The Project Gutenberg eBook of Mein Roman »Das Totenschiff«

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Title : Mein Roman »Das Totenschiff«

Author : B. Traven

Release date : January 1, 2022 [eBook #67066]

Language : German

Original publication : Germany: Buechergilde Gutenberg

Credits : Jens Sadowski

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MEIN ROMAN »DAS TOTENSCHIFF«

VON B. TRAVEN (TAMAULIPAS, MEXIKO)

In: Die Büchergilde. Berlin, 1926, H. 3, S. 34-38.

Mein Wunsch war, eine gute und unterhaltsame Geschichte zu schreiben. Ich denke, daß die Geschichte darum gut und unterhaltsam ist, weil ich sie mir nicht aus den Hosennähten gezupft habe, weil sie nicht erdichtet ist.

Wenn man eine wahre Geschichte schreibt, kann man nicht lange über die Kunstform nachgrübeln. Man erzählt einfach, und man erzählt so, wie man es sah und wie man es empfand. Ein andrer Mensch würde dieselbe Geschichte ganz anders erzählen. Er würde Begebenheiten, die ich hervorheben und unterstreichen mußte, kaum wahrnehmen, vielleicht ganz fortlassen, während er Gespräche wiedergeben würde, die ich überhörte, weil ich sie für unwichtig ansah.

In diesem letzten Satze ist schon alles enthalten, was ich über mich selbst zu sagen habe. Wer sich um einen Posten als Nachtwächter oder als Laternenanzünder bewirbt, muß einen Lebenslauf schreiben und ihn innerhalb angemessener Frist einreichen. Von einem Arbeiter, der geistige Werte schafft, sollte man nie einen Lebenslauf verlangen. Es ist unhöflich. Man verführt ihn zum Lügen. Besonders dann, wenn er aus irgendwelchen Gründen glaubt, daß sein wahrer Lebenslauf eine Enttäuschung für die Menschen sein muß. Hier freilich treffe ich mich nicht selbst. Mein Lebenslauf würde nicht enttäuschen. Aber mein Lebenslauf ist meine Privatangelegenheit, die ich für mich behalten möchte. Nicht aus Egoismus. Vielmehr aus dem Wunsche heraus: In meiner eignen Sache mein eigner Richter zu sein.

Ich möchte es ganz deutlich sagen. Die Biographie eines schöpferischen Menschen ist ganz und gar unwichtig. Wenn der Mensch in seinen Werken nicht zu erkennen ist, dann ist entweder der Mensch nichts wert oder seine Werke sind nichts wert. Darum sollte der schöpferische Mensch keine andre Biographie haben als seine Werke. In seinen Werken setzt er seine Persönlichkeit und sein Leben der Kritik aus.

Das Totenschiff ist ein Schiff, das von Toten, von Gespenstern bemannt ist. Diese Toten atmen und arbeiten, sind aber dennoch tot. Tot, wie nur ein Mensch sein kann, der keine Verbindung mehr mit den Lebenden und mit der lebendigen Welt hat.

Auf dieser Seite des Atlantischen Ozeans, wo ich lebe, wird ja heute noch behauptet, daß der große Krieg für die Freiheit, für die Demokratie, für die Unabhängigkeit der Völker geführt wurde. Wie nach dem europäischen Freiheitskriege von 1813/15, so ist auch nach diesem großen Freiheitskriege die Freiheit des einzelnen Menschen zum Teufel gegangen. Das haben Freiheits-, Religions- und Revolutionskriege so an sich.

Vor diesem großen Kriege genügte ein leerer Briefumschlag mit darauf geschriebener Adresse und abgestempelter Briefmarke, um von Berlin nach Philadelphia, von Hamburg nach Borneo, von Brüssel nach Neuseeland zu fahren. Seitdem der große Freiheitskrieg gewonnen wurde, haben alle Länder chinesische Mauern errichtet, deren Tore ohne Paß, ohne Visa, ohne Geburtsurkunde, ohne polizeiliches Führungszeugnis, ohne Ehescheidungsdokument, ohne Heiratslizenz nicht passiert werden dürfen. (Neuerdings ist an einigen Grenzen der Übertritt erleichtert worden. Schriftleitung.)

Als aber diese Mauern errichtet wurden, als die Bureaukraten aller Länder gewichtige Männer wurden, denen beinahe mehr Macht eingeräumt wurde als die abgesetzten Könige gehabt haben, da blieben einige tausend Menschen draußen, außerhalb der Mauern. Sie konnten die Tore nicht passieren, weil das Papier wichtiger geworden war als der Mensch, die Geburtsurkunde einen höheren Wert bekam als die Tatsache, daß der Mensch lebte.

In einer Welt, wo der Bureaukrat mit seinen Registern und Anmeldeformularen den Lauf der Dinge bestimmt, hat der Mensch, der nicht anmeldefähig ist, kein Recht zu leben. Es wäre einfach, alle diese Menschen zu erschlagen, damit die »amtliche Abfertigung« sich in Ruhe und Ordnung vollziehen kann. Aber die Geburtsrate wird immer niedriger, und der Krieg hat auch seine Millionen von Menschen verschluckt, und deshalb kann man diese Sorgenkinder des Bureaukratismus nicht im Stillen Ozean ertränken.

Wie dankbar haben wir dem Kapitalismus zu sein, daß er sich dieses Menschenkehrichts annimmt! Er tut es nicht aus Barmherzigkeit. Er hat beim Erdöl und bei der Steinkohle gelernt, daß die Abfallprodukte einen höheren Profit abwerfen können als das Kernprodukt.

Diesen menschlichen Abfallprodukten, diesen Toten, diesen Gespenstern wird der Glaube gelassen, daß sie durchaus freiwillig in die Arena treten, um als die modernen Gladiatoren zu kämpfen. Daß sie nicht fühlen, wie sehr sie die bedauernswerten, unfreiwilligen Opfer eines schändlichen Systems sind. Daß sie überzeugt sind, sie seien »freie« Arbeiter, betrachte ich als ein Meisterstück des modernen Kapitalismus, der Krieg und Frieden, Abrüstungspläne und Völkerbünde, Revolutionen und Gegenrevolutionen, Bürgerkriege in China und organisierten Massenraubmord in Marokko und Syrien über die Menschheit verhängt, nicht nach Laune und Willkür, sondern um des nackten, blanken Profits willen.

Man denke ja nicht, in Deutschland, daß der amerikanische Arbeiter freier ist als der deutsche. Das bildet er sich nur ein. Infolge der etwas besseren Lebensweise, die er führt – glaubt, zu führen – ist er versklavter als der deutsche Arbeiter.

Es mag gehäuft erscheinen, daß in dem Roman zwei Begebenheiten erzählt werden, die beinahe gleich erscheinen. Ich meine die Vorgänge bei den amerikanischen Konsulaten. Aber ich möchte dadurch zeigen, daß der amerikanische Beamte im Lande und außerhalb des Landes an hirnlosem Bureaukratentum den typischen kaiserlich-deutschen oder königlich-preußischen Beamten noch zu übertreffen sucht. Der Konsul in Holland ist derselbe Bureaukrat wie der Konsul in Frankreich, wie der Konsul in Italien, wie fast jeder Beamte. Und der deutsche Konsul in England redet dieselbe Sprache wie der polnische Konsul in Hamburg. Die Beamten und die Bureaukraten sind eine internationale geheime Bruderschaft, die sich zur Aufgabe gemacht hat, den Menschen das Leben zu versauern. Ihre Fragen, Gesten, Ansichten, Ratschläge und Drohungen gehen allesamt nach demselben Code.

Ich hätte leicht einen Konsul auslassen können. Aber das hätte dann den Eindruck erweckt, als ob der erwähnte Konsul eine Ausnahme sei. Unter diesen Beamten, welcher Nation sie auch angehören, gibt es keine Ausnahmen, weil sie sich pedantisch an ihre Vorschriften gebunden fühlen und ihren Staat nach dem Buchstaben vertreten. Dabei kommt die Menschlichkeit überall zu kurz. Das wollte ich betonen.

Ich bin darauf aufmerksam gemacht worden, daß der Schluß zu unvermittelt komme und daß den Durchschnittsleser die Frage peinigen werde, was aus dem Erzähler wird, der gefesselt auf dem Wasser weitertreibt.

Es wird mir schwer werden, das genügend zu beantworten. Hätte ich diesen Roman geschrieben mit der Absicht, ihn dem üblichen Lesepublikum vorzulegen, so wäre die Arbeit im ersten Kapitel schon anders gewesen. Aber ich zähle die Mitglieder der Büchergilde nicht zu den Durchschnittslesern, sondern zu jenen Lesern, die nach dem Lesen eines Buches noch die geistige Spannkraft haben, selbst nachzudenken, und die dann noch genügend eigne Phantasie besitzen, um sich einen »endgültigen Schluß« – vorausgesetzt, daß sie einen wünschen – selbst auszudenken. Ich glaube nicht, daß die Romane die besten sind, die den Leser völlig ausgepumpt zurücklassen, die ihm nichts mehr zum Denken übriglassen.

Ich muß auch gestehen, daß ich ganz ernsthaft nicht erklären kann, warum ich den Schluß gerade so und nicht anders gewählt habe. Nach meinem Gefühl war ein andrer Schluß nicht zulässig. Hätte ich den Schluß geändert, so würde ich einen Verrat an meinem Gefühl verübt haben. Ich glaube, wer einen andern Schluß schreiben kann, ist nie ein einsamer Schiffbrüchiger gewesen, dem soeben der letzte Kamerad abgespült worden ist. Aber selbst dann, wenn ich nicht mein Gefühl sprechen ließe, sondern meinen klaren, nüchternen Verstand, ich könnte auch dann den Schluß nicht ändern. Ich könnte ihm vielleicht nur die eine Note nehmen, die einen religiös-sentimentalen Beigeschmack auslösen kann. Aber diese religiöse Sentimentalität ist echt. Die Männer sind in dieser religiösen Sentimentalität erzogen worden. Und wenn auch alle Sentimentalität in den Jahren der Arbeit verschwunden war, in diesem letzten Augenblick flackert sie auf. Sie ist aber nicht stark genug, um die letzten Sekunden so auszufüllen, wie es der fromme Gläubige gern sehen möchte. Hier vermischt sich die aufflackernde religiöse Sentimentalität mit der Sehnsucht nach einem »treuen« Schiff, nach einem guten freundlichen Kapitän, nach der Sauberkeit und Ruhe, die der Seemann aus tiefster Seele wünscht, wenn er auf einem »gottverfluchten Rattenkasten« ist.

Der Roman »Das Totenschiff« ist mit diesem Schluß wirklich zu Ende. Das Totenschiff mit seiner Brutalität und Härte ist ausgelöscht. Die Überlebenden sind in einen Zustand geraten, in dem sie nicht mehr die Brutalität des Totenschiffes sehen, sondern nur noch den schäbigen Kaffee, das elende Essen, das den Arbeitern auf dem Totenschiff serviert wurde. Aber sie sehen in ihrer Lage jetzt jenen Fraß, den selbst die Ratten nicht anrühren würden, als herrlichste Göttermahlzeit an. Ein solcher Wechsel in der Meinung ist nur denkbar, wenn der Tod bereits überwunden ist. Das Totenschiff erscheint noch einmal in all seinem Glanze als die Vision eines Fiebernden und Verdurstenden. Was nun aus dem Erzählenden wird, ob er zugrunde geht oder auf irgendeine Weise am Leben bleibt, hat mit dem Totenschiff nichts mehr zu tun. (Wer erzählt, lebt wohl auch.) Die nächste Zeile wäre der Anfang eines neuen Romans.

Anmerkungen zur Transkription

Quelle: Die Büchergilde. Berlin, 1926, H. 3, S. 34-38.

Die ursprüngliche Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden beibehalten.