oft gedankenvoll von hier nach dem Basteifelsen hinüber. Ein Jahr zuvor hatte er die Bastei mit seiner Gattin auf einer Deutschlandreise besucht. Hatte dort drüben gestanden, zum Königstein mit ihr hinübergeschaut und ihr diesen berühmten Felsen gewiesen. Damals hatte er nicht gedacht, daß er sobald diesen Felsen wiederschauen und unfreiwillig so eingehend kennenlernen würde, daß er, der Mann aus der Umgebung des Zaren, sobald wieder eine Reise aus dem fernen Rußland, jedoch ohne Gattin, aber mit Kameraden, in die Sächsische Schweiz machen würde!

Er schüttelt tiefsinnig sein bartloses Haupt und wandert mit gesenktem Blick über den Wall mit raschem, kurzem Schritt. Gefangensein, tatenlos, ist schweres Soldatenlos! Wunderbarer Wandel der Geschicke! –

Diesen Wandel der Geschicke, und daß das Glück eine feile Dirne ist, haben manche erfahren müssen, die hier auf dem Königstein geweilt haben. Fürstengunst war manchmal ein Strick, der aus dem Dunkel, aus der Tiefe aufwärts zog – – aber manchmal viel höher, als es einem [286] gesunden, ehrlichen Hals lieb sein konnte: Gleich neben der Friedrichsburg stand ein Baum, der einen Ast weit über die Brüstungsmauer gerade hinausreckte über den tiefen Abgrund. Am 7. Juli 1610 trug er eine absonderliche Frucht. Es war der bisherige Kommandant der Festung selbst, von Beon, der nach Kriegsrecht über die Festung hinausgehangen wurde, weil er angeblich Holz, Bretter, Schanzzeug usw. veruntreut hatte. Seinem Halse mag die Schlinge der Fürstengunst bald zu eng geworden sein. Ein Kreuz in der alten Brüstungsmauer zeigt die Stelle, wo er auf Wunsch seines Fürsten so aussichtsreich sein Leben aus Luftmangel schloß angesichts der großen, stillen, weiten Elblandschaft. –

Noch ein andrer mag in mitternächtlicher Stunde zur Johannisnacht, wenn geheimnisvolle Kräfte sich regen und, was stumm und tot ist, Sprache und Leben gewinnt, über den Wandel der Geschicke sich wundern. Es ist der riesige Bacchus mit seinem Satyrgefolge, der in das Erdgeschoß der Friedrichsburg wie in ein enges Gefängnis verbannt ist. Wie gern würde er wohl in geisterhaft schöner Vollmondnacht hinüberwandern nach der Magdalenenburg, in die ungeheuren Felsengewölbe hinabsteigen und sehen, ob nicht vom großen Faß ein Zug zu schlürfen wäre, von dem Fasse, dessen Schutzgott, Schmuck und am engsten verbundener Freund er einst war, einen langen Zug und Schlurf zu tun, der für 100 Jahre der Trockenheit und des Staubes vorhält. Der Kelch in seiner hocherhobenen Hand ist trocken und leer und die Gewinde von Weintrauben geben keinen perlenden Saft. Wenn er aufspringen würde, so würde er die Decke durchstoßen, und das Haus auf seinen Schultern davon tragen. Ja, die Zeiten sind nüchtern und trocken geworden, der Sang ist verschollen, der Wein ist [287] verraucht, das große Faß ist zerschlagen, all der bunte Zauber ist verstoben und zu Asche geworden.

Was mögen das für feuchtfröhliche Kellerfeste gewesen sein dort drüben in der Magdalenenburg. Im Grundstein war 1620 ein mit edlem Wein gefülltes Glas versenkt worden und nun lebte der fröhliche Geist des Weines in den mächtigen Gewölben. 1624 wurde ein Faß mit 2222 Eimer Inhalt aufgestellt und diente 50 Jahre etwa seinem Zweck. Dann folgte 1680 ein Faß mit 3319 Eimer Inhalt. 16 Wochen dauerte seine Füllung mit Meißner Wein! Doch August dem Starken genügte das nicht. Von seinem berühmten Architekten Pöppelmann ließ er Zeichnungen machen und dann ein Faß bauen, das seinesgleichen nicht hatte. Die Schauseite war reich geschmückt mit Holzschnitzerei. Oben das reiche sächsisch-polnische Wappen mit der Königskrone darüber, Weingehänge und rechts und links zwei am Rande emporkletternde Satyrn und auf dem unteren Rande sitzend unser prächtig modellierter Bacchus. Auf acht gewaltigen Lagerböcken ruhte der Riesenleib des Fasses. In halber Höhe umschloß ihn wie ein ungeheurer Gurt die die Böcke zu einem festen Lager verbindende Riesenzarge, auf der zum Schmucke die Reihen der mächtigen Humpen und allerlei Schaustücke standen. Da stand ein großer, hölzerner Becher, den Kurfürst August gedreht, dort ein silbernes Fäßchen mit 14 immer kleineren, eingesetzten silbernen Bechern, dort ein silberner Ziehbrunnen mit Säulen und Dach von Silber, dort eine silberne und vergoldete, 18 Zoll lange und an der Mündung 2¾ Zoll weite, auf einer Ebenholzlafette ruhende Kanone, dort ein silberner, vergoldeter, 6 Zoll hoher und an der Mündung 3 Zoll weiter Mörser (beide als Becher zu gebrauchen), dort ein venetianisches Glas, das 6 Maß hält und einen [288] Deckel von 3 Maß Weite hat, dort noch andere Trinkgefäße von besonderen Maßen und Formen und für urweltlichen Durst. 30 eiserne Reifen umspannten den Riesenleib des Fasses, von denen jeder 7 Zentner wog. 10 m Länge und 7 m Durchmesser hatte das Ungeheuer und 3709 Eimer schluckte sein unersättlicher Bauch, das sind 2500 hl , 376 hl mehr als das große Heidelberger Faß. Sein Rücken trug einen geräumigen Boden von zierlicher, vasengeschmückter Brüstung umgeben, auf dem große Tafel und Tanz stattfinden und dem Gotte des Weines in bacchantischer Lust geopfert werden konnte.

Wie das Weinfaß und die Trinkgefäße von besonderen Maßen waren, so war auch der Durst und die Trinkfähigkeit in jenen früheren Jahrhunderten von manchmal erstaunlichem Ausmaß. Der Meistertrunk von Rothenburg o. d. T., den der Alt-Bürgermeister Georg Nusch am 30. Oktober 1631 tat, um seine alte, gute Stadt vor der Verwüstung durch Tillys Scharen zu retten, ist bekannt. Noch heute erscheint ja seine Gestalt, wenn mittags die Uhr zwölf schlägt, oben am Fenster der ehemaligen Reichstrinkstube am Markt in Rothenburg mit dem Schweden, setzt den gewaltigen Humpen an und leert ihn (über 3 Liter Inhalt) im langen Zuge zum Erstaunen seines Feindes. Ein andrer solcher Kämpe mit dem Humpen war Veit von Bassenheim, der ein silbernes Becken, das 8 Weinflaschen faßte, dreimal hintereinander leerte und sich so von dem Ordensmeister Winrich von Kniprode die Schloßhauptmannschaft der Marienburg erkneipte. Ein großer Held im Wettrinken war auch der kurbrandenburgische Oberkämmerer Kurt von Burgsdorf, der bei jeder Mahlzeit 18 Maß Wein vertilgte, und sich im Trinkkampf manches Schloß und Dorf gewann, anders als der Herr von Rodenstein, [289] der alle seine Dörfer zu Heidelberg im Hirschen vertrank. Von den Mengen, die in jenen trunkfesten Zeiten täglich getrunken wurden, gibt eine Hoftrinkordnung Kunde, die 1648 an dem für besonders mäßig geltenden Hofe des Herzogs Ernst des Frommen zu Sachsen-Gotha erlassen wurde. Danach wurden »die gräflichen und adligen Frauenzimmer« auf vier Maß Bier am Tage und drei Maß des Abends gesetzt.

Hier, im Keller der Magdalenenburg, wo wohl seltener »gräfliche und adlige Frauenzimmer« als vielmehr Kriegsmänner, alte »Kriegsgurgeln« mit ausgepichten Kehlen die Runde bildeten, mag manches scharfe Trinkturnier ausgefochten sein, da ja der edle Stoff unerschöpflich war. »Ich hab ein Igel im Bauch, der muß geschwummen haben«, hat mancher da gedacht.

Wild mag es auch manchmal hergegangen sein, wenn der starke König dort seiner Kraftnatur die Zügel schießen ließ, und sein Kommandant, der Generalleutnant Freiherr von Kyau, mit seinen lustigen Einfällen und derben Späßen die Runde der übermütigen Zecher erheiterte, daß das Gewölbe vom Lachen der rauhen Kehlen erdröhnte. – –

»Iz rinnit nich ein tropho mêr,
Der wîn ist vortgehupfit …
Ou wê mîn grôzaz vaz stât lêr,
Sie hâ’nt mirz ûz gesupfit!«

Das Faß wurde 1819 zerschlagen. Das Lachen in der Magdalenenburg ist längst verstummt, schwarz und finster liegen die mächtigen Kellergewölbe wie ein Grab vergangener Größe. Nur der Bacchus sitzt mit den Satyrn trocken und verstaubt im engen Raum der Friedrichsburg. Wenn er reden könnte, was würde er erzählen, wovon kein Buch mehr weiß! Geh hin in der Johannisnacht, wenn der [290] Vollmond scheint. Fülle ihm seinen Becher mit edlem Wein und trinke ihm dann zu, erzähle ihm vom deutschen Rhein und deutschem Wein, von deutschem Glück und deutschem Leid, von deutscher Not und deutscher Rache, vielleicht erwacht er vom Duft der Reben und redet dann, was er erfuhr in tollen Nächten, was er erlauscht in mehr als 100 Jahren, was keiner mehr sonst weiß, vielleicht von deutscher Seele und deutscher Tat, vielleicht ein Wort, das stark macht und Begeisterung schafft, wie edler Wein – – vielleicht!? –

Ja, sonderbare Geister gehen auf dem Königstein um! Da sitzt der Goldkoch Baron von Klettenberg über seine Tinkturen gebeugt. Er wollte dem König, der soviel Gold brauchte und für seine kostspieligen Neigungen durch seine Hände rollen ließ, eine Universaltinktur zum Goldmachen liefern, die überdies durch gewisse Handgriffe einer unendlichen Vervielfältigung fähig sei. Das gefiel August dem Starken, aber als seine Vorschüsse verbraucht waren, ohne das ersehnte Gold zu schaffen, setzte ihn August aus dem fröhlichen, üppigen Dresden auf den ernsten, knappen Königstein, um hier die Goldtinktur zu finden. Mehrere Fluchtversuche des Abenteurers mißlangen. Mit einem Federmesser, das er heimlich in den Schuhen trug, arbeitete er sich in der siebenten Woche seiner Gefangenschaft in der Walpurgisnacht 1719 durch den Fußboden seines Zimmers in der Georgenburg hindurch und ließ sich dann in tollkühnem Wagemut an einem aus seinem zerschnittenen Mantel gefertigten Seil glücklich über den turmhohen Felsen hinab. Glücklich erreichte er die Nähe des Pfaffensteins, da verriet ihn seine Eitelkeit. Im Busche von Gorisch begegneten ihm die Bauern Blumentritt und Roschig, denen er verdächtig vorkam, so daß sie ihn ergriffen und ein [291] scharfes Verhör mit ihm anstellten. Er sei der Hauslehrer eines Pfarrers der Gegend, behauptete er keck. Fast hätten sie ihn wieder laufen lassen, doch halt, da sahen die schlauen Bauern seine schönen rotseidenen Strümpfe mit silbernen Zwickeln, wie kein solch armer Schlucker von Hauslehrer besitzen konnte. Blumentritt und Roschig nahmen ihn in die Mitte, und er mußte den unfreiwilligen, bitteren Weg zur Festung zurück antreten.

Er wurde nun in ein festeres Zimmer im Erdgeschoß der Georgenburg gebracht, brach aber am 10. Januar 1720 auch aus diesem aus und wäre fast entkommen, als er plötzlich abrutschte und 20 m herab in einen mit Schnee gefüllten Graben immerhin noch glücklich stürzte. Er wurde von der durch das Geräusch aufmerksam gewordenen Wache entdeckt und zurückgebracht. Er hatte ja allerlei auf dem Kerbholz und wurde auch wegen eines Duells vom Magistrat seiner Vaterstadt Frankfurt a. M. verfolgt. Seine Auslieferung oder Hinrichtung wurde von dort beantragt. Es wurde ihm nach so hartnäckig wiederholten Fluchtversuchen der Prozeß gemacht und das Todesurteil gesprochen. Als Kyau ihm diese Nachricht brachte, hielt er es für einen Scherz. Aber Kyaus, des sonst so übermütigen, humorvollen Spötters Ernst war nur zu echt. Klettenberg, der so oft sich aus den heikelsten Lagen seines Abenteurerlebens herausgewunden hatte, gab die Hoffnung nicht auf und fragte noch auf dem Wege zum Richtplatz am 1. März 1721 den Henker mit bedenklicher Miene, ob er denn nun wirklich den letzten Gang tun müsse. Seine Eitelkeit, oder war es Stolz und Todesverachtung, verließ ihn auch nicht in der letzten Stunde: Er ließ sich in einem reich mit Silber gestickten Scharlachrocke enthaupten und bat sich als letzte Gnade aus, ihm, da er nicht mehr könne, im Sarge die [292] große Allongeperrücke wieder aufzusetzen, die er beim Köpfen natürlich ablegen mußte. Seelengröße und Lächerlichkeit stehen hier nahe beieinander.

Sinnend stehen wir vor dem kleinen Steinkreuz, das auf seinem Richtplatz errichtet wurde und jetzt auf einem der Wälle in der Nähe der Königsnase noch erhalten ist, und denken dieses kühnen, abenteuerlichen und merkwürdigen Mannes, der so recht ein Kind seiner Zeit war, emporgetragen aus dem Dunkel in ein glänzendes Leben, bald oben, bald unten in der Sonne der Fürstengunst, im Kerker, schließlich Schaffot und dann im Sarg im silbergestickten Scharlachrock und mit Allongeperrücke, im Tode noch den Grandseigneur spielend, obschon der Kopf vom Rumpf getrennt war.

Dem anderen Goldmacher des Königsteins ging es besser, Johann Friedrich Böttcher, der Porzellanerfinder, der durch seine Erfindung mehr als Gold dem Sachsenlande erschloß, nämlich eine Quelle der Arbeit, der Kunst und durch die Jahrhunderte strömenden Segens. Auch auf dem Wege über die geheimen Künste kam er im Jahre 1704 ganz zufällig auf die Erfindung eines braunroten Porzellans, welches alle bisherigen Leistungen dieser Art an Dauer und Schönheit weit übertraf. Man erkannte die Wichtigkeit seiner Erfindung, überhäufte ihn mit Ehren und Schätzen, aber war auch ängstlich besorgt, daß er eines Tages so plötzlich, wie er aufgetaucht war, auch verschwinden könnte. Er mußte sein Laboratorium von Dresden auf die Albrechtsburg in Meißen verlegen, wo er zwar Tafel und Equipage, aber zugleich einen Leutnant zum beständigen Gesellschafter erhielt.

Aber diese Herrlichkeit war von nur kurzer Dauer. Als 1706 die Schweden unter Karl XII. in Sachsen einfielen, [293] wurde er wie ein kostbares Wertstück mit drei seiner eingeweihtesten Gehilfen auf den Königstein geschafft, weil man ihn in Meißen nicht sicher glaubte, auch wohl ihm nicht traute, und ihn und seine Kunst den Schweden nicht gönnte. Es war dies der wirksame Patentschutz jener Zeit, daß man den Erfinder einfach einsperrte. Böttcher kam, für einen unbekannten Arrestanten geltend, mit seinen drei Arbeitern am 26. August 1706 auf der Georgenburg an, wurde zwar aufs beste behandelt, zugleich aber auch auf das schärfste bewacht. Sein Zimmer war sogar mit einem starken Vorlegschlosse versehen. Es lag im Obergeschoß der Georgenburg, deren Zimmer sich nach offenen, loggiaartigen Bogengängen zum Hofe hinaus öffneten. Hier blies der scharfe Wind quer durch das Zimmer, durch Fenster zur Tür, und der Schnee lag im Bogengang vor seiner Schwelle. Er klagte über sein rauhes Quartier und wärmte sich auch wohl an seinem kleinen Brennofen in den Gewölben des Erdgeschosses, wo die ältesten Teile der Burg des alten Kaiserschlosses mit gotischen Türgewänden und Bögen heute noch erhalten sind. Er war noch jung, erst 20 Jahr, und ließ sich die Heiterkeit nicht lange stören, vertrieb sich die Zeit, so gut es ging, schrieb Gedichte, unter andern ein Lehrgedicht auf die Eitelkeit der Dinge und schmiedete heimlich Fluchtpläne, die aber nicht zur Ausführung kamen. Nach 1 Jahr und 9 Wochen wurde er wieder nach Dresden geschafft, wo er dann seine Erfindung weiter vervollkommnete. Über sein Laboratorium schrieb er dort den Vers:

»Gott unser Schöpfer
hat gemacht aus einem Goldmacher einen Töpfer.«

Als »Töpfer« war er jedenfalls besser als wie als Dichter!

Auch in Dresden hatte er zwar alle Bequemlichkeiten und Ehren, nur keine Freiheit. Überall, wohin er sich begab, [294] begleitete ihn ein wachthabender Offizier. Der König schätzte ihn ungemein, wohnte öfters seinen Versuchen bei, machte ihm mehrere Geschenke, schoß mit ihm nach der Scheibe, nahm ihn mit auf die Jagd und erwies ihm andere Ehren.

Böttcher verstand sich aber aufs Geldeinteilen schlecht. Er war umlagert von Leuten, die seine offene Hand mißbrauchten und an ihm zogen. Seine Familie kostete beträchtliche Summen und von schlechten Menschen wurde er hintergangen und betrogen. Er selbst liebte unmäßig starke Getränke, hielt in Meißen, wohin 1710 die Fabrik wieder auf die Albrechtsburg verlegt war, beständig offene Tafel für viele Personen, schaffte sich 20 und mehr Hunde an, kaufte die seltensten und teuersten Gewächse usw. Nachdem er durch unmäßigen Gebrauch von Branntwein und Tabak usw. seinen Körper geschädigt, seine Lebenskraft vergeudet hatte, starb er nach kurzer Krankheit in Dresden am 13. März 1719 erst 33 Jahre alt und hinterließ dem Lande sein großes Werk mit seiner reichen Zukunft, für seine Person aber nur Schulden. – –

Noch mehr Geister abenteuerlicher Gestalten wandeln in heimlichen oder unheimlichen Stunden auf dem Wallgang des Königsteins umher. Da ist der Livländer Patkul, welcher in den Kämpfen und Verhandlungen zwischen Schweden, Rußland und Sachsen eine hervorragende Rolle spielte, und, sei es durch Schuld sei es durch Schicksal, schließlich von den Herren aller drei Länder, von Karl XII., Peter dem Großen und August dem Starken als Verräter angesehen wurde und eines furchtbaren Todes starb. Er wurde von Karl XII. gefangen nach Polen geschleppt und endlich am 30. September 1707 auf eine scheußliche Art gerädert, denn der Henker gab ihm 15 Stöße mit dem Rade, ohne ihn zu töten, so daß Patkul endlich mit zerschmettertem [295] Körper nach dem Block sich wand, und um »Kopf ab« mit gebrochener Stimme bat. Mit vier Hieben wurde dann dieser Wunsch erfüllt. – In der Zeit der Sonnenkönige, überfeinerter Genußsucht und Kultur ein Bild grausamster Folter aus dem finstersten Mittelalter! 1706–1707 hatte Patkul auf dem Königstein gesessen. –

Da ist auch der Schatten des Kanzlers Christians I., Doct. Nicol. Crell, der, beinahe allmächtig unter diesem seinem Gönner, sich viele Feinde unter Adel und Geistlichkeit gemacht hatte und nach des Kurfürsten frühem Tode am 25. September 1591 gestürzt wurde. Zehn Jahre dauerte sein Prozeß, und war er auf dem Königstein gefangen. Er bewohnte den heute noch nach ihm benannten Crellturm, der an die Georgenburg anschließt. Das Todesurteil wurde an ihm in Dresden auf dem Jüdenhofe vollzogen. Crell mußte zum Schaffot von zwei Henkersknechten getragen werden, weil er seiner geschwollenen Beine wegen nicht zu gehen vermochte. Die Witwe des Kurfürsten, dessen vertrauter Diener und Staatsmann er so lange gewesen war, sicher eine feingebildete Dame, schaute aus einem Fenster des Stallgebäudes diesem furchtbaren und traurigen Schauspiele zu. Er hatte vielleicht oft an ihrem Tische gespeist, ihr den Hof gemacht und in geistsprühender Unterhaltung die Zeit verkürzt. Das Haupt, das dort blutig vom Blocke fiel, hatte vielleicht ihre Hand geküßt, für sie und ihren Gatten gedacht, gesorgt und gearbeitet. – Und nun? –

Welche Seelenvorgänge mögen sich im Gemüte dieser Frau gekreuzt haben? Lüsternes Grausen? Innere Anteilnahme und Erbarmen? Blutdürstige Schaulust und Herzenskälte? Etwa befriedigte Rachsucht, wohl aufgespart aus früheren Zeiten? O Rätsel des Menschenherzens, wer mag deine verborgenen, geheimnisvollen Tiefen und Klippen [296] ausdeuten und ermessen? Wer mag sein eignes Herz verstehen und wissen, welche Abgründe dort vielleicht schlummern, die nicht geahnt werden, bis man vielleicht in einer dunklen Stunde erschauernd sie erkennt. – –

Ja, so wandern dunkle Schatten mit schleppenden Schritten in langen Reihen über den Königstein von Männern in Ketten, die in namenloser Qual ihre Strafen, ihre Leiden oft jahrzehntelang trugen. Der Geheimsekretär Friedr. Wilh. Menzel z. B., der durch den Verrat geheimer Depeschen an Friedrich d. Großen die Mitschuld am Ausbruch des Siebenjährigen Krieges trug, lebte mit einer eisernen Stange an den Füßen als Gefangener 33 Jahre hier. Er durfte sich nicht barbieren und sein Bart wuchs ihm bis über die Brust herab. 1796 erlöste ihn der Tod im 70. Jahre.

Königstein, ein Altar, von dem nicht so sehr Gebete als Flüche und Schreie der Verzweiflung, Rache und Hoffnungslosigkeit, der Angst und Wut zu den dunklen ziehenden Wolken und in das Sausen des Windes tönten. So mancher, der unbequem wurde, verschwand auf dem Königstein und schanzte mit Schaufel und Hacke an Mauern und Wällen in Frohnarbeit neben dem Verbrecher, den sein Urteil ereilt hatte, eine bloße Nummer nur wie er. – Friedemann Bach, dem genialen Sohne Johann Sebastians, zerbrach hier in kurzen Stunden der Verzweiflung Leben und Zukunft.

Königstein, ein Stein des Fluches für Unzählige, ein Fels der Zuflucht aber auch in Stunden der Not.

Seine bombensicheren Kasematten nahmen öfter die gefährdeten Schätze Dresdens aus den Archiven, Sammlungen und dem Grünen Gewölbe auf. Ein Fels der Zuflucht auch für die Landesfürsten, wenn Gefahr drohte.

[297]

Als am 3. Mai 1849 das Schloß in Dresden von Freischaren und Bürgerwehr angegriffen wurde, floh der König Friedrich August II. mit Familie und den Ministern nachts auf den Königstein und wartete dort ab, daß die zur Hilfe gerufenen preußischen Truppen ihm seine Hauptstadt wiedereroberten. Der Führer des Aufstandes, der russische Flüchtling Bakunin wurde gefangen und fand sein Schicksal auf dem Königstein. –

Doch hinweg ihr Gestalten mit euren schmerzgezeichneten Gesichtern, denen auch der hellste Tag dunkel ist, deren Blicke so trostlos in die Weite wandern auf den hellen Straßen der Freiheit, die sie nimmer betreten werden, nach den Bergzügen in blauer Ferne, die sich nimmer vor ihnen auftun wird. Hinweg, ihr schwarzen Schatten alter Tage, ihr Schatten von Schicksal und Schuld, von Willkür und Weh, von Trübsal und Tod, ihr sollt uns den leuchtenden Tag nicht trüben und die helle Sonne nicht dunkel machen, das wonnige Lachen des Landes zu unseren Füßen nicht verscheuchen.

Wir stehen auf der Rosenkasematte und schauen hinüber auf die lachenden Fluren von Thürmsdorf und die blanken Häuser, die zierlich und fein über die grünen Hänge gestreut sind. Wie ein goldener leuchtender Schild, der Schild des Frühlingsgottes Baldur, liegt ein blühendes Rapsfeld darüber. Es ist, als strömte von ihm alles Licht und alle Wärme aus, und immer wieder tauchen unsere Blicke in dieses reine königliche Gelb, dem alle Farben des Sommers und der Landschaft dienen. Wir schauen hernieder auf die wogenden, rauschenden Wipfel des Waldes unter uns, auf den breiten silbernen Strom, auf dem ein Floß im langen Zuge stromabwärts gleitet. Wie Ameisen klein bewegen sich die wenigen Menschlein darauf hin und her. Das [298] Bellen eines Hündchens klingt herauf. Wie klein ist doch aus der Höhe betrachtet der Menschen Tun und Treiben, und wie wichtig nimmt doch jeder sich selbst dabei! Sie glauben etwas zu schaffen, und doch trägt der Strom das Floß dahin, welches sie sich fügten. Ein wenig Lenken, ein wenig Steuern ist alles, was sie vermögen, von oben betrachtet ein Nichts!

Wie lernt man bescheiden sein, wenn man aus der Höhe das Leben betrachtet und sieht, wie ein Strom uns alle dahinträgt. – – – –

Über uns breitet eine mächtige Eiche ihr Laubdach. Hier huschten im Herbste die Häher durch die dichten Zweige und die Blaufedern der Flügel schimmerten durch das Grün, wenn sie ihre Nahrung suchten. Doch nicht nur Häher fanden Wohlgefallen an den Eicheln, sondern auch Festungsbewohner. Eigenhändig gesammelt, geröstet und gemahlen schuf diese Frucht des »Kaffeebaumes« auf der Rosenkasematte manchem deutschen Offizier einen strenge duftenden »deutschen Mokka« während der trüben Ersatzzeiten des Krieges!

Wie lernt man bescheiden sein, wenn man aus der Höhe das Leben betrachtet und erkennt, daß alle Werte nur bedingt sind und daß den meisten Dingen erst der Glaube ihren Geschmack und ihren Wert verleiht. – – – –

Wir wandern an der Brüstungsmauer weiter und können nicht genug schauen in der Nähe und in der Ferne, um uns und unter uns. Senkrecht fallen die Felsenwände des Sandsteins ab, zerklüftet und zerspalten, an der Oberfläche hie und da von zahllosen Rillen durchkämmt, als hätte ein Steinmetz mit ungeheurem Scharriereisen die Blöcke bearbeitet und Wind und Wetter hätten sein Werk benagt. [299] Wilde Tauben nisten hie und da in den Löchern und ihr melodisches Rufen und Locken läßt sich hören.

Im Osten der Festung springt ein riesiger Felsenturm fast rechteckig aus dem Block des Königsteins heraus, die Königsnase. Willst du einen Freund ins Herz sächsischer Heimatschönheit schauen lassen, daß er des Eindrucks nicht wieder vergessen mag, dann lasse ihn hier von diesem Söller in die lachende Gotteswelt schauen. Tief unten zu Füßen im Tale die roten und grauen Dächer des Städtchens hier am blinkenden Elbstrome hingestreckt, dort in das Tal des Bielabaches, der dort mündet, hineinwandernd und dort drüben die Abhänge des Pladerberges hinaufkletternd. Mitten darin die Kirche mit ihrem Turm, mit Kuppeldach und Spitze, wie ein preußischer Helm dem vierkantigen Gesellen aufgestülpt. Wenn an einem goldenen Sommerabend von diesem Turm unsere lieben Volkslieder geblasen werden, und du lauschst von oben, wie die Klänge durch das Tal ziehen, den Strom entlang tönen und Wald und Berg und grüne Hänge mit Wohllaut füllen als würde ihre Seele und süßheimliches Träumen im Liede offenbar, dann magst du tief empfinden, was deutsche Heimat ist und wie sie so zart und innig dir an das Herz rührt, daß es antworten muß: »Ja, du bist mein, ich bin dein Kind, und mein Bestes öffnet sich dir, wenn ich meine Seele ganz in dich und deine Art und Herrlichkeit versenken darf.« Deine Augen wandern in die blauende Ferne. Die Sehnsucht, das Fernweh und das Heimatfühlen stehen Hand in Hand in deiner Seele und schauen hinaus in die Wunder der Heimat und ahnen in beseligender Weihe, daß die Heimat dich segnet, dir eine ihrer Höhestunden schenkt, um dich über dich selbst emporzutragen. Dort stehen all die Felsaltäre, der Pfaffenstein, der Gohrisch, [300] der Papststein, der Hennersdorfer Stein, die leuchtenden Felswände der Schrammsteine, der Falkenstein, wie ein gewaltiges Gigantendenkmal von heroischer Wucht und Größe, und links der stolze Lilienstein auf dem buntdurchwirkten Gottesteppich von weiten Feldern, Wiesen und Waldessäumen. Es sind stille Altäre, still und groß, und stehen darum so feierlich, so erhaben, so heilig über der flachen Ebene mit ihrem Geräusche der Arbeit, die vom Schweiße dampft, über den verworrenen Lauten des Tages, über dem Staub der Straßen, auf denen die Alltäglichkeit hastet und keucht.

Und weiter hinaus der hohe Schneeberg mit seinem langgestreckten Rücken in blauem Dunst, die Zschirnsteine, der Winterberg und dazwischen die Spitzen und Kuppen der Berge Böhmens, in feinem Dufte verschwimmend, deutsche Berge im deutschen Land, gegrüßt von deutschem Herzen: Mag auch die Landesgrenze einen Strich ziehen, auch sie Altäre der Treue zu deutscher Art und deutscher Seele, still und groß und feierlich.

Ganz in silberner Ferne ragt dort die stolze Spitze des Kleis bei Haida wie eine steile Pyramide, als reckte sich aus böhmischem Gau der Schwurfinger deutscher Erde aufwärts zum Himmel mit dem Treueschwure, der Blut an Blut, Art an Art, Stamm an Stamm, Ehre an Ehre bindet. –

Was soll ich sie nennen, alle die Berge und Spitzen nah und fern, über die die Wolken fliegen und die Farben wandern, die hier lebendig werden, als höben sie ihre Häupter höher, wenn die Sonne sie trifft, dort in blaue Schatten und Erstarrung zurücksinken und ihre Formen zu verlieren scheinen, immer neu und immer wechselnd, unendlich reich im lebendigen Spiel und doch voll himmlischer Ruhe, ein ungeheures Rund, in dem das Kleine verschwindet. [301] – Fernweh und Heimatfühlen sind die Kräfte, welche dir in solchen Weihestunden die Heimat zu eigen geben und deiner Seele Flügel geben über das Kleine zur großen Ruhe. – –

Wir müssen unsere Blicke losreißen, wennschon sie immer wieder in die Ferne fliegen und immer wieder Sehnsuchtsblaues finden und erschauen mögen. Der Felsen, an dessen Rand wir gehen, hat hier besonders zerrissene und zerklüftete Formen mit vortretenden Ecken und senkrechten Kanten und pfeilerartigen Vorsprüngen angenommen. Wie die Zähne einer Säge springen zickzackförmig die scharfen Ecken der Wehrmauer hervor, hie und da von einem spitzen Rundturm gekrönt. Ein wildmalerisches Bild bietet diese vielfach gespaltene, trotzige, z. T. überhängende, unersteiglich scheinende Felswand, zu der die schlanken Fichten im Grunde emporrauschen. Und doch hat schon vor der Zeit modernen Klettersportes ein wagemutiger Schornsteinfegermeister aus der Stadt dort unten, namens Abratzky, heimlich die Ersteigung versucht. Er wußte mit Wänden und Gesimsen, mit Kanten und Kaminen Bescheid und arbeitete sich mit Knieen und Ellbogen, mit festem Griff und griffigen Zehen in einer Spalte und über Vorsprünge empor. Aber auf dem letzten Felsabsatz unterhalb der Wehrmauer verließen ihn die Kräfte, er wurde von Posten bemerkt und mußte auf sein Rufen heraufgezogen werden. Abratzkyfelsen heißt seitdem nach diesem einzigen beinahe geglückten Versuche der Ersteigung der Felsvorsprung. Die nie erstürmte unbezwungene jungfräuliche Festung durfte ihren Jungfernkranz, der hoch oben an steiler Mauer in Stein gehauen an der Südseite sich findet, in Ehren weiter tragen. Die Amsel, welche im Sommer 1917 jeden Abend vom Dachfirste der Georgenburg das Lied »Wir winden dir den Jungfernkranz« [302] in das leuchtende Abendrot mit süßen Tönen flötete, hat Recht mit diesem Sang auf das Magdtum der Festung behalten.

Die Flucht über die steilen Wände herab aus den harten, allzu fest ihn haltenden Armen der jungfräulichen Feste hat freilich mancher versucht und sie ist auch manchem geglückt. Die »Franzosenspalte« erinnert heute noch mit ihrem Namen an die tollkühne Flucht gefangener Franzosen im Jahre 1870. Auch die gefangenen Russen des Weltkrieges haben diesen verwegenen Abstieg wiederholt versucht. Entflohen sind manche. Wiedergekehrt sind alle nach kurzen Stunden der Freiheit auf den verhaßten Stein! Da hatten einmal zwei Offiziere sich ein Seil zu gemeinsamer Flucht zu verschaffen gewußt und zu glücklich abgepaßter Zeit glitten sie an ihm auf schwankendem, gefährlichem Pfad an rauhen Vorsprüngen und scharfen Kanten vorbei, von den Kameraden durch Postenkette gegen Überraschung gesichert, in die schreckende und doch so lockende Tiefe der heiß begehrten Freiheit entgegen. Doch, o weh, das Seil war zu kurz! Über der Tiefe schwebte der erste noch weit vom Boden. Sollte er das haltende Seil fahren lassen und den Absprung wagen? Sollte er in die Gefangenschaft zurückkehren? Konnten seine nachlassenden Kräfte den gefährlichen Wiederaufstieg am pendelnden Seil, an schneidenden, überhängenden Felsgesimsen vorbei noch leisten? – Furchtbarer Augenblick innerer Spannung einer Entscheidung auf Tod und Leben! – Er sprang ab und erreichte glücklich den Boden. Sein Kamerad folgte. Doch wehe, als er sich vom Sturze erheben wollte, versagte ihm der Fuß den Dienst und auch die Schulter schmerzte und war verletzt. – Was tun? Es galt, nicht lange zu zögern! Fort, nur fort, diesen verhaßten Mauern entrinnen, [303] fort ins Dickicht oder eine der Höhlen im Gestein, bis die Nacht die heimlichen Wege deckt! Der Verletzte schleppt sich mühsam weiter, gestützt vom Kameraden, die Freiheit winkt ja!

Doch da lagen am Abhang zwei Soldaten der Besatzung im Waldesgrün, naschten Beeren und guckten in den blauen Himmel. Tiefer Sonntagsfriede! Vogelsang und Wipfelrauschen die einzigen Laute nah und fern. – Horch, sind das nicht Menschenstimmen? Nicht Schritte? Nicht heimlich raunende russische Laute? Sie springen hinter dem Felsblock auf, der sie deckte, und stehen vor den entsetzten Flüchtlingen wie aus dem Boden gewachsen! Ade, du goldene Freiheit, die eben noch winkte! Nutzlos jeder Widerstand! Zu niederschmetternd war der Sturz aus der Hoffnung in die Verzweiflung! Zurück ins alte Elend! –

Andere Kletterer gab es auf der Festung, denen die Blicke der Gefangenen oft sehnsüchtig folgten, so voller Sehnsucht, wie den Vögeln, die mit leichten Flügeln in das Himmelsblau sich schwangen. Könnten sie von ihnen lernen, wie man diesen steilen Mauern entrinnt, könnten sie ihnen die hurtigen, verwegenen Künste absehen!

Diese tolldreisten Kletterer waren die Eichhörnchen, die unten im Walde von Wipfel zu Wipfel sprangen, an den Felsen senkrecht emporliefen, denen keine Wand zu steil, kein Band zu schmal, keine Kante zu scharf war, denen ohne Seil und Leiter die glatten Wände offene Straßen waren, auf denen sie dahineilten. Unten der Wald, oben der Park und die Obstgärten und dazwischen die Felsenwände, das war ihr fröhliches Reich der Vertikalen, in welchem die blitzschnelle Bewegung von unten nach oben oder kopfüber von oben nach unten zugleich lustiges Spiel und Lebensaufgabe, zugleich Inhalt und Zweck des Daseins [304] bildet. Namentlich, wenn die Birnen auf der Festung reiften, dann waren die flinken Gesellen im roten oder dunklen Pelz bei der Hand, um ungeladen, ohne sich lange bitten zu lassen, bei der Ernte recht fleißig zu helfen. Feinschmecker, wie solche in der Baumkrone hochgeborenen Herren sind, und, gründlich erzogen, gingen sie stets auf den Kern jeder Sache, d. h. sie zerbissen die Frucht, nagten und naschten die Kerne und griffen zur nächsten Birne, verschwanden aber blitzschnell kopfüber die Wände herab, wenn Gefahr drohte, in die rauschenden Fichtenwipfel hinein wie eine zuckende, aufblitzende und erlöschende, rote Flamme. Das Spiel und das kecke Treiben dieser reizenden Affen des deutschen Waldes gab mancherlei Unterhaltung, Beobachtungen und Ablenkung.

Dem Stabsarzt vom Lazarett gaben sie sogar öfter einen leckeren Braten, den er nicht genug zu rühmen wußte. Doch möge unser rascher, roter Waldkobold noch lange als Wildpret unentdeckt bleiben, damit nicht noch mehr unser deutscher Wald veröde und seiner geheimnisvollen Reize und seines märchentiefen Waldwebens und Waldlebens beraubt werde. –

Drüben an der Ecke am Lazarett, wo der Umgang sich wieder nach Osten wendet, machen wir noch einmal Halt und schauen von einem erkerartigen Austritt hinunter in das grüne Bielatal und in den Hüttengrund und drüben auf den Quirl mit seinem waldumrauschten Felsenhaupt, den Nachbarfelsklotz des Königsteins, der auch einmal als Zwillingsfestung zur Flankendeckung des Königsteins ausgebaut werden sollte, aber seinen Waldfrieden dort oben behalten durfte.

Wir hören das Rauschen der Biela, die dort unten im Grunde über ein Wehr stürzt, bis zu uns herauf. Die [305] Häuser und Höfe des Dorfes Hütten liegen am Bach und leuchten hell im Grün des engen Waldtales. Einst stand hier im Grunde eine Gießhütte, die dem Orte den Namen gegeben, aber bereits im 17. Jahrhundert eingegangen ist.

Wir wandern jetzt auf breitem, mit starken Steinplatten gedecktem Wege, auf den mächtigen Gewölben der Kasematten, die z. T. in den Felsen gehauen, z. T. aus gewaltigen Felsquadern aufgeschichtet sind. Dort ist der Bärenzwinger, ein enger Felsenkessel, durch welchen einst der älteste Aufgang zum Königstein geführt hat, dessen vermauertes Tor an der Quadermauer heute noch von außen sichtbar ist. Dort sind die anderen tiefen, finsteren, z. T. schluchtartigen feuchten Höfe der Kasematten, in denen die Sonne nicht gerne weilt und der nackte, finstere Fels erbarmungslos aus nächster Nähe in vergitterte Fenster starrt. Viel lieber wandern die Augen hinaus ins grüne Land, nach der kecken Felskanzel des Spankhornes, welches dort drüben aus dem Walde ragt, nach den Felsen der Nikolsdorfer Wände, nach der »Hirschstange«, dem Wege mit dem schönen, sinnigen, deutschen Namen voller Waldpoesie und Nadelduft, der in halber Höhe des Berges wie ein schimmerndes Band aus dem dunklen Waldesgrün leuchtet. Was für lachende Wanderwege sind dort drüben, von denen der laute Schwarm nichts weiß, auf denen man still und froh sein darf und nur sich selbst und die Heimat im Zauber unberührter Herrlichkeit hat. Dort liegt im Walde versteckt der Schüsselgrund, dort ist der Teufelsgrund mit seinen wilden Felsen, dort ist so mancher stille Platz, wo im grünen Frieden die Romantik träumt, wo du das Wild belauschen kannst, wo der Schwarzspecht mit seiner roten Haube wie der Vogel des Märchens geheimnisvoll durch die Wipfel streicht und mit klagendem Rufe lockt, [306] ihm zu folgen, weiter und weiter in die grünen Tiefen des Waldes. –

Dort liegt am Walde eine Wiese, in deren grünem Teppich die Margariten wie tausend silberne Sterne gestickt sind. Ein klares Wässerlein rieselt durch die Halme, und das Wollgras hebt auf zartem Stengel seine Flöckchen wie schimmernde Seide zum Lichte empor. Ist es der Tanzplatz der Elfen, wenn draußen der laute Tag zur Ruhe ging, kein fremdes Ohr neugierig lauscht und nur der Wind und Mondenschein mit leisen, leichten Füßen über die weichen Gräser wandert? – Dort ist mitten im Fichtendickicht ein Platz, eine Blöße mit langem Waldgras von dunklen Nadelwänden hoch umgeben, auf deren zackigen Spitzen der blaue Himmel ruht. Hundert Pilze stehen dort in bunten Farben, leuchtendrot mit weißen Punkten, violett und gelb und braun und weiß. Keines Menschen Fuß kam noch hierher und hat an diese Pracht gerührt. Oben auf höchster Tannenspitze jubelt die Singdrossel ihr köstliches Lied in das Abendrot. – Ja, dort, dort drüben kann jeder Waldgang die Seele frei machen vom Staub des Alltags und zur Freude erheben. – – –

War es ausgesuchte Grausamkeit und Hohn, wenn so die ganze Herrlichkeit deutscher Wald- und Berglandschaft den Gefangenen des Königsteins täglich vor Augen stand, die ihnen unerreichbar war und doch den Drang nach der Freiheit schmerzhaft steigern mußte zu unerträglicher Pein und seelischer Marter? – Nein, es war Erbarmen, Wohltat und Tröstung, ihnen den Blick auf das lachende Bild zu gönnen, auf den weiten Himmel, die rauschenden Wälder und grünenden Hänge, Trost, der den Geist erhebt aus den engen Mauern und dunkler Felsengruft zum Fluge in freie Höhen, zum Schwunge über das traurige Heute, zur Hoffnung [307] auf Freiheit und Erlösung! Der Körper in Haft, die Seele aber in Freiheit und täglich neu die Flügel reckend über das weite Land hinein in eine bessere Zukunft!

Gar mancher Gefangene dort im alten Zeughaus mag doch seine Seele an diesen Fragen wund gestoßen haben. Mit charaktervoller Schlichtheit, mit steilem Dach und Giebel, fast gotisch im Aufbau wirkend, obwohl es 1594 erbaut ist, schaut dieser Bau helle leuchtend weit in das Land hinaus. Im Erdgeschoß ist eine zweischiffige Halle von schweren Kreuzgewölben überdeckt, die auf drei mächtigen, toskanischen Säulen von gedrungener Wucht aufruhen. Nachdem die Friedrichsburg für die Gottesdienste der gefangenen Russen nicht mehr zur Verfügung stand, war dieser kryptaartige Raum die würdige und monumental wirkende Stätte ihrer kirchlichen Feiern und Andacht. Unvergeßlich wird jedem, der es erlebt hat, die russische Osterfeier zu mitternächtiger Stunde in jenem Raume sein. Draußen dunkle Nacht und die große, heilige Stille der Ostererwartung. Nur die Wälder hört man ferne rauschen und die Wasser der Biela im Grunde. Droben am unendlichen, schwarzblauen, samtenen Firmament flimmern die Sternenheere und wandern ihre Bahnen. Da tönt aus dem Tore der Kapelle der orgelähnliche Sang tiefer, voller Männerstimmen in feierlichen Rhythmen, anschwellend und abklingend, dazwischen die volle Einzelstimme des Popen in dunklen fremdartigen Lauten. Im hellen Schimmer von vielen hundert Lichtern leuchtet der Raum. Jeder der Teilnehmer trägt eine brennende Kerze in der Hand. Hier in Gruppen zusammengedrängt stehend, dort knieend, dort an Wand und Pfeiler sich lehnend, feiern sie das Fest in der Weise der Heimat und ihre Gedanken eilen zu den fernen Stätten, an denen ihr Herz hängt, zu fernen Stunden, [308] die nicht mehr sind, zu kommenden Tagen der Hoffnung auf Freiheit, der Sehnsucht nach Heimat und Frieden. Phantastische Schatten huschen über die Gewölbe und Wände, hier leuchten Farben auf, dort ein blinkender Orden oder schimmerndes Rangabzeichen. Eine seltsame, mystische Wirkung geht von der Feier aus, deren mehr geahnte, als bewußte Gefühlswelt so ganz abweicht von dem, was unseres Geistes ist, aber doch an eigenes tiefstes Empfinden zu rühren vermag. Ehrwürdig und heilig ist ja alles, was Menschenseelen erschauern macht, wenn sie sich von irdischem Staube erheben empor zum Lichte, zu dem, was man göttlich und ewig nennt, in welcher Sprache und Bekenntnis es auch sein mag, wenn nur die Sehnsucht der Seele echt und wahr ist.

Ehrwürdig ist es auch, wenn mit dem Gruße »Christ ist erstanden«, und der Antwort »er ist wahrhaftig auferstanden« die Teilnehmer am Gottesdienste nach alter russischer Sitte sich dreimal küssen auf Wangen und Stirn und in diesem Augenblick jeder Unterschied von Rang und Stand, von Alter, Bildung und Besitz verschwindet. Der alte Oberst küßte den jungen Leutnant und der hohe General, welcher als Gouverneur von Turkestan über ein Reich, größer als Deutschland, gebot, küßte seinen Burschen, den armen Bauernjungen aus dem Innern Rußlands. Der Gesunde küßte den Kranken, denn in dieser heiligen Stunde beim österlichen Bruderkuß hat, wie frommer Glaube lehrt, Ansteckung keine Macht, mag sonst auch Krankheit oder Tod der Lohn solchen Kusses sein.

Ehrwürdig und seltsam, unserem Empfinden widerstrebend, vielleicht aus der mystischen Stimmung der Stunde jedesmal neu herausgeborener Glaube, vielleicht aus der Zeit des Urchristentumes durch Jahrtausende bewahrte [309] Sitte, vielleicht aus uraltem, russischem Heidentum stammender Brauch und darum in christlichem Gewande so fest von der Volksseele bewahrt, wer will es sagen? – Zu den seltsamsten Stunden des Königsteines mag dieses russische Ostern zählen, als um Mitternacht unter deutschem Sternenhimmel gefangene Söhne aus allen Landschaften Rußlands von Sibirien bis zur Krim und zur Weichsel den dreifachen Osterkuß tauschten, als wäre man tief im Innern des ungeheuren, uns so fremden Reiches. – –

Wieviele mögen von ihnen die Heimat erreicht haben, nachdem der Friede geschlossen war? Eine dunkle Kunde meldet, sie seien alle erschossen worden, nachdem sie die russische Grenze überschritten hatten. Den Bolschewisten seien diese Offiziere der besten, vornehmsten Truppen des Zaren zu verdächtig oder zu gefährlich erschienen. Nur wer der Heimat entsagt hatte und im Auslande Zuflucht fand, soll vor diesem furchtbaren Schicksal, vor diesem schnöden Dank des »Mütterchens« Rußland bewahrt geblieben sein.

Wie friedlich schlummern dagegen die wenigen während der Gefangenschaft trotz sorgsamster Pflege und ärztlicher Behandlung verstorbenen Russen auf dem dort unten auf lachender Flur am Waldrand liegenden Friedhofe der Festung, sanft gebettet im Schoße der barmherzigen deutschen Erde. Deutsche ärztliche Kunst und Pflege, die nicht Feind und Freund kennt, sondern nur den leidenden Kranken, treue Teilnahme der Kameraden haben nicht zu retten vermocht.

Da lag z. B. ein junger, lungenkranker, russischer Offizier im Lazarett, das außerhalb des eigentlichen Gefangenenlagers stand. Bei gutem Wetter war sein Lager draußen im Garten unter blühenden Rosen und duftenden Blumen inmitten leuchtender Sommerpracht. Er empfing täglich den freien unbewachten Besuch seiner gesunden Kameraden, [310] die zu diesem Zwecke frei die abgeschlossenen, durch Drahtzäune gesicherten Grenzen des Lagers verlassen durften. Jeder erfüllbare Wunsch wurde erfüllt. Er wurde jedoch ein Opfer der unheimlichen Krankheit. Ein langes, würdiges Trauergefolge geleitete ihn zum Grabe in fremder Erde. Voran schritt der Kreuzträger und der Männerchor, der in feierlichen, klagenden Rhythmen Sterbelieder in kurzen abgerissenen Strophen bald leise, bald mit anschwellender Stimme sang. Kränze wurden getragen. Es folgte der Sarg mit dem Bahrtuch, der Pope im prunkenden Ornat, wie ein Bild aus einem byzantinischen Mosaik herausgenommen, das große Trauergefolge der Kameraden, die deutschen Lageroffiziere mit dem Kommandanten an der Spitze und die deutschen Mannschaften. Langsam schwebte der Sarg im Fahrgestell des elektrischen Aufzuges außen an der Festungsmauer hernieder und wurde unter den schwermütigen, ernsten Gesängen zum kleinen Garnisonfriedhof durch das Waldesgrün und wogende Saatfeld zur letzten Ruhe geleitet. Von oben schauten über den Rand der Mauerbrüstung die zurückbleibenden russischen Offiziere ernst hernieder auf den letzten Gang ihres so fern der Heimat verstorbenen Kameraden und lauschten den abgerissen emporklingenden Rhythmen der Totenklage ihres Volkes. –

Der Friedhof der Festung ist ein Platz von besonders eindrucksvoller Wirkung und ergreifender Stimmung. Sein Rechteck von nur 33 × 74 m Größe ist von einer wuchtigen Quadermauer umschlossen, an welcher der Efeu emporklettert und Wiesenblumen blühen. Der Wald ist bis nahe an die Mauer getreten, als wolle er diese Stätte des Friedens noch besonders hüten und abschließen vom Lärm der Welt, von der Unruhe des Tages da draußen, die so fern, so tief unter uns liegt. Zwei mächtige [311] Eichen stehen wie treue Wächter neben der Friedhofspforte und hoch über den Gräbern wölbt sich das Laubdach stolzer Bäume, breiten sich auch die Zweige von immergrünen Fichten und Kiefern. Alte, hohe Lebensbäume stehen wie dunkle Trauergestalten zwischen den stillen, grünen Hügeln. Hier finden wir die Gräber französischer Gefangener aus dem Jahre 1870/71. Ein Marmorkreuz ist ihnen gewidmet und neuerdings ein Gedenkstein, den ihnen französische Gefangene des Weltkrieges hier setzten. Hier finden wir einige Kreuze russischer Form auf Gräbern russischer Gefangener, hier auch Gräber deutscher Soldaten, die ihr Leben der Heimat nach Schmerzen, Leiden und Wunden hier opfern mußten.

Im dichten Efeu unter Lebensbäumen liegen hier auch die Gräber alter Festungskommandanten, die nach langer militärischer Laufbahn hier Frieden fanden. Eine mächtige Steinplatte mit Inschrift deckt das Grab des Kommandanten von Nostitz. Wir entziffern die Inschrift, aus welcher uns der Geist und die Gefühlsstimmung einer längst versunkenen Zeit aus Urgroßvätertagen entgegentritt und uns mit feuchten Augen wehmütig anschaut:

»Als ich am Tag der Geburt die Welt anweinte, da nickten
Vater und Mutter und Freund lächelnd dem Weinenden zu.
Nun ich ihn ausgekämpft, den Ihr noch kämpfet, den Weltkampf
Lächl’ ich am Ziel, und Ihr weinet dem Lächelnden nach!«

Diese Worte bestimmte sich zur Grabschrift der hier ruhende Königl. Sächs. Generalleutnant und Commandant der Festung Königstein, Ritter des Militär St. Heinrichsordens

Karl Friedrich Ernst von Nostitz,
geb. den 18. Juni 1767, gest. d. 17. April 1838.
Sein Andenken segnen, die ihn erkannten!

[312]

Es ist zwar nicht eine soldatische Inschrift etwa für einen alten Haudegen, aber eine Inschrift, die zu denken gibt, die in der stillen Bescheidung und rückschauenden Lebenswertung des Greisenalters kennzeichnend für den Verstorbenen und seine Zeit und darum wertvoll ist. – Wie leer und kalt lassen oft die tausendfach gedankenlos wiederholten Worte auf modernen Friedhöfen an prunkenden Steinen, denen die Seele fehlt. Hier aus der schlichten, wuchtigen, moosigen Platte spricht eine Seele.

»Sein Andenken segnen, die ihn er kannten!« Wie fein und wie maßvoll wird hier dem Toten Ehre gezollt. Wir wissen nicht, ob der Kreis derer, die ihn erkannten, groß oder klein, hoch oder niedrig war, ob ihn nicht auch viele verkannten, wir hören nur, daß er Menschen zum Segen war. Ist dies nicht mehr als mancher tönende Nachruf, manche rühmende Gedächtnisrede, so viele übertriebene Lobsprüche und vergoldete Lügen auf Grabsteinen? –

Der kleine Friedhof der Festung birgt tiefe Lehren in sich. –

In seiner schweigenden Abgeschiedenheit weit vom Alltag, hoch über Staub und Unrast des Lebens da draußen ist er eine stille Stätte für die letzte Ruhe, von so ergreifender Stimmung wie wenige im Lande. Mögen sorgende Hände und sinnige Herzen mit innigem Verständnis für seine Worte stets diesen weihevollen Totengarten hüten und seiner warten. –

Doch kehren wir in die Festung zurück. Den Park mit seinen mächtigen Baumriesen, den alten Buchen, Eichen und Ahornbäumen wollen wir durchwandern. Hier wird kein Stamm gefällt, weil er gerade schlagreif ist. Wie ein heiliger Hain, ungestört, in weihevoller Stille, ragen die Bäume mit stolzen Stämmen und schirmenden Kronen. [313] Efeu und Immergrün ranken am Boden und tausend Blumen blühen im Gras, die kein Gärtner pflanzte und doch schöner sind an ihrem Platze und in ihrer Entfaltung, als Gärtnerkunst es zu schaffen vermag.

Es rauschen die grünen Wipfel. Wir hören den hellen, schmetternden Schlag der Finken und in tiefen, melodischen Tönen das zärtliche Gurren der wilden Tauben. Von unten, aus dem Walde, tönt bald näher, bald ferner der Ruf des Kuckucks. Ein Specht trommelt unermüdlich hoch oben an dem dürren Ast der alten, vom Wetter zerzausten Eiche dort. Ein Eichhörnchen huscht flink an jenem glatten Buchenstamm entlang, hält inne und schaut uns verschmitzt aus seinen dunklen blitzenden Augen an. Wir ruhen an der Böschung des Walles im Gras und duftenden Thymianpolstern. Bienen summen um die Skapiosen und Grasnelken, die sich auf schlanken Stengeln wiegen. Wir träumen und sinnen in die grüne Stille hinein, während bunte, kleine Falter uns umgaukeln, als wären wir selbst ein Kind der Natur geworden, das unbekümmert im Arm und am Herzen der Mutter ruht und ihren warmen Atem und ihr Herzpochen fühlt. Wieviele mögen unter diesem Blätterdach schon gewandelt sein und zu den fliegenden Wolken emporgeschaut haben und mitten im tiefen Frieden der Natur und aller ihrer Herrlichkeit diesem Felsen, diesem Hain, dieser Herrlichkeit geflucht, um Erlösung von dieser Stätte geseufzt haben, die uns so lieblich scheint mit allem Sonnenglück geschmückt und die Hunderten schon eine Stätte der Freude und übermütigen Lebensgenusses war. Die harten Gegensätze, welche hier immer wieder aufeinanderprallen, fesseln mit besonderer Gewalt die Gedanken und geben einen eigenartig anziehenden Reiz allem Geschehen und allem Schauen. – Unter diesen Zweigen schritten [314] 1870/71 gefangene Franzosen hin und her und träumten von ihrer gloire und berauschten sich am Rachegedanken, an der revanche . Da griff einer von ihnen zum Messer und schnitt in die glatte Rinde jener alten Buche dort unter sein Namenszeichen die Worte: » un chasseur français, qui reviendra vainqueur .« »Ein französischer Jäger, der als Sieger wiederkehren wird.« – Er ist nicht wiedergekommen! – 44 Jahre später lasen aber seine gefangenen Landsleute mit ihren russischen Freunden und Bundesbrüdern jene Worte in der grauen, rissig gewordenen Rinde, die jetzt ihnen wie ein Hohn auf ihr eigenes, unfreiwilliges Kommen wirkten. Der Gegensatz zwischen Gewolltem und Gewordenem war bitter und schmerzlich für sie.

Doch auf unser Herz auch fällt dieser Gegensatz mit schmerzlicher Wucht: Versailles 1871 und Versailles 1918/19! Wann wird der Ausgleich kommen im Pendelschlag der Weltgeschichte? Wann wird Lüge als Lüge, Schandtat als Schandtat erkannt sein und gelten? Wann wird Friede sein, und Recht und Freiheit wieder unter Völkern und Menschen wohnen und daheim sein? Der sonnige Sommertag will uns dunkel werden, wenn wir mit diesen Fragen an Heimat und Vaterland denken und an Tod, Tränen, Wunden, Schmerzen und Niederbruch, an Wollen und Werden! Doch nein, nicht trübe und mutlos! Aus innerer Erneuerung müssen Kraftströme fließen. Wollen muß dann das Werden zwingen, wenn es echt und stark, einig und zielbewußt ist!

Dort steht zwischen den alten Stämmen des Parkes die Baracke, in welcher die Helden der Emden nach Überwindung von Not und Tod, von Wüstenglut und meuchlerischem Verrat, nach Heldentum in Taten und Dulden [315] zuerst auf heimatlichem, deutschem Boden eine Ruhestätte fanden.

Der deutsche Geist, die deutsche Kraft, der Mut, der stärker ist als das Schicksal, lebt noch und schafft an der neuen, der kommenden, der stahlblanken Zeit! Wenn eine Welt uns niederrang, wir schaffen uns aus neuem Geiste eine neue Welt. Wer für die Heimat und ihre wahren inneren Werte sich einsetzt, der schafft und wirkt mit am Bau dieser neuen Welt. – –

Hier oben, auf der Fläche der Festung, wollte ein königlicher Baumeister, Friedrich August II., der Starke, sich selbst eine neue Welt anderer Art schaffen. Johann von Bodt, Festungskommandant und Architekt mußte immer wieder neue Pläne für ihn zeichnen. Der König, den die Baulust gepackt hatte, änderte und verwarf und suchte mit immer neuen Gedanken und Wünschen eine Bauanlage als großartiges Schloß von 114 m Frontlänge mit weit vorgezogenen Flügelbauten und Ehrenhöfen und Terrassen an einer groß durchgeführten Längsachse von der Appareille bis zur Königsnase in symmetrischer Durchbildung angelegt, wahrhaft königlich aufzubauen. Acht Kasernen, vier Magazine, Bäckerei und Brauhaus sollten wie eine starke Wächterschar vor und neben der stolzen Schloßanlage stehen, die als Zeughaus und für die »Logementer« des Kommandanten bestimmt war.

Alle bestehenden Gebäude sollten dieser großen Planung weichen und fallen, die Georgenburg, das Kommandantenhaus, die Magdalenenburg und wie die alten Bauten heißen, welche uns heute noch erfreuen. Nur das alte Zeughaus auf dem Wall, welches außerhalb der großen Symmetrielinien lag, sollte erhalten bleiben. Dem großen Symmetriegedanken wurde alles untergeordnet. Sogar [316] im Park waren die geschwungenen Wege und die kleineren Rundplätze rechts und links von der großen Hauptachse des Mittelweges trotz scheinbarer Regellosigkeit doch nahezu symmetrisch geplant.

Aus diesen Planungen spricht die großartige Baugesinnung, welche am Zwinger in Dresden ihre größte Entfaltung fand. Ähnliches mag hier dem königlichen Bauherrn vorgeschwebt haben. Über zehn Jahre beschäftigte er sich mit diesen Plänen, die gleichzeitig mit dem Bau des Zwingers und der Anlage von Groß-Sedlitz in seinem phantasievollen Geiste emporwuchsen und Gestalt gewannen.

Sollen wir bedauern, daß sie nicht durchgeführt wurden? Vielleicht! Vielleicht hätte diese Verbindung von fürstlicher Schloßanlage mit dem militärischen Werk eine Gesamtanlage von besonders reizvoller Eigenart ergeben. Vielleicht hätte hier wie bei keinem anderen seiner Bauten das Schloß im Gesamtbilde der Landschaft und großen Natur mitgewirkt als großartiger Abschluß und Krönung eines einzigartigen Landschaftsbildes. Hoch über der Elbe sollte die stolze Schloßfront sich auf dem gewaltigen Felsensockel des Königsteins aufbauen, so daß man weit über Strom und Land, über Berge und Täler schauen könnte und seine Fenster leuchteten bis weit ins Böhmerland. Wie das herrliche Klosterschloß Banz bei Lichtenfels hoch über dem Main, das weit ins Frankenland scheint und schaut, oder gleich der Akropolis in Athen, die weit übers Meer schaut, so mag in der Phantasie das Schloß gestanden haben und dem König in seinen Architekturträumen immer wieder aufgeleuchtet sein, so oft er von Dresden elbaufwärts kommend zur Felsenstirn des königlichen Steins emporschaute, zur Felsenstirne, der noch die Krone eines [317] königlichen Bauwerks fehlte. Er hat dem Stein diese Krone nicht aufsetzen können. Baumwipfel rauschen und legen sich als grüner Kranz statt der geplanten ragenden, steinernen Krone um die Felsenstirn. – Die alten Bauten sind erhalten geblieben. Die königlichen Bauphantasien sind vorüber und schlummern in Mappen und Archiven, um nur hie und da bei einem seltenen Beschauer Architekturträume vom Königstein zu wecken und das nachempfinden zu lassen, was der König genial und groß innerlich schaute und schuf, was ihm ein Kunstwerk und ein Glück war, ohne daß je sein Wollen zum Werden, zur Tat wurde.


Wir wandern durch den Park zurück. Die Kirche mit ihrem schlanken viereckigen Glockenturm, der wie ein italienischer Kampanile neben dem Gotteshause steht, grüßt uns durch das Laub der Bäume. Ihr schlichter, einschiffiger Bau ist in Abmessung und Ausstattung von großer Bescheidenheit und Zurückhaltung, so sachlich und nüchtern auch im Innern, wie es für eine Soldatengemeinde sich geziemt. Kurfürst Johann Georg II. ließ die Kirche 1675/76 erbauen. Nur der Altar ist mit größerer Kunst und Zierde bedacht. Zwei Säulen aus buntem italienischen Marmor schmücken ihn, die Papst Klemens dem Kurfürsten geschenkt hat, und ein schönes Altarbild, welches die Bergpredigt darstellt und als Landschaft den Königstein zeigt. – An der Stelle dieses Gotteshauses mag schon in früher Zeit, in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, eine Kirche gestanden haben, deren erhaltene Teile, der gewölbte Chor mit dem Triumphbogen und den altertümlich romanischen Kämpfersteinen allen Zeiten, Stürmen und Umbauten standhielten und sie überdauerten. Herzog Georg der Bärtige errichtete 1515 hier eine Kapelle dem [318] heiligen Georg, seinem Schutzpatron, und gedachte aus dem Königstein eine Art Mönchsburg zu machen. Er stiftete 1516 »aus christlicher Andacht und mit groser Müe, auch, wie es in der Urkunde heißt: ›unser hertzlieben Gemal Fraw Barbara und unser erben nachkommen heil und seligkeit zu erwerben‹, ein Cölestiner Kloster des Lobes der Wunder Marie uff dem Königesteyn«, und besetzte es mit 12 Mönchen aus dem Kloster Oybin bei Zittau. Trotz der nunmehr geistlichen Bestimmung des Königsteins, wurde seine militärische Bedeutung jedoch nicht verkannt und ganz aufgegeben. Die Mönche, welche zugleich Burgmänner und Burgwarte waren, durften keinen neuen Weg nach dem Felsen anlegen und mußten, sowie ein Krieg ausbrach, die Schlüssel zur Festung einem fürstlichen Hauptmann ausliefern. Das Vertrauen zur Kriegstüchtigkeit der Mönche scheint also nicht sehr groß gewesen zu sein. Der Bischof von Meißen, Johann von Salhausen, sah diese Neugründung sehr skeptisch an und meinte, »es werde das Kloster dort von den böhmischen Winden und der starken Luft der böhmischen Ketzer bald umgeworfen werden und zergehen«. Aber ein stärkerer Sturm als die böhmische Hussitenluft ging durch Deutschland, die Reformation, dem das Kloster nicht standhielt. Der Prior selbst ging, unter dem Vorwand einer Reise, gerade nach Wittenberg zu Luther, und »heurathete« schon im Jahre 1525. Die übrigen Mönche liefen, aller Vorstellungen des Herzogs ungeachtet, auch auf und davon, bis auf zwei, welche der Herzog wieder auf den Oybin zurückschickte, wo man sie aber nicht annahm, trotz des Handschreibens, das der Herzog ihnen mitgab. Daß diese Mönche so rasch das Kloster auf dem Königstein wieder aufgaben, beweist, daß sie dort sich nicht besonders wohlgefühlt haben konnten. [319] Kein Wunder, denn Schmalhans war dort oben Küchenmeister und der Durst war der Kellermeister, denn es lag noch kein großes Faß im Keller, kein tiefer, kühler Brunnen war vorhanden, sondern in Zisternen wurde das wenig lockende Wasser gefangen. Wildbret und Fisch war seltene Kost. Der Herzog hatte nicht genügend für Einkünfte gesorgt und milde Gaben aus der Hand treuer Kinder der Kirche wurden immer weniger, magerer und dürftiger. Das Volk fühlte, daß etwas Neues, Großes im Werden war, und das Alte sterben müsse, daß die Gnadengaben, welche für fromme Stiftungen und Gaben vom Kloster und den Heiligen verheißen wurden, in der neuen Zeit, die der kühne Wittenberger Mönch heraufführen sollte, vielleicht doch ihren Zweck verfehlen und verlieren könnten. – Das Kloster mußte geschlossen werden und ingrimmig enttäuscht berichtete Georg diesen höchst ärgerlichen Mißerfolg dem General des Cölestinerordens nach Italien. Aus seinem Briefe ersieht man, wie unangenehm und peinlich dem Fürsten die Sache war, und daß er sich nicht wenig fürchtete, in Rom wohl gar für ein gegen die Klerisei lauer Mann gehalten zu werden. Man sieht, wie die Fäden Roms wie ein festes, starkes Netz Deutschland umspannten mit ungeheurer Macht, so daß sogar solch unbedeutendes Ereignis, wie der mißglückte Klosterversuch auf dem Königstein einem mächtigen deutschen Fürsten Veranlassung bieten mußte, in Rom um gutes Wetter zu bitten. Georg war bekanntlich ein fanatischer Gegner Luthers und hat seine Lehre und Anhänger hart und streng verfolgt, bis an sein Lebensende.

Vielleicht stand die auf dem Königstein erlebte Enttäuschung in innerem, seelischem, ursächlichem Zusammenhange mit der Strenge und rücksichtslosen Härte und dem [320] bitteren Haß, mit denen er sein ganzes Volk, ja seinen Bruder und Schwäger in seine eigene Glaubensrichtung wider Willen zwingen wollte. Erst unter seinem Bruder und Nachfolger Herzog Heinrich dem Frommen konnte sich die neue Lehre freier entfalten.

Herzog Heinrich machte auch den Stein erst wieder zu einer Festung, die dann von seinen Nachfolgern mehr und mehr ausgebaut wurde. –

Wir gehen zum Brunnenhause hinüber mit dem tiefen Brunnen, den Kurfürst August durch Konrad König 152,5 m tief mit einem Durchmesser von 4 m Länge in den Sandstein sprengen und meißeln ließ. 1553 wurde er begonnen und erst nach 40 Jahren fand man reines Quellwasser. 40 Jahre harter Felsenarbeit und einer bewundernswerten Zähigkeit, Tatkraft und Hoffnungsfreudigkeit, 40 Jahre durch die Wüste, wie einst die Kinder Israels, ehe sie zu den kühlen Wasserbächen des gelobten Landes kamen! – Ist dieser Brunnen nicht wie ein Symbol? Ist der Fels auch noch so hart und werden tausend Meißel stumpf und werden tausend Arme müde, es gibt ein Dennoch und ein Hindurch, das tief im Felsengrunde das erquickende, wohlschmeckende, kühle Naß nach zäher Arbeit findet und aufschließt. Dieses Dennoch und dieses Hindurch wird auch das deutsche Volk neue Quellen finden und erschließen lassen, wenn es harte Felsarbeit leisten will und der Stunde geduldig entgegenarbeitet, da die frischen Wasserquellen entgegenspringen und sprudeln.

Zwei Tonnen gehen abwechselnd auf und nieder und ergießen ihren Inhalt in einen Behälter, dessen Zuflußrinnen unmittelbar vom Brunnenrand abführen. Heute ist Kraft und Antrieb für die Wasserförderung elektrisch. Früher diente diesem Zweck im Nebenraum ein ungeheures Tretrad, [321] welches durch Menschenkraft in mühevoller Sklavenfron unseliger Gefangener bewegt, die Seile auf mächtiger Trommel auf- und abwickelte.

Der Brunnenmeister zeigt gern die kleinen Scherze, welche auch anderwärts geübt werden. Er gießt Wasser in mehreren Absätzen in die schwarze, gähnende Tiefe. Atemlos lauscht man gespannt, bis von unten nach fast ½ Minute in gleichen Abständen die Aufschläge klatschend herauftönen. Da merkt man, was für ein ungeheurer Zeitraum eine halbe Minute sein kann! Er läßt Lichter hinab am langen Seil, bis wir im Bodenlosen den blanken Wasserspiegel aufblitzen sehen. Er zeigt, wie er durch geschickte Stellung von Spiegeln den Sonnenstrahl an der Türe draußen einfängt und ihn hinabschickt in den schwarzen, feuchten Schacht, daß er dem Wasser in der dunklen Tiefe Botschaft vom Himmelslichte bringt. Er erzählt, wie der Brunnen zur Reinigung manchmal befahren wird, und daß der Wasserstand 15 m normal ist und auch in heißen Jahren sich in dieser Höhe hält. Er berichtet auch, daß der Brunnen sein untrügliches Barometer sei, daß ihm die kommende Witterung sicher vermelde durch einen Nebelschleier über dem Wasserspiegel bei kommendem guten Wetter, durch blanken Spiegel, wenn draußen das Wetter sich trübt. Er zeigt, wie meisterhaft die alten Brunnenbauer gearbeitet haben, wie glatt die inneren Wände geschrotet sind und in genau lotrechter Führung der Schacht abgeteuft ist, eine bewundernswerte Bergmannsarbeit. Hier ist die Lebensquelle, die Herzader der Festung, für welche Vater August, der große Volkswirt auf dem sächsischen Throne, sorgte, wichtiger als das große Faß, für welches August der Starke, der große Egoist auf dem sächsischen Throne sorgte. – –

[322]

Wir treten aus dem kühlen, dunklen Brunnenhaus wieder hinaus in den lichten, prangenden Sommertag. Es wölben sich über uns die hohen, grünen Wipfel des Königsplatzes, und es flüstern ihre Blätter im Winde.

Unsere Gedanken umfassen noch einmal, was wir erlebt, was wir geschaut, was wir empfunden haben. Wo gibt es im Sachsenlande eine Stätte, die soviel zu sagen, soviel zu geben und zu schauen hat, wie dieser königliche Stein?

Ja, um diesen Stein ist es etwas ganz Besonderes! Es ist, als ob er eine Seele hätte, die vieles erlebt und empfunden, gelitten und genossen hat, davon zu schweigen weiß, die aber auch dem, der sie sucht, sich zu offenbaren weiß!

Sei mir gegrüßt du lapis regis !


[323]

Eine Fahrt ins Weihnachtsland.

Vor dem Hauch des milden Westwindes war der Weihnachtsschnee zwar leider fast zerronnen, aber doch lag es noch wie Weihnachtsstimmung und Nadelduft in der Luft. Der Rucksack war wohlgepackt. Auch er gab weihnachtlichen Duft nach Stollen und anderen guten Dingen. Eine Weihnachtsfahrt sollte es werden in das Land der Kinderträume und lustiger Spielzeugherrlichkeit, wo Nußknacker und Räuchermännlein, Lichterengel und Bergmänner das große Wort führen, wo die Krippen in seliger Einfalt sich aufbauen und die Weihnachtspyramiden ihr buntgeschnitztes Leben zeigen. Im Morgendämmer lag der Garten mit seinen wenigen leuchtenden Schneeflecken. Die schöne grüne Tür mit dem kunstreichen Schloß fiel hinter mir und meinem wanderfrohen Weibe zu, da kam zur verabredeten Minute der Freund, der Maler mit seiner blonden Frau und grüßte mit frohem Glückauf. Am Bahnhof stieß zu uns der Ingenieur mit seiner Braut, der an der Bagdadbahn einst baute, und nun, nach Krieg und Wunden, mit uns das Weihnachtsmärchen suchen wollte. – Nun ging es hinaus in die nebelverhangene Welt mit fauchendem Züglein. Nur an den Nordabhängen der Böschungen lag dort noch der Schnee und die dunklen Halden des alten Bergbaus waren noch weiß betupft. Die Fläche des Berthelsdorfer Hüttenteiches war mit Eis bedeckt [324] und blinkte wie matter Stahl in den ersten schrägen Strahlen der mit dem Gewölk ringenden Sonne.

Die Hänge des Muldentales mit ihren dunklen Wäldern und braunen Feldern und den schön geschwungenen Höhenlinien glitten an uns vorüber. Von Mulda führte uns dann das Nebenbähnchen mit Schnaufen und Pusten und gelegentlichem, wichtigtuendem Bimbim, Bimbim durch das enge, malerische Chemnitzbachtal empor nach Sayda.

Schön bewaldete Höhen treten rechts und links an die Bahn heran. Rechts öffnet sich bald ein Wiesengrund, in dem ein Bächlein herniedereilt, während neben ihm die Straße gemächlich zum Haltepunkt abwärts steigt. Wolfsgrund ist der romantische Name, der zu der Lieblichkeit nicht mehr zu passen scheint.

Einst war es anders: Am Eingang und Ausgang des Tales standen am Wege Hütten zum Aufbewahren von Waffen, besonders Keulen, die beim Durchgehen des dunkelen Waldes jeder mitgenommen, um sich gegen die Wölfe zu verteidigen, welche hier in den Dickichten der Talschlucht gehauset. Längst sind diese Tage vorüber und statt Urwaldschrecken grüßt uns die sonnige Lieblichkeit von Wiesen und Wald in freundlichem Wechsel.

Ein reizvolles Wiesental ist es, in dem die Bahn sich hinschlängelt. In seinem leuchtenden Grün mag im Sommer das Auge sich satt trinken können und sich der tausend Blumen freuen in ihren starken Farben und würzigem Duft und Kräfte gewinnen, um freudig ins Grau des Alltags zu schauen. Heute war die Fläche zart rehbraun getönt und mit dem schimmernden Silbergrau des Reifes angehaucht. Der Maulwurf war munter gewesen und hatte kräftige, schwarze Tupfen durch die zahlreichen frisch aufgeworfenen Haufen in die zarte Farbenstimmung gesetzt. [325] Der Chemnitzbach schlängelt sich mit hurtigem Laufe in vielen Windungen durch das Tal.

Man sollte es dem harmlosen Bächlein dort nicht zutrauen, daß es auch recht bösartig sein kann und durch Überschwemmungen schon manchen schlimmen Schaden angerichtet hat. Das Kirchenbuch von Dorfchemnitz weiß davon zu erzählen: »Am 17. Mai 1622 sind 7 Personen begraben worden, welche in der großen erschrecklichen Wasserfluth ertrunken. Denn das Wasser und große Schloßen 3 Häußer ganz und gar weggerißen, daß nicht ein Stecken mehr stehengeblieben. Auch sonsten erschrecklichen Schaden gethan, indem es die Gärten gäntzlichen verschwemmet und alle Zäune hinweggenommen. Denn das Wasser über die ganze Gemeinde, so breit sie gewesen (70–80 Schritt!) etliche Ellen hoch gegangen, an der Schulbehausung zum Stubenfenster hineingegangen, Stub und Haus voll Schloßen geführt, welche zum Theil sehr groß gewesen. Gott wolle vor solchen Wasserfluthen hinfür und auch anderm Unglück aus Gnaden behüten!«

Das breite Wiesental liegt so freundlich in seinem silbergrauen Atlasgewande, als trüge es immer nur ein Feierkleid und lernte nie des Lebens Not und Kampf kennen.

Auf den Hängen liegen einzelne Höfe. Fest geschlossen wie Burgen schauen sie wie Herren ins Tal, nicht gar trotzig, aber breit und behäbig voll Selbstbewußtsein und einer gewissen Unnahbarkeit. Dort das Rittergut von Dorfchemnitz mit seinen festen Mauern liegt auf der Höhe hinter dem Filigran der entlaubten Wipfel, mit der Kirche zusammen eine Baugruppe von besonderem malerischen Reiz.

Der Rauch unseres Zügleins weht in langer, silberweißer, wallender Fahne durch das Tal. Duftiges Blau, [326] zartes Sepia, dunkles Grün, Weiß, und Silbergrau sind die Töne, welche das liebliche Landschaftsbild beherrschen und alles in unendlich weicher Harmonie vereinen. Die Fenster im Wagen sind beschlagen. So stehe ich draußen mit dem Maler und male im Geiste die zartesten Aquarelle mit ihm, wo die Farben nur wie ein Duft auf dem leuchtenden Weiß stehen und so unendlich wohltun in ihrer keuschen Reinheit, Zurückhaltung und Vornehmheit. Jeder Ausschnitt wird uns so zum Bilde reiner Winterherrlichkeit, daß unser Herz froh wird und unsre Lungen immer tiefer die klare, kalte Luft der Höhen atmen. In Sayda wandern wir dann durchs Städtchen.

»Das vollständige Staats-, Post- und Zeitungs-Lexikon von Sachsen« von August Schumann aus dem Jahre 1823 sagt von ihm:

»Die Lage von Sayda ist, da es auch an Bäumen fehlt, unfreundlich und rauh, und hat zwei große Unbequemlichkeiten, nämlich einen langen Winter und sehr viel Schnee und im Sommer oft solchen Wassermangel, daß Wachen an die Brunnen gestellt werden, um nicht zu viel Wasser in eine Haushaltung kommen zu lassen; auch gibt es im Frühling und Herbst immer viel Nebel. Dagegen wird das Korn doch in der Regel reif, und nur selten begräbt der Schnee den Hafer.«

Ein schlichtes Landstädtchen ist es mit einfachen, nüchternen Häusern in gerader Straßenzeile. Diese Straße war einst ein tiefer Hohlweg, welcher die beiden Haupttore, das Freiberger nördlich und das böhmische südlich, verband, so daß man in einem Tore stehend, durch das andere hindurchsehen konnte. Im Jahre 1554 füllte man den 6 Ellen tiefen Hohlweg aus und pflasterte ihn, ein Fortschritt, der für jene Zeit eine besondere Kulturleistung war. [327] Von der uralten Grenzburg Seydowe ist nichts mehr erhalten.

Dort, wo die Kirche mit ihrem kräftigem Turme sich erhebt und hohe Linden ihren jetzt so kahlen Wipfel breiten, scheint der letzte Rest alter, malerischer und behaglicher Kleinstadtschönheit zu sein und im Sommer mag es gar traulich und schön zu weilen sein unter dem dichten Blätterdach und duftendem Grün.

Harte Schicksale waren es, welche der Stadt ihre heutige Gestalt gaben. Feuersbrünste, Kriegsdrangsale und Seuchen gingen durch die Straßen und Häuser und zäher Bürgersinn baute immer wieder auf, was des Schicksals erbarmungslose Faust zerschlagen. So ist das heutige Stadtbild zugleich eine Folge und ein Denkmal schwerer Vergangenheit. 1465, 1599, 1634, 1702, 1842 sind die Jahre der zerstörenden Feuersbrünste, welche große Teile der Stadt in Asche legten. Das obengenannte Staats-, Post- und Zeitungslexikon sagt treuherzig: »Nach all diesen Unglücksfällen ist es kein Wunder, daß der Ort jetzt zu den ärmeren des Landes gehört, und ohne einigen Paschhandel nach Böhmen würde er es noch mehr seyn!« Im Jahre 1842 verloren durch den Brand 289 Familien mit 1100 Köpfen ihr friedliches Obdach. Auch die Kirche hatte damals stark gelitten, doch blieb das Netzgewölbe mit seinen acht schlanken Pfeilern und die schönen Epitaphien der Familie von Schoenberg in ihren reichen Renaissanceformen erhalten. Besonders das Grabmal des 1605 verstorbenen Caspar von Schoenberg mit seinem reichen Figurenschmuck und üppiger, kunstvoller Ornamentik in edlem Material, aus der Schule des Nosseni stammend, nach einem Entwurfe vielleicht von seiner Hand, ist der Hauptkunstbesitz der Kirche und der Stadt geblieben und [328] mag sich getrost mit den schönsten Werken dieser Art im Lande messen.

Der Turm, der sich so gut ins Stadtbild fügt und weithin ins Land über Wälder und Berge leuchtet, mußte nach dem Brande von Grund auf neu errichtet werden. Unter den Pfarrern, welche hier ihres Amtes walteten, war gar mancher wackere Mann, den Zeit und Schicksal besonders eigenartig formte. Victorinus Rothe, 1564 in Leisnig geboren und in Freiberg erzogen, verlor seinen Vater durch Gift, welches ihm seine Gegner, die Calvinisten reichten. Nach seinem Studium in Wittenberg war er erst Schulmeister an verschiedenen Orten und dann zehn Jahre Mittagsprediger am Dom zu Freiberg, wo er infolge seiner hellen und durchdringenden Stimme großen Zulauf hatte. 22 Jahre war er dann in Sayda tätig und mag dort viel mit Sorgen zu kämpfen gehabt haben, denn um seinen Tisch reihte sich eine Kinderschar, für die wohl bald das Brot zu schmal, die Räume zu eng, der Betten zu wenig gewesen sein mochten. Bei Gelegenheit der Kirchenvisitation 1617 legt er das Bekenntnis ab, »er habe keinen gänzlichen Commentarium über die Bibel, aus mangel und weil ihm viel auff die kinder gienge, deren ihm Gott 22 bescheret und noch 16 am leben«.

Eine andere Charaktergestalt ist Johann Reinhard Jakobeer, der Sohn des Apothekers Theophilus Jakobeer in Pirna, der seine Vaterstadt im Jahre 1639 durch kühne Tat vor der Einäscherung durch den schwedischen General Banner bewahrte. Unser Johann Reinhard war der echte Sohn seines Vaters und ein Kind des Dreißigjährigen Krieges. Er erfuhr alle Schrecken dieser furchtbaren Zeit. Mit seinen Mitschülern wurde er zweimal durch schwedische Soldaten aus der Fürstenschule zu Pforta verjagt und verlor [329] alle seine Bücher. Von 1638 an hat er in Wittenberg in Not und Armut drei Studienjahre durchgehungert, wurde dann Lehrer der Söhne eines erst kaiserlichen, dann schwedischen hohen Offiziers, mit denen er durch Böhmen und Sachsen zog und dabei alle Beschwerden eines Wanderlebens und Kriegslebens in jener zuchtlosen, wilden Zeit voller Abenteuer, Gefahren, Straßenraub und Gewalttaten ertrug. Dann wurde er Feldprediger und mag im bunten rauhen Soldatenleben manche wilde Tat verhütet, manchem verlorenen Sohn die Todeswunde verbunden, die Todesstunde erhellt haben. Als endlich Friede eingekehrt war, wurde er 1653 Pfarrer in Sayda, wo er zehn Jahre seines Amtes waltete, um dann in seine Vaterstadt Pirna als Diakonus heimzukehren. Sein Nachfolger Christoph Knorr ist auch eine Charaktergestalt jener furchtbaren 30 Jahre. Als 72jähriger Greis trat er 1663 das Pfarramt in Sayda an und hat ihm noch drei Jahre gedient. Er war 1591 in Plauen geboren, kam nach vollendeten Studien in Wittenberg im Jahre 1616 nach Brüx als Rektor an die evangelische Schule, wurde Pfarrer in Wielenz in Böhmen und geriet so mitten in die ausbrechenden Stürme des furchtbaren Krieges. 1624 wurde er vertrieben und lebte sechs Jahre ohne Amt in Sayda, bis er 1630 Pfarrer in Neuhausen wurde. 33 Jahre waltete er hier seines Amtes als Vater und Schützer der vertriebenen und verfolgten Glaubensgenossen, welche aus dem nahen Böhmen Zuflucht und Hilfe suchten. Ihre Kinder hat er im Walde auf Baumstöcken als Tauftisch oft unter Lebensgefahr getauft. Mitten im dichten Walde ist damals nach dem Kirchenbuche von Neuhausen Kaspar Kadens uffn Seuffen Söhnlein Kaspar »in schwedischen Einfall in Böhmen Jung worden, und uf der deutschen seyden vorn Gohrn übern Wasser bey einem [330] großen faulen stock geteufft«. Im Purschensteiner Walde liegt bei Dittersbach ein großer tischähnlicher Stein, welcher im Volksmunde der Taufstein heißt. Er trägt die Jahreszahl 1635 und mag als Altar und Taufstein im sicheren Schutze des Waldes bei heimlichen Gottesdiensten der vor den Feinden geflüchteten Gemeinde oder böhmischen Exulanten gedient haben. In der Char- und Osterwoche 1638 hat von Neuhausen, wie oft vorher und nachher, »menniglich sich wieder in walt salvieren müssen«.

Aus dem benachbarten Dörnthal wird berichtet, daß im Jahre 1639 »solcher Hunger gewesen, daß die Leute meistens Kleie, Leinkuchen, Gesäme und gekochtes Gras müssen essen, und sein viel Hunger gestorben«. Die zahlreichen Leichen wurden zumeist »ohne Sarg, Klang und Sang« heimlich begraben. Ja in den Pestjahren, welche immer wieder die Orte heimsuchten, blieben die Leichen oft tagelang unbeerdigt, weil sich keine Totengräber fanden.

Im Kirchenbuche von Neuhausen hat der wackere Pfarrer Knorr von diesen Notzeiten einiges berichtet, von Mord und Plünderung, Schändung, Brandschatzung und anderen Untaten, vor denen sie öfter in die Wälder fliehen mußten. 1634 schreibt er: »unterm 22 Marty ist eine Partey Churfl. Krieges Volk in Böhmen auf die Plünderung gezogen; im raußziehn haben sie sich allhier eingelegt, und futtern wollen, es hat ihn aber der feind uf der ferschen nachgezogen, sie unversehens, weil sie keine Wache gehalten, überfallen, der Churfl. ihrer Drey niedergehauen undt angezundet: Hans Steffens Hauß sambt der Scheune, Hans Müllers, des Schneiders Hauß, Nikol Fleischers Hauß uf der Brücken, darinnen seine Schwieger die alte Kochin verbrand, der Paul Schullerin Hauß mit der Scheunen, und darbey ihr Neben-Hauß darinnen ein Kneblein von [331] 4 Jahren verbrand, das Lehngericht, welches damals Kaspar Drechsels Erben gewesen, zu grund abgebrand und Hans Fritzschens darneben und sind also dismahl ihrer 5 Thodt blieben.«

Allein zwölf vertriebenen Pfarrern außer vielen anderen Flüchtlingen wurden aus den Kirchenvermögen Beihilfen gegeben, obschon Neuhausen selbst vierzehnmal in jener Zeit geplündert wurde; und obschon das Pfarrhaus 1638 verbrannt und zerstört war und wieder aufgebaut werden mußte, »weil in den vielfeltigen feindseligen Ausfellen alles darinnen zerschmettert und zu nichte worden«. Die Vertriebenen haben größtenteils nichts mehr als einen Exulantenstab in ihren Händen gehabt, oder, wenn es hoch gekommen, auf einem Schiebebock ihre kleinen, öfters noch an der Mutterbrust liegenden Kinder hinübergeführt.

Trotz des furchtbaren Ernstes der Zeit hatte aber Knorr noch mit der Zuchtlosigkeit und Verwilderung der Sitten in seiner Gemeinde zu kämpfen.

Er beschuldigt 1644 sogar den herrschaftlichen Schösser in Purschenstein, daß er Verwirrung stifte und die Unsittlichkeit fördere, »er habe Nacht- und Lobetänze biß zu Tage ausgeheget, deßwegen das gesindte, Knechte und Magde zugelauffen und allerlei Uppigkeit, wie leicht zuermessen, getrieben. Es war kein Herr seines gesindtes mächtig.« Sogar der Schulmeister mußte wegen Vernachlässigung des Amtes und Unsittlichkeit abgesetzt werden.

In seinem späteren Amte in Sayda fand er nicht die Ruhe, welche er wohl gesucht hatte. Ja, sein Leichenstein sagt »Den Abend seines Lebens trübte er sich durch die Annahme des Pfarramtes zu Sayda«, und bitter klingt der Spruch, den er sich selbst als Grabspruch gesetzt:

[332]

»Ade du falsche Welt, die du mich hast geplagt,
Auch Tag und Nacht an mir nach Würmer-Art genagt.
Mich decket dieser Stein,
Biß Gott wird Richter seyn.«

Er, der in schwerster Zeit, 33 Jahre lang, der geistige und seelische Halt in dem gefährdeten Grenzbezirk gewesen und alle Nöte und Ängste des Krieges treu mit seiner Gemeinde geteilt, hätte einen besseren Dank als diesen bitteren Ausklang und Nachklang seines Lebens verdient.

Einer seiner Nachfolger in Sayda, Friedrich Ziegler, Pfarrer 1692–1720, hatte sich als Wahlspruch das Wort gesetzt: » ride et vicisti «, »Lache und du hast gesiegt!« Dieser lachende, vielleicht auch ironisch lachende Philosoph – Optimist oder Skeptiker? – mag leichter das Leben überwunden haben, aber freilich ist diese Philosophie nicht durch solche furchtbaren Proben versucht worden, wie Knorr sie bestehen mußte, bei denen man das Lachen wohl verlernen mag! Ziegler hat eine Schrift verfaßt, »Die Seelen-Vergnügung im Grünen«. Es lächelt uns aus dem Titel das frohe Behagen eines freundlichen Pfarrherrn entgegen, dem das Lachen leicht ist. Knorr mag bei seinen heimlichen, gefährlichen Waldgottesdiensten nicht an eine »Seelenvergnügung im Grünen« gedacht haben, weil er zu viel Blut und rote Flammen gesehen, zu viel Seelennot im Grünen gefunden.

Gedankenvoll schreiten wir die lange Straße zurück, verlassen das Städtchen und wandern dann hinaus in die sonnige Winterwelt. Da liegt vor dem Städtchen das alte Johannes-Spittel hinter alten Bäumen. Bunt leuchtet das Wappen der Herren von Schönberg mit Inschrift über der Tür, durch welches das ganze schlichte Haus eine besondere Zierde und Charakter erhält. Bernhard von Schönberg [333] hat das Hospital gestiftet, als er 1476 auf der Heimfahrt von Jerusalem auf der Insel Rhodos auf dem Sterbelager lag und seiner fernen grünen Heimatberge und harzduftenden Wälder gedachte. –

Grüß Gott du altes Weiblein dort am Fenster in deinem warmen Stüblein, du neidest uns nicht unseren Gang in den Winter hinaus. Der warme Ofen ist dir Erfüllung deiner Wünsche. Uns sollen noch Wind und Wald und Schnee Lieder der Sehnsucht und der Wünsche Gewalt und Erfüllung finden lassen.

Und ihr Schläfer hinter der schlichten Mauer unter den weißen Hügeln dort drüben, eure Herzen gingen zur Ruhe, aber was ihr gedacht und gelebt, es lebt und wirkt in ungeahnten Kräften. Vielleicht ist es im Wind lebendig, der dort vom Walde herüberweht, den ihr vielleicht gepflanzt habt, vielleicht klingt es aus dem Jauchzen der Kinder, die dort mit Schneeballen werfen, Kinder eures Blutes, vielleicht liegt es keimend im Acker, an dessen Rand wir dahinschreiten und dessen Frucht vielleicht dem Fleiß der nimmermüden Hände vieler Geschlechter, eurer Geschlechter, die dort ruhen, zu danken ist, vielleicht sind die Gedanken und Stimmungen, die uns hier überkommen, Spuren unsichtbaren Lebens, das hier daheim ist, Spuren eures Lebens, das ihr ganz an eure Heimat gewendet habt, und das uns nun eure Heimat lebendig und beseelt macht. Mit uns wandern alter ferner Zeiten stille Gestalten, nicht als dunkle Schatten, nein als Leben von unserem Blut, die das Leben gelitten und durchkämpft und bestanden haben und mit uns gehen als Freunde, um vom Schicksal zu reden, vom Schicksal der Seelen, vom Schicksal der Heimat, von Vergangenheit und Zukunft.

Sinnend schreiten wir in den Weihnachtswald, in dem [334] die Schneeflecke aus dem dunklen Grün leuchten. Rechts schimmert die vereiste Fahrstraße durch die Stämme und der breite Streifen eines Kahlschlages. Was geht es sich so weich in dem harzduftigen Walde, als schritten wir in den Sonntag hinein, wo es so kirchenstill ist, als hätte eine heilige Feierstunde begonnen, in der alles fernen, fernen leisen Klängen lauscht wie geheimnisvollem Läuten sehnsuchtsweiter Glocken, dem Harfen des Windes in den Wipfeln oder dem Rieseln und Sickern des schmelzenden Schnees im Waldboden.

Ein dünner blauer Rauch steigt aus der Schneise empor und füllt die Luft mit starkem Harzgeruch. Wie Weihrauch und stilles Opfer zu geheimnisvoller Weihe zerfließt er über den Wipfeln. Der Wald duftet stärker als zuvor.

Wir treten auf eine weite Lichtung hinaus. Wie ein schimmernder Saal mit silbernem Teppich liegt sie da rings vom schweigenden Walde wie von dunklen Wänden umschlossen. Dicht am Walde liegt »das kleine Vorwerk« mit weißem Schneepelz auf dem Dache. Alles ist still und fügt sich einfach und schlicht in die große heilige Ruhe. Ein mächtiger Baum in der Nähe, herrlich nach allen Seiten gleichmäßig entwickelt, steht da wie der stille Wächter der Einsamkeit. Die leere schneefeuchte Bank an seinem Stamm unter den schimmernden Zweigen ist heute ein starkes Sinnbild der Verlassenheit oder Vergessenheit. Wie mag im Sommer unter seinem grünen Dach das Leben eine Stätte haben. Dort rastet der einsame Wanderer, dort ruht der Schnitter und genießt sein einfaches Mahl. Dort lacht und spielt fröhliche Jugend und die wandernde Horde lustiger Vögel, dort klingt ein altes Lied von Liebe und Leid zur Laute. Dort sitzt im sinkenden Tagesschein das Liebespaar und lauscht dem Flöten der Singdrossel hoch oben im Gezweig: [335] Ein Baum, um den alle Poesie von Wald und Wiese und stillen Wegen wirkt und webt. –

Der Wald nimmt uns wieder auf und nach kurzer Wanderung zwischen seinen schneebehangenen Zweigen öffnet sich eine neue Lichtung, der Mörtelgrund. Wie ein breites silbernes Band liegt er zwischen den dunklen Fichten, quer den Wald durchschneidend und einen weiten Blick aufwärts und abwärts gewährend. Oberhalb zieht sich die Staatsstraße mit einem Brückenbogen den Bach überspringend. Nach unten schweift der Blick in die Ferne. An der Straße hier liegt aber ein stiller Teich, auf dessen Damm gewaltige Fichten wie stolze Türme sich erheben. Weit breiten sich die untersten Zweige fast dicht über den Boden hin. Ebenmäßig bauen sich die Prachtgestalten auf und ein Flüstern geht durch ihre dichten Nadeln, als raunten sie Geheimnisse aus alter kühner Heldenzeit, als wüßten sie Kunde von seltsamen Abenteuern und Märchen des Waldes oder von der schönen verwunschenen Fee im kühlen Wasser dort unter dem grünlichen Eis, verwunschen und verzaubert im gläsernen Sarge. An den Nadelspitzen hängen Tausende funkelnder Tropfen wie Perlen, als hätte ein Weihnachtswunder den köstlichen Schmuck gezaubert. Da regen sich sachte die Zweige und wie schimmernde Tränen fallen die Tropfen nieder mit leisem, feinem Klingen.

Die Wasserfei lauscht, denn es klang an der gläsernen Decke, als pochte schon der Frühling an, um den Zauberbann zu lösen, der sie verschlossen hält. – Ach lausche nur, der Frühling ist noch weit und ferne die Zeit, dich auf der duftigen Wiese im Mondschein im Tanze zu wiegen und Blumenkränze in deine fliegenden Locken zu flechten. – –

Durch Wald geht es weiter, und dann treten wir auf freie Höhe hinaus. Entzückt schweifen die Blicke über die [336] reinen edlen Linien der Berge, welche sich in langen Zügen in den Himmel schwingen, zarter und zarter, bis sie in weiter Ferne verblauen. Dicht vor uns ist der Schwartenberg mit breitem Rücken. Rehbraun und weiß ist das Gewand gescheckt, das er über seine breiten Schultern gelegt hat, und in unendlich feinem Tone mischt sich ein zartes Veil und Blau hinein. Ja, du trägst nicht Sorge um moderne Farbenstellung deines Kleides, und was die kleine Welt dort unten zu deinem Gesicht und deinem Wesen und Kleid sagt. Ob Sonnenstrahlen um dein Haupt klingen und singen, ob der Sturm dir seine wilden Weisen schnaubt und heult, du lächelst im fröhlichen Gewand dem Frühling, du schaust im rechten Feierkleide dem Winter ernst und versonnen ins grimme Gesicht. – Wie still und weit wird doch das Herz, wenn es fern vom lauten Troß und Trieb der Niederung so in die schweigende Bergwelt des Winters schaut. Wie fühlt man so tief, daß echte Werte nicht im Lärm, sondern nur in der großen Stille sein und werden können. Schweigen ist Kraft. Schweigen ist Tiefe. In dieser heiligen Stille fällt alles Äußere ab und der Kern, Wesenheit und Wert der Dinge wird offenbar. Wohl dir, wenn du ohne Lüge bestehst, der Stille ins tiefe Auge sehen kannst, wenn die Stille dir noch etwas sein und geben kann.

»Das Ewige ist stille,
laut die Vergänglichkeit;
schweigend geht Gottes Wille
über den Erdenstreit.«

(Wilhelm Raabe.)


Der Weg senkt sich allmählich. Aus dem Talgrunde steigen Türme und Mauern in malerischer Gruppe auf: Schloß Purschenstein und zu seinen Füßen die Dächer und Giebel von Neuhausen. Der Weg ist stark vereist und nicht ohne [337] manches Ausgleiten und heiteren Fall führt er uns ins Dorf hinab.

Wie stolz liegt die malerische Baugruppe der alten Burg nun jetzt über uns, mit ihren spitzen Türmen über die Bäume des Parkes am Berghang hinwegschauend.

Als Grenzburg hat sie durch viele Jahrhunderte Feinden Trutz geboten und war zugleich auch eine Zufluchtsstätte in der Zeit der Glaubenskämpfe für zahlreiche aus ihrer böhmischen Heimat vertriebene lutherische Exulanten. Mehr als ein halbes Jahrtausend sitzt hier das Geschlecht der Herren von Schoenberg bis auf den heutigen Tag. Freilich ist die Zeit jener Herrschaftsgewalt vorüber, als zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges die Purschensteiner Schönberge neben den weitausgedehnten Waldungen 5 feste Schlösser, 4 Rittergüter, 2 Städte, 1 Marktflecken und 39 Dörfer ihr eigen nannten und über einen Besitz von rund 500 Quadratkilometer – ein kleines Fürstentum – als Herren geboten. Der Ruhm dieses Geschlechtes, der zugleich seine Blüte bedingt, ist die Arbeit, der weitschauende Blick, welcher in der wirtschaftlichen Entwicklung und zielbewußter Siedelung und Aufbautätigkeit die Wohlfahrt seiner weiten Gebiete förderte.

Die Aufnahme der böhmischen Exulanten war nicht nur eine Tat lutherischen Geistes und menschlichen Mitgefühls, sondern auch klügster wirtschaftspolitischer Überlegung. In zahlreichen Dörfern und industriellen Unternehmungen erblühte neues Leben und neue wirtschaftliche Kraft für die Ansiedler ebenso wie für den weitschauenden Grundherren. Deutscheinsiedel, Deutschneudorf, Niederseiffenbach, Heidelberg, Oberseiffenbach, Deutschkatharinenberg, Brüderwiese, Eisenzeche, Lässigherd, Oberlochmühle, Frauenbach, Deutschgeorgenthal, [338] Neuwernsdorf, Oberneuschönberg, Niederneuschönberg, Kleinneuschönberg u. a. sind Orte, die solcher bewußten Siedlungstätigkeit ihre Entstehung verdanken.

Damals schaute das Schloß nach einem Bilde von 1735 noch bei weitem stattlicher ins Land. Fünf hohe schlanke Türme mit offener, durchsichtiger Laterne und geschwungenen Haubendächern, ähnlich wie der Freiberger Rathausturm, ragten in die blauen Lüfte und bezeichneten die von starken Mauern umgürtete und durch tiefen Wallgraben und steilen Absturz geschützte Hauptburg, die wie eine stolze Krone auf der Bergeshöhe leuchtete. Wie mag so mancher Flüchtling, der vom Feinde gehetzt aus den dunkelen Tiefen der Dickichte der Grenzwälder emportauchte, diese leuchtenden Türme auf dem Berge mit Jubel gegrüßt haben. Wie mag so mancher Feind begehrlich nach diesen festen Mauern und hellen Fenstern geblickt haben. Feindlichen Angriffen, Plünderungen und Zerstörungen ist dieser stolze Sitz jedoch nicht entgangen. 1643 z. B. war das Schloß von Schweden besetzt. Da rückte der Rittmeister Sporr von der kaiserlichen Armeeabteilung des Grafen Brey mit 200 Reitern aus Böhmen heran, um die Schweden aufzuheben und das Schloß in Brand zu stecken. Schon hatten die Kaiserlichen viel Leitern und Stroh herbeigetragen, um letzteres zu ersteigen. »Es haben sich aber die darinnen gelegenen 46 Mann Schwedischer Reuther mit Schüßen und Steinwerffen so ritterlich gehalten, daß die Keyßerlichen 200 Mann unverrichteter Sache wieder abziehen müssen.« Sporr rächte sich dadurch, daß er die außerhalb der Mauern liegenden Stallgebäude in Brand steckte. Die Schweden hielten aber das Schloß noch acht Wochen besetzt und brandschatzten ihrerseits die Umgegend nach Herzenslust.

[339]

Auch 1646 haben hier noch einmal die Schweden gehaust. 2000 Mann plünderten die Kirchgemeinde Neuhausen, trieben von hier und aus Dittersbach und Seiffen sämtliches Vieh hinweg, raubten das Schloß aus und zündeten den oberen Teil desselben an. »Die Schweden kommen« war der Schreckensruf, der noch nach langen Friedensjahren den Bauer mit Entsetzen füllte. Es hatte sich zu tief eingeprägt, was die Pfarrchronik sagt: »weil wier damals, wie noch alle stund und augenblick in großer kriegesnot und gefahr geschwebet«, und »weil die Kriegesnot und gefahr noch so groß ja größer ist, als sie iemals gewesen, sintemal uns der Feind mit rauben, plündern und anderen grausamen thaten, ie länger ie mehr kömmt, … große Tyranney verubet, … ausgeplündert« usw.


Doch hinweg mit den Bildern aus blutiger, schwerer Zeit. Wir wollen heute hier nicht rasten, so lockend auch der alte malerische Bau auf der Höhe und dort das behäbige Gasthaus an der Straße winken. Wir wollen ja hinüber ins Weihnachtsland, das jenseits des Berges liegt. Auf steilem Wege geht es weiter und an der Flanke des Schwartenberges, »an der Schwarte« empor. Hei, das war ein lustiges Klettern, Steigen und Rutschen auf dem blanken Eis des schmalen Weges, wo oft nur der feste Wanderstab vor jähem Sturz und Abgleiten bewahrte und manchesmal nur ein rascher Griff in das Gestrüpp oder nach einem Baumstamm eine unfreiwillige rasche Talfahrt ohne Schlitten auf den eigenen gewachsenen Rodelkufen verhütete.

Diese Bergflanken oberhalb Neuhausens senden in schneereichen Wintern auch ihre Lawinen zu Tal, die manchmal nicht ungefährlich sind. Wer den erzgebirgischen Winter [340] kennt und erlebt hat, wie in tagelangem Schneetreiben oft die Schneemassen sich türmen und Schneewehen zu Bergen sich emporbäumen, wie in den Wäldern viele Hunderte stolzer Wipfel unter der kalten, drückenden Faust des Schnees niederbrechen, wer einmal in solchem Schneesturm gewandert ist oder vielmehr sich durchgekämpft hat, der wird die unheimliche Gewalt solcher Naturereignisse ermessen.

Im Winter 1835 löste sich vom hohen Gassenberge eine Schneelawine und zerstörte gänzlich das Haus des Korbmachers Hengst, der sich mit den Seinen jedoch noch rechtzeitig retten konnte. 1862 verschüttete eine Schneelawine das Heinrichsche Haus in der Treibe derartig, daß seine Bewohner erst nach langem Schaufeln durch ein Dachfenster des obersten Bodens mit Lebensgefahr in Sicherheit gebracht werden konnten.

Heute liegt jedoch der Schnee hier oben nicht so dicht in geschlossenen Flächen. Locker, weich und leuchtend wirkt er in den einzelnen Flecken und Bändern wie ein schimmernder Schmuck, den der Berg zur Weihnachtszeit sich angelegt.

Wir erreichen einige einsame Höfe und gehen dann über eine Schneefläche wie auf weichem, kostbarem Teppich auf ebenerem Höhenweg dahin. Wie liegt die Welt so fern und klein unter uns. In weiter Ferne der Kirchturm von Sayda. Davor der Wald, den wir durchschritten. Im Tale einige Dächer und Häuser wie vergessen und verloren. Die Dinge der Niederung sind klein geworden, das Große, Erhabene zieht den Blick an. Die Augen schweifen in die Runde und können sich nicht satt trinken an all der keuschen Herrlichkeit der Berglinien und dem Dufte der Farben vom leuchtenden Weiß zum tiefen Blau und Grün, vom zartesten [341] Braun bis zum satten Veil dort in den tiefen Gründen der Täler und Wälder.

Höhenluft! – Wie atmen wir darin auf, wie atmen wir so tief und frei und unsre Seele atmet mit, denn um uns und in uns ist das große, stille Leuchten, das man erlebt, wenn man Höhenwege wandert hoch über dem Alltag. Staubige Pfade liegen fern in der Tiefe, in reiner Höhenluft wird das Blut und die Seele frei, frei für Höhengedanken frei von dunklen Tiefen.

Oben über uns reckt sich eine Felsengruppe in die Luft, als wäre sie der Stuhl eines Gewaltigen, der von hier aus sein weites Reich überschaut, dem die Wälder Teppiche und die Berge und Täler Stufen seiner Herrlichkeit sind.

Unter einer alten, knorrigen Buche am Wege stehen wir. Sie ist vom Sturm zerzaust, und die Äste recken sich trotzig, wie feste Arme mit starken Muskeln und Gelenken dem Wetter entgegen, als wollten sie mit dem ungestümen Gesellen raufen. Der Schnee liegt in weißen Wuchten im struppigen Gezweig, und es fällt ab und zu ein nasser Klumpen hernieder. Wir aber stehen und schauen in das große stille Leuchten hinaus.

»Kein irdscher Laut mehr reichte durch die Lüfte,
Mir wars, als stände ich mit Gott alleine,
So einsam, weit und helle wars da oben.«

Um die Felsblöcke dort oben saust der Wind. Frau Sage sitzt dort und raunt ihm ihre Geheimnisse zu. Zauberkundige Venetianer, »die Walen«, sollen dort Gold gefunden und aus unterirdischen Höhlen geborgen haben. Als 1874 moderne Goldgräber hier ihren Schacht in die Tiefe trieben, da floh das Gold und wurde taubes Gestein und arm an Beutel mußte die Habgier heimkehren. Frau Sage [342] sitzt wieder dort und schaut mit tiefen Augen ins Land und dir in die Seele, wenn du ein Sonntagskind bist, d. h. wenn du Höhengedanken in dir trägst. Sie erzählt dir von den Wundern der Heimat, die ewig sind und ewig jung.

Durch tiefen Schnee ging es dann weiter und schließlich abwärts ins Seiffener Tal, zuletzt auf steilem Fußwege hinunter. Tiefe Schneewehen boten hier willkommenen Halt auf dem vereisten steilen Pfad gegen den Absturz. Watend und springend, rutschend und fest den Wanderstab einsetzend gelangten wir glücklich zu den ersten Häusern am Hange, wo der Weg ebener und sicherer wurde und uns bald an winzigen Erzgebirgshäuseln vorbei auf die Talstraße führte.

Nur wenige Schritte noch und unser Ziel ist erreicht, das Erbgericht, das bunte Haus. Helle leuchten uns seine blanken Mauern und Fenster entgegen. Ein Querhaus und zwei Flügel umschließen einen offenen Hof, als breiteten sich uns offene Arme entgegen: »Seid willkommen, hie ist gut sein, hier magst du rasten und weilen und mag es dir wohl werden.« Dort über den Fenstern grüßt gar vertraut Alt-Freibergs Bergparade vom langen, gemalten, bunten Holzschild. Ja wahrlich, es ist recht, hier der alten Berghauptstadt des Landes und ihrer Bergherrlichkeit zu gedenken in so sinniger und sinnfälliger Weise, denn von ihr ging die Kultur des Landes aus, ward die Wildnis des Miriquidi gerodet und besiedelt, wurden die Erzgruben des Gebirges erschlossen. Der Name Erzgebirge wurde erst im sechzehnten Jahrhundert üblich, als an vielen Stellen Erz entdeckt und die Bergstädte mit den Namen der heiligen Familie wie Joachimsthal, Annaberg, Marienberg, Jöhstadt usw. gegründet wurden.

[343]

Vorher hieß es nach den Worten eines alten Dichters:

»Sehr wild und felsicht wars in diesen Waldesöden,
Da hauste Wolf und Bär mehr als ein Menschenkind.
Man sahe nichts von Feld, von Handelschaft und Städten,
Die Luft war angestrengt mit Nebel, Frost und Wind.«

Auch Seiffen dankt ja seinen Namen und Entstehung dem Bergbau, dem Zinnbergbau. Ausseiffen bedeutet auswaschen der Erzkörner aus Sand und Geröll. Längst ist er zwar zur Rüste gegangen, aber überall hat er seine unverwischbaren Spuren hinterlassen. Man sieht es, daß der Bergbau nicht unbedeutend gewesen sein kann und dies bestätigen alte Berichte: 1686 wurden rund 200 Zentner »Zien« à 22–23 Thaler gewonnen. 1730 waren in Seiffen vier, im benachbarten Heidelberg zehn Zechen im Betrieb. Die Ausbeute betrug 508 Zentner Zinn à 22 Thaler. Doch allmählich ließ die Ergiebigkeit der Gruben nach, der Bergbau kam in Verfall. Schon im 16. Jahrhundert gab es Holzdrechsler, welche mehr dem Holzreichtum der Wälder als dem Erzreichtum der Tiefe trauten. Der Bergmann ist ja auch immer ein Basteler gewesen. So ist es kein Wunder, daß oft aus dem Zeitvertreib ein Beruf wurde, und daß, als der Bergbau seinen Mann nicht mehr nährte, statt Schlägel und Eisen das Schnitzmesser den Lebensunterhalt verdienen mußte. Seiffen wurde allmählich der Mittelpunkt und Hauptort der Spielwarenindustrie. Es wurde aus einem alten Bergmannsdorf der Typus des erzgebirgischen Schnitzer- und Industriedorfes, wo eigenartige Gegensätze sich berühren.

Hier das »Bunte Haus« ist so recht das Heim und der Ausdruck dieser erzgebirgischen Volkskunst und Volksindustrie geworden, einer Weihnachtskunst, bei der man fröhlich und ein Kind wird wie zu Weihnachten, in der man sich heimisch [344] und wohlfühlt, als erzählte Großmutter ein Märchen aus der Zeit »Es war einmal«. Vom hübsch geschmiedeten Arm an der Hausecke grüßt uns der Spruch:

»Erst die Erde, dann die Sterne,
Erst die Heimat, dann die Ferne.«

Jawohl, viele suchen die Heimat und können doch nie heimfinden, viele haben die Heimat und halten sie nicht. Heimat ist kein leerer Ortsbegriff, Heimat ist eine Herzenssache. Wer kein Herz hat, wie will der die Heimat finden oder halten?

Möge die Kunst der Heimat der Heimat eine Seele geben, welche jene Vielen wieder zu rechten Heimatfreunden, Heimatkindern mit Herzen voll heimwehen Heimatstolzes macht. –

Hier im Bunten Hause ist der wohlgelungene Versuch gemacht, durch die Heimatkunst des Ortes ein echt erzgebirgisches Heimathaus zu machen, in welchem man das Herz der Heimat pochen fühlt und hört. Was der Hausspruch sagt und wünscht, das mag wohl sicher in Erfüllung gehen:

»Die Vorzeit grüßt Euch, daß Ihr wißt,
wie schön sie einst gewesen ist.
Gott gebe, daß die Nachwelt spat
an uns dieselbe Freude hat.«

Doch nein, nicht nur für die Nachwelt, nein, für das bunte, freudige Leben des Tages und seiner Gäste ist das Haus geschaffen.

Ein frohes Behagen umfängt uns, treten wir unter sein Dach. Der Hauptschmuck des geräumigen Hausflures ist die Gestalt eines Freiberger Bergmannes, der auf einer Konsole kniet bei der Arbeit vor Ort mit Schlägel und [345] Eisen. Der Bergmann, der Erzsucher und Erzfinder, ist – oder leider vielmehr war – ja die Charaktergestalt des Erzgebirges. Bergleute sind Wappenhalter bei erzgebirgischen Städtewappen, Bergleute sind die Träger erzgebirgischer Kanzeln, Bergleute sind in den alten Bergstädten Schmuckfiguren an Bürgerhaus und Portalen, in Kirchen und an Geräten. Der bergmännische Gruß »Glückauf« klingt dir oft noch treuherzig entgegen. Bergleute sind das Spielzeug großer und kleiner erzgebirgischer Kinder. So mag auch hier, wie nirgends, der Bergmann an seinem Platze sein.

Wir treten in die Gaststube ein und fühlen uns wie zu Hause in warmer Behaglichkeit. Die Wände sind dunkelbraun getäfelt und rings von den Simsen klingt es uns wie Kinderlachen und Weihnachtsjubel aus frohen Kinderherzen entgegen. Da ist sie aufmarschiert die ganze bunte, lustige Gesellschaft, ohne die Weihnachten im Erzgebirge nicht denkbar ist: die Bergleute und Weihnachtsengel mit ihren Lichtern, die Nußknacker im buntesten Wechsel, die Räuchermännlein in allerlei abenteuerlichen Gestalten. Pferdchen, Kühe und Schafe und der getreue Spitz dürfen nicht fehlen. Über den bunt mit Blumen bemalten Türen, wie wir sie von den alten Bauernschränken kennen, ist hier der Frachtwagen auf die Wand gemalt mit seinen vier starken Pferden, wie er einst auf den Straßen des Gebirges verkehrte, um Salz nach Böhmen oder das gute Freiberger Bier ins Gebirge zu schaffen. Dort ist der Postschlitten in voller Fahrt dargestellt. Kein Plakat, wie sonst in Gaststuben, stört mit aufdringlicher Reklame die Harmonie des Raumes.

Einfach gerahmte Bilder aus der erzgebirgischen Heimat von Künstlerhand schmücken die Wände, deren oberen Abschluß [346] ein starkes farbiges Friesband – Ähren mit bunten Feldblumen – bildet. Durch die Fenster strömt das volle Licht herein, denn sie sind frei von unnützen Gardinen und Stoffgehängen. Dafür schmückt ein starker, farbiger Fries von Blumen die tiefen Fensterlaibungen und vor den Scheiben hängen gute Glasbilder in farbiger Bleiverglasung mit Darstellungen eines drolligen Musikantenvolkes voll köstlichen Humors. Eine wohltuende, satte, tiefe harmonische Farbigkeit erfüllt den Raum wie ein voller, echter Klang, der von allen Sinnen aufgenommen wird und warm zum Herzen dringt. Die kräftigen, gut geformten Holzstühle und Tische laden ein zu behaglicher Rast und helfen das Gefühl des Daheimseins steigern, weil sie sich ganz in die Raumstimmung fügen. Die Teller, von denen du speisest, die Tassen, aus denen du trinkst, sind bunt bemaltes Bauerngeschirr, wie wir es aus der Verkaufsstelle des Heimatschutzes in Dresden kennen und lieben. Welche Freude ist es, hier im täglichen Gebrauch einer Gastwirtschaft dieses reizvolle Geschirr in passender Umgebung zu sehen und die Lust an seiner echt volkstümlichen Art zu empfinden. Durch dieses Hineinstellen der Ergebnisse liebevoller heimatlicher, künstlerischer Arbeit, Forschung und Begeisterung mitten in den Gebrauch des praktischen Lebens ist eine Tat getan, durch welche die hohen Gedanken des Heimatschutzes und volkstümlicher Kunstpflege, Kunstschaffens und Kunstfreude mächtig gefördert werden, um so mehr, als es an einem Orte geschieht, in dem die Erziehung zum guten Geschmack sich unmittelbar in der täglichen Arbeit auszuwirken vermag.

Mit wie einfachen Mitteln auch schwierigere Fragen gelöst werden können, das zeigt die elektrische Beleuchtung. Sie hätte leicht die Raumstimmung stören können, wenn [347] die Birnen mit den Glasschalen im Raume pendelten oder irgendeine Dutzendware als Beleuchtungskörper diente. Wie half sich der Künstler? Er bemalte den Glasschirm der Pendellampe in kräftiger Stilisierung mit bunten Bauernblumen. Auf den Glasschirm legte er einen bemalten Holzreifen, wie man sie in Seiffen dreht, und ließ von ihm bunte Bänder herabhängen. Auf dem Holzreifen aber ist allerlei Seiffener Spielzeug lebendig. Da sitzen allerlei Vögelchen und schauen mit drolliger Kopfbewegung keck herunter. Da jagt der Hirsch durch den Wald, verfolgt vom Jäger mit seinem Hund. Kein Beleuchtungskörper ist wie der andere und doch alle einheitlich und ein Schmuck des Raumes von echt volkstümlicher Seiffener Heimatart. Der Hauptschmuck ist ein großer Kronleuchter, nach Art von Kristallkronleuchtern gestaltet, jedoch aus weißen Holzperlen zusammengesetzt mit sparsamer Vergoldung, ein mühsames, eigenartiges Stück Seiffens Kunsthandarbeit.

In einem Glasschranke sind allerlei Musterstücke der Seiffener Kunst ausgestellt, um die Kauflust anzuregen und damit dem Orte zu dienen. Der Schrank wirkt freilich in seiner Form des oberen Abschlusses mit den geschwungenen Linien und krausen Schnitzerei und Spitzchen hier etwas fremdartig, als habe er sich hierher verlaufen und verirrt aus einer anderen Welt. Das hat der Künstler wohl empfunden und hat ihm, ohne helfen zu können, ein paar Bauernblumen auf die Stirn und unten an den Schubkasten gemalt. So wirkt er in der echten einheitlichen Raumstimmung gekünstelt und falsch, wie der Salontiroler in der Dorfschenke. Auch das Klavier dort an der Wand wird dadurch, daß auf die schwarze Politur ein paar kecke Bauernblumen gemalt werden, nicht »echt«, wird nicht aus [348] einem Salonwesen zu einem erzgebirgischen Bauernkind. – Gerade auf diesem Gebiete liegen noch viele ungelöste Aufgaben, würdig der Mühe tüchtiger Künstlerhände. Die Gewohnheit läßt oft Mängel auf diesem Gebiete übersehen, die in einer neuen, fein abgestimmten, echten Umgebung plötzlich auffallen und das Verlangen nach Neubildung und neuem Leben und Schaffen hervorrufen. In neuem Lichte sieht man alte Formen und klarer sieht man, was not tut; den falschen Ton einer Saite hört man schärfer, wenn alle anderen Saiten und Instrumente gut gestimmt sind, wie hier. Doch diese kleinen Unstimmigkeiten sollen uns die herzliche Freude und das Behagen an dem stimmungsvollen, echt erzgebirgischen Raum nicht stören. Der Alltag liegt weit hinter uns und fröhliche Weihnachtsgeister lachen durch den Raum. Nicht in Lärm und jagendem Witz und Scherz, nein, in jener tiefen, freudigen Stimmung sind wir beieinander, in der einer den anderen versteht, und freudig aus seinem Innern gibt, weil er fühlt, nur so kann eine gute Stunde ihren Wert als wahrhaft frohe Stunde bringen. – Wir betrachten dann den Nebenraum, der im Gegensatz oder auch Ergänzung zu der echt volkstümlichen Seiffener Stimmung der Gaststube mehr auf hohe Kunst erzgebirgischer Art und Landschaft und als »Herrenstube« gestimmt ist. Er wird beherrscht von den Gemälden mehrerer Künstler, welche hier das hohe Lied der Schönheit heimatlicher Landschaft singen. E. Buchwald, Zinnwald, Alfred Hofmann, Stollberg, Alfred Kunze, Chemnitz, Prof. Seifert, Seiffen, der Neubeleber und Anreger der Seiffener Kunst und Gerhard Dreßler, der Künstler, dem die stimmungsvolle Einrichtung des Hauses hier zu danken ist, sie alle reden dort mit stummer eindringlicher Sprache von der Heimat, wie sie ihnen dort durch die Seele gegangen ist, [349] und ihre Bilder beseelen den Raum. Ein Gasthauszimmer, ein Kneipenraum, und doch geweiht und frohmachend durch die Kunst.

Man muß dem mutigen Unternehmer danken, diese Lösung der Frage »Kunst und Kunsterziehung« für das Volk, so fest angepackt und durchgeführt zu haben hier oben im erzgebirgischen Dorfe, während in den Großstädten auch in den besten Gaststätten oft nur Plakate oder minderwertige Kunst oder Kitsch zu finden ist. Wenn nur in jeder besseren Gaststätte im Lande nur ein oder zwei Originalkunstwerke hingen, angeschafft für das Geld, das anderweitig für die Augen- und Ohrenmarter der Gäste hinausgeworfen wird und besser erspart bliebe so wäre unserer notleidenden Kunst geholfen und durch die Erziehung und Freude, welche jedes echte Kunstwerk schafft, würde reicher Segen geschaffen. Könnten nicht die vornehmeren Gaststätten zugleich stimmungsvolle Ausstellungsräume sein für Kunstwerke, die sich hier dem Käufer in jeder Beleuchtung zur ruhigen Betrachtung darbieten können und für sich und den Künstler unaufdringlich werben können in Räumen, die der heimischen Wohnung ähnlich sind. Alle Teile, der Wirt, der Gast, die Kunst und der Künstler hätten ihren Vorteil dabei.

Solche Betrachtungen und Lehren regt die Herrenstube hier im Seiffener Erbgericht an, während die Sonne durch die bunten Scheiben blinkt und leuchtende Farbenflecken auf die blankgescheuerten Tische wirft. In den Fenstern sind buntfarbige Wappen und Tierbilder wie Elster, Eichhörnchen, Fuchs, Hase angebracht und oben im Laubwerk und Nadelgezweig des breiten Wandfrieses tummelt sich fröhlich allerlei Getier des deutschen Waldes, frisch und keck ohne ängstliche Schablone hingemalt, wie es der Phantasie [350] des Künstlers entsprang. So regt es auch wieder die Phantasie an und macht die Gedanken fröhlich.

Eine besondere Zierde des Raumes sind neben dem Holzleuchter an der Decke mit einem Bergmann in der Mitte noch die geschnitzten dreiarmigen Holzleuchter auf den Tischen, welche in ihrer leuchtenden Farbigkeit und mit ihren fröhlichen Motiven das Auge anziehen. Als Mittelstück zwischen den drei Armen sprengt dort z. B. ein Reiter im leuchtend roten Rock mit einem Jagdhorn auf einem Apfelschimmel über ein Fichtenbäumchen hinweg, dort ist es ein stolzer, springender Hirsch, dort wieder der Kopf des Hubertushirsches mit dem Kreuz zwischen den mächtigen Stangen. Das ist Volkskunst, welche erzählt, welche Seele und Gedanken hinausführt aus dem grauen Alltag in Wald und Heide und das Herz fröhlich macht.

So geht es dir im ganzen Hause! Schaust du in die Gastzimmer, so findest du keine Hotelschablone. Nein, Bett und Leuchter, Tür, Stuhl und Spiegel sind dem Geiste des Ganzen angepaßt. Kleine Originalgemälde schmücken die Wand, die du, wenn sie dir besonders gefallen, sogar für mäßigen Preis erwerben kannst. Manch launiger Vers grüßt dich. An der Kammer der Magd steht warnend der Vers:

»Die Wirtin thut aufwecken
die faule, faule Magd,
sie thut sich erst recht strecken
und schlaft dann bis es tagt.«

Auf dem Treppenplatz im Dachgeschoß füllt die Ecke gewichtig ein bunter, alter Bauernschrank aus dem Jahre 1704 und eine eigenartige, buntgemalte Wiege steht daneben, welche auf dem Kasten den bedeutsamen Spruch trägt:

[351]

Salomo der Weise spricht
Weib erfülle deine Pflicht. – –

In einem Zimmer des Obergeschosses ist eine erzgebirgische Bauernstube eingerichtet mit allerlei echtem Geräte bis ins kleinste liebevoll und mit großem Verständnis ausgestattet. Dieser für die Volkskunde belangreiche Raum ist so recht ein Zeugnis für den Sammeleifer und die liebevolle Art, mit der die großen und die vielen kleinen, doch oft so wichtigen Dinge des täglichen Lebens und untergehender Sitten und Gebräuche erfaßt und bewahrt werden. Er ist zugleich auch ein Zeugnis für den Geist der durch das bunte Haus geht, der alles aus Liebe zur Sache mit großen Opfern geschaffen und nicht der Reklame und des bloßen Gewinnes wegen, obschon auch hier die alte Wahrheit sich wieder erweist, daß das Echte und Schöne und Gute seinen Lohn sich selbst bereitet.

Das Haus dient dem Orte und der erzgebirgischen Volkskunst und Industrie in unaufdringlicher, vornehmer Weise, dadurch, daß es durch die lebendige Anschauung Freude daran zwanglos bei jedem Gaste erweckt und die Lust am Besitze solcher lustigen Dinge.

Dieser Absicht dient auch die Spielwarenausstellung im Erdgeschoß des Seitenflügels, wo man an der Fülle alter und neuer Stücke der Seiffener Industrie und Kunstfertigkeit seine Freude hat und nach Herzenslust wählen darf, was man sich oder anderen zur Freude erwerben mag. –

Doch draußen lacht die Sonne! Es hält uns nicht mehr im Zimmer. Wir steigen zur Kirche aufwärts, welche als achteckiger Zentralbau mit hohem Zeltdach und stolz daraus hervorschießendem Glockenturm charaktervoll in die Landschaft der Höhenlinien und Hänge sich hineinpaßt, wie aus dem Boden gewachsen und doch eigenartiges Leben [352] für sich behauptend. Über dem Haupteingange befindet sich eine Platte mit der Inschrift: »Zur Ehre Gottes und zum Heil der Menschen geweihet 1779. Ps. 24. 7 – Pred. 4. 17.« Links unten ist die Höhenmarke 640,462 m eingelassen. Im Innern ist man überrascht über die geschlossene feierliche einheitliche Wirkung des zentralen Raumes, in dem zwei Emporen übereinander äußerste Raumausnutzung bei günstiger Anlage der Plätze zeigen. Im Sinne des großen Meisters der Frauenkirche in Dresden, Georg Bähr, ist hier ein echt evangelischer Predigtraum für viele Hörer in packendem Zusammenschluß geschaffen.

Auf dem Friedhof draußen stehen wir dann am Grabe des Pfarrers Härtel, der ein rechter Pfarrer für seine Gemeinde war, ein treuer Berater für die Seelen seiner Gemeinde, Helfer und Anreger auch in allen Dingen, die zur Blüte seiner Gemeinde in wirtschaftlicher, heimatkundlicher und kunstgewerblicher Hinsicht beitragen konnten, ein Freund der Heimat, festgewurzelt im Boden seiner geliebten Gemeinde.

Draußen im Walde hatte er sein Lieblingsplätzchen, wo er von moosig bewachsener Felsbank ins Tal schaute. Dieser Stein aus heimischem Grund sollte sein Grabstein werden, hatte er einst gewünscht.

Als ein rascher Tod ihn seiner Gemeinde nach beinahe dreißigjähriger treuer Arbeit entriß, da dachte man seiner Worte. Er konnte nicht mehr zum Stein im Walde draußen gehen. So kam der Stein aus dem Walde zu ihm und deckt nun als mächtige, rauhe Platte sein Grab und schützt es wie der Deckstein das Grab eines germanischen Edelings. Eine schlichte Inschrift nennt seinen Namen. Ein grüner Kranz aus ernsten Fichtenzweigen ist sein Schmuck.

[353]

Eine weihevolle, ernste Stimmung liegt über dem Grabe. »Der ist in tiefster Seele treu, der die Heimat liebt wie du!« –

Wir schreiten weiter unter der Traueresche hindurch, welche wie ein mächtiger Torbogen die Straße überwölbt, und als ein eigenartiges Naturdenkmal von besonderem Reiz zu hegen ist.

Die Binge ist unser Ziel. Zwei Kessel sind es, aus denen einst das Erz gebrochen wurde. Eine Halde und steiler Felsgrat liegt zwischen ihnen und trennt sie. In die kleinere kann man hineingehen. Sie wirkt wie ein ungeheurer Steinbruch mit steilen Wänden, auf deren Vorsprüngen und Kanten heute der leuchtende Schnee liegt und die Farben des Gesteines besonders hervorhebt. Oben von der Höhe zwischen den Bingen haben wir einen weiten Blick ins Land und auf den Ort zu unseren Füßen. Wie auf einer gewaltigen Kanzel stehen wir hoch über der Geschäftigkeit des Tages, die verworren zu uns heraufklingt. Dann steigen wir zur großen Binge herab auf vereistem Wege, der glatt und nicht ungefährlich uns dicht am Rande dieses ungeheuren, wildromantischen Kraters entlang führt. Ein Wasser stürzt jenseits rauschend in die Tiefe und Eiszapfen hängen von dem Gestein wie schimmernder Spitzenbehang. Aus dem Grunde ragen Bäume auf und drüben am Rande stehen echt erzgebirgische, niedrige Bergmannshäuser. Längst ist der Bergbau hier erloschen, aber sein unverwischbares Gepräge hat er dem Orte gegeben. – Doch jetzt wollen wir noch Seiffen bei der Arbeit und bei der Kunst – Kunst der kleinen Leute suchen!

Unser Weg und unsere Wißbegierde führt uns in die Fachschule, die ein Jungbrunnen für die Seiffener Industrie zu werden bestimmt ist. Eine reiche Sammlung [354] von Seiffener Spielzeug von ältester Zeit her zeigt wie die Entwicklung von einstiger Höhe zur Tiefe abwärts und in der neueren Zeit wieder zur Höhe aufwärts ging. Neben den alten guten Sachen fesseln uns vor allen die Dinge der Gegenwart und Zukunft, die Dinge der Hoffnung, neuzeitliche Arbeiten, die in echt erzgebirgischer Art die fröhliche Farbenbuntheit mit immer wieder neuen Formgedanken in materialgerechter Bildung und Herstellung verbinden. Über vielen Arbeiten liegt ein frischer Humor, der uns unwillkürlich lächeln läßt, wie bei jener Familie bunter Vögel, die mit ihren drehbaren Köpfchen sich um ihren gravitätischen Vogelkönig mit dem großen Schnabel und goldenem Krönchen scharen und mit aufgehobenen Schwänzchen bald keck, bald dummdreist, bald fröhlich in die Welt gucken. Kindeseinfalt, Märchensinn und Schelmerei sind mit scharfer, künstlerischer Naturbeobachtung verbunden, um in einfachster Form und Technik echte Vogelcharaktere zu geben und echtes kinderseliges Spielzeug zu schaffen. Und doch ist es so schwer, wie man uns sagt, diesen köstlichen Dingen Eingang ins Volk zu schaffen! Zur Anfertigung z. B. dieser Vögel hatte sich nur eine Fabrik seinerzeit bereit gefunden, welche inzwischen den Betrieb eingestellt hat. Diese Dinge werden also aus dem Handel völlig verschwinden, wenn nicht ein anderer Betrieb sie wieder aufnimmt und für den Vertrieb sorgt. Wir sehen in der Ausstellung z. B. auch das köstliche Gespann eines Ochsen und Pferdes vor einem Wagen mit Holzstämmen von einer verblüffenden Naturwahrheit und Echtheit in der Bewegung bei aller packenden Einfachheit der Form und Technik, daß man seine helle Freude daran hat. Auch dieses prächtige Werk echt deutschen Kindersinnes wird in deutschen Spielzeughandlungen wenig gekannt, geführt und [355] gekauft. England und Amerika sind die Abnehmer. Und doch sind gerade diese Dinge, welche die künstlerische Leitung der Fachschule schafft und mustergültig durcharbeitet, die Hoffnungen für einen neuen Aufschwung in künstlerischem und wirtschaftlichem Sinne für die Seiffener Industrie. Sie sind die gesunden Keime einer kräftigen, zukunftssicheren Entwicklung und einer reichen kommenden Ernte.

Wenn die erstarrten und veralteten, z. T. unnatürlichen und unschönen oder gekünstelten Formen, welche noch vielfach den Spielzeugmarkt und die Musterläger beherrschen, diesen schönen Dingen weichen würden und den reichen Anregungen der Fachschule mehr nachgegangen würde, so wäre eine neue Blüte erzgebirgischer Kunstindustrie zu erhoffen. Das Schöne muß Massenartikel werden.

Da hängen z. B. in der Ausstellung eine Reihe von reizvollen, bunten Leuchtern aus Holz in einfacheren und reicheren Formen und Ausgestaltungen nach Motiven der alten erzgebirgischen, sogenannten Bergspinnen, gefertigt und belebt mit allerlei lustigen Figuren. Wer kennt diese köstlichen Dinge? Sprudelndes Leben, volkstümliche Kraft und bunte Farbenfreude spricht aus jedem Stück. Wie geschaffen sind sie, um im Kinderzimmer, im Herrenzimmer, auf der Diele oder in traulichen Gaststuben einen frohen Klang erzgebirgischer Heimatkunst, Heimatlust und Freude zu tragen. Sie haben sprühende, lebendige Ursprünglichkeit und farbenreiche Musik in allen Gliedern, wie ein Volkslied, das durch alle Stimmungen reißt, innig empfunden und frisch aus dem Herzen gesungen.

Sie sind wahre Volkskunst eigener echter Prägung und Art, durch welche das Erzgebirge seinen Ruf in ungeahnte Fernen zu tragen vermag. Denn nicht die Schablone, nicht [356] die Allerweltsartikel, nicht die Überalldinge, nicht die Billigkeit begründen den Ruf und Erfolg, sondern die Eigenkunst, die Eigenkraft, der Eigenwert, die volkstümliche Eigenart, welche lebendig aus dem tiefsten Empfinden der Volksseele herausgewachsen ist. Wenn sich mit dieser volkstümlichen Eigenkunst der echte Unternehmergeist im Betrieb und Vertrieb verbündet, so wird er auch die wirtschaftlichen Erfolge für die erzgebirgische Heimatkunst herbeizuführen wissen. Trotz vieler köstlicher Dinge, die aus der Fachschule noch zu berichten wären, z. B. die Christmetten mit der Kirche in Seiffen in wunderbarer Lebendigkeit figurenreich hingestellt, müssen wir scheiden. Wir gehen noch durch mancherlei Häuser und Fabriken, um einerseits die Heimarbeit, andrerseits die Reifendreherei und die bis ins äußerste getriebene Arbeitsteilung der Seiffener Industrie kennenzulernen, wo mancherlei bemerkenswerte Beobachtungen, Bilder und Gespräche uns lohnten. Geht nur mit offenen Augen und Herzen in die Arbeitsstätten und ihr werdet stets reicher daraus wiederkehren. – Durch bis ins kleinste durchgeführte Arbeitsteilung werden in der Heimarbeit oft mit großer Geschwindigkeit große Mengen des einfachen Spielzeuges hergestellt. Da sitzt die ganze Familie oder mehrere Familien in einer Stube beieinander, und das kleine Werk eilt von Hand zu Hand der Vollendung entgegen. Die Männer an der Drehbank, den Reifen drehend, von welchem wie schimmernde lustige Bänder die feinen Drehspäne fliegen. Wie die Scheiben vom Kuchen, so werden vom Reifen die Profile der Spielgestalten abgespalten, geschnitzt, zusammengesetzt, geleimt, gemalt. Frauen und Kinder sind emsig tätig, singen auch wohl ein Heimatlied von Anton Günther, während der Krinitz im Bauer dazu pfeift.

[357]

Aus der Heimarbeit mit ihrer Traulichkeit, die die Familienglieder oder Nachbarschaft zu gemeinsamer Tätigkeit zusammenschließt, entwickelt sich durch die Arbeitsteilung die Fabrikarbeit, wo die Hand die Maschine bedient oder in einförmiger, immer wieder geübter Bewegung zur Maschine wird. An langen Tischen sitzen sie und schaffen und reichen sich die Arbeitsteile zu; nur der Arbeitsvorgang verbindet sie noch äußerlich. Das innere Verhältnis zur Arbeit, das innere Band, welches die Familie daheim um die gemeinsame Schöpfung eines Spielzeuges zusammenschloß, ist verlorengegangen, das was den Heimatfreund so fesselte, ist nicht mehr. Freilich mag diese Industrie mehr Leute und besser nähren, wir wollen sie nicht drum schelten, aber die Seele ist doch verloren gegangen und die Innigkeit des schlichten Empfindens, die Poesie der Schöpferfreude ist in den Fabriksälen nicht zu finden! –

Von sausenden Rädern und Transmissionen aus Sälen, durch deren mächtige Fenster hart, kalt und helle der nüchterne Tag hineinschien, traten wir in ein schlichtes Haus und stiegen auf hölzerner Treppe mit knarrenden Stufen aufwärts zu einem alten Mütterchen von mehr als 70 Jahren, Auguste Müller, welche als letzte wohl noch die urtümliche Herstellung einzelner Originalstücke nach eigener Erfindung in mühevoller Handarbeit von rohem Holze bis zum letzten Pinselstrich in köstlicher Naivität übt und in ihren Figuren ihre Phantasie mit munterem Blick durch die ganze Gotteswelt spazieren läßt.

Mit gebeugtem Rücken, sitzt sie im engen Stübchen, das Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer und Arbeitsraum, Himmel, Erde und Weltall zugleich ist, wo die Katze [358] schnurrend umherstreicht. In malerischer oder vielmehr schnitzerischer Unordnung liegen auf dem Tisch Arbeitsgeräte, gekochte Kartoffeln, Nähzeug, Kaffeetopf und allerlei Dinge verschiedenster Bestimmung. Eifrig holt sie einen Kasten herbei mit einzelnen fertigen Arbeiten und erzählt von ihren Plänen. Für einen feinen Herrn hat sie die Figuren der Söhne geschnitzt in Matrosenanzügen, und ein feines Fräulein mit Täschchen und Federhut. Im Walde lebt der »Nusser« (Häher) sagt sie, und diesen packt der Habicht. Da verliert er seine kleinen blauen Federn. Diese sammelt sie sich und schmückt damit den Federhut des feinen Fräuleins. Für Kleid und Tasche sucht sie in der Modenzeitung ihre Muster in Schnitt und Farbe. Für das Dienstmädchen wählt sie ein flottes Dirndlkleid. Frisch ist der Typus der feinen Dame und des drallen Dienstmädchens getroffen. Dort hat sie eine ganze Tiroler Sängergesellschaft humorvoll zusammengestellt. Jetzt wolle sie einen Tempel bauen mit einer Krone oben, um den die Engel schweben. So geht ihre Phantasie und ihr Plaudern mit einer erstaunlichen Lebendigkeit. Was sie sich zusammensinniert mit ihrer kindlichen Phantasie, das führt sie mit großer Sicherheit durch, wofür viele eigenartige und reizvolle Stücke in der Sammlung der Fachschule und im Bunten Haus Zeugnis ablegen. Unter manches dieser Stücke klebt sie einen Zettel, auf dem irgendeine Schnurre oder scherzhafter Einfall notiert ist, der ihr vielleicht gerade Anlaß zu dieser Arbeit und ihrem Humor gegeben hat. So läßt sie ihre kleinen Personen reden und macht sie sich selbst lebendig. Sie lebt mit ihnen, sie sind kindlicher Ausdruck ihrer Stimmung. Auch ihr Name darf nicht fehlen. Ein stark abgeschliffenes Schnitzmesser ist ihr Handwerkszeug bei der Schnitzarbeit.

[359]

Das ist echte Volkskunst in ihrer ganzen naiven Kindlichkeit, die noch in diesem alten Mütterchen lebt und webt, sie ausfüllt und geistig lebendig, zufrieden und rüstig erhält, trotz aller Kärglichkeit und Sorge, welche der mühsame Erwerb bereitet; Volkskunst, wo in jedem einzelnen Stück die ganze Liebe und Freude des Herstellers an der Arbeit steckt und es wertvoll macht als Originalwerk, das aus der Seele des Volkes geboren ist. Volkskunst freilich auch, die nicht für den Massenexport und als Lebensberuf geeignet ist. –

Wir scheiden von der Alten mit dem Wunsche, daß sie noch lange ihr Schnitzmesser führen möge als letzte Schnitzerin echt volkstümlicher Seiffener Kleinkunst. Ihre kleinen Arbeiten werden wohl bald in Sammlungen solcher Dinge gesucht sein.

Bei dieser Wanderung durch die Seiffener Arbeitsstätten haben wir immer stärker und stärker empfunden, daß nur die Pflege der Eigenart uns stark machen kann. Nur in ihr schlummert die urwüchsige Kraft, welche sich durchzusetzen und zu behaupten vermag. Nur durch kraftvolle Eigenart und schlichte, einfache, volkstümliche, kindhafte Gestaltung muß diese Volkskunst wirken, sich abheben, herausheben von dem Gleichgültigen, aus der stumpfen Masse, aus tödlicher Schablone. Wie unsere Berge ihren Charakter tragen, der auch in den echten Kindern der Berge sich ausprägt, so muß die Kunst des Gebirges zu immer größerer Echtheit und Eigenart, zum Charakter sich durchringen und emporsteigen, mehr und mehr echt erzgebirgische Weihnachts- und Kinderkunst werden. Der innere Gehalt und äußere Wert können und werden dadurch wachsen und eine neue Blüte der alten erzgebirgischen Volkskunst gewinnen.

[360]

Hebt euch, ihr Künstlerhände, zum Werke und zur Tat, wache auf, du deutsche Phantasie mit Kindesaugen und Kinderherzen und schaffe neues Kinderglück, greife ins Land der Träume und trag’ die Erfüllung ins Land der Wirklichkeit, raffe dich auf, Unternehmergeist, zu frischem Wagen auf neuen Wegen und zu neuer Unternehmung für alte und neue Weihnachtskunst und Kinderkunst.


Unsere Abschiedsstunde von Seiffen hat geschlagen. Wir setzen den Stab heimwärts aus dem Lande der Kinderträume, Weihnachtsseligkeit und Spielzeugherrlichkeit, in dem uns wohl war wie am Heiligen Abend. Das Tageslicht ist erloschen, die bunten Farben der Welt sind in schweigende, schwarze Täler, in traumhafte Tiefen versunken. Auf einsamer, stiller Höhe schreiten unsere Füße. Unsere Gedanken wandern über die Täler, über die Höhen, durch Dunkel und durch Hell zur Unendlichkeit. Tief dunkelblau hatte sich der Himmel über die schlummernde Erde gespannt. Millionen silberne Funken blitzten aus den unendlichen Tiefen des Weltalls, mit rätselhaften, tiefsinnigen Fragen unser Herz bedrängend. Als die Menschheit noch ein Kind war, fragte sie danach, und wenn der letzte Enkel seine Stirn zu Sternen erhebt, wird diese Frage an sein Herz und sein Hirn pochen, die Frage nach dem Ich und Du, dem Warum, Woher und Wohin. »Wer trägt der Himmel unzählbare Sterne?« Je tiefer wir in die dunklen Zweige und Gründe des schimmernden Weltenweihnachtsbaumes dort oben schauten, desto feierlicher, desto ehrfürchtiger wurde uns zumute, desto kleiner wurden wir, Kinder, denen ein unerklärliches Leuchten und Sehnen die Seele hebt, alles Fragen stille macht und den Mund schweigen läßt. Durch die schwarzen Wälder rauscht es [361] wie ferner Orgelton, durch dunkle Gründe ging das Schweigen auf leisen Sohlen, und die weite Welt mit ihren Bergen und Tälern lag stumm unter dem dunklen, sterngestickten Mantel der Nacht, stumm unter den leuchtenden Rätseln der Ewigkeit. Weihnachten ist es. Wir sind Kinder, die heimlich einen Blick auf noch versagte Seligkeit werfen wollen, denen nicht das Wissen, sondern das Ahnen Weisheit ist, deren Herz voller Erwartung ist. Was wird, du Seele, die Antwort auf dein Fragen, die Lösung aller Rätsel sein? Steh’ unter Sternen auf dunkler Höhe und hebe dein Herz empor zu den leuchtenden stillen Wanderern der Unendlichkeit, und dein Herz wird stille werden, weihnachtsfroh und weihnachtsstill. Das Fragen nach dem Ich und Du, dem Warum, dem Woher und Wohin wird in den Sternenströmen der Ewigkeit seine Ruhe, sein Ziel und Erfüllung finden. Das Fragen und Ahnen wird zum Schauen werden, zum Schauen und Lauschen auf das heilige Rauschen der Sternenwogen der Unendlichkeit, unter deren leuchtendem Schaum von Weltkörpern die dunkle Erde wie ein Staubkorn dahinwirbelt, ein Staubkorn und doch ein Gottesgedanke von unergründlicher Tiefe, Weisheit und Schicksalsgewalt, ein Gottesgedanke, von dem ein Sternenfunken in jeder Menschenseele, in jedem Menschenschicksal liegt.

»Denn die Ewigkeit ist nur
Hin und her ein tönendes Weben;
Vorwärts, rückwärts wird die Spur
Deiner Schritte klingend erbeben,
Deiner Schritte durch das All,
Bis, wie eine singende Schlange,
Einst dein Leben den vollen Schall
Findet im Zusammenhange.«

(Gottfried Keller.)


[362]

O du fröhliche, o du selige Weihnachtszeit!

Schon tagelang waren die weißen Flocken gefallen und hatten die weiten Felder und die alten, mächtigen Halden in ihr weiches Gewand gehüllt. Im Spittelwalde draußen neigten sich die Wipfel der schlanken Fichten, und die Zweige hingen tief zum Boden hernieder, beschwert von den Wuchten und Lasten des Schnees. Nur die starken und stolzen, welche so gern allein stehen, ragten wie silberne Türme mit wunderbar ziseliertem, gotischem Filigran spitzengleich übersponnen. Sie streckten sich und reckten sich hoch über die Jugend, welche sich unter der Schneelast duckte und beugte. In abenteuerlichen Gestalten, wie Schneemännlein oder Eisbären, wie Zuckerhüte oder weißbärtige Gnomen in weißen Kappen, bald dicht gedrängt in großer Schar oder in kleinen Trupps oder einzeln verstreut, standen die jungen Bäumchen und harrten der seligen Weihnachtszeit entgegen. Im Sonnenschein funkelten und flimmerten die Millionen Kristalle, als gäbe es nur Glanz und Reinheit auf der Welt, als wäre aller Staub und alles Graue und Trübe vergangen, als wäre diese Erde eine silberne, schimmernde Märchenwelt. Ja, auch der Schatten in diesem Glanz war noch ein blaues Licht, das weich und geheimnisvoll leuchtete und glitzerte, als wäre es nicht von dieser Welt, sondern aus unendlicher, ewiger Ferne seliger Sternenträume.

[363]

So stille ist es, so heilig still. Nur ein paar Meisen zirpen mit leisem Laut und klettern kopfüber, kopfunter an den Spitzen der zarten Nadelzweige. Was mögen sie sich zurufen und plaudern in ihrer immergrünen, duftenden Heimat, die gar viel herrlicher ist als alle Pracht und Wohnung der anspruchsvollen Menschen!

Da hebt ein Läuten an von ferner Glocke und schwingt sich durch den Glanz und Sonnenschein über die beschneiten Wipfel und weißen Felder, durch die blauen Schatten mit so vertrautem Klingen. Das Bergglöckchen vom Petriturme ruft. Jahrhundertelang rief es hinaus zu den Halden und Schächten, hinein in die Bergmannshäuser, kündete den Wechsel der Schicht, mahnte zur Arbeit und rief zum Feierabend.

Feierabend hat der Bergbau gemacht, aber das traute Klingen des Bergglöckchens ist geblieben und ruft uns heute hinein in die Stadt, in die alte Bergstadt voller Weihnachtsstimmung, Weihnachtsschimmer und Weihnachtstraumseligkeit. Was machen die alten Häuser ein so freundliches Gesicht. Die hohen steilen Ziegeldächer sind weiß verschneit. Auf allen Simsen und Kanten von Mauern, Fenstern und Ecken, auf allen Ästen der Bäume liegt der schimmernde Schnee. Wie zu silbernen Stickmustern verflochten ist das zierliche Gitterwerk der Zweige, als wollten sie in einem schimmernden Netz die Weihnachtsfreude der verzauberten Stadt fangen und halten. Lustig klingen die Schellen der Schlitten, welche von den Dörfern hereinkommen, um für den Heiligabend noch Gaben heimzubringen. Weißbereift sind die Mähnen und die langen Zottelhaare an Brust und Flanken der schnaubenden Gäule. Das war ein lustiges Fahren draußen auf der glatten Bahn, wo man weit über die verschneiten Felder [364] schaut oder durch den Wald gleitet mit lustigem Klingklang, wo so viele duftende, grüne Nadelbäume still und feierlich ihrem Weihnachten entgegenharren.

Nadelduft und grüne Weihnachtsherrlichkeit üben auch ihren Zauber hier in der Stadt. Auf dem alten Obermarkt stehen in Reihen und Gruppen die Weihnachtsbäume, die Fichten und Tannen. Ihre waldfrische Pracht, der kräftige Harzgeruch machen den Markt zu einer großen Weihnachtsstube, in der sich fröhlich große und kleine Kinder tummeln. Otto der Reiche auf seinem hohen Sockel hat einen Schneepelz auf die Schultern und über die Arme gelegt und über den Ritterhelm hat er gar eine weiße Pelzmütze gezogen. Er möchte wohl gar heute der Knecht Rupprecht sein in seiner alten, getreuen Bergstadt! Seine vier Löwen blinzeln recht gemütlich mit gravitätischem Humor unter ihrer weißen Schneekappe hervor und drängen sich mit eingeklemmten Schwänzen wie vier weiße, brave Pudel um die Säule ihres Herrn. Die Tatze, welche das Wappen hält, hat einen dicken, weißen Schneehandschuh und wird so freundlich hochgehoben, als wollten sie »Pfötchen« geben. Heute dürfen sie auch freundlich grinsen, denn es ist ja Weihnachten und die übermütigen Herrn Studenten sind fort, in die Ferien, und können heut’ nicht durch kecken, respektlosen »Löwenritt« um Mitternacht auf ihrem stolzen Rücken ihre königliche Ruhe stören.

Ringsum am Rande des Marktspiegels stehen die fröhlichen Weihnachtsbuden mit all den süßen Herrlichkeiten an Zuckerwerk, Marzipan, Schokolade, Makronen, Pfeffernüssen und Honigkuchen, welche Weihnachten erst zum rechten Fest der Kinder machen. Da leuchtet all der bunte Flimmer in Farben, Silber und Gold, in Kugeln und Fäden, in Ketten und Sternen und strahlendem Flitter, [365] der den Baum zum Märchenbaum seliger Kindheitsträume machen soll. Da ist all das liebe Spielzeug ausgebreitet, wie es droben im Gebirge gefertigt wird, vor dem die Kinder sich drängen und die Kinderherzen rascher schlagen im Wünschen und Wählen, vor dem die Kinderaugen heller leuchten. Da stehen die steifen gravitätischen Bergmänner, groß und klein in langen Reihen, die Räuchermännlein mit ihrem offenen Munde schauen so putzig in den Abend hinein, und die ganze Tierwelt, Soldaten und Hampelmänner warten darauf, unter dem Weihnachtsbaume vom Kinderjubel gepackt und mitgerissen zu werden.

Wenn dann die Dämmerung herniedersinkt, dann leuchtet es und strahlt es blitzend auf in den Buden, und jede wird für die Kinderherzen ein Märchenschloß, ein Feensaal, in dem alle Herrlichkeit und Wunschseligkeit schimmert und flimmert. Da schießen die blitzenden Strahlen der Wunderkerzen auf, zucken im blendenden Glanze weißer Glut, als wäre aus den unendlichen Tiefen der blauen Wundernacht Stern um Stern uns näher und näher gerückt. –

Da horch! Es erhebt sich ein wunderbar gewaltiges Dröhnen über unserem Haupte, mächtiger und mächtiger schwillt es an:

»Ein Rufen und Locken
in all dem Schwingen,
Summen und Klingen
dem Leiseverhallen
dem Wiedereinfallen,
dem Sinken und Steigen,
dem Schweben und Neigen
faßt meine Seele, trägt sie empor.«

Die Glocken haben ihren ehernen Mund aufgetan und läuten nun das Fest aller Feste, die heilige Weihnacht, ein. Das sind die Glocken der Hilliger, der berühmten Freiberger [366] Gießerfamilie, aus deren Gießhütte vorm Peterstore so herrliche Werke der Bronzeplastik, an Kanonen und Glocken hervorgingen. Seit Jahrhunderten hängen die Glocken auf den Türmen und singen ihr urewiges Lied mit mächtigen dröhnenden Akkorden über die alte Stadt hinweg, in die alten Gassen hinein und empor in den weiten Himmelsraum. Wievielen Herzen haben sie schon geklungen. Wieviel Leid und Trauer, wieviel Not, Glück und Sehnsucht, wieviel Fernweh, wieviel Heimweh haben sie auf ihren singenden Schwingen getragen!

»Es kommt auf weichen Wogen
mein Heimwehtag im Festgeläut
der Glocken hergezogen.«

Wie oft haben sie umsonst gerufen, und wie oft trugen sie mit ihrer singenden Seele empor den Aufschrei der Seele, der Gemeinde aus dem dunklen Grunde tiefster Gefühle.

Es ist etwas Besonderes, Ehrwürdiges, ans Herz Greifendes, wenn die Glocken von den Türmen dröhnen, die seit Jahrhunderten mit den Wolken und den Blitzen, mit den Stürmen und den Wettern Zwiesprache halten, deren Stimmen wir heute lauschen, wie die Urahnen ihnen die Herzen öffneten und ihnen ihre Herzensgedanken vertrauten, um sie hinauszurufen in Jubel und Freude, in Angst und Not, in Dank und Gebet. Dieselben Stimmen, die mit uns sprechen und für uns rufen, wie vor längst verschollener Zeit zu längst vergangenen Geschlechtern!

Wieviel Hände sind längst zu Staub zerfallen, die dort schon vor Jahrhunderten die Glockenstränge zogen, um des ehernen Mundes Singen und Rufen ins Leben tönen zu lassen!

Wieviel unruhige Herzen sind stille geworden, denen ihr Klang etwas Besonderes zu sagen hatte!

[367]

Ja, eine geheimnisvolle, unergründliche, tiefe Seele lebt in der alten Glocke, die mit dir reden will, sich offenbaren und dich emportragen will, aus der Enge der Gassen, aus dem Dunkel der Stuben und Häuser, vor allem aus der Enge und Beklommenheit deines Herzens und dem Dunkel deiner Seele, emportragen zum Licht und einer Fülle aller inneren Akkorde.

»Hebt meine Seele ins Abendrot
aus Erdendämmerung, aus Erdennot.«

Ist es nicht etwas Wunderbares um eine Glocke? Eine Glocke kennt nur einen Ton, ob der Sturm sie schüttelt oder der zarte Finger eines Kindes sie rührt, ob sie die glückliche Braut zum Altare geleitet oder die trauernde Witwe auf dem Gange zum Grabe, ob sie die Gemeinde zum Gottesdienst ladet oder das Sturmsignal bei Feuersbrünsten gibt: Nur einen Ton gibt die Glocke, aber Untertöne schwingen mit, und dein Herz klingt wider von ihren Tönen, und du weißt, was dieses Tönen sagen will und wie tausend Zungen daraus sprechen in Freud und Leid, in Sturm und Stille, im Leben und Sterben. Wenn die Glocken dröhnen, dann lausche, ob dein Herz mitschwingt, ob dein Herz auf den rechten Ton gestimmt ist. – – – –

Heute ist es ein ganz besonderes Klingen, das durch die gewaltigen Stimmen der Glocken schüttert und bebt. Die hohen Dächer und Giebel scheinen zu lauschen. Leise, leise fallen die Flocken wie zartes silbernes Spitzengeriesel! Der Wind scheint zu schweigen und stille, ganz stille zu ruhn, wie so von den Türmen die erhabenen Stimmen sich hinausschwingen und weit über die Mauern der Stadt, über Halden und schweigende Felder und die tiefverschneiten ruhenden Wälder rufen und künden mit unendlichem Wohlklang: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden [368] und den Menschen ein Wohlgefallen«, jene Kunde, deren selige Verheißung noch von keinem anderen Worte übertroffen worden ist.

Zur Christvesper rufen ja heute die Glocken. Durch die enge Kirchgasse mit den malerisch gestaffelten Dächern der alten kleinen Häuser, hinter denen die wuchtigen Massen des altersgrauen Domes um so gewaltiger in das Nachtdunkel emporwachsen, eilen vermummte Gestalten dem Eingange zu. Wie mächtige Wogen ehernen Klanges dröhnen die Stimmen der Glocken vom Turme dir entgegen, füllen die Gasse, überfluten die engen Wände der Häuser und strömen hinaus in die stille, heilige Wundernacht.

Aus dem Eingange zum Dom tönt weich und süß der Klang der Orgel, schimmert der Glanz ferner Weihnachtslichter vom Altar her aus dunkelgrünem Nadelgezweig. Heute hat es so manchen in das Gotteshaus gezogen, der sonst ein gar seltener Gast hier ist. Heute will er hier das wilde Hasten und Treiben da draußen ganz vergessen, will zur Kindheit sich zurücktasten und in das Herz aufnehmen einen Klang von dem »Friede auf Erden«. Dicht sind alle Reihen und Plätze besetzt. Wie ein stilles freudiges Warten liegt es über der Gemeinde. Heute sind mehr denn je die Herzen aufgetan, und wie die Alten in weicher Stimmung in das selige Kinderland der Erinnerung zurückschauen, so pochen die Herzen der Jungen, der Kinder zumal, kommenden seligen Stunden entgegen. Freudig und voll jauchzen die Akkorde der alten herrlichen Silbermannorgel, jubelt der Gesang der Gemeinde dazu: »Welt ging verloren, Christ ward geboren, freue dich, freue dich o Christenheit!« Ein Kinderchor auf der Empore über dem Altar gegenüber der Orgel singt die alte süße herrliche Weise »Es ist ein Ros’ entsprungen« mit der Innigkeit, wie nur Kinder vor [369] der Christbescheerung aus ihrem erwartungsvollen, wunderseligen Kinderherzen ausströmen können. Dann ist es, als ob der Engel der Verkündigung herniederstiege: »Vom Himmel hoch, da komm ich her« singt eine wunderholde Frauenstimme aus der Höhe und füllt mit ihren reinen, weichen, süßen Tönen die Halle des Domes und dringt in die Herzen der lauschenden Gemeinde. Die hohen stolzen Gewölbe öffnen sich, die Mauern sinken nieder, über uns wölbt sich der dunkelblaue Nachthimmel, an dem der Stern von Bethlehem strahlt. Wir sind die Hirten und schauen empor in diese Nacht der Wunder und Geheimnisse, aus der so unbegreiflich selige Verheißungen in lichten goldenen Klängen herniederströmen. Ganz leise singen die Stimmen der Orgel dazu, als tönten aus himmlischer Ferne die Harfen der Engel und als spielte der Nachtwind durch die flüsternden Halme des Feldes bei Bethlehem und durch die Kronen träumender Palmen. – Heimwehklänge nach einer unbekannten Heimat, nach einer versunkenen Stadt der Seele, deren Glockengeläute und Orgelsang der Sehnsucht geheimnisvoll aus fernen Tiefen deiner Seele ruft. Ergriffen lauschen wir den wunderbaren, uralten, heiligschönen und doch so kindlich reinen einfachen Worten der Weihnachtsgeschichte. Was die Gemeinde in dieser Stunde so am Herzen packt und über sich hinaushebt, hinausträgt über alle Unruhe draußen im Leben und drinnen im Herzen, das klingt dann empor in dem wundersamen »Stille Nacht, heilige Nacht!« Was in den vielen hundert Herzen hier lebendig geworden ist in dieser Stunde, erwachte und sich rührte an Lust und Leid, an Glaube und Liebe, an tiefer Andacht und Friedeverlangen, an Herzensnot und tiefer Seelensehnsucht, das drängt sich zusammen im Gesange dieses Liedes. Das tiefe Gefühl des Augenblicks, [370] welches die Gemeinde wie mit einem goldenen Reif zu inniger Andachtseinheit und Gemeinschaft zusammenschmiedet, gibt dem Gesange eine wunderbare heilige Fülle und Ausdruckstiefe, als ob tausend goldene Halme emporsprießen, zur vollen Garbe sich einen, deren schwere Ähren sich tief neigen in Demut vor dem Unbegreiflichen und doch so tief Ergreifenden!

»O daß mein Sinn ein Abgrund wär
und meine Seel’ ein weites Meer,
dies Wunder zu erfassen!«

Ja, versunken ist alles, was draußen so unruhig ist, und die stille heilige Nacht hat ihren Einzug gehalten. Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Es ist Weihnachten geworden! Wie die hohen Weihnachtsbäume neben dem Altare mit ihren Kerzen schimmern und flimmern, so leuchten nun in den Häusern die Bäume auf. Draußen fallen die Flocken weich und still vom dunklen Himmel hernieder, Flocke auf Flocke, eine weiche zarte Decke, die hüllt und deckt mit weißem Flaum, was dunkel und häßlich ist. So hüllen die Weihnachtsgedanken auch manches Dunkle in den Herzen ein. Es ist Weihnachten geworden auch in den Herzen. Es hallen die Glocken ihr Halleluja über die Dächer und in die Straßen:

»Süßer die Glocken nie klingen
als zu der Weihnachtszeit,
ist’s als ob Engelein singen
wieder von Frieden und Freud!«

»Fröhliche Weihnachten« rufen sich die Kirchgänger zu, auf deren Gesichtern noch ein Leuchten liegt vom Lichte aus Bethlehem, das in ihre Seele seine Strahlen geworfen. Und drinnen jubelt noch die Orgel mit jauchzenden Stimmen:

O du fröhliche, o du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit!

[371]

Literatur.

Andr. Molleri Pegavii.

Theatrum Freibergense Chronicum 1652.

Mitteilungen des Freiberger Altertumsvereins.

Neue sächsische Kirchengalerie. Ephorie Freiberg.

Daz hohe liet von der maget von Richard Freiherr von Mansberg.

Vollständiges Staats-, Post- und Zeitungs-Lexikon von Sachsen von August Schumann 1823.

Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen bearbeitet von Steche-Gurlitt.


Weitere Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Außer bei offensichtlichen Setzfehlern wurde die unterschiedliche Schreibweise von Personennamen beibehalten. Lange Reihen von Gedankenstrichen wurden verkürzt. Das Inhaltsverzeichnis wurde nach vorn verschoben.

Korrekturen:

S. 152: 1,72 → 1,72 m
Thomasglocke von 1,72 m Durchmesser