The Project Gutenberg eBook of Der Bürger

This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org . If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.

Title : Der Bürger

Author : Leonhard Frank

Release date : January 14, 2022 [eBook #67161]

Language : German

Original publication : Germany: Malik

Credits : Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER BÜRGER ***

LEONHARD FRANK / DER BÜRGER

LEONHARD FRANK

DER BÜRGER

ROMAN

1.-44. TAUSEND

DER MALIK-VERLAG / BERLIN

DER BÜRGERLICHEN JUGEND GEWIDMET

I

Endlich beschloß der Gymnasiast Jürgen Kolbenreiher: ‚Wenn noch ein Auto kommt, bevor die Turmuhr fünf schlägt, geh ich hinein und kaufe die Broschüre ... Ehrenwort?‘

„Ehrenwort!“ sagte er heftig zu sich selbst und las wieder den Titel der philosophischen Abhandlung. Seine Hand, die das Geld hielt, war naß. Der Blick zuckte fortwährend von der Broschüre zum Ziffernblatt. Der Zeiger stand knapp vor fünf.

Da sauste das Auto um die Ecke, am Buchladen vorbei und war weg. Die Uhr hatte noch nicht geschlagen. Jürgen wollte eintreten.

Und nahm seinen Schritt zögernd wieder zurück. ‚Was wird mein Vater sagen, wenn ich sie kaufe? ... Und was würde er sagen, wenn er wüßte, daß ich sie kaufen will und dazu den Mut nicht habe? ... Oder würde er verächtlich lächeln, wenn ich jetzt kurz entschlossen in den Laden ginge?‘

Die Finger vor dem Leibe ineinander verkrampft, kämpfte er weiter, las den Titel, sah, wie der große Zeiger einen letzten Sprung machte. Und fühlte, während er sich „Feigling! Elender Feigling!“ schimpfte, daß sein Wille hinter der Stirn zu Nebel wurde. Das Phantom des Vaters stand neben ihm.

Das Werk rasselte und schlug. Der Nebel verschwand. Und Jürgen dachte: Ich kann auch jetzt noch hinein. Aber sofort! ... Hat der Buchhändler eben gelächelt? Über mich?

Der stand im Türrahmen und blickte gelangweilt über die gepflegte, sonndurchwirkte Anlage weg, in der die kreisenden Rasenspritzen Regenbogen schlugen.

‚Solange er unter der Tür steht, kann ich ja nicht hinein.‘

Der Buchhändler gähnte, trat gähnend in seinen Laden zurück.

‚Jetzt! ... Wenn ich den Mut jetzt nicht aufbringe, wird das Leben auch in Zukunft mit mir machen, was es will. Das ist klar.‘

Da erschien bei der Kirche ein Mitschüler Jürgens, Karl Lenz, Sohn eines Universitätsprofessors. Jetzt natürlich kann ich nicht hinein, dachte Jürgen und ging mit Karl Lenz in die Anlage, sah abwesend eine Bonne an. Die gestärkten Röcke strotzten, und der elegante Kinderwagen federte von selbst auf dem gewalzten Sandwege am Tulpenrondell vorüber.

Knapp hinter dem Kinderwagen ritt, das frischbackige Gesicht stolz erhoben, in verhaltenem Trabe ein kleines Mädchen im Knieröckchen so feurig auf dem Steckenpferde, daß die langen, schön gewölbten, nackten Schenkel sichtbar wurden. Die Gruppe machte sofort Halt, als der im Wagen strampelnde Säugling die Hand nach dem zu hoch hängenden Hampelmann ausstreckte.

Das Mädchen ritt, die Locken schüttelnd, in gezähmter Pferdeungeduld feurig an der Stelle weiter und sah, Brust vorgestreckt, über den abgerissenen, abgezehrten, blutleeren Proletarierjungen weg, der sich aus der Fabrikgegend in die Sonne verirrt hatte und, das Drama der Armut im Blick, offenen Mundes den Reichtum bestaunte.

Jürgen konnte die Augen nicht abwenden von dem Jungen, der seine Augen von dem glänzenden Mädchen erst losriß, als er sich beobachtet fühlte. Dunkel fragend sah er empor zu Jürgen, der, plötzlich breit durchzogen von einem bisher nie empfundenen Gefühle, zu Karl Lenz sagte: „Man muß Empörer werden.“

„Warum Empörer? Wegen dieses Ferkels?“

Der Junge blickte seine schwarzen, skrofulösen Beine an, beschämt empor zu Jürgen, in dem, unter dem Grinsen des Mitschülers, das Eigene wieder versank. Verwirrt ging er, während Karl Lenz in den Konditorladen eintrat, heimwärts, geduckt die teppichbelegte Treppe hinauf.

Es war drückend still im Hause. Unbeweglich saß Jürgen in seinem Zimmer vor dem blauen Schulheft und grübelte darüber nach, ob es einen Gott gäbe.

Plötzlich hingen in der Dämmerung die hellen Gesichter der Schulkameraden, grinsten höhnisch. Und die Tante sagt: ‚Nein, so einen unselbständigen Jungen, wie du einer bist, gibt’s nicht mehr. Ein Unglück für deinen Vater!‘

Preisgegeben ließ er sich von den Gespenstern der Verachtung weiter quälen, stellte ihnen entgegen: ‚Ich habe doch gestern zum Professor gesagt: Abraham, der seinen Sohn schlachten wollte, kann unmöglich ein guter Mensch gewesen sein. Ein furchtbarer Vater! Meiner Ansicht nach dürfte Gott so einen Befehl auch gar nicht geben.‘

Fragt die Tante sehr erstaunt: ‚Was, das hast du gewagt?‘

Und Jürgen läßt sich sofort vom Professor, der geantwortet hatte: ‚Wie kommen Sie zu dieser unerlaubten, sträflichen Ansicht?‘, bei der Tante in Schutz nehmen: ‚Ihr Neffe hat öfters solche erstaunlich selbständigen Ansichten.‘

Sagt die Tante erfreut zum Vater: ‚Da ist er ja gar keine Schande für die Familie.‘

Und der Vater sagt: ‚Entschuldige, daß ich dich ein ‚Schmähliches Etwas‘ genannt habe ... Wie konnte ich dich nur so verächtlich und gleichgültig behandeln. Unbegreiflich!‘ Jürgen lächelte bescheiden.

Die Tür des nebenan liegenden Bibliothekzimmers wurde nach dem Gange zu geöffnet. Und Jürgen hörte, wie der Vater, der krank im Lehnsessel saß, zu Herrn Philippi, einem alten Freunde des Hauses, sagte: „Ich werde ihn in den Staatsdienst stecken. Ein kleiner, verschrullter Amtsrichter oder so etwas Ähnliches! Er taugt zu nichts anderem. Tölpelhaft, unvernünftig und lebensuntüchtig ist er.“

Jürgen drehte, als stünde er vor dem Vater, Kopf und Schultern gedemütigt seitwärts und hob die Brauen, daß die Stirn Falten bekam.

„Niemand kennt die Möglichkeiten, die in einem so jungen Menschen liegen. Niemand kennt das Maß einer unfertigen Seele“, sagte Herr Philippi. Die Brillengläser in seinem vertrockneten Geiergesicht funkelten. ‚Auch die Seele deiner Frau hast du so lange mit dem Lineal gemessen, bis dieses leidensfähige Gemüt einging wie ein krankes Vögelchen‘, dachte er und sagte es nicht.

Auf dem Gange fing die Tante Herrn Philippi ab. „Wie gehts ihm? Wie ist mein Bruder?“

„Unvernünftig, meine Liebe!“ Herr Philippi wollte fortstelzen.

Sie erwischte ihn noch am Ärmel. „Daß dieser bedeutende Mann so einen Sohn haben muß! Wir schämen uns seiner ... Heute sagte der Vater zu ihm: Du kommst in ein Bureau. Das ist das beste für dich ... Und das ist auch meine Meinung.“

Zornig blickte Herr Philippi in die harten Augen des alten Mädchens, betrachtete, als zähle er sie, schweigend die mit der Brennschere sorgfältig gedrehten, an Stirn und Schläfen platt angedrückten, schwarzen zwölf Fragezeichen. „Dann erziehen wohl Sie ihn, falls Ihr Bruder sterben sollte? ... Kann ich mit Jürgen sprechen?“

„Ja, ich erziehe ihn. Er schreibt gerade seinen deutschen Aufsatz: ‚Die Bedeutung der Tinte im Dienste des Kaufmanns‘. Sprechen können Sie ihn jetzt nicht. Der Stundenplan muß streng eingehalten werden.“

Die Tante stellte sich zu einer langen Erzählung zurecht. „Hören Sie! Jürgen war schon als ganz kleiner Junge so ängstlich, daß er nicht einmal zu sprechen wagte. Wir alle glaubten, er sei stumm geboren. Eines Tages – er war vier Jahre, es war auf dem Geflügelmarkt – sagte er plötzlich: ‚Hühnchen‘. Das war sein erstes Wort. Nicht etwa ‚Papa‘, wie bei andern Kindern. Bewahre! ‚Hühnchen‘ sagte er und lockte: ‚Bi bi bi bi‘, so mit Zeigefinger und Daumen ... Sollte man das für möglich halten? Diese Unselbständigkeit! ... Er ist ganz seiner Mutter nachgeschlagen. Auch sie war so lebensuntüchtig. Hatte Angst vor Mäusen – ich habe ja auch schreckliche Angst vor Mäusen –; aber als einmal eine Maus gefangen worden war, weinte seine Mutter stundenlang, weil die Maus ertränkt wurde.“

Sie sah erwartungsvoll zu ihm auf, weil er sie am gehäkelten Spitzenkragen gepackt hielt und noch immer nicht sprach. Da schüttelte er sie kräftig und sagte: „Bi bi bi bi! Adieu!“

Abweisend blickte sie ihm nach, horchte dann einige Minuten strengen Gesichtes an Jürgens Tür. Der saß glühend am Tisch und schrieb, da er anderes Papier nicht gleich gefunden hatte, in das Schulheft eine lange Abhandlung mit vielen Beweisen, daß es einen Gott nicht geben könne. ‚Folglich bin ich Atheist.‘ Dann erst quälte er sich den deutschen Aufsatz ab.

Und übergab das Heft am Montag dem Professor, der die Beweise für das Nichtexistieren Gottes fand und sie dem Religionslehrer schickte.

Das Ereignis wurde zu einer Professorenkonferenz und hatte nur deshalb keine schlimmen Folgen für Jürgen, weil die Tante plötzlich an der Stirnseite des Konferenztisches stand und die Lehrerrunde sprengte: „Herrn Kolbenreiher hat soeben der Schlag getroffen ... Mein Bruder war ein bedeutender Mann.“ Ihre Hand wanderte, wurde mitleidig geschüttelt.

„Aber mit seinem Sohne müssen die Herren viel Geduld haben ... Mit viel Geduld und Strenge gehts vielleicht.“

Daran solle es nicht fehlen. Vom Rektor wurde sie hinausgeleitet. „Jürgens schwankende Seele ... Seine Unsicherheit“, vernahmen die Zurückbleibenden.

„Folglich bin ich Atheist.“ Der Religionslehrer riß die Augen auf. „Bin ich Atheist, schreibt der Junge. Und gestern diese Geschichte mit Abraham!“

Der Geschichtsprofessor beruhigte ihn: „Das Leben wird dem Burschen diese Gedanken schon abschleifen ... Gut und schnell auffassen tut er ja.“

„Bei mir nicht“, sagte der Mathematikprofessor und hielt die Hand erhoben. Sie rügten noch seine außerordentliche Faulheit und schlossen die Konferenz.

Der Rektor schüttelte schweigend die Hand der Tante. Furchtsam und unbeachtet stand Jürgen daneben. Und ging dann, vor Schuldgefühl vornüberhängend, mit der aufrechten Tante nachhause, wo Weihrauchwolken standen.

Gegen Abend zog sie den willenlos Folgenden ins Sterbezimmer, in dem der Vater, bekränzt und kerzenumstanden, schon auf der Bahre lag, schlug das Kreuz und benutzte den Endschwung gleich dazu, auf des Toten Gesicht zu deuten: „An dir hat er keine Freude gehabt. Das kannst du jetzt in deinem ganzen Leben nicht mehr gut machen ... Bete! Drei Vaterunser! Und dann komm und iß.“

Das Gewicht des Hauses legte sich auf den gekrümmten Rücken. Die still brennenden Kerzen beleuchteten des Vaters Gesicht, das in Unzufriedenheit erstarrt war, als habe ihn auch der Tod enttäuscht.

Lange kämpfte Jürgen mit sich; endlich versuchte er, das wächserne Gesicht im Blick, die gefalteten, toten Hände zu berühren. Und wich zurück, als er das bekannte Lächeln der Verachtung zu sehen glaubte.

Ganz langsam kniete er nieder, die befohlenen drei Vaterunser zu beten. Kein Wort fiel ihm ein. Seine flehende Hand wollte die äußerste Spitze des Leintuches berühren. Und sank kraftlos zurück.

Der Tote lag unberührbar, in ungeheuerer Macht.

Da drehte sich ein Stachelrad brennend schmerzhaft in Jürgens Kopf und schleuderte die Worte ab: ‚Na, du schmähliches Etwas!‘

„Na, du schmähliches Etwas!“ wiederholte Jürgen verächtlich und wandte, irr blickend, Kopf und Schultern gedemütigt weg, weil er glaubte, nicht er, sondern der Tote habe gesagt: Na, du schmähliches Etwas!

Die Macht des Toten vor sich, die Macht der Tante hinter sich, kniete er ausgeliefert und verloren, schief und tränenlos im Zimmer.

„Jetzt bist du eine Doppelwaise“, sagte die Tante, ergriff seine Hand und führte ihn hinaus.

Jürgen versuchte gar nicht mehr, Übersicht über seine Gefühle zu gewinnen. In die Träume schickte die vergewaltigte Seele drohende Ungeheuer. Der Vater stand immer daneben.

Und wenn ihn der qualenerfüllte Schlaf entließ, empfing ihn die Tante, schüttelte verächtlich den Kopf und gab ihm Briefe mit an die Professoren, in denen sie für Jürgen, der leider nicht seinem bedeutenden Vater nachgeschlagen sei, um Nachsicht bat.

In der schon gewohnheitsmäßigen Erwartung, wieder gedemütigt zu werden, drehte Jürgen Kopf und Schultern weg, als im Zimmer plötzlich Herr Philippi stand. „... Da fällt mir ein: Sie glauben vermutlich immer noch, Ihr Vater habe nicht viel von Ihnen gehalten? Selbst wenn es so wäre, dürften Sie ihm das weiter nicht nachtragen. Er war ein alter, kranker Mann, der den Glauben an das Gute eingebüßt hatte. So einer ist leicht blind und ungerecht.“

Als habe der Vater gesprochen, war der Knabenkopf immer tiefer gesunken.

Der Vater ist tot ... Seine Autorität lebt, dachte Herr Philippi. Und log: „Ich habe Ihnen etwas von Ihrem Vater auszurichten. Kurz vor seinem Tode war ich bei ihm. Er saß im Sessel, Sie wissen ja, saß wie immer im Sessel und blickte zum Fenster hinaus auf einen vorüberfliegenden Vogelschwarm ... Es waren Stare“, dichtete Herr Philippi. „Plötzlich sagte Ihr Vater nachdenklich: ‚Meinem Jürgen habe ich zeitlebens furchtbar unrecht getan. Warum eigentlich? Das ist mir ein Rätsel.‘ ... Er wußte es nämlich tatsächlich selbst nicht ... ‚Denn ich bin mir ja in Wirklichkeit ganz klar darüber, daß Jürgen ein‘, wie sagte er doch, ‚ein ausgezeichneter und sogar sehr kluger Junge ist ... Das muß man ihm bei Gelegenheit einmal sagen‘.“

Es gelang Herrn Philippi, wie ein Knabe zu lächeln, als er auch die Autorität der Tante zu erschlagen versuchte: „Und dieses alte Mädchen, Ihre Tante! Aus der brauchen Sie sich natürlich gar nichts zu machen. So eine vertrocknete Schachtel ist ja ganz ahnungslos! Das ist übrigens die volle Wahrheit ... Besuchen Sie mich einmal.“

‚Diese Bürgeraristokratie sagt sich: Wir lassen unsere Kinder nicht hungern, nicht arbeiten; wir asphaltieren ihnen mit Körperpflege, reichlichem Essen, höherem Unterricht und Geld, mit viel Geld eine breite, glatte Straße ins Leben ... Die psychischen Ungeheuer, die sie in die Seelen stoßen, zählen nicht. Da fallen die allerhand Autoritäten über so einen Jungen her, nehmen ihm, auch wenn er beim Spiel mit Sand mehr Phantasie und Geist offenbart, als sie in ihrem ganzen Leben, seine Selbständigkeit und wundern sich dann über seine Unselbständigkeit‘, dachte der Alte auf der Straße, während Jürgen vor der Tante stand.

Sie blickte beim Sprechen hinaus in den Garten, steil aufgerichtet. „Ich habe alles gehört. Du hast keine Zeit, Herrn Philippi zu besuchen. Deine Schularbeiten sind wichtiger. In meinen Händen liegt deine Erziehung.“

Ein Automat sagte: „So eine vertrocknete Schachtel! Du bist ja vollkommen ahnungslos ... Das ist übrigens die volle Wahrheit.“

Die Tante schnellte entsetzt herum. Auch Jürgens Mund blieb in übergroßem Schrecken geöffnet. „Was hast du gesagt? Wiederhole, was du eben gesagt hast!“

„Das habe doch ich nicht gesagt.“ Sein Tonfall der Überzeugung riß der Tante die Empörung ins Gesicht. „Du leugnest, was ich mit meinen Ohren gehört habe?“

Jürgen, überzeugt, diese Worte nicht gesprochen zu haben, bekam irrblickende Augen.

„Das werde ich morgen dem Herrn Rektor schriftlich mitteilen. Du übergibst ihm den Brief. Und jetzt ... Pfui!“

Erst nachdem die Tante schon draußen war, fühlte Jürgen ein paar Tropfen auf seinem Gesichte kalt werden und wußte, daß sie ihn angespuckt hatte.

Hitze und Kälte wechselten einigemal schnell in seinem Körper. Er trat ans Fenster, starrte in den Garten. Die farbigen, kopfgroßen Glaskugeln steckten still und öde auf den grünen Stangen. Aus dem Nachbargarten klangen Sonntagnachmittagsgeräusche herüber. Abgerissene Worte. Jemand spielte Ziehharmonika.

Ein wilder Schrei saß Jürgen im Halse. Er hob die linke Schulter, die rechte, rhythmisch die Beine. Die Bewegungen wurden zu einem gedrückten Tanz.

Am Montagmorgen schlich er, eine Stunde früher als gewöhnlich, ohne Brief geduckt aus dem Hause, begann plötzlich zu laufen, rannte, galoppierte weit aus der Stadt hinaus, quer über Schollenäcker, hügelan und -ab, bis vor das schwarze Tunnelloch im Berg und glotzte blöd hinein, kehrte um und kam, verschwitzt und keuchend, noch rechtzeitig im Schulzimmer an, wo der Professor eben mit dem steilgestellten Bleistift auf das Katheder klopfte.

Die Blicke der sechzig Augenpaare trafen beim Bleistift zusammen, der in dieser Stellung immer etwas Außergewöhnliches bedeutete. Der Professor zog die Stille hinaus. Jeder lauerte: ‚Wen trifft es?‘ Jürgen hatte das Gefühl, sein Herz sei so rund und so groß wie ein schwarzer Mond und schlage nicht mehr.

„Leo Seidel! ... Sie wissen, daß Ihr Vater Sie leider aus dem Gymnasium herausnehmen muß. Umstände halber! ... Euer bisheriger Schulkamerad verläßt euch heute. Er muß verdienen ... Leo Seidel, Armut ist keine Schande.“

Der Sohn des Briefträgers blickte beschämt ins Tintenfaß.

„Auch ein Hausdiener kann sich heraufarbeiten ... In Amerika, zum Beispiel, soll das öfter vorkommen“, sagte der Professor und lächelte. „Diesen Vormittag bleiben Sie noch in unserer Mitte“, zeigte er, mit einer Handbewegung über die ganze Klasse weg. Und deutete mit dem Daumen zur Tür: „Dann treten Sie in Ihren neuen Pflichtenkreis ein.“

Kreisende Rasenspritzen. Sonne. Hinter dem eleganten Kinderwagen reitet das Mädchen auf dem Steckenpferd in gezähmter Pferdeungeduld durch das Klassenzimmer. Offenen Mundes starrte Jürgen den abgezehrten Proletarierjungen an.

„Wollen Sie etwas sagen, Kolbenreiher? ... Nun? Heraus damit!“

Die übergroße Erregung fraß Jürgens ganze Kraft auf. Seine gelähmten Lippen stammelten: „Ich wollte nichts sagen.“

„Karl Lenz! ... Sie haben vorhin mit Adolf Sinsheimer Fingerhakeln geübt; erklären Sie uns jetzt den Flaschenzug.“ Auf dem Katheder stand ein kleines Modell. „Nichts? ... Setzen Sie sich. Und lassen Sie sichs von Leo Seidel erklären.“

Während hinten das Duell der Fingerhakelnden ausgetragen wurde und der Professor mit den kleinen Bleigewichten des Modells spielte, erklärte die einsame Stimme Leo Seidels das Gesetz des Flaschenzuges.

Jürgen litt unter der Feigheit, seine Meinung nicht geäußert zu haben, brüllte in Gedanken: ‚Nur weil Seidels Vater arm ist? Das ist gemein. Gemein! ... Alles ist gemein.‘ Glotzte besinnungslos den Professor an, bis der ihm zurief: „Kolbenreiher, wo werden Flaschenzüge gebraucht?“

„Flaschenzüge?“

„Aber gewiß, Flaschenzüge! Nun? ... Leo Seidel, sagen Sie es ihm.“

„Zum Beispiel am Neubau. Da kann ein einzelner Arbeiter mit einem Flaschenzuge ...“

„Mit Hilfe!“

„... mit Hilfe eines Flaschenzuges Lasten in die Höhe winden, die zehnmal so schwer sind wie der Arbeiter. Infolge der Übersetzung!“

‚Infolge der Übersetzung‘, sollte Jürgen wiederholen, hatte aber ‚Überrumplung‘ gesagt.

Die ganze Klasse durfte lachen. Lachte noch auf dem Heimwege, wo alle sich von Leo Seidel, der vielleicht schon morgen einen Handwagen durch die Stadt schieben mußte, abgesondert hielten.

Auch Jürgen, gelähmt, wagte nicht, ihn zu begleiten. Nur in Gedanken trat er mit kühner Ritterlichkeit zu ihm. ‚Ich fürchte die Meinung der andern nicht.‘ Ließ sich von Seidel verehren.

Beim Mittagessen beachtete ihn die gefährlich schweigende Tante nicht. Schickte das Dienstmädchen, mit dem Befehl, Jürgen habe den Brief am nächsten Morgen dem Herrn Professor zu übergeben.

Erst nachmittags konnte Jürgen so viel Entschlußkraft finden, Seidel zu besuchen. In der Kellerstube stand der Armeleutegeruch, der das Vorhaben des schwindsüchtigen Briefträgers, den Sohn studieren zu lassen, als schwer ausführbar erscheinen ließ. Seidel saß still am Fenster und sah hinaus in den stinkenden Hof. Qual und Scham drehten Seidels Kopf und Schultern zur Seite, so daß er plötzlich Jürgen glich, der sich im selben Moment zum erstenmal in seinem Leben frei fühlte.

Er reichte Seidel eine in Leder gebundene Weltgeschichte, konnte scherzen: „In der biblischen Geschichte steht zwar: Gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und ... Aber nicht deshalb gebe ich dir das Buch. Denn ich glaube ja gar nicht an Gott.“

Die fahle Mutter lag im Bett. Der Säugling, wegen dessen unerwünschter Ankunft der Vater den Sohn aus dem Gymnasium hatte nehmen müssen, begann zu schreien. Die Bettlade knackte. Vier Kinder, in verschiedenen Größen, bleich und blutleer, standen reglos da, mit großen Augen.

„Hast eine schöne Weltgeschichte. Zum Andenken an mich. Hast eine Freude ... mit hundertsiebenunddreißig Illustrationen.“

Ohne den Blick zu erheben, sagte Seidel, daß er voraussichtlich bald der Klassenfünfte geworden wäre.

Und Jürgen rief: „Also deshalb, weil dein Vater kein Geld hat, mußt du Hausdiener werden, anstatt vielleicht ... Minister. Das ist ja! Alles was recht ist!“

„Mein Gott, was redet ihr Buben!“ Die Wöchnerin spuckte in den Napf. „Was ihr redet!“

Jürgen redete sich in Zorn hinein: „Absolut! Das ist maßlos ungerecht. Gemein ist das. Einfach hundsgemein! Wahrhaftig, das sage ich jedem, ders hören will.“ Auch Seidel hatte rotgefleckte Wangen bekommen.

Die Mutter beruhigte den Säugling. Und zu den Knaben: „Mein Gott, das sind ja lauter Dummheiten.“

„Nehmen wir an“, sagte Herr Philippi, „es sei schon von vornherein eine Dummheit gewesen von dem schwindsüchtigen Briefträger mit der großen Familie, seinen Sohn ins Gymnasium zu schicken.“

„Wenn Leo Seidel doch gescheit ist! ... Postdirektor werden kann! Wer kanns wissen?“

„Ganz recht, wer kanns wissen. Mancher Dummkopf wird Professor; manch kluger Kopf muß sich eine Kugel in den Kopf schießen. So ist das heutzutage. Und so wird es auch noch einige Zeit bleiben. Man muß sich schon überlegen, ob man Hoffnungen wecken soll, denen von vornherein die Armut schwer im Wege liegt ... Da eröffnen sich verschiedenerlei wüste Perspektiven.“

„Ich würde Seidel aber doch helfen, wenn ich Sie wäre. Sie sind reich.“

Alt lächelnd Herr Philippi: „Und ich, ich habe nicht den Mut dazu.“ Und schwankend zwischen Abweisung und Güte: „Du gehst jetzt nachhause, verstehst du, nachhause, und hältst alles aus. Verschwinde!“

Die Tante ging selbst zum Briefträger, holte die Weltgeschichte zurück. Und einen Tag später stand die ganze Begebenheit auf den Gesichtern der Mitschüler.

Die Lücke, die Seidel hinterlassen hatte, war durch Vorrücken ausgefüllt worden.

„Jetzt trägt er Backsteine an einem Neubau.“ Karl Lenz machte das Backsteintragen vor, krümmte den Rücken, ächzte.

„Und so las er Roßballen auf.“ Adolf Sinsheimer, Sohn eines reichen Knopffabrikanten, tat, als habe er einen Besen in der Hand, und log: „Ich sah, wie Seidel die Straße kehrte ... Die frischen Roßballen kehrte er zusammen.“

Vorsichtig und ängstlich näherte Jürgen sich dem Gelächter, stimmte ein, ohne zu wissen, weshalb die andern lachten.

„Braucht Seidel zum Sammeln der Roßballen eine Weltgeschichte?“ Alle sahen Jürgen erwartungsvoll an, hielten das Lachen noch zurück.

Da erlachte Jürgen sich die Achtung seiner Mitschüler: „Zum Roßballensammeln braucht man, weiß Gott, keine Weltgeschichte.“

Sie waren zufrieden, nahmen ihn auf. Jürgen sagte noch: „Zuhause bei ihm ...“ Er hielt sich die Nase zu. „Und jetzt dazu noch Roßballen!“ Alle hielten sich die Nase zu.

Plötzlich wich aller Druck von ihm, bei dem Gefühle, nicht mehr allein zu stehen. Und Jürgen nahm sich vor, von nun an immer und in allem so zu sein, wie die andern. Das würde das Leben leicht machen.

Am nächsten Morgen saß Leo Seidel wieder an seinem Platze, in einem neuen Anzug, das Gesicht verschlossen.

‚Warum, warum habe ich das getan!‘ Jürgens Körper bewegte sich selbsttätig nachhause, ins Wohnzimmer.

„Erst lies mir aus der Zeitung vor! Dann gehst du an deine Schularbeiten.“ Die Tante stickte weiter am Stramintischläufer ‚An Gottes Segen ist alles gelegen‘. Mit dem Schnabel hielt diese von Rosengirlanden durchzogene Wortkette ein Papagei, der noch unfertig in der Mitte saß.

Der Satz – im Reichstag sei wieder ein Antrag zur Einführung einer hohen Vermögenssteuer gestellt worden – kam automatisch aus Jürgens Mund. ‚Ich allein habe zu Seidel gehalten, habe mit Herrn Philippi gesprochen. Jetzt darf er das Gymnasium weiter besuchen. Ich! Ich habe das veranlaßt. Hilfe! Ich!‘

‚Jawohl, Jürgen ist der Beste von euch allen. Hat zu mir gehalten. Der hat Mut. Hat mich gerettet. Ihr habt mich verraten.‘

‚Und ich? ... Ich auch!‘ Jürgen sah die Tante irr an. „Wie schrecklich!“

„Das ist ja einstweilen nur ein Antrag. Lies weiter! Zuerst die Todesanzeigen!“

„Man muß gut sein ... So lange gut sein, bis man etwas Schlechtes gar nicht mehr zu tun vermag.“

„Merke dir das“, sagte die Tante und zog dem Papagei einen grünen Faden durch das Auge. „Alle Todesanzeigen!“

„Gott, dem Allmächtigen, hat es gefallen ...“ ‚Weshalb hat Herr Philippi mir nicht gesagt, daß er Seidel helfen werde. Dann wäre ich vielleicht nicht so furchtbar gemein gewesen ... Jetzt ist alles verloren.‘

Jürgen bemerkte nicht, daß die Tante vom Dienstmädchen gerufen worden war.

Er überschrie noch eine Weile seine qualvolle Ohnmacht mit den Worten: „Gott, dem Allmächtigen, hat es gefallen ...“, blickte die Nadel an, die im Papageienauge steckte, den Faden, der lang und grün herunterhing, umklammerte in Gedanken mit beiden Händen ein Messer und drückte es langsam in seine Brust.

Entwurzelt taumelte er beim Unterricht mit, mußte schon nach einigen Wochen Leo Seidel weichen, der sich bald zum Primus in die Höhe arbeitete und, da er vorsichtig und schwer angreifbar strebte, von der ganzen Klasse gefürchtet wurde. Wer sein eigentlicher Retter war, erfuhr Seidel nie. Auch dann nicht, als er sich eines Tages mit der ganzen Klasse gegen Jürgen verband und von der Weltgeschichte sprach, die er bei sich zuhause absolut nicht finden könne.

Jürgen flüchtete aus dem immer schwerer werdenden Drucke der Einsamkeit wiederholt zu seinen Mitschülern und, vor Ekel, sich angebiedert zu haben, immer wieder zu sich selbst zurück und wieder zu den Mitschülern. Schloß sich endlich enger dem Sohne des Knopffabrikanten an, zu dem ihn anfangs der gemeinsame Haß gegen die Mathematikstunde hingezogen hatte und später seine immer stärker werdende Bewunderung von Adolf Sinsheimers Fähigkeit, außerhalb der Schule wie ein Erwachsener ohne Schwierigkeit mit dem Leben fertig zu werden.

„Wenn du eine Geliebte hast, ist das noch gar nichts; wenn du aber eine Geliebte hast und zu ihr sagen kannst: Heute nacht, meine Liebe, bin ich verhindert, tut mir leid, der Klub geht denn doch vor – dann erst bist du ein Mann, gewissermaßen. Bedauerlicherweise jedoch wird man in den Klub junger Kaufleute erst nach dem Abiturientenexamen aufgenommen. Ich werde dir das Klubhaus zeigen. Livrierte Diener natürlich!“

„Wenn man aber gar nicht Kaufmann wird?“

„Dann ist man ein Esel, heutzutage ... Sag mal, aber ehrlich, wie oft warst du schon krank?“

„Dreimal: Scharlach, Masern und Halsentzündung.“

„Du bist ein Säugling, gewissermaßen. Die elegante Männerkrankheit, wie oft du die gehabt hast!“

„Vielleicht habe ich sie schon sehr oft gehabt; ich weiß nur nicht, was du meinst.“

Sie waren vor dem Klubhause angelangt. Klaviergepauke und Refraingesang klangen durch das beleuchtete, offene Fenster herunter. Adolf sang gleich mit:

„Es haben zwei ne ganze Nacht

Zusammen in einem Bett verbracht.

Was ham se wohl gemacht?“

Das vereinzelte, noch unterdrückte Lachen, das plötzlich zum Sturm anwuchs, galt dem Vortragenden, der auf dem Podium stand und wortlos demonstrierte, was die beiden gemacht haben.

„Es geht doch nichts über lustige junge Leute“, sagte zu seiner verschwitzten, verstaubten Frau ein ziegenbärtiger, mit Waldlaub geschmückter Sonntagsausflügler und schob den Kinderwagen weiter.

Oben sang der junge Kaufmann mit speckiger Stimme. Das Klaviergepauke trug den Refrain herunter: „Was ham se wohl gemacht?“

„Kalte Umschläge, meinst du, was, gegen die Halsentzündung?“

„Bei Nacht und auch bei Licht ...“

Mitten in das stürmische Gelächter hinein fragte Jürgen zögernd: „Drückt dich auch alles so? Ich meine, deinetwegen und auch wegen der andern. Das ganze Leben, so wie es ist?“

„Gebetet, gebetet ham se nicht!“

„Unsinn! Ich bitte dich, was soll denn drücken! Der Kragen, der Schuh drückt.“ Er streckte den Fuß vor: „Wirklich, beinahe jeder angemessene Schuh drückt. Aber elegant, was? Übrigens, ich spitze einmal hinauf. Warte du hier.“

Da drehte Jürgen sich elefantenhaft langsam und ging davon, bis zu der Ansammlung waldlaubbehangener Sonntagsausflügler, Kleinbürgerfamilien, Ladenmädchen mit ihren Freunden, die, verstaubt, verschwitzt und grün, stillgeworden unter der zischenden Bogenlampe standen und den Anblick eines Mannes auf sich wirken ließen.

Der lag, Augen geschlossen, schwer atmend, Schaum auf den Lippen, langgestreckt im Staub, vor einem Bankhause, auf dessen Schaufenster erhabene Goldbuchstaben verkündeten: Kapital und Goldreserven 500 Millionen.

Der Kleinbürger mit dem Ziegenbart sagte energisch: „Epileptischer Anfall! Man muß die Daumen herausziehen. Dann vergeht der Anfall.“

Sofort streifte der Mann mit einem blitzschnellen Blick die über ihn gebeugten Gesichter und richtete sich, von zehn Armen unterstützt, sitzlings auf, ließ den Kopf hängen: „Das macht alles nur das Elend. Ich wollte mit der Straßenbahn fahren, hatte aber das Nötige nicht ... Alles nur das Elend!“

Jürgen wurde von Ekel gepackt. Er simuliert, dachte er und stieß brutal durch den Kreis.

Ein Erlebnis aus seiner frühen Jugend stieg auf. Auch damals lag auf dem Pflaster ein Mann: jung, mit eleganter, blutiger Wäsche, strenggebügelten, großkarierten Hosen, Brillantringe an den Fingern und Schaum auf den Lippen. Die seidene Weste ist aufgerissen, die Brust freigelegt.

‚Bei dem war der Schaum blutrot. Die offenen Augen starrten gläsern. Das war echt und entsetzlich; der vorhin hat simuliert ... Aber wie furchtbar muß es ihm gegangen sein, bis er sich entschloß, so schamlos Theater zu spielen, sich dermaßen zu demütigen vor den vielen Menschen ... Es wird ja vollkommen gleichgültig, ob seine Krankheit echt oder nur simuliert war; im Gegenteil, es ist unendlich viel grauenvoller, daß er nur simulierte. Denn wie muß es ihm gegangen sein.‘

Bestürzt über seine Gedankenlosigkeit, rannte er zurück. Der Platz war leer, die Bogenlampe zischte nicht mehr, leuchtete ruhig und weiß. Jürgen lief umher, suchte vergebens, stand wieder vor dem Bankhause und sah die erhabenen Buchstaben an. Deutlich sah er den Bettler liegen.

„Beim Sang der Nachtigallen

Ist Urselchen gefallen.

Wohl über große Steine?“

schallte der Gesang vom Klubzimmer herunter.

„Nein über, nein unter Karlchens Beine!“

„Und daran geht man vorüber, hinauf in den Klub, und singt so ein Lied. Wie furchtbar! ... Nun, und jetzt?“ fragte Jürgen, ging weiter. „Ist wieder etwas dazu gekommen, zu allem andern? ... Man muß unausgesetzt wach sein, bis man zu etwas Schlechtem gar nicht mehr fähig ist.“ Das war ein Gelübde.

Da hatte er einen Gedanken, der ihn so erleichterte, daß er, obwohl es Sonntag und zehn Uhr abends war, die Hausglocke des Lackierermeisters zog.

„... Gewiß, Sie haben recht. Es hätte selbstverständlich auch bis morgen Zeit gehabt; aber ich ging gerade hier vorbei ...“

„Also, was für eine Tafel soll ich denn schreiben?“

‚Betteln gestattet‘, geht nicht, dachte Jürgen. ‚Betteln erwünscht‘, geht auch nicht. „Schreiben Sie – auf eine hübsche Tafel: ‚Hier wird Armen gegeben‘.“

„Und die willst du wirklich aufhängen? Du wirst dich wundern, mein Junge.“

„Nein, die andern werden sich wundern.“

„Das wird wahr sein! Nun, also wie denn? ... Weiß auf schwarz? Oder schwarz auf weiß? Man kann auch etwas Farbiges machen. Oder Goldschrift?“

„Vielleicht Gold auf schwarz?“

„Schön. Macht sich gut ... ‚Hier wird Armen gegeben‘, nicht wahr? Mein Gott, so einen Unsinn hab’ ich auch noch nie geschrieben, kannst du mir glauben.“

Mit Hilfe des Dienstmädchens nagelte Jürgen die Tafel am Gartenzaun fest, an der Rückseite des Hauses, wo die Tante selten hinkam, und gab dem Dienstmädchen Geld. „Wird das für einen Monat reichen?“

Die goldenen Worte ‚Hier wird Armen gegeben‘ glänzten schön. Darunter hatte Jürgen einen Zettel geklebt, auf dem stand ‚Zwischen neun und elf Uhr vormittags‘. Das war die Zeit, während der die Tante täglich in der Kirche saß.

In Gliedern und Gelenken unbeherrscht wie ein junger Hund, langgeworden und immer in so unruhvoller Eile, daß der vornüberhängende Körper einen schlotternden spitzen Winkel zum Boden bildete, stolperte Jürgen in die Jünglingstage, in seinen siebzehnten Frühling hinein, fragenden Blickes beständig und vergebens in sich selbst und bei der Umwelt suchend nach der erlösenden Antwort.

Maiwind und Spiellust wehten gepflegten, langbeinigen Mädchen, die im öffentlichen Parke ihren Reifen nachjagten, die Röcke bis zum Kinn. Seidenblauer Frühlingshimmel war über Tulpen- und Hyazinthenbeete, billardglatte Rasenflächen und knospende Baumkronen gespannt. Alte Gouvernanten sahen rosig aus.

Unschlüssig, ob er, wie auf dem Wege hierher, ziellos weiter eilen oder verweilen solle, blickte Jürgen sich um, sog den Blumenduft ein. Wind schüttelte die langen, störrischen Zotteln. Einige Male mußte er sie aus der Stirn streichen, um die fünfzehnjährige, in den Schultern noch eckige Katharina – Tochter des Universitätsprofessors Lenz – betrachten zu können, die, sichtbar vom Leben schon gezeichnet, fremden Blickes die jubelnden Kinder beobachtete, bis sie Jürgens unverwandten Blick fühlte. Da sah sie erst in den Teich, wo alte Karpfen und armlange Goldfische aus den Schlinggewächsen langsam zur Wasseroberfläche zogen, langsam wieder in die Tiefe, und las dann weiter in dem Buche.

Die schenkeldicke Fontäne überholte unaufhörlich sich selbst. Die Himmelsbläue über ihr sprang mit.

Mit gemachtem Interesse betrachtete Jürgen Bäume, Teich, Fontäne und umkreiste dabei in immer kleiner werdendem Abstande die Lesende, deren ganzer Körper, obwohl sie reglos saß, sichtbar spröder wurde, je näher Jürgen kam.

Unvermittelt und aus noch fünf Schritt Entfernung: „Das sind Karpfen, richtige Karpfen. Man kann sie essen.“ Unheimlich dumm, daß ich das sagte, dachte er und setzte sich.

Sie las weiter, das Gesicht interessiert schief gestellt zur Buchseite.

Da traf sein ratlos bittender Blick zusammen mit ihrem, in dem frühzeitige Bewußtheit noch mit Mädchenscheu zu kämpfen hatte.

Als ob diese dunkle Last der Bewußtheit, die wie das zukünftige Ich in ihrem Blicke stand, losgespalten von der lieblichen Kindlichkeit, mit der sie den Rock über die Knie hinunterzupfte, in Jürgen das Gefühl erschlossen hätte, ihr schicksalsverwandt zu sein, empfand er das erstemal in seinem Leben ganz plötzlich rückhaltloses Vertrauen. Dies kam mehr in Blick und Ton zum Ausdruck, als in seinen Worten.

Um die beiden herum war die Umwelt. Rede und Antwort im Innersten der Umwelt. Frage und Antwort. Und eine Frage Katharinas, auf die er antworten konnte: „Vielleicht trägt man alles Erlebte in sich. Das reißt uns hin und her. Und täglich und stündlich kommt Neues hinzu, und alles ist furchtbar. Alles! Das ganze Leben, so wie es ist.“

Und als brächte dies Erleichterung, bat er, sie möge mit ihm spazierengehen. Katharina erhob sich sofort. Er überragte sie um Kopfeslänge. Sie verschwanden in dem streng beschnittenen Laubgang von Korneliuskirschen.

Er blickte hinunter auf ihren gebräunten, eigenwillig gebogenen Nacken und, da sie aufsah, auf ihren kleinen, festen Mund. Erbebend blieben sie stehen und wandten erbebend sich ab.

„Ich weiß schon genug über Sie. Mein Bruder hat mir viel von Ihnen erzählt. Auch das von der Weltgeschichte! Er ist dumm. Er begreift gar nichts.“

Das Vertrauen ließ ihn erzählen, daß er die Tafel ‚Hier wird Armen gegeben‘ an den Gartenzaun angeschlagen habe. „Aber das sprach sich so schnell herum, daß noch in der selben Woche an einem einzigen Vormittag mehr als dreihundert Bettler kamen. Jetzt weiß ich natürlich schon, daß all das gar nichts nützt. Und wenn meine Tante die Tafel nicht heruntergenommen hätte, würde ich selbst es getan haben ... Was aber soll man denn tun?“

Erst nach zwei langen Minuten und als läse sie es von ihren Schuhspitzen ab: „Es gibt nur eines: man muß sich opfern, muß sich selbst ganz und gar aufopfern.“

„Das ist, das ist kolossal, ganz kolossal, was Sie da sagen ... Aber wie? Wie soll man sich aufopfern?“

Schon eine Weile bekam die Tante, die seit Wochen und auch heute ihren täglichen, vom Arzte verschriebenen Spaziergang im Öffentlichen Parke gemacht hatte, keinen Atem mehr. Endlich stürzte sie zu Bewußtsein und auf die Bank zurück, auf der sie saß, und raffte ihren Häkelbeutel zusammen, schoß nach in den Laubgang, packte den sie überragenden Jürgen bei der Hand und führte ihn entschlossen und wortlos weg von Katharina.

In durchwachten, verzweiflungsvollen Nächten kam Jürgen zu dem Schlusse, erst nachdem er für immer aus dem Hause gelaufen sei, könne er Katharina wieder vor die Augen treten.

Als das Nervenfieber lebensgefährlich zu werden drohte, mußte der Hausarzt die Behandlung dem Spezialisten überlassen. Erst nach Wochen war des Kranken Gefühlskathedrale wieder so weit in Ordnung, daß er eines Morgens, beim Erwachen, sich allen Eindrücken weich darbieten konnte.

Die Tante schob die auf dem Nachtkästchen stehenden Medizinflaschen zur Seite, schlug ihr Haushaltungsbuch auf, in das sie des toten Vaters ‚Letztwillige Verfügungen über Jürgen‘ geschrieben hatte, und begann das viele Seiten lange Erziehungsprogramm abzulesen.

Die Worte tropften glühend in den Ausgelieferten hinein.

„... Und deshalb nehme ich mir das heilige Versprechen ab, den letzten Sproß der alteingesessenen Patrizierfamilie Kolbenreiher, deren Geschichte bis in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann, nach dem Willen seines unvergessenen Vaters zu erziehen und ihn Beamter werden zu lassen, da er die Fähigkeit zu etwas Größerem nach meines seligen Bruders Meinung nicht hat ... So ists, Jürgen, siehst du. Nun werde mir bald wieder gesund ... Wenn du auch nicht so bist, wie du sein könntest, ich habe dich doch lieb.“ Sie sah ihn freundlich an, streichelte seine nassen Haare und rief erschrocken: „Du hast ja wieder Fieber.“

Wangen und Augen glühten. Die rechte Gesichtshälfte lachte.

Die Ärzte wurden geholt, Eisbeutel aufgelegt. Der Rückfall war kurz und heftig.

Jürgen verließ das Bett als verschlossener Jüngling, dessen früherer Wille, sich durch die Wirrnisse der Jugend durchzuschlagen, unterbunden war. Die Tante äußerte oft ihre Zufriedenheit. Denn nur, wenn sie ihn fragte, antwortete er, ganz nach Wunsch ‚Ja‘ oder ‚Nein‘. Niemals ‚Nein‘, wenn ein ‚Ja‘ erwartet wurde.

Seine grenzenlose Nachgiebigkeit lieferte ihn allen, selbst viel jüngeren Schülern, aus. Körperlich wuchs er gleichsam über sich selbst hinaus, wurde lang und sehr stark. Das Lernen für das bevorstehende Examen verschob er von Tag zu Tag, fuhr Schlittschuh, stundenlang flußaufwärts.

Die eisbrechenden Fischer schimpften ihm wütend nach, da hier das Schlittschuhlaufen äußerst lebensgefährlich war, der vielen großen, quadratischen Wasserlöcher wegen.

In dem Gefühle, durch eine körperliche Kraftleistung, durch große Schnelligkeit seine seelische Gebundenheit lösen zu können, sauste Jürgen an den unverhofft sich auftuenden grünen Wasserlöchern vorbei, bis die Nacht ihn überraschte.

Schnurgerade führte die Landstraße stadtwärts; der Fluß dagegen zog einen mächtigen Bogen, so daß Jürgen zu Fuß schneller nachhause gekommen wäre, als auf dem Eise.

Der geheime Todeswunsch, der ihm das imaginäre Messer in die Hand gegeben und ihn vor das Tunnelloch getrieben hatte, veranlaßte ihn auch jetzt, blind in die Gefahr hineinzurennen.

Die Fischer waren schon lange heimgegangen. Jürgen stand dunkel in der unwirklichen Helligkeit, die das Eis ausstrahlte. Zehn Schritte von ihm entfernt war tiefschwarze Nacht. Das Eis knackte leise. Tierische Laute stieß Jürgen aus, während er als schwarzer rechter Winkel stadtwärts sauste.

War er knapp an einem Wasserloch vorbeigeglitten, dann klang sein wilder Schrei der Genugtuung in die Einsamkeit.

Näher der Stadt mehrten sich die Wasserlöcher, links und rechts von ihm, manchmal unerwartet dicht vor ihm.

Angespannt und stumm geworden, zog er seine Bogen um den Tod herum.

II

Ungeduldig hörten die Abiturienten dem Rektor zu, der die lange Entlassungsrede hielt. Endlich stieg sein Brustkorb hoch, der Zeigefinger deutete zum Fenster. Sofort fühlten alle, daß jetzt die Schlußworte kamen.

Sie sollten denn hinaustreten ins ernste Leben, tüchtige, brave Männer werden. Der Zeigefinger deutete noch zum Fenster hinaus. Es war vollkommen still geworden. „Geachtete Männer!“ Da sanken Finger und Brustkorb. Und die Entlassenen brachen los von den Bänken.

Der Lärm entfernte sich rollend, wurde immer dünner, drang noch einmal, wieder stärker geworden, von der Straße aus mit der Sonne durch das Fenster zu den leeren Bänken herein. Und verebbte schnell.

In die Stille des leeren Schulsaales klang eine Stimme, die aus dem Gitter der Dampfheizung zu kommen schien: „Ich möchte mich noch bedanken für alles, was die Herren Professoren in den Jahren meiner Schulzeit Gutes an mir getan haben.“ Ah, ihr niederträchtigen Schufte, setzte Leo Seidel in Gedanken hinzu und trat weg von der Dampfheizung, schob seine Schulter unter die ausgestreckte Hand des Rektors: „Wenn der Herr Rektor jetzt auch noch die große Güte haben wollten, mir den weitern Lebensweg zu ebnen ...“

„Nicht jeder Deutsche kann die Universität besuchen. Das ist doch einleuchtend.“

‚Denn woher sollten sonst die Briefträger und Hausdiener genommen werden.‘

„Aber die Schreiberstelle beim Stadtmagistrat bekommen Sie. Ich habe schon gesprochen ... Machen Sie mir Ehre. Werden auch Sie ein geachteter Mann.“

Die Professoren ließen dem Rektor den Vortritt, verbeugten sich in höflicher Erregung immer weiter von der offenen Tür weg.

Adolf Sinsheimers Gesicht, das aus einem Rahmen oval heraussprang, denn er trug seit Jahren ein schwarzes Seidenband straff über die wegstehenden Ohren gespannt, damit sie sich mit der Zeit anlegen sollten, war während der Prüfung so aufgedunsen, daß er das Band abnehmen mußte. Sofort wurden beide Ohren lebendig, schnellten nach vorne. „Jetzt, mein Lieber, geht das Leben an. Weißt du, was das bedeutet: das Leben? Ich bin grandios glücklich. Morgen kaufe ich mir einen steifen Hut und trete dem Klub junger Kaufleute bei ... Man ist ganz unter sich im Klub. Keine Weiber!“

Jürgen setzt nach einem hartnäckigen Kampfe mit der Tante durch, daß er nicht Staatsbeamter werden muß, sondern Philosophie studieren darf, schreibt eine Abhandlung, die ungeheueres Aufsehen macht, und wird daraufhin zum Bürgermeister gewählt. „... Das ist Glück!“

„Du kannst dich darauf verlassen, daß das Glück ist.“ Während Adolf Sinsheimer von den Anzügen sprach, die er sich machen lassen werde, wurde Jürgen Besitzer einer Fabrik, in der zwanzigtausend Arbeiter beschäftigt sind, und bestimmt mit einem Federzuge, daß alle zwanzigtausend Arbeiter, alle Beamten und er selbst von jetzt an ganz gleichmäßig am Gewinn beteiligt werden.

Der alte Buchhalter sagt bestürzt: ‚Aber ich bitte Sie, Herr Direktor ...‘

‚Genug! Ich will das so. Das ist nur gerecht.‘ Und Jürgen schickt den alten Buchhalter freundlich, aber entschlossen fort.

„Zuhause werde ich meinem Alten ganz kalt erklären: Du, unter uns gesagt, ohne Lackschuhe und Frack bringst du mich nicht auf den Abiturientenball ... Hör mal, Jürgen – aber Diskretion bitte –, ich sage dir, daß ich mich auf dem Ball nicht mit unseren Tanzstundengänschen abgeben werde. Kann mir nicht passieren!“

‚Und wenn einem von euch in meiner Fabrik – das heißt, in unserer Fabrik – etwas zustößt, dann bekommt er eine Rente sein Lebenlang.‘

„Ich halte mich glatt an die Schönheiten, die tadellos tanzen können. Oder hast du etwas gegen einen Busen einzuwenden? Ich nicht.“

Als Adolf sich verabschiedet hatte – „Ich werde Gelegenheit nehmen, dir heute nachmittag meinen Besuch abzustatten“ –, dachte Jürgen darüber nach, weshalb er vor einigen Tagen zum ersten Male in seinem Leben ernstlich über das Dasein und die Not der andern nachgedacht hatte. ‚Weshalb nicht schon Jahre vorher? Weshalb gerade an dem Abend, als ich nach dem Essen im Garten stand und im Nachbarhause die zornige Männerstimme und gleichzeitig vereinzelte Töne einer Ziehharmonika hörte?‘

Bisher habe er doch immer nur, und auch dann nur veranlaßt durch ein qualvolles persönliches Erlebnis, über sich selbst und seine eigene Not nachgedacht; und in jener Minute, ohne jeden äußeren Anlaß und unerforschlicherweise plötzlich darüber, warum Phinchen, dieses gutmütige und nicht dumme Dienstmädchen, ihr Lebenlang in der Küche stehen, Stiegen, Schuhe und Fenster putzen, Schlafzimmer aufräumen müsse, häßlich gekleidet und ungebildet sei, zum Beispiel nie lese, gute Bücher gar nicht verstehe, während die Tante und er die sorgfältig zubereiteten Speisen verzehren, die von Phinchen sorgfältig geplättete Wäsche tragen und Shakespeare oder Goethe lesen könnten, wenn sie wollten; warum die siebzehnhundert Arbeiter von ihrem vierzehnten Jahre an bis zum Tode täglich von früh bis abends in der Papierfabrik des Herrn Hommes arbeiten müßten, während ungezählte tausende junger Männer und Mädchen, die wenig oder nichts arbeiteten, hübsch gekleidet und gepflegt täglich spazierengehen konnten; warum die Arbeiter so schwere, täglich und stündlich zu erfüllende Pflichten hatten – und die Wohlhabenden zum Teil recht angenehme oder gar keine; warum es überhaupt Reiche und Arme gab, und warum der arm und der reich war; warum die Armen tun mußten, was die Reichen wollten; ob all das ein Naturgesetz oder menschliche Willkür war.

Seit jener rätselhaften Sekunde hing er in einem Gedankennetz und suchte vergebens den Mittelpunkt, von dem aus die Grundursache der Gemeinheit des ganzen Lebens, die ihn bedrückte, verstanden werden könnte.

Die Tante empfing ihn freudig mit den Worten: „Alles liegt hübsch klar und geordnet vor dir ... Du wirst Staatsbeamter. Amtsrichter in einem hübschen, kleinen Städtchen. Das ist dein Lebensweg. Ich bin so glücklich.“

Jürgens Kopf nickte. ‚Du taugst zu nichts anderem.‘ Wut wollte herausbrechen. Und wurde zu einem schiefen, gefährlichen Lächeln, während die Tante sich feierlich erhob, das Tischgebet zu sprechen.

„Ich werde nicht Amtsrichter. Ich will keine Urteile fällen über andere.“

Das Dienstmädchen war halbwegs in der Stube stehengeblieben, die Hände gefaltet.

„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes ... Bringen Sie diesmal auch eine Flasche Wein, Phinchen.“

Das besonders feine Damasttischtuch, das selten benutzte schwere Familienbesteck, die Feierlichkeit der Tante und Jürgens Bemerkung machten, daß das Mahl steif und schweigsam verlief.

„Und wenn du nachher Amtsrichter bist“, begann bei der Süßspeise die Tante in gütigem Tonfall, als ob sie Jürgens Weigerung gar nicht vernommen hätte, „wirst du erst so recht einsehen, daß eben gerade die strenge Pflichterfüllung dir die Achtung deiner Mitmenschen einbringt. Du wirst ein geachteter Mann sein. Und das ist die Hauptsache: Ein Mann, der sein sicheres Auskommen hat! – Auch wenn ich einmal nicht mehr da sein werde. Die Pflicht vor allem!“

Phinchen brachte hervor, das gnädige Fräulein sterbe gewiß noch lange nicht. Die Tante deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Brosche: „Meine Brust harmoniert nicht.“ Und Jürgen fragte: „Aber was ist Pflicht?“

„Das weiß doch jeder Mensch. Jeder Mensch muß seine Pflicht tun ... Bringen Sie noch etwas Kompott ... Du willst nicht Amtsrichter werden? Ich sage: du mußt es werden. Du willst keine Urteile fällen? Du mußt Urteile fällen. Denn dein Vater hat dich zum Amtsrichter bestimmt. Ich sage nochmals: Die Pflicht vor allem!“

„Erfüllt der Papierfabrikant Hommes seine Pflicht dadurch, daß er seine täglich in der Equipage spazierenfahrende Gattin zu Pferde begleitet? Wer bestimmt, daß es die Pflicht der siebzehnhundert Arbeiter ist, in die Hommessche Fabrik zu gehen? Und wer sagt mir, ob es meine Pflicht ist, Amtsrichter zu werden und Urteile zu fällen über andere ...“

„Dein seliger Vater und ich!“

„... oder in der Fabrik zu arbeiten, oder täglich auszureiten und andere für mich arbeiten zu lassen?“

„Das sind Dummheiten.“ Die Tante faltete ihre Serviette genau zusammen. „Räumen Sie ab!“ Und stieg voran in Jürgens Zimmerchen.

Er mußte sich auf das Kanapee setzen, über dem, in ovalen Rahmen, symmetrisch zu einem großen Oval geordnet, die vergilbten Photographien der Familie Kolbenreiher hingen. In der Mitte ein Jugendbildnis des Vaters. Die Tante rückte das schon genau in der Tischmitte stehende Resedasträußchen, das sie zur Feier des Tages im Garten geschnitten hatte, in die Tischmitte, zupfte ihr Geschenk, das Papageiüberhandtuch, zurecht. „Du wirst also in eine vornehme Verbindung eintreten. Du trägst eine Mütze, eine grüne oder eine schöne blaue, lernst Schießen und Fechten, natürlich nicht zu echt, eben nur, um deinen Mut zu stählen und weil das dazugehört ... Jetzt nimm diesen Leuchter! Den Partner dazu bekommst du, wenn ich einmal unter der Erde liege. Das wird bald sein, und nachher kriegst du alles.“

Dann schilderte sie fließend, als lese sie wieder aus ihrem Haushaltungsbuch vor, wie Jürgens ganzes Leben sich gestalten werde: – daß er in soundso viel Jahren diesen und diesen, später einen noch höheren und zuletzt den Beamtengrad eines Amtsrichters erreichen werde, mit soundso viel Gehalt, gelangte zu dem Lebensalter, in dem er einen Orden bekommen würde, und ging über zur Pensionierung. „So will es dein Vater. Wenn du deine Pflicht erfüllst, wirst du als ein Mann begraben, von dem deine Kollegen sagen werden: er soll uns ein schönes Vorbild sein und bleiben ... Mehr kann man vom Leben nicht verlangen, Jürgen. Mein Großvater sagte einmal zu mir: Man kann die Achtung, die ein Mensch im Leben genoß, an der Länge seines Leichenzuges messen.“

Jürgen schoß über das Lebensziel, ein pensionierter Amtsrichter zu werden, weit hinaus, stieg in wenigen Sekunden zu einer weltberühmten Leuchte der Wissenschaft empor, nahm eine Brust voll höchster Orden, die er nicht einmal beachtete, entgegen, wurde nebenbei Bürgermeister, ließ sich in den Reichstag wählen und übernahm das Ministerpräsidium. Alle Bürger grüßten ihn tief. Dann sah er sich voller Freude seinen kolossalen Leichenzug an.

„Ja, Jürgen, so ist es: seine Pflicht tun und ein geachteter Mann sein ...“

Unversehens, wie die Uhr aufhört zu ticken, starb in Jürgen die Begeisterung. Das grandiose Zukunftsgebäude krachte lautlos zusammen.

„Das erste gibst du dem Leben und bekommst dafür vom Leben das andere ... Und unsern Garten und mich hast du ja auch noch“, sagte die Tante und ging. Adolf Sinsheimer war eingetreten.

Er lag im Großvaterstuhl wie der Lord im Klubsessel. „Mein Alter hat sich mir erklärt. Wir haben uns geeinigt über die Zukunft, die ich ergreife.“

‚Daß gerade diejenigen, denen ich am allermeisten mißtraue, weil sie mich am allermeisten gequält haben, von mir fordern, ein geachteter Mann zu werden, sollte mir eine Warnung sein, ein solcher zu werden. Vielleicht ist man ganz und gar verloren, wenn man ein geachteter Mann geworden ist.‘ „Welche ergreifst du denn?“

„Industrie, mein Lieber, Industrie! Nur der enorme Aufstieg unserer Industrie hat Deutschlands Weltgeltung begründet ... Mein Vater ist übrigens genau derselben Meinung. Ich werde dir nachher beim Spaziergang die Chose zeigen, in die ich eintrete ... Übrigens, rauchst du? Dieses Etui habe ich mir heute zugelegt. Du rauchst nicht? Aber das ist ja toll ... Herein!“ rief Adolf schnarrend.

Phinchen blieb, verlegen lächelnd, im Türrahmen stehen. Die Kaffeekanne dampfte. Ächzend schlug er das Bein über. „Aber ich bitte, treten Sie doch näher ... Trinkst du denn dieses Weibergesüff?“

„Die ist verliebt, kannst dich darauf verlassen“, sagte er, als Phinchen gegangen war. Und auf der Treppe: „Ein Mädchen, das immer gleich lacht, ist verliebt ... Unser Prokurist ist übrigens genau der selben Meinung.“ Sie gingen die Straße hinunter.

„Und in wen wäre sie denn verliebt?“ Jürgen sah steif geradeaus.

„In uns natürlich! In einen Mann, gewissermaßen.“ Er schnallte das Ohrenband ab. „Dies hier ... weg damit!“ Und schleuderte es auf den Asphalt. Die Ohren erholten sich. „Es fällt einem verteufelt leicht, bei einem so jungen Ding Eindruck zu schinden“, sagte er noch und griff an seinen rosaseidenen Schlips. Da rückte auch Jürgen sein fingerschmales Schülerkravättchen zurecht.

„So, dort ists.“ Adolf deutete über den Platz auf das mächtige Eckhaus.

„Knöpfe“ stand in meterhohen Buchstaben weithin sichtbar zwischen allen vier Stockwerken. Und auf dem Firmenschild: Simon Eberlein, Größtes Knopfexporthaus Europas, Alle Sorten Knöpfe.

„Hier trete ich als Volontär ein. Nun? ... Halt, erst von hier aus ansehen! Ein ungeheuerer Betrieb, mußt du wissen! Handelsbeziehungen überall hin! ... Amerika! Jetzt komm!“

Am Arm führte er Jürgen über den Platz, bis vor den elektrischen Aufzug, der an der Außenseite des Gebäudes angebracht war, und las vor: „3000 kg und Führer. Verstehst du, damit können 3000 kg Knöpfe befördert werden ... Stelle dir das vor!“

„Das ist allerdings kolossal“, sagte Jürgen träumerisch.

„Na, einfach grandios!“ Vorsichtig zog er ihn zu den Parterrefenstern, die bis zur Hälfte mit grasgrünen Schutzgitterchen beschlagen waren.

In gleichartig eingerichteten Bureaus arbeiteten junge Schreiber. An Tafeln, die siebenmal den Arbeitssaal durchquerten, etikettierten flinke Mädchenhände Knöpfe auf Akkord. Knopfmustertafeln bedeckten alle Wände. Die Schiebetür in der Rückwand war offen. Dahinter befand sich ein ebensolcher Saal, und durch ihn durch sahen Jürgen und Adolf in einen dritten Arbeitssaal hinein, in dem, durch die Perspektive verkleinert, die Menschen sich wie Insekten bewegten.

Ein Schreiber sauste durch die Seitentür herein in den ersten Saal, pfeilschnell durch und hinaus. Unterm Hoftor stand der Lagerist, einen Pack Frachtbriefe in den Händen, und rief monoton Zeichen und Nummern. Der Arbeiter wiederholte singend, und die Fuhrleute karrten die aufgerufenen Knopfkisten zum bereitstehenden Lastwagen.

„Riskieren wirs und gehen ins Café? Ich habe Geld.“

„Übrigens, andernfalls hätte ich dir auch aushelfen können. Ich stehe dir zur Verfügung. Genügt dir das?“

„Ich habe ja.“

Adolfs Stirn bekam Falten. „Aber ich bitte dich, unter Freunden! Ich bin gerade bei Kasse.“

Jürgen öffnete seinen Beutel. „Da, sieh selbst! Habe ja genug.“

„Jürgen, du bist geradezu beleidigend. Nimm diese Summe ... Ich könnte sonst unter keinen Umständen den Verkehr länger mit dir aufrecht erhalten.“ Adolfs Hände und Schultern bekräftigten: „Wir sind doch heute nachgerade keine Gymnasiasten mehr, gewissermaßen.“ Er öffnete die Tür. „Bitte, nach dir!“

Am Stammtisch qualmten Skatspieler, die alle Glatzen hatten; eine spanische Wand sonderte ein Kaffeekränzchen – neun, mit farbigen Kapotthüten geschmückte, papageienhafte Damen – ab von den stillen Zeitungslesern. Der Ober bediente geschäftsfreudig und schwungvoll, stand manchmal reglos auf seinem erhöhten Beobachtungsposten neben dem Büfett, wachsam das Lokal im Blick. Ein Fenstertisch, mit der Aussicht auf das Knopfexporthaus, war frei.

Der Pikkolo stand, ein Bein elegant übergeschlagen, reglos in genau der selben Haltung wie der Ober, und wand sich auf dessen Augenwink hin schwungvoll und geschäftsfreudig um die Tischecken herum zu den Freunden; er war erst seit zehn Tagen Pikkolo.

„Was befehlen die Herren?“ Die schwiegen. Und der Pikkolo rasselte heraus: „Bier, Wein, Kaffee, Tee, Schokolade ... Eis, Punsch, Glühwein, Limonade.“ Achtungsvoll betrachtete er die Schweißtropfen, die auf den Stirnen der Freunde hervortraten. Und fühlte seine Überlegenheit im selben Maße wachsen, wie die Ratlosigkeit der beiden zunahm, wiederholte singend sein Gedicht.

Adolf bestellte zwei Glas Glühwein und zwei Glas Grenadine und sagte, nachdem der Pikkolo an das Büfett gestürzt war: „Ich habe Glühwein und Grenadine für uns bewerkstelligt. Du gestattest doch!“

Der Pikkolo ließ unterwegs das Tablett, wie von einer Meereswelle mitgeführt, aus der Tiefe weich in die Höhe steigen, wieder abwärts schwimmen und knirschend auf die Marmorplatte auflaufen, ohne einen Tropfen zu verschütten.

„Die Grenadine schmeckt wie der Buchdeckel der Biblischen Geschichte, weißt du, wenn man daran geleckt hat“, sagte Jürgen und verzog das Gesicht.

Als die Freunde sich am dampfenden Glühwein die Zungen verbrannt und im Bad des heißen Sonnenscheins die Zigarillos angezündet hatten, erlangte Adolf die Fassung wieder, lehnte sich zurück, sah zum Knopfgebäude hinüber. „Du hattest Gelegenheit, die Parterresäle in Augenschein zu nehmen. Der selbe Betrieb wickelt sich in allen vier Stockwerken ab. Und unterm Dach sowie im Keller befinden sich ebenfalls gigantische Knopflager ... Das muß man sich nur vorstellen: Das ganze Riesengebäude vollgestopft mit lauter Knöpfen. Alle Sorten, notabene!“

Von der Sonnenhitze mit Glühwein und Zigarillos war Jürgen übel geworden: Das Knopflager wurde lebendig, verwandelte sich in ein ungeheures Meer schwarzer Schwabenkäfer, die an allen Wänden auf- und übereinander krabbelten. In nebelhafter Ferne hörte er die begeisterte Stimme Adolfs.

„Alle, absolut alle Arten Knöpfe! Ich werde mir eine Knopfsammlung anlegen. Sie wird die größte der Welt sein. Lückenlos! Denn, überlege – welcher Knopfsammler hätte, wie ich, diese Gelegenheit ... Und meine zukünftigen Kollegen da drüben, bei denen das gewissermaßen der Fall wäre, denken vermutlich wieder nicht daran, sich eine Knopfsammlung anzulegen.“

Der Ober schwebte einen halben Meter über dem Fußboden durch das Lokal. Jürgen wagte Adolfs wegen nicht, die Zigarillos wegzuwerfen. Den Stumpen im Mundwinkel, das Gesicht von kaltem Schweiße beschlagen, sah er mit dem verzerrten Ausdruck lächelnden Wohlbehagens seinen Freund an.

Der entwickelte den Plan seines Vaters, eines großen Knopffabrikanten, welcher sich mit der Idee trug, seiner Fabrik ein eigenes Knopfexporthaus anzugliedern, nachdem Adolf bei der Konkurrenz den Betrieb gründlich kennengelernt habe. „Da hast du meine Zukunft. Mein Weg läuft pfeilgrad empor ... in logischer Folgerichtigkeit, gewissermaßen ... Industrie und Handel, mein Lieber! Alles andere ist Romantik.“

Sie sahen zum Fenster hinaus; die Pferde vor dem Exporthaus zogen an; die hochgetürmten sauberen Knopfkisten rollten fort, dem nahen Güterbahnhof zu.

Der Knopflastwagen, das ganze Café, Skatspieler, Messinglüster, Sammetbänke kreisten wie eine Berg- und Talbahn um Jürgen herum. Er wollte beiläufig seine schon in wenigen Jahren zu erwartende Wahl zum Bürgermeister erwähnen und sagte krampfhaft gleichgültig: „Es wäre jetzt vielleicht gar nicht unangenehm, ein wenig hinaus in die schöne, frische Luft zu gehen.“

Vor dem Café sah Jürgen, wie eine gepflegte Dame auf einen Krüppel zuging, dem der rechte Arm und das linke Bein fehlten. Die Frau des Krüppels nahm die Banknote sofort an sich und stellte der sekündlich aufblitzenden Wut ihres Mannes einen notgestählten Blick entgegen. Der skrofulöse Säugling auf ihrem Arme unterbrach den stummen Kampf durch Geschrei. Dann zog die Familie weiter. Langsam, böse, farblos.

Nachdem der offene Wagen der Trambahn die verkehrsreichen Straßen durchfahren, die letzten Häuser und den mächtigen Gaskessel hinter sich gelassen hatte und in nun ungehinderter Fahrt durch sanfthügeliges Wiesenland der Endstation entgegensauste, von kühler Luft durchzogen, röteten sich Jürgens Wangen wieder.

Ein Herr, alt, grau, steif, wie aus grauem Pappendeckel zusammengeklebt, wackelte steif hin und her.

„Auch wenn andere Plätze frei sind, fahren alte Leute nicht mit den Augen zur Fahrtrichtung ... Die Jungen immer!“

„Das ist eleganter Blödsinn.“ Adolf saß lässig zurückgelehnt, Bein übergeschlagen.

„Die Alten wollen gar nichts Neues mehr sehen. Die blicken immer in die Vergangenheit.“

„Glatter Unsinn! Direkt eleganter Blödsinn!“

„Die Jungen wollen sehen, wohin die Fahrt geht.“

Die Alleebäume flogen plötzlich nicht mehr nach rückwärts. Der Wagen hielt bei der Endstation im Knirschen der Bremsen. Stille, in die hinein ein Vogel zwitscherte.

Der Führer blieb allein zurück, setzte sich in den Straßengraben. Der Wagen stand beziehungslos in der Landschaft. Der Tag war heiß und lang gewesen.

Jürgen, schnell in Harmonie mit der Natur, wollte durch den Wald heimwärts gehen, während Adolf, zu abrupt ins Grün gestellt, unwillige Blicke den Ackerfurchen zuwarf und vorschlug, wieder mit der Straßenbahn zurückzufahren.

Die schon versinkende Sonne ließ noch Feuer aus den Fenstern der Stadt schlagen. Das sanftgewellte Land lag weit hingebreitet. Die fernen Wälder schienen nur handhoch zu sein. Der herauftönende Pfiff der Papierfabrik stieß die Arbeiter zu den Toren hinaus. Schon stand ein grüner Stern am Himmel. Liebespaare, umschlungen, gingen vorüber, der heraufkommenden Sommernacht entgegen.

„Kein Zweifel, die sind schwer verliebt. Du natürlich bemerkst das nicht.“ Adolf setzte sich mit dem Rücken gegen die Fahrtrichtung und forderte: „Sitze du auch so!“

Da fiel Jürgen ein, daß er eigentlich gegen seinen Willen zurückfuhr. „Ich sitze so.“

„Eleganter Blödsinn! Das gibst du doch zu?“

„Nein, das gebe ich nicht zu. Das gebe ich nicht zu“, sagte er noch beim Betreten der Küche vor sich hin und blickte die feuchten, vollen Schultern Phinchens an, die, im Unterrock und Hemd, glühend am Bügelbrett stand.

Sein Kopf blieb klar; das unbekannte Gefühl fuhr ihm nur in die Beine. Phinchen konnte vor Aufregung die entblößte, aufsteigende Brust nicht bedecken.

Da kreischte die Haustür. Jürgen taumelte aus der Küche hinaus.

„Du mußt von jetzt an immer hübsch vollkommen bekleidet sein. Der junge Herr ist kein Kind mehr.“ Die Tante demonstrierte an ihrer Brosche. „Dies da und auch deine Schultern, überhaupt das alles darf man nicht sehen. So dick und nur einen Unterrock! Das ist nicht schicklich.“ Der Unterrock könne gewiß einmal aufgehen. Dann stehe sie im Hemd vor dem jungen Herrn.

Sie nahm aus dem Küchenschrank eine neue Kerze, zog mit dem Messer sorgfältig einen Riß herum – drei Zentimeter unter dem Docht – und stieg in Jürgens Zimmerchen hinauf.

Wortlos steckte sie die Kerze in den silbernen Leuchter und zündete an. Dann deutete sie auf den Riß. „Wenn sie bis hierher abgebrannt ist, mußt du aufhören zu lesen ... Das Bücherlesen im Bett und überhaupt das Ideale, das, was du Ideale nennst, muß auf ein schickliches Maß zurückgeführt werden.“

Jürgen beobachtete, wie das Flämmchen erstarkte, endlich senkrecht stand und wieder flackerte, als die Tante weitersprach. „Und morgen zeichne ich nur zweieinhalb Zentimeter zum Lesen an. Übermorgen wieder etwas weniger. Und allmählich liest du überhaupt nicht mehr im Bett, siehst du ... Auch deine Mutter las immer im Bett. Dein Vater hat es ihr abgewöhnt. Wer nicht selbst streng ist gegen sich, gegen den muß es ein anderer sein ... Deine Mutter hat dich machen lassen, was du wolltest. Verzogen, verwöhnt hat sie dich. Das soll eine Mutter nicht tun.“

„Das kannst du ja gar nicht wissen; du warst ja nie Mutter.“ Staunend beobachtete er, wie ihr ganzes Gesicht – auch die Stirn – sich dunkel rötete. Der Mund stand offen. In unbegreiflicher Fassungslosigkeit verließ sie das Zimmer.

Jürgen nahm das Bild seiner Mutter von der Wand, betrachtete lange den angsterfüllten Mädchenblick, den schmerzlichen Mund, der zu lächeln versuchte, und lehnte die Photographie gegen den Leuchter.

Im Bücherregal standen nur Reisebeschreibungen und Abenteuerromane in bilderreichen Umschlägen. Mit der ‚Schreckenvollen Reise in das Erdinnere‘ stieg Jürgen ins Bett, passierte zusammen mit dem kühnen Abenteurer auf dem Floße die zerklüftete Felsenspalte, geriet plötzlich in ein Loch und sauste auf gischtigen Wassermassen beinahe senkrecht in die Erde hinein. Es wurde nachtstill im Hause.

Dicke Finsternis umgibt Jürgen und sein Fahrzeug, das mit den immer gewaltiger brausenden Gewässern in rasendster Geschwindigkeit in die Tiefe stößt – volle zwölf Tage lang –, unter der ständigen fürchterlichen Gefahr, zu zerschellen.

Plötzlich verlangsamt sich die wilde Fahrt: Jürgen flößt aus einer Felsspalte heraus und, ganz wider Erwarten sanft, hinein in einen wunderbar stillen See im Erdinnern, an dessen Ufern menschenähnliche Geschöpfe mit Kuhköpfen stehen.

Grüne, fremde Helligkeit liegt über dem Tale und den milden Wäldern, obwohl kein Himmel vorhanden ist.

Der Abenteurer durchforscht vorsichtig das Tal nach gefährlichen Wilden, macht ungewöhnlich wichtige Entdeckungen und überlegt endlich, wie er mit seinem Floß auf dem senkrecht herabrasenden Gewässer aus dem Erdinnern wieder zur Erdoberfläche hinauffahren könne.

Heißgelesen, sah auch Jürgen nachdenklich auf. Und bemerkte mit Schrecken, daß die Kerze still bis über die Hälfte herabgebrannt war.

Während er dann im Traume papageiengroße, fliegende Edelsteine fing und mit kuhköpfigen Menschenwesen, die sich plötzlich in lauter geachtete Männer verwandelten, in bösen Kämpfen lag, streifte Adolf Glacéhandschuhe über, ging in den ‚Klub junger Kaufleute‘ und wurde vom Vorsitzenden auch den neuen Mitgliedern, Adolfs bisherigen Schulkameraden, mit feierlicher Korrektheit vorgestellt.

Einige Wochen später lag auf Jürgens Nachtkästchen eine Geschichte der Philosophie, in der schon viele Zettelchen mit Anmerkungen steckten.

Die Abiturienten hatten sich getrennt in zwei Gruppen, die weiterhin nicht mehr miteinander in Berührung kamen: Ein Teil studierte und hatte andere Interessen als die Fabrikantensöhne, die in die Geschäfte ihrer Väter eintraten.

Leo Seidel arbeitete im Magistratsgebäude, im städtischen Wohnungsnachweisbureau, dessen trübe Fenster gegen die Nordseite des immer sonnelosen Lichthofes standen.

Das Mißbehagen der Kollegen war von Monat zu Monat größer geworden. Jeden Morgen hatten sie, beim Eintritt in das Bureau, Leo Seidel schon heißgeschrieben am Pulte vorgefunden.

Vor allem Herr Hohmeier, ein Beamter, der sehr langsam arbeitete und seiner Dienstzeit nach am nächsten daran war, vorzurücken, lebte seit Monaten beständig in der Angst, daß der bei größtem Fleiße und unangreifbarer Gewissenhaftigkeit auch noch ungewöhnlich schnell arbeitende Leo Seidel den Buchstaben M zugeteilt bekommen werde, was der zahllosen zu bewältigenden Müllers und Maiers wegen eine Beförderung außerhalb der Reihe, ein Überspringen Hohmeiers bedeutet haben würde.

Noch besorgte Seidel den ungefährlichen Buchstaben Y, wurde infolgedessen bei seinen Abschreibearbeiten nie gestört und benutzte, zusammen mit dem jüngsten Kollegen, der gleichzeitig angestellt worden war, ein Doppelpult, über dem nur eine Gasflamme brannte.

Die Herren Neubert und Hohmeier hatten jeder ein Pult für sich – mit je einer Gasflamme. Über Herrn Anks Pult befand sich, entsprechend seinem höheren Dienstgrad, ein zweiflammiger Gasarm mit grünen Lichtblenden. Und vor des Herrn Bureauleiters Pult stand zudem noch ein drehbarer Schreibsessel, auf dem ein dienstliches Lederkissen lag. Auch war sein Löschblattbügel bedeutend breiter.

Dieses festgefügte Dienstschema zu sprengen, die niederen Dienstgrade zu überspringen, war Seidels Bestreben. Das allmähliche Vorrücken bis zum breiteren Löschblattbügel wollte er sich ersparen.

Das war seinen Kollegen nicht entgangen.

Der Tag, an dem die Katastrophe sich ereignete, begann damit, daß Herr Hohmeier begann, sich zu schneuzen, indem er Kanzleibogen und den schmalen Löschblattbügel zur Seite räumte und das Taschentuch erst sorgsam auf die Schreibtischplatte breitete.

Unterdessen trat beim Schalter ein Pelerinenkünstler von einem Fuße auf den andern, rastlos wie ein Mensch, der ein natürliches Bedürfnis besetztseinshalber meistern muß, und beobachtete, wie Herr Hohmeier das Taschentuch erst mit einem großen Hausschlüssel, dann mit dem Löschblattbügel beschwerte. Und als er endlich nach der Adresse seines Freundes fragen konnte, erfuhr er, daß die Polizei selbst schon lange nach diesem Kunstmaler Ferdinand Wiederschein fahnde.

„Wir haben herausbekommen, daß dieser Maler seit vielen Wochen jede Nacht in einem andern Bett schläft. Indem er nämlich jeden Morgen sein Handtäschchen wieder mitnimmt und sich, wenn die Schlafenszeit herannaht, ein neues Unterkommen sucht für die Nacht ... Der meldet sich nicht einmal an bei uns.“

Der Diener entleerte den Neun-Uhr-Kohleneimer in den alten eisernen Füllofen, auf dem Eva, schon rotglühend, Adam den rotglühenden Apfel reichte. Des Künstlers Gelächter knallte durch das Bureau.

„Da gibt es aber nichts zu lachen. Das ist eine ernste Sache. Wenns alle so machten, welch eine Unordnung hätten wir dann hier.“ Herr Hohmeier redete noch vor sich hin, als er schon dabei war, das Taschentuch schneuzfertig über die gespreizten Finger zu hängen, wie ein Zauberkünstler, der fragt: ‚Wohin soll ich das Goldstück verschwinden lassen?‘

Während der Vesperviertelstunde sammelten sich viele Leute in dem dunklen Wartezimmer an. Die Beamten aßen ruhig weiter, ungestört vom Leben, das nur bis zum Schalterfenster herankam.

Die Ungeduldigen hüstelten, scharrten mit den Füßen, klopften endlich an das Schiebefenster. Der ganze Schalterraum stand voll Menschen.

Und als die Uhr Viertel elf schlug und Herr Hohmeier zum Schalter trat, stellte es sich heraus, daß einige wieder gegangen waren, und die gebliebenen neun Auskunftsuchenden unter Buchstaben C bis G fielen und somit Herrn Hohmeier unterstanden.

Der fragte freundlich, wer zuerst dagewesen sei. Darüber entstand Streit. Viele waren zuerst dagewesen. Da drückte ein schwarzer Kohlenhändler alle anderen in die Ecken und verlangte die Adresse einer Familie, die umgezogen sei, ohne vorher die Kohlenrechnung bezahlt zu haben.

Während Herr Hohmeier mit dem Zeigefinger die Fächer des Regals nach dem Personalakt abtippte, den Akt nicht fand, setzte der Streit im Schalterraum von neuem ein. Schließlich vereinigte der Zorn alle Streitenden gegen die Beamten.

Wieder dachte Seidel darüber nach, ob außer ihm wohl noch ein Mensch auf der Welt durch so eine teuflische Kleinigkeit wie die, daß es nur wenige Namen mit dem Anfangsbuchstaben Ypsilon gab, daran verhindert sein würde, sich auszuzeichnen und vorwärtszukommen.

Herr Hohmeier trat noch einmal zum Kohlenhändler, fragte ihn, ob er den Namen denn auch richtig aufgeschrieben habe. Alle schimpften, streckten die Zettel durch das Schalterloch.

„Sie erlauben, Herr Hohmeier, daß ich Ihnen helfe.“ Seidel sammelte die Zettel ein.

„Nein, ich kann das nicht erlauben. Bitte sehr, Herr Seidel, ich erlaube das nicht ... Es sind meine Buchstaben.“

Die Wartenden schrien dazwischen. Der Bureauvorsteher, der von dem Tumulte aus seinem Vesperzimmerchen herausgelockt worden war, verfügte, daß die beiden jungen Herren dies eine Mal mithelfen sollten. „Ausnahmsweise!“

Unter unheilvollem Schweigen des bleichgewordenen Herrn Hohmeier wickelte sich das Geschäft jetzt glatt ab.

Herr Hohmeier war nicht fähig, zu arbeiten. Ein ungeheurer innerlicher Aufruhr machte ihn blind. Die beinahe immer gegenwärtige Vorstellung, daß er sich am Tage seiner Beförderung eine goldene Brille kaufen und nach der übernächsten Beförderung sich mit dem neben ihm gealterten Mädchen einstweilen wenigstens verloben werde, schob sich auch jetzt hartnäckig in den Vordergrund. Immer wieder sah er sich, goldbebrillt, vor dem Traualtare stehen. So daß über eine Stunde vergangen war, bevor er gefunden hatte, was Seidel endlich einmal klar und deutlich gesagt werden müsse.

„Der sehr bedauerliche Vorfall von vorhin bedarf dringend der Aufklärung. Ich, meinerseits, muß Ihnen sagen, daß in diesem Bureau ein Sichvordrängen – ich könnte mich auch noch schärfer ausdrücken – nichts nützt ...“

„Und ich muß Sie bitten, mich nicht bei der Arbeit zu stören.“

„... denn wenn alle Beamten hier in diesem Bureau gewissenhaft ihre Pflicht tun – und das kann als sicher angenommen werden –, so daß keiner entlassen wird, werden Sie, Herr Seidel, in acht Jahren an meinem Pulte sitzen und in zwölf Jahren am Pulte des Herrn Ank ... Unterdessen werde ich an Herrn Anks Pult gesessen haben. Herr Ank an des Herrn Bureauleiters Pult. Und der Herr Bureauleiter wird, seinen Dienstjahren entsprechend, eine höhere Stelle in einem anderen Bureau einnehmen ... Es gibt in diesem Gebäude sehr viele Bureaus, die wir zu durchlaufen haben, ehe wir pensioniert werden. Ein Durchbrechen dieser Ordnung gibt es nicht. Das wollte ich Ihnen gesagt haben.“ Bebenden Mundes ging er an sein Pult zurück.

Und Leo Seidel, der schon am Anfang dieser plastischen Darstellung sich gesagt hatte, daß in einem Magistratsbureau das Wort ‚Freie Bahn dem Tüchtigen‘ ganz offenbar keine Gültigkeit habe, und daß somit ein schnelleres Vorrücken nahezu ausgeschlossen sei, schrieb noch am Abend des selben Tages peinlich sauber sein Entlassungsgesuch.

Die meterlange Tabakspfeife wie einen Offiziersdegen geschultert, kratzfußte der Korpsstudent Karl Lenz abgehackt und streng vor seinem früheren Schulkameraden Jürgen und fragte ihn, welchem Korps er angehöre.

„Ich studiere Philosophie, wie du weißt. Seit einem Jahre!“ sagte Jürgen stolz. „Einer Verbindung gehöre ich nicht an ... Ich wollte Herrn Professor Lenz meinen Besuch machen.“

Der noch immer in steifer Verbeugung stehende Korpsstudent zuckte mit dem Kopf nach vorn, und seinem Mund entfuhr, als er die Lippen öffnete, ein knallender Ton: „Gehören Sie nicht an? ... Vor allem: Ihnen zur Kenntnis, daß mein Vater vor einer Woche zum Geheimrat ernannt worden ist.“ Er machte linksum und blickte, dem Gast den Rücken zugekehrt, paffend zum Fenster hinaus.

Die wirkliche Welt um Jürgen versank. Alles natürliche Denken und Fühlen verschwand. Erst nach minutenlanger Pause sagte er: „Da gratuliere ich.“

Der Student antwortete mit einer weißen Dampfwolke, die an der Fensterscheibe hinaufstieg, rührte sich nicht. Und Jürgen saß plötzlich in einer glänzenden Studentengesellschaft, hatte ebenfalls eine grüne Mütze forsch im Nacken sitzen, das Couleurband schräg über der Brust. Alle trinken ihm zu. Er ist geehrt, geachtet, spielt eine Rolle. Kommt Karl Lenz und starrt ihn herausfordernd an. Jürgen starrt zurück. Und springt auf. Schweigen. Alle springen auf. Kartenwechsel. Jürgen schlägt sich tadellos. Phinchen ist totenbleich vor Bewunderung. Und die Tante läßt sich den ganzen Vorgang erzählen.

‚Er also starrt mich an. Nun, du kennst mich ja, Tante, und weißt, daß in diesem Falle die Forderung meinerseits unvermeidlich war. Meine Kommilitonen und ich zechen erst noch die ganze Nacht durch, als ob gar nichts geschehen wäre. Dann fährt die ganze Bande per Auto mit hinaus ins Wäldchen; sie warten im Wirtshaus auf mich. Ich also trete an, frisch und munter, wie aus dem Bade gestiegen.‘

‚Mein Gott, Jürgen, hattest du denn gar keine Angst?‘

‚Aber Tante! ... Also, er bekommt den besseren Platz, steht im Schatten eines Baumes, ich mit dem Gesicht gegen die Sonne ... Na, und schon beim ersten Gang – schwere Abfuhr natürlich.‘ ‚Nun, und jetzt?‘ ‚Gott, jetzt natürlich ehrenvolle Versöhnung. Denn wenn einmal Blut geflossen ist ... Je, das Hallo, als ich zurück in die Kneipe kam! Ja. Nun aber genug davon!‘

Der breitspurig und noch immer reglos am Fenster stehende Student war von blauem Dampfe eingehüllt. Aus dem Nebenzimmer erklang Gläserklirren. Er schnellte sofort herum, glotzte seinem Gast ins Gesicht.

Da knallte auch Jürgen mit den Absätzen. Die ineinander verkrampften Hände schüttelten sich. Beide Oberkörper zuckten mehrere Male ruckartig und schiefseitwärts aufeinander zu, bis, durch die Handkuppelung hergestellt, die wagrechte Zickzacklinie der zwei Ober- und Unterarme in Stirnhöhe feierlich verharrte.

Und während Jürgen sich auf das Kanapee zurückverbeugte, verbeugte der Student sich der Tür zu und ging in sein danebenliegendes Zimmer, wo auf dem Tisch drei Glas Bier für ihn bereitstanden.

Der Student hatte die Begrüßungsmaske mit in sein Zimmer getragen. Jetzt erst fiel sie von seinem Gesicht herunter. Und der Ausdruck dumpfer, wilder Konzentration nahm Platz, während er, das Bierglas in der einen, die Taschenuhr in der linken Hand, wartete, bis der Sekundenzeiger die Zahl Eins erreichte. Schon vorher war sein Mund ein großes Loch geworden. Plötzlich glotzten die Augen stier und tränten: das Bier stürzte in den Magen. „Bierjunge!“ Und das leere Glas knallte auf den Tisch.

Mit dem Worte ‚Bierjunge‘ spritzte ein Teil des Bieres im Bogen wieder heraus, während die Augen auf den Sekundenzeiger starrten. Das Gesicht des Studenten, der auf dem letzten Kommers von seinem Korpsbruder beim Bierjungen-Trinken besiegt worden war, verzog sich kläglich: er hatte mehr als eine Sekunde zu lange gebraucht.

„Ich habe wieder geschluckt. Ich schlucke noch. Das ist mein ganzer Fehler.“ Energisch trainierte er weiter: Der Sekundenzeiger erreichte die Eins. Großes Loch. Leeres Glas. Ein furchtbarer Brüllton: „Bierjunge!“

Wieder schnellte der im Nebenzimmer sitzende Jürgen erschrocken von der Kanapeelehne nach vorn und horchte gespannt. Wenige Sekunden später langte von oben herab die Hand des Herrn Geheimrat Lenz auf Jürgens Schulter. „Nun, mein Freund, welchem Korps gehören Sie an?“

„Bierjunge!“

„Ah, der Junge übt. Ja, schön ist die Jugend.“ Der Geheimrat Lenz trank gern Moselwein.

Was wird geschehen, wenn ich gestehe, daß ich keiner Verbindung angehöre, dachte Jürgen. Und sein Mund sagte: „Ich halte das für überflüssig.“

Die väterliche Hand rutschte von Jürgens Schulter herab und legte sich in die Hüfte des Geheimrats. Der Unterleib schien in die Brust hinaufzusteigen. Die Augen fragten: Was wollen Sie dann bei mir?

Endlich sagte der Geheimrat: „Junger Mann, nur wer einem Korps angehört, lernt die oberste aller Pflichten, die ihn erst befähigt, später zu den Ersten, zu den Führern seines Volkes zu gehören: die schwere, aber schöne und erhabene Pflicht des Gehorsams, das freie Beugen vor der Autorität, ohne welche nichts in der Welt bestehen kann ... bestehen kann. Die Narben im Gesicht des Korpsstudenten sind die Bürgschaft dafür, daß der ganze Mann, der für seine und für des Korps Ehre ohne zu zucken dem Gegner mit blanker Waffe gegenüber gestanden hat, auch später, wenns einmal so weit ist und Gott es will, bis zum letzten Blutstropfen dem Vaterlande die Treue halten wird, wenn es gilt, die Ehre des Reiches zu wahren ... Aber außerdem: wie wollen Sie vorwärtskommen? Wie anders wollen Sie es zu einer geachteten, einflußreichen Stellung bringen? ... Denken Sie an Ihren Vater. Er war mein Freund. Wir gehörten dem selben Korps an. Er war ein Mann.“

Und ist, wie ich jetzt weiß, zusammengebrochen und kaputtgegangen, weil er nicht erreichte, Vortragender Rat im Ministerium zu werden, dachte Jürgen.

Und glitt, während er durch die Straßen ging, noch eine halbe Stunde lang weiter auf dem glatten Gleis, das der Geheimrat vor ihn hingelegt hatte. Bei einem kleinen Kolonialwarenladen, in dessen Schaufenster ein langbärtiger Zwerg aus Gips eine Zigarre rauchte, blieb er stehen.

Haß und Ekel vor dem Jürgen, der in des Studenten Zimmer das imaginäre Duell ausgefochten hatte, packten ihn so plötzlich und so heftig, daß er sich auf das Mäuerchen setzen mußte, auf dem das Schaufenster ruhte. „Welch ein erbärmliches, widerliches, feiges Schwein bist du!“ rief er dem Zwerg im Schaufenster zu. Jede Bewegung, jedes Wort, das jener Jürgen gesprochen hatte, folterte den Jürgen, der, brennend vor Scham, auf dem Mäuerchen saß.

Da schwenkte, Lack-, Glacé- und Hosenfalten-glatt, Adolf Sinsheimer um die Ecke, nahm schon in der Ferne feierlich den Zylinder ab. Unwillkürlich hatte auch Jürgen feierlich gegrüßt.

„Große Aufregung im Hause Lenz, was?“ fragte Adolf, nachdem er erfahren hatte, wo Jürgen gewesen war. „Wirklich nichts bemerkt? Dann wissen die es einfach noch nicht ... Gestern nämlich ist Katharina von zuhause durchgebrannt. Schlankweg zu den Anarchisten! Die fabriziert jetzt Bomben. Auch eine Beschäftigung! ... Übrigens, du gestattest doch, daß ich mich bedecke?“

„Weshalb solltest du deinen Zylinder in der Hand halten!“ Jürgen war wütend.

„Ein ereignisvolles Jahr! Man entwickelt sich schneller, als man geglaubt hat. Ich sitze längst im Direktionsbureau. Rechte Hand des Chefs! Und was das Leben anlangt, mein Lieber, da akzeptiere ich keine mehr, die nicht tadellos gewachsen ist. Vor allem die Beine! Kann mir nicht mehr passieren.“

Was ist da zu tun – er entwickelt sich, dachte Jürgen und blickte Adolf nach, der frisch und glatt davonschritt. ‚Was ist da zu tun.‘

Plötzlich stand Adolf wieder vor ihm. „Leo Seidel war bei mir. Total zusammengeklappt! Mein Alter hätte ihn ja als Schreiber in unserer Buchhaltung angestellt. Er aber erkundigte sich nach den Aufstiegsmöglichkeiten. Was sagst du dazu? ... Mein Alter fragte ihn, ob er ihm vielleicht Prokura erteilen solle. Schwuppdich – war er draußen ... Später erfuhr ich, daß er zu allen früheren Mitschülern läuft, deren alte Herren, wie er glaubt, ihm einen Posten mit – husch, die Lerche! – Aufstiegsmöglichkeiten verschaffen könnten.“

Auch bei Jürgen war Seidel gewesen. Jürgen hatte ihm vorgeschlagen, er solle mit ihm zusammen einen Bund der Empörer gründen. Seidel hatte geantwortet, dazu sei er nicht dumm genug. Und der Rektor hatte Seidel geantwortet, einem derart unbescheidenen Menschen, der aus Unzufriedenheit leichtfertig sein Glück verscherzt habe, noch einmal eine Stelle zu verschaffen, müsse er prinzipiell ablehnen.

Einige Monate war Seidel bei dem Bankier Wagner in der Buchhaltung beschäftigt gewesen. Aber auch in diesem großen Bankhause waren die Wege zu den zäh verteidigten einträglichen Posten zwanzig Jahre lang und führten, gezogen mit dem Lineal, zwischen unübersteigbar hohen Mauern durch.

Seidel hatte bald erkannt, daß hier alle Angestellten nicht nur unangreifbar gewissenhaft, sondern ausnahmslos auch flink wie die Kreisel waren; daß es Hohmeiers hier überhaupt nicht gab; und daß niemand Bankangestellter werden und bleiben durfte, der Bankier werden wollte.

Der schwindsüchtige Briefträger und seine Frau waren gestorben, die vier jüngeren Geschwister in das Waisenhaus gebracht worden.

Die neue Mietpartei war schon eingezogen in das Hofzimmer, in dem Seidel sein ganzes Leben vom Tage der Geburt an in immer gleicher Armut verbracht hatte. Es war ihm erlaubt worden, die altersschwachen Möbel so lange in der Holzlage einzustellen, bis er einen Altwarenhändler fand, der auch den armseligsten Gegenstand nicht für ganz wertlos hielt.

Den nach Begleichung der letzten Vierteljahrsmiete und der Schulden beim Kolonialwarenhändler und Bäcker von dem Erlöse der Wohnungseinrichtung übriggebliebenen winzigen Rest des Geldes in der Tasche, das Herz kalt vor Energie und zielbewußter Willenskraft, von Wehmut, Feigheit und schwächlichen Überlegungen nicht gehemmt, verließ Leo Seidel um acht Uhr früh für immer seiner Jugend stinkenden Hof, in dem nie etwas schön gewesen war, außer einem Büschel Löwenzahn, der, kümmerlich und zäh, jedes Jahr in der gepflasterten Ecke geblüht hatte.

Seidels Herz hatte ihn niemals zu den gelben Blüten geführt; es war, jenseits von Gefühlsüberschwang, ein gehorsam arbeitender Muskel und wurde vom Gehirn regiert, das Seidel zum Träger eines zielklaren Willens machte.

Losgeschnitten von der Vergangenheit, vor sich das Obdachlosenheim, stand er blank auf der Straße, völlig auf sich selbst gestellt.

Herabgesunkener Morgennebel, der nur die Dächer der zwei nächsten Häuser links und rechts von Seidel freiließ, hatte die Straße, die wenigen Passanten und alle Geräusche verschlungen. Seidel stand grau in grau. Und erklärte sich selbst, weshalb für ihn Grund zum Jammern nicht vorhanden sei: Er habe Zeit, sei jung und gesund und bereit, rücksichtslos seinem Ziele entgegenzugehen.

Um dieses Zieles Inhalt und Ausmaß einwandfrei abzustecken, sondierte er vorstellungskräftig die Idee eines Friseurgehilfen, der darauf spekuliert, in das Geschäft einer Friseurswitwe einzutreten mit dem Ziele, die Witwe zu heiraten und Geschäftsinhaber zu werden; einen jungen Handlungsgehilfen ließ er mit der reizlosen Tochter des Chefs zum Standesamt gehen und ihn in einem dunklen, duftgeschwängerten Laden ein warmes Drogistenglück bis zum Tode genießen. Unbelasteten Gemütes folgerte Seidel, daß auch er in irgendein Geschäft eintreten und sich im Laufe der Zeit ein auskömmliches Dasein in bescheidenen Grenzen erarbeiten könnte.

Er trennte sich von dem Ziele des Friseurgehilfen, vom Drogisten, und wandte sich seiner Laufbahn zu, die zwar noch kleiner und unsicherer als die eines Drogistengehilfen beginne, aber Lücken und Spalten und Maschen habe, durch die er durchschlüpfen zu können hoffe, worauf die Laufbahn in Form einer Spirale unter zäh zu überwindenden Schwierigkeiten aller Art ansteigen und in der Berliner Börse enden werde. Dann breitete sich das Leben aus: Jedes Wort des Finanziers Leo Seidel hat Gewicht; eine von ihm verweigerte Unterschrift verursacht Beklemmung und Katastrophen in den Bankhäusern.

Seidels Augen schlossen sich halb. Er flüsterte: „Aus eigener Kraft! Keiner meiner Mitschüler wird sich mit mir vergleichen können; sie alle werden hinter mir zurückbleiben, obwohl sie geebnete Wege vorfanden.“

Er befand sich auf dem Wege zu dem Platz, wo die Schaubudengerüste aufgestellt wurden für den am folgenden Tage beginnenden großen Jahrmarkt. Er dachte, gegen die hier beschäftigten verkommenen Existenzen werde ein gewissenhafter Mensch ganz besonders scharf abstechen und, über sie hinweg, bei einem Schaubuden- oder Karussellbesitzer schnell zu einer Vertrauensstellung gelangen können. Außerdem sei er hier nicht, wie der Droschkengaul, zwischen zwei Deichseln gespannt, da allerlei Möglichkeiten, auszubrechen, sich ergeben würden.

Seine kantige, gewaltig breite Stirn bildete zusammen mit dem sehr spitzen Kinn ein beinahe gleichwinkliges Dreieck. Das Dreieck war mit alten Sommersprossen dicht besetzt. Aber auch in bezug auf seine Streberei hatte er in der Schule den Spitznamen „Sprosse“ bekommen. „Von Sprosse zu Sprosse.“

Burschen in verblichenen Sweaters, die Zigarette hinter dem Ohr, rissen Pflastersteine heraus, hockten, in Morgennebel gehüllt, auf den Gerüsten, nagelten, schrien, schraubten die Holzteile fest. Alles fügte sich wie immer ineinander.

Hier ist durch Fleiß und vor allem durch Gewissenhaftigkeit sicher mehr zu erreichen als in einem Magistratsbureau, dachte Seidel und fing vor dem grünen Wagen den Schiffschaukelbesitzer ab, zog den Hut. „Verzeihung, ich möchte fragen, ob Sie noch eine Hilfskraft bei Ihrem Unternehmen brauchen.“

Verdutzt sah der Mann den solid gekleideten jungen Herrn an, die saubere Wäsche. „Ich verstehe nicht recht. Ich brauche zwar noch zwei Adjunkte zur Bedienung von vier Schiffen ... Aber Sie? Was wollen Sie?“

„Ich leiste jede Arbeit, die Sie verlangen ... Was ist das: Adjunkte?“

„So heißen die Burschen bei den Schiffschaukeln ... Zwei sind vorgestern eingesteckt worden. Acht Wochen Gefängnis! Hatten wieder geklaut. Aber schon bevor sie bei mir waren“, setzte er schnell hinzu.

„Demnach können Sie mich also brauchen?“

Der Mann hob abwehrend beide Hände in Kopfhöhe: „Freundchen ... haben Sie Papiere? Waren Sie schon einmal bei so was? ... Zuerst müssen Sie mir einmal nachweisen, daß Sie nicht von der Polizei gesucht werden ... Und vor allem möchte ich wissen, weshalb Sie von der Polizei gesucht werden.“

Da reichte Seidel dem Manne sein Abiturientenzeugnis und das Entlassungszeugnis vom Stadtmagistrat, das den Vermerk über Seidels Tüchtigkeit, Fleiß und Gewissenhaftigkeit enthielt.

Der Mann wunderte sich nicht. Ihm waren während seiner vierzigjährigen Jahrmarktstätigkeit schon alle möglichen Existenzen untergekommen.

„Auf meine Gewissenhaftigkeit beim Geldeinsammeln könnten Sie sich verlassen.“

„Da wären Sie der erste, auf dessen Gewissenhaftigkeit beim Geldeinsammeln ich mich verlassen würde. Aber brauchen kann ich Sie.“ Er stieg, von Seidel, gefolgt, in den grünen Wagen, in dem, transportfest, die zwölf funkelnden Schiffe standen.

Der kräftige Bursche mit Ledergurt, rotem Sweater und einem großen, pflaumenblauen, herzförmigen Mal auf der Backe tat, als habe er beim Putzen der Messingteile keine Pause gemacht. Der Besitzer schickte ihn hinaus. „Hier, das Handgeld.“

„Handgeld brauche ich nicht ... Ihre Schiffschaukel scheint übrigens ganz neu zu sein ... Wenn Sie zufrieden sind mit mir, werden Sie mir meinen Lohn schon geben.“

Das hatte der Mann noch nicht erlebt. Beinahe verlegen sagte er: „Ja, ich habe die modernste Schiffschaukel der Messe. Kostete mich ein Vermögen! Das will verdient sein. Sie ist einen Meter siebenzig höher als die der Konkurrenz ... Können Sie morgen früh antreten?“

Schnellen Schrittes ging Seidel zu dem Altwarenhändler und holte den Gegenstand ab, den er nicht mitverkauft hatte.

„Das einzige noch einigermaßen brauchbare Stück! Der ganze übrige Plunder ist vollkommen wertlos“, wiederholte der Mann, der am Tage vorher heftig und erfolglos um den Besitz dieses Gegenstandes gekämpft hatte. „Elender Plunder!“

„Wie kann eine Wohnungseinrichtung, in der eine große Familie fünfundvierzig Jahre gelebt hat, plötzlich ganz wertlos sein!“ Seidel nahm den in braunes Packpapier eingewickelten Gegenstand unter den Arm. Stand eine Stunde später im Studierzimmer vor Jürgen, erklärte, auf dessen Fragen hin, mit drei Sätzen, welche Arbeit und weshalb er sie angenommen und welches Ziel er habe. „Ich will zu Geld kommen, reich werden. Sehr reich! Reicher als ihr alle seid!“

„Bei einer Schiffschaukel? Du, ein mehr als gewissenhafter Mensch!“

„So verkommen würdest du niemals, wie? Was würden die Leute sagen? ... Mir jedoch ist das einerlei. Muß mir gleich sein! Gutbürgerliche Gefühle und Sentimentalitäten kann ich mir nicht erlauben. Ich brauche Bewegungsfreiheit, um alle Möglichkeiten ausnützen zu können. Im Magistratsbureau und auch in irgendeiner anderen festen Stellung gibt es keine Möglichkeiten für mich. Bin kein Fabrikantensohn ... Ich will mein Ziel erreichen. Und ich werde es erreichen. Und dann werde ich erst recht rücksichtslos sein.“

„Dein Haß ist ja recht schön ...“

„Wieso ist er schön?“

„Nun, ich kann deinen Haß begreifen; aber Reichtum ist doch kein erstrebenswertes Ziel. Was bist du, was hast du, wenn du reich bist und die Armen wie bisher arm bleiben und überhaupt alles so bleibt, wie es ist? Dann gehörst du bestenfalls zu denen, die gehaßt werden. Wem nützest du damit?“

„Mir!“ Aller Haß, der in einem Menschenkörper Raum hat, sammelte sich in Seidels Blick, gerichtet auf Jürgen, der immer sorgfältig gekleidet gewesen war, nie gehungert, regelmäßig gebadet und die Demütigungen der Armut nie erfahren hatte. „Du machst Worte. Du weißt doch sehr gut, was Reichsein bedeutet!“

„Ich war in anderer Hinsicht immer so arm wie du. In unserer Zeit sind die Menschen arm. Alle! Auch die Reichen, glaube ich. Furchtbar arm!“

Da konnte Seidel nur die Lippen verziehen. „Und was für ein Ziel hast du?“

„Ich weiß nichts. Gar nichts! ... Das Ganze ist unerträglich. Ich sage: das Ganze muß ganz und gar anders werden.“

„Nun, dann wird es ja wohl anders werden.“ Dabei schälte er das Packpapier herunter von dem poliertem, zartgebauten Nähtischchen seiner Mutter und bat, Jürgen möge es für ihn aufbewahren.

„Wenn du schon alle Beziehungen zu deinem bisherigen Leben abbrichst, was hängst du dich da an das Nähtischchen? Dieser Art Gefühle können dir – einem Menschen, der solche Ziele hat – doch nur hinderlich sein. Oder sollten Rücksichtslosigkeit und Sentimentalität einander vielleicht doch nicht ausschließen?“ Jürgen hätte nicht sagen können, weshalb er Seidel diesen Hieb versetzte.

„Mit dem Ding sind meine einzigen schönen Kindheitserinnerungen verbunden. Wenn die Mutter flickte, saß ich am Boden, durfte mit dem Einsatz spielen.“ Er schob die Fächerschublade wieder hinein ... „Na, heb’s auf ... Zweifellos wird die ganze Bande auf die Messe kommen, um mich als Schiffschaukeladjunkt zu sehen. Mögen sie kommen!“ Die Lippen bebten. Die Sommersprossen traten stärker hervor, so weiß war das Gesicht geworden.

‚Vielleicht wird er ein sehr reicher, geachteter Mann werden; im Magistratsbureau würde er ein mittelloser geachteter Mann geworden sein ... Rein äußerliche Rangstufen: arm, wohlhabend, reich, sehr reich, sehr reich und gebildet, Millionär ohne, Millionär mit Geschmack und Kultur, Großfinanzier – die innere Linie ist bei allen die selbe. So ist heute das Leben ... Und ich? Wie stehts mit mir? Was soll, was will ich werden? Was und wie will ich sein? Wie werde ich in zwanzig Jahren sein?‘ Jürgen fand keine Antwort.

Das jüngste Mitglied des von Jürgen gegründeten Bundes der Empörer, ein vor dem Abiturientenexamen stehender Gymnasiast, hatte bei der Gründungssitzung erklärt, einer sei zuviel auf der Welt, entweder müsse er sich oder den Geschichtsprofessor vergiften. Und war von seiner Ansicht nicht abzubringen gewesen durch Jürgens Entgegnung, daß dann ja immer noch einige tausend Geschichtsprofessoren am Leben bleiben würden.

Als einige Tage später auch noch die zwei andern Mitglieder, fünfundzwanzigjährige, halb verhungerte Burschen, die behaupteten, als Matrosen und Goldgräber schon die ganze Welt gesehen zu haben, in der Villa erschienen waren, versehen mit einem Drahtreif voll Sperrhaken und entschlossen, die Wocheneinnahme eines Metzgermeisters, der jeden Freitag verreist sei, unter Führung ihres Vorsitzenden und mit Hilfe der Sperrhaken zu holen, war der Vorsitzende Jürgen aus dem Bunde der Empörer ausgetreten.

Die Aussprache mit einem schon älteren Manne, der sechzehn im Zimmer frei umherfliegende Kanarienvögel und eine Bulldogge besaß, aus Liebhaberei auch vorgedruckte Postkarten täuschend kolorierte und behauptet hatte, er halte die Fäden der anarchistischen Bewegung der ganzen Welt in seiner Hand, in Mexiko dürfte, entzündet durch zwei seiner Chiffretelegramme, die Geschichte demnächst platzen, war von Jürgen nach drei Minuten abgebrochen worden.

In der Jahresversammlung des Vereins für Bevölkerungspolitik und Säuglingsschutz, in der die Damen beschlossen hatten, uneheliche Wöchnerinnen und Kinder in das Heim prinzipiell nicht mehr aufzunehmen, war Jürgens Frage an das Leben ebenso unbeantwortet geblieben, wie durch die Rede des Rektors am Grabe des jüngsten Mitglieds des Bundes der Empörer, jenes Gymnasiasten, der sich am Tage nach dem mißglückten Examen erhängt hatte.

Nach achtmaliger Anwesenheit in den kostbar, geschmack- und weihevoll eingerichteten Räumen der ‚Schule zur innerlichen Vervollkommnung‘, wo brillantengeschmückten alten Damen, langhaarigen Jünglingen und kurzhaarigen Mädchen von sehr gebildeten Menschen empfohlen wurde, das Beste von Laotse mit dem Besten von Buddha zu vereinen und diese höhere Einheit zur Richtschnur ihres Seelenlebens zu machen, war Jürgen, der geäußert hatte, die Weisheit dieser Richtschnur bestehe ganz offenbar darin, die eigene Seele zu maniküren und sich um die Not der andern nicht zu kümmern, sei also handfester Egoismus und von irgendwelcher Hingabe noch weiter entfernt als der Unsinn des Bulldoggenbesitzers mit den Kanarienvögeln und Chiffretelegrammen, höflich und leise ersucht worden, den ‚Stillen Stunden innerer Einkehr‘ von nun an fern zu bleiben, worauf er mit steigender Sympathie wieder an die zwei hungrigen Goldgräber mit den Sperrhaken gedacht hatte.

Von einem Philosophiestudenten war Jürgen einem dunklen, sehr schönen jungen Mädchen asiatischen Gesichtsschnittes vorgestellt worden, das ungeniert sich sofort fast ganz entkleidet und schreitend zu tanzen begonnen hatte, die dünnen Finger zu Boden gespreizt und das verzückte Gesicht emporgerichtet. Noch genau ein Jahr werde sie, hingegeben ihrer Kunst, ganz abgeschlossen von der Welt leben und dann durch ihren Tanz die Menschheit erlösen. Sie werde in den Kirchen tanzen. In der Ecke war ein schwarzer junger Mann gesessen und hatte ihr geglaubt.

In der Erkenntnis, daß die Weigerung, Leichenteile zu fressen, vielleicht erst in tausend Jahren Bestandteil einer von jeglicher Barbarei befreiten Lebensordnung, zur Zeit aber nur Sache des Geschmackes einzelner und gewiß nicht das tauglichste Mittel sein könne, den Kampf gegen das Ganze und das Umstürzen erfolgversprechend zu beginnen, war Jürgen, zur Genugtuung der Tante, schon nach einer Woche vom Vegetarismus wieder zurückgekehrt zum Fleische.

Die Entwürfe zweier Dramen, des Inhalts, daß einem anständigen Zeitgenossen des zwanzigsten Jahrhunderts nur die tragische Wahl bleibe, Selbstmord zu begehen oder völlig bewußt selbst ein Raubtier zu werden, hatte er schon vor einem halben Jahre auf der bewaldeten Höhe verbrannt und war liegengeblieben neben der Asche, lesend in einem Buche, dessen weltberühmter Autor erklärte, wenn die Besitzenden ganz freiwillig nur all ihres Besitzes und ihrer Macht über die Nichtbesitzenden, sowie alle zusammen nur jeglicher Lüge entsagen würden, sei in der selben Stunde die Menschheit erlöst.

‚Das dürfte wahr sein; fragt sich nur, welche Maus und auf welche Weise sie der Menschheit, dieser milliardenfüßigen Katze, die Schelle anhängen soll, welche bewirkt, daß wir in allem wahrhaftig sein können‘, hatte Jürgen damals gedacht.

War auf dem Rückwege, sinnend und suchend und rat- und hoffnungslos und nur, um nichts unversucht zu lassen, zu den aus Nord- und Süddeutschland stammenden vier Jünglingen gegangen, die zusammen mit drei Mädchen nahe der Stadt vor kurzem eine Siedlung gegründet hatten.

Staunen und Begeisterung über den kameradschaftlich freien Ton zwischen diesen hellblickenden Mädchen und schwerarbeitenden Jünglingen und über die geistig großartige Lebensauffassung, die in dem Zeichen unbekümmerter Jugendkraft und befreiend humorvoller Ablehnung des Ganzen stand, hatten Jürgen erfüllt.

Ein Siedler mit großer Rundbrille in einem mageren, noch unfertigen, nicht ganz hautreinen Gesicht hatte den beglückt durch die Nacht heimwärts Marschierenden eingeholt und ihm einen Stoß Aufklärungsschriften mitgegeben, darunter eine von den Siedlern gemeinsam geschriebene und im Selbstverlage erschienene Broschüre ‚Kapitalismus, Universität und freie Jugend‘ und ein vierseitiges Werbeflugblatt ‚An die Gesinnungsgenossen‘, dessen erster Satz lautete: „Wir haben der Universität, dieser kapitalistischen Bedürfnisanstalt, die Rückseite gezeigt und im Vorfrühling mit zusammengepumptem Gelde einen verlotterten Bauernhof gekauft, der, obgleich mit Hypotheken gegenwärtig noch schwer belastet ...“ Der Schlußsatz lautete: „Unsere Siedlung ist eine kleine Insel im großen Stunk.“

Vernachlässigung des Universitätsbesuches, Verzweiflung und Drohungen der Tante, Ablieferung der Kollegiengelder an die Siedler, die dringend Saatgut gebraucht hatten, mühevolle Feld- und Gartenarbeit und an den Abenden stundenlange, heftig geführte Diskussionen, aufregend und beglückend für Jürgen und oft sehr gefährlich für den Weiterbestand der Siedlung, waren gefolgt.

Tag und Nacht offene Fenster. In den Stuben je ein Feldbett, ein Handköfferchen und sonst nichts. Die Wände, hell gestrichen, leuchteten blau, grün, rosa.

„Morgen kommt Lili mit ihrem Kinde aus dem Gebirg herunter.“

Wie lebendig das klingt, hatte Jürgen gedacht. ‚... kommt Lili mit ihrem Kinde aus dem Gebirg herunter.‘

Anfangs waren die Siedler in allen Versammlungen als Sprecher aufgetreten und hatten die anwesenden Bürger verblüfft und gereizt durch ihre respektlosen Reden gegen Staat und Kirche, Schule, Ehe, Eigentum, Zins- und Hypothekenräuberei.

Der kirchenfeindliche Verein ‚Gedankenfreiheit und Feuertod‘, der seit Jahren erfolglos um die Genehmigung kämpfte, sein schon erbautes Krematorium in Betrieb setzen zu dürfen, hatte, nachdem in der öffentlichen Protestversammlung von dem Siedler mit der Rundbrille erklärt worden war, er persönlich habe ja gar nichts dagegen einzuwenden, wenn die Anwesenden sich schon morgen einäschern ließen, nur glaube er nicht, daß dadurch der große Stunk merklich vermindert werden würde, die Polizei auf Siedler und Siedlung aufmerksam gemacht.

Kartoffelernte, Hypothekenzinsforderungen, Herbstbeginn, kürzer werdende Tage, in dem selben Maße verlängerte, immer heftiger werdende Diskussionen. Und eines Tages waren die Handköfferchen und Lili mit dem Kinde und die Siedler verschwunden gewesen, unter Zurücklassung der sieben Feldbetten, die, zusammengeklappt und aufeinandergeschichtet, in dem offenen Schuppen lagen.

Der Bauer hatte seine Kommoden, wandbreiten Eichenschränke und Riesenfederbetten wieder eingestellt, die grünen, rosa und blauen Wände dunkel schabloniert und die Heiligenbilder aufgehängt.

Einige Wochen später war von dem Siedler mit der Rundbrille eine Postkarte aus Berlin gekommen: Die Siedlung sei aufgeflogen. Die Gründe, eine schwere Menge, könne Jürgen sich ja denken. Lili habe sich noch nicht entschließen können; aber er sei Mitglied der sozialistischen Partei geworden. Und damit Punkt.

Wenn Jürgen an diesen Herbstabenden, da es im vornehmen Villenviertel schon ganz still war, am Fenster saß und, zurückdenkend an sein ergebnisloses Fragen und Suchen, hinaushorchte in die Nacht, vernahm er die fernher dringenden Töne der Drehorgeln.

Die fünfzig verschiedenen Melodien zusammen erregten bei manchem Besucher schon Schwindelgefühl, wenn er auf dem Jahrmarkt noch gar nicht angelangt war. Paukenschläge und Trompetenstöße drangen siegreich durch.

Alles drehte sich, funkelte und flog. Die Mädchen klammerten sich an ihre Liebhaber an, schrien auf, wenn die Berg- und Talbahn in die Tiefe sauste, im rosa beleuchteten Tunnel verschwand. Und an der farbensprühenden Budenreihe entlang zog die schwarze Menschenmenge. Alle Ausrufer waren schon heiser, luden hinreißend liebenswürdig ein. Die Konkurrenz war groß.

Trotzdem hatte sich Herr Rudolf Schmied in seinem grünen Wagen zu einem Schläfchen niedergelegt und Seidel die Aufsicht und das Geldeinsammeln anvertraut. Denn tags zuvor, in früher Morgenstunde, als noch kein Budenbesitzer, kein Adjunkt dagewesen war, der die Einnahme hätte kontrollieren können, hatte Seidel kassiert, sich vom Lehrer der Knabenklasse, die geschaukelt hatte, eine Empfangsbestätigung ausstellen lassen und Geld und Schein gewissenhaft Herrn Rudolf Schmied abgeliefert.

Dieser Empfangsschein hatte wie tödliches Gift auf das Mißtrauen des Herrn Schmied gewirkt. Die Adjunkten vermuteten in Seidel einen Verwandten des Herrn Schmied, unterordneten sich ihm, lieferten willig die Einnahme ab.

Die immer besetzten zwölf Schiffe der schönen, besonders hohen Schaukel flogen unausgesetzt. Die sieben der alten, niedrigen Schaukel daneben hingen fast immer reglos. Die Adjunkte luden brüllend ein; der Orgelspieler drehte wie besessen: alle drängten vorbei zur hohen Schaukel.

Seidel blickte starr ins Publikum und befahl, als er Herrn Hohmeier entdeckte, gleichgültigen Gesichtes dem Adjunkten mit dem pflaumenblauen Herzen auf der Backe, der von seinen Kollegen ‚Das Herz‘ genannt wurde, das letzte Schiff in der Reihe anzuhalten, da die Tour zu Ende sei.

Schon preßte ein anderer Adjunkt, der ein abschreckend großes, pferdekopfähnliches Gesicht hatte, das Anhaltbrett gegen den Kiel des allmählich sich totschaukelnden Schiffes. Eine neue Tour begann. Seidel sammelte ein. Der Magistratsbeamte ließ ihn nicht aus den Augen, die vor Hohn und Genuß funkelten. Auch die zukünftige Braut des Herrn Hohmeier machte große Augen. Sie hatte ein ganz mageres, blasses Gesichtchen.

„Das Riesenweib! Wie sie ißt! Wie sie trinkt! Wie sie schläft! Brustumfang 154! Alles andere dementsprechend! Kolossal! Jedem Besucher erlaubt, nachzuprüfen! Brustumfang 154!“ schrie der Ausrufer links neben der Schiffschaukel.

Und ein anderer: „Hopp hopp hopp hopp hopp!“ Der ritt ohne Pferd dem Publikum einen eleganten Trab vor zugunsten des ‚Hippodrom von Eder, wo reiten kann ein jeder‘.

Ein kleiner, verhärmt aussehender Budenbesitzer, auf dessen Schulter ein abgerichteter Rabe saß, der Kopf und Beine und flügellahme Schwingen ruhelos bewegte, sagte zu Jürgen: „Treten Sie ein: Hier wird jedes Menschen Sehnsucht erfüllt.“

Plötzlich stand Jürgen, der blicklos den verhärmten Alten anblickte, mit Katharina Lenz in dem Laubgang beschnittener Korneliuskirschen. Die Tante führt ihn am Arme weg von Katharina.

Wüßte ich, was ich will, dachte er, dann würde ich jetzt Katharina aufsuchen; aber ich weiß heute nicht mehr, als ich damals wußte.

Bei der kleinen Schiffsschaukel entstand Tumult; sie wurde plötzlich von Fahrgästen gestürmt: Der Besitzer hatte ein Plakat ausgehängt, auf dem stand: ‚Hier kostet die Tour den halben Preis‘. Höhnisch blickte er zu Seidel hinüber, dessen Schiffe jetzt reglos hingen.

Seidel stürzte zum Besitzer. Der rieb sich entsetzt den Schlaf aus den Augen, wollte ebenfalls für den halben Preis schaukeln lassen.

„Wenn Sie das tun, kommt man zwar wieder zu Ihnen, weil unsere Schaukel höher ist, aber die Einnahme würde fortan nur die Hälfte betragen. Ihre Schaukel wäre entwertet.“

„Und so verdiene ich gar nichts. Schreiben Sie sofort ein Plakat. Das Herz soll helfen.“ Er tanzte vor Aufregung.

„Ich mache Ihnen den Vorschlag ...“

„Nichts! Nichts! Schnell, Freundchen! Die Zeit vergeht.“

„Wollen Sie riskieren, heute abend keinen Pfennig mehr einzunehmen, wenn Sie dafür an den folgenden Tagen wieder die volle Einnahme haben würden?“

Herr Rudolf Schmied warf die Arme: „Was? Wie? Was? Wie ist das?“

„Lassen Sie ganz umsonst schaukeln.“

Da schrie Herr Schmied mit vollen Lungen so lange nach dem Halben-Preis-Plakat, bis Seidel ihm auseinandersetzte, dann müsse auch der andere umsonst schaukeln lassen, aber es käme darauf an, wer es länger aushielte. „Sie sind ein wohlhabender Mann; der Konkurrent steht vor dem Bankerott. Sie warten ganz einfach, bis er zu Ihnen kommt und bittet, daß beiderseits wieder um den ganzen Preis geschaukelt werden soll.“

Herrn Rudolf Schmieds altes Messegesicht leuchtete.

Seidel rief Das Herz, das Pferdegesicht und die andern Adjunkte in den Wagen. Viele hundert kleine, improvisierte Billetts wurden eiligst geschnitten, gestempelt. Und auf dem gewaltigen Plakat stand: ‚Wer ein Billett hat, fährt ganz umsonst in Rudolf Schmieds modernster und höchster Schaukel der Welt‘.

Das Herz brüllte, schleuderte die Zettelchen ins Publikum. Das nahm die Schaukel im Sturm. Seidel beobachtete die Konkurrenzschiffe, die sich entleerten und nicht mehr füllten.

Ein ungeheurer Tumult erhob sich. Das Hinüber- und Zurückbrüllen der beiden Besitzer hatte das ganze Messepublikum angezogen. Viele Budenbesitzer kamen geeilt, zu erfahren, was ihnen das Publikum entzog. In der ersten Reihe stand Herr Hohmeier.

Eine Viertelstunde später kostete die Tour wieder den ganzen Preis. Seidel hatte im Wagen des Herrn Schmied die Verhandlungen geleitet.

Der Besitzer der Berg- und Talbahn, des größten Unternehmens der Messe, fing Seidel ab, legte ihm die Hand auf die Schulter: „Ich brauche eine Hilfe. Wollen Sie Geschäftsführer bei mir werden? ... Das haben Sie großartig gemacht.“

„Ich bin bei Herrn Schmied angestellt.“

„Ich zahle Ihnen das Dreifache.“

„Ich mache voraussichtlich schon morgen eine eigne Bude auf ... Aber eine Idee will ich Ihnen verkaufen für Ihr Unternehmen!“

„Das wäre?“

„Schreiben Sie eine Erklärung, daß Sie mir Zweihundert bezahlen, wenn Sie meine Idee ausführen.“

„Hundert!“

„Zweihundert!“

Seidel steckte den Zettel ein. „Bei Ihnen fahren hauptsächlich Liebespärchen, weil sie in den scharfen Kurven gegeneinander geworfen werden.“

„Das stimmt. Darauf spekuliert die Konstruktion.“

„Und dann noch wegen des Tunnels. In diesem Tunnel verschwinden die Pärchen besonders gern. Das habe ich beobachtet.“

„Aber sicher!“

„Der Tunnel ist mit roten Glühlämpchen erhellt ...“

„Natürlich! Rosa!“ sagte der Mann mit großer Gebärde.

„Lassen Sie morgen von Ihrem Maschinisten eine Vorrichtung anbringen, die den Kontakt unterbricht, so daß es eine Sekunde dunkel wird im Tunnel, dann wieder hell, dunkel ... Die Liebespärchen werden sich danach richten.“

Strahlend trat Herr Rudolf Schmied zu den beiden.

Seidel ging auf seinen Posten zurück, rief Das Herz zu sich. Der war der Sohn eines bankerottgewordenen Schaubudenbesitzers, dessen Tiere krepiert waren. Seidel hatte erfahren, daß Das Herz den schwer zu erlangenden Gewerbeschein besaß und jederzeit eine Bude aufmachen konnte. „Was für Tiere waren es denn?“

Das Herz schrie in großer Erregung: „Eine Riesenschildkröte und ein Flußpferd. Sie tanzten zusammen Menuett.“

Seidel überlegte, ob ein Mensch mit einem Pferdegesicht beim Publikum Erfolg haben würde. Das Herz erklärte sich bereit, den Gewerbeschein beizusteuern; das Pferdegesicht stellte sich selbst zur Verfügung; Leo Seidel die Idee und das Geld. Fehlte noch die Bude.

Die stand unbenützt neben der Hauptattraktion der Messe: ‚Herrn August Schichtels Spezialitäten- und Zaubertheater‘, dessen Zulauf enorm war. Wer das Unglück hatte, seinen Platz neben Herrn Schichtel zu bekommen, konnte kein Geschäft machen. Deshalb hatte der Besitzer der Bude gar nicht eröffnet.

Der verhärmte Alte, dessen von niemand beachtete Bude rechts neben dem Zaubertheater stand, zeigte, als Jürgen, schon heimwärtsstrebend, noch einmal vorbeiging, wieder einladend die Handfläche: „Hier wird jedes Menschen Sehnsucht erfüllt. Treten Sie ein.“

Einige Tage später schritt Jürgen, der, aus Neugier, zu erfahren, welcher Art die Genüsse seiner früheren Mitschüler seien, Adolf Sinsheimer versprochen hatte, am Monatsersten mit in eine Weinkneipe zu gehen, auf das verwahrloste Vorstadthaus zu, vor dem Adolf, drei junge Kaufleute und der Magistratsbeamte Hohmeier schon wartend unter der roten Laterne standen.

Aus fünf Brusttaschen stand je ein farbiges Tüchlein empor. Blasse und gerötete Gesichter. Auf allen die gleiche fiebrige Erregung und Spannung. Die vier waren im kaufmännischen Klub gewesen, hatten Herrn Hohmeier auf der Straße getroffen und mitgeschleppt.

Sie wollten, zur Feier des Monatsersten, die Animierkneipe mit Damenbedienung besuchen.

„Aber nur eine Flasche zusammen! Das habt ihr mir versprochen“, sagte der Magistratsbeamte, schloß den obersten Knopf des Gehrocks. Und folgte als letzter, während Adolf die Führung übernahm, resolut voranschritt, hinein in das schmale Kneipchen, das noch vor einer Woche ein Bäckerladen gewesen war.

Jetzt waren die drei Glühbirnen mit roten Papierschirmen verhängt, die Brotlaibregale mit schön verkapselten Weinflaschen spärlich gefüllt, und der Ladentisch hatte sich in ein nickelbeschlagenes, glanzsprühendes, mit künstlichen Blumen und Weintrauben reich geschmücktes Büfett verwandelt, hinter dem der Wirt saß und zum zehnten Male die Abendzeitung las.

Jürgen glaubte in ihm den Sklavenhalter zu erkennen, den Held einer Seeräubergeschichte, die er als Gymnasiast gelesen hatte. Des Sklavenhändlers tintenschwarzer Bart, die Riesenglatze, die Hakennase waren da. Nur die Peitsche fehlte; ihre Stelle nahm die Abendzeitung ein. Unsichtbar von ihm geleitet, gerieten seine drei von Seide und Schminke bunten Kellnerinnen mit den Weinkarten in Bewegung.

Der einzige Gast, außer den Kaufleuten, ein schon total betrunkener Fabrikschreiner ohne Halskragen, schaukelte den Kopf knapp über der Tischplatte hin und her, riß ihn in den Nacken und schrie in die falsche Richtung: „Da komm her!“

Die Älteste ging zu ihm, ließ ein bißchen an sich herumgreifen, so lange, bis er einen Geldschein auf den Tisch knallte. Strich ihm über das Haar, in dem noch die Holzteilchen steckten, und gab ihrer jungen Schwester einen Augenwink. Die brachte eine neue Flasche.

Der Magistratsbeamte beugte sich auf die Tischplatte. „Eine zusammen! Ich denke, wir nehmen die billigste.“ Und er legte den auf ihn kommenden Teil der Rechnung gleich auf den Tisch.

Erschrocken nahm Adolf das Geld wieder weg. „Das ist mein Teil“, sagte der Magistratsbeamte deutlich.

Der Arbeiter glotzte auf seine neue Flasche, glotzte die Älteste an. „Jetzt komm aber auch her!“

Kopfschüttelnd lächelte sie den Kaufleuten zu, gab den Augenwink ihrer jungen Schwester, die, noch ungeschickt und verlegen, zum Arbeiter ging und sich von ihm auf den Schoß ziehen ließ. Er griff ihr an die Brust, die noch nicht vorhanden war, und brüllte: „Die andere!“

„Für uns auch ein Gläschen?“ fragte die Älteste mit einem Blick, der allen fünfen in die Augen traf. Und Adolf gewann die Fassung wieder. „Aber selbstverständlich!“

Sie entleerte die Flasche in drei Gläser und goß noch fünf Gläser voll bis zum Rand, so daß plötzlich drei leere Flaschen auf dem Tische standen.

Der Magistratsbeamte beugte sich vor und seitwärts über drei Oberkörper weg, holte sich ein Glas mit Wein aus der ersten Flasche und stellte es bedeutungsvoll vor sich hin.

„Schmeckt, was?“ sagte die Älteste, da Adolf den Wein kennerisch mit der Zunge prüfte. Er schüttete Zigaretten in ihre Hand, und seine Kollegen gaben ihr Geld, damit sie das Riesenorchestrion spielen lasse.

Das nahm die ganze Rückwand ein, reichte bis zur Decke. Begann zu rasseln, knackte: ein farbiger Husarenleutnant aus Holz, den Taktstock im Händchen, schob sich, ruckweise, wie das rotseidene Vorhängchen auseinanderging, in den Vordergrund und dirigierte das von Trommelwirbel umdonnerte Flötensolo.

Der Wirt stand reglos und groß hinter dem Büfett. Sein Bart ging mit der Dunkelheit zusammen. Die Glatze hing losgelöst und weiß über dem Büfett.

Der Arbeiter lallte, goß ein, goß in das überlaufende Glas, bis die Flasche leer war, stülpte den Flaschenhals ins Glas und schimpfte, in der Einsicht, mit seinem Wochenlohn gegen die vornehmen Herren nicht aufkommen zu können, hoffnungslos in eine leere Ecke hinein. „Noch eine Flasche!“ schrie er verzweifelt.

Und die Älteste stand augenblicklich hinter ihm, überredete ihn, erst das Geld zu geben, schob es wieder zurück. „Das langt nicht zu. Geh heim. Hast genug getrunken.“

Schwankend und drohend erhob er sich. Der Wirt stand groß vor ihm, hinter dem Wirt die Älteste mit der Mütze des Arbeiters.

Halb geschoben, torkelte er hinaus, ausgebeutelt und betrogen von seiner Sehnsucht nach Glanz und nach einer Frau, die keinen verbrauchten Körper hatte und keine schmutzige Flanellunterwäsche trug.

Die Älteste, noch bei der Tür, breitete die Arme aus. „Jetzt sagt mir, was hat so ein Arbeiter in einer Weinstube zu suchen.“

Das selbe fragten die Kaufleute. Sie zog aus ihrem Busen pornographische Photographien, auf denen sie selbst in verschiedenen Stellungen nackt abgebildet war, zusammen mit einem Herrn im Frack. Es standen schon neun leere Flaschen auf dem Tisch. Die Gläser der Mädchen waren immer beinahe gleichzeitig voll und leer.

„Aber natürlich bringen Sie noch Wein!“ rief Adolf und ließ die Bilder durch seine heißen Hände laufen. „Aber natürlich bringen Sie noch!“ echoten die andern.

Hinter dem Büfett hing in einem Ring ein Kübel; vom Boden des Kübels lief ein Schlauch weg in die jeweilig darunterstehende Flasche. Nachdem die Mädchen ihre vollen Gläser in den Kübel entleert hatten, besorgte der Wirt mit diesem Weine das Füllen der Flaschen. Und die Mädchen stellten den Wein wieder auf den Tisch.

Das Orchestrion spielte ununterbrochen. Die vier Köpfe, eng aneinandergepreßt, blieben über die Photographien geneigt, bis die Älteste die Bilder wegnahm. Das Wort ‚Sekt‘ fiel. Jürgen legte einen Geldschein in Adolf Sinsheimers Hand und verließ die Weinstube. Die andern bemerkten es kaum.

Plötzlich fühlte der Magistratsbeamte sich beim Halse gepackt. Die ineinander verschlungenen Weiber- und Männerkörper schaukelten hin und her nach der Melodie des Flötensolos. Der Sekt floß. Die Flaschen schwebten selbständig vom Büfett herüber auf den Tisch. Floß eine Stunde lang im Kreislauf: aus den Flaschen in die Gläser, von da in den Kübel, durch den Schlauch in die Flaschen und wieder in die Gläser, bis der kühl und reglos neben dem Kübel stehende Wirt den Wink zur Vorsicht gab.

Da lösten sich die Mädchen allmählich los. Die junge Schwester blieb auf des Magistratsbeamten Schoß liegen. Sie war betrunken. Der Wirt schickte ihr einen Blick, der sie ernüchterte.

Ein Schub Studenten trat ein, setzte sich an den Tisch, an dem der Arbeiter gesessen hatte.

Des Magistratsbeamten geschweifter Mund schnappte auf und zu, und plötzlich warf er die dürren Arme hoch und behauptete: so lebe er, so lebe er, so lebe er alle Tage.

Die Älteste stand schon bei den Studenten, lächelte kopfschüttelnd über die Kaufleute und nahm die Bestellung entgegen. Die Studenten blickten belustigt hinüber.

„Pardon!“ drohte Adolf, der seinen früheren Mitschüler, Karl Lenz, nicht erkannte. Der Wirt kam groß aus dem Büfett heraus.

„... so leben wir alle Tage“, sang der Magistratsbeamte immer noch. Und die Älteste präsentierte die Rechnung.

Die fünf Monatsgehälter reichten nicht. Der halbe Tisch stand voll Wein- und Sektflaschen. Adolf warf noch eine Banknote auf den Tisch, an dessen Stirnseite der Wirt stand und die drei Worte sprach: „Das langt nicht.“

Alle standen schwankend und ausgeliefert, wollten nach ihren Mänteln greifen. „Sie müssen mir Ihren Ring zum Pfande da lassen.“ Der Wirt stellte den Zeigefinger steil auf die Rechnung. Die Studenten beobachteten gespannt die Szene.

Adolf zog den Brillantring vom Finger. „Darüber muß ich eine Quittung bekommen!“ Und blickte, trotz seines Rausches, verblüfft auf die schon ausgefüllte Quittung, die der Wirt sofort vor ihn hinlegte.

Schritt für Schritt ging er hinter den Abziehenden nach, schloß die Tür leise und mit Kraft und zog sich hinter das Büfett zurück, stellte eine leere Flasche unter den Kübel. Diesmal war es eine Rotweinflasche.

Die Älteste atmete hoch auf, ließ den Busen fallen: „Diese Kaufleutchen! Wollen elegante Herren spielen und können dann nicht bezahlen.“ Sie breitete die Arme aus: „Jetzt sagt mir, was haben solche Bürschchen in einer Weinstube zu suchen?“

Karl Lenz stimmte ihr bei. Daraufhin auch die andern. Sie goß den Rotwein ein. „Auch für uns ein Gläschen?“

„Aber selbstverständlich!“ Und dann ging er ernsten Gesichtes erst hinaus in das Klosett und nahm das Couleurband ab; die andern hatten, dem Koment gemäß, ihre Couleurbänder nicht an.

Die Älteste goß neun Gläser voll: es waren sechs Studenten. Die junge Schwester richtete den Tisch der Kaufleute für neue Gäste her. Und der Wirt rückte den Kübel zurecht.

Daß dies besonders herrliche Genüsse wären, wert, ihretwegen auch nur den Bruchteil selbst eines blödsinnigen Ideals aufzugeben, kann gewiß niemand behaupten; aber auch nicht, daß es keine begehrenswerteren Genüsse gäbe, dachte Jürgen auf dem Heimwege durch die schlafende Stadt.

Vor dem kleinen Café in der noch belebten Hauptstraße stand wieder der Krüppel und neben ihm, reglos, grau und böse, die Frau, auf dem Arme den skrofulösen Säugling.

‚Daß einer um den Preis, Liebschaften zu haben mit schönen, gepflegten Frauen, oder um der Macht und des Erfolges willen Verrat übt an allem, was ihm in der Jugend teuer war, wäre schon eher zu begreifen.‘

Und plötzlich entsann er sich des Abends, da er, geladen bei einer der vornehmsten Familien des Landes, solchen Frauen begegnet und Zeuge geworden war von Gesprächen zwischen Großbankiers, die über Weltpolitik, Eisenbahnbauten und den wahrscheinlichen Zeitpunkt eines neuen Krieges in leichtem Plaudertone gesprochen, und zwischen berühmten Schriftstellern, die über die Schönheit eines Goethezitates und sogar über den Satzbau des Zitates länger als eine Stunde äußerst beziehungsreich und sehr klug und geistvoll diskutiert hatten. Das ist Macht, das ist Kultur, hatte er damals gedacht.

‚Aber kann denn durch diese Macht und durch diesen Geist das Meer von Tränen, kann denn dadurch das würgende, würgende Menschenleid beseitigt werden? Ich glaube es nicht. Was aber soll man tun?‘ Bedrückten Herzens schloß er die rückwärtige Gartentür auf, an die er das Schild angebracht hatte: ‚Hier wird Armen gegeben‘.

Seine Fragen an das Leben fanden keine Antworten; nur die allzu glatten der Schulkameraden und der Tante. Oft – wenn er sah, wie die früheren Mitschüler jenseits aller Zweifel lebten – hatte der Vereinsamte, wie einmal in der Schule, den Wunsch gehabt, auch so zu werden, wie die andern waren, das Fragen und das Suchen aufzugeben und sich der Tantenauffassung anzuschließen. Diese Stunden nannte Jürgen Schicksalspausen.

Er saß am Fenster, hatte noch Kopfschmerzen von dem Wein, sah die Animierkneipe. Schweinerei! dachte er, betrachtete mit inbrünstigem Hasse der Tante Lebensarbeit: die unverwüstlichen gehäkelten Deckchen, die alle Möbelstücke drückten. Der Perpendikel tickte ruhevoll das Wort ‚rich–tig, rich–tig‘.

‚In diesem Zimmer „Schweinerei“ zu sagen, ist unmöglich. Da hört die Uhr auf zu ticken, die Deckchen gleiten von Sesseln, Tisch, Kommode, und die Heiligenbilder fallen von den Wänden.‘

Eine lange halbe Stunde wurde kein Wort gesprochen. Die Tante häkelte. Die Älteste zeigt die Photographien.

„Schweinerei!“ brüllte Jürgen, erwartete die Zimmerrevolution, sah die böse herausgedrückten Augen der Tante. Die Szene von früher wiederholte sich:

„Was hast du gesagt?“

„Ich habs doch nur gedacht.“

„Du lügst mir wieder ins Gesicht hinein?“

„Wenn doch diese verdammte Uhr endlich aufhören würde zu ticken!“

Sie machte eine barsch abschließende Handbewegung und stellte die Häkelnadel senkrecht gegen ihn: „Wenn du erst in Amt und Würden sein wirst ...“

Sein ganzer Körper wurde gemauerter Widerstand. „Niemals! Ich studiere Philosophie.“

Zuerst legte sie die Häkelarbeit weg, griff nach der Stickerei und stach langsam die Nadel von unten in den Stickrahmen, zog sie senkrecht hoch. „Du weißt, dein Vater will ...“

„Er ist ja tot. Tot!“

„... daß du Amtsrichter wirst.“

Sein Gesicht verzog sich zu einer Lachfratze. Und in die Pause hinein gestand er: „Ich studiere seit einem Jahre, studierte von Anfang an Philosophie. Überhaupt nie eine andere Vorlesung gehört!“

Da saß sie aufrecht, faltete übertrieben ruhig die Hände im Schoß: „In diesem Falle würdest du nicht einen Pfennig mehr von mir bekommen. Von was also wolltest du leben? ... Philosophie? Was willst du denn werden?“

Er sah das Schäfchen auf dem Heiligenbilde an. „Werden?“ Die Uhr tickte: ‚rich–tig, rich–tig‘.

„Nun, was also? Alle deine Schulkameraden wissen längst, was sie werden wollen.“

Plötzlich schlug seine Ratlosigkeit in Wut um. Er brach in die Knie, preßte beide Fäuste an den Hinterkopf und brüllte wild: „Nichts weiß ich! Landstreicher werde ich. Ich gehe auf die Landstraße. Ein Gauner werde ich, wenn du mich noch länger quälst.“

Der Kniende stierte auf die Krüppelfamilie, die grau, elend, schemenhaft vor der Dunkelheit stand. Auch den skrofulösen Säugling auf der Mutter Arm sah Jürgen. Kniend rutschte er auf die imaginäre Gruppe zu und zur Tür hinaus.

Erst oben in seinem Zimmer kam die Wut voll zum Ausbruch. Zuletzt riß er die Waschschüssel mit beiden Händen in die Höhe und schmetterte sie auf den Fußboden. Die Stirn blutete. Das Zimmer war verwüstet.

Allmählich wurde der vom Weinen Gestoßene still. Er saß, Arme verschränkt, Kopf darauf, am Tisch. Tränen und Speichel vermischten sich auf der Tischplatte. So blieb er hocken.

Plötzlich deutete er durch den Fußboden auf das Heiligenbild im Wohnzimmer und verlangte ausdrücklich: „Das Lämmchen muß dem Heiligenbild weggenommen und der Krüppelfamilie vor die Füße gesetzt werden.“

‚Der arme Jürgen! Sie haben ihn so lange gequält, bis er irrsinnig wurde‘, ließ er Katharina Lenz sagen, ahmte eine Kinderstimme nach, schmollte trotzig und weinerlich: „Man muß das Lämmchen zur Krüppelfamilie tun.“

‚Wie man ihn gequält hat! Jetzt ist der Arme irrsinnig‘, klagte Katharina.

Und er schauspielerte: „Das Lämmchen gehört zu der Krüppelfamilie ... Bäh, bäh, bäh!“ Müdigkeit drückte des Erschöpften Wange auf die Tischplatte. Noch einmal hob er das von Tränen und Blut verschmierte Gesicht, rief trotzig und blöd: „Bäh!“ und schlief ein.

Da erschien, grün und aufgetrieben wie ein Ertrunkener, der Vater hinter dem Stuhle, tippte Jürgen auf die Schulter und sagte leise und lächelnden, weitgeöffneten Mundes, so daß alle Zähne bleckten: „Na, du schmähliches Etwas.“ Dabei drehte der Vater des Jahrmarktes riesige, vieltausendstimmige Drehorgel, deren Töne fernher drangen durch den warmen Herbstabend.

Der Kontakt im Tunnel der Berg- und Talbahn funktionierte schon. Die Bude links neben dem Zaubertheater war mit Hilfe von Ölfarbe in einen alten Stall umgewandelt, aus dessen Luke Heu hervorquoll. Der Kopf des mit kosmetischen Mitteln hergerichteten ‚Pferdegesichtes‘ sah sehr abnorm aus.

Das Herz brüllte in das Riesenhorn, das Seidel hatte machen lassen: „Hier ist zu sehen der Mensch mit dem Pferdekopf! Die größte Abnormität der Welt! Er frißt Heu wie Brot! Hafer ist ihm das liebste! ... Man höre ihn wiehern.“

Blies mächtig ins Horn, starrte, Hand am Ohr, ins Publikum: Aus der Bude erklang das brünstige Wiehern des Pferdegesichtes.

Auch Jürgen, der außerhalb der Stadt auf der bewaldeten Höhe stundenlang am selben Flecke reglos gelegen war und sich nach dreißig Schritten, gepeinigt von Unruhe und Ratlosigkeit, wieder in das Moos hatte fallen lassen, den Blick fernaus gerichtet, dem Flußlauf nach, in das weite Land, dem Meere zu, ganz und gar erfüllt von dem Wunsche, aller Last zu entlaufen, hinaus in ein Leben der Ungebundenheit, wurde auf dem Heimwege angezogen von den Drehorgelmelodien, die, wie in der Knabenzeit, in ihm das Gefühl wieder erwachen ließen, daß hier die Freiheit sei.

Das ist das selbe Gefühl, das den sechsjährigen Sohn des Geheimrates sagen läßt: ‚Ich will Droschkenkutscher werden‘, dachte er und betrachtete den Stall. Rechts stand: Eingang; links: Ausgang. In der Mitte saß Leo Seidel vor der grünen Drahtgitterkasse.

Ihn jedoch hat nicht dieses Gefühl vor die Schaubude gesetzt, dachte Jürgen, wollte schon durch die Menge durch, die drei Stufen hinauf, Seidel zu begrüßen, erinnerte sich in dieser Sekunde der Weltgeschichte und seines letzten Gespräches mit Seidel und verließ den Jahrmarkt.

Seidel hatte Jürgen nicht bemerkt; er war sehr beschäftigt. Wenn die Leute sahen, wie das aus der Luke heraushängende Heu sich bewegte, siegte bei vielen die Neugierde, einen Menschen mit einem Pferdegesicht beim Heufressen zu beobachten, so daß die Bude immer guten Zulauf hatte.

In der Hand die Rechnungen für Ölfarbanstrich, innere Ausstattung, Riesenhorn und Stallmeisterlivree, die Das Herz trug, und im Kopfe die Idee, daß nur derjenige zu Geld kommen könne, der andere für sich arbeiten lasse, stellte der kapitalkräftige Seidel Herz und Pferdegesicht am Wochenschlusse vor die Wahl, entweder Mitinhaber zu bleiben und während der ganzen Messedauer auf jeglichen Verdienst zu verzichten – denn diese Rechnungen müßten erst gewissenhaft bezahlt werden –, oder alle Mitinhaberrechte abzutreten und sofort Angestelltengehalt zu beziehen.

Das Herz schrie: „Der Gewerbeschein war mein einziges Erbe.“ Das Pferdegesicht erklärte, nicht jeder könne seine Visage als Pferdekopf für Geld ausstellen, und jeden Tag bis Mitternacht Heu zu fressen, sei auch keine Kleinigkeit. Die grüne Drahtgitterkasse, in der die Wocheneinnahme lag, klappte zu.

Da wählten die beiden das Geld in die Hand. Seidel war Alleininhaber.

Während er einlud und kassierte, grübelte er unausgesetzt darüber nach, wo er eine breitere Basis für seinen spekulativen Geist finden könnte.

Seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem mächtigen Backsteinbau zurück: dem Zirkus, der den ganzen Winter über in der Stadt blieb und während der vier Wochen langen Jahresmesse schlechte Einnahmen hatte.

Seidel benutzte die losen Beziehungen, die zwischen einigen Budenbesitzern und dem Zirkusunternehmer bestanden, und schlug diesem vor, Familienbilletts zu ermäßigten Preisen zu verkaufen, solange die Jahresmesse in der Stadt sei. Auch solle er an Stelle der herkömmlichen und deshalb nicht mehr wirksamen Zirkusplakate ein von einem guten Künstler zu entwerfendes modernes Plakat kleben lassen.

Von einem modernen Plakat wollte der Mann nichts wissen. Die Billettidee hatte er selbst gehabt und war schon dabei, sie auszuführen. Aber es gelang Seidel, einige für seine Zukunft wichtige Bekanntschaften mit Zirkuskünstlern zu machen.

Bald darauf behauptete Adolf Sinsheimer, er habe Leo Seidel, im Pelz, den Zylinder auf dem Kopfe, im Vorraume des Berliner Wintergartens gesehen, in Gesellschaft von eleganten Damen und Varietékünstlern.

Und so konnten einige Jahre später seine früheren Kollegen vom Stadtmagistrat und die Schulkameraden, von denen die meisten zu dieser Zeit schon jung verheiratete Männer waren, nicht allzu sehr darüber verwundert sein, daß eines Tages Leo Seidel, der nicht lange Impresario geblieben war, als kaufmännischer Direktor des riesigen Wanderzirkus in die Heimatstadt zurückkehrte, im ersten Hotel abstieg und im eigenen Wagen fuhr.

Zu jener Zeit war Herr Hohmeier eben bis zum breiteren Löschblattbügel vorgerückt und wollte sich verheiraten.

Der Besitzer des Zirkusunternehmens kränkelte und hatte nur eine Tochter. Sie war siebzehn Jahre alt.

Kurz vorher hatte Seidel, der längere Zeit im Weizen- und dann im Stabeisengroßhandel mit nicht besonderem Erfolge tätig gewesen und deshalb noch einmal in das ihm vertraute Fach zurückgekehrt war, an der Börse sehr gewinnreich mit Baumwolle spekuliert. Er war seit Jahren Abonnent volkswirtschaftlicher, bank- und börsentechnischer Zeitschriften.

Er studierte die Preisschwankungen des Marktes nicht wie der Großindustrielle oder Börsianer, die, das Risiko zu vermindern, sich mit ihren Abschlüssen von Tag zu Tag nach den Markt- und Börsenberichten orientieren; er verglich seit Jahren die an- und abschwellenden Kurven der Export- und Importziffern aller Länder, verfolgte genau die hieraus sich ergebenden inner- und außerpolitischen Spannungen, täuschte sich selten über den Zeitpunkt hereinbrechender Wirtschaftskrisen – eine Fähigkeit, die ihn nicht nur vor Verlusten geschützt, sondern ihm seine bisher größten Gewinne eingebracht hatte – und wartete, in jeder Hinsicht gerüstet, seit langem nur auf die Situation, die es ihm gestatten würde, unter möglichster Ausschaltung des Risikos die Hand auf das ganz große Geschäft zu legen.

Schon jetzt glaubte Seidel begründete Hoffnung zu haben, die Siebzehnjährige nicht heiraten zu müssen.

III

„Sie sind ja in der Brodstraße.“ Der Portier setzte sich wieder auf das Bänkchen.

„Wo Herr Knopffabrikant Sinsheimer wohnt?“

„Den hat der Schlag getroffen. Heute mittag. Punkt eins. Kommt von einem Geschäftsgang zurück, liest die eingelaufene Post, da trifft ihn der Schlag ... Auch ein Unglück für die Familie!“

Jürgen überwand seine Scheu, ein Haus zu betreten, in dem ein Toter lag, stieg die Treppe hinauf, vorbei an dem farbigen Treppenhausfenster, auf dem Wilhelm Tell im Ausfall stand, bereit, den Apfel herunterzuschießen von den blonden Locken.

Im Vorzimmer kämpfte Gulaschduft mit Medizingeruch. „Herr Adolf kommt gleich“, sagte das Dienstmädchen und drehte eine schwach und rot brennende Birne an im Salon.

Eichenmöbel, reich geschnitzt, schwarz und unverrückbar schwer, füllten ihn. Zahllose Nippesgegenstände posierten, miauten, sangen, tanzten Menuett auf allen erdenklichen Plätzchen und Kanten. Jürgen wand sich bis zu einem Stuhle durch, dessen hohe Lehne, gebildet durch zwei vielfach geschwungene, schwarzgebeizte Schwanenhälse, mit einer Wasserrose abschloß, in der ein Frosch saß, das Krönchen auf dem Kopfe.

Ohne sich zu rühren, musterte er die Gegenstände, begann schließlich zu zählen: vier meterhohe Petroleumlampen – Geschenke, die niemals gebrannt hatten –, eine große Anzahl nie benutzter Tee-, Kaffee- und Likörservice, entdeckte nachträglich noch zwei hohe, glänzende Gestelle, die er erst auch für Lampen hielt, dann aber als Tafelaufsätze erkannte: Nachbildungen des Eiffelturmes, auf dessen Stockwerken Birnen, Äpfel, Trauben, aus farbigem Tuche, lagen. An der Wand hing, zwischen dem Dackel, der, das weiße Zipfeltuch um den Kopf, an Zahnweh leidet, und dem Kätzchen, das mit dem Wollknäuel spielt, ein kleiner Elefant, der den Rüssel hin und her schleuderte. Das Ziffernblatt auf seiner Stirn stellte Afrika dar.

Unvermittelt schlug der Gedanke ein, daß vielleicht im Zimmer nebenan der Tote liege. Um sich abzulenken, nahm Jürgen den Bronzelöwen in die Hand, der, schleichend zusammengekauert, Tatzen auf dem Rande, die Zunge dürstend in die Aschenschale streckte. Stand auf, sah umher, drehte am Schalter. Mit dem Verlöschen der Birne schwankten alle Möbel, wie betrunken, auf Jürgen zu und versanken in der Finsternis. Er fand den Schalter nicht wieder.

Da sah er in einem Blitze der Angst die Leiche im Salon liegen, schneeweiß aufgebahrt und mit genau der selben Kopfhaltung wie die seines Vaters. Schnell drehte er sich einige Male um sich selbst, bemüht, die Leiche des Vaters nicht im Rücken zu haben, und streckte die Hand frierend hinter sich nach dem Türdrücker aus.

Der Elefant trompetete. Die Tür knallte gegen Jürgens Kopf: Adolf hatte eintreten wollen. „Na, sag mal, sitzt du im Dunkeln! ... Lina! Donnerwetter, Lina!“ Sie kam gesprungen. Jürgen wollte aufklären.

„Ist ja alles sehr schön! Aber weshalb wird denn nicht der ganze Lüster angeknipst, wenn Besuch da ist! ... Bringen Sie Tokaier.“

Seine Hand hatte den Schalter gefunden. Zornig schritt er auch noch in die andern drei Ecken: Immer mehr Birnen glühten auf an Kandelabern und am gewaltigen Lüster. Die tausend Gegenstände standen tot im weißen Lichte. „So, nun mache dirs bequem.“

Jürgen setzte sich wieder auf den hochlehnigen Schwanenstuhl und sprach das Tokaierglas prostend erhoben, verlegen sein Beileid aus über den entsetzlichen Unglücksfall, der Adolf betroffen habe.

„Das passiert meinem alten Herrn öfter. Es geht ihm schon wieder besser. Er hat schon etwas Gulasch gegessen. Jetzt schläft er.“

Nachdem die beiden weggegangen waren, schritt das Mädchen von Schalter zu Schalter und stürzte den Salon wieder in das schwarze Nichts.

Auf der Straße zog Adolf mit weißen Litzen besetzte Glacéhandschuhe an und machte beim Sprechen abgehackte Viertelsdrehungen auf Jürgen zu, wie ein Leutnant, der mit einer Dame spazierengeht. Sein Vater habe diesen Morgen Ärger gehabt, wegen einer Zahlung an eine Londoner Bank. Es habe sich zwar nur um einige zehntausend Pfund gehandelt. „Eine Bagatelle, gewiß! Aber wenn sie momentan nicht flüssig zu machen sind? ... Geht er heute früh dieser Sache halber fort, kommt schon aufgeregt nachhause, da findet er ein Schreiben aus dem Kriegsministerium, des Inhalts, daß wir ...“ Er blieb stehen, hob den Spazierstock wie eine Kerze: „Diskretion?“

„Vielleicht sagst du mir lieber nichts.“

„Aber bitte, dein Wort genügt mir ... daß wir den Auftrag erhalten haben, den neuen Armeeknopf zu liefern. Begreifst du, was das bedeutet? ... Ahnungslos öffnet mein Alter das zweite amtliche Schreiben, liest, daß er zum Kommerzienrat ernannt worden ist: schwuppdich – Schlaganfall ... Bitte, nach dir.“

Schwungvoll ließ der schon zum Kellner emporgerückte, seinen Ober jetzt mit vollkommenster Sicherheit kopierende frühere Pikkolo das Tablett mit den Wassergläsern auf die Marmorplatte auflaufen. Das Knopfexporthaus stand wuchtig und still gegenüber in der Abendruhe.

Ein starker Tourenwagen hielt vor dem Café. Ein blonder Herr trat ein. Adolf verbeugte sich steif und tief und flüsterte: „Sechzigpferdig! Ein Klubmitglied! Sohn des Maschinenfabrikanten Heller ... Die haben ihrem Werke kürzlich noch eine Abteilung angegliedert, in der ausschließlich Eisenbahnweichen fabriziert werden. Staatsaufträge, mußt du wissen! Auch die scheinen die nötigen Verbindungen zu haben. Enorm reiche Leute!“

Jürgen wurde die Seele schwer bei dem Gedanken, daß seit jenem ersten Kaffeehausbesuch schon soviel Zeit vergangen war und er noch immer unklar und ziellos dahinlebe. Abwesend sah er in das glänzende Gesicht, von der Krawattenperle zum seidenen Tüchlein, das glatt und grün aus der Brusttasche wuchs.

„Gestern übrigens – ich unterhalte mich nicht ungern mit dem jungen Heller – erzählte er mir im Klub, er habe den Ingenieur, der das Einrichten der Weichenfabrik überwacht und geleitet hat, husch, die Lerche! rausgeschmissen.“

„Fort möchte ich! Weg von Europa! Weg von dem Ganzen! ... Vielleicht wenn ich Dolmetscher werden könnte in China!“ Und plötzlich erfüllt von Zorn und Hohn: „Bist du schon weit mit deiner Knopfsammlung?“

„Unsinn! Das war ja Kinderei. Hast du eine Ahnung! Es gibt, rein menschlich genommen, nichts, das mir gleichgültiger wäre als Knöpfe ... Ich sammle etwas ganz anderes.“

Er beugte sich zu Jürgens Ohr, flüsterte und lehnte sich wieder zurück. „Von jeder, die ich gehabt habe! ... Kannst dir die Sammlung einmal ansehen.“

„Weshalb hat er ihn denn hinausgeworfen?“

„Überall liegt ein Zettel bei, mit dem Vornamen der Betreffenden und dem Datum.“

„Wenn er doch das Einrichten der Fabrik leitete!“

„Ja, und gleich hinterher hat er die Arbeiter zum Streik aufgehetzt. Ein Blutroter nämlich, verrückter Weltverbesserer, weißt du, Bombenschmeißer und so ... Zeichnet, konstruiert, wählt aus, baut um, rennt und schwitzt, bis das Werk steht – soll übrigens ein brauchbarer Techniker und Organisator sein –, dann hetzt er die Leute auf ... So etwas gibts noch, heutzutage, trotz des enormen Aufschwungs unserer Industrie.“

„Hast du denn schon einmal darüber nachgedacht, daß trotz des Aufschwunges unserer Industrie die große Mehrheit aller Menschen zu schwer arbeiten muß und dabei kaum das Nötigste zum Leben hat, vor allem aber jeglicher Möglichkeit, ihre geistigen Anlagen auszubilden, jeglicher Entwicklungsmöglichkeit vollständig beraubt ist? Im Gegensatz zu anderen, die essen, leben und sich bilden können – wie zum Beispiel wir –, selbst wenn sie wenig oder nichts arbeiten!“

„Deine Sorgen! Übrigens: ich muß auch arbeiten. Und wie wir geschwitzt haben, mein Alter und ich, betreffs des Armeeknopfes! Du solltest nur ein einziges Mal eine Kalkulation für solch eine Riesenlieferung machen müssen, da würde dir das Nichtvorhandensein sämtlicher und noch einiger Dutzend mehr Entwicklungsmöglichkeiten anderer Leute schnuppe sein.“

Wer weiß überhaupt, dachte Jürgen, weshalb der eine denkt und der andere niemals zu selbständigem Denken, nie zu einer eigenen Meinung kommt und deshalb auch nie zu einem Proteste gegen das Bestehende? Ist da die verschiedene Konstitution entscheidend? Oder das Leben, wie es ist, die Ordnung, die Lebensordnung? Oder alles zusammen? ... Das ist ein tiefes Problem. Das sind Fragen, schwer zu beantworten ... Und wer jetzt dazu noch überlegt, daß ganz offenbar diejenigen, die nicht selbständig denken, die Uneigenen, diese Ordnung bestimmen, dem Leben das Gesicht geben, der muß zugeben: Alles, das Ganze, ist verkehrt. Das Ganze!

„Jeder Armeeknopf muß x-mal durch die Maschine laufen. Dazu die Berechnung des Rohmaterials, der Kapitalsverzinsung, der Arbeitslöhne. Wenn du zu hoch kalkulierst, bekommst du den Auftrag nicht; und wenn du dich bei solch einem Riesenauftrag verrechnest, bist du pleite.“

Den kleinen Finger weggespreizt, zog er das grüne Tüchlein aus der Brusttasche und wischte sich die trockene Stirn. „Was sagtest du vorhin? Dolmetscher in China? Kannst du denn chinesisch? Es gibt meines Wissens und gewissermaßen nicht ein Dutzend Leute in Deutschland, die chinesisch können.“

„Gerade deshalb glaube ich ja, daß ich leicht einen Dolmetscherposten in China bekommen könnte“, sagte Jürgen, der bis vor zehn Minuten niemals daran gedacht hatte, Dolmetscher in China werden zu wollen.

„Ich kann ja schon ziemlich chinesisch“, begann er auf der Straße von neuem. „Ich lerne nämlich seit Jahren in einer alten Grammatik, die ich unter den Büchern meines Vaters gefunden habe ... Zum Beispiel als Dolmetscher bei der deutschen Gesandtschaft in China! ... Nur weg von Europa!“

„Solltest du nicht Amtsrichter werden? ... Schön, werde du Dolmetscher! Nichts als Romantik, mein Lieber, sauere Romantik! ... Na, mein Ziel kennst du ja. In einigen Monaten ist das neue Knopfexporthaus unserer Knopffabrik angegliedert. Runde Sache! Konzentration, mein Junge! Aber davon verstehst du ja nichts ... Im übrigen – lebe ich, amüsiere mich und, um es glatt herauszusagen, vergrößere meine Sammlung weiblicher Geschlechtshaare. Später ... natürlich heiraten!“ Er war mit der Bankierstochter Elisabeth Wagner, einer früheren Mitschülerin Katharinas, verlobt.

Der schwere Wagen hielt. Der Fabrikantensohn stieg aus und die läuferbelegte Treppe hinauf. Auch Jürgen und Adolf waren vor dem Klubhause angelangt.

„So einfach, wie du dir das vorstellst, erhält man Staatsaufträge natürlich nicht. Da sind, abgesehen von der Kalkulation, noch ganz andere Kräfte im Spiel, Kräfte, sage ich dir ... Für tausend Knöpfe werden bezahlt“, rief er plötzlich mit starker Stimme und nannte die Summe, „und hundertachtzig Millionen sind bestellt ... Rechne aus! Mein verflossener Chef wird platzen vor Ärger über den Kommerzienratstitel. Und obendrein, schwuppdich! schnappten wir ihm noch den kolossalen Staatsauftrag weg. Kurzum: es geht, husch, die Lerche! schnurstracks in die Höhe. Merkst du das?“

„Schwuppdich!“ murmelte Jürgen; er hatte gar nicht zugehört.

Da klang, wie damals, Klaviergepauke und Refraingesang durch das offene Fenster. Und Adolf, beide Arme weit ausgebreitet, Stock in der einen, Glacés in der andern Hand, sang mit in übersprudelnder Lebensfreude:

„Es haben zwei ne ganze Nacht

Zusammen in einem Bett verbracht.

Was ham se wohl gemacht?“

Während Jürgen die Stadt durchquerte, verlobte auch er sich. Katharinas Vater, Herr Geheimrat Lenz, löste die Verlobung wieder, weil Jürgen ein brotloser Philosoph und nicht bei einer schlagenden Verbindung war.

Am Arme ihres Gemahls – einer berühmten Persönlichkeit – geht Katharina vorüber an Jürgen, ihrem früheren Verlobten, der, total heruntergekommen und versoffen, die Straße kehrt. Bleibt stehen, ergriffen von Mitleid. ‚Sieh mal, wie furchtbar traurig! Er war mein Jugendfreund. Schenke ihm doch etwas.‘

Ihr Mann ist sehr edel, gibt seine ganze Brieftasche dem demütig Dankenden, an dessen abgezehrtem Gesicht die Tränen herunterrollen.

Auch Katharina schluchzt, legt ihre Hand auf die seine, die den Besen hält, und sieht ihren Mann an: ‚Jürgen war nicht immer so. Denke das ja nicht. Wenn du wüßtest, welch wunderbarer Mensch er gewesen ist! Hätte ich ihn sonst geliebt? Keineswegs immer so! Zum Beispiel ernannte ihn die Regierung, obwohl er anfangs nur ein untergeordneter Dolmetscher war, seiner ganz außerordentlichen Fähigkeiten wegen zum deutschen Gesandten in China.‘

Da verschwand Katharinas Mann. Nicht dieser, sondern Jürgen ist mit ihr verheiratet, empfängt die phantastisch wunderbar gekleideten chinesischen Würdenträger, von denen vor lauter tiefen Verbeugungen beständig nur die Rücken zu sehen sind. Der Saal hat keine Decke. Das Sternenfirmament blitzt über dem glänzenden Feste des deutschen Gesandten. Der Reichskanzler hat für außerordentliche diplomatische Dienste an Jürgen ein Danktelegramm geschickt. ‚Empfehlen Sie mich auch Ihrer Frau Gemahlin.‘

‚Katharina, der Kanzler läßt sich dir empfehlen.‘

‚Das alles habe ich nur dir zu verdanken, Jürgen.‘

Der Aufschrei einer Frau und das Schimpfen und heftige Läuten des Trambahnführers stießen ihn zurück in die Wirklichkeit. Er befand sich in einem ihm gänzlich fremden Stadtteil.

„Wenn diese schweinischen Träumereien jetzt nicht endlich aufhören, knalle ich mich nieder. Das ist ja Onanie“, schrie er plötzlich wutentstellten Gesichtes, in dem, ebenso plötzlich, grenzenlose Verwunderung sich auftat, als er bemerkte, daß er vor dem Hause stand, in welchem der Ingenieur wohnte.

Jetzt erst erinnerte Jürgen sich wieder, daß er Adolf nach der Adresse gefragt und auf dem Wege durch die Stadt zweimal Straßenschilder gesucht hatte, in diese Seitenstraßen eingebogen und einmal sogar ein Stück Weges wieder zurückgegangen war, ohne sich des Grundes bewußt geworden zu sein.

Außerdem ist Katharina ja von zuhause weggelaufen, wird sich also von dem Herrn Geheimrat nichts mehr dreinreden lassen, dachte er, schon wieder traumversunken, beim Hinaufsteigen, las auf einem weißen Kärtchen den handgeschriebenen Namen des Ingenieurs. ‚Was soll ich ihn denn fragen? Was soll ich sagen?‘

Da hatte er schon geläutet. Die schweigsame Wirtin, deren Unterlippe mürrisch auf das Kinn herabhing, führte ihn in das große, helle Zimmer. Der Ingenieur saß am Schreibtisch, mit dem Rücken zur Tür. „Setze dich.“

Jürgen setzte sich. Betrachtete die hellgelben, leeren Wände.

„In den Sessel!“

Er stand auf und setzte sich in den modernen, bequemen Ledersessel, vor das vollgestopfte Bücherregal, neben dem mehrere Stöße fremdsprachiger Zeitungen auf dem glänzenden Parkettboden standen. ‚Was soll ich sagen? Verflucht, das ist ja wie in der Schule ... Was will ich überhaupt?‘

Lange und nachdenklich sah er den schreibgekrümmten Rücken an. ‚Wenn ich das wüßte, würde ich nicht hier sein.‘

„Genossin, dein Artikel war in einem wichtigen Punkte schlecht. Du solltest den betreffenden Abschnitt noch einmal bei Marx nachlesen. ‚Die Klassenkämpfe in Frankreich‘. Auch bei Engels ‚Ursprung der Familie‘ gibt es darüber eine sehr aufschlußreiche Stelle.“

Jürgen nahm sich vor, diese zwei Bücher gleich zu kaufen. ‚Aber so geht das ja nicht weiter. Schließlich verrät er mir noch Geheimnisse.‘

„Bei Marx nämlich ist die Problemstellung folgendermaßen“, sagte der Ingenieur und wandte sich um. „Entschuldigen Sie! Ich erwartete jemand.“ Er hatte unveränderlich junge Augen in einem männlich fertigen Gesicht, das als Abschluß einen kleinen Spitzbart braucht, der auch vorhanden war.

Jürgen stand auf. Da klingelte das Telephon. Während der Ingenieur horchte und sprach und horchte, verwarf Jürgen zehn verschiedene Gesprächsanfänge. Wünschte sich fort. Vernahm, wie der Ingenieur das Höhrrohr wieder auflegte. „Also, was wollen Sie?“

„Fragen, was ich mit meinem Leben anfangen soll ... Ich bin doch nun einmal da“, antwortete er in einem Tone, als ob er gestanden hätte: Ich habe das Verbrechen begangen, nun machen Sie mit mir, was Sie wollen.

Bleich und rot in einem vor Ärger über seine Verlegenheit, blickte er den Ingenieur wütend an.

„Ja. Aber du solltest mich doch nicht wegen jeder Kleinigkeit anrufen, Genosse“, sagte der Ingenieur, der schon wieder verlangt worden war, in den Apparat hinein.

‚Ich frage ihn, ob ich Philosophie oder meinethalben Astronomie studieren soll, und geh meiner Wege. Denn zu erklären, um was es sich eigentlich handelt – diese ganze Qual –, ist einfach unmöglich.‘

„Und außerdem wurde eben mitgeteilt“, meldete der Hilfsredakteur, der im fünften Stocke des Druckereigebäudes in dem winzigen Redaktionszimmerchen saß, ein Stück Brot in der Linken, das Höhrrohr in der Rechten, „daß die Regierung beschlossen habe, dem Auslieferungsverlangen der spanischen Regierung nachzukommen.“

„Das wäre der erste Fall dieser Art“, entgegnete ungläubig der Ingenieur. „Der Mann hat aus ganz offensichtlich politischen Motiven den Polizeipräsidenten erschossen.“

Ich kann ihn doch nicht fragen: Was soll ich tun, um die Welt zu erlösen? dachte Jürgen.

„Und politische Verbrecher werden bekanntlich nicht ausgeliefert.“

Der Hilfsredakteur legte das Brot weg, ergriff ein Papier. „Es ist eine amtliche Depesche, in der das Attentat als gemeines Verbrechen dargestellt wird. Übermorgen wird er von hier abtransportiert zur Grenze.“

‚Aber so ersticke ich eines Tages noch in diesem zähen Sumpf, wenn nicht etwas geschieht.‘

„Ich werde noch vor Mitternacht eine Notiz über den Fall in die Redaktion schicken für die morgige Nummer.“

Der ist mitten drin in der Umsturzbewegung, dachte, plötzlich entflammt, Jürgen und sah leuchtenden Blickes den Ingenieur an. „Vielleicht können Sie mir doch raten, was ich beginnen soll“, sagte er, als ob er das, was er nur gedacht hatte, ausgesprochen hätte. „Einen Weg zeigen! Ich tue alles. Ich bin nicht feige!“

Der durch viele Publikationen im ganzen Lande bekanntgewordene sozialistische Agitator, vor dem schon öfters idealistisch gesinnte junge Menschen gesessen hatten, im Blick die Frage, was sie mit ihrem Idealismus anfangen sollten, fragte mit mehr Interesse im Ton, als er hatte: „Haben Sie schon Arbeiterversammlungen besucht?“ und lehnte seine Taschenuhr gegen das Tintenfaß.

„Ich nicht. Aber mein Bekannter! ... Er hatte eine Siedlung gegründet. Jetzt ist er Mitglied der sozialistischen Partei, und da wird er wohl ...“ sagte Jürgen und errötete tief, als er sah, daß der Agitator ein Lächeln nicht ganz unterdrücken konnte.

„Die Siedlung war vollkommen kommunistisch ... Auch diese Siedler konnten es einfach nicht ertragen, das Leben, so wie es ist ... Alles zusammen, das Ganze! ist ja eine einzige ungeheuerliche Niederträchtigkeit.“

„Wenn Sie sich dessen nur auch späterhin bewußt bleiben! Dann ist es ganz gleich, welchen Beruf Sie wählen. Wichtig ist dieses Bewußtsein. Möchten Sie das nie vergessen.“

„Das Bewußtsein?“

„Der Mensch kann auch sein Bewußtsein, nämlich das, was er in der Jugend, als noch Protestierender, schon erkannt und sogar tief empfunden und erlitten hatte, mit den Jahren vergessen.“

Jürgen lauschte hinein in sein dunkles Gefühls-Ich. „Er kann, ich verstehe Sie schon, in eine gefährliche Schicksalspause hineinschlingern, ja? und in dieser Schicksalspause den Kampf aufgeben: alles verraten, was er erstrebt hatte.“

Der Agitator steckte die Uhr ein. „Höchste Zeit! Sie kommt nicht mehr. Wahrscheinlich ist sie von der Redaktion aus direkt ins ‚Paradies‘ gefahren ... Ungefähr das meine ich. Schicksalspause ... Wie die das Mädchen ausnützen! Muß die Artikel schreiben und die Zeitung dann auch noch verkaufen.“

„Dann kommt das Geldzusammenscharren. Und wenn dann einer eine Zeitlang tüchtig, das heißt: brutal genug und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht war, ist er – husch, die Lerche! wie mein Schulfreund sagt – auf Kosten unterdrückter Elendsmenschen ein geachteter Mann.“

„Aus solchen geachteten Männern besteht die herrschende Klasse.“

„Ich habe nämlich erfahren, weshalb Ihnen gekündigt wurde. Sie sind Sozialist?“ Und ob er ihn noch ein Stück begleiten dürfe, fragte Jürgen auf der Straße. „Sie glauben also, daß im Sozialismus alles von Grund auf besser werden würde?“

Der Agitator sprang auf die anfahrende Straßenbahn. „Ich glaube, daß jede Zeitepoche in sich ihre durch den Stand der Produktionskräfte bedingte Aufgabe trägt, die zu erfüllen der zeitbedingte Inhalt des Idealismus aller Kampf- und Opferbereiten ist, und daß die Aufgabe unseres Jahrhunderts in der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln besteht, in der Überführung der Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum, in der Verwirklichung des Sozialismus auf dem Wege des Klassenkampfes ... Und was die idealistisch gesinnte bürgerliche Jugend unseres Jahrhunderts anlangt, glaube ich, daß sie den wahren, weil zeitbedingten, Inhalt ihres Idealismus eben auch nur in dem Kampfe um die Verwirklichung des Sozialismus, Seite an Seite mit der Arbeiterklasse, finden kann ... Das gilt auch für Sie persönlich. Alle anderen Befreiungs- und Erlösungsideen sind Nebel und Wolken in verschiedener Beleuchtung und werden von der bürgerlichen Front glatt verdaut, ja, von ihr selbst gestartet und als Fangangeln ausgelegt.“

Erst in dieser Sekunde, da er das echte Interesse des Agitators fühlte, erkannte Jürgen, daß es anfangs nicht ganz echt gewesen war. Das erstemal in meinem Leben, dachte er, gibt ein ernstzunehmender Mensch mir einen ernstgemeinten Rat, und ich weiß mit diesem Rate nichts anzufangen. Verstehe ihn gar nicht. Überführung der Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum? Er hätte ebensogut sagen können: Der Inhalt des Idealismus eines jungen Menschen unserer Zeit kann nur darin bestehen, daß er lernt, ohne Führer den Montblanc zu besteigen oder das Vaterunser von rückwärts zu beten. Jürgen war ernüchtert.

„Tatsächlich aber geschieht das Gegenteil: Die idealistisch gesinnte bürgerliche Jugend steht und kämpft gegen die Arbeiterklasse, gegen die Verwirklichung des Sozialismus, und damit gegen den nächsten großen Schritt zur Befreiung der Menschheit, gegen des Menschen nächsten Schritt zu sich selbst. Diese Jugend erkennt ihre Aufgabe nicht und gerät deshalb in die tollsten Verirrungen.“

So allmählich, wie die Trambahn den Prachtstraßen, dem Prunkviertel entrückt und in die Elendszeilen der verluderten, nackten Mietskasernen vorgerückt war, hatten die gutgekleideten Fahrgäste für schlechtgekleidete den Wagen geräumt, der nun, überfüllt mit Arbeitern und Fabrikmädchen, seine schmutzige Ladung weiterschleppte durch das Viertel, wo die Not stand in ihrer ganzen Größe. Hier rollten keine Gummiequipagen, keine Autos mehr. Der Parfümduft gepflegter Damen war niedergeschlagen und aufgefressen worden von dem dicken Schweißgestank der Armut. In dem Wagen, wo noch kurz vorher weiße und frische Gesichter mondgleich geschienen hatten, hingen jetzt graue Antlitze im Dunst, hautüberzogene Schädel mit tief in die Höhlen versunkenen Augen, die blickten.

Zwei Menschheiten: eine Menschheit war ausgestiegen; die andere Menschheit war eingestiegen.

Ein winziger, ganz weißer Schoßhund, von einer vergeßlichen Dame im Wagen zurückgelassen, bekam irrblickende Augen und bellte die fremde, die andere Menschheit an.

Jürgen betrachtete zwei Männerhände, und als er das dazugehörige Gesicht suchte, sah er, daß diese rissigen, hornhäutigen, übergroßen Männerfäuste einem jungen Arbeitermädchen angehörten. Neben ihr wackelte der Oberkörper eines bärtigen alten Briefträgers, in dessen zerklüftetes Wachsgesicht das Ersteigen von millionenmal vier Stockwerken eingezeichnet war, steif und haltlos hin und her.

„Nun sind wir direkt und mitten in das soziale Problem hineingefahren. Mit der Elektrischen! ... Nur dies allein (auch das gilt für Sie persönlich), nur den Übertritt zur Arbeiterklasse, nur diesen letzten Schritt verzeiht der Bürger uns Bürgersöhnen nicht. Denn er weiß, daß wir erst dann gefährlich werden können ... Geist, christliche Menschenliebe, Helfenwollen, Ändernwollen, erlaubt der Bürger noch. Da lächelt er noch. Ja, alles das nimmt er sogar für sich selbst in Anspruch. Denn er ist sozusagen für den Fortschritt. Aber nur ja nicht das! Nur ja nicht tatsächlich ändern! Da wird er wild. Da demaskiert er sich. Da läßt er verfolgen, einsperren und, unter Umständen, erschießen und erschlagen.“

Die drei aneinandergekoppelten Wagen, vollgestopft mit Arbeitern, die bis auf die Trittbretter herausquollen, überholten lose zusammenhängende Arbeitertrupps, die sichtbar alle dem selben Ziele zustrebten. Immer wieder hörte Jürgen den Schrei: „Zum Paradies!“ Der Schaffner kassierte.

Der Agitator, der schweigend vor sich hingeblickt hatte, machte eine Bewegung, als schüttle er etwas von sich ab. „Es ist nichts zu machen.“ Und da Jürgen fragte, teilte er ihm den Inhalt der Depesche mit.

„Und was geschieht dann mit dem Attentäter?“

„Er wird hingerichtet.“

„So ... Wird hingerichtet.“

Vorüber an einer geschlossen und zielhaft marschierenden Gruppe Schutzleute. Krachend vorbei an einem Kanalloch, um das herum Proletarierkinder Ringelreigen tanzten.

Fabrikmädchen, die halb geschlafen hatten, erwachten im Ruck: Alle Fahrgäste und die grau herbeiströmenden Arbeitermassen drängten hinein in das ‚Paradies‘, das schon überfüllt war.

Galerien und Balkone, von denen die Menschenleiber, übereinandergetürmt, gleich Gewächsen aufstiegen, stürzten nicht hernieder. An den Tischen: Oberkörper neben Oberkörper, überragt von denen, die, dicke Menschenschnüre bildend, dichtgedrängt in den Zwischengängen standen. Gebärden der Erregung durchschnitten Stimmengeschwirr und Rauch, hinter dem die Wandmalereien verschwammen: paradiesische Wesen, die alles im Überflusse hatten.

Plötzlich hörte und sah Jürgen, der eine Sekunde die Augen geschlossen hatte, gewaltige, kilometerbreite, gischtige Wassermassen aus blauer Höhe herabklatschen: sah zehntausend klatschende Menschenhände und in weiter Ferne, auf dem Podium, einen Mann.

Da schwoll sein Herz, und das nie empfundene Gefühl rückhaltloser Hingabe erfüllte ihn ganz. Sympathie für den Mann, der das Vertrauen dieser fünftausend Hoffenden besaß. Hingabe an diese fünftausend Vertrauenden. Stürmischen Herzens streckte er die Hand dem jungen Zeitungsverkäufer hin, der rief: „Die Befreiung! Die Befreiung!“

Arbeitsschwarze Hände griffen nach den Blättern, die er über den Kopf hochhalten mußte. Ein Zögernder fragte: „Was kostet die Befreiung?“

„Genossinnen! Genossen! Euer gemeinsamer Kampf, der Klassenkampf, die Gemeinsamkeit all derer, die durch ihr Klassenschicksal die gegebenen und unbedingten Feinde des Kapitalismus sind, dieses Gemeinsame, Euer Klassenbewußtsein, ist der unerschöpfliche Quell Eurer Kraft: Kraftquell für jeden und für das Vertrauen jedes einzelnen auf seine Kraft“, erklang fernher die Stimme des Redners.

Und Jürgen fragte: ‚Ist das so? ... Ich werde dahinter kommen, ob und weshalb das so ist.‘ Ihm entgegen drängte noch einmal der junge Zeitungsverkäufer, auf dem Arme den Stoß, der bis zu seinem Ohre reichte. „Du hast nicht bezahlt.“ Und da Jürgen, verwirrt, ihm in das Antlitz sah: „Zwanzig! ... Umsonst gibts nichts.“

„Zwanzig?“ Der Zögernde blickte wieder den schweißtriefenden Kellner an und überlegte, ob er ‚Die Befreiung‘ oder ein Glas Bier kaufen solle, als wäre beides zusammen unmöglich.

Da erkannte Jürgen an einer Kopfbewegung des Redners den Agitator, der von Monopolisierung, Akkumulation und Mehrwert sprach, worunter Jürgen sich nichts vorstellen konnte.

„Dazu noch das arbeitslose Einkommen, geschluckt von Aktienbesitzern, die in gar keiner Weise arbeiten in dem Betriebe, von dem sie die Dividenden beziehen. Ich lasse mein Kapital arbeiten, sagt der Aktienbesitzer, der auf dem Kanapee liegt, die Kurse studiert, wie die Spinne im Netz in der Börse lauert, erstklassig durch das Leben glitscht, aber den Rasen nicht betritt, kein Holz im Walde stiehlt, sondern für Recht und Ordnung ist.“

Die fünftausend saßen reglos, horchten und blickten, als hielten sie mit ihren Händen den Erdball.

„In den Betrieben schuften Männer und Frauen jahraus, jahrein, von früh bis abends an den Maschinen, machen vom vierzehnten bis zum sechzigsten Lebensjahre immer die selben Handgriffe, aus denen Zahnbürsten, Lokomotiven, Stecknadeln, Überseedampfer, Schreibmaschinen, Schuhe, Leintücher entstehen; in behaglichen oder eleganten, geschmackvollen oder geschmacklosen Wohnungen sitzen Herren und Damen, deren Lebensarbeit darin besteht, das Dasein zu genießen, ins Theater zu fahren, über Kunst und Literatur dumm oder klug zu reden, Kulturträger zu sein, ihr Dienstpersonal zu schikanieren und ihre Kinder falsch zu erziehen und reich zu verheiraten, Leute, die einen Betrieb nie betreten haben, es seien denn Modegeschäfte und Sekt-, Tanz-, Bordell- oder sonstige Nachtbetriebe gewesen, gepflegte Zeitgenossen, die keinen Dunst davon haben, wie Zahnbürsten fabriziert werden, oder wie ein Webstuhl aussieht, und beziehen Dividenden von einer Bürstenfabrik oder einer Leinenweberei, während die Kinder der Bürstenmacher nicht einmal wissen, daß die Benutzung einer Zahnbürste zur Erhaltung der Zähne beiträgt, und die Leinenweber für ihre armseligen, stinkenden Betten keine Leintücher kaufen können.“

Auch meine Tante besitzt eine Schatulle, gefüllt mit Aktien, sie, die in ihrem ganzen Leben nie etwas anderes gemacht hat, als diese qualvollen Häkeldeckchen, dachte Jürgen.

„So kommt es, daß euch, wenn ihr an einem Werktag, während der Arbeitszeit – um elf Uhr früh, um vier Uhr nachmittags – durch die Geschäftsstraßen einer Großstadt geht, die vor Arbeit brüllt und dampft, Tausende und Tausende und Tausende hübsch und elegant gekleideter, gepflegter Mädchen, Frauen und junger Männer begegnen. Das sind die Töchter – höhere Töchter –, die Gattinnen, die Söhnchen. Sie arbeiten nicht; aber sie essen dennoch, und nicht Kutteln mit Sauce. Kaufen ein, geben viel Geld aus, damit die Arbeiter ihr Brot verdienen können, versteht ihr, wohnen bequem und hygienisch, hören Konzerte, können ausgezeichnet tanzen und zur Not Gesetzesparagraphen auswendig lernen, die gegen Arbeiter anzuwenden den künftigen Staatsanwälten und Richtern dann nicht schwer fällt. Sie sind die Angehörigen ihrer Aktien besitzenden Gatten und Väter, leben von dem Mehrwert, der den Werktätigen abgepreßt wird, und haben, im allerbesten Falle, ein mitleidiges, staunendes Lächeln für demonstrierende Arbeiter, von deren Schweiß und Not und Tod sie leben.“

Aber nicht den schwächsten Reflex des Bewußtseins, daß sie von dem Schweiße dieser Arbeiter leben, dachte Jürgen. Das weiß ich bestimmt. Sind weltenweit entfernt von diesem Bewußtsein.

„Und die Kirche liefert die entsprechende Religion: Du sollst nicht. Du sollst, sollst nicht, sollst! Kürzer: Das Eigentum ist heilig.“

„Im Diesseits“, sagte heiter lächelnd ein neben Jürgen stehender Arbeiter. „Im Jenseits gibts nämlich keine Rittergüter, Bergwerke, Webereien und Möbelfabriken.“

Wer da war in diesem Saale, plötzlich fühlte Jürgen sich mit jedem einzelnen und mit allen zugleich wie durch ein unbegreifliches Wunder verbunden. Der Haß dieser fünftausend war sein Haß, ihre Hoffnung, ihr Ziel waren seine Hoffnung, sein Ziel. Und da geschah es, daß seine lebenslange Unsicherheit und Hilflosigkeit der Umwelt gegenüber urplötzlich verschwanden und das kraftspendende Gemeinschaftsempfinden so mächtig in ihm entstand, daß er an sich halten mußte, nicht loszubrüllen vor innerem Jubel.

‚Da wurde ich vierundzwanzig Jahre alt und ahnte nicht, was Selbstbewußtsein ist. Fühlte es nicht! Fühlte es nicht, wegen meiner unfruchtbaren Einsamkeit, angesichts dieses verruchten Geschehens, dem gegenüber der einzelne sich nimmermehr zurechtfinden kann oder, findet er sich zurecht, verloren ist. So oder so! Denn das Zurechtfinden innerhalb dieses Ganzen bedeutet, wie immer es geschieht, menschlich den Untergang ... Jetzt geht der Kampf an. Kampf bis zum Tode!‘

„Der Klassenkampf! Neueste Nummer! Der Klassenkampf! Die Befreiung! Neueste Nummer: Der Klassenkampf!“

Das Herz schlug nicht mehr. In den Fingerspitzen fühlte er den letzten Schlag, anstürmend, als wolle das Blut herausspringen. So starrte er das verschwitzte, kompakte Antlitz an, den gebogenen Nacken, den kleinen, festen Mund, der rief: „Die Befreiung! Der Klassenkampf!“

Da war Katharina schon wieder verschwunden im überfüllten Zwischengang. Er sah nur noch den über ihrem Kopfe schwebenden ‚Klassenkampf‘. Und noch in diesem selben Augenblick zog ein endlos langer Zug arbeitsunfähig gewordener alter Männer und Frauen grau und düster durch Jürgens Sehnsucht, gleichberechtigt neben Katharina zu stehen.

Sekunden später war das Arbeiterversorgungsheim gegründet. Alles funktionierte tadellos. Alle Zeitungen schrieben darüber. Jürgen empfängt eine Deputation des Berliner Magistrats. Die Herren tragen die Zylinder in der Hand. Vier Herren. Der schmalste, feinste hat einen Scheitel, von der Stirn bis zum Nacken, und führt das Wort.

Gewiß, Jürgen sei bereit, auch in Berlin so ein Versorgungsheim zu organisieren. Warum nicht! Natürlich müsse er erst die besonderen Verhältnisse an Ort und Stelle studieren. ‚Die Konstellation gewissermaßen, Sie verstehen! Außerdem haben andere Stadtverwaltungen sich schon früher bei mir gemeldet, müssen Sie wissen. Und wer zuerst kommt – nicht wahr ...‘

Vier Verbeugungen, die vor Befangenheit und Freude darüber, daß Jürgen den Herren die Ehre zuteil werden läßt, einen Witz zu machen, schief ausfallen. Sogar die Münder lächeln schief. Und der schmale, feine Wortführer sagt: ‚Natürlich, hahaha! gewiß, der mahlt zuerst!‘

‚Und jetzt, meine Herren ...‘ Die vier ziehen sich sofort zurück. Auch die Tante, die respektvoll dabeigestanden war, verläßt leise das Zimmer, den mit Arbeit Überlasteten nicht länger zu stören. Katharina, am Schreibtisch lehnend, sieht Jürgen bewundernd an.

Tausendfaches Händeklatschen. Alle schoben sich der Ausgangstür zu. Jürgen erreichte, halb getragen, die Straße, schwitzend und begeistert. Stand vor der Wirklichkeit, die vier Schutzleute vor das ‚Paradies‘ gestellt hatte, stumm und blickend. Die Proletarierkinder tanzten noch immer Ringelreigen, herum um das dampfende Kanalloch.

Senkrecht sauste Jürgen aus seiner Kirchturmhöhe herab auf das reale Pflaster, empfangen von Ekel und Selbsthaß, weil er wieder geträumt und sich wieder hatte achten und bewundern lassen. Mit einem innerlichen, einem wilden Sprunge langte er wieder an bei sich selbst. ‚Ich werde dir das abgewöhnen. Werde dir das abgewöhnen!‘

Die Masse spülte ihn weiter. Jürgen entfaltete den ‚Klassenkampf‘.

Arbeiter, die den Lesenden überholten, wandten sich um nach ihm. Einige legten, wenn er aufsah, den Finger an die Mütze.

Offenbar ein zäher, langwieriger, trockener Kampf; aber das Ziel, das Ziel – es ist unerhört ... Ob ich herausfinden werde, was schlecht ist an ihrem Artikel? dachte Jürgen und las Katharinas Artikel noch einmal von Anfang an.

Plötzlich vernahm er, stehend im Straßenlärm, deutlich das Summen einer großen Fliege, blickte erstaunt auf und bemerkte, daß er vor dem ‚Platzwirt‘ stand, einer Zuhälter- und Verbrecherkneipe, vor der er, sooft er vorbeigegangen war, immer tiefes Grauen empfunden, und die zu betreten er nie gewagt hatte.

Als er die Tür öffnete, hatte er zuerst die Empfindung, in einen riesigen Fabriksaal geraten zu sein, so ungeheuer war der Lärm. Auch die Töne des alten Klaviers konnten nur vereinzelt durchdringen.

An den vor Alter bucklig gewordenen Wänden hing gar nichts. Vom Schanktisch bei der Tür liefen fünf lange Reihen zwischenraumlos nebeneinander stehender Tische nach rückwärts und verschwanden im Qualm. Kein einziger Stuhl. Zehn Bankreihen: dicht besetzt von Straßenmädchen, Zuhältern, verunglückten oder zu alt gewordenen Artisten und Arbeitern, obdachlosen früheren Angehörigen der bürgerlichen Klasse verschiedenster Berufe, durch den Konkurrenzkampf heraus- und, ohne Station zu machen bei der Arbeiterklasse, gleich hinuntergeschleudert ins Lumpenproletariat, und zum größten Teile Existenzen, die infolge langer Arbeitslosigkeit rettungslos in Verbrechen versunken und ertrunken waren.

Ohne Gesprächsunterbrechung wurde für Jürgen mit selbstverständlicher Bereitwilligkeit Platz gemacht, noch enger zusammengerückt. Nur ein kurzer Blick, prüfend, ob Jürgen ein Spitzel sei.

Schon stand das Bier vor ihm. Und die Hand des Kellners verlangte das Geld.

Niemand wunderte sich über den sorgfältig gekleideten Gast; es kam öfters vor, daß elegante Bummler, Frackherren, oft sogar mit ihren Damen, nach Ball- oder Barschluß als letzte Sensation diese Kneipe besuchten.

Aus den erregten, gespannten und gierigen Gesichtern, aus den Gesprächsfetzen und wilden Gesten, aus dem ganzen Gebaren stach vor allem anderen deutlich das eine hervor: Alles ist erlaubt, nur darf man sich nicht fassen lassen. Hier saßen ausschließlich Existenzen, die das Grundgesetz der bürgerlichen Ordnung, ‚Das Eigentum ist heilig‘, verletzt hatten, für immer außerhalb jeder Ordnung des Geschehens standen und, die drohende Katastrophe unausgesetzt vor Augen, gierig und eisern bestrebt waren, das Letztmögliche noch aus dem Leben herauszufetzen, bevor sie von der Faust der Krankheit oder des Gesetzes gepackt werden würden. Jeder war über jeden orientiert. Mancher konnte manchen ins Zuchthaus bringen. Keiner tat es.

Neben manchem stand das Schafott. Es handelte sich nur darum, das Schafott nicht besteigen zu müssen. Polizeispitzel, auch in der echtesten Verkleidung von den Gästen erkannt, konnten es nicht wagen, sich hier sehen zu lassen, es sei denn in großer Anzahl bei einer Razzia. Entsicherte Revolver. Hände hoch. So wurden von Zeit zu Zeit die Lokalbesucher ausgekämmt. Der ‚Platzwirt‘ war Lieferant des Scharfrichters und der Zuchthäuser. In die Privatangelegenheiten seiner Gäste mischte er sich nicht hinein. Die Grenze des Erlaubten war in seinem Lokal sehr weit gezogen und durfte nicht um einen Millimeter überschritten werden. Er hielt auf Ordnung im stürmischen Aufruhr. Jürgen war betäubt.

Der ‚Hinausschmeißer‘, ein scheinbar ganz unbeschäftigt neben dem Schanktisch emporragender athletischer Brustkasten, machte zwei Schritte auf einen eben eingetretenen alten Mann zu, packte ihn von hinten und wortlos beim Rockkragen und zwischen den Beinen und trug ihn schweigend vor sich her, bis zur Tür, stieß ihn hinaus. Und stand sofort wieder reglos am Schanktisch, den Tumult im Blick: Dem Hinausgeworfenen war das Lokal verboten. Er hatte einmal die Wurst nicht bezahlt und damit die Grenze des Erlaubten überschritten. Der Hinauswurf war von vielen gesehen, von keinem beachtet worden. Das Tosen hatte nicht ausgesetzt.

Jürgen gegenüber saß neben einem Mann ein junges Straßenmädchen, den grünen Hühnerflügelhut schief auf dem Kopfe. Beide hatten sich noch nicht gerührt. Beide stützten beide Ellbogen auf die bierverschmierte Tischplatte, an der die Eßbestecke angekettet waren. An dem gleichartigen, bösen Schweigen erkannte Jürgen, daß die beiden zusammengehörten.

Rechts neben dem Schweigenden hockte männlich breit eine Frau, deren ganzes Gesicht – auch die Stirn – schwarzblau war wie eine Gewitterwolke, und erzählte, ohne sich an jemand besonderen zu wenden, unaufhörlich, daß sie arbeitslos sei, und weshalb sie arbeitslos geworden sei. Ein arbeitsloser, schwindsüchtig aussehender junger Mensch verzog die Lippen, kaum bemerkbar, als habe er schon keine Lust und keine Kraft mehr, noch verächtlich zu lächeln, richtete langsam den Oberkörper auf, sah Jürgen an, der sich erst jetzt dieses fahlen Gesichtes und des haßerfüllten Blickes, dem er kurz vorher in der Arbeiterversammlung mehrere Male ausgesetzt gewesen war, wieder entsann.

Ein erst vor wenigen Tagen nach langjährigem Aufenthalte in Amerika zurückgekehrter, heruntergekommener Aristokrat sagte über die blauschwarze Frau weg ohne jeden Übergang zu Jürgen: „Da gehe ich gestern die große Allee hinunter. Was wollen Sie, ich gehe einfach spazieren. Auf einmal sehe ich eine elegante Equipage stehen. Davor zwei Pferde. Pferde! Ich verstehe mich darauf. Für Pferde interessiere ich mich. Auch jetzt noch ... Und wer, denken Sie, sitzt drin? ... Meine Mutter. Mächtig elegant! Ich habe sie erst gar nicht erkannt. Nun, ich trete zu ihr an den Wagen. Das ist doch klar. Ist das nicht menschlich?

‚Woher kommst du?‘ fragt sie mich. Gerade, als ob ich eben vom Waldhaus vor der Stadt gekommen sein könnte.

‚Aus Amerika! Am Montag!‘

‚Hast du denn Geld. Von mir kriegst du keines.‘

‚Ich hab doch kein Geld.‘

‚So‘, sagt sie und gibt dem Lakai das Zeichen. Fort ist sie ... Das ist doch gemein. Ist das nicht gemein? ... Fünf Jahre!“ Er wandte sich sofort zu einer anderen Gruppe.

Der Schweigende richtete sich auf, holte wortlos und weit aus und knallte dem Straßenmädchen neben sich die Faust auf den. Mund. Dann stützte er beide Ellbogen wieder auf den Tisch.

Auch das Mädchen, das beinahe rückwärts von der Bank gestürzt wäre, stützte wieder die Ellbogen auf den Tisch. Beide saßen genau wie vorher. Schwiegen genau wie vorher. Kein Wort war gefallen. Der Streit lag weiter zurück. Ihre Oberlippe war sekündlich zu einer schiefen Geschwulst geworden, daß die Zähne hervorsahen.

„Da gehe ich gestern die große Allee hinunter ... Elegante Equipage stehen ...“

„Equipage stehen“, hörte Jürgen den Aristokraten am Nebentisch erzählen. Krachendes Antwortgelächter übertönte für einen Moment den Tumult.

Der Aristokrat lachte mit. „... Gerade, als ob ich eben vom Waldhaus zurückgekehrt wäre ... Aber ist das nicht gemein?“

„Schlag sie tot! Hau sie nieder!“

Noch leichenblaß, sah Jürgen die zwei Schweigenden an. Die Frau mit dem blauschwarzen Gesicht rief: „Seit zwanzig Jahren trag ich Backstein. Und jetzt bin ich arbeitslos. Und weshalb? Was meinst du wohl, weshalb?“ Der Schwindsüchtige verzog die Lippen. Sie bekam keine Antwort. Viele waren arbeitslos und wußten, weshalb. „Jetzt passen Sie auf, jetzt kommt unser Fotz-Hobel-Quartett“, rief sie Jürgen zu.

Und der sah die vier Männer an, die ihre Mundharmonikas auf die Handfläche stauchten. Der eine Spieler, ein stark schielender, kleiner, ungewöhnlich breitschulteriger Mann mit kantiger Stirn, machte mit der linken Faust anfeuernde Bewegungen. Das Getöse im Lokal verminderte sich nicht. Der Schielende hetzte sich und die drei andern Spieler in das immer wilder werdende Tempo hinein. Die vier Oberkörper, die eingezogenen Köpfe spielten hingerissen mit. Die Gesichter flammten.

Drei zwischen Krücken baumelnde Krüppelkörper zogen langsam vorüber an Jürgen und am Quartett. Das Tempo stieg unter des Schielenden Führung rasend an. Sie fanden nicht mehr Zeit, die Oberkörper mitzuschaukeln; nur die Gesichter zuckten noch knapp im Rhythmus. Der Schielende stampfte hetzend mit dem Absatz den Takt. Der Vortrag endete wie abgehauen. Der Orkan stand wie vorher im Lokal.

Jürgen hörte einen dumpfen Ton: Wieder hatte die Faust des Schweigenden den hochaufgeschwollenen Mund des Mädchens getroffen. Dann saßen beide wieder reglos, die Ellbogen aufgestützt.

Die Frau mit dem schwarzblauen Gesicht spuckte, über den Tisch weg, scharf an Jürgens Wange vorbei. Eine dünne, weiße Wursthaut flog nach und platschte glatt auf den schwarzen Fußboden neben den Schleim.

Der Schweigende schob, als ob nichts geschehen wäre, seiner Freundin die abgezogene Wurst hin. Das Mädchen rührte sich nicht. Die geplatzte Oberlippe glich einem daumendicken, blauen Wurm.

Jürgen war vor dem an seinem Munde vorbeifliegenden Schleim zurückgezuckt und starrte, plötzlich grau am ganzen Körper, den an Jahren noch jungen Mann an, der sich bückte, die mit schwarzem Sande verschmierte Wursthaut vom Fußboden wieder abzog und in den Mund steckte. Mit der ganzen Handfläche schob er nach, kaute zahnlos und ging, auf dem Boden nach Abfällen suchend, langsam weiter. Die Menschen sah er nicht an. Nur den Fußboden. Apathisch, wie ein wandelnder Toter. Und als ihm vom Schweigenden die verschmähte Wurst zugeworfen wurde, versuchte er gar nicht, sie aufzufangen; er ließ sie gegen seine Brust prallen und erst zu Boden fallen. Strümpfe, Weste, Rock, Hemd hatte er nicht an. Nur Hosen und darüber einen Mantel. Seine Augen waren verschleimt und tot. Die Unterlippe, nach außen gedreht, hing unbeweglich, schief und drei Finger breit herab.

Mit Entsetzen sondergleichen fühlte Jürgen: Dieses kranke Stück Fleisch will nur noch Essen zugeführt bekommen, während der Wilde und sogar jeder Hund, auch der elendeste, mit seinem Blicke Zuneigung verlangen und geben kann. Das ist Kultur, dachte er. Kultur.

Stunden vergingen, und immer mehr neue Gäste kamen, Hände in den Hosentaschen, Schultern fröstelnd hochgezogen: Obdachlose. Der Hinausschmeißer musterte prüfend jedes fahle Gesicht, schob im Laufe der Nacht zwei Burschen und ein junges Mädchen, das die Arme hoffnungslos hängen ließ, wieder hinaus.

Der Schweigende rüttelte die Geschlagene am Arm, forderte sie so auf, jetzt wieder gut zu sein.

Was mag sie alles gedacht haben in dieser langen Nacht? dachte Jürgen. Was ihr geschehen ist, als sie noch ein Kindchen war? Oder was ihr noch bevorsteht in diesem Leben? ... Und der Attentäter, er wird hingerichtet.

Mit einer Schulterbewegung schüttelte die noch immer aufgestützt Sitzende die Hand ab, lächelte aber dabei schief und entgegenkommend.

„Dann eben du die Hälfte und ich die Hälfte“, gab er halb nach. „Her mit dem Geld!“

Aufrührerischer, mitreißender Gesang, vom Quartett begleitet, erfüllte unvermittelt und donnernd das Lokal. Alle brüllten mit. Die nach außen gedrehte Unterlippe hing unbeweglich auf das Kinn herab. Er suchte, bückte sich.

„Das war doch nur menschlich! Ist das nicht gemein?“ fragte der Aristokrat den Hinausschmeißer, der, das Lokal im Blick, am Bierfaß lehnte und keine Antwort gab.

Ich also werde mich nicht dabei beruhigen, daß ich fähig bin, die Schönheit eines Goetheschen Wortes zu empfinden, dachte Jürgen, als er gegen Osten schritt, wo schon die zarte Morgenröte stieg.

Auf eine Gruppe Nachtarbeiter zu, die das Trambahngleis ausbesserten und eben die Azetylenlampen verlöschten, da das graue Tageslicht schon erstarkte. Ein Mann im Mantel beaufsichtigte die Arbeiter, die mit wuchtigen Rundschlägen Eisenkeile in den Asphalt trieben.

Zwei Herren, die wie Oberförster aussahen und aus einer Abendgesellschaft zu kommen schienen, blieben stehen. „Wie brav sie wieder arbeiten!“ Und gingen weiter. Wenige Tage vorher war ein Streik mit einer Niederlage der Arbeiterschaft beendet worden.

Auch Jürgen ging vorüber. „In Wirklichkeit sind es ja nur die Hetzer, während die Arbeiter selbst“, hörte Jürgen, „im großen ganzen ...“

Ging aus der Stadt hinaus, am Flußufer hin. Auf der Quaimauer saß ein junger Mensch. Diesmal erkannte Jürgen sofort das leichenfahle Gesicht des Schwindsüchtigen, der den Abend vorher in der Arbeiterversammlung und später beim ‚Platzwirt‘ gewesen war: Ein Gesicht, in dem der Haß sich schon in Verzweiflung und die Verzweiflung sich schon in Gleichgültigkeit abgewandelt hatte.

Der Schwindsüchtige pfiff leise, ließ die Beine über dem fließenden Wasser baumeln. „Guten Morgen“, sagte Jürgen und setzte sich neben ihn, die Beine ebenfalls wasserwärts gestreckt. Von der anderen Seite näherte sich ein einarmiger Invalide, saß auch nieder und begann Geld zu zählen.

Der Schwindsüchtige pfiff, zwinkerte, den Kopf schief gestellt, die glühende Morgendämmerung an, zum Bettler hin und spuckte in großem Bogen aus, pfiff weiter, gleichgültig.

Auch Jürgen tat gleichgültig: „Schönes Wasser. Sind Sie immer hier?“

„Oder wo anders!“ Er lächelte höhnisch. Dann ließ er sich doch herbei: „Arbeitslos! Seit ... Ah, die Saubande! Ich scheiß auf alles.“ Blickte wieder gewöhnlich drein. Dann biß er in einen unreifen Apfel. Die Säure zog ihm das Gesicht zusammen.

Vorsichtig fragte Jürgen: „Wollen Sie etwas zum Essen holen? Wurst?“

Der einarmige Bettler war noch immer mit Zählen beschäftigt. Er kicherte, nachdem der Schwindsüchtige mit Jürgens Geldschein fortgegangen war. „Den haben Sie gesehen. Der kommt nimmer. Iiiii! die Gauner kenne ich ... Und der dort, der jetzt da kommt, den schauen Sie sich an, das ist Herr Knipp. Der hat ausgerechnet, daß er von seinem Steinbruch, wenn er immer nur soviel brechen läßt, wie er fürs tägliche Leben braucht, bis zu seinem achtzigsten Jahr leben kann, ohne selbst was tun zu müssen. Deshalb läßt er seit Jahr und Tag nur zwei Leute im Steinbruch arbeiten. Er selber angelt seit Jahr und Tag. Der will nur angeln. Nichts als angeln! Und pfeifen kann der, sag ich Ihnen! Er hat nämlich ein Klavier. Darauf spielt er, ganz ohne Noten, und pfeift dazu. Schon in aller Früh! Sie können sich nicht vorstellen, wie der pfeifen kann. Das klingt wie Geigen und Flöten. Die Arbeiter, wenn sie früh in die Fabrik gehen, bleiben stehen und horchen ... Und dann angelt er. Den ganzen Tag. Sogar manchmal nachts.“

Herr Knipp hatte umständlich geschnupft, schäkerte freundlich und ganz für sich allein mit dem Wurme, der sich am Angelhaken bäumte: „Warte doch, warte doch ... Er kanns nicht erwarten.“ Dann beobachtete er, zufrieden mit der Welt, den schaukelnden Schwimmer. Herr Knipp war erst einundvierzig Jahre alt.

„Der kommt nimmer ... Ihr Geld ist futsch.“

Gleich darauf erschien der Arbeitslose, aus einer anderen als der erwarteten Richtung kommend, in der Ferne.

„Jetzt sagt er, er hätts Geld verloren.“

„Um zwanzig Brot. Die Wurst kost vierzig.“ Er packte das armlange Stück aus, zählte das übriggebliebene Geld auf Jürgens Handfläche. „Pferdewurst! Die ist billiger. Und besser ist sie auch.“

Der Krüppel blickte von der Wurst weg schief wasserwärts, in der Erwartung, daß seine Verdächtigung dem Arbeitslosen mitgeteilt werden würde, und bekam, als Jürgen, anstatt zu denunzieren, ihn zum Mitessen aufforderte, in seine bösen, einsamen Augen einen Blick wie ein Findelkind, dem unvermittelt gesagt wird, seine Mutter sei gefunden und stehe vor der Tür. Seit Jahren nicht mehr aufgestiegene Schamröte veränderte das verwüstete Gesicht. Er klemmte das Taschenmesser zwischen die Knie, zog die Klinke hoch und schnitt sich ein Stück Wurst ab.

Der schwindsüchtige Arbeitslose kaute langsam, den Blick über den Fluß weg ins weite, dämmerige Hügelland gerichtet. Herr Knipp, dem noch viele tausend Tage zur Verfügung standen, atmete zeitlos.

Die Straßen waren noch menschenleer. Vor dem Gefängnis stand eine Droschke. Stand schwarz in der Dämmerung vor dem düsteren Gebäude. Kutscher und Pferd regten sich nicht.

‚Sicher! Ganz sicher! Sie transportieren ihn heute schon ... Vielleicht um etwaige Befreiungsversuche unmöglich zu machen?‘

Erst nach einer langen halben Stunde schritten zwei dunkelgekleidete Kriminalbeamte, zwischen sich einen bartlosen jungen Mann in hellbraunem Anzuge, durch das Tor zur Droschke. Der eine ging um die Droschke herum. Sie stiegen durch beide Türen gleichzeitig ein, als der Gefangene schon saß.

Die einzigen Geräusche, die Jürgen vernahm in der schlafenden Stadt, waren das Klappern der Räder und das Klopfen seines Herzens. ‚Die Regierung beschließt: Auslieferung. Die Regierungsmitglieder schlafen jetzt. Aber in dieser Droschke fahren zwei beamtete Henker und dieser Mensch zum Bahnhof.‘

Vorüber am Hauptportale, Gleis entlang, Richtung Rangierbahnhof, bis zu einem einzelnen Personenwagen, der auf dem dritten Gleis stand. Hinter dem Rangierbahnhof ertönten Pufferknall und die langgezogenen Rufe der Eisenbahnarbeiter, die den Zug erst zusammenstellten.

Jürgen beobachtete, wie die drei einstiegen, wie der eine Beamte wieder ausstieg, zwischen dem Gleis auf das Bahnhofsgebäude zuschritt, hinein in das Restaurant.

Alles wie im Traume: Hinweg über die Gleise. In den Wagen. Stück durch den Laufgang. Schiebetür zurück, auf der ‚Dienstabteil‘ stand. Sprung auf die Bank. Und von oben herab auf den breiten Rücken des Beamten, der, stehend, durch das geschlossene Fenster geblickt hatte.

„Los! Renn! Renn! ... Los!“

Der schmalgesichtige Attentäter blieb so reglos in der Ecke sitzen, als ginge ihn diese Sache gar nichts an, schüttelte verneinend den Kopf.

Der Mund des Beamten zischte vor Kraftanstrengung. Er bekam einen Arm frei. Griff in die Tasche nach dem Revolver.

Mit dem angesammelten Zorn seines ganzen Lebens schleuderte Jürgen den Beamten von sich, daß dessen Kopf und Oberkörper durch die zerkrachende Fensterscheibe schossen, stürzte aus dem Wagen, über die Gleise, durch die Bahnhofsanlage, Häuser entlang. Vernahm einen Trillerpfiff, schon fernher.

Ruhigen Schrittes ging er in einen offenen Lagerplatz, in dem mehrere Möbelwagen und viele andere Fuhrwerke standen, und setzte sich auf einen Handwagen. Eine Schar Hühner eilte sofort auf ihn zu.

‚Die Rechnung ist einfach: Der eine war im Bahnhofsrestaurant; der andere konnte mir nicht nach, weil er den Gefangenen nicht verlassen durfte. Außerdem war ich, bis er seinen Kopf befreit hatte, schon weg.‘ Dabei zerbrach Jürgen das Brotstückchen, das er in seiner Tasche gefunden hatte, und streute die Krümel unter die übereinandersteigenden und -fliegenden Hühner.

‚Und jetzt? ... Jetzt wird er hingerichtet.‘

Erst als Jürgen, heimwärtsschreitend, schon mehrere Querstraßen hinter sich hatte, rannte der Beamte, der in der Restauration gewesen war, über den Bahnhofsplatz, in der Hand den Browning.

Zierlich gekleidete Zofen eilten im gepflegten Villenviertel an Jürgen vorbei. Gebadete Damen in hübschen Morgenkleidern nahmen das Frühstück und sonnten sich im Liegestuhl auf den Balkonen. Die Gärten dufteten.

Ich scheiß auf all das. Das Ganze ist gemein, dachte Jürgen und klinkte die Tür auf. Die Tante, erzürnt, weil er die Nacht außer Haus zugebracht hatte, ging grußlos an ihm vorüber. ‚Auf alles!‘ dachte er und schlief sofort ein.

„Und ich erkläre Ihnen, das ist ausgeschlossen.“

Aber der feine, schmale Frackherr, mit dem Scheitel von der Stirn bis zum Nacken, ein Herrchen, nur so groß wie ein Tintenfaß, ein winziges Frackherrchen, verbeugt sich, lächelt höflich und sicher und sagt: „Ich bin die Achtung. Bin das Ganze. Und ich erkläre Ihnen: Ich sitze in Ihrem Hinterkopfe.“

„Sie stehen ja vor mir.“

„Und sitze gleichzeitig verborgen in Ihnen. Bin Ich und bin die Achtung. Bin das Ganze und bin Sie, weil ich in Ihrem Hinterkopfe sitze.“

Da erwachte er. Es war ein Uhr nachmittags. Die Tante stand vor seinem Bett. Ohne Einleitung und als lese sie wieder den letzten Willen des Vaters aus ihrem Haushaltungsbuch vor: „Auf das Haus, in dem du geboren wurdest, und auch auf die drei Miethäuser habe ich deinem Vater schon vor zwanzig Jahren die Hypotheken geliehen. Die Häuser gehörten schon zu Lebzeiten deines Vaters ganz und gar mir. Er hat dir nichts hinterlassen. Du solltest dich also nicht länger, als unbedingt nötig ist, von mir ernähren lassen. Das ist eine Schande. Steh auf und geh in dein Kolleg.“

Er stützte sich auf, sah die Tante an, schwieg noch zwei Sekunden: „Ich verzichte auf dein Geld. Ich lebe und bin da. Das Weitere wird sich finden. Und jetzt geh, bitte ... Also geh schon!“

Es waren nicht die Worte selbst, nicht Sinn und Inhalt der Worte, es war das an Jürgen bisher nie bemerkte einfache, ruhige Kraftbewußtsein, das hinter den Worten stand und die Macht der Tante über ihren Neffen verdunsten ließ.

Er kleidete sich sofort an. Ging aus der Stadt hinaus, auf der Landstraße hin. Rückblickend auf sein Leben, ziellos weiter durch den heißen, weißen Staub, mit sich tragend das lastende Gefühl, daß dies die Stunde sei, die seines Daseins folgenschwerste Entscheidung in sich berge: die Möglichkeit, daß heute sein Leben in zwei Teile gespalten werde.

Die alte Sehnsucht nach der Landstraße, die er seit Jahren in sich trug, die Sehnsucht nach den Hafenstädten und fernen Erdteilen, der Wunsch, allen Qualen, allen Pflichten zu entlaufen, schritt hinter ihm her, schob ihn immer weiter auf der Landstraße hin.

Der Wiesenabhang links von Jürgen war von der Sonne braun gebrannt. Die Luft zitterte vor Hitze. Kein Bauer auf dem Felde. Kein Vogel pfiff. Die Mittagssonnenstrahlen sengten senkrecht herab auf die menschenleere Landschaft.

„Und die weiße Straße geht in der Sonne vor Einsamkeit sich selbst entlang“, flüsterte Jürgen. Und glaubte, in dieser Sekunde den tiefsten Sinn des Menschendaseins erkannt zu haben und zu fühlen. Tat einen langen Blick noch auf die weiße Landstraße, weit hinaus.

Und wandte sich, schritt schnellen Schrittes zurück und in die Arbeiterversammlung, deren Ankündigung er im ‚Klassenkampf‘ gelesen hatte.

IV

Jürgen kassierte den Zins ein bei den Parteien der drei Mietskasernen, zu deren Verwalter die Tante ihn unversehens gemacht hatte, füllte neue Mietsverträge aus, beaufsichtigte das Tapezieren einer Wohnung, ging zwischendurch ins Kolleg. An den Abenden in Arbeiterversammlungen.

Eine neue Partei verlangte, daß die Küche frisch geweißt werde. Nach der Tante Meinung war die Küche noch weiß genug. Jürgen mußte vermitteln. Er sah, wie nie vorher in seinem Leben, von Angesicht zu Angesicht die Not. Wurde gegen seinen Willen Zeuge von Haßausbrüchen zwischen Proletarierehepaaren, sah machtlos zu, wie abgearbeitete, machtlose Väter ihren Zorn an den machtlosen Kindern ausließen; wie Gerichtsvollzieher letzte Stücke pfändeten; mußte Mietzins verlangen von Arbeiterfrauen, in deren Augen unvertreibbar Gram und Sorge hockten, und Mietzins für ein Zimmer – nicht vier Meter im Quadrat –, in dem Mann und Frau, zwei erwachsene Söhne und zwei erwachsene Töchter in drei stinkenden Betten die Nächte, ihr Leben verbrachten.

Der Tapezierer war fertig. Jürgen blickte die Wand an. Die knallroten Rosen der neuen Tapete wurden lebendig, kreisten wie ein Feuerwerksrad. ‚Tragisch – so eine Rosenwohnung! Viele tausend Rosen, und wenn dann die Leute darin leben ... stinkts!‘

Vor dem Hause, herum um das Kanalgitter, drehten sich drei fahle Proletarierkinder im Ringelreigen. In der Mitte kniete eine Vierjährige und machte das zum Spiel gehörige Märchengesicht.

‚Für diese Kinder scheint das Kanalloch der Mittelpunkt zu sein, wie das reich ausgestattete Spielzimmer der Mittelpunkt für die andern Kinder ist. Daß die Faust der Armut auch die Kinder würgt, das hat mich schon als Gymnasiast empört ... Und die Kinder, neben denen die Gouvernante geht? ‚Mademoiselle Katharina, Sie dürfen nicht mit den Armen schlenkern. Mademoiselle Katharina, Sie dürfen sich nicht umsehen. Beim Atmen müssen Sie die Lippen geschlossen halten, Mademoiselle Katharina.‘

Es war die Stunde, da die proletarische Jugend, weil sie eigentlich schon zuhause hätte sein müssen, in der heißesten Spiellust zusammengetan ist. Geschrei durch Straßen. Erhitzte Gesichter. Gespannte Knabenkörper, in Fluchtstellung atemlos den Verfolger erwartend.

‚Die dürfen mit den Armen schlenkern. Umsehen dürfen die sich auch. Und den Mund können sie aufreißen, so weit sie wollen.‘

Abendglocken läuteten, verklangen. Arbeiter marschierten heimwärts. Der warme Sommerhimmel dämmerte der Nacht entgegen. Laternen funkten auf. Der Tag war schön gewesen.

‚Es ist doch schön – man begreifts nur meistens nicht.‘

Viele Geschäfte waren noch beleuchtet. Aus anderen strömten schon die bleichen Ladnerinnen, sahen in den Himmel und streiften dabei die Handschuhe über. Ein Invalide, der seinen verkrüppelten Fuß, der wie eine verkümmerte Hand aussah, nackt auf dem Gehweg liegen hatte, hob die Mütze zu Jürgen empor. „Du wirst nicht wollen, daß ich leide“, sang ein hemdärmeliger Tenor im vierten Stock tragischen Tones vergnügt zum Fenster hinaus.

An dem Theater rollten Autos vor und ab. Toiletten stiegen aus. Ein zahnloser Menschenmund rief: „...tung mit den neuesten Kursberichten!“ Der aus den Zugangsstraßen immer neu genährte Zug derer, die aus den Werkstätten, aus den Fabriken kamen, marschierte vorüber. Alle schritten im gleichen Tempo, nahmen Jürgen mit.

Über eine eiserne Kanalbrücke, neben der ein Schiffer auf dem Deck im Kochtopf rührte. Vorüber an einem Bureau, in dem zwei beleuchtete, einander belauernde Tuchgrossistengesichter noch einen Abschluß ausfochten. Aus offenen Kneipentüren schlug schlechter Fettgeruch heraus.

Die Straßen wurden enger, dunkler, die Häuser kleiner. Unbebaute Stellen, lange, verfaulende Bretterzäune (eine Ratte verschwand), Ziegen auf dem Heimtrieb, ein Schuppen, Gestank. Das kleine Fenster hing nah der Erde rotleuchtend in der Finsternis. Die Haustür war nur angelehnt.

„... Denn überall haben in Wirklichkeit die Monopolisten die ganze Macht: eine Macht, so unbeschränkt, daß auch die Schule, Kanzel, Presse, öffentliche Meinung, Polizei, Militär, Justiz, der ganze Staat ihr Staat ist und die Regierungen in allen Vaterländern nur die Schatten der Monopolinhaber sind, Schatten, die, wie der Schatten eines beweglichen Gegenstandes, jede Bewegung dieser Allmächtigen mitmachen müssen. Schon stehen die Monopolinhaber aller Vaterländer wieder vor dem Knopf, und die Schatten blicken unverwandt auf die Monopolinhaber, bereit und gezwungen, den Krieg – Krieg um Rohstoffquellen, Eisenbahnkonzessionen, Absatzmärkte, um den Weltprofit – zu erklären in dem Moment, da jene auf den Knopf drücken“, schloß der Agitator, der unter dem dösenden Gaslicht auf einem Küchenhocker saß, seinen Vortrag.

Katharinas Zimmer war sehr niedrig. Der Agitator erhob sich, vorsichtig, um mit dem Kopfe nicht anzustoßen an den Gasarm. „Nicht nur für einzelne Menschen, Genosse Jürgen, auch für das Proletariat gibt es, da die ökonomischen Voraussetzungen zur Ablösung der kapitalistischen Konkurrenz-Profitwirtschaft durch die proletarische Bedarfswirtschaft längst gegeben sind, immer wieder das, was du Schicksalspause nennst – weltpolitische Situationen nämlich, in denen das Proletariat sich entscheiden kann für die soziale Revolution oder für einen imperialistischen Krieg, in dem Millionen fallen. Das Weltproletariat steht immer wieder in dieser Schicksalspause. Wie wird es sich das nächste Mal entscheiden?“

Und während er seine Notizen einsteckte: „Der Genosse Jürgen! ... Unsere Bezirksführer! Und hier: Unser Vertrauensmann.“

Die neun standen an der Wand lang, hockten auf dem Fußboden und dem Fenstersims. Zwei rauchten aus kurzen Pfeifen den Tabak, dessen dunkelblauer Qualm, von dem Spaziergänger unverhofft im Freien eingeatmet, gut riecht und im Zimmer wie Gift beißt.

Jürgens Augen folgten dem Blicke des Agitators, der lächelnd sagte: „Ihr beide kennt einander ja schon sehr lange, hast du mir erzählt.“

Katharinas Gesicht, das außerhalb des Lichtkreises hinter der Schreibmaschine im Schatten hing, sah übermüdet aus. Neben ihr stand ein grauer Emailteller mit kaltgewordenem Kraut und kaltgewordenen Fettbrocken, an der Rückwand ein Gaskocher und ihr schmales Eisenbett.

Fühlbar stand die Wirkung des Vortrages im Zimmer und sichtbar in den Blicken der neun Bezirksführer.

Ein noch junger Holzarbeiter, dessen Gesicht, eingetrocknet und kleiner geworden, schon einer gedörrten Frucht glich, sagte, leicht werde es ihm nicht fallen, an die Genossen in seinem Bezirke alles das klar und faßlich weiterzugeben. „Aber faßlich muß es sein, sonst verstehts niemand.“

Der Vertrauensmann, ein dunkelgesichtiger, stoppelbärtiger Metallarbeiter, an dessen rechter Hand zwei Finger fehlten, streckte diese Hand vor: „Vier Hauptpunkte mußt du festhalten“, sagte er, zählte an den Fingern her und mußte schon wieder beim Daumen beginnen: „Und viertens, daß die Arbeiterschaft gegen einen derartig gewaltigen Machtblock eben nur bei schärfster Disziplin und überhaupt nur durch eine ganz starke Organisation etwas ausrichten kann.“

Unter dem Sims, mit dem Rücken gegen die Fensterwand, saß auf dem Fußboden ein schon bejahrter Kartonnagenarbeiter. Seine Hand rückte ununterbrochen und selbsttätig unsichtbare Gegenstände zehn Zentimeter seitwärts: Die arbeitende Hand machte den Griff, den sie ein Leben lang von früh bis abends in der Papier- und Kartonnagenfabrik des Herrn Hommes gemacht hatte.

„Beruhig du dich nur. Die Genossen in deinem Bezirk werden dich schon verstehen. Was dir deiner Lebtag auf die Haut brennt, das begreifst du leicht“, sagte er und setzte sich auf die arbeitende Hand, die sich Sekunden später wieder befreite und weiter ihre Arbeit tat.

„Wegen der Frauenlandeskonferenz! Weil sie eben in dieser Woche in vier Versammlungen das Referat hatte. Und auch sonst viel Arbeit, Sitzungen, Schreibereien und so ... Jetzt mußt du ein paar Tage ausspannen, Genossin Lenz.“

„Ich brauche nur Schlaf. Fünf Stunden!“

„Ja, ja, Schlaf“, sagte der Kartonnagenarbeiter und setzte sich wieder auf seine tätige Hand.

Katharina wandte das Gesicht Jürgen zu. Und es schien, als habe sie den Blick, mit den sie ihn vor acht Jahren im öffentlichen Parke angesehen hatte, in ihre Augen zurückgeholt. Sie lächelte, und hinter diesem Lächeln stand die Antwort auf seine damalige Frage: ‚Aber wie? Wie soll man sich aufopfern?‘

„Der ist erst fünf Tage später abtransportiert worden.“

Dann hörte Jürgen, wie der Metallarbeiter zu den zwei Pfeifenrauchern sagte: „Weil der Kriminaler, der mit dem Kopf ins Fenster gefallen ist, dabei ein Aug eingebüßt hat und deshalb die Reise nicht mitmachen konnte.“ Und trat zu den Dreien in die Fensterecke. Auch der Agitator war hinzugetreten.

„Wenn sie den packen – unter fünf Jahr gehts nicht ab“, sagte der Metallarbeiter noch.

Der Holzarbeiter mit dem vertrockneten, kleiner gewordenen Gesicht sprach schriftdeutsch: „In der Zeitung stand: Ein gutgekleideter, ungefähr fünfundzwanzigjähriger Mensch, Kaufmann oder Student, augenscheinlich ohne Kopfbedeckung.“

Und der Agitator: „Auch heute waren wieder Kriminalbeamte im Parteibureau ... In diese romantischen Polizeischädel geht es nicht hinein, daß die Aufgabe der modernen Arbeiterbewegung nicht darin besteht, Attentate zu organisieren und Attentäter gewaltsam zu befreien.“

Die Mütze hatte ich in der Tasche, dachte Jürgen und fragte: „Was sagten Sie eben?“

„Das Gefühl der Empörung übrigens, das diesen jungen Menschen zu dem Befreiungsversuch veranlaßte, ist dasselbe, das in allen Klassenkämpfern lebendig ist; aber die müssen, so schwer das ihnen auch wird, ihre Empörung oft in sich zurückhalten“, fuhr der Agitator fort, Blick vor sich hin gerichtet und in einem Tone, als dachte er, wie sehr viel leichter das Leben sein würde, wenn der Kampf um den Sozialismus in derartigen Taten bestehen könnte, anstatt in der jahrelangen, lebenslangen, zermürbenden, täglichen Hingabe.

„Ja, aber dazu noch wöchentlich zweimal Bildungskurs in der Jugendorganisation!“ rief bei der Rückwand ein Bezirksführer. Zwei andere sprachen über den letzten Lohnkampf, der die Transportarbeiter sehr geschwächt habe. Im Stock erklang das in sich erstickende Geschrei eines Säuglings.

Unter dem Brustbein empfand Jürgen einen immer schwerer werdenden Druck, als stecke er bis zum Kinn in dickflüssiger Moorerde.

„Wollen wir anfangen?“ fragte der Agitator. Und Katharina hob den Deckel von der Schreibmaschine.

Die zehn schritten durch die Finsternis, vor sich die fensterlosen Rückseiten schmaler, turmhoher, freistehender Mietskasernen: tote Silhouetten. Ein langer Güterzug kroch aus dem Arbeiterviertel heraus, ins flache Land hinein. Wasserglanz in dunkler Ferne und das gedämpfte Rasseln eines Schleppers, der eine Reihe Frachtschiffe stadtwärts zog. Der lange Pfiff der Lokomotive schlug einen Bogen durch die Nacht.

Geschrei brach ihnen entgegen, stieg an: ein Knäuel Wutgebrüll. Über allem die Frauenstimme, die wie die Verzweiflung selber schrie. Und als die zehn den Lichtkegel, der aus dem Parterrefenster auf die Straße fiel, erreicht hatten und ihn durchschritten, war es drinnen völlig still. Drückende Stille. Und dann Wimmern, Weinen, gestoßen ausbrechendes Geheul, fessellos, als weine die Verzweifelte alle Not ihres Lebens und das Leben selbst aus sich heraus.

Darüber entstand ein Gespräch. Ob der Mann die Frau und weshalb er sie wohl geschlagen habe, und warum sie gar so arg flenne. „Die Gründe kennt man“, sagte der Holzarbeiter.

„Ja, das sind im Grunde immer die selben.“

„Wie schön die Nacht ist.“

„Ja, wenn man so marschiert.“

Die neuen Backsteinhäuser des wachsenden Arbeiterviertels, gleichförmig, unverputzt, wie über Nacht hingestellt – lineare Straßen, bei den Feldern endend wie abgehauen –, stießen feuchten Kalkgeruch ab. Kein Fenster war erleuchtet. Die Arbeiter schliefen schon. Vor einer alten Villa, die eingeholt und überholt worden war von der wachsenden Stadt, stand ein Schutzmann mit einem Polizeihund.

Das Weinen war verendet. Die Schritte hallten im Gleichmaß.

„Aber Parteimitglied wurde ich – das sind jetzt sechsundzwanzig Jahre her“, erzählte der Kartonnagenarbeiter. „Seitdem hat sich viel geändert.“

Sechsundzwanzig Jahre, dachte Jürgen. Sechsundzwanzig Jahre.

Hohe, leuchtende Fenster, fünf lange Reihen übereinander, traten aus der Dunkelheit heraus. Die zehn schritten hinein in das Klipp-Klapp-Geräusch der Transmissionen: die Nachtschicht bei der Arbeit.

„Heut ist die Partei eine Macht ... Wenns auch langsam geht ... Mitbestimmungsrecht ... Die straffe Organisation ... Ja, viel Arbeit gewesen“, vernahm Jürgen, der mit dem Holzarbeiter und dem Metallarbeiter einige Schritte voraus war.

Schweigend über die kleine Eisenbrücke. Durch den kühlen Teergeruch. Auf der äußersten Spitze des zugebretteten Frachtschiffes im Kanal stand ein winziger Hund, der blickte. Schon durchbrach dort und hier das Lichtermeer die Baumkronen.

Jürgen konnte nicht durchatmen, als wären seine Lungen luftgefüllt und hermetisch verschlossen. Konnte nur vom Halse weg atmen. ‚Lebenslang außerhalb des Lebens zu stehen, bedeutet es. Und nur ein winziges Teilchen der großen Bewegung zu sein und gewesen zu sein.‘ Der Druck in seiner Brust wich nicht.

Sie gerieten in die Menge hinein, die das Theater verließ und dem Korso zustrebte. Es war erst zehn Uhr. Vor allen Cafés saßen die Gäste im Freien. Auch vor dem Grandhotel ruhten elegante Herren und elegante Damen in Korbsesseln und genossen die herrliche Sommernacht. Auf der funkelnden Weinterrasse, blumenüberhangen, von der Straße leicht abgesondert durch Lorbeerbäume, rollten die Kellner lautlos die Servierwagen an und ab, tranchierten Geflügel, öffneten Weinflaschen. Zu Verbeugungen erstarrte Fragen. Das Streichquartett spielte diskret.

Die vier Bogenlampen über des Juweliers Schaufenster spritzten weißes Licht in die Menge – Studenten, junge Kaufleute, Fremde und Offiziere mit ihren Kokotten und Damen –, die straßauf, straßab bummelte, in so gemächlichem Tempo, daß die zehn wie ein marschierender Fremdkörper wirkten. Vor dem Juwelier blieben sie stehen. Alle zehn. Jürgen mit dem Blick zur Weinterrasse.

Plötzlich bekam er einen Schlag gegen das Herz. Sagte zweimal den Satz: „Das ist es ja nicht. Das ist es ja nicht.“ Sah an sich hinunter, überzeugte sich, daß er sorgfältig gekleidet war, und drehte sich wieder um zum Schaufenster.

„Also, auf morgen!“ rief der Holzarbeiter noch zurück und lächelte bekannt und dennoch fremd.

Die erste Geige sprang mit einem unerwarteten, funkelnden Saltomortale aus der Begleitung heraus, jubelnd empor. Ein übriggebliebener Gedanke irrte noch in Jürgen umher, wurde immer wieder zurückgestoßen, schrie lautlos und gellend das Wort ‚Schicksalspause‘. „Das ist es ja nicht. Das ist ja unwichtig“, murmelte Jürgen und zog die Handschuhe über.

Erst als er schon vor einem weißgedeckten Tischchen auf der Weinterrasse saß, gegenüber zwei schweigsamen, schönen Engländerinnen, bemerkte er Adolf Sinsheimer und noch drei Schulkameraden, die, elegant zurückgelehnt, ihre seidenen Strümpfe sehen ließen und, die ganzen Oberkörper langsam vorbeugend, Jürgen grüßten. Er setzte sich zu ihnen.

Stand sechs Stunden später auf der Straße. Die Vögel pfiffen schon. Die Menschen schliefen noch. „Nun, und jetzt? ... Ich war betrunken.“

Er dachte, von Ekel geschüttelt, an die Szene in dem orientalischen Salon, in dem er mit den Schulkameraden gewesen war. Sah die Amsel an, die auf dem Staketenzaun saß. Seine Knie wurden weich. Er mußte sich auf die Steintreppe setzen. „Das Ganze hat nicht mehr und nicht weniger zu bedeuten, als mein imaginäres Duell mit Karl Lenz.“

Die Amsel sperrte weit den gelben Schnabel auf: „Das stimmt. Und stimmt doch nicht.“

„Denn einmal, meinst du, nicht wahr ...“

„Eben das meine ich!“

Jürgen hatte das Empfinden, in die Tiefe zu stürzen, und fuhr aus dem Schlummer. „Wenn das so weiter geht, werde ich einmal nichts mehr selbst entscheiden können. Das Schicksal wird mir keine Pause mehr gewähren.“

Am Nachmittag – sie hatten eben Kaffee getrunken – blickte Jürgen nachdenklich die im Sessel schlummernde Tante an, lehnte sich auch in den Sessel zurück, Wange auf dem gehäkelten Schutzdeckchen.

Die Heiligenbilder an den Wänden hielten die segnenden Hände erhoben über die beiden. Auch der Vogel im Käfig ließ die Schlafhäutchen über die Augen herab. Die blauen und silbernen und goldenen, kopfgroßen Glaskugeln im Garten funkelten in der Nachmittagssonne. Eine Wolke zog still am Himmel hin. Der Perpendikel sagte: Rich...tig, rich...tig.

Das fadendünne Drahtseil lief von Jürgens bequemem Backenstuhl weg, in viel tausend Meter Höhe vorbei an den in Not und Kampf Stehenden dieser Welt. Jeder hielt sein gepeinigtes Herz in der Hand. Da, wo das Seil endete – in ungeheuer weiter Ferne –, leuchtete Katharinas Stube. Auf Jürgen zu, in blauer, gefährlicher Höhe, bewegten sich die neun Proletarier und erwarteten Jürgen so gläubig, daß er nicht widerstehen konnte, das fadendünne, schwindelhohe Seil ebenfalls zu besteigen.

Ein paar Meter vor ihm balancierte, vom Absturze bedroht, ein Mensch auf dem Seile. Jürgen erkannte in dem gefährlich Schwankenden sich selbst, rief sich an in kaltem Schrecken.

Da marschiert er mit den neun Proletariern den Korso hinauf, sieht die promenierende Menge, die vier lichtspritzenden Bogenlampen über des Juweliers Schaufenster. Hört die Streichmusik, erkennt die Melodie.

Die Schicksalspause tritt ein.

‚Also, auf morgen!‘ sagt der Holzarbeiter.

Diese photographische Genauigkeit! Ich sah im Traume sogar die gelbe Rose in Adolfs Knopfloch, deren tatsächliches Vorhandensein mir gestern nicht einmal in der Wirklichkeit bewußt geworden war, denkt Jürgen, der träumte, erwacht zu sein. Steckt sich die Rose ins Knopfloch.

Sitzt mit Adolf Sinsheimer und den drei Schulkameraden auf der Weinterrasse. Plötzlich verdichten sich die vier Körper in einen Körper, auf dessen Hals die vier Köpfe stecken.

Alle vier Gesichter haben den selben zotigen Zug um den Mund, denkt Jürgen. ‚Wie Männer, wenn sie eine wehrlose Frau auf der Straße ansehen. Den selben, das Menschenauge schändenden Blick, den kein Tier dieser Erde hat.‘

Alle vier Münder gleichzeitig sprechen ein furchtbares Wort: Ein Menschenschrei, gefangen im Kellergewölbe. Dann nimmt der Vierköpfige ein kleines Küchenmesser mit brauner Holzschale aus der Westentasche und stemmt Jürgens Schädeldecke auf.

Die Hauptmasse des Gehirns reißt er mit der Hand heraus. Das Hängengebliebene kratzt er mit dem Küchenmesser sorgfältig ab.

Dabei hört der zu maßlosem Entsetzen Erstarrte die erste Geige im Weinrestaurant jubelnd in die Höhe steigen.

Der Vierköpfige wickelt ein sorgfältig verpacktes, neues Gehirn aus, um das herum – wie um eine Sektflasche die Steuerbanderole – das Fabrikzeichen klebt, preßt es in Jürgens offenen Kopf hinein und paßt die Schädeldecke wieder auf.

Schmerz und Entsetzen verschwinden augenblicklich.

Die Schulkameraden sind jetzt wieder alle vier da. Als fünfter sitzt Jürgen bei ihnen, spricht wie sie, denkt, lacht wie sie, hat den selben zotigen Zug um den Mund, den selben Blick, weiß das alles und fühlt sich wohl dabei.

Nur der Menschenschrei im Kellergewölbe, der wie gefangener Gesang klagend weiter tönt, stört ihn. Deshalb leert er die bis zum Rande mit Sekt gefüllte große, weiße Kaffeekanne auf einen Zug. Steht plötzlich in dem orientalisch ausgestatteten Salon, in dem fünf halbbekleidete Mädchen auf Ottomanen liegen. Schaudert zurück, weil die Brüste mit kurzhaarigem Pelze bewachsen sind. Und erwachte wirklich.

Der Vogel und die Tante schliefen noch. Und die still am Himmel hinziehende Wolke hatte noch nicht einmal die Krone des Nußbaumes im Garten passiert. Die selbe Fliege saß noch auf der weißen Kaffeekanne und saugte an dem selben Tropfen, der an dem Schnabel hing.

Als ob der Entschluß, der seinem ganzen weiteren Leben eine andere Richtung geben mußte, sekündlich in Jürgens Empfinden übergegangen wäre, hatte sich mit dem Entschlusse unversehens sein ganzes Körpergefühl verwandelt. Gang und Glieder waren schwer geworden. Alles Gewesene und die Umwelt hatten an Gewicht verloren.

Jürgen, entschlossen, sich auf sich zu nehmen, verließ, ein schweres Ganzes, die Villa, um nicht mehr zurückzukehren.

Sein Gefühl wußte, was er auf sich nahm. Dieses Gefühlsbewußtsein lastete von dem ersten Schritte an, den er außerhalb des Gartens tat, so schwer in ihm, als hätte es seit Jahren sein Wesen bestimmt. Das Bisherige war versunken. Dahin gab es kein Zurück mehr.

Er möge ein bißchen warten, rief Katharina durch die verschlossene Tür, trat schnell vom Arbeitstisch weg in die Mitte des dunklen Balkenkreuzes, das den Fußboden vierteilte.

Beide Hände in den Taschen des Sweaters, blickte sie prüfend rundum in ihrem großen Parterrezimmer, ohne sich vom Platze zu bewegen. Die geblümte Tapete, älter als Katharina, war mit vielen kreisrunden Rostflecken übersät, an vielen Stellen gesprungen und mit Markenpapier zusammengeklebt. Nur eine Gasflamme brannte an dem Doppelarm.

Nachdenklich strich sie sich mit dem dünnen Mittelfinger über die braune, gebogene Braue, berührte dabei die Lippe mit der Zungenspitze, wie vor Jahren an dem Abend, da sie, stehend in ihrem Mädchenzimmer, den Entschluß, für immer das Elternhaus zu verlassen, gefaßt und sofort ausgeführt hatte.

Auch jetzt machte sie diese Doppelgebärde, als habe sie einen Entschluß gefaßt, entzündete den zweiten Glühstrumpf, schloß das Fenster, von dem aus die fernblinkenden roten und blauen Lichter des Rangierbahnhofes und der Eisenbahnwerkstätte zu sehen waren, und zog den Vorhang zu. Mehr Verschönerungsmöglichkeiten gab es nicht.

Im Zimmer, nun abgeschlossen von der Außenwelt, war es ganz still. Nur das Herz klopfte. Schon mittenweges zur Tür, kehrte sie noch einmal um, setzte sich, Hand auf dem Herzen, und staunte.

Hinter der verschlossenen Tür stand Jürgen in schwerer Ruhe.

Sie schob, nachdem sie die Tür geöffnet hatte, beide Hände sofort wieder in die Sweatertaschen, erkannte an Jürgens Blick sofort, daß der Grund seines Besuches ein anderer war, und nahm die Hände wieder heraus.

Er hatte ihr nicht die Hand gereicht. Er saß schwer am Tisch und erzählte, ohne Einleitung, sachlich und ohne Scham, als schildere er das Erlebnis eines andern, was sich gestern mit ihm ereignet hatte. Dabei machte seine Hand, die schwer auflag, kleine verstärkende Bewegungen. Auch als er, bemüht, sich und ihr das gestern Geschehene verständlich zu machen, in großen Zügen sein bisheriges Leben erzählte, schilderte er die Leiden, die Demütigungen und die nicht durchgekämpften Kämpfe des Kindes und Jünglings so, als spräche er von einem beliebigen anderen.

So ergab sich, während sie die Abendsuppe bereitete auf dem Gaskocher, der auf einem niedrigen Kistchen stand, so daß sie öfters in tiefer Kniebeuge sitzen mußte, ein Gespräch über Einzel-Ich und Umwelt.

Einst, vor Jahren, als sie noch nicht Sozialistin gewesen sei, habe sie sich vorgestellt, was geschehen würde, wenn einmal eine ganze Generation nicht als machtlose Kinder, sondern, ungebrochen durch falsche Erziehung, Autorität und Umwelt, gleich als Zwanzigjährige geboren werden und so auf dem Kampfplatz erscheinen würde. Mit der Kraft ihres unverbogenen Wesens würde diese Generation ohne Schwierigkeit das Ganze über den Haufen werfen.

„Leider aber kommt der Mensch als wehrloser Säugling auf die Welt“, schloß sie und lächelte froh, als sei diese Wehrlosigkeit das Erfreulichste, das dem Säugling geschehen könne. Das Herz klopfte nicht mehr.

Sie gab sich Mühe, besonders gut zu kochen, fragte, ob er die Hafersuppe lieber dick oder dünn, süß oder weniger süß esse.

„Das ist mir ganz gleich. Ich habe noch niemals Hafersuppe gegessen.“ Er beobachtete, wie sie herumhantierte, sich tief zu Boden beugte, wieder senkrecht stand. ‚Glatt und fest wie ein junges Baumstämmchen, junges Nußbaumstämmchen‘, fiel ihm ein.

Sie stand, ein rechter Winkel, über den Gaskocher gebeugt. Von jetzt an wirst du vermutlich sehr oft Hafersuppe essen, dachte sie, während sie die zwei dampfenden, zu vollen Suppenteller vorsichtig durch das Zimmer trug zum Tisch, der am Fenster stand.

Jürgen, tief dabei, die Summe seines bisherigen Erlebens, Erleidens, Erkennens zu ziehen, bereitet und gewillt, von nun an klaren Bewußtseins zu handeln, bedurfte in dieser Stunde, da er im Rückblick auf sein Leben schon und erst den Aufbruch zu sich selbst begann, noch des Verweilens bei den Ursachen, bestrebt, ihr Ineinandergreifen fehlerlos zu erkennen.

Er dachte: Der Sozialismus muß sich auf allen Gebieten des Lebens mit absoluter Notwendigkeit und Ausschließlichkeit ergeben aus dem Wahnsinn des Bestehenden. Die Rechnung muß stimmen. Und sagte:

„Es gibt nicht nur eine herrschende Klasse und unterdrückte Klassen; es gibt auch eine jeweils herrschende Generation, die durch alle Klassen durchgeht: Alle Erwachsenen nämlich, die, machtstrotzend, mit Hilfe der bestehenden Seelenmord-Gesellschaftsordnung, in der sie selbst tödlich verstrickt und untergegangen sind, die heranwachsenden Generationen abwürgen, entselbsten ... In diesem Sinne bilden alle Erwachsenen zusammen eine granitene Einheit, einen Wall, gegen den die Heranwachsenden vergebens anrennen, so lange anrennen, bis sie selbst entselbstete, lebende Leichen sind und Teile des Walles bilden gegen die neu heranwachsenden Generationen.“

Sie stand rückwärts und rieb, betrachtete den Löffel, rieb weiter, hauchte ihn an. Der verzinnte Blechlöffel bekam keinen Glanz.

„Denn wenn es auch eine Tatsache ist, daß jeder Mensch als ‚Reines Ich‘ geboren wird, ist es eine ebenso unumstößliche Tatsache, daß das Reine Ich ganz und gar unentwickelt, ganz und gar versunken und verschüttet und ertötet ist im Bürger des zwanzigsten Jahrhunderts ... Aber wie steht es mit der Entwicklungsmöglichkeit des Ich im Proletarierkinde? Wie verhalten sich Umwelt und proletarische Eltern zu dem Ich im proletarischen Kinde und umgekehrt?“

Darüber habe sie noch nicht nachgedacht. Katharina stand noch einmal auf, kramte lange in einer Schublade und legte dann eine Papierserviette vor Jürgen hin.

„Das ist aber eine sehr wichtige Frage. Auch hier müßte die Rechnung stimmen.“

Wahrscheinlich könne auch diese Frage nur von dem Standpunkte aus, daß es eine herrschende und eine ausgebeutete Klasse gäbe, richtig beantwortet werden, sagte Katharina. „Vielleicht sollte man diese Frage so stellen: Was erhält das bürgerliche Kind von der Umwelt dafür, daß es seinen Protest, sein Wesentlichstes: sein Ich und damit sein Schöpfertum und die Fähigkeit, das Leben auch psychisch zu erleben, aufgibt, sich unterordnet, sich der Umwelt anpaßt, selbst zu einem Teile der Umwelt wird gegen noch Protestierende? Und was tauscht das proletarische Kind gegen die Aufgabe seines schöpferischen Ich ein? Was widerfährt dem Bürgerkinde, wenn es versucht, zu kämpfen, zu protestieren? Und was geschieht in diesem Falle dem proletarischen Kinde? Erhalten beide und geschieht beiden das gleiche?“

Sie hörten, wie jemand absprang, das Fahrrad gegen die Mauer lehnte. Eine Sekunde später trat der junge Arbeiter ein, atmend, verschwitzt und seelenruhig lächelnd. „Die ganze Belegschaft der Hommesschen Papierfabrik ist in den Streik getreten, Genossin Lenz.“ Er wischte sich mit dem Taschentuch rund um den Hals. „Der Genosse Ingenieur läßt dir sagen, du sollst morgen früh um sieben Uhr in der Redaktion sein.“ Und da sie nickte, war er draußen.

Sie rief ihn zurück. Ob die Werkmeister und Vorarbeiter mitstreikten?

„Ah, wo werden denn diese Arschkriecher mitstreiken! Er will ja auch auswärtige Streikbrecher heranziehen. Aber unsere Streikposten stehen schon. Auch am Bahnhof! Die Polizei, selbstverständlich, ist auch schon aufmarschiert!“

„Da möchte ich gleich Streikposten stehen“, sagte Jürgen, „gegen Herrn Hommes.“

„Das besorgen die Betriebsgenossen schon selber.“ Sie setzten sich wieder. Und da Jürgen mit den Augen fragte, fuhr sie fort:

„So gewiß es ist, daß die Natur die Trennung der Menschen in Klassen, das heißt: die Verhunzung des Menschen durch die kapitalistische Gesellschaftsordnung, immer wieder aufhebt durch das Hervorbringen körperlich und geistig vollwertiger Kinder bürgerlicher und proletarischer Eltern, so unzweifelhaft ergibt sich aus dem, was ist, daß die Trennung in Klassen auf bürgerliche und proletarische Kinder total verschieden wirkt.“

Unversehens war die Gefühlsschwere von Jürgen gewichen. Entlastet atmete er aus. „Was dem Bürgerkinde, das sich nicht anpassen will, geschieht, weiß niemand besser als du und ich“, sagte er, im Blicke tiefe Freude über die schwer errungene persönliche Befreiung. „Ein zeitlebens seelisch gefährdeter Mensch, Irrenhaus oder Selbstmord! Oder, bestenfalls, als Dreißigjähriger ein zuckendes Nervenbündel! ... Und für die anderen, für die übergroße Mehrzahl, für diejenigen Bürgerkinder nämlich, die den Kampf gegen die Umwelt sofort aufgeben, ist das Nichtmehrprotestieren, das Sichaufgeben, das Sichanpassen gleichbedeutend mit Bequemlichkeit, kampflosem Siegen, mit der uneingeschränkten Möglichkeit, sich zu bilden, mit glattem Emporkommen in eine bevorzugte Stellung, mit standesgemäßer Heirat, mit Reichtum, Macht, Geachtetwerden, kurz: mit dem vollen Genusse des Lebens ... Die geben ihr Ich hin, tauschen aber dafür alles ein, was das Leben bietet.“ Er schob den nicht ganz geleerten Teller auf die Seite.

Durch die rückwärtige Tür trat Katharinas Wirtin ein, stellte einen Krug voll Wasser neben das schmale Eisenbett. „Schläft der Genosse hier? Die letzte 54 ist nämlich weg ... Dann bringe ich die Decke.“

„Er schläft doch nicht hier“, sagte Katharina. „Nein, nein, er schläft nicht hier.“

Und Jürgen fuhr schnell fort: „Das Sichanpassen des Bürgerkindes wäre demnach gleichbedeutend mit dem vollen Lebensgenusse eines Angehörigen der herrschenden Klasse. Dieser Angepaßte ist dann zwar in keiner Weise mehr er selbst, ist eine Ich-Leiche, aber eine geachtete, mächtige, herrschende, die das Leben, wie es ist, mitbestimmt und dieses Leben genießt. Eine Leiche, die lebt und gut lebt! Von dieser Seite ist also gewiß nichts zu erwarten für die Befreiung.“

„Wenn aber die Umwelt“, sagte Katharina, „sich Kindern gegenüber sieht, denen sie, im Gegensatze zu den bürgerlichen Kindern, für das Sichanpassen nichts zu geben hätte als Not, Qual, Prügel in jeglicher Form, die Verweigerung aller Bildungsmöglichkeiten und des Lebensgenusses, nichts als Hunger, Kälte, Schmutz, Arbeitenmüssen für andere und Demütigungen auf allen Wegen? ... Das Proletarierkind, das geneigt ist, sich der Umwelt anzupassen, wird von der Umwelt selbst, wird durch die herrschende Klasse und deren Staat immer wieder in den Protest gegen die Umwelt zurückgestoßen. Dieser brutale, unaufhörliche Stoß verleiht und erleichtert dem proletarischen Kinde die Möglichkeit, etwas mehr von seinem Ich zu bewahren. Die Proletarier kommen aus dem Proteste nie ganz heraus, können folglich ihr Ich nie ganz verlieren und sind auch mit aus diesem Grunde als Klasse schöpferisch und dazu bestimmt, im Gange der Geschichte über die unschöpferisch gewordene bürgerliche Klasse hochzusteigen ... Aber erst in der klassenlosen Gesellschaft tritt dein Reines Ich auf den Plan, wird es jedem Einzelnen verstattet sein, er selbst zu werden und zu sein.“

Jürgen sah den Vierköpfigen, hob langsam den Kopf, empor aus dem Lauschen und seinen Vorstellungen, blickte, den Gedanken erst formulierend, Katharina an: „Auf der einen Seite also, in der kapitalistischen Gesellschaft, meinst du: ungeheuerlichste Ungleichheit in materieller Hinsicht und eine vielleicht noch ungeheuerlichere blödsinnige Gleichheit aller im Geistigen ...“

„Ja, und das wird Individualismus genannt.“

„... auf der anderen Seite, in der klassenlosen Gesellschaft: materielle Gleichheit für alle und infolgedessen, nicht wahr, infolgedessen im Geistigen absolute individuelle Verschiedenheit jedes Einzelnen von jedem Einzelnen. Jeder ein Reines Ich! Ein schöpferischer Mensch!“

„Und das wird die öde Gleichmacherei der Sozialisten genannt ... Zwischen diesen zwei Extremen liegt allerdings zunächst die Revolution.“

„Wie unsäglich wunderbar das sein wird: Die Seele, die ihr Ich durch den Körper gewinnt und im Gleichgewicht in sich selber ruht.“

Beide schwiegen. In die Stille klang wieder das in sich erstickende Geschrei des Säuglings. Fernher tönten Pufferknall und die monotonen Rufe der Eisenbahnarbeiter, die einen Zug zusammenstellten.

Dieser Befreiungsversuch war ein herrlicher Seitensprung, dachte er stolz, lächelte gerührt, wie über eine teure Jugenderinnerung. Und trat in seinem Gefühle wieder ein in die Reihen der Millionen, die sich auf dem langen, generationenlangen Marsche befanden.

„Dein Zimmer – diese drückende Decke, das kleine Fenster – ist wie ein niederstirniges Gesicht“, sagte er, empfand plötzlich wieder Druck über dem Herzen.

„Ja, wir leben vergraben, geduckt, nur von uns selbst und der Idee beschirmt ... Bist du nun sicher, daß die Rechnung stimmt?“

„Das solltest doch du am ehesten begreifen, daß ich, da hinter mir nicht der materielle Druck stand, der die Massen klassenbewußt macht, zum Teil auch auf dem Wege über den Verstand zum Sozialismus kommen mußte. Das Gefühl war vorher, war ja immer da.“

„Wie wir einander wiederfanden, du und ich! ... Wie schön, wie wunderbar ist das!“

Da schlug das Glück durch ihn durch, legte Jürgens Hand um ihren Nacken. So stand er, Blick in ihrem Blick, nahe seine Lippen dem kleinen, festen Mund. Ihr Körper gab nach, antwortete frei.

Dann sagte Jürgen, halb fragend: „Wo ich heute nacht schlafen werde, bei wem, das weiß ich freilich nicht.“

V

„... und auch deshalb, damit Du nicht glauben solltest, ich sei verunglückt, ertrunken, ermordet worden (ich habe mich, im Gegenteil, vor dem Ertrinken, vor dem Erstickungstode gerettet), teilte ich Dir meinen Eintritt in die sozialistische Partei und den Entschluß mit, nicht mehr zurückzukehren.

Wie noch vor kurzem kein Mensch, und wäre er der klügste auf der Welt gewesen, mir hätte begreiflich machen können, daß ich nur durch diesen Schritt mein Dasein in Einklang zu bringen vermöchte mit den Tatsachen des Lebens, so könnte ich die Beweggründe dieses Schrittes auch Dir nicht begreiflich machen, so wenig wie Herrn Papierfabrikant Hommes, Geheimrat Lenz, Bankier Wagner, den Professoren, Studenten, Söhnen und Töchtern, das heißt: allen diesen klugen, gebildeten Menschen Deiner Kreise, für welche die sozialistischen Arbeiter Existenzen sind, die alles gleichmachen und verteilen, nichts arbeiten, sich täglich betrinken wollen, und diejenigen, die sich zu den Sozialisten gesellen, schwachsinnige Schwärmer, Narren oder Verbrecher, ja sogar Verräter an dem Ideale.

Wenn ich versuchen wollte, Dir zu erklären, daß der Sozialismus, über alles Materielle hinaus, auch eine gewaltige Kulturbewegung ist und verwirklicht werden muß, soll nicht die ganze Menschheit zugrunde gehen, müßte ich ein dickes Buch schreiben, und auch dann würdest Du nichts begreifen. Denn sogar Menschen meiner Wesensart vermögen die Größe und geschichtliche Notwendigkeit des Sozialismus erst dann ganz zu erkennen, nachdem sie den kleinen, aber entscheidenden Schritt, den Sprung gemacht haben – hinüber zur Arbeiterklasse, in ihr leben und zusammen mit ihr kämpfen.

Ich habe den Sprung gemacht. Gräme Dich nicht darüber. Glaube mir, liebe Tante, daß dies allein für mich die Rettung sein konnte vor dem furchtbarsten, dem geistigen Tode. Daß dies allein die Rettung sein kann für jeden.

Und glaube mir auch, daß ich, würde ich einmal wieder zurückkehren zu jenen, die mit Blindheit geschlagen sind und offenbar nur noch durch eine Art Staroperation sehend werden können, ein Verräter an mir selbst, Verräter an der Idee geworden wäre: ein verlorener Mensch, gleich allen Angehörigen der bürgerlichen Jugend, deren Tugenden durch die Erziehung in Schule und Elternhaus beschnitten werden auf das schickliche Maß, das ein gutes Fortkommen gewährleistet, und deren solchergestalt noch übrig gebliebener Idealismus auf der Universität von der tätigen Hingabe an die fließende Wirklichkeit vollends abgelenkt, mit falschen, überkommenen, erstarrten Inhalten gefüllt und dem Staate dienstbar gemacht wird, dessen Institutionen sich mit ganzer Wucht gegen diejenigen richten, durch deren Hände Arbeit die Existenz dieses Staates, Reichtum und Zivilisation des Landes und auch die Ausbildung der entselbsteten bürgerlichen Jugend, sowie deren ausschließliche Beschäftigung in den Bezirken des, wenn auch verfälschten, sterilgewordenen Geistes erst ermöglicht wird.“

Den letzten Satz strich Jürgen wieder weg und schickte den Brief an die Tante.

Er wohnte sei Monaten in dem Loch, das durch eine Tür mit Katharinas Zimmer verbunden war. Das windschiefe Fenster ging auf einen Rattenhof hinaus, in dem Küchenabfälle und allerlei Unrat seit Jahren faulten und stanken und tagsüber zwanzig Proletarierkinder an ihrer Welt bauten.

Katharina und Jürgen führten gemeinsamen Haushalt. Ein Anzug nach dem andern, die Uhr, die Hemden waren, auf dem Wege über das Pfandhaus, zu Holz und Kohle, Kartoffeln, Wurst und Brot geworden.

Seit dem Tage, da die Tante zum erstenmal den Namen Jürgen Kolbenreiher in Verbindung mit einer öffentlichen Arbeiterversammlung, gerichtet gegen den Papierfabrikanten Hommes, im Abendblatt gelesen hatte, eingepfeilt zwischen Schimpfworte, Hohn, Verleumdungen und verbrämt mit Bedauern für die hochachtbare alte Patrizierfamilie, die schon im 15. Jahrhundert der Stadt einen Bürgermeister geschenkt habe, waren die Bittbriefe, des Inhaltes, Jürgen möge vernünftig werden, sich wieder darauf besinnen, was er sich selbst, seinem Stande und seiner Erziehung schuldig sei, ausgeblieben.

Durch den Streik der Papierarbeiter waren eine kleine Lohnerhöhung und für die stillenden Kartonnagenarbeiterinnen die Erlaubnis, ohne Lohnabzug dreimal täglich je fünf Minuten ihre Säuglinge befriedigen zu dürfen, erkämpft worden. Vier Streikposten, die in eine Schlägerei mit Polizisten und auswärtigen Arbeitswilligen geraten waren, saßen, verurteilt wegen schwerer Körperverletzung, in Tateinheit mit Störung der öffentlichen Ordnung, noch im Gefängnis und zwei schwerverletzte Streikposten lagen noch im Krankenhause. Herr Papierfabrikant Hommes hatte eine Summe ‚Für wohltätige Zwecke oder sonstige Kulturbestrebungen‘ gestiftet.

Die Zeit ging hin. Jürgen hatte schon in vielen Versammlungen gesprochen. Leitete seit einem Jahre den Bildungskurs des Bezirkes, in dem er wohnte. In den Nächten schrieb er an einem Schriftchen: ‚An die bürgerliche Jugend‘. Denn auch jetzt noch stockte sein Herz, wenn er der Ereignisse gedachte, die ihn zum Schreiben dieses Aufrufes an die Jugend veranlaßt hatten.

Vor dem Staatsgebäude fünfzigtausend Proletarier, demonstrierend für die Forderung, daß es jedem freistehen solle, seine Kinder am Religionsunterricht in der Schule teilnehmen zu lassen oder nicht; vor den demonstrierenden Arbeitern die Polizeikette, und hinter den Polizisten, aufgerufen von den Professoren, die ganze studentische Jugend, demonstrierend für die Beibehaltung des Religionszwanges.

‚Mußte der Student denn nicht zusammen mit der Arbeiterschaft eintreten für die Freiheit des Gedankens, wenn er nicht sich selbst aufgeben wollte in seinem geistigen Bestande? Und was sind die Ursachen der Schande, daß er es nicht tat?‘

Suchend nach den Ursachen saß er an dem als Schreibtisch dienenden Küchentisch. Das Licht von links. Freute sich des Tages über das Licht von links und in den stillen Nächten an dem Gasarm, den er durch eine Rohrverlängerung mit Hilfe eines seiner Genossen über den Schreibtisch montiert hatte.

Wenn alles schlief und nur das Gaslicht summte, spielten im Hofe die Ratten, läutete fein das Glöckchen, das ein Proletarierjunge einer Ratte um den Hals gehängt hatte.

‚Und im Zimmer nebenan atmet Katharina, die ich liebe. Viel mehr Glück kann man vom Leben nicht erwarten!‘ Er berührte den Bleistift zärtlich mit den Lippen. Weil Katharina ihn vielleicht einmal in die Hand nehmen würde.

In diesen nächtlichen Stunden, da das Glöckchen in die Stille klang und die Sätze ihm gelangen, fühlte Jürgen sich und sein Ich organisch eingereiht in das Geschehen.

Der Staatsanwalt hatte gegen die drei jungen Genossen und Katharina, denen es damals gelungen war, durch die Polizeikette durchzuschlüpfen und, unter Hohn und Prügel seitens der Studenten, Flugblätter zu verteilen, Anklage erhoben, ebenfalls wegen Störung der öffentlichen Ruhe, in Verbindung mit Aufreizung zum Klassenhaß. Die drei hatten je sechs Monate Gefängnis bekommen und saßen schon. Katharina, deren Vernehmung und Schlußrede als Sensation von den Zeitungen abgedruckt worden waren, verbrämt mit Bemerkungen tiefsten Bedauerns für Herrn Geheimrat Lenz, sollte am nächsten Tage in das Gefängnis.

Jürgen schrieb bis in den Morgen hinein. Erst als er das Klappern des Waschgeschirres vernahm, klopfte er. Katharina war noch nicht angekleidet. Und wie beide, stehend, in der Umarmung verharrten, erhob sich in der Ecke Katharinas schmutziggelber, langhaariger Schnauz, schritt langsam herbei und blieb, als gehöre er zu allem, was geschah, dazu, vor ihnen stehen, den Blick zu Boden gerichtet.

Es war erst fünf Uhr. Schon fiel der erste Sonnenstrahl auf das Fenstersims, brach sich, huschte schräg an der Wand entlang und verfing sich in der Ecke.

Um acht Uhr mußte sie im Gefängnis sein. Sie saß, im Hemd, auf ihren Händen auf dem Bettrand. Der Schnauz war im Hofe bei den Ratten.

Später sprachen sie von anderen Dingen. Er solle sorgen, daß für die drei Genossen gesammelt werde. Des einen Mutter habe nichts zu essen, solange der Sohn im Gefängnis sei.

„Nach dem Examen nehme ich sofort eine Stellung an als Verwaltungsbeamter in einem großen Betriebe. Dann werden auch wir eine bessere Wohnung haben und regelmäßige Einkünfte. Und ich werde obendrein noch enger bei den Arbeitern sein als jetzt. Wir werden heiraten, um unnötige Scherereien zu vermeiden ... Überhaupt – ein Glück haben wir, ein Glück! ... Es wird ein Jahr vergehen, es werden fünf Jahre, zwanzig Jahre vergehen, und immer werden wir zusammen sein. Was wir alles erleben werden! Ungeheuer viel! Wir sind Lebensgefährten. Katharina, welch ein Glück! ... Sofort nach dem Examen nehme ich eine Stellung an.“

Katharina, die schon als Siebzehnjährige, anstatt Blumen malen zu lernen und für Buddha zu schwärmen, begonnen hatte, das Mehrwertgesetz und die Kapitalskonzentration zu studieren, sagte, wie er, der als linksgerichteter Sozialist bekannt sei, dessen Name schon oft in den Zeitungen gestanden habe, ernstlich glauben könne, in irgendeinem Großbetriebe angestellt zu werden.

„Nun, dann eben nicht!“ Sie blickten einander an, bis das selbe Lächeln in beider Gesichter entstand und sie wieder gleich auf gleich waren.

„Deine Augen, Katharina, ach, deine Augen!“

Wie unsagbar glücklich das eine Frau machen kann, dachte Katharina.

Auf dem Wege bis vor das Gefängnistor erlebten sie eine Stunde vollkommensten Verbundenseins, wie nur zwei Menschen es verstattet sein kann, deren Liebe vertieft ist durch die gemeinsame Hingabe an die selbe Idee. Sie schritten in ihrem Gefühle.

„Über alle Begriffe schön kann das Leben sein.“ In ausbrechender Freude schlug sie die Arme um ihn. Wandte sich, zog die Glocke. Und wurde von dem schwarzen Tore geschluckt.

„Wo ist die Einsamkeit? ... Ah, meine Herren, es gibt keine Einsamkeit. Nicht einmal eine Trennung!“ frohlockte Jürgen und ging an seine Arbeit.

Ob der Herr in Reichtum oder im Elend lebt, aus einem warmen Teppichzimmer in eines mit feuchten Wänden und verfaulendem Fußboden übersiedeln muß, ob er Erfolge erringt oder vom Leben Nackenschläge bekommt, hohe Ehren einheimst oder in Schimpf und Schande gerät – der Hund hängt seinem Herrn immer gleich an. So unvernünftig ist der Hund, dachte Jürgen. ‚Nur eines erträgt er offenbar nicht: getrennt zu werden von dem, dem seine Sympathie gehört.‘

Katharinas Schnauz, bisher ein ausgelassen heiteres Tier gewesen, hatte am zweiten Tage das unruhvolle Fragen eingestellt; er blickte Jürgen gar nicht mehr an, fraß nicht mehr, leckte manchmal etwas Wasser und kroch wieder in seine Ecke zurück. Jürgen mußte ihn gewaltsam füttern.

Der ‚Aufruf an die bürgerliche Jugend‘ war erschienen. Bei dem letzten Besuche, den Jürgen im Gefängnis machte, versuchte er, den Schnauz, der einzugehen drohte, mitzunehmen.

Der Gefängnisdirektor, der aussah wie ein auf der Schwanzflosse aufrechtstehender, schwarzer Fisch mit dickem Bauch und kleinem, rotem Kopfe, ein vollblütiger, fünfzigjähriger Mann, höflich und zurückhaltend, gab nach minutenlangem, von bedauerndem Achselzucken und erschrecktem Augenaufschlagen begleiteten Erklärungen und Fragen, zwischen die er eine Serie korrekten Lächelns gleichmäßig verteilte – Lächeln nicht eines harten Gefängnisdirektors, sondern eines Menschen mit Herz und Gewissen, der aber leider an Pflicht und Gefängnisordnung gebunden ist –, schließlich die Erlaubnis zur Mitnahme des Hundes. Beugte sich plötzlich herab und tätschelte wehmütigen Mundes das Tier. Und dann kam, als sei er schon zu weit gegangen und Jürgen schon zu lange im Direktionszimmer geblieben, unerwartet schnell die knappe Verbeugung und sofort ein Lächeln wehmütig in die Wangen zurückgezogener Mundwinkel. Und sofort wieder das erschreckte Augenaufschlagen.

Jürgen war, wie er mit dem Schnauz die abgetretene Steintreppe hinaufstieg, der festen Überzeugung, daß der Gefängnisdirektor früher oder später ins Irrenhaus kommen werde.

Im Stocke stank es scharf nach Abort. Die Wärterin – lippenloser, strichdünner Mund im festen Gesicht – schloß eine Tür auf. Sie schritten durch einen großen Saal, in dem zwanzig zweimeterbreite, dreimeterlange und zweimeterhohe, engmaschige Drahtgitterzellen nebeneinander standen. Dazwischen die Gänge, wie in einer Menagerie. In jeder Drahtzelle eine Gefangene. Frauen, junge Mädchen und, gleich bei der Eingangstür, in zwei nebeneinanderstehenden Käfigen je eine Siebzigjährige. Alle in grauen Leinensäcken. Der Raum zwischen den gleichhohen Zellen und der Saaldecke war leer.

Einige Gefangene schritten auf das Leben zu: drückten die Gesichter gegen das Drahtgeflecht. Blickende Augen. Eine Siebzehnjährige mit verwüstetem Gesicht lockte mit Zeigefinger und Daumen und sagte zweimal: „Schnauzel!“ Der Schnauz wedelte mit dem Schwanzstumpf.

„Den ganzen Tag macht sie sichs“, rief die Siebzigjährige der Wärterin nach. „Immer hat das jung Luder die Finger unterm Rock.“

Sie schritten durch die entgegengesetzte Tür hinaus, in einen langen Gang, an dessen Ende rot ein Gaslicht brannte. Links und rechts: Zellentür neben Zellentür, jede mit einem Beobachtungsfenster.

Schon als die Wärterin den Schlüssel suchte, stellte der Schnauz die Vorderpfoten gegen die Zellentür. Sein Maul öffnete sich, die Zunge erschien, Spitze nach oben gebogen.

Wimmernd schlüpfte er, durch die Beine durch, voran. Und es wäre Katharina unmöglich gewesen, ihn nicht zuerst zu begrüßen. Denn seine Liebe war stürmischer. So stürmisch, daß er unter Katharinas Liebkosungen nicht lange stillhalten konnte, sondern hin- und herrasen mußte, von der Fensterwand zur Zellentür, beim Wenden jedesmal ausglitschend auf dem glatten Betonboden.

Sogar der strichdünne, lippenlose Mund ließ Zähne sehen.

Sie hatten einander nur die Hand gereicht. Setzen konnte Jürgen sich nicht. Die Pritsche blieb tagsüber an die Wand geschnallt.

„Heute war bei mir, hergeschickt natürlich von meinem Vater, der Irrenarzt.“

Die Wärterin stand bei der Tür, ohne sich anzulehnen, blickte blicklos.

„Das ist so zu verstehen, daß meinem Vater eine geisteskranke Tochter lieber wäre als die Schande, eine Sozialistin zur Tochter zu haben ... Ich ging auf das Gerede gar nicht erst ein, schickte ihn gleich wieder fort, was ihn natürlich auch nicht von meinem Gesundsein überzeugte.“

Der Schnauz hatte sich etwas beruhigt. Er lag, offenen Maules atmend, die Vorderpfoten vorgestreckt, blickend auf den Betonboden, überzeugt, daß seine Leiden nun zu Ende seien: er hierbleiben oder Katharina mitgehen werde. Auch sie steckte in einem grauen Leinensack, etwas kleidsamer gemacht dadurch, daß sie die Bluse beim Hals eingeschlagen hatte.

Bei dem ersten Tone, den die Wärterin sprach, erhob sich der Schnauz und bellte. Die Versicherungen Katharinas, daß sie in einer Woche kommen werde, nützten nichts. Der Schnauz stemmte sich mit allen Vieren und mußte so von Jürgen hinausgeschleift werden.

„Das ist nicht erlaubt.“ Die Wärterin deutete auf den schwachen Schatten, durch dessen Vorhandensein das Vorhandensein von Brüsten vermutet werden konnte. „Immer wenn der zu Besuch kommt – diese Dummheit!“

Katharina nahm den Einschlag heraus, so daß der Sack wieder rund um den Hals anschloß.

„Sie können es gar nicht erwarten, was! ... Direktor melden“, hörte Katharina noch. Die Tür fiel ins Schloß.

Schon überquerte Jürgen den Hof, halb springend, um noch vor Ablauf der Besuchszeit die Männerabteilung zu erreichen. Blieb aber plötzlich stehen: Durch das Tor rollte, gezogen von zwei schweren Pferden, ein auch oben zugebretterter Kastenwagen, aus dem rückwärts ein starkes Gestänge ragte, gleich einem Stück Eisenbahngleis, stabilisiert durch ein eisernes Querstück an der Stirnseite. Der Fuhrmann pfiff. Der Wagen rollte durch das sich eben auftuende zweite Tor in den Hof der Männerabteilung und weiter durch das dritte Tor in den Zuchthaushof, in dem am nächsten Morgen eine Hinrichtung stattfinden sollte.

Sekündlich hatten alle Empfindungen Jürgens Körper verlassen. Er wollte die Genossen mit seinem Zustand nicht zu belasten, umkehren, konnte aber nichts wollen. Selbsttätig trugen die Beine ihn weiter, der Tür zu.

So schritt er, in den Knien kraftlos, zusammen mit zwei Wärtern, die eine Art Tragbahre, beladen mit mehr als hundert Weißblechschüsseln, schleppten, den Gang vor.

Der Wärter, der Jürgen führte, ein großer, alter Mann, der, im Rücken gebogen, mit jedem knieweichen Schritt, den er tat, müden Blickes auf sein Leben zu treten schien, schloß wortlos die Zellentür auf und gleichzeitig reichte wortlos ein Essenträger die verrostete Blechschale Jürgens jungem Genossen, der den Inhalt, eine schwarze Brühe, wortlos in den Abortkübel goß. Die Brotscheibe legte er auf den Klapptisch.

„Das Zeug zu saufen hat gar keinen Wert.“ Er geriet beim Erblicken Jürgens sofort in Erregung. „Die Brüh soll das Abendessen vorstellen. Mittags gibts einen Mansch, den du frißt, weil du mußt. Und morgens die selbe Zichorienbrüh und auch ein Stück Brot. Das ist alles.“

„Sie dürfen nicht über das Essen schimpfen zu einem Besuch.“

„Ein paar Monate hältst du das ja aus. Aber da sind viele ...“

„Wenn Sie davon weitersprechen ...“

„... die schon lang sitzen und noch viele Jahre sitzen müssen.“

„... muß der Besuch sofort raus aus der Zelle.“

„Die, also die müssen verhungern. Die müssen glatt verrecken. Du machst dir keinen Begriff, Genosse, wie die Leute aussehen.“

„Sie haben zu schweigen jetzt!“

„Darüber mußt du in unserer Zeitung schreiben, Genosse!“ rief er Jürgen nach, der die Nummern der Zellen nannte, in denen seine zwei anderen Genossen waren. Der Wärter schritt schon auf die Treppe zu. „Die Besuchszeit ist vorbei.“

Der grüne Wagen, in dem die Gefangenen vom Polizei- und vom Untersuchungsgefängnis in das ständige Gefängnis überführt werden, war eben angekommen. Zehn Verurteilte, Frauen und Männer, standen in dem Bureauraum, wo die Personalien aufgenommen wurden. Die Gefangenen mußten ihre letzten Habseligkeiten abgeben, die männlichen auch ihre Hosenträger abknöpfen. Wärter schleuderten den Gefangenen die graue Anstaltskleidung in die Arme. Gesprochen wurde nichts.

Die Maschine funktioniert, dachte Jürgen und schritt der Ausgangstür zu. Da schoß ein schon älterer, stoppelbärtiger Mann mit schwärenbesetztem Gesicht und verschleimten Augen aus dem Bureau heraus, zuckte suchend hin und her, spähenden Blickes, der blitzhell offenbarte, daß er die Hölle, in die er kommen sollte, schon kannte, und schoß Jürgen nach, bestrebt, auch die aussichtsloseste Situation nicht unversucht vorübergehen zu lassen, um der Freiheit willen. Denn war er erst in der Zelle, dann gab es keine Zufallsmöglichkeiten mehr.

Die Wärter lachten. Unwirsch stieß ihn einer zurück.

Mit seinem letzten Blick fing Jürgen noch das Lächeln des Sträflings auf, der damit den Wärtern gegenüber seinem mißglückten Fluchtversuche die Ernsthaftigkeit nehmen wollte. Und dieses bebende Lächeln schien Jürgen das Grauenvollste von allem zu sein. Die schwere Tür drückte ihn hinaus.

Geblendet stand er im Sonnenschein. Ging langsam weiter. Neben ihm tappte, Hinterteil und Schwanzstumpf kläglich eingezogen, der Schnauz. Jürgen hob ihn auf. „Etwas muß der Mensch doch in den Armen haben.“ Der zitternde Hund bohrte, stürmisch drängend, seinen Kopf unter Jürgens Rock.

‚Wieviel Städte gibt es? Und wieviel Gefängnisse in jeder Stadt? Wieviel Zellen in jedem Gefängnis? ... Und in jeder Zelle ein Mensch! In jeder Zelle das, was von einem Menschen übriggeblieben ist! Hunderttausende Menschenreste! Und in der einen Zelle dort hinten einer, der weiß, daß ihm morgen früh – um fünf? um sechs? um viertelsieben? er weiß die Minute nicht, weiß sie nicht – der Kopf abgeschlagen wird! ... Kultur!‘

Die Machtlosigkeit zog alles Blut aus Jürgens Adern und setzte sich als dunkler Druck unter das Brustbein. ‚Diese Bestien! ... Aber wer ist schuld? Der Gefängnisdirektor? Der Richter? Der Staatsanwalt? Oder gar die Gefangenen? ... Sie so wenig wie der Steinbrucharbeiter, der die Steine bricht, und wie der Maurer, der sie zum Gefängnis fügt, und nicht mehr als diese der Schlosser, der vor das Zellenfenster das Eisengitter einzementiert, hinter welchem den Klassengenossen das Leben vergeht. Es gibt keinen Verantwortlichen ... Der Staat? Der Staat ist ein Machtinstrument gegen die menschliche Gemeinschaft. Ist keine Person. Du findest im bürgerlichen Staate keinen Verantwortlichen. Du greifst in die Luft ... Die Ordnung der Dinge, sie ist schuld.‘

Auf dem Tische lag wieder ein Brief von der Tante. Er schob ihn ungelesen weg. Auch als Katharina schon zurückgekommen war – Jürgen hatte den Fußboden geschruppt, ein Buch verkauft, für das Geld ein paar Blumen gekauft, das kniehohe, eiserne Glühteufelchen geheizt, denn es war an den Abenden schon kühl –, lag der Brief noch ungeöffnet zwischen den Papieren.

Der Schnauz war wieder heiter geworden. Den Winter über schrieb Jürgen Artikel für das Arbeiterblatt, hielt sozialwissenschaftliche Vorträge im Bildungskurs, sprach in Versammlungen. Die Kollegs besuchte Jürgen unregelmäßig.

So lebte er in seinen sechsundzwanzigsten Frühling hinein, ohne irgendwelche Beziehungen zu seinem früheren Leben, auch innerlich durch nichts mehr gefesselt an die Erlebnisse in seiner Jugend. Denn in dieser Zeit überfielen ihn auch die Angstträume nicht mehr, wie früher fast jede Nacht, da der Vater, die Professoren, die Tante machtstrotzend ihn angeblickt hatten und er, der Erwachsene, als Kind bebend in der Zimmerecke gekauert war, ohnmächtig ausgeliefert; andere Träume, von Jürgen bisher nie erlebt, schoben sich ein. Kampfträume, aus denen er siegreich und erfrischt hervorging.

Aber erst nach der Nacht, da er im Traume, anstatt in Angst zu erbeben, auch dem Vater ins Gesicht gelacht und des Vaters Hand mit dem drohend deutenden Zeigefinger furchtlos zur Seite geschleudert hatte, war dessen Macht ganz gebrochen gewesen. Erst nach diesem Erwachen hatte Jürgen ganz sicher gewußt, daß alle Ungeheuer seiner Jugend und Erziehung völlig überwunden waren. Nie mehr war im Traume der Vater erschienen.

‚Jetzt erst entscheidet nicht mehr ein fremder Wille in mir meine Handlungen. Und dazu mußte ich sechsundzwanzig Jahre alt werden ... Jetzt keuche ich einen anderen endlosen Berg hinauf; aber ... ich selbst, ich selbst keuche ihn hinauf. Ich selbst habe mich dafür entschieden, frei entschieden, diesen Weg zu gehen; nicht das Fremde in mir zwingt mich.‘

‚Es denken und fühlen die allermeisten Menschen bis zu ihrer Todesstunde Gedanken und Gefühle, die nicht sie selbst denken und fühlen: es begehen die allermeisten Menschen bis zu ihrer Todessekunde Handlungen, die nicht sie selbst tun; die Summe der Ermordungen, an ihrem Wesen verübt von den Autoritäten, dieser Zwingherren der Seele, denkt, fühlt, handelt.‘

Noch nach Jahren erinnerte Jürgen sich jenes Morgens, da er zum ersten Male die ruhige Sicherheit empfunden hatte, durch nichts Fremdes mehr vergewaltigt, sondern ganz und gar Selbstherrscher seines Gefühlslebens zu sein. Dieser Wendepunkt seines Daseins war begleitet gewesen von der unbegreiflich lastlosen Empfindung, seine Vergangenheit liege nicht mehr hinter ihm, sondern vor ihm.

Kopf in die Linke gestützt, war er seitwärts am Schreibtisch gesessen, mit dem Blicke zur Verbindungstür, und hatte gedacht: Von nun an gibt es für mich keine Abwälzung der Verantwortung mehr durch den Hinweis auf die in Kindheit und Jugend empfangenen Wunden. Es können neue Wunden mir geschlagen werden von der Umwelt; aber alte Wunden für mein künftiges Tun und Unterlassen verantwortlich zu machen, geht nicht mehr an. Ich stehe am Anfang meines Ich. Um so gewaltiger die Verantwortung! Wie ungeheuer wäre der Verrat erst solch eines Menschen, der sein gewonnenes Ich verkaufen würde um des Lebensgenusses willen, angesichts allein nur der einen Tatsache, daß jene hunderttausende Gefangenen nur ein einziges winziges Feld des millionenfeldigen Schachbrettes der Leiden füllen!

Kindergeschrei im Hofe. Frühlingssonne, die den letzten Rest des schmutzigen Altschnees schmolz. Aus der lecken Dachrinne fielen in Pendelregelmäßigkeit die schweren Tropfen, blitzten vorbei an Jürgens Fenster und platschten in die Pfütze. Im Zimmer nebenan klapperte die Maschine. Katharina arbeitete. Sie arbeitete immer.

Auch Jürgen trug in sich das Gefühl, daß in einer Lebensordnung, in der fast jeder Genuß des einen nur auf Kosten eines anderen zu gewinnen sei, der Sozialist alles, was er an Leben gewönne, nur auf Kosten seiner Hingabe an die Idee gewinnen könne.

‚Aber was ist Pflicht? habe ich als Abiturient die Tante gefragt ... Wir stecken, zusammen mit den Entrechteten, tief unten in der Spitze, in der tiefsten Tiefe eines gewaltig großen Trichters. Oben ist der Trichter erdenbreit, oben ist das Leben. Und nur zusammen mit den Entrechteten dürfen wir vorwärtsschreiten, nach oben, wo das Leben ist. Das Bewußtsein, dieses Bewußtsein ist alles. Weh dem, der seine Pflicht verletzt; der die verläßt, die in schweren Leiden und Kämpfen nur in qualvoll langgezogener Spirale aufwärts zu gehen vermögen, im millionenfältigen Schritt der Massen ... Jetzt weiß ich, was Pflicht ist.‘

Wenn Jürgen zurückdachte an den Abend, da er, Kopf in die Linke gestützt, diese Gedanken gedacht hatte, schien es ihm, als sei erst eine Woche vergangen.

Im Bildungskurs immer die selben Gesichter, die selben Fragen und Einwände. Der Verlauf der Versammlungen immer der selbe. Ein halbgewonnener Streik. Einer, durch den eine winzige Lohnerhöhung erkämpft worden war. Und wieder ein verlorener Streik. Dazwischen eine Demonstration. (Der Agitator und einige Genossen waren verhaftet worden.) Bildungskurs. Versammlungen. Kämpfe kleiner und kleinster Art. Enttäuschungen. Und wieder Bildungskurs. Versammlungen.

Ein Tag wie der andere, und alle grau. Die Zeit flog, entschwand seinem Gefühle so schnell, als ob sie stehe, gar nicht vergehe. Es gab kein Ereignis, von dem, erinnernd, er hätte sagen können: das erfrischte mich. Es war, als ob seither erst ein Tag vergangen wäre, der in rasender Schnelligkeit sich selbst immer wieder einhole und so Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fresse.

So stand er in der immer gleichen Grauheit des immer gleichen Tages.

Anfangs hatten sich durch seine Verbundenheit mit Katharina in dieser Eintönigkeit die großen Stunden aufgetan, Minuten, Blicksekunden von solcher Tiefe des Glücks, daß die Erfüllung der ältesten Sehnsucht des Menschen – die Überwindung der schicksalhaften Einsamkeit, die jedes Lebewesen dieser Erde trennt vom andern – ihm zuteil geworden war. Aber die Erinnerung daran, daß er dies Unfaßbare des Daseins einmal geschaut hatte, und auch das Wissen, daß dieses Entrücktsein nur solchen verstattet sein konnte, deren Verbundenheit vertieft ist durch ihre gemeinsame Hingabe an die Idee, war verblaßt.

Jürgen stand am Schreibtisch. Seine Hand legte einen Bleistift hin, nahm ihn wieder, legte ihn hin, nahm ihn. ‚Immer das selbe zu tun, das selbe zu tun, selbe zu tun und nichts zu erleben, da verflackert die Flamme ... Jahrelange Hingabe, ausschließlich durch sich selbst genährt! Ist sie menschenmöglich?‘

Er hätte schon fort sein müssen, um rechtzeitig in die Redaktion zu kommen. „So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage ... Wo war das? Tatsächlich, ungefähr so leben die. Und wir leben so. Das ist ein Leben!“

Wieder tropfte die lecke Dachrinne. Die Proletarierkinder tobten im Hofe, wo der graue Haselnußstrauch schon braunviolette Knospen trug. Wieder war ein Jahr vorbei.

‚Innere Vertrocknung. Ja, ja, innere Vertrocknung.‘ Er horchte auf das Klappern der Maschine. ‚Dieses Mädchen, Menschenkind, Menschheitskind mit dem großen, milden, starken Herzen, lebenslänglich hingegeben der Idee, ganz und gar!‘

Die Erschütterung ging durch den ganzen Mann durch. „Das Leben, sein Leben hinzugeben, auf einmal, ist ein Nichts ... Da drinnen sitzt die Größe. Die Größe bei der kleinen Arbeit! Das Kleine, das Tägliche, das Treue, täglich, durch Jahre, durch Jahre im Dienste der Idee getan, ist die Größe. Der Held ist tot. Der Held gehört vergangenen Jahrhunderten an ... Katharina sitzt, wie der Verurteilte, lebenslänglich im Gefängnis. Hat sich selbst verurteilt ... Verteile, wie sie, ein Leben lang deine Hingabe auf jährlich dreihundertfünfundsechzig Tage – erst dann hebe stillen Blickes die Hand in Stirnhöhe, wenn gerufen wird: Wer noch vermehrte die Zahl der vielen, auf deren dargebrachtem Leben ich, die Menschheit, in die Befreiung schritt? ... Ich weiß, daß dies, daß dies die wahre Größe ist“, flüsterte er bebenden Mundes.

Blickte, umstanden von Grauheit, zurück auf die Grauheit der vergangenen Jahre, suchenden, tastenden, flehenden Blickes auf die Grauheit künftiger Tage. Und hatte, Minuten später, unversehens den verluderten Backsteinwürfel verlassen, durch die Hintertür.

Schritt, von Lebensgier gestoßen, hinaus. Dem Walde zu. Hinaus über fette Schollenäcker. Atmete und schritt. Ihm entgegen stürzte das Leben.

Birken – butterzartes Hellgrün – säumten den Wald, dessen billionenknospiges Geäste violett im Frühlingsdampfe stand.

Der grüne Tunnelberg, strotzend von Brombeer und Schlehdorn, Brennessel, Felsmoos, zugeflogenen jungen Birken, wilden Obstbäumen und allerlei Grün – ein wild und dicht bewachsener Riesenrücken, in der Sonne funkelnd und glitzernd –, war schweißnaß.

Jürgen stand vor dem schwarzen Tunnelloch, blickte hinein, forschend, wie zurück in seine Vergangenheit. „Bis hierher rannte ich, damals, als die Tante mich angespuckt hatte. Wollte ich mich überfahren lassen? Da war ich fünfzehn Jahre alt“, sagte er, ergriffen von Sympathie für den Knaben. „Spuckt ihm ins Gesicht, dem Jungen. So ein Mistvieh! ... Nun, diese Ungeheuer in mir sind tot.“

Dies war nun schon seine vierte Wanderung in diesem Frühling. Immer war er vollgesogen, erfrischt, verdreckt und ausgehungert zurückgekehrt. Und Katharina hatte gesagt: „Das solltest du öfters tun.“

Einmal, schon vor Wochen, waren beide zusammen gewandert. Wachstum und Grün, noch gebunden, erst als Verheißung über den unabsehbaren Buchenwäldern. Schäumende Bäche, nasse Täler, Nebeldämpfe, die wie Rauch und Erde rochen, hatten Kälte verbreitet, in der schon die Glut des Kommenden prickelnd enthalten gewesen war.

Neugierig, was zu sehen sein werde, waren sie seitwärts aus einem von noch kahlem Gesträuche überhangenen Hohlweg emporgestiegen und auf die Landstraße gekommen, die, eben und linealgerade, weit, weit hinaus und zuletzt wie ein weißer Pfeil in den geheimnisvollen Horizont stieß.

Die Vorstellung: ein Mensch geht aus der Stadt hinaus, geht auf der Landstraße hin, läßt alles hinter sich, alle Qualen, alle Pflichten, geht immer weiter, weiter auf der Landstraße hin – hatte Jürgen, der Jüngling, jahrelang in sich getragen.

Katharina saß auf dem Kilometerstein, Jürgen neben ihr auf dem Baumstumpf. Durchwärmte Körper und kalte Wangen, die vor Hitze prickelten.

Während sie Brot und Wurst aßen, hing Jürgen jener alten Sehnsucht nach. „Wenn wir beide jetzt einfach losgingen, da hinaus, jetzt auf der Stelle, und ohne jemals umzukehren, immer weiter, du und ich, fort, immer weiter fort!“

„Ohne Zahnbürste, ohne Nachthemd, ohne Ausweispapiere“, hatte Katharina lächelnd geantwortet. „Ohne Wohin! Nur zusammen!“

„Ja, du und ich! Ohne Geld! Ohne Rückblick! Nicht mehr dies und das, nicht jenes, nicht die Redaktion, der Bildungskurs, nicht Doktorexamen und Ausweispapiere – nur der Mensch ist die Instanz. Wir, der Mensch, gehen und lassen, endlich! endlich! den Menschen atmen, fühlen, tun, erleben. Nur ihn! ... Müde, übermüdet, klopfen wir an ein Bauernhaus und bitten um ein Nachtlager.

‚Wer seid ihr?‘

‚Der Mensch!‘

Wir kommen in eine kleine Stadt, mitten hinein in das verfilzte Mein und Dein, und sagen: ‚Der Mensch ist da.‘

Ungeheures Erstaunen! Alle geben uns, was wir brauchen. Denn in tiefster Heimlichkeit haben alle den Menschen erwartet, an dessen Kommen sie schon gar nicht mehr geglaubt hatten.“

„Der Mensch ist aber noch nicht da, Jürgen. Den gibt es noch nicht, kann es noch nicht geben. Mensch zu sein, kann dem Einzelnen erst dann verstattet sein, wenn es allen verstattet sein wird ... Welch furchtbaren Verrat an der Idee wir begehen würden!“

„Du sprichst so ernst, als ob ich wirklich alles rücksichtslos abschütteln und auf dieser Landstraße weiterwandern wollte, hinaus in das Leben ... Würdest du darunter leiden?“

Wie seltsam tief ergriffen und dennoch heiter sie mich da angeblickt hat, erinnerte Jürgen sich und glaubte Katharinas Worte wieder zu vernehmen, die gesagt hatte:

„Muß denn nicht gerade der Mensch, der, sein Ich um jeden Preis zu gewinnen, jeder Pflicht entläuft, indem er, um des Lebensgenusses willen, rücksichtslos sein eigenes Ich zur obersten Instanz erhebt, sein Ich ganz und gar verlieren? Muß nicht gerade in dem Menschen, der ausschließlich seinen Wünschen und Begierden folgt, der Mensch ganz und gar untergehen? Und wird der Mensch und das in diesem Zeitalter verstattete Maß an Ich nicht erhalten bleiben nur in dem, der sie erfüllt: die Pflicht?“

Langsam hob er den Kopf, tat, wie damals, noch einen Blick in die wunderbare Ferne. Wandte sich wie gezogen um, starrte in das schwarze Tunnelloch: „Das ist die Pflicht ... Wenn ich mich nicht schon entschieden hätte, müßte ich mich doch wieder, doch wieder ... ich müßte mich doch wieder für die Pflicht entscheiden.“

„Doch wieder! Doch wieder!“ Trotzig wiederholte er im Schrittakt diese Worte. Während der letzten Jahre war Jürgen seiner Gedanken und Gefühle so sicher gewesen, daß er sie auch jetzt nicht kontrollierte.

Vor ihm lag sanft gewellt die Hochebene: Schollenäcker, Frühsaatflächen, weit hingebreitet, braun und grün. In der Nähe erklang Frauenlachen, dem eine baßtiefe Lachsalve folgte: Auf dem nächstgelegenen Hügel saßen die Fabrikantensöhne und -töchter beim Picknick. Am Fuße des Hügels standen sechs Kraftwagen, darunter der postgelbe des Bankiers Wagner.

Hand in Hand sprangen zwei weißgekleidete Mädchen herab, die in Jürgen den Bräutigam der einen, der zu Fuß hatte nachkommen wollen, vermuteten.

Enttäuschung, Lächeln und ein kurzer Schmerzensschrei in einem. Gestützt auf ihre Freundin und auf Jürgen, hinkte die Braut, die sich den Fuß übertreten hatte, zurück.

‚Und wenn ich ganz abgerissen wäre, würde mir das auch nichts ausmachen.‘ Die ausgefranst gewesene letzte Hose seines letzten Anzuges war zu einer kurzen Hose zurechtgeschneidert und von den Abfällen war ein Hinterteil frisch aufgesetzt worden, in Breechesschwung.

Adolf Sinsheimer kam lustig entgegen, in der vorgestreckten Hand eine gebratene Hühnerkeule für den Erwarteten. Sein Mund öffnete sich.

„Tut schon nicht mehr weh“, sagte die Braut beruhigend.

Aber die vorgestreckte Hand ließ die Hühnerkeule senkrecht fallen. „Das ist Jürgen Kolbenreiher; und hier: Elisabeth Wagner, meine Braut“, stellte er, während er den Knochen wieder aufhob, das andere Mädchen vor, das auf dem Herwege Jürgen in keiner Weise beachtet hatte und nun, zu plötzlich überrascht, in unverhohlener Spannung ihn ansah.

Jürgen war für Elisabeth Wagner so lange vollkommen uninteressant gewesen, bis sie erfahren hatte, daß ihre Mitschülerin Katharina ihn liebe. Seitdem hielt sie Jürgen, da Katharina schon im Institut für ein unzugängliches, wählerisches Mädchen gehalten worden war, für einen ganz besonders interessanten, bedeutenden Menschen, dessen Bekanntschaft machen zu dürfen sie seitdem immer wieder Drohungen, Spott und alle Mittel ihres überlegenen Verstandes dem Bräutigam gegenüber angewandt hatte.

Sofort begann sie von Katharina zu sprechen, die zwar zwei Jahre älter, aber im selben Institut mit ihr gewesen sei. Und auch als sie bewundernd ausrief, wie Katharina es nur ertragen könne, im Gefängnis zu sitzen, fühlte Jürgen, daß die Bewunderung ihm galt.

Erst viel später gestand er sich ein, daß er, nur um Elisabeths Interesse noch zu steigern, versucht hatte, sich gleich wieder zu verabschieden.

Mit leisem Schmollen, das ihrem kühlen Wesen fremd war, bat sie, er möge doch mit zur Gesellschaft kommen. „Adolf, bitte du ihn!“ Sie hielt Jürgens Hand fest.

„Na, so komm doch mit ... Aber wenn du nicht willst ...“ Jetzt erst bemerkte Adolf, daß er den staubigen Hühnerfuß wieder aufgehoben hatte, und schleuderte ihn seitwärts ins Feld, blickte dabei wütend seine Braut an.

Das angenehme Machtgefühl ließ Jürgen mitgehen. Die drei setzten sich, etwas abgesondert von den andern, auf die Wolldecke.

„Gebratenes Huhn und Rotwein, im Freien genossen – darüber hinaus gibt es nichts.“ Die andere Braut sagte dem Genießer, wer der Gast sei, dann wurde es auch auf dieser Wolldecke stiller.

Die fünfundzwanzig gepflegten, gesunden Menschen gehörten den reichsten Familien der Stadt, die Männer fast alle Jürgens Generation an: Fabrikantensöhne, die in den Geschäften der Väter arbeiteten oder sie schon selbständig führten, wie Adolf die Knopffabrik und das angegliederte Knopfexporthaus.

„Tüchtige Kerle! Daß der dort sich schon einen Namen in der Wissenschaft gemacht hat, weißt du ja. Unser Abiturientenjahrgang kann sich sehen lassen. Einer ist sogar schon Reichstagsabgeordneter. Der war ja immer einer der besten Schüler.“

Elisabeth begann von Literatur zu sprechen, lobte ein jüngst erschienenes Buch. Jürgen, ausgehungert, aß schweigend und viel.

Streitsüchtig nannte Adolf eine Anzahl so schlechter Bücher, die er für weit besser halte, daß Elisabeth lachen mußte. Und zu Jürgen, mit einem Blick des Einverständnisses: „Davon versteht er gar nichts.“

Die sechs Kraftwagen rollten langsam hügelaufwärts. Nachdem Elisabeth erzählt hatte, daß sie erst vor ein paar Tagen wieder Jürgens Tante besucht habe, die bedenklich krank sei, sprach Adolf sehr orientiert von der Wirtschaftslage des Landes. „Die ganze Dichterei ist mir, offen gestanden, natürlich recht gleichgültig, und was du treibst – Arbeiter verhetzen, Bomben fabrizieren, wie? – ist gar der reine Blödsinn ... Sieh dir an, was unsere Industrie auf dem Weltmarkte gilt, und werde vernünftig! Das ist der Rat eines Menschen, der kein Jüngling mehr ist, sondern die Verantwortung für das Wohl und Wehe von sechshundert Angestellten und Arbeitern ganz allein zu tragen hat. Meine Freunde hier, sieh dir sie an – lauter tüchtige Menschen! Der eine im Bankfach, andere in der Industrie oder in der Wissenschaft, in der Politik, Menschen, die sich und ihr Vaterland vorwärtsbringen ... Und Leo Seidel – erinnerst du dich noch an den Sohn des Briefträgers? Die Weltgeschichte, weißt du! Der ist heute, nachdem er eine Zeitlang Impresario und weiß der Teufel was alles gewesen war, Bankier in Berlin. Sitzt im Aufsichtsrat von einem Dutzend großer Aktiengesellschaften. Eine tolle Karriere! In ein paar Jahren kann er durch das Geben oder Verweigern seiner Unterschrift die Börse beeinflussen. Würde mich nicht wundern ... Wirklich, solltest meinen Rat befolgen und die Augen auch aufmachen.“

Jürgen lächelte das Lächeln eines Menschen, der seiner Sache sicher ist, diesen Rat nicht nötig hat, und gab keine Antwort, reichte beiden die Hand, schlug Elisabeths Bitte, im Wagen mit zurückzufahren, ab und schritt, nach einer knappen Verbeugung zur Gesellschaft hin, waldwärts.

‚Wie schloß Adolf seinen Hymnus auf sich und auf die Stellung unserer Industrie in der Welt?: Nur wer auf irgendeinem Gebiete etwas leistet, hat Macht. Und nur dem Mächtigen gehört das Leben.‘

‚Das stimmt. Aber wer sind die Mächtigen und was für Eigenschaften müssen sie besitzen, um mächtig werden zu können? ... Es gibt eine bestimmte große Anzahl solcher, die schon oben geboren werden und sich eben weiter vorwärtsbringen, wie geölt; eine kleine Anzahl Leo Seidels, die nicht nur über Verstand, Begabung und eiserne Gesundheit, sondern auch über eine ganz besonders große Portion Brutalität, Rücksichtslosigkeit und Gemeinheit verfügen müssen, um durch die erdenbreite Eisenplatte, die auf den Rücken der Millionen lastet, durch- und hinaufkommen zu können. Außerdem gibt es noch einige Jürgens, die oben sein könnten, aber heruntergehen und nur auf der Leiter des Verrats an der Idee wieder hinaufzusteigen vermöchten ... So liegt die ganze Drahtleitung.‘

Innerlich grau geworden, starrte er den sechs Kraftwagen nach, die, schon in weiter Ferne, eben um den Fuß eines bewaldeten Hügels herumsausten, auf der Höhe wieder erschienen und, ein sich schlängelnder, dünner, schwarzer Strich, im Blau verschwanden.

‚Im Auto würde man aus der tiefsten Tiefe des Trichters, in dem das Proletariat kämpft und krepiert, sehr schnell heraus und nach oben kommen, wo das Leben ist ... Ja, ich brauchte sogar nur einen einzigen Gedanken zu denken, den Gedanken: Jeder für sich! Oder: Vervollkommnung der Persönlichkeit! Und schon würde ich oben sein.‘

Erfüllt von Widerwillen gegen alles, gegen das Leben und gegen sein Leben, gegen die Ausflügler und gegen den Bildungskurs, den er heute abend noch abzuhalten hatte, langte er vor der Haustür an. ‚Die Jugend scheint bei mir vorüber zu sein. Die Jugend! Man wird älter und alt!‘ Er nahm dem Postboten einen Brief ab. Die ungelenke Handschrift war ihm nicht bekannt: Phinchen flehte, er solle kommen, die Tante sei noch immer sehr krank. Und weshalb er auf den letzten Brief nicht geantwortet habe.

„Jetzt wirst du großen Hunger haben.“

„Nicht einmal! Ich habe ja ... Ich habe eigentlich wenig Appetit ... Hier, lies den Brief!“

„Fühlst du dich nicht wohl? Ich meine, weil du nicht hungrig bist.“

„Doch, ich bin ganz gesund ... Aber, was meinst du, soll ich da tun?“

„Weshalb solltest du sie nicht besuchen!“

Während des ganzen eineinhalbstündigen Vertrages, den Jürgen im Bildungskurse hielt, fühlte er sich gepeinigt von dem Bewußtsein, seine Begegnung mit den Ausflüglern Katharina verschwiegen zu haben. Erst gegen Morgen, nach einer in unruhigem Halbschlafe verbrachten Nacht, schlief Jürgen ein.

Und stand um zwölf Uhr vor der Villa, die er vier Jahre nicht mehr gesehen hatte. Die Tante saß, in Decken gehüllt, im Lehnstuhl. Phinchens Gesicht, glücklich lächelnd, war tränennaß geworden beim Erblicken Jürgens.

Es sei, wie immer, die Brust, antwortete die Tante. Sie trug, wie immer, ihr schwarzseidenes Spitzenkopftuch, sah ganz unverändert aus. Bei dem linken Ohre beginnend, über Schläfe und Stirn, bis zum rechten Ohr, lagen, platt angedrückt wie immer, die mit der Brennschere sorgfältig gedrehten schwarzen zwölf Fragezeichen.

Erst in diesem Zimmer, wo der Fußboden so rein war wie der Vorhang und so funkelte wie die Fensterscheiben und die polierten Möbel, fühlte Jürgen, sitzend an dem einladend gedeckten Tisch, wie heruntergekommen er in seinem letzten Anzuge aussehen müsse.

Die Tante sprach nicht, fragte nicht. Und bemerkte alles. War entsetzt über Jürgens Aussehen. ‚Seine Manschetten sind ausgefranst, die Hemdbrust und der Kragen ungewaschen. Diese Stiefel! Die Absätze sind schiefgetreten bis zur Kappe.‘

Und ohne Überleitung, als ob sie, während Jürgen aß, an nichts anderes gedacht hätte: „Ich würde ... wir würden noch einen zweiten Stock aufsetzen lassen. Ihr würdet oben wohnen. Die Grundmauern der Villa sind stark.“

„Wer soll oben wohnen.“

„Wenn du heiraten würdest.“

Jürgen schüttelte den Kopf. ‚Es ist doch zu toll!‘ Antwortete nicht, aß weiter. Er saß mit dem Rücken zur Tante. Der Lehnstuhl stand am Fenster in der Sonne.

„Und wenn ich sterbe, könnt ihr unten Wohnzimmer, Eßzimmer und Salon haben, im Stock Empfangsräume, und oben schlafen ... Phinchen würde ja auch bei euch sein ... Und der Garten. Der schöne Garten!“

Phinchen versuchte, das Weinen zu verschlucken, heulte los und rannte mit der vollen Schüssel wieder hinaus. Es war still. Die Tante blickte Jürgens Rücken an, sah durchs Fenster auf den blühenden Magnolienbaum, wieder Jürgens Rücken an. „Aber wissen müßte ich, wem ich mein sauer erworbenes Vermögen hinterlasse. Denn so schwer es mir auch fallen würde ...“

Er legte die Gabel, mit der er ein Stück Fleisch von der Platte hatte nehmen wollen, wieder zurück, wandte sich langsam um. „Du müßtest mich enterben, was?“

„So furchtbar schwer mir das auch fallen würde!“

„Und du glaubst, daß ich mich ... Glaubst du denn wirklich, daß ich mich mit so etwas bestechen lasse?“

Die Tante strich sich über die Augen, legte die Hand an das Kinn, sah weg. Und Jürgen drehte sich wieder um zum Tisch. So stehts denn doch noch nicht mit mir, dachte er. Und, plötzlich im Tiefsten betroffen: ‚Was war das? Was war das? Was?‘

„Ich sage dir nur, was mein Herz mir eingibt.“ Die Tante redete weiter. Er hörte nichts mehr. ‚Was war das? ... Wie also stehts denn mit mir?‘

So sitzt sie immer, wenn sie einem Plane nachhängt, dachte er auf der Straße. Er wußte nicht, wann und wie er die Villa verlassen hatte. ‚Wie ging ich denn weg? ... Was war das? Wie also stehts mit mir? ... Streicht sich mit der Hand erst über die Augen und dann bleiben ihre Fingerspitzen am Kinn haften. So macht sie es immer. Da sitzt dieses winzige, gelbgesichtige Persönchen im Lehnsessel und macht Pläne: über das morgige Mittagessen, oder ob sie ihr Vermögen, ihr sauer erworbenes, vergrößern kann, wenn sie dieses oder jenes Wertpapier kauft oder verkauft, oder über den Tag der nächsten großen Wäsche, oder über mein zukünftiges Leben. Wenn sie Schlitzaugen hätte, würde sie ganz so aussehen wie eine alte Chinesin.‘

Plötzlich blieb er stehen. ‚Alles das stimmt. Ist aber ganz unwichtig; wichtig ist, zu wissen, was eigentlich mit mir los ist ... Was will ich denn?‘ Die weiße, linealgerade Landstraße schoß wie ein Pfeil in den geheimnisvollen Horizont. ‚Das ist Unsinn. Das Fortlaufen ist Unsinn ... Aber das Gefühl, das hinter diesem Wunsche steht, ist kein Unsinn. Dieses Gefühl bin ... ich, ist der Mensch in mir, so wie er ist ... Wie er offenbar nun einmal ist!‘

Und dann geschah es, daß Jürgens Körper selbsttätig auf die Bank in der Anlage zuschritt, sich setzte. Und nun: Hände weg von allem! Alle Muskeln entspannt! Alles Denken und jede Selbstbeobachtung aufgegeben! Den Willen ausgeschaltet! Weg mit dem Bewußtsein! Der Mensch, er allein! soll sagen, was er will, dachte Jürgen noch und schloß, bereit, zur Kenntnis zu nehmen, was auch kommen möge, ganz entspannten Wesens die Lider.

Anfangs kam nichts. Knapp vor den Augen farbige Pünktchen im Grau. Er saß in der Mitte seines Lebens, in dem nichts war. Saß so still, so leblos, daß ein Vogel anflog, auf der Banklehne zwitschernd hüpfte, wieder abflog.

Menschen und Gesichtsausdrücke, Menschengruppen, eine Flußlandschaft: Lebensbilder, die vor langer Zeit Jürgens Gefühl getroffen hatten und deren Sinn ihm unerkennbar blieb, tauchten auf, schemenhaft, verblaßt, und versanken wieder. „Das ist nebensächlich“, flüsterte er einige Male.

Ferne Stadtgeräusche, kaum hörbar von Hupentönen durchstoßen: Das Leben der Gegenwart, die Arbeit, die ihren Gang ging, laut und leise. Bei der Bank war es still.

Ein schwarzgekleideter Herr dreht die Schulter halb rückwärts, grüßt, etwas hochmütig, nach der Seite hin. Viele Herren und dekolletierte Damen bewegen sich unter den lichtblitzenden Riesenkronleuchtern im großen Saale. Alle grüßen den Schwarzgekleideten. Blicke, achtungsvolle, neidische, prüfende, folgen ihm.

‚Der Schulkamerad, der sich in der Wissenschaft schon einen Namen gemacht hat ... Mag er!‘

Sie essen nicht, trinken nicht; sie gehen umher, blicken dem Schwarzgekleideten nach, sprechen über ihn und warten. ‚Nein, Musik ist keine da.‘

Jürgen, in knappsitzendem Gesellschaftsanzug, beherrschte Kraft in Schultern und Brust, beherrschtes, natürliches, berechtigtes Selbstbewußtsein in Blick und Worten, tritt ein, spricht leicht und freundlich mit seinen Partnern, die schnell wechseln, sich unauffällig an ihn heranmachen. Keiner hat ein eigenes Gesicht. Der auf der Anlagenbank sitzende Jürgen sieht und fühlt nur sich, nur den seines Geistes und seiner Kraft und Macht bewußten Frackherrn-Jürgen, der höflich zuhört, knapp und freundlich antwortet.

Der andere Schwarzgekleidete schrumpft zusammen, drückt sich unbeachtet an der Seite umher. Der Mittelpunkt ist Jürgen. Denjenigen, die sich an ihn nicht heranwagen, geht er selbst entgegen, begrüßt sie liebenswürdig, nicht herablassend, nicht hochmütig. ‚Wer eine Leistung vollbracht hat, wer etwas leistet, ist nicht hochmütig, hat es ja auch nicht nötig, hochmütig zu sein.‘

Alle sprechen von ihm. Aller Blicke sind auf ihn gerichtet. Jürgen ist so sehr Mittelpunkt, daß er sich bemüht, weniger Mittelpunkt zu sein, das Interesse etwas auf den anderen Schwarzgekleideten abzulenken, wofür er verhaltenes Lächeln der Bewunderung erntet. Sein Wille, sein Geist wirken in allen, bestimmen Gedanken, Gefühle und Mienen aller Anwesenden.

Jürgen lehnte nicht mehr, entspannt, Augen geschlossen, in der Bankecke; gleichzeitig mit dem Eintritt des Frackherrn-Jürgen in den Saal hatte er sich aufgerichtet, war mit seinen Gefühlen in den Eingetretenen hineingeschlüpft. Seine Schultern und seine Hände, sein Gesicht hatten alle Bewegungen und das Mienenspiel des andern mitgemacht.

Er saß, alle Muskeln gespannt, vorgebeugt, starrte auf den grünen Bretterzaun, in den er das Bild seines Wunsches hineingesehen hatte. Und als er plötzlich nur noch den grünen Bretterzaun sah, strich seine Hand über die Augen und blieb, wie die der Tante, am Kinn haften.

‚Das also wünsche ich ... wünscht er: der Mensch in mir.‘

Langsam lehnte er sich wieder zurück. ‚Aber welcher Art ist denn seine Leistung? Was hat er ... was habe ich ... also, ich meine, was möchte ich denn eigentlich leisten? ... Ist ja ganz gleich, was einer leistet, wenn er nur überhaupt auf irgendeinem Gebiete, ganz gleich welchem, etwas leistet und Macht und Einfluß gewinnt.‘

Eine Stunde später saß er untätig an seinem Küchentisch. Der Artikel, den er zu schreiben hatte, langweilte ihn. ‚Immer wieder der selbe Artikel!‘ Seine Hand legte den Bleistift hin, wurde zur Stütze für den Kopf. Der Frackherr-Jürgen tritt in den großen Saal. Das Bild verschwand sofort wieder.

Denn im Nebenzimmer begann das Klappern der Maschine. Der Haß gegen das Klappern sickerte in jeden Herzschlag hinein. Im besonnten Hofe war es vollkommen still. Die Proletarierkinder trieben sich im Walde umher. Von den alten, faulenden Küchenabfällen stiegen Dämpfe auf. Das Fenster stand offen.

Plötzlich vernahm der reglos Sitzende das feine Klingeln. Horchte. Blickte. Vernahm es wieder. Maßlose Wut stieg in ihm auf. Mit äußerster Vorsicht griff er nach dem Schotterstein, der ihm als Papierbeschwerer diente, schlich auf den Zehenspitzen unhörbar zum Fenster, stand, die Hand wurfbereit erhoben.

Da hörte die Maschine auf zu klappern. Katharina trat ein. „Wollen wir ... Was machst du denn da?“

„So sei doch still!“ brüllte er ihr ins Gesicht, drehte sich wieder um und schleuderte voller Wut den Schotterstein in die Richtung, wo er die Ratte vermutete. „Das verdammte Vieh! Dieses unerträgliche Geklingel!“

„Das Klingeln war dir doch immer so angenehm in den Nächten, wenn du schriebst, und jetzt, auf einmal ...“

„Ja, jetzt, auf einmal! Siehst du, jetzt, auf einmal!“

„Ich wollte dich eben fragen, ob wir heute, weil der Tag so schön ist – einen Spaziergang in den Park, hatte ich gedacht. Aber wenn du so bist ... So warst du noch nie zu mir ... Dann tippe ich lieber weiter.“ Sie schritt zur Verbindungstür. Er, vornüberstürzend, ihr nach.

Später saßen sie, versöhnt, im öffentlichen Parke, in dem sie vor elf Jahren das erstemal miteinander gesprochen hatten, von Duft und Farben, Blumen, spielenden Kindern, Himmelsbläue und Gouvernanten umgeben, wie heute.

„Seither ist jene Generation groß geworden und schon in die Privilegien der damaligen Väter nachgerückt“, sagte Katharina. „Und die Last liegt heute wie damals auf den andern.“

„Ja, wo sind die Erfolge der Arbeiterschaft! Nichts! Der Sozialismus schwebt nach wie vor in blauer Ferne.“

„Das wollte ich damit nicht sagen“, entgegnete ruhigen Tones Katharina.

Auf dem Reitwege, nur durch eine brusthohe Buchshecke von dem Parke getrennt, galoppierte eine Gruppe Damen und Herren vorüber. Die beiden saßen reglos und schwiegen. Auf der breiten Fahrstraße rollten Equipagen, überholt von einzelnen Reitern.

„Es ist am besten, wir kriechen wieder in unser Loch zurück“, sagte Jürgen, dessen Wesen zweigeteilt war wie eine Schleudergabel.

Die schenkeldicke Fontäne überholte unaufhörlich sich selbst. Das lange, postgelbe Automobil des Bankiers Wagner rollte vorüber. Die zwei Damen, in die Polster zurückgelehnt, machten eine Spazierfahrt durch den Duft. Eine dunkle Riesenfaust preßte Jürgens Herz zusammen, als er Elisabeth erkannte, die sich umwandte und prüfenden Blickes die beiden ansah. Sie war eben bei der Tante zu Besuch gewesen.

„Das ist Elisabeth Wagner“, sagte Katharina. „Elisabeth war im Institut eines der klügsten Mädchen gewesen ... Gestern wurde erzählt, das Bankhaus Wagner stehe vor dem Zusammenbruch. Ich habe es von den Genossen in der Hommesschen Papierfabrik erfahren. Der Betrieb würde im Falle eines Zusammenbruches geschlossen werden müssen. Elisabeths Bräutigam hat die Verlobung gelöst. Ein konsequenter Herr!“

Schwuppdich, dachte Jürgen.

„Aber hast du das andere Mädchen gesehen. Sie ist wunderschön. Eine Jugendfreundin von mir. Der Garten ihrer Eltern stößt an den Garten meiner Eltern. Von ihr kann ich dir eine traurige Geschichte erzählen. Die traurigste Geschichte, die ich kenne!“

„Nein, nein, nicht umkehren!“ bat Katharinas schöne Jugendfreundin und legte scheuen Blickes ihre Hand auf Elisabeths Hand. Aber der Chauffeur hatte die Schleife schon genommen. Das Auto rollte sehr langsam auf die beiden zu.

„Kennst du sie denn? Elisabeth hat dir zugenickt.“

„Wieso denn mir!“ sagte Jürgen. „Nun, und die traurige Geschichte von der andern?“

Da wandte auch diese sich um und blickte, wie zurück in ihre Kindheit, gefühlsschwer Katharina an, die erzählte:

„Bis zu unserem siebzehnten Jahre waren wir immer zusammen, jeden Tag viele Stunden. Wir haben einander das Versprechen gegeben, uns ganz aufzuopfern, auch nie einem Manne anzugehören. Wir wollten die Welt erlösen. Um jeden Preis!“

„Das wollen sehr viele in ihrer Jugend.“

„Ja, und später lächeln sie darüber ... Wenn sie nur über die Art, wie sie helfen oder die Welt ändern wollten, lächeln würden, hätten sie ja ganz recht; aber sie lächeln, weil sie es überhaupt tun wollten. Sie lächeln nicht nur über den Inhalt ihres Idealismus; sie lächeln über den Idealismus ihrer Jugend überhaupt.“

Und dann sagte Katharina, rätselhaft tief bewegt, den Satz vor sich hin: „Viele Menschen tragen als Kinder in den Augen ein Ideal, das erstrebt zu haben sie später lächeln macht; und doch wiegt vielleicht allein die Tatsache, daß sie dieses Ideal einmal wenigstens erstrebt hatten, schwerer als alle Ziele, die sie später tatsächlich erreichten.“

„Wie du das sagst! Es wird einem kalt. Wie du das sagst!“

„Dieses Mädchen ... du machst dir keinen Begriff, welch leidensfähiges, mildes Herz sie hatte. Und jetzt – wie lebt sie! Sie ist mit dem Oberstaatsanwalt verlobt.“

„Ist das die Geschichte? Ist sie das?“

„Eigentlich ist das schon die ganze Geschichte.“ Und dann erzählte sie doch: Die Mutter ihrer Jugendfreundin, eine sehr gebildete, reiche Frau, habe ihre Tochter ganz bewußt zur Wohltätigkeit erzogen. Immer habe das Kind den Armen die Gaben reichen müssen.

„Und da geschah es einmal – und dies ist die Geschichte –, daß das Kind von seiner Mutter in den Garten geschickt wurde, einer alten Bittgängerin ein abgetragenes Kleidungsstück zu bringen. Da bricht das Kind, wie es unter dem Blicke der Alten steht, vor Trauer und Scham, daß es geben und die Weißhaarige von ihm empfangen muß, in Schluchzen aus, läßt das Geschenk fallen, läuft weinend zurück, kann und kann nicht beruhigt werden, schluchzt sich in eine Krankheit hinein ... Von dieser Zeit an hat es sich nie mehr zu solchen Wohltätigkeitshandlungen brauchen lassen. Denk an, da war sie sechs Jahre alt. Ihr Herz wußte schon alles ... Und jetzt? Wie furchtbar, wie tragisch ist das Leben, daß selbst solch ein Wesen so erkranken, solch ein Herz so verhärten konnte.“

Eine ungeheuere Erregung, die er mühsam zu unterdrücken versuchte, hielt Jürgen gepackt. Nur um etwas zu sagen, fragte er: „Und wenn ihr einander begegnet, grüßt ihr euch nicht?“

„Wie sollten wir! Jeder lebt auf einem anderen Planeten.“

Lebt auf einem anderen Planeten, flüsterte Jürgen innerlich. In weniger als einer Sekunde war der Saal mit dem Frackherrn-Jürgen aufgetaucht und wieder verschwunden gewesen.

Und plötzlich glaubte Jürgen, seine Schädeldecke hebe sich ab vor Grauen. Denn er wußte nicht, ob er selbst oder ob ein anderer in ihm gedacht, gefühlt und gesagt hatte: ‚Wie entsetzlich! Dann ist er unüberbrückbar auch von Katharina getrennt! ... Wer hat das gedacht?‘ fragte er. ‚Das habe nicht ich gedacht.‘

„Es ist im Grunde die Geschichte aller in ihrer Jugend idealistisch gewesenen Menschen“, hörte er Katharina sagen. „Du folgst deinen Wünschen und Begierden gegen das bessere Wissen deines Herzens, betrügst dein Bewußtsein, dein Ich, indem du nach Besitz, Macht, Erfolg, Genuß und Achtung strebst, dann kann es geschehen, daß du viel erreichst oder auch zugrunde gehst, in bürgerlicher Schande oder in bürgerlichen hohen Ehren ertrinkst, oder vielleicht in der Familienbequemlichkeit und einer – mittleren Stellung untergehst ...“

‚Das nun sollte mir nicht passieren.‘

„... daß du Automobile, betreßte Diener, eine Villa, verschönt durch edle Kunstwerke und Bücher, die du nicht nur hast sondern auch verstehst, daß du Fabriken, Ruhm, Achtung, Frauen, einen Kassenschrank voll Aktien und Gewalt über Tausende von Menschen eroberst ...“

‚Das will er, der Mensch, der Frackherr in mir.‘

„... aber in jedem Falle mußt du – und dies ist die Tragik des Menschen unseres Zeitalters – das Bewußtsein von der Wirklichkeit, wie sie sein könnte und wie sie ist, mußt du dein Bewußtsein, die Leidensfähigkeit und Güte deines Kindheitherzens und damit dein Ich, deinen Idealismus verlieren, der in unserem Zeitalter nur in dem hingabebereiten Kampfe um den Sozialismus seinen Inhalt haben kann.“

Und das weiß mein Bewußtsein, dachte Jürgen. Und hatte plötzlich gesagt: „Dagegen kann ich nicht einmal etwas einwenden.“

Zuerst schwieg Katharina. Dann wich sie mit dem Oberkörper seitwärts, sah Jürgen betroffen an: „Weshalb solltest denn du dagegen etwas einwenden?“

Zum zweitenmal empfand Jürgen in seinem Herzen Zorn gegen Katharina und schwieg.

Erst auf dem Heimwege – die freistehende Mietskaserne kam schon in Sicht: „Die Tante hat gesagt, es hänge noch ein ganz guter Anzug von mir im Schrank.“

„Den solltest du dir holen, wenn sie ihn dir gibt ... Ich habe damals, als ich wegging von zuhause, fast nichts mitgenommen. Aber wenn ich die Sachen jetzt holen wollte, die würden mir nichts geben.“

„Ach nein, so ist sie nicht. Enterben, vielleicht ja; aber sonst ...“

Einige Tage sprachen sie selten miteinander; Jürgen hatte in Gegenwart Katharinas das Gefühl, auf Luft zu gehen, und wich ihr aus, sooft er konnte.

Eines Abends, als er diesen Zustand qualvoller Spannung nicht länger mehr ertragen konnte, sagte er: „Wer bis zu seinem dreißigsten Jahre noch nichts geleistet und erreicht hat, wird auch später nichts mehr erreichen.“ Er stand am Schreibtisch, Katharina neben ihm, mit dem Rücken gegen das Fenster. Sie antwortete nicht.

„So wird man schließlich vierzig. Und was kann dann noch viel Erfreuliches kommen! Dann ist das Leben in der Hauptsache vorüber ... Natürlich, wer ganz bedingungslos glaubt an den Sozialismus ... Wer einfach glaubt!“

„Was willst du denn erreichen, Jürgen?“

„Das ist es ja eben. Ich bin kein Jüngling mehr. Man wird doch immer älter – und älter ... Eh man sich versieht, ist das Leben vorbei, nicht wahr?“

Katharina antwortete nicht mehr. Sie ging langsam auf die Verbindungstür zu, ging durch, schloß die Tür. Sie stand in ihrem Zimmer. Sie legte die Hand aufs Herz. Sie wußte alles.

Jürgen sah, durch die verschlossene Tür durch, Katharina stehen, so wie sie stand. Preßte die Hand auf das rasend klopfende Herz. Zuckte auf die Tür zu. Wollte nachstürzen.

Zuckte zwischen der Verbindungstür und der Ausgangstür wie ein von Verfolgern eingekreister Flüchtling im Zickzack hin und her. Und stürzte mit einem innerlichen, furchtbaren Todesschrei aus dem Hause.

Rannte aus der Stadt hinaus, querfeldein, über Schollenäcker zum Bahndamm, zwischen den Schienen weiter, bis vor das schwarze Tunnelloch.

Diesmal blieb er nicht stehen und kehrte er nicht um. „Fort! Fort! Fort!“ befahl der Herzschlag, jagte ihn den Schienen nach, hinein in die Finsternis.

Er stolperte. Seine Hände streiften den Boden. Er empfand darüber Befriedigung. Raste weiter, stieß mit dem Kopf gegen die Mauer. Und blieb keuchend stehen. In undurchdringliche Nacht gestellt, erblickte er plötzlich seine Genossen, klein und weiß. Katharina blickt verächtlich ihn an, deutet mit dem Finger auf ihn.

„Fort! Fort!“ schrie der Herzschlag. Vor sich, weit in der Ferne, sah Jürgen ein rotes Tunnellämpchen. Nach zwei Sprüngen war er schon daran vorbei, stolperte, stürzte. Und blieb hocken, dicht neben dem Lämpchen, das jetzt weit hinter ihm in der Finsternis schwebte.

Glotzend hob er den Kopf, sah die schneeweißen, starren Gesichter seiner Genossen. Duckte den Kopf zwischen die Schultern, schloß die Augen. Sah die schneeweiße Gruppe der Genossen. Katharina dreht sich kalt und gleichgültig weg.

‚Wie sie mich verachtet!‘

Die Schienen im Tunnel begannen zu lispeln.

Gierig suchte Jürgen nach jemand, der ihn nicht verachtete. Sitzt sofort bei der Gesellschaft auf dem besonnten Hügel, neben Adolf und Elisabeth. Die Tante und der Vater treten hinter dem Busch vor, blicken ihn achtungsvoll an.

Plötzlich steht Phinchen vor Jürgen im Tunnel, große Liebe im Gesicht.

‚Phinchen, bin ich ein Verräter? Ja oder nein? Wer hat recht: Katharina oder ich? Sage mir nur ruhig die Wahrheit. Ich halte alles aus.‘

‚Sie haben recht, lieber Herr Jürgen. Sind ein unendlich guter Mensch. Ich weiß, wie sehr Sie schon als Kind und Jüngling gekämpft und gelitten haben.‘ Phinchen kniet nieder.

‚Brauchst nicht zu knien vor mir. Ach nein, vor mir braucht kein Mensch zu knien.‘ Und er steht im großen Saale, beherrschte Kraft in Blick und Miene, begrüßt seine Bewunderer ohne Herablassung und Hochmut.

Katharina, schneeweiß, schreitet im Tunnel vorüber, auf die schneeweiße Gruppe der Genossen zu. Des Hockenden Kopf sank wieder zwischen die Schultern, tief auf die Brust.

Das Lispeln der Schienen war vernehmlicher geworden. Die Luft im Tunnel zitterte leise. Jürgen schluchzte. Warme Tränen rollten.

Die Schienen sangen lauter und stählern. Ganz plötzlich bebte der Tunnel so stark, daß Wassertropfen von der Decke fielen. Einer patschte kalt auf Jürgens Hand.

Er horchte in sekündlichem Entsetzen auf das rapid stärker werdende Geräusch, sprang auf.

Da knallte der Donnerschlag in den Tunnel. Der ganze Berg wankte. Die glänzenden Schienen wurden zu roten Fühlern eines Riesentieres, die Fühler wurden immer länger, strahlten sausend auf Jürgen zu.

Er rannte ihnen entgegen, den Ausgang zu gewinnen. Ein ungeheurer Tumult erfüllte zerstörerisch den Tunnel, umtoste Jürgen und zwang ihn, stehenzubleiben. „... Bin ich verloren?“

Die Lokomotive krachte auf ihn los.

Jürgen fühlte, wie seine Haare weiß wurden, gab sich auf und starb.

Unabänderlich donnerte der Zug auf seiner vorgeschriebenen Bahn weiter. Das Geräusch wurde mit einem Schlage hell.

Noch eine Weile sangen die Schienen. Sandkörnchen fielen in die betäubte Stille.

Ein Mensch lag im Tunnel auf dem Gesicht. Für ihn hatte sich zwischen Leben und Tod ein Drittes eingeschoben, das nicht Leben war und nicht Tod.

Jürgen war bei vollem Bewußtsein und wußte dabei nicht, ob er noch existiere. Seine Augen starrten und erblickten nichts. Der Angstgedanke: ‚Wenn ich jetzt schreie und höre meinen Schrei nicht, bin ich tot‘, verhinderte ihn, zu schreien.

In dieses zeit-, raum- und vorstellungslose Nichts hinein erklang, da Jürgen als einziges erdhaftes Ding plötzlich das rote Tunnellämpchen erblickte, sein tierisch wilder Schrei nach dem Leben.

Von den Flammen des Lebens emporgerissen, drehte er sich, den Ausgang zu gewinnen, einigemal im Kreise und begann schreiend zu rennen, in gieriger Sehnsucht nach dem wilden Nußbaum, der beim Tunneleingang stand.

Galoppierte in rasendem Tempo die Dunkelheit hinter sich und hinein in eine fremde Gegend: Er war auf der anderen Seite des Tunnels herausgekommen. In der Höhe stand still die zerfallende Burgruine, Erker vornübergeneigt, als müsse er jeden Augenblick stürzen.

Jürgen blickte in das schwarze Tunnelloch zurück, klopfte dabei automatisch den Kohlenstaub von seinem Anzug, strich sich über die Haare. ‚Sie werden weiß geworden sein ... Daran wird Katharina erkennen, wie ich gekämpft und gelitten habe. Möge sie nur sehen, wie sehr!‘

Blickte noch einmal hinein in den Tunnel. „Entronnen!“ sagte er. „Entronnen!“ Und wandte sich um. Da war die Welt, fern und nah. Sonne, Blau, Grün und Fluß.

Der Herr solle nur über das Großdorf machen. Von dort aus führe der Weg direkt in die Stadt, sagte die verhutzelte Häuslerin und schob den ächzenden Schubkarren weiter, auf dem eine hohe Ladung Fallholz lag.

Jürgen wußte den Weg; er hatte nur gefragt, um eine Menschenstimme zu hören. ‚Nur wer dem Tode entronnen ist, der, nur der weiß, was leben heißt ... O, Anfang! O, Leben! O, Grashalm! O, Glück des Atmens!‘

So schritt er aus. ‚Komme, was will – ich lebe!‘ Als der hohe Backsteinwürfel in Sicht kam, dachte er: Was sie sagen wird, daß ich mit dem Leben davongekommen bin?

„Wunderst dich, wie ich aussehe, was? Der Anzug, das Loch im Knie!“ Und er erzählte.

Sie aber hatte die schwerste Stunde ihres Daseins erlitten und durchlitten und hatte aufgegeben und hinweggehen lassen, was nicht zu halten war.

„Kommt der Zug auf mich zugerast“, wiederholte er. „Es ist total finster. Zermalmt er mich?“ Gierig suchte er Liebe und Schreck in ihrem Gesicht.

Sie war in dieser Stunde innerlich so grau und alt geworden, daß sie geglaubt hatte, für den Geliebten nicht einmal mehr Verachtung empfinden zu können. Und nun schlug sie, verletzend gleichgültigen Gesichtes, doch verachtungsvoll zurück: „Wenn man sich eng gegen die Mauer preßt, was kann da passieren!“ Auch dies noch ist ja überflüssig. Weshalb sagte ich es. Weshalb rede ich noch, dachte sie. Und fühlte ihr wimmerndes Herz.

„Verstehst du denn nicht ...“

„Ich verstehe dich schon, ich verstehe dich.“ Entschlossen, auf sich zu nehmen, was unabänderlich war, sah sie ihn an, und ihr Blick fragte: ‚Was soll also jetzt geschehen? Was suchst du noch hier?‘

„Wie ich nur zugerichtet bin!“ Er zeigte auf das Loch in der Hose. Und da sie schwieg und weiter fragte:

„Jetzt wird es Zeit, daß ich mir den andern Anzug hole ... Wir könnten uns später in der Stadt treffen, dann in die Redaktion gehen und zusammen nachhause.“

Und als er fort war, dachte sie doch darüber nach, ob es keine Möglichkeit gebe, ihn zu halten, ihn zum Ausharren zu bewegen. ‚Dadurch vielleicht, daß ich mit rücksichtsloser Klarheit ausspreche, was ist?‘

Sie setzte sich an ihren Arbeitstisch, blickte blicklos in das Zimmer, in dem, mächtig wie nie vorher, unvertreibbar die Vereinsamung stand. ‚Aber er ist sich ja klar; er kann ja nicht genommen werden wie ein unklarer Mensch mit phantastisch idealistischen Vorstellungen und Zielen, dessen Idealismus zersplittert, sobald er mit der harten Wirklichkeit zusammenstößt. Jürgen kennt ja die Wirklichkeit, denn er hatte den Inhalt seines Idealismus in dem Kampfe um den Sozialismus gefunden.‘

„Das Bad ist fertig. Die Wäsche habe ich auf den Stuhl gelegt. Die Schuhe stehen darunter“, sagte, glückstrahlend, Phinchen zu Jürgen. „Unterdessen bügle ich den Anzug auf. Er ist noch sehr schön.“

‚Immer wieder sagte er: Man wird alt ... Und etwas erreichen will er. Etwas werden. Einfluß gewinnen und Macht. Er will geachtet sein ... von denen, deren Achtung entwürdigend ist für den, der sie genießt ... Genießt. Er will genießen, leben ... Dies sind auch bei allen anderen die Motive des Abfalls, des Verrates an der Idee, ob die Verräter nun klar oder unklar, Sozialisten oder Phantasten waren. ‚Jeder für sich‘ wird, uneingestanden, ihre Weltanschauung.‘

Auch als Jürgen, gebadet, in frischer Wäsche und in dem gutsitzenden, schwarzen Anzug, die Treppe herunter auf das Wohnzimmer zuschritt, saß Katharina noch am Tische, reglos. ‚Auch das alles weiß Jürgen selbst. Deshalb muß und kann nur er selbst entscheiden ... Er hat entschieden.‘

„Ja, ich erwarte Besuch. Elisabeth Wagner und ihre Freundin. Wenn ich gewußt hätte, daß du kommst, würde ich abgesagt haben.“

Er stand vor dem gedeckten Kaffeetisch. Ich kann ja gehen ... Die Freundin wird wohl das schöne Mädchen sein, das in seiner Jugend ... dachte er und fragte.

„Ja, sie ist sehr schön und mit dem Herrn Oberstaatsanwalt verlobt ... Auch dein Schulfreund, Karl Lenz ... Ist er älter als du?“

„Zwei Jahre. Er war nämlich so blöd, daß er im Gymnasium zweimal sitzenbleiben mußte. Aber was ist mit ihm?“

„Schon Staatsanwalt geworden! Vor vierzehn Tagen. Denk an, so jung!“

‚Das sollte ja auch ich werden. Oder Amtsrichter! Dem bin ich entronnen.‘

„Deshalb glaubte ich, Karl Lenz müsse ein besonders fähiger Schüler gewesen sein.“

„Das nicht; aber Angehöriger der vornehmsten Verbindung.“ Jetzt verschwinde ich, dachte er, als die Wohnungsglocke läutete. Und fragte: „Geht es dir besser?“ Warf einen Blick in den Spiegel, der einen knapp, sorgfältig und schwarzgekleideten Herrn zeigte. „Die Wäsche, die von mir noch da ist, könntest du mir schon spendieren“, sagte er, schalkhaft lächelnd.

‚Das Geld hätten wir schon aufgetrieben. Wenn ihm unser Leben zu ärmlich, zu leer war, wir hätten etwas besser wohnen, manchmal ausgehen, mehr Bücher kaufen, im ganzen etwas besser leben können. Der Ingenieur tut es ja auch. Gewiß ein guter Genosse! Eine Grenze nach unten, eine Grenze nach oben – in der Mitte genug Spielraum, nicht so erlebnisarm zu sein. Verkehr mit einigen sympathischen, klugen Menschen. Auch eine kleine Reise hin und wieder. Innere Erfrischung. Jeder braucht sie. All das würden keine unüberwindlichen Schwierigkeiten gewesen sein ... Aber das ist es ja nicht. Das ist es ja nicht. Er hat den Kampf aufgegeben. Er paßt sich dem Leben an ... Aber mir, mir, warum hat er mir das angetan. Warum hast du mir das angetan.‘

Gesicht neigte sich langsam auf die verschränkten Arme. Der ganze Körper verzuckte im Weinen. Sie wimmerte immer den selben Ton. Ließ sich versinken, ganz und gar preisgegeben dem Schmerze.

Nach einer Weile tappte der Schnauz zu ihr, berührte sie mit der Pfote. Und da sie reglos blieb, legte er sich in die Zimmermitte, Kopf auf den vorgestreckten Pfoten. Drehte hin und wieder, ohne den Kopf zu heben, die Augen zu ihr hin.

„Plötzlich kommt der Zug angerast ... angerast. Zermalmt er mich? Wohin springe ich? Es war total finster.“

„Allmächtiger!“ rief die Tante. Und Elisabeth: „Ich wäre vor Schreck gestorben.“ Dabei lächelte sie und horchte gespannt; ihre grauen Augen schienen zu sehen, wie das Eisenungetüm den Menschenkörper zermalmte. Unter der zarten Haut ihres Halses tickte der Herzschlag.

Jürgen unterdrückte die Genugtuung und sagte leichthin, auch er habe geglaubt, seine Haare seien weiß geworden.

„Und das erzählt er so, als ob er selbst gar nicht daran beteiligt gewesen wäre“, sagte Elisabeth, mit anerkennendem Wechselblick zwischen Jürgen und der Tante, die sich aufrichtete, einen geradeliegenden Kaffeelöffel geradelegte und glatt heraus sagte: „An allem ist nur dieses Mädchen schuld.“

„Aber Tante, sprich nicht von Dingen, die du nicht verstehst.“

„Und wenn du überfahren worden wärest!?“

„Nun, nun, ich brauchte mich ja nur eng gegen die Mauer zu pressen, was konnte da viel passieren ... Natürlich“ – und er sah heiter lächelnd Elisabeth an – „denkt man in so einem Augenblick nicht an das Nächstliegende.“

„Das eine weiß ich: dein ganzes Unglück ist dieses Mädchen.“

Geschmacklos ist sie nicht, dachte Jürgen, da Elisabeth sich sofort auf Katharinas Seite stellte durch ein Lächeln des Einverständnisses mit ihm. „Das sollten Sie nicht sagen; Katharina ist doch immerhin ein ungewöhnlicher Mensch, den man nicht mit dem gewöhnlichen Maße messen darf.“

„Davon versteht die Tante nichts“, sagte Jürgen in dem selben Tonfall, wie damals auf dem Hügel Elisabeth zu Jürgen gesagt hatte, von Literatur verstehe Adolf nichts.

Warme Sympathie und Achtung für Katharina erfüllte ihn und wohltuender Stolz auf sie, die zusammengesunken und versunken in Schmerz und Vereinsamung am Tische saß und weinte und nur und immer wieder das eine dachte: Warum, warum hat er mir das angetan.

Die Tante wurde mutig: „Daran kannst du sehen, wohin dich diese Beziehung noch bringen würde ... hätte bringen können. Einfach in den Tod! ... Ein zu verrücktes, ein ... unordentliches Mädchen, finden Sie nicht auch?“

„Sie sollten nicht so streng sein gegen Katharina, die doch wirklich nicht so beurteilt werden kann wie irgendein dummes bürgerliches Mädchen.“

Jürgen zeigte die Miene eines Menschen, der es sich erlauben kann, Dummheiten anzuhören, ohne zu widersprechen. Übrigens, auch Elisabeth scheint keine bürgerliche Gans zu sein, dachte er.

„Nichts als Unruhe, ewige Unruhe kommt dabei ... würde dabei ... wäre dabei herausgekommen.“

„Die ist zäh“, sagte Jürgen, kräftig lachend, als die Tante aus dem Zimmer war, sich umzuziehen für den Kirchgang. „Die gibt den Kampf nicht so leicht auf. Jetzt glaubt sie, schon gesiegt zu haben in dieser Sache, in der sie nie siegen kann. Niemals!“

Mit einem Blicke nahm Elisabeth den Kampf offen auf. So daß Jürgen nach langem Blick- und Wortgeplänkel schließlich fragen konnte: „Und Adolf?“

„Er ist mir zu dumm. Einfach zu dumm!“ sagte sie, strahlend vor ehrlicher Überzeugung. Und ob Jürgen sie begleiten wolle, sie müsse Einkäufe machen.

Auch Katharina ging, in der Hand das in Papier eingewickelte belegte Brot, das sie abends in der Redaktion essen wollte, durch die Geschäftsstraße. Der Schreck schlug durch ihren ganzen Körper durch. So stand sie, gedeckt von der kauf- und schaulustigen Menschenmenge, die, ein geschecktes, langes, vielhundertfüßiges Tier, langsam an den Auslagen entlang kroch, und sah, wie Elisabeth Jürgen an der Schulter faßte, ihn vor ein Spielwarenschaufenster führte.

An der Art des Nebeneinanderstehens erkannte Katharina, daß sie schon eine Gegnerin bekommen hatte, berührte mit der Zungenspitze nachdenklich ihre Lippen und ging weiter.

Immerzu sah sie die zwei vor dem Schaufenster stehen, sah Elisabeths zartgegliederte, weiße Hand auf Jürgens schwarzem Rücken liegen und dachte sich den deutenden Zeigefinger dazu. ‚Was sie ihm wohl gezeigt haben mag? Eine Puppe? Ein Schaukelpferd?‘

Die ganze Straße hinunter interessierte Katharina sich dafür, auf was wohl Elisabeth Jürgen aufmerksam gemacht habe, stellte sich die Gegenstände eines Spielwarenschaufensters vor. Erst als sie mit dem innern Blick plötzlich des Geliebten Gesicht sah, stellte sie sich der Hauptsache. Der schneidende Schmerz zwang sie, Hand auf dem Herzen, stehenzubleiben. ‚Und jetzt? Was ist jetzt? Soll ich ... soll ich kämpfen um ihn?‘

Aber das Bewußtsein, daß Jürgen ja nicht ihr, sondern sich selbst und seiner Hingabe entlaufen sei, und daß sie, was sie durch den Kampf um ihn gewönne, nur auf Kosten ihrer Hingabe gewinnen könne, stieß Katharina hinein in die graue Hoffnungslosigkeit.

Dennoch stand sie zur verabredeten Zeit an der Straßenecke, gepeinigt von dem Bewußtsein, daß sie, in ihrem persönlichen Leben nun so ganz und gar verarmt, noch die Gebende sein müsse. Denn der Fraueninstinkt sagte ihr, daß Jürgen nur deshalb für Elisabeth interessant und begehrenswert sei, weil er mit der als merkwürdig und unnahbar geltenden Katharina befreundet war. ‚Wenn sie seine Frau wird, hat er das mir zu verdanken. Wie entsetzlich!‘ Katharina fror bei diesem Gedanken.

Sorgfältig gekleidet, durch Bad, reine Wäsche und durch das Beisammensein mit Elisabeth erfrischt, schritt er, beherrschte Kraft in den Gliedern, lebensfroh dem verabredeten Orte zu, sah Katharina stehen, sah sekündlich den unüberschreitbaren Abgrund, den seine momentanen Gefühle zwischen ihm und Katharina aufrissen, blieb stehen, stand an dem Rande des Abgrundes, der nur gleichzeitig mit diesen neuen Gefühlen verschwinden konnte, die schon nicht mehr verschwinden konnten, tappte über den Rand des Abgrundes hinaus, stand und schritt auf Luft. Wildes, besinnungsloses Aufsiezustürzen kam in seinen Gang und falsche Wiedersehensfreude und gleichzeitig Scham in sein Gesicht.

Sie aber stand, ein Mensch, grau und wissend und bewußt, und nahm auf sich ihr Schicksal. So blickte sie ihn an.

„Wie die leben, die Bürger! Die, ah, die wissen schon, was sie wollen ... Aber was alles sie zusammenredet, die Tante, du machst dir keinen Begriff ... Für die ist alles höchst einfach.“

„Deine Tante will, daß es dir gut gehe; sie will, daß du Elisabeth Wagner heiratest.“ Sie horchte auf sein falsch-herzhaftes Lachen und fühlte: Wie weit, wie weit ist er schon weg.

„Wahrhaftig, du sagst es. Genau das will sie ... So ein Unsinn! ... Hab mich aber ganz gut mit ihr unterhalten. Sie ist nicht dumm, weißt du, und eigentlich gar nicht bürgerlich ... Ein liebenswürdiges Geschöpf.“

„Ja, Jürgen, sie ist ein kluges Mädchen, ein liebenswertes Mädchen.“

„Kennst du sie denn so gut, weil du sagst, sie sei ein liebenswertes Mädchen?“

„Weshalb denn kein liebenswertes Mädchen, Jürgen, weshalb nicht liebenswert“, sagte Katharina in schwerem Leid und dachte: Wie wiegen die Worte so schwer ... fallen wie Blei.

„Sie hat sogar deine Partei ergriffen, hat dich verteidigt.“

‚Wie ist es möglich, daß er mich so beleidigt.‘ Die Häuser neigten sich; die Straße drehte sich um Katharina herum. Sie mußte sich festhalten an Jürgen, nicht zu versinken in dem schwarzen Nebel vor ihren Augen.

„Du arbeitest zuviel; solltest dich schonen, etwas mehr schonen.“

Da riß ihr Blick, in dem nicht Zorn und nicht einmal mehr Verachtung war, alle Masken und jede Selbstbelügung weg und traf ihn so, daß er plötzlich vor der Tatsache stand.

Seine Stimme war rauh: „Entscheide du!“ ‚Laß mich leben oder knalle mich nieder; aber entscheide du!‘ schrie, völlig preisgegeben, sein Wesen. Die Augen glotzten.

Sie schwieg, bewegte den Kopf nicht. Nichts rührte sich an ihr und in ihr. Ihr Blick blieb blicklos.

Und Jürgen wußte, daß auf der Welt nur er allein entscheiden konnte, gestand zum erstenmal sich ein, daß er sich schon entschieden hatte. „Geh, Katharina, geh, geh du nachhause jetzt, Katharina.“ Seine Stimme ertrank in innerlichem Weinen. „Schlafe gut.“

„Schlafe du auch gut.“

Das war der Abschied.

Ihr Leben öffnete sich bis in die frühen Kindheitstage. Sie sah die lange Kette des Leides und der Hingabe. Sah, was ihr noch verstattet und beschieden sein konnte. Sie nahm ihr Leben an die Brust.

„Du auch, schlafe du auch gut“, flüsterte Jürgen immerzu und mußte dem Zwange folgen, immer in die Mitte der Steinplatten zu treten, mit denen der Gehweg belegt war. Um nicht auf eine Ritze zu treten, mußte er drei ganz kleine Schritte machen. „Schlafe du auch gut.“ Und einen Sprung, da eine große Platte kam. „Du auch gut.“

Überquerte halb die Straße, lief zwischen den Schienen weiter. Die Straßenbahn kam auf ihn zugesaust. „Entscheide dich! Entscheide dich!“ schrie er, gepackt von dem Zwange, die Schienen erst verlassen zu dürfen, nachdem er bis zehn gezählt hatte. „... zwei ... fünf ... acht, neun, zehn ...“

„Noch bis fünfzehn!“ schrie er. Zählte: „... zwölf, dreizehn, vierzehn ...“

Und erwachte zwei Tage später im Schlafzimmer der Tante, Kopf und Beine in dicken Verbänden. Elisabeth saß bei ihm.

VI

Duftlose Blumen standen im Krankenzimmer. Phinchen trug ihr Glück auf den Zehenspitzen, auch wenn sie im Keller oder im Dachboden war. ‚Die Pflege muß besser sein, als im besten Sanatorium‘, stand auf unsichtbaren Tafeln. In der Villa wurde nur noch geflüstert. Wenn die Tante einen Auftrag zu erteilen hatte, schlich sie, balancierend, auf Phinchens rund sich öffnenden Mund zu. Jürgen war unumschränkter Herr und zugleich das Kind im Hause, wohlbehütet Tag und Nacht.

Im Garten schaffte der Frühling. Wenn Jürgen auf dem Sonnenbalkon im Liegestuhl ruhte, an warmen Tagen stundenlang wachträumend vor sich hindöste, sah er, wie das Sein, das Leben, die Sträucher in sich leise zuckten, wie ein Blättchen sich aufrollte, der Sonne entgegen.

Halb fühlte und halb dachte er: Mein Leben steigt noch einmal von Grund auf an. Eine zweite Kindheit! Mein Leben rollt sich auf, so sanft, so mild.

Im Halbschlafe ging er über Brücken, immer wieder von neuem und immer weiter über Brücken. ‚In dieser Gegend gibts nur Brücken. Nichts als Brücken!‘

Keine Schärfe war in dem Geschwächten. Kein Wunsch berührte ihn. Alle Kämpfe, alle Leiden lagen weit zurück. Katharina lebte ganz verblaßt in blauer Ferne.

Seine weichen, beglückenden Seelenstimmungen, die Wohlgefühle der Gesundung und seine unbestrittene Macht über die Tante, die den Zurückgekehrten wie einen tausend Gefahren entronnenen, schwerverwundeten Krieger betreute, erhielten ihren Grundgehalt von dem Gefühle: ‚Ich habe diese Ruhe mir verdient!‘ Alles fügte sich widerstandslos ineinander.

„Ich verabschiede mich von Katharina“, konnte Jürgen ohne Erinnerungsschwierigkeit erzählen, als er, frei von den Verbänden, heiler Haut und Elisabeth am Arme, dem weißgedeckten Kaffeetisch unter dem Nußbaum zuschritt, „verabschiede mich wie immer: Gute Nacht, Katharina, schlafen Sie gut. Wie man eben so sagt, nicht wahr. Schlafen Sie auch gut, antwortet sie mir. Und ich gehe die Straße hinunter, beschäftigt mit einem Gedanken, allerdings mit einem jener entscheidenden Gedanken, – ich nenne sie Mittelpunktgedanken – die uns das ganze Leben plötzlich von einer völlig neuen Seite sehen und verstehen lassen.“

Auch an dem Unglücksfall ist dieses entsetzliche Mädchen mit ihren verrückten Ideen schuld, hatte die Tante, als Jürgen ins Haus gebracht worden war, zu Phinchen gesagt. Jetzt ließen Angst und Scheu vor dem Zurückgekehrten nicht einmal die Erinnerung daran, daß sie dies gesagt hatte, in ihr aufkommen.

Bereit, den Satz nicht zu Ende zu sprechen, sagte sie vorsichtig: „So tiefsinnige Gespräche sind vielleicht nichts für einen Rekonvaleszenten.“

„Die Tante hat ein Kind bekommen. Das päppelt sie“, spottete Jürgen, der in Gegenwart Elisabeths nicht als Kind behandelt und nicht bemitleidet sein wollte.

„Du hast viel gelitten, Jürgen.“

Sein Blick, in dem Zorn sich schon ankündigte, ließ die Tante sofort verstummen. Sie häkelte schweigend weiter an dem Sesselschoner und häkelte weiter an ihrem Plane. Ihr Bankier hatte sie lachend beruhigt über den Stand des Bankhauses Wagner; dieses Gerücht sei nur ein Börsenmanöver der Konkurrenz gewesen.

Zwar ist die Familie Wagner sehr jung, der Vater des Bankiers noch Häusermakler gewesen, dachte die Tante. ‚Die Geschichte der Familie Kolbenreiher dagegen kann bis in die Anfänge des fünfzehnten Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Aber mit der Zeit werden auch junge Familien alt.‘ Dabei horchte sie auf die Stimme Jürgens, der selbst das Gefühl hatte, selten so mühelos geistvoll gesprochen zu haben.

Von den Zehenspitzen bis zur Schädeldecke voller Ruhe, blickte sie Jürgen und Elisabeth nach, der kein Mensch ansehen konnte, daß noch ihr Großvater ein kleiner, schmieriger Häusermakler gewesen war.

„Und jetzt zeigen Sie mir Ihr Knabenzimmer.“

„Das liegt aber sehr versteckt, oben, unter dem Dach. Dort vermutet uns niemand.“

Sie gab ihm seinen Erobererblick zurück.

„Ich selbst habe es seit vier Jahren nicht mehr betreten“, sagte Jürgen und betrachtete die ovalen Photographien der Familie Kolbenreiher, die, zu einem großen Oval geordnet, über dem schmalen Kanapee hingen.

Vom Fenster aus sahen sie den Nußbaum und den Kaffeetisch, wo die Tante, ein winziger, schwarzer Punkt, häkelnd saß.

Wortlos blickte er Elisabeth an, schritt zur Tür, schloß ab.

Sie trug ein blaßblaues Seidenkleid, stand mit dem Rücken gegen das Fenster, die Hände auf das Sims gestützt. Der Herzschlag tickte unter der zarten, weißen Haut am Halse. Ihr Haar war blond, heller an den Stellen, die Luft und Sonne ausgesetzt blieben, und in den Tiefen gelblichgrün, gleich unreifem Getreide.

Einen kaum bemerkbaren rosa Schimmer im ganzen Gesicht und den blendend klaren Blick fest auf Jürgen gerichtet, sagte sie, selbstbewußt die Schulter leise zuckend, ihm wortlos, daß es nur geschah, weil auch sie es wolle.

Und als sie wieder am Fenster stand, Hände aufgestützt, genau wie vorher, und fragte: „Liebst du Katharina noch?“ dachte er: Daß sie das nicht vorher gefragt hat, ist großartig von ihr. „Unsinn! Katharina lebt sozusagen auf einem anderen Planeten ... Jetzt müssen wir aber hinuntergehen, sonst merkt die Tante, was los ist.“

„Und wenn auch!“ sagte mit aufrichtiger Geringschätzung dieser Möglichkeit Elisabeth: ein Wesen, das, ohne viel eigenes Bemühen lebensklug geworden, ein glatt funktionierendes Gehirn fertig mitbekommen zu haben schien, Fragen an das Leben, Zweifel, Gefühls- und Gewissenskonflikte nie gekannt hatte und, jenseits aller Selbstbelügung, sich und anderen offen eingestand, daß sie für nichts anderes Interesse habe als für sich selbst, ihr Leben und ihre Genüsse.

„Du bist großartig. Wer und was immer sich uns beiden in den Weg stellt, wir werden siegen.“ Sie gingen in gleicher Höhe auf der selben Fläche einander entgegen und standen, Körper an Körper, Mund auf Mund gepreßt,

während Katharina, zusammengerollt wie ein krankes Tier, in den Kleidern auf dem Bette lag. Der Fensterladen war geschlossen, das Zimmer nachtfinster. Nur ein schneidend dünner Sonnenstrahl lag auf dem Fußboden und auf dem Strahle der Schnauz. Ihr Gefühls-Ich, auseinandergerissen, offen, zuckte bei der leisesten Berührung, bei jedem Gedanken an Jürgen: wenn sie irgendeinen Gegenstand sah, der ihm gehörte, den Bleistift, den Schotterstein, ein paar unbrauchbare Schuhe, die wie immer in der Ecke standen.

Als gäbe der Instinkt ihr ein, daß sie nur dann nicht Schaden nehmen würde an ihrer Seele, wenn sie dem schweren Leid ganz rückhaltlos sich preisgebe, ließ sie niemand zu sich, keinen Trost; sie betäubte sich und ihren Schmerz nicht mit Leben, nicht mit Arbeit. Lag Tag und Nacht auf dem Bett, hineingewühlt in das Leid, kämpfend um die Genesung, um ihr Leben.

Jürgen war der erste, war der einzige Mensch gewesen, dem sie rückhaltlos vertraut und mit dem zusammen sie der Einsamkeit den Raum verstellt hatte.

Nach drei so durchkämpften Wochen strich Katharina, an dem Tage, da sie sich schwanger fühlte, zum ersten Male wieder über den Kopf des bettelnden Kameraden, der wegen der wochenlangen schlechten Behandlung sofort vorwurfsvoll zu bellen begann und, da Katharina ihn schon wieder nicht mehr beachtete, sich niederlegte, Schnauze auf den Vorderpfoten, in vergrollendem Vorwurfe.

Noch ein paar Wochen – der Fensterladen war wieder offen, sie hatte wieder begonnen, zu arbeiten – hoffte Katharina, Jürgen werde, nachdem er erkannt habe, daß die Siege, die in dem anderen Lager errungen werden konnten, entwürdigend und wertlos seien, zurückkehren zu der Pflicht, die sein Bewußtsein ihm zum Schicksal mache.

Mit den Monaten und den Tagen immer gleichen treuen Leidens und immer gleicher treuer Arbeit entstand in ihr der neue Anfang. Schon konnte es geschehen, daß Katharina ein Lächeln tiefempfundener Freude in den Augen trug, wenn sie in eine Arbeiterversammlung kam und die Sympathie ihrer grüßenden Genossen fühlte.

Schon als er noch bettlägerig gewesen war, hatte Jürgen, einig mit der Tante, daß dies das zunächst Allerwichtigste sei, sich auf das Doktorexamen vorbereitet.

Weihnachten war die kirchliche Trauung. Jürgen hatte der flehenden Tante endlich mit den Worten: „In des Teufels Namen!“ nachgegeben. Und Elisabeth hatte sich ihre Einwilligung zu einer kirchlichen Trauung von ihrem Vater abkaufen lassen durch ein Brillantgehänge.

Lorbeerbäume bildeten eine Gasse vom Hochzeitswagen bis zum Altar, vor dem die Brautleute knieten, in großem Halbkreise umgeben von den Verwandten und Bekannten beider Familien.

„Verdammte Komödie!“ flüsterte heiter der Kniende, und Elisabeth drückte zum Einverständnis Jürgens Arm und senkte das Haupt, das Lächeln zu verbergen. Das sah aus, als horche sie ergriffen den Worten des Geistlichen.

Während der Trauung sang ein Gemischter Chor mit Orgelbegleitung: „Himmel erhöre, erhöre das Flehen: Liebe laß walten im Heime der Gatten.“

Fast alle Damen und Herren, die damals auf dem Hügel Rotwein und Brathuhn genossen hatten, auch zwei Universitätsprofessoren, der junge Wissenschaftler, ein Chefredakteur und einige Künstler, mit denen Elisabeth Verkehr pflegte, saßen an der Festtafel, die, in Hufeisenform, die ganze Breite des Wagnerschen Gesellschaftssaales einnahm und mit zwölf, aus Treibhausveilchen nachgebildeten, riesigen Hufnägeln geschmückt war. Diese Idee stammte von Jürgens Schwiegermutter.

Die Neuvermählten saßen, mit dem Blick in das Halbrund hinein, genau in der Mitte des Hufeisens, so daß ihre Beine den mittleren Haken bildeten, mit dem das Pferd Funken aus dem Pflaster zu schlagen vermag.

Wurde am seitlichen Haken von Presse, Wissenschaft und Kunst ein Witz gemacht in bezug auf die Neuvermählten, dann langte er, zwinkernd weitergegeben, sehr schnell beim rechten Seitenhaken an, wo er in das Gespräch über das mögliche Fallen oder Steigen eines Börsenpapieres ein Loch riß, das sich nach zwei Sekunden wieder schloß.

„In bezug auf das Bankfach bleibt meine Weltanschauung: Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert“, wiederholte Jürgens Schwiegervater, der ohne erhobenen Zeigefinger nicht sprechen konnte.

Das Streichquartett spielte auf Wunsch von Jürgens Schwiegermutter zum zweitenmal die Träumerei von Schumann. Die servierenden Diener hatten weiße Handschuhe an. Das Hufeisen dampfte. Nur der reichste Mann, ein Hütten- und Walzwerkbesitzer, aß beinahe nichts; er war leberkrank, dottergelb, trank Brunnen und hatte noch kein Wort gesprochen. Seine knapp vor dem Sprunge in das volle Leben stehende, sehr begehrte schöne Tochter legte ihm die sorgfältig ausgewählten winzigen Bissen vor.

Den beiden gegenüber saß der unförmig dicke Papierfabrikant Hommes. Der sah beständig aus, als müsse er jeden Augenblick niesen, und hörte dabei aufmerksam einem Gummifabrikanten zu, welcher bewies, daß und warum infolge der schon nicht mehr schönen Preissteigerung des Rohmaterials ein glattes Geschäft überhaupt nicht mehr möglich sei. Man müsse sich winden, nichts als winden.

Herr Hommes griff langsam nach dem Westenknopf des Gummifabrikanten, als wolle er sich anklammern, um beim Niesen nicht vom Stuhle zu fallen, und sagte: „Wer etwas wirklich Großes erreichen will, der muß borniert sein.“

An der Börsianerecke stieg das Wort ‚Montanaktien‘ und konnte, wie die auf dem Springbrünnchen tanzende, silberne Kugel, nicht mehr fallen, bis der reiche Leberkranke den Wasserstrahl abdrehte: „Mit den Flitzautomobilaktien könnte in nächster Zeit eine schnittige Veränderung eintreten.“

„Schnittig“, murmelte Jürgen. Um ihn herum ging etwas vor, das das Leben zu sein schien. „Das Ganze ist unerträglich ekelhaft. Wir machen das nicht länger mit“, flüsterte er. „Ich mache das nicht bis zum Schluß mit.“

Der Ausspruch des reichen Leberkranken wurde an der Börsianerecke auf Hintergründe und Fallen untersucht. „Wer andern eine Grube gräbt“, vernahm Jürgen. „Natürlich, erst wägen, dann wagen, das ist klar.“

„No, was sag ich!“ rief der Schwiegervater. „Eine Hand wäscht die andere. So stehts eben auch mit diesem Papier.“

Schweinezucht, das wolle er Jürgen gestehen, sei das einzige, aber auch das einzige, mit dem noch verdient werden könne, versicherte ein Landwirt, der wegen seines jugendlichen Aussehens Mühe hatte, respektabel zu erscheinen. Es ginge ja auch alles so weit ganz gut. Nicht umsonst habe er die Landwirtschaftshochschule durchgemacht. Er bringe System in die Sache. „Aber, sehen Sie, es fehlt einem doch etwas. Ich weiß selbst nicht recht, was. Man ist unbefriedigt. Die Seele, wissen Sie, die Seele, möchte ich sagen, kommt zu kurz.“

Der Gummifabrikant versuchte vergebens, den Leberkranken über die Flitzautomobilaktien auszuholen. Auch an der Börsianerecke wurde noch gedeutet und geforscht und behauptet, doppelt genäht halte besser.

„No, was sag ich!“

„Das Volk will keine Freiheit; das Volk will Brot. Fressen und Saufen will das Volk, glauben Sie mir“, sagte Herr Hommes, hinein in Jürgens wutbleiches Gesicht.

Der gab keine Antwort. ‚Dieser Fettwanst, dessen Leben in Fressen, Saufen und Huren besteht, könnte, auch wenn er seine Meinung revidieren müßte, ja doch keinerlei Konsequenzen ziehen.‘

Herr Hommes hielt sich an der Tischplatte fest, warf, geöffneten Mundes, den Kopf in den Nacken, stieß ihn nach vorn, nieste aber nicht, sondern sagte: „Sie, ah, Sie werden sehr bald meiner Ansicht sein.“

Jürgen umklammerte das Handgelenk Elisabeths, den Wutausbruch zu unterdrücken, während ihr ganzer Körper vor unterdrücktem Lachen zuckte. Und dann, hilfsbereit: „Wenn du willst, verschwinden wir jetzt unauffällig.“

Da erhob sich Herr Wagner. Er begann seine Rede mit einer Verbeugung zu dem Platze hin, wo die Tante, die plötzlich wieder krank geworden und schon lang nachhause gefahren war, anfangs gesessen hatte.

Er sei sich der hohen Ehre wohl bewußt, die darin liege, daß seine Tochter dem letzten Sproß der alteingesessenen Patrizierfamilie Kolbenreiher angetraut worden sei, sozusagen eingeheiratet habe in die Familie Kolbenreiher, die schon einmal im fünfzehnten Jahrhundert der Stadt einen Bürgermeister geschenkt habe. Seine Familie hingegen sei noch jung, aber zukunftsreich. Wie ein junges, gutes Papier!

„Jung und alt verbindet sich miteinander.“ Dabei käme das Richtige heraus, was unser Vaterland nötig habe. „Solidität, in Verbindung mit jungfrischem Wagemut ... Die Fusion ist vollzogen.“ Der Erfolg werde nicht ausbleiben.

„Und die Ehe? ... Es ist mit der Ehe wie mit der Spekulation an der Börse. Licht und Schatten! Sonne und Wolken! Die Aktien steigen und fallen. Das ist nun einmal so. Es kommt eben darauf an“, rief mit starker Stimme Herr Wagner, der schon etwas zu viel getrunken hatte, „in treuer Liebe auszuharren, auch wenn einmal eine Baisse den Ehehimmel bewölkt ... Es kommt auch wieder eine Hausse.“ Ja, es sei sogar besonders wichtig, gerade aus der Baisse Gewinn und Lehren zu ziehen.

Er hatte sich so in den Vergleich verfilzt, daß auch das Schlußhoch auf die Neuvermählten zur Hälfte der Börsenspekulation galt. Alle standen.

Jürgens Gesicht war leinenweiß. Lieber ein gebrochenes Rückgrat, als ein gebogenes, dachte er, entschlossen, nicht zu antworten auf die Rede seines Schwiegervaters. Und da er sich als erster setzte, Elisabeth mit hartem Griffe neben sich zog, setzten sich auch die andern. Die Diener reichten schwarzen Kaffee, Likör und lange Zigarren.

Plötzlich gab Jürgen, ohne zu wissen wem, vielen Menschen die Hand. „Leben Sie wohl.“ Sein Körper bewegte sich automatisch von einem zum andern, endlich auch auf Elisabeth zu. Er reichte ihr die Hand: „Leben Sie wohl.“

Alle brachen in Gelächter aus. Auch Elisabeth war verblüfft über ihren Mann, der in der Eile und Verwirrung es fertig brachte, seiner Frau vor der Hochzeitsreise Lebewohl zu sagen.

Noch einen Augenblick blieben die beiden unter dem Türrahmen stehen. Da näherte sich Jürgens Ohr ein rundes Gesicht mit rundgestutztem Bart, goldbebrillten, zwinkernden Augen und gespitztem Munde, der flüsterte: „Viel Vergnügen!“ Mit den Armen balancierend, schlich der Rundkopf auf den Fußspitzen zum Hufeisen zurück.

Sie reisten zuerst nach dem Süden, wo es im Winter Frühling ist.

Einige Tage später wurde Katharina von einem Knaben entbunden.

Nach zehn in Paris und Rom verbrachten Wochen kamen die Neuvermählten in die südliche Hafenstadt, die mit ihren Orangenbuden, Bazaren und Säulenkolonnaden, durchschwirrt von Matrosen, Chinesen, Negern, vornehmen Fremden, müden Auswanderern und dem Geschrei in zwanzig verschiedenen Sprachen, mit dem Salz- und Teergeruch, Sirenengebrüll und dem Mastgewirr der Ozeanriesen gelb in der Sonne lag, wie ein dem unendlichen Meere entstiegener, wahr gewordener Traum eines Knaben, der Eltern, Lehrern, allen Qualen der Jugend, allen Fesseln und Berufen entfliehen möchte, hinaus in die unbändige Herrlichkeit.

Sie fuhren in der Droschke, überdacht von einem rot- und weißgestreiften Riesensonnenschirm, hotelwärts, vorüber an einer langen, immer neu genährten Reihe Arbeiter und Arbeiterinnen, die aus der Tabakfabrik kamen. Blusen und Umschlagtücher waren farbig, die Gesichter schlaff und fahl.

Jürgen sah weg. Und konnte dennoch nicht verhindern, daß er, als sie schon im Zimmer waren, plötzlich dachte: Da besitzt irgendein Herr Hommes eine Fabrik.

„In sechsundfünfzig Stunden könnten wir in Afrika sein.“ Jürgen bekam keine Antwort. Elisabeth war auf der Ottomane eingeschlafen.

‚Durch dieses Wesen gehen Welt und Dasein in immer gleich unendlich breitem Strome durch, von ihr genossen in jeglicher Sekunde, ohne Vor- und Rückblick, ohne Rücksicht und Bedenken.‘

Elisabeth atmete tief und ruhig und war schön und jung und gesund. Die Sonne, gebrochen durch die herabgelassene Jalousie, zeichnete ein leuchtendes, gestreiftes Fell auf das Morgenkleid der Schlafenden. Es war warm. Fernher brüllte die Sirene. Die Mimosen dufteten.

‚Wie sie atmet! ... Gut, fahren wir nach Afrika! Nach New York! Nach Indien! Telegramme um Geld! Einstweilen überhaupt nicht zurückkehren! Komme, was kommt! Elisabeth würde zu allem Ja sagen, ohne Besinnen. Ein herrliches, wunderbares, einfach organisiertes Tier, das lebt, einfach lebt. Bedenkenlos, glatt und kühl wie ein Fisch. Durch und durch kühl!‘ „... Nur in der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht“, summte Jürgen. ‚Nur in der Nacht wird sie heiß. Da kennt sie keine Grenzen ... Sie ist ein vorgeschobener Posten der Lebenskraft.‘

„Es haben zwei ne ganze Nacht zusammen in einem Bett verbracht – was ham se wohl gemacht?“

Da sah Jürgen einen Herrn in der Vorhalle eines großen Pariser Hotels stehen. Der Herr stürzt auf Elisabeth zu, sitzt mit ihr, beständig schwebend in einer Wolke von Lebenslust, im Theater, in Restaurants, Boulevard-Cafés, Kabaretts. Tritt in Elisabeths Schlafzimmer.

Abneigung erfaßt plötzlich den im Sessel lehnenden Jürgen gegen den Jürgen, der durch Paris und Rom schwirrt, sich um nichts kümmert, als nur um sich und seine Genüsse, im Schlafanzug in das Schlafzimmer Elisabeths tritt, heiter in der Hafenstadt ankommt.

„Er betäubt sich ... Widerlich! ... Wo kommt der hin, was wird aus dem, wenn er so weiter macht ... Das bin nicht ich. Das ist ein ganz anderer“, flüsterte der im Sessel Sitzende. „Sonderbar. Sonderbar.“

Bewußt wechselte Jürgen die Blickrichtung, sah durchs Fenster auf das glitzernde Meer hinaus, um den andern nicht mehr zu sehen. ‚Auch er ein vorgeschobener Posten! Das ist die Natur, das Tier, die Lebenskraft, die den treibt, die ... mich treibt, sie, die um der Fortpflanzung, der Arterhaltung willen, die Geschlechter zueinander treibt und, ihr Ziel zu erreichen, bereit ist, uns Menschen zu ausnahmslos jeder Schufterei zu veranlassen.‘

Elisabeth bewegte sich: ihre Hand fand im Schlafe durch das Morgenkleid durch zu der sich entblößenden Brust.

‚Und sie hat Erfolg, die Lebenskraft. Denn sie zahlt als letzten Preis dieses einzigartige Gefühl. Zahlt es Tieren und Menschen, Frauen und Männern, Katzen und Katern, Elisabeth und mir. Mögen die andern, die vielen, verrecken, sie kümmert sich um nichts. Der Mensch ist noch nicht da. Sie kann nicht warten, bis der Mensch da ist. Das ist die ganze Erklärung. Eine naturwissenschaftlich einwandfreie Erklärung!‘

Die Hotelglocke rief zum Mittagessen. Auf den Zehenspitzen schlich er über den Teppich, berührte sanft Elisabeths Schulter. Sie erwachte ohne jeden Schreck, schlug die Augen auf, so einfach, so klar. ‚Sie hat gar keine Untiefen in sich. Sie ist so, wie sie ist. Im Schlafen, wie im Erwachen und im Wachen.‘

Aber das ist noch viel sonderbarer. Wie seltsam! Das ist unheimlich, dachte der an der Tafel sitzende Jürgen, weil er jetzt auch den an der Tafel sitzenden, sich unterhaltenden, lachenden Jürgen beobachtete, scharf und genau beobachtete.

‚Wir sind also zwei. Ich sehe mir zu. Mir selbst! ... Aber das bin ja gar nicht ich. Ich sehe ja ... ihm zu. Bin ich, der zusieht, ich? Oder ist er ich?‘

„Gut, machen wir!“ Elisabeth hatte gewünscht, am Abend auf die Höhe zu steigen und zuzusehen, wie die Sonne ins Meer sinkt.

‚Auf die Dauer natürlich halte ich das nicht aus. Wir müssen uns vereinigen, eins werden. Wenn wir uns nicht einigen können, dann muß einer weichen: der andere oder ich.‘

‚Du standest schon am Anfang deines Ich.‘

Wer hat das gedacht? dachte erschauernd Jürgen und goß dabei Wein ins Glas. „Dir auch?“ ‚Das habe eben nicht ich gedacht. Hat das der andere gedacht? Oder ein Dritter?‘

Er fror im Rückenmark. Gierig leerte er pausenlos hintereinander zwei Glas Wein.

‚Ich befinde mich offenbar in einem Übergangsstadium. In einem Entwicklungsstadium. Ich entwickle mich. Das soll in meinem Alter noch vorkommen. Ich muß trachten, in ein erträgliches Verhältnis zu mir zu kommen. Denn ich muß ja leben mit mir.‘ Auch die Stirn hatte sich gerötet.

Nach Sonnenuntergang saßen sie auf der Terrasse des Hafenrestaurants. Zwei Männer schleppten einen wassertriefenden Bastkorb voll Austern zwischen den Tischen durch in die Küche. Straßenhändler boten den Gästen Kämme, Stickereien, Elfenbeinschnitzereien an. Der Himmel, die Luft, das Meer, das Leben des Hafens und der Straße fluteten durch das vornehme Restaurant durch. Alle Grenzen waren verwischt. Musik spielte. An der Hausmauer gegenüber wechselten die kinematographischen Bilder, genossen von der dicken Menschenmenge.

Sie aßen Austern. Die kosteten nicht viel mehr als Brot. Tranken eine Flasche Champagner dazu. Ein kleines, dickes Mädchen, achtjährig, Kastagnetten in den Händchen, schmale Papierschleifen – blau, rot, grün – im Haar und auf dem Röckchen, das die nackten, dicken Schenkelchen freiließ, trat an den Tisch und begann zu tanzen, sang ein Bordellied dazu, hob das Röckchen hinten hob das Röckchen vorne, spreizte im Tanztakt die Beinchen auseinander, mit obszöner Gebärde.

Ein nach dieser Seite vorgeschobener Posten der Lebenskraft, dachte Jürgen. ‚Ihr sind alle Mittel recht, wenn sie nur zum Ziele führen.‘ Er fühlte in den Gelenken eine Lähmung, die nicht unangenehm war. Elisabeth strich zärtlich über den Kopf der Kleinen.

Eine Stunde später saß sie, den Rücken Jürgen zugekehrt, schon entkleidet vor ihren Kämmen und Bürsten. Das offene Haar leuchtete gelb. Durch den Spiegel nickte sie Jürgen zu, gab ihrer Schulter einen Kuß, der ihm galt.

‚Ich habe eine schöne Frau.‘ Er streckte sich. ‚In das Leben soll man Grübeleien über Entwicklung und Dasein nicht hineintragen. Das Leben entwickelt sich ganz von selbst.‘

Der Hafen schlief. Das Meer sang gleichtönig, ruhevoll und groß. Die Mimosen dufteten stärker in die warme Nacht. Wie in allen Nächten sang auch in dieser Nacht in der Ferne ein Mädchen.

Eine Fabrikstraße, nebelgrau und doch trostlos deutlich. Gestalten, einzeln, in Gruppen, in endlosen Reihen, schritten im Morgengrauen in unabänderlich vorbestimmter Richtung auf das riesenhafte, graue Fabriktor zu. Immer neue Millionen marschierten heran, grau, gespenstisch-lautlos, und verschwanden im Fabriktor der Welt.

‚Und du standest schon am Anfang deines Ich.‘

Elisabeth wandte sich um nach Jürgen, der schwer atmete. Seine Gesichtshaut zuckte und war gespannt, als habe sie, wie eine Ballonhülle, einen ungeheuren Atmosphärendruck auszuhalten. Ein Mensch schlief.

Elisabeth berührte den Stöhnenden. Wie ein vom Tode Erweckter richtete er sich auf. Eine ewige Sekunde lang war letzte Bereitschaft in seinem Antlitz.

„Dein Gesicht sah gar nicht aus wie ein Gesicht. Sah aus wie ein Gefängnis, wie eine Faust.“ Sie schlüpfte zu ihm unter die Decke. „Was träumtest du?“

„Weiß nicht. Weiß nicht.“ Er wußte es nicht. „Wie du duftest!“ Er riß, aus der Tiefe seines Wesens zurückgekehrt, wild das Leben an sich.

Erst viele Monate nach der Rückkehr – in seinen Tagen tat sich schon die leere, tote Einsamkeit auf, die weder durch Genüsse, noch durch Arbeit zu überwinden war – wurde Jürgen in einer großen Gesellschaft an Katharina erinnert. Adolf Sinsheimer zog ihn in eine Nische. „Warst du wieder einmal da? ... Nun, in dem orientalischen Salon! Ich sage dir, da sind jetzt vier Mädchen! Die sind mit 99½ Salben gerieben. Die eine sieht übrigens Katharina Lenz verblüffend ähnlich. Also verblüffend! ... Sie hat ein Kind bekommen.“

„Wer hat ein Kind bekommen?“

„Katharina. Einen Sohn! Die Familie tut, als ob sie das gar nichts anginge. Frau Geheimrat Lenz soll vor Gram gestorben sein ... Wann gehen wir in den Salon?“

Eine endlos lange Sekunde hatte Jürgen das Empfinden, in seinem Kopfe kreise mit vertausendfachter Schnelligkeit Schläfen-sprengend ein kalter Blitz. Das ganze neue Leben lag in Scherben. Jürgen stieg heraus aus den Trümmern, die Freitreppe hinunter, schritt, gestoßen von etwas, das in gleichem Schritt und Tritt hinter ihm her ging, durch die Stadt.

Die Straßen wurden enger, dunkler, die Häuser kleiner. Unbebaute Stellen. Der verfaulende Bretterzaun. Das kleine Fenster hing nah der Erde rot leuchtend in der Finsternis.

Die Nacht war warm, das Fenster geöffnet. Er hörte Stimmen, mehrere Männerstimmen, eine Antwort Katharinas, sah, wie sie, in der Hand einen weißen Teller, vom Gaskocher zum Waschkorb ging, in dem der Sohn lag.

Jürgen glaubte den Agitator zu erkennen, der, die Hand vorgestreckt, etwas zu dem Metallarbeiter sagte. Vernahm Katharinas Lachen. Das klang so geheimnisvoll mild in die Sommernacht.

Die Schreibmaschine begann zu klappern. Der Agitator diktierte.

‚Das ist eine Welt für sich ... Welch ungeheuere innere Veränderung in mir wäre nötig, einzutreten ... Die Haustür ist nur angelehnt.‘

Drei Arbeiter traten aus der Tür. Jürgen war verschwunden.

Erst nach Tagen gelang es ihm, sich zu beruhigen mit dem Gedanken, daß es Katharina vielleicht besser gehe als ihm. ‚Sie hat nicht diese Scherereien wie ich. Muß sich nicht mit diesem Gesindel herumbalgen. Sie hat ihre Genossen. Sie lebt ihrer Idee.‘ In dieser Zeit faßte er den Plan, ein großes Werk zu schreiben, betitelt: ‚Volkswirtschaft und Einzelseele‘.

Jürgen hatte den ganzen Vormittag in dem gut durchwärmten Direktionsbureau gearbeitet. Als er hinaustrat in den schneidend kalten, schneidend hellen Wintertag, tränten seine Augen, so daß er einen Laternenpfahl und den Oberkörper und den Kopf eines Spaziergängers doppelt und dreifach sah.

In dieser Sekunde hatte Jürgen das erstemal den Gedanken, daß nicht nur er selbst sondern jeder Mensch aus mehreren, innerlich tatsächlich vorhandenen Menschen bestehe, die, wie der mit tränenden Augen gesehene verdreifachte Spaziergänger, hintereinander und ineinander geschalt, in den Menschen steckten, dachten, wahrnahmen, fühlten und gegeneinander kämpften.

Während er der Trambahnhaltestelle zuschritt, sah er auf die zwanzig Monate seines neuen Lebens und seiner neuen Tätigkeit zurück. War von Jürgen, dem Teilhaber des Bankhauses Wagner und Kolbenreiher, in Erfüllung seiner Pflicht und Aufgabe, die Interessen des Hauses und der Kunden zu schützen, die Weisung erteilt worden, an der Börse Papiere zu kaufen oder zu verkaufen, dann hatte ein anderer Jürgen klaren Bewußtseins gesagt: Es bleibt eine in alle Ewigkeit unverrückbare Tatsache, daß dieser Gewinn ein Teil des Mehrwertes ist, abgepreßt dem Proletariat, zugunsten des Rentiers Hummel und des Bankhauses Wagner und Kolbenreiher.

‚Also auch zu meinen Gunsten. Ich also lebe von dem Mehrwert, bereichere mich an dem Mehrwert, den andere hervorbringen. Und ich bin mir dessen voll bewußt.‘

‚Nicht du bist dir dessen bewußt, sondern ich.‘

‚Wer ich? Wer ist sich dessen bewußt?‘

‚Ich! Ich bin schon nicht mehr du.‘

Es hatte sich anfangs sehr oft ereignet, daß der bewußte Jürgen ganz über den Teilhaber-Jürgen vorgetreten war, ihn hinter sich gedrückt, die Schreibfeder auf das Tintenfaß zurückgelegt und glatt herausgesagt hatte: „Aber das ist ja Raub, lieber Schwiegervater. Ich mache das nicht mit, Herr Hummel.“

‚Und jetzt machte der leberkranke Hütten- und Walzwerkbesitzer das Geschäft.‘ Auf diesen Worten schiebt der Teilhaber sich wieder in den Vordergrund, stemmt die Faust auf den Schreibtisch, gibt seine Direktiven und denkt: Das Leben ist Kampf. Wer die Waffen fallen läßt, über den geht es hinweg. So ist das Leben. Und dem Proletariat, das sowieso der Leidtragende ist, kann es gleichgültig sein, wer den Gewinn hat.

‚Aber dir kann es nicht gleichgültig sein.‘

‚Es ist sogar immer noch besser, ich habe den Vorteil als der Leberkranke, der nicht einmal weiß, was er tut, keine Ahnung davon hat, daß er sich bereichert an dem Schweiße und an dem Blute der Arbeitenden.‘

‚Was der Hüttenbesitzer tut, ist kein Freibrief für dich. Außerdem wäre es auf jeden Fall für dich, für dein Selbst, für dein Menschentum immer noch besser, der andere, der gar nicht weiß, daß er ein Schuft ist, zöge den Gewinn, als du, der du auf diese Weise rettungslos erst zum bewußten Schuft und schließlich auch zu einem ahnungslosen, selbstgerechten Schuft werden, endlich nur noch Teilhaber, nichts anderes mehr als ein Teilhaber sein würdest.‘

Das soll mir nicht passieren. Aber es könnte allerdings passieren, dachte Jürgen. Und ich müßte auch dies auf mich nehmen. Das Leben ist hart.

Und plötzlich vernahm er deutlich den Satz: „Die Massen, eingespannt in das graue Joch, müssen noch die Lerche hassen, die emporsteigt ins Blau ... Und dich kümmert es nicht. Das ist es, verstehst du, daß es dich nicht kümmert.“

„Hinter dem steckt etwas“, wurde in bezug auf Jürgen gesagt, wenn er, in knappsitzendem Frack, beherrschte Kraft in Schultern und Gliedern, beherrschten Geist in Wort und Blick, in großer Gesellschaft war, aller Augen auf sich ziehend, genau so, wie er sich damals in den grünen Bretterzaun hineingesehen hatte.

Nachdem er im Parteiblatt gelesen hatte, daß nur durch freiwillige Gaben die Zeitung noch gehalten werden könne, spendete er eine große Summe und bekam einen Dankbrief von der Bezirksleitung.

Den Dankbrief in der Hand, wendet er sich um zu seinem Bewußtsein, das keine Antwort gab. Es war in dieser Zeit schon etwas getrübt gewesen.

‚Ich werde der Arbeiterbewegung auf andere Weise als früher nützen. Zweifellos kann ich, mit meinem Einfluß und meinen Verbindungen, der Bewegung weitaus mehr nützen, als es der Student konnte, der nichts hatte, nichts war und nichts bedeutete.‘ Und er legte den Dankbrief in die Schublade.

Der Schwiegervater war eingetreten. Erhobenen Zeigefingers. „Sowohl der Rentier Hummel als auch wir haben einen großen Verlust erlitten. Dabei lag dieses Geschäft doch vollkommen klar. Und wir hatten unsere Informationen früher als die andern.“

„Mir war dieses Geschäft zu unsauber.“

„Die Bank besteht seit fünfunddreißig Jahren. Von Unsauberkeit keine Spur!“

Der Teilhaber lehnte sich zurück in den Sessel und ließ ganz bewußt das Bewußtsein vortreten. Das war schon trüb wie eine Wasserfläche, auf der ölige Flüssigkeit irisiert, rückt über den Teilhaber vor und spricht von Recht, Moral und Gerechtigkeit. „Das Geschäft war mir zu unmoralisch. Viele kleine Leute würden durch unsere Schuld ihr Geld verloren haben. Ich stehe auf dem Boden der Gerechtigkeit.“

Erst nach einigen Sekunden konnte der staunende Herr Wagner den Zeigefinger heben: „Der gute Ruf unseres Hauses wurzelt in der Gerechtigkeit. Aber sichere Geschäfte einfach nicht zu machen, geht nicht an. Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert. Du kennst meine Weltanschauung. Wir haben eine beträchtliche Summe und obendrein Herrn Hummel, der seit zwanzig Jahren mit uns arbeitet, als Kunden verloren, weil du diese scheinbar entwerteten Papiere nicht gekauft hast. Die ‚Leber‘ natürlich hat sie sofort und samt und sonders aufgekauft. Der lacht.“

„Das allerdings stimmt“, sagte der Teilhaber, „daß die kleinen Leute nun trotzdem um ihr Geld gekommen sind.“

„No, was sag ich!“

Es war aber auch schon vorgekommen, daß Herr Wagner erhobenen Zeigefingers zu seiner Frau hatte sagen können: „Der Schwiegersohn hat eine Nase, eine Nase ... Wir Alten können uns zur Ruhe setzen. Kein Mensch hätte aus der Presse und aus den Reden im Reichstag herauszulesen vermocht, daß an ein Gesetz über neue Schutzzölle auch nur gedacht werde. Hast du etwas von einem Gesetz gelesen, von Schutzzoll? Nicht die leiseste Andeutung. Aber er, der Junge, dieser Junge, mit seiner Vergangenheit und seinem Interesse für Politik, seinen Beziehungen zur Arbeiterbewegung, die unsereins überhaupt nicht beachtet, hat zugegriffen zu einem Zeitpunkt, als die geriebensten Füchse sich noch in Baisse festlegten ... No, was sag ich.“

Am ersten Mai des vergangenen Jahres war Jürgen im Auto in den Demonstrationszug hineingeraten und steckengeblieben, beschossen von Blicken noch gefesselten Hohnes und Hasses.

‚In der Straßenbahn kann ich mich ebenso mit meinen Gedanken beschäftigen. Brauche nicht im Wagen zu fahren.‘

Das schon weit nach rückwärts gedrückte Bewußtsein fand die Sekunde Zeit, zu sagen: Das ist es ja nicht. Das ist es ja nicht.

Eine Grenze nach oben muß eingehalten werden, dachte er, stieg aus, ging die zweihundert Schritte bis zur Villa. Und teilte der Tante, während er die eingelaufene Post durchsah, nebenbei mit, daß in den zwei Jahren, seitdem er ihr Bankier sei, ihr gesamtes Vermögen sich schon fast verdoppelt habe.

‚Da irrt er sich. Das gesamte nicht.‘ Sie hatte ihm nur die schwer zu verheimlichenden Papiere anvertraut und den größeren Teil ihrer Aktien bei ihrem alten Bankier gelassen. „Du hast dein Erbe verdoppelt“, sagte die gelb, zerfallen und schweratmend im Lehnsessel Versunkene.

Und er erlebte wieder, wie immer, wenn die Tante das Wort ‚erben‘ aussprach, in Gedanken diese merkwürdige Viertelstunde in dem roten Plüschsalon der Konditorei, sah deutlich die drei erregt durcheinander sprechenden Damen, den kleinen Hut der Jungen, der nur aus Veilchen bestanden hatte.

„Glaubt, sie sterbe, beichtet nach heftigem Widerstreben endlich doch dem Geistlichen, daß sie als zwanzigjähriges Mädchen einen einzigen Fehltritt ...“

„Wer kann das heute noch kontrollieren, ob es der einzige war.“

„... begangen und heimlich einen Sohn geboren hat. Fragt auch ihren Rechtsanwalt, ob das Kind Erbanspruch habe.“

„Wie das Geheimnis dann unter die Leute gekommen ist ...“

„Die Pflegerin im Nebenzimmer soll die Beichte mitangehört haben.“

„... weiß man nicht genau. Die Menschen können ja kein Geheimnis für sich behalten.“

„Sonst würde man diese Geschichte vielleicht überhaupt nie erfahren haben, wenn die Pflegerin ...“

„Ganz genau kenne ich die Einzelheiten auch heute noch nicht“, hatte die Junge gesagt.

„Denken Sie an, siebzig Jahre ist sie jetzt. Und nie hat ein Mensch auch nur den leisesten Verdacht gehabt, müssen Sie wissen. Das Kind wird ins Ausland in heimliche Pflege gegeben, müssen Sie wissen ...“

„Eines Tages entläuft das Kind, geht durch.“

„Wahrscheinlich, weil es schlecht behandelt wurde, Sie verstehen.“

„Die Pflegemutter stirbt.“

„Auf diese Weise hat man ... Ist verschollen ... nie etwas ... Kein Lebenszeichen mehr! ... von dem Fehltritt erfahren ... Als ob sie Jungfrau wäre! ... Ja, was sagen Sie dazu ... Wo mag das arme Kind jetzt sein.“

Ein fünfzigjähriger Mann torkelt betrunken, verdreckt, heruntergekommen auf einer amerikanischen Landstraße, wirft die Arme, schimpft auf die Welt. Wird erstochen. Erleidet als Matrose Schiffbruch, ertrinkt. Krepiert im Berliner Obdachlosenheim. Schuftet nach dem Taylorsystem in Chicago. Ist Gelegenheitsarbeiter im Newyorker Hafen. Magistratsschreiber in einer kleinen deutschen Stadt. Während diesen drei Damen das Kind gegenwärtig ist wie ein Schweißausbruch, hatte Jürgen heiter gedacht.

„Das arme Kind muß doch ... Diese Schande für die bisher so hochgeachtete ... gefunden werden ... alteingesessene Familie Kolbenreiher.“

Und war, getroffen von diesem unverhofften Stoß, beinahe vom Stuhl gefallen.

Nie in ihrem ganzen Dasein hatte die Tante, die nach der Beichte völlig unerwarteterweise wieder gesund geworden war, etwas so tief und schmerzlich bereut wie diese Beichte. Nicht einmal das Jugenderlebnis selbst. Nie in seinem Leben war Jürgen vor einem Menschen gestanden, der so bis in die tiefsten Tiefen erschüttert, so fassungslos gelacht hätte wie Elisabeth. Und nie in seinem Leben hätte Jürgen es für möglich gehalten, dieses Gefühl der Rührung und Sympathie für die Tante empfinden zu können.

Auch sie wollte leben. Und wurde nur ein einziges Mal vom Leben gestreift, dachte er auch jetzt, wie er die Tante ansah, die einer uralten, zähen, endlich zerfallenden Eichbaumwurzel glich. ‚Wie hat sie mich gepeinigt! Wie ganz und gar ist das Geschöpf, ist der Mensch, der sich damals von dem Geliebten umfangen ließ, versunken und ertrunken. Welch Dasein!‘

Seit dem Schlage, den sie selbst der Familienehre zugefügt hatte, war die Kraft der Tante gebrochen gewesen. Ihre zwölf Fragezeichen waren weiß geworden. „Bald erbst du alles“, sagte sie, flackernden Blickes, richtete den gelben Totenschädel auf.

Und Jürgen dachte: Wenn nicht das Kind eines Tages doch noch erscheint und sagt: Da bin ich. Der Erbe bin ich.

Er stieg in den Lift, der eingebaut, fuhr in den zweiten Stock hinauf, der aufgesetzt worden war, und dachte dabei an sein Kind.

Immer, wenn er an den Sohn der Tante erinnert wurde – und dies geschah häufig, denn Elisabeth brach auch jetzt noch oft in Lachen unvermittelt aus –, dachte er an den Sohn Katharinas, der Geld zu schicken er nicht wagte.

‚Zu dem Sohn der Tante, der wahrscheinlich gar nicht mehr lebt, und, lebte er noch, nicht die leiseste Ahnung hätte, wessen Sohn er ist, eine Verbindung herzustellen, wäre leichter als zu meinem Sohne, der eine Gehstunde von hier entfernt im Waschkorb liegt ... Oder kann er schon laufen? ... Sie lebt ja tatsächlich auf einem anderen Planeten.‘ „Merkwürdiges Mädchen“, murmelte Jürgen und trat, da er Elisabeths helle Stimme vernahm, in den Salon, dessen Tapete farbig schmetterte.

Zwischen ornamental geschwungenen, riesigen Schwertlilien und Wasserrosen – blau, rot, violett – und giftgrünem Schilf auf Goldgrund, der den See darstellte, versuchte alle Quadratmeter der selbe Faun die selbe Nymphe zu fangen und konnte sie nie erwischen. Dreiunddreißig Nymphen hatte Jürgen gezählt.

Der Salon erinnerte ihn an den der Frau Knopffabrikant Sinsheimer, wo ihn die Furcht vor der Leiche des Vaters angesprungen hatte. Denn außer den reichgeschnitzten schwarzen, unverrückbar schweren Eichenholzmöbeln – zum Platzen dicke schwarzgebeizte Putten schleppten, himmlisch lachend, ohne jede Anstrengung riesige Füllhörner von links nach rechts, oben um die Prachtstücke herum, und die in der Mitte obenauf sitzenden Putten spielten dazu die Flöte – standen und lagen auch hier viele singende, musizierende, miauende, tanzende Hochzeitsgeschenke und Gebrauchsgegenstände, die nicht benutzbar waren, darunter ein Riesenkäfig, in dem ein ausgestopfter Papagei saß, der alles hatte, was er zum Leben brauchte: Wassernapf, Futternapf, gefüllt mit Wicken aus Holz, und – beladen mit nagelneuen Birnen, Trauben, Äpfeln und Pfirsichen aus farbigem Tuch – die zwei silbernen Tafelaufsätze in Eiffelturmform, von Frau Sinsheimer als Hochzeitsgeschenk geschickt, genau so gut erhalten, wie sie sich bei ihrem eigenen Hochzeitstag eingestellt hatten. Zwei große künstliche Palmen, auf Ständern mit gelben Storchenbeinen, verdunkelten das Fenster.

„Ich wiederhole: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“, erklärte gekränkt Frau Wagner, die, während die Neuvermählten auf der Hochzeitsreise gewesen und die Tante, wegen der unaufhaltsamen Verbreitung des Klatsches sterbenskrank geworden, im Bett gelegen war, ganz allein das Einrichten der Wohnung besorgt hatte.

„In dieser Wohnung gibt es vielerlei Tiere und eine große Anzahl Fabelwesen, aber keinen Gaul“, versicherte launisch Elisabeth und sah umher: Vom nie benutzten Kohlenkasten, schwarz lackiert, auf dem die heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten gemalt war, bis zu dem zwei Meter hohen seidenen Wandschirm, auf dem ein gestickter, lebensgroßer Storch das Wickelkissen mit den drei Säuglingsköpfen aus dem Teiche zog, schwang der Elefant den Rüssel feierlich-langsam hin und her. Das Ziffernblatt in seiner Stirn stellte Afrika dar. Diese Uhr hatte Frau Wagner, nachdem sie bei Frau Sinsheimer zu Besuch gewesen war, telegraphisch in der Fabrik bestellt.

Arm in Arm verließ das Ehepaar den Salon. Und das Bewußtsein, das hinter Jürgen herschritt, in gleichem Schritt und Tritt, sah Katharina, die, in der Hand einen weißen Teller voll Brei, vom Gaskocher zum Waschkorb ging, in dem der Sohn lag.

Katharina befand sich in weiter Ferne, aber überaus deutlich sichtbar; nicht so verblaßt wie damals, als Jürgen gesundend im Liegestuhl gelegen hatte. „Das wechselt.“

„Was wechselt?“ fragte Elisabeth.

„Die Stimmungen wechseln. Einmal ist man ernst, dann wieder heiter. Ein andermal, ich möchte sagen: in gespaltener Stimmung.“

„Das Leben würde ja auch zu langweilig sein, wäre dies anders.“

Frau Wagner durchblätterte noch das in gepreßtes Schweinsleder gebundene und mit einem winzigen goldenen Hängeschlößchen versehene Album, das die repräsentablen Ahnen der Familie Wagner enthielt. Herren ließen den Schnurrbart, Bräute das Hochzeitskleid bewundern. Die Photographieaugen blickten. Wünsche waren erfüllt. Männer standen aufrecht im Leben, die Faust auf der Kante des zerbrechlich zarten Tischchens. Damen, die Frisuren schulterwärts geneigt, Augen halb geschlossen, zeigten, daß sie ohne Ideale nicht leben konnten. Kinder standen noch im Kampf mit der Natürlichkeit.

Frau Wagner schloß das Album: Das zerhackte Gesicht eines degenüberquerten Studenten in Wichs kam auf das Gesicht einer alten Frau im Totenbett zu liegen. ‚So viel Geld und so viel Mühe, und jetzt sind sie nicht zufrieden mit der Einrichtung.‘ Frau Wagner sah umher, den Kopf aufgestützt.

Eine halbe Stunde später, als Jürgen vorbeiging, sah er Frau Wagner noch immer sitzen im Salon, den Kopf gestützt wie vorher, reglos und traurig. Der kostbare Reiherhut hatte sich etwas verschoben.

‚Das würde ein zu schwerer Schlag für sie sein. Wir werden uns eben an die tausend Zentner schwere Einrichtung und an die Menagerie gewöhnen müssen; haben uns ja schon daran gewöhnt. Das ist ja auch unwichtig. Das Leben stellt andere Aufgaben.‘

Ganz andere Aufgaben! dachte er. Und fand sie nicht. Fand nichts, das wert gewesen wäre, sich dafür einzusetzen. Auch heute hatte die tote Einsamkeit, die um und in ihm stand und das ganze Haus durchdrang, ihn eine Stunde früher als nötig fortgetrieben.

Die Tante war ins Bett gebracht worden. Sinnend blickte sie in die Richtung der Mutter Gottes; die gelben, dünnknochigen Finger hielten die geöffnete Schatulle, in der sie das Verzeichnis ihrer Wertpapiere aufhob.

Jürgen liebte es, in die Schreinerwerkstatt neben der Haltestelle einzutreten und, plaudernd mit dem alten Meister, den Gesellen bei der Arbeit zuzusehen, bis der Trambahnwagen kam. Eine Schreinerwerkstätte, die Hobelspäne, der Holz- und Leimgeruch waren für Jürgen der riechbare und sichtbare Ausdruck eines einfachen, lebenswarmen Daseins, wie er es, seitdem er Teilhaber war, für sich gewünscht hätte.

„Ihre Mutter war noch gar nicht auf der Welt und von Ihnen selbst, mein Gott, keine Spur, damals, als mein Vater die Möbel für Ihre Großeltern gemacht hat. Ich war seinerzeit Lehrjunge, und Ihre Tante war so ein huschiges Springerchen von zehn Jahren.“

„Wie war denn meine Tante als Kind?“ fragte Jürgen, plötzlich wieder von Sympathie ergriffen.

„Da, sehen Sie ihn an: der Sägbock war ihr Reitpferd. Auf dem selbigen Sägbock ist sie geritten jeden Tag. Und so manches Mal war sie einfach verschwunden. Nicht zu finden! Da haben wir sie gar oft aus den Hobelspänen rausgezogen. Hat sich hineinvergraben, ganz und gar zugedeckt und ist dann plötzlich wie ein kleiner Teufel rausgefahren. Wollt nie nachhaus. Hat gestrampft und geheult ... Wild war sie. Ein Wildes Kind! Schwer zu erziehen.“

„Was Sie sagen!“

„Das Leben hat nachher das seine getan ... Da kommt Ihr Wagen.“

Jürgen zeigte die Abonnementkarte dem Schaffner, der lächelnd abwinkte: „Gilt schon! Wir kennen ja einander.“

‚Nie hätte ich das gedacht. Ich hätte das überhaupt nicht für möglich gehalten.‘

„Mir wenigstens brauchen Sie die Abonnementskarte nicht mehr zu zeigen. Jetzt fahren Sie seit zwei Jahren täglich viermal.“

‚Wenn ein wildes, unbändiges, eigenwilliges Kind so werden kann, wie die Tante geworden ist, vom Leben so ruiniert werden konnte, da kann man von Verantwortung des einzelnen ja überhaupt nicht mehr reden. Die Verhältnisse sind schuld. Sicher auch bei Katharinas schöner Jugendfreundin mit dem leidensfähigen, milden Herzen, daß sie so lala eine Gesellschaftsdame und die Frau des Oberstaatsanwaltes wurde ... Oder doch nicht die Verhältnisse? ... Wer könnte entscheiden, ob ein Mensch die Kraft gehabt hätte, weiter zu kämpfen und zu leiden, oder ob stärker als seine Kraft die Verhältnisse und die in ihm lebenden Begierden waren? Es gehört heutzutage schon sehr viel Kraft dazu, sich selbst im Leben vorwärts zu bringen. Wieviel mehr erst, die Sache der Allgemeinheit auf sich zu nehmen und vorwärts zu bringen! ... Man setze erst sich selbst durch und stelle dann sich und seinen Einfluß und seine Macht in den Dienst der Allgemeinheit.‘

‚Und was wird unterdessen, während du dich durchsetzt, so lala mit dir, mit dem Bankier Kolbenreiher, geschehen?‘ fragte mit schon kaum mehr vernehmbarer Stimme das weit zurückgedrückte Bewußtsein. Und stieß plötzlich eine grauenvolle Drohung aus, die aber, von Jürgen nur dunkel vernommen und empfunden, nicht gleich vordrang bis an den Bezirk des neuen Bewußtseins, das in diesen Jahren immer häufiger Sieger geblieben war.

Noch einmal entwand sich die Drohung der tiefsten Tiefe seines Wesens, stieg empor als Hinweis auf eine unentrinnbare Todesgefahr, und Jürgen wurde sekundenlang innerlich gelähmt, so ganz und gar wie in der vergangenen Nacht, da eine fremde Macht im Albtraum ihn gelähmt und unwiderstehlich gezwungen hatte, den Sarg zuzunageln, in dem, noch lebend, er selber gelegen war.

„Wie lange fahren Sie schon auf dieser Strecke?“

Und während der Schaffner sinnend „Zehn, nein, schon elf Jahre!“ sagte, wiederholte in verzweifeltem Ansturme das zurückgedrückte Bewußtsein zum dritten Male seine grauenvolle Drohung. Jürgen fröstelte im Rückenmark, wie damals in der Hafenstadt.

„Bastgeflecht ist sehr praktisch, hält lange, was?“

„Ja, das gibt aus.“ Auch der Schaffner prüfte mit seiner starken Hand anerkennend das Bastgeflecht der Sitzlehne und schritt dabei hinaus auf die hintere Plattform, legte den Zeigefinger an die Mütze, und das junge Bureaumädchen schob ihre Abonnementkarte wieder in das Handtäschchen, sah ernsten Blickes ihr Leben an. Die Alleebäume flogen nach rückwärts.

Das sind nur die Nerven, dachte Jürgen, mit bezug auf die Drohung ... Zwei Jahre! Muß endlich auf ein paar Wochen ausspannen. Mich erfrischen. Eine Reise! Das habe ich mir verdient ... Diese warmen wunderbaren Herbsttage! Das wird schön sein.

Als die Allee endete, die Straßen enger, der Wagenverkehr und der Lärm stärker, die Luft schlechter geworden waren, setzte das Bureaumädchen sich in den Wagen, dankte mit ernstem Nicken für den Gruß ihres Chefs und begann in einem Buche zu lesen. Sie war die Tochter eines in der Papierfabrik des Herrn Hommes beschäftigten Hilfsarbeiters und seit ihrem sechzehnten Jahre in der Buchhaltung des Bankhauses Wagner und Kolbenreiher angestellt.

Am Vormittag hatte er persönlich die Jahresabrechnung über das Vermögen der Tante in der Buchhaltung geholt und dabei das Mädchen zum erstenmal gesehen. ‚Jetzt sitzt sie genau so in sich verschlossen da und liest, wie die fünfzehnjährige Katharina im öffentlichen Parke gesessen hatte. Der selbe stillbewußte, ernste Blick, wie Katharina ihn heute noch hat. Nur jünger ist sie. Selbstverständlich viel jünger! Äußerlich überhaupt ganz anders. Die Gestalt ist etwas voller. Aber dieser Blick! ... Neue Jugend wächst heran und nimmt den Kampf auf‘, hatte er plötzlich gedacht.

‚Hübsch ist sie. Sehr hübsch! ... Nur eine Geldfrage ... Allerdings ein ernstes Geschöpf ... Gerade deshalb ungewöhnlich anziehend ... Ihrem Chef würde sie nicht widerstehen können.‘ Er entkleidete sie.

Eine zwei Zentner schwere, weißhaarige Frau mit gewaltigem Busen stieg ein, setzte sich Jürgen gegenüber.

‚Der Hilfsarbeiter hat nichts als diese Tochter, die ihrem Chef gegenüber wehrlos ist.‘

‚Dafür – für die Verhältnisse – bin nicht ich verantwortlich ... Das Leben brennt, ist wild und schön und da, gelebt zu werden.‘ Und er überlegte, wo und wie er seine hübsche junge Angestellte verführen könne. „Weshalb lachen Sie?“ fragte er freundlich die dicke Frau.

„Das ist jetzt einunddreißig Jahre her“, sagte die Alte und streckte lächelnd beide Hände vor. „Herr Kolbenreiher, ich war die erste, die Sie in den Händen gehabt hat. So groß waren Sie.“

Alle Fahrgäste lächelten über die alte Hebamme. Das Mädchen wandte ein Blatt um, sah auf und Jürgen an, lächelte auch.

„Was tat ich denn? Wie war ich?“ ‚Es geht doch nicht. Das könnte einen öffentlichen Skandal geben. Und auch die Autorität ginge flöten.‘

„Gebrüllt haben Sie. Gebrüllt, sag ich Ihnen, nicht anders, als ob Sie am Kreuz hingen. Sie wollten nicht. O, Sie wollten absolut nicht.“

Auch der Schaffner grinste. „Endstation! ... Genossin, heut abend ist Bezirksversammlung. Erinnere auch deinen Vater“, sagte er zu dem Bureaumädchen.

„Es ist aber doch ganz gut gegangen. Sind ein schöner, großer Herr geworden. Ein prachtvoller Herr!“

Leider muß ich auf meine Stellung Rücksicht nehmen. Ich bin der Chef. Die Autorität muß gewahrt bleiben, dachte er, während er hinter dem Mädchen auf die Bank zuschritt. Der livrierte Portier riß die Tür auf.

„Niemand kann alle seine Wünsche und Begierden erfüllen. Außerdem ist die Sache die“, sagte, blätternd im Telephonbuch, Jürgen und bat um die Nummer Adolf Sinsheimers, „daß ich das selbe ungefährlicher haben kann und sogar ganz bedeutend reizvoller, falls dieses Mädchen in dem orientalischen Salon tatsächlich Katharina ähnlich sieht.“

Heute abend könne er nicht zum Essen nachhause kommen, teilte er telephonisch Elisabeth mit, die daraufhin ihrem gegenwärtigen Geliebten, einem Maler, sofort telephonisch mitteilte, daß sie heute abend wieder auf eine Stunde zu ihm ins Atelier kommen werde.

Wie damals vor der Animierkneipe, standen die vier Schulkameraden schon wartend vor dem Portal, das auf den Nacken zweier marmorierter Gipsherkulesse ruhte. Adolf hob den Spazierstock wie eine Kerze. „Ich habe uns schon angemeldet ... Noch die selbe Wirtin, eine alte Hure! Du erinnerst dich, Jürgen, wir sind damals vom Korsorestaurant aus hingegangen. Aber andere Damen! In jedem Zimmer zwei Waschschüsseln! Dabei doch dezente Aufmachung! Schon wie in Berlin!“

Jürgen erkannte das von Säulen getragene, mit Gipsmarmorplatten ausgeschlagene Stiegenhaus wieder. Eine flackernde Kerze, eine hohe Frisur, zwei schwarze Riesenaugen und ein violetter Schlafrock kamen lautlos die Treppe herunter. Die geschminkte Wirtin legte sofort den Zeigefinger an den Mund, stieg voran.

„Hols der Teufel, diese Leisetreterei! Warum knipsen wir denn die Nachtbeleuchtung nicht an!“ rief in dem Poltertone seines alten Batteriechefs, der ihm Vorbild war, der Artillerieoffizier.

Die Wirtin legte den Zeigefinger an den Mund. Der Referendar versteckte seine Brieftasche in der Geheimtasche des Westenfutters und lächelte.

„Weil eben ein Menschengesicht zu lächeln vermag“, sagte Jürgen vor sich hin und gedachte mit Erinnerungszärtlichkeit des Jürgen, der damals, um über seine knabenhafte Unsicherheit wegzutäuschen, die Mädchen wie ein erfahrener Lebemann begrüßt hatte. Heute trat er so gelassen in den orientalischen Salon, wie er als Chef in das Direktionsbureau der Bank trat.

Alles spielte sich nahe den Teppichen ab. Niedrige Tischchen. Die Mädchen saßen und lagen auf Ottomanen und auf Polstern am Boden.

„Na, ihr Racker! Brust heraus!“ rief der Artillerieoffizier in dem Tone seines Batteriechefs und schnallte gewichtig den Säbel ab, mit den Gebärden eines Mannes, der nur mit Pferden und Rekruten zu tun haben will.

„Sagen Sie mal, wie gehts denn! Sind ja ne richtiggehende Schönheit.“ Adolf hatte sich, seitdem er Alleininhaber des Knopfexporthauses war, angewöhnt, schnoddrig wie ein Berliner zu sprechen und sich ganz so zu benehmen wie seine Vorbilder: die Berliner Großexporteure, mit denen er in Geschäftsverbindung stand.

Das auf der Ottomane liegende Mädchen streckte ihm die Patschhand hin. Auch sie – schwarzhaarig und bernsteingelb – sah orientalisch aus, kokettierte lässig mit ihrer weichen Hüfte, die sich aus dem orangefeurigen, geschlitzten Schlafrock langsam herauswölbte.

„Sind ne süße Krabbe!“

Jürgen schüttelte den Kopf: ‚Nicht Adolf Sinsheimer, sondern der Berliner Exporteur spricht.‘

Der Artillerieoffizier stand, batteriecheffest, auf gespreizten Beinen, nahm die Mütze ab und wischte sich ächzend die Stirn, die ganz schweißfrei war und zweigeteilt: unten tiefbraun, wie das Gesicht, oben knabenweiß.

Sieht aus wie ein alter Kinderschänder, dachte Jürgen, als der livrierte Diener – stilles, glattes Fuchsgesicht – den Champagner brachte. Der Diener hatte zusammen mit der Wirtin die Pension gegründet und finanziert und bezog die Hälfte des Reingewinnes.

Sie saßen in der gepolsterten Ecke. „Ich komme dir“, sagte, Schultern zurückgezogen, Kopf vorgestreckt, das Sektglas unter der Achselhöhle, der Referendar zu Adolf, dessen Orientalin, Hüfte hochgewölbt, zusammengerollt in der Ecke lag und mit den mächtigen, weichen Schenkeln lockte.

„Ein Dutzend Flaschen Rotspon wäre mir lieber als dieses Weibergesüff.“ Der Batteriechef trank ex, hieb das zarte Glas auf die Tischplatte, hob mit rauhbeinig-väterlicher Gebärde die erst siebzehnjährige Blondine auf seinen Schoß und drückte das Köpfchen an seine breite Brust.

Der Referendar wählte die Älteste und Schönste, ein vierundzwanzigjähriges kühles Wesen, das ein Bankkonto besaß und erst vor zehn Minuten zu einem Mann, der gerne noch eine Stunde geblieben wäre, gesagt hatte: „Ich muß tüchtig sein.“ Beide saßen zurückgelehnt, Arm in Arm.

Der Referendar sprach von Staatsanwalt Karl Lenz. „... Und nächste Woche hat er einen Mordprozeß. Wenn es ihm gelingt, ein Todesurteil zu erzielen, ist seine Karriere gesichert. Dann gehts aufwärts.“ Er zuckte nach vorne, Sektglas unter der Achselhöhle: „Ich komme dir.“

‚Solch ein Staatsschafskopf zu werden wie der, hat auch mir geblüht.‘ Jürgen mußte lächeln über das Gebaren seiner Schulkameraden. ‚Nicht der Referendar A., sondern der Referendar überhaupt, nicht der Knopfexporteur S., sondern der Exporteur und der Artillerieoffizier überhaupt sitzen hier und haben Gefühle‘, dachte er. ‚Und später werden nicht einmal Referendar, Exporteur und der rauhe Artillerieoffizier überhaupt die Mädchen umarmen, sondern sie allein, die Lebenskraft, sie ganz allein wird die Umarmende sein.‘

Die Flügeltür tat sich auf. Und Jürgen, der sich soigniert und dabei freimütig benommen hatte wie einer, der das Leben kennt und ihm seinen Lauf läßt, wich zurück.

Herein schritt Katharina, reichte spitzig die Hand und setzte sich neben Jürgen.

Verblüfft betrachtete er den gebogenen Nacken, den kleinen, festen Mund. Fürchtete sofort, daß er, wenn sie zu sprechen begänne, diese vollkommene Illusion verlieren würde.

„Hab ich zu viel versprochen?!“ rief Adolf Sinsheimer, dessen Hand auf der gewölbten Hüfte der Bernsteingelben lag. „Na, was hab ich gesagt!“

Gedankenschnell, plötzlich, ganz plötzlich verwandelte sich seine Furcht in die atembeklemmende Furcht, sie könnte auch im Ton der Stimme Katharina sein. Dann müßte ich diese Schweine niederschlagen, dachte er erbebend, stellte sich in seinem Gefühle schützend vor Katharina. Und gleichzeitig brach in die Gefühlsleere und tote Einsamkeit der letzten Jahre die Sehnsucht ein mit solcher Gewalt, daß sein ganzer Körper sekundenlang von Lähmung befallen war.

Die Augen waren nicht mehr in dem orientalischen Salon; sahen Katharinas Mädchengestalt.

Sie steht unter dem Gasarm. Sie bewegt sich. Wendet ihm voll das Gesicht zu. Ihre Lippen bewegen sich. Auch Jürgens bebende Lippen bewegten sich. Es war, als hätte er in dieser Sekunde wieder das Unfaßbare des Daseins geschaut.

Die Bernsteingelbe schnellte empor, wiederholte lachend und so laut, daß alle es hörten, was Adolf Sinsheimer von ihr verlangt habe für seine Sammlung.

Nicht der bewußte Gedanke, daß er dann Teilhaberschaft, Stellung und Macht, alles, was er seither erreicht hatte, aufgeben müsse, führte Jürgens Hand; die Hand griff ganz selbsttätig zum Champagnerglas. Er leerte und füllte, leerte und glotzte, leerte.

Auch die andern tranken viel und schnell. Hände griffen. Mädchen schrien. Wehrten sich und gaben sich.

Jürgen, total betrunken, empfand nichts mehr. Füllte. Leerte. Glotzte die Doppelgängerin an, deren Mund beständig in kaum bemerkbarer Ironie verzogen blieb. Sie trug die Haare kurz.

Plötzlich schoß ein spitzes Etwas in ihm empor. Die beiden Wesen verdichteten sich in eines. Schwankend stand er auf.

Die Paare verschwanden in die nur durch dünne Kunststeinwände voneinander getrennten Zimmer der Mädchen.

„Katharina, Wunderbare!“ lallte, plötzlich tränennaß, der Betrunkene und griff nach der Doppelgängerin, in deren Gesicht die Ironie unverhohlenem Widerwillen gewichen war.

Gleichgültigen Blickes ließ sie das Hemd fallen.

„Deine Augen, ach, deine Augen!“

Körper stürzte sich auf Körper. Vergewaltigtes Gefühl brach durch und brüllte: „Katharina!“

Der Artillerieoffizier im Zimmer nebenan polterte auch jetzt: „Na, du kleiner Racker!“ Als ob nicht er und nicht sein Batteriechef, der ihm Vorbild war, sondern der schon seit Hunderten von Jahren verweste Urbatteriechef bei der siebzehnjährigen Blondine liege.

Das Fuchsgesicht trat in den verlassenen orientalischen Salon, horchte unbewegten Antlitzes auf die Geräusche in den vier Zimmern, öffnete das Fenster und betrachtete die in weiter Ferne im Sternenhimmel hängenden großen, leuchtenden Glasquadrate der Malerateliers, die alle im selben Stadtviertel waren.

Hinter einem dieser leuchtenden Quadrate lag, blond und schon entkleidet, Elisabeth auf dem breiten Renaissancebett ihres Geliebten, eines kleinen, geschmeidigen Südländers, blauschwarz behaart.

Als das Fuchsgesicht die Mokkatassen in den Salon trug, stand der Referendar im Zimmer schon vor dem Spiegel und zog sich ihn wieder, genau in der Mitte, von der Stirn bis zum Nacken. Das Mädchen betrachtete ihre polierten Nägel, interesselos und eiskalt den Referendar. Und er, durch den Spiegel, interesselos und eiskalt sie.

Eine halbe Stunde später schloß das Fuchsgesicht, Zeigefinger am Munde, leise die Haustür auf und ließ die Schulkameraden hinaus. Adolf griff an seine Krawatte, die tadellos gebunden war. Ohne eine Flasche Rotspon intus zu haben, lege er sich nicht in die Falle, sagte der Artillerieoffizier. Und Jürgen, wieder nüchtern, in soignierter Haltung, verbarg ein Lächeln über das Gehaben des Artilleristen.

Elisabeth lag im weißseidenen Schlafrock lesend auf der Ottomane, reichte ihm frei und liebenswürdig die Hand, offenen Blickes. Wo er denn herkomme. Sie war so einfach und frisch wie die große Birne, die, von Phinchen am Nachmittag im Garten gepflückt, in Reichweite auf dem Tische lag. Das spitzige Messer lag daneben.

Diese reine Atmosphäre in meinem Hause, dachte Jürgen.

„Ich war auch weg heute abend. Eine Stunde bei den Eltern“, sagte Elisabeth frei und ungezwungen, so ganz erfüllt von sich und ihrem Selbstrecht auf Genuß, daß auch diese Lüge wie die reine Wahrheit ihr von den Lippen ging. Prüfte dabei mit den Fingern ihre Brustspitzen, die noch rosig waren. Und fragte wieder: „Weshalb bekomme ich kein Kind?“ Sie wünschte, viele Kinder zu bekommen. „Und jetzt habe ich gebadet.“

„Gut unterhalten? Wie wars bei den Eltern?“, ‚Das übrigens soll mir nicht wieder passieren, daß ich zusammen mit solchen an Fäden gezogenen Hampelmännern so wohin gehe ... Alle Menschen werden an Fäden gezogen. Wer oder was ist es, das im Mittelpunkt des Lebens hockt und die Fäden zieht?‘ „Nun?“

„Immer das selbe! Der Vater sprach von Geld und von der Börse, von Geld, von der Börse ... Weißt du, es ist keine Luft mehr dort in der großen Wohnung. Er kann nichts greifen. Alle Gegenstände weichen zurück. Er langweilt sich fürchterlich, seitdem er sich vom Geschäft zurückgezogen hat. Sein Leben hat keinen Inhalt mehr.“

„Wie wir das letztemal zusammen dort waren, äußerte er doch, er möchte ein kleines Gut kaufen und es selbst bewirtschaften. ‚Natur, Natur, Gras, Rüben‘, sagte er. Weshalb tut er das nicht?“

„Papa würde auf dem Lande in acht Tagen vor Langeweile schwermütig werden. Und auch so wird er schwermütig. Für Bücher, Kunst, Musik, was unsereinem oft über leere Stunden hinweghilft, interessiert er sich nicht; davon trennt ihn sein ganzes Leben, das er auf der Börse zugebracht hat. Für Frauen ist er zu alt. Bleiben noch die Mahlzeiten. Aber er darf nur das wenigste essen. Bleibt die Langeweile. Ich sage dir, bald wird er wieder ins Geschäft kommen. Er hälts nicht aus.“

„Altgewordene amerikanische Kapitalisten, die sich in dieser Lage befinden, verstehen es, sich einen Lebensinhalt zu verschaffen: Sie werden moralisch. Was sie jedoch nicht hindert, ihr Vermögen auch weiterhin sehr geschickt und ertragreich zu verwalten!“ sagte ironisch lächelnd Jürgen.

Mit einem elastischen Ruck setzte Elisabeth sich aufrecht. „Vor ein paar Jahren war ich mit den Eltern in einem Sanatorium. Da war ein großer Arbeitshof. Die alten Herren Exporteure, Bankiers und Geheimräte, in Badekostüm, scheußlich fett oder abschreckend mager und behaart, solche Hängebäuche! mußten Holz sägen, Sand in Schubkarren schaufeln. Sie karrten ihn über den Hof in die andere Ecke, leerten ihn aus, schaufelten den selben Sand wieder ein, schafften ihn zurück. Aus, ein, hin, her! Immer den selben Sand! ... Schrecklich! Bei dieser Arbeit würde ich verrückt werden.“

„In China wurden Schwerverbrecher damit bestraft, daß sie derartige sinnlose Arbeiten verrichten mußten ... Viele, scheinbar ganz normal gewesene Bürger werden ja auch verrückt. Schwermütig und so! Wissen nichts mit sich anzufangen, treiben sich in Sanatorien und Nervenheilanstalten herum oder kehren, wie du sagst, ins Geschäft zurück und treten weiter die Geldmühle, bis sie an Arterienverkalkung sterben. Diese alten Verdiener! ... Das soll uns nicht passieren, wie?“

Er ließ sich vor der Ottomane auf ein Knie nieder. „Glaubst du“, fragte er, Blick in ihrem Blicke, langsam und lächelnd, „daß ich jetzt noch baden kann?“

Im Schlafzimmer hing über dem Doppelbett eine rote Ampel, auf der ein gläserner Amor kniete. Den Bogen hielt er noch in den Händchen. Den Glaspfeil – Richtung Liebespaar –, der bei brennender roter Ampel blauleuchtend geworden war, hatte Jürgen schon vor Jahren, gleich nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise, in der ersten Nacht abgebrochen. Es gäbe Grenzen.

Elisabeth lag schon im Bett, Hände unterm Kopf, als Jürgen aus dem Bade kam. Lächelnd so im Spiel des Lebens drehte sie die helleuchtende Nachttischlampe ab, lächelnd er die andere. Die Ampel glühte rot auf.

Was ist ein Jahr, wenn jeder Tag dem andern gleicht und das Leben ohne Härten ist ... Ein Tag nur! Ein unbewußter Atemzug! dachte Jürgen nach einem Jahre, das, ausgefüllt mit Arbeit im Bureau, mit Theaterbesuchen, Bilderkäufen, Mahlzeiten, roter Ampel, Bureau, im Fluge vergangen war. Die Zeit stand, so schnell verging sie. Das Vermögen wuchs. Jürgens Ansehen stieg.

„Du sitzt im Lehnstuhl oder liegst im Bett, und über Nacht bist du um soundso viel reicher geworden“, sagte Jürgen scherzend zur Tante, die antwortete: „Du erbst alles.“

Herr Wagner erschien wieder jeden Tag pünktlich im Bureau. Grund zum Klagen gab ihm sein Teilhaber schon lange nicht mehr. „Unser Schwieger ist ein braver, tüchtiger Mensch. Die Interessen des Hauses und der Kunden gehen ihm über alles“, konnte er oft zu seiner Frau sagen, die immer wieder erwähnte: „Aber, daß sie mit der Wohnungseinrichtung nicht zufrieden sind, das ist ... also das versteh ich nicht. Nun, wenn er nur wenigstens im Geschäft tüchtig ist.“

Und dies hatte sich wie von selbst gemacht. Allmählich und unversehens war das Leben zum Gleis geworden, auf dem Jürgen durch die Jahre rollte.

Er war bekannt als großzügiger Philantrop und Mäcen, hatte mit unfehlbarem Stilverstande schon eine ganze Anzahl Antiquitäten und Bilder gesammelt und sie einstweilen in einem unbewohnten Raum der Villa verwahrt, denn er wollte das alte Palais, das auf dem stillen, größten Platze der Stadt stand, erwerben und nach seinem Geschmacke einrichten.

„Einer sammelt, sein leeres Dasein auszufüllen, Pfennige, die älter sind, als er selbst, oder kostbare Werke alter oder hervorragende neuer Kunst, oder macht Bastelarbeiten, die im Laufe von Jahren ein faustgroßes Schweizerhäuschen mit Alm, Sennerinnen, Kühen und fensterlnden Burschen werden“, sagte er zu einem befreundeten Fabrikanten, der eine Riesenvilla voll alter, gotischer Holzplastiken besaß.

„Ja, mein Lieber, etwas muß der Mensch doch haben. Außerdem: ich kaufe billig“, rief der Fabrikant. „Dann machts Freude. Wer nicht aufs Geld sieht, der natürlich bekommt heutzutage eine tadellose Sammlung, ganz gleich welcher Art, auch fix und fertig ins Haus geliefert.“

„Einer macht Buddhas Wort ‚Geh an der Welt vorüber, es ist nichts‘, zu seiner Weltanschauung, und bleibt in seiner Prachtwohnung mit Bad, Warmwasser, Dampfheizung und allem Komfort. Ein anderer gibt, vielleicht gar um das Stimmchen zu beruhigen, Summen für Wohltätigkeitszwecke oder unterstützt begabte junge Künstler. Ich tue beides und sammle obendrein“, schloß er in Selbstironie.

Und wenige Monate später sagte er zu dem selben Fabrikanten: „Die Lebensauffassung des Bürgers ist folgende: Jeder tue seine Pflicht. Dadurch arbeitet jeder für jeden. Das greift ineinander. So entstehen Reichtum und Kultur des Landes, numerierte Häuser, in denen die Menschen leben, Küchen, Geschirr, Schränke voll Wäsche, asphaltierte Straßen, Schulen, Ruhe und Ordnung. Weil jeder seine Pflicht tut. Und Obdachlosenheime, Polizei, Gerichtshöfe und Zuchthäuser sind da für diejenigen, die ihre Pflicht nicht tun ... Schön. Mag sein, daß er recht hat. Unsereiner aber unterscheidet sich von denen, die geradezu platzen vor Selbstgerechtigkeit. Denn Wissen und Geist und Besitz verpflichten zu mehr.“

Und er legte die Hand auf die Krokodilledermappe, in der die Notizen zu seinem geplanten Werke ‚Volkswirtschaft und Einzelseele‘ lagen. Nach dem Essen las er die Abendzeitung.

Seine Tage rückten auch weiterhin, gesichert und getragen von Gewohnheit und Achtung, ohne schmerzliche Ereignisse durch ihn durch und hinter ihn, wie eine verkehrsreiche Straße vorbeirollt und zurückbleibt.

Nur noch in den Träumen stand manchmal das vergewaltigte Ich auf, schrie seine grauenvolle Drohung, die nicht mehr bis in das neue Bewußtsein vordringen konnte. Die Entfernung war schon zu groß, und zwischen dem drohenden Ich und dem inneren Ohre Jürgens stand das Erleben vieler Jahre, das, zusammen mit der Millionenfältigkeit des unausgesetzten Strebens nach Erfolg, Genuß und Achtung, das neue Bewußtsein gebildet hatte. Ein fugenloser Schutzwall.

Das Ich drohte. Der Träumende stöhnte. Sah die graue Straße, auf der die Millionen dem Fabriktore der Welt zuschritten, grau und gespenstisch-lautlos. Sah den Gaskocher, neben dem Katharina steht, kaum bemerkbare Ironie im Blick. Und fleht sie an: „Laß deine Haare wieder wachsen. Was ist dir denn geschehen, sag, mir, was ist dir geschehen.“

Elisabeth blickte kopfschüttelnd das wildverzerrte Gesicht an, hinter dem das vergewaltigte Ich erfolglos um sein Dasein rang und Tränen durch die geschlossenen Lider schickte, weckte den Stöhnenden, der nicht mehr wußte, was er geträumt hatte.

Erleichtert aufatmend, lächelte er das Leben an, das neben ihm lag. Im Garten schrien die Vögel. Auch die tausend Tapetenvögelchen des sonnigen Schlafzimmers zwitscherten.

„Was bist du für ein Mensch, du lächelst mit Tränen in den Augen.“

Und Jürgen, wie er ihren duftenden Kopf sanft zu sich zog: „So ist das Leben: zum Lachen und zum Weinen in einem.“ Der Druck war ganz gewichen.

Nach dem Frühstück und dem Bade ging er in den Garten, sog genießend die warme, aromatische Luft ein, betrachtete über den Zaun weg des Nachbars frisch gegossene Salatbeete, die funkelnd unter der Sonne lagen, blieb vor jedem Rosenstämmchen stehen, freute sich über die kopfgroßen, farbigen Glaskugeln, die, von der Sonne getroffen, sein Gesicht daumengroß widerspiegelten, und bekam Lust, an der Wasserleitung weiterzuarbeiten, die anzulegen er vor einiger Zeit begonnen hatte, um seinen Garten mit einer Wasserkunst zu schmücken. Der Arzt hatte Jürgen körperliche Arbeit anempfohlen.

Das Graben und Schaufeln tat ihm wohl. Die zwölf auf Stangen steckenden Glaskugeln bildeten einen Kreis, in dessen Mitte die Wasserkunst steigen sollte. Die Brunnenfigur, ein lebensgroßer Jüngling in Bronze, erworben von einem jungen, unterstützungsbedürftigen Bildhauer, kniete schon, Kopf geneigt, Hände im Rücken, als wäre er gefesselt, unter dem Schneeballenbusch.

Im Garten nebenan sang der Nachbar die Nationalhymne. Elisabeth, in leichtem Sommerkleide, sah vom Liegestuhl aus ihrem gesunden, starken Manne zu. Phinchen servierte Butterbrote auf dem Tisch unter dem Nußbaum, unter dem die Tante häkelnd gesessen hatte. Sie lag im Bett und konnte nicht sterben.

Hemdärmel bis zu den Schultern aufgekrempelt, die Zigarre im Munde, betrachtete Jürgen zufrieden seine Arbeit. „Nächstes Jahr werden auch wir ein Stück Nutzgarten anlegen: Gemüse- und Salatbeete, etwas Beerenobst. Körperliche Arbeit erhält gesund. Man muß vorbeugen, weißt du.“

Vögel huschten von Busch zu Busch. Die Amsel schnappte einen Wurm aus der frisch aufgeworfenen Erde, überquerte, nah dem Boden, den ganzen Garten und verschwand unter dem Schneeballenbusch.

Das Zwölfuhrläuten zahlreicher Kirchenglocken vereinigte sich über der Stadt, strahlte auseinander, hinaus zu den Gärten. Jürgen legte – wie im Bureau den Federhalter – pünktlich den Spaten aus der Hand. Nach dem Mittagessen schlief er. Die Zeitung war seiner Hand entfallen.

Saß dann am Schreibtisch vor der geöffneten Krokodilledermappe. Rechts stand eine Miniatur-Schillerbüste, geschmückt mit einem winzigen Lorbeerkranz, links der Tintenwischer – ein farbiges Tuchhähnchen mit Glasaugen – und in der Mitte das Tintenfaß: ein sich hochaufbäumender Bronzehirsch, auf dessen Geweih sieben Federhalter lagen. „Nun aber an die Arbeit!“ rief er und rieb die Hände.

In der Ferne ertönte eine Kindertrompete. Vorsichtig nahm er den eheringgroßen Lorbeerkranz vom Haupte Schillers herunter, betrachtete ihn genau, schob ihn auf seinen Finger, streckte sich, daß der Körper knackte und der Mund ein eigroßes Loch wurde, ergriff wieder den Federhalter und sah hinaus, wo der Sonntagnachmittag stand, der, zerteilt in Billionen Teilchen, durch das Fenster und durch alle Ritzen und Wände hereindrang.

„Sogar die Sonne scheint anders als an Werktagen, und alle Geräusche haben einen anderen Klang. Einen ekelhaften Klang! Unerträglich! Man ist wehrlos ... Da stehe ich also sozusagen auf der Höhe des Lebens, habe keine Sorgen, keine Schmerzen, und weiß nichts anzufangen mit dieser Höhe ... Sogar die Spatzen zwitschern Sonntags anders als in der Woche“, sagte, dunklen Druck in der Brust, Jürgen und öffnete ein Buch, legte es wieder weg, ergriff den Federhalter. Plötzlich glaubte er, deutlich gesehen zu haben, daß das Tintenfaß höhnisch gelächelt hatte. „Unsinn!“ rief er zornig sich selbst zu.

Der Wunsch nach dem Montag, nach der gewohnten Bureauarbeit und dem gewohnten Aufenthalt in der Börse huschte durch ihn durch. Jürgen hätte nicht sagen können, weshalb und wann er an das Fenster getreten war. Die Fichtengruppe im Garten stand reglos. Ein hängender Ast störte die Symmetrie. ‚Auch morgen wird dieser Ast genau so wegstehen und übermorgen auch und auch noch in zehn Jahren. Dieser stupide Sonntag bringt einen um jeden Gedanken. Ah! und diese mörderische Zimmereinrichtung!‘

Der Himmel war gleichmäßig blau und sah aus, als ob er nie mehr nachtdunkel werden würde. In fernen Geräuschen schwammen die Töne der Kindertrompete. Im Garten sang der Nachbar. Jürgen hob die linke Schulter, hob die rechte Schulter, das linke Bein, das rechte. Die Bewegungen wurden zu einem gedrückten Tanz. Die Glaskugeln standen reglos.

Der hin- und herschwingende Elefantenrüssel im Salon zog weiße Fäden und blieb schief hängen. Jürgen sah deutlich den schiefhängenden Perpendikel. Gähnend und die Hände über dem Kopfe erhoben, wie ein Gefangener, der unter entsichertem Revolver abgeführt wird, ging er in den Salon, sah blöd auf den funktionierenden Perpendikel.

Die Sonntagsgeräusche drangen auch durch das offene Fenster in das Wohnzimmer, wo Elisabeth sich langweilte. „Nun, also was? Zu den Alten? Oder im Park spazierengehen? ... Daß du aber auch diese unverständliche Abneigung gegen das Autofahren hast!“

„Eine Grenze nach oben muß eingehalten werden, Herzchen“, sagte er gähnend. „Übrigens, wenn du willst, können wir auch fahren. Laß euer Auto kommen ... Auch langweilig!“

„Die rosa Studie und mein Porträt hängen schon seit Donnerstag. Außerdem noch zwanzig seiner besten Arbeiten.“ Und sie sprach von den großen Fortschritten, die ihr Geliebter gemacht habe. „Gehen wir in die Ausstellung!“

„Warum nicht gleich zum Zahnarzt!“

„Oder sonst jemand besuchen?“

Der Schlund der grauen Leere verschlang alle Vorschläge.

„Wen denn besuchen! Die sitzen sicher auch alle zuhause und wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen. Ein Glück, daß nicht alle Tage Sonntag ist ... Gehen wir in den Zirkus! Da tritt heute zum erstenmal eine Akrobatin auf, die, Kopf voran, weißt du, aus sechsundzwanzig Meter Höhe herunterspringt in ein Bassin, das nur vier Meter lang und hundertfünfzig Zentimeter breit ist. Denk an: dieses winzige Loch in der Manege und dabei diese riesige Höhe! Unbegreiflich! Das sollte gar nicht erlaubt werden. Das Bassin ist mit scharfkantigem Winkeleisen eingefaßt. Wenn das Mädchen nur um fünf Zentimeter fehl springt, schlägt es sich Schulter und Arm vom Körper weg. Aber aufregend wird die Sache sein. Jedenfalls besser, als hier zu sitzen.“

Die Zauntür drückte die beiden hinaus. Jürgen sah zurück in den gepflegten Garten, betrachtete das glänzende Messingschild, auf dem nur ‚Kolbenreiher‘ stand, und zog den Hut vor der Tante, die, starr blickend, wie ein altes Bild im Fensterrahmen schwebte.

Nachdem die Akrobatin von dem zehn Meter und von dem fünfzehn Meter hohen Standplatze aus gesprungen und wieder am Seil emporgezogen worden war zu dem sechsundzwanzig Meter hohen Standplatz dicht unter der Zirkuskuppel, von der aus gesehen die Manege einem am Boden liegenden Kinderreifen und das Bassin einem schwarzen Bleistiftstrich glichen, erklärte Jürgen ausführlich, jetzt liege die Gefahr sogar noch weniger darin, das schmale Bassin zu verfehlen, als vielmehr darin, daß das Mädchen sich durch die gewaltige Wucht des Sturzes den Kopf auf dem Grunde des Bassins zerschellen müsse, wenn sie nicht, im Wasser angelangt, im entscheidenden Bruchteil der Sekunde blitzschnell die Drehung zurück zur Wasseroberfläche ausführe.

Die Musik schwieg. Das Publikum verstummte. Die Akrobatin blickte hinunter auf den Bleistiftstrich, in den hinein sie sich stürzen mußte, breitete die Arme aus. Frauen sahen weg. Auch Elisabeth sah weg.

„Langweilig ist das nicht. Du siehst, sogar ein Sonntagnachmittag kann ausgefüllt werden“, sagte Jürgen,

während die Tante mit einer ihr ganz fremden Bangigkeit die Bibel aufschlug und Sätze las, die, vor grauen Zeiten ersonnen, oft von ihr gelesen, gehört, ausgesprochen und gesungen, ihr auch jetzt nichts sagten. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe, litt unter der Angstbeklemmung, daß dann alle sie betrachten würden und sie vielleicht ein ganz anderes Gesicht haben werde als sie habe.

Und während der Mädchenkörper in der Luft eine weiche Drehung machte und, Kopf voran, Hände wie betend zusammengelegt, gleich einem bleiernen Fische an der obersten Galerie und an der erhöht sitzenden Musikkapelle vorbei senkrecht in die Tiefe stürzte, dem schwarzen Strich und dem rapid größer werdenden Sägmehlkreis in verzehnfachter Schnelligkeit entgegen, blickte die Tante noch einmal auf das breit vor ihr liegende Land hinaus, das in der Ferne schon von der rötlichen Dämmerung genommen wurde, und schaukelte plötzlich in sich zusammen.

„Die hocken immer zuhause, die Alten. Sicher würden auch sie sich hier unterhalten und zerstreuen“, sagte Jürgen in den Beifallssturm hinein, während die Tante, unveränderten Gesichtes, bewußtlos auf dem Boden lag.

Der Arzt wurde geholt, machte einen Aderlaß. Die Tante erholte sich. Um zehn Uhr lagen alle drei im Bett. Elisabeth stand noch einmal auf, ein frisches Nachthemd anzuziehen. Und als sie aus dem alten herausgestiegen und in das frische noch nicht hineingeschlüpft war, ließ Jürgen, an die Gewohnheit gespannt wie ein Pferd an die Droschke, die rote Ampel aufleuchten.

Am andern Tage, einige Stunden vor ihrem Ableben, bekam die Tante noch Besuch. Auf dem Tablett lagen schon siebenundzwanzig Orangen. Atembenommen, schon schwarz beschattet vom Tode, hatte die Tante hocherfreut für die Früchte gedankt.

Auf fünf Uhr war der Geistliche mit den Ministranten bestellt, die letzte Ölung zu erteilen. Die Sterbende überwand ihre tödliche Schwäche und richtete sich noch einmal auf im Bett. „Vielleicht spreche ich jetzt das letztemal mit dir, Jürgen.“

„Du stirbst nicht, Tante, Unsinn!“

„... letztemal mit dir. Ich habe immer meine Pflicht getan. An dir, Jürgen, und überhaupt. Vor allem an dir! Du bist ein geachteter Mann geworden. Das hast du zum Teil auch mir zu verdanken. Weißt du noch, wie das kam? ... Ein sehr geachteter Mann!“

Alles Blut verließ Jürgens Gesicht. Sie bemerkte seine Blässe und Verwirrung nicht, schilderte, mühsam stammelnd, wo er hingekommen wäre, wenn er das, was er Opferbereitschaft und Hingabe genannt habe, weiter verfolgt hätte. „So aber kann ich ruhig sterben.“

Jürgen hörte nichts mehr. Sie zog seinen Kopf neben sich auf das Kissen, nahm ihm das Wort ab, daß er auf dem eingeschlagenen Wege weitergehen werde. „Merke dir: was man einem Sterbenden in die Hand verspricht, muß man halten.“

Jürgen wußte nicht, was er versprochen hatte. Vergangenheit und Gegenwart stürzten ineinander. Er hörte auch nicht, daß die Tante von ihren bisher verheimlichten Aktien sprach.

„Diese Wertpapiere darfst du nur dann verkaufen, wenn mein Bankier dazu rät. Vor allem: Lasse die Hypotheken auf den großen Häusern stehen! Und lasse nicht so viel herrichten! Reparaturen und Handwerker kosten Geld.“

„Da muß ich ja Hypothekenzinsen bezahlen“, sagte Jürgens Mund vom Kissen weg.

Ihre Hand blieb auf seinem Kopfe. „Aber die Grundbesitzsteuer ist viel höher als die Zinsen, die man für Hypotheken bezahlen muß. Deshalb belastet man ein Haus so hoch wie möglich mit Hypotheken“, erklärte sie, unterbrochen von Atemnot, „legt das Geld in Wertpapieren an und bezahlt mit den Zinsen die Hypothekenzinsen. Dafür hat man keine Grundbesitzsteuer zu zahlen, weil einem die Häuser gar nicht gehören.“

„Unsere Häuser gehören mir nicht?“

„Nur scheinbar nicht! Man besitzt sie nur scheinbar nicht.“ Sie konnte vor Schwäche nicht mehr sprechen.

Die Flurglocke hatte geläutet. Weihrauchduft drang ins Zimmer. Jürgen wollte die Tante beruhigen, war aber so verwirrt, daß er sagte: „Also mit den Zinsen von den Wertpapieren bezahle ich die Grundbesitzsteuer.“

„Nein, die Hypothekenzinsen!“

„Aber es gibt doch viel bessere Kapitalsanlagen. Weshalb soll ich denn ...“

„Laß dirs von meinem Rechtsanwalt erklären.“

„... soll ich denn unbedingt Hypotheken aufnehmen, wenn ich Geld und Wertpapiere besitze, die viel besser ...“

„Rechtsanwalt“, flüsterte die Tante.

Der Geistliche und die Ministranten traten ein. Das Weihrauchfaß überquerte dreimal das Bett. „Vor der Pforte der Hölle bewahre ihre Seele. Dominus vobiscum. Et cum spiritu tuo.“

Die ganze Villa roch noch nach Weihrauch, als Jürgen, im Gehrock und schwarz behandschuht, von der Beerdigung zurückkam. Das weiße Taschentuch in der einen, den Zylinder in der rechten Hand, so am Rande gefaßt, daß er einen Gummiball hätte auffangen können, stand er im Sterbezimmer.

Auch eine Woche später, nachdem ihm vom Rechtsanwalt schon eröffnet worden war, daß die Tante das dreifache an erwartetem Barvermögen hinterlassen hatte, stand noch ein schwacher Weihrauchduft in den Zimmern und erinnerte Jürgen an des Vaters Todestag, an die Seelennot, Unsicherheit, an die Kämpfe der Jugend, auf die er, stehend nun auf dem festen, breiten, gefahrlosen Boden der Gegenwart, lächelnd zurückblickte.

Da unten taumelt ein empfindsamer Jüngling umher, getroffen von einem Worte, in Verzweiflung und Leid versetzt durch einen Blick. In ununterbrochene Qualen gestellt durch das Leben, wie es ist. Durch eine jugendliche Sehnsucht nach unerfüllbaren Idealen und nach der Wahrheit, die es nicht gibt, streift den Jüngling sogar öfters der Tod ... Hier sitzt der Mann im Sessel. In Sicherheit. Unverwundbar. Und nicht eine Sekunde der Gegenwart wird ihm, wie früher, vergällt und gestohlen von der Sehnsucht nach dem Unerreichbaren.

‚Und sogar aus dem Sozialismus, aus dieser grauen Sackgasse, in der ich vier Jahre steckte, habe ich wieder herausgefunden ... Jetzt wenn der Vater mich sehen könnte, er würde nicht mehr sagen: Na, du schmähliches Etwas!‘

An dem großen Gesellschaftsabend des Herrn Papierfabrikanten Hommes, der ersten Festlichkeit, die Jürgen nach dem ereignislos vergangenen Trauerjahr besuchte, ließ ein früherer Mitschüler, der als naturalisierter Engländer zwanzig Jahre ununterbrochen in den englischen Kolonien gelebt und eine große Baumwollexportfirma gegründet hatte, sich dem Bankier Jürgen Kolbenreiher vorstellen, der auch auf diesem Feste für viele der Mittelpunkt war.

„Wie erging es Ihrem Herrn Bruder? Ich habe nämlich zusammen mit Ihrem Herrn Bruder das hiesige Gymnasium besucht ... Verzeihung, ich weiß ja nichts. Bin ja ohne jeden Kontakt gewesen“, setzte der Engländer sofort hinzu, als er Jürgens betroffen fragenden Blick bemerkte, und entschuldigte sich, da er durch seine Frage offenbar eine schmerzliche Erinnerung wachgerufen habe.

Jürgen hob die Schulter. Seine Augen suchten. „Ich habe keinen Bruder.“

Aber solch einen Streich könne sein Gedächtnis ihm doch nicht spielen; er sei ja jahrelang mit einem Mitschüler Kolbenreiher in dem selben Klassenzimmer gesessen. „Ich sehe ihn heute noch leibhaftig vor mir. Ein schwärmerischer Jüngling, höchst eigenartig! Ein liebenswerter, ein sehr gefährdeter Mensch, dachte ich noch oft in späteren Jahren ... Er war also nicht Ihr Bruder? Offenbar eine Namensgleichheit!“

Die glänzenden Toiletten, der Kronleuchter, Streichquartett, Champagnertischchen schwankten. Jürgens Gesicht fiel ein, war grau geworden. „Habe ich mich denn so verändert, so furchtbar verändert, daß Sie in mir ... in mir jenen gar nicht mehr zu erkennen vermögen?“

„Also Sie selbst!“ rief, freudig erstaunt, der Engländer. „Das hätte ich, das allerdings hätte ich nie vermutet. Ich gratuliere, gratuliere wirklich von Herzen ... Wie man sich irren kann! Ich habe nämlich gedacht – in den Kolonien ist unsereiner ja recht einsam und denkt viel an die Jugendzeit zurück – habe oft gedacht, dieser Mensch wird entweder ein ganz abseitiges Leben führen, vielleicht auch irgendeine große Tat vollbringen, wenn die Situation das zuläßt – im Krieg und so – oder er wird zugrunde gehen. Und nun – wie ich mich freue! ... Übrigens nur ein Beweis mehr dafür, wie sehr die Menschen, alle Menschen, sich mit den Jahren verändern, sich innerlich sozusagen festigen!“

An diesem Abend betrank Jürgen sich so, daß er in das Fremdenzimmer des Herrn Hommes gebracht werden und Elisabeth allein nachhause fahren mußte. Nach einer mehrwöchigen Reise, ziellos in Europa umher, saß er wieder im Direktionsbureau. Im Nebenraum unterhielten sich zwei Bankbeamte.

Vor einem Jahre sei er an den Alimenten noch unverhofft vorbeigekommen. Das Kind sei gestorben. Aber kürzlich sei sein Mädchen wieder Mutter geworden.

Auch Elisabeth war schwanger. Jürgen freute sich auf das Kind, stellte sich vor, wie es aussehen, ob es ihm oder ihr gleichen werde. Blauäugig? Oder braun? dachte er. Und horchte auf die Worte des Beamten, der seinem Kollegen genau vorrechnete, wie wenig ihm von seinem Gehalte bleiben werde, nach Abzug der Alimente. „Das halte ich nicht aus.“

Gewandt schlüpfte der Beamte in sein elegantes Mäntelchen. „Heute feiere ich Abschied von der Jugend. Ich heirate. Sie hat nichts, ich habe nichts. Sechs versilberte Kaffeelöffel sind der Grundstein unseres Glückes.“

Er steckte ein Veilchensträußchen ins Knopfloch. „Extra für heute gekauft. Leichtsinnig, was? ... Vor diesem Glück habe ich jetzt schon Angst. Du schläfst Nacht für Nacht neben und mit deiner Frau. Immer mit der selben! Du siehst sie halb angezogen, unfrisiert, im Schlafrock – wenn sie einen hat –, ißt mit ihr, sprichst mit ihr. Und nicht nur von Veilchen und Tanz, mein Lieber! Das Prickelnde ist bald dahin. In jeder Ehe! Man gewöhnt sich. Dann liebt man eben außerhalb herum, wie? ... Aber kann denn ich mir das leisten, bei meinem Gehalt? Du mußt Blumen kaufen, die Zeche bezahlen. Am Ende bestellt sie sich auch noch etwas zu essen. Das kostet dann ein Heidengeld ... Unserem Chef natürlich, dem jungen Chef mit der gespickten Brieftasche und dem Scheckbuch, dem kann die Gewohnheit nichts anhaben. Der kann sich jede kaufen. Unsereiner aber muß, wenn er heiratet, glatt Abschied nehmen von der Jugend.“

Mir also, meint er, kann die Gewohnheit nichts anhaben, dachte Jürgen noch in der Straßenbahn, suchte zuhause Elisabeth in allen Räumen und fand sie endlich im Schlafzimmer, wo sie erblaßt auf dem Bettrand saß. Ihr Leib stand stark vor.

Tagelang schrie Elisabeth in Schmerzen, schrie die lange Nacht durch, in den trüben Morgen hinein, bis der Arzt sie von einer toten Frühgeburt entbunden hatte.

Die blutigen Messer und Geburtszangen lagen noch auf dem Tisch. Der schweißtriefende. Arzt wollte ein letztes Mittel anwenden, die Entbundene zu retten, da stieß sie ihn weg von ihrem zerrissenen Leib. Ein neuer Blutstrom schoß ins Bett. Der Arzt breitete ein Tuch über die verwüstete Tote und ließ die Arme sinken, ging hinaus in den herbstlichen Garten zu Jürgen. Der Himmel hing voll Regen. Der Garten war naß, die Luft kalt.

Einige Tage später – Elisabeth war schon begraben, Jürgen umwickelte Rosenstämmchen mit Stroh – sagte er leise vor sich hin: „Das Geld ist mir doch sicher ganz gleichgültig. Wie kam ich nur auf diesen abscheulichen Gedanken?“

Der Gedanke war, flüchtiger als ein Vogel, der den Blick schneidet, gleichzeitig mit anderen Gedanken aufgetaucht und wieder verschwunden. ‚Da das Kind tot ist, fällt die Mitgift mir zu.‘

‚Ein böser Gedanke. Enthält aber eine juristisch einwandfreie Tatsache ... Kein Mensch hat die Macht, das Entstehen eines Gedankens zu erzwingen oder zu verhindern.‘ Er sah empor zur beschädigten Dachrinne, von der dicke Tropfen schnell hintereinander herunterfielen, immer auf die selbe Stelle, wie damals im Rattenhof. Hing die Bastfäden über einen Ast und rief Phinchen zu, sie müsse den Spengler holen. „Die Dachrinne ist leck. Siehst du, dort oben.“

Jahrelang trug Jürgen sich mit dem Gedanken, wieder zu heiraten. Auch der Schwiegervater redete ihm zu, nannte sogar einige Töchter vornehmer Familien. Er solle endlich das Palais kaufen, hübsch einrichten. Repräsentieren.

„Ich finde aber“, sagte Jürgen lachend zu Phinchen, „faktisch nicht die Zeit, eine Frau zu lieben.“ Kundenkreis und Finanzaktionen des Bankhauses Wagner und Kolbenreiher vermehrten und vergrößerten sich in immer schneller werdendem Tempo.

Jürgen verkehrte in Familien, wo nur von Geld gesprochen wurde. Und in Familien, die so reich geworden waren, daß es schon wieder für unvornehm galt, von Geld zu sprechen, anstatt von Humanität und Wohltätigkeit, Kunst, Mystik, Kultur und Goethe. Hohe Räume, stilvoll, von erlesenstem Geschmacke. Wertvolle Gemälde, märchenhafte Bedienung. Junge Künstler, die unterstützt wurden. Geistvolle Gespräche. Und Beklemmung für die Gäste, die noch nicht so reich waren.

Zu diesen gehörte der Berliner Bankier Leo Seidel nicht; seine Worte wurden an dem Herrenabend, den Jürgen zu Ehren seines für wenige Tage in die Heimatstadt zurückgekehrten früheren Mitschülers gab, von den Börsianern ebenso vorsichtig gewogen und auf Fallen untersucht, wie die des reichen, leberkranken Hütten- und Walzwerkbesitzers auf Jürgens Hochzeit gewendet und gewogen worden waren.

Der noch nicht vierzigjährige Seidel, tadellos unauffällig gekleidet, sah viel älter aus, und als könne er von nun an nicht mehr älter werden. Es schien, als sei das winzige sommersprossige Dreieck mit dem erreichten Ziele von nun an stationär.

Seidel, im Ziele sitzend, sichtlich uninteressiert an den Meinungen dieser von ihm weit überholten Fabrikanten und Bankleute, die einzuholen vor zwanzig Jahren sein größter Ehrgeiz gewesen war, zeigte nicht, daß diese Stunden für ihn nur ein Opfer an Zeit bedeuteten, und sprach dennoch nicht einen Satz mehr, als die Höflichkeit gebot.

Er entsann sich, daß er vor zehn Jahren, erst auf dem Wege zum Ziel, erfüllt von altem Hasse gegen diese vornehmen Bürgerfamilien, noch Befriedigung gefunden hatte in der Vorstellung, daß er, der gedemütigte Briefträgerssohn, sich eine dieser Töchter seiner Heimatstadt zur Frau wählen werde.

Mit dem Erreichen des Zieles war dieser Haß vergangen und Interesselosigkeit entstanden. Außerdem hatte er, wie Jürgen, längst die Erfahrung gemacht, daß jede verheiratete Frau dieser Kreise zu gewinnen war, wenn auch nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt.

In Pensionen ging auch Jürgen, obwohl er seit Jahren verwitwet war, nicht mehr. „Diese Mädchen sind entweder arme Tierchen, nur auf Geld aus, also erotisch an uns völlig uninteressiert, folglich langweilig; oder sentimentale Unschuldslämmer, verglichen mit unseren Damen der Gesellschaft, die voller Nervenraffinements und zu allem imstande sind“, hatte er auf Adolf Sinsheimers wiederholte Bitte, wieder einmal mit in den orientalischen Salon zu gehen, geantwortet.

Nach dem Mahle standen Jürgen und Seidel, in der Hand die Mokkatassen, abseits, zwischen sich die hohe Standuhr, deren Ticken das Gespräch für die noch an der langen Tafel sitzenden Börsianer unverständlich machte, und Seidel nannte kurz den Grund seines Hierseins. Er sei gezwungen, den schon eingeleiteten Zusammenschluß einiger großer Bankinstitute zu paralysieren: seinerseits einen großen Finanzkonzern zu organisieren.

Jürgen hatte einige Male genickt. „Ich selbst erwäge schon seit geraumer Zeit diesen Plan, habe auch schon vorgearbeitet. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der betreffenden Werte ist schon in meinen Händen.“ Er sah seine Gäste an, sah Leo Seidel an. „Man wird reicher und reicher ... Wozu?“

„Man muß die Urprodukte, die Erdschätze, in die Hand bekommen. Die Kohle! Wer sie hat, kontrolliert schließlich die ganze Produktion.“

„Sag mal“, begann nach einer Pause Jürgen entschlossenen Tones, zuckend mit der Schulter, als habe er sich selbst versichert, daß es ihm gleich sei, was Seidel über ihn wegen des folgenden denken werde, „weshalb eigentlich ist es nun dein Ziel, die Urprodukte, die Kontrolle über die ganze Wirtschaft in die Hand zu bekommen, oder, mit andern Worten, der mächtigste Mann des Landes zu werden? Welche Idee – hinaus über den Wunsch, persönliche Begierden jeglicher Art stillen zu können, was zu tun du ja schon längst imstande bist – verfolgest du dabei?“

Seidel blickte nachdenklich vor sich hin.

„Macht um der Macht selbst willen? Oder die Erkenntnis, daß geschluckt wird, wer nicht selbst schluckt? Oder um deiner Kinder willen, wenn du welche hast? Das alles hat doch mit einer positiven Idee nichts zu tun.“

„Aber auch zur Erlangung der Kontrolle über Kohle, Brennstoffe, Erze wäre der geplante Zusammenschluß eine wesentliche Voraussetzung.“

„Und das Sichabfinden damit, daß infolge der Konkurrenzjagd von Zeit zu Zeit ein Krieg und der Tod einiger Hunderttausend oder Millionen eben naturnotwendig, die Schattenseite sei, der aber die moderne Zivilisation als Plus gegenüberstehe, ist doch ebenfalls keine tragfähige Grundlage für eine Idee, für eine Lebensordnung, mit der auf die Dauer der Mensch sich abfinden könnte, sondern, scheint mir, nicht mehr als eine peinliche Mischung von Fatalismus und Zynismus.“

Seidel, der gar nicht mehr zugehört hatte, zeigte ein flüchtiges Höflichkeitslächeln und schrieb etwas in sein Notizbuch.

„Willst du mir nicht antworten? Oder weißt du keine Antwort auf meine Frage?“

Rückwärts an der langen Tafel war es plötzlich still geworden. „Ein Straßenmädchen ging mit einem Juden ...“

„Das Nähtischchen deiner Mutter steht noch in meinem Bodenraum. Erinnerst du dich? Das sind jetzt zwanzig Jahre her.“

„Ich erwarte dich also morgen im Hotel oder bringe dir die Unterlagen in die Bank.“

Das Lachen des Herrn Hommes platzte wie das dunkle Brüllen einer Autohupe in die Stille. „Kenn ihn schon! Aber erzählen Sie nur weiter.“

„Auch einen großen Teil der Produktion chemischer Artikel würden wir kontrollieren, falls die Fusion zustande käme.“ Seidel nannte die Fabrik, Gesamtzahl und Kursstand der Aktien, von denen die in Frage stehenden Banken nach der Fusion die Mehrheit haben würden.

Jürgen blickte nach rückwärts auf die acht grauweißen Hinterköpfe, denen gegenüber acht weinrote Gesichter im Zigarrenqualm hingen. „Ja, wir könnten für viele chemische Artikel, Farben und vor allem für die wichtigsten Arzneimittel die Preise bestimmen ... Gewiß keine Kleinigkeit!“

Herr Wagner ergriff den Arm des Herrn Hommes, deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück auf Seidel: „Er hat verdient.“

„Ich weiß eine andere Fassung: Der selbe Jude kommt in ein Bordell ...“

„Kenn ich!“ rief Herr Hommes und brüllte los.

Seidel erwähnte die Krankheit, von der die Arbeiter dieser chemischen Fabrik befallen wurden. Es sei sehr schwer, Leute zu bekommen. Nur durch hohe Gefahrprämien seien sie an die Siedkessel heranzubringen. Diese Geschichte habe sogar schon auf den Kurs gedrückt.

„Ich hörte davon. Die Leute werden gelb. Es ist aber keine Gelbsucht. Auch alle Schleimhäute entzünden sich. Schwere Augenkrankheiten! Die Arbeiterinnen bekommen keine Kinder mehr, werden vollkommen steril.“

„Und eines Tages war die Pleite da“, schloß der Fabrikant, der die Villa voll gotischer Holzplastiken besaß. „Eben eine zu gewagte Spekulation!“

„No, was sag ich!“

„Es sind ja Erfindungen gemacht worden“, sagte Seidel und schrieb und las dabei weiter in seinem Notizbuch. „Die Fabrikleitung hat diese Erfindungen auch erworben. Aber die Konstruktion und Erhaltung dieser Schutzapparatur würde riesige Summen verschlingen. Auch wertvolle Nebenprodukte und Abgase würden durch die Einschaltung dieser Schutzapparate verlorengehen.“

„Nein, nein, uns fehlt nichts“, antwortete Herr Wagner beruhigend auf Jürgens Frage. Und zu Herrn Hommes: „Womit? Das mußt du dir von ihm selber verraten lassen. Ich sag nur: er hat verdient.“

„Daß die Leute diese unheimliche Krankheit bekommen, weil Schutzapparate nicht in Betrieb gesetzt werden, ist ein bißchen drückend für denjenigen, der die Aktien besitzt und die Dividenden bezieht.“

Seidel zeigte sein flüchtiges Lächeln. „Möchtest du zusammen mit mir wieder einen Bund der Empörer gründen? ... Noch eine Sekunde!“ bat er und zog Jürgen wieder neben die Standuhr. „Weshalb ich außerdem hierhergekommen bin. Kannst mir vielleicht einen Rat geben. Ich möchte – es leben ja auch noch viele Leute hier, die meine Eltern gekannt haben; aber auch sonst! – ich möchte eine Stiftung machen. Säuglingsheim, Krankenhaus oder ein Kunstmuseum. Meiner Heimatstadt, weißt du!“

Jürgen griff sofort mit beiden Händen rückwärts nach dem Rauchtischchen; dennoch fiel er, beinschwach geworden vor eruptivem Lachen, in den Sessel. Er hielt die Hand hoch, Zeigefinger und Daumen zusammengepreßt, als ob er ein Ungeziefer gefangen hätte. „Ein Krankenhaus für ... für die Heimatstadt!“

Hände an die Seitenlehnen angeklammert, Oberkörper zurückgeworfen, starrte er, durchschüttert von Lachen, atembenommen Leo Seidel an, dessen Gesicht so weiß geworden war, daß die alten Sommersprossen stärker hervortraten, wie damals, da er Jürgen das Nähtischchen seiner Mutter zum Aufbewahren übergeben und gesagt hatte: „Zweifellos wird die ganze Bande auf den Jahrmarkt kommen, um mich als Schiffschaukeladjunkt zu sehen.“

„Und obendrein ist das auch die Antwort. Das ganze Systemchen ist steril geworden. Wie die Arbeiterinnen, die nicht mehr gebären können ... Für die Heimatstadt!“ Des Lachenden zuckende Schulter stieß an die Standuhr, die metallisch tönte.

An der Tafel erklang vielstimmiges, speckiges Gemecker. Sechzehn rote Gesichter drehten sich den beiden zu. Sechzehn Paar Augen fragten. Und Herr Hommes rief: „Wir wollen ihn auch hören.“

„Gut, du stiftest ein Säuglingsheim für die Kinder, die von den Arbeiterinnen nicht geboren werden können, ich ein Krankenhaus für diejenigen, die gestorben sind, weil sie die teueren Arzneimittel nicht bezahlen konnten, und zusammen stiften wir ein Kunstmuseum, von wegen der Kultur.“

Seine linke Gesichtshälfte lachte noch. Er hakte ein, zog ihn zur Tafel. Dort legte er die Hand auf Seidels Schulter. „Soeben sagte mir Herr Leo Seidel, der bekanntlich ein Kind unserer Stadt ist, daß er seiner Heimatgemeinde ein mit allen hygienischen Errungenschaften eingerichtetes Säuglingsheim in beliebiger Größe stiften wird ... Aus ... aus Anhänglichkeit.“

Er leerte sein Glas. Füllte und leerte. Begann wieder zu lachen. Trank. ‚Dieser harte, mächtige Mann – ein kleines Schuftchen, ein winziges Ungeziefer, das in seiner Heimatstadt noch ganz besonders geachtet werden will ... als Wohltäter!‘

Herr Hommes bedeckte Mund und Nase mit der Hand, warf den Kopf in den Nacken und dann tief zur Tischplatte, als müsse er niesen, nieste nicht; er sagte zu Herrn Wagner: „Da muß er aber groß verdient haben.“

„No, was sag ich!“

‚Entzündete Augen, entzündete Schleimhäute, Eierstöcke, Knochen, Lungen, entzündete Maschinengewehre und Schwergeschütze, entzündete Seelen, eiternde Seelen – und ein Krankenhaus für alle, finanziert mit Kapital, das entstanden ist durch das Systemchen, welches diese planetare Entzündung verursachte. Das ist die Antwort. Hoppla, das ist sie ... Und die Fusion wird zustande kommen. Und die Kontrolle über die wichtigsten Arzneimittel. Und ich werde noch mächtiger werden. Und das ist nicht zu ändern. Es gibt keinen Ausweg. Mir kann nichts passieren – denn ich bin schwerlich zu entlausen, denkt mit Recht die Laus.‘

Er saß abseits rittlings auf dem Stuhle und glotzte vergnügt. Stellte das geleerte Glas auf den Fußboden. ‚Eiternde Seelen‘, begann er wieder, diesmal von rückwärts, und zählte an den Fingern her, wie der Metallarbeiter mit der verstümmelten Hand. Sah plötzlich eine Riesenebene, auf der Millionen Menschen reglos blickten. Die Gesichter derer, die am allerweitesten, die kilometerweit zurückstanden, waren größer als die der Nächststehenden. Alle Gesichter waren gelb.

„Gelb! Gelb! Gelb! ... Bin ich denn in China? ... Wollte ja Dolmetscher in China werden.“

Er stürzte vom Stuhle. In seinem Hinterkopfe klopfte dunkel ein Hammer aus Gummi.

VII

Phinchen mußte sich strecken, um mit der Bürste den Rockkragen erreichen zu können. Wie jeden Morgen trat Jürgen, als probiere er eine neue Hose an, einigemal am Platze, sich richtig in den Anzug hineinzudrücken, nahm den Spazierstock aus Phinchens Hand und verließ pünktlich die Villa. Der Schaffner, im Laufe der vierzehn Jahre auf dieser Strecke ergraut, half dem schwer gewordenen täglichen Fahrgast in den Wagen.

Unwillkürlich rückte Jürgen etwas ab von einem dürftig gekleideten Manne, dem die Nase fehlte. Außer diesem Arbeiter saß im Wagen ein kleines Mädchen, das, die Augen angstvoll vergrößert, seine Hausaufgabe im Katechismus repetierte und immer wieder begann: „Aber Jesus sprach: Lasset die Kindlein zu mir kommen ...“

Der Schaffner kassierte. Der Nasenlose hatte kein Geld.

„Aber Jesus sprach ...“

„Dann müssen Sie aussteigen.“

Der Nasenlose, entschlossen, sitzen zu bleiben, geriet in Erregung. Er sei monatelang arbeitslos gewesen. Wenn er nicht mitfahren dürfe, komme er zu spät und erhalte die Aushilfsstelle nicht. Alle Qualen seines Lebens sammelten und verwandelten sich in Widerstand und Zorn gegen den Schaffner.

Auch der war wütend geworden, gab das Haltesignal. „Wie kann einer einsteigen, wenn er das Fahrgeld nicht hat! So etwas gibts nicht.“ Der Wagen hielt. „Wenn ich Sie ohne Schein mitfahren lasse, verliere ja ich meine Stelle.“

„Wenn einer arbeiten will!“ schrie verzweifelt der Mann und schimpfte los auf die reichen Nichtstuer, die nicht nötig hätten, zu arbeiten.

„Auf! Sie müssen aussteigen.“ Er mußte den sich Wehrenden am Arme packen und aus dem Wagen hinausdrücken.

„Aber Jesus sprach ...“ lernte das Mädchen in so großer Angst, die Hausaufgabe in der Schule nicht hersagen zu können, daß es von der ganzen Szene nichts bemerkte.

Auch Jürgen, der die Kursberichte gelesen und dabei, tief beunruhigt, an den Traum der letzten Nacht gedacht hatte, wußte nicht, weshalb des Schaffners Lippen und die Hand, die die Zange hielt, bebten. Automatisch zog er die Abonnementskarte, in die seine Jugendphotographie eingeklebt war. ‚Welch ein fürchterlicher, fürchterlicher Traum!‘

Der Schaffner war noch zornig. „Sie sollten auch einmal ein neues Bild einkleben. Das sind ja gar nicht mehr Sie.“ Er hielt die Photographie prüfend von sich weg. „Das ist ja ein ganz anderer, könnte man glauben.“

Jürgen blickte auf die Augen des Jünglingsbildes, die aus ungeheurer Ferne groß und ernst zurückblickten. Das Gesicht des Nasenlosen tauchte neben dem Fenster mit Sprungregelmäßigkeit auf und nieder.

‚Träume seien nun einmal nichts als Schäume, sagt der Hausarzt ... Ist aber auch dieser entsetzliche Traum nur flaumleichter Abfall des Lebens und ohne tiefere Bedeutung?‘ Selbst jetzt noch, während der Fahrt durch den sonnigen Tag, stockte Jürgens Herz:

Er steht, befrackt, weiß behandschuht und im Halbkreise umgeben von den zwölf schwarzgekleideten Zeugen, in der Mitte des festlich erleuchteten Gesellschaftssaales vor dem Hinrichtungsblock, tritt zurück, hebt das Beil - und läßt es hineinsausen in den Nacken. Der Kopf geht nicht herunter. Und jetzt erst sieht er, daß er selbst, als Student, am Blocke kniet und von sich selbst hingerichtet werden muß, im Namen des Lebens, wie es ist. Gezwungen von den Blicken der zwölf stummen Zeugen, muß Jürgen noch einige Male in die furchtbare Nackenwunde hineinschlagen, bis der Kopf Jürgens, des Studenten, herunterfällt. Die Streichmusik endet.

Tirolerinnen, die schiefe Münder haben, reichen lebendes Fruchteis. Um nicht essen zu müssen von diesem schauerlichen, lebenden Eise, wühlt Jürgen sich durch die empört nachblickenden Damen und Herren durch, flüchtet die Treppe hinunter und stürzt in fliegender Eile durch die menschenleeren Mondstraßen heimwärts, durch den schimmernden Garten.

Da kniet, an Stelle der Brunnenfigur, der Rumpf in der Mitte des Bassins, Hände im Rücken gefesselt, symmetrisch umstanden von den zwölf auf Stangen steckenden, farbigen, kopfgroßen Glaskugeln, die jetzt die zwölf Hinrichtungszeugen sind, und aus dem Halsstumpfe steigt das Blut als Springbrünnchen empor. Die Symmetrie wird gestört durch Jürgens Jünglingskopf, der anstelle der gelben Glaskugel auf der Stange steckt und die grauenvolle Drohung ausspricht.

„In Vollmondnächten sollten Sie nicht bei unverhängten Fenstern schlafen. Auch abends keine schweren Speisen essen. Die verursachen gleichfalls Albträume“, hatte der Hausarzt gesagt.

Das Schulmädchen stieg aus, schlug auf der Straße den Katechismus wieder auf und lernte weiter. Jürgen saß allein im Wagen. Er überlegte, welche Weisungen er heute dem Prokuristen zu geben habe für die Börse. Plötzlich fletschte er, Mundwinkel in die Wangen zurückgezogen, die zusammengebissenen Zähne, drehte den Kopf seitwärts und bewegte die Lippen, als verhandle er mit einem hinter ihm Stehenden, der Befehle erteile, die Jürgen nicht befolgen könne.

Erst als er hinaus auf die rückwärtige Plattform trat und mit dem Schaffner eine Unterhaltung begann, entspannte sich sein Gesicht wieder.

Angefangen hatten diese Zustände vor einem Jahre. Er geht spazieren und muß plötzlich stehenbleiben, hat Atembeschwerden, ist nicht imstande, an einem Ecksteine oder an einem Baume oder an einem Laternenpfahle, der sich durch nichts von anderen Laternenpfählen unterscheidet, vorüberzugehen. Kopf seitwärts gedreht, Zähne gefletscht, kämpft er gegen das Unsichtbare, das unausführbare Befehle erteilt.

Schnell tritt er in den nächsten Laden, setzt sich, studiert die Gesichter der Kunden, unterhält sich mit der Verkäuferin und bittet sie, ihm sechs besonders hartborstige Zahnbürsten in die Villa zu schicken. In dem unbewohnten Raume der Villa, wo auch die Antiquitäten und Gemälde für das Palais aufbewahrt waren, hatte sich im Laufe des letzten Jahres auf diese Weise ein großes Lager verschiedenster Artikel angesammelt.

Gleich vielen Menschen, kann auch Jürgen es nicht ertragen, daß auf der Straße jemand hinter ihm geht. Auch am hellen Tage muß er stehenbleiben, interessiert eine Fassade betrachten oder schnell in einen Laden eintreten.

Außerhalb der Stadt, wo keine Leute sind, spazierenzugehen, wagte Jürgen schon lange nicht mehr. Jemand geht hinter ihm her. Jürgen dreht sich um und wieder um und ganz um sich selbst. Immer steht in seinem Rücken der Andere. Und da Jürgen nicht in einen Laden flüchten kann, wirft er sich zu Boden.

Einmal hatte er sich durch Adolf Sinsheimer retten können vor dem Verfolger. Er steht, Zähne gefletscht, in menschenleerer Landschaft unter den unausführbaren Befehlen des Unsichtbaren. Da erblickt er den Jugendfreund, der, in der Hand ein Notizbuch voll Rechnungen, an einem Baume lehnt und gedankenversunken die ferne Hügelkette betrachtet, als dichte oder zeichne er. Damals war das Unternehmen des Knopffabrikanten dem Konkurse nahe gewesen.

Jürgen macht einige Fluchtsprünge auf den Jugendfreund zu und bittet flehend den Erschreckenden: „Verkaufe mir deinen Bleistift.“

„Weshalb verkaufen? ... Hier, nimm ihn!“ Und er will ihm den goldenen Patentbleistift in die Hand drücken.

„Unmöglich! Das ist ganz unmöglich!“ Jürgen zwingt den Schulfreund, die Banknote zu nehmen, und steckt, befreit aufatmend, den Bleistift ein.

Die Straßenbahn hielt. Der Wagenführer drehte die Kurbel heraus. „Endstation“, sagte der Schaffner zweimal zu Jürgen, der verzerrten Gesichtes über die Schulter zurücksprach und nicht aussteigen konnte.

Junge Beamte eilten durch die Gänge, grüßten den Chef. Er ahmte die Stimme des Hausarztes nach: „Abends nur ein paar weichgekochte Eier essen. Wachsweich! Auch schadet es nicht, wenn Sie täglich dreimal etwas Brom nehmen.“

Das Bromsalzglas stand auf dem Schreibtisch. Sooft Jürgen die Feder in die Tinte stach, sah er das Salzglas, das herauszuwachsen schien aus dem Nacken des verheirateten Beamten, der, reglos wie ein Eingeschlafener auf das Pult gebeugt, vor seinem Chef saß, schon Vater dreier Kinder war, Sorgenfalten im grauen Gesicht hatte und keine Veilchen mehr im Knopfloch trug.

Auf das Bankgebäude wurde ohne Betriebsunterbrechung ein Stockwerk aufgesetzt. Während des Vergrößerungsumbaues mußte Jürgen mit drei Angestellten zusammen in einem Raume arbeiten. Ringsum, fern und nah, auf dem Dache und in allen Stockwerken wurde gehämmert, geschrien, gekratzt, gesägt, gehobelt.

In dem Bureau selbst stand katastrophenferne Ruhe.

Jürgen tauchte die Feder ein. Und wie er schreiben will, steht auf dem Pulte anstelle des Tintenfasses ein winziges, lebendiges Herrchen, das sich höflich verbeugt und lächelnd auf das Bromsalzglas deutet, mit einem feingegliederten Zeigefingerchen.

Jürgen kann nicht atmen, fletscht die Zähne, taucht die Feder noch einmal ein. Sticht sie auf den Kopf des Herrchens, das zum Tintenfaß zusammenschrumpft. Und wie Jürgen schreiben will, steht es wieder lebendig da, höflich vorgebeugt. Das Zeigefingerchen deutet, das Mündchen lächelt und sagt:

„Mit Bromsalz kann eine Menschenseele nicht zum Schweigen gebracht werden. Ich versichere Ihnen, so wahr es ist, daß sehr viel mehr als neunundneunzig Prozent aller Zeitgenossen, die so viel von Seele reden, durch ihre Seele in gar keiner Weise mehr gestört werden, weil sie sie schon längst eingetauscht haben gegen Dinge, die ihren Marktwert haben ...“

Das ist wahr, dachte Jürgen. Das ist wahr.

„... so wahr ist es, daß bei gewissen Individuen die Seele spielend leicht durch den allerstärksten Schutzwall durchschlüpfen und ihr vorbestimmtes Recht verlangen kann.“

Das Herrchen legte das Händchen an den Mund, als habe es ein tiefes Geheimnis zu offenbaren: „Die Seele will fließen. Und fließt unter Umständen bei gewissen Individuen selbst auf die Gefahr hin, überzufließen und alles in Verwirrung zu bringen. Denken Sie nur an die vielen, vielen Irrenhäuser, die es gibt auf dieser Erde. Voll! Überfüllt! Wer bezahlen kann, kommt in die erste Klasse und kann seine Seele preisentsprechend behandeln lassen ... Nun, das ist ja Nebensache, der Preis nämlich, wenn er auch in unserem Zeitalter bei allem die Hauptsache ist. Aber verzeihen Sie die Abschweifung.“

Jürgen strich sich über die Augen, blickte zum Fenster hinaus. „Was heißt Abschweifung! Das ist eine Halluzination. Nein, es ist nur eine Sinnestäuschung. Und das nicht einmal, ich habe nur, wie der Arzt sagte, zu viel gegessen. Oder ich bin übermüdet. Es sind nur die Nerven. Dieser Umbau macht einen ja ganz verrückt.“

Er schielte auf das Tintenfaß. Das stand leblos, schwarz, breit und niedrig an seinem Platze. Dennoch ertönte eine Stimme: „Wenn die Seele überfließt und spricht, nennen das die Ärzte eine Halluzination.“

„Ich werde mich aber jetzt doch einmal von einem Nervenarzt untersuchen lassen!“

„Das hilft Ihnen nicht“, behauptete, schülterchenzuckend, das Herrchen. Es saß auf dem Löschblattbügel, ein Beinchen übergeschlagen, und sah nicht aus, als ob es bald weggehen würde.

Der verheiratete Beamte wechselte die Schutzärmel, damit sie sich im Laufe der Jahre gleichmäßig abnützen sollten. Er war aus Erfahrung klug geworden. Ihm konnte es nicht mehr passieren, jahrelang einen schwarzen und einen grünen Schutzärmel tragen zu müssen, wie einmal in seiner Jugend, da er es unterlassen hatte, den schneller sich abnutzenden rechten Schutzärmel Öfters mit dem linken zu wechseln.

Die beiden noch farbig schillernden, eleganten jungen Beamten, die vor Jürgen an einem Doppelpulte saßen, machten einander mit den Beinen aufmerksam auf die Pedanterie ihres älteren Kollegen.

Jürgen übergab seine Weisungen für die Börse dem Prokuristen, einem runden Manne, dessen Lippen immer aussahen, als habe er eben eine fette Speise gegessen.

„Sagte es denn eben wirklich: Sie standen schon am Anfang Ihres Ich. Oder sagte ich selbst das?“ Jürgen konnte nicht ermitteln, ob er selbst sprach.

„Ich, natürlich, ich bins, der spricht! Niemand anderer als ich sagte: Sie standen schon am Anfang Ihres Ich.“

„Dieses Wort ist doch von mir. Ich selbst habe diesen Gedanken in genau der selben Formulierung vor Jahren einmal ausgesprochen.“

„Wie meinen?“ fragte der Prokurist.

Drei schreibgekrümmte Rücken und zwei starr blickende Augen, die einmal des Verheirateten Nacken, das Salzglas, dann wieder das Tintenfaß doppelt sahen. „In meinem Hinterkopf geht etwas vor sich; nicht in der Stirn.“

„Ich bins, der vor sich geht.“

„Und was wird mit mir geschehen?“

„Sie sind nicht mehr vorhanden.“

Die Stirn knallte auf die Schreibtischplatte. Die Bureauwände neigten sich lautlos auf ihn zu. Er sah die ineinander verschwimmenden Gegenstände vervielfacht und hatte das mit Übelkeit verbundene Empfinden, alles Blut vergehe in seinem Körper.

Der Prokurist sprang herbei, das Wasserglas in der dicken Hand, richtete den Haltlosen auf.

„Kaufen Sie! Kaufen Sie!“

„Selbstverständlich! Wird geschehen! Seien Sie ohne Sorge ... Hier, ein Schluck Wasser.“

„Nein, irgend etwas! Für mich! Kaufen Sie ... Vielleicht Orangen. Was Sie wollen!“

Der Prokurist eilte zur Tür. Jürgens Lippen waren weiß. In seinem Hinterkopfe klopfte dunkel der Hammer aus Gummi. „Möglichst schnell“, schrie er, Zähne gebleckt, dem Prokuristen nach.

„Das hilft Ihnen nicht mehr.“

„Die Stimme klingt, als spräche jemand mit mir aus weiter, weiter Ferne und doch aus nächster Nähe. Sie klingt wie ein telephonisches Ferngespräch. Mir ist, als spräche ich mit einem Wesen, das ich in Qualen liebte ... Bitte“, sagte Jürgen, bebend in Angst vor der Erfüllung seiner Bitte und so laut, daß die Beamten aufblickten, „legen Sie jede Verkleidung ab.“

Da sah er nichts Gegenständliches mehr, keine Augen; er sah einen Blick, nicht von Augen entsandt. Nur den Blick selbst, der unversehens zu dem ernsten Blicke des Jünglingsbildes in der Abonnementskarte wurde und, vergehend, weit zurückwich.

Heiß durchzogen und atembenommen starrte er dem vergehenden, ergreifend ernsten Blicke nach, beobachtete, Zähne gefletscht und Kopf seitwärts gedreht, wie der Blick sich in das Herrchen verwandelte, das sich so schnell erhob, daß der Löschblattbügel schaukelte.

„Das war mein erster offizieller Besuch.“ Es blickte auf die Bureauuhr. „Fünf Minuten vor zwölf.“ (Der Verheiratete nahm schon die Schutzärmel ab). „Existenzen Ihresgleichen gibt es in dieser Sekunde auf der Erde ...“ Das Herrchen nannte eine Zahl, die riesengroß und winzig klein in einem war und wie ein anklagendes Wort klang, gesprochen in der Nachtstille.

„Sie sind in allen Schichten und Lagern zu finden. Ich besuche sie alle. Jeden zu seiner Zeit. Es sind Universitätsprofessoren darunter, die als Studenten noch die Bereitschaft zur Hingabe in den Augen trugen. Industrielle, die als Jünglinge Gedichte gemacht haben. Hohe Geistliche, die in das falsche Christentum reisten. Dichter, die um des Erfolges und des Ruhmes willen von dem Protest und der Gesinnung weg in den Erfolg und Ruhm und immer tiefer in das Publikum hineinreisten. Männer, die sich der Wissenschaft hingegeben hatten und aus ihr später ein Geschäft machten, ein Namensschild mit Titel, angeschlagen an der Haustür. Und Existenzen Ihresgleichen, die Sozialisten waren und Bürger wurden. Verruchte Existenzen! Denn sie konnten, kraft naturverliehener Kraft, sich durch das heucheleidurchwirkte, blutnasse, dicke, dichte Dickicht dieses Jahrhunderts durchschlagen zu dem Bewußtsein, daß die im Zeichen befreiter Arbeit stehende menschliche Gemeinschaft, in der die Seele ihr Ich durch den Körper gewinnen und im Gleichgewicht in sich selber ruhen kann, erkämpft werden muß, sollen die lebenden und kommenden Generationen bewahrt bleiben vor Krieg und Hungerbarbarei, dem Wahnsinn, vor dem großen Tode!“

‚Ich muß mir das Ganze notieren, so kann ich es nicht behalten‘. „... Unmöglich! Unmöglich!“ rief er, ohne den Blick vom Stenogrammblock zu erheben, die Linke abwehrend ausgestreckt, dem Prokuristen zu, der einen Stoß Papiere in den Händen hielt, erstaunt sich die Lippen leckte und, auf den Zehenspitzen rückwärtsgehend, wieder verschwand.

„Jeden zu seiner Zeit. Einmal bin ich ein Herbsttag, ein welkes Blatt, das vom Baume fällt und bei einem ruhmverkalkten Dichter plötzlich die Frage auslöst: Habe ich alles verraten, was in der Jugend mir teuer war? Die Frage, die zugleich die Antwort und der Beweis ist. Manchmal schreite ich in ein Buch hinein, werde zu einem Satze, der in dem Lesenden blitzhaft die Gewissensfrage auslöst. Manchmal bin ich ein Traum. (Wie bei Ihnen zum Beispiel. Auch kann ich der Umbau eines Bankgebäudes sein).“

Oder ein Engländer, der fragt: Wie geht es Ihrem Herrn Bruder? dachte Jürgen und stenographierte auch diese Erinnerung.

„Ich bin ein zwanzigjähriges Mädchen, das im Kampfe gegen die Umwelt steht und durch ihre Verachtung in dem Abtrünnigen die Sekunde aufreißt, in der er den tragischen Rückblick tun muß. Manchmal werde ich durch einen Ton in grauer, leerer Stunde zur Gewissensfrage. Durch den Ton einer Kindertrompete! Ich bin ein regnerischer Tag, verhindere einen Ausflug in den Genuß und werde so zum Tage des Versinkens in den Ekel vor sich selbst. Oft bin ich ein Sonntagnachmittag. Ich werde als Bild an der Wand zur Gewissensfrage und als Spaziergang in menschenleerer Landschaft, wo es keine Läden gibt. Ich steige als Weinrausch in das Herz eines Satten, und er sinkt in die Selbsterkenntnis hinein. Es kann einer seinen Teppich ansehen und plötzlich aus dem Muster, das ich bin, die Gewissensfrage herauslesen, grauenvoll deutlich. Manchem wird der Rückblick zum Konflikt, der ihn ins Irrenhaus bringt.“

Das Herrchen deutete: „Das ist Ihr Fall.“

Jürgen schauerte im Rückenmark.

„Andere glauben, sich in Selbstgerechtigkeit hineinretten zu können. Viele ertrinken völlig in ihr und erleiden die Strafe erst in spätem Alter, wenn sie eines Tages, veranlaßt durch mich, die Nichtigkeit ihres Lebens einsehen müssen und, entsetzt über ihr verdrecktes, mit Achtung, Gemeinheit, Lüge, Erfolg, Ruhm und Selbstgerechtigkeit poliertes Dasein, an einer Kugel, an einem Stricke oder an Ekel vor sich selbst sterben. Auch die feinste Selbstbelügung schützt den Verräter nicht. Keiner kann in Selbstgerechtigkeit sein Leben beschließen. Dies vermögen nur diejenigen, die schon als wehrlose Kinder ganz entselbstet, enticht, entseelt werden konnten, sich der Umwelt anpaßten und dafür das Leben, wie es ist, eintauschten, im Gegensatz zu Ihnen, der Sie die Kraft hatten, sich das Kostbarste und Leidvollste auf Erden zu erkämpfen: das Bewußtsein.“

„Wer vermöchte zu entscheiden, ob stärker als die Verhältnisse und größer als meine Begierden die Kraft in mir war, weiter zu kämpfen! Was ist der Beweis meines Verrates?“

„Wer fragen muß: Bin ich ein Verräter, der ist es; Ihrem Schwiegervater fällt dies gar nicht ein. Die Frage enthält schon die Antwort und den Beweis des Verrates.“

Diese Worte trafen ihn mit solcher Beweiskraft, daß er minutenlang die Fähigkeit, zu denken, vollkommen verlor. Auch das Klopfen im Hinterkopfe hatte geendet.

Die Bureauuhr schlug zwölf. Die drei Beamtenoberkörper richteten sich auf. Drei Federhalter wurden weggelegt.

Auch Jürgen legte den Federhalter weg, richtete sich auf. Vor seinen Augen schwebten rundum und durcheinander blitzweiße, goldumränderte Sternchen, als ob er mit dem Kopfe nach unten aufgehängt gewesen wäre. Eine Fliege glitt auf weißem Papier schnell vom Tintenfaß zum Löschblattbügel.

„Wieviel Beine hat eigentlich eine Fliege? Vier oder sechs? ... Da wurde ich zweiundvierzig Jahre alt und weiß nicht, wieviel Beine eine Fliege hat. Was bin ich doch für ein Dummkopf! Sitze da und grüble seit Stunden über diesen Unsinn nach. Kann mir doch vollkommen gleichgültig sein“, sagte er und horchte befreit auf den stärker gewordenen Straßenlärm, den die dem Suppenteller Zueilenden verursachten. Die Glocken der Trambahnen läuteten stärker.

„Es muß ja nicht gleich morgen sein, aber bei Gelegenheit sollten Sie sich einmal neu photographieren lassen. Sie sind zu verändert“, sagte freundlich der Schaffner und gab die Abonnementkarte zurück. „Das hier ist ein junger Mensch, während Sie doch schon in die besten Mannesjahre kommen.“

Der grauhaarige Bürger, der neben Jürgen saß, schob den zusammengerollten Fahrschein unter den Ehering.

Ja, die liegen Gott sei Dank noch vor mir ... Kann mich ja photographieren lassen, bei Gelegenheit, dachte er, stieg aus. Und ging, im selben Tempo wie jeden Tag, die zweihundert Schritte bis zur Villa. Summend durch den Garten, auf die farbigen Glaskugeln zu.

Den Bruchteil einer Sekunde stutzte er vor den Glaskugeln. Es war ein grauer Tag. Die Glaskugeln standen öd in ihren eigenen Farben. Im Garten regte sich nichts.

Der Mantel hing sich von selbst an den Haken. Die bereitstehenden Hausschuhe schlüpften über Jürgens Füße. Gewohnheitsmäßig zupfte er das Tischtuch zurecht. Die Schüsseln entleerten sich.

Das Kanapee gab mit den vertrauten Tönen dem Körper nach. Die Augen lasen die Mittagszeitung.

Bis sechs Uhr im Bureau. Dann im Garten. Wachsweiche Eier zum Abendessen. Von neun bis zehn Uhr die Abendzeitung. Auf den Rat des Arztes hin punkt zehn Uhr ins Bett. Am langen Sonntagnachmittag die gewohnte Billardpartie mit dem befreundeten Fabrikanten, der die Sammlung gotischer Plastiken besaß. Montag ins Bureau.

So verging noch eine kurze Zeit, bis eines Tages die Abendzeitung ausblieb.

Punkt neun erklang das Stöhnen des Kanapees, zusammen mit Jürgens wohligem A-Seufzer. Seine Hand griff automatisch nach der Abendzeitung, die seit Jahren immer an der selben Stelle auf dem Tische bereit gelegen war, und griff in die Leere.

Die Zeit bekam ein Loch, das sich durch das Rufen nach Phinchen vorerst noch einmal schloß. „Wo ist das Abendblatt?“

„Die Zeitungsfrau ist heute nicht gekommen.“

„So, die Zeitungsfrau ist heute nicht gekommen. Das Blatt wurde nicht eingeworfen, wie? Du hast nichts gehört?“

„Nein, es wurde nicht eingeworfen. Die Zeitungsfrau ist wahrscheinlich am Hause vorübergegangen.“

„Du meinst also, die Zeitungsfrau sei vorübergegangen.“

„Sie hat zweifellos vergessen, die Zeitung einzuwerfen. Ging am Hause vorüber.“ Als er das Wort ‚vorüber‘ aussprach, schlug er sich, das Gähnen zu verdecken, einige Male leicht auf den Mund, so daß das Wort in mehrere Laute getrennt wurde. Dieses Geräusch erinnerte ihn an das Geräusch, das der leerlaufende Motor verursacht, wenn die Trambahn hält. (Der Schaffner gibt ihm die Abonnementkarte zurück.)

‚Gut, kann ja ein neues Bild machen lassen, bei Gelegenheit ... Den Fahrschein zusammengerollt unter den Ehering zu schieben, ist übrigens ganz praktisch. Man hat ihn gleich, wenn der Kontrolleur kommt.‘ Seine Hand griff nach dem Abendblatt. „... Ah so!“

Er versuchte, das Loch, das die Zeit bekommen hatte, auszufüllen, indem er das linke Bein über das rechte schlug und heiter zu summen begann. Sobald er still lag, war das Loch wieder da. Groß, schwarz, endlos.

Der grüne Hügel, wo vor vierzehn Jahren die Fabrikantensöhne und -töchter Huhn und Rotwein genossen hatten, schob sich in das Loch, verschwand wieder. Er dachte: Was jetzt, zwischen neun und zehn Uhr, in der Welt alles vor sich geht ... Gewiß sehr viel.

Warf das rechte über das linke, legte den Kopf auf die harte Sofalehne, dann auf das weiche Kissen. Betrachtete die Tapetenblumen. (‚Einer sieht seinen Teppich an, und das Muster, das ich bin ...‘) Er warf sich herum. Das Kanapee ächzte. Er begann zu pfeifen.

Plötzlich wurde er, bei dem Gedanken, hier zu liegen und eine Stunde zu pfeifen, von solchem Grauen gepackt, daß er, mit noch pfiffgespitztem Munde, versteinert die Decke anstarrte.

„Sie hätte nur die Zeitung einwerfen brauchen, dann könnte ich mich zerstreuen. Zerstreuen ... Früher konnte ich in Gesellschaft gehen oder ins Varieté, in den Zirkus, ins Theater, in die Oper. Andere gehen in ihr Stammlokal, in die Gesangvereinsprobe, zum Kegeln, spielen Karten ... Das ist eine Zerstreuerei! Ganz Europa zerstreut sich.“ Er pfiff wieder.

„Aber die andern, die schon als wehrlose Kinder – Sie wissen schon: die leben, wenn sie kegeln.“

Da öffnete sich der pfiffgespitzte Mund; Jürgen glaubte zu fühlen und zu sehen, wie hinter seiner Stirn die schwarzen Buchstaben zu der Frage entstanden: „Wer hat das gesagt?“

Er schnellte in Sitzstellung empor und brüllte ins totenstille Zimmer hinein: „Wer hat das gesagt? Wer?“

Die Amsel verließ, heftig flatternd, auf einem scharfen Pfiff den Mauerefeu beim Fenster. „Wer? Die Amsel? Wer hat das gesagt?“

Von den an der Decke kreisenden Fliegen fiel eine auf die Tischplatte. Und Jürgen, Oberkörper lauernd vorgebeugt, Hand fangbereit gekrümmt, flüsterte: „Muß doch einmal ...“ Die Gefangene drückte gegen das Faustinnere.

Schneller als eine Fliege vorbeizuckt, wich das Interesse, zu erfahren, wieviel Beine sie hat, der Frage, was ihn noch retten könne.

„Für Sie gibt es keine Rettung mehr. Sie werden wahnsinnig werden.“

Langsam ließ er sich auf das Kanapee zurücksinken. „Wahnsinnig? Weshalb?“ Fuhr sofort wieder in Sitzstellung auf. „Was? Wer hat gesagt, ich würde wahnsinnig werden? Wer? Das habe nicht ich gesagt. Wer hat das gesagt? Wer! Wer!“ Plötzlich brüllte er wild: „Die Abendzeitung! Ich will die Abendzeitung. Alle haben ihre Abendzeitung. Die Abendzeitung! Die Abendzeitung!“ Wut entstellte sein Gesicht.

„Auch die Zeitung würde Ihnen nichts mehr nützen.“

Pünktlich auf die Minute trat, wie jeden Abend, Phinchen ein und zog die Wanduhr auf: Die zwei Bleigewichte berührten den Rand des Ziffernblattes.

„Dann ist es jetzt genau halb zehn“, sagte Jürgen, als Phinchen wieder draußen war. „Ich brauche gar nicht hinzusehen. Genau halb zehn ... Und morgen abend um halb zehn ist die Uhr abgelaufen und die Gewichte hängen unten. Dann ist ein Tag vorbei. Die Uhr wird aufgezogen. Und übermorgen um halb zehn hängen die Gewichte wieder unten. Dann ist wieder ein Tag vorbei. Sie wird aufgezogen ... Aufgezogen ...“

„Und dann ist das Leben vorbei.“

„Ja, dann ist das Leben vorbei ... Und doch fahre ich morgen ins Bureau und übermorgen. Und dann kommt der Sonntag. Und dann der Montag. Der Samstag. Ich arbeite, mache Pläne. Fusion. Werde reicher und reicher. Die Jahre vergehen ...“

Und dann kam die Frage nach dem Sinn und nach dem Ziele, die Frage nach der Idee, nach dem Zwecke, für den zu arbeiten und zu kämpfen sein Lebensinhalt sei.

Sein Inneres und die Umwelt – alles war grau und leer. Er wartete. Lange.

„Aber ich bin ein geachteter Mann.“

„Einmal sagten Sie, dies sei die größte menschliche Katastrophe.“

„Kann sein! Kinderei! Lassen wir das einstweilen. Jetzt will ich erst einmal Bilanz machen. Dann werde ich überlegen, was zu tun ist. Ich will methodisch vorgehen. Reich, sehr reich und geachtet, gebildeter und wissender, kultivierter als die meisten und imstande, mir jeden Genuß, den das Leben bietet, zu verschaffen.“

„Sie haben also alles schon erreicht, was den andern von Jugend an als Ziel vorschwebt und zum Sarg wird für diejenigen, die das Ziel erreicht haben. Was also ist der Zweck? Was Ihr Ziel?“

„Auch bin ich nicht schmutzig, nicht geizig. Im Gegenteil; ein Zehntel der Summe, die ich für Wohltätigkeitszwecke gegeben habe, würde genügen, daß ein halbes Dutzend Männer mit Frauen und Kindern ein vollkommen sorgenloses Leben in eigenem Hause führen und selbst in kleinerem Ausmaße wohltätig sein könnten.“

„Das stimmt. Zum Teil wahrscheinlich auch daher die große Achtung, die Sie genießen und vor sich selbst haben.“

„Auch möglich! Aber das ist, wie gesagt, jetzt Nebensache, die Achtung.“

„Nee, die ist mit die Hauptsache.“

Jürgen machte eine ärgerliche Abwehrbewegung mit der Hand. „Nun, wenn Sie wollen, ich pfeife auf die Achtung. Ich könnte, wenn ich auf der selben Linie weiterschreiten würde, noch mächtiger, einflußreicher und in noch weiteren Kreisen geachtet werden.“

„Das können nur die Bewußtseinslosen, deren Weltanschauung in den drei Worten besteht: Jeder für sich; Sie aber können das nicht. Denn Ihr Bewußtsein sagt Ihnen, daß Sie nicht das geringste zur Verwirklichung des unverrückbaren Menschheitszieles beizutragen vermöchten, auch wenn Sie, weiterschreitend auf dem Jeder-für-sich-Wege, der mächtigste Mann des Landes werden würden.“

„Ich will ja auch gar nicht fortschreiten auf diesem ziellosen Wege.“

„Nicht Sie wollen nicht, sondern ich will nicht. Ich! Ich lasse nicht zu, daß Sie in dem bisherigen Trott weitermachen. Sie selbst können gar nicht mehr wollen oder nicht wollen. Sie sind nur noch eine Willensmaske.“

Jürgen preßte beide Fäuste an den Kopf. „Seit einiger Zeit führe ich fortwährend Selbstgespräche. Nun, und wenn auch! Viele Menschen führen Selbstgespräche.“

„Sie aber führen Gespräche mit Ihrem Selbst.“

Jürgen sah auf. „Wie dem auch sei, Tatsache ist, daß ich ohne Ziel, ohne Idee, ohne Zweck nicht weiterleben kann. Das halte ich nicht aus. Ich halte diesen Zustand einfach nicht mehr aus.“

„Dies ist es, was Sie von dem Vollbürger unterscheidet. Der hält diesen Zustand sehr gut aus. Denn sein Ziel ist: Haben, haben, haben und immer noch mehr haben. Und er bleibt in der Regel gesund dabei. Fragt sich nur, ob diese seine Gesundheit nicht die Krankheit ist, an der die Menschheit zugrunde geht.“

„Daß an dieser Gesundheit die Menschheit zugrunde geht, scheint mir gar keine Frage mehr zu sein. Ich habe da“, flüsterte Jürgen, „zweifellos einen richtigen Gedanken ausgesprochen ... Wie steht es aber damit, daß trotz dieser tödlichen Gesundheit es offenbar keinen Menschen gibt, der ohne Ideal zu leben vermöchte. Ausnahmslos jeder, den ich kenne, und sei er der übelste, habgierigste, härteste Schuft, hat sein Ideal, und wenn es auch nur Selbstbelügung ist. Mittel zur Beruhigung des Gewissens.“

Zuerst blickte Jürgen mit zugekniffenen Augen mißtrauisch seitwärts, wie einer, der sich vergewissern will, ob er nicht beobachtet wird. Langsam richtete er sich auf. Die Hand wurde auf der Tischplatte zur Faust. Auf der Stirn entstand die Energiefalte. So saß er, reglos, alle Muskeln gespannt, plötzlich ganz erfüllt von dem Entschlusse, mit der Niederschrift seines seit langem geplanten Lebenswerkes ‚Volkswirtschaft und Einzelseele‘ zu beginnen. „Das ist meine Rettung.“ Freude rötete sein Gesicht.

Und wie er den Kopf hob, sah er auf der gegenüberstehenden Wand ein winziges, höhnisches Lächeln.

Senkte sofort den Kopf. Durch dieses Werk werde ich zu meinem kleinen Teile dem Fortschritt und der Erkenntnis der Menschheit dienen können, dachte er, schielte zur Wand, wo wie ein Bild das höhnische Lächeln hing.

„Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich Ihr tönendes, tiefes Gefasel über Moral, Gerechtigkeit, Humanität, Ideal und Seele in bezug auf die Volkswirtschaft nicht zulassen, sondern während der Niederschrift mit einer Hartnäckigkeit ohnegleichen immer wieder darauf hinweisen werde, daß es sich um die Moral und die Gerechtigkeit der herrschenden Klasse, der Nutznießer des bestehenden Produktions- und Verteilungssystemes handelt, welches den entscheidenden mörderischen Einfluß hat auf das Wesen und das Sein, das Kranksein und das Nichtsein auch der Einzelseele.“

Jürgens hervortretende Augen starrten rettungsuchend umher. Schlaff geworden, sank er in die Kanapeecke. „Keine Möglichkeit der Hingabe? Ich sehne mich so sehr danach.“

„Diese Sehnsucht entspringt schon dem Konflikt, der Sie ins Irrenhaus bringen wird.“

„Ich will, ich will zurück zu mir ... Ich fühle, ich fühle ...“

„Sie ... denken Gefühle. Sie können weder vor- noch rückwärts.“

„Eine tote Mitte? Das halte ich nicht aus. Ich werde wahnsinnig.“

„Wahnsinnig! Sie sind gestellt.“

„Eingekreist?“

„Eingekreist! Das, was Sie während der letzten vierzehn Jahre waren, können Sie nicht länger mehr sein; so, wie Sie als Kämpfender waren, nicht mehr werden. Sie sind nicht mehr vorhanden. Sie sind nicht mehr Sie.“

„Das hat auch der Trambahnschaffner gesagt.“

„Aus dem heraus habe ich gesprochen.“

„Sind Sie auch die Abendzeitung, die nicht gekommen ist?“

„Ich bin das Nichtgekommensein der Abendzeitung und habe auch aus dem Trambahnschaffner herausgesprochen. Der sogenannte normale Bürgersmann hört aus des Schaffners Worten ‚Das sind ja gar nicht mehr Sie‘ nur heraus, daß sein Bart länger oder grauer geworden ist.“

„Wenn Sie ich sind und aus dem Trambahnschaffner herausgesprochen haben, dann habe ja ich selbst aus dem Trambahnschaffner herausgesprochen und zugleich als Fahrgast seine Worte vernommen. Seine? Ihre? Oder meine? Ich weiß nicht. Bin ganz verwirrt.“

„Sie haben Ihre eigenen Worte vernommen, die der Trambahnschaffner, aus dem ich sprach, gesprochen hat.“

Angsterregung riß Jürgen vom Kanapee auf. „Wer denkt das alles? Ich Will wissen, wer da denkt.“

„Ihr Bewußtsein.“

„Wer spricht die ganze Zeit mit mir? Ich höre Stimmen.“

„Wahnsinnige hören Stimmen.“

„Und ich bin nicht wahnsinnig. Bin nicht wahnsinnig! Ich bin der Bankier Jürgen Kolbenreiher. Und ich brauche nur nicht mehr in das Bureau zu gehen, brauche nur da wieder anzuknüpfen, wo ich vor vierzehn Jahren abgebrochen habe, dann werde ich wieder ein Ziel haben, werde hingebungsvoll kämpfen, und alles wird gut sein.“

„Auch dieser Wunsch entspringt dem Konflikt, der Sie ins Irrenhaus bringen wird.“

„Suchet, so werdet Ihr finden, heißt es in der Schrift.“ Jürgen lauschte, das Gesicht seitwärts gedreht. Im Nachbargarten ertönte eine Lachsalve.

„Ich muß Schluß machen, Schluß! und sofort neu anfangen. Auf der Stelle! Vor allem: ich gehe nicht mehr in die Bank. Schluß!“

Er war aufgesprungen, lauschte nach innen, was der Strom der Gefühle ihm zuerst bringen werde:

Schreibmaschinen klapperten. Der Mahagoniaufzug stieg lautlos empor. Angestellte eilten durch die Gänge des Bankgebäudes. Der Prokurist verbeugte sich, reichte Jürgen die wichtigen Telegramme.

Angewidert von dem eigentümlichen Geruch des Bankgebäudes, schob er das ganze Geschäft von sich weg, wartete auf den Strom der Gefühle. Die Frau des befreundeten Fabrikanten, eine junge, schöne Blondine, die zu Jürgen in die Villa gekommen und von ihm verführt worden war, tritt ein, nimmt, wie damals, den Schleier ab. Das sah, wie damals, aus, als ob sie sich entkleidete. Jürgen schüttelte abwehrend den Kopf.

Das Billardbrett tauchte grün auf. Jürgen hatte nur noch einen schwierigen Stoß zu machen. Der gelang ihm. Er hatte die Partie gewonnen. Der Freund mußte bezahlen.

Jürgen lächelte zu Boden. „Das war eine interessante Partie“, flüsterte er erfreut und machte seinem Freunde noch eine Serie schwierigster Stöße vor.

Die Billardbälle wurden immer größer, kopfgroß, wurden zu den farbigen Glaskugeln. Erst als er im roten Ball seinen abgeschlagenen Studentenkopf erkannte, der lächelte, so daß nicht ein Billardball, sondern ein gefährliches Lächeln kopfgroß über das grüne Tuch hopste, ließ er das Queue sinken.

In tiefster Bestürzung flehte er um ein Gefühl aus der Vergangenheit. Er empfand nichts, ließ sich, gebrochen und ergeben, in den Sessel sinken. ‚Ich gehe eben morgen wieder ins Bureau und übermorgen und in zwanzig Jahren auch noch.‘ „Unmöglich!“ rief er. „Unmöglich!“

Da stieg die Wut hoch in ihm. Um die innere Leere zu füllen, stieß er starke Worte aus: „Blutig ans Kreuz geschlagen! Proletarier aller Länder ...! Sturm! Untergang!“ Er empfand nichts dabei. Brüllte wahllos: „Kinderbewahranstalt! Apfelknecht! Reifeisen!“

„Was, Apfelknecht? Nun, weshalb nicht auch Apfelknecht! Jetzt erst recht: Apfelknecht! Apfelknecht! Apfelknecht!“

Entstellt vor Wut, raste er durch alle Zimmer durch in den Salon. Zwischen dem schwarzlackierten, nie benutzten Kohlenkasten, auf den die heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten gemalt war, und dem gestickten Wandschirmstorch, der das Wickelkissen mit den drei Säuglingsköpfen aus dem Teiche zog, schwang der Perpendikel hin und her.

Vor übergroßer Wut ganz ruhig geworden, schritt er zur Uhr und riß mit einem Ruck den Perpendikel heraus, schleuderte ihn durchs Fenster in das Springbrunnenbassin. Die Amsel zuckte aus dem Garten hinaus. „Das wäre das“, frohlockte er, hob die meterhohe Vase über den Kopf empor und schmetterte sie zu Boden. Die Nippsachen flogen an die Wand. Die Fenster klirrten. Er demolierte die ganze Einrichtung. Rückte den schweren Eichenholzschrank von der Wand, betrachtete die Zerstörung. „Nun, nun“, sagte er ratlos und schob den Schrank wieder zurück.

Schluchzen stieß ihn. Da fühlte er sich innerlich berührt und ließ sich führen, hinauf in das Zimmerchen, das er als Kind und Jüngling bewohnt hatte. In der Hand den silbernen Leuchter, den nach bestandenem Abiturientenexamen die Tante ihm mit den Worten geschenkt hatte: ‚Wenn ich tot bin, bekommst du alles‘, betrat er scheu die Kammer, in der seit vielen Jahren kein Mensch mehr gewesen war.

Über dem versessenen Lederkanapee hingen noch, oval gerahmt und symmetrisch zu einem großen Oval geordnet, die vergilbten Photographien der Familie Kolbenreiher. Und auf dem Bücherbrett standen verstaubt die Reisebeschreibungen in bilderreichen Umschlägen. Die Luft war stockig wie in einer Totenkammer.

Der große, schwer gewordene Mann blickte, tief erschüttert von dem Besuche bei seiner Jugend, atembenommen die verblaßten Wände an und seinen riesenhaften Schatten. Und begann, traumwandlerisch, sich wie ein Jüngling zu benehmen, räumte, durchbebt von innerlichem Weinen, die Bücher heraus, ordnete sie wieder hinein und schlich, den Zeigefinger am gespitzten Munde, mit der ‚Schreckensvollen Reise ins Erdinnere‘ zum Kanapee. Ein irr-schlaues Lächeln im Gesicht, erhob er sich noch einmal, zog mit seinem Taschenmesser einen Riß um die Kerze herum, zwei Zentimeter unter dem Docht, und begann zu lesen.

„Nein, nein, ach, nein, das hilft Ihnen nicht.“

Jürgen blickte auf. Die Stimme hatte so traurig und mitleidig geklungen. „Das hilft mir nicht“, flüsterte er weinend. „Das hilft mir nicht.“

Vor ihm lag, weit hingebreitet, ein fremdes Stück Land, entzweigespalten durch einen gewaltigen Abgrund. Rechts war eine blanke Asphaltfläche. In deren Mitte stand ein gelbes Streichholzschächtelchen. Alle Schulkameraden, Geschäftsfreunde und Bekannten Jürgens schritten auf das gelbe Schächtelchen zu, in dem eine Banknote lag. Auf dem Schächtelchen stand das Wort ‚Achtung‘. Von allen Seiten kamen sie herbei und verbeugten sich vor dem Streichholzschächtelchen, stießen einander weg, verbeugten sich.

Auf der andern Seite des Abgrundes: eine milde Wiese. Darauf weidet ruhig ein altes Pferd. Weiter rückwärts ist die Wiese wild, und da, wo sie mit dem Himmel zusammengeht, sind Jugend, Begeisterung, Ziele, feurig beleuchtete Gesichter: Jünglinge, die unter Hingabe ihres Lebens sich bemühen, das Pferd, das die Liebe ist, über den gewaltigen Abgrund weg zu den Bürgern zu schaffen.

„Die bemerken es ja gar nicht. Und aus diesem unheimlichen Grunde ist es den Jünglingen ganz unmöglich, das Pferd über den Abgrund herüberzuschaffen“, sagte Jürgen.

Da wurde seine Hand gezwungen, ein Streichholzschächtelchen zu entleeren und eine Banknote hineinzulegen. Er stellte das Schächtelchen auf den Fußboden, verbeugte sich. Die Fäuste zur Brust hochgehoben, sprang er in gleichmäßigem Trabe um das Schächtelchen herum. Die Villa zitterte. Jürgen keuchte und schwitzte, verbeugte sich, rannte weiter im Kreise.

Die Uhr schlug zehn. Die Macht der Gewohnheit beendete sofort den Tanz. „Schlafen“, sagte er, verzerrten Gesichtes gähnend und keuchend in einem. Griff nach dem Leuchter.

Stand bei der Tür, als ob er eben eingetreten wäre. Sein Kopf war frei. „Ich muß die Kammer einmal gründlich durchlüften lassen“, sagte er und ging in das Schlafzimmer.

Punkt acht Uhr betrat er am andern Morgen das Bureau.

Erst nachdem er einen halben Kanzleibogen vollgeschrieben hatte, hörte er mitten im Worte auf. „Ich wollte ja nicht mehr ins Bureau gehen ... Aber ist denn das möglich? Halte ich das aus? Oder halte ich das nicht aus?“

„Weder – noch!“

Da wurden die drei Beamten von einem Knall in die Höhe gerissen: Jürgen hatte das Tintenfaß durch das zerbrechende Fenster hinunter in den Lichthof geschleudert. Ein Tintentropfen rollte langsam an der Stirn herunter, am tobsüchtig glotzenden Auge vorbei, über die dicke Backe.

„Wenn Sie solche Sachen machen, zieht man Ihnen ja die Zwangsjacke an. Nun sind Sie selbst aber schon eine Zwangsjacke von Ihrem Selbst. Sie würden also über die Zwangsjacke eine Zwangsjacke angezogen bekommen. Bedenken Sie, welch entsetzliche Hilflosigkeit.“ Die Stimme hatte vorwurfsvoll und dabei sehr milde geklungen.

„Jawohl, da ist es schon besser, ich gehe wieder“, sagte Jürgen und griff nach seinem Hute. Die zwei jungen Beamten machten unabgewandten Blickes mit den Beinen einander aufmerksam.

Von einer fremden, hinter seinem Rücken stehenden Macht wurde Jürgen durch die Straßen geschoben zum Nervenarzt.

Bein übergeschlagen, beide Ellbogen so auf die Sessellehnen gestützt, daß die gefalteten Hände und das Kinn vor der Brust zusammentrafen, hörte der schweigende Neurologe dem Patienten zu. Und Jürgen empfand Dankbarkeit diesem Manne gegenüber, der offenbar alles schon zu wissen schien und sich dennoch alles erzählen ließ.

„Na“, unterbrach der Professor und schnellte, ein abschließendes, vertrauenerweckendes Lächeln im Gesicht, vor, griff nach Jürgens Puls. Der Sprungdeckel des goldenen Chronometers gab mit einem beruhigenden Knacken das Ziffernblatt frei. Die Arztaugen blickten zur Decke.

Das Herrchen saß schwarz auf dem Tintenfaß aus schwarzem Marmor und schüttelte verneinend und mitleidig das Köpfchen.

„Und jetzt die Zunge!“ Jürgen streckte die Zunge heraus.

„Sie sind vollblütig und haben leider trotzdem, ich sage es Ihnen auf den Kopf zu, täglich Suppe gegessen, Fleisch, auch Eier! Stimmt das?“

„Wachsweiche Eier zu essen, hat mein Hausarzt mir geraten.“

Das überhörte der Professor. „So viel über Ihren körperlichen Zustand. Und was Ihren seelischen Zustand betrifft, über den, wie Sie sich ausdrückten, Sie keine Kontrolle mehr zu haben glauben, so ist dazu zu sagen, daß es, streng naturwissenschaftlich gesprochen, einen seelischen Zustand in Ihrem Sinne gar nicht gibt, aus dem einfachen Grunde, weil es, streng naturwissenschaftlich gesprochen, verstehen Sie, eine Seele, in dem Sinne, wie Sie sie auffassen, nicht gibt.“

Er blickte Jürgen ermunternd an, als wolle er sagen: Sehen Sie, so einfach ist diese Sache, wenn man sie wissenschaftlich betrachtet.

„Es gibt nur Körper, Herr Kolbenreiher, Körper, angefangen bei dem mit Vernunft und Bewußtsein bedachten, höchst entwickelten Tier, nämlich dem Menschen, zurück über den Affen, das Pferd, den Esel, den Hund, den Wurm, die Schnake, die Laus (wenn Sie gestatten), die Pflanze und den leblosen Dingen, die, ebenso wie die Pflanzen, die Tiere und wir, aus Atomen bestehen. Das ist, von der Naturwissenschaft aufgebaut und bis in die letzten Winkel durchleuchtet, der für uns glasklar gewordene Kosmos, in dem die mittelalterliche Hypothese ‚Seele‘, wie Sie sie auffassen, keinen Raum mehr hat.“

Jürgen warf schnell einen Blick Richtung Tintenfaß, das schwarz und glänzend auf seinem Platze stand.

„Sie, Herr Kolbenreiher, sind ein intelligenter Patient; anderen gegenüber würde ich mich zu solchen Erklärungen nicht herbeilassen. Repetieren wir: Es gibt also erstens vernunftlose Atomverdichtungen und zweitens vernunftbegabte Atomverdichtungen, von denen die höchstentwickelte Verdichtung der Mensch ist. Wir haben es demnach nicht mit der Zweiteilung ‚Seele und Körper‘ zu tun, wie Ihr Herrchen behauptet ...“

„In dieser Form habe ich das nie behauptet“, sagte das Herrchen.

„... sondern mit der Einheit ‚Körper‘, der von Vernunft bewegt wird, und zwar von der Zentralstation aus, dem Gehirn. Sie, Herr Kolbenreiher, sind eine vernunftbegabte Atomverdichtung, merken Sie sich das, und eine Einheit. Das heißt, Ihre Vernunft, Ihr Bewußtsein, Ihr Ich kann nicht, wie Sie mir da erzählen, für sich allein sprechen, auf der Straße spazierengehen, einen Separatspaziergang machen oder Sie besuchen und, sagen wir: ein Bankkonto besitzen; sondern Sie besitzen infolge Ihrer Vernunft ein Bankkonto.“

„Aber ich habe die Kontrolle über mein Bewußtsein verloren.“

Der Arzt erhob sich. „Das werden wir schon wieder deichseln. Sie sind Bankier. Sie machen sich nützlich. Dienen durch Ihre Leistung der Allgemeinheit. Das sollte Ihr Selbstbewußtsein stärken. Sind allerdings vollblütig. Also vorerst: keine Fleischsuppen, keine Eierspeisen. Vor dem Schlafengehen kalte Waschungen und, wie Ihr Hausarzt sagt, etwas Brom ... Ordnung. Arbeit. Hin und wieder etwas Zerstreuung, eine hübsche Frau. Sie verstehen. Das ist das Leben. Freuen Sie sich, daß es diese dunkle Kalamität ‚Seele‘ in Ihrem Sinne nicht gibt.“

Auch das Frackherrchen erhob sich.

„Dort, sehen Sie, dort steht es.“ Zurückweichend deutete Jürgen auf das Tintenfaß.

Der Professor nahm es in die Hand. „Was ist das?“

„Ach, nichts von Bedeutung. Das bin nur ich. Eine Kleinigkeit! Nur zwei Buchstaben: I–ch. Nicht der Rede wert“, sagte, bescheiden lächelnd, das Herrchen.

Und der Arzt: „Nun, was ist das?“

„Das ist ein Tintenfaß.“

„Na, sehen Sie, jetzt müssen Sie selbst lachen.“

Jürgen trug die Lachfratze durch die Straßen.

„Glauben Sie mir, Ihnen kann auch der nicht helfen.“

Dennoch ging Jürgen unverzüglich zu einem Psychiater, erzählte ihm alles, auch alles, was der Professor gesagt hatte. „Aber diese ganze Auffassung ...“

„Sie haben Recht. Verglichen mit der modernen Seelenforschung, ist die Auffassung des Herrn Kollegen etwas primitiv ... Ja, Herr Kolbenreiher, die Behandlung dürfte wahrscheinlich Jahre in Anspruch nehmen. Wir müssen Ihre ganze Kindheit durchforschen. Erst, nachdem die schweren, von Ihnen total vergessenen Kindheitserlebnisse ...“

Das Frackherrchen winkte ab: „Ach, hören Sie auf, Herr Doktor.“

„Wie meinen?“

„Ich habe nichts gesagt.“

„... welche zweifellos die Ursache Ihrer Krankheit sind, Ihnen vollkommen bewußt geworden sein werden und Sie sie mit der Kritikfähigkeit des Verstandes eines Zweiundvierzigjährigen ...“

„Aber Doktor! Ein Mensch, der, um nur das eine zu nennen, im Traume dem Vater ins Gesicht gelacht hat, ein Mensch also, der die fremden Mächte in seiner Seele besiegen, sich das Bewußtsein erkämpfen und an den Anfang seines Ich gelangen konnte, kann nicht mehr die in Kindheit und Jugend empfangenen Wunden verantwortlich machen.“

„Ja“, sagte fein lächelnd der Psychiater, „sagen Sie das nicht.“

„Was?“ fragte Jürgen.

„Was Sie eben sagten.“

„Ich habe nichts gesagt.“

Das Frackherrchen lächelte.

Auch Jürgen lächelte verschmitzt. „Also, in bezug auf die Kindheitserlebnisse wenigstens sind wir einer Meinung.“

„Dann ists ja gut. Kommen Sie morgen zu mir.“

„Nein. Denn mir können auch Sie nicht helfen.“

„Das sollten Sie, wie gesagt, nicht so ohne weiteres sagen.“

„Was?“

„Daß auch ich ... Denn diese Kindheitser...“

„Steckenpferd!“

Der Psychiater hob die Augenbrauen und notierte das Wort ‚Steckenpferd‘. „...erlebnisse, vor allem natürlich die sexuellen ...“

„Gehn wir!“ sagte brüderlichen Tones das Frackherrchen aus Jürgens Munde. „Guten Tag, Herr Doktor.“

Aus dem Gymnasium, in dem auch er neun Jahre gesessen hatte, platzten mit Geschrei die Jünglinge. Fragende, junge Augen. Feurige Gesichter. Biegsame, junge Körper, Bücher unterm Arm, dem Leben schräg entgegengestreckt.

„Deshalb muß ich jetzt gleich zum Photographen gehen.“ Weshalb das Erblicken der Gymnasiasten ihn veranlaßte, zum Photographen zu gehen, hätte Jürgen nicht sagen können. Plötzlich sah er eine tiefe Verbeugung und folgte der einladenden Photographenhand.

Während er vor der Linse saß, betrachtete er die lebensgroßen Brustbilder, deren tote Augen auf ihn zurückblickten. „Ob man diese Jugendphotographie wohl auch vergrößern kann?“

Der Photograph prüfte das verblichene Jugendbildnis, das Jürgen darstellte, wie er im Garten am Nußbaum lehnte, unter dem die Tante gehäkelt hatte. „Aber mit Vergnügen! Geht großartig!“

„Nicht nur Brustbild? Ganz in Lebensgröße? Auch mit den Beinen?“

„Das allerdings hat bis jetzt noch niemand gewünscht. Aber es ist zu machen ... O, das kommt vielfach vor, daß die Herrschaften sich vergrößern lassen. Gerade die Jugendphotographien immer will man vergrößert haben. Erst vor einigen Wochen kam Herr Geheimrat Lenz – sehr berühmter Mann, wie Sie wissen – und bestellte eine Vergrößerung nach seinem Jugendbildnis. Zwanzig Jahre! Nicht mehr zu erkennen! Kein Mensch würde glauben, daß Herr Geheimrat Lenz einmal so ausgesehen hat. Und dies ist der Sohn: Herr Oberstaatsanwalt Karl Lenz. Er ist, gemessen am griechischen Schönheitsideal, zu dick geworden ... Zu sehen, wie man früher war, macht Spaß, nicht? ... Nur etwas verblaßt, verwischt, sozusagen vergangen sehen die Vergrößerungen von Jugendbildern aus. Aber sie haben gewissermaßen etwas Traumschönes. Traumschön! Das ist das richtige Wort ... Etwas höher den Kopf ...“

Vor dem Schlafengehen nahm Jürgen Brom, wusch sich kalt ab, schlief fest, träumte schwer, wußte am Morgen nicht mehr, was er geträumt hatte, erschien pünktlich im Bureau. Die Beamten beobachteten ihn unausgesetzt.

Auf dem Rückwege zur Haltestelle blieb Jürgen stehen, berührte mit seinem Spazierstockgriff die Brust des Partners, der nicht da war, und erklärte: „Die Sache verhält sich anders. Hören Sie gut zu“, ging weiter, nach der Seite hin sprechend. Seine Hände gestikulierten. Er blieb stehen. Lachte. „Das war ein Witz.“ „Aber ein recht guter Witz“, sagte der Partner. „Nun, es geht“, gab Jürgen zu, schritt aus. „Sehen Sie, da sprach ich letzthin mit Katharina ...“

„Was sagte ich eben?“ fragte er entsetzt sich selbst und zog den Kopf ein, schwieg.

Und schon nach zehn Schritten begann er ein neues Gespräch. Der Partner konnte ein fremder Mensch sein, den Jürgen kurz vorher in der Bank gesprochen, ein Kind, das ihm nachgesehen hatte, die schon längst verweste Tante. Jürgen, der Student, war anfangs nur sekundenlang der Partner des zweiundvierzigjährigen Jürgen. Denn Jürgen versah den Studenten sofort mit einem Vollbart, setzte ihm eine Brille auf, zog ihm einen Pelzmantel an, so daß er an einen fremden Herrn seine Worte richten konnte. Aber späterhin wehrte sich der Jüngling erfolgreich gegen die Verkleidung, ließ Mantel, Brille und Bart fallen, wurde gedankenschnell zum Studenten und erklärte mit ruhiger Stimme dem Zweiundvierzigjährigen: „Sie sind ein ganz niederträchtiges, verräterisches Nichts.“

„Warum bin ich ein Nichts? Erlauben Sie mir!“

Der Student, der die abgeschnittene Hose trug, auf die das Hinterteil aufgenäht war in Breechesschwung, wies genau nach, weshalb Jürgen ein Nichts sei, hielt eine feurige Rede, geriet in Begeisterung. Jürgen hörte verzückt zu und versuchte, selbst in dieser Tonart weiterzusprechen: von Hingabe, Kampf und Zielen.

„Halt, das sage ich. Ich sage das. Sie haben nicht das Recht, so zu sprechen. Sie haben dieses Recht verwirkt.“

Da ließ Jürgen dem Studenten sofort wieder einen Vollbart wachsen. Aber als er ins Wohnzimmer trat, erblickte er den Studenten, der lebensgroß an der Wand lehnte. Etwas verschwommen, fern, vergangen. Und ungeheuer gegenwärtig.

„Das ist ja großartig“, rief Jürgen frisch, stellte den Spazierstock in die Ecke und sich selbst vor das Bild. „Du gefällst mir ... Je, je, weshalb denn gar so ernst! Schlechte Geschäfte?“

Die Photographie antwortete nicht.

„Nein, nein, entschuldige. Ein Scherz! Soll nicht mehr vorkommen.“ Er schritt zur Tür, wollte Phinchen rufen und ihr das Bild zeigen.

„Sind nicht vorhanden.“

„Wer ist nicht vorhanden?“ Jürgen war herumgeschnellt; ganz deutlich hatte er die drei Worte gehört, die laut und tonlos gesprochen worden waren. Er starrte hinaus in den Garten. Da war niemand. Auf den Zehenspitzen schlich er zum Bilde zurück, wiederholte gedankenverloren: „Wer? Wer ist nicht vorhanden?“ Ging zur Tür, Phinchen zu rufen.

„Sie sind nicht vorhanden.“

Er ließ die Türklinke los und trat, beide Hände in den Hüften, wieder knapp vor das Bild hin. „Nein, Sie, mein Lieber, Sie sind nicht vorhanden. Sie sind ganz gewöhnliches Bromsilberpapier. Verstanden!“

„Ich bin da. Ich bin.“ Die Photographie deutete mit dem Zeigefinger auf Jürgens Brust: „Sie dagegen nicht. Was von Ihnen da ist, bin ich. Aber ich habe mit Ihnen nichts mehr gemein. Also sind Sie gar nicht mehr vorhanden.“

Da packte Jürgen die schmal gerahmte Photographie und stellte sie mit der Bildseite gegen die Wand. „Und was sind Sie jetzt, he? Nichts als Pappe! Ganz gemeine graue Pappe!“ Er trat zurück.

Und sah, von unermeßlichem Entsetzen geschüttelt, zu, wie das Bild auf der Papprückwand erschien, und hörte die bekannten Worte: „Ich versichere Ihnen, so wahr es ist, daß sehr viel mehr als neunundneunzig Prozent aller Zeitgenossen, die so viel von Seele schmusen, in gar keiner Weise mehr von ihrer Seele gestört werden, so wahr ist es, daß bei gewissen Individuen in gewissen Momenten die Seele spielend leicht durch den Schutzwall durchschlüpfen und ihr vorbestimmtes Recht verlangen kann.“ Die Photographielippen hatten sichtbar die Worte geformt.

„Du Lump bist nichts als Pappe“, brüllte Jürgen, stürzte hinaus, zerrte Phinchen vor das Bild. „Dreh es um! ... Wer ist das?“

„Das ist der gnädige Herr, wie er jung war.“ Phinchen bekam vor Rührung nasse Augen.

„Also ich bin das, nicht wahr, ich?“

„Wie Sie jung waren.“

„Das heißt doch aber: ich bin es. Ich!“

„Ja, wie Sie früher waren.“

„Jetzt sage mir: wen hast du lieber, den da oder mich?“

„Sie natürlich, gnädiger Herr! Das ist ja nur eine Photographie.“

„Das ist ein Irrtum. Ich bin er. Und er ist ein Nichts.“

Jürgen führte Phinchen schnell in die Küche. „Sag mir, Phinchen, hast du ihn sprechen hören, den da drinnen? ... Nein, schweige! Ich will nichts wissen.“

Schnelle Schritte stellten ihn wieder vor das Bild hin. „Hör mal, du bist nichts als eine Photographie und kostest mich soundso viel. Mit Rahmen ... Hier ist die Rechnung.“

„Sie irren sich. Ich bin alles, was Sie verraten haben, und koste Ihnen den Verstand.“

„Das wollen wir sehen.“ Er stieg sofort ins Bad, duschte sich minutenlang kalt ab, schluckte Brom und legte sich ins Bett.

Die Photographie stand im dunklen Wohnzimmer. Lebensgroß. Jürgen saß aufrecht im Bett und glotzte durch sechs Wände durch auf die Photographie.

„Sie hat Augen. Sie blickt ... Kann man einen Blick photographieren? Ob wohl mein Blick von damals auch mitphotographiert, ganz genau, wie er war, mitphotographiert worden ist? ... Und das, was hinter dem Blicke ist? Was hinter einem Jünglingsblicke ist?: Sehnsucht, Bereitschaft zur Hingabe, die großen Gefühle – die Seele? Wurde damals auch meine Seele mitphotographiert?“

Jürgen sah deutlich den Jünglingsblick, der als große Frage an das Leben in den Augen stand.

Ohne die photographierte Frage an das Leben aus den Augen zu lassen, legte er den Kopf langsam und sanft auf das Kissen, schlief ein. Und im Schlafe war nichts auf der Welt, als seine Augen und die zwei photographierten Augen. Die Blicke der zwei Augenpaare trafen sich stundenlang, bis dieses lautlose Sichtreffen der Blicke Jürgen aus dem Schlafe hob.

Die brennende Kerze in der Hand, schlich er ins Wohnzimmer, vor das Bild hin. „Und wenn ich nun“, sagte er und nahm das Bild aus dem Rahmen, „mich in den Rahmen stelle?“

Das Nachthemd reichte bis zu den behaarten Waden. Eine Weile blieb er vollkommen reglos im Rahmen stehen und starrte wild auf den gegenüberstehenden Jüngling.

Dessen ernster, vergangenheitsferner Blick zwang Jürgen, wieder aus dem Rahmen herauszutreten. Überwältigt von der Unerbittlichkeit des Jünglingsblickes, brach er vor dem Bilde in die Knie. „In dir lebt das ewig unverrückbare Ziel.“

Die Kerze in der einen, die Photographie in der andern Hand, stieg er hinauf in das Zimmerchen, das er als Jüngling bewohnt hatte, lehnte das Bild an die Wand. Und als er den Türdrücker gefaßt hatte und fortgehen wollte, stieg aus den seit Jahren verschütteten Gefühlen ein Strom von Hilfsbereitschaft auf. „Kannst nicht immer stehen. Kannst nicht dein Lebenlang stehen.“

Er knickte das lebensgroße Bild in der Rumpfmitte ab, nach vorne, daß es einen rechten Winkel bildete, dann bei den Knien nach rückwärts und setzte die Photographie auf das Kanapee.

Tränennaß und fassungslos schluchzend kam er im Schlafzimmer an. Und hatte, wie er stöhnend und wimmernd in das Kopfkissen hineinklagte, das von Hoffnungslosigkeit durchbebte Gefühl, lebenslänglich getrennt zu sein von sich, von seiner Jugend, die im modrigen Studentenzimmer auf dem Kanapee saß.

Andern Tages wollte er auf der Straße schon den Hut ziehen vor Herrn Fabrikbesitzer Hommes, der grußlos vorüberschritt. Jürgen blieb stehen, Hand auf dem tobenden Herzen. „Sieht er – sieht man mich nicht? Bin ich unsichtbar? ... Ich bin doch aus Fleisch und Knochen, habe Augen, Stirn, Hände.“ Er umfaßte sein Handgelenk, wollte sich überzeugen, preßte das Gelenk.

Da öffnete sich sein Mund in grenzenlosem Entsetzen: die umfassende Hand war zur Faust geworden: kein Handgelenk war in ihr. Noch einmal umfaßte er das Handgelenk. Wieder wurde die Hand zur Faust.

„Nicht mehr vorhanden?“ fragte er, hob die Augenbrauen. „Überhaupt nicht mehr?“ Er pfiff bedeutsam. „Jürgen Kolbenreiher ist also überhaupt nicht mehr da. Ist einfach weg? Ist Luft? Und das nicht einmal? Ein glattes Nichts?“

Hastig öffnete er das Taschenmesser, stach die Spitze hinein in seinen Schenkel, wollte vor Freude über den Schmerz schon einen Triumphschrei ausstoßen. Und fühlte nichts.

Er bohrte tiefer, drehte die Messerspitze in der Wunde herum, fühlte nichts.

Da marschierte sein in das Grauen hineingeduckter Körper nachhause und legte sich auf das Kanapee.

„Was ist, wenn ich jetzt aufstehe, hinausgehe in die Küche und Phinchen sieht mich nicht?“

Plötzlich stand, von Phinchen hereingeführt, der Bankdiener im Zimmer. Der Herr Prokurist lasse fragen, ob Herr Kolbenreiher auch heute nicht ins Bureau komme.

„Wo? Wo ist er? Sehen Sie ihn denn, da Sie ihn fragen? Wissen Sie denn, wo Herr Kolbenreiher sich momentan aufhält?“

Und da der Diener den Mund aufsperrte: „Ich bin nicht vorhanden, nicht anwesend, ich bin nicht da, kann also auch nicht in die Bank kommen.“

„Ich werde also ausrichten, Herr Kolbenreiher seien verreist.“

„Ah!“ rief Jürgen, als der Diener fort war. „Vielleicht bin ich nur verreist. Einfach verreist! Nach Italien! Paris! So wirds sein.“

Jürgens Gesicht wurde flach; die Augen sprangen vor. Er stürzte in die Küche. „Hilf mir, Phinchen, rate mir, wie erfahre ich, wo er ist. Die Welt ist groß. Was soll ich tun, ihn zu finden ... Rufe schnell den Diener zurück.“

Und als das entsetzte Mädchen den Diener wieder in das Zimmer führte: „Besorgen Sie mir einen Reisepaß. Aber auf den Namen Jürgen Kolbenreiher!“ Er zwinkerte schlau. „Wenn Sie sich geschickt anstellen, merkts vielleicht niemand, daß nicht ich selbst es bin.“

„Das ist gar nicht schwer“, sagte der Diener und ging. Phinchen weinte.

„Im Gegenteil! Sehr schwer! Man kann es ertragen, sein Vermögen zu verlieren, aber sich selbst zu verlieren erträgt kein Mensch.“

„Das ertragen die andern großartig; aber, zum Beispiel, das Vermögen zu verlieren, ertragen sie nicht. Und aus diesem einfachen und unheimlichen Grunde ertragen sie es so leicht, sich selbst zu verlieren. Die sind nicht vorhanden und haben davon nicht die leiseste Ahnung.“

Ganz langsam legte Jürgen beide Handflächen an die Schläfen, noch einmal zu kontrollieren, ob sein Kopf da sei. Die Handflächen trafen zusammen. Kein Kopf war dazwischen. Jürgen stieß einen kurzen Schrei aus. Und lag leichenstill bis in die Nacht hinein. Der Reisepaß war schon gebracht worden.

Die Stadt schlief. In Haus und Garten rührte sich nichts. Der volle Mond hing am Himmel. Jürgen schlich ins Arbeitszimmer, einige Minuten später durch den Garten, heftete einen Kanzleibogen an den Türpfosten, an den er die Tafel ‚Hier wird Armen gegeben‘ angebracht hatte, und las:

„Wer den Aufenthaltsort Jürgen Kolbenreihers anzugeben vermag, erhält jede gewünschte Summe. Hier werden Begeisterung, unverbrauchte Wahrheit, Bewußtsein und Hingabe gekauft.“

Befriedigt stieg er die Treppe hinauf und packte seinen Reisekoffer, wusch sich, kleidete sich um.

Noch einmal schlich er in das dunkle Schlafzimmer, vor den mannshohen Ankleidespiegel. Die Hand am Schalter, wartete er erst einige Sekunden, bevor er das Licht andrehte.

Lebensgroß erschien das Spiegelbild. Jürgen schrie vor Freude, hob dabei den linken Arm.

Das Spiegelbild hob den Arm nicht.

Jetzt erst bemerkte er, daß im Spiegel der Jürgen stand, der, in knapp sitzendem Gesellschaftsanzug, beherrschte Kraft in Schultern, Brust und Blick, die Blicke aller im Saale Anwesenden auf sich zog: der Jürgen, den er, sitzend auf der Anlagenbank, als zu erstrebendes Ziel in den grünen Bretterzaun hineingesehen hatte.

Jürgen hob die Augenbrauen, pfiff, tanzte, schnitt Grimassen, ballte die Fäuste. Das Frackherrspiegelbild rührte sich nicht. Das Entsetzen war ungeheuer.

Er drehte das Licht aus, verbrachte atemlos einige Sekunden, drehte an, stierte in den Spiegel.

Im Spiegel war nichts. Jürgens Finger drückte den Knopf.

Phinchen, die weinend vor der Schlafzimmertür gekniet hatte, trat sofort ein, wurde vor den Spiegel gezerrt. Ob sie ihn sehe?

Händeringend beteuerte sie, daß er neben ihr im Spiegel stehe. Sein wütendes Fragen und ihr jammervolles Deuten dauerten so lange, bis Jürgen, durchblitzt von einem letzten Rettungsgedanken, langsam sagte: „Wenn ich mich jetzt mit dir zusammen ins Bett lege, dann muß ich doch fühlen, daß ich bin. Denn dies, es ist das starke Gefühl.“

Phinchen ließ die Arme sinken, war bereit.

„Aber mit wem denn? Ich bin ja nicht. Hab ja keine Arme zum Umarmen ... Weißt du, Phinchen, die Hauptsache ist, daß ich wieder ein Fetzchen Gefühl bekomme. Gefühl! Dann suche ich ihn. Dann finde ich ihn auch. Geh, Phinchen, geh!“

Bis zum Morgen lag er mit offenen Augen im dunklen Schlafzimmer.

Der Kolonialwarenhändler von nebenan und der Antiquitätenhändler, der in der Hauptstraße des Villenviertels eine Filiale hatte, sahen Jürgens Zettel zuerst. Arbeiter und Weiber, Kinder, auf dem Wege in die Schule, Milch- und Semmelausträger sammelten sich an. Der Antiquitätenhändler machte einen Witz über die neue Konkurrenz. Das Gelächter drang bis zu Jürgen hinauf.

Der stritt sich mit einem Fremden herum, der seine Gefühle nicht verkaufen, sondern sie nur gegen andere Gefühle eintauschen wollte.

„Aber ich besitze ja keine ... Hören Sie“, er faßte den Fremden bei der Schulter, „ich gebe Ihnen mein gesamtes Vermögen gegen etwas Gefühl, gegen ein Bruchstückchen Begeisterung, gegen den leisesten Hinweis auf ein Ziel. Nur ein bißchen Bewußtsein! Ich bitte Sie.“

„Geht nicht! Gefühl hin – Gefühl her! Hingabe gegen Hingabe!“

Jürgen warf die Hände vor: „Meine Villa, die drei Mietskasernen, meinen ganzen Aktienbesitz, meine Stellung und Macht, mein Geachtetsein, alles will ich Ihnen geben und will dafür nur mich.“

Vor dem Hause ertönte stürmisches Gelächter. Das klang wie fernes Möwengeschrei. Der Antiquitätenhändler witzelte: „Ankauf gut erhaltener Ideale. Stil Louis XVI.“

Auch der Nachbar war hinzugetreten, las den Zettel. „Da ist etwas nicht in Ordnung“, sagte er und klinkte die Gartentür auf.

Jürgen horchte auf das vielfüßige Getrappel, nahm seinen Koffer, stürzte die Vordertreppe hinunter und davon.

Im Auto fuhr er – Oberkörper vorgebeugt, als gelte es, ein Rennen zu gewinnen – zum Bahnhof. „Was kostet die Fahrkarte nach Paris?“

Der Schalterbeamte nannte die Summe, griff in das Billettregal.

„Und nach Rom? ... Nach Odessa?“

„Wohin also?“

„Zu mir! ... Verzeihung – es könnte ja sein –, wissen Sie vielleicht zufällig, ob Jürgen Kolbenreiher momentan in Berlin oder in Wien ist?“

„Wie meinen?“

„In London oder Madrid?“

„Was? Wer? Was wollen Sie?“

„Um Himmels willen – in New York?“

Der Schalterbeamte starrte wütend.

Und Jürgen sagte: „Sie wundern sich? Tun Sie das nicht! Auch Sie können nicht wissen, wo und was Sie sind, in Rom oder in Chikago, Matrose in der südlichen Hafenstadt oder Schreiber in einer Beamtenstube Norddeutschlands, die Sie nie betreten haben. Oder sitzen Sie in hunderttausend Schalterkästen gleichzeitig? Keine Ahnung haben Sie. Kommen Sie mit! Denn hier in diesem Schalterkasten werden Sie sich nie finden. Oder glauben Sie gar, Sie seien Sie? ... Bruder, verwandt mit mir durch dein Schicksal, steige heraus aus deinem Kasten. Denn hier kannst du dich bis an das Ende deines Lebens niemals finden. Suche dich ... Suchet, so werdet Ihr finden ... Aber dir, ich weiß es, dir Armen ist nicht einmal das Suchen verstattet.“

Eilige Reisende drängten Jürgen vom Schalter weg. Die Abfahrt eines Zuges wurde ausgerufen. Jürgen sprang in ein Abteil dritter Klasse.

Zu der alten, verhärmten Arbeiterfrau, die ihm gegenübersaß, sagte er noch, er suche, was jeder Mensch auf dieser Erde lebenslang suche. Und schlief ein. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, als streite er heftig mit jemand.

Die Frau glaubte, Jürgen friere, betrachtete erst eine Weile mitleidig und unschlüssig das zerklüftete Gesicht. Dann wagte sie es doch, ihre Wolldecke vorsichtig über seine Knie zu breiten.

VIII

Wochenlang wußte niemand, wo er war. Phinchen, von neugierigen Nachbarn befragt über das scheue Verhalten Jürgens in der letzten Zeit, verweigerte jede Auskunft. Und Herr Wagner, bestrebt, unliebsame Gerüchte, die das Ansehen der Bank schädigen könnten, nicht aufkommen zu lassen, sprach von einer wichtigen Geschäftsreise so vorsichtig und wortkarg, als würde schon ein einziges schlechtgewähltes Wort Riesenverluste für die Bank bedeuten.

Endlich erzählte ein Kunde, er habe Jürgen in Rom gesehen – nannte Tag und Stunde – und zwei Tage später noch einmal in der Halle des selben Hotels, leider nur sehr flüchtig, da Jürgen, offenbar in besonders dringenden Geschäften, in größter Eile auf das wartende Auto zugeschritten sei.

Herr Wagner machte ein wissendes Gesicht. Und schwieg auch dann noch, leise zwinkernd, als ein Pariser Geschäftsfreund ruhig lächelnd behauptete, das sei nicht gut möglich, denn an dem dazwischenliegenden Tage habe er selbst in Paris im Direktionsbureau sich mit Jürgen unterhalten und persönlich ihm eine große Summe gegen einen Scheck des Hauses Wagner und Kolbenreiher ausbezahlt. „Das war am ...“

„Stimmt!“ unterbrach Herr Wagner. „Beides stimmt. Es gibt Fälle, meine Herren, wo die Geschäftskonstellation unsereinen zwingt, schneller als eine Schwalbe zu sein.“

Der Zeigefinger sank. Was aber, wenn jetzt noch einer kommt und behauptet, er habe ihn um die selbe Zeit in London gesehen? dachte Herr Wagner,

während Jürgen, in der Droschke ungeduldig vorgebeugt, überdacht von einem rot- und weißgestreiften Riesensonnenschirm, vom Bahnhof der südlichen Hafenstadt in das Hotel fuhr, in dem er vor vierzehn Jahren als Neuvermählter mit Elisabeth gewohnt hatte.

Ein Servierkellner verscheuchte mit der Serviette Fliegen von den blumengeschmückten, weißgedeckten Tischchen. Gegenüber schliefen zwei braungebrannte Männer auf den breiten Steinstufen im Schatten des Palastes.

„Sagen Sie mir, aber aufrichtig: ist Herr Jürgen Kolbenreiher im Hause?“

Zurückweichend drehte der Kellner sich um sich selbst und schlug dabei mit der Serviette heftig in die Luft nach einer großen Bremse. „Ich werde sofort nachsehen.“

Der dicke, befrackte Oberkellner blieb, den Zahnstocher noch im Munde, im kühlen Hausflur stehen, zeigte Jürgen, der draußen im Sonnenbrande stand, fragend und verneinend beide Handflächen und deutete plötzlich und schwungvoll mit beiden Händen einladend flurwärts.

„Nicht dagewesen? ... Ist das Zimmer Nummero 7, mit Aussicht auf den Hafen, frei? ... Dieses Zimmer nämlich hätte er genommen“, sagte er beim Hinaufgehen. Und erkannte sofort den geblumten Überzug der Ottomane wieder.

Setzte sich in den Sessel. Plötzlich sah er, wie damals, Jürgen mit Elisabeth in der Halle eines Pariser Hotels stehen. ‚Das bin ja gar nicht ich. Das ist ein ganz anderer. Nicht der, den ich suche ... Wenn ich wenigstens nur den finden würde, der hier in diesem Zimmer gesessen hatte. Denn auch der wußte, daß der in Paris herumlebende Schuft nicht Jürgen war. Aber wo, wo ist er, der dies wußte? Wo?‘

„Hier ist er also nicht? In diesem Zimmer wohnt er nicht?“

„Dieses Zimmer ist frei, Herr.“

„Aber es war doch nicht immer frei! Sagen Sie mir – aber denken Sie scharf nach –: ist Herr Jürgen Kolbenreiher nicht doch hier gewesen in der letzten Zeit? Dieser selbe Herr Kolbenreiher nämlich, der vor vierzehn Jahren einige Tage in diesem Zimmer gewohnt hat mit seiner Frau! Mit einem Fisch! Sie erinnern sich! Unveränderlich in ihrem Wesen. Kühl! Kühl! Nur in der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht ... Er bezahlte damals – ich erinnere mich genau –, da er anderes Geld nicht hatte, Ihnen persönlich die Rechnung in Mark.“

„Eine blonde Dame? Mark! Ah, Mark! ... Der Herr ist damals gleich abgereist und seither nicht mehr hier gewesen.“

„Abgereist?“ Jürgen fuhr sofort zum Bahnhof und reiste ab. Mit dem ersten Zuge, der ausgerufen wurde. Endstation Berlin.

Wurde achtzehn Stunden später von den hastig und zielbewußt Auseinanderstrebenden mitgerissen durch die Berliner Bahnhofshalle und hinausgestellt auf den Platz, zwischen brüllende Zeitungsverkäufer, schnelle Radler, brüllende Autos, hetzende Fußgänger, und verharrte reglos: eine Achse, um die herum das Leben der flachen Stadt sauste.

Auf dem Potsdamer Platz, dem Mittelstück verkehrreichster Straßen, stand der Schutzmann, das Blasinstrument am Munde, die Hand dirigierend erhoben.

„Die Richtung! Bitte! Ich bitte. Die Richtung! Welche Richtung führt zu mir?“ fragte er den Schutzmann.

Der antwortete: „Nicht stehen bleiben! Vorwärts!“

„Im Gegenteil! Das Ganze Halt! Ich sage Ihnen, auf diese Weise nähern die Menschen sich, auch wenn sie ihr ganzes Leben lang so weiter rasen, nicht um einen Millimeter dem Ziele, während vielleicht ich, ah, glauben Sie mir ...“

Der Schutzmann hielt, als schwöre er zu Jürgens Worten, die Hand erhoben, senkte sie: Zeitbesessene Menschengruppen, Straßenbahnen, überfüllte, dunkelbrüllende Riesenautobusse, springende Häuser, nahmen das Rennen wieder auf, die Leipziger Straße hinauf, schwemmten Jürgen mit, der, ein Lächeln unbegreiflicher Zuversicht im Antlitz, mitten auf dem Fahrdamm schritt.

Autos, von rückwärts und von vorne kommend, sausten auf ihn zu und, sekündlich ausweichend, in unvermindertem Tempo vorbei, knapp, daß nicht handbreit Zwischenraum geblieben war. Chauffeure glotzten wütend, schimpften, waren weg. Passanten staunten.

Das Lächeln der Zuversicht verschwand. „Unverwundbar? Luft? Nicht vorhanden? Autos fahren durch mich durch!“ Beide Handflächen schnellten zu den Schläfen, fanden keinen Kopf. Das graue Entsetzen stieß ihn weiter.

Menschen, einer flüchtenden, schwarzen Tierherde gleich, rannten, von der Straße weg, eine Treppe hinunter, rissen Jürgen mit, hinab in das mit Reklamebildern austapezierte Erdmaul, hinein in die verhalten bebende Maschine.

Eingeklemmt zwischen Passagiere, die, vorausblickend, in Gedanken schon bei ihrer Zielstation angelangt waren, sauste Jürgen unter der Stadt durch, flüsterte, die Hand am Munde, in ein Menschenohr: „Alles rennt und hetzt, hin und her, kreuz und quer, Tag und Jahr. Komisch und bedeutsam! Denn – denn die Banken schießen auf. Neue Stockwerke werden aufgesetzt, Kutscherkneipen umgebaut zu Wechselstuben. Dies, ich sage Ihnen, dies ist das Zeichen.“ Er hob, wie vorhin der Schutzmann, die Hand, warnend, als wolle er aufmerksam machen auf eine heranrollende ungeheure Katastrophe.

Die Bahn sauste empor, über eine gespreizte Eisenbrücke. Jürgen wurde auf den Asphalt gestellt, blickte umher. Trambahnen, Hoch- und Stadtbahnzüge kreuzten einander, spien Menschenmassen aus, nahmen andere auf.

Zum beschäftigten Hotelportier sagte er in falscher Gleichgültigkeit, er sei und heiße Jürgen Kolbenreiher. „Hier, mein Paß! Überzeugen Sie sich!“ „Gilt schon!“ Füllte den Meldezettel aus.

Und hüpfte in seinem Zimmer vor Vergnügen, den Portier getäuscht zu haben. „Was die andern können, kann auch ich. Auch ich kann ein Vorhandensein vortäuschen, das keines ist. Muß mich nur auch selbstbewußt benehmen, darf niemand merken lassen, daß ich nicht bin. Denn jemandem, der nicht ist, gibt niemand Auskunft. Und ich werde viele nach mir fragen, werde lange nach mir suchen müssen, eh ich mich finde.“

Er horchte auf das Brausen der Stadt. Das klang wie das Bellen von Millionen vor Hunger irrsinnig gewordener Hunde.

Plötzlich sah er deutlich, wie Jürgen langsam durch eine Straße ging, vorbei an einem Hutgeschäft, und im Gewühle verschwand. Konnte nicht ermitteln, ob er diese Straße und dieses Hutgeschäft in Paris, Berlin oder Rom gesehen hatte.

„Es gibt so viele, ach, so viele Straßen und so viele Hutgeschäfte auf der Welt.“ Mutlos ließ er sich in den Sessel sinken.

„Was mag er jetzt denken? Was fühlte er in dieser Sekunde?“ Jürgen zog die Uhr. „Wenn ich ihn gefunden habe, frage ich ihn, was er in diesem Augenblick, um dreiviertel sechs, gedacht hat. Ach, wie wunderbar wäre es, zu wissen, was ich gegenwärtig denke ... Der Mensch denkt. Welch unbegreifliches Wunder ist das Denken! ... Daß er aber auch gleich wieder verschwunden ist! Wird schwer zu finden sein. Ich muß mir ein System ausdenken. Ein Schema. Ich muß systematisch vorgehen.“

Mit Bedacht setzte er die Maske der Gleichgültigkeit und Sicherheit auf, schritt zur Klingel. Und kramte dann doch, das Gesicht abgewendet, im Koffer, als er zum Kellner sagte: „Bitte, bringen Sie mir einen Stadtplan ... Sie können mir auch ein Schinkenbrot mitbringen, wenn Sie wollen.“

„Ausgezeichnet! Das habe ich ausgezeichnet gemacht. Denn ein Mensch, der ein Schinkenbrot verzehren kann, ist vorhanden. Das ist klar. ‚Sie können mir auch ein Schinkenbrot mitbringen, wenn Sie wollen.‘ Großartig! Dieses ‚Wenn Sie wollen‘ war sehr gut.“

Und als der Kellner den Stadtplan brachte und ein Brot mit Wurst, da Schinken nicht im Hause sei, tat Jürgen verdrießlich. „Ich hätte lieber Schinken gegessen. Nun, es kann auch Wurst sein.“ Der Kellner wollte gehen.

„Einen Augenblick!“ Er schnitt ein Stück ab, steckte es vor des Kellners Augen in den Mund. „Wieviel Einwohner hat Berlin? Ich suche nämlich jemand“, sagte er und kaute eifrig für des Kellners Augen. „Deshalb habe ich mir den Stadtplan bringen lassen. Die Wurst ist übrigens sehr gut. Sehr gut! ... Und morgen bringen Sie mir zum Frühstück warme Milch und eine Semmel. Nur etwas warme Milch! Ich habe nämlich einen schwachen Magen.“

„Sehr gut gemacht! Bewundernswert! Nur etwas warme Milch. Ich habe nämlich einen schwachen Magen.“ Er hüpfte. „Es wird. Es wird.“

Eifrig studierte er den Stadtplan, zog Blaustiftstriche von Schmargendorf nach Wilmersdorf, über Charlottenburg weg nach Rixdorf, bohrte auf das e von Steglitz ein i und kicherte: „Stieglitz“. Trillerte wie ein Stieglitz. Trillerte noch, als er schon im Bett lag. Und trillerte sich lustig und hoffnungsvoll in den Schlaf hinein.

Erwachte morgens mit dem Rufe: „Hahaha, einen schwachen Magen! O, hätte ich nur einen schwachen Magen, ein Magengeschwür, qualvoll und lebensgefährlich. Wäre doch immerhin ein Magen.“

Trank hastig die warme Milch und stellte, die staunenden Augen vergrößert, die leere Tasse auf den Tisch. „Aber ich trank ja eben Milch. Ich! Ich trank. Ein Mensch trank Milch. Also muß dieser Mensch doch einen Magen haben und muß ein Mensch, muß vorhanden sein.“

Da lächelte er ein schlaues, anerkennendes Lächeln, als habe er einen besonders fein angelegten Betrug durchschaut. „Ist es mir also tatsächlich gelungen, sogar mir selbst vorzutäuschen, ich hätte einen Magen. Wunderbar! Kein Mensch wird merken, daß ich nicht vorhanden bin.“

Langsam und vorsichtig, um nichts zu verschütten, trug er die leere Tasse zum Kübel, leerte die nicht vorhandene Milch aus, hörte das Plätschern. Und riß sich zusammen. „Jetzt aber los!“

Es war erst sieben Uhr. Die starke Luft stand noch unverbraucht in den Straßen. Jürgen hatte große Eile, sprang in Stadtbahnzüge, die schon angefahren waren, wurde von der Untergrundbahn im Westen abgesetzt, von der Straßenbahn quer durch die ganze Stadt nach Berlin N getragen, auf dem Dache eines Autobusses nach Wilmersdorf zurück.

Sein Schema benutzte er nicht. Denn immer, wenn er planvoll vorgehen wollte, fürchtete er, Jürgen werde zu der Zeit, da er ihn in Berlin O suche, in Berlin W sein. Er fragte viele Vorübereilende, ob sie wüßten, wo Jürgen Kolbenreiher sich momentan aufhalte.

„Der Vortragskünstler? Ah, das Weinrestaurant mit der Bar?“

„Nein, ein sehr entfernt Bekannter von mir.“

„Und ich soll wissen, wo der ist?! Sind Sie wahnsinnig!“

„Ja.“

„Frechheit!“ Der Wütende sauste weiter.

Nach vielen verständnislosen Rückfragen des dicken Dienstmannes, der auf seinem Bänkchen saß, sagte Jürgen: „Vielleicht ist er in Odessa.“

„Na, denn fahren Sie man nach Odessa.“

„Können vielleicht Sie mir sagen ...“

„Keine Zeit!“

„Er hat ... keine ... Zeit.“ Traurig blickte er den Händen nach, die den Weg hinter sich schaufelten.

Wurde von den Hetzenden da- und dorthin gewiesen, angeschrien, stehengelassen, von Bummlern ausgelacht. Durchstreifte Restaurants, Kaffeehäuser, Kirchen, Warenhäuser, Kutscherkneipen, wurde in das Reichstagsgebäude nicht hineingelassen und aus einem Automatenrestaurant herausgeworfen, weil er, anstatt in den Schlitz, die Metallmarke dem verblüfften Kellner in den Mund geschoben hatte.

Als er nach langer Fahrt vor dem Meldeamt ankam, war es schon geschlossen. Als erster stand er um zwei Uhr wieder vor dem Schalterfenster, bekam einen Zettel zum Ausfüllen. Sog den Staub- und Papiergeruch ein. Riecht wie in unserer Buchhaltung, dachte er. Und reichte, bebend vor Erwartung, den Zettel dem Beamten.

Der unterhielt sich mit seinem Kollegen, schimpfte über die schlechte Beleuchtung, stand plötzlich reglos und sah aus, als denke er.

‚Alle Menschen denken in jeder Sekunde ihres ganzen Lebens irgend etwas. Nur ich ...‘ „Was denken Sie momentan?“

„Nichts“, bekannte mechanisch der Beamte. Dann erst staunte er und begann zu suchen.

„Ist er hier gemeldet?“ fragte Jürgen gierig. „Kolbenreiher mit H!“

Der Beamte gab keine Antwort; er unterhielt sich weiter mit seinem Kollegen über die Tatsache, daß ein Teppichgeschäft in Berlin N den Mitgliedern der Beamtenorganisation zehn Prozent Rabatt gewähre, fragte, ob er diesen Rabatt wohl auch bekäme, wenn er nur zwei ganz einfache Bettvorleger kaufe. „Wenn nicht, würde ich lieber Strohmatten nehmen. Kosten kaum die Hälfte.“

„Und halten auch vierzehn Tage!“

„Haben Sie den Personalakt gefunden?“ Jürgen streckte den Oberkörper durch das Schalterquadrat.

„Man darf eben nicht mit den Schuhen darauftreten ... Nun, wenn man früh aufsteht ...“

„Ist er hier gemeldet?“

„... hat man ja in Berlin keine Schuhe an ... Nein, ein Jürgen Kolbenreiher ist bei uns nicht gemeldet.“ Das Schalterfenster klatschte knapp vor Jürgens Stirn herunter.

‚Vielleicht lebt er einfach unangemeldet. Ich natürlich weiß am allerwenigsten, ob er dazu fähig ist.‘

Vollkommen gefühl- und empfindungslos geworden, stand er in der verkehrreichen Straße, gleich einem zu Eis erstarrten Gegenstand, der in der lebendigen, sengenden Sonne steht und nicht schmilzt.

In allen Menschengesichtern, die an ihm vorbei auf Körpern straßauf, straßab getragen wurden, stand, ob sie sprachen oder schwiegen, lachten oder dachten, die selbe eisesstarre Einsamkeit.

So unabänderlich einsam, wie die Fliege, die, mit dem dicken Kopf voran, im Zickzack durch die Luft zuckt, dachte Jürgen und beugte sich, durchschüttert plötzlich von wunderbarem Wehgefühl, hinab zu zwei kleinen Kindern, die im Erdrund eines Baumes hockten und, in den Augen noch das volle Leben, hingegeben mit Steinchen spielten.

‚Und in zehn Jahren wird die große, lebendige, schmerzliche Sehnsucht kommen, in weiteren zehn Jahren auch für sie die unlebendige graue Einsamkeit, da auch sie gleich allen dann die Sehnsucht nicht mehr haben werden.‘

Ihn trieb die Sehnsucht, wiedererstanden in ihm durch das Erblicken der zwei noch im Fluß des Lebens spielverbundenen Kinder, weiter straßauf, straßab.

„Ja, der wohnt dort in dem gelben Haus.“

Das Herz blieb stehen. Klopfte noch immer nicht wieder. Begann in rasendem Tempo zu hämmern. Die Schläfen, graukalt geworden, stiegen über den Kopf empor. Todesangst packte und erfüllte ihn bei der Vorstellung, ihm, den er verraten und verkauft hatte, in die Augen zu blicken.

Der am ganzen Körper Zitternde wußte, daß er auf der Stelle tot zusammenbrechen werde, angesichts des Andern; dennoch trug letzte Bereitschaft, die Glieder lösend selig ihn durchströmte, Jürgen auf das gelbe Haus zu, bis vor das Porzellanschild.

Er sank, sank, sank. Stand endlich, Beine und Füße aus Blei, auf dem Asphalt und las wieder und wieder den nur ähnlich klingenden Namen.

Alles Leben, das ganze Gewicht seines Körpers schien in den Beinen zu sein, so schwer waren sie geworden, als er sich weiterschleppte, toten Blickes.

Die Detektei erreichte Jürgen noch knapp vor Bureauschluß. Mit dem ersten Blick schätzte der Inhaber den gut gekleideten Kunden auf die Vermögensverhältnisse hin ein, bemerkte schon nach zehn Sekunden, daß der vor ihm stand, den er suchen sollte, ließ sich eine Anzahlung geben. Am Morgen hatte Jürgen zu seiner Verwunderung gegen einen Scheck, unterschrieben mit dem Namen Jürgen Kolbenreiher, anstandslos eine große Summe ausbezahlt bekommen. „Haben Sie Hoffnung?“

„Aber gewiß doch! Von der Hoffnung lebt man heutzutage ... Wie wärs mit einer Extraprämie, Herr ... Pardon, wie ist Ihr Name?“

Und da Jürgen den Kopf schüttelte: „Ich habe keinen.“

„Den wollen Sie nicht sagen, verstehe schon. Das kommt bei uns öfters vor ... Mit einer besonderen Prämie, die Sie demjenigen meiner Leute auszubezahlen hätten, der den Aufenthaltsort dieses Schuftes nachweist.“

„Er ist kein Schuft. Im Gegenteil: wir sind Schufte!“

„Erlauben Sie! Gewöhnlich sind meine Auftraggeber sehr achtbare Leute, die irgendeinen Schuft suchen lassen.“

„Glauben Sie mir, es ist genau umgekehrt.“

„Wie also sieht dieser Herr Jürgen Kolbenreiher denn nun eigentlich aus, im großen ganzen? ... Sie wohnen doch im Hotel, nicht wahr?“

„Ich habe im Hotel einen falschen Namen angegeben. Den Namen desjenigen, den ich suche. Sie verstehen?“

„Verstehe schon!“

„Ich bin nämlich ... Ach nein, ich bin nicht. Das heißt, ich wollte sagen: ich bin inkognito hier, ganz und gar inkognito ... Wie Jürgen Kolbenreiher jetzt aussieht, das weiß kein Mensch auf der Welt. Denn es ist ganz unmöglich, zu wissen, wie ich aussehen würde, wenn ich so geworden wäre, wie ich bin. Das ist ja das Hoffnungslose.“

„Nichts ist hoffnungslos. Ich habe schon schwerere Fälle mit gutem Erfolge zu Ende geführt. Beruhigen Sie sich. Nur Ruhe! Ich selbst werde den Fall bearbeiten. Und was die Extraprämie anlangt, so ist sie fällig, nachdem Sie selbst zugegeben haben werden, daß dieser von Ihnen gesuchte Jürgen Kolbenreiher gefunden ist. Welche Summe also ...?“

„Jede Summe! Meine Villa, drei Mietkasernen, ein Riesenvermögen in Wertpapieren. Nehmen Sie alles, was ich habe, und geben Sie mir dafür Ihn!“

Hinausbegleitet, verließ Jürgen das Bureau, nicht weniger Hoffnung im Herzen als der Detektiv, der, tief in Grübelei versunken, einen Bratensaucetropfen von seinem seidenen Rockaufschlag abkratzte, an die Villa, die Mietkasernen, an das Riesenvermögen dachte und keine Lust mehr hatte, des Dienstmädchens Alimentationsfall zu bearbeiten.

Jürgen stand schon vor einer Plakatsäule, an der ein roter Zettel klebte, mit der Aufschrift: ‚Es geschieht alles, was du willst, nur kehre zurück.‘ Im Auto fuhr er in das Plakatinstitut.

„Mit jedem Tausend mehr, das Sie drucken lassen, steigt die Wahrscheinlichkeit, daß Sie diesen Herrn Kolbenreiher finden.“ Der Unternehmer ließ die Augenbrauen fallen. „Das ist doch klar, nich?“

„Fünftausend? ... Zwanzigtausend?“

„Sind besser als zehntausend! Jetzt die genaue Beschreibung.“

„Die gibts nicht.“ Er zog die Jugendphotographie aus der Tasche. „Hier ist das Bild dieses Menschen. Mein Jugendbild! Aber jetzt kann Jürgen Kolbenreiher unmöglich so aussehen. Und auch nicht so.“ Er deutete auf sein Gesicht.

„Sagten Sie vorhin nicht, Sie selbst seien Jürgen Kolbenreiher?“

„War ich! Bin ich wieder, wenn ich ihn gefunden habe.“

„Hören Sie mal, einem Schwachsinnigen nehme ich kein Geld ab. Nee, ich bin doch keen Schnapphahn. Hab ich nich nötig ... Greifen Sie sich an den Kopf und sagen Sie sich: Da hab ich mich.“

„Wenn das so einfach wäre! Wenn ich einen Kopf hätte!“

„Na, denn rin in die Gummizelle!“

Die Konkurrenz machte das Geschäft. Und schon am folgenden Tage war an allen Plakatsäulen zu lesen, welche Summe demjenigen ausbezahlt werde, der den Aufenthaltsort Jürgen Kolbenreihers angeben könne. Auf den knallroten Zetteln klebte Jürgens Photographie, die eigens zu diesem Zwecke aufgenommen worden war. Ein gewisser Anhaltspunkt sei die Photographie ja doch, hatte der Plakatmann gesagt.

Den ganzen Tag durchquerte Jürgen suchend die Stadt. Niemand erkannte ihn. Der Detektiv machte den Versuch, das Geld zu verdienen. Einen Irrenarzt brachte er gleich mit ins Hotel.

Jürgen zeigte den beiden seine Jugendphotographie. „Nehmen Sie an, dieser Mensch wäre auf dem Wege, den zu gehen er als seine Pflicht erkannt hatte, weitergeschritten, vierzehn Jahre älter geworden: wie würde er dann jetzt aussehen? Sicher nicht so wie ich ... Schaffen Sie mir den richtigen Mann bei, dann bezahle ich.“

„Ich habe den richtigen Mann für Sie mitgebracht. Der wird Ihnen fix klarmachen, daß Sie selbst der Gesuchte sind“, sagte resolut der Detektiv. „Nicht wahr, Herr Doktor?“

Der grinste. „So einfach wird das nicht sein.“

Der Detektiv wurde energisch: „Sie müssen sich untersuchen lassen.“ Und der Doktor zog die Uhr. „Also, erst mal Ihren Puls, bitte.“

„Was Puls! Meinen Puls? Sind Sie nicht bei Sinnen! Puls? Wenn ich einen Puls hätte!“

„Nur los!“ rief der Detektiv, ging zu auf Jürgen, der zurückwich, die Bronzefigur vom Schreibtisch nahm.

Als der Psychiater eine halbe Stunde später mit zwei Wärtern und einem Schutzmann zurückkam, war Jürgen schon in ein anderes Hotel übergesiedelt.

Auf das Protokoll des Arztes hin wurde eine Anzahl Schutzleute ausgeschickt auf einen Streifzug durch die Hotels, Pensionen, Absteigquartiere, den Irren zu suchen, während dieser hoffnungsfroh die Stadt durchquerte, sich selbst zu suchen.

„Kennen Sie einen Herrn Jürgen Kolbenreiher? Möglicherweise trägt er – ich, selbstverständlich, weiß das nicht – einen Schnurrbart.“

Der Angeredete fragte zurück: „Verzeihung, sind Sie Schutzmann? In meinem Hotel waren nämlich heute Schutzleute, die einen entsprungenen Irren namens Kolbenreiher suchten. Viele Schutzleute durchsuchen ganz Berlin nach diesem Verrückten.“

„Viele? ... Wunderbar! Sie werden mich sicher finden.“

Getragen von Zuversicht, schritt er federnd und pfeifend auf das kleine Hotel zu, in dem er die letzte Nacht geschlafen hatte. Die Vorüberhetzenden, die Schutzleute, Chauffeure, alle blickenden Menschenaugen, alle Menschen auf der Erde suchten ihn.

Da sah er wieder diese von einer unsichtbaren Last erdrückte Frau, der er schon am Morgen und noch einmal gegen Abend des selben Tages beinahe an der selben Stelle begegnet war, und die anzusprechen und nach sich zu fragen er nicht gewagt hatte, wegen der erstarrten Hoffnungslosigkeit in ihrem Antlitz.

Die Frau, deren Lebensgefährte vor zwei Tagen gestorben war, trug, in Blick und Gang schon wie körperlos geworden, seit zwei Tagen die Last der hoffnungslosen Vereinsamung ziellos im Kreise immer um den selben Häuserblock herum.

Das bange Gefühl, diese Frau sei in ihrem armen Herzen so ertötet, daß sie nicht mehr geben und nicht mehr empfangen könne, verhinderte ihn auch jetzt wieder daran, einmal bei der Hoffnungslosigkeit anzufragen, nachdem alle von Hoffnungen und Zielen noch Erfüllten ihm nicht hatten helfen können.

Nur den Bruchteil einer Sekunde sah sie Jürgens bangen Blick auf sich gerichtet. Ein stöhnendes Schluchzen brach aus. Drei Töne. Dann trug sie, wieder starren Gesichtes, weiter langsam durch die Straße ihre hoffnungslose Vereinsamung.

Vor dem Hotel sprach der Portier mit einem Schutzmann. Zurückweichend blieb Jürgen stehen, bewegte den Zeigefinger vor der Brust verneinend hin und her, pfiff, die Brauen hochgezogen, einen Ton und kehrte um.

„Die suchen ja mich, den Falschen, den Scheinjürgen, den Scheckfälscher, den, der im Hotel den Namen Kolbenreiher auf den Meldezettel schrieb. Sie suchen das Nichts, das sich anmaßte, zu sein.“

Die Angst, festgenommen und eingesperrt zu werden und sich dann nicht mehr suchen zu können, jagte ihn fort. In ein anderes Hotel zu gehen wagte er nicht. Er wagte nicht mehr, sich sehen zu lassen. Ganz plötzlich sah er keine Möglichkeit mehr, sich zu finden.

„Eingekreist! ... Im Freien schlafen! Eingekreist!“

Ein letzter Rest von Hoffnung, Hilfe zu finden bei der Hoffnungslosen, trieb ihn ihr nach, die Straße hinunter, die in den Tiergarten mündete. Sein Gesicht war in Abwehr verzerrt. Die Zähne bleckten.

Sein Körper fiel auf die erste Bank, die am Spreekanal stand. Die Vereinsamte neben ihm hatte sich nicht gerührt. Sie ängstigte sich nicht. Sie blickte blicklosstarr auf das Leben, das weiter ging, hinweg über ihr Leben: Zwei Stadtbahnzüge, leuchtende Lineale, schoben sich aneinander vorbei, durch die Nacht.

Sah das Sterbezimmer, wo der, mit dem zusammen sie in Kampf und Leid des Lebens ein Leben gelebt hatte, noch auf dem Bette lag, weiß zugedeckt, bis zum Kinn.

Am Tone schon des ersten Wortes, das sie sprach, fühlte Jürgen, daß neben ihm das Schicksal saß.

Zu Füßen der beiden regte sich leise das Leben: streifte das Wasser die Mauer.

Sie hob die kraftlose Hand. Sie sagte, verzuckenden, tränenrauhen, warnenden Tones, als warne sie jeden einzelnen dieser Erde: „Kein hartes Wort kann mehr zurückgenommen werden.“

Erschlossen plötzlich und schmerzlich berührt von der erhabenen Größe dieses schicksalhaften Leids der Hoffnungslosigkeit, berührte er die Schulter der Vereinsamten.

Sofort brach sie in stöhnendes Weinen aus. „So früh gestorben, weil er für diese Zeit zu gütig war. Zu gütig war.“ Stand schwer auf. „Zu viel, zu viel ist mir geschehen.“ Und ging. Das Dunkel nahm sie.

Vor dem reglos Sitzenden, der schmerzlich bewegt den verklingenden Schritten lauschte, ankerte neben der kleinen Eisenbrücke im Kanal ein Frachtschiff, auf dessen äußerster Spitze unter dem roten Signallicht ein junger Hund stand, der aufmerksam blickte. Und wie damals, da er, kommend aus Katharinas Zimmer, zusammen mit den neun Bezirksführern stadtwärts marschiert war, wehte auch jetzt kühler Teergeruch, und durch die Baumkronen schimmerten die Lichter der Stadt.

Entbunden durch seine tiefempfundene Hilfsbereitschaft, die ihm verstattet hatte, das eigene Leid zurückzustellen, und verstärkt noch durch das erinnerungsträchtige Landschaftsbild, war in Jürgen plötzlich Sehnsucht nach Katharina und zugleich mit dieser brennenden Sehnsucht das Gefühl, körperlich vorhanden zu sein, mit solch blitzhafter Schnelligkeit entstanden, als ob es ihm nie entschwunden gewesen wäre.

So gewaltig war die Freude, daß ihm nicht Kraft blieb, den Freudeschrei auszustoßen. Weichheit tat sich milde in ihm auf. Tränen drangen durch die Lider. Machtvoll zog die Hoffnung in ihn ein.

„Schnauzl“, flüsterte er zärtlich und lockte mit Daumen und Zeigefinger.

Der Hund erhob sich, wedelte mit dem Schwanzstumpf, lief, zutraulich wimmernd, auf dem Bordrand hin und her, stand, blickte, bellte verlangend einen Ton. Stille ringsum.

„Ein Hund und am Himmel die Sterne. Das ist zu viel und zu wenig für den Menschen. Zu wenig und zu viel. Der Mensch leidet ... Er erkenne im Leide und kämpfe!“ sagte Jürgen. Das war wie ein Gelübde.

Ohne Eile, ohne Weile schritt er stadtwärts, zum Bahnhofe. Und fuhr mit dem nächsten Zuge zurück in die Heimatstadt. Seine Haare waren ergraut, Gesicht und Körper ganz vom Fleische gefallen.

Einige Tage nach seiner Rückkehr – Herr Wagner und drei Ärzte waren bei Jürgen gewesen – stand in der Zeitung, Herr Kolbenreiher, Teilhaber der bekannten Bankfirma (deren Stammhaus übrigens schon in den nächsten Tagen in neuer, verschönerter und bedeutend vergrößerter Gestalt dem Parteienverkehre übergeben werden würde), habe sich durch seine unermüdliche und hingebungsvolle Arbeit eine Nervenentzündung zugezogen, die zwar sehr schmerzhaft, aber bei der kräftigen Konstitution des Patienten nach Ansicht der Ärzte allein schon durch Ruhe und den Aufenthalt in frischer Luft rasch zu beheben sei, so daß Herr Kolbenreiher seine bewährte Arbeitskraft bald wieder in den Dienst der Firma werde stellen können.

Auch Jürgen las diese Notiz. Ihn interessierte nur das Wort ‚Konstitution‘. Er fragte Phinchen, ob sie glaube, daß er ein konstitutioneller Schuft oder ein Schuft aus freier Entscheidung, also ein für seinen Verrat verantwortlicher Schuft sei, der die Kraft gehabt hätte, keiner zu werden. Er stand unter dem Türrahmen der Küche und blickte gespannt in das fassungslos zurückfragende Gesicht. „Was meinst du, Phinchen?“

Unabgewendeten Blickes ließ Phinchen den Spüllappen fallen, trocknete, wie immer, wenn Jürgen die Küche betrat, gewohnheitsmäßig die violetten Hände an der Schürze ab. Der Jammer um ihren abgezehrten Herrn gab ihr die Worte, Jürgen sei immer der beste Mensch von der Welt gewesen; sicher habe er niemals absichtlich Böses getan.

Da geriet er in Erregung. „Dann wäre ja alles hoffnungslos. Denn wie könnte ich aus diesem Wuste menschlicher Niedertracht herausfinden, wenn ich ohne Schuld, ganz ohne eigenes Zutun hineingeraten wäre ... Aber du kannst das ja nicht wissen. Sechzehn – und jetzt bist du vierzig. Hast dein Leben in dieser Küche verbracht.“

Wochenlang verließ Jürgen das Haus nicht. Er kleidete sich gar nicht mehr an, aß und schlief außer jeder Regel. Manchmal wandte er sich mit einer Frage an Phinchen, deren Herz die Antwort gab.

Sehnsucht und Grübelei kreisten immer um den selben Punkt. Auf der Welt war nichts als er und der Panzerplattenturm, vor dem er grübelnd saß und stand und lag und kniete, dieses Panzerplattengewölbe in ihm selbst, zudem er Einlaß suchte und nicht fand.

Zäh, gequält und unverdrossen machte er sich jeden Tag und jede Nacht von neuem an die Aufgabe. Jeden Gedanken dachte, jeden Schritt machte der Wahnsinn mit. Und auf dem Tisch lag der Revolver.

Schon hatte er die Fähigkeit erworben, sich im Wachtraum und auch im tiefsten Schlaftraum zu beobachten. In der Finsternis unterirdischer Gewölbe, durch die er traumsicher schritt, traf er den Andern, den er suchte, führte mit ihm traurig geflüsterte Wechselreden. Im Blick des Andern stand sehnsuchtslose Bereitschaft. „Geh und miß!“

„Ja, messen! Ich werde messen. Dies ist das Mittel.“ Da saß er aufrecht im Bett: blickte die Schranktür an. „Messen?“

So ausschließlich lebte er seiner Aufgabe, daß es ihm trotz Unterbrechung des Traumes auch diesmal gelang, die Fortsetzung des Traumes zu träumen, in das Gewölbe, das tief unter dem Leben lag, zurückzugelangen, vor die Augen des Andern, die sehnsuchtslos und unerbittlich ihn anblickten.

Jürgen wußte, daß er nicht fragen dürfe, was er messen solle. Und als er flüsternd dennoch fragte, verschwand das Gesicht. Logikferne Gebilde zuckten auf, verzuckten in Finsternis. Lichtbündel verzischten in Finsternis, aus der sekündlich wieder Licht aufspritzte.

Da schoß eine dicke, schmerzhaft weiße Lichtfontäne auf, in deren Mitte unirdisch weiß das Wesentliche lebte, das, im Tiefsten ihn durchschauernd, plötzlich sein eigen wurde.

Inbrünstig bemühte er sich, das Wissen vom Wesentlichen aus dem Halbschlafe heraus in das Wachsein herüberzuretten, öffnete mit großer Vorsicht wiederholt die Lider, nur einen Millimeter: Immer war das Wesentliche weg und nur die Schranktür da.

Und als er ganz erwacht aufrecht im Bette saß, wußte er nicht mehr, wann und wie und durch wen ihm der Rat zuteil geworden war, noch einmal, wie in der Jugend, eine Wanderung durch die Menschheit zu machen, unverstellten Blickes.

„Dann werde ich wieder dorthin gelangen, wo ich schon war. O, Bewußtsein!“ Sein sehnsuchtsvoller Freudeschrei riß ihn aus dem Bett.

Bereit, jedes Leid und selbst den Tod zu erleiden, verließ er das Haus, in der Tasche den entsicherten Revolver.

Der Sonntagmorgen tat sich vor ihm auf. Glocken läuteten. Ein roter Sonnenschirm überquerte die Straße. An Jürgen vorbei marschierte eine Knabenklasse, in Viererreihen streng geordnet und geführt vom Lehrer, der kommandierte: „Links! Rechts! Links! Rechts!“

„Wenn die Schwerter blitzen und die Kugeln fliegen ...“ „Links! Rechts!“

An dem Lehrer sah Jürgen das erstemal dieses Gebilde, das im Rücken hing, verkümmert, eingeschrumpft, vertrocknet. „Das ist, mitgeboren, aber ganz verödet, das Eigene, das in gar keiner Wechselwirkung mehr zu seinem Träger steht“, flüsterte er und ließ sich auf den Lehrer zugehen. „Auch Sie machen sich mitschuldig an einem furchtbaren Verbrechen, und ich kann Ihnen sagen, weshalb.“

Erst als er den Lehrer schüttelte und in das empörte Gesicht sagte: „An einem entsetzlichen Verbrechen! Denn Sie lassen sich als Seelenmörder gebrauchen“, stutzte der Lehrer, riß sich los, eilte der Klasse nach und richtete die in Unordnung geratenen Viererreihen wieder aus mit dem Kommando: „Links! Rechts!“

Von einem visionären Blitz erleuchtet, sah Jürgen sämtliche Knabenklassen Europas, die, kommandiert von den Lehrern, auf einer Riesenebene in linearer Ordnung kreuz und quer umhermarschierten und unter Geschützesbrüllen unversehens Infanterieregimenter wurden. Ununterbrochen stiegen die erstickten Seelen aus den strenggeschlossenen Schülerquadraten in die Höhe und verschwanden mit klagendem Gesange.

„Wohin?“ fragte Jürgen. „Wohin sind sie verschwunden?“ Er stand, noch durchzogen von der Vision, reglos und entrückt, bis drei alte Herren ihm in das Blickfeld hineinspazierten. Der eine erzählte etwas, verteidigte sein ablehnendes Verhalten. „Da kam es darauf an, ein Charakter zu sein.“

„Sie aber haben keinen Charakter. Denn was würde geschehen, wenn Sie Ihr Vermögen, Ihre Stellung, Ihre Privilegien und die Achtung der geachteten Männer verlören? Wo bliebe dann Ihr Charakter? Sie, meine Herren, sind Charaktermasken.“ Und er deutete auf die eingetrockneten Gebilde, die sich mit den dreien fortbewegten.

Als habe eine Hand ihn durch die vielen Straßen hin geführt, stand plötzlich, die düsteren Fensterlöcher quadratiert mit dicken Eisenstäben, vor ihm das Gefängnis, ein steingewordener Schrei.

Dunklen Druck in der Brust, blickte Jürgen die zufriedenen Sonntagsspaziergänger an. „Sie gehen vorüber, unberührten Gemütes.“ In seiner Brust stand das ganze wuchtende Gebäude.

Und er schritt, stehend vor der Mauer, wieder durch die Gänge, Gänge, die in seinem Herzen waren, durch den Saal, in dem die engmaschigen Drahtgitterkäfige standen, jeder ein menschliches Wesen trennend von den menschlichen Wesen.

‚Schnauzl!‘ lockt mit Zeigefinger und Daumen die verwüstete Siebzehnjährige. Katharinas Schnauz wedelt kläglich mit dem Schwanzstumpf.

Qualvolle Machtlosigkeit, wie damals, preßte Jürgens Herz zusammen.

Die Zellentür tut sich auf. Vor ihm steht Katharina im grauen Gefängniskleid, das verschönt ist durch den ordnungswidrigen Einschlag beim Halse. Der kleine, feste Mund lächelt froh.

Stürmische Liebe, wie damals, brach in Jürgen los. Da blickt Katharina gleichgültig und kalt ihn an. (‚Auch kann ich ein Mädchen sein, das im Kampfe gegen die Umwelt steht und durch ihr verächtliches Abweisen ...‘)

Mit beiden Händen griff Jürgen in die Luft und taumelte gegen die Gefängnismauer, blickte flehend Katharinas Blick an, der lautlos sprach: ‚Nimm erst von neuem auf dich alle Qualen!‘

Zwei paar Arme, an denen Spazierstöcke baumelten, breiteten sich aus, fielen schenkelwärts. Schultern zuckten. Jürgen betrachtete die eingeschrumpften Gebilde. „Auch ganz und gar entselbstet!“ Und folgte, berührt von dem Interesse des Leidensgenossen für die Leidensgenossen, den zwei Männern.

„Da bin ich ganz deiner Meinung, Vorstand“, wiederholte der zweite Vorstand und ließ den ersten Vorstand vorangehen, hinein in das Gesangvereinslokal, in dem die Tenor- und Baßtische schon voll besetzt waren.

Unbemerkt stand Jürgen hinter dem großen Kachelofen. Aus dem Gastzimmer klangen, durch die geschlossene Tür durch, die Klüpfelschläge des Wirtes, der den Hahn in das Bierfaß schlug.

Er habe die außerordentliche Singprobe einberufen, weil das hochverehrliche Gründungsmitglied, Herr Simon Ott, im Sterben liege. „Er liegt in den letzten Zügen.“

In diesem Moment wurde Jürgen von einer Möwe besucht. Lautlos. Sie stand vor ihm, glich einer nordischen Frau – groß, hellblond – und hatte ein gefühlsentferntes, vollkommen seelenloses Gesicht.

Jenseits aller Verwunderung sagte Jürgen zu ihr: „Nur wußte ich bis jetzt nicht, daß Möwen schöne, kühle Frauen sind.“

Die Möwe antwortete nicht, blickte auf das weite, kalte Meer hinaus. Auch Jürgen blickte auf das Meer hinaus.

„Deshalb müssen wir rechtzeitig das Trauerlied einstudieren, das am Grabe gesungen werden soll, damit wir uns nicht wieder blamieren.“

„Er ist ja noch gar nicht tot!“

Ein kleiner, dürrer, bebrillter Schuhmachermeister schoß vom Stuhle empor und forderte etwas mehr Pietät. Er war der Schriftführer.

„Wenn er doch noch lebt!“

„Aber es kann nicht mehr lange dauern. Ich bitte also den Herrn Dirigenten, das Trauerlied vorzunehmen.“ Der Vorstand breitete die Arme aus: „Oder sollen wir uns wieder blamieren?“

Der zweite Vorstand erhob sich, klopfte ans Bierglas: „Ich bin ganz der Meinung unseres ersten Herrn Vorstandes ... Wenn ein altes Mitglied, ein Veteran des Männergesanges, stirbt, kann er verlangen, daß das Lied, das wir an seinem Grabe singen, vorher ordentlich geprobt wird. Und die Ehre unseres Vereins steht auch nicht so bombenfest, daß wir uns wieder blamieren dürften, wie das letztemal.“

Die Möwenfrau trug in den reglosen Augen einen Blick, als schaue sie das unabänderliche Schicksal.

Der Brillenschuster verteilte schon die Gesangbücher. Die zehn Bässe gruppierten sich um das Klavier herum. „Dort unten ist Friede“, intonierte der Dirigent. Und die Bässe setzten ein: „Im kühlen Haus.“

„Nur die Bässe singen, bitte ich mir aus. Warten Sie, bis Sie daran kommen.“ Der Brillenschuster hatte mitgesummt. Er sang den ersten Tenor.

„Es ruhet der Schläfer vom Leben aus.“

Gabelförmige Schwingen kamen fühlergleich und steif vorne aus der Körpermitte der Möwenfrau heraus, verschwanden wieder. Sie bewegte sich wie ein Vogel, der zum Fluge anhebt, sah mit inhaltslosen, blauen Augen Jürgen an, der dachte: Will sie fort?

„Und über dem Hügel: sum, sum, sum, sum.“

„Mehr piano! Nicht: sum, sum, sum, sum; sondern: sum, sum, sum, sum ... Sie, meine Herren, sind doch keine Schmeißfliegen; Bienen summen viel zarter.“

Plötzlich sah Jürgen vierzig zur Decke gerichtete Augenpaare, vierzig eirund geöffnete Münder und an den Rücken der Sänger, die jetzt im Halbkreise alle um das Klavier herumstanden, die vierzig eingetrockneten Gebilde.

Die Schwingen kamen gabelförmig vorne aus der Leibesmitte der Möwenfrau heraus; Jürgen setzte sich darauf und schwebte, den Kopf an die nebelumflorte, schöne Brust der Frau gelehnt, über das kalte, weite Meer, ruhend in der Überzeugung, daß er zu dem unbekannten Orte gelangen werde, wo sein Bewußtsein auf ihn warte.

Die Möwenfrau selbst darf, da sie erstickte Seelen fortträgt, natürlich keine Seele haben, dachte Jürgen während des lautlosen Fluges. Und sagte zu ihr: „Wenn ich nun dem Arzte erklären würde, daß auch diese Sänger ganz und gar entselbstet sind, und daß ihre Seelen, von dir und deinen Schwestern hingebracht, irgendwo im Weltenraume schmerzlich warten, in ungeheuerer Einsamkeit, würde er mir nicht glauben, sondern behaupten, mein Zustand habe sich verschlimmert ... Die Psychiater sind doch zu dumm. Glauben Sie das nicht auch?“

Die Möwenfrau antwortete nicht, flog weiter, leicht vorgebeugt. Ihre Augen hatten sich während der ganzen Zeit nicht bewegt. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert.

Weil sie eben keinen Gesichtsausdruck hat, dachte Jürgen und drehte das Gesicht nach oben, blickte ihr in die Augen.

Ringsum war nur noch Wasser und Nebel.

Jürgen wußte nicht und dachte auch nicht darüber nach, wie er hierhergelangt war. Er saß auf der Bank in der Anlage, gegenüber dem grünen Bretterzaune, in den er vor vierzehn Jahren als erstrebenswertes Ziel den Frackherrnjürgen hineingesehen hatte.

Ein Lächeln tiefinnerster Sicherheit erhellte sein Antlitz, als er, jeden Willen ausschaltend, alle Muskeln entspannte, in dem Bestreben, wie damals wieder nur die Begierden, nur den Menschen in sich sprechen zu lassen, um zu erfahren, was der Mensch in ihm ersehne.

Der Bretterzaun blieb Bretterzaun und leer. „Dieses nicht! Dieses wenigstens begehrt er nicht mehr“, flüsterte Jürgen. „Was aber ersehnt es, mein Herz?“

Er schloß die Augen und lauschte und wartete und fühlte nichts. Die Lider der inneren Augen blieben geschlossen. Da saß er, reglos, leid- und freudlos, leblos.

Leiser Wind bewegte die Baumkronen. Schläfriges Zwitschern eines Vogels im Sonnenbrand. In der Ferne brauste die Stadt.

„Das ist die weiße Sekunde“, flüsterte Jürgen in plötzlicher Erregung. Denn er sah sich schreiten. Und die Straßen wurden enger, dunkler, die Häuser kleiner. Unbebaute Stellen. Der verfaulende Bretterzaun. Das kleine Fenster hing nah der Erde rotleuchtend in der Finsternis.

„Die Haustür, sie ist nur angelehnt. O, einzutreten, heimzufinden, zurück zu mir!“

Ein Knall riß ihn empor. Zwei Soldaten warfen die Köpfe nach links und grüßten, Hand an der Mütze, die starr glotzenden Augen herausgedrückt, den Offizier.

„Geh mit!“ Er ging mit. Folgte dem Offizier in den Stadtpark, wo die Militärkapelle spielte und die geputzte Menschenmenge promenierte in dem sonndurchwirkten Laubgang alter Bäume.

Jürgen wurde oft und achtungsvoll gegrüßt und dankte nie. Lange beobachtete er einen Jüngling, der, im Blick noch die große Frage an das Leben, die eleganten Kaufleute, Studenten, Offiziere und Beamten betrachtete, schüchtern und ganz erfüllt von der Sehnsucht, ebenso elegant, fertig und sicher, Blume im Knopfloch, hier spazieren zu können.

„Spucken Sie auf dieses Ziel“, sagte er lächelnd und deutete auf die Promenierenden. „Vielleicht werden Sie dann nicht in der Leere ersterben sondern in Qualen leben.“

Vorbei promenierte eine Gruppe Studenten, welche, Armmuskeln gespannt, Ellbogen weggestreckt, ihre roten Mützen knapp an der Brust langsam herunter bis zum Knie und ebenso krampfhaft-feierlich wieder kopfwärts führten, während die Gegrüßten das selbe mit ihren grünen Mützen taten, die zerhauenen Biergesichter starr ins Profil zu den Rotmützen gestellt.

„Kampf und Vernichtung dieser Ordnung, die solche Söhne hervorbringt! Wehe, sie sind die Söhne ihrer Väter! Wehe, sie werden zu Staatsanwälten und zu Richtern werden! Ihrem Kopf und Herz sind Kultur und Fortschritt der Menschheit anheimgegeben? Nie! Nie! Niemals! Sie alle werden Jürgens werden. Bestenfalls!“ Er lachte in Hohn und Ekel vor sich selbst.

Da schritten, in dem Tempo von Menschen, die woher kommen und einem Ziele zustreben, Katharina, der Agitator, der Metallarbeiter mit der verstümmelten Hand und der Holzarbeiter, dessen verhutzeltes Gesicht nicht mehr viel größer war als eine Faust, wie ein Fremdkörper durch die gespreizt promenierende Menge.

Ein riesengroßes, sammetschwarzes Tuch verhing den ganzen Himmel. Und als es wieder dämmerhell wurde und Laubgang, Blumenrondells, Musikkapelle und Spaziergänger sich drehend ineinander türmten, wußte Jürgen nicht mehr, wen er gesehen hatte.

Knapp vor ihm begegneten sich wieder die Studenten, die erst kurz vorher einander gegrüßt hatten, und führten, da vielleicht ein noch nicht gegrüßter Student zu der einen oder der andern Gruppe gekommen sein konnte, wieder die Mützen hart an der Brust herunter, die Gesichter ins Profil gestellt.

Mit einem jähen Satz sprang Jürgen dazwischen, faßte mit großer Handbewegung die ganze Menge zusammen in Eine Person und begann zu brüllen, in maßloser Wut.

Erst viel später – er stand schon, ohne zu wissen, wie er dorthin gelangt war, vor der Kirche, brausende Orgeltöne drückten die Kirchgänger aus dem Portal heraus und um ihn herum – erinnerte er sich der Einzelheiten des Tumultes, den er verursacht hatte durch seine Ansprache.

Seine Zähne bleckten in Haß und Abwehr beim Erblicken der Kirchgänger. „Ein- und das selbe Gesicht, dort wie hier, weltenweit entfernt von dem Bewußtsein, das zum Schwanz verkümmert ist.“

Die Mitglieder sämtlicher Gesangvereine Europas standen und sangen in seinem Gehirn; die Verwandlung aller Knabenklassen in geschützdurchdonnerte Infanterieregimenter vollzog sich schmerzhaft hinter seiner Stirn; Studenten soffen und fochten und zogen die Mützen in seinem Hinterkopf; Millionen Bürger zuckten, begleitet von Militärmusik und Orgelspiel, ablehnend die Schultern, breiteten bedauernd die Arme aus, daß Jürgens Schläfen zu platzen drohten.

Er wühlte sich durch die Menge, sprang durch ein Durchhaus und stand, zuckend in allen Nerven, in einer menschenleeren, immer sonnelosen, vor Feuchtigkeit grünen Gasse.

„Nieder!“ zischte er, beide Fäuste an die Schläfen gepreßt. „Nieder! Nieder mit dem Ganzen!“

In der feuchten Gasse war es still wie in einem Abgrund. „Aber wie? Durch welche Macht? Durch welches Mittel?“

Plötzlich glaubte er, starrend auf den Streifen irisierenden Schaumes, der aus der feuchten Mauer quoll, das einzige Mittel werde ihm in der nächsten Sekunde einfallen. Beide Arme ausgebreitet, Hände gegen die Mauer gepreßt, stand er wie ein Gekreuzigter, lauschend und wartend. Der menschengefüllte Stadtpark tat sich auf. Sofort war das ganze Bild wieder mit dem sammetschwarzen Tuch verhangen. Erinnerungsqual versank in Schwindelgefühl, aus dem, so unentrinnbar wie damals, als er bei der Straßenkreuzung Abschied genommen hatte von Katharina, der Zwang emporwuchs, genau gezählte zehnmal durch die feuchte Gasse zu gehen. Hin, her, hin.

„Achtmal“, zählte er, blickte hinaus, wo die Sonne schien, ballte die Fäuste, in dem Bemühen, die Gasse vorher verlassen zu können. Da riß es ihn herum. Geduckt marschierte er weiter.

In der Kellerwohnung schlug ein Mann seine Frau. Wildes Geschrei. Das fahle Gesicht des weinenden Söhnchens erschien am eisenvergitterten Fensterquadrat knapp über dem Pflaster.

„Und in zwanzig Jahren schlägt das Söhnchen seine Frau, und deren Söhnchen weint“, flüsterte Jürgen und durchwanderte zum zehnten Male die schimmelgrüne Gasse. „Welche Macht könnte das verhindern?“

„Wissen Sie es? ... Alles hat seine Ursache. Glauben Sie nicht auch, daß alles seine Ursache hat?“ fragte er auf dem sonnigen Kirchplatz einen schnurrbärtigen Rentier, in dessen Mund eine sorgfältig angerauchte, dicke Meerschaumspitze steckte.

„Man muß die Ursachen erkennen, dann findet man auch das Mittel. Glauben Sie nicht auch?“ Und als der Rentier den Kopf schüttelte:

„Sie sind ein Raucher, nicht wahr? Nichts als ein Raucher! Sie kann man mit der Bezeichnung ‚Raucher‘ benennen. Sie sind harmlos. Tun niemandem etwas.“

Der Rentier ging weiter. Ein Dampfwölkchen stieg empor, zerflatterte. Noch ein Dampfwölkchen stieg empor.

„Oder sind er und die Millionen seinesgleichen vielleicht doch Raubtierchen? Selbstgerechte, zufriedene, ihres Raubes sichere Raubtierchen?“

Ein uraltes Männchen, das auf dem speckigen Rockaufschlag am speckigen Bändchen einen Kriegsorden trug, überquerte trippelnd die Straße. Das vertrocknete Gebilde machte jedes Schrittchen des Alten mit.

„Wie konnten Sie es ertragen, achtzig Jahre nicht eine Sekunde Sie zu sein, nicht einen Atemzug lang Ihr eigenes Leben zu leben? ... Nur in der Kindheit, in der Kindheit! Erinnern Sie sich noch?“

Das Männchen hob mühsam den schweren Kopf: „Oj, oj, ein schlimmes Leben!“ und trippelte weiter.

Täglich, vom frühen Morgen, bis in die späte Nacht hinein, beobachtete und erlitt Jürgen das Leben, suchte er – begleitet von Wahnsinn und Revolver und immer bereit zum Schusse in das Herz – Bewußtsein und Weg. Wurde in seinem Kampfe, der in zweifachem Sinn ein Kampf um Sein oder Nichtsein war, noch wochenlang beständig hin und her geschleudert zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

„Wo ist das Herz?“ hatte er einen Arzt gefragt.

„Zwischen der vierten und fünften Rippe, von oben gezählt.“

Und hatte, zuhause angelangt, an seinem abgezehrten Brustkorb die Einschußstelle abgetastet, entschlossen, nicht eine Sekunde länger zu leben, wenn keine Hoffnung mehr sei.

Beobachtend lauschte er dem Leben und dabei immer in sich selbst hinein, folgte, ein zum Tode und zum Leben Entschlossener, jedem Fingerzeig, den die Umwelt gab, sprach mit Kindern und mit Greisen, mit Soldaten und mit Pferden. Das Erblicken eines Hundes, der, von einer Frau fortgezerrt, auf Jürgen zugestrebt war, veranlaßte ihn, sofort zum Hundehändler zu gehen.

„Haben Sie einen Schnauz, der alles erträgt, nur nicht die Trennung von dem, dem seine Sympathie gehört?“

Im sonnigen Hofe stand reglos ein junger, schwarzer Dackel, der, mit allen Vieren gleichzeitig, plötzlich hochflog, in der Luft herum, und wieder reglos stand, die verdrehten Augen auf Jürgen gerichtet.

„Einen Schnauz nicht. Aber das Mistvieh können Sie billig haben, mitsamt der Leine.“

„Er hat gute Augen. Wird er mit mir gehen?“ Der reglose Dackel starrte auf eine Fliege, hüpfte auf sie zu, starrte in den Himmel.

„Der geht mit jedem.“

Freudig bellend zerrte der Dackel, die Schnauze am Boden, Jürgen hinter sich her, aus dem Hofe hinaus.

Von dieser Stunde an unternahm Jürgen täglich weite Fußtouren. Er beachtete nicht Sonnenbrand, nicht Regen und hatte keine örtlichen Ziele. Für ihn gab es Tag und Nacht, ob er wanderte und sann oder schlief und träumte, nur das eine Ziel. Alles und nichts war ihm Wegweiser. Er existierte zwischen dem Ziele, das, ein farbloses, winziges Pünktchen in immer gleicher Entfernung am Horizont: seine große Hoffnung, und dem Schuß ins Herz, der die Erlösung von dem Wahnsinn: seine letzte Freiheit war.

Der alte Landarbeiter, krummgebogen von der Lebensarbeit, rückte die Mütze und deutete: „Ihr Hund jagt. Wenn ihn der Forstaufseher vor den Lauf bekommt, schießt er ihn.“

Aus dem hochstehenden Kleefeld tauchten, wie bei einem flüchtenden Känguruh, abwechselnd Kopf und Hinterteil des Dackels empor, der die Kleespitzen übersprang und bei jedem Satze mit den Vorderpfoten tief einfiel. Jürgen horchte auf das scharfe, verzweifelte Bellen.

Und da geschah es, daß Jürgen, dem jede Sekunde Zeit unschätzbar teuer war, der um keinen Preis, den dieses Leben zu bieten hatte, eine Sekunde lang das Suchen nach sich selbst unterbrochen hätte, dieses große Suchen auf Leben und Tod unterbrach, um erst den gefährdeten Hund zu suchen.

„Was ist der Mensch und was der Sinn, der ihn bewegt? Wer vermöchte zu sagen, weshalb im Opfer der tiefste Sinn des Menschendaseins ruht?“ flüsterte Jürgen, als er wieder auf dem Wege war, und begann zu weinen, laut und schrankenlos, in plötzlicher, wunderbarer Befreiung.

Der Hund dackelte neben dem Schluchzenden her, hügelan, zum Waldrand. Vor Jürgen lag die Tiefebene, unübersehbar weit und breit.

Zahllose junge Menschen, Mädchen, gebunden fragenden Blickes, Gymnasiasten, Studenten aller Nationen, standen dichtgedrängt, wartend auf das Wort. Immer neue Züge, endlos, traten aus den Wäldern heraus, tauchten hinter den fernen und fernsten Hügelketten auf. Millionen füllten die Tiefebene. Auf der Schulter eines jeden Einzelnen kauerte ein unheimlich und böse blickendes Tier. Aller Augen waren auf Jürgen gerichtet.

„Folgt euren Vätern nicht, den alten Verdienern!“

Da bäumten sich die Tiere, bleckten die Zähne, sträubten die Rückenhaare, schlugen ihre Krallen in die Schultern der stöhnenden Jugend, stießen grauenvolle Töne aus, die Schreck und Machtlosigkeit verursachten im Blick und im Gesichte der Jugend.

„Stoßt sie herunter von euren Schultern! Reißt sie heraus aus eurem Gefühle! ... Macht euren guten Müttern Sorge! Erkennt eure Aufgabe, und dann erfüllet sie! Tut ihr das nicht, dann geht ihr zugrunde, so oder so“, begann Jürgen die große Rede an die Jugend, die zu einer Darstellung seines Lebens wurde und immer wieder von neuem in der Warnung gipfelte, nicht so zu tun, wie er getan habe.

Stunden später blickte Jürgen, sitzend am Fensterplatz des kleinen Cafés und vor sich schon das Glas voll dampfenden Glühweines, dunkel fragend hinüber auf das Knopfexporthaus und wußte nicht, wie und wann und weshalb er hierher gekommen war.

Nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt war das immer wieder geschehen, daß Jürgen bei den Wanderungen in und außerhalb der Stadt unversehens sich an Stellen befunden hatte, die durch Erlebnisse in der Vergangenheit für ihn bedeutsam geworden waren.

Da steht ein Mensch plötzlich vor einem schwarzen Tunnelloch, ganz erfüllt von dem Gefühle, vor diesem Tunnelloch schon einmal gestanden zu haben in einem früheren Dasein. Er sitzt auf einem Kilometerstein, sinnend und tief im Leben, und Strauch und Baum, der stille Waldsaum und die schnurgerade Landstraße, die wie ein weißer Pfeil sich in den fernen Horizont verliert, sind rätselhaft vertraut dem unruhvollen Herzen.

Die Wand, die Jürgens Blick in das Gewesene verstellte, rückt lautlos weg, und auf ihn brechen die Erinnerungen ein, so plötzlich und mit so lebendiger Gewalt, daß Jürgen in Abwehr schreit und bebt, gepackt von Angst, erdrückt zu werden von dieser Fülle, von des Bewußtseins blitzesschneller Wiederkehr.

Um nicht Schaden zu nehmen an der Seele, bemüht sich der von Glück und Sein Durchblitzte und Durchstürmte, das wiederkehrende Bewußtsein bewußt nur stückweise in sich einzulassen, lenkt sich ab, zählt, entlang dem Waldsaum, genau dreihundert Tannenstämme. Zählt und zählt, bebt und schluchzt und zählt, bedrängt von dem anstürmenden, von Stamm zu Stamm nachdrängenden Bewußtsein, das eine Sturmflut schmerzhaft lebendiger Erinnerungen mitführt, die ihm zum großen Rückblick werden, tief zurück in das Gewesene.

Viele Tage und in Maß und Abwehr durchwachte Nächte waren vergangen, ehe Jürgen sich bereitet und stark genug gefühlt hatte, bewußt Erinnerungsorte aufzusuchen. Wieder sitzt er eine ganze Nacht in der Verbrecherkneipe und liest von den verwüsteten Gesichtern das schon Gewußte und das Bewußtsein des Verrates, den er begangen hat, sich von neuem in die Seele und weiß, schweren Herzens, wieder: ‚Wer in diesem Leben nicht tief im Leide und im Kampfe steht, steht tief in Schuld.‘

Die Straßenkreuzung, wo er Abschied genommen hatte von Katharina, glüht und brennt. Lange steht er, zögert er. Und plötzlich überquert er sie doch, in fliegender Eile, Schauer im Rückenmark.

In dem Maße, wie er das Bewußtsein wiedergewinnt, bricht auch das Leben in seiner Milliardenfältigkeit, die zu empfangen und zu begreifen der Mensch ein Menschenalter zur Verfügung hat, wieder in ihn ein, stoßweise und mit solcher Wucht, daß er, bebend wie der Auferstandene, vor Sonne, Blau und Lärm steht, vor dem kleinen Leben der Straße, den schweren Pferden, die arbeitstreu das Backsteinfuhrwerk bauwärts ziehen, vor dem Sperling, der auf dem Pflaster hüpft und in die Ritzen pickt.

Den Dackel an der Leine, schritt Jürgen aus der Stadt hinaus, auf der Quaimauer flußentlang, vorüber an einer Reihe Proletarierfrauen, die, kniend am Ufer, farbige Wäsche wuschen, an durchnäßten Kindern vorbei, die Hafenanlagen bauten aus Sand und Dreck.

Die letzten Häuser blieben zurück. Der Fluß glitt blau und grün entlang der sanften Hügelkette. Am Ende der Quaimauer stand ein Angler. Jürgen schritt wie im Traume auf ihn zu. Er wunderte sich nicht. „Sind Sie Herr Knipp?“

„Das ist mein Name.“ Hinter Herrn Knipp lag auf dem Damm ein besonders langer Reserveangelstock modernster Konstruktion. Auch einen neuen Rucksack aus braunem Segeltuch mit Lederbesatz hatte er sich angeschafft und einen Feldstuhl. Der Angler war erst achtundfünfzig Jahre alt und sah, wie er so dastand, zufrieden mit sich und der Welt, ganz unverändert aus, als ob seither kein Tag vergangen wäre.

Wie damals saß Jürgen auf der Quaimauer, Beine flußwärts gestreckt. Millionen kleiner Mücken standen in der drückenden Schwüle knapp über der Wasserfläche. In der Nähe pochte die Stadt. Die Zeit stand still und glitt zurück.

„Erinnern Sie sich noch des arbeitslosen Schwindsüchtigen, mit dem ich hier gesessen hatte?“

Ruhevoll hob Herr Knipp die Angelschnur heraus und senkte sie in schönem Schwunge wieder in das glucksende Wasser. „Heute beißen sie gut an, weil ein Wetter im Anzuge ist ... Der Bursch lebt schon lange nicht mehr. Der war ein Unzufriedener. Den hat die Unruhe aufgezehrt, die Unzufriedenheit mit dem Gang der Welt. Schließlich hat er noch geklaut, kam ins Gefängnis und ist auch drin gestorben.“

Ein Mensch, überschlafen, träge, nimmt sich ein dutzendmal vor, endlich aus dem Bett zu steigen, und bleibt immer wieder liegen. Unversehens sind seine Beine außerhalb des Bettes. Wie in diesem Trägen vielerlei zusammen das plötzliche Aufstehen bewirkt hat, ohne daß das treibende Vielerlei ihm ganz bewußt geworden wäre, tauchten auch in Jürgen die Fahrt mit dem Agitator zur Arbeiterversammlung im ‚Paradies‘, die fünftausend Arbeitergesichter, das fahle Gesicht des Schwindsüchtigen, Katharinas Rufe: ‚Die Befreiung!‘ und seine Empfindungen und Gedanken an jenem Abend nur schemenhaft und unkontrolliert auf; dennoch verursachte all dies zusammen, in Verbindung mit des Anglers Worten, in Jürgen, der sich sofort erhob, plötzlich das feste Gefühl, er habe sich nun lange genug ausschließlich mit sich beschäftigt.

Und aus einer ganz andersartigen Unruhe als der, die ihn veranlaßt hatte, den erinnerungsträchtigen Angelplatz aufzusuchen, löste sich sofort der Gedanke, Bewußtsein und Erkenntnis dürften nicht um ihrer selbst willen erstrebt und gepflegt werden.

„Es ist erfüllt. Nun ist es Zeit“, sagte Jürgen, freudigen und schweren Herzens zugleich, als er zielbewußt weiter schritt.

Der wolken- und sonnenlose Himmel sah krank aus. Die Landschaft glich einem schlechten, leblosen Riesengemälde. Der Dackel zögerte, blieb stehen, legte sich in die Straßenmitte. Die Vögel waren verschwunden. Kein Ton. Jürgen betrachtete das meterhohe Getreidefeld. Die völlige Reglosigkeit der Halme und Ähren machte auf ihn den Eindruck der Unnatürlichkeit und Schaurigkeit. Erst als Jürgen schon weit voraus war, erhob sich der Hund.

Vereinzelte Tropfen fielen schwer in die Wind- und Luftlosigkeit. Als wäre der Himmel zu spannungslos und matt, den Sturm zu entfesseln, endete der Regen wieder. In der Nähe schrie ein Tier angstvoll dreimal. Und eine Sekunde später durchzuckte der trockene Blitz das ganze Tal.

Wie auf ein Zeichen mit dem Taktstock bewegten sich alle Ähren gleichzeitig. Das Tal begann zu singen. Blitze aus weiter Ferne zogen schwachen Donner nach. Der Apfelbaum fröstelte. Ein alter Lappen machte einen Sprung quer über die Straße, blieb einen Windstoß lang ausgebreitet in halber Höhe gegen das Getreidefeld gepreßt und fegte, knapp über den Ähren, davon.

Jürgen hatte die Feldhütte noch nicht erreicht, da krachte der erste Donnerschlag, begleitet von schräg herabplatzenden Wassermassen. Der Dackel saß zu Füßen Jürgens und bellte hinaus in den Wolkenbruch.

Als Felder, Wald und Fluß, das ganze Tal, im Wetter verschwunden gewesen, wie aus dem Nichts wieder entstanden, ging Jürgen auf eine weiße, unübersteigbar hohe Mauer zu, schnellen Schrittes, im Antlitz das Lächeln der Befreiung.

Das schwere Bohlentor öffnete sich, eine Droschke fuhr heraus. Jürgen lief ein paar Schritte, sprang durch das Tor, hinein in die Irrenanstalt. Das Tor schlug zu. „Führen Sie mich zum Arzt.“

Der stand noch in der Freihalle, kam schon geeilt.

„Sie warten wohl schon lange auf mich?“

„Aber nein! Das heißt, ich freue mich natürlich sehr, Sie zu sehen, Herr Kolbenreiher ... Beruhigen Sie sich! Bleiben Sie hier! Nur Ruhe!“ rief er beschwörend Jürgen zu, der ruhig lächelnd zurückblickte.

Der patschnasse Dackel kam, die Leine hinter sich herschleifend, angerast, bellte vorwurfsvoll an dem geschlossenen Tor hinauf und drückte sich, auf der Hinterbacke sitzend, Vorderpfoten aufgestellt, gegen die Mauer, blinzelte unzufrieden in den noch mit schwarzblauen Wolken verhängten Himmel. Rasch hintereinander krachten zwei Donnerschläge.

„Was kostet jetzt der Aufenthalt in Ihrem Hause, mit voller Verpflegung?“

„Das richtet sich nach der Lage und Einrichtung des Zimmers. Sozusagen nach der Klasse. Dreierlei Preise!“

„Wie bei der Eisenbahn!“

„Wir berechnen Ihnen den Aufenthalt und selbstverständlich auch die Behandlung so kulant wie möglich. Sie wollen und werden ja auch wieder gesund werden.“ Der Arzt nannte die Summen.

„Und lebenslänglich?“

„Das verbilligt die Sache allerdings noch erheblich.“

„Dann am besten lebenslänglich, was?“

„Sehr vernünftig!“

„Nicht wahr! ... Sind viele Kranke hier?“

„O, ganz besetzt! Sehr interessante Patienten!“

„Und alle nicht bei sich?“

„Dies allerdings dürfte für alle so ziemlich zutreffen, im großen ganzen ... So kommen Sie doch schon her!“ rief er dem Oberwärter zu.

„Ich wollte, Herr Doktor, ich wollte diese Mauer, diese hohe Mauer, mir nur einmal von innen ansehen. Ich danke schön. Guten Tag, Herr Doktor“, sagte Jürgen, kehrte um und schritt zum Tore hinaus.

„Entronnen!“ Auf der Brücke zog er den Revolver und ließ ihn senkrecht hinunterfallen in das Wasser. „Entronnen!“ In den Schultern fühlte er das Leben und die Kraft zu neuem Anfang.

Jürgen fuhr mit der Straßenbahn bis zur Endstation, erreichte Minuten später die Haustür. Sie war nur angelehnt.

„Ja, was denken Sie! Die ist nie zuhaus“, sagte Katharinas Wirtin. „Jetzt ist das nicht mehr so wie früher. Jeden Tag Versammlungen! Und dann noch in die Redaktion. Jetzt erscheint die Zeitung ja täglich. Und wenn sie ja einmal da ist, sitzt sie gleich die halbe Nacht an der Schreibmaschine. Jetzt gibts viel Arbeit. Ein Buch schreibt sie auch. So dick! Das soll gedruckt werden.“

Ein volles Bücherregal nahm die ganze Längswand ein. Auch ein Teppich verschönte das Zimmer. Auf dem Tische lag ein gedruckter Handzettel: Die Aufforderung zum Besuche der heutigen Massenversammlung im ‚Paradies‘.

Gegenüber dem ‚Paradies‘ standen zwei Schutzleute, unter dem Eingangstor drei Arbeiter, die sich lebhaft unterhielten, und neben einem Stoße Broschüren ein vierzehnjähriger Knabe, der sicheren Blickes auf Jürgen zuschritt: „Der Kampf um den Sozialismus!“

Jürgen kaufte die Broschüre. „Wer spricht heute Abend?“

„Meine Mutter: die Genossin Lenz.“

‚Halt! Halt! Das ist zu viel, zu viel Glück, zu viel Glück.‘ Bebend blickte er auf Katharinas Sohn, der äußerlich ganz und gar so aussah, wie der Gymnasiast Jürgen, der vor dem Buchladen gestanden und nicht den Mut gehabt hatte, einzutreten und die Broschüre zu kaufen.

Mit den drei Arbeitern trat Jürgen in den Saal, schloß leise die Tür. Fernher klang in die Stille die Stimme Katharinas.

Werke von Leonhard Frank

DIE RÄUBERBANDE

Roman 20. Tausend

Im Insel-Verlag, Leipzig

DIE URSACHE

Roman 20. Tausend

Im Insel-Verlag, Leipzig

DER MENSCH IST GUT

Gebunden. 25. Tausend

Rascher-Verlag, Zürich

Volksausgabe: 80. Tausend

Kiepenheuer Verlag, Potsdam

Copyright by DER MALIK-VERLAG, Berlin 1924
Alle Rechte, insbesondere die des Nachdrucks und
der Übersetzung, vorbehalten. Druck der Spamerschen
Buchdruckerei in Leipzig

Anmerkungen zur Transkription

Der Verfasser hat offenbar Absatzumbrüche mitten in Sätzen, meist vor dem Wort während , absichtlich eingefügt, zum Beispiel auf Seite 204 , Seite 250 oder Seite 310 . Dies wurde belassen wie in der Druckvorlage.

Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert.