The Project Gutenberg eBook of Der Mutterhof: Ein Halligroman

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Title : Der Mutterhof: Ein Halligroman

Author : Felicitas Rose

Release date : January 18, 2022 [eBook #67192]
Most recently updated: October 18, 2024

Language : German

Original publication : Germany: Deutsches Verlagshaus Bong & Co

Credits : The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER MUTTERHOF: EIN HALLIGROMAN ***

Anmerkungen zur Transkription

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist so ausgezeichnet . Im Original in Antiqua gesetzter Text ist so markiert .

Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches .

Cover

Felicitas Rose · Der Mutterhof

Signet

Der Mutterhof

Ein Halligroman

von

Felicitas Rose

141.–143. Tausend

Berlin / Leipzig
Deutsches Verlagshaus Bong & Co.


Alle Rechte, auch das der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten
Copyright 1918 by Deutsches Verlagshaus Bong & Co., Berlin
Druck von Hallberg & Büchting (Inh.: L. A. Klepzig), Leipzig C 1
Printed in Germany


Meinem Manne zu eigen


[7]

Im Mutterhof auf Hallig Likamp brannte die grünbeschirmte Lampe. Heimelig war’s in dem großen Wohnpesel.

Der uralte, gewaltige, runde Tisch stand unter der Hängelampe, und um ihn herum saßen die schmucken, hohen Gestalten mit den blonden Friesenköpfen. Die Männer rauchten, die Frauen klöppelten, der zwölfjährige Onnen Holgers las vor:

»Also lautet die Sage von Heyens Lei: Tag für Tag und Nacht für Nacht wartete die treue Schwester am Fenster ihres Stübchens auf den verschollenen Bruder. Eine brennende Kerze stellte sie abends ins Fenster, damit der Bruder den Weg nicht fehle. Und die Kerze leuchtete hin über die salzen See. Derweil schlief der verschollene Bruder längst den ewigen Schlaf tief drunten im Meer.«

Onnen Holgers mußte mit dem Lesen innehalten, denn die 85jährige Großmutter Holgers wachte aus einem leichten Nickchen auf. Doch sogleich waren ihre Augen hell und scharf, wie die der Jüngeren ringsum. Auch von der Geschichte hatte sie nichts verloren. »Das Licht hab ich selber noch brennen sehen«, rief sie lebhaft. »Ein zehnjähriges Kind war ich damals und kreuzte mit [8] Vater in seinem Fischerewer vor Heyens Lei. Und jedesmal, wenn wir dort zu Gange waren, rief der Vater: ›Sieh, mein Deern, die treue Schwester wacht.‹«

Der Zwölfjährige schloß mit lautem Klapp sein Buch. »Großmudder weet allens«, rief er fröhlich. »Großmudder, darf ich’s dem Lehrer erzählen, daß du alles selbst erlebt hast? Er freut sich, das kannst glauben.«

Die Ahne lachte behaglich. »Lehrer Manne Wögens weiß es lange. Der hat all seine Geschichten von mir. Er führt so’n Sprichwort: ›Wer klug werden will, gehe bei seiner Großmutter to Schol.‹ Du brauchst keinen Flunsch zu ziehen, Frau Tochter, es soll dich nicht herabsetzen.« Die Schwiegertochter der Ahne und Mutter all der jungen Friesen ringsum behielt ihr verdrossenes Gesicht.

»Manne Wögens hat immer so’n Schnack«, meinte sie unwillig. »Seine Schüler werden den Respekt vor Eltern und Lehrer verlieren.« Der Zwölfjährige wollte aufmucken, aber der Blick der Ahne bannte ihn. »Hol mir einen Krug Wasser aus der Zisterne«, gebot sie.

Und als der Junge den Pesel verlassen, meinte sie geruhig: »Der feine, lustige Schnack des Schulmeisters schädigt mein Tag nicht das 4. Gebot, wohl aber tut’s die Frau Tochter, wenn sie den Lehrer vor den jungen Ohren heruntermacht, ’s ist heute ja nicht das erstemal … Dabei sollte die ganze Hallig lobsingen, daß auf der Schulwarf ein ganzer Mann und ein kluger Mann das Regiment übernommen hat, – das ist meine Meinung.« Sie verstummte und nickte dem wieder eintretenden Knaben zu. »Gib mir das Glas, Lütten, und dann setz dich nieder [9] und schau in dein Buch. Sag mir, ob noch mehr drin steht von Heyens Lei?«

Onnen Holgers blätterte. »Nicht viel, Großmudder. Das Licht war eines Tages tief herabgebrannt, und dann fand man die treue Schwester tot neben der erloschenen Kerze. Weiter steht nichts drin. Weißt du noch viel, Großmutter?«

»Bannig viel, Enkel Onnen. Zur Zeit der letzten schlimmen Sturmflut 1825 nahm der blanke Hans die Hallig Heyens Lei und begrub sie. Das andere Drum und Dran ist nichts für so’n Lütten. Da könnt dir das Gräsen ankommen. Wenn du groß und stark bist, will ich dir davon erzählen. – An unsern nordischen Geschichten ist nichts Zahmes dran. – Und was ich aus Kinderbüchern weiß, das hab ich euch all lang erzählt.«

Onnen Holgers reckte seine jungen Arme. »Groß und stark? Fühl meine Muskeln, Großmutter, erzähl mir von Heyens Lei!!! Auch wenn nix Zahmes dran ist.« Sie lachten alle, die um den Tisch saßen, nur seine Mutter sah ihn unwirsch an. »Kannst du das Quesen und Quälen nicht lassen?« »Lat em, Mudder,« meinte die sechzehnjährige Melenke; »es ist hart, immer aufs Großsein vertröstet zu werden. Gottlob, ich hab’s überstanden.« Sie dehnte wohlig ihren vollen, runden Körper und sang:

»So lang noch treue Liebe ein »Gott behüt dich« spricht,
So lang noch treue Liebe die Bonnestaven bricht,
So lang noch treue Liebe aufblühet jeden Mai,
So lange klingen die Glocken herauf von Heyens Lei.«

»Willst du denn noch fort, Edlef?« fragte die Ahne erstaunt [10] in das Lied hinein einen andern Enkel, der jäh aufgesprungen war und nun in seiner überstattlichen Größe beinahe mit dem Blondschopf bis zur Decke reichte. »Laß doch das alberne Singen«, rief er der Schwester zu. Melenke aber wiederholte lachend: »So lang noch treue Liebe die Bonnestaven bricht … Nun, Edlef? Wer hat den Riesenstrauß Statize bekommen? Und da willst du keine Liebeslieder hören? Vor Tau und Tag bist du schon herumgestiegen, du Heimlicher.«

Edlef wandte sich zornig zur Tür und drückte sie auf. Er hörte noch, wie die Ahne verweisend sagte: »Du wirst mir zu wild, Melenke. Acht auf dich!«

Auf der Schwelle prallte Edlef zurück. Ein großes, schönes Mädchen trat ihm entgegen und blickte ihn lustig an. »Willst du die Tür nicht frei geben? Wolltest du zu uns? Du hast nicht weit zu gehen, da bin ich.«

Er fuhr sich wie verlegen durch den blonden Schopf. Sie schritt lachend an ihm vorbei in den Wohnpesel. »Guten Abend beisammen.«

Sie löschte die Laterne und stellte sie auf den Beilegeofen.

»Willkommen, Akke Luersen« rief die Ahne, und Edlefs Mutter schob rasch einen Stuhl an den Tisch. – »Je später der Abend, desto schöner die Leute!« Das Mädchen mußte ihr sehr lieb sein.

»Ja, da bin ich, und lang hat’s gedauert. Trotzdem macht mein Edlef krause Stirn.« Sie fuhr ihm mit der großen, weißen Hand übers Gesicht. »Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?« fragte sie derb, »oder blieb ich dem Schatz zulange aus und er ist fünsch?« Edlef [11] Holgers schüttelte den Kopf und sah versonnen vor sich hin. Sie schaute ihn schier etwas lauernd an, dann zuckte sie die Achseln. »Jedenfalls konnt ich nicht eher kommen. Und nun kann ich wohl die Neuigkeit vermelden, – ich hab wieder ’n kleinen Bruder!« Die Ahne streckte ihr lebhaft die Hand hin, Mutter Holgers gratulierte wortreich, und selbst Rickert Holgers, der alte Ohm und Altenteiler, der bis dahin schweigend an seinem Priem gekaut hatte, erhob sich und sprach lebhaft seine Anerkennung aus: »Gute Rasse, tüchtige Frau.«

Edlef Holgers blieb sitzen und fragte nur ganz ernst: »Wie befindet sich die Frau Mutter?«

»Mutter ist kreuzwohlauf«, lachte Akke Luersen. »Das macht die gute Übung«, setzte sie sehr offenherzig hinzu. Es schien so, als wolle sie den Verlobten reizen, denn die Röte lief wieder über seine Stirn, und die Falte zwischen den Brauen vertiefte sich. »Wieviel seid ihr jetzt Vögel im Nest«, fragte die Ahne ablenkend.

»Im Nest nur neun, aber sechs sind schon draußen auf See. Mutter meinte heut, es sei Zeit, daß ich flügge würde; was meinst du, Edlef?«

Edlef Holgers schwieg, aber Ohm Rickert krähte: »Mich dünkt, flügge bist all lang, man tut beinah gut, die Flüchten zu kappen.« Er spuckte in großem Bogen aus, so daß sich alle Köpfe erschrocken duckten. »Die Mutter meint wohl, daß du in dein eigen Nest fliegen sollst«, sprach geruhig die Ahne. »Uns ist es nicht zuwider, aber das mußt du mit deinem Bräutigam besprechen. Geh, Edlef, bring deine Braut zur Schulwarf, besprich dich dort und komm mit guter Nachricht heim. [12] Der Mutterhof ist allstunds bereit, dein junges Weib zu empfangen.«

Der Abschied war herzlich. Man brachte aus Laden und Truhen, aus Beuteln und Strümpfen noch Geschenke hervor für die Wöchnerin und das Neugeborene, und die stattliche Akke ließ sich alles lachend aufpacken. Dann zündete Edlef die Laterne an und schritt mit der Braut zum Deich hinunter. Drinnen gähnte Melenke, daß alle ihre weißen, starken Zähne sichtbar wurden.

»Oha, das wird mal eine langweilige Ehe«, meinte sie. »Wenn ich nur die beiden sehe, tritt mich der Schlaf an. ’S wär nichts für mich. Bruder Edlef ist wie ein Kettenhund. Entweder er beißt oder er schläft.«

»Zu schlafen und zu gähnen wird er nicht viel haben in seiner Ehe,« krähte wieder Ohm Rickert. »Das wird ein Teufelsweib, die Akke. Möchte schier selber ihr Hochzeiter sein.« Er schmatzte behaglich an seinem Priemchen, und Melenke juchzte laut auf.

Die Ahne erhob sich fast jugendlich von ihrem Ohrenstuhl.

»Schämt Euch, Ohm Rickert. – Und zu dir, Melenke, sag ich, – ich bin die Ahne. Und hab trotz meiner fünfundachtzig noch die Kraft, dir eins an die Ohren zu geben, wenn du schluderig wirst. Acht auf dich, sag ich nochmal, – du bist Haustochter vom Mutterhof!«

»Dor rük an«, raunte Rickert der Nichte zu und formte sich ein neues Priemchen.

Mutter Holgers führte die Ahne sorglich in den Schlafpesel, Onnen folgte, und auch der langjährige Knecht und die Magd verließen die Stube. Melenke maulte.

[13]

»Haustochter vom Mutterhof! Ich pfeif drauf, wenn ich nicht lustig sein darf deshalb. Und wenn die Eheleute auf dem Mutterhof ümmerlos nur gebetet hätten, dann hieß er nicht der Mutterhof.«

»Dunnerkiel, was bist vorn Deern!« bewunderte Ohm Rickert. »Aus dir haben die zwei Jahr Stadtdienst in Hamburg auch grad keine Heilige gemacht. Da wirst du mit der Ahne bald wieder zusammenwachsen.«

»Ach!« seufzte Melenke. »Wär ich nur der Hallig ledig! Ich könnt einen guten Dienst wieder bekommen. In Blankenese; aber solange die Ahne lebt, erlaubt’s die Mutter nicht.«

»Und die Ahne macht’s über die Hundert hinaus«, nickte Ohm Rickert. »Paß auf, ich hab’s gesagt. Weiber, die’s Regiment führen, vergessen aufs Sterben. Deshalb hab ich nicht geheiratet. – Kennst doch die alte Stine Hinrichsen auf Mittelwarf? Mit der bin ich vor fuffzig Jahren gegangen. Aber sie wollt die Büx anhaben, und das litt meine Ehr nicht. Da hab ich mich fremd gemacht und bin zur Marine. Nun sind wir wieder auf einer Hallig zusammen. Und jedesmal zur Heumahd treffen wir uns, und sie mahnt mich keifend ans Eheversprechen.« Ohm Rickert schüttelte sich und spuckte wieder aus. »Beide haben wir die 70 auf dem Puckel. Gott bewohr mi. Ich krieg noch lang ’ne Junge. Die Akke Luersen möcht ich. Deuwel ok. De is to schad vörn Edlef. De jog ik em af.«

Hellauf lachte Melenke.

Aber da schaute der Kopf der Ahne wieder zur Tür hinein, und ihre scharfe Stimme rief: »Feierabend!«

[14]

Da floh Melenke eilends hinauf in ihre Kammer, und Ohm Rickert humpelte in seine Döntje. –


Edlef Holgers und seine Braut wanderten über den Deich nach der Schulwarf. Er ging etwas vorauf und hielt die Laterne hoch, aber Akke Luersen haschte nach seiner Hand und meinte, der Schein blende sie, daß sie nun schier gar nichts sehen könne in der Stickendusternis. Sie drückte seine kalte Rechte an ihre heiße Wange. »Frierst du, mein Edlef?« fragte sie schmeichelnd.

Er zog seine Hand fort. »Ja, ich friere.«

»Wie bist du nur heute!« Sie rief es voll Ärger. »Mein Gott, ich konnt nicht eher ab. Sieh’s doch ein! Die Hebamme saß auf ’ner andern Warf fest. Bei Löhnsens sollt auch was Kleines kommen. Ist aber eine Fehlgeburt geworden, da mußte nun die Wehmutter dortbleiben. Und meine Mutter war froh um meinen Beistand.« »Oh – das ist’s nicht«, meinte er müde und wie gequält von ihren Ausführungen.

»Das ist’s nicht?« fragte sie scharf. »Und was ist’s dann?« Edlef Holgers leuchtete erst einmal sorglich um eine große Wasserlache herum und reichte dann seiner Braut die Hand, damit sie springen konnte.

»Nun, Edlef?«

» Muß ich dir’s sagen?«

»Ich warte drauf.«

Er schritt so rasch aus, daß sie kaum folgen konnte, aber sie hielt sich doch an seiner Seite.

»Ich meinte, du solltest mir das nicht alles so erzählen«, [15] murrte er. »Du weißt recht gut, daß ich’s nicht mag. Und andre Deerns tun es auch nicht. – …«

»Bist du verrückt?« schalt sie grob. »Wenn du nur wüßtest, wie schlecht es so einen großen Schlagetot kleidet, daß er so tuig ist. Und andre Deerns? Wo hast du denn andre Deerns gesehen, du blinde Hess’?«

Sie hing sich plötzlich schwer an seinen Arm und zwang ihn so, stehenzubleiben. »In wenig Wochen bin ich doch deine Frau, – oder etwa nicht?« Er nickte düster.

»So kann ich dir auch erzählen, was ich mag.«

Nun schmiegte sie sich eng an ihn. Sie war fast so stattlich und groß wie er selbst. – »Sei mir doch wieder gut«, bettelte sie. »Du hast es ja gewußt, wie ich bin, und hast mich doch haben wollen. Erzwungen hast du mich: denn du weißt ja …«

»Ja ich weiß alles«, sagte er gepreßt und holte aufs neue mit langen Schritten aus.

»Nun also. Da weißt du auch, daß ich schließlich den Peder laufen ließ.«

»Du hättest es nicht tun sollen …«

»Edlef, was soll das? – – –«

»Ja, Akke, ich mein es im Ernst. Es wär noch Zeit. – Sieh, es weiß ja niemand um unsern Verspruch …«

»Niemand? Weil’s Lehrer Manne Wögens nicht weiß, ist die ganze Welt niemand für dich.«

»Warum trugst du’s weiter?« brauste er auf. »Wir hatten’s uns versprochen, daß es geheim blieb. Auch Peders wegen. Es ist ja die Frage, ob ihr besser zusammenpaßt [16] als wir zwei, – aber ich hab ihn gesehn, – er ist ganz durchhin, – er tut mir leid.«

Akke Luersen lachte auf. »Du kannst mir auch leid tun mit deinem plötzlichen Erbarmen, Edlef. Aber dazu ist’s zu spät. Gewollt hab ich dich nicht, – aber jetzt will ich dich, und du wirst mich behalten. Und heut, da du einmal auf der Schulwarf bist, kannst du es dem Lehrer auch sagen.« Edlef Holgers nickte müde. »Ich gab mein Wort«, murmelte er. Von da ab wurde nicht mehr gesprochen von den beiden. Dann und wann hob Edlef die Laterne hoch und half der Braut über eine Wasserstelle. Mechanisch führte er und stützte sie, wenn sie strauchelte. – Aber sein Herz hatte keinen Teil an seiner Sorgfalt, und das Mädchen biß die Lippen zusammen und war voll Zorn. –

Vor dem Hause der Braut blieben sie stehen. Er reichte ihr abschiednehmend die Hand. Ungestüm zog sie seinen Kopf zu sich herunter und küßte ihn wild. Dann ließ sie ihn los.

»Willst du der Mutter nicht Glück wünschen?« fragte sie hastig.

»Nein, – ich wünsche ihr lieber Ruh. Grüß die Mutter.«

Sie ging ins Haus. Der Wind oder der Zorn riß ihr die Tür aus der Hand und schmetterte sie ins Schloß. Edlef hörte noch die gar nicht schwache Stimme der scheltenden Wöchnerin. Dann stapfte er seinen Weg zurück. Nach zwanzig Schritten blieb er stehen und hob wieder die Laterne. Ihr Schein flog über die Fenster des Hauses, vor dem er stand, und bis zu den drei Schornsteinen [17] mit dem Blitzableiter empor. Auch den Zaun, hinter dem der knorrige Birnbaum stand, beleuchtete Edlef, als wenn er das alte Schulhaus noch nie gesehen hätte. Und er hatte doch jahrelang darin die Bänke gedrückt, ehe er nach Husum zur Weiterbildung gekommen war, wie es die Überlieferung erforderte vom ältesten Haussohn des Mutterhofes. –

Als sich nichts regte im Schulhause, setzte Edlef seufzend seinen Weg fort; aber sein Blick haftete an den niederen Fenstern, die von dichten, weißen Vorhängen verhüllt waren. Freundlicher Lichtschein quoll trotzdem heraus. Nach weiteren zwanzig Schritten kehrte Edlef trotzig um und stand dann bald wieder vor dem Schulhause. Das Licht hinter dem Vorhang schien hin und her getragen zu werden, aber als Edlef umständlich und laut seine hohen Stiefel vom Schlick befreite und dann und wann kräftig gegen die Hauswand stieß, blieb das Licht stehen.

Die Stubentür öffnete sich, und Lehrer Manne Wögens stand auf der Schwelle. »Ist’s der Wattenmeergeist oder Knecht Ruprecht, der an meine Tür donnert«, fragte er launig. »Mensch! Edlef Holgers! Dich war ich nicht vermuten …«

»Ich störe dich nicht, Manne Wögens?«

»Wenn du mit guten, frohen Gedanken kommst, störst du uns niemals. Aber grad wollten wir in die Heia.«

»Wir? Wer ist wir?«

Manne Wögens lachte schallend. »Maren, komm her, stell dich zu mir,« rief er, »Edlef Holgers weiß nicht mehr, wer ›wir‹ sind.«

[18]

Da sah Holgers in ein paar stille blaue Augen. Die waren von sehr dunklen Brauen umgeben und standen in einem seltsam feierlich schönen Gesicht.

Dunkles Blondhaar fiel weich in die Stirn. Die Gestalt war schlank und zierlich, und reichte dem Riesenbruder noch nicht einmal bis zur Schulter. Schier winzig stand Maren Wögens zwischen den beiden Hünen. »Er ist stumm geworden«, spottete der Lehrer. – »Sieh sie dir nur an, Edlef, sie hat unsere alte Friesentracht angelegt und möcht’ gern eine waschechte Halligtochter sein. Aber unsere Thüringer Mutter schlägt allerorten bei ihr durch. – Nun, Ihr Fische? Noch immer stumm?«

»Guten Abend, Fräulein Maren.« Edlef reichte ihr die Hand, und sie legte die ihre hinein. So traten sie miteinander über die Schwelle des Schulhauses. Ganz fest hielt Edlef Marens Hand. Und merkte es nicht, daß das Mädchen rot und verlegen wurde. Manne Wögens sah belustigt auf beide.

Endlich befreite sich Maren, und dann saßen sie um den runden Tisch. Und während der Herbststurm sich draußen gewaltig erhob und scheinbar versuchte, die Haustür aus ihren Angeln zu heben, dünkte es Edlef Holgers, als sei es Mai geworden. – In ihm war Grünen und Blühen. –

Plötzlich rief er: »Bonnestave habe ich gepflückt, einen Riesenstrauß! Und ich wußte doch gar nicht, daß Sie kamen. Ich werde ihn morgen bringen. Warum sind Sie hier, Fräulein Maren?«

»Ist es Ihnen nicht recht?« lachte sie. »Es sind doch Michaelisferien.« »Aber Sie sagten mir doch im Juli in Ording, Sie kämen diesmal nicht …«

[19]

Der junge Lehrer fuhr dazwischen. »Habt ihr euch denn in Ording gesehen? Davon weiß ich ja gar nichts.«

»Ich hab dich ja auch seitdem noch nicht gesprochen, Manne« entgegnete Edlef zerstreut.

Aber Maren wurde rot und kam nicht mit den Worten zurecht und ihr Bruder schüttelte den Kopf. – Dann lief sie plötzlich hinaus, und die Männer sahen sich ratlos an.

»Warum geht sie? – Mag sie mich nicht leiden?« fragte Edlef ungestüm.

Manne Wögens staunte vor sich hin: »Sie hat dich vielleicht zu gern, Edlef Holgers.« Der fuhr sich durch den blonden Schopf. » Zu gern? Zu gern?« fragte er dringlich. Und mit tiefem Aufseufzen: »das wäre zu viel Glück!«

Da wurde Manne Wögens ganz fröhlich. – »Steht es so um dich, Edlef? Ihr beide ließet mich ganz im unklaren. Bande, die ihr seid! Heimtücker!« Er rüttelte Edlef. »Wach auf! Ich sage dir, du hast das große Los gezogen. Schwester Maren war allstunds mein guter Engel. Und der unserer Eltern. – Kinder, die das 4. Gebot lebendig in sich spüren, geben gute Frauen ab. Also, – von mir aus, – gratulor! Soll ich Maren hereinrufen? Oder willst du zu ihr? Oha, ich freu mich bannig, daß die Deern aus ihrer Volksschule herauskommt! Schwager Edlef, das ist heut ein schöner Tag!«

Da wachte Edlef Holgers auf. Mit seltsam erloschenen Augen sah er den Freund an.

»Sprichst du von deiner Schwester und mir?« fragte er heiser.

[20]

Der Lehrer sah ihn scharf an. »Bist du krank, Edlef?«

»Vielleicht. – Krank vor Liebe zu Maren. Aber das darfst du ihr nicht sagen. Rufe sie auch nicht herein. Ich müßte sie sonst in meine Arme reißen. Und ein Schuft bin ich nicht …«

»Edlef, was soll das?«

»Nein, Manne, frag mich nicht. Das stürzt jetzt alles über mich herein wie der blanke Hans über die Halligfennen. Herrgott, bin ich unglücklich! Ja, das kannst du deiner Schwester sagen. Gute Nacht, Manne.«

Mit schweren Schritten ging er hinaus.

Nach einer Weile kam Maren herein. In lieblicher Verlegenheit und mit glänzenden Augen.

Aber der Glanz verlosch, als sie den einsamen Bruder vorfand. Der nahm sie in seine Arme. »Mein klein Deern, ich sagte vorhin, es sei heut ein schöner Tag, aber es ist ein wunderlicher draus geworden. Edlef Holgers ist unglücklich, und ich weiß nicht warum. – Fahr nicht auf, mein klein Deern, bleib du ruhig an meiner Schulter liegen.« Er streichelte ihr weiches Haar. »Sieh, lütt Swesting, wenn unser liebster Freund unglücklich ist, dann müssen wir fein stille sein. Das ist dann wie ein Verband für seine Wunde. Laß uns Geduld haben. Es wird sich alles klären.« Da löste sich Maren sacht aus seinen Armen und ging ganz still wieder aus der Stube. Und der Bruder sah ihr nach mit ernsten Augen. Nahm dann einen Stapel Hefte und tauchte die Feder in rote Tinte. Und las zehnmal die Aufsätze durch über das Thema: »Die letzte Sturmflut auf Hallig Likamp.«

Auch in seiner eigenen Brust tobte ein arger Sturm. [21] Und der letzte Schüler bekam eine glatte Eins unter den Aufsatz. Trotzdem die zwei dürftigen Seiten kreuz und quer rot durchstrichen waren. Aber der Lehrer war zum erstenmal zerstreut in seinem ernsten Dienst.

Seine Schwester Maren … sein alles. – Daß er dies feine Lebensschifflein in einen schönen, ruhigen Hafen lotse, dafür hatte er sich gesorgt und in widrigen Verhältnissen gedarbt. Und nun schien da plötzlich eine schwere Bö aufzukommen …

Manne Wögens grübelte und sann im ruhelosen Auf- und Abwandern. Das Licht im Schulhause wollte nicht löschen in dieser Nacht.

Edlef Holgers stand im Dunkeln am Hause seiner Braut. Er wußte selbst nicht, was er dort wollte. Wild und weh war ihm zu Sinn, und einen eklen Geschmack trug er auf der Zunge. In der Stube der Wöchnerin brannte mattes Licht. Meckerndes Kindergeschrei drang heraus. Aber auch übermütiges Kreischen aus der helleren Stube nebenan. So pflegte Akke Luersen bei derben Scherzen zu lachen, die ihm so zuwider waren. Eine Männerstimme lachte mit da drinnen und prahlte dazu mit lauten Worten, die dann wieder wie erstickt klangen. Als halte jemand eine Hand auf seinen Mund, um ihn zur Ruhe zu mahnen.

Edlef riß die Tür auf.

Da fuhren zwei auseinander.

Und Akke Luersen wurde einen Schein blasser und lachte wieder überlaut. Sie machte sich an dem großen Bild zu schaffen, das über dem Sofa hing, und der dicke, ältere Mann mit dem roten Gesicht steckte sich eine Zigarre an.

[22]

»Sieh da, Herr Holgers«, rief Akke rasch gefaßt. »Wollen Sie sich so spät noch nach Mutter erkundigen?«

»Da tun Sie recht dran«, rief dröhnend der Fremde. »Ich bin so auf ’ne Art Vetter vom Hausherrn und komme geschäftlich von Hamburg. Bahn ist mein Name. Makler und Agent. – Finde hier so’n Gotteswunder. Ne ausgewachsene, schöne Nichte von Zweiundzwanzig mit ’nem lüttjen Bruder in der Wiege. Oha, noch mal zu, sag ich.«

Er goß sich lachend die große Tasse halb voll Kaffee und ergänzte die zweite Hälfte mit Rum. »Halten Sie mit, Herr Holgers?«

Edlef wehrte mit der Hand, er sah, daß der andere den neugeborenen Neffen wohl schon stark gefeiert hatte.

»Ich hole gleich noch eine Tasse« rief Akke hastig und lief aus der Stube.

Der Fremde sah ihr nach. »Nu sagen Sie bloß, Herr Holgers, wie is so was möglich? Sind die Mannsen hier Besenstiele? Wie kann so ’ne Deern aufwachsen und nicht vom Fleck weggeheiratet werden?«

Er trank in gierigen Zügen.

»Sie spielen wohl steinerner Gast?« fragte er dann gemütlich und rekelte sich auf dem alten, ausgesessenen Sofa. »Kinder, was seid ihr auf der Hallig für Menschen! Fischblütige Gesellen übereinander!«

»Bleiben Sie hier?« fragte Edlef frostig. »Ich hätte wohl etwas mit – – Akke Luersen zu reden.«

Der Fremde lachte dröhnend. »Ja, dat muggst woll. – Der andere, der da vorhin saß, wollte auch etwas mit der schönen Deern reden. Aber der Teufel soll mich holen, [23] wenn ich euch hier freie Bahn lasse.« Er nahm wieder einen großen Schluck.

»Wer war denn der andere?« fragte Edlef mechanisch.

»Einer von der Königswarf. Peder Claußen hieß er und war son büschen durchhin von der Liebe. Und er hatte es sehr hilde mit die Deern. Aber ich laufe euch allen den Rang ab, und sie möcht auch gern nach Hamburg und mag mich furchtbar gern leiden. Das hat sie mir gesagt.«

Edlef sah den halb Berauschten verächtlich an. »Ja, das tu du denn man,« sagte er halb vor sich hin, und verließ die Stube, ohne sich noch einmal umzusehen.

Draußen trottete er in wirren, dumpfen Gedanken. Manchmal war auch ein klarer dazwischen, der meldete sich: »Sieh, Edlef Holgers, das ist nun dein Leben. Verpfuscht hast du’s durch eine einzige Stunde, da du auf dein Blut hörtest und nicht auf Herz und Verstand.«

Der Regen klatschte ihm ins Gesicht und der Sturm wollte mit ihm ringen, – er fror trotz der Anstrengung in seinem dicken Düffelrock.

Jemand kam hinter ihm her.

»Hallo, Edlef Holgers, nimm mich mit. Mensch, was hast du für lange Beine!«

»Süh dor, Peder Claußen.«

»Ja. – Du mußt es nicht krumm nehmen, ich war vorhin noch ein büschen nachbarn bei Luersens. Und jetzt komm ich vom Schulhaus. Du, da ist was Feines drin, aber gegen die Akke Luersen kommt’s nicht auf.«

»Warum soll ich das krumm nehmen? Es nachbart, [24] scheint’s jetzt die ganze Hallig bei Vadder Luersen. Wo Honig ist, sind Schlecker.«

»Ja grade. – Aber weißt du, Edlef, ich möchte nicht falsch sein, du bist selbst so’n aufrechter Kerl. – Meinst du nicht, daß Akke Luersen schlecht zu dir paßt?«

»Kann schon sein.«

»Siehst du? – Es läßt sich leichter mit dir reden, als ich fürchtete. Sie ist ’ne seltsame Deern, gar kein bedachtsames Halligblut, aber grad deshalb tut sie’s uns wohl allen an. Und ich möcht dir’s gradaus sagen, Mensch, – sie hat mir heut Hoffnung gemacht, es könnt doch mit uns zweien wieder was werden, – – warum lachst du, Edlef Holgers?«

»Ich hög mich, Peder Claußen. Über die Welt und über die Frauensleut, und über dich und mich. Hör, wie der Sturm lacht! Der högt sich auch.«

»Mich dünkt, der heult.« Peder schudderte. »Du hast also nichts dagegen, Edlef, wenn ich morgen nochmal bei Luersens anfrag? Ich kann, scheint’s, ohne die Deern nicht leben.«

Edlef Holgers richtete sich zu seiner ganzen Höhe auf und stemmte sich breitbeinig gegen den Sturm.

So schützte er den Kleineren.

»Peder, – hör zu! Neulich, da tatst du mir bannig leid, wie du so wehleidig und ganz durchhin herumliefst, – – – und nun, mein ich, heute müßtest du mir noch viel mehr leid tun – – –«

»Willst du mir denn die Akke nicht geben?«

»Ja grade, mein Peder, weil ich zurücktrete …«

Sie gingen wieder vorwärts und Peder dachte, der [25] Edlef sei ’n büschen durchgedreht, weil die schöne Akke ihn nicht mehr wolle.

Vor der Hauswarf trennten sie sich.

»Wie ist’s denn nun?« fragte Peder Claußen zaghaft.

Edlef war schon wieder im Schreiten. »Wart’ noch ein paar Tage«, rief er zurück. »Vielleicht hast du Glück und sie nimmt den Hamburger.«

»Tühnkram«, sagte Peder, und schritt zu seinem Hause.

Im Mutterhof auf der Großwarf schien schon alles Leben verstummt. Edlef tappte sich nach seiner Stube. Aus dem »Altenteil« nebenan schimmerte mattes Licht. Da drehte er sich noch einmal herum und klinkte dort die Tür auf. Hier wohnte die verwitwete Schwester seines verstorbenen Vaters. Mit der Einsamen war er gut Freund. Und der Schlaf würde ihn heute meiden. –

»Guten Abend, Tante Frauke.«

»Auch soviel, Edlef.«

Die zierliche Frauengestalt mit dem blassen, verhärmten Gesicht unter der Friesenhaube stellte ihr Spinnrad beiseite. Das schwarze Kleid schleppte ein wenig auf dem sauberen Sandboden, und die schweren, silbernen Filigranknöpfe klirrten leise.

»So spät?« fragte sie.

»Gerade dasselbe wollt ich dich auch fragen«, meinte Edlef.

»Oh, – bei mir bist du’s gewohnt, Edlef, aber ich nicht bei dir.«

»Dich läßt wohl das Glück nicht schlafen, Hochzeiter?«

»Oder das Unglück, Tante Frauke. Manchmal kennt man die beiden nicht voneinander.«

[26]

»Wie wär das?«

Sie schob ihm ihren besten Stuhl hin, dessen Rücken- und Seitenlehnen kunstvoll mit hellem Holz eingelegt waren. »So nun erzähl’. Auf dem Stuhl hat schon mehr Unglück gesessen.«

Edlef berichtete stockend. Ganz von Anfang an. Er schämte sich. Auch der Zorn schoß ihm rot ins Gesicht. Er erzählte, wie er die Akke um jeden Preis hätte zwingen wollen, weil sie ihn toll gemacht habe mit ihrer Kälte. Dann erst, nachdem sie seine Braut geworden, habe er gespürt, daß alles Gute in ihm von ihr fortstrebe.

Edlef war in peinvoller Verlegenheit. Aber so recht unglücklich sah er nicht aus. Tante Frauke mußte über ihn den Kopf schütteln.

Ernst entgegnete sie: »So geht’s jedem, der die Liebe nicht hochhält, sondern den Rausch. Es geschieht dir Recht. Aber nun wirst du harten Stand im Mutterhof haben. Denn der wollte rasche Heirat und viele Kinder von dir.« Sie lachte herb. »Dafür hatte man dir Akke Luersen ausgesucht. Was nun?«

»Mir geht’s noch über Verdienst gut, Tante Frauke. Jetzt werb ich um mein Glück. Ist eine feine, süße Deern. Son ganzen Lütten. Reicht mir bis zum obersten Westenknopf. So wie du, Tanten Frauke. Ihr wiegt auch beide so ungefähr dasselbe. Dreißig Pfund und ein paar. Wie die Schneider.« Er hob den Stuhl mitsamt der zierlichen Gestalt hoch, und diese schalt mit weicher Stimme: »du Slüngel, du Rumdriwer! Ik gew di eins achtern vör.«

[27]

Edlef lachte und stellte den Stuhl ganz sacht wieder zurecht.

»Was ist das nun wieder fürn Schnack?« fragte sie bekümmert. »Hast du die Deerns am Faden, wie der Drachenschwanz die Papierschnitzel?«

Er sah sie verträumt an. »Wie die salzen See sind ihre Augen. Nordsee im Sturm. Graublau. Un de lütt Näs’ so fien, un de Mund wien Korall, un de Tähn blinkern dor achtern. Un dat söte Hart so gut.«

»Und ihr Körper Edlef? Ist sie gesund? Hat sie zehn oder zwölf Geschwister? Denk dran, Edlef! Denk nicht an dich! Die Hallig und der Mutterhof gehen deinem Glücke vor. Und wenn deine Frau nicht jedwedes Jahr was Lüttes in de Weeg leggen kunn … und sie hat denn Herz und Gemüt … Um Jesu willen, mein Edlef, bring sie nicht auf den Mutterhof …«

Die Frau legte den Kopf auf ihren Arm und weinte bitterlich. Edlef streichelte ihr ergrauendes Haar. »Die Maren Wögens ist gesund,« lachte er sorglos. »Mir ist nicht bange um die Erben des Mutterhofs.«

»Still, still, Tanten Frauke«, beruhigte er dann. »Das sollen deine letzten Tränen gewesen sein. Hörst du? Ich sag’s. Und ich bin der Herr jetzt vom Mutterhof.«

Sie trocknete die Augen.

»Ganz verwirrt bin ich«, stammelte sie. »Bist du denn schon einig mit ihr?«

»Mit mir bin ich’s, und sie ist’s mit sich.« Holgers Augen lachten. »Das andre kommt rasch. Tanten Frauke, hör zu: Wenn der Rotschenkel ruft ›tülü, tülü‹, dann bauen wir unser Nest …«

[28]

»Glück!« murmelte Tante Frauke. »So sieht ’s Glück aus?«

»Ja, – so sieht’s aus. Gute Nacht, Tanten.« –


Auf der Hallig ist man »früh zugange.«

Man saß um die Lampe herum um 6 Uhr morgens Und aß dicke Grütze. Edlef Holgers kam zuletzt, denn er hatte schon überall nach dem Rechten gesehen. Trotzdem greinte seine Mutter unwirsch.

»Abends spät und morgens spät,« rief sie. »Und wenn’s schon so ist, konntest du nicht gestern noch zu mir hereinkommen, anstatt dich mit Tanten Frauke zu besprechen?«

Ein lustiger Schein flog über Holgers Gesicht. »Mutter, du tust, als hing mir noch das Hemd aus der Büx. – Aber ich steh dir gerne Red und Antwort. Nur laß die Insten erst an die Arbeit und die Lütten in die Schul.«

»Zu was gehör ich denn, Bruder?« fragte Melenke. »Zu die Insten oder zu die Lütten?«

»Sprich erst mal richtig deutsch«, verwies der Bruder.

»Oha. Wi sün em ni mehr god nog«, lachte Melenke. »Aber so gutes Deutsch wie deine dicke Akke sprech ich noch allemal.«

Edlef sah sie zornig an. »Mit dir rede ich noch ein Wort allein, Melenke. Du hast dir eine Art angewöhnt, die paßt nicht auf den Mutterhof.«

»So laßt mich wieder nach Hamburg, da paßt sie hin.«

[29]

»Nach Hamburg gehst du nicht «, rief die Ahne. Weiter kein Wort.

Sie strickte hastig an dem groben, grauen Strumpf und wartete, bis Knecht und Magd sich schwerfällig erhoben und die Stube verlassen hatten. Ihnen folgten die beiden Jüngsten. Nicht ohne sich vorher bei Edlef »gemeldet« zu haben. So hatte er’s eingerichtet nach seiner militärischen Dienstzeit und es hatte sich bewährt. Die Kinder vom Mutterhof galten auf der Hallig als ganz besonders gut erzogen. Als Edlef »linksum kehrt« kommandieren wollte, fragte Onnen, der stramm vor dem großen Bruder stand: »Soll ich Herrn Lehrer Wögens grüßen? Er fragt immer, ob du einen Gruß geschickt hättest.«

»Freilich sollst du das.«

Die achtjährige Karen rief noch: »Bruder Edlef, ich grüß die Fräulein Maren, die ist jetzt da und weiß bannig viel schöne Geschichten.«

Dann liefen die Kinder fort.

Die Ahne ließ den Strickstrumpf sinken und zeigte ein bekümmertes Gesicht. »Du hast recht, Enkel Edlef,« klagte sie, »es ist ein garstiger Ton bei uns eingekehrt. Den hat man nicht gekannt im Mutterhof, solang er steht. Melenke, ich sag’ dir, meine Augen sind noch scharf, wie meine Ohren. Ich sehe, daß du ein Gesicht ziehst, als wärst du der Klügsten eine, und für die Ahne wär’s Zeit, der klugen Welt Valet zu geben. Da bist du aber irrig. Ich bin noch imstande, diesen neuen schlechten Geist mit eisernem Besen auszufegen. Hast du mich verstanden, Enkelin Melenke?«

[30]

»Da fang die Ahne nur mit Edlefs Schatz an«, sagte Melenke schnippisch. »Was die alles sagt, da werden dem Bruder nochmal die Augen übergehn. Aber die darf sich alles herausnehmen und unsereins muß tun, als verstände es die Schnäcke nicht …«

»Schweig!« rief die Ahne wieder, und war so zornig, daß sie nach Worten rang und sie doch nicht fand.

Aber Edlef streichelte beruhigend ihre Runzelhand. Dann richtete er sich hoch auf und sagte entschlossen: »Melenke hat recht. Akke Luersen hat nie in den Mutterhof gepaßt. Das ist meine Schuld, daß ich sie herbrachte. Aber die mach ich wieder gut. Ahne, du hast der Akke und mir deine Zustimmung gegeben, aber noch hattest du uns nicht mit dem alten Holstenspruch zusammengetan: ›Up ewig ungedeelt!‹ Gott Lob und Dank sage ich jetzt. – Den Spruch bewahr mir auf, Ahne, hörst du?«

»Ich versteh die Welt nicht mehr, mein Enkel Edlef«, murmelte die Ahne. Und sie saß wie steuerlos in ihrem Ohrenstuhl. »Früher, da war ein Verspruch heilig wie die Ehe selbst, und jetzt …«

»Jetzt lernt man sich durch den Verspruch kennen«, ergänzte Edlef. »Ich bitte die Ahne, daß sie mir vertraut und daß sie mir ihren Segen aufhebt.«

»Für wen?« fragte Melenke. »Hätt’ nicht gedacht, daß sich der moralische Herr Bruder so auswächst …«

Da zeigte Edlef nach der Tür, und sie ging widerwillig hinaus. Ganz still wurde es zwischen der Ahne und dem Jungen. Edlef wartete längere Zeit auf ein gutes Wort. Als es nicht kam, verließ auch er langsam die Stube. –

[31]

Draußen in der Küche schluchzte die Mutter: »Ich bin der Garniemand. Ist’s wahr, was mir die Melenke schnackt? Du sagst der Akke auf? Und ich erfuhr es nicht von dir? Ist’s nicht auch mein Haus?«

»Mutter, das Haus gehört dir und uns allen, aber meine Ehr und meine Zukunft gehört mir allein. Das Zusammenkuppeln war eine Sünde. Nun mach ein gutes Gesicht, Mutter, – denn eine gute Zeit fängt an.«

»Wüßt nicht, wo sie herkommen sollt«, murrte die Mutter.

»Von der Schulwarf. – Aber anders, als du es wolltest.« Edlef nahm bittend ihre Hand. »Ich möcht’ wieder Sonne auf dem Mutterhof haben. Wehr doch nicht ab, Mutter. Und ich will’s gleich dazu sagen, von heute ab kommt Tanten Frauke wieder auf den Ehrenplatz. Neben dir und der Ahne soll sie sitzen.«

»Beißt du den Herrn heraus?« grollte die Frau. »Willst du, daß sich die toten Holgers im Grab herumdrehen? Was soll die Unfruchtbare auf dem Ehrenplatz? Gott hat sie gezeichnet. Vergiß das nicht, Edlef.«

»Frau Mutter, daß ich nicht den Respekt vergesse!« Edlef zwang seinen Unmut. »Unsere Hallig ist ödes Eiland, aber unsere Zeit ist nicht das Mittelalter. Und ich will Tanten Frauke Sonne geben, ich will’s.«

»So hab ich zu schweigen.«

»Nicht so , Mutter. Nicht so .« Er hielt noch immer ihre Hand, aber sie sah ihn feindlich an. Da stürmte er fort.

[32]


Sonntag auf der Hallig. Auf der Kirchwarf zogen Knaben den Glockenstrang. Es waren keine hallenden Domglocken, es war ein klägliches Rufen: »Kommt! Kommt!« Aber die ganze Gemeinde gehorchte. – Im schwarzen Gottestischkleid zogen sie daher, und bei den Frauen lag das mit Klöppelspitzen umsäumte Taschentuch quer auf dem Gesangbuch. Von einer Warf zur anderen schlossen sich Männer, Frauen und Kinder an. Sie sprangen an langen Stangen über breite Wasserrinnen und schritten auf hohen, schmalen Stegen über die Priele. Die Sonne lachte an diesem Novembersonntag. Und die Friesengesichter sahen hell aus. Denn die Hallig verwöhnt ihre Kinder nicht, sondern ist herb zu ihnen und hält sie knapp. Da werden sie zur Dankbarkeit erzogen für jeden Sonnenblick. Vor der uralten, turmlosen Kirche standen sie in Gruppen, und der Pastor schritt grüßend hindurch, und die Pastorin hatte eine liebe Art zu grüßen und zu nicken und im Vorbeigehen rasche Fragen zu stellen. Alles war Leben an ihr und warme Anteilnahme.

»Ein’ feste Burg ist unser Gott!« klang das schlichte Harmonium, Lehrer Manne Wögens legte seine Seele hinein. Und aus den hellen Stimmen der Schulkinder, die zur Liturgie sangen, spürte man die Wärme, die ihr Lehrer für sie hatte. Auch in Pastor Lichts Predigt war warme Güte. Er kam als Fremder aus Thüringen und tastete noch etwas an dem Herzensschloß seiner Halliggemeinde, auf daß er den Riegel fände. Aber die noch fest versicherte Pforte machte ihn nicht ungeduldig. Weil nach Gottes Wort die Liebe für ihn die »größeste unter den [33] dreien« war, und er ihrer ausschließenden Macht vertraute. –

Auf dem Gottesacker der Kirchwarf stand Edlef Holgers und betrachtete ein schlichtes Grab, das mit Muscheln belegt und mit einem Kranz Bonnestave geschmückt war. Vor einigen Tagen hatte man einen Namenlosen hineingebettet, den die See an den Strand geworfen.

»Mensch, komm von dem Grab fort«, rief halblaut Peder Claußen, der sich, wie immer, verspätet hatte. »Ich kann nur an Leben denken. Mensch, Edlef, sie will mich! Was kostet die ganze Hallig? Hab auch schon mit der Mutter gesprochen.« Peder lachte in sich hinein. »Die sagte: ›Nimm sie um Gottes willen, damit ich meine Ruh kriege.‹ Heut sag ich’s dem Pfarrer. Akke ist daheim geblieben – beim kleinen Bruder. Edlef, – ich bin wie duhn vor Glück, wenn ich dran denk, daß sie sich im Kinderwiegen übt.«

»Komm,« sagte Edlef Holgers, »ich möcht noch hören, was Pastor Licht weiß.«

Und Peder Claußen dachte, daß Edlef ihm trotz aller Freundschaft sein Glück neide.

Pastor Licht sprach ernst und eindringlich und recht wie ein Bruder zu seiner kleinen Gemeinde. Ein paar Leute schliefen. Nicht gerade die Ältesten waren es, aber die, die am Sonnabend vorher über Gebühr geschafft hatten. Denn der Sturm war des Nachmittags plötzlich aufgestanden und hatte sich wie ein Riese über die Hallighäuser geworfen. Da war manches zerdrückt worden, was dem Menschensinn fest genug gedünkt hatte. – Nun [34] tat die gute, ruhige Stimme des Predigers den ermüdeten Halligbauern eine große Wohltat an. – Auch Edlef Holgers kämpfte mit dem Schlaf. Der Hüne hatte bis in die Nacht hinein noch den ärger bedrängten Nachbarn beigestanden und dann kaum zwei Stunden geruht.

Aber das Anliegen, das er an den Herrgott hatte, war ihm wichtiger als Schlaf und Müdigkeit. Er hielt die Mütze zwischen den gefalteten Händen und murmelte eindringlich: »Gib mir die Maren, – gib sie mir!«

Das feine Mädchen saß nicht weit von ihm auf der anderen Seite. Aber so tief hielt sie den Kopf gesenkt, daß nur ein paar eigensinnige Löckchen zu sehen waren, die sich nicht unter die Friesenhaube hatten zwingen lassen.

Zum Schlusse klang die Stimme des Halligpastors noch einmal recht eindringlich! »Nicht locker lassen! Anhalten am Gebet, wie unser Luther es uns lehrt, dessen Geburtstag wir heute feiern. Amen.« Da sagte auch Edlef ganz laut Amen, so daß ein paar Halligmädchen anfingen zu kichern, und die alten Leute bei sich feststellten, daß der Älteste vom Mutterhof ein fester, aufrechter Mensch sei und einen guten Hausvater abgeben werde. Vielleicht gar einmal einen vorbildlichen Gemeindevorsteher, wenn der alte Ketel Boon abdanke. Denn Edlef Holger’s Gesicht war ernst und gut und trug dabei ein zuversichtliches Gepräge. Und ernst, gut und zuversichtlich muß die Obrigkeit sein auf der Hallig.

Edlef erinnerte sich plötzlich einer Konfirmationsstunde, da hatte er die Worte gelernt: »Amen, das heißt: ›Ja ja, es soll also geschehen.‹«

[35]

Das sagte er nun heimlich vor sich hin, als Herrgotts Antwort auf sein Gebet: »Ja, ja, es soll also geschehen!«

Dann ging er ganz fröhlich von der Kirchwarf zur Schulwarf und grüßte vorher den Pastor, der gerade mit Peder Claußen ins Pastorat treten wollte. Edlef schwenkte beim Gruß ordentlich ein wenig den Hut, und Peder freute sich darüber, daß der Freund ihm wohl nicht mehr gram sei, sondern einsah, daß die schöne Akke Luersen nun endgültig dem Peder gehöre. –

Lehrer Manne Wögens und seine Schwester waren Edlef ein Stück vorausgekommen, trotzdem der Organist noch das Harmonium verschlossen und die Noten fortgepackt hatte. Aber Edlef hatte immer gar viel zu schauen auf seiner Hallig und Kreuz- und Quersprünge zu machen. Fand auch noch eine tote Mantelmöwe, und grub ihr mit einem angeschwemmten Stück Holz ein Grab.

Inzwischen plauderten die Geschwister eindringlich miteinander. »Wie die heilige Cäcilie selbst hast du heute gespielt«, sagte Maren bewundernd zum Bruder. »Nur ein besseres Harmonium müßte man dir schaffen.«

»Wer denn?« fragte Manne trocken.

»Nun die Gemeinde oder die Regierung.«

»Ja, die lauern nur drauf.«

Inzwischen hatte Edlef die beiden eingeholt.

Maren hielt die feinen Lippen zusammengepreßt, und Manne Wögens schüttelte dann und wann den Kopf. Denn Edlef Holgers sah ganz und gar nicht wie ein Unglücklicher aus, als der er ihn doch vor ein paar Tagen verlassen hatte, und nun gesellte er sich stumm und doch wie selbstverständlich zu ihnen.

[36]

Ging neben ihnen her, eine halbe Stunde und mehr mit versonnenem Gesicht, ohne ein Wort zu reden. – An Luersens Haus gingen sie rasch vorbei, und dann standen sie vorm Schulhaus.

Edlef schob den Lehrer kraftvoll durch das Zauntor. »Nun sieh du erst mal eine ganze Weile nach dem Vieh, Manne«, befahl er kühnlich.

Manne Wögens lachte. Aber er gehorchte und ging in den Stall.

Befangen schritt Maren durch die Hausdiele in die Wohnstube.

Edlef Holgers folgte ihr.

Sie bot ihm einen Stuhl an, aber er setzte sich nicht. Er sah mit starkem Herzklopfen auf die zarte, schlanke Gestalt herunter und legte seine Hand auf ihren Kopf und bog ihn etwas zurück. So mußte sie ihm in die Augen sehen. –

Da wurde er ganz ruhig und sagte zuversichtlich: »Ja, du hast mich lieb. Gott sei ewig Lob und Dank!«

Dann küßte er sie.

»Ich bin ein rechter Bauer«, meinte er. »Ich frage dich nicht und sage nichts, sondern ich nehme dich gleich. Wenn du meine Frau bist, will ich sehr ehrerbietig sein, Jungfrau Maren, aber jetzt …«

Sie lag still an seiner Brust.

»Ich muß dich wohl erst aufwecken?« fragte er. Und küßte sie heiß und lange. »Sag doch etwas«, bat er. »Ich hab mich doch nicht getäuscht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Gefürchtet hab ich mich vor dir«, gestand sie. »Weil du so riesengroß bist.«

[37]

»Klein Bangbüx«, lachte er zärtlich. »Fürchtest du dich denn nun nicht mehr?«

»Ein klein büschen«, sagte sie leise. »Aber vielleicht mußt du dich auch fürchten, denn ich hab dich so schrecklich lieb. Und ich werde immer hinter dir herlaufen, damit du mir nicht abhanden kommst. Wird es dir auch nicht unbequem sein?«

Er lachte glücklich auf. »Ach, du Lütten! Du bist wie aus einer anderen Welt! Wie hast du dich so fein und rein halten können in der staubigen Großstadt?«

»Weil ich an den Edlef Holgers dachte. Allstunds. Ich weiß, daß du nichts Staubiges magst.«

Er ließ sie plötzlich aus seinen Armen. »Lüttje Deern, paß auf«, sagte er ernst. »So wahr mir Gott helfe, ich mag nichts Staubiges. Aber so rein wie du bin ich nicht. Hab noch vor wenig Wochen eine andere wild geküßt. Willst du mich aus diesem Irrtum herausnehmen?«

Um einen Schein blasser war sie geworden, und in rührender Hilflosigkeit sah sie ihn an. Dann schlang sie beide Arme um seinen Nacken und küßte ihn heiß und innig.

Ernsthaft sagte sie: » Nun bist du rein. «

Da war’s Edlef Holgers, als stünden alle Himmel offen.

»Muß ich dir noch etwas sagen«, meinte sie wie bedrückt. »Es ist wohl nicht recht, daß uns all das erst nach dem Küssen einfällt. Aber du überfielst mich ja wie der Halligsturm …«

»Ja, so bin ich. Und mein Lütten war ganz verbast, und hat das Küssen erst lernen müssen …«

[38]

»Still, still!« wehrte sie ihm. »Ich will dir ja etwas sagen. Erstens hätte ich dich fragen müssen, warum du neulich von uns wegliefst? Aber ich hab so seltsam gutes Vertrauen zu dir. Du erzählst es mir schon später einmal, ja? Aber nun kommt etwas ganz Wichtiges. Sieh, du hast sicher gar nicht über nachgedacht, daß ich ganz arm bin. Nein, ich will nun ausreden. Du bist der reiche Mutterhofsbesitzer. Und ich? – Bin noch gar nicht lange angestellt in Kiel und konnte nicht viel sparen … Da muß ich noch viele Jahre Lehrerin spielen, bis ich dir eine Aussteuer zubringen kann. Wirst du auf mich warten wollen?«

»Nun muß ich dich wieder küssen, damit du nicht reden kannst, mein klein Schulmeister«, sagte Edlef. »Wenn ich auch nur ein Bauer bin, so furchtbar dumm darfst du nicht schwatzen. Denn ich versteh auch gescheite Sachen. Eine sehr gescheite Sache ist zum Beispiel, daß du ganz bald meine Frau wirst.«

»Oh, oh! Ich bin gerade fünf Minuten deine Braut.«

»So langsam vergeht dir die Zeit? – – –«

»Edlef, mein Edlef, was werden deine Leute sagen? Ein armes Mädel auf dem Mutterhof. Und stolz noch dazu. Jawohl, übermäßig stolz, mein Edlef«, bestätigte sie ernsthaft.

»Sag noch einmal › mein Edlef!‹ Es klingt wie Weihnachten.«

»Mein Edlef, was werden deine Leute sagen???«

» Ich bin der Herr vom Mutterhof. «

»Aber zuerst bist du der Sohn vom Mutterhof. Und dann ist da die Ahne, die hat wieder deinen Vater [39] geboren … Denk daran, Edlef! Du sollst Vater und Mutter ehren!«

Marens feines Gesicht war blaß und ernsthaft. Sie sah ihn fast mütterlich mahnend an.

»O du Feines!« rief er zärtlich. »Du ganz Liebes! So wie du jetzt aussiehst, bist du wie ein Bild, so ein schönes, ernsthaftes Bildchen vom vierten Gebot. –«

»Mein Edlef, ich möchte so gern eine klare Antwort haben.«

»So gebe ich sie dir«, sagte er ernst. »Du bist willkommen auf dem Mutterhof! Genügt dir mein Wort?«

»Oh!« rief Maren selig, und nun reichte sie ihm selbst den roten, reinen Mund. »Ach, du, wie ist das schön, was du da sagst. Wie freu ich mich auf den Mutterhof! Wie hab ich eine Mutter entbehrt! Das ist kein Vorwurf für Bruder Manne. Aber ein Mädchen braucht Schwester oder Mutter … Wie will ich deine Mutter ehren! Edlef, ich hab sie jetzt schon lieb, ganz lieb. –«

Manne Wögens klinkte sacht die Tür auf. »Es ist unrecht, mich beim unvernünftigen Vieh zu lassen, während ihr Menschlein hier euch freut …«

Nun schmiegte sich Maren in seinen Arm.

Dann sahen die Geschwister sich in die Augen. Für Sekundendauer vergaß das Mädchen den Verlobten und ihr Glück. Denn des Bruders Augen waren feucht. Und sein Scherz war weh.

»Maren, mein Sonnenschein …«

»Bruder Manne, segne uns!«

[40]


All die blonden Friesenköpfe saßen wieder um den runden Tisch.

Die Lampe brannte still, und die Ahne erzählte. Onnen und Klein-Karen saßen vor ihr auf niederen Stühlchen und sahen aufmerksam in das lebendige, alte Gesicht.

»Weiter, Großmudder, weiter!« bettelte Onnen. Und Karen wühlte ihr Köpfchen mit den bangen Augen in den derben Friesenrock der alten Frau. Zwanzigmal hatten sie die Geschichte wohl schon in ihrem jungen Leben gehört, aber sie wirkte immer wieder aufs neue durchrüttelnd, daß sie in arger Bangnis schier vergingen.

»Ja, so war’s. Am heiligen Karfreitag spielten sie mit den Karten auf Heyens Lei. Und sie lachten und spotteten der Ahnen und Alten, die ihnen wehren wollten.«

»Hast du sie auch gewarnt, Ahne?« fragte Klein-Karen und zog den Kopf aus dem Versteck.

»Ach, dumm Tüg. Ich war damals ein Kind wie du. Ahnen gibt’s auf jeder Hallig. Wirst selbst mit Gottes Beistand eine werden.«

Da strahlte Klein-Karen. »Du, ich werd’ ’ne Ahne«, versicherte sie erst einmal jedem einzelnen Zuhörer. Und ihr süßes Kindergesicht über der breiten weißen Halskrause lachte selig in die Zukunft hinein, und das Antlitz der erzählenden Großmutter dünkte dem Kinde wunderschön, also daß es keine Angst hatte, einmal ebenso auszusehen. –

»Hatten sie denn den ganzen Tag nicht gebetet am Karfreitag?« fragte Onnen.

»Doch, doch. Da war der gottesfürchtige Pastor und seine Frau, die hatten selbst die Glocken geläutet, weil [41] das Wetter so schlimm war, daß kein Mensch zur Kirche gelangen konnte. Da sollte wenigstens das Glockengeläut nicht fehlen, meinte der Pastor, und die Heyensleier könnten dazu für sich beten, jeder in seinem Hause. Und er selbst und sein Weib riefen bei jedem Glockenschwung: ›Christ Kyrie, komm zu uns auf der See.‹ Aber die Heyensleier spielten und tranken Köhm oder Kaffeepunsch.«

»Kaffeepunsch schmeckt gut«, sagte Klein-Karen.

»Ohm Rickert hat mich kosten lassen. Wenn ich mal Ahne bin, trink ich jeden Abend welchen.«

»Ohm Rickert hätt’ besser nach Heyens Lei gepaßt als nach unserer Hallig«, rief scharf die Ahne. »Und zu dir, Karen, muß ich mit der Rute kommen, wenn du um Kaffeepunsch betteln gehst …«

»Weiter, weiter,« drängte Onnen. »Großmutter, der Schullehrer sagt, es sollte kein Mensch sprechen dürfen, solange du erzählst. Und das meine ich auch.«

Da flog wieder ein froher Schein über der Ahne Gesicht.

»Manne Wögens und ich sind Freunde«, sprach sie bedächtig. »Gott erhalte uns diesen Lehrer! Den hat man in die Stadt haben wollen. Da könnt er längst hausen und im Gold wühlen, aber er kennt keine Landflucht und bleibt der Hallig treu.«

»Wühlen alle Stadtlehrer im Golde?« fragte Karen.

»Ach, laß sie doch wühlen«, murrte Onnen. »Großmudder, erzähl weiter!«

»Ja, denkt, Kinder! Die Flut kam, und der Sturm heulte so gräßlich, wie man es nie gehört hatte.

Ein Segelschiff fuhr über die See und in der großen [42] Dunkelheit über Heyens Lei hinweg. Da sahen die Seeleute ein Licht neben sich und sahen die Kartenspieler um den Tisch. Und schlugen ein Kreuz und beteten, denn sie meinten, der Gottseibeiuns wolle sie äffen und ihnen etwas Unheiliges am heiligen Karfreitag zeigen, so mitten in dem wilden Aufruhr der Natur. Die Nordsee aber hob sich wie die Brust von einem Riesen, die Wellenberge schossen heran und es brüllten die Sturzseen …

Und wo einmal die Hallig Heyens Lei gewesen, war nur salzen See.«

Klein-Karen weinte. »De armen Pasterlüd«, schluchzte sie. »Sie haben doch gebetet und die Glocken geläutet. Warum mußten sie untergehen?«

»Dat’s ’n kloken Frag’«, krähte Ohm Rickert. »Un ik würd seggen, de Herrgott hett nich uppaßt. Äwer wat seggt de Ahn dortau?«

Er freute sich beinahe, die alte Frau in Wirrnis zu bringen. Die Ahne nahm Karens Köpfchen in ihre Hände.

»Süh so, mein klein Deern. Das kommt nicht drauf an, wann man stirbt, sondern wie man stirbt. Die Pastersleut nahm unser Herrgott bei der Hand und führte sie vom Glockenstuhl hinweg in sein himmlisches Reich. Da waren sie in der Seligkeit und brauchten keine bange Sturmflut mehr zu erleben.«

Es war ganz still im Wohnpesel. Die Lampe knisterte fein. Der Wind draußen sang ein ruhiges Lied, – er hatte sich am Tage und in der Nacht vorher ausgetobt.

In die Stille hinein trat Edlef, der Älteste vom Mutterhof. An seiner Hand hielt er Tanten Frauke, die Einsame aus dem Altenteil.

[43]

Unfrohe, erstaunte Gesichter sahen sie an. Verhärmt und blaß stand sie unter den anderen Holgers. Ihre Hand legte sie auf Karens Köpfchen, aber das Kind zog sich scheu vor ihr zurück. Da nahm Onnen die kleine Schwester und ging stillschweigend mit ihr hinaus in den Schlafpesel. Edlef Holgers Stirn war tief gefurcht.

Er bedeutete herrisch seine Schwester Melenke, daß sie ihren Stuhl hergeben solle, und sie tat es unwillig. Den Stuhl setzte Edlef zwischen die Sitze von Ahne und Mutter und führte Tanten Frauke hin.

»So!« sagte er tief aufatmend. »Ihr sollt alle wissen, daß dies vom heutigen Abend an so gelten soll.«

Zuerst herrschte bedrückendes Schweigen.

Dann wandte sich Ohm Rickert, große Rauchwolken paffend, zu Edlef:

»Du tust da ’n gewaltiges Werk, mien Jung. Du setzest neben der Frauke Holgers auch mich alten Einspänner in alle Ehren ein. Bin ja auch ohne Leibeserben und der Ahne ein Dorn im Auge und der Hallig ein Pfahl im Fleisch.«

Die Ahne schaute finster.

»Ich erzählte vorhin nicht ganz zu Ende«, grollte sie. »Der Sage nach erbte unsere Hallig Likamp von der untergegangenen Hallig Heyens Lei eine Verpflichtung: Fruchtbar zu sein und sich zu mehren. Unter diesem Gottesgebot haben wir alle gestanden und uns ihm gebeugt. Denn wir leben nicht für uns , sondern für die Halligheimat . Gib fein Obacht, Enkel Edlef, daß sie dich nicht straft, wenn du ihre Gesetze umstößst.«

»Tu ich das, Ahne? Ich glaube nicht. Aber ich meine, [44] Tanten Frauke ist alt und hat genug gelitten. Die ganzen Jungjahre hat sie in der Fehm gesessen, – ihr Lebensabend soll licht sein.«

»Du bist der Jungherr und ich gebe dir dein Recht«, nickte die Ahne ernst. »Möcht nur nicht, daß dein heutiger Schritt ein Freibrief sein soll für dich und andere, etwa garstiges Wesen und unheilige Stadtsitten bei uns einzuführen. Dann würde die Hallig sterben.«

Edlef reckte sich. »Da sei die Ahne unbesorgt«, lachte er. »An Urenkeln soll’s nicht fehlen auf Likamp und dem Mutterhof. Und jetzt seid allesamt fröhlich! Richtet unser Haus fein her! Fegt und wascht und stäubt die Zimmer. Und schmückt alles, wie schön ihr nur könnt. Ich will meine Braut hineinführen.«

»Ist es all so weit?« fragte die Ahne ernst.

»Es ist mein fester Wille. Ich bitte dich, Ahne, und dich, liebe Mutter, heißet Maren Wögens mit Liebe willkommen.«

Die Ahne starrte vor sich hin, Tanten Frauke drückte seine Hand. Und die Mutter sagte mit finsterem Gesicht: »Die Liebe schenkt man nicht im Mutterhof, die muß verdient werden.«

»Das weiß Gott«, seufzte Edlef. Aber er bezwang den aufsteigenden Groll. »Mutter, – mein Maren wird sich Eure Liebe verdienen, da hast du mein Wort.«

Ohm Rickert lachte. – » Meine Liebe schenk ich ihr. S’ ist ’ne feine Deern. Nicht so rund und ansehnlich wie die Akke Luersen, – Donnerkiel! Aber die hat ja nun der Hamburger weggekapert. Der Alte könnt ihr Vater sein, und [45] die Schönheit drückt ihn auf keiner Stelle. Hat aber Moses und Propheten …«

»Gehört der Schnack in diese ernste Stunde?« fragte die Ahne unwillig.

Aber Edlef trat hastig dem Ohm näher. »Was redest du da? Die Akke geht mit nach Hamburg? Seit wann? Weißt du’s genau?«

Ohm Rickert zündete erst umständlich eine neue Pfeife an. »Dafür daß du eben deine neue Braut aufgetakelt hast, mein Edlef, bist du bannig neugierig«, paffte er. »Verintressieren dich zwei Brautens?«

»Red’ nicht unsauber«, verwies ihn Edlef. Dann zog er den Alten vom Stuhl hoch und nahm ihn beiseite. »Was weißt von der Deern? Mich dünkt, sie sei Peder Claßen sin Brud.«

»Dann is sie sehr talentvoll«, meinte trocken Ohm Rickert. »Denn ich sah sie heute mit dem alten Dicken absegeln. Soll ’ne rasche Hochzeit werden, sobald die Mutter Luersen aus den Wochen ist. Ne fröhliche, alerte Familie ist das, ni wohr!«

Edlef schüttelte sich. »So will ich noch nach der Königswarf zu Peder Claußen. Gute Nacht miteinander!«

»Dann begleit ich dich«, erbot sich Ohm Rickert.

»Ich will auch ’n Büschen die Füße verpedden un noch ’n lütten Schnak machen. Wenn alle Lüd von Hochtid reden, dann müntert das höllisch auf, un ick mag dann nich achtern Aben sitten.« –

So wurde der Mutterhof heute beizeiten dunkel. Seine strohgedeckten Häuser schliefen ein und träumten einer neuen Zeit entgegen.

[46]


»Du mußt nicht so rennen, Edlef«, pustete Ohm Rickert. »Wir kommen noch leicht hin nach der Königswarf.«

»Ohm Rickert, ich bin kein Bangbüx, aber vor dem Wiedersehen mit Peder Claußen hab ich büschen Angst …«

»Warum, mien Jung?«

»Paß auf, Ohm Rickert, – den finden wir ganz durchgedreht …«

»Vielleicht kommt er dann zum erstenmal in die richtige Fassong.«

»Du machst immer dummen Schnack mit ernsten Dingen, Ohm. Der Peder hat mir selbst gesagt, er könnt ohne die Deern nicht leben … sie hatte sich ihm zweimal versprochen …«

»Wenn man einen Bessenstiel und einen Feuerbrand zusammenbindet«, sagte Ohm Rickert bedächtig, »dann ist’s nach der Natur, daß der Bessenstiel aufgebrannt wird. Peder Claußen ist aufgebrannt. Der dicke Hamburger wird nicht aufbrennen, der ist zu feucht … Du wärst auch heidi gegangen, Edlef.«

»Nein, Ohm Rickert, ich hätte den Feuerbrand schon ausgegossen.«

»Dazu reicht die ganze Nordsee nicht.«

»Du mußt es ja wissen, Ohm Rickert,« spöttelte Edlef.

»Ja, ich weiß es auch. Mir waren immer die tollsten Deerns die liebsten. Mensch, ich war ihnen allen gewachsen. In Hamburg un Kiel un in Triest, in Memel und in Yokohama, ich kenn’ sie alle. Aber von allen wilden Deerns scheint mich die Akke Luersen die wildeste. [47] Trotzdem ich sie nur von Sehen und Hörensagen kenne, – leider.«

»Schande wert, Ohm Rickert. Hast es gewußt, wie sie war und daß man uns kuppeln wollt, und sagtest mir nichts?«

Der Alte schlug sich kichernd auf die Schenkel: »Hattest ja dein Maul zum Neinsagen, Edlef. Schieb mich jetzt nicht vor die Bresche, mien Jung. Du wolltest sie haben, weil du ’n Koller kriegtest.«

»Nun ja, will’s zugeben, ich war verhext. Aber ihr Alten seid zum Warnen da.«

»Sind wir??? Nun dann frag dich mal as’n ehrlichen Kerl, was du angegeben hättest damals, wenn ich mich in deine Liebessachen gemengt hätte … Da laß ich meine Hände von. Du hast deine Erfahrung gemacht, – das zweite Mal fällt’s besser aus.«

»Und wenn ich sie geheiratet hätte?«

»Dazu wär’s nicht gekommen. Ich hätt dann ausgesprengt, du wärst gar nicht der reiche Edlef, – dann wäre die Akke sofort abgestanden. Ni wohr, da krümmt sik dien Eitelkeit? Is aber doch so.«

Edlef schüttelte den Kopf. »Du irrst dich, Ohm Rickert.«

»Na, dann bleib man bei –. Der Glaube macht selig und der Hering macht Durscht«, zitierte Ohm Rickert kühn.

»Akke Luersen mag schlecht sein, aber klein ist sie nicht.«

»Das ist mir zu hoch. Und nun wollen wir vom Peder reden.«

»Wenn ich ihn nur erst zu fassen hätte, Ohm Rickert. [48] Paß auf, der macht noch ’n dummen Streich, wenn er die Wahrheit erfährt.«

»Kein Streich ist so dumm wie der, die Akke an den eigenen Herd zu binden. Davor hat ihn der dicke Hamburger bewahrt. Du sollst auch dem Manne dankbar sein, Edlef, anstatt ’n Gesicht zu machen wie’n Floh, der in der Nordsee schwimmt und in keinen Rettungsring reinpaßt. Wenn aber die Akke dem Hamburger mal utrischt, und das tut sie bald, dann …«

»Red’ anständig, Ohm Rickert. Und daß du’s weißt, mein Sorg geht auch um Melenke. Du hast ihr Vorschub geleistet, Ohm, bei ihrer Wildheit. Das muß aufhören.«

»Tühnkram, Edlef. Vierzig Jahr bin ich welterfahrener als du. Siehst denn nicht, daß die Deern erstickt in Eurer Langweile? Und Melenke fügt sich nicht in so’n Zwang. Ersticken will sie partu nich. Da atmet sie sich eben rechts und links büschen Lebensluft zusammen. Ich war Heizer bei der Marine, Edlef. Da weiß ich, daß ’n Dampfkessel ’n Ventil braucht. So’n Ventil sollte meine Aufmünterung bei Melenke sein. Aber auf die Dauer genügt der Siebzigjährige ihr nicht. Nimm du meinen Rat, Edlef: Schick die Melenke fort! In einen fixen Dienst! Arbeiten muß sie, daß ihr die Schwarte knackt. Sonst reißt sie auch aus und – geht vor die Hunde.«

»Ohm Rickert«, rief Edlef entsetzt. »Wie kannst du so was Schauderhaftes sagen? ›Vor die Hunde gehen!‹ Ein Mädchen aus dem Mutterhof vor die Hunde gehen!!!«

»Mein Edlef, das ist eure Selbstgerechtigkeit. Die kann noch bös ausgehen. Die Melenke ist aus anderm Schlag als du und deine Schwester Nomine und deine [49] Braut Maren, auch anders als die Ahne und deine Mutter … Überleg dir das Wort des alten Heizers mit dem Ventil. – Die Melenke wär nicht der erste Dampfkessel, der in die Luft geht. Was ich noch sagen wollt: wie geht’s der Nomine? Man hört und sieht nichts von ihr. Ist sie immer noch nicht gescheit genug? Der Postschiffer sagte neulich, sie ging jetzt in Kiel auf die Universität.«

»Sagt das der Postschiffer? Ja, Ohm Rickert, es ist wahr. Sie studiert. Ich bin sehr stolz auf meine Schwester. Dabei solltest du sie sehen, wie fix sie in praktischen Dingen ist. Wie sie ihren Kram fein zusammenhält in Kiel, wie sie kocht und wirtschaftet. –«

»Warum genügt’s ihr denn nicht, Lehrerin zu sein wie deine Maren?«

»Nomine war immer hungrig, hat sie mir gesagt. Und da haben wir beide, sie und ich, uns das für sie ausgedacht. Der Mutterhof verträgt’s.« –

»Hungrig ist die Deern? Hm. Hungrig nach die Wissenschaften? Gott schall mi bewohrn. – Nun, die Melenke ist auch hungrig. Hungrig nach das Leben. Denk dran, Edlef. –«

Nun waren sie auf der Königswarf angekommen.

Die Fenster des Königshauses, darinnen einst nach der letzten Sturmflut der König von Dänemark gewohnt, brannten in mildem Licht, Edlef konnte sich kaum genügen lassen im Anschauen des schmucken Baues. Aber er ging doch vorbei und bog den kleinen Seitenpfad ein, wo Peder Claußens Gehöft stand. Zaghaft klopfte er ans Fenster.

[50]

»Nur immer herein.«

Peder Claußen lag im dicken Federbett in der Döntje.

»Endlich!« rief er mit heiserer Stimme. »Ich kannt’ ja deinen Schritt, Edlef. Und wen bringst du da mit? Ohm Rickert setzt Euch.«

»Hast du mich denn erwartet, Peder?« fragte Edlef.

»Freilich hab ich. Natürlich ohne Grund. Bin von Mutter ins Bett gepackt worden, weil ich Lungenstechen und Halsschmerzen hab auf die schwere Not. – Und morgen soll der Verlobungsschmaus bei Luersens sein. Edlef, ich hoffe, du gibst uns die Ehr …«

Ohm Rickert schneuzte sich laut und heftig.

»Werd man erst ganz gesund«, mahnte Edlef mit guter Stimme und traurigen Augen.

»Was machst du für’n Gesicht!« rief Peder Claußen. »Als ob ich auf dem Schragen läge … Ach so!« rief er plötzlich verständnisvoll und lachte laut, was ihm augenscheinlich große Schmerzen bereitete. »Ihr habt natürlich auch von dem Unsinn gehört … von meiner Akke … wenn ich nur den Hund hätte, der meinen Schatz verunglimpft. Mensch, Edlef, sieh. – Da steckt ihr Ring, und da auf der Brust liegt ihr feiner Brief: ›Ich bin deine Braut Akke‹. – Morgen um zwei Uhr! Da fangen wir mit Kaffeepunsch an. Ohm Rickert kommt mit!

Ich laß es der alten Stine Diedrichsen sagen, vielleicht kommt’s noch zu einem Verspruch zwischen euch beiden.« Peder Claußen lachte ausgiebig trotz der Schmerzen.

»Sorg du, Peder, daß es zu deinem kommt«, knurrte der Alte.

[51]

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, meinte Edlef zögernd und hielt die heiße Hand des Kranken fest, – »ich hab’s für gewiß gehört, daß …«

»Und ich hab sie mit dem Hamburger abziehen sehen«, rief Ohm Rickert barsch.

»Der gute, dicke Hamburger!« lachte Peder Claußen.

»Ja, er ist abgereist. Die Akke konnt die Zeit nicht erwarten, bis er weg war. Er hatte es hellschen hilde mit meinem Schatz. Wenn ich dran denk, muß ich mich totlachen … Au!«

»Lach nich, mein Peder«, sagte seine Mutter, die mit Umschlägen und heißem Tee hereinkam. »Und wenn du morgen noch die Hitze hast, laß ich dein Akke herkommen. In dem Wind gehst mir nicht zur Schulwarf.«

»Mutter, warst du mal jung?« scherzte Peder. »Ich bin gesund, wenn ich mein Akke wiederseh.«

»Denn is ja allens in Ordnung«, krähte Ohm Rickert.

»Dann schwitz du dich man zurecht. Aber schwitz dich nicht deinen Verstand weg. Den kannst du morgen brauchen …«

Edlef zog ihn rasch mit hinaus und sie hörten noch das frohe, heisere Lachen des Kranken hinter sich her.

»Siehst du, Edlef«, sagte draußen der Alte. »Da heißt’s immer auf der Hallig: ›Inbillung is döller as Pestilenz‹, aber ich mein, für den Peder, das arme Suppenhuhn, is sie wohltätig.«

»Ja, bis morgen«, knirschte Edlef. »Aber dann?«

Und nun sprachen sie gar nichts mehr. Durch den Sturm kämpfte das ungleiche Paar sich schweigsam heim, [52] bis der dunkle Mutterhof sie wieder mit seiner großen Ruhe umfing.


Es war wenige Tage vor Weihnachten.

An der Postfähre auf der Okkenswarf stand Lehrer Manne Wögens und wartete auf ein Paket, das ihm wichtige Bücher bringen sollte. Die wollte er sich selbst abholen und dabei gleich dem Postagenten die Tagszeit bieten. Das Segelboot des Postschiffers, das schon lange mit hohem Seegang kämpfend vor der Anlegestelle gekreuzt hatte, lag nun am Steg.

Der Halligbriefträger half die Postsachen ordnen, und ein junges, hochgewachsenes Mädchen in städtischer Kleidung dirigierte halb lachend, halb scheltend ein paar Knaben, die immer ein Bündel fallen ließen, wenn sie das andere aufhoben.

»Klüger seid ihr auch nicht geworden seit meinem letzten Hiersein«, hörte Manne Wögens sie sagen. »Rasch, rasch, nehmt endlich die Sachen ordentlich zusammen und dann ›auf nach Valencia!‹«

»So weit kann ich Ihnen allerdings nicht folgen, Fräulein Nomine Holgers«, lachte Manne Wögens und zog die Mütze. »Aber bis zum Mutterhof helfe ich Ihnen tragen. Wenn ich leider auch nicht klüger geworden bin seit Ihrem letzten Hiersein.«

Sie gab ihm die Hand und nickte ihm zu.

»Herr Wögens, guten Tag! Und guten Abend und guten Morgen! Sehen Sie nur, wie unsagbar dumm mich [53] die Jungs angucken. Es sind hoffentlich nicht die Begabtesten in Ihrer Schule.«

»Wo denken Sie hin,« wehrte der Lehrer. »Mensch, Fite Groth, du stehst wohl hier als Reklameschild für die Dämlichkeit? Warum guckst du das Fräulein so an?«

»Weil – weil,« stotterte der Junge, »weil sie Onnen Holgers Swester is. De seggt immer: Oha, wenn doch einmal mien Schwester käm.«

»Jung, nun mußt du ’n Groschen haben«, rief Nomine Holgers und zog die Börse. »Das war ein schöner Willkommsspruch. Ach, Manne Wögens, am meisten von allen Menschen freu ich mich auf meinen lütten Onnen.«

Lehrer Wögens sah sie fragend an.

»Nun freilich,« lachte sie, »ich freu mich auch auf Edlef, auf die Ahne, auf Mutter, auf alle im Mutterhof, – ach, und auf die Nordsee! Auf das Segeln! Auf die Bonnestave, auf Schafe und Kühe …«

»Igittigitt, Fräulein Nomine, wann komme endlich ich dran? Damit ich sagen kann: ›Nennt man die besten Namen, so wird der meine auch genannt‹. Also – komme ich vor oder nach den Kühen und Schafen?«

» Gar nicht kommen Sie«, rief Nomine, – streckte ihm noch einmal die Hand hin und schüttelte sie herzhaft.

»Sehn Sie, das längliche Paket dort, das der andere Junge wie ein Gewehr schultert, das ist ein Tannenbaum. Tannenbaum und Heimat! Riecht das nicht gleich wie Wachslichtchen und Klaben? Mensch, Fite, Mensch, Fite«, unterbrach sie sich laut rufend. »Vorsicht, Vorsicht! Der Bengel trägt meine Bücher und Notizen und tänzelt [54] auf dem Steg über den Priel, als wollt er mein Heiligtum im nächsten Augenblick ersäufen.«

»Ihr Heiligtum?« fragte ernst Manne Wögens. »Ich dachte, das sei die Heimat. Sind’s also doch die Bücher?«

Nomine biß sich auf die Lippen. »Keine Wortklauberei, Herr Wögens. Eins braucht ja das andere nicht auszuschließen. Um mal auf ganz etwas anderes zu kommen: Werde ich Sie Weihnachten im Mutterhof sehen? Wie früher, als Sie mit Edlef unzertrennlich waren und mich, so oft Sie konnten, verprügelten?«

»Weil Sie mit Geschick und vollendeter Tücke mir und Ihren Geschwistern das Süße aufaßen. – Den bunten Teller. Und es nie leugneten. Sondern sich mit Geschrei selbst anklagten. Aber doch nie eher, als bis Sie Leibweh hatten. Gott, was waren Sie für ein greuliches Mädchen!«

»Ich danke, Manne Wögens. Das genügt für’n Schaltjahr. Sie haben mir aber noch nicht geantwortet. Reisen Sie fort? Etwa zu Maren? Oder kommen Sie Weihnachten zu uns?«

»Es geht doch nichts über schreibfaule Leute«, meinte der Lehrer. »Sie wissen also gar nichts über die gewaltigen Ereignisse im Mutterhof und – im Schulhaus?«

»Und die wären?«

»Meine Schwester Maren ist Edlefs Braut …«

Nomine lachte glücklich. »Aber das ist ja eine Freude, eine Riesenfreude! Die feine, süße Maren! Und mein stattlicher Edlefbruder! Der hat mich sicher überraschen wollen unterm Tannenbaum. Nun, ich bin auch tüchtig [55] überrascht. Ich dummes Ding meinte immer, die Akke Luersen …«

»St!« Er wehrte mit der Hand. »Gar nicht denken soll Nomine Holgers an diese Frau und den Namen nicht aussprechen. Bruder Edlef ist auf Umwegen zu dem Kleinen und Feinen gekommen, – aber ein Umweg ist auch ein Weg.«

»Ich frage gar nicht, ob sie glücklich sind«, sagte Nomine, – »mit Maren muß man es sein.«

»Warum sagen Sie nicht ›mit Edlef‹?«

Sie runzelte die Stirn. »Weil er ein Holgers ist. Die Holgers sind alle ungebärdig und hoffärtig.«

»Ja, das sind sie«, bestätigte Manne Wögens und sah sie so eindringlich an, daß sie errötete. –

Nun gingen sie stumm eine ganze Weile.

»Ach,« seufzte Nomine plötzlich auf, »so ganz richtig ist die Heimat heut doch nicht.«

»Und was fehlt?«

»Manne Wögens erzählt keine Märchen mehr, wenn er mit mir über die Hallig wandert.«

»Nein, das tut er nicht.«

»Und warum nicht?«

»Weil Nomine Holgers kein Kind mehr ist.«

»Sie ist doch aber ein Kind ihrer Heimat … und sie hungert nach Märchen. Draußen in der Fremde ist alles Wirklichkeit. Und die ist so kalt …«

»Wirklichkeit? Da draußen heiratet also jede Gänsemagd ihren Königsohn? Oder besser, jeder Schweinehirt seine Prinzessin?«

[56]

»In diesen Kreisen hab ich keinen Zutritt«, lächelte sie. »Item, – ich hungere nach Märchen …«

»Eigentlich müßt ich als Lehrer sagen: ›Nomine Holgers, du bist eigensinnig, stell dich in die Ecke.‹«

»Ich will aber nicht. Ich will mein Märchen.«

»So ein Unart! – Also, dann man to. Passen Sie gut auf. – Es waren einmal drei Kinder. Zwei große Jungen und ein kleines, süßes, feines Mädchen …«

»Ein eigensinniger Unart!«

»Ja, manchmal.«

»Nein, immer.«

»Nicht unterbrechen, Fräulein Nomine. Oder wollen Sie die Geschichte erzählen?«

»Nein, – – dann würde sie ganz anders enden, als bei Manne Wögens.«

»Wie die Märchen wirklich enden, das weiß kein Mensch. In Büchern steht: ›Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch.‹ Aber ob sie gestorben sind oder wie sie weiter leben, das erfährt man nicht.«

»Weiter, Manne Wögens, philosophieren wollen wir ein andermal, wenn ich nicht so froh bin, wie heute.« –

»Ja, also diese drei glücklichen Menschenkinder liefen auf der Hallig herum, die ihnen ganz zu eigen gehörte. So voll Phantasie waren sie. – Und sie hießen …«

»Ach – Name ist Schall und Rauch, lassen wir sie doch namenlos.«

»Mitnichten. Als Lehrer bin ich für Gründlichkeit. Sie hießen also Nomine, Edlef und Manne.«

»Ja. Und die freundlich Zuerstgenannte war die [57] Unterdrückte. Sie mußte immer das tun, was die anderen wollten.«

»Das ist nun wirklich ein Märchen und höchst unglaubwürdig. Da lach ik öwer. Sagen wir lieber, sie fügte sich manchmal , wenn zufällig die Vernunft in ihren Kram paßte.«

»Manne Wögens, Sie erzählen sehr harte Märchen …«

»Ich bin ja auch keine Mutter, Fräulein Nomine. ›Ein Vater lernt die Märchen aus einem Buch, einer Mutter erzählt sie der liebe Gott selbst.‹«

Nomine Holgers ging sinnend. »Ach ja,« seufzte sie dann, »wie konnte Mutter Wögens Märchen erzählen! Da lag die ganze Süße der Heimat drin. Aber der Sohn …«

»Dem haben Sie die Süßigkeiten aufgegessen …«, sagte der Lehrer schroff.

Nomine sah ihn zornig an.

»Ich wußte nicht, daß ›bunte Teller‹ unersetzlich sind.«

»Ja, sie sind unersetzlich. – Aber nun weiter mit dem Märchen. Die drei Kinder hatten sich trotz vieler Unstimmigkeiten und Reibereien lieb. Wohlgemerkt: die Kinder . Aber leider wurden aus ihnen Leute.«

»Da irren Sie, Wögens, ich meine: Aus ihnen wurden Menschen

»Wenn Sie dies Hochmütchen sticht, Fräulein Nomine, ich bin’s zufrieden. Also Menschen! Der Bruder Edlef und der Freund Manne wurden beide Schweinehirten … Oder stört Sie das? Kann ja auch Schaf- oder Kuhhirten sagen.«

[58]

»Das tut nichts zur Sache. Mir ist Schweinehirt die höchste Poesie durch Krischan Andersen.«

»Das ist schön. Mir auch. Aber nun kommt die Tragik. Das kleine, holde Mädchen hätte auch Schweinehirtin sein können, aber sie zog es vor – Prinzessin zu werden.«

»Wo liegt da die Tragik, Manne Wögens?«

»Darin, daß die Prinzessin nicht weiß, was sie dadurch verloren hat. Die Heimat schlechthin.«

»Das ist ein Irrtum. – Wohl hält mich die Universität mit stärksten Banden, aber ich trinke meine Heimat mit vollen Zügen, wenn ich einmal hier bin.«

» Wenn …! Lassen wir’s gut sein. Das Märchen ist aus. Hie Schweinehirt, hie Prinzessin! Die salzen See dazwischen und eine Welt von Vorurteilen … Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch. –«

Sie gingen schweigend. Die Knaben mit dem Gepäck sprangen über die Wiesen, sie suchten sich den nächsten Pfad. Nomine und ihr Begleiter waren allein mit sich und ihren Gedanken.

Das Mädchen brach das Schweigen zuerst. »Nach dem, wie wir so wundervoll stumm nebeneinander hergehen können, sind wir die besten Freunde.«

»Nein, das sind wir nicht.«

Sie sah ihn finster an. »Der Schweinehirt kann sehr grob werden«, rief sie gereizt.

»Der Schweinehirt ist gar nicht mehr da. Er ist in sein Königreich gegangen und hat die Tür hinter sich zugemacht.«

[59]

»Da konnt die Prinzessin singen: Ach, du lieber Augustin, alles ist hin. Meinen Sie, Manne Wögens?«

»So sagt der Dichter Andersen. Ich aber sage: Das Märchen ist aus. –«

»Nun, so erzählen Sie mir Tatsachen. Wie geht es zu Hause? Was treiben die Nachbarn? Die erste, die ich aufsuchen will, ist – Tanten Frauke. Lachen Sie mich nicht aus. Ich möchte allen Ernstes diesen alten Baum noch verpflanzen. Indem ich Tanten Frauke bitte, mit mir nach Kiel überzusiedeln. Dort soll sie wieder leben lernen, nachdem sie so lange vegetiert hat. –«

Er sah sie tiefernst an. »Dies Vegetieren hat schon Ihr Bruder Edlef aufgehoben. Er hat Tanten Frauke einen Ehrenplatz im Mutterhof gegeben … Ihr gerühmtes Studium hat Ihnen den Gedanken an eine seelisch schwer Leidende ausgelöscht. – Vier Jahre früher hätten Sie den Baum verpflanzen sollen, aber Sie dachten nur an sich. –«

Sie warf den Kopf zurück. »Hätte ich nicht so großen Respekt vor Ihnen, Manne Wögens, würde ich sagen: ›Sie sind ein ganz unausstehlicher Schulmeister.‹«

Er verbeugte sich. – »Sieh, sieh! Also doch Respekt! Vor meinem Alter

Freimütig sah sie ihn an. »Ach nein, das lohnt wohl nicht. Aber vor Ihrer Bodenständigkeit. Freiwillig auf der Hallig zu bleiben, bei Ihren Kenntnissen, – bei Ihrem Hunger und Durst … Ich kann mir nicht denken, daß Sie genügsam geworden sind.«

»Bitte, darüber wollen wir beide nicht sprechen … Wen wollten Sie sonst noch besuchen?«

[60]

»Peder Claußen und seine Mutter. Er hat mich immer so schön verteidigt mit Nägeln und Zähnen, wenn Sie mich peinigten. –«

»Über Peder Claußen ist fressendes Leid gekommen«, sagte Manne ernst. »Wie über manchen andern … Aber Peder Claußen kann’s nicht umwerten in Segen. Er stirbt daran.«

»An einer Liebe?« fragte Nomine lebhaft.

»Ja, – er ist grenzenlos altmodisch, arm Peder! ›Das Suppenhuhn‹ nennt ihn Ohm Rickert, der oft den Nagel auf den Kopf trifft. Suppenhühner sind altmodisch. Gebratene Hähnchen sind modern.«

»Was Sie für Unsinn schwatzen, Manne Wögens.«

Er antwortete nicht, er rannte plötzlich ohne Umsehen, ohne Aufhalten den Deich hinunter an den Strand.

Was hat er nur? Was tut er da? fragte sich Nomine. Ihre etwas kurzsichtigen Augen konnten nichts erkennen, und so schritt das Mädchen tüchtig aus. In tiefen Gedanken war sie. Heimat! Heimat! Wunderliche Heimat!

Da keuchte es hinter ihr her.

Und der Wind trug ihr ihren Namen zu: Nomine! Nomine!

Sie sah bang und verständnislos in Manne Wögens furchtbar verstörtes Gesicht.

Er nahm ihre Hände und atmete schwer. »Sie wollten doch zu Peder Claußen? Fragen, wie es ihm ginge? Gut geht es ihm, Nomine Holgers. Sehr gut! Drunten liegt er. Die See hat ihn angespült. Sehen Sie das Bündel? [61] Das ist übriggeblieben von einem frischen, frohen, tüchtigen Kerl. Herrgott, Herrgott!«

Sie stand erschüttert. »Wie ist das möglich?« stammelte sie. »Er war solch großer, festgefügter Friese.«

Manne Wögens reckte seine eigene hohe Gestalt und lachte bitter.

»Ja, Nomine, – so etwas bringt die Stärksten herunter.«

Dann wandte er sich und lief denselben Weg zurück und ließ das Mädchen stehen. Und Nomine hob das Gepäck auf, das er ihr bis hierher getragen. – Sie stand und schaute angestrengt, und sah nach einer ganzen Weile, wie er mit einer schweren Last auf Armen und Schultern wuchtig und langsam der Königswarf zustrebte. Da senkte sie den Kopf tief auf die Brust und sah nichts mehr von der grünen Heimat.

Der Tod war ihr begegnet und hatte sie ernst gegrüßt. Erschüttert und müde schritt sie nach dem Mutterhof.


Pastor Ephraim Licht saß in seiner Studierstube. In seinen guten, hellen, blauen Augen spiegelte sich die ganze Predigt wider, die er am Sonntag seinen Leuten zu halten gedachte. Seine runde, springlebendige Frau quirlte um ihn herum. Sie wischte den Staub vom »Kannrückchen«, das aus der gewohnten Thüringer Waldeinsamkeit noch sehr fremd auf die brausende Nordsee hinaus schaute. Und sie beugte sich im nächsten Augenblick über eine alte »Erfurter Lade«.

[62]

Und als der geistliche Eheherr den sinnenden Blick nicht vom Deich draußen fortwandte, seufzte sie auf. Wurde ordentlich kribbelig und wischte immer rascher an den Möbeln herum und stäubte schließlich den ganzen Pastor mit dem Wedel ab.

»Ei, ei, Luischen, – das ist mir doch zu arg«, wehrte er gutmütig. »Ist denn das nötig bei mir?«

Sie bedachte sich einen Augenblick, wobei der Humor in all ihren Grübchen spielte. Dann wurde sie kriegerisch.

»Jawohl, das ist nötig, Ephraim«, trumpfte sie auf. »Über und über bist du verstaubt.«

»Luischen! – ich werde dich wohl hinauswerfen müssen, mein Liebes, du weißt, meine Predigt …«

»Ephraim, der liebe Gott schreit einem auch die Wahrheit in die Ohren, und kümmert sich den Kuckuck drum, ob grad jemand seine Predigt macht …«

»Luischen, Luischen, geh nicht mit dir selber durch. Diese Ausdrücke! Du bist doch eine Pfarrfrau! Und dieser Hochmut, Luischen! Willst du dich mit dem lieben Herrgott vergleichen?«

»Ephraim, jetzt kommst du mir vom Thema ab. Ich sag, du bist verstaubt. Und ein verstaubter Pfarrer ist wie ein Ofen, der nicht brennt, oder wie eine Mutter, die lieblos ist, oder auch wie ein blinder Spiegel. Ephraim, du heißest Licht und leuchtest nicht …«

»Potztausend, Luischen, du gehst ins Geschirr. Laß mir nur meinen ehrlichen Namen in Ruhe, der auch der deine ist. Hier kommt’s nicht auf die ›lieblose Mutter‹ oder den ›blinden Spiegel‹ oder den ›kalten Ofen‹ an. Wenn [63] auch deine Vergleiche ganz nett sind, Luischen … du hast Phantasie, Luischen …«

»Siehst du, wie du dich verhedderst, Ephraim? Ach, ich möchte mit Menschen- und Engelszungen reden …«

»Das tust du ja, Luischen. Und hast noch die ›Liebe‹ dazu. Das ist selten beisammen. Aber hier in diesem Einzelfalle handelt es sich nicht um schöne Reden, sondern um das strenge Respektieren einer Tradition, die den Halligleuten heilig ist.«

»Sprich doch deutsch, Ephraim. Immer, wenn du nicht ganz fest im Sattel sitzst, gebrauchst du Fremdwörter. Und heilig? Wie kann Unheiliges heilig sein?«

»Luischen, nun muß ich gleich böse werden. Ich bitte dich um tausend Gotteswillen, geh hinaus.«

Da setzte sich die kleine Frau Pastorin ganz fest in den Lehnstuhl am Fenster und fing an bitterlich zu weinen.

»Da sind doch noch andere Leute auf der Hallig,« klagte sie, »gebildete Leute, Leute mit Herz und Gemüt. Ach, sie werden sagen: Dies Thüringer Land muß noch ganz dunkel sein, sonst könnte von dorther nicht so’n verbohrter Pfarrer kommen …«

Nun stand Pastor Licht ruhig auf, zog seine Gattin sanft aus dem Stuhl hoch und führte die Weinende fort. »Siehst du, Luischen, nun muß ich dich doch an die Luft setzen. So geht es jedesmal. Wann wirst du aufhören, mich in meiner Amtsstube zu beleidigen?«

Er schaute noch ein Weilchen schalkhaft hinter ihr drein und setzte sich dann mit wehmütigem Lächeln wieder an seinen Arbeitstisch. »So, – also da geht’s schon los«, [64] meinte er mit grimmigem Humor, als draußen energisch geklopft wurde.

»Herein!!!«

»Herr Pastor,« sagte da Edlef Holgers, »ich weiß, es ist nicht recht, daß ich so eindringe …«

»Menschenskinder,« rief Pastor Licht, »wenn ihr doch wißt, daß es nicht recht ist, warum tut ihr’s denn nur? Na nun kommen Sie man. Närrische Kerle seid ihr alle …«

»Herr Pastor, – mein alter Freund Peder Claußen soll morgen beerdigt werden, und nun sagt man …«

»Daß ich ihn außerhalb des Mäuerchens betten will, weil er ein Selbstmörder ist. Ja, Holgers, da sagt man ganz recht.«

»Herr Pastor …!!!«

»Mein lieber Freund, ich bin nicht nur für euch junge Heißsporne hier, sondern in erster Linie für die alten Leute. Ihr Jungen holt euch mal hier, mal dort euern Trost und Halt. In die Kirche kommt ihr selten. Der Pastor ist für euch ’n notwendiges Übel oder mal ’ne ganz nette Dekoration. Ja, ja, ich weiß schon, was Sie sagen wollen. – Ich meine ja auch nicht gerade euch vom ›Mutterhof‹. Das ist ja ein rechtes und echtes Friesenhaus und Vorbild. Und ich brauche wohl kaum zu fragen: Wie stehn Ahne und Mutter zu der Sache? Und Tanten Frauke? Und Ohm Rickert? Doch sicher auf meiner Seite?«

»Ja. Alle! Ich bin ganz irre an der Ahne geworden. An allen.«

»Nicht doch! Nicht doch! Überlieferungen sind stärker [65] als eigene Gedanken. Man löckt nicht ungestraft wider den Stachel. Und wenn ein Halligpfarrer nicht als Felsen dasteht, wie soll er eine Sturmflut überdauern???«

»Herr Pastor – – ich meine, wenn der liebe Gott will, so stürzt er auch den Felsen …«

Pfarrer Licht fuhr auf. »Was hat denn der liebe Gott mit der ganzen Sache zu tun?« rief er ärgerlich. Aber er schlug sich gleich darauf selbst auf den Mund. Wenn Luischen das gehört hätte!

»Mein lieber Holgers, – der Herrgott fragt nicht nach ›Mäuerchen‹ und dem ›ehrlichen‹ oder ›unehrlichen‹ Grab. Er sammelt sie alle am Jüngsten Tag. Und vielleicht sagt er zum Selbstmörder: ›Ei du frommer und getreuer Knecht‹ und zum Pastoren: ›Hebe dich weg von mir‹. Aber Freund Holgers, – es ist ein Ärgernis . Ein Pastor soll kein Ärgernis geben. Sonst winkt ihm der Mühlstein. Wenn ich Peder Claußen nicht als Selbstmörder einsenke, so gehen vier junge Leute vielleicht befriedigt vom Kirchhof, und einhundertsechsundzwanzig Seelen wenden sich von mir ab. Und hadern und bleiben ohne Trost. Und wenn ich abgesägt werde? Wen kriegt ihr her? Ich hab mich freiwillig hierher gemeldet. Weil ich euch lieb habe.«

»Und die Mutter? Herr Pastor, die Mutter von Peder Claußen?« fragte Edlef ganz leise und dringlich. »Die hatte nichts als den einen Jungen. Nicht eine einzige ungute Stunde hat sie von ihm gehabt. Er war der bravste Sohn auf unserer Insel. Das faßt ja ihr Herz gar nicht, daß der gefemt werden soll.«

Der Pfarrer rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

[66]

»Jetzt kommen Sie mit grobem Geschütz, Holgers, – die Mutter, ja – – – sie soll ja den Sohn noch über den Herrgott gestellt haben, – sie wird nun wohl sehr leiden. Mich hat sie gar nicht beachtet, da ich als verordneter Diener unserer Kirche sie besuchte. – Sie hat mir auf alle Fragen nicht geantwortet …«

»Herr Pastor, sie ist aus den Fugen«, sagte Edlef schwer.

»Und Sie meinen, Holgers, ein sogenanntes ehrliches Begräbnis würde sie wieder zusammenkitten?«

»Ja, Herr Pastor, das ist meine Meinung.«

Pastor Licht schaute wieder mit dem sinnenden Blick nach der See: »Und Christus sprach: ›Weib, siehe dies ist dein Sohn, Sohn siehe, dies ist deine Mutter …‹ Lieber Holgers – – ich möchte allein sein …«

Edlef ging rasch hinaus und Pastor Licht riegelte die Tür hinter ihm ab. –

In der offenen Küche stand die Pastorin. Ihr rundes, liebes Gesicht trug noch die Tränenspuren.

»Hat er Sie auch herausgeworfen, Herr Holgers?« fragte sie dringlich. Und auf Edlefs energisches Kopfschütteln: »Ach, Sie dürfens gern sagen. So ein Mann, so ein Mann ist mein Mann! Die helle, lichte Güte selbst, Herr Holgers, niemand kennt ihn ja wie ich. Keiner Fliege tut er was zuleid, – ach, was sag ich, – zu lieb würde er ihr was tun. Aber schroff, schroff ist er, Herr Holgers, und obsternatsch und eigensinnig und verbohrt in seine dämlichen Ansichten … Ei der Tausend, was sag ich da wieder … Kommen Sie in die Küche, Herr Holgers. Das Leben ist wahrlich schwer. Essen Sie ein paar braune [67] Kuchen. Hier, sie sind noch knackenhart. Und ›Jungbursch hat Jungzahn‹ heißt’s im Sprichwort.«

Und so nötigte ihn die Frau Pastorin an den Küchentisch und präsentierte ihm das leckere Weihnachtsgebäck.

Und Edlef nahm und aß und erzählte von der Mutter Claußen. Und das mitleidige, warme Herz der Pastorin wollte schier aus der Brust heraushüpfen und weiter über die Schwelle des Pfarrhauses nach der Königswarf hin zur armen Mutter. Daneben aber reichte sie ihrem Gast einen braunen Kuchen nach dem andern, auch wenn er noch so sehr wehrte. Und schusselte in der blitzblanken, großen Küche herum und schalt und liebkoste abwechselnd ihren Eheherrn ganz laut, aber ohne daß es ihm zu Ohren kam. Die beiden Taschen voll brauner Kuchen zog Edlef schier verlegen ab. Und immer wieder steckte sie ihm noch etwas ein, und die tränenblanken Augen sahen ihn gütig und mütterlich an.

Der Sturm draußen warf Edlef Holgers beinahe gegen den großen Grabstein von Anno 1517, der an der Kirche lehnte. Tief drückte er seine Mütze ins Gesicht. Dann sprang er mit großen Sätzen über ein paar eingefallene Gräber nach dem Zaun hin.

»Mudder Claußen, wat makt ji hier?«

Die Frau hatte sich tief zur Erde gebeugt. Ein Schluchzen schüttelte ihre hagere Gestalt.

»Hier wüllt se em henleggen,« stöhnte sie, »– hier. Un sin Vadder, de liggt in Husum unnern groten, witten Steen, mitten unner de Honneratschoren, un hedd sik doch sin Lebdag ni um Wiw und Kind kümmert. So is de [68] Welt. So richt de Welt! O du min arm Peder! Min goden Jung!«

Beide Hände legte sie auf den kalten Boden, als wolle sie das verfemte Fleckchen Erde wärmen und segnen.

Grimmes Mitleid schüttelte Edlef Holgers. »Kommt, Mutter Claußen«, sagte er. »Up dit Flag verküllt Ji jug blot.« Er half ihr in die Höhe und nahm die Widerstrebende mit sich fort. Gute Worte sprach er zu ihr und erzählte von Peder Claußens Kinderjahren und Dummjungsstreichen und wurde beredt, wie er es niemals gewesen war. So ward der Weg zur Königswarf ganz kurz und zuletzt schier fröhlich. Denn immer neue, schöne Züge und gute Besonderheiten entdeckte Edlef an dem toten Schulkameraden, also daß seine Mutter die ätzenden Tränen trocknete und voll Trost in das öde Heim zurückkehrte. –

Am andern Morgen waren sie schon um acht Uhr bei Mutter Claußen versammelt. Keiner der Halligleute wußte recht, wie der Nachbar hingekommen war. Nur daß er selbst einer dringenden Botschaft folgte, war ihm klar. –

Die Frauen waren diesmal daheim geblieben, denn Neugierde ist keine Untugend der Halligbewohner. Nur Maren Wögens und Nomine Holgers standen Mutter Claußen zur Seite.

Die alte Frau weinte nicht. Sie hielt die zitternden Hände gefaltet und schaute geradeaus. – Nicht auf den Sarg, den man schon geschlossen hatte. Es war, als höre sie nicht auf das, was die Nachbarn an Trostworten ihr zuraunten, sie horchte auf irgend etwas, das von draußen [69] kommen sollte, und in ihren bangen Augen standen Fragen, die einer herben Antwort gewärtig waren. – Die alte Kastenuhr tat nun schrille Schläge, und der Totengräber Hinrichsen ermunterte ein paar große starke Schuljungen, den Sarg mit ihm anzufassen. Da kam ein Ächzen aus Mutter Claußens Brust.

Und Maren Holgers legte ihren Arm schützend um sie. Aber gleich darauf stand die Wankende wieder aufrecht. Ihr Kopf wandte sich zur Tür, die gefalteten Hände lösten sich und streckten sich aus. Pastor Licht erschien in der Tür. An ihm vorbei drängte sich seine gute, kleine, geschäftige Frau. Sie tründelte zur trauernden Mutter hinüber und umfaßte sie, und grüßte rechts und links mit den hellen, gütigen Augen. Es war fast, als käme sie zu einem frohen Fest, und das war diese Stunde auch beinahe für sie.

Die Halligmänner sahen sich an. Wollte dieser Thüringer Pastor Neuerungen einführen? Und wollte er sie heute überrumpeln? Dafür waren sie nicht zu haben. Aber in der behenden Geschäftigkeit der Pastorin ging das Murren und Murmeln unter, das schon drohend aufgestanden war.

»Liebe Männer von unserer Hallig,« hub der Pastor an, und seine Stimme klang mild und fest zugleich, – »hier wartet ein Mitchrist, daß wir ihn zur ewigen Ruhe tragen. Viele von euch haben erwartet, daß ich in meiner Stube bleiben würde. Ich hätte es auch getan, denn ich wollte eine althergebrachte Sitte nicht umstoßen. Aber da wurde ich von jemand daran erinnert, daß außer dem Toten, der die Strafe ja nicht mehr fühlt, [70] noch ein lebendiges Mutterherz neben dem Sarg sich quält. Das möchte wohl so stark sein, daß es den lieben Sohn ganz allein nach dem Friedhof trage, und so fromm ist es auch, daß es wohl den Segen tausendmal sprechen könnte. Aber das Mutterherz hat diese ganze Angelegenheit in eure Hände gelegt, ihr lieben Gemeindeglieder. Und so sage ich euch: ›Der Gottesacker dadraußen heißt Friedhof und nicht Striedhof.‹ Und zweitens: ›Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.‹ Und drittens: ›Wer sich rein fühlt von Schuld, der werfe den ersten Stein auf den Toten.‹ Ich werde jetzt hinausgehen und mich mit meinem Gott bereden und zurückgehen zur Kirchwarf. Beredet auch ihr euch untereinander und laßt Gott mit darein reden. Und schaut mir fleißig die Mutter an. Das soll mir ein Zeichen sein: Wenn ehrenfeste Halligleute mir den Toten getragen bringen, so will ich sie empfangen und Peder Claußen soll unter euern verstorbenen Lieben auf dem Friedhof ruhen. Hebt ihr ihn aber drunten auf den schmalen, kleinen Wagen und laßt ihn einzig vom Totengräber und seinen Gehilfen geleiten, so will ich der Überlieferung Rechnung tragen und still im Kämmerlein bleiben. Gott aber wird am Jüngsten Tage unsere Herzen wiegen und auch Peder Claußens Herz, der ein gehorsamer Sohn, ein guter Nachbar, ein fleißiger Halligbauer und ein treuer Freund war. Wehe uns dann, wenn unsere Herzen leichter befunden werden als das seine. – Gehabt euch wohl!«

Pastor Licht stellte sich noch einen Augenblick zu Mutter Claußen, die den Kopf tief geneigt hatte und strich ihr sacht über den grauen Scheitel.

[71]

Dann nahm er das weinende Frau Luischen bei der Hand und verließ die Stube. –

Da schritt Edlef Holgers zum Sarg und ergriff eine Handhabe. Sein Auge grüßte den Halligschulmeister Manne Wögens, der denselben Schritt getan und nun neben ihm stand.

Nomine Holgers und Maren Wögens stellten sich in raschem Entschluß neben ihre Brüder.

»Dat is nich Deernssach’«, wehrte ihnen Tede Luersen, der Vater von Akke. Und er trat an die Stelle der beiden, wischte sich den Schweiß vom Gesicht und murmelte: »Ik heww wat god to maken.«

Zwei Bauern verließen die Stube. Der eine rückte den Hut und sagte: »Nix för ungut, – ik kann dat nich min Öllern wegen.«

Und der zweite murrte: »Nimodsche Art paßt nich to Halligart.«

Dafür stellte sich aber der Gemeindevorsteher sehr entschlossen an den Sarg: »De Paster hett recht.«

Noch ein paar folgten mürrisch oder verlegen den beiden Männern, die auf ihre Warfen zurückkehrten, aber es waren genug Träger aus den Reihen der angesehensten Halligbauern vorhanden, auch zum Abwechseln bei dem langen Weg und der schweren Last. –

Mutter Claußen schritt zu jedem einzelnen.

»Gott lohn’s in der Ewigkeit!« schluchzte sie. »Gott lohn’s!«

Und viele meinten bei sich, sie hätten schon schlechtere Leute getragen als diesen Sohn einer solchen Mutter.

»In Gottes Namen«, rief laut Manne Wögens. Da [72] hoben sie den Sarg und trugen ihn langsam und schwer den Deich entlang und schritten mühselig über den Priel zur Kirchwarf.

Und wenn auch die Glocken schwiegen, so donnerte doch die Nordsee gegen den Deich, und der Sturm sang sein ernstes Lied wie einen brausenden Choral.

Pastor Licht empfing den Zug am alten Glockenstuhl, der unterhalb der Kirche aufragt. Und er schritt dem Sarg voran und sprach kurze, markige Worte über der offenen Gruft. Ein Leuchten lag auf seinem Gesicht, weil er sich der Ehre freute, ein Hallighirte zu sein. –


Der Mutterhof rüstete sich zum Weihnachtsfest.

Nun stritten in ihm die verschiedensten Gerüche um die Oberhand.

Ohm Rickert ging mit krummem Kreuz ducknackig umher und schaute scheu um sich, als käme aus irgendeiner Ecke ein voller Scheuereimer gegen ihn geflogen, um ihn zu verjagen.

Er meinte, es röche überhaupt nur nach »Kernseep« und »gräune Smeerseep«.

»Wozu die viele Reinlichkeit bei das büschen Hochzeitmachen?« fragte er unwirsch.

»Es ist nicht nur büschen Hochzeit, – es ist auch Heiligweihnacht«, meinte Klein-Karen ernsthaft. Und die Kinder fanden, daß es nur nach Wachslichtchen, nach Tannenbaum und Klaben dufte.

[73]

Die Ahne sah mit ihren hellen, scharfen Augen schief nach Ohm Rickert hin und bemerkte anzüglich, daß es wohl nach alten, vertrockneten Junggesellen röche, und die sollten sich »man bei klein’« aus dem Staube machen und sich hinterm Deich auslüften, da, wo der Sturm am ärgsten bliese.

Darauf Ohm Rickert wieder gemütlich krähend: »Weet de Düwel, ick bün gor ni vertrocknet. Ik schese noch den irsten Danz mit de Brud. Ne feine Polka. Un sing dortau:

Bonnestabe, Bonnestabe
Blüht auf Junggesellengrabe,
Aber wo Jungfräulein ruht,
Blüht ’ne Rose, rot wie Blut.«

»Ja, deine Choräle kennt man schon«, brummte die Ahne, und dann jagte sie Onnen und Karen hinaus, sie sollten einen Schneemann bauen, anstatt immer »vor den Füßen zu laufen«.

Es war »hilde Zeit«. Weihnachten und Hochzeit. Man hatte alle Hände voll zu tun und alle Köpfe voll Wichtigkeiten. – Und mit Edlef war nicht mehr zu »rechnen«. Dem schlug die Liebe über Kopf und Kragen. Die Ahne seufzte tief auf. Aber dann verklärte sich ihr Gesicht wie von einem innern Leuchten. Es war ja wohl gut, daß einmal die »Liebe« wieder über die Schwelle des Mutterhofes schritt. »Rechtschaffenheit und ehrbar Wesen« freilich, die hatten immer Hüsung gehabt in dem stattlichen Bau. Aber Liebe? Die paßte nach Meinung der Ahne besser in die Stadt, wo die Leute »nichts [74] anderes zu tun haben«. Sie selbst, Gesine, geb. Christiansen, hatte eine Vernunftehe mit dem raschen, arbeitswütigen, jähzornigen Holgers geschlossen, der ihr eigenes, durch Krankheit der Eltern heruntergekommenes Gewese sachgemäß bewirtschaftete und mit dem Mutterhof vereinigte. Damals war noch nicht allgemeiner Wohlstand auf der Hallig, damals war der Halligspruch bittere Wahrheit, der über manch einer Tür stand:

»Nadel und Schere sind es nicht,
Pfriemen und Hobel kennt man nicht,
Pflug und Egge braucht man nicht,
Manna fällt vom Himmel nicht.
Wären die lieben Schafe nicht,
Man hätt’ fürwahr das Leben nicht.«

Wenn man ums tägliche Brot ringt, dann begnügt sich die Liebe mit einem bescheidenen, knappen Plätzchen. Aber Vertrauen und Fleiß und Frömmigkeit hatten daneben gesessen, so war das Haus gesegnet worden und gewachsen.

Fünfzehn Kinder hatte die Ahne geboren, sieben davon »kleinweis« hergeben müssen, da waren ihr auch sieben Schwerter durch das Herz gegangen, wie man’s von der Gottesmutter erzählt.

Aber die acht anderen, sieben Jungs und eine Deern, waren alle fixe Kerle geworden. –

»Geliebt« hatte auf dem Mutterhof wohl nur die »Tanten Frauke«. War ein schönes Mädchen gewesen, und der Ahne dritter Sohn Tetje hatte sie auf den Mutterhof gebracht. Der war von klein auf ein Träumer. [75] – So des Abends auf der grünen Hausbank vor der Tür zu sitzen und ins verglimmende Abendrot zu schauen, das war ihm das Liebste. Jeden Stern kannte er am Himmel, und lehrte es auch die Frauke. Von der hildesten Arbeit konnte er sie wegholen, und dann saßen die beiden Hand in Hand »rein wie verbast«. Fleißig war ja die Frauke und flink und hatte einen ordentlichen »Batzen« auf den Mutterhof mitgebracht, also daß zwei Scheunen hatten erneuert werden können. Aber so eine richtige Kraft war sie nicht, und – sie blieb ohne Kinder. Das war unerhört im Mutterhof. Was hatte sie, die Ahne, für bittere Zähren vergossen, daß sie selbst es nur auf fünfzehn gebracht. Hielt es ihr die Schwieger nicht täglich vor, die ihrem Manne selbst einundzwanzig gebar?

In alle Welt waren die Holgers zerstreut, und ein stolzes Wort ging um: »Aufrecht und brav wie ein Holgers.« Die meisten von ihnen ruhten freilich auf dem Meeresgrunde. Fischer- und Seemannslos. Auch Fraukes Mann, der Träumer und Sterngucker, war nicht wiedergekommen. Und die Ahne erinnerte sich nicht gern daran, daß sie selbst ihn fortgescheucht hatte von seiner Frau, mit der er damals fünfzehn Jahre verheiratet war. Es hätte vielleicht nicht Not getan, daß Tetje Holgers an dem Abend zum Fischfang auszog …

Aber die Ahne hatte das »verliebte Getue« nicht leiden können, und hart gespottet, wie sich der Tetje gar nicht trennen konnte und immer wieder die Frauke küßte und strakte. Und wie hatte sie mit der Schwiegertochter gescholten, daß diese dem Gatten plötzlich nachgelaufen [76] war und dicht vor dem Priel ihn eingeholt und auf der Fenne vor allen Leuten gehalst hatte.

In derselben Nacht stand der grause Sturm auf und … machte Frauke Holgers zur Witwe. Es kehrte niemand von den Bootsleuten zurück. Seitdem war Frauke das herbe, stille Weib, das einsam im Altenteil hauste. Ohne Kinder, ohne Enkel, ohne Freude. Es wurde der Ahne, die doch so fest an das »Gotteszeichen« glaubte, immer unbehaglich zu Sinn, wenn sie an das liebeleere Leben der Einsamen dachte, die doch so still und ohne Vorwürfe gegen andere ihren Leidensweg ging. Die Ahne mußte sich oft selbst bezwingen, daß sie nicht zu viel Hochachtung empfand vor der »Unfruchtbaren«. Und daß sie nicht ungerecht wurde gegen die Frau ihres Erstgeborenen, die doch zwölf Kinder hatte, von denen Edlef der Älteste war. Warum konnte nur die Ahne zu dieser Schwiegertochter so gar nicht in Fühlung kommen? Die doch die Überlieferung des Mutterhofes wahrhaft hochgehalten hatte. –

Wie oft hatte die Ahne schon im Herzensgrund gemeint, die Behaglichkeit und der Gottesfriede wohne allein im Altenteil bei Frauke Holgers, – doch sie hatte diese aufrührerischen Gedanken immer gewaltsam verscheucht. –

Aber gut war es trotzdem, daß die leuchtende Liebe wieder allen sichtbar über Mutterhofs Schwelle schritt. Der Enkel Edlef und die feine, schöne Maren mit den strahlenden Blauaugen. Das war wohl so recht ein Paar nach Gottes Herzen. Da sah eins nur das andere, und die Hallig hätte untergehen können, die beiden wären’s nicht gewahr worden. Da konnte man wohl beten, daß [77] dieses Glück blieb. Daß zu dem vielen Licht nicht viel Schatten kam. Enkel Edlef artete nach dem Ahn. Und der war gut und nachsichtig gegen andere gewesen und mochte auch nur frohe Gesichter leiden. Aber für sich selbst wollt er doch immer ein Extragericht, und Gott sollte sich nach seinem Willen richten. – So hatte er scheinbar mit eigenem eisernen Willen sein Schicksal gemeistert. Und Edlef? Der setzte aus sorglos gutem Herzen die verfemte Verwandte in die alten Ehren ein, wie würde er aber wohl handeln, wenn ihm selbst Nachkommen versagt blieben??? Die Ahne mocht’ kaum dran denken. Holgersart konnte grausam sein.

Am dritten Feiertag des Weihnachtsfestes sollte die Hochzeit sein, und im Jungteil des Mutterhofes hatte man dem jungen Paar das Nest gebaut. Denn wenn auch Edlef Holgers nun Herr des Mutterhofes wurde, blieb doch nach alter Überlieferung seine Mutter die Herrin neben ihm so lange, bis auch Karen, das jüngste Kind, achtzehn Jahre wurde. Dann siedelten sie alle ins Altenteil, und Edlef würde fortan im Mutterhof wohnen.

Bis dahin hatte es aber noch gute Wege.

Die Ahne schaute mit hellen Augen auf das stolze Gewese. Der stattliche Mutterhof nahm die Mitte des Hofes ein. Daran schloß sich das große Altenteil, das sie selbst bewohnte. Links vom Mutterhof lag das kleine Altenteil, das von Frauke Holgers’ eigenem Gelde erbaut worden war und das innen und außen ein rechtes Schmuckkästchen darstellte. Dem gegenüber lag das »Jungteil«, das jetzt ganz neu für Edlef und Maren hergerichtet war.

[78]

»Mit Gott«, sprach die Ahne und ließ die Augen über die Reihe der blitzenden, kleinen Fenster gleiten, hinter denen die Brautkammer lag mit den blühweißen, hoch aufgeschichteten Betten. Die Ahne selbst hatte die schneeigen Spreidecken darüber gebreitet, und die »heilige Kammer« verschlossen, wie sie auf dem Mutterhof hieß. Erst um die sechste Nachmittagsstunde des Hochzeitstages, wenn die Kirchenglocke zur Vesper läutete, würde die Ahne mit großer Feierlichkeit dem jungen Hochzeiter den Schlüssel übergeben. –

Mit Gott!

In all ihren freudig-wehmütigen Gedanken sah sie jetzt den Herrn Pfarrer über die Fennen herankommen. Er nahm die Richtung nach dem Mutterhof. Die Stirn der Ahne umwölkte sich.

Sie verstand die Welt nicht mehr. Wenigstens das Neumodische nicht, das nicht einmal Halt vor der Kirche machte, sondern sogar Selbstmörder in geweihte Gräber legte unter Orgelspiel und Glockenklang. Und dazu gab sich Pastor Licht her, den sie bis jetzt immer als echten und rechten Hirten geachtet hatte. Aber freilich, es war ein Ausländer. So ein Thüringer mit solch wunderlicher Sprache mußte ja auch wunderliche Ansichten haben, die ganz und gar nicht auf die Hallig paßten. Die Ahne hatte auch dem Enkel noch nicht wieder die Hand gegeben, seit Edlefs Hände den Sarg des Selbstmörders aufgehoben hatten.

Und ihr Freund, der junge Schulmeister Manne Wögens? Nein, die Ahne verstand die Welt nicht mehr, [79] und es war wohl »hohe Tid«, daß der Herrgott sie abrief. Aber erst einmal sollte »Hochtid« sein.

Pastor Licht schritt die Steinstufen zum Mutterhof heran. Schon von weitem hatte er einen Riesenschneemann leuchten sehen, und jetzt mußte er über den ungefügen Kerl lachen, der mit schwarzen Kohlenaugen und roten Ziegellippen grimmig dreinschaute und gar drohend einen festen Knüppel schwang. Einladend sah das Ganze nicht aus.

An der Steinmauer, die das Gewese einfriedigte, hörte er Kinderstimmen. Pastor Licht trat ein wenig zurück, denn nun sah er, daß Onnen und Karen etwas Wichtiges vorhatten.

Die Kinder drehten dem Besucher den Rücken, die kleine Karen hatte die hohe Friesenhaube der Mutter aufgesetzt und Onnen legte sich eine große, schwarze Schürze wie einen Talar um. Zwei Schneegruben hatten die Kinder gegraben, der große Spaten lag noch im Weg.

Die eine Grube war dicht an der Mauer, die andere unter dem prächtigen, weitverzweigten Birnbaum, der eine Zierde der obstarmen Hallig war. Karen stand vor dem Bruder. Auf ihren Armen ruhte eine längliche Schachtel und in dieser eine alte, sehr häßliche Puppe, die vielfach gekittet und geflickt, Spuren unheilbaren Leidens an sich trug. »Liebe Gemeinde«, predigte Onnen. »Ich sehe es dir ja an, daß du diesen elenden Selbstmörder unter dem schönen Birnbaum begraben willst. Aber das kann rein nicht angehen. Wer will wohl so’n Kerl zum Nachbar haben? Und der liebe Gott wird euch furchtbar böse werden. – Unterm Birnbaum da liegt [80] ja Peter Witt, den sie immer den ›Dieb‹ nannten und Pieter Martje, der seine Frau prügelte, aber sie bedanken sich schönstens, – neben ’n Selbstmörder wollen sie auch nicht liegen. Also fort mit ihm ans Mäuerchen. Amen.«

Damit packte Onnen die Puppe und warf sie in das Mauergrab.

Kläglich schrie Karen auf.

»Fix, Karen, spring nach«, gebot Onnen. »Jetzt kommt doch erst das Schönste. Du bist doch die Mutter. Du wirst doch nicht leiden, daß sie dir dein Kind an die Mauer legen. Man zu, – jetzt begraben wir’s unterm Birnbaum …«

Karen hatte ihr Kind aus der Grube herausgerettet, aber nun schrie sie Zetermordio und weigerte sich, es einem neuen Begräbnis auszuliefern. »Nein, nein, Onnen, ich trag mein Kind in die warme Stube, dann wird’s wieder lebendig. Dann brauch ich’s gar nicht herzugeben.«

Onnen war sehr mißmutig dieser schlagenden Logik gegenüber. »Du hast gar keine Phantasie«, rief er voll Zorn der Enteilenden nach. Da legte sich eine Hand auf seine Schulter und er sah dem Pastor ins ernste Antlitz. Verlegen riß er sich den »Talar« herunter.

»Mein lieber Junge,« sagte Pastor Licht, »Mutterliebe ist besser als Phantasie. Und deine Karen scheint mir eine rechte, echte Puppenmutter zu sein. Aus denen werden dann die guten Menschenmütter«, setzte er mehr für sich hinzu. »Nun zeig mir den Weg zur Ahne, mein Sohn, ich muß mich ein wenig aufwärmen bei euch. Warm wird man nicht bei Begräbnissen, ob man nun [81] unter dem Birnbaum bettet oder am Mäuerchen einscharrt.«

Onnen sah scheu nach dem Pfarrer hin. Die letzten Worte hatten gar eigentümlich geklungen, und das Gesicht des Sprechenden sah finster aus.

Drinnen im Wohnpesel wartete die Ahne. Sie hatte sich rasch ihr Gottestischkleid angezogen, um den Pfarrer würdig zu empfangen, aber sie machte nur einen tiefen, altmodischen Knix, und ihre Hände, die sich sonst immer so rasch dem Eintretenden entgegengestreckt hatten, blieben krampfhaft verschlungen.

»Ich muß den Herrn Pastoren allein empfangen,« meinte sie förmlich, »all meine Leute sind hilde zugange wegen der Hochzeit …«

»Mir würde die liebe Ahne auch ganz allein genügen«, meinte Pastor Licht. »Aber ich bin an ihr helle, freundliche Augen gewohnt, die immer eine Lampe im Wohnpesel überflüssig machten. Wo sind die beiden guten Lichtchen? Und darf ich meine zwei Hände nicht in Großmudder ihre hineinlegen?«

Die alte Frau pflückte mit ihren Fingern und sah an dem Seelsorger vorbei.

»Ich kenn mich nicht mehr aus, Herr Pastor«, sagte sie finster.

»Dann wollen wir beide recht ein Weilchen zusammenbleiben, Ahne.« Der Pfarrer setzte sich geruhig auf die Ofenbank. »Ich denk, wir sind’s beide wert, daß wir uns noch einmal wieder kennen lernen. Es wär doch schade, wenn unsere schöne Freundschaft in die Brüche ginge.«

[82]

Die Ahne hatte sich in ihren Ohrenstuhl gesetzt. Das Spinnrad holte sie, stellte es vor sich hin, netzte den Faden, und trug es ebenso rasch wieder beiseite. Das grobe Strickzeug wickelte sie aus dem Handarbeitskorb heraus, aber es lag dann müßig in ihrem Schoß. Da legte sie es in seinen Behälter zurück.

»Ja, ja, Ahne«, sagte der Pfarrer ernst. »Ich kenne das. Wenn man ärgerlich oder gekränkt ist, dann wollen die Finger zu keiner geruhigen Arbeit taugen. In solchen Zeiten steck ich mir die Pfeife an. Aber der Ahne fehlt solch Trostmittel …«

»Weshalb um tausend Gotteswillen haben Sie so etwas getan, Herr Pastor?« brach die Ahne los. »Wenn die Kirche erst mal nicht mehr feststeht …«

»Ach, die steht noch ganz fest, Ahne.« Fast leise sprach der Pfarrer. Er wollte wohl nicht, daß irgend jemand der übrigen Bewohner etwas von ihrem Gespräch vernehmen sollte. »Aber selbst wenn sie einstürzte, liebe Ahne, würde unser Herrgott nicht um eine Wohnung verlegen sein. Da ist z. B. das Herz Ihres Enkels Edlef, – das gäbe ein gutes Herrgottsstübchen ab …«

»Ich verstehe das alles nicht, was der Herr Pastor da spricht …«

»So will ich deutlicher werden, Ahne. – Wir alle, und ich leider Gottes an der Spitze, hatten neulich den lieben Gott verleugnet, – jawohl, Sie auch, Ahne, – ich kann nur ganz wenige ausnehmen, darunter mein Luischen und Mutter Claußen, aber die war ja Partei … Also da hat sich der Herrgott nach einem Obdach umgesehen, und fand Ihren Edlef. Aus dem heraus hat er [83] mich dann bearbeitet, hat mir in einer bitterernsten, schlaflosen Nacht gezeigt, daß ich tönendes Erz und klingende Schelle sei, wenn ich nicht ganz rasch die Liebe und nur die Liebe walten ließe. Ahne, ich wünsche jene Kampfnacht nicht meinem ärgsten Feinde, wohl aber den Erkenntnismorgen, der darauf folgte, jedem meiner Freunde. Ihr Enkel Edlef, liebe Ahne, sprach mir von seinem toten Schulkameraden, und jedes Wort war Liebe, – er zeigte mir die unglückliche Mutter Claußen, und jedes Wort war Liebe. – Ahne, ich sag’s nicht als Entschuldigung, daß ich im Grunde des Herzens genau so dachte wie der Edlef. Aber ich tat’s aus Gründen der Aufklärung, nicht aus Liebe. Ich wollte der Gemeinde kein Ärgernis geben. ›Wehe dem, durch den Ärgernis kommt.‹ Ach, die Bibel hat soviel Sprüche bereit, und das Menschliche in uns holt diese sich gern zur Entlastung. Die größte Sünde ist aber oft die Bequemlichkeit. Doch ich weiß genau, liebe Ahne, Gott wird am Jüngsten Tage jeden Sünder, und wir sind’s allzumal, fragen: ›Wo war deine Liebe?‹ Und dem, der viel liebte, wird viel vergeben werden. Wer aber bei Guttat oder Sünde ganz ohne Liebe war, – – über den wird der Herrgott sein ›Wehe‹ rufen.« –

»Das hört sich gut und christlich an, Herr Pastor. Aber wozu sind Eltern und Großeltern da? Hätte Mutter Claußen nicht wie in einen goldenen Kelch in ihren Peder geschaut, und die Rute nicht nur zum Spaß hinter dem Spiegel gehabt, – dann wär die Todsünde nicht geschehen.«

»Ihr Frauen, ach, ihr Frauen!« Pastor Licht wiegte [84] den Kopf hin und her und fuhr sich dann unmutig durch sein volles, graues Haar. »Ihr könnt inwendig die Güte selbst sein, könnt anderer Leid heben und tragen in völliger Selbstüberwindung. Und dann wieder seid ihr so hart. Ruft ›Todsünde‹ aus, wo ihr leicht ebensogut ›Schwachheit‹ sagen könntet.«

»Selbstmord ist Todsünde«, beharrte die Ahne. »Und der Herr Pastor tut nicht gut, an diesem alten Friesenglauben zu rütteln. Wir auf dem Mutterhof bleiben bei der alten Lehre. Ich hab dem Enkel Edlef noch nicht die Tagszeit geboten seit jenem Unheilstag, und geh auch nicht zu Mutter Claußen zur Kondolenz.«

Traurig und zornig sah Pastor Licht die Ahne an. »Hätt’s nicht geglaubt«, sagte er nach langer Pause. »Hab’ noch neulich bei einer Visitation erzählt, daß die Ahne nicht nur die älteste Frau auf unserer Hallig, sondern auch die gescheiteste und – die frömmste sei. Ich weiß, daß Sie ein paarmal die Bibel durchgelesen haben, weiß, daß Sie mehr als einmal das Kapitel vom Zöllner und Sünder durch- und durchdachten. Und nun sitzt die Ahne doch da und schlägt sich an die Brust …«

»Weiß schon, was Sie sagen wollen, Herr Pastor, und bedank mich schön für den ›Pharisäer‹. Aber in diesem Punkt kommen wir nicht auf gleich. Das ist vielleicht in Ihrem Thüringen anders …«

»Ach nein, liebe Ahne, – so arg dürfen Sie sich nicht überheben,« fiel der Pfarrer mit gutem Humor ein. »So bockbeinig wie Sie sind meine lieben Thüringer noch allemal. Da haben Sie auch nicht das geringste voraus.«

Die Ahne sah ihn unsicher an.

[85]

Pastor Licht stand auf. »Ich gehe jetzt, Ahne. Es war ein Metzgergang und sollte doch ein schöner Friedensgang werden. Nein, nein, – laßt Eure Hände ruhig im Schoße liegen und quält Euch nicht damit, mir sie widerwillig zu reichen. Ich möchte sie jetzt gar nicht nehmen. Erst wenn Ihr recht davon überzeugt seid, daß auch der Mutterhof irren kann, und Ihr Euch noch einmal recht von Herzen wünscht, neben Peder Claußen auf dem Friedhof gebettet zu werden, – dann Ahne …«

Die alte Frau fuhr in fast jugendlichem Ungestüm auf.

Dann legte sie ihre Hände doppelt fest ineinander. »So darf sich unser Herr Pastor nur das Warten nicht verdrießen lassen«, sagte sie steif. –

Da ging der Pfarrer mit wuchtigen Schritten hinaus.

Auf dem Deich begegnete ihm Edlef Holgers. Er hatte alle Kerzen der Welt in seinen blauen Augen und wohl noch die ganze Süßigkeit auf den Lippen, die ihm Maren Wögens auf den Weg mitgegeben hatte.

»Guten Tag, Herr Pastor, immer gut zu Wege?« rief er dem Seelsorger strahlend zu.

»Der Weg ist nicht so arg gut«, gab dieser grimmig zurück. »Bin rascher vom Mutterhof weggekommen, als ich hinkam bei dem beschwerlichen Schneewetter. Aber die Ahne …«

Die Lichter in Edlefs Bräutigamsaugen waren mit einemmal ausgeblasen.

»Die Ahne ist ein Dickkopf«, brach er los. »Gott verzeih mir das Wort. Sie hat mich heut aus dem Haus vertrieben, wo ich so notwendig war. Die Hand gibt sie mir nicht, das Wort gönnt sie mir nicht …«

[86]

»Dickköpfe seid ihr Holgers all«, brummte der Pastor. »Seid allen Halligbauern darin über. Denn mit denen bin ich schon wieder auf gleich, nur mit Mutter und Ahne noch nicht. Und werd’ es auch nicht. Das sitzt zu verbohrt. – Wird eine nette Hochzeit werden, Edlef, wenn wir alle so vergritzt sind. Nun, ich geb’ euch zusammen und bleib dann still in meiner Studierstube …«

»Das tut uns der Herr Pastor Licht nicht an«, sagte Edlef dringend. »Eine Hochzeit auf dem Mutterhof ohne den Seelsorger auf dem Ehrenplatz, das gibt es doch nicht.«

»So leuchte ein bißchen in die verstaubten Ecken hinein, hast ja Liebe genug in dir, gelle?« rief Pastor Licht und kam stark in seine Thüringer Mundart hinein, wie immer, wenn er erregt war.

»Die Liebe hab’ ich, Herr Pastor, die hab’ ich«, rief Edlef. »Ach, die Maren, meine Maren, – sie macht einen ja völlig zum guten Menschen.«

»Da hat sie freilich bei Edlef Holgers schwere Arbeit«, neckte der Pfarrer. »Sorg nur, daß dein junges Weib geehrt wird, Edlef. Sie springt so ahnungslos in eure Traditionen hinein, – laß sie drin schwimmen, aber nicht ertrinken, Edlef.«

»Da sei Gott vor, Herr Pastor, ich weiß schon, was Sie meinen. Aber sie kommt auch aus einem Hause mit schönen Überlieferungen und wird gut in den Mutterhof passen. Sie sagte mir heut etwas von ihrer seligen Mutter, – das Wort hat mich froh gemacht für den ganzen Tag.«

»So gib mir von deiner Freude ab, Edlef, ich kann sie für den Heimweg brauchen.«

[87]

Edlef lachte glücklich.

»Die Maren sagte mir, – in der Freude wollt sie mein Weib sein, im Leid meine Mutter

Da drückte ihm Pastor Licht die Hand. »Ihr geht einen guten Weg, Edlef und Maren«, sagte er gütig. »Das ist ein prächtiges Wort und ein prächtiger Schlag, in dem solch Wort geboren wird. Glück auf, Edlef Holgers! –«

Er verabschiedete sich grüßend, und Edlef sah ihm eine gute Weile nach. Dann ging er mit ausholenden Schritten zur Großwarf in den Mutterhof. Onnen und Karen liefen ihm entgegen und hingen sich an den großen Bruder.

»Der Herr Pastor war da«, berichtete Onnen.

»Und wir haben Selbstmörder gespielt«, setzte Klein-Karen hinzu.

»Wer?« fragte Edlef. »Ihr und der Pastor? Was für ein närrisches Spiel!«

»Nein,« seufzte Onnen, »nur ich und Karen. Aber sie hat keine Phantasie.«

»Und, und, und da hat der Herr Pastor gesagt,« fiel Karen stürmisch ein, »Mutters brauchten nicht so’n Zeug, die hätten Liebe

Da hob der große Edlefbruder die kleine Karenschwester hoch in die Luft und rief: »Hurra, unser Pastor!«

Die Kinder riefen es ihm nach, auch der überstimmte Onnen, und ihre hohe Fröhlichkeit hätte wohl noch lange angehalten, wenn die Mutter nicht mit ihrem grämlichsten Sorgengesicht auf der Bildfläche erschienen wäre.

»Ich versteh dich gar nicht mehr, mein Edlef«, klagte sie. »Da ist hier hildeste Arbeit und du läufst fort wie der Marder vom Taubenschlag. Und wenn man die Kinder [88] glücklich vor den Füßen weg hat, dann bringst du sie wieder herein und machst Kakeleia mit ihnen. Und wenn man seinen Ärger mit dem Herrn Pastor knüppeldick gehabt hat, dann rufst du Hurra auf ihn.«

»Ach, Mutter, geht’s schon wieder los?« fragte Edlef seufzend und setzte sich still in eine dunkle Ecke an den Ofen.

»Wärst du dagewesen, Edlef, hätten wir den Trauspruch besprechen können mit dem Pastoren. So hat er nur mit der Ahne geklöhnt, und mich haben sie ganz außen vor gelassen.«

»Unsern Trauspruch weiß der Pastor schon, Mutter. Den haben Maren und ich uns ausgesucht und ihm hingebracht.«

»Da bin ich aber doch begierig …« Mutter Holgers sah sehr mißmutig darein. »Denn da gibt’s gar nichts auszusuchen. Der Spruch selbst steht vom Ururgroßvater her schon fest für den Mutterhof. Er heißt: ›Seid fruchtbar und mehret euch.‹«

Edlef stand auf und klopfte ihr begütigend auf die Schulter. »So wird’s hohe Zeit, daß einmal ein anderer schöner Spruch Geltung bekommt. Die Holgers sind doch keine Juden? Denen hat der Spruch einst gegolten. Mein feines Mädchen soll ihn nicht hören am heiligen Altar.«

»Meinst, was für deine ganze Sippe heilig war, ist für die Schulmeisterdeern nicht gut genug?«

Beinahe hätte Edlef herausgerufen: »Ja, das mein ich.« Aber die jauchzende Liebe zu seiner Maren erstickte im voraus jedes Ungute in ihm. So schluckte er den Groll hinunter und lenkte ab. »Mutter, unser Spruch heißt: ›Freuet euch! Und abermals sage ich euch: Freuet euch!‹«

[89]

»Arg heilig dünkt mich der Spruch nicht. Steht er wohl auch in der Bibel?« fragte die Mutter kopfschüttelnd. »Und schrickt dich nicht die Unterlassungssünd’? Frauke Holgers hat auch den uralten Spruch nicht haben wollen, – nun du weißt, wie es ihr erging.« –

»Mutter, meinst du, daß sich der Herrgott nach Mutterhofes Sprüchen richtet?« fragte Edlef unmutig.

»Ja, das mein’ ich just,« rief Mutter Holgers hell und hart. »Und ich hab’ manches erlebt auf unserm Gewese. Jetzt stehst du da, als ob dir nichts mangeln könnt, aber wie wird’s sein, wenn Maren unfruchtbar sein sollte? Du bist ein selbstgerechter Holgers, ich kenne die Art. Und deshalb sage ich: Der alte Spruch muß her. –«

So viel hatte die Mutter seit Gedenken nicht gesprochen, und sie wendete sich jetzt auch fast erschrocken über sich selbst ab. Edlef sah sie erstaunt an.

»Warum ihr nur alle so unkt«, lachte er voll Zuversicht. »Mir hat mein Lebtag kein Faden wehgetan, und die Maren ist jung und gesund.«

»Die Maren ist gottsunmöglich zart«, eiferte die Mutter. »Ein Stadtmadämchen, kein deftiges Halligkind. – Der mag wohl der neumodische Spruch recht sein. ›Freuet euch, freuet euch!‹ Und auf solchen Juchhei wollt ihr einen heiligen, ernsthaften Ehestand aufbauen? Was gibt es denn zu freuen auf dieser Jammerwelt? Ich möcht’s wissen …«

Da legte der Haussohn seinen Arm um die Mutter und führte sie ans Fenster, das er weit öffnete. Da lag die Hallig im vollen Abendglanz der untergehenden Sonne. In Glut stand der Himmel über der salzen See. [90] Golden waren die Wolken umrandet, und die Mondsichel trat schwachsilbern heraus. Wie rote Lohe lag’s auf der Schneelandschaft, die Priele glänzten, und fern donnerte der blanke Hans gegen das Gestade.

»Weil unsere Heimat so schön ist, Mutter«, sagte Edlef Holgers. »Weil ich dich gesund bei mir habe und die Ahne. Weil Vater mir den ›Mutterhof‹ so stattlich hinterließ, all darum freu ich mich. Und weil ich einen treuen Freund habe und ein treues Mädchen, darum ist’s schön auf dieser Erde.«

Und als ihr verdrossenes Gesicht sich kaum veränderte, zog er die Mutter in einer scheuen Zärtlichkeit zu sich heran: »Könnt ich dir doch Freude geben! Das blüht alles in mir und ist voll Sonne. Du sollst nicht im Schatten stehen, Mutter.«

Da blieb Mutter Holgers eine ganze Weile still an ihn gelehnt. Und es war ihm, als schmiege sich ihr Kopf mit dem glatten Braunscheitel, in den sich schon weiße Haare mischten, freiwillig fester an seine Brust. Wie Ruhe suchend nach des Tages Mühsal und Einerlei. Aber das ging rasch vorüber. Verwirrt sagte die Mutter: »Jung, du büß wull rein dörchdreit.«

Aber es klang nicht böse, nicht einmal unwirsch. Und ein Etwas schwang mit in diesem Ausruf, das Edlef noch nie an seiner herben, unzufriedenen Mutter wahrgenommen. Da rief er noch einmal Hurra durch das offne Fenster, all sein Ernst war verflogen, er war nur der überglückliche Sohn und Hochzeiter.

»Du spielst wohl ›Unklug‹?« fragte die hereintretende Ahne. »Was soll das sperrangelweite Fenster?«

[91]

»Den Staub jag ich heraus«, rief Edlef. Und er faßte die Ahne um und reigte langsam mit ihr und sang mit schallender Stimme: »Wer die Heimat nicht liebt und die Heimat nicht ehrt, ist ein ›Llllump‹ und des Glücks seiner Heimat nicht wert.«

»Halt auf, Edlef,« rief die Ahne, »ik war jo ganz beswiemelt.«

Und sie sah auf die lachenden Kinder und in lachende Dienstbotengesichter, die zur offenen Tür hereinschauten, um die fünfundachtzigjährige »Frau Mutter« tanzen zu sehen. Da wollte sie schelten, aber sie konnte es nicht. Denn der Edlef sah so strahlend aus, und auf dem sonst ewig grämlichen Gesicht der Mutter Holgers lag ein letzter Sonnenschimmer und verklärte es. –

»Geht an die Arbeit«, gebot die Ahne. Und sie drohte Edlef mit dem Finger und ging mit seiner Mutter aus der Stube. Die sah den Sohn gar nicht an.

Er aber lachte hell hinter ihnen drein.


Noch am Abend desselben Tages kamen Ahne und Mutter in Edlefs Stübchen. Drin saß der Enkel und las in seinem Lieblingsbuch »Friedrich der Große«. Die Ahne streifte es scheu mit einem Blick. Ihr hätte die Bibel passender für einen Hochzeiter gedünkt.

Er sah erstaunt auf ob des ungewohnten Besuches, der mit einer gewissen Feierlichkeit eingetreten war. –

»Mein Edlef,« sagte die Ahne mit nicht ganz fester Stimme, »Mutter und ich wollen dich fragen, ob du ein echter Halligbauer bist?«

[92]

»Der bin ich, Ahne und Frau Mutter, zweifelt ihr daran?«

Ein erleichtertes Aufatmen hob die Brust der Ahne.

»Mein Edlef,« begann sie wieder, »es ist unsere Pflicht und unser Wunsch, daß deine Hochzeit auf alte Halligart gefeiert wird …«

Ein wenig runzelte Edlef die Stirn und um ein weniges verfärbte er sich.

»Ich weiß,« sagte die Ahne, »daß dem Jungvolk der alte Zopf nicht mehr genehm ist. Vielleicht rümpft auch die Braut die Nase und sieht scheel auf alte Gebräuche. Sie ist kein reines Halligblut …«

»Der kennt meine Maren nicht, der meint, sie achte nicht Überlieferungen«, sagte Edlef rasch. »Aber da ist manches, was gar nicht mehr in unsere Zeit hereinpaßt …«

»So meint ihr . Aber der Mutterhof hat seine Ansicht für sich.« Die Stimme der Ahne zitterte. »Für mich würd’ es Schmach bedeuten, brächtest du dein junges Weib auf neumodsche Art unter dein Dach. Als hätt’ euch der Kuckuck getraut …«

Sie legte einen Augenblick, wie in Schwäche, die Hand über die Augen. Dann wandte sie sich zum Gehen. »Willst du Bedenkzeit, Edlef? Du hast nur wenige Stunden dazu. Morgen mit dem frühsten müssen die Hochzeitsbitter fort. Ohm Rickert wird dir in allem zur Seite stehen als nächster männlicher Verwandter. Soll ich ihn dir schicken? Oder …« Sie sah ihn unsicher an.

Da legte er den Arm um sie und umfaßte zugleich die Mutter. –

[93]

»Ahne und Frau Mutter, macht mit uns, was ihr wollt. Nur zusammen tut uns, meine Maren und mich. Aber wenn ich euch nachgeb’, dann müßt ihr mir auch zu Willen sein und Frieden mit dem Pfarrer machen …«

Die Großmutter sah ihn ernst an.

»Noch bin ich die Ahne«, sagte sie herb. »Und noch lebt deine Mutter. Du bist Jung -Edlef, vergiß das nicht …«

Dann war er allein. Verblüfft sah er ihnen nach. Aber der gute Humor behielt die Oberhand. »Sie meint’s gut«, rief er sich selbst zu. »O du meine feine Maren, wie wirst du erschrecken, wenn all das närrische, alte Halligtreiben über dich hereinbricht. Aber sollt ich der Ahne weh tun? Und der Mutter? Und auf meinem Kopf bestehen?«

Er stellte sein Buch in das schlichte braune Regal zurück, nicht ohne vorher liebevoll über die Seiten zu streichen.

»Du Großer! Wie hast du dich ducken müssen! Wie hat man dich geknechtet und gequält! Geschlagen und geschunden! Und doch bist du immer wieder zum harten Vater gekommen und hast um Verzeihung gebeten, weil du streng das vierte Gebot hieltest. ›Auf daß es dir wohl gehe …‹ Ja, du warst wahrlich ein Großer ! Und als man deinen liebsten Freund vor deinen Augen erschoß – – selbst da bliebst du groß, einzig! Und auch der tote Freund hinterließ dir nur das Wort ›beuge dich!‹ – Und ich, – ich Kleiner, ich ›Wittenslicht‹ sollte aufbegehren?«

So philosophierte Edlef und philosophierte sich »bei [94] klein« in seinen guten Anzug hinein, denn er mußte ja nun notwendig noch einmal zu Maren, um die neue Hochzeitsordnung mit ihr zu besprechen. –


Andern Tags in aller Frühe kamen die Hochzeitsbitter mit eilfertigen Riesenschritten zu den angesehensten Halligbauern gelaufen. Sie schwenkten ihre Stäbe und riefen vor der Haustür mit gellender Stimme: »Göh Dai! Göh Dai!« (Guten Tag, Guten Tag!) Dann öffneten sie selbst die Stubentür, und kaum verständlich schrien sie gleichzeitig ihre Einladung heraus: Edlef Holgers und sin Brud Maren Wögens leht Jam badde Datt am söh wohl dühn en kamme en Freidai en fuhn watt Deerds mä. Fahre wohl, kam fliitig tho öhs. [1]

[1] Edlef Holgers und seine Braut Manne Wögens lassen euch bitten, daß ihr so gütig seid und kommt auf den Freitag und nehmt das Mittagmahl mit ihnen. Gehabt euch wohl! Kommt fleißig zu uns!

Anm. der Verfasserin (nach Jensen.)

Ganz rasch entfernten sie sich wieder, nachdem sie den Dank der Eingeladenen zugerufen bekommen hatten. Auf der Schulwarf aber wurden sie mit einem Ehrenschuß begrüßt, was der eine mit einem zierlichen Tanz erwiderte. Denn Manne Wögens hatte viele Freunde unter den Eltern und Kindern, und man freute sich, daß seine feine Schwester auf den reichen Mutterhof kam. So tat die Nachbarschaft der Schule der Einladung alle Ehren an, die der alte Brauch heischte.

Maren saß etwas blaß im Wohnstübchen des Lehrerhauses. Der Bräutigam und seine Schwester Nomine [95] waren ihre Frühstücksgäste, und Bruder Manne hatte eben um elf Uhr seine kleinen Studenten entlassen und konnte sich nun den Gästen widmen. Das gellende »Göh Dai, göh Dai« der Hochzeitsbitter drang auch ins Schulhaus und Maren fuhr zusammen.

»Verzeih«, sagte sie gleich darauf lieblich bittend zu Edlef. »Ich bin nicht städtisch-schreckhaft, – es ist nur – ich bin’s nicht gewohnt, Mittelpunkt irgendeiner großen Veranstaltung zu sein.«

Sie barg ihren Kopf an Edlefs Schulter.

»Hört, hört«, rief Manne Wögens. »Als ob sie nicht seit vielen Jahren der Mittelpunkt meines Hauses ist. Aber Bruderliebe wird nicht für voll gerechnet …«

Gleich hing sie an seinem Halse. »Wie du so reden kannst …«

Er führte sie lachend wieder zum Bräutigam. » Da ist dein Platz. Ruh’ dich nur aus, Kleines. Denn in den nächsten Tagen hast du nicht viel zu sagen, trotzdem du die Hauptperson bist. Nichts als dein Ja . Sprich es hübsch deutlich, sonst sagen die Bauern, du seist gezwungen worden. Sprich’s aber auch nicht zu laut, und steh’ nicht zu rasch aus dem Gestühl auf, wenn Edlef seine Verneigung macht, denn sonst sagt man dir nach, du könntest die Zeit nicht erwarten.« – Er lachte behaglich. »Ach, die lieben, alten Bräuche! Ich bin der Ahne dankbar, daß sie sie aufleben läßt. Das ist was für mein altes Schulmeisterherz.«

»Nun für meins nicht«, warf Nomine Holgers hart dazwischen. »Ich finde alles barbarisch. Ganz böse bin [96] ich mit Edlef-Bruder, daß er der Ahne nachgab und seinen Schatz so quälen läßt.«

Edlef sah die Schwester betroffen an, und Maren wehrte ihr ängstlich. »Nennst du das Quälerei?« fragte Edlef. »Ich hab’ es mehr als lustige Komödie aufgefaßt, die mir eigentlich nicht recht zu passen schien auf meines Herzens Feiertag. Aber, wenn Ahne und Mutter nicht zu alt sind zu diesem Mummenschanz, warum sollen wir Jungen uns sträuben? Ich tue Ahne und Mutter einen Liebesdienst und bin Maren dankbar, daß sie mir dabei hilft.«

»Kaum einer tut’s noch auf der Hallig«, sagte Nomine. »Aber ausgerechnet der Mutterhof muß immer was Besonderes haben. Wer soll damit aufräumen, wenn wir’s nicht tun. Und wann wird’s endlich geschehen?«

»Wenn Sie einmal Ihren Stadtprofessor heiraten, Fräulein Nomine«, entgegnete Manne Wögens ernst. »An dem Tage bringt der Postschiffer eine gedruckte Karte nach der Hallig, die meldet uns, daß Sie in Kiel oder sonst in einer Großstadt auf dem Standesamt waren. Im modischen Kleid und Hütchen. Ohne ›Geschmeide‹, ohne ›Koost‹ am Vorabend, ohne ›Kuckuck- oder Schustertanz‹. Kurz, ohne jede ›Barbarei‹.«

»Wie Sie gut Bescheid wissen, Manne Wögens.«

»Dafür bin ich Schulmeister. Immer wohl vorbereitet, wie sich’s gehört.« Nur Nomine hörte die Bitterkeit aus den Worten, dem Brautpaar schien alles Scherz zu sein.

»Also, Edlef, ich verstecke dir morgen die Braut nach allen Regeln der Kunst.« So der Lehrer. »Kannst von Glück sagen, wenn du sie überhaupt findest.«

[97]

»Auf dem Oberboden, hinter der großen Truhe hocke ich«, flüsterte Maren dem Schatz errötend zu. »Komm nur rasch hinauf, es gibt Mäuse zum Bangewerden viel da oben.«

»Du Herzlieb«, raunte Edlef zurück. »Alle Stufen nehm ich auf einmal. Ach, daß du so gar nicht der Ahne zürnst ob all der Narretei.«

»Nenn’s doch nicht so«, bat sie herzlich. »Du bist doch ein Halligbursch. Ich rechne alles zu dem ›Weg‹, der zum Glücke führt. Nicht das Ziel allein, der Weg ist auch so schön.« Er sah sie selig an.

»Wenn ihr wieder auf Mutter Erde seid, wollen wir gehen«, weckte Nomine sie auf. »Komm pünktlich morgen abend zur ›Koost‹. Und bringt einen Halligmagen mit. Pudding und Saftsuppe, Schinken und Weißbrot gibt es. Auch darin will die Ahne der Neuzeit keine Zugeständnisse machen.«

»Nein,« lachte Manne Wögens, »dann wäre sie nicht die Ahne. Sie hält die Halligkost für sinniger und schöner als einen Stadtpolterabend, und ich weiß, sie wird eigenhändig für ihren Edlef dem Festschinken die Schwarte abziehen und in das weiße Fett den Namenszug des Brautpaares mit Pfefferkörnern drücken. Und ich wette, das rote Seidenband liegt bereit, um den hervorstehenden Schinkenknochen mit einer Schleife zu zieren. – Und meine Schwester Maren wird den schönsten Mastbaum vor dem Hochzeitshause finden und alle Ehren werden ihr von der Ahne widerfahren.« –

Nomine sah den Sprecher erstaunt an. »Sie sagen [98] das alles, als wären’s besondere Taten. Warum kann ich mich für all dies Abgestandene nicht begeistern?«

»Weil Sie angekränkelt von der Stadt sind«, antwortete Manne. »Sie haben Ihre schöne Halligruhe verloren. Alles was aufhält und nicht vorwärts hastet, macht Sie nervös. Die alten Bräuche fordern Besinnlichkeit. Die haben Sie über Bord geworfen, als Sie Prinzessin wurden.«

»Sie sind ja nett drin im Dozieren, Schulmeister Wögens,« lachte Nomine gezwungen auf. »Wissen Sie auch, daß Sie bar jeder kleinen Höflichkeit gegen mich sind?«

Dem Lehrer schlug eine Lohe übers Gesicht.

»Und darf ich Sie, Nomine Holgers, daran erinnern, daß Sie mir vor Jahren einmal sagten: Wenn du jemals höflich zu mir wirst, Manne Wögens, dann werf’ ich dich zur Flutzeit in den Priel?«

Sie schwieg betreten.

»Was Sie für ein Gedächtnis haben«, sagte sie ablenkend. »Und immer für alles Dumme, was ich je gesagt.«

»Ohhh! Sie haben doch nach Ihrer Meinung auch viel Gescheites gesagt. Auch das habe ich nicht vergessen, – und werd’s nie tun. Hören Sie? Nie !« Er sah sie fest an.

»Dafür hab ich’s ja auch einstmals gesagt«, gab sie rasch und feindselig zurück.

Nun standen alle auf. Maren sehr bestürzt, daß die zwei lieben Menschen so erregt die Klingen kreuzten. Sie legte begütigend ihre Hand auf den Arm des Bruders. Da lachte er.

[99]

»Ohne Sorge, Lütten! Fräulein Nomine und ich sind immer Kampfhähne gewesen. Die tun nicht gut zusammen im kleinen Halligpesel …«

Einen Augenblick nur legte Nomine ihre Hand in die Rechte des Lehrers. Auch Edlef verabschiedete sich rasch, denn er merkte, da wollte nichts Friedliches mehr aufkommen. Fest umschloß er Marens Hand und sagte, sie zärtlich anschauend: »Morgen abend zur Koost!«


Zwei Tage darauf blaute ein klarer Himmel, so recht der siebente Himmel, auf die Hallig nieder. Maren war schon früh aufgestanden und rieb sich die Augen. War noch ein wenig müde von dem vorhergegangenen Abend. Hin- und Rückweg waren beschwerlich gewesen bei dem Frost. Aber hell hatte der Mond geschienen und im Mutterhof war groß Freuen gewesen. Von den Nachbarwarfen hatte niemand gefehlt, ja selbst Vadder Luersen war von der Schulwarf gekommen, hatte aber nur still und bedrückt hinter seinem Glase Wein gesessen, mit Ohm Rickert zusammen. Und dieser hatte mit Kreuz- und Querfragen aus ihm herausgeholt, daß Akke eine »staatsche« Hamburger Agentenfrau sei, deren ältlicher Mann sie in Samt und Seide wickle. Akkes Mutter sei augenblicklich auch in Hamburg, um das unerhörte Glück der Tochter zu beaugenscheinigen, und deshalb habe er sich zur »Koost« freigemacht, um endlich einmal aus »all dem Lüttkinner- und Weegenkram« herauszukommen.

»Dat’s recht, Nahwer Luersen.« Und die ganze »Koostversammlung« hatte mit dem stillen Manne angestoßen. [100] – Maren wußte längst, daß die erste Braut ihres Edlef Akke Luersen gewesen war. Aber sie sah mit so klaren Augen in die Welt, daß auch nicht der Schatten eines Mißtrauens ihr Herz beschwerte. Dem geliebten Manne all das Unbehagen des ersten Verspruches vergessen zu machen, war ihr einziger Wunsch. –

An diesem Frühmorgen ihres Hochzeitstages, da der Bruder drüben noch schlief, überdachte sie noch einmal den gestrigen Abend, dachte an den alten Tanz, den zwei Halligburschen und zwei Halligmädchen der Ahne zulieb und ihr selbst zu Ehren ausgeführt hatten. Der Vorsänger hatte dazu das »Kuckuckslied« angestimmt:

»De Kuckuck över Thore steiht, de floggt to de Goolsmaats Hus,
Herr Goolsmaats, no mag mi um en Kroonzelein.
Mags du mi en smukken Kroonzelein,
So kommst du mit to Koost.« [2]

[2]

Der Kuckuck auf dem Turme steht, der fliegt zum Goldschmieds Haus.
Herr Goldschmied, machst du mir um ein Kränzelein.
Machst du mir ein schönes Kränzelein,
So kommst du mit zur »Koost«.

Anm. d. V. (nach Jensen.)

Und die vier Tänzer hatten sich kreuzweise ihre Hände gereicht und sich immer auf demselben Fleck gedreht und geschwungen, und über der Ahne altes Gesicht war ein helles Leuchten gegangen. – Maren dachte mit hoher Freude an dieses Leuchten und daß sie in ein Haus voll alter, schöner Bräuche kam. –

Jetzt hörte Maren, wie drüben der Bruder aufstand, und sie warf rasch ihr schlichtes Hauskleid über und breitete [101] den Hochzeitsstaat auf ihrem Bette aus. Liebevoll strich sie über das schwarze Atlasgewand. Sie hätte sich wohl auch gern in schneeiges Weiß gehüllt, aber der vor ihr liegende schöne Stoff stammte vom Brautkleid ihrer Thüringer Mutter. Das hätte Maren nun und nimmer verschmäht. Die Mutter war aus einer alten Organisten- und Lehrerfamilie hervorgegangen, und über Marens geblümtem Zitzsofa hing die lange, stattliche Ahnenreihe in Schattenrissen und Wasserfarbenbildern. Das eine Bild trug sogar ein Lorbeerkränzlein. Das war der Magister Krischan Haage aus Eisenach, der sogar dem Johann Sebastian Bach einmal – die Bälge getreten hatte.

Draußen ging die Haustür, man hörte einen Freudenausruf der Magd, und nun trat Maren ans Fenster, öffnete es und schaute hinaus. Da ragten zu beiden Seiten des Schulhauses zwei hohe Mastbäume mit wehenden Fahnen, umkränzt von dunklem Tannengrün. Maren wurden die Augen feucht und ihre Hände falteten sich. Gestern abend hatten die Bäume noch nicht gestanden, – welche Heinzelmännchen waren da tätig gewesen? Und wie hatte sie jedes Geräusch so verschlafen können? Das machte wohl die innere Ruhe, die ihr das sichere Glück von Edlefs Besitz gab. Edlef Holgers! Wie sie ihn liebte! Ganz Friesin wollte sie werden, ganz Halligfrau. Ahne und Mutter wollte sie betreuen, und der Mutterhof sollte wachsen unter ihrer fleißigen Hand.

Wieder ging die Haustür, und Schritte kamen die Treppe herauf an ihre Kammer. Dann sah sie in ein gütiges Frauenantlitz. »Tanten Frauke!« rief Maren erfreut.

[102]

»So scheine ich ja das Rechte getroffen zu haben«, sagte diese und schüttelte Marens Hand. »Ich wollte nicht, daß die Magd dich ankleiden sollte, und im Mutterhof hat man doch alle Hände voll zu tun. Nimm die Alte einstweilen als Brautführerin, willst du?«

»Niemals könnt ich mir eine Liebere wünschen.« Sehr herzlich klang Marens Stimme. »Eine Mutter hab’ ich nicht mehr, und Mutter Holgers stellt sich noch fremd zu mir …«

Tanten Frauke begann Maren die Hochzeitsstrümpfe und festen Schnallenschuhe anzulegen.

»Weil deine Mutter Ausländerin war«, begütigte sie. »Das begreift und verzeiht so rasch kein Halligeingeborener. Ich hab’s am eigenen Leib erfahren. Und doch kommt’s der Hallig zugute, wenn wir fremdes Blut hereinbekommen … Aber ist das auch ein Gespräch am heiligen, frohen Hochtidmorgen? Vor allen Dingen wollt ich dich nicht allein lassen, mein Deern, wenn der Bräutigam dich suchen kommt. Es wird ein tüchtig Ringen abgeben, die Burschen von der Schulwarf halten bannig Widerstand. Sogar die großen Schüler von deinem Bruder haben sich zu den ›Junggastern‹ gesellt.«

»Der arme Edlef! Wie muß er mich sauer verdienen!«

»Das schadet nichts«, lachte Tanten Frauke, und Maren sah erstaunt, wie das verhärmte Gesicht der Einsamen sich in der Freude lieblich verklärte. »Kind, Kind, was hatten in früherer Zeit die Mannsen auf unserer Hallig auszustehen, ehe ihnen die Braut zugesprochen wurde. Das war so schlimm, daß einmal ein Brüjam [103] noch vor der Kirchtür umgekehrt ist. Zerrungen und verprügelt kam er dort an und sollte nun noch über ein hochgespanntes Seil springen. ›Ne, dat is se mi nich wert‹, hat er gesagt, und ist heimgegangen. Freilich mußte er auch gleich sein Bündel schnüren und auswandern, sonst hätte man ihn gefemt.«

»Und die arme Braut?« fragte Maren teilnahmevoll.

»Kind, die nahm einen andern. Am selben Tag, ja zur selb’ Stund’ war ein Ersatz da. Ich bitt’ dich, Kind, – man will doch das Hochzeitsessen nicht umsonst gekocht haben.«

Maren wußte nicht, ob das Ernst oder Scherz oder Bitterkeit war. Tanten Frauke hatte den Kopf zur Erde geneigt und nähte am Saum des Hochzeitskleides ein paar Stiche. –

»Und sind sie glücklich geworden?« fragte Maren beklommen.

»Glücklich? Kind, Kind, nimm keine überspönigen Stadtbegriffe hier auf die Hallig mit. Sie haben ehrbar miteinander gelebt, das ist Glück. Sie haben viele Kinder geboren, so viele, daß die Eltern über dem Jüngsten den Ältesten aus den Augen verloren. Aber sie nennen es ›Glück‹. Was aber du und dein Edlef Glück nennt …«

Tanten Frauke schwieg, und ihre Lippen waren weiß, so fest schlossen sie sich aufeinander.

Nun hob sie den Brautkranz aus künstlichen Myrthen hoch, daran der zarte Schleier befestigt war. Schon etwas gelblich angehaucht schien das duftige Gebilde, denn von der Hochzeit der Mutter her lag es in wohlverwahrter Truhe. Aber die breite Kante ringsherum war feinste [104] Nadelarbeit, und Tanten Frauke prüfte sie in ehrlicher Bewunderung. Ein helles Rot der Freude schoß in Marens zartes Gesicht. »Ich bringe ja dem Edlef so gar nichts mit,« gestand sie zagend, »aber dieser Schleier ist mit fünftausend Mark eingeschätzt worden, es ist mein Stolz …«

»Du Närrlein! Dein Thüringer Herz ist ebenso viele Millionen wert. Aber für die Ahne und besonders für Edlefs Mutter schadet es nichts, wenn ich die Tatsache im Mutterhof ein wenig verbreite.« Tanten Frauke stellte sich prüfend vor die Braut hin. »Schön bist du, Maren Wögens«, sagte sie laut und ehrlich. »Dein Edlef wird dich mit Jubel umfangen.« Und in tiefem Ernst setzte sie leise und dringlich hinzu: »Aber bete, Maren! Bete unablässig, daß Gott deinen Leib segnen möge. Der Mutterhof birgt zwei Dinge. Ein Himmelsdach für die alte geschnitzte Wiege in der Abseite eures Schlafpesels und – die Hölle für die Unfruchtbaren.«

Wie eine finstere Norne stand die Sprecherin da, ihre Augen sahen unheilvoll und vergrämt zugleich aus, und hatten doch eben noch mit bewundernder Liebe auf der Braut geruht. Maren faßte bebend ihre Hand.

»Edlef und ich haben uns unsäglich lieb«, sagte sie, als sei mit diesem Geständnis der ganze Zukunftshimmel wolkenlos geworden. Bitter lachte Tanten Frauke auf. Dann raunte sie, dicht an Marens Ohr geneigt: »Niemand konnt sich so über alles Verstehen lieb haben wie Tedje Holgers und ich. Lachend gingen wir zu Bett, und singend vor Tau und Tag an das Tagewerk. So viel Sonne hat noch nie auf die Hallig geschienen als in jenen [105] Jahren. Und konnt mich doch verlassen, konnte die Hand gegen mich aufheben im zwölften Jahre unserer Ehe, als er sah, die Wiege würde für immer leer bleiben in unserer Kammer. Kind, Kind, – möcht’ es dir erspart bleiben, daß dein Herze ruft und schreit und hungert und dürstet nach Liebe und keine Antwort bekommt. Hölle! Hölle!« Tanten Frauke schwieg erschöpft. Dann hub sie wieder an: »Nicht daß er sich zu einer anderen gewendet hätte, o behüte Gott, das tut kein Holgers. Er wär’ auch sonst dem ›Rügenopfer‹ verfallen. Denn kein Land wahrt so streng das sechste Gebot wie die Hallig. Aber Herz und Leib hat er mir verfemt … Einmal, da schien’s, als kehrt er zu mir zurück, – aber da war’s der Ahne zu viel mit dem ›verliebten Getu‹, und sie holte ihn von mir fort, schickte ihn zur Nacht zur salzen See. Die nahm ihn und behielt mein Glück …«

Maren faßte erschüttert beide Hände der Erzählerin, die wie zerbrochen im Stuhl lehnte.

»Wie seltsam und grausam wird mir mein heiliger Tag bereitet«, dachte Maren. »Wenn doch mein Edlef käme, oder Bruder Manne!«

Da tönte verworren Geschrei von draußen herein, und gleichzeitig zeigte sich Manne Wögens’ ernst-frohes Gesicht im Stübchen. »Edlef kommt!« rief er. »Er hat uns überrumpelt, der Hochzeiter, – flink, Maren, flink auf den Oberboden. Ei der Tausend, wie bist du schön, Schwesterlein. Nimm fein den Schleier zusammen, daß er dir nicht zerreißt.«

Er schob Maren liebevoll drängend zur Tür hinaus und gewahrte in seiner geschäftigen Eile gar nicht die [106] tiefe Erregung der Frau, die in der Stube saß und die sich jetzt erst zu fassen schien. Er begrüßte sie eilig, und zugleich schob sich hinter ihm eine wunderliche Gestalt herein. Ein alter, kümmerlicher und krummer Knecht war es, der hie und da Botengänge für den Schulmeister tat, wichtige Schriftstücke zum Pfarrer oder Gemeindevorsteher trug, im übrigen so um Gottes willen von Manne Wögens erhalten wurde. – In gewöhnlichen Zeitläuften ein über die Achseln angesehenes Häuflein Elend, gehörte er heute mit zu den Hauptpersonen, denn er mußte den ungeduldigen Bräutigam »aufhalten«, mußte ihm als »falsche Braut« verkleidet mit närrischen Worten bedeuten, daß er, der Knecht, die Auserwählte sei, und daß er gern bereit wäre zur Kirche und in die Kammer mit ihm zu wandern. –

Draußen auf der Warf flogen lustige und auch wilde Worte hin und her. Die ganze Freude, aber auch die ganze Derbheit der Friesen kam zum Ausdrucke in dem Jubel, daß endlich einmal wieder eine rechte Hallighochzeit zugange war.

Aber Edlefs Kraft und Gewandtheit kürzte sieghaft die ihm zugedachte Wartezeit ab, und vor dem Draufgängertum der »Haltjunkengänger«, die sich Edlef von den andern Warfen mitgebracht hatte, mußten die von der Schulwarf sich ergeben. – Lachend und erhitzt, leicht verlegen stand Edlef Holgers im Wohnpesel des Schulhauses. Er wehrte die »falsche Braut« mit heiterem Abscheu von sich fort, warf ihr ein Goldstück zu und lief mit Sturmschritten nach dem Oberboden.

Dort richtete sich die bräutliche Maren hinter der Urvätertruhe [107] auf und stand recht wie ein liebliches Heiligenbild in all dem bunten Gerümpel ringsumher. Edlef Holgers zog seinen geschmückten Brauthut tief zur Erde.

»Du!« stammelte er. Und nach einer Weile: »Willst du mit mir gehen, Jungfrau Maren?«

»Bis in den Tod!«

Da hob er sie über die Truhe empor und hielt sie an sich gepreßt.

»Haben sie dir weh getan?« fragte sie nach einer Weile zärtlich. »Die Raufbolde! Ich hörte den Lärm bis hier oben und fürchtete mich entsetzlich. Du bekommst keine tapfere Frau, mein Edlef. Oh, oh,« unterbrach sie sich und haschte nach seiner linken Hand, – »was ist das?«

»Nichts, nichts, eine Schramme«, wehrte er ab. »Der Bruder von Akke Luersen hat sie mir versetzt. Sieh, mein Feines, das ist mir wie eine Buße …«

Maren hielt die verletzte Hand sorglich in der ihren. Mit einem mütterlichen Ausdruck beugte sie sich darüber und küßte die Wunde.

»Du Engel!« stammelte Edlef. »Herrgott, ich will dich hüten! Wirst du auch nicht zu fein für mich sein, mein Lieb? Ich bin ein Bauer, – – Maren, Maren! –« Selbstvergessen hingen sie Mund an Mund.

Da begannen die Kirchenglocken zum erstenmal zu läuten.

In süßer Scham stand die Braut vor dem Liebsten.

»Komm, Jungfrau Maren«, sagte Edlef zärtlich.

Er geleitete sie die Stiege hinunter, und drunten empfing sie Manne Wögens und küßte sie auf die Stirn.

[108]

»Geh mit Gott«, sagte er bewegt. Und zu Edlef wandte er sich und faßte seine Rechte: »Ich gebe dir den Schatz des alten Lehrerhauses, meine junge Schwester. Halte sie hoch!« Ernst sahen seine Augen in die des Haussohnes vom Mutterhof. Freimütig gab Edlef den Blick zurück.

Auf der Vordiele stand Ohm Rickert im langen Festrock, den schwarzen Hut mit buntem Band und Strauß geschmückt.

»Ich soll die Jungfrau Braut aus der Hand des Vater Wögens oder dessen Stellvertreters empfangen und soll ihr sagen: ›Du bist willkommen, Jungfrau, auf dem ehrbaren Mutterhof.‹«

Da führte der Lehrer seine Schwester ihm zu und sprach: »Die Ehre des Lehrerhauses lege ich in die Hände und Wände des Mutterhofes.«

Ohm Rickert empfing Marens Hand und führte die Braut wieder zu Edlef Holgers zurück. – An dessen linker Seite harrte Nomine Holgers, die Brautführerin. Sie hatte die alte Friesentracht angelegt und stand seltsam hoch und schön auf der Diele des Lehrerhauses. Manne Wögens’ Blick ruhte eindringlich auf ihr. Da senkte sie tief den Kopf und raunte: »Edlef, laß uns gehen.«

Der Brautzug schritt nach der Rechtswarf. Dort wohnte der Gemeindevorsteher, der sie standesamtlich verbinden sollte. Ketel Boon empfing sie mit viel Feierlichkeit und Würde. Sein Bewußtsein »von Rechts wegen« Hauptperson zu sein und mindestens neben dem Pfarrer, wenn nicht gar über ihm zu stehen, leuchtete aus seinem würdigen Gesicht. Auch er war schon im Festgewand, denn [109] er und seine Frau gehörten zu den Eingeladenen, die das Hochzeitsmahl teilen sollten. Gleich nach der Namensunterschrift erschien die »Frau Gemeindevorsteher«, und der Zug ordnete sich wieder und schritt zur Kirchwarf. Hell riefen die Glocken über die Fennen, und eine klare, leuchtende Wintersonne sandte ihre Strahlen in den Brautkranz von Maren Holgers, geborenen Wögens.


Pastor Ephraim Licht wartete an der Friedhofspforte und streckte dem jungen Paar beide Hände entgegen.

Und als Edlef und Maren die ihren hineinlegten, waren sie wie in einem behaglichen Nest, denn die Pastorin legte ihre Hände mit obenauf. Und machte ein so fröhliches Gesicht dazu, als wäre sie ein Kind und wollte gleich anfangen zu spielen: Fru Nachbarn, borgen Se mi ehren Höhnerkorb! Dabei rief sie immer »Gottes Segen! Gottes Segen!« und schaute die beiden in strahlender Mütterlichkeit an. Dann schritten sie in die Kirche, wobei Brautjungfer Nomine diesmal zur Linken der Braut gehen mußte, um später an der Hochzeitstafel den Platz wieder zur Linken des Bräutigams einzunehmen. Maren setzte sich still in das Gestühl hinein, während Edlef bei den Seinen stehen blieb, bis Pastor Licht ihm winkte.

Da ging er festen Schrittes an das Gestühl heran. Und als er in all seiner Kraft und männlichen Schönheit harrte, den feurigen Blick auf seine schmucke Deern gerichtet, da vergaß Maren völlig die guten Lehren ihres Bruders Manne. Und sie sprang rasch auf und folgte dem Bräutigam eiligst.

[110]

Als es ihr hinterher zum Bewußtsein kam, wollte sie freilich schämig zurückweichen, aber da hatte er schon ihre Hand gefaßt und ließ sie nicht mehr los.

Pastor Licht war auch voll Freude. Denn da die Ahne eine Hochzeit mit alten Gebräuchen verlangt hatte, so deckte es sich diesmal mit der oft und gern geübten Thüringer Sitte, beim Segen die Ringe zu wechseln.

» Freuet euch! Und abermals sage ich euch: Freuet euch! «

Manne Wögens zog alle Register seines Harmoniums. Es war ein Jubilieren, daß den Hochzeitsgästen das Herz groß und weit wurde. Dann schwieg die Orgel, und Manne Wögens ertappte sich nun beim Lauschen der herzerfrischenden Traurede auf dem Gedanken, ob der ernste, würdige Pastor Licht nicht am Ende sein fröhliches, rundes Luischen zur Arbeit dieser Festpredigt mit herangezogen habe. –

Beim Heraustreten aus der Kirche begrüßte die Braut ein Ehrenschuß, dann setzte sich der Zug nach der Großwarf in Bewegung, und nach einer Viertelstunde empfing sie die Ahne an der Schwelle des Mutterhofes. Hei, wie die Fahnen auf den bekränzten Mastbäumen grüßten und winkten!

Beinahe wollte Alle die Rührung übermannen, als die Fünfundachtzigjährige die junge Frau feierlich einholte und ihren Spruch sagte. Aber Ohm Rickert drängte sich an die Braut und fragte: »Sollen wir dich nachher aus der Ecke tanzen?«

Da wich sie erschrocken zurück, und die Ahne mußte schelten über die Störung.

[111]

»Was wollt Ihr, Ahne,« murrte er, »der Eckentanz ist echter Halligbrauch!«

»Jawohl, aber ein garstiger. Und ich will, daß nur die guten Bräuche nicht vergessen werden. –«

»Ein Tanz mit ›gezuckertem Köhm‹ ist allstunds was Gutes «, bemerkte Ohm Rickert grimmig. »Wenn Ihr aber nicht wollt …, so begeben wir uns jetzt zu Tische. –« Irgend etwas Unbotmäßiges brummelte er dann noch hinter der Ahne drein.

Die Hochzeitstafel war mit Tannengrün und reichlichen Wachskerzen weihnachtlich geschmückt. Ganz am Ende des Tisches war, alter Sitte gemäß, für das Hochzeitspaar gedeckt. An der Brautseite saßen in langer Reihe die eingeladenen Frauen. Ihnen genau gegenüber die Männer. Pastor und Pastorin dicht neben den Neuvermählten. Viel gesprochen wurde nicht. Ein paar karge Worte fielen über das Wetter und über die Möglichkeit, daß das Umspringen des Windes eine Sturmflut bringen könne.

Melenke meinte, selbst Sturmflut sei besser als die Halliglangeweile. Da traf sie ein Zornblick der Ahne. Mutter Holgers aber war heut in rechter Feiertagsstimmung. Sie sah immer ihren Edlef an, der so schmuck in seines verstorbenen Vaters Hochzeitsrock auf dem Ehrenplatz saß. In ihren Augen lag noch immer der fröhliche Schein, den sie trugen, als der große Sohn sie vor einigen Tagen zum erstenmal an sein Herz genommen. Das vergaß sich nicht so leicht. – Als die Saftsuppe gegessen war, erschien ein altes Ehepaar aus der Nachbarwarf und sang dem jungen Paar ein wunderliches Lied.

[112]

Tief senkte Maren ihr erglühendes Gesicht, während Edlef mit leichtgerunzelter Stirn geradeaus schaute:

»God dün ju Börne, wo du hew wünschked,
Dat iirst Ihr en jongen Prinz,
Dat öbre Ihr en Apel rund,
Dat treet Ihr en jong Dochter in de Skud,
En denn von Ihr to Ihr sö long dat 25 sen.
All 25 an een Disch,
Denn wiit de Wüf, wat Hussholn is.« [3]

[3]

Gott gebe euch Kinder, wie ihr habt gewünscht,
Im ersten Jahr einen jungen Prinz,
Im andren Jahr einen Apfel rot,
Das dritte Jahr eine Tochter in den Schoß,
Und dann von Jahr zu Jahr, bis es 25 sind.
Alle 25 zusammen an einen Tisch,
Dann weiß die Hausfrau, was Haushalten ist.

Anm. der Verf. (nach Jensen.)

Nach dem Liede saßen wieder alle schweigsam da. Nomine hatte ein Notizbuch herausgezogen und schrieb mit einem kleinen Bleistift hinein. Unauffällig schob sie den Zettel auf ein Tannenzweiglein und fuhr diesen kleinen Schlitten über das Tischtuch hinüber zu Manne Wögens. Er las:

»Geben Sie sich überwunden? Wir könnten hundertmal froher sein ohne diese Gebräuche und dies herkömmliche stumpfsinnige Schweigen.« –

Darauf kam umgehend seine Antwort: »Im Gegenteil, ich segne das Schweigen. Dabei kann ich Sie doch ansehen und finden, daß Sie heut ganz ungewöhnlich [113] schön sind. Wahrhaftig, wie eine echte Halligtochter. Aber sobald Sie reden, dozieren Sie auch.«

Da knüllte sie den Zettel zornig zusammen.

Die junge Melenke hatte auch die Friesentracht angelegt. Wunderschön, sieghaft sah das Mädchen aus. Aber ihre Gebärden waren zügellos. Und in den Augen lag der Ausdruck eines gefangenen Wildes.

Manne Wögens blickte von einer Schwester zur anderen und schüttelte den Kopf.

Ohm Rickert, der neben ihm saß, folgte seinem Blick.

»Wie zwei Bilder sind die Deerns«, raunte er. »Schön alle beide, aber für verschiedene Gustos. Die eine stellt ’ne Heilige vor und die andere …«

»Pst«, mahnte der Lehrer.

»Ja, ihr werdet solange ›Pst‹ sagen, bis vor lauter Stillschweigen und Vertuschen der Dampfkessel explodiert ist. Dann habt ihr’s nötig, euch die Ohren zuzuhalten vor dem Knall. Die eine hat ’n ›Durst nach Wissenschaft‹, meint der Edlef. Nun gut, das is wohl nicht gemeingefährlich. Aber die Melenke mit ihrem Durst nach Leben …«

Der Lehrer dachte einen Augenblick, ob wohl Ohm Rickert zu viel getrunken habe.

Der sah aber nur bekümmert aus, und als nun das einfache Festmahl beendet war und alles aufstand, ging Ohm Rickert zu dem jungen Mädchen und schlug ihr auf die Schulter: »Nun, Nichte Melenke, freut dich deines Bruders Hochzeitstag?«

Sie lachte spöttisch auf. »Zum Ersticken ist’s«, rief sie fast laut. »Und die Langeweile frißt einen auf. Ist [114] das wohl auch eine Hochzeit? Wo bleiben die Musikanten? Ich möcht’ den ganzen Mutterhof zusammentanzen.«

»Das sollst du auch, mein Deern. Und da kommen auch die Bierfiedler. Und wenn dir die Luft zu knapp wird, dann geh vor die Tür, da weht ein artiger Halligwind. Paß fein auf, Deern, daß er dich nicht verträgt. –«

»Hab’ keine Sorg’ um mich und acht auf deinen Schustertanz«, gab Melenke finster zurück.

Da strichen auch schon die Fiedler auf Geigen und Baß, und vier »Junggaster« sprangen vor, knieten nieder, sangen, sprachen und reigten vor dem jungen Paar:

»So steckt he sin Nadelje, so trekt he sin Dradelche,
So kloppt he sin Ledder up Ledder.
Na, Schohmaker, kumm morgen wedder!«

Ohm Rickert war recht in seinem Element. Als einer der »Junggaster« sich beim jähen Bücken »dat Krüz verrenkte«, sprang der Alte sofort in die Bresche und reigte, tanzte und sang, daß selbst die Ahne mit ihm ausgesöhnt wurde.

Dann holte die alte Kastenuhr mächtig aus und sechs Schläge tönten aus ihr hervor. Ein helles Glockenspiel folgte: »Befiehl du deine Wege.« Da falteten sich alle Hände.

Und die Ahne nestelte an dem Schlüsselbund, das an ihrer schwarzseidenen Schürze hing, und ihre zitternden Hände legten den Schlüssel zur »heiligen Kammer« in Edlefs Hand. Die umschloß ihn fest, und zugleich umfingen seine Blicke die zarte Gestalt seines jungen Weibes in unnennbarer Zärtlichkeit. Pastor Licht gewahrte diesen [115] Blick, und ein großes Freuen war in ihm. »Nun brauchen sie uns nicht mehr«, sagte er zu seinem Luischen. Ganz still drückten sie dem Paar die Hände und verließen den Mutterhof.

Hand in Hand schritten Edlef und Maren zu jedem einzelnen Hochzeitsgast und empfingen ihren Segenswunsch. Mancher gab wohl auch einen eingelernten Spruch, einige sagten »Mit Gott« oder »Gott walt’s«.

Bruder Manne reichte Maren nur die Hand. Sie sah nicht auf, aber sie gab den Druck fest zurück. Da kam sie zu Ohm Rickert. »Nichte Maren,« raunte er eindringlich, »willst noch einen ehrlichen Rat von der Erde mitnehmen, ehe du in den Himmel gehst?«

Maren Holgers nickte sacht.

»So höre zu. Man kann eine Stube nur vom Sofa aus beherrschen! Setz dich nicht immer auf den Stuhl, du kleine, blasse Madam!«

»Wat hedd he seggt?« fragten die Umstehenden.

Aber Ohm Rickert sagte seinen Spruch nicht noch einmal. Denn die Hauptsache für ihn war, daß »die kleine, blasse Madam« ihn verstanden hatte. Voll und groß schlug Maren Holgers ihre Blauaugen zu ihm auf: »Habt Dank, Ohm Rickert! Das Wort tat mir nötig! Ich will’s befolgen!«


Die Geigen jubelten, der Baß brummte und die Flöte klagte, es war ein großer Lärm. Man tanzte den Kehraus. – Denn noch um sieben Uhr abends wollte der Schiffer einige auswärtige Hochzeitsgäste nach Pellworm [116] bringen. Und als das bräutliche Paar längst verschwunden und der Tumult am stärksten war, stahl sich die junge Melenke vor die Haustür, um nach Rat vom Ohm Rickert einmal – Atem zu holen …


Am andern Morgen ging es heiß her in der Universität auf der Schulwarf. Die Jungen hatten alle rote Köpfe und der Lehrer dazu. Manne Wögens konnte sich gar nicht genug tun in der Deutschstunde, und arbeitete mit den Großen, als säße er nicht auf ödem Halligeiland, sondern mit ausgesuchtem Menschenmaterial in der Prima oder Sekunda eines Gymnasiums. Wie frisch die Jungen waren! Wie angeregt! Wie sie ihm folgten! »… und deshalb sage ich euch, ein gutes Buch ist der größte Schatz. Ich will helfen, daß ihr euch eine kleine, gute Bücherei anlegen könnt. Bringt mir alles, was ihr daheim habt. Ich suche und sondere aus, und dann wird nach und nach Neues angeschafft. Sagt’s euern Eltern daheim, daß ihr euch zum Geburtstag ein Buch wünscht. Ich stelle eine Liste auf, und ihr dürft euch aussuchen. Aber bis zum nächsten Geburtstag leihe ich jedem ein Buch von mir.«

Das gab einen lauten Freudenausbruch.

»Nun, Onnen Holgers, mein Sohn,« fragte Manne Wögens, »ich meinte, ich müsse deine Stimme obenauf hören. Statt dessen schaust du aus dem Fenster. Du suchst wohl den gestrigen Tag? Ja, mein Junge, der ist fort, bitte dich gefälligst in die Gegenwart zu bemühen – –«

Onnen Holgers wurde dunkelrot. »Freilich freue ich [117] mich auf die Bücher,« stieß er heraus, »nur da draußen, – das ist die Nomine. Was macht sie einmal auf der Schulwarf …?!«

»Son ol grot Mäten geht ni mehr to Schol!« ließ sich einer von den allerjüngsten Abcschützen vernehmen.

Aber der Herr Lehrer war schon mit einem Hechtsatz, der seiner Turnerschaft alle Ehre machte, zur Tür hinaus. Wahrscheinlich ärgerte er sich draußen selbst über seine Eile, jedenfalls ging er denselben Weg langsam zurück und rief seiner Herde zu: »Es läutet 11 Uhr auf dem Glockenturm, packt langsam und ordentlich ein.«

Dann klinkte er die Gartenpforte auf und sah Nomine Holgers, an einen der verkrüppelten Obstbäume gelehnt. Verstört die Augen und blaß das schöne, kluge Gesicht. »Wollte nur bitten,« sagte sie hastig, »ob Sie Onnen und Karen bei sich behalten könnten, die Kinder passen heut nicht nach Haus …«

»Es ist etwas sehr Ernstes geschehen, Fräulein Nomine?«

»Ja, – Melenke ist heimlich fort. Gestern abend schon muß sie sich den Auswärtigen nach Pellworm angeschlossen haben, aber nicht einmal der Postschiffer hat sie erkannt … Wir fanden einen Brief von ihr. Einen häßlichen, unguten … Herrgott, Manne Wögens, die Ahne! Sie hat alle Läden im Hause geschlossen, als ob Melenke tot sei.«

Manne Wögens nickte schwer. »Das kann ich mir denken. Die Ahne kennt nur entweder – oder.«

Nomine kämpfte mit den Tränen, aber sie schluckte sie herunter. »Die arme Maren!« sagte sie. »Edlef ist [118] gleich heute früh mit dem Schiffer Erichsen nach Pellworm und weiter nach Hamburg, will überall nachforschen. – Es ist doch unsere Schwester! Hätte sie doch nur Vertrauen zu mir gehabt.«

Nomine konnte nicht weiter sprechen, die Kinder standen alle in der Schultür und warteten auf die Erlaubnis des Lehrers, fortzustürmen.

Da reichte er ihr die Hand. »Keine Sorge! Ich will Onnen und Karen betreuen wie mein Eigentum. Gehen Sie ruhig heim. Morgen frage ich nach, wie es im Mutterhof steht. –«

»Dank!« sagte sie nur und ging davon, – etwas weniger hochaufgerichtet, als die stolze Nomine sonst zu schreiten pflegte. –

»Was ist?« fragte Onnen Holgers dringlich und sah den Lehrer forschend an. Da hob dieser laut seine Stimme, daß es alle wohl hören konnten. »Deine Schwester Melenke ist krank geworden und vom Mutterhof fort.« Und als die andern Kinder mit dieser Neuigkeit fortgestürmt waren, setzte er gütig hinzu: »Darüber betrübt sich deine Sippe natürlich sehr, Onnen, mein Junge. Nun bleibt ihr heute erst einmal bei mir.«

»Oh,« – sagte Karen mit tiefem Aufjauchzen, »das ist bannig gut.« Und sie faßte vertrauensvoll seine Hand. Onnen sah versonnen aus.

»Mich dünkt, Melenke war schon lange krank«, meinte er altklug. »Ich sagte es ihr auch gestern, wie sie so wild dahertanzte. Da wurde sie böse. – Ich sei ein dummer Junge. – Aber man ist nicht immer dumm, wenn man jung ist.«

[119]

»Ganz gewiß nicht, du altes Haupt auf jungen Schultern«, lachte Manne Wögens. Und doch war ihm nicht nach Lachen zu Sinne.

»Sie meinen gewiß auch, ich hätte nach der Großwarf gehen müssen,« fuhr Onnen dringlich fort, »Sie sehen ganz so aus.«

»Du mußt nicht Gedanken lesen wollen, ich finde es sehr richtig, daß du hier bleibst.«

»Und ich auch«, bestätigte Klein-Karen.

»Aber ich hätte Ahne und Mutter helfen können«, beharrte Onnen. »Nomine ist so unpraktisch. Und ich hatte mich so schrecklich auf die neue Schwester Maren gefreut, – sie ist süß.«

»Ja, siehst du, da kannst du dir nun gut vorstellen, wie einsam ich ohne ›diese Süße‹ bin. Alles hat mir der Mutterhof weggenommen,« scherzte Manne, »und du willst mich nun auch noch verlassen?«

Gleich nahm Onnen seine Hand. »Daran hatte ich kein einmal gedacht,« rief er erschrocken, »so bleibe ich gern bei Ihnen, Herr Lehrer.«

Dann aßen sie zusammen Mittag. Und es schmeckte natürlich das einfache Essen im fremden Hause tausendmal besser als die Reste des schönen Hochzeitsmahles daheim. Die Magd schmunzelte über das ganze Gesicht, so sehr freuten sie die jungen Kostgänger. Und der alte, krumme Knecht meinte: »Herr Lehrer, so wat Kinnerkram hürt hieher up de Schulwarf un int Schulhus, laten Se mi noch dat erlewen!«

Am Nachmittage wurden Schularbeiten gemacht. Karen malte mit vor Eifer glühenden Bäckchen ihre Sätze auf die [120] Tafel. Aber der Fleiß war größer als die Begabung, die Worte standen höchst windschief auf den Linien, ja einzelne Buchstaben purzelten darüber hinweg. Der Lehrer war nicht zufrieden, und Karen zog »’ne Snut«.

»Immer noch besser als wenn Nomine schreibt«, rief Onnen mit sachverständigem Blick auf die Tafel. »Oha, wat schriwwt de für ’ne Klau’!«

»Du bist ja heut so kriegerisch gegen deine älteste Schwester«, meinte Manne Wögens. »Weil sie dich hiergelassen hat? Das bestimmte wohl die Ahne und deine Mutter. Und ihr war’t doch sonst so gute Freunde. Nomine hat mir selbst vertraut, daß sie sich am allermeisten auf dich gefreut hat.«

Onnen sah ihn unsicher an und seine Augen verdunkelten sich. »Ich mich auch auf sie«, gestand er mit zuckenden Lippen. Und dann warf er plötzlich die Arme auf den Tisch, legte den Kopf darauf und weinte heiß und jammervoll.

»Ist das Häuflein Elend mein Spartanerjunge?« fragte der Lehrer betroffen.

Da hörte das Schluchzen auf. Und als Manne Wögens ihn gütig anblickte und über seinen lockigen Blondscheitel strich, rief der Junge mit fliegendem Atem: »Sie will mich weghaben von der Hallig. Ja, die Nomine. Ich soll aufs Gymnasium nach Husum und soll später studieren. Dasselbe studieren wie Nomine. Aber ich kann nicht fort von der Hallig, nein, ich kann es nicht.« Ganz schwarz standen Onnens Augen in dem erregten Gesicht. –

Manne Wögens atmete schwer.

»So? Sie will dich forthaben?« wiederholte er leise, [121] wie zu sich selbst. » So sehr ist sie der Stadt und den Büchern verfallen?«

Mit müder Handbewegung strich er sich über die Stirn. »Und warum kannst du nicht von der Hallig fort, Onnen, mein Junge? Denke doch, die Schwester will dich etwas lernen lassen und du lernst doch so gern. Will dich viel mehr lernen lassen als ich selbst dir zu geben vermag. Und du wirst ein großer Herr werden, Onnen, – denn Wissen ist Macht. Und die arme, kleine Hallig wirst du vergessen …«

»Sie ist nicht arm und klein«, schluchzte Onnen wild. »Und Sie dürfen nicht so sprechen, Herr Lehrer, – es ist ja doch Ihre Heimat … ach, lassen Sie mich hier, ach, lassen Sie mich hier!«

Da nahm ihn Manne Wögens an sein Herz. Und die kleine Karen hob er auf den Schoß und beruhigte sie, denn ihre Tränen flossen reichlich, weil sie den Bruder weinen sah. »Ja, du sollst hierbleiben, Onnen, mein Junge. Ich werde um dich kämpfen. Die Hallig braucht ihre Söhne, und die besten Söhne sind gerade gut genug für sie.«

Der Knabe sah ihn voll Liebe an.

»Lernen will ich wohl tüchtig,« bekannte er, »will auch nach Husum auf ein paar Jahr, wenn es durchaus sein muß, aber ich muß zurückkommen dürfen. Da ist die ›Lüttwarf‹ frei geworden, – die möcht ich wohl haben, wenn’s die Sippe erlaubt. Und die Deichwirtschaft möcht ich gründlich studieren. Möchte hier mal was zu sagen haben.«

»Du denkst schon voraus, Onnen, aber es gefällt mir [122] von dir. Gern will ich mit dir alles durchgehen, will dir Schifften, Allmende, Mähden- und Weideland auf den Karten und in natura zeigen. Will dir auch alte Fennbriefe und Gerechtsame vorlesen, damit du so ›bei klein einen Begriff von unserer Verwaltung bekommst‹.«

»Hei! Denn schall Nomine man kamen«, frohlockte Onnen. »Dann sünd wi twee Mannslüd gegen die eine Deern.«

Lehrer Wögens zog die Brauen dicht zusammen.

»Das wird einen harten Strauß mit dem Hochmütchen geben,« sagte er ernst. »Aber du willst es doch wert sein, daß ich um dich kämpfe, Onnen, mein Junge?«

Als abends der Mond voll und groß über der Hallig stand, schaute er auch in Marens verlassenes Mädchenstübchen und schien auf die friedlich schlafenden Kinder, denen auf Bett und Sofa schöne Ruheplätzchen geschaffen waren. Die beiden Alten, der krumme Knecht und die alte Magd, konnten sich nicht satt sehen an den rotbackigen Holgersfrüchtchen. In seiner Stube aber wanderte Manne Wögens hin und her, und Kopf und Herz waren in wilder Unruhe.

Die nächsten Tage brachten keine Änderung.

Es regnete und stürmte draußen, und er behielt deshalb die Kinder zu ihrem Ergötzen bei sich im Schulhause. Er selbst kämpfte sich mit Mühe am zweiten Tage bis zur Großwarf und fand den Mutterhof immer noch dunkel und ablehnend gegen die Umwelt, als wenn der Tod dort eingekehrt sei. –

Ohm Rickert kam ihm entgegen, offenbar froh, [123] jemand »zum Schnacken« zu finden. Die Ahne sei krank und alle Frauen seien bei ihr.

»Ja, nu is de lütt Kessel in de Luft gahn«, meinte er. »Die Ahne hat niemalen Heizer studeert, und mich olen Mariner hat sie nich zum Ratslag haben wollen. De ganze Tid öwer heww ik all spinteseert: ›Melenke! Melenke! Wie kann man ein Dochter Melenke nennen! Heißt Maria Magdalena. Dat is ne böse Vorbedeutung.‹«

»Name ist Schall und Rauch«, wehrte Wögens, und dann fragte er bekümmert: »Ist noch keine Nachricht von Edlef da?«

»Nichts. – Er hat es uns gleich gesagt. Wenn ich die Deern nicht finde, halte ich mich nicht mit Schreiben oder Telegraphieren auf. Hab’ ich sie aber gefunden, dann gebe ich Nachricht. Na schön. Ist kein guter Anfang für ihn und sein junges Weib. Wir hätten eben die Braut ›aus der Ecke tanzen sollen‹. Dann wär’ alles gut gewesen. Ist alter Halligbrauch. Nun muß sie drin bleiben in der Ecke, das junge Blut.«

»Was Ihr redet, Ohm Rickert!« Manne Wögens gab ihm abschiednehmend die Hand und kämpfte sich den sturmgepeitschten Weg zurück. Ein einziger Mensch begegnete ihm unterwegs, der Pastor Ephraim Licht: »Sieh da, Freund Wögens. Sie kommen, scheint’s, von der Stelle, da ich eben hinwollte. Frauke Holgers hatte mich an der Hochzeit um meinen Rat gebeten in Erbschaftsangelegenheiten. Eine herbe, seltsame Frau, aber mir und unserer alten Halligkirche eine treue Freundin. Wie geht’s dem jungen Paar? Das gibt ein paar Stammeltern, wie sie sich unser Herrgott nicht schöner [124] aussuchen konnte, – Manne Wögens, über diese beiden freue ich mich.«

So plauderte munter der alte Herr.

»Da gibt’s jetzt nicht viel zu freuen auf dem Mutterhof, Herr Pastor.« Und der Lehrer berichtete kurz die Tatsachen.

Pastor Licht tat einen langen Pfiff. Als ginge ihm plötzlich sein eigener Name sehr hell auf. Aber seine Gedanken hatten nichts mit der heimatflüchtigen Melenke zu tun. Er drehte gleich auf der Stelle um, hing sich dem Lehrer in den Arm und marschierte mühsam wieder der Kirchwarf zu. »Sieh so, sieh so,« sagte er bedächtig, »der liebe Gott will selber die Ahne mores lehren, da braucht er freilich keinen Pastor dazu.«

Das war das einzige, was auf dem Sturmweg gesprochen wurde. Am Kreuzpunkt trennten sich die Männer, und Manne Wögens zog den Hut, während Pastor Licht sein schützendes Käppchen aufbehielt und nur herzlich mit der Hand winkte.

Der Nachmittag führte wieder alle Halligkinder auf der Schulwarf zusammen. Und weil der Sturm so arg um das Eckhaus blies und das Feuer im Ofen auslöschte, versammelte Manne Wögens all seine Trabanten im Wohnpesel um sich. Das war etwas Neues und Schönes, und zu allem erzählte der Lehrer auch noch Geschichten. Zuerst die furchtbar traurige aus dem Lesebuch »Vom verlorenen Sohn«, und dann eine sehr lustige von der Feldmaus, die eine Stadtmaus werden wollte, und deshalb auswanderte. Aber es war doch sehr merkwürdig, daß der Herr Lehrer die traurige Bibelgeschichte ganz [125] fröhlich erzählte und bei der Feldmaus ein gar ernstes Gesicht machte. –

Am Spätnachmittag holte Nachbar Luersen die beiden Holgerskinder auf ein Vesperstündchen in sein Haus. »Damit der Herr Lehrer mal Luft holen könne vom Kindsmagdspielen«, begründete er die Sache. Ein ohrbetäubender Lärm empfing Onnen und Karen, und jeder wurde von den ungestümen Gastgebern nach einer anderen Seite gezerrt. Vier sehr ungebärdige Luersensprößlinge tobten in der kleinen Stube umher, und das fünfte schrie bis zum Wegbleiben in der morschen Wiege.

»Du büst wohl rein unklug?« tadelte Mutter Luersen ihren eigenmächtigen Mann. »Schleppst noch mehr Kinnerwark her? Kannst wohl gar nich genug kriegen?«

»Von die Luersens hab’ ich freilich schon genug,« entgegnete der geplagte Hausvater trocken, »aber die Holgersart ist bedächtig und ruhig, die wirft nix um und zerreißt nix und steckt einem auch nicht das Haus überm Kopfe an.«

»So?« eiferte zornig die Hausmutter. »Mich dünkt, die Holgersart macht’s nur umgekehrt. Oder hat der Edlef nicht etwa bei uns’ Akke den Brand angefacht? Und dann den Verschwur zerrissen und alles umgeworfen?«

»Du schnackst sehr klug, Olsch, aber was du sagst, ist doch ein Dummheit. Wir wollen lieber ganz still sein, welche Seite den Verschwur zerrissen hat.«

Die Frau weinte. »Hätte der Edlef die Akke behalten, kriegte sie jetzt keine Prügel von dem gräsigen Hamburger.«

»Steht die Sache so?« fragte Vadder Luersen bedächtig. »Es ist man gut, daß ich so bei klein von deiner Hamburger [126] Fahrt etwas höre. Prügel kriegt mein klein Akke? Das ist gut, das ist sehr gut.«

»Schande wert!« rief Mudder Luersen. »Bist du auch ein Vater? Erst tat der städtische Herr Schwiegersohn, als wär’ ihm just so’n Draufgängerdeern das liebste. Und jeden Witz hat er belacht, daß ihn beinahe der Schlag rührte, und in Samt und Seide hat er sie eingewickelt, und in eine Wohnung hat er sie reingetan wie in ein Schloß. Aber nun ist sie seine Frau und nun soll sie klein beigeben. Dies soll sie nicht sagen und jenes soll sie nicht tun. Weil seine Stadtfreunde und Verwandten sonst ›scheniert‹ sind. Aber die Akke ist ein freies Friesenmädchen, und das läßt sie sich nicht bieten.«

»Mudder, du warst doch immer so ’n kloke Deern. Was du aber jetzt daher tühnst, das geht nich int größte Waddickfaß. Unser Stadtschwiegersohn hat den Grundsatz: ›Mannshand baben!‹ Da bin ich ihm nich gram drum. Wir beide haben das bei Klein-Akke versäumt, weil du immer neue Kinder fischen mußtest. Weißt ja, Mudder, auf dem Meeresgrund bei Ekke Nekkepenns Weib. Über all der Sorg und Mühe mit den vielen Gören haben wir die Rute vergessen. Wenn der Schwieger das jetzt nachholt, kann aus Akke noch ein Gutes werden.«

»Aber sie ist sehr unglücklich«, klagte die Frau.

»Alle Deerns sind unglücklich, wenn sie vom Liebsten Prügel kriegen«, meinte der Vater ungerührt. »Das Gute zeigt sich dann später.« –

Derweile stand im Schulhause Edlef Holgers vor dem Freunde.

»Du kommst doch immer wie Deus ex machina ,« versuchte [127] Manne zu scherzen. Und gleich darauf ernst und besorgt: »Mein armer Edlef, das hat dich hart mitgenommen. Nun setz’ dich erst einmal zu mir und ruhe dich aus.«

Edlef ließ sich schwer in den Sorgenstuhl fallen. »Schande im Mutterhof ist etwas Ungewohntes«, grollte er. »Und das muß ausgerechnet uns treffen. Der Mutterhof hat weithin geleuchtet.«

»Vielleicht ist euch das allen zu sehr zu Kopf gestiegen«, meinte der Lehrer bedächtig. »Die Selbstgerechtigkeit steht nicht unter den sieben Todsünden, aber unser Herrgott scheint sie am schwersten zu ahnden.«

»Und gerade jetzt!« murrte Edlef. »Da ich deine Maren in mein Gewese führte …«

»Um ihr zu zeigen,« sprach Manne Wögens bedeutungsvoll, »wie überwältigend die Ehre für die Schulmeisterdeern sein muß, – ist’s nicht so?«

Edlef sah ihn unsicher an. »Selbstverständlich ist’s nicht so,« sagte er hastig. »Ich war nur sehr stolz …«

Manne Wögens klopfte ihm auf die Schulter. »Das sollst du auch bleiben. Und Maren, – die wird alles Leid mit dir tragen. Die wäre dir selbst in verschuldetes Unglück gefolgt. Und was jetzt auf euch gekommen ist, darf euch nicht zerbrechen.«

»Die Ahne ist uns zerbrochen, Manne Wögens. Die Ehre des Mutterhofes war ihr Rückgrat.«

»Und alles um so ’ne verrückte, junge, wilde Deern!« zürnte Manne. »Ich bitte dich, Edlef, es werden noch viele Kinder aus dem Elternhause laufen, weil ihnen die Zucht zu streng war. Desto fester muß das Haus bleiben, damit es [128] Obdach bietet, wenn die Abtrünnigen mit wundem Herzen und wehen Füßen zurückkehren. Kein Elternhaus kann so streng sein wie das liebe, holde Leben, die schöne Welt da draußen …«

»Das sagte mir Maren auch. Aber Trostgründe kann ich noch nicht gebrauchen. Ich schau nach den Menschen aus. Nach Spott und Nichtachtung. Was werden sie alle sagen! Die Augen wag ich kaum aufzuheben. Das ist meine unglückselige Holgersart.«

»Verrenn dich da nicht hinein, Edlef. Sieh lieber um dich, wieviel rechtschaffene Halliggesinnung das Böse mit euch tragen will.«

»Du sollst recht haben, Manne Wögens. Ich bin wohl recht ein bißchen aus den Fugen. Bedenk, daß ich aus der Brautkammer ins Segelschiff stieg … da ist mir das Gleichgewicht über Bord gegangen.«

»So birg es dir wieder. Du hast Schwester Maren als Rettungsring im Hause …«

Da wurde Edlef Holgers ganz froh. »Ja, ich will heim, will die Geschwister gleich mitnehmen. Hab Dank, du Guter, daß du mir das Kroppzeug aufgehoben hast.«

»Da ist nichts Gutes weiter dabei, Edlef. Die beiden Jüngsten vom Mutterhof sind echt. Die tragen viel Freude ins Haus. Dein junger Onnen wird noch einmal was Besonderes für die Hallig, – ich hab’s gesagt.«

»Wenn du nur Frohes prophezeien kannst! Ganz hell geht’s von dir aus, ich wollte, ich könnte dich mitnehmen in die Dunkelheit unseres Gehöftes, Manne Wögens.«

» Da kommt das Licht vom Mutterhof«, rief der Lehrer. »Da!« Und er öffnete weit die Tür und ließ die [129] beiden lachenden Kinder herein. Das gab ein Erzählen! So viel Neues hatten sie unter der großen Luersenschar entdeckt, und nur schwer konnten sie dazu gebracht werden, ruhig ihre Siebensachen zu packen.

Der große Bruder strich ihnen über die Blondköpfe. »Macht fix zu«, sagte er aufmunternd. »Die Nomine-Schwester möchte euch beide noch sehen.« Er wandte sich zu Edlef. »Sie will heute abend noch in Pellworm sein, und morgen früh zurück nach Kiel. Sie meint, es ist am besten, wenn Ahne und Mutter und wir alle hier in die alte Ruhe kommen.«

»In die alte Ruhe …« wiederholte Manne Wögens langsam. Ganz erloschen sahen seine Augen den Freund an. »So rasch, so rasch?« fragte er wie hilflos.

Edlef mißverstand ihn. »Ja, freilich, wir müssen schnell heim. Vergeßt nicht das Danken, Kinder. Fahr wohl, Manne Wögens!«

»Ich danke auch noch vielmals«, rief Onnen herzlich. »Will’s der Nomine ordentlich sagen, daß ich auf der Hallig bleibe.«

»Ja, – sag’ es ihr ordentlich.« Schwer lösten sich die Worte von Manne Wögens’ Lippen.

Dann war er allein. Eine Zeitlang stand er noch auf der Vordiele in der Haustür und winkte den Dreien. Denn immer wieder hoben sich zurückgrüßend die Kinderhände. Am Horizont stand der glutrote Ball und warf seine letzten Strahlen über die salzen See und die Heimat ringsum. Dann sank die Sonne ins Meer. – Wie kalt es mit einemmale wurde! Müde tastete sich Manne [130] Wögens in seine einsame Stube. Er fror bis ins Mark hinein. – –


Pastor Ephraim Licht hatte an seine stille Hallig eine schöne Sitte bringen wollen, die er im tannenwaldumstandenen Dorfe seiner Thüringer Gemeinde sooft und gern geübt. Die »Spinnstube« sollte droben im Norden aufleben. Mit Spinnrad und Strickstrumpf sollten die Frauen kommen, mit einem guten Buch oder einer fesselnden und lehrreichen Geschichte die Männer. – Halligsagen und -märchen sollten neu erstehen, damit man sie für die Nachkommen sammle und festhalte. Fragen, welche die Halliggemeinde ungelöst mit sich herumtrüge, sollten daheim aufgeschrieben und dann öffentlich verhandelt werden. Oder auch nur von Mund zu Mund in der stillen Studierstube des Seelsorgers. Wie Kinder auf Weihnachten, hatte sich das Ehepaar auf diese »Lichtkarze« gefreut, die auf der großen Diele des Pfarrhauses tagen sollten. Zur festgesetzten Stunde kamen sie auch alle gegangen. Es fehlten wohl nur die ganz Bresthaften, die nicht mehr über die schmalen Prielstege zu klettern und auch nicht über die kleinen Wasserrinnsale zu springen vermochten.

Ein langer, schweigender, wunderlicher Zug war’s.

»Sieh nur, Luischen, sie kommen wie zu einer Beerdigung«, sagte Pastor Licht. Und das Ehepaar beobachtete mit leiser Bangnis die ernsten, verschlossenen Gesichter der langsam und schwer Heransteigenden.

Oben in der Diele wurden die Spinnräder aufgestellt und die Strickstrümpfe und Klöppelkissen hervorgeholt, [131] und bald war die eifrigste Arbeit im Gange. Die Fragen, welche Pastor Licht und Frau Luischen an ihre Gäste stellten, waren bald beantwortet, dann herrschte tiefes Schweigen. Nur unterbrochen vom Surren der Rädchen und dem Klappern der Klöppel und Stricknadeln.

Auf die Bitte nach einer schönen, seltsamen Halliggeschichte schauten sie den Seelsorger groß und fragend an, und Boy Boysen meinte geruhig: »Dortau is de Paster da.«

Lächelnd willfahrte ihnen Pastor Licht und erzählte von diesem und jenem aus seiner reichen früheren Tätigkeit und dem Schatz seiner Erfahrungen. Aber als er geendet, hoben die Frauen wieder ihre Spinnräder hoch und schritten mit einem ernsten: »Fahre weel« über die gastliche Schwelle. Die Männer zündeten sehr erleichtert ihre Pfeifen mit dem scharfen Holländer Knaster wieder an, und verstiegen sich in ihrer Heimkehrfröhlichkeit sogar zu einem: »Dank ok veelmals, Paster.«

Ein paar alte Weiblein blieben noch sitzen. Als sie aber sahen, daß da »nix nachkam«, setzten auch sie einen Knix hin und siffelten heimwärts.

Das nächste Mal kamen die Frauen allein und von diesen nur acht. Und zuletzt hatte nur die alte Stinameller dagesessen, die fast blind und recht kümmerlich war, und sie erzählte vertraulich, sie sei nur des weichen Lehnstuhls halber gekommen, darin sie viel besser schlafen könne als daheim im Bett.

Pastor Ephraim Licht stand arg verdutzt über das Scheitern seiner Pläne, und Frau Luischen war ganz verzagt.

Sie holten sich Rat vom Schullehrer Manne Wögens.

[132]

Der lachte fröhlich und verstehend. »Herr Pastor, Sie sind Thüringer. Ihre leichtblütige, freundliche und liebenswürdig-zutunliche Gemeinde von ehedem, so recht aus dem Herzen Deutschlands heraus, wollen Sie den Halligleuten zum Muster geben. Das ist gefehlt. Weiß es ja von meiner Thüringer Mutter her, wie sie mitteilsam war, wie sie plaudern konnte. ›Schnutteln‹ nannte es der Großvater aus Rudolstadt. Da gab es keine Geheimnisse, da war keine lichtlose, unbesonnte Stelle in dem reinen, fröhlichen Frauenherzen. Die Halligleute aber nehmen all ihr Erleben und das der Voreltern zehnfach hinter Schloß und Riegel. Der einzige Freund, in den sie restlos alles niederlegen, das ist ihr ›Zeitbuch‹. Dem schenken sie äußerlich mehr Vertrauen noch als dem Herrgott. Könnten Sie in den alten Truhen nachschauen, Herr Pastor, da würden Sie Schätze finden. – – Liegt auch vielleicht nicht in jeder Truhe ein ganzes Buch, so doch mindestens ein paar beschriebene Blätter, zum Teil in die Urväterbibel hineingeklebt, darauf die einschneidendsten Erlebnisse verzeichnet sind.«

»So braucht die Hallig eigentlich keinen ›Seelsorger‹, sondern nur jemand für die äußerlichen, kirchlichen Handlungen,« meinte Pastor Licht mutlos.

Der Lehrer wiegte den Kopf. »Vielleicht! Die Halligleute holten sich an das Wort: ›Wenn du beten willst, gehe in dein Kämmerlein und schließe die Tür hinter dir zu.‹ Ich glaube nicht, daß viel in der Kirche gebetet wird. Aber sie hören Ihnen gern zu, Herr Pastor. Die volle Kirche muß Ihnen der Beweis sein. Lieber Herr Pastor Licht, Sie sind hier schon der rechte Mann am rechten Ort.«

[133]

Der Pfarrer lächelte. »Nun schlägt die liebenswürdige Thüringer Mutter auch bei Ihnen durch, Herr Lehrer, und Sie sagen mir schöne Sachen …«

»Es ist die Wahrheit«, sprach Manne Wögens warm. »Ich wollte Ihnen schon lange Ihren Nebenbuhler zeigen, Herr Pastor, … das ›Zeitbuch‹ des Halligmenschen. Da möchte ich wahrhaftig ein wenig Erbschleicher werden. Würden alle Halliger mir ihre ›Zeitbücher‹ vermachen, Herr Pastor, ich wäre plötzlich reich an wertvollstem Stoff für Halligkunde.«

»So hoch schätzen Sie das ein? Und Sie selbst, Manne Wögens? Führen Sie auch solch ein Zeitbuch, was wir bei uns den halbflüggen Dirnlein überlassen?«

Der Lehrer lachte freimütig. »Ich bin ein Halligmensch mit Leib und Seel trotz des Thüringer Einschlags. Und ich hab mein ›Zeitbuch‹ wie jeder hier. Hein Hasseldiek, der große Bösewicht, der zu Lübeck auf dem Rade starb, ist unbußfertig und leugnend dahingefahren, aber in seinem ›Zeitbuch‹ hat er alles eingestanden.«

»Huh«, lachte der Pfarrer. »Wollen Sie mich vorbereiten?« Und er wandte sich neckend zu Frau Luischen: »Du hast gestern noch gemeint, unser lieber Schulmeister sei wie ein aufgeschlagenes, schönes Liederbuch. Ja, so poetisch hat sie sich ausgedrückt, – du brauchst dich nicht schämig fortzuwenden, Luischen. Aber du mußt umlernen. Wehe, welch schwarze Geheimnisse Wögens’ Zeitbuch vielleicht enthält!«

»Da ist mir nicht bange drum«, sagte die Pastorin geruhig und schaute vertrauend zu dem Hünen auf.

[134]

Der schüttelte ihnen die Hände und schritt dann rasch ausholend seiner einsamen Klause zu.

Er wußte zutiefst, daß nichts verloren geht im Weltall, und daß er heute dem treuen Seelsorger ein neuer Wegweiser geworden war zu den wunderlich verschlossenen Herzen seiner Halliggemeinde. –


Aufzeichnungen des Halligschulmeisters Manne Wögens.

Ist es möglich, daß wir schon wieder den September haben? So gibt es beinahe einen Jahresbericht in dieses Buch. – Die Sommerfrischler und Badegäste, die von Föhr hie und da für Stunden auf die Hallig kommen und sich die beste Mühe geben uns lahmzuschwatzen und totzufragen, versagen sich niemals den Ausruf: »O wie muß es im Winter hier langweilig sein!« Sie wissen nicht, daß dies Wort nicht in unserem Wörterbuch steht. Diese lästigen Eintagsfliegen! Könnte man die Tür seines Königreichs vor ihnen geschlossen halten! Welchen Reichtum an Arbeit bargen die Monate, die seit Edlefs Hochzeit und Melenkes Flucht vorüber sind. Arbeit! Segensreiche Himmelstochter! Du gehst mit deiner Schwester Ordnung kräftespendend Hand in Hand.

Der Frühling kam auf die Hallig und nahm mit seinem Sturm allen Winterstaub (wahrhaftig er lag in hoher Schicht) aus meiner Seele. Es ist hart, wenn ein aufrechter Friese am Verzagen ist … Was sage ich? Hart? Noch heute trage ich einen eklen Geschmack auf der Zunge, denk ich an jene kranke Zeit. Da habe ich [135] mir eigene Arznei gebraut, habe ein wissenschaftliches Buch zu schreiben begonnen. Ein Buch von der Hallig. Diese Arznei hat mein Gebrechen geheilt. –

In meines Vaters »Zeitenbuch«, wie er es nannte, darinnen er die Erinnerungen an Großvater, Großmutter und seine eigene Jugendzeit barg, steht ein Wort: »Ein Wögens liebt nur einmal

Dies Erbteil meiner Väter verweist mich in die Einsamkeit. Sie war mir ja immer Treugeselle. – Doch ich war nie allein in der Einsamkeit, war nie einsam im Alleinsein. Der Hallighimmel, die Halligluft, die weiten Fennen und die salzen See schickten abertausend gute Geister zu mir. Und doch hat es Tage und Nächte gegeben seit der letzten Weihnacht, in denen ich gerungen habe, gebetet und geschrien. Und die Schreie, die man in sein Innerstes schickt, tun am wehesten.

Gut ist’s, daß der krumme Knecht ganz taub und meine Magd des Abends so müde ist, daß sie nichts von der Umwelt vernimmt, denn ich selbst bin aufgewacht von meinen eigenen Rufen: »Nomine! Nomine!«

Was soll der Name in diesen Blättern?

Er soll stehenbleiben.

Eines aufrechten Friesen hochheilige Liebe ehrt jedes Mädchen. Auch jenes Mädchen, das nach den Sternen greift und sie auch vielleicht zu sich herunterholt. Aber sie tritt dabei die schlichte Bonnestave unter ihren Fuß.

Doch ist die blaue Halligblume kein Veilchen auf der Wiese, das da singt: Und sterb ich denn, so sterb ich doch durch sie, zu ihren Füßen noch.

[136]

Nein, sie richtet sich wieder auf, denn sie ist eine Friesin.

Und so hast auch du dich wieder aufgerichtet, Manne Wögens, und willst den harten Arbeitsweg gehen ohne ein liebes Weib an deiner Seite. Du hast dein Buch. Das ist dein Eigen, es ist dein Kind, das dein Herzblut trank. Einmal wird es in die Welt hinausgehen und die Menschen in den Bann der Hallig zwingen. Daß nicht stumpfe Neugierde sie fürder zu uns treibe, sondern Liebe .

Fahr wohl, Nomine! Ich habe dir vor Jahren gesagt, daß ich dir sehr gut sei. Hab dir mein heißes, treues Herz dargeboten und meinen ehrlichen Namen. Du aber hast gelacht. Wolltest lernen und die Welt sehen, und hast der armen, öden Hallig gespottet und ihr Valet gegeben.

So sei’s denn, Nomine.

Denn wenn ich dich auch mehr liebe als mein Leben, so muß ich meine Hallig doch noch mehr lieben als dich. Meine verachtete Hallig, die ihren Sohn braucht.

Fahre weel, Nomine Holgers!


Machtvoll brauste draußen der Frühlingssturm.

Wir vermaßen unser Land für dieses Jahr und teilten es wieder ein in Mehdeland und Weidefenne. Diesmal gab’s Widerstreit unter den Warfbohlsgenossen. Auch der Bohlskurator war machtlos. Wer nicht ganz und gar in unsere verwickelte Halligwirtschaft eingeweiht ist, nicht [137] mit Kopf und Kragen drin steckt in den schwierigen Berechnungen der Mehde- oder Mählandsverteilung, der muß seine Finger davon lassen. Kein kniffliger Jurist des Festlandes, den man heute herriefe, wäre dazu imstande. Aber unser »Dreimännerschiedsgericht« hat entschieden, und wir haben uns dem Spruche gebeugt. Jeder bekam seine »Schifften«, die nach Größe und Lage jährlich wechselnden Parzellen, zugewiesen.

Ich lese gern die »Fennbriefe« und das Mehdebuch. Uns Halligleuten ist darin alles verständlich, aber Festlandsratten möchten wohl kopfschütteln und wunnerwarken über das närrische Zeug, das sich Halliglandverteilung nennt.

Wir hatten einen nicht zu regennassen und leidlich warmen Frühling, und so stand am Johannistag das Gras einen Fuß hoch. Wir reinigten es sorgfältig von allen Muscheln und andern Einflüssen der See, und dann begann das Mähen. So reich war der Segen, daß wir fremde Arbeiter mieten mußten, die mit ihrem Vormähder rasche Arbeit taten. – Wie wonnevoll waren Juni und Juli! Die liebe Hallig in ihrem Festkleid! Köstliche Blumen, unzählbar wie die Sterne des Firmamentes waren darin eingewirkt. Alles atmete würzigen Duft, und die Bienen sogen den köstlichen Hallighonig heraus, unvergleichlich in seiner herben Süße. – Dazwischen weidete das stattliche Vieh. Breitgestirnte Rinder und wollige Schafe. Die Möwen lachten in blauer Luft oder ließen sich nieder mit klingendem Klageruf. Den Lerchen lauschte ich und konnte mich nicht satt sehen am flugsicheren Austernfischer. Der Rotschenkel rief mit abwärts gestelltem Flügel [138] »Gülü, gülü«, und warb sein Weibchen. Und als die Jungen ausflogen, jauchzte er »Tjü, tjü«! Ach, wer »vogelsprachekund und weisheitsfroh wie Salomo« wäre!

Unser Fischgarten im abfließenden Priel bot andere Arbeit. Wir verbanden Holzsticken mit Bindfaden zu einem langen Leitwerk. Die Spitze ließen wir in einen Hamen ausmünden. Nun tummelten sich während der Flut die Fische in den Watten, doch mit der Ebbe flüchteten sie sich in den großen Winkel des Priels. Da konnten sie nicht durch, und die Fischer hatten reichen Fang. Ich stand dann gern neben meinem alten Nachbar und Bohlsgenossen Momme Mommsen, der vor jedem Fischzug die Hände faltet: »Du bist der Herre Jesu Christ, dem Wind und Meer gehorsam ist. Drum halt in Gnaden deine Hand auch über unsern Fischerstand.«

Saß ich aber oben auf der grünen Bank neben dem Schulhause und schaute von meiner Höhe hin über die Fennen, denen die bereits gemähten Streifen einen eigenartigen Farbenreiz gaben, oder schaute ich auf die Nordsee, die zur Flutzeit die ganze Hallig so innig in ihren umschlingenden Armen hielt und unzählige Gräben mit Wasser füllte, daß sie wie Silberfischlein die Wiese durchglänzten, dann wurde mir das Herz groß und weit und der Herrgott zog ein.

Das gab Stunden, wo ich nicht einmal dich vermißte, Nomine Holgers. –

Viel Mühe schaffte uns das Einbringen des Heues. Auf der höchstgelegenen Stelle der Fennen muß es geschichtet werden, damit die See es niemals erreichen kann. In langen Streifen wurde es zusammengerecht [139] und in großen Laken von den Frauen und Mädchen zur Dieme getragen. Da dachte ich wieder an dich, Nomine Holgers, du Schöne! Hätte ich dich sehen dürfen als echte Halligtochter, das schmucke Bündel auf deinem Haupte tragend, mit deinen weißen, vollen Armen der Last das Gleichgewicht gebend …

O Nomine! Wie eine Königin wärst du geschritten, ich weiß es. Und ein glückseliger Mann hätte einige Tage später seine Ernte eingefahren. In seinem Hause hätte er sie zum festen Klampe aufgeschichtet. Und du hättest ihn am Hause empfangen. Du! Seine Königin – die ihm die Ruhe brachte und den Feierabend …

Es war harte und hilde Zeit bis alle Schifften gemäht waren. Und viel Schweiß kostete noch das »Schwählen«, das »Diemensetzen« und »Einfahren«.

Und wir haben einen Bittgottesdienst gehalten, daß unser Herrgott die salzen See bändigen möge, auf daß keine Sturmflut uns um den Lohn unserer Mühe bringe. –


Die »Eintagsfliegen« von Sylt, Föhr und Amrum waren wieder sehr lästig diesen Sommer. Nicht einer war darunter, um dessen Wiederkehr man gebeten hätte. Gottlob, es wird auch hie und da Verständnis und Liebe zu uns getragen. Aber die, so es tun, bleiben dann auch wirklich bei uns auf längere Zeit. Und fragen nicht viel, sondern öffnen ihre eigenen Augen und empfangen all unsern Reichtum mit wachem Herzen. So geben und nehmen wir wechselseitig unvergängliche Werte. Mit dem [140] Strom von Hamburger Fremden kam im August auch Akke Bahn, geborene Luersen, zu uns. Ein seltsames Weib. Wunderschön hat die Natur sie gebildet, und jeder wendet sich um nach ihr, so sehr fällt sie auf. Aber auf ihrem Gesicht liegt jetzt ein Zug verbissenen Trotzes. Der pflegt sonst auf dem Antlitz der werdenden Mütter zu fehlen. Sie kümmert sich nicht viel um ihren Zustand, sondern schafft tüchtig im Hause der Eltern, bei denen viel schwere Arbeit zu tun ist. Oft höre ich ihr lautes Lachen über den Nachbarzaun herüber. Neulich kam Edlef zu mir, und ich ging ihm entgegen. Da stand die Akke am Zaun, und ich fing einen Blick auf, den sie ihm zuwarf. Der war so heiß und auffordernd, daß er früher wohl gezündet hätte bei ihm. Aber Edlef ist ein sehr fester, sehr glücklicher Halligbauer geworden. – Er zog die Mütze wie vor einer Fremden und schaute mir entgegen mit freien, guten Augen. – Abends sitze ich hie und da mit Vadder Luersen auf meiner Hausbank. Er tut dann alles ab von seiner Seele, was ihm das Leben draufgepackt hat, und ich höre gern die Philosophie seines trocknen Humors. Dabei sagte er mir einmal: »Ich mag mein klein Akke zu gern um mich leiden, is ’ne fixe Deern und schafft für Zwei, trotz ihres reichen Mannes. Aber mich dünkt, sie verfolgt einen Zweck hier. Und dazu gebe ich mich nicht her. Und wenn sie meint, ich behalte sie wieder ganz auf der Schulwarf und setz’ mich bei dem Herrn Schwiegersohn in die Nesseln, dann hat sie vorbeigedacht. Das sechste Gebot ist kein Kinderspielzeug. Und ihr Kind soll in seines Vaters Wiege liegen, wo es hingehört.« Ich bedeutete dem Alten, daß es wohl nicht gerade die [141] passendste Ehe für seine Tochter gewesen sei, aber das wies er weit zurück.

»Der Schwiegersohn hat sie rechtschaffen lieb,« sagte er, »aber seine Hand is büschen fest. Das braucht die Deern auch. Ich hab mir den Kram in Hamburg mal angesehen, das hat alles seinen rechten Schick. Und der Schwiegersohn ist fleißig und angesehen. Und daß er kein heuriger Has’ mehr ist, ist auch gut.«

Vadder Luersen mag recht haben. – –

… Schwester Maren …

Ich möchte ergründen, ob sie wohl ganz restlos glücklich ist. Edlef ist’s, er geht wie auf Sprungfedern. Maren ist sehr ernst geworden. Es kleidet sie gut, meine junge, süße Schwester. Aber ich möchte sie wohl wieder hell lachen hören. Einmal tat sie es. Es war an einem Sonntag, da sie mich beide heimgesucht hatten. Sie stand in ihrem Mädchenstübchen und fand allerlei Kram aus der Kinderzeit. Darüber lachte sie laut und herzlich. Und Edlef neben mir hob lauschend den Kopf, als sei ihm das silberne Glöckchen völlig fremd. Und ein großes Erstaunen ging über sein offenes Gesicht.

Sollte der Mutterhof jeglich Lachen ersticken? – –

Melenke Holgers ist in Hamburg bei einer Putzmacherin.

Edlef und ich haben’s durchgesetzt, daß sie dort blieb. Die Ahne wollte sie in den Mutterhof zwingen. Das wär ja nimmer geglückt. Nomine hat die Schwester öfters von Kiel aus besucht, hat sie aber noch nie angetroffen. Sie hat auch Melenke zu sich eingeladen, denn das Band, das Halliggeschwister verbindet, ist ein sehr [142] festes. Aber die Jüngere ist nicht gekommen, sie bäumt sich gegen jede Bevormundung. –

Die Ahne geht gebückt. – War eine junge Frau mit ihren fünfundachtzig Jahren, mit den roten Backen, den scharfen Augen und dem raschen Gang. Und wenn sie auch manchmal bei Tisch einschlief, so war sie nachher doppelt ausgeruht und schlug uns Jüngere mit Kreuz- und Querfragen. Jetzt ist sie alt geworden. Bin ich bei ihr, dann redet sie mit guter, leiser Stimme. Nicht mehr energisch und zupackend wie früher. Gleichsam entschuldigend, daß sie mir kein besser Dach bieten könne als den Mutterhof, aus dem eine Haustochter entlaufen. – Mir zerreißt es das Herz, sehe ich diesen zerbrochenen Stolz. – –

Mein Buch gedeiht. Das Manuskript ist schon recht umfangreich und ich liebäugle fast damit. Es ist ja auch mein Schatz. –

Gestern war Maren allein bei mir.

Fast erschreckte es mich. Sie trat so leise ein. Und ein gar so zager Ruf: »Bruder Manne!«

Dann lag sie freilich rasch an meinem Herzen, und mir verschlug die jähe Freude schier die Stimme. Ich nahm ihr Mantel und Kopftuch ab und drückte sie fest in den Altväterstuhl hinein, drin alle Wögens ausgerastet haben. Da saß sie geruhig wie der Vogel im Nest, und ich erzählte und fragte und mußte mich baß wundern, warum ich so karge Antwort erhielt. – Zuletzt kam mir ein Freudengedanke, und immer zarter sprach ich mit ihr. Um ihr vielleicht ein Geständnis zu erleichtern, das sich etwa so formen könnte: »Bruder Manne, willst [143] du mir vom Oberboden die Kiste tun, darinnen unsere winzig kleinen Kinderhemdchen und Häublein liegen?«

Aber sie sagte nichts, sah nur rings die Heimatwände mit den vertrauten Bildern und dem Urväterhausrat an. Ganz still und besinnlich, als sähe sie alles zum erstenmal.

Da stand ich auf, beugte mich über sie und sagte: »Süße Marenschwester, das wird einmal alles wieder dir gehören – – und deinen Kindern.«

Wie herb und traurig sie lächelte. Ach, daß es solch ein Lächeln geben darf auf dem Antlitz eines jungen, schönen Weibes …

»Ich werde niemals Kinder haben, Bruder Manne.«

»Maren, – was sprichst du da?«

»Die Wahrheit, Manne. Aber sie zerdrückt mich fast.«

»Woher hast du die traurige Weisheit, Maren?«

»Vor einer Stunde hat sie mir der Kreisarzt gegeben …«

»Und Edlef???«

»Er ist in wichtiger Sache nach Husum. Mein Mannebruder, er erfährt es früh genug.«

Dann ging die Süße still, wie sie gekommen. Ich konnte ihr keinen Trost geben, das war bitterhart.

Nun falten sich immer meine Hände: Daß dieses herbe Frauenschicksal nur ein stilles Leid bleibe, gemeinsam getragen von zwei liebenden Gatten, die sich selbst genug sind. Daß mein Freund Edlef Holgers stark erfunden werde, sein junges Weib auf Händen zu tragen und durch alle Fährnisse der Hallig, insonderheit des Mutterhofes, zu steuern. Als da sind: »Kälte, Schmähsucht und Vereinsamung.« –

[144]

Ich höre die fünf unbändigen Luersenkinder bis hierher toben. Neun Luersens sind schon aus dem Hause … Machen trotzdem noch viel Sorgen und Mühen, und kaum das Brot schaffen können die hart arbeitenden Eltern für die fünf Jungen im Nest.

Warum …?

Nein! Mit Grübelfragen darf man sich auf einer Hallig nicht befassen. Die fressen hier gleich den ganzen Menschen auf. Wenigstens Herz und Hirn. –

Ich will an das Lied denken, das ich meiner Marenschwester an ihrem Hochzeitstage auf der Orgel spielte:

Der wird auch Wege finden,
Da dein Fuß gehen kann. –

Es war ein naßkalter, windiger Oktoberabend, da Edlef Holgers heimkehrte. Aber im »Jungteil« lachte ihm das freundliche Licht der Lampe entgegen, die seine Maren dicht ans Fenster gestellt hatte. An Heyens Lei mußte er denken. »Die treue Schwester wacht!«

Ja, alles war ihm Maren. Nicht nur sein liebendes und geliebtes Weib, nein, auch Mutter und Schwester in ihrer treuen Fürsorge. Wie er sich freute, heimzukommen von dieser ärgernisreichen Reise …

Da tat sich auch schon die Tür des Wohnpesels auf und zwei weiche Arme legten sich um seinen Hals. Er preßte sein Weib an sich und sah ihr tief in die Augen.

Wahrhaftig, sie wurde immer schöner. Er wußte [145] nicht, was ihn mehr entzückte. Das strahlende Lächeln, womit sie ihn vor einer Woche entlassen, oder der stille Ernst, mit dem sie ihn heute empfing.

»Ach du,« sagte er glücklich, »ich will dich einfach Heimat nennen. Willst du? Schau hinaus, wie es regnet und stürmt! Bei dir bin ich im Himmel. Du! Du!« Er trank ihre Süße völlig in sich hinein. »Ich müßte nie von dir fortzugehen brauchen, – es ist eisig kalt, häßlich, öde draußen in der Fremde.«

»Du Peterle!« meinte sie. »Bist ja nur bis zum Kreuzweg gekommen.«

»Ja, – und da will ich auch immer umkehren fortan.«

Sie setzten sich auf das alte Thüringer Kanapee, das Manne der Schwester mitgegeben. Beim Essen erzählte Edlef von seiner Reise.

»Willst du nicht Mutter und Ahne erst begrüßen?« hatte ihn Maren gefragt.

»Nein, laß mich erst bei dir erwarmen«, entgegnete er zärtlich. »Sieh, ich bringe wieder Trübes zu den zwei alten Frauen, und solche Wege spart man gern auf. Ich habe Melenke nicht angetroffen. Wieder nicht. Ist es nicht unnatürlich, daß sie sich vor mir versteckt?«

»Was meint die Putzmacherin? Bei der wohnt sie doch?«

»Nn–ein. Das tut sie nicht mehr. Melenke wohnt allein. Ja, da kannst du wahrlich erschrecken, Maren, – ich tat’s auch . Und Melenkes jetzige Wirtin hat mir gar nicht gefallen. Wo das Mädel sei, wisse sie nicht. Wohl spazieren gegangen, – – kurz, sie redete so herum [146] und sich selbst heraus. Mein Zug ging, ich mußte fort. Maren, nächste Woche fahren wir beide nach Hamburg, und da warten wir, bis Melenke kommt. Und nehmen sie mit. Sie soll hier Arbeit finden und Heimat kosten. Hast du Mut, Maren, dies widerwillige Holgersblut zu bändigen? Bist ja doch noch nicht allzu lange aus der Schulmeisterei heraus …«

»Mit Schulmeistern ist da wohl nichts getan«, meinte Maren ernst. »Da wird nur unsere Liebe helfen können. Ich will sie lieb haben, Edlef.«

»Du!!! …« Edlef bettete Maren ganz in seinen Arm. »Aber zuerst mußt du mich liebhaben. Kalt bin ich auf der garstigen Reise geworden. Komm, küsse mich! Mein Einziges …«

Heimelig war’s im Wohnpesel. Die alte Uhr tickte. Draußen schlugen Wind und Regen gegen die Fenster. Im Ofen knisterte das Feuer.

»Geträumt hab’ ich letzte Nacht von dir«, raunte Edlef. »Du, das war ein lieber Traum … Ich kam heim von der Reise und – was glaubst du wohl? Ein paar Kinderchen kamen mir entgegen, – jawohl, versteck dich nur, – gleich ein paar . – Maren, süße Maren … Da wurd ich hellwach und so froh … Von Rechts wegen müßt ja auch schon ein Holgersjung oder ’ne lüttje Deern in der Wiege schreien …«

Edlef hob mit raschem Schwung die zarte Maren auf seinen Schoß, ihr Kopf sank an seine Schulter, er wiegte sie sacht und sang:

[147]

»Hop Marjanken, hop Marjanken,
Lat sin Frautje danzen.
He weegt dat Kind,
He feegt de Floor
Un lat sin Frautje danzen,
Hopsasa, hopsasa fallereden. –«

Hastig richtete sich Maren auf. Heiß und rot war ihr Kopf und ihre Augen brannten. Sie sprang von seinen Knien und strich sich glättend über das Haar.

Befremdet sah Edlef sie an.

»Ich muß dir etwas sagen«, sprach sie leise und hastig. »Ich habe es wohl gespürt, wie die Ahne und deine Mutter mich anschaun und um mich herumreden und wie sie dich fragen, mein Edlef. Ich dank dir, daß du mich niemals damit gequält hast, du Guter. Aber heut muß ich dich quälen – und dir sehr weh tun, mein Edlef … Ich werde nie ein Kindchen wiegen … der alte Doktor Brodersen hat es mir gesagt … Edlef …«

Edlef Holgers war aufgesprungen, doch gleich griff seine Hand tastend nach rückwärts, als bedürfe er einer Stütze.

»Was redest du da?« fragte er tonlos. » Das … das ist ja gar nicht möglich! «

Maren antwortete nicht. Sie sah ihn nur an. Nicht wie jemand, der seinen Urteilsspruch erwartet. Nein, ganz ohne Angst, ganz fest und ruhig. Ein stiller Schmerzenszug lag um ihren blassen Mund, der sagte: »Das Schwerste hab ich bereits mit mir selbst durchgerungen, du kannst es mir noch schwerer machen, indem du dein [148] eigen Leid dazupackst, oder du kannst mir alles tragen helfen …« Aber ihr Mund blieb stumm.

Langsam wandte sich Edlef. Sie streckte die Hände nach ihm hin, aber er sah sie nicht. Ein paar Worte stieß er heraus: »Der Arzt kann sich irren …«

»Er irrt sich nicht …«

Da ging Edlef hinaus, die Tür schlug hinter ihm zu, und mit leisem Wehruf brach Maren Holgers zusammen.


In ihrem Stübchen stand Maren Holgers früh vor Tau und Tag. Diese Frühstunden, da die Sonne aus dem Meere emporstieg und die stille Hallig grüßte, gehörten ihr allein. Sie beraubte niemand, wenn sie still mit gefalteten Händen untätig und träumend dem Sonnenaufgang ins gewaltige Antlitz schaute.

Es war ein winziges Gemach, das schlichteste im ganzen Mutterhof, welches Maren von all den vielen Gelassen für sich ausgesucht hatte. Seine Fenster gingen nach einem Krautgärtchen hinaus, das Maren selbst betreute. In dem sie grub und säete, pflanzte und pflückte. Ein kleiner Arbeitstisch und davor ein Sorgenstuhl, der Nähtisch der verstorbenen Mutter und eine uralte »Erfurter Lade« bildeten die Ausstattung des traulichen Gelasses. Auf den breiten Fenstersimsen blühten zwischen schneeigen, weißgepunkteten Vorhängen blutrote Geranien und starkduftende Reseden.

In den ersten Wochen ihrer jungen Ehe hatte sich Maren oft in ihr kleines Reich geflüchtet, um mit all [149] dem überwältigend Neuen, das in ihr Leben getreten war, allein zu sein. Sie hatte stille Zwiesprache mit der heimgegangenen Mutter gepflogen, deren Rat sie gerade jetzt dem vielen Unbekannten gegenüber so schwer vermißte. – Hie und da war ihr Edlef nachgeschlichen. Da war ihnen beiden dann wohl in seligem Ineinanderverlieren Zeit und Stunde vergangen.

Dann war es anders geworden. Die Ahne sah sie des öfteren ernst und mißbilligend an. Sie empfand das Alleinseinwollen der jungen Frau als »städtische Mode«, die sie nicht auf dem Mutterhof eingeführt haben wollte. Und über Edlef kam allgemach das starke, frohe, stolze Besitzergefühl, das sich seine süßen Feierstunden nicht erschleichen wollte, solange draußen in Hof und Gewese hilde Arbeit drängte. Er selbst rief mit schallender Stimme den Feierabend aus und wußte, daß er nun erst mit Fug und Recht sein Königreich hinter sich zuschließen durfte.

Wann war all dies Beglückende, Heimliche gewesen?

Maren dünkte es Jahrzehnte.

Wie jäh verändert Edlef war!

Alles Sonnige war von ihm gewichen. Wie seltsam düster und fremd er sie oft anschaute! Als sei sie selbst die Schuldige, die ihm seine Hoffnungen zertrümmert habe, und nicht das unergründliche, bittere, unbegreifliche Schicksal. –

Und das war derselbe Edlef, der Tanten Frauke aus dem Wust und Staub der Vorurteile herausgerettet und sie bedeutet hatte: »Du hast genug gelitten!«

[150]

Wer löste Maren dies Rätsel von Halligweise und Holgersart?

In den ersten Monaten ihrer Ehe hatte Edlef oft die Zukunft in das Bereich seiner Betrachtungen und Pläne gezogen.

»Wenn der Jung erst da ist … Oder … die Deerns müssen alle dir gleichen, Maren, süße Maren.«

Dann hatte sie ihr Gesicht an seiner Brust geborgen und in heiliger, ahnungsvoller Scheu gezittert vor dem Wunderbaren, das vielleicht noch ihrer wartete. Dies » Vielleicht …«. Das war’s.

Das hatte sie nie verlassen, das war neben ihr geschritten als zage Hoffnung. Die Erfüllung hatte sie kindlich-vertrauend Gott anheimgegeben.

Anders Edlef.

In kühne Pläne verstieg er sich. Nicht leise und heimlich, nicht kosend und verliebt, nicht bangend und hoffend, auch nicht scherzend sprach er über seine Wünsche.

Es waren für ihn keine Hoffnungen, die eine höhere Macht zerstören konnte, es waren Tatsachen, die früher oder später eintreffen mußten , weil er, Edlef Holgers, es wollte . Die heilige Überlieferung der Hallig und des Mutterhofes.

Einmal hatte Maren ihm erschrocken gewehrt.

Als seine Erwartungen gar zu kühn und bestimmt sich kundtaten. »Du Liebster, und wenn nun kein Kindlein kommt …?«

Da war er ganz fremd von ihr zurückgetreten und hatte mit jäh veränderter Stimme zu ihr gesprochen:

[151]

»Nicht einmal im Scherz darfst du so etwas sagen, Maren.«

Wunderlicher Edlef.

Er war auch gleich wieder lieb zu ihr gewesen.

Und keine Wolke war an seinem Zukunftshimmel schattend zurückgeblieben. Weil er kein » vielleicht « kannte, es nicht kennen wollte . – –

Dann waren Tage gekommen, da sie mit hastigen, körperlichen Schmerzen kämpfte, die sie schon in der Mädchenzeit heimgesucht hatten. Tapfer ging sie dabei ihrer Arbeit nach …

Und die starknervige Holgerssippe gewahrte nichts von Marens schattenhafter Blässe und ihrem müden Gang, – es war nicht Sitte auf dem Mutterhof, körperlichem Unbehagen auch nur die kleinsten Zugeständnisse zu machen.

Da erbarmte sich Tanten Frauke ihrer.

Mit ruhiger Selbstverständlichkeit rüstete sie für sich und die leidende Maren zu einer Reise. Gab der Ahne und der Schwägerin beschwichtigenden Bescheid und fuhr mit der jungen Frau nach Kiel.

Der berühmte Frauenarzt hatte ruhig, freundlich und aufrichtend mit ihr gesprochen, aber sein sachlich-ernstes Gutachten war vernichtend.

So wurde die Heimreise angetreten, und die herbe, verschlossene »Tanten Frauke« erlebte an der Seite der trostlosen Maren noch einmal den eigenen bitteren Schmerz früher durchlebter und durchlittener Jahre.

Vor wenigen Tagen hatte nun der alte, erfahrene Kreisarzt, der Maren seit ihrer ersten Kinderzeit kannte, das Urteil seines berühmten Kollegen bestätigt.

[152]

Die Ahne hatte den Physikus aus dem »Jungteil« treten sehen und ihm durch das Fenster des Wohnpesels im Mutterhofe mit ihrer hellen, scharfen Stimme die Tagszeit geboten. Aber er, der sonst gern mit der schlagfertigen Greisin plauderte, winkte nur grüßend mit der Hand und war eilends den Weg über die Fennen hingeschritten. Verwundert und kopfschüttelnd hatte die Ahne das Fenster wieder geschlossen, aber dann war ein Schmunzeln, wie frohes Begreifen über ihr Antlitz geflogen …

Und in der Dämmerung hatte sie lange mit Maren allein auf der Ofenbank gesessen. Zuerst mit Kreuz- und Querfragen über Wirtschaftsangelegenheiten, dann schweigend. Jedes tief in seine eigenen alten und jungen Gedanken versenkt. Dann war sacht und wie beiläufig die Frage der Ahne gekommen: »Hast du mir nichts zu vertrauen, Enkelin Maren?«

»Nichts, Ahne.«

Wieder Schweigen.

Dann der zürnende Ausruf: »Das ist nicht recht, Enkelin Maren. Was du tust und unterläßt, geht den Mutterhof an. Deine Wege sind Mutterhofwege. Denk dran.«

»Allstunds«, sagte Maren gequält.

»Du kannst aber abirren und fehlgehen. Auch ohne deine Schuld. Ahne und Mutter sind dazu da, zu weisen und zu beraten. Allwissend bin ich nicht, so rede mir selbst von deiner Not. Denn daß du in Not bist, sagen mir meine sechsundachtzig Jahre.«

Der Ahne Stimme war leise geworden. So hatte [153] sie gütiger als sonst geklungen, da nur immer das Herrschen und das Befehlen mitschwang.

Da hatte Maren den Kopf in den Schoß der Ahne gelegt. Es war wie ein Zufluchtsuchen und Ausruhen gewesen. Und es war das erstemal, daß ein junges Menschenkind der alten Frau mit einer Zärtlichkeit nahte.

So wachte auch in der herben Greisin etwas Liebes, kaum Gekanntes auf. Scheu waren die Runzelhände über Marens weiches Haar geglitten.

»Erzähl’ mir eine Geschichte, Ahne«, bat Maren müde.

Die Ahne hatte wunderlich gelacht, wie die Alraune im Märchen. »Wollt’ ich nicht etwas von Enkelin Maren hören? Mich dünkt doch.« Aber gleich drauf willfahrte sie. Als wolle sie einen Gedanken festhalten und auf andere Weise zu ihrem Ziele gelangen.

Leise und einschläfernd erzählte die Ahne, aber es war ein Unterton darin. Ein scheues Tasten und Fragen und ein Antwortheischen …

»Es gibt eine Zeit, da verlieren wir Gott. Jungerweis’ oder alterweis’, – es kommt wohl über alle. Übergroße Lust oder übergroßes Leid heben ihn plötzlich hinaus aus unserm Kopf und Sinn und aus der Herzenskammer. Schließen die Tür hinter ihm zu. Wäre Gott nicht die Geduld selbst, die immer wieder anklopft, wir stünden schon längst verlassen. Da war aber einmal ein junges Weib, ein Gegenspiel von andern Frauen. Das hatte die Welt verloren … das lebte nur in Gott . Das sah ihn in jedem Ding der Schöpfung, in Wald und Wasser, in Licht und Sonne, Feuer und Wind. Und in dem kleinen Alltag des Lebens. Die Welt und alle [154] Menschen versanken ihm völlig. Es kamen Krankheit, Not und Trübsal, es kamen Ehre und Freuden ohne Zahl. Und das junge Weib lobte Gott in jedem Falle und spürte seine Nähe. Aber die Menschen schienen ausgelöscht aus dem Gesicht und Gedächtnis. Ein Mann sah sie und begehrte ihrer. Aber sie war wie unirdisch, weil sie nur Gott kannte und die Welt verloren hatte. Da wollte der Mann ihr suchen helfen in seiner großen Liebe. Aber er vermochte sie nicht zu lehren, und sie fand nicht die Welt und nicht die Menschen. Und der eigene Mann fürchtete sich vor ihr.

Nun ward sie gesegneten Leibes.

Und als sie geboren hatte, und das Kindlein schrie neben ihr, da ward ihr plötzlich die Welt offenbar. Und als sie dem Kindlein die Mutterbrust reichte und der zarte Mund ihr Herzblut trank, da kam so unendliche Menschenliebe in das Herz des Weibes, daß es unter der Fülle zu sterben vermeinte … Und Gott hatte ein Wohlgefallen an des jungen Weibes Wandlung, denn er sagt: ›Die Liebe ist die Größeste unter ihnen.‹«

So schloß die Ahne:

» Das Kind … Enkelin Maren! Das Kind ist des Weibes und des Lebens Erfüllung! «

Jäh hatte Maren ausgeweint.

»So bin ich ausgestoßen von aller Erfüllung, Ahne, Und auch der Mutterhof hat sich mit mir betrogen.«

Da hatte sich die alte Frau langsam erhoben. Die Hände abwehrend ausgestreckt, stand sie steil hochgerichtet, also daß der müde Kopf der gepeinigten, jungen Frau keine Ruhestatt mehr gefunden.

[155]

»Ja, betrogen «, wiederholte die Greisin laut und hart. Sie war mühsam zur Tür geschritten. Dort hatte sie sich noch einmal umgedreht und voll Grimm geforscht: »War’s nur ein Rausch? Ist’s Feuer ausgebrannt? Wo blieb die himmellodernde Liebe?«

Der Stolz straffte die gebeugte Maren. »Ich sollte Euch nicht drauf antworten, aber Ihr seid die Ahne. – Mit unserer Liebe hat das Schicksal nichts zu tun …«

»So hat wohl Gott den Mutterhof verlassen, und er soll aussterben und dahinfahren …«

Die Tür war zugeschlagen, und Maren fand sich allein.

Dies alles überdachte Maren, da sie heute wieder eine stille Stunde in ihrem Reich gesucht und gefunden hatte.

Vor wenig Tagen erst war die Aussprache mit der Ahne gewesen. Was für Tage der Qual lagen dazwischen! Und das sollte nun so fortgehen durch eine Ewigkeit.

Sie war so jung, so schrecklich jung … Unerträglich dünkte ihr die Zeit, die vor ihr lag.

Ein Sturm ging jetzt über sie hin. Wild und weh weinte sie in jäh ausbrechender Verzweiflung.

Heiß, bitter und ätzend waren ihre Tränen.

Und groß und gewaltig stand eine Sehnsucht in ihr auf. Die Sehnsucht nach einem Paar Kinderaugen, die sich doch nie für sie öffnen würden. Nach Kinderärmchen, die sich doch nie als süßestes Joch um ihren Hals legen würden.

Herrgott gib mir Kraft …!


[156]

Nach einer Stunde hatte sie sich durchgerungen.

Eine andere Maren schritt durch die Tür des Jungteils in den Mutterhof. Hoch und aufrecht mit ruhigen Augen und klarer Stirn. Aber der herbe Schmerzenszug, den Kinderlose zu eigen haben, blieb um ihren jungen Mund eingegraben. Sie hatte wohl erst sterben müssen, um recht leben zu können in lauterer, selbstloser Liebe zum Mutterhof und zu all den Menschen ringsum.

So wertete sich Maren Holgers in dieser Kampfstunde ihr Leid in Segen um. –


Ein paar Abende später saßen alle im Wohnpesel.

»Es ist ungutes Wetter«, sagte die Ahne und schaute nach dem Fenster, an dem der Sturm rüttelte. Ihr Spinnrad schnurrte, surrend tanzte die Spindel.

»Keinen Hund möcht man hinausjagen«, nickte Ohm Rickert.

»Sei ruhig, Finn«, rief Edlef dem Hund zu, der an der Türe lag. »Was bist du einmal unstet heute?«

»De ganze Nahmiddag wull he sick ni gewen«, meinte der Knecht. »Ik heff dat all an Fru Mudder seggt.«

»Kusch dich, Finn! …«

Ein langgezogenes Geheul stieß der Hund aus.

»So will ich selbst einmal nachsehen.« Edlef Holgers stand auf. Der Sturm riß ihm ungestüm die geöffnete Tür aus der Hand, und an ihm vorbei schoß der Hund mit großen Sätzen in das abendliche Dunkel hinaus.

[157]

»Hierher, Finn!« Das aufgeregte Tier kam zurück, wedelte, bellte und schoß wieder fort.

»Was mag er nur haben?« sagte eine Stimme neben Edlef, und Maren schritt fest und selbstverständlich neben ihm her.

»Nicht doch, Maren, – das ist kein Wetter für dich.«

»Wüßt nicht, warum.« Sie fing ihr Tuch, das der Sturm entführen wollte, mit beiden Armen und wickelte sich fester drein. Edlef zuckte die Achseln. Wie toll gebärdete sich der Hund. Er zerrte an den Kleidern der beiden, sie mußten ihm weiter folgen.

Auf den Stufen der Treppe, die zur Großwarf führte, hockte eine Gestalt. Edlef leuchtete ihr ins Gesicht.

Rasch legte Maren den Arm um die Kauernde. »Du bist krank, Melenke, komm, wir bringen dich heim.«

»Heim?« Melenke lachte schrill. Dann stöhnte sie in grimmen Schmerzen. »Ja, ich bin krank. Morgen, – morgen gehe ich wieder.«

Es war ein mühseliger Weg zurück im Sturm mit der Kranken. Auf dem Hof unter dem Birnbaum zögerte Melenke. »Ich fürchte mich vor der Ahne«, raunte sie.

»Ich nehme dich zu mir «, begütigte Maren.

Das Bett in der Gastkammer war bald sorglich geschichtet. Hin und her schritt Maren in ruhiger Geschäftigkeit. Melenke hockte in einem Ohrenstuhl, und Edlef war ohne Gruß und Wort zu den andern zurückgekehrt, um sie auf den Gast vorzubereiten.

»Komm,« sagte Maren liebevoll, »ich will dich auskleiden. –«

[158]

Da ließ Melenke mit wehem Lachen das große, verhüllende Tuch sinken, und Maren taumelte zurück …

Nach einer Stunde kam Edlef. Es war heiß drüben zugegangen bei Ahne und Mutter. »Die Ahne geht uns noch zugrund,« meinte Edlef und warf sich müde in einen Stuhl, »aber sie kommen jetzt beide herüber, um Näheres über Melenkes Krankheit zu erfahren …, was tust du da, Maren?« unterbrach er sich und sah sie befremdet an.

»Ich rüste die Wiege auf dem Mutterhof, mein armer Edlef«, sagte Maren ernst und sah den geliebten Mann aus leidvollen Augen an.

»Barmherziger Gott … Melenke?«

»Ja, Edlef. Halte Mutter und Ahne fern. Tante Frauke sitzt drüben, sie ist mir wahre Hilfe und Stütze.« Maren legte ihre beiden Hände auf Edlefs Arm. »Bitte die Mutter, daß du heute drüben schlafen kannst.« Ein liebliches Rot stieg in ihr junges Gesicht. »Wir können dich hier so gar nicht brauchen heut nacht.«

Schrille, herzzerreißende Klagelaute tönten aus der Kammer nebenan. »Geh, – geh, mein Edlef.«

»Herrgott!« stammelte er, – »will denn die Schmach gar nicht enden für den Mutterhof?«

Sie sah ihn still an. Dann meinte sie: »Wie wir das Schicksal betrachten. Es kommt nur auf unsere Augen an.«

Da senkte Edlef Holgers tief das Haupt.

Am andern Morgen schritt Maren aus dem Jungteil hinüber nach dem Mutterhof. Ahne und Mutter Holgers saßen bei ihrer Brennsuppe. Ohm Rickert paffte große Wolken. Edlef schaffte schon in Hof und Stall umher.

[159]

»Es ist ein Knabe«, sagte Maren statt aller Begrüßung. Und faßte gleich darauf das klein gewordene Runzelgesicht der Ahne in ihre jungen, lebenswarmen Hände. »Nicht wieder krank werden, nicht verzagen, Ahne!«

Die Mutter war hinausgegangen.

Die Ahne hatte die Hände ineinander gekrampft. Nicht zum Beten. »Der Herrgott hat den Mutterhof verlassen«, sagte sie laut und hart.

Da tönte Marens weiche, junge Stimme: »Ich kann das nicht glauben. Wo Gott ein Kindlein hinschickt, solch Haus ist nimmer verlassen …«

Sie wollte noch fragen: Warum femt ihr mich denn, wenn ein Kind euch doch so wenig gilt? Aber sie wollte der Greisin nicht noch weher tun.

»Seit Menschengedenken ist kein unehelich Kind auf dem Mutterhof gewesen«, hub die Ahne wieder an. »Junggaster und Haustöchter lebten allstunds untadelig Leben …«

Sie schlug die welken Hände vor das Antlitz, die alten Augen hatten die Tränen verlernt, um so erschütternder klang ihr trockenes Schluchzen.

Nach einer Weile verstummte es, und die Ahne erhob sich mühsam. »Ohm Rickert und Enkelin Maren! Ihr werdet niemand sagen, daß ihr mich schwach gesehen habt. – Ich danke dir, Maren, daß du die verlorene Tochter pflegst, als sei sie ehrlich. Am neunten Tage ihres Wochenbettes werde ich zu ihr gehen und sie nach dem Vater des Kindes fragen. Rüstet zu einer stillen Hochzeit. [160] Vorher soll das Kind getauft werden. Mein Enkel Edlef wird den Namen bestimmen, weil uns die Schmach angetan worden ist, niemand von der Sippe des Kindvaters zu kennen. Und da wir keine Wehmutter hatten, so soll das Kind von unserer alten Magd zur Kirche getragen werden ohne Festkleid und ›Brokaten Holl‹ [4] . Auch soll die Wöchnerin keine ›Wöffesamling‹ [5] abhalten dürfen, so hart mir diese Pön ankommt, die den Mutterhof trifft wie einen Schlag. Dagegen wird meine Enkelin Melenke ganz allein den ›Un Sark gung‹ [6] halten, doch soll ihr niemand Opfergeld geben. Und will der Pastor ihr Fem und Pön dabei auferlegen, so muß sie es tragen.«

[4] Erbmütze.

[5] Frauenversammlung.

[6] Kirchgang.

(Anm. d. Verf.)

Die Ahne schwieg erschöpft und Ohm Rickert war hinter seinen Rauchwolken schier verschwunden. Seine Stimme klang grollend hinter dem Nebel: »Nun wird der Soot zugedeckt, aber erst nachdem das arme, junge Blut hineingefallen ist …«

Maren ging müde in das Jungteil des Mutterhofes zurück. Dort sah es ganz friedlich aus. Die junge Wöchnerin schlief fest nach der erschöpfenden Nacht. Auch Tanten Frauke hatte sich etwas niedergelegt. In Marens Wohnpesel stand die Wiege mit dem Neugeborenen. »Du Armes!« sagte die junge Frau zu dem kleinen Bündel in den rotgewürfelten Kissen. »So gar nicht willkommen geheißen, und doch ein Gottesgeschenk …«

Sacht bewegte ihr Fuß die Schwengel und leise sang ihr Mund uralte Wiegenweise:

[161]

Nu will ick to Bedde gaan,
Fjertein Engelkin bi mi staan.
Twe bi min Höde, twe bi min Föde.
Twe bi min rechte Hand;
Twe bi min linke Hand,
Twe, de mi decken,
Twe, de mi wecken,
Twe, de mi fören int himmelske Paradeis.

Neun Tage später klopfte es mit hartem Finger an die Schlafstube im Jungteil. Maren Holgers, die noch die letzte Hand an das Aufräumen des Pesels legte, erschrak bis ins Herz hinein. Melenke lachte geringschätzig. »Wie willst du das Leben ertragen, Maren, wenn du so’n Bangbüx bist. Als ob du die Dummheit gemacht hättest und nicht ich. Ganz blaßßnuutig sühst du ut.«

»Seid ihr fertig dadrinnen?« tönte die Stimme der Ahne hinter der verschlossenen Tür. »Ich bin es nicht gewohnt zu warten.«

Wieder lachte Melenke hart. Und schob Marens stützende Hand fort und ging selbst zur Tür, die sie entriegelte. »Gö Dai, Ahne, gö Dai, Mutter, da habt ihr mich. Macht’s kurz.«

Die Ahne schaute finster auf die Enkelin, während Mutter Holgers nichts zu sehen schien als die plumpe, blumenbemalte Holzwiege mit dem Enkelkinde, das man ihr so lange vorenthalten. –

Sie hob das Kind aus den Kissen.

[162]

Alles Herbe fiel von ihr ab. Was da so winzig und hilfsbedürftig auf ihren Armen lag, war Fleisch und Blut von ihrem eigenen Selbst. Ihr erstes Enkelkind. Tausend unsichtbare Quellen sprangen in ihr auf. Wie geschah ihr? So hatte sie nie ihre eigenen Kinder geliebt, wie dieses verfemte Lebewesen, das man so gern auf dem Meeresgrunde bei Ekke Nekkepenns Weib gelassen hätte. Gleichviel, sie liebte es. Trotz der Schande, die seine Mutter über den stolzen Mutterhof gebracht. Und trotzdem man nicht seines Vaters Namen wußte. Scheu und ungeschickt küßte Mutter Holgers das kleine, rote Gesichtchen. Dann legte sie das Bündelchen sorgsam in die Wiege zurück und hielt hastig eine Milchflasche mit rotem Saugpfropfen der jungen Mutter entgegen: »Was ist das? Seit wann zieht man auf dem Mutterhof Flaschenkinder groß?«

Melenke gab keine Antwort und Maren sah wie schuldbewußt vor sich nieder.

»Antworte deiner Mutter«, gebot rauh die Ahne.

Melenke zuckte die Achseln und ließ sich in den Ohrenstuhl gleiten, denn ihre Kräfte waren noch nicht völlig wiedergekehrt. »Das Selbstnähren ist für seßhafte Leute«, sagte sie mürrisch. »Sobald ich arbeiten kann, gehe ich wieder nach Hamburg. Da muß das Kind ohnehin die Flasche bekommen …, eine Freundin von mir will’s aufziehen …«

Maren sah in ungläubigem, schreckhaftem Staunen auf die Schwägerin. Die Ahne winkte ihr. »Laß uns allein, Maren.« Da erhob sich rasch auch Mutter Holgers [163] und ergriff mit Maren zusammen die Holzwiege und trug sie mit ihr hinüber in den Wohnpesel.

»Melenke …« sagte heiser die Ahne. »Wer sein Kind nicht an die Brust nimmt und mit eigenem Herzblut nährt, der ist schlecht. Und eine Sünde ist’s wider Natur und Gottsgebot. Lieber wollt’ ich, ich wär’ vorher taub geworden, damit ich solche Red’, wie deine vorhin, nicht verstanden hätte – – Bist du denn auch eine Mutter

»Leider Gotts, ja.«

»Versündige dich nicht! Mutterschaft ist heilig. Du bleibst bei deinem Kind. Der Hof trägt’s. Jetzt gibst du erst einmal dir selbst einen Beschützer, deinem Kind den Vater. Dein Bruder Edlef wird den Mann dann empfangen, und soll kein unrechtes Wort weiter fallen über deinen Fehltritt. Büßt es gemeinsam ab, und bringt euch selbst wieder zu Ehren …«

»Ich weiß nicht, was die Ahne will …« sagte Melenke unbehaglich.

»Glaub’s schon, daß du schwerere Strafe erwartet hattest, als das Ja und Amen deiner Sippe.« Wieder zuckte der Ahne Blick scharf nach dem Mädchen hin. »Wir tun’s auch nicht um deinetwillen, sondern um Mutterhofs Ehre und Ansehen.«

Melenke schwieg.

Die Ahne erhob sich. »So schreib jetzt das Nötige auf, der Edlef wird den Brief selbst nach Hamburg bringen. Dank es recht deinem ältesten Bruder, es ist ein schwerer Weg. –«

»Ich verlang ihn nicht von ihm.«

[164]

»Melenke!!!«

Düster brannten die Augen des Mädchens in dem blassen Gesicht: »Laßt mich wieder nach Hamburg!« stieß sie hervor.

» Nein! Hierher soll der Mann kommen und dich und sein Kind holen. Ich will’s . Und ich rede im Namen der Sippe, der toten wie der lebendigen. Kann der Schuldige euch beide ernähren, so folgt ihr ihm nach Hamburg. Kann er’s nicht, so wird euch dreien der Mutterhof das Brot geben … den Namen will ich, Melenke!!! …«

Tiefes Schweigen.

»Mußt du dich seiner schämen?« fragte leise die Ahne. »Warst du so von Gott verlassen? Melenke hör’ zu! Hab’ keine Furcht! Vielleicht denkst du, die Sippe wird herabschauen auf ihn … Melenke, ich , die Ahne, werd’s nicht leiden. Hörst du mich? Sieh mich an. Sie sollen ihn und dich achten ich, ich – die Ahne, befehl es ihnen. Nur mach’ dich ehrlich! Den Namen – Melenke, sprich den Namen!«

Die dürren, runzligen Hände streckten sich flehend der Jungen entgegen, heiser und schrill, wie zerbrochen klang die Stimme der Ahne. Fliegende Hitze jagte über Melenkes Gesicht. Sie wollte die alte Hand fortschütteln, die sich um ihren Arm krampfte.

»Laß mich, Ahne …«

» Den Namen … Melenke! «

Mit einem Ruck riß sich das Mädchen los und sprang auf. »Ich weiß ihn nicht!«

Da veränderte sich jäh das Antlitz der Ahne, und [165] Melenke schrie laut auf vor Angst, als sie in die verfallenen Züge sah.

»Du weißt ihn nicht???«

» Nein !!! Hab’ ihn nie gewußt … War nicht neugierig in jener lustigen Stunde … Das Lachen wollt ich lernen, das man mir im Mutterhof verbot …«

Da ächzte die Greisin auf. Ganz still war es dann im Pesel. Minuten verrannen. Tief lag das weiße Haupt gebeugt auf den krampfhaft verschlungenen Händen. Dann wieder das schwere Ächzen … und wieder, und wieder …

Vor Melenkes Augen tanzte die Stube. Sie griff nach dem Wasserkrug auf dem Tische und trank daraus. Einen scheuen Blick warf sie auf das zusammengekrümmte Etwas am Tisch, dann kroch sie fröstelnd ins Bett. –

Als Maren etwas später an die Kammertür pochte, wurde ihr keine Antwort. Sie legte das Ohr an die Tür, sie hörte rufen und lachen …

Da schritt sie befremdet herein.

Und fand ein totkrankes junges Weib, das rang mit dem Fieber und lachte … lachte …

Und fand eine Tote mit tiefgeneigtem Haupt über den gefalteten Händen.

[166]


Aufzeichnungen des Halligschulmeisters Manne Wögens.

Der verkrüppelte Baum am Schulgarten ächzt im Sturm.

Und als tue es ihm selbst weh, daß er ihn so zausen muß, so klagt er zu seinem Stöhnen.

Gut stimmt die trübe Melodei zu meinem eigenen Empfinden. Irgendwo in Herzenstiefen schlummert die Frohnatur von Manne Wögens, aber niemand weckt sie auf.

Nicht einmal die Schulkinder, diese täglichen, hellen Mahner: »Und abermals freuet euch!«

Wie ist die Lücke so unnatürlich weit und groß, welche der Heimgang der Ahne in mein Leben gerissen.

Kaum um ein junges Weib, das mir Herz und alle Sinne füllte, könnte ich so trauern, wie um die fast Neunzigjährige.

Ohm Rickert sagt: »Wie die Hühner ohne Kopf torkeln wir umher.«

Dabei war er der allzeit Unbotmäßige, der sich einweg mit der Ahne gestritten hat. Und er setzt verdrossen hinzu: »Es ist auch gut, daß ich keinen Kopf mehr habe, denn es ist nüms da, der ihn waschen könnte.«

Die Kopfwäsche fehlt mir nicht, denn die Ahne war trotz ihres überragenden Alters von einer rührenden Ehrerbietung gegen mich. Aber ihr scharfer Spott geht mir ab, ihr schlagender Witz, ihr trockener Humor, ihre gute, kräftige Sprache. Die Hallig ist verwaist, ihre Mutter ist heimgegangen. Und ich, der ich meinte, die Ahne am besten zu kennen, war auch nur ein Stümper [167] in der Seelenkunde. Glaubte allstunds, die alte, herbe Frau habe den Stolz an die oberste Stelle gesetzt …

Und es ist doch die Liebe gewesen. Wunderliche, verleugnete Liebe. Aber doch »die Größeste«. –

Edlef hat mir erzählt, was man erlauscht.

Wilde, wehe Rufe und Bitten: » Den Namen! Sprich den Namen! Melenke. «

Und da die Ahne gewahrte, daß ihr bluteigen Enkelkind aus schnöder, gacher Lust gefehlt, und keine sühnende Liebe herbeizurufen war, da hat diese Erkenntnis das alte, stolze Herz gebrochen. – Gott schenke ihr fröhliche Urständ!

Ahne, liebe Ahne, der junge Schulmeister trauert bitter um dich. – – –

Als wir sie auf dem Gottesacker betten wollten, fragte Pastor Licht nach letztwilligen Verfügungen.

Die schienen zu fehlen, aber dann fanden wir eine Eintragung im »Zeitbuch« der Ahne.

Sie ist an jenem Abend geschrieben, da Melenke Holgers die Schande auf den Mutterhof brachte.

»… und so bitte ich inständig den Pastoren mir wieder die Hand zu reichen. Und wann mein letztes Stündlein sollt kommen, so will ich in Frieden und Demut neben Peder Claußen ruhen …«

Als Pastor Licht das gelesen, sind ihm die hellen Tränen aus den Augen geronnen, und er hat sich ihrer nicht geschämt. Ja, die Ahne, die Ahne …

Mein alter, wunderlicher Knecht erzählte mir, daß er den schwarzen »Sterbevogel« mit dem weißen Kranz [168] um den Hals hätte fliegen sehen. Erst um den Glockenturm herum, dann dem Mutterhof entgegen … Darauf sei die Kunde von dem Ableben der Ahne gekommen. Halligaberglauben. Man möchte gern daran rütteln, aber man muß fein Obacht geben, daß kein gutes Vertrauen dabei abbröckelt. Eine zweite Verfügung hinterließ noch die Ahne: »Bringt mich nach altem Halligbrauch unter die Erde, aber die ›Sörgewüffe‹ [7] lasset fort, auf daß die Parentation nicht gestöret werde.«

[7] Klageweiber.

Vier alte Halligfrauen haben der lieben Toten die üblichen schwarzen Trauerkleider angelegt, haben sie im Pesel auf den Tisch gebettet, auf welchem mit einer Decke belegtes Stroh geschichtet war. – Dort ruhte die Greisin bis zur Sarglegung. Fürsorgliche Ahne! Du hattest dein letztes Bettlein schon seit zehn Jahren auf dem Boden stehen …

Treulich haben wir an jedem Tage, da die Leiche noch über der Erde stand, eine halbe Stunde die Totenglocke geläutet und am Beerdigungstage mit dreimaligem viertelstündigem Läuten die Totenklage beendet. Mit Edlef Holgers zusammen hielt ich die Leichenwacht. Zwei brennende Kerzen warfen ihr stilles Licht über die Schläferin. Am dritten Tage banden wir den Sarg mit starken Kabeltauen an zwei langen Stöcken fest. Breiteten das weiße Leichentuch über ihn und trugen ihn fort.

Vor jeder Warf ließ ich die Schulkinder eine Strophe singen, es hallte ernst und schön über die stille Hallig hin. Auf dem Gottesacker wurde der Sarg von den Stöcken [169] gelöst und auf die Bahre gesetzt. Dann trugen wir ihn ein paarmal um die Kirche herum.

Gute Ahne, du warst es uns wert, daß wir die uralten Gebräuche heilig hielten.

Jetzt ruht schon unter Glas und Rahmen ein Spruch auf dem Grabe, das ich mit eigener Hand dicht mit Muscheln belegte und mit Bonnestave besteckte. Den Spruch tragen alle Müttergräber des Mutterhofes von Urbeginn:

»Weiber, so da Kinder zeugen
Und dabei im Glauben stehn,
Die hat Jesus ihm zu eigen
Selbsten ewig ausersehn.
Dies lindert mir mein Schmerz.
Ruh weyland sehr geliebtes Herz! –«

Als wir den Sarg in seine letzte Stätte hinabließen, raunte mir mein alter Knecht zu: »Dat is noch ni to Enn, dor kümmt noch wat nah.« Und er zeigte auf die Seile, die sich untereinander »verkrüngelt und vertüdert« hatten.

Unwillig wies ich ihn ab.

Aber auch dieser Halligaberglauben wird sich nicht ausrotten lassen, sondern sich forterben von Geschlecht zu Geschlecht.

Und jeder der älteren Halligleute ist fest davon überzeugt, daß die »verkrüngelten und vertüderten« Sargseile den Tod der jungen Melenke vorhergesagt haben …

Nach der Beisetzung der Ahne schritten wir erst alle ins Gotteshaus, um die Wachskerze für die Heimgegangene auf den Altar zu stiften. Dort soll sie am Geburtstage [170] und zu hohen kirchlichen Festen ihr zum Gedenken angezündet werden. Als wir zum schlichten Totenmahl in den Mutterhof gingen, hörten wir durch die geschlossenen Fenster hindurch das laute, fieberirre Reden und Klagen der totkranken Melenke. Nur flüchtig sah ich Schwester Maren. Die hatte Tag und Nacht bei der Kranken gewacht, wie wir bei der Toten. Aber ich erschrak doch vor dem Schmerzenszug in ihrem Gesicht …

Schwager Edlef Holgers, wann wirst du deinem jungen Weibe die Dornenkrone wieder abnehmen? Willst du mit Gott rechten? Ist dir der Reichtum nicht genug, der im Herzen eines reinen Weibes ruht? Schwer hast du mich enttäuscht, den ich meinen liebsten Freund nannte. Vergiß nicht, daß du geschworen hast, Edlef Holgers! Du hast vor Zeugen gerufen: »Ich will sie glücklich machen, so wahr mir Gott helfe!«


Neben die Großmutter betteten wir die Enkelin.

Zwei Eisenköpfe will der Tod zu Staub werden lassen.

Der dritte Eisenkopf, die Nomine, ließ sich nicht blicken. Dessen Hirn trieb just Blütlein zur Freude der Examinatoren.

Nomine Holgers hat am Begräbnistage der Ahne ihr Doktorexamen bestanden.

Sie promovierte in Kiel und überließ es uns, die treue Ahne, diese Wertvollste der ganzen Holgerssippe, einzubetten. Die Doktorandin sah sich »endlich« hinauswachsen aus dem »Milieu der Subalternen«. Und darüber [171] ist ihr die arme Hallig versunken mitsamt der Ahne und der jungen, verirrten Schwester Maria Magdalena. –

Das Telegramm, aus dem das Glück buchstäblich hervorlachte: »Hurra, bestanden! Summa cum laude «, schickte mir Edlef durch meinen Schüler Onnen. Da liegt es noch vor mir auf dem Schreibtisch. –

»Willst du deine Schwester nicht wissen lassen, was sich hier alles ereignet hat?« fragte ich Edlef. »Es stirbt nicht alle Tage ein Edelmensch.«

»Nein«, entgegnete er finster. »Die Nomine will jetzt eine fröhliche Rhein- und Moselfahrt machen, da braucht sie leichtes Gepäck. Sollen wir sie unnütz mit der Hallig beschweren und mit unserer düsteren Traurigkeit?«

Ich wollte sagen: »Alle Rhein- und Moselfahrten wiegen nicht das Glück auf, von einer Frau abzustammen, wie es Ahne Gesine Holgers war«, aber ich wandte mich wortlos.

Mit Edlef Holgers ist jetzt nicht zu rechten und zu streiten, ja nicht einmal zu reden. Dem hat eine unsichtbare Faust all die jungen Baumkronen mit den Blütenzweigen zerschlagen. Nun muß er sich erst wieder zurechtfinden. Muß die bittere Enttäuschung unter die Füße zwingen. – Ihm ist noch nichts Ernstes verquer gegangen. Nun hadert er mit dem Schicksal um einen Stammhalter. – Und hat doch in seinem Bruder Onnen den prächtigsten, vorbildlichen Erben. Vielleicht, daß sich von den übriggebliebenen Baumstämmen noch ein warmes, leuchtendes Feuer anzünden ließe für den Winter seines Lebens …

[172]

Marenschwester, ich vertraue auf dich. Du wirst den Herd seines Hauses nicht erkalten lassen …

Eigentlich müßte es jetzt recht trübsinnig zugehen im Mutterhof. Nach all dem Erleben und all dem Ersterben. –

Aber dem ist nicht so.

Da war ein Morgen nach den beiden düsteren Begräbnissen, da stand sein junges, blasses Weib schier fröhlich vor Edlef Holgers und sagte: »Mich dünkt, Lütt-Krischan bleibt am besten auf dem Mutterhof, ich will ihn wohl großziehen.«

»Den Bankert?« hatte Edlef feindlich gefragt.

Und wieder die Maren: »Da sei Gott vor, daß wir Melenkes Sohn einen solchen Übelnamen geben. Ist er auch vaterlos, so hat er dafür euern Namen bekommen, ist also nun ein Holgers.«

Dies Gespräch hat mir Ohm Rickert erzählt. Edlef hat nichts gegen Marens Vorschlag gesagt. Recht ist es ihm wohl nur der Leute wegen, vor denen er nicht des Hauses unsaubere Wäsche waschen möchte. Aber meine Marenschwester blüht auf seitdem.

Und zwei alte Frauen werden noch einmal jung und unbitter. Mutter Holgers stiehlt sich in jeder freien Minute zum Enkelkind und ist also, runzellos und glückhaft, kaum wieder zu erkennen. Und Tanten Frauke fallen plötzlich alte, friesische Wiegenlieder ein. Die sie selbst nie singen durfte, singt sie nun Marens Pflegekind:

[173]

»Slaape, min Börn, ick wage di wat;
Wiarst man irst grotter, dan schluan ick di wat.
Aber dö best nog soll’ to jung
Dö möst nog en Jir waged wese.«

Jeden Tag erzählten mir Onnen und Karen von Lütt-Krischan. Wie er kräht und schreit und schläft und wieder schreit und recht das Regiment führt im großen Gewese. Und komme ich hin, dann laufen mir alle entgegen und ziehen mich zur Wiege, da muß ich von zwei eifrigen alten Frauen hören, welch ein Wunderkind Jung-Krischan ist, und Onnen und Karen zeigen mir, was er Neues kann. Maren berichtet stolz, wieviel er gewachsen, und was er wiegt und sieht in ihrer mädchenhaften Mütterlichkeit sehr lieblich aus. –

Der Herr des Mutterhofes merkt freilich nichts von dieser Lieblichkeit. Seine Stirn ist immer so tief gefurcht, wenn er in die Wiegenatmosphäre tritt, daß sich das Bild jäh verändert. Man trägt Lütt-Krischan rasch in die leere Döntje der Ahne, und die Frauen nehmen ihr Spinnrad oder das Klöppelkissen zur Hand, wenn sie nicht überhaupt vorziehen, in ihr Eigenheim zu enteilen. Und in Marens Antlitz tritt wieder der Leidenszug, dem sich neuerdings eine kleine, feste Falte zugesellt, die ungefähr sagt: »Ich will

Am Hochzeitstage meiner Schwester Maren war ich es wohl allein, der verstand, was für einen Spruch Ohm Rickert der Braut mitgab: »Man kann die Stube nur vom Sofaplatz aus beherrschen …«

[174]

Ich glaube nicht, daß meine Marenschwester sich freiwillig je wieder auf einen Stuhl setzt.


Über die Hallig tobte der Sturm aus Südwest.

»Dat duert mi all to lang«, meinte Ohm Rickert und schaute bedenklich drein, und trat ans Fenster und sah nach den jagenden Wolken und nach der wilden See. Onnen Holgers stand neben ihm. »Süh, min Jung,« belehrte ihn Ohm Rickert, »dor kümmt een durch den engelschen Kanal in de Nordsee. De Atlantische Ozean will uns en beten besäuken. Paß up. Allstunds nimmt de Storm noch to, trotzdem wi Ebbe hebbt, dat’s ’n slechtes Teken.«

»Meinst du, daß wir eine richtige Sturmflut kriegen?« fragte Onnen gespannt und machte ganz erwartungsvolle Augen. Der Ohm deckte sie ihm mit seiner großen Hand zu.

»Jung, lösch die Lichters. Dat is nix to lachen. Das braucht nich grod Sturmflut to werden, Gott schall uns bewohrn. Dann müßt all dreierlei tosamen kamen: Sturmstärke neun, und dann vierundzwanzig Stunn mit den ›Syzygien‹ tosamen. Und dann, min Jung, mut de Wind vör de Springflut umspringen nah Nordwest. Und wenn denn bei Hohlebbe de Hallig noch unner Water steiht, un de Storm nich aufflaut, sondern so bi bliwwt, – min Jung, dann fallt dien Hart eklig in de Büx.«

»Seid ihr bang, Ohm Rickert?« fragte Maren geruhig vom Sofa her.

[175]

»Bang bün ik all min Lebtag nich west,« wehrte Ohm Rickert, »aber aus Südwest kommt nix Guts zur Hallig. Dat wir gut, wenn wi de Gesangbäuker hernehmen.«

Onnen sprang zum Tisch und holte aus dem »Schapp« die Bücher. Maren ließ das Wiegenband los und faltete die Hände. Ohm Rickert stimmte als Ältester erst einmal sein eigen Lied an und rief es zum Fenster hinaus. »Christ Kyrie, komm zu uns auf der See.« Und nachdem er es dreimal gesungen, fielen die Frauen mit klangvollen Stimmen ein. Maren sang allen voran und ihr zartes Gesicht leuchtete in aller Glaubenskraft:

»Mächtig hast du abgewehret
Schaden, Unfall und Gefahr,
Und das Gut steht unversehret,
Und gesegnet war das Jahr.«

»Christ Kyrie, komm zu uns auf der See«, schloß Ohm Rickert mit eindringlichem Ruf die kurze Andacht. –

Sacht schaukelte wieder die Wiege.

Ein erneuter Sturmprall stieß die Tür auf. Jemand flog mit herein und setzte sich verpustend auf den Stuhl, der neben der Tür stand. Der ganze Mann triefte vor Nässe und Onnen sprang zu, und nahm ihm den Mantel und die Mütze ab, um sie auf der Diele vor das offene Feuer zu hängen.

Maren lachte ein wenig.

»Muß erst der Südwest euch auf den Mutterhof blasen, Nachbar Luersen? Wir haben uns Wochen nicht gesehen oder gar Monate?«

[176]

Der Angeredete schaute stumm vor sich hin, ganz zusammengeduckt saß er da.

»Mich dünkt,« meinte Ohm Rickert, »da hat noch jemand dem Sturm nachgeholfen. Erstmal aber brau ich ’n lütten Teepunsch, der wird dann das Nötige aus Nachbar Luersen rausholen.«

Dieser wehrte müde mit der Hand. »Dein Heilmittel hat zwei Seiten, ich hab’ sie schon allbeid ausprobiert …«

»So will ich dir die Seite brauen, die heut für dich gut ist, arm Stackel.«

Als Ohm Rickert nach einer guten Viertelstunde wieder hereinkam, fand er genau dasselbe Bild. Die wiegende Maren, die beiden klöppelnden alten Frauen, die Kinder über ihren Schularbeiten, und den Besuch noch immer zusammengeduckt auf dem Stuhl an der Tür. Eine kleine Wasserlache stand um ihn herum.

Ohm Rickert klopfte ihm auf die Schulter. »Da hängt man wohl am besten den ganzen Kerl vors Feuer«, lachte er gemütlich. »Un dor is de Teepunsch. Dat’s min Rezept. Wasser hab sich nich viel drin, das hast du all nog mitbrächt. Trink, Nahbar Luersen, un vertell din Sorgens.«

Mit beiden Händen umfing der Verklamte das heiße Glas. Ein wohliges Schauern ging durch ihn hin. Aber er sprach nichts, bis er die Hälfte des Inhaltes mit dem Löffel ausgeschöpft und den abgekühlten Rest mit einem einzigen, gierigen Schluck hinuntergegossen hatte.

»Wenn die Kinder hinausgehen könnten …«

Gleich nahm Onnen die Schwester bei der Hand, und wenige Minuten später standen sie schon beide, von einem [177] dicken Umschlagetuch umwickelt, vor der Haustür. Tüchtig mußten sie sich anstemmen, um nicht umgerissen zu werden, und mit hellem, freudigen Aufkreischen beobachteten sie, wie das Wasser herankam. An der Halligkante tobte schon die Brandung, die alle Rinnsale schnell füllte und zuerst Schaumtropfen, dann aber Riesenwellen über die Insel hinjagte.

Drinnen nahm Vadder Luersen mit raschem Griff seinen Stuhl und schob ihn an den runden Tisch.

»Warm und still und satt ist’s bei Euch, Maren Holgers«, sagte er aufatmend.

Sie wartete, ob noch etwas nachkäme, aber der Gast hatte sich niedergesetzt und brütete vor sich hin. Da fragte sie lächelnd: »Kamt Ihr bei dem wilden Wetter von der Schulwarf, um mir das zu sagen?«

»Freilich nicht. Frauenrat wollt’ ich hören. Ich dacht: ›Mutter Holgers ist erfahren, Frauke Holgers ist besinnlich, und Maren Holgers ist rasch und zupackend, obendrein voll Liebe für alle Halligkranken‹ …«

»So? Meint Ihr das?« fragte Maren, und ein froher Schein flog über ihr Gesicht. »Und wobei dürfen wir raten?«

Es wurde ihm schwer zu antworten. –

»Uns’ Akke ist heut mittag mit einem lütten ›Sokkerpöös‹ angereist gekommen. Von ihrem Mann will sie weg. – Nichts da, hab ich gesagt, du gehst zu ihm zurück. Das wird sie denn auch getan haben … Sie nahm die Richtung nach der Postfähre. So ein Dickkopf. Ein lütt büschen hätt’ sie ja gut warten können … Sie ist nicht hier?« fragte er plötzlich dringlich.

[178]

»Wie sollte sie hierherkommen?« Maren schoß das Blut ins Gesicht. Und Mutter Holgers setzte finster hinzu: »Eure Akke hat den Mutterhof noch nicht wieder betreten – seit damals …«

»Weiß schon, weiß schon«, nickte Vadder Luersen, »und ich will nun wieder gehen.«

Tanten Frauke hob den Kopf. »Und unser Frauenrat?«

Er erhob sich schwerfällig. »Der ist nun nicht mehr vonnöten. Ich hatt’ eben gemeint, – die Akke müßt hier sein.«

»Ihr sagt uns nicht alles«, rief Maren rasch. »Ihr habt Eure Tochter und den Säugling bei diesem Wetter von Euerm Haus verjagt? Ist’s so?«

Vadder Luersen reckte sich. »Arm ist unser Haus und bis obenhin voll Schulden und unnützer Fresser, aber doch zu schade für ein weggelaufenes Weib …«

Das angstvoll forschende Gesicht des Vaters strafte aber die herben Worte Lügen.

»Warum habt Ihr unsern Rat nicht früher geholt?« fragte Maren mit blitzenden Augen. »Die Akke gehört in Euer Haus.«

»Ja, früher einmal.«

»Das Recht verlischt nicht. Ihr habt sie verheuert. Mit Euerm Willen hat sie den Hamburger genommen.«

»Und mit ihrem eigenen. Das könnt mir fehlen, daß ich zu meinem bannig vielen Kinnerwarks auch noch Enkel sollt aufnehmen …«

»Beinahe möcht’ ich sagen: Schämt Euch, Nachbar Luersen!« rief Maren. »Aber Ihr seid verbittert. Deshalb [179] leg’ ich nichts auf die Goldwage … Inwendig bei Euch sieht’s ganz anders aus. Ich habs immer gefühlt, daß die Akke Euer Spiegel ist.«

Vadder Luersen stöhnte auf. »Dat is ja nur, dat mi dat min Akke andeiht. Mien eigen lütte, söte Deern! Es ist die Schande. Daheim die jammernde Olsch’, – und in Hamburg der fremde Schwiegersohn … ›Halligpack‹ hat er ihr nachgerufen … Das Wort frißt einen Friesen auf. ›Halligpack!‹«

»Das Wort fällt von uns ab«, sagte Maren ruhig. »Und den, der’s aussprach, trifft es. Nehmt’s nicht wieder in den Mund, Vadder Luersen. Was soll der Hamburger Schmutz auf unserer reinen Insel?«

Der Gebeugte richtete sich auf und sah die Sprecherin unverwandt an. »Von Euch, Maren Holgers, geht niemand ungetröstet fort.«

Maren errötete, denn sie fühlte, wie auch die anderen sie eigen anstarrten, als sähen sie die Hausgenossin zum erstenmal. –

Draußen polterten die Kinder, schrien und riefen.

Vadder Luersen öffnete die Tür. »Jesus, – komme ich denn da noch heim???«

Ein jäher Sturmstoß gab ihm Antwort. Beide Kinder fielen zu Boden, Onnen raffte sich wieder auf und sprang auf die Diele, die schreiende Karen nahm Vadder Luersen mit raschem Griff und hob sie über die Schwelle. – Wilder Aufruhr ringsum. Im Tief überschlugen sich die Wellen, Brandung und Gischt tosten und sprühten, nur der Halligsee war der einzige »ruhende Pol«.

Maren brachte Mantel und Mütze. »Macht fix zu, [180] Vadder Luersen«, drängte sie. »Solang die Leeseite noch ruhig ist, kommt Ihr heim. Grüßt Mutter Luersen. Laßt Eure Sorgen auf unserer Diele …«

»Habt Dank!« Der Wind verschlang die Worte.

Einen Augenblick verweilten die Bewohner des Mutterhofes noch in der offenen Tür, um all das Gewaltige in sich aufzunehmen. Die jäh veränderte, sonst so stille Insel, die grauen Wassermassen, die zerrissenen Wolken am Himmel mit dem glutroten Sonnenball, und die Schwärme der schutzsuchenden Vögel, die angstvoll um das Haus flatterten oder sich im Hof und Garten zutunlich niedergelassen hatten.

Mit scharfen Augen spähte Maren umher, dann entdeckte sie das, was sie suchte. Edlef Holgers trieb das weidende Vieh vor sich her.

»Rühr dich, Onnen,« rief Maren dem jungen Schwager zu, »riegele die Ställe und Hocken auf …«

Dann kämpfte sie sich durch den steifen Südwest dem Gatten entgegen.

»Schweres Wetter!« sagte er, als sie dicht vor ihm stand. Weiter nichts. Maren biß die Zähne zusammen. Edlef war drei Tage in Pellworm gewesen, heiß hatte sie sich nach ihm gebangt. Aber ihrer beherrschten Ruhe merkte man davon nichts an. »Du bist wohlauf?« fragte sie.

»Und du?« forschte er dagegen.

»Der Mutterhof steht.« –

Da pfiff Edlef dem Hunde Finn, der Miene machte, sich mit der herannahenden Flut zu necken und zu zerren.

Als sie am Jungteil vorbeikamen, hörten sie Lütt-Krischan [181] jämmerlich schreien. Unschlüssig stand Maren eine Weile …

Die Pflicht kämpfte mit dem Verlangen, beim Manne zu bleiben.

»Kannst du mich entbehren, Edlef?« fragte sie hastig.

»Allstunds.«

Da ging sie sehr blaß ins Haus hinein.

Drinnen bastelte und nagelte Ohm Rickert, er hatte an allen Fenstern des großen Geweses die Laden vorgelegt und nur die nach der Seeseite offen gelassen, damit man einen Ausblick habe. Tanten Frauke hatte die Kinder zu sich herübergenommen und erzählte ihnen Geschichten, Mutter Holgers trug das heftig schreiende Kind ohne Erfolg in der Stube umher.

»Ich glaub beinahe, die Frau Mutter verwöhnt das Lütte zu sehr«, meinte Maren ruhig. »Vorhin hat’s erst getrunken, es müßte jetzt schlafen …«

»Wie kann’s schlafen?« fragte Mutter Holgers ärgerlich. »Bei Sturmflut setzt sich Ekke Nekkepenn und sein Volk auf die Kinderbetten und Wiegen, um zu ängstigen. Fühl nur, ganz kalt ist das Kind.«

»Weil der Südwest durch die Hausfugen weht, Frau Mutter. In der warmen Wiege ist er am besten aufgehoben.«

»Du mußt es ja wissen,« rief Mutter Holgers scharf. »Ich hab ja nur zwölf Kinder großgezogen …«

Maren trat zur Schwiegermutter. »Das vergesse ich nie, und ich wollt’ dich nicht kränken,« sagte sie freundlich.

[182]

Da legte Mutter Holgers das Kind in die Wiege zurück, deckte es warm zu und ging hinaus.

Ohm Rickert, der noch das letzte Fenster nagelte, rief über die Schulter: »Du könntest jeden Tag zu Hagenbeck, Maren, min Deern, als Löwenbändiger.«

»So schlimm ist es nicht, Ohm Rickert. Mir ist nur aller Streit verhaßt.«

»Mir nicht«, meinte der Alte. »Büschen Zank frischt die Lebensgeister auf. Ich wollt ›ks, ks‹ rufen, aber da fingst du schon an zu bändigen.«

Maren lächelte matt. »Ihr müßt immer Euren Schnack haben, Ohm Rickert. Aber bleibt nur dabei, Ihr habt mir schon manchmal damit geholfen.«

»Ich dir ? Nichte Maren? Mich dünkt, du hilfst dem ganzen Mutterhof auf. Seit du hierher geheiratet hast, habe ich Tanten Frauke schon dreimal lachen hören. Mutter Holgers ist überhaupt allmeindag nich wiederzuerkennen, und mich selbst hast du so hibbelich und allerte gemacht, daß ich sogar noch Stine Hinrichsen heiraten könnte.«

»Ach nein, Ohm Rickert, tut das nicht,« bat Maren mit liebem Lächeln und ernsten Augen. »Ihr müßt bei mir bleiben, ich brauche Euch wie’s liebe Brot …«

»Tust du das? Tust du das?« fragte der Alte mit freudiger Hast, und die hellen Tränen schossen ihm in die Augen. »Nichte Maren braucht mich! Ach du! Ein Altenteiler gehört zu den fünften Rädern. Aber wenn du sagst, ich bin dir was nütze …«

»Liegt Euch daran so viel?«

»Ob mir dran liegt! Nichte Maren, die Leute [183] denken immer, mein loses Maul wär’ ein Zeichen von Herrschaft hier im Mutterhof. Denkt nich dran. Notwehr ist’s. Für die Ahne und all die übrigen hier war ich immer der Garniemand. Mehr und öfter als zum Finn haben sie zu mir ›kusch dich‹ gesagt. Und erst als du auf den Hof kamst, Nichte Maren, da hat man dir’s nachgemacht und allmählich auch Respekt vor mir bekommen.«

»Ihr tut mir zu viel Ehr’ an, Ohm Rickert,« wehrte Maren. »Den Umschwung hat das Kind gebracht. – Der Mutterhof braucht Kinder, Kinder sind Sonne.«

Ohm Rickert sah scharf nach ihr hin.

»Nichte Maren, darf ich dich einmal etwas Ernstes fragen? Der Edlef …?«

Sie schaute ihn an. In Leid wie versteint waren ihre Augen.

»Nein, Ihr dürft nicht fragen, Ohm Rickert«, sagte sie abweisend und ging nach der Diele. Sie suchte Edlef. Konnte aber nur Mutter Holgers am Herd schaffen sehen, die das Abendbrot richtete.

Durch die Futterkammer schritt Maren zu den Ställen. Alle waren geschlossen, aber gerade als sie den zweiten Eingang vom Hof aus suchen wollte, wurde ein Riegel zurückgeschoben, und Edlef Holgers trat, sich tief bückend, durch die niedere Tür.

Vielleicht war ihm deshalb das Blut so heiß ins Gesicht gestiegen, und nur die Lippen jäh erblaßt. –

Er lachte kurz auf. »Wir haben Besuch, Maren.«

Er deutete nach rückwärts, und Maren meinte einen Augenblick, das Herz müsse ihr stillstehen.

[184]

»Akke …« stammelte sie.

Tief mußte sich auch die große, stattliche Frau bücken, als sie aus der Stalltür trat. Und auch sie war heiß und rot und verlegen. In ihrem Arm lag ein Bündel, aus dem schwache, gnarrende Laute drangen.

»Du siehst, Edlef, deiner Frau verschlägt’s den Atem«, spottete Akke. »Und du wirst deine freundliche Einladung rückgängig machen müssen.«

»Ich bin der Herr auf dem Mutterhof«, sagte Edlef finster.

»Dasselbe mein’ ich auch«, fiel Maren schier gelassen ein. »Und wen Edlef auf den Mutterhof führt, der ist auch mir willkommen.«

Da senkte die Fremde den Kopf.

»Es ist nicht für lange«, sagte sie unsicher.

»Das steht im Belieben.«

Maren schritt den beiden voraus nach der Diele zurück. Unheimlich heulte der Sturm. Der Knecht stand triefnaß am offenen Feuer. »Herr Vater, das Wasser hat den Zaun umgelegt,« meldete er an Edlef.

»Ist’s schon so weit?«

Edlef öffnete die Tür zum Wohnpesel. Der Tisch stand einladend gedeckt, Tanten Frauke und die Kinder lehnten am Fenster, und sahen auf die tobenden Wassermassen.

Nun musterten alle befremdet die Neuangekommene.

»Mich dünkt, die Haustür ist immer noch vorn am Mutterhof,« bemerkte Ohm Rickert scharf. Er trat dicht an Edlef heran, der sich in einer Ecke zu schaffen machte. Und fragte zornig mit verhaltener Stimme: »Bist du verrückt geworden?«

[185]

»Sieh nach deinen Worten,« brauste Edlef auf.

Da faßte Maren Holgers Akkes Hand. »Frau Akke Bahn, geb. Luersen, bittet den Mutterhof um Unterstand auf einige Zeit für sich und ihr Kind.«

Mit ruhiger Würde nahm sie das eingeschlafene Kleine aus dem Arm der Mutter und legte es in die breite, schaukelnde Mutterhofwiege neben Lütt-Krischan.

»Nun wollen wir essen und beten,« gebot Maren.

»Christ Kyrie komm zu uns auf der See«, rief laut der Knecht. Denn der Sturm rüttelte gewaltig an den Mauern des Hauses.

Dann falteten alle die Hände und laut, schier trotzig klang Edlef Holgers’ Stimme:

Herr, gebiete dem Sturm,
Herr, bewahr Haus und Turm,
Herr, laß uns nicht leiden
Durch Zwietracht und Streiten.
Gesegne uns Gott
Unser tägliches Brot
Und laß uns halten hoch und wert
Unsers heiligen Hauses Herd. Amen.

Die Magd brachte die Suppe herein. Gesprochen wurde nicht viel. Edlef Holgers gab den Hausgenossen einige knappe Anweisungen für die kommenden Stunden, und Tanten Frauke sprach leise mit der unruhigen Karen, die auf viele Mutmaßungen eingehende Antwort heischte.

Unter dem Tisch aber falteten sich immer aufs neue Marens Hände: »Und laß uns halten hoch und wert [186] unseres heiligen Hauses Herd«, betete ihr junges Herz, und die Augen schauten vergrämt auf die Fremde.

Rasch wurde abgegessen. Maren brachte fast keinen Bissen herunter. Nach einer Weile stand sie auf, ging nach der Gastkammer und begann ein Bett für Akke und ihr Kleines zu rüsten. – Nach einigen Minuten folgte ihr Edlef Holgers.

»Hast du Furcht?« fragte er, »die Flut sinkt, es ist bald Hohlebbe …«

»Wir steh’n in Gottes Hand, ich hab mich keinen Augenblick gefürchtet.«

»Ich hätte dir wohl manches zu sagen, Maren, – über unsere nächste Zukunft …«

»So sprich.«

»Es wird mir nicht leicht«, zögerte er.

Und während sie gelassen in ihrer Arbeit fortfuhr und das Zittern ihrer Hände verbarg, überstürzten sich seine Worte. Er wies auf das langsam zurückgehende Wasser. »Wenn es abgelaufen ist, Maren, müssen wir wieder von vorn anfangen mit Pflanzen und Einhegen und Bauen und Dichten, – so geht’s Jahr für Jahr, und zwei- und dreimal im Jahr. Das macht die Leute unzufrieden und verdrossen. Nicht alle sind so verwachsen wie wir mit der Heimatscholle. Es muß etwas Eingreifendes geschehen. Sonst könnten sie halligflüchtig werden. Das wäre ein Unglück für die Insel.«

Edlef Holgers sprach in kurzen, abgerissenen Sätzen.

Als wolle er eine unangenehme Nachricht vorbereiten oder hinausschieben. – »Wir haben Versammlungen gehabt. Nun sollen Abordnungen mit praktischen Vorschlägen [187] hinausgeschickt werden, nach Kiel, nach Hamburg, nach Kopenhagen …«

»Du willst fort?« fragte Maren scharf.

»Man hat mich gewählt. Du weißt, daß der Halligbauer nur Vertrauen zu seinesgleichen hat. Da könnte Gott einen Engel vom Himmel schicken, sie würden einen lästigen Ausländer in ihm sehen.« Edlef lachte gezwungen. »Von mir weiß die Hallig, daß ich mein Leben einsetze für die Heimat.«

Es war, als höre Maren nur den kleinsten Teil von Edlefs Rede.

»Auf wie lange?« stieß sie hervor. Als sei nur die Tatsache haftengeblieben, daß er fort wolle.

»Auf ein halbes Jahr. Oder ein ganzes. Die Aufgabe, die ich zu erfüllen habe, ist nicht leicht.«

»Es ist recht«, nickte Maren, und war sehr blaß geworden. »Mein Bruder wird mir zur Seite stehen und Ohm Rickert. Auch Jung Onnen ist ein Verläßlicher. Sei ohne Sorge, Edlef. Du wirst hier alles in Ordnung finden, wenn du heimkehrst.«

»Das weiß ich. Und zur Reise richte ich mir alles selbst.«

»Nicht nötig, das ist Frauensache. Gib nur dem Knecht und Ohm Rickert Bescheid, was in der nächsten Zeit eilig zu tun ist.«

Die Gatten sahen sich an. In seinen Blicken glomm etwas Feindliches.

»Wie lange will Akke hierbleiben?« fragte Maren.

»Akke hat mich gebeten, ihr einen Dienst in Kopenhann zu verschaffen«, entgegnete er gleichgültig.

[188]

»So! … Sie weiß also schon um dein Fortgehen?«

»Ja, durch Zufall. Als ich sie im Stall fand. Sie wollte natürlich durch die Vordertür zu uns kommen, sah aber dort ihren Vater …«

»Und du willst Akke mit nach Kopenhagen nehmen?«

»Sie bat mich darum. – Ich habe dort viel Bekannte.«

»Und das Kind?«

»Akke will dich bitten, es zu ihren Eltern zu bringen. Sie meint, dann nehmen sie es schon auf …«

»Sie trennt sich leicht von dem Kind???«

Edlef Holgers zuckte die Achseln. »Das liegt in ihrer Natur.«

Die Tür wurde aufgestoßen. »Hohlebbe«, schrie Ohm Rickert in die Kammer. »Und die Flut fällt nicht mehr, sie steht . Mich dünkt aber, sie kriecht schon wieder heran …«

»Da sei Gott vor.«

Edlef und Maren liefen zugleich vor die Tür. Ja, da sahen sie es im Scheine des Mondlichtes und der Hauslaterne. Das schon über die Stufen herabgesunkene Wasser stieg. Da schauten sich die beiden Gatten wieder in die Augen. »Gott bewahr’ uns vor einer ›Manndränke‹«, sagte Ohm Rickert hinter ihnen.

Nun streckte Maren ihre zitternde Hand aus, und Edlef Holgers legte für eines Augenblickes Dauer die seine hinein. Dann wandten sich beide rasch ins Haus.

»Alles, was draußen zu tun ist, hab’ ich besorgt«, rief Edlef Ohm Rickert zu. »Die ›Fethinge‹ sind mit Sandsäcken verwahrt, ich hoffe nicht, daß die Flut unser [189] Süßwasser verdirbt. Die zwei Boote haben Jochen und ich verankert. Aber nun alle Mann heran, damit wir das Vieh auf den Stallboden bekommen.«

»Doch wohl zuerst die Kinder auf den Hausboden«, weinte Mutter Holgers.

»Wir sind fünf Frauenleut«, sagte Maren. »Drei von uns wollen das rasch tun.«

»Wer will den Mannsen beim Vieh helfen?«

Akke trat vor. »Das ist Arbeit für mich.«

»Und für mich!« folgte Tanten Frauke.

So begann die schwere Nacht für den Mutterhof.

Kläglich blökte und brüllte das Vieh. Es wollte zur ungewohnten Zeit nicht aus den Ställen heraus und scheute vor der dumpf hallenden Bretterrampe, die schon Edlefs Großvater hatte anlegen lassen, um das Vieh in Stunden der höchsten Not sichern zu können. Immer wieder entwichen die Tiere und wollten nach dem ebenerdigen Obdach zurück. Trotzdem die schwarze, schillernde Schlange schon Besitz vom Erdboden nahm und das Stroh durchfeuchtete. Mutter Holgers und die Magd schleppten die schwere Holzwiege mit Lütt-Krischan. Maren trug Akkes Kind. Klein-Karen »rettete« allerlei Unnützes und hinderte die Erwachsenen. Onnen verwies es ihr. Seine sonnigen Knabenaugen trugen einen über seine Jahre reifen Ausdruck. »Nimm du nur deine Puppe«, sagte er liebreich. »Das ist dein Kind, bring’s in Sicherheit.«

Dann zog er die Schwester hastig auf den Hausboden und hieß sie sich dort ruhig hinsetzen. – Er selbst eilte wieder hinab und verschnürte rasch und sachgemäß die Betten, um sie hinaus und hinauf zu tragen, während [190] das Wasser schon seine Knöchel umspülte. Von den Ställen her klangen Edlef Holgers’ Befehle und der wilde Lärm, den die verängstigten Tiere verursachten. Dazu kreischten Möwen und Austernfischer, sie flogen ohne Scheu schutzsuchend bis in die Stuben hinein.

»Maren«, rief Onnen mit fliegendem Atem. »Ich hörte, daß Bruder Edlef nach Köpenhaun soll. Unseres Deiches wegen! Und sonst noch … Halligstudium! – Unsere Zukunft! Du mußt ihn fortlassen, Maren, du mußt . Nicht wahr, du tust es? Es ist zu notwendig. Ich weiß das, Maren, wenn ich auch noch ein Junge bin.«

Maren nickte ihm zu. »Halligsach’ ist unsere Sach’«, sagte sie. Und setzte besorgt hinzu: »Sieh, wie das Wasser steigt. Wir dürfen nichts mehr mitnehmen, müssen eilen, meine Schuhe sind schon voll Wasser …«

»Meine auch«, lachte Onnen. Aber das Lachen verging ihm jäh, als er die Tür öffnete. Gurgelnd, zischend, klatschend schossen die Wasser heran. »Halt mich«, rief er Maren zu und schwang die gefährdeten Betten auf Schulter und Kopf, und ließ sich halten, vorwärtsstoßen und führen von der jungen Frau. Als sie auf den Hausboden kamen, schliefen die Kinder schon, aber Onnen wollte nichts vom Bettgehen hören.

»Will zum Edlefbruder hinunter, vielleicht kann ich da noch helfen …«

»Laß ihn«, wehrte Maren der Schwieger, die den Knaben zurückhalten wollte. »Er ist umsichtig wie ein Mann, das Gewese liegt ihm am Herzen.«

Nun kämpfte sie mit Mutter Holgers und der Magd [191] bei den Luken. Der Sturm hatte zwei von ihnen aufgerissen und heulte durch sie hindurch.

»Laß sie offen, bis Mannshilfe kommt,« keuchte Mutter Holgers, »es ist ohnehin zum Ersticken hier oben.«

Die drei Frauen saßen stumm bei den schlagenden Holzladen und konnten sich nur dann und wann durch Zeichen verständigen. Denn ohrbetäubend ratterte das losgebrochene, feste Holz, knarrten, gurgelten und klatschten die Wassermassen.

»Christ Kyrie, Christ Kyrie«, schrie die Magd auf, und die Kinder erwachten und weinten, und Klein-Karen fürchtete sich.

Später kamen triefend und erschöpft die anderen.

Akke sah seltsam wild und schön aus mit den vom Sturm gelösten krausen Haaren und den kraftvollen Bewegungen ihrer starken Arme. Sie versuchte die Haarmassen wieder in Flechten zu bändigen. »Heiß ist’s hergegangen«, lachte sie mit ihrer tiefen Stimme. » Die Arbeit liegt mir besser, als Kinder päppeln.« Und sie nahm gleich Ohm Rickert Hammer und Nägel aus der Hand, fing den schlagenden Laden auf und schlug die Krammen wieder fest.

Da saßen sie alle im Dunkeln, aber Edlef zog aus einer Abseite eine ungefüge Riesenlaterne hervor und entzündete darin das mächtige Wachslicht.

Maren mühte sich, Onnen die nassen Stiefel und Strümpfe auszuziehen, und rieb dann seine erstarrten Füße mit ihren lebenswarmen Händen. Seine Augen sahen sie dankbar an, und er kroch willig auf das Heu, und ließ sie die Federdecke über sich stopfen.

[192]

Auch Akke hatte sich ein Nest gewühlt. »Wenn ihr mich braucht, rüttelt mich tüchtig«, tönte es zu den andern her. »Denn ich hab’ einen Bärenschlaf. Wenn aber nur der blanke Hans heraufkommt, so laßt mich in Ruh«, setzte sie leichtsinnig hinzu.

Bald hörte man ihre lauten Atemzüge, denen sich ein schnarchendes Schnaufen aus Ohm Rickerts Ecke zugesellte. Knecht und Magd schliefen übermüdet in unbequemer Stellung. Mutter Holgers dämmerte vor sich hin. Tanten Frauke starrte mit seltsam glänzenden Augen in das Licht, als sähe sie in den schwelenden Rauchwölkchen geheimnisvolle Dinge.

Die sah sie auch. Generationen zogen an ihr vorüber. Die vom Mutterhof. Alle hatten sie so hier oben gesessen in Angst und Zagen, in Ergebung, in wildem Wehren gegen den Tod, oder in tapferer Entschlossenheit.

Ob aber wohl eins darunter gewesen war, wie diese junge Frau Maren? So ganz und gar selbstlos? War das nicht höher zu werten als Gleichgültigkeit gegen den Tod oder als Todesmut? Wie sie immer wieder sich erhob mit den müden Gliedern, der Mutter ein Kissen in das Kreuz schob, die Magd beruhigte, nach den schlummernden Kindern sah, wenn sie sich im Traume rührten! Und jetzt deckte sie die hergelaufene Akke zu, die sich unruhig hin und her warf. Und schützte deren Augen vor dem flackernden Licht der großen Laterne. Dann saß sie wieder still neben dem jungen Gatten.

Wie war es wunderlich zwischen diesen beiden.

Und wer kannte sich aus in einem Holgers?

Hatte nicht Edlef sie selbst, die kinderlose Frauke, [193] wieder in alle Ehren eingesetzt, und femte nun doch sein eigen Weib?

Das war die Holgersselbstsucht, die mit der Holgersgutheit im Streit lag seit Urbeginn.

Und der Holgershochmut wollte sich nicht beugen unter das Schicksal, das »Entsagen« hieß.

Wie hatte die Ahne gesprochen? »Die Holgers sind wie harte Nüsse. Niemand bringt sie auf. Und am liebsten bleiben sie droben in ihren Zweigen. Aber einmal fallen auch sie reif vom Nußbaum herunter ins Grab. Dann holt der Herrgott seinen Hammer und schlägt sie mühelos auf. Schade nur, daß niemand erfährt, ob sie hohl waren oder voll süßen Kernes.«


Drunten in den Stuben stieß und polterte es.

Das Wasser spielte Ball mit den alten Möbeln. Kurze Zeit würde es dauern und die Wände wurden eingedrückt. Wie lange sich dann wohl das Haus auf den Grundpfählen halten würde? Christ Kyrie!!!

»Wollen wir nicht doch am Ende die Akke wecken?« fragte Maren.

»Laß sie schlafen«, entgegnete Edlef. »Du hörtest ja ihren Wunsch.«

»Sie ist ’n tapfere Frau«, schob Ohm Rickert dazwischen. »Gearbeitet hat sie wie ein Pferd, und nun legt sie sich geruhig zum Sterben hin, wie wenn nix wär.«

Akkes Kind fing an zu weinen.

Maren wickelte aus wollenen Tüchern die mitgebrachte warme Milchflasche und betreute das kleine Wesen.

[194]

Jetzt prasselte drunten irgendeine Mauer zusammen, und das Wasser umflutete das Haus. Durch die Luft kam es wie wimmernde Klagelaute, jemand läutete die Glocken auf der Kirchwarf.

»Jesus,« schrie da Akke, »was ist das? Was soll das? Wird es denn Ernst?« Sie rieb die Augen. Und sie kauerte plötzlich neben Edlef und schüttelte ihn.

»Seid ihr denn auch Menschen? Wollt ihr klaglos versaufen wie die Katzen?«

Edlef und Maren sahen bestürzt in Akkes verstörtes Gesicht.

»Hast du denn nicht geschlafen?«

»Fünf Minuten oder etwas mehr. Weil ich nicht wußte, daß es Ernst war. Weil … Ihr war’t alle so ruhig … Aber nun läuten sie von der Kirchwarf! … Hört doch! Hört doch! Jesus, Edlef, ich will nicht sterben.«

Sie stürzte zu der Luke, die sie selbst vor einer Stunde vernagelt hatte und entriegelte sie. Polternd schlug der Laden aus ihrer Hand. Alle auf dem Boden erwachten, als der eisige Nachtwind pfeifend über sie hinstrich.

»Akke, wie kannst du?« rief Maren bestürzt und suchte sie vom Fenster fortzuziehen, während Edlef den Laden wieder einfangen wollte.

Aber Akke schlug nach ihnen. »Laßt mich! Seht ihr nicht, wie das Wasser da drunten wühlt? Ist denn keine Möglichkeit, aus diesem Loch herauszukommen? O dies gräßliche Läuten! Geht’s denn zum Sterben?«

Sie schrie und schlug um sich und jammerte, und lehnte sich weit aus der Lukenöffnung und lallte entsetzte Laute, wenn der tobende Gischt sie umsprühte. Die beiden Säuglinge [195] schrien jämmerlich, Maren legte Lütt-Krischan trockene Wäsche unter und beruhigte Akkes Kind, daß es wieder einschlief. »Herr, gebiete dem Sturm, schütz’ Haus und Turm«, beteten Knecht und Magd.

Edlef nagelte den Laden aufs neue fest, und dabei konnte er sich nur mit Mühe der jammernden Akke erwehren, die sich immer wieder auf ihn warf.

»Memme«, rief Jung-Onnen plötzlich und stand in dürftigster Bekleidung vor Akke. »Warum sagtest du denn vorhin so ein hochmütiges Wort, du wolltest schlafen, wenn der blanke Hans käme? Und nun kommt er, und nun ist alles gelogen?«

»Er soll nicht kommen!« Akke streckte abwehrend ihre Hände aus. »Ich hab’ das nicht gewußt, ich hab’ das nicht gewußt …«

Sie ächzte laut und warf sich auf ihren Bettplatz, und wiederholte immerfort die Jammerworte. Dann sprang sie auf.

»Was seid ihr auch für gräsige Holzpuppen, ihr Holgers!« rief sie außer sich. »O warum bin ich auf die grauenhafte Hallig gekommen! Warum bin ich nicht in Hamburg geblieben! Dann dürft ich jetzt leben, leben, leben …«

Da schüttelte Onnen seine jungen, starken Fäuste vor ihren Augen: » Stirb anständig!!! Du! … Schmäh die Hallig nicht …«

Und er warf sich auf sein Lager und weinte wild und schmerzlich.

Da kroch Edlef Holgers zu ihm hin und nahm ihn in [196] seine Arme. Was hatte der junge Bruder da eben gesagt? »Stirb anständig!«

Edlef strich ihm über das Blondhaar, das heiß und feucht von der inneren Erregung an der Stirn klebte. Und er fühlte, wie die jungen Glieder zitterten.

»Nicht krank werden«, raunte Edlef an Onnens Ohr. »Wir zwei müssen uns recht kennen lernen, du … kleiner Bruder! Reiß’ dich zusammen! In deine Hände will ich ja Maren geben, wenn ich fort muß … Spürst du mein Vertrauen? Ja? So sind wir heut erst rechte Halligbrüder geworden …« Ganz dicht schmiegte sich Onnen an des großen Bruders Brust.

»Up ewig ungedeelt …«, lallte er und dann lösten sich seine Glieder in überwältigender Müdigkeit. Sacht ließ Edlef ihn auf das Lager zurückgleiten, und legte sich neben ihn und faltete seine großen Hände über den Kinderhänden. –

Am andern Morgen fiel ein Sonnenstrahl durch das Lukenloch und weckte Maren. Sie schreckte auf. Alle Glieder schmerzten sie heftig. Die Arme und Hände waren abgestorben, beide Kinder hielt sie krampfhaft an ihre Brust gedrückt. Ihr Rücken lehnte an dem großen Bodenbalken, sie konnte kaum den Kopf drehen. Unerträglicher Nackenschmerz quälte sie. Lange konnte sie nicht geschlafen haben, die Säuglinge hatten die Nacht durch geschrien, ohne doch die schwer ermüdeten anderen aufzuwecken. Auch war Maren mehrmals zu dem laut redenden Onnen hingetreten und hatte ihm aus dem Wasserkrug zu trinken gegeben. Tief und fest schlief Edlef neben dem Knaben.

[197]

Nun tastete sich Maren nach dem Laden, riegelte ihn sachte auf und ließ die Sonne in den dumpfen Oberboden hinein. Die lachende Sonne, die eine grauenhafte Verwüstung beschien. Maren stöhnte auf, als sie die kurze Umschau hielt. Von den Ställen her hörte sie das Vieh blöken und brüllen. Sie legte die beiden festschlafenden Kinder in die Wiege. Als sie aufschaute, sah sie in Tanten Fraukes ernste Augen.

»Maren, mein Deern, hilf mir auf, – ich kann mich nicht rühren –, aber Gott sei ewig Dank, wir leben und der Mutterhof auch …«

»Aber wie lebt er!« seufzte Maren.

»Komm, Tanten Frauke, wir wollen die andern nicht wecken, sieh, wie völlig erschöpft sie schlafen.«

Sie tasteten sich vorsichtig über die Schläfer hinweg zur Stiege hin.

Als sie an Akkes Lager vorbeikamen, erschraken beide. Das Bett war leer. Auch drunten weit und breit nichts von ihr zu entdecken.

»Vielleicht ist sie schon beim Vieh«, meinte beruhigend Tanten Frauke, und sie schritt, so rasch es ihre steifen Glieder vermochten, nach dem Stallboden. Auch Maren ging tapfer gegen die körperlichen Schmerzen an. Sie schlich sich in die Küche, mußte sich dort aber an die Tür lehnen in heftigem Schreck. Verheerend hatte der Sturm gewütet. Schlamm, Seetang und Muscheln bedeckten den Küchenboden. Darin standen die schmutzigen Küchenmöbel und Kochgeräte bunt durcheinander. Mit unsäglicher Mühe öffnete Maren die eiserne Lade, in welcher sich trockenes Holz befand. Streichhölzer lagen dabei, so konnte [198] sie rasch ein prasselndes Feuer entfachen. Als sie sich umdrehte, stand die Magd Gesine mit verschlafenem Gesicht und krummem Rücken in der Tür, sie schleppte einen Eimer Regenwasser.

»Den kriegen wir erst mal zu Feuer«, lachte sie. »Un denn en orndlichen Kaffeepunsch, der bringt uns alle wieder auf die Beine. Christ Kyrie, war das eine Nacht! Un wo süht dat hier ut!«

Sie reinigten den verschlammten Wasserkessel, füllten ihn und setzten ihn auf das fauchende Feuer. Aus einem hochgelegenen Wandschapp, daran die Wellen nicht gelangt hatten, holte Maren eine Flasche »reines Gotteswort« und setzte sie auf den Herd. Nach einer Weile kam Tanten Frauke mit dem halbgefüllten Milcheimer.

»Wir müssen doch die Mannsen wecken,« sagte sie besorgt, »das Vieh muß vom Boden herunter, es sieht nicht alles so aus, wie es soll. Und die Akke ist auch nicht droben.«

Tanten Frauke begab sich nach dem Oberboden, um dort Bescheid zu sagen, unterdessen versuchte Maren, etwas Behaglichkeit in den Wohnpesel zu bringen. Die Magd heizte den Ofen. Dabei kopfschüttelte sie ergiebig. »Dat süht bös ut, buten un binnen, dat duert ’n beten, bet wi wedder in de Reg sünd …«

»Aber wir haben niemand verloren«, tröstete Maren sich selbst mit, denn im Grunde war ihr das Herz bitter schwer.

»Dor kümmt de Brefträger«, sagte die Magd und wies nach dem Fenster.

Peter Hansen brachte an Edlef einen großen Brief [199] und für Maren eine fröhliche Karte von Nomine aus Bacharach am Rhein. Der Bote machte ein ernstes Gesicht.

»Dat wier ’n sworer Abend un ne schlechte Nach!«

»Sünd ji god toweg?« fragte er teilnahmevoll.

»Ja, Hansen, god toweg.«

»Dann setten Se man glicks ›Gott sei Lob un Dank‹ achteran, Fru Maren. Dat wier ’n richtigen Manndränke … Gott sei allen gnädig.« Peter Hansen setzte sich schwerfällig auf einen umgestürzten Zuber und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Wie meinen Sie das?« fragte Maren mit stockendem Atem.

»Weeten Se denn noch gor nix, Fru Holgers? Hebben Se denn slöppt?«

»Sie wissen, Hansen, daß die Grootwarf am weitesten liegt, uns hat noch niemand Nachricht gebracht …« Maren sah den Boten aus jammervollen Augen an.

»Die Schulwarf hat’s am härtesten getroffen …« Der Briefträger bedeckte einen Augenblick die Augen mit der Hand.

»Mein Bruder Manne?« fragte Maren heiser.

»De Scholmeester kann noch vun Glück seggen. De hat man blot de linke Hand braken, äwer Vadder Luersen …«

»Mein Mannebruder!« stöhnte Maren. »Und ich nicht bei ihm. Und was ist’s mit Luersen?«

Da sah sie, daß der Briefbote weinte. »Sin Fru und sin Kinners sin em verdrunken …! Herrgott, Fru Holgers …!«

Er sackte steuerlos in sich zusammen.

[200]

Die Magd jammerte laut. In Marens weißem Gesicht rührte sich kein Zug. »Ist seine Tochter Akke dort?« fragte sie heiser.

»Dat is ’t jo man. De weet von nix. De is hüt vör Dau un Dag mit’n Postschipper nah Pellworm segelt, un von dor gliks nah Husum. Se war dull in de Fohrt … Du grote Gott, ne, de weet von nix. Sonst weer se jo wohl dor. De is doch all ehr Dag dat Kücken west in Luersens Höhnerstall. –«

Maren hielt die Hände gefaltet. Sie murmelte tonlose Worte vor sich hin: »Die ist fort … Die weiß nichts … Frau und alle Kinder ertrunken …«

Der Briefträger stieß sie ein wenig an, damit sie sich besänne. »Ja, so was greift an, Frau Holgers«, meinte er betrübt.

Jetzt kam Edlef von den Ställen her.

»Uns gehen ein paar Stück Vieh drauf, Maren,« rief er ihr zu. »Mich dauern die armen Tiere. Und schwerer Schaden überall … Was hast du, Maren?«

Die Lippen in ihrem weißen Gesicht bewegten sich, aber man konnte nichts verstehen. Die Magd reichte ihr besorgt eine Tasse vom heißen, stark duftenden Kaffeepunsch. Maren trank gierig, und es kam etwas Farbe in ihr trostloses Antlitz.

»Dat is man, Herr Holgers, daß Se blot Vieh verloren hebben,« sagte der Bote, »awer up annere Warfen …«

Und dann erzählte er noch einmal den ganzen Jammer der Schulwarf.

»Den Scholmeester hat de Fru Pastern all in Pflege«, setzte er hinzu. »Da soll sich Fru Holgers nich sorgen. Aber [201] bei Vadder Luersen, da muß wohl uns’ Herrgott de Pfleg’ übernehmen …«

»Ich komme heute noch hin auf die Schulwarf.«

»Das wird gut sein, Frau Holgers.«

Peter Hansen stärkte sich nun auch am dargereichten Kaffeepunsch, aber er erzählte nichts mehr. Trotzdem Mutter Holgers, Tanten Frauke und der Knecht dazu kamen. Er schüttelte nur immer mit dem Kopf und schien ganz von dem Unglück der letzten Nacht erfüllt zu sein. Dann nahm er seine Mütze und entfernte sich dankend. –

Fieberhaft arbeitete Maren. –

Ungeahnte Kräfte schienen ihr zu kommen. Sie scheuerte mit der Magd an den verschlammten Stuben und Möbeln. Sie brachte die schreienden Wochenkinder in frische Wäsche und in die behaglich-dunkle Ruhe von der Ahne-Döntje. Sie schaffte Onnen vom Boden herunter und bettete ihn einstweilen auf ihr eigenes Lager, denn der Knabe war übermüdet und völlig schlafsüchtig. Maren aß auch gehorsam, was man ihr vorsetzte. Man sah, sie wollte sich aufrecht halten, um all der vielen Pflichten willen, die auf sie warteten. Dann, am Nachmittage, als die nötigste Arbeit getan war, und Mutter und Tante sie drängten, stand sie fragend vor ihrem Gatten. Der zimmerte mit dem Knecht und einem »Bohlsgenossen« den umgerissenen Zaun wieder zurecht.

»Nicht wahr, du läßt mich jetzt zu Manne gehen?«

»Allstunds«, entgegnete Edlef.

Da wandte sie sich und stieg die Stufen hinunter und kehrte sich nicht ein einziges Mal um. Und ihr Auge sah nichts von der Zerstörung auf dem Mutterhof und [202] sonst rings umher. Weil ihr eigen Herz verstört und voll des Jammers war.

All die vielen Wasser- und Wellenberge waren zurückgerauscht, warm schien jetzt eine milde Herbstsonne auf die verschlammten Fennen. In der Ferne glitzerte die ruhig dünende See.

Maren schritt mit einem inneren Grauen an Vadder Luersens Haus vorüber. Da hatte das Wasser die morschen Wände eingedrückt, ganz schief stand die Kate, und durch das halb abgedeckte Dach schien die Sonne auf eine Stätte der Verwüstung. Ein alter Knecht aus dem Nachbarhaus stand allein vor dem verfallenen Gewese. Er grüßte Maren und deutete mit der kurzen Stummelpfeife auf das Wrack.

»Eben hett man se wegbröcht.«

»Wen?« stieß Maren hervor.

»De Liken. De Fru un fief Kinner. De Paster hett se all in de Kirch bringen laten. Dor liggen se, bet se to Erd bröcht ward. De Nahber Luersen is gorni da west, as se verdrunken sün. De hett sin Akke söcht. Un as de Flut kam, hett he bien Paster seten. De Akke wier so allstunds sin Zockerpopp. Dat süll äwer nüms weten. Unten an de Postfähre hett he ok stunnen … Aber se is nich kamen. Un dann hett he weiter söcht, Warf um Warf … Un as he endlich heimgung … Ja, – da wier dat so … Um Middernacht wier dat so … Un in Morgengrauen hett man se funnen, – sien Akke nich, äwer sien Fru und Kinner.«

Maren stürmte weiter, von Grausen geschüttelt.

Dann klinkte sie endlich die Tür im Schulhaus auf. [203] Und klopfte an und lag an Manne Wögens Brust. Und lachte und weinte in höchster Erregung: »Gottlob, ich bin bei dir.«

Er streichelte sie beruhigend mit der gesunden Rechten. Die linke Hand und der Arm lagen zwischen zwei Holzstücken geschient, sie sah es mit einem Blick. Und furchtbar blaß sah der Bruder aus und seine Augen lagen gramvoll in den Höhlen. Ja, es schien Maren, als zöge sich durch das leicht gewellte dunkle Blondhaar ein weißer Streifen …

»Manne!« rief sie entsetzt.

Da tönte aus der Ecke, darinnen der alte Ohrenstuhl stand, ein jammervolles, heiseres Singen. Marens Herz wollte stillstehen:

»Slaap, slaap, mien Zockerpopp,
Morgen fruh weck ik di op …«

Manne Wögens wollte sie zurückhalten, aber Maren war schon bei dem alten Sessel, drin alle Wögens ausgeruht hatten. War das Vadder Luersen, der darin hockte? Der in seinen Armen ein altes, schmutziges Kinderkissen schaukelte und mit leeren Augen und blödem Gesicht das Lied lallte?

»Herrgott im Himmel, du!« stöhnte Maren und griff nach einem Halt. Der Bruder umfaßte sie. Auch seine Augen brannten.

Vadder Luersen lächelte blöde. »Dat’s mien Akke«, sagte er geheimnisvoll. »Ik heff se endlich funnen, mien söte Deern.« Und er wiegte das Kissen und sang unermüdlich:

[204]

Slaap, slaap, mien Zockerpopp,
Morgen fruh weck ik di op …

»So geht das seit heute nacht, da das Unglück geschah«, sagte Manne. »Wir können ganz laut sprechen, er merkt nichts von seiner Umgebung und erkennt niemand. Maren, gottlob, du lebst und bist gesund. Und alles bei euch ist wohlauf. Ich hörte es, sonst säße ich nicht so ruhig hier.«

»Und wie geschah dein Unglück?« fragte Maren leise und zeigte auf die schwerverletzte Hand.

»Ach, nicht der Rede wert. Als wir die … Leichen aus dem Hause freilegen wollten, schlug ein Balken auf die Hand. Die Pastorin hat mich geschient. Morgen kommt der Doktor, er hat schon angerufen; sorg’ dich nicht, Marenschwester.«

Sie zitterte in seinem Arm.

»Ist noch weiteres Unglück geschehen?«

»Die auf der Lüttwarf sind obdachlos geworden«, berichtete Manne. »Der Pfarrer hat sie alle sechs aufgenommen. Drei alte Frauen sind drunter. Das Jammern ist groß bei ihnen, weil sie alles verloren haben.« –

Maren berichtete von der bangen Nacht im Mutterhof. Mit tief verfinstertem Gesicht hörte Manne zu, als sie von Akke erzählte. Scheu streifte sein Blick das reine, blasse Gesicht der Schwester.

»Wann will Edlef fort?«

»Bald, Manne.«

»Es ist notwendig, Maren. Die Hallig fordert es, unsere Heimat. So leid es mir für dich ist …«

[205]

»O, es ist besser für uns beide, wenn er fort sein wird …«

»Steht es so um euch …?«

»Ja, Manne.«

Schmerzlich schüttelte der Lehrer den Kopf. »Du arme Deern …«

»Nicht so, Manne. Nicht beklagen. Ich habe alle meine Kraft so gerade eben beisammen. Mitleid … das könnte mich umwerfen.«

»Wie lange will Edlef fort?«

»Auf ein halbes Jahr, oder ein ganzes … ich weiß es nicht.«

»Wir zwei wollen viel zusammen sein, mein Deern.«

»Ich will viel arbeiten, Mannebruder. Daran werde ich gesunden. Der Mutterhof hat einen Reichtum an Arbeit für mich … Ich will auch Akkes Kind behalten. Die Mutter ist auf und davon, und der Großvater …« Sie zeigte auf den Irren.

»Du starkes Herz!« sagte Manne Wögens. Und er küßte seine Marenschwester auf das schlicht gescheitelte Braunhaar. »Geh’ jetzt«, bat er dann liebreich. »Dein Bleiben ist auf dem Mutterhof. Wenn du den Onnen entbehren kannst, schickst du mir Bericht, und ich gebe ihm Nachricht von mir mit. Vadder Luersen bleibt bei mir, bis Fürsorge getroffen ist, wo er unterkommt. Du siehst, er ist wie ein Kind. Mein alter Knecht und ich bringen ihn jetzt zu Bett.«

»Ja, ja, ins Bett«, greinte Vadder Luersen. »Slaap, slaap, mien Zockerpopp …«

[206]

Da führte Manne Wögens seine Marenschwester hinaus.

Es war ihr unmöglich, noch einmal an Vadder Luersens Haus vorbeizugehen. Ihre Nerven waren überreizt. Ihr schien es, als griffen Arme und Hände von dort herüber nach ihr. So grauenvoll dünkte sie das tote Haus. Und doch schritt Maren gleich rechter Hand den Weg hinunter zur Kirchwarf hin. Trotzdem sie wußte, daß dort die Leichen aufgebahrt lagen. Aber aus dem Pastorat schien ihr eine tröstliche Fernwirkung zu kommen. Sie sehnte sich nach der gütigen Frau Luischen, nach dem ernsten, verstehenden Lächeln des Seelsorgers. Und sie sah in Gedanken an heiliger Stätte die ausgebreiteten Arme dessen, der gesagt hatte: »Kommt alle her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid!«

Pastor Licht und seine Frau traten gerade aus der Kirchtür. Sie gingen wie zwei, die viel Leid tragen. Und man sah ihren bewegten Zügen an, wie mächtig das, was da drinnen lag, ihr Inneres aufgerührt hatte.

Maren ging zu ihnen und begrüßte sie still. –

»Es ist ein Schnitter, der heißt Tod«, sagte Pastor Licht ernst.

Und Frau Luischen drückte Marens Hände und zog zugleich ihr warmes Umschlagetuch um die junge, blasse Frau. Recht wie eine Henne, die ihrem Küchlein warmen Unterschlupf gewährt. »Nicht anschauen, das da drinnen«, riet sie und zeigte nach der Kirche. »Diesmal hat der Tod kein friedvolles Aussehen …«

Sie führte Maren ins Pfarrhaus.

Da war zwar auch noch nichts vom Frieden zu [207] spüren. In der warmen Diele saßen sechs alte Leutlein, drei Frauen und drei Männer. Sie weinten, klagten und stritten sich ein weniges. Hörten auch nicht damit auf, während die Pastorleute und ihr Gast die Diele durchschritten.

»Alle sechs über die Siebzig«, kopfschüttelte Pastor Licht. »Aber noch ganz erdenheimisch. Dabei nicht einmal dankbar, daß unser Herrgott sie noch nicht abrief. Sondern mit Herz und Sinn dem nachklagend, was Motten und Rost verfallen ist. Und was gestern das Wasser verschlungen hat. –«

»Werden die sechs bald ein Unterkommen finden?« fragte Maren teilnahmevoll. »Frau Pastorin wird das auf die Dauer nicht schaffen können …«

»Freilich nicht«, meinte betrübt Frau Luischen. »Da sind besonders die drei, Momme Mommsen, Gesche Wiensen und Melf Brodersen. Die haben einen unheimlichen Appetit. Weiß nicht, wie ich sie satt kriegen soll. Und an Arbeit fehlt’s auf unserer kleinen Warf. Und doch sind sie alle drei gesund und müßten beschäftigt werden …«

»Geben Sie sie mir«, rief Maren lebhaft. »Ich hab’ Arbeit in Hülle und Fülle. Mein Mann verläßt mich, …« sie erschrak selbst über das eigenartige Wortspiel und setzte hastig hinzu: »Er ist nach Kopenhagen gewählt. Soll auch in Kiel und Hamburg bleiben …«

»Laden Sie sich auch nicht zu viel auf, Frau Holgers?« Pastor Licht drohte mit dem Finger. »Sie haben doch schon Melenkes Kind bei sich …«

Zum erstenmal lächelte Maren. »Ja, und Akkes Kind [208] ist auch bei mir.« Sie erzählte rasch von Akkes kopfloser Flucht, und daß sie das Kind um des unglücklichen, schwer betroffenen Großvaters willen so lange behalten wolle, bis Akke sich melde und es zu sich hole. »Nun kann die Großwarf doch wieder ein rechter Mutterhof sein«, setzte sie errötend hinzu.

Da sagte auch Pastor Licht: »Du starkes Herz!« Wie vorhin Manne Wögens. Und gab ihr das väterliche Du, das er sonst nur für seine eigenen, erwachsenen Konfirmanden hatte.

Nun wurde alles sachgemäß besprochen. Auch mit den drei alten Leuten. Die waren ganz aufgeräumt, daß sie auf den stattlichen, reichen Mutterhof sollten. Der Aufenthalt »bei Pastersch« sah ihnen wie Almosennehmen aus, weil keine rechte Arbeit für sie da war.

»Ihr könnt gleich mitkommen«, gebot Maren freundlich den drei Auserwählten. Dann nahm sie noch eine ergiebige Vesper mit den gastfreien Wirten ein und zog schier fröhlich mit ihrem seltsamen, humpelnden Gefolge ab. Das Pastorenpaar mit den drei Bresthaften winkte ihnen lange nach. Händereibend schritt dann Pastor Licht in seiner Stube auf und ab. »Siehst du, Luischen, vorhin drückte mich der Anblick des schaurigen Todes da drinnen schier zu Boden. Und nun zeigt mir gleichdrauf der Herrgott so echtes Menschentum und hebt mich wieder auf. Nun kann ich froh an mein Tagwerk gehen.« –

Der Mutterhof empfing seine junge Herrin in voller Tätigkeit. Der aufgebaute Zaun leuchtete ihr mit den vielen neueingesetzten Holzteilen förmlich entgegen. Die von der Sturmflut weniger bedrängten Warfbohlsgenossen [209] hatten sich eingefunden, um an allen Ecken und Enden zu helfen, und Maren Holgers begrüßte die Nachbarn mit dankbarem Handschlag. Dann eilte sie ins Haus. Auch hier hatte man die Zeit gut genutzt. Alle Stuben unten waren tüchtig durchheizt und sauber, die Säuglinge schliefen in zwei Wiegen. Erstaunt sah Maren, daß Tanten Frauke ihr nie benutztes Heiligtum für Akkes Kind hergegeben hatte. Mutter Holgers schlief übermüdet von der unruhigen Nacht einen tiefen Erschöpfungsschlaf, und Ohm Rickert ging bastelnd, rauchend und philosophierend im ganzen Gewese umher.

»Allens im Lot«, sagte er nickend. Und setzte ritterlich hinzu: »Eben meint ich noch, jetzt müßt büschen Sonne kommen, damit das hier wieder durch und durch trocken und warm wird. Und süh so, – da kommt auch schon Nichte Maren.«

Und doch war es Maren, als sähe der Alte wie verlegen an ihr vorbei. Da ging sie in den Wohnpesel des Mutterhofs, um nach Onnen und Karen zu sehen, fand aber nur Karen fest schlafend auf dem Sofa. Und Onnens Kammer ausgeräumt. Sie ging nach dem Jungteil und fand es leer und unordentlich. Und lief nach Tanten Fraukes Altenteil, und sah Frauke Holgers über ein Bett geneigt, in dem Onnen noch immer schlummerte. Bei Marens Eintritt drehte sich Tanten Frauke um und war mit raschen Schritten bei ihr. »Wie müde du aussiehst, meine Maren … Und ich kann dir keine Ruhe und keine Freude bringen.«

»Edlef?« fragte Maren. Und eine Flamme schlug ihr ins Gesicht, weil sie zuerst und immer nur an ihn gedacht. [210] Und sie sah doch, daß hier ein Schwerkrankes lag – ihr kleiner, guter Onnenschwager.

»In Onnen scheint eine ernste Krankheit zu stecken.« Tanten Frauke ging mit zartem Takt über Marens Frage hinweg. »Er schläft seit heut morgen fast ununterbrochen. Nur ein paar Minuten war er halbwach …, als Edlef Abschied nahm …«

Maren taumelte. »Edlef … nahm Abschied …?«

»Ja, Maren, mein Deern. Er läßt dich grüßen. Er bekam ein Telegramm. Hat alles noch geordnet, so gut es ging. Er übergibt dir den Mutterhof. So sei er in guter Hand.«

Auch Tanten Frauke sah an Maren vorbei. Ganz bewußt. Und ganz ruhig sprach sie. Als sei diese Abreise nicht für ein ganzes Jahr vor sich gegangen, sondern etwas Alltägliches.

Und all ihre Gedanken, all ihr Feinempfinden, all ihre große Liebe zu Maren schienen eine Mauer um das junge Weib zu bauen, die es schützen sollte vor Neugier und wehtuendem Mitleid.

Mit tastenden Schritten ging Maren an Onnens Bett und sah still auf den Schläfer nieder. Nach einer Weile schlug dieser die Augen auf. Er schien Maren nicht gleich zu erkennen, aber dann festigte sich sein Blick. »Du!« sagte er mit schattenhaftem Lächeln. »Einen schönen Gruß … Wenn ich nicht mehr so müde bin, soll ich dich beschützen, Marenschwester … Edlef läßt dir sagen: Gott behüt! «

Da kniete Maren am Bette nieder und ihr Kopf sank [211] auf die fieberheiße Hand des Knaben. Und sie weinte, wie sie nie in ihrem tapferen Leben geweint hatte. –

Tanten Frauke ging sacht aus der Tür. Draußen nahm sie einen Holzstuhl, stellte ihn vor die Tür und setzte sich darauf. Und hielt treue Wacht, bis sich ein verzweifelndes Menschenkind durchgerungen hatte. –


Auf Hallig Likamp lag Schnee.

Und ein kalter Nordost fauchte. Es war niemand unterwegs, den sein Beruf nicht unbedingt hinaustrieb. Eisblumen glitzerten an jeglichen Scheiben, und die Beilegeöfen verlangten viel Speisung, um die Stuben einigermaßen behaglich zu machen.

Manne Wögens ging nach der Postwarf, um seine Briefe abzuholen und ein Paket, das ihm angekündigt war. An der Anlegestelle des Postschiffes wehte ein dunkelblauer Schleier. Nachdem er das festgestellt, ging er ein wenig rascher zu und half der Aussteigenden.

»Hier«, sagte Nomine Holgers lachend.

Sie hielt ihm ein Postpaket hin. »Ich habe es für Sie ausgesucht in den anderthalb Stunden des langweiligen Kreuzens.«

»Wie überaus freundlich!« lächelte er überhöflich. »Und daß wir uns im Advent treffen, genau am Jahrestag wie beim letztenmal! Wissen Sie, daß Sie ein Jahr lang nicht hier waren? Und weiß der Mutterhof, daß Sie kommen?«

[212]

»Nein. Wir Holgers sind allem Brimborium und aller Sentimentalität abhold. Das wissen Sie ja.«

»Das steht doch nicht so ganz fest. Aber allerdings bei Ihnen persönlich habe ich diese Überzeugung. Sie sind einwandfrei unsentimental, Fräulein Doktor.«

Nomine errötete. Höchst überflüssig, wie sie bei sich selbst feststellte. Aber es berührte sie wunderlich, da der Lehrer ihr zum erstenmal den Titel gab.

»Haben wir den gleichen Weg?« fragte sie fast verlegen. Und als er ihr sagte, daß er sie nach dem Mutterhof geleiten wolle, nahm sie das Gespräch wieder auf.

»Ich allein erscheine Ihnen ohne Gefühlsduselei??? Und Sie sind doch der beste Freund der Ahne.«

»Eben darum. Bei ihr konnte ich tiefer schürfen. Und fand viel von ›Brimborium‹ und von dem, was Sie mit dem Schlagwort ›Sentimentalität‹ abtun.«

»Da wissen Sie in der Tat mehr als ich. Und meine Mutter? Erscheint sie Ihnen auch sentimental?«

»Jedenfalls hat sich Frau Holgers innerlich und äußerlich so verändert, daß Sie Ihre Mutter kaum wiedererkennen. Bleibt also noch Tanten Frauke. Nun, bei ihr werden Sie mir selbst zugeben, daß sie, gottlob (so sage ich), viel Brimborium zu eigen hat. Und Ihre jungen Geschwister, Fräulein Doktor? Klein-Karen lebt in einer köstlichen Puppen- und Märchenwelt, und Onnen???«

»Ja, den haben Sie mir gründlich verdorben«, fuhr es Nomine zornig heraus.

Eine dunkle Röte jagte über Manne Wögens Stirn. Nach kurzer Pause fragte er schier gleichgültig: »Wie wollen Sie das begründen?«

[213]

»Onnen ist etwas Besonderes …« sagte sie heftig.

»Seltsam, daß Ihnen das nicht entgangen ist bei dem Studium und der Doktorarbeit …«

Sie sah ihn böse an. »Ich meine, ein Schulmeister sollte einem den Fleiß nicht gar so verübeln.«

»Wenn der Fleiß so rücksichtslos ist wie der Ihre, Fräulein Doktor, dann verüble ich ihn allerdings. Er ist Ihr schwerster Fehler und Ihr größter Feind.«

»Ach nein, der sind Sie , Manne Wögens. Das wird mir von Mal zu Mal klarer.«

»Ich staune über Ihre Menschenkenntnis, Fräulein Doktor.«

Sie sah das wunderliche Zucken in seinem Gesicht, und wußte nicht recht, was sie daraus folgern sollte. »Onnen war ganz mein Junge«, nahm sie das Thema wieder auf. »Und es war mir der liebste Gedanke, daß er mein ›Amanuensis‹ würde. Nun haben Sie ihn zum ›Halligburschen‹ gestempelt …«

»Das war Onnen immer . Ein Bodenständiger – einer, dem die Heimatflucht das größte Verbrechen dünkt, wenn er’s auch noch gar nicht in Worte faßt. Ich habe an Onnen nichts gemodelt, nur befestigt. Und Sie, Fräulein Doktor, begingen einfach den Fehler, die Rechnung ohne den Wirt zu machen.«

»Den Fehler kann ich noch beseitigen. Ich werde mich in diesen Ferien ganz nur Onnen widmen. Brieflich ist die Verständigung schwer mit solch einem trotzigen Feuerkopf. Aber durch persönlichen Einfluß …«

»Den haben Sie nicht mehr, Fräulein Doktor …«

[214]

Nomine Holgers blieb plötzlich stehen. »Daß ich nicht lache, Manne Wögens …«

»Da gibt’s nichts zu lachen«, sagte er schroff. »Onnen gehört auch gar nicht mehr Ihnen

»Das sind ja überwältigende Neuigkeiten. Darf ich fragen, in wessen Besitz mein leiblicher Bruder übergegangen ist? Doch sicher in den Ihren …«

»Sie irren, Fräulein Doktor. Er gehört jetzt meiner Schwester Maren. Sie hat ihn allein und mit eigener schwerer Lebensgefahr in fast drei Monaten aus Typhus und Diphtheritis gesund gepflegt.«

Wie Keulenschläge fielen seine Worte.

»Onnen? Maren?« stammelte Nomine, »davon weiß ich nichts …«

»Sie haben ein Jahr lang nicht geschrieben, sind ein Jahr lang nicht auf der Hallig gewesen«, klang es hart. »Als uns Onnen sterben wollte, schrieb ich an Sie. Schier wider meinen Willen aus einem inneren Zwange heraus …«

»Ich habe nichts erhalten.«

»Nein, der Brief kam zurück. Adressat verzogen, unbekannt wohin …«

»Ich war auf Reisen, mußte mich erholen …«

Der Trotz erhob sich wieder in ihr, sie wehrte sich gegen Manne Wögens unbarmherzige Aufrichtigkeit.

»Ja, ich weiß. Sie hatten Ihre neue Adresse niemand hinterlassen. Das ist bequem, Fräulein Doktor, aber es befremdet Leute, die noch mitten im ›Brimborium‹ stehen …«

Sie warf beleidigt den Kopf zurück. »Erzählen Sie [215] weiter«, gebot sie kurz. »Sie haben ja gewiß noch den ganzen Sack voll schöner Neuigkeiten, Manne Wögens. Oder nicht?«

»Neuigkeiten? Ja! Schön? Nein! Aber so reichlich, daß ich fürchte, ich komme nicht zu Ende, bis wir den Mutterhof erreicht haben.«

»So unartig also war’t ihr Halligleute, während ich nur ein Jahr fort war?« versuchte Nomine zu scherzen.

»Ja, wir Halligleute – Fräulein Doktor scheint sich überhaupt nicht mehr dazu zu rechnen – erlaubten uns sehr unartig zu sein, über die Gebühr unartig, – Gott, was haben wir alles angestellt …!«

Nomine Holgers sah ihn prüfend an. Die sonderbar bittere Art seiner Berichterstattung befremdete sie. Es war kein Humor mehr dabei.

»Das scheint mir so«, sagte sie bedeutungsvoll. »Sie tragen ja noch den Arm in der Binde. Haben Sie gerauft?«

»Mit dem Tode, ja. Aber er war stärker als wir alle.«

»Manne Wögens, Sie sind wirklich unausstehlich. Was soll diese ganze Art? Wenn es Scherz sein soll …, Sie pflegten früher geschmackvoller zu scherzen.«

Er lachte grell und bitter auf. Und dann faßte er mit seiner gesunden Rechten ihr Handgelenk und hielt es wie in einem Schraubstock fest. Zornig blitzten seine Augen sie an. Sie wollte sich losreißen, aber er zwang sie stehenzubleiben.

»Was ficht Sie an, Manne Wögens?« rief sie böse.

»Der Zorn , Prinzessin Nomine. Ein Jahr lang haben Sie sich nicht um Ihre Heimat und um uns gekümmert. [216] Ein Jahr lang haben wir hier in Kümmernis und Herzenssorgen gelebt, und Sie haben nicht danach gefragt. Meiner Maren wollten und sollten Sie eine Schwester sein; haben Sie Ihr Wort gehalten? Alle Brücken zur Heimat hatten Sie hinter sich abgebrochen. Warum? Aus kaltherziger, eigensüchtiger Bequemlichkeit. Und wie wollen Sie vor Gott bestehen, wenn er Sie nach Melenke fragt?«

Nun hatte sie sich mit einem Ruck losgerissen.

»Sie überschreiten Ihre Befugnisse, Herr Lehrer Wögens. Ich sitze nicht mehr auf der Schulbank. Trotzdem will ich Ihnen Antwort geben. Ernste Arbeit für meinen künftigen Beruf ist nicht kaltherzige Bequemlichkeit. Allerdings, ich wollte nicht unnütz gestört werden. Und des Heimatballastes etwas ledig werden. Aber ich habe zweimal an Melenke geschrieben und sie nach Kiel eingeladen. War auch ganz im Anfang bei ihr in Hamburg. Aber ihre Umgebung war für mich unwürdig … Und dann … nahm mich allerdings das Bauen meines Doktors ganz in Anspruch …«

»Und damit war die Schwester völlig aus Ihrem Gedächtnis entschwunden? Ich kann’s mir denken …«

»Warum examinieren Sie mich?« fuhr sie wieder auf. »Ich verbitte mir’s. Ich habe einmal Ohm Rickert in Husum getroffen. Noch vor zwei Monaten. Und habe ihn nach Melenke gefragt. Da sah er mich an, als hätte ich chaldäisch gesprochen. Und hatte es sehr hilde und rief mir nur zu, es gehe ihr gut, es gehe ihr am besten von uns allen.«

[217]

Wieder lachte Manne Wögens kurz auf. »Sieh so, – der Ohm Rickert. Ja, das ist ein Humorist und Philosoph.«

»Ich weiß nicht, was Sie wollen«, bemerkte Nomine Holgers ärgerlich. »Es wird das beste sein, ich lasse Sie hier stehen und stapfe allein durch den Schnee zum Mutterhof. Da wird mir ja alles offenbar werden, worüber Sie so krampfhaft orakeln.«

Er sah sie seltsam forschend von der Seite an, und einen Augenblick wollte das Mitleid heiß in ihm aufwallen, wie sie so ahnungslos neben ihm schritt.

Aber da schürzte ihr Mund sich schon wieder. »Daß Sie doch immer schelten und schulmeistern müssen, Manne Wögens. Ich hatte mich wahrhaftig auch auf Sie gefreut. Aber nun ist alle Freude fort. Und dabei will ich doch nur die paar Weihnachtstage bleiben, will dann ins Ausland gehen in den ersten Tagen des neuen Jahres. Könnten Sie nicht aus diesem Grunde ein bißchen netter sein?«

Sie blieb nun stehen, und wieder sahen sie sich in die Augen.

»Wie schrecklich blaß und elend er mit einemmal aussieht«, dachte sie. »Und warum trägt er mir alles so nach? Was habe ich denn so Böses getan?«

»Ich habe nie Anlage zum ›Nettsein‹ gehabt«, entgegnete er ruhig.

Da flog ein häßliches Wort ihm zu. »Philister!!!«

Unbewegt und ernst stand er vor ihr, und sah in seiner hochaufgerichteten, stattlichen Größe auf sie nieder. Allen Zorn, allen bitteren Unmut zwang er jetzt mannhaft zurück. Und sah nur das junge Menschenkind vor [218] sich, das all der furchtbaren Wahrheit im Mutterhof ahnungslos entgegenging. Er bewegte die Lippen und formte die Worte, die sie schonend vorbereiten sollten …

»Um Gottes willen,« rief sie, »nur keine Moralpredigt mehr. Ich hab genug für alle Ferien davon. Gö Dai, Manne Wögens …«

Nomine Holgers gönnte ihm nicht einen einzigen Blick mehr. Sie wandte sich und lief noch ein Stück den Deich entlang, und stieg dann die Steinstufen zur Großwarf empor.

Und Manne Wögens stand still auf derselben Stelle und sah ihr nach. Als wolle er dort Wurzel schlagen, wie die Bonnestave zu seinen Füßen.


Aufzeichnungen des Halligschulmeisters Manne Wögens.

»Wer tief verwundet ist von den Geschossen des Schicksals, der mag auf die majestätischen Höhen der Berge und die ungebändigten Wogen schauen und lernen, daß man mit der Weichheit nicht durchkommt, und daß Kraft die Losung des Lebens ist.«

Dies Wort holte ich mir heut aus meiner Bücherei. Eine Bestätigung der tiefen Wahrheit, die mir schon lange der tägliche Anblick der salzen See gegeben hatte. –

Hart sind alle Halligleute.

Der Kampf mit den Elementen gibt ihnen seinen Stempel.

Kaum eine halbe Stunde duckte sie die Sturmflut.

[219]

Gleich waren sie wieder aufgesprungen, hatten sich gereckt, und ihre starken Arme tilgten in kraftvoller Entschlossenheit die Spuren der Vernichtung. –

Nur mein alter Nachbar Luersen ist liegengeblieben.

Der Stoß war zu derb, den ihm das Schicksal gab. Aber da ihm die Vernunft abhanden kam, wurde zugleich sein Los gemildert. Er wiegt das Kissen und ist glücklich.

Die Beerdigung der sechs Leichen bedeutete eine Läuterung für die ganze Hallig.

Sechs Särge predigten lauter als Pastor Ephraim Licht. Und Lars Larsen auf der Königswarf, der all sein Lebtag mit Peter Luersen verfeindet war, lud uns zum Mahl in sein Haus. Und veranstaltete dann eine Sammlung, zu der er selbst den größten Betrag stiftete. Die liegt nun als hübsche, runde Summe auf der Kreissparkasse. Für Akke’s kleines Mädchen. Wir haben es Anni genannt.

Und ich mußte richtig kämpfen um meinen Pflegling Luersen. Da war auch nicht einer in der Gemeinde, der ihn nicht zu sich nehmen wollte. Aber er wurde mir zugesprochen. Weil es den Unglücklichen trotz der Verblödung noch nach seinem verwüsteten Hause zieht, das neben dem meinen liegt. – Irgendwo im äußersten Winkel des kranken Gehirns muß eine Erinnerung schlummern. Wird sie wach, dann läuft er mir plötzlich fort und lehnt sich an den morschen Birnbaum in seinem ehemaligen Gärtchen. Und wiegt sein Kissen und horcht nach dem Hause hin. Und kehrt wieder heiter zu mir zurück. – Gestern besuchte ich Maren und nahm Luersen mit nach dem Mutterhof. Aber dort war er unruhig und strebte [220] fort. Da nahm Maren seine Hand und führte ihn an die Wiege zu seinem Enkelkind. Hieß ihn sich setzen und legte ihm das kleine Mädchen in den Arm. Paßte sorglich auf, daß er’s nicht fallen ließ. Er sah darauf nieder und hielt die Arme steif und ruhig. Ließ es sich auch wieder abnehmen und beobachtete, wie es in die Wiege zurückgelegt wurde. Darauf nahm er sein Kissen und schaukelte es heftig. –

Nur des Nachts darf meine Magd dies Kissen waschen. Er ist ganz außer sich und weint kläglich, wenn er es nicht früh an seinem Lager findet.

Ein aufgeweckter Mann war einst Peter Luersen. Ich selbst holte mir von ihm manchen Rat. Und die Insulaner wandten sich in verzwickten Angelegenheiten an ihn.

Er legte Mehdebücher an und half den Warfbohlsgenossen bei den Berechnungen, wobei er einen Mathematiker von Fach beschämen konnte. Er las gern gute Bücher. Meine zerlesenen habe ich alle an ihn abgegeben, und da war er nun wieder der geborene Buchbinder und legte die schönsten Deckel darum. Und nie kam er ohne ein paar Bücher vom Husumer Markt zurück, die er sich von einem »fliegenden Händler« erstand. Sein Gärtchen war mit das sauberste und schönste auf der Hallig. Sein Birnbaum trug am reichlichsten. Weil er immer Neues ausdachte, um die Frucht zu fördern.

Von all diesen Gaben ist nun nichts geblieben. Nichts als die Vaterliebe. Und von dieser nur die Erinnerung an seine Erstgeburt, seine Akke. Man könnte sich darüber vergrübeln, wenn das Leben nicht so viel Arbeit für uns hätte. –

[221]

Neulich versuchte ich bei Luersen wieder einige Gedanken zu wecken. Er war mir in seiner gesunden Zeit ein eifriger Mitarbeiter an meinem Buche. Brachte mir jedes Pflänzchen, von dem er glaubte, es sei noch nicht in mein Bereich gekommen, brachte mir seltsame Steinfunde, und stöberte wertvolle alte Halligaufzeichnungen auf. Ganz andächtig konnte er dann von Zeit zu Zeit in meinem Manuskript blättern und nachlesen. So gab ich es ihm auch neulich einmal wieder in die Hand. Preislich und dickleibig ist’s schon geworden. Es drängt dem Ende entgegen bei aller Fülle des Stoffes, der noch vorliegt. Aber Peter Luersen hielt das weiße Bündel kaum in der Hand, da fing er auch an es zu schaukeln:

»Slaap, slaap, min Zockerpopp,
Morgen früh weck ik di op.«

Alles dünkt ihm »Akke«. Das Kind Akke, das noch gut und rein war und dem Vater zulieb lebte. –

Wir sind nun schon weit im Februar drinnen. Haben auch schon oft wieder mit dem Wasser gekämpft, aber nicht so hart wie im letzten Herbst. Doch schaue ich jedesmal mit Bangen nach der Nordseite von Likamp. Hierhin öffnen sich die Mündungstrichter unserer Priele. Edlef hat mir gezeigt, wie die Natur selbst schützend eingreift. Ein zäher Lehm lagert dort, wo die Gefahr am größten lauert. An ihm findet die wühlende See hartnäckigen Widerstand. Aber für die Ewigkeit ist sein Lagern nicht berechnet. Edlef plant einen Steinschutzdamm mit Zuhilfenahme von Faschinen. Und bei der arg bedrängten Kirchwarf denkt er an Betonversenkung. Von Mal zu Mal [222] raubt die salzen See bei Sturmflut etwas von der Landzunge zwischen Kirchpriel und freier See. Dem muß Einhalt geboten werden. Edlef verspricht sich viel von seinem Aufenthalt in Hamburg. Ihn hat schon immer die Regulierung der Unterelbe interessiert, nun ist er mitten drin im Studium des einschlägigen Materials. Das will er dann für die Sicherung und Eindeichung von Hallig Likamp verwenden.

Viele Insulaner stellen sich lau zu all den großzügigen Plänen. Das ist tief bedauerlich. Ich verliere leicht die Geduld so viel Kurzsichtigkeit gegenüber. So viel Gescheite und ernste Männer, denen unsere Hallig lieb ist, beschäftigen sich mit der Insel. Sie haben jedem Verständigen einleuchtende Grundsätze aufgestellt, auf denen wir unbedingt aufbauen müssen. – Ich versammle jetzt öfters die Halligleute im Schulhause und halte kleine Vorträge, berate sie auch nach bestem Wissen und Gewissen. Besonders die gerechte Lastenverteilung an Arbeit und Kosten ist schwer, aber auch hier haben Sachverständige die Wegweiser gestellt: »Wer den meisten Vorteil an der Landerhaltung hat, der hat auch am meisten zu leisten.« –

Edlef schreibt mir verhältnismäßig oft, weil er weiß, welch rege Anteilnahme ich seinen Plänen entgegenbringe, die alle das Wohl der Hallig im Auge haben.

Aber nur ganz sachlich schreibt er mir. Von Maren enthalten seine Briefe nichts. Er selbst schickt nur Postkarten nach dem Mutterhof. In seinem Verhältnis zu Maren ist etwas verschüttet, was nicht wieder gehoben [223] werden kann. So meint Maren. Gott verhüte, daß sie recht hat.

Aber vielfach erwähnt Edlef seinen Bruder Onnen. Er liebt ihn, ist ungeheuer stolz auf ihn und legt mir seine Förderung ans Herz. Mein Brief, der damals über Onnens Lebensgefahr berichtete und über Marens nimmermüde, Tag und Nacht währende Pflege hat ihn tief erschüttert. Er fand dankbare, begeisterte Worte über Marens selbstloses Verhalten, aber nur gegen mich. Maren selbst erhielt kein Wort darüber. – –

Onnen durfte das Weihnachtsfest bei mir im Schulhaus verleben. Da sind wir uns noch näher gekommen, wenn das überhaupt möglich war. Merkwürdigerweise hat man Onnen nicht gesagt, daß seine Schwester Nomine zu Hause gewesen ist. Onnen war zwar noch recht angegriffen, aber der Besuch von Nomine hätte ja nichts Welterschütterndes für ihn bedeutet. Es ist mir ein völliges Rätsel, warum sie ihn nicht hat sehen wollen. –

So habe ich einen schönen, kleinen Tannenbaum für Karen und Onnen geschmückt, und Peter Luersen hat in die hellen Lichter hineingeschaut, doch ohne Erleuchtung für seinen armen Kopf. Gar nicht gekümmert hat er sich um meine jungen Gäste. Das Wiegenkissen ist ihm allstunds Gesellschaft genug.

Am Silvestertag kam dann Maren zu mir, um mir aus ihrem goldenen, treuen Schwesterherzen heraus ein glückliches neues Jahr zu wünschen. Sie faßte das »Glück« gleich in ein paar Begriffe zusammen, in »Gesundheit«, »Gelingen meines Werkes« und »daraus entsprießendem [224] Mammon«, der mir eine große, herrliche Reise ermöglichen soll. – Ich war mit diesen Begriffen zufrieden. –

»Der Mutterhof hatte ein Krankes«, sprach Maren weiter zu mir. »Sonst wäre ich längst bei meinem einsamen Mannebruder gewesen.«

»Schon wieder ein Krankes?« fragte ich. »Du kommst nicht heraus aus dem Pflegen.«

»Hier war nichts Eigentliches zum Pflegen. Herz und Gemüt waren aus den Fugen, und der arme Mensch, der dazu gehörte, mußte sich selber helfen.«

Da wußte ich, wer die Kranke war. –

Nach einer längeren Pause strich mir Maren über den Scheitel und die Schläfen. Sie hatte sich auf die Armlehne meines alten Sorgenstuhles gesetzt und meinte sinnend: »Auch durch Nomines Schläfenhaare zieht sich ein weißer Streifen.«

»Unsinn!« begehrte ich auf. »Das Mädchen ist vierundzwanzig Jahre alt.«

»Aber in diesen Weihnachtsferien um ein Jahrzehnt, wenn nicht um mehr gereift …«

Maren und ich verstanden uns ohne Worte. Ich fragte nicht, wie Nomine den Anblick des veränderten Mutterhofes aufgenommen und verwunden hatte, und erfuhr nicht, wie sich die Krankheit nannte, die sie niederzwang. Ich weiß nur, daß ihr einziger Ausgang nach dem Friedhof zu den beiden verschneiten Gräbern gewesen ist. Weiß auch, daß Nomine jetzt im Ausland weilt, und daß sie auf ihren Wunsch über die Heimathallig von Maren auf dem Laufenden erhalten wird.

So schlummert auch mein allzu lebendiger Groll nach [225] und nach still ein. Aber äußerlich wird dieses letzte Wiedersehen noch eine größere Schranke denn vordem zwischen Nomine Holgers und mir errichtet haben.

Vielleicht werden wir uns jetzt jahrelang nicht wiedersehen. Sie wird ihr Staatsexamen machen und in eine neue Welt eintreten. Ich aber will weiter meine besten Kräfte aus der Heimat saugen, und ihr weiter mein Bestes geben.


Seit einiger Zeit geht ein ungut Gerücht um.

Ich habe Müh’ und Not, es vor Maren zu bergen.

Man hat Edlef Holgers und Akke, geborene Luersen, in Hamburg zusammen gesehen.

Warum sollen zwei Halligkinder sich nicht zufällig treffen können? Und wenn Edlef wirklich längere Zeit mit ihr zusammen gewesen ist, so ist das unvorsichtig, braucht aber keine Schlechtigkeit zu sein.

Wenn ich doch solche Zuträgereien von meiner Hallig verbannen könnte! Sie passen so gar nicht zu unserer Einsamkeit, zu der tiefen, besinnlichen Stille unserer Warfen!

Irgendeine fremde Eintagsfliege hat ein paar Staubkörner mit anderem unnützen Tand auf die Insel gebracht.

Der Staub wuchs an, und nun bedarf es vieler Fäuste, um den Schmutzhaufen fortzuschaffen.

Heute kam jemand zu mir und sprach davon mit ernstem Gesicht. Pastor Ephraim Licht.

Dem mußte ich freilich zuhören. Denn ich weiß, daß ihm die Ehre seiner Gemeinde am Herzen liegt.

[226]

Es wäre ja auch die allerernsteste Sache von der Welt … wenn … Aber dies »Wenn« würde ein Ehband zerreißen, würde Maren verzweifeln lassen und Edlef zum Ehrlosen stempeln.

Und deshalb ist dieses »Wenn« ein Unsinn.

Das betonte ich auch dem Pastor gegenüber sehr energisch.

»Könnte man das Wort doch noch einfangen und unschädlich machen,« sagte Pastor Licht traurig, »aber es hat schon Wurzel geschlagen …«

»Wehe dem, durch den Ärgernis kommt.«

Für mich ist’s zum Lachen. Und dabei knirschte ich mit den Zähnen. – Man raunt, Edlef sei der Vater von Akkes Kind. Pfui Teufel! –


Dieses kräftige Wort schrieb ich gestern abend.

Heute bin ich ganz frohgemut.

Denn ich bekam wieder Besuch. Ganz unerwartet – einen Besuch, den ich in Marens Mädchenstübchen einquartiert habe. Dort qualmt er den weißen Betthimmel und die lichten Gardinen voll, aber er ist nicht zu bewegen, herauszukommen.

Die Magd muß ihm auch das Essen hinbringen.

Ohm Rickert ist’s.

Ich saß wie immer des Nachmittags an meinem Werk. Da sprang die Tür auf, und jemand stand vor mir. War er selbst hereingestürzt? Hereingeflogen? Oder hatte ihn jemand hereingeworfen?

[227]

Nun entspann sich unser Gespräch.

»Ohm Rickert, Ihr werdet mit dem Alter immer stürmischer, wie’s scheint.«

Keine Antwort.

»Nun, so seid willkommen und setzt Euch.«

Keine Antwort.

»Habt Ihr eine Bestellung von Maren?«

Keine Antwort.

»Ist etwas geschehen? Seid doch nicht wunderlich!«

Da sah er mich aus Jammeraugen an, legte sein großes, rotes Bündel auf die Erde, und stand so mit verschlungenen Händen wie ein demütig Bittender vor mir. Ich schüttelte den Kopf über dem Rätsel.

»Gebt mir um Gottes willen für diese Nacht Unterstand«, bat der alte Mann. – » Maren hat mir die Tür gewiesen. «

Da mußte ich mich fest in meinen Ohrenstuhl setzen.

»Erzählt«, sagte ich kurz.

Er war noch ganz verbast.

»Gut hab’ ich’s gemeint«, murmelte er heiser. »Ist ja schier eine Heilige, die Maren, deshalb glaubt der Schulmeister wohl selbst nicht, daß ich ihr könnt was Böses antun. Aber ich konnt’s nicht mit ansehen, daß die Maren, die junge Herrin vom Mutterhof, mit einer Binde vor den Augen herumlief. Jeder guckte sie bedauernd an. Ich hab’ schon die Gelbsucht gekriegt vor Ärger über die vielen Besucher in letzter Zeit, die sich doch früher nicht blicken ließen. Und immer liefen sie zuerst zur Wiege von der lüttjen Deern und beriefen das schöne Kind. Aber nur, um zu sehen, ob das Schandgerücht wahr sei. Ob das [228] Lüttje am Ende doch die Holgersnäs hätt … Lehr mich eins, die schadenfrohen Wiwer kennen. Un da hab’ ich denn der Maren …«

Ich packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn:

»Ohm Rickert! Unglücksmensch!« schrie ich ihn an. »Was ich verhüten will, das tut Ihr so ohne Scheu? So alt und erfahren seid Ihr und wißt nicht, daß ein junges Weib an so was sterben kann?«

»Schulmeister, da irren Sie sich. Die Maren kenn ich gut. Die ist eine, die nicht geschont sein will. Die will allstunds der blutigsten Wahrheit und Gewißheit ins Gesicht sehen. Aber davon ist hier gar keine Rede. Wie ich nur so’n büschen angedeutet habe … so ganz verblümt … nur so in aller Liebe für meinen Augapfel Maren, da horchte sie schon scharf auf. Und wie ich so’n beten ins Tühnen komm, ganz sachtgen von Edlef un Akke und … dem lütt Soggerpöös, … da war ich auch schon draußen. Nicht, daß sie mich angerührt hätte, sie sprang nur auf, so rasch und zornig … nie hab’ ich sie so gesehn. Und zeigte nach der Tür. Nie, – und wenn ich hundert Jahr alt werde, nie werde ich den aufgehobenen Arm vergessen, der dem alten Mutterbruder Rickert die Tür wies.« Der alte Mann schluchzte. »Ich hab’ dann rasch mein Bündel gepackt, wußt ja zuerst rein nicht wohin. Da fielen Sie mir ein, Schulmeister. Aber die Maren, die hört ich gleichdrauf singen und mit Klein-Anni scherzen, – wie wenn nix wär.«

Ich drückte seine Hand, sprach kein Wort, sondern brachte ihn am hellerlichten Tage mit einem Teepunsch zu Bett. Und dann ging ich wieder in mein Arbeitszimmer [229] und lachte, und atmete froh auf aus tiefstem Herzensgrund.

Du söte, du fixe Deern! Dem Verleumder deines Gatten die Tür zeigen und dann herzlich lachen. Das ist Lebensweisheit, deiner würdig, meine Marenschwester! –


In der hellen Frühlingsonne stand Manne Wögens vor seinem Schulhause. Es war erst sechs Uhr morgens, und er hielt seinen stillen Dankgottesdienst, wie er es alltäglich tat. Denn es gab täglich unendlich viel zu freuen, wie er in seinem dankbaren Herzen feststellte. Und so erzog er auch seine Nachbarn und alle Schulkinder und durch diese wieder die Eltern zur nimmermüden Dankbarkeit. Eine feste, unangefochtene Gesundheit hatte er durch den Halligwinter gebracht. Die gebrochene Hand war gut geheilt und ersparte ihm außerdem das Barometer, denn sie zeigte in rührender Beflissenheit an, wenn sich das Wetter ändern wollte. Sein Halligbuch gedieh ihm zur Herzensfreude. Er hatte das Glück gehabt, in Berlin einen Verleger zu finden, der sich für seine Arbeit interessierte. Er war persönlich bei ihm gewesen und hatte ein paar anregende Tage in der fleißigen, nimmer rastenden Großstadt verlebt. Nun schaffte er in großer Freude in dem Gedanken, daß sein Werk nach der Vollendung weiter in guten Händen sein werde.

Ohm Rickert weilte noch bei ihm. Der arbeitete unermüdlich in Hof und Garten und verdiente sich reichlich das Brot, das Manne Wögens ihm gab. Denn durch Ohm [230] Rickerts Hilfe war der Lehrer entlastet und konnte sich nach den Unterrichtsstunden mit ganzer Hingabe seiner Arbeit widmen. Auch Peder Luersen war ihm durch Ohm Rickert abgenommen worden. Der Kranke hatte sich rasch an seinen neuen Pfleger gewöhnt.

Nach dem Mutterhof war Manne Wögens noch nicht wieder gekommen. Er hatte durch Onnen hinsagen lassen, daß Ohm Rickert von ihm aufgenommen sei. Nun wollte er Maren erst einmal in voller Ruhe das häßliche Gerücht verwinden lassen. Er wußte, daß sie ihn suchen würde, wenn sie des Bruders bedurfte. –

Der strahlende Sonnenaufgang verhieß einen frohen Tag.

In Manne Wögens’ Augen leuchtete ein helles Willkommen für das, was er bringen würde.

»Dat is mit der Sonne grad so, wie mit den meisten Weltsachen und auch mit den meisten Menschen«, sagte Ohm Rickert, der schon eine ganze Weile hinter dem Lehrer stand, ohne daß dieser ihn bemerkte. »Sie versprechen eine ganze Menge und dann halten sie’s nicht und narren uns.«

»So kritisch?« lachte Manne Wögens. »Sind wir mit dem linken Bein zuerst aus dem Bett gestiegen? Das gibt’s nicht im Schulhause. Schaut nur weiter in die Sonne, Ohm Rickert, und auf unsere schöne, liebe Hallig. Sie lacht nicht oft so, wir wollen’s wahrnehmen. Rein Hart, klar Kimming!«

Ohm Rickert schüttelte den Kopf.

»An dem Lehrer erkenn ich den Schüler. Dem Onnen Holgers muß ich auch des öfteren sagen: ›Lösch din Lichters ut, mien Jung, es kümmt anners, as du dacht harst.‹«

[231]

»Nun, – und?«

»Dat möt ik hüt ok dem Scholmeester seggen.«

»Man zu. Es wird nicht viel nützen, denn ich hab heut ›Spring im Herz’ und Sing im Leib‹, wie meine Großmutter zu sagen pflegte.«

»Schulmeister, – – das Bett von Peder Luersen ist leer. Und im nächsten Umkreis vom Schulhaus ist er nicht zu finden.«

Manne Wögens erschrak heftig. »Das ist freilich böse Botschaft. Aber ich kann mir nicht denken, daß er sich ein Leides angetan hat.«

»Ein Leides? Mich dünkt, es wär’ die größte Wohltat, die der da oben für den arm Stackel haben könnt …«

»Wir müssen uns gleich aufmachen«, gebot der Schulmeister hastig. »Ich laufe zur Kirchwarf. Möglich, daß sein kranker Geist sich plötzlich erinnert und die Ertrunkenen dort sucht … Auf meine Schulkinder kann ich mich verlassen. Die beschäftigen sich schon selbst, wenn sie mich nicht vorfinden. Ich lege ihnen einen Zettel hin.«

»Tun Sie das, Schulmeister. Und ich such’ auf der andern Seite. Wenn Nahbar Luersen nicht schon in der Ewigkeit ist, dann soll er her.«

So trennten sie sich.

Ohm Rickert humpelte nach dem Nachbarhause und durchspähte das Wrack. Stieg im verschlammten Gärtchen umher, an welches seit dem Unglück noch keine ordnende Hand gekommen war. Aber Vadder Luersen war nicht zu entdecken.

Ohm Rickert sprach nach seiner Gewohnheit mit sich [232] selbst. »Die größte Möglichkeit wär’, dat he, wat Luersen is, sich nach dem Mutterhof verlaufen hätte. Denn die Maren tut’s jedem an. Aber mich bringt niemand nach dem Mutterhof.«

Immer wiederholte er dies Gelöbnis, trotzdem seine Füße längst den Weg nach der Großwarf eingeschlagen hatten. »Nicht zehn Pferde ziehen mich allmeindag auf das Flag, wo man die Hand gegen mich aufgehoben hat …« Damit fing er auch schon an zu laufen. So gut es sein Gliederreißen gestatten wollte, ging es geradenwegs dem Mutterhof zu. Denn sein immer noch recht scharfes Auge hatte da etwas entdeckt. Er hatte es bald erreicht und hob das schmutzig weiße Bündel auf. Dann lief Ohm Rickert weiter und pustete und schnaufte gefährlich, denn sein altes Herz schlug heftig gegen die Rippen. Seine Angst war groß, und mit ihr stritt sich noch allerhand Unbekanntes und Uneingestandenes in seinem Innern.

Von der Treppe, die von der Großwarf nach den Fennen führte, kam jemand herunter gestolpert. »Christ Kyrie, wo wollt Ihr hin, Vadder Luersen«, fragte Ohm Rickert und hielt den Kranken fest. Der erschrak heftig, lachte aber gleich drauf. »Baden. Klein-Akke baden«, lallte er.

Und wandte sich zum nahen Priel.

Mit der Linken hielt Ohm Rickert ihn fest. Mit der Rechten löste er das kleine, schlafende Wesen aus Peder Luersens Arm.

Da warf sich der Irre in jäher Wut auf ihn. Beide fielen sie zu Boden. Aber Ohm Rickert schützte das Kind [233] mit seinen Armen. Und ehe der Kranke sich wieder aufrichten konnte, hatte Rickert die Kleine weit von sich geschoben in dichte Bonnestave hinein. Es war erwacht und schrie jämmerlich. Vadder Luersen hörte die Klagetöne und warf sich aufs neue auf seinen Feind. Da rief Ohm Rickert gellend zum Mutterhof hinauf: »Maren! Maren!«

Es kam rasche Hilfe. Bei dem guten Wetter arbeiteten alle draußen im Hof und Garten. Maren rannte allen voran die Stufen hinunter. Sie und der rasch nachfolgende Knecht rissen den Kranken zurück. Er lachte gleich wieder, als er Maren sah, und ließ sich willig vom Knecht führen. Das schmutzige Kissen war auf die Erde gefallen, er hob es auf und schaukelte es heftig. –

»Christ Kyrie, das Lütte«, rief die Magd, und kniete bei Klein-Anni. –

Maren stand vor Ohm Rickert. Er blutete aus vielen Kratzwunden.

»Stützt Euch auf mich«, bat Maren liebreich und führte den Erschöpften. Der erzählte ihr stockend, was vorgefallen. Dann wandte er sich finster. »Ich gehör’ nicht hierher, – du hast mich fortgewiesen, Nichte Maren.«

»So führ’ ich Euch nun wieder hinein.«

Sie legte ihr weißes Halstuch um seine zerschundene Hand. »Uns ist beiden weh geschehen«, sagte sie sanft. »Nun muß ich Euch danken, Ohm Rickert, daß Ihr mir das Pflegekind rettetet. So seht Ihr, daß Gott Euch auf dem Mutterhof braucht und ich auch. Ihr seid mir sehr abgegangen all die Tage, Ohm Rickert …« Da war er schon wieder in ihrem Bann.

Und ließ sich geduldig in seine alte Behausung geleiten [234] und all die häßlichen Schrammen von der weichen Hand verbinden. Und wie Frau Maren über ihn geneigt stand, raunte er an ihrem Ohr: »Ich denk allstunds gut vom Edlef.«

Da wurde ihr Gesicht sehr blaß und sie trat ein wenig zurück. »Das muß auch jeder tun in diesem Hause«, sagte sie fest. »Sonst müßt ich selbst dem Wunden dies Dach wieder verbieten. Sprecht nie mehr davon, Ohm Rickert, wenn Ihr mich lieb habt.«

Als nach einer Stunde Manne Wögens kam, ganz voll Sorgen über den Verbleib seines Schützlings, fand er ein sehr friedliches Bild. Vadder Luersen saß still an Klein-Annis Wiege, hielt das Wiegenband und bewegte sacht damit die Schwengel, wie er es von der ihm gegenübersitzenden Mutter Holgers sah. Das Kissen hatte man ihm fortgenommen.

Die Geschwister besprachen ernst den Fall.

»Du kannst ihn nicht bei dir behalten«, meinte Manne Wögens besorgt. »Das Kind würde immer gefährdet sein.«

Maren sah ihn ratlos an.

Der Lehrer legte die Hand auf die Schulter des Kranken. »Kommt, Vadder Luersen, wi willn nah Hus’.«

Aber Vadder Luersen achtete nicht darauf, und als ihn Manne fortziehen wollte, widersetzte er sich heftig und zugleich voll Angst.

»Laß ihn«, bat Maren. »Das verstört ihn mir wieder ganz. Ich will Ohm Rickert bitten, daß er sich hereinsetzt und auf ihn aufpaßt. Wir müssen dann mit dem Pastor sprechen, wie es weitergehen soll.«

»Wenigstens singt er doch das schreckliche Lied nicht [235] mehr«, meinte Mutter Holgers. »Es kann wohl noch besser mit ihm werden. Und Platz zum Schlafen hat auch der Mutterhof für ihn.«

Maren geleitete den Bruder zur Haustür.

»Du hast dir viel Sorge aufgeladen, Marenschwester«, meinte er trübe. »Du siehst müde aus.«

»Nicht doch«, wehrte sie. »Das war nur heute ein bißchen viel, so in aller Herrgottsfrühe. Sorg’ dich nicht um mich. Der Ohm Rickert ist ja nun wieder bei mir …«

Manne Wögens schüttelte lächelnd den Kopf. »Wie du den gezähmt hast, Maren. Wo ist sein loses Maul geblieben? Weißt du, daß er dich eine Heilige nennt?«

Maren errötete. »Das ist ja Unsinn! Er weiß nur, daß ich Schluderworte nicht hören mag.« Sie sah lieblich lächelnd den Bruder an. »Manne, wo sollte wohl Ohm Rickert ›Heilige‹ kennen gelernt haben?«

Dann fragte sie unvermittelt: »Hast du Nachricht von Edlef?«

»Ja, gestern. Aber von sich selbst schreibt er gar nichts, der ganze Brief wimmelt von ›Erdlahnungen‹, ›Faschinenbuhnen‹ und ›Strohbeschickung‹. Er ist sehr fleißig, dein Edlef. Und auch mit seinem Geld und Gut setzt er sich ein. Die Halligleute schätzen ihn sehr, Maren, mein Deern …«

»Ja, und schneiden ihm die Ehre ab«, sagte sie bitter.

»Das steht ganz und gar auf einem andern Blatt«, rief der Lehrer eifrig und nahm ihre Hand. »Du kennst die wunderliche Hallig nicht wie ich …«

»Doch, Manne, ich kenne sie.« Aus ihren Augen sah der Gram.

[236]

Da reichte er ihr rasch die Hand und ging mit weit ausholenden Schritten zur Schulwarf. Sein alter Knecht kam ihm entgegen. »Allens im Lot«, berichtete er. »Dat brummelt blot so’n beten in de Scholstuw. Ik heww seggt: Ji Düwelstüg, wenn ji Larm makt, dann hol ik sülwst School. Da hebben se Angst kregen …«

Manne Wögens lachte. »Junge, Junge, dat is gewiß.« Und noch lachend trat er in die Schulstube.

Da saß Onnen Holgers auf dem Katheder und las mit erhobener Stimme und gutem Ausdruck eine biblische Geschichte vor. Und die Schulbuben und Mädchen hatten die Hände gefaltet bis auf Geerd Mannsen. Der kerbte mit einem Taschenmesser die Bank ein, was von den Umsitzenden mit Teilnahme verfolgt wurde. Die hinderte sie aber nicht, zugleich die Geschichte mit Spannung in sich aufzunehmen. Denn Schulkinder haben die Gabe, die Ohren freizuhalten, wenn sie auch Herz, Hirn und Augen zu einer anderen Sache brauchen.

Daß der Schulmeister mitten in der schönen Geschichte zurückkam, das neue Messer von Geerd Mannsen enteignete, dem Sünder eins an die Ohren gab und die Geschichte unterbrach, dünkte allen eine sehr unberechtigte Störung. Nur Onnen sprang fröhlich von seinem hohen Sitz herunter. Zugleich läutete es acht Uhr von der Kirchwarf, und die Pause begann. Alle Kinder marschierten geordnet zur Tür hinaus auf den Hof zum lärmenden Spiel, wobei auch Geerd Mannsen seine Ohrfeige vergaß.

» Es ist sehr schwer, Lehrer zu sein, oha, oha «, sagte Onnen, der zurückgeblieben war. Er atmete tief und befreit auf.

[237]

»Sieh da, Onnen, mein Junge,« meinte der Lehrer, »da hast du ja schon in deinen jungen Jahren begriffen, was die meisten erwachsenen Leute noch nicht klar haben. Ja, es ist sehr schwer, ein Lehrer zu sein!«

Onnen machte ein sorgenvolles Gesicht. »Jeder wollte eine andere Geschichte, Herr Lehrer. Das ging doch nicht. Und der Lärm dabei! Dann hab’ ich eine gefunden, die paßte für alle.«

»Und welche war das?«

»Von Jesus und der Sünderin.«

Manne Wögens unterdrückte ein Lächeln. »Junge, wie kommst du auf die?«

»Weil da ein Spruch drüber steht: ›Und wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle.‹ Ich dachte, von der Liebe … könnte man den Halligleuten gar nicht genug erzählen … –«

Da nahm der Lehrer den Jungen und stellte ihn vor sich hin. Und betrachtete ihn sehr aufmerksam. Und küßte ihn in ausbrechender Freude auf die Stirn, was beide sehr verlegen machte.

»Sag mal, Onnen, mein Junge, möchtest du nicht Halligpastor oder – – Halliglehrer werden?«

Der Knabe sah ihn freimütig an. »Pastor nicht. Da müßt ich ja zu lange von hier fort. Vielleicht Halligschulmeister … Wenn ich gut genug dazu bin …«

»Eben deshalb. Um dieses Wortes willen! Weil du so hohe Anforderungen an dich stellst, Onnen, mein Junge. Wir werden nun viel darüber sprechen, willst du? Du hast mich heute recht froh gemacht …«

[238]

»Ich will alles tun, was Sie froh macht.« Onnen sah mit großer Liebe zu seinem Lehrer auf. »Auch die Nomine schreibt es, und legt es mir ans Herz. Ich habe einen Brief von ihr. Aber sie braucht es nicht erst zu schreiben, ich tue es von allein …« Nun ward es still im Schulzimmer.

Eine Weile wartete noch Onnen. Er blickte auf den Lehrer. Der schaute durchs Fenster hinaus über die salzen See hin mit versonnenen Augen. In Fernen hinein …

Da schlich sich der Knabe hinaus. Und der Lehrer merkte nicht einmal, wie die Tür klappte. Die Umwelt war versunken, er fühlte nur eine unbeschreibliche, wohlige Wärme. Die kam vom strahlend blauen Hallighimmel in leuchtenden Sonnenstrahlen und schien durch die geöffneten kleinen Fenster der Schulstube geradenwegs in sein Herz hinein.


Am Spätnachmittage suchte Manne Wögens den Pastor auf. Die traute Behaglichkeit, in der er »Philemon und Baucis« fand, stimmte gut zu seiner eigenen, schier weichen Stimmung. Die Fenster des Pastorats waren weit geöffnet, von draußen strömte die warme und doch seltsam herbe Frühlingsluft herein und vermischte sich mit dem Duft eines sehr guten Kaffees und dem eines nicht minder guten, echt thüringischen Streuselkuchens.

»Ob ich es nicht gewußt habe, Herr Wögens!« begrüßte ihn freudig die Pastorin. »Den ganzen Vormittag hat sich die Katze geputzt und geschleckt, das ist ein untrügliches Zeichen für lieben Nachmittagsbesuch.«

[239]

Damit goß sie ihm auch schon eine bauchige Tasse voll, versorgte ihn mit Sahne und Zucker und lud auf seinen Teller eine Unmenge des duftenden Gebäckes. Er wehrte erschrocken ab.

»Frau Pastorin, Sie scheinen der unbedingten Ansicht zu sein, daß die Begriffe ›Schulmeister‹ und ›Hunger‹ zusammengehören«, rief er lachend. »Mich hat aber eben meine brave Magd schon genudelt.«

»Doch sicher nicht mit Thüringer Streuselkuchen«, meinte Frau Luischen stolz und ein wenig gekränkt.

»Essen Sie, Wögens, essen Sie!« sagte der Pastor behaglich. »Wenn Sie dem Kuchen, der mit eitel Liebe gebacken ist, nicht alle Ehre antun, dann erlaubt mir meine Frau nicht, daß ich Ihnen den geringsten Wunsch erfülle. Und ich sehe doch, daß Sie allerhand Wünsche, nicht nur einen, auf dem Herzen haben.«

»›’n ganzen Barg‹, wie meine Jungs sagen. Zuerst, Herr Pastor, was fangen wir mit Luersen an? Der bleibt nicht bei mir und darf nicht bei Maren bleiben.«

Und der Lehrer erzählte von der Gefahr, welcher Klein-Anni durch den kranken Großvater ausgesetzt gewesen.

Frau Luischen schlug die Hände zusammen. »Das ist ja schauderhaft«, rief sie. »Das ist ja gar nicht auszudenken! Und die liebe, junge Frau Maren da immer so tapfer dazwischen! Herr Wögens, was haben Sie für eine prächtige Schwester!«

Sie goß die Riesentasse gleich noch einmal voll, obschon sie noch zur Hälfte gefüllt war. »Haben Sie keine [240] Angst, Herr Lehrer!« sagte sie eifrig. »Ich kann ruhig draufgießen, das gibt kein Gliederreißen. Bei uns in Thüringen nicht, nur im Rheinlande. Ach, Herr Wögens, wollen Sie den armen Luersen nicht zu uns bringen? Das Pfarrhaus hat so viel Platz. Und Kinder sind hier nicht zu gefährden.«

»Luischen, wer sagte denn heute morgen: Ephraim, nur keine fremden Leute mehr ins Haus, die drei ›Bresthaften‹ bringen mich noch auf den Schragen …??? Wer war das doch, Luischen?«

»Ach, Ephraim, ›Vormittagred’ ist nicht Nachmittagred’.‹ Und der Luersen dauert mich, und vor allen Dingen dauert mich Frau Maren schrecklich. Und das Pfarrhaus soll immer mit gutem Beispiel vorangehen …«

»Das tun Sie wahrlich und haben es immer getan«, sagte der Lehrer warm. »Es macht Ihnen so leicht niemand nach, wie Sie Ihr Haus voll laden mit all den Mühseligen.«

»Doch, Frau Maren macht es genau so und noch viel gründlicher und hat nicht einmal die Verpflichtung wie wir. Ach, Herr Wögens! Und der Edlef Holgers läuft in der Welt herum … Hat so eine Perle von einer Frau. Und er? Was man da so zusammen hört …«

»Pssscht! Luischen!« mahnte der Pastor, und zog seine Stirn in dichte Falten. »Ich glaube, du läßt uns nachher ein bißchen allein.«

»Ach, Pastor, bei Mannesrat allein schaut nichts Erkleckliches heraus. Sehen Sie, Herr Lehrer, es wäre schön, wenn Sie mir da ein Linschen beistünden. Mein [241] Pastor ist immer dafür, alles sanft und glatt zu reden, aber ich muß hier meiner Mitschwester durch dick und dünn beistehen. Wenn der Herr Holgers, – ich hab’ ihn übrigens immer gern gemocht, – in der Welt ›herumfachiert‹ …«

»Luischen, sieh zu deinen Worten …«

»Ja, nicht wahr, Herr Lehrer, dann müssen wir Frauen zusammenstehen wie ein Mann, und …«

»Luischen, ich sehe schon, du willst in den Reichstag. Da will ich nur gleich Frau Maren fragen, ob sie mich mit verköstigt und das lebende und tote Hauswesen des Pastorats betreuen will.«

»Pastor, was du redest. Und was machst du denn da? Ich glaube gar, du willst den Tisch abräumen? Und mein Volkstedter Porzellan zerbrechen? Das fehlte noch!«

Frau Luischen sprang hurtig auf und räumte die kostbaren, goldgeränderten Tassen selbst zusammen. Stellte sie dann an das feingemalte Kuchenbrett, fegte sorglich die Krümel vom blütenweißen Tischtuch und trug alles hinaus. Manne Wögens sprang auf, um ihr die Türen zu öffnen.

»Ich muß jetzt so etwas selbst tun«, sagte sie entschuldigend zu ihm, »meine brave Magd quält sich mit den drei Bresthaften. Aber über Maren und Edlef sprechen wir noch, gelle, Herr Lehrer?«

Da stand der Pastor ruhig auf, ging zur Tür, zog den Lehrer am Rockärmel in die Stube zurück und schloß sehr energisch hinter Frau Luischen ab.

»Wenn ich nicht Ihrem klaren Blick vertraute, lieber Wögens …« meinte der alte Pastor verlegen, »dann …«

[242]

Der Lehrer drückte ihm mit einem guten Blick die Hand.

»Frau Pastorin ist uns allen lieb und wert«, sagte er warm. »Und gerade das Streitbare und Aufrechte an ihr brauchen wir hier auf der Hallig.«

»Ach Gott ja, streitbar ist sie«, seufzte der Pastor. »Und doch herzlich und lieb wie die lichte Sonne. Aber mit jedem, der nach ihrer Meinung nicht gut tut, fährt sie gleich durch den Schornstein. Und wenn’s einer vom Konsistorium wäre!«

Dann berieten sie lange und eingehend. Über alle Sorgen und Nöte der Hallig. Und fühlten, wie ersprießlich ihr gutes Miteinandergehen war. Und als Manne Wögens wieder zur Schulwarf schritt, lag sein Sorgenbündel im bauchigen Lehnsessel des Pastors. Und dessen Nöte hatte hinwiederum er aufgepackt, einen strammen Rucksack voll. Aber sie drückten ihn nicht allzusehr, denn er wußte viele starke Schultern auf der Hallig, die sie mit dem Pastor tragen würden, wenn Manne Wögens sie nur liebevoll und gerecht verteilte. –

Am meisten bedrückte ihn noch der Gedanke an Peder Luersen. Denn Pastor Licht hatte dringend zur Unterbringung in eine Anstalt geraten. Und solch ein Verpflanzen aus dem Halligboden in die Fremde dünkte den Lehrer grausam.

Aber als er in seinen Wohnpesel trat, saß Peder Luersen ganz still auf der Ofenbank und hielt die Hände gefaltet. Das weiße Kissen lag neben ihm, aber er schaukelte es nicht.

»Seid Ihr wieder da, Nachbar Luersen?« fragte der [243] Lehrer ruhig, als spräche er zu einem Gesunden. »Wolltet Ihr nicht bei Maren bleiben?« Ein paarmal mußte er die Frage wiederholen. Dann antwortete der Kranke: »Da ist nichts.«

So schickte Manne Wögens schweren Herzens den Knecht wieder nach dem Mutterhof, um Luersens Verbleib zu melden, und erfuhr bei seiner Rückkehr, daß alles wohl auf dem Mutterhof sei und der Kranke gleich, nachdem Klein-Anni zu Bett gebracht, das Haus verlassen habe.

So ging es nun Tag um Tag.

Jeden Morgen, nachdem Vadder Luersen geatzt worden, ging er rasch und unentwegt dem Mutterhof zu. Dort nahm ihn Maren in Empfang, gab ihm das Wiegenband, und er schaukelte das Kleine, ja er blickte wohl auch manchmal längere Zeit auf das Geschöpfchen nieder und wehrte ihm die Fliegen ab. Niemals mehr nahm er das Lütte eigenhändig aus der Wiege, aber er ließ auch außer Maren niemand an das Bettchen heran.

So hatte der kranke Großvater sein Enkelkind gefunden und wachte den ganzen Tag wie ein treuer Hund bei ihm in rührender Bedürfnislosigkeit.

Von einer Anstalt wurde nicht mehr gesprochen. Maren betreute Vadder Luersen tagsüber, und abends nahm ihn Manne Wögens in seine und des Schulhauses Obhut.

[244]


Aufzeichnungen des Halligschulmeisters Manne Wögens.

» Es sollen nicht aufhören Sommer und Winter, Frost und Hitze, Tag und Nacht «.

Dies wäre es, was ich über mein Leben zu sagen hätte.

Die harte Arbeit und ihren Schweiß, aber auch das Beglückende, das sie mir gibt, will ich dankbar danebensetzen.

Wieder kamen Frühling und Sommer, es kamen Eintagsfliegen von Föhr herüber, und es kam ein berühmter Maler, welcher der Hallig Freund werden will und mit dem warmen Künstlerherzen unsere Insel und ihre herbe Schönheit auf die Leinwand bannt. Wieder haben wir die Fennen eingeteilt, und es meldet das Mehdebuch in diesem Jahr:

Norderlätig:

1 Schwesterteil das Verhäuß-Schifft,

1 Schwesterteil die, welche ein Schifft in 8 teilen, ohne Zugift.

Das norderste Schifft bei dem Damme erhält Lars Larsen und gibt 1 / 5 Teil aus an die, welche ein Schifft in 8 teilen; als Zugift das oberste Bruderteil von Kleiderhörn. Das süderste Schifft bei dem Damme erhalten die, welche ein Schifft in 8 teilen, als Zugift das nächstoberste Bruderteil von Kleiderhörn. Varskoog erhalten die, welche ein Schifft in 8 teilen, als Zugift das nächstwesterste Teil von Kleiderhörn.

Lars Larsen: 6 Nutzgras 6 47 / 48 Lammgras
Witwe Klausen: 0 " 3 57 / 128 "
Edlef Holgers: 7 " 7 47 / 48 "
Rickert Holgers: 4 " 2 279 / 608 " [245]
Henning Jürgens: 0 " 5 5 / 48 "
Sonke Karsten: 0 " 2 155 / 192 "

Unsere Mehdebücher in ihrer wunderlichen Verzwicktheit und zugleich rührenden Einfachheit bilden den Schatz der Hallig. –

Sie selbst und unser eigenartiges Besitzwesen stehen wohl ganz einzig da. –

Nun ist der Herbst gekommen und, wie ich in großer Bescheidenheit sagen muß: » Der Baum auf meiner Schulwarft steht entlaubt.«

Dagegen grünt und blüht der ganze Mensch Manne Wögens. Denn mein Buch liegt fertig vor mir: »Im Banne der Heimat.« Prächtig hat es der Verleger ausgestattet, und wenn auch die märchenhafte Summe, wovon Schwester Maren träumt, erst kommen soll, so ist es doch bereits von der ernsten Kritik mit überraschend warmen Worten aus der Taufe gehoben worden. Und das Unerhörte, jahrelang Ersehnte, nie Geglaubte wird Wahrheit werden, ich gehe nach dem Süden. Meine Behörde hat mir diesen Urlaub gewährt und ich, der ich nie Ferien gekannt habe, dem immer Juli und August die härteste Arbeit brachten, ich darf im Winter warme Sonne und blauen Himmel erleben im fernen, schönen Land. Aber doppelt und dreifach lieb wird mir die Heimat sein, wenn ich wiederkehre. In sechs Wochen kann ich reisen. –

Im Mutterhof rüstet man zu Edlefs Heimkehr. Sie ist aber so unbestimmt, daß ich nicht weiß, ob ich noch hier bin, wenn er kommt. Wie wird er alles verändert finden! Einst wollte er allen Staub hinausjagen aus dem Mutterhof, aber die Spannkraft seines Willens versagte. [246] Meine Marenschwester ließ er als »verlassene Königin« im Märchen zurück. Das trennt mich innerlich vom alten Freunde. Welche Macht da tätig war, um diesen hochgemuten Jungen im Wachstum zu hemmen? Ich konnte es nicht ergründen, so gründlich ich auch geforscht habe, durch meine Briefe. Einmal suchte ich ihn in Hamburg auf. Er ist sehr verändert. Und sein Auge sah an mir vorbei. Die Arbeit hält ihn mit Krallen gepackt. Sie ist ihm ein Fronvogt. Mit der Peitsche treibt sie ihn an. Edlef Holgers kennt nichts Beschauliches mehr. Und ich bange für den Mutterhof, wenn er heimkehrt und diese Arbeitsunrast mitbringt. Dabei lag doch etwas in seinen Augen, in seiner Stimme, wenn er sich unbeobachtet glaubte, das sah aus wie – Heimweh. Und Halligheimweh ist aufreibend wie eine schwere Krankheit. Warum suchte er nicht längst die einfachste und sicherste Heilung?

Mit Marenschwester habe ich nur wenig über diesen Besuch bei Edlef gesprochen. »Laß!« wehrte sie mir. »Er hat mir so wehgetan, aber ich kann von niemandem hören, daß er es tat

»Mein Deern,« sagte ich, »es wird eine große Veränderung für dich und den Mutterhof kommen, wenn er wiederkehrt. Wirst du die Herrschaft gern und willig abgeben wollen? Wie eine kleine Königin hast du den Mutterhof regiert.«

»Edlef ist der Herr«, sagte sie ruhig. »All meine Arbeit war für ihn.«

Ich las in ihrer Seele. Marenschwester und ich waren von Kindheit an innerlich untrennbar. Ich weiß, daß sie [247] sich selbst zutiefst die Schuld gibt an der Entfremdung zwischen Edlef und sich.

Schuldlose Schuld. Arme Maren!

Jedenfalls aber wird Edlef gerecht genug denken, der jungen Herrin tief zu danken, wenn sie ihn wieder in sein Königreich führt.

Eine Macht ist der Mutterhof geworden.

Er war früher nur reich, jetzt ist er groß .

Meine Marenschwester hat der »Liebe« Hüsung gegeben. Es ist warm im Mutterhof. Und sie, die von dem Gatten keine Liebe empfing, hat aus dem reichen Schatz ihres Innern geschürft und hat gegeben, – immer nur gegeben. Und je mehr sie gab, desto reicher wurde sie. Und sie, deren Leib nicht gesegnet ward, wird »Mutter« genannt von allen, die ihrer Kraft und ihres Rats bedürfen. » Mutter Maren « heißt meine noch so junge Schwester auf Hallig Likamp.

Onnen erzählte mir, daß auch Nomine Holgers aus dem Ausland heimgekehrt ist, um ihr Staatsexamen abzulegen. Danach will sie Edlef in der Heimat begrüßen. Und will all die großzügigen Maßnahmen mit ihm durchsprechen, die Edlef zum Schutze unserer Insel getroffen hat.

Ich werde dann fern sein.

In Nomines Stübchen will ich mein Buch legen lassen, es ist wie ein Testament …

Und zugleich eine Antwort auf ihre verschiedenen frohen Anzeigen hin, die sie uns seit Jahren schickt und die Kunde von ihrem rastlosen Fleiß geben.

Ob freilich mein Buch für sie summa cum laude sein [248] wird? Ob sie nicht darauf herabsieht wie auf ihre arme Hallig?

Was kümmert’s mich? Immer noch dies heimliche Fragen, das sich um die Heimatflüchtige dreht. Meine Reise soll mich von dieser letzten, sentimentalen Rückständigkeit befreien.


Ich wollte mein »Zeitbuch« schließen und fortpacken, habe neue Seiten hineingeheftet, welche die Schilderung der Reiseeindrücke bergen sollen. Nun gebe ich noch einige Seiten für die Heimat her. Denn ich hatte heute morgen eine seltsame Begegnung. Wir Warfbohlsgenossen haben im Sommer das verfallene Haus von Peder Luersen wieder aufgebaut und gezimmert. Jeder hat sein Bestes dazu getan. Schwester Maren gab mit Edlefs Erlaubnis einen Teil der Mittel, auch stiftete sie ein Bett hinein und alles Nötige für jemand, der vielleicht einmal auf unsere Hallig verschlagen wird und hier übernachten muß. – Nach Luersens altem Hause wanderte ich heute, um einen Haussegen aufzuhängen:

»Wo Glaube, da Liebe,
Wo Liebe, da Friede,
Wo Friede, da Segen,
Wo Segen, da Gott,
Wo Gott, keine Not.«

[249]

Die Halligleute halten darauf, daß in jedem Hause dieser Spruch hängt. So wollte auch ich etwas stiften und nagelte den hübsch gerahmten Spruch über das einfache Sofa im Wohnpesel. Das hat Tanten Frauke aus ihrer Kemenate hineinstellen lassen.

Als ich just beim Einpacken von Hammer und Nägeln war, ließ mich ein Geräusch aufblicken.

Und da lehnte Akke Luersen in der Tür.

Sie tastete sich mit unsicheren Schritten zu mir. Ihre Augen brannten in dem blassen Gesicht. »Herr Lehrer, Sie werden mir die Wahrheit sagen«, raunte sie heiser.

Beide Arme hob sie wild und zeigte mit den Händen ringsumher. »Ist das wahr? Die Sturmflut? Alles leer? Alles? Vater, Mutter, die Geschwister??? In Pellworm hat man’s mir gesagt. Von Kopenhagen komm ich …«

»Und habt in der ganzen Zeit nicht einmal geschrieben und gefragt, wie steht’s daheim?« fragte ich ernst. Und mußte an Nomine denken, die in all ihrer herben Mädchenhaftigkeit genau so gehandelt hatte wie die verachtete, wilde Akke.

»Wem sollt ich schreiben? Der Vater hatte mir die Tür gewiesen … Und seit der letzten Sturmflut haßte ich die Hallig und alle Menschen drauf …«

» Alle? « fragte ich mit schwerer Betonung.

Eine fliegende Röte ging über ihr Gesicht. Und da wußte ich, daß sie mich verstanden hatte. Ich hätte sie schütteln mögen im grimmigsten Zorn.

Aber sie ließ mir nicht lange Zeit. »Wie furchtbar ist das alles«, stöhnte sie. »Wo, – wo sind – – finde ich alle Gräber? Auf der Kirchwarf? Oder …?«

[250]

»Ja, alle. Aber Ihr Vater lebt!«

Sie sah mich erschüttert an und packte wieder meinen Arm.

»Vater lebt? Ist das wahr? Und das sagen Sie jetzt? Wo ist er? O, diese langsame Halligart!«

Ihre Worte überstürzten sich.

»Sie kommen früh genug zu ihm hin, Frau Akke. Und Sie haben lange Zeit gebraucht, ihn zu suchen …«

»Wo ist er?« drängte sie.

»Bei meiner Maren im Mutterhof. Und nachts bei mir.«

Die Röte ging wieder über ihr Gesicht. »Bei Maren?« fragte sie ungläubig und verlegen …

»Auch Ihr Kind lebt dort, Akke Luersen, Sie fragten noch nicht danach.«

»Was kümmert mich das Kind?« rief sie wild. »Das kenn ich nicht, und es kennt mich nicht. Nach meinem Vater verlang ich.« Sie schluchzte schwer. »Warum sagten sie mir in Pellworm, er wäre tot? Und nun will ich hin zu ihm.«

Vielleicht war es grausam von mir, die Tochter wieder zurückzuhalten, trotzdem ich sah, der Schmerz war echt. Aber der Grimm in mir und die Trauer um meiner Maren zertretenes Leben war zu lebendig, und so verstellte ich die Tür und fragte laut: »Können Sie Marens Schwelle mit reinem Gewissen betreten?« Da duckte sie sich scheu und sah mich nicht an. Und das Leid um meine Marenschwester würgte mir die Kehle.

So standen wir eine Weile stumm.

»Was soll ich tun?« fragte sie dann finster.

[251]

»Ich selbst will Vadder Luersen holen.« Mir wurde das Sprechen schwer. »Aber … er ist krank …«

»Was heißt das?« Ihre Stimme war unsicher. »Was fehlt ihm?«

» Sie haben ihm gefehlt, Frau Akke. Sie und das Enkelkind und Ihre Mutter mit den ertrunkenen Kindern … das Leid hat ihn verwirrt …«

Sie erwiderte kein Wort, und ich ging hinaus nach dem Mutterhofe. Dort sprach ich mit Maren und konnte ihr liebes Gesicht nicht ansehen, während ich ihr erzählte. So sehr schämte ich mich für Edlef, den ich einst meinen liebsten Freund nannte. Der Kranke wollte mir durchaus nicht folgen. Da ging Maren eine Strecke mit uns und löste nach einer Weile ihren Arm aus dem seinen, und ich trat an ihre Stelle. Während sie still zurückschritt. Als wir zum Hause kamen, blieb Vadder Luersen stehen und horchte nach allen Seiten, aber er wollte nicht hineingehen. Die neue Haustür mutete ihn fremd und unbehaglich an. Aber ich erzählte ihm, daß das sein liebes, altes Haus sei, wo die Akke drin wohne. Und schob ihn sacht vor mir her in das Stübchen. Er blieb auf dem Fleck, da ich ihn hingestellt und machte ängstliche Augen. Und dann tastete er an den Wänden hin und lachte. Denn er fühlte da manches Bekannte. Auch ein kleines Wandschränkchen fand er mit einem alten Tabaksbeutel, den er gierig beroch. Und dann lachte er wieder.

Mit vorgebeugtem Körper stand Akke. Sie streckte die Hände abwehrend aus gegen das Jammerbild, und dann [252] schlug sie auf den harten Boden hin, wie ein gefällter Baum.

Ich lief zum nahen Schulhaus und holte Wein und Brot und Wasser, meine alte Magd half mir alles tragen. Als wir zurückkamen, saß Akke mit ihrem Vater auf dem Bettrand. Sie hielt seine Hand und strich sacht darüber hin. Ihr schönes, wildes, derbes Gesicht war jäh gealtert. Sie stand auf und sah mich an. »Kann ich hierbleiben?« fragte sie kurz und hart. »Und kann mir mein Kind geschickt werden? Ich möchte den alten Mann bei mir behalten. Vielleicht – daß er mich noch einmal erkennt …« Sie schien alle Fragen ohne Pause tun zu wollen. So als bliebe ihr keine Zeit sonst, und als wolle sie danach nie mehr ein Wort an andere richten. »Könnten Sie mir Arbeit besorgen, Herr Lehrer? Damit ich verdiene. Eine Weile geht’s noch mit meinem Ersparten. Die Gemeinde soll keine Last mit uns haben.«

Ich konnte ihr das versprechen, denn Lars Larsen von der Schulwarf sucht eine Hilfe für seinen großen Hausstand. Und er vermag reichlich auszugeben. Im übrigen leidet kein Halligbewohner, daß irgendeiner von der Insel sich in Bedrängnis befinde. Nur von der Schwelle meiner Maren möcht’ ich Akke fernhalten …


Aber wer rechnet mit den wunderlichen Frauen …

Heut kann ich schon niederschreiben, daß Maren allein das Haus der Akke fertig eingerichtet und ihr übergeben hat. Vadder Luersen sitzt in einem behaglichen Ohrenstuhl [253] und zupft das Wiegenband. Wenn seine Tochter spricht, dann hält er die Hand ans Ohr und lauscht. Als ob aus weiter Ferne etwas zu ihm dränge. Seine Züge spannen sich dann ein wenig. Noch scheint ihn aber das Ringen mit der Erkenntnis zu quälen. Am friedvollsten ist er, wenn er das Kind ganz für sich allein hat. Dann sitzt Tanten Frauke in seiner Nähe am Spinnrad. Sie hat das Amt des Betreuens übernommen, während Akke auf Arbeit geht.

Ich sprach ernst mit meiner Marenschwester, warum sie doch so viel Wohltaten auf die Frau häufe …

»Ich kann niemand Aufrechtes am Boden liegen sehen«, sagte Maren sanft.

»War Akke so aufrecht?«

»Sie war immer heiter. Sie konnte lachen. Es ist furchtbar, wenn man das Lachen verlernt. Deshalb möcht’ ich die Akke wieder aufheben. Ihr Kind braucht das Lachen der Mutter …«

Ich nahm Maren in meinen Arm. »Du, – ich brauche auch Lachen, dein Lachen, Schwester. Wo ist es?«

»Bei Edlef. Ich weiß nicht, Mannebruder, ob er es mir wiederbringt.« – –

Frau Akke hat meiner Marenschwester nicht mit Worten gedankt. Sie geht finster und mit unbewegtem Gesicht einher. »Ich werde das alles abverdienen«, hat sie gesagt.

Und Maren hat entgegnet: »Das sollst du auch, – denn sonst hast du keine Freude daran.«

So ist nun dies wunderliche Hauswesen wieder im Gange. Wir haben kein Wrack mehr auf der Hallig. Ein [254] zerfahrener Mensch beginnt ein neues Leben, und Tanten Fraukes einsames Dasein hat neuen Inhalt bekommen. Sie pflegt Vadder Luersens Körper und ist ein Arzt für Akkes Gemüt.

Pastor Licht geht wieder händereibend umher.

»Merken Sie es, Wögens? Der Herrgott ist wieder einmal auf der Hallig«, sagte er glücklich. »Und warum, Wögens? Warum? Weil ›Mütterchen Maren‹, der gute Engel von Likamp, das rechte Beten hat: ›Komm, Herr Jesus, sei unser Gast.‹«


Es ging auf Weihnachten zu.

Manne Wögens hatte seinen Koffer und den strammen Rucksack gepackt. Hatte beides an Knecht und Magd abgegeben, die trugen das Gepäck zur Postfähre hinunter.

Er selbst lehnte am Fenster und schaute über die sturmgepeitschte Hallig hin. Gestern war der erste Schnee gefallen, aber man entdeckte schon nichts mehr von ihm. Sturm und Regen hatten ihn fortgewaschen und gepeitscht.

Dies trübe Grau in Grau würde er nun lange nicht sehen. Ein wunderliches Herzweh war in ihm, und er schalt sich selbst. »Halligbursch! Grundinsulaner! Es ist, als ob ich schon wieder Heimweh nach der Hallig hätte, und bin noch gar nicht fort.«

Er sah sich in dem wohlaufgeräumten Stübchen um, fand es leer und ungemütlich.

[255]

Reisefieber und ein unklares Gefühl von Verlassenheit rissen an ihm herum.

Da hörte er draußen Onnens Stimme. »Fort ist er. Sieh, da unten werden seine Sachen weggeschafft. Nomine, ich renne nach. Vielleicht erwisch ich ihn noch … kommst du auch?«

»Ich komme bald«, sagte eine herbe Stimme in wunderlichem Klange … Dann bog sich die Klinke herunter.

Das Heimweh in Manne Wögens Brust schwieg.

Er sah auf das tief erschrockene Mädchen mit gutem, frohem Blick.

»Bleiben Sie nicht auf der Schwelle stehen, Fräulein Doktor. Treten Sie ein! Lassen Sie auch den Onnen ruhig nach der Postfähre rennen … Warum sollen wir zwei Feinde nicht zum Abschied noch einmal die Klingen kreuzen?«

Sie suchte nach einer Antwort. Es schien nicht mehr die selbstsichere Nomine von einst … Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.

»Ich bin nicht mehr Feind, Manne Wögens«, sagte sie ruhig. Aber sie meinte, man müsse ihr Herz laut schlagen hören.

Er sah sie durchdringend an.

»Sie stehen immer noch an der Tür. Ich komme mir ungastlich vor. In welchen ›Salon‹ darf ich Sie geleiten?«

»Nur jetzt keinen Spott. Ich – ich möchte in das Schulzimmer.«

Sie öffnete rasch die wohlbekannte, alte Tür.

Erstaunt und befremdet folgte er ihr.

Die Röte kam und ging auf ihrem regen Gesicht. [256] »Manne Wögens, ich komme, um Abbitte zu tun, da ist hier der rechte Platz … Ganz klein möchte ich mich machen …«

Sie hockte sich auf eine niedere Schulbank. »Wissen Sie noch, wie ich damals sagte (es ist lange, lange her), ich säße nicht mehr auf der Schulbank, und Sie sollten nicht ewig schulmeistern? Nun sitze ich wieder darauf. – Wissen Sie alles noch, oder haben Sie es vergessen?«

»Ich habe nichts vergessen, was die Prinzessin jemals an guten und bösen Dingen zum Schweinehirten gesagt hat.«

»Oh, nicht so ein finsteres Gesicht, Manne Wögens. – Aber es ist gut, tausendmal gut, daß Sie nichts vergessen haben. Gefürchtet habe ich mich nur vor – Gleichgültigkeit.«

»Es wäre mir lieb, wenn Sie ganz deutlich und ruhig sprechen wollten, was Sie hierher führt«, sagte Manne Wögens schroff.

»Das habe ich Ihnen doch erklärt, – ich wollte – abbitten …«

»Was heißt das? Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen. Daß Sie die Hallig nicht liebhatten … nun sie ist unsere Mutter, und eine Mutter verzeiht alles und nimmt auch das lieblose Kind immer wieder ans Herz. Daß Sie mich nicht liebhaben konnten, war Ihr gutes Recht …«

Sie sah ihm gerade in die Augen. » Ich habe die Hallig lieb! So lieb! Ist’s denn so schlimm, daß ich erst lernen mußte, was anderen im Blut liegt? Manne Wögens, – ich hab’ nicht gewußt, was rechtes Heimweh [257] ist. Dann kamen im Ausland bitter einsame Stunden, und in diese hinein brachte ein Professor mir Ihr Buch …«

»Sie – haben – mein Buch schon gelesen?«

» Im Banne der Heimat. Ja. Manne Wögens, Sie haben mir die Heimat geschenkt. Darf ich Ihnen die Hand geben?«

Ganz mechanisch und sehr langsam reichte er sie ihr hin, zog sie aber gleich wieder fort. Beinahe wie ein verlegener Junge, der das Weite suchen will.

»Was ist das mit Ihnen, Fräulein Doktor?« fragte er ungeduldig. »Sind Sie eine neue Ausgabe der alten spottsüchtigen Nomine Holgers? Ich finde mich nicht zurecht.«

In ihr regte sich der Zorn. Aber der heiße Wunsch, jetzt nichts zu verderben, drängte alle unguten Worte zurück. Sie standen Aug’ in Auge …

Und obgleich Nomine Holgers innerlich feststellte, daß Manne Wögens sie unerhört quäle, war es doch der Schulmeister, der beide Fäuste ballte und mit farblosen Lippen die Worte herausstieß: »Wie Sie mich quälen, Nomine Holgers!«

Da sagte sie leise und wandte die Augen nicht von ihm: »Ihre Marenschwester hat mir geschrieben, nicht einmal, sondern in jedem Brief: ›Der Manne hat dich lieb bis in den Tod, denn er ist ein Wögens. Aber er wird es dir niemals wieder sagen, nie .‹«

»Was soll das?« fragte Wögens verletzt.

»Da hab’ ich gedacht: ›So muß ich etwas ganz Ungewöhnliches tun, – etwas, das er vielleicht … häßlich findet … Aber ich muß es trotzdem tun. Denn sonst erfährt er ja nie …‹«

[258]

Und nun wandte sie doch den Blick von ihm fort und senkte den feinen Kopf tief.

Ein großmächtiger Tintenfleck machte sich vor ihr auf der Schulbank breit. Eine Viertelsflasche hatte Geerd Larsen heute ausgegossen, und dafür einen Katzenkopf bekommen. Zu diesem Tintenfleck sagte Nomine laut: »Ich habe dich auch lieb, Manne Wögens!«

Vielleicht jauchzte der Lehrer auf, aber es klang wie ein Schluchzen.

Und mit einem Ruck straffte er sich. Legte die Hände auf den Rücken und ging heftig auf und ab. Wäre Nomine seine Schülerin gewesen, so hätte sie gewußt, daß der Lehrer Manne Wögens aus den Fugen war und wieder zurechtkommen wollte.

Aber sie wußte es nicht. Und sie schlug jetzt in heller Scham beide Hände vor das Gesicht.

Manne Wögens blieb stehen. So fest biß er sich auf die Lippen, daß kleine Blutstropfen auf ihnen standen. Und in der peinigenden Stille nahm er die Kreide und malte wilde Schnörkel an die Wandtafel, und zerbrach die Kreide und warf die Stücke weit von sich.

Wieder nahm er den Dauerlauf auf. Blieb wieder stehen. Und sah sie an, wie sie mit blassem Gesicht durch das Fenster schaute in den grauen Regen hinein.

»Wär’ ich ein anderer, Nomine Holgers, – ich nähme dich in meine Arme und holte nach, was wir vier lange Jahre versäumt. Aber ich bin … Manne Wögens. Fahre nicht auf, Nomine. Du mußt mich verstehen. Ja, du hast mir eben ›Unerhörtes‹ gesagt. So unerhört Schönes und [259] Süßes, daß ich es nicht annehmen kann, jetzt nicht … wenn ich ehrlich bleiben will.«

Da kam ein Wehlaut aus Nomines Mund.

Er streckte die Arme nach ihr aus, und ließ sie wieder sinken.

»Du sollst dich nicht einen Augenblick gekränkt fühlen«, sagte er tonlos vor innerer Erregung. »Und deshalb sag’ ich dir wieder und wieder, was du nie mehr hören solltest: ›Nomine, ich hab’ dich lieb! Ich hab’ dich lieb! Ich hab’ dich lieb!‹ Aber ich nehme dich nicht und küsse dich nicht, weil du ganz frei sein sollst, während ich fort bin. Denn über dich ist ein Rausch gekommen … versteh mich recht, du Süße … der Halligrausch. Ich weiß, wie er gewaltig zupackt. Du liebst die Heimat mit einer späten gewaltigen Liebe und meinst, sie gelte mir . Tu ich dir weh, Liebste? Ach, ich tu mir selbst am wehsten. Das muß sein, du mußt dies kommende Vierteljahr auf der Hallig bleiben, Nomine. Mußt die ganze Öde der kalten, einsamen Insel durchmachen. Um dich zu prüfen, ob deine Liebe echt ist. Ob du es aushalten kannst ›up ewig ungedeelt‹ neben dem einfachen Schulmeister in dieser Öde zu stehen … Nach all deinem ernsten, wohlbelohnten Studium – eine Halligbäuerin zu werden. Denn das müßtest du werden – Nomine – mit deinem ganzen Herzen …«

Ein Sonnenstrahl, der erste an diesem grauen Regentage, fiel durch das Fenster und leuchtete an der Wand auf, wohin das Mädchen seinen trostlosen Blick gerichtet hatte. Ein Spruch hing da, ganz ungerahmt, daß es aussah, [260] als höben sich die Buchstaben aus der Wand heraus … »die Liebe aber ist die Größeste unter ihnen«.

Da demütigte sich die »Prinzessin« tief …

»So will ich warten, bis du wiederkommst«, sagte sie einfach. »Du wirst mich ganz unverändert finden, Manne Wögens, – so wie ich heute zu dir kam.«

»Du! Du!« stammelte er … Und dann riß er seine zärtlichen, dürstenden Blicke gewaltsam los – »Gott behüt!« rief er noch.

Die Tür öffnete und schloß sich mit jähem Ruck.

Und Lehrer Wögens lief davon. Lief nach der Postfähre hinunter wie ein Schuljunge, der unerträglichem Zwang entfliehen will … Einmal sah er sich um. Ein weißes Tuch winkte. Da rief er noch einmal in den Sturm hinein: »Gott behüt …!«

Langsam wandte sich Nomine vom Fenster fort. Sie nahm ihr Herz in beide Hände. Fest, ganz fest.

Stammelte irgend etwas. Etwas Zärtliches, Glückseliges. Ihre Blicke umfingen noch einmal das Schulstübchen. Ein alter, sturmerprobter Filzhut hing in einer ganz versteckten Ecke am Nagel. Manne Wögens trug ihn im Frühjahr bei garstigem Wetter zur Gartenarbeit. Häßlich war der alte Hut, durchlöchert und verfärbt. Aber Nomine streichelte ihn und setzte ihn sich mit einem lieben Lachen auf den schönen, zierlichen Kopf. Und klinkte ganz sacht die Tür auf und wieder zu. Lief dann, ohne aufzuhalten, ihren Weg zurück und trug ihr ernstes, schönes Geheimnis mit lauter frohen, guten Gedanken in den Mutterhof. –

[261]


Alle, welche Sitz und Stimme hatten auf der Hallig, waren beim Gemeindevorsteher versammelt.

Es war eine ganz außergewöhnliche Sitzung. Und die verschlossenen Friesengesichter sahen noch etwas ernster aus als sonst. Nicht eigentlich, daß sie vermuteten, der Anlaß dieser Sitzung würde sich als etwas Trauriges herausstellen, sondern weil sie alles Außergewöhnliche besonders wichtig nahmen.

Viele sahen nicht nur ernst, sondern mißmutig und unbehaglich aus. Das waren die starken Raucher. Die mit der »korten Piep« aufstanden, und mit ihr zu Bette gingen.

Die konnten sich nicht mit dem Verbot zurechtfinden, das der Gemeindevorsteher erlassen, – bei einer Sitzung den »Nasenwärmer« fortzulassen. Aber Ketel Boon hatte einmal das Wort »unwürdig« gebraucht, und da er viel in großen Städten gewesen und ein angesehener Mann war, so wollte niemand in seinem Hause »unwürdig« sein.

Vier hochgeschätzte Halligleute fehlten. Das waren Peder Luersen, der seine »Fiw« noch nicht wieder beisammen hatte, Pastor Licht, der mit schwerem Rheuma zu Bett lag, Edlef Holgers, der noch immer in Hamburg lebte, und Manne Wögens, der »im Süden studeerte, wat he doch nich im Norden bruken kunn«, wie der immer etwas giftige Boy Boysen sich ausdrückte.

Lars Larsen eröffnete die Sitzung.

Dann gab er das Wort dem Gemeindevorsteher.

Und was dieser vorbrachte, machte alle Herzen warm, [262] und war auch jedem einzelnen recht aus der Seele gesprochen. Und in einem von ihnen zündeten die Worte ein ganzes Freudenfeuer an, daß er kaum ruhig auf seinem Stuhl sitzen konnte. Das war Rickert Holgers vom Mutterhof. Und weil bei ihm die kurze Pfeife das Allheitmittel gegen Not und Krankheit, und besonders auch gegen Rührung jeglicher Art bedeutete, so löschte sein heftiges Verlangen nach Tabak alle gegenteiligen Erlasse des Gemeindevorstehers in seinem Gedächtnis aus. Und er zündete sich unter heftigem Schlucken und unbestimmten Lauten seinen Tröster an und qualmte unerhört heftig.

Freilich legte er alles ebenso rasch fort, als plötzlich die Mühle still stand und Lars Larsen vor Entrüstung den Faden verlor. Aber Ohm Rickert war doch durch die paar kräftigen Züge erst mal wieder ins Gleichgewicht gekommen.

»Geehrte Gemeindemitglieder! In ein paar Tagen, mich dünkt am Donnerstag, will Edlef Holgers vom Mutterhof aus Hamburg zurückkommen. Beinahe ein ganzes Jahr ist er fortgewesen, und hat in diesem Jahre nur für uns gearbeitet, für das Wohl unserer Insel.«

»Junge, Junge, dat’s gewiß!« murmelte jemand.

»Seine Reisen und sein Aufenthalt in den wichtigen Hafenstädten hat unserer Gemeinde nicht einen Pfennig gekostet. Mit seinem Hab und Gut und mit seiner ganzen Gesundheit hat er sich eingesetzt nur aus Liebe zur Heimat und ohne eigenen Gewinn. Hohe Herren sind auf unsere Hallig gekommen und haben von Edlef Holgers gesprochen, als sei er selbst ein hoher Herr. Das ehrt uns alle. Deshalb [263] wollen wir ihn wieder ehren und ihm einen schönen, warmen Empfang bereiten.«

»Dat’s doch Sach’ von sin Fru …« warf Boy Boysens loses Mundwerk hin.

Ihm antworteten nur entrüstete Blicke, und Ohm Rickert machte eine ausholende Gebärde, die gar nicht mißzuverstehen war.

Ketel Boon fuhr in seiner Rede fort.

»Wir wollen Edlef Holgers feierlich einholen. Wer vorher nach Pellworm oder Husum kommt, soll Tannenzweige mitbringen. Wer noch kleine, freundliche Kinder daheim hat, läßt sie die Sonntagskleider anziehen, und so mit dem Tannengrün sollen sie am Poststeg stehen, wenn das Segelboot kommt.«

»Ich heww nur mien gnarrige Olsch to Hus«, murrte Boy Boysen.

»Und wir wollen im Gottestischrock dabeistehen und ihm die Hand geben«, schlug Ketel Boon weiter vor.

»Jawohl,« rief Lars Larsen, »und mich dünkt, es könnt nicht schaden, wenn die Glocken auf der Kirchwarf geläutet würden.«

Aber da wurde Boy Boysen ganz wild, und widersetzte sich so laut und heftig, daß der Vorschlag gleich fallen gelassen wurde.

»Das fehlte noch!« erregte er sich. Da wolle er sich dann nie und nimmermehr mit Genuß begraben lassen, wenn wegen jedem »Buh und Bah« geläutet würde.

»So lade ich euch alle am Tage von Edlef Holgers [264] Ankunft in mein Haus zu gutem Schmaus und gutem Trunk«, sagte Lars Larsen.

»Junge, Junge, dat’s gewiß«, beruhigte sich Boy Boysen. »Eten und Drinken is beter as Läuten.«

Aber der Gemeindevorsteher stand immer noch an seinem Platz, und jetzt handhabte er die Glocke, als wolle er seinen Vorredner deutlich Lügen strafen. Oder auch, als wolle er nun etwas ganz besonders Frohes mit hellem Klange einläuten:

»Liebe Gemeindeglieder! Wenn wir nun unseren Halligbruder also ehren, was gebührt dann der Halligschwester? Was gebührt Mutter Maren?«

Da brach ein freudiges, erregtes Rufen los. »Ja, ja, Mutter Maren!« »Man zu, Gemeindevorsteher!« »Wi willn se ok ehren, uns’ lütt Mutter Maren!«

»Was Edlef Holgers draußen geschafft hat,« rief Ketel Boon jetzt freudig und laut, »das hat Maren Holgers drinnen getan. Im eigenen Haus und rings auf der Insel. Sie hat uns ein Armen- und Krankenhaus erspart, denn sie nahm alles auf den Mutterhof, was mühselig und beladen war.«

»Dat’s gewiß! Dat’s ekli wohr«, tönten die Stimmen durcheinander.

»Da giww du man noch’n Eten, Lars Larsen«, schlug der praktische Boy Boysen vor. »Für de Mutter Maren ok.« Aber dieser materialistische Vorschlag wurde mit lauter verächtlichen Blicken abgelehnt.

»Mein Rat ist so«, sagte der Gemeindevorsteher. »Wir schreiben eine schöne Widmung auf und sagen darin alles, [265] was wir auf dem Herzen haben. Das soll ein guter, gewichtiger Dank für sie sein. Und in dem Schreiben wollen wir sie ›Mutter‹ nennen. Damit begraben wir zugleich das schlimme Vorurteil unserer Insel, daß nur die Frauen etwas wert seien, die der Hallig Kinder gegeben haben. Mutter Maren vom Mutterhof hat uns Liebe gegeben, und so sind wir alle ihre Kinder geworden.«

Da streckten sich viele Hände gegen ihn aus in freudiger Zustimmung. Es war nicht eine Stimme, die dagegen sprach.

»Willst du die Worte aufsetzen, Gemeindevorsteher?«

»Ich will’s.«

»Und wer soll sie Mutter Maren bringen?«

»Wir wollen alle hingehen. Denn uns allen hat sie wohlgetan. Das gibt einen stattlichen Ehrenzug!«

Da kam wieder freudige Zustimmung. Und dann gingen sie auseinander in dem Gefühl, einen sehr wichtigen und sehr glücklichen Tag erlebt zu haben.

Maren aber schmückte den Mutterhof.

Ihr eigen Herz war schon geschmückt. War ganz voll Liebe, voll Sonne, voll innigsten Verzeihens, und stand in Blüten.

Aber der Mutterhof sollte nicht minder festlich ausschauen, wenn der Herr endlich wieder einzog in seiner Väter Erbe, das die Gattin ihm verwaltet und treulich gemehrt hatte.

Der junge Schwager Onnen half Maren in eifriger Hast. Was würde das für ein köstliches Leben werden, meinte er, wenn erst der große Bruder wieder daheim sei, und all die geplanten wichtigen Unternehmungen nun [266] Wahrheit würden. Wie würde Onnen daran wachsen! Und später die rechte Hand von Edlef werden!

Und »Mutter Maren« würde wieder das Lachen lernen! Das war noch das Schönste von allem!

In all das festliche Vorbereiten schickte Pastor Licht einen großen Schreibebrief. Er selbst lag immer noch zu Bett. – – – »Mutter Maren« hieß den Boten warten und packte ein Körbchen voll schöner Sachen. Lauter Kostproben von dem, womit Edlef empfangen und verwöhnt werden sollte. Und dann erst, als sie noch den Korb mit Blumen besteckt, die sie von den prangenden Fenstertöpfen abschnitt, und der Bote den Rückweg angetreten hatte, setzte sie sich mit dem Brief zum geruhigen Lesen nieder. –

Als sie etwas später aus der Haustür trat, da war ein Sturm über ihre Gestalt und ihr zartes Gesicht gegangen. Gebeugt und alt sah sie aus.

Eine Stunde darauf stand sie schon an der Postfähre und sah mit schmerzenden, brennenden Augen, wie das Segelboot zurechtgemacht wurde. Das sollte sie nach Pellworm bringen und von dort wollte sie nach Hamburg.

Sie sprach mit niemand über den Brief von Pastor Licht. Ruhig hatte sie ihre Anordnungen gegeben und das Haus bestellt für eine längere Abwesenheit. Ohm Rickert bekam eine Vollmacht, und Onnen erhielt ein paar Vertrauensposten. Mutter Holgers übergab sie das Kind, und als die alte Frau sie forschend und traurig ansah, legte sie die Hand auf ihre Schulter: »Ein schwerer Unfall, Mutter. Edlef … Er ruft mich.«

[267]

»Um Jesu willen, was ist? Wann kommst du wieder, Maren?«

»Das steht bei Gott.«


Im Eppendorfer Krankenhaus führte »Schwester Käte« die junge Frau gleich zu ihrem Gatten.

»Er hat sehr nach Ihnen verlangt, Frau Holgers«, sagte sie teilnahmevoll. »Auch in der Narkose hat er immer nach Ihnen gerufen. Soll ich Ihnen Näheres vom Unglück im Elbtunnel erzählen?«

»Nein, nein,« wehrte Maren. »Ich will zu meinem Mann. Aber wird es ihn nicht zu sehr angreifen, wenn ich plötzlich vor ihm stehe? Wollen Sie ihn vorbereiten, Schwester Käte?«

Diese wendete ihr Gesicht fort. Sie meinte, noch nie solch wehen Ausdruck in den Augen eines Menschen gesehen zu haben.

»Nein, nein, Frau Holgers, gehen Sie nur, – – es ist besser, Sie sehen den Verletzten bald … Aber erzählen Sie nicht von dem Unglück, er – weiß es nicht, wie schwer seine Verletzung ist. Wenn Sie es über sich gewinnen könnten, Ihrem Manne frohe Dinge zu erzählen … so …«

Sie drückte Maren fest die Hand. Wollte hinzusetzen: »So machen Sie ihm das Sterben leichter«, aber die Stimme versagte der Leidgewohnten diesen trostlosen Augen gegenüber.

Der Chefarzt ging vorüber und sah fragend die Schwester und die Fremde an.

[268]

»Frau Holgers von Hallig Likamp …«

Da trat lebhafte Teilnahme in sein kluges Gesicht.

Das also war »Mutter Maren«, von der ihm Pastor Licht geschrieben. Und welche durch die Fieberträume des schwer siechen Mannes geschritten war und in seinem Wachen lebte.

Er reichte Maren die Hand in rascher, herzlicher Art.

»Nur ganz unbefangen mit ihm sein«, riet er. »Ihr Frauen seid ja doch nun einmal Helden im Schmerzverarbeiten … Ihr Mann wurde uns schrecklich zugerichtet gebracht. Wir mußten beide Beine sofort abnehmen. Und leider ist er auch innerlich schwer verletzt.«

Sie schritt zu Edlefs Lager. Man hatte ihn in einem Zimmer allein gebettet. Und Maren konnte ihm zulächeln und sah, wie ihm dies Lächeln wohltat. Und während sie meinte aufschreien zu müssen vor Jammer und Leid, scherzte sie mit dem Wunden: »Mein Edlef, sie warten alle daheim auf dich, und du legst dich in die Heia …?«

Er hielt ihre Hände und zwang sein schmerzverzerrtes Gesicht zur heiteren Ruhe. »Maren, mein Deern, gottlob, du bist bei mir.« So als läge gar nichts zwischen ihnen. Als seien all die eisigen Monate eitel Frühling und Sommerwärme gewesen. –

Und Maren meinte bei sich, sie würde bis an ihr Lebensende die Worte nicht vergessen, sondern würde ihre ganze Kraft aus ihnen saugen: »Gottlob, Maren, mein Deern, du bist bei mir.«

Sie hielt seine Hand und plauderte mit ihm. Von allem, was den Mutterhof betraf, und was sich dort ereignet hatte. Bei Akkes Namen verfärbte sich Edlef, [269] und Maren sah es und litt unsäglich. Aber gleich nahm sie ihn wieder in ihre Arme: »Hast du Schmerzen?« fragte sie liebreich.

»Ja, große Schmerzen«, gestand er. »Die Beine und Füße quälen mich schrecklich. Sie müssen mehrfach gebrochen sein, aber man will es mir wohl noch verheimlichen. Maren, – wenn ich ein Krüppel würde! Oh, und wie meine Brust schmerzt!«

»Greift dich auch das Reden nicht zu sehr an?« Sie sah voll namenloser Sorge in sein gelblich-blasses Gesicht.

»Ach, nein, Maren, ich bin sehr froh, daß du gekommen bist! Wir Holgers müssen immer erst durch Tiefen gehen, ehe wir zur Einsicht kommen. Maren – – es ist kaum glaublich. – Erst als ich unter den schweren, immer aufs neue abgleitenden und stürzenden Steinen im Elbtunnel lag – Maren, da erst – kam mir zum Bewußtsein, daß ich dich schnöde verlassen hatte …«

Edlef sprach abgerissen, manchmal ganz undeutlich. Dann wieder umfing ihn wohltätige Ohnmacht.

Maren labte seine Stirn und die eingefallenen Schläfen mit kölnischem Wasser. Und ihr Herz betete und schrie: Mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Als Edlef wieder die Augen aufschlug, faßte er sofort fest ihre Hände.

»Du bist bei mir, Maren. Und ich werde den Professor bitten, daß ich bald heimkehren darf. – Du allein kannst mich gesund pflegen. – Und du wirst auch einen Krüppel liebhaben, ja, Maren? Aber sorg dich nur nicht [270] – der Professor ist sehr geschickt – vielleicht flickt er mich auch heil zurecht …«

Nun stöhnte er auf, und Maren sah, wie sich helle Blutstropfen in seinen Mundwinkeln sammelten. Sacht wischte sie mit ihrem kühlen Leinentuch über seinen Mund.

»Blut?« stammelte er. »Wo kommt das wohl einmal her? Hab mir wohl gar ein paar Zähne eingeschlagen? Und es war nur Ungeschick von deinem großen Edlef, – Maren, du kleine, süße Deern … der Gang war so eng, ich wollte über den Riesensteinhaufen hinweg – die waren schlecht geschlichtet und begruben mich …«

Er wurde wieder ohnmächtig.

Nach einer Weile kam Schwester Käte. Sie beugte sich über Edlef und bedeutete Maren, sie für eine Weile mit dem Wunden allein zu lassen. Als Maren wieder gerufen wurde, lag Edlef mit wachen Augen. »Immer ist Maren da, wenn ich sie rufe«, sagte er leise. »Immer. Im Leid – meine Mutter … Schwester Käte, wann darf ich heimkehren …?«

»Bald!«

Wie eine bohrende Nadel senkte sich dies »bald« in Marens Brust. Sie nahm wieder ihren Platz am Bettrande ein, und wieder haschte der Versehrte nach ihren beiden Händen.

»Maren, mein Deern, – hast du mir vergeben?« Große Tränen rollten über sein blasses Gesicht. Maren trank sie mit ihrem Munde auf.

»Lieber, Lieber!« stammelte sie – »ich hab’ dich lieb!«

[271]

»Ja, das tust du. Süße Maren! Und ich wollte mehr … Wollte einen Sohn von dir haben … Mutterhoferben … Und nun hast du mir unsern Onnen gerettet. Solch ein prächtiger Erbe … Gott segnete dich, Maren … die ganze Hallig nennt dich Mutter … Das ist mehr, viel mehr …«

»Quäl dich nicht so«, bat sie. »Wir fangen ein neues, wunderschönes Leben an, Edlef, Liebster …«

»Ein neues Leben – Ja! Aber sag’ mir, Maren – nur das eine … warum hattest du kein Vertrauen zu mir???«

»Ich verstehe dich nicht, Edlef …«

»Nein, laß! Ich hab’ es dir vergeben. Aber es war nicht gut, nicht recht … Es paßte nicht zu euch beiden Aufrechten … Manne! Maren! Eine falsche Scham … Manne hätte es mir sagen müssen …«

»Was sollte er dir sagen? Um Gottes willen, Edlef, sprich weiter, was tat ich?«

Aber sie sah, wie die blassen Mundwinkel sich wieder mit Blut füllten. Und während sie es sorgfältig abtupfte und den Erschöpften labte, rang sie mit allen lichten und allen finsteren Mächten.

Edlef sah sie an. Voll Schmerz und Liebe. »Du, du, Maren! Warum? Ach, warum?«

Da schrie Maren auf. Und sank an seinem Bett in die Knie. »Edlef, hör’ mich! Sieh deine Maren an! Was man dir auch gesagt haben mag , – Lieber, rein weiß ich mich von jeder Schuld. Nie hab’ ich dir mit meinem Willen ein Leids getan. Nie!«

[272]

Er sah sie an. Lange. Auf den Grund ihrer reinen Frauenseele drangen seine Augen, in denen schon der Schimmer einer andern Welt lag. Dann verklärte sich sein Gesicht. Er lächelte. Erstaunt, fragend, wissend. Strahlend wurde sein Lächeln. Viele Dinge lagen darin.

Er nahm es mit hinüber in die Ewigkeit. –

Edlef Holgers kehrte heim.

In Tannengrün prangte der Mutterhof, und kleine Tannenzweiglein bedeckten den Weg, der von der Haustür bis zur Warftreppe führte. Und der Sarg war eingehüllt in Bonnestave. Die blaue Halligblume grüßte ihren Sohn, der heimkehrte zur Halligerde.

So bekam Edlef Holgers doch noch das Kirchengeläut, das Boy Boysen ihm versagen wollte. Der Klang der Halligglocken zitterte in der klaren Winterluft.

Maren schritt allein hinter dem Toten.

Ehern stand die Majestät des Schmerzes in ihrem leidgereiften Antlitz.

Als der Sarg über die Schwelle des Mutterhofes gehoben wurde, sagte sie laut und feierlich: »Sei willkommen, mein Edlef!«

Und die Träger meinten, sie würden niemals dies Wort vergessen und nimmer das junge Weib in seinem heiligen Schmerz.


Wider den Nordoststurm kämpfte sich ein Mann nach der Schulwarf. Helle, durchdringende Glockenschläge, immer [273] vier in einer Gruppe, drangen durch die Winterluft zu ihm hin.

Und da wußte Manne Wögens, daß sein liebster Freund bereits in der Erde lag, und daß er zu spät kam, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Man »läutete den Toten aus«. Der Lehrer hüllte sich fröstelnd fester in seinen Mantel.

Der Süden hatte ihn verwöhnt, auch lagen durchreiste und durchwachte Nächte hinter ihm, seit Marens Telegramm ihn rief. Jetzt wollte er nur noch sein schweres Gepäck heimbringen und dann gleich nach dem Mutterhof zu seiner Marenschwester eilen. Ihr gehörte er jetzt allein .

Das war ihm klar geworden seit einer halben Stunde. Denn er hatte telegraphisch seine Ankunft gemeldet und war nur von Ohm Rickert und Onnen empfangen worden. Die, die er einzig und allein in einem zagen Glücksahnen erwartet hatte, war nicht gekommen. Er zürnte ihr nicht einmal. Sie hatte wohl das Rechte gewählt für sich und ihn. Denn mit Edlefs Tode war großer Reichtum über Nomine gekommen, und sie war Herrin des Mutterhofes bis zu Onnens Großjährigkeit. Ob sie dies Recht ausnützen würde oder nach der Stadt und ihrem Beruf zurückkehren, er würde in jedem Falle abseits stehen. Das hatte ihm ihr Fernbleiben heute schonend sagen wollen.

Und Maren wollte er bitten, zu ihm zurückzukehren, anstatt ins Altenteil des Mutterhofes zu ziehen. Beide Geschwister wieder einsam, wie ehedem. Das Herz wurde ihm seltsam eng bei dem Gedanken, jetzt in das kalte Schulhaus zu kommen, in seine unbehaglichen Stuben. Denn der alte [274] Emeritus, den die Behörde zu seiner Vertretung gesendet, hatte währenddem beim Pfarrer gewohnt.

Nun erstieg Manne Wögens die Treppen zu seiner Warf und öffnete seine Haustür. Durch die kleine Diele schritt er in sein Wohnstübchen. Da mußte er sich gleich in den alten Ohrenstuhl fallen lassen, »drin alle Wögens ausgerastet hatten«.

Denn das liebliche Bild, das sich ihm bot, übermannte ihn.

Über ihr schwarzes Trauerkleid hatte Nomine Holgers eine frauliche Schürze gebunden, und sie hielt ein großes Brot im Arm und schnitt duftende Scheiben davon ab. Die häuften sich neben dem Napf mit der goldgelben Butter. Und wenn auch die Kinder zu dem lieblichen Bild von »Werthers Lotte« fehlten, so besaß doch Manne Wögens Vorstellungskraft genug, sie sich in stattlicher Zahl dazu zu denken. –

»Du bist hier?« fragte er selig erstaunt.

»Wo sollte ich sonst sein?«

»Unten am Steg …«

»Da waren die andern.« Sie errötete heiß. »Ich gehöre doch hier her. Und mußte doch Essen für dich richten. Und mußte dir doch alles warm machen …«

»Ja, das tust du wahrlich. Kein Mensch hat mir je so warm gemacht, wie du, Nomine Holgers …«

Dann wurde er ganz ernst. Und in seinem lebendigen Gesicht sah das Mädchen die tiefe Ergriffenheit.

»Willst du bei mir bleiben, Schulmeisterin?«

»Ja, Schulmeister, ich will!«

[275]

Da vergaß Manne Wögens, daß er zum Tod und Begräbnis gekommen war, und er holte sich jauchzend das lachende Leben an sein Herz und in seine Arme.


Im Witwenstübchen saß Maren Holgers.

Das schwarze Trauerkleid lag in schweren Falten um ihre schlanke Gestalt, und die dunkle Friesenhaube rahmte schier feierlich das schöne, ernste Antlitz ein.

Vor ihr stand Onnen und hielt ihre beiden Hände.

»Du siehst arg müde aus, Mütterchen Maren«, sagte er besorgt. Sein offenes, schönes Knabengesicht beugte sich unendlich liebevoll über die junge Witwe. »Ich will auch gleich von dir fortgehen, dir tut das Alleinsein not …«

Ein liebes Lächeln trat in ihr Gesicht. »Ich könnte dich wohl ›Väterchen Onnen‹ nennen, so besorgt bist du um mich«, sagte sie liebevoll.

»Ich gehe auch gleich, Mütterchen. Aber ich mußte dir sagen, dir ganz allein, wie ich mich freue . Wie dankbar ich unserm Edlef bin. Daß er alles so und nicht anders geordnet hat. Nicht wahr, du fühlst, wie ich mich freue?!« fragte Onnen stürmisch.

»Ja, das tue ich, du lieber Junge. Hab’ Dank! Ihr seid alle so gut zu mir …«

»Weil wir alle dir alles verdanken«, rief Onnen begeistert. »Weil im Mutterhof so viel Sonne ist! Trotzdem ihr alle schwarze Kleider tragt. Das ist wie ein Wunder … Ach, Mütterchen Maren …!«

[276]

»Du lieber Junge!«

Und Maren dachte still, wie viel Reichtum ihr doch geblieben sei, da sie dieses seltene junge Menschenkind erziehen und leiten dürfe zu allem Guten. Und so dem Mutterhof doch einen Erben geben konnte. Ganz selbstlos, ohne eigenes Glück. Nur auf das Ansehen und die Ehre des Mutterhofes und der Halligheimat bedacht. –

Onnen war hinausgestürmt.

In ihm war alles Wollen und Tatkraft.

Das Leben lag vor ihm wie die blühende Halligfenne in lauter goldener Sommersonne. Lernen durfte er, – lernen. All sein dürstendes Sehnen stillen. Das angefangene Werk seines lieben, heimgegangenen Bruders dereinst fortsetzen.

Er durfte bodenständig auf seiner Hallig bleiben, ohne einen Menschen zu betrüben, ohne einem seiner Angehörigen liebgewordene Pläne zu zerstören.

Alle waren einverstanden mit seinem Wollen, freuten sich mit ihm. Der Reichtum erdrückte ihn fast. Da war es gut, daß man einen lieben, klugen Lehrer hatte, der zugleich sein bester Freund war. Auf ihn konnte man einen Teil der Freuden abladen und sich allstunds treuen Rat holen. Zu ihm wollte Onnen jetzt stürmen und viel herrliche, schier unerhörte Dinge und auch viel Ernsthaftes und Unverstandenes mit ihm durchsprechen. –

Maren hatte ihm nachgesehen mit gutem Blick und tausend guten Gedanken. Sie liebte diesen hochgemuten Jungen wie ein eigenes Kind. Und der Gram um ihr totes, eingesargtes und begrabenes Glück wich einer [277] großen, alles überragenden Dankbarkeit gegen Edlef. Über sein Grab hinaus. –

Sie hatte am gestrigen Tage still ihre Habe gepackt, um wieder nach denn Schulhause zum einsamen Mannebruder zu gehen. Da spürte sie es zum Weinen schwer, wie sehr sie mit dem Mutterhof verwachsen war. Jede kleinste Wurzel ihres Herzens mußte sie einzeln herausreißen, und das tat unerträglich weh.

Nun hatte ihr heute der Hamburger Rechtsanwalt eröffnet, daß sie die Herrin des Mutterhofes sei.

Daß Edlef ein Testament hinterlassen habe. Der Anwalt hatte einen Brief des Toten an sie in ihre Hände gelegt. Darin standen die Gründe, weshalb Edlef alte, überlieferte Bestimmungen zu ihren Gunsten umstieß. »Weil Du mir schrankenlos vertrautest. Weil nichts Dich anfocht, was Dir die Umwelt zutrug. Weil Deine Liebe zu mir so stolz und groß war, daß Du mich nicht ein einziges Mal gefragt hast: ›Ist es wahr, was man mir sagte?‹ Dafür bist auch Du meines schrankenlosen Vertrauens würdig, und sollst gesegnet sein, süße Mutter Maren.«


Diesen Brief, oft gelesen und mit Tränen benetzt, barg Maren auf ihrem Herzen. Aber sie sann in stillen Stunden, deren sie jetzt nach dem strengen Trauergebot des Mutterhofes gar viele hatte, darüber nach, was wohl in dem Spruch für ein Geheimnis liege, der ganz klein geschrieben die Nachschrift des Briefes darstellte: »Und [278] vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern …«

Als Onnen aus der Haustür gestürmt war, hätte er beinahe Frau Akke umgerannt, die zögernden Schrittes sich gegen das Haus hin bewegte.

Der Holgersjähzorn schoß in ihm hoch. »Was willst du da?« fragte er barsch. »Meiner Maren weh tun? Das gibt’s nicht.«

Er bekam keine Antwort. Akkes Augen sahen ihn erschrocken und weh an. Und sie wandte sich sofort und ging zurück.

Ihr müder Gehorsam entwaffnete den heißblütigen Jungen. Er fühlte, – diese gebeugte Frau wollte nichts Ungutes über die Schwelle des Mutterhofes tragen. Da ging er mit ihr die kurze Strecke nach dem Hause wieder zurück, und das Bewußtsein seines eigenen äußeren und inneren Glückes gegenüber der müden Traurigkeit Akkes machte ihn gut und ritterlich. Er öffnete ihr die schwere Haustür und rief ihr noch in großer Verlegenheit zu: »Grüß dein klein’ Anni«, ehe er wieder stürmend den Lauf nach der Schulwarf aufnahm. –

Nun stand Akke Bahn, geborene Luersen, vor Maren Holgers. Deren Blick weitete sich bei ihrem plötzlichen Erscheinen in fragendem Erstaunen und stiller Angst.

Aber Edlefs Brief, der auf ihrem Herzen lag, war wie ein Talisman, von dem geheime Kräfte ausgingen.

Sie erhob sich von ihrem Sitz und holte für den stummen Gast einen Stuhl.

Akke wehrte kopfschüttelnd ab. Sie rang nach Worten und fand kein einziges.

[279]

Da sagte Maren ruhig und freundlich: »Du willst mir Kondolenz geben? So setz dich auch.«

Aber Akke tastete sich nach rückwärts und legte einen noch größeren Raum zwischen sich und die junge Witfrau. An den Türpfosten lehnte sie sich. Scheu, als wollte sie jeden Augenblick das Weite suchen. »Können wir eine Weile allein bleiben?« stieß sie heraus.

Maren nickte. »Wir sind ungestört.«

Und sie setzte sich auf das alte Thüringer Kanapee und faltete die Hände in ihrem Schoß.

Akke war ruhelos. »Wenn nur der Anfang nicht so schwer wäre«, stöhnte sie. »Du darfst mich mit keinem Wort unterbrechen, Maren Holgers, sonst laufe ich dir wieder fort … Weshalb ich hier bin? Weil Edlef Holgers mich so sehr verachtete. Weil er nicht glaubte, ich könne je ein Unrecht eingestehen. Und weil er dich so hochstellte, daß er meinte, es brauche dir niemand die Wahrheit zu sagen, du würdest ihm vertrauen über allen bösen Leumund hinweg. Ich will besser sein, als Edlef von mir gedacht hat , – deshalb bin ich hier. –«

Eine schwüle Pause entstand. Dann ließ sich Akke plötzlich schwer in den Stuhl fallen, den sie vorher abgelehnt hatte.

»Du weißt ja nicht, Maren, wie das ist, wenn man jemand lieb hat, der sich gar nicht um einen kümmert … Ich bin dem Edlef schon als lütt Scholdeern nachgelaufen. Und hab’ ihn mit guten Sachen beschenkt und mit Steinen geworfen, – nur damit er mich beachten sollt’. Aber er hat nie an mich gedacht. Ich hab’ nicht mit Puppen gespielt, wie andere Deerns, ich wollte immer bei den [280] Jungens sein. Die ließen mich auch mittun, weil ich mutig und stark war. Bis der Edlef dazu kam und mich fortjagte. Das ist so gegangen, bis wir groß waren. Die Ahne hatte mich zur Frau für Edlef bestimmt. Darauf baute ich. Ich wußte auch, daß er ein Auge auf dich hatte, Maren Holgers. Und daß du ihn nicht ermuntertest. Da macht ich es genau wie du. Und nun wollt’ er mich haben. Wie die Katz mit der Maus hab’ ich mit ihm gespielt. Und ganz verrückt war er vor Eifersucht … Aber so die richtige Holgerslieb, – die hat er ja doch nur für dich gehabt … Und hat dich ja auch zu seinem Weibe gemacht … Die kurze Zeit unserer Brautschaft vorher war keine Untreue gegen dich. Als ich dann später mit meinem Kind zu euch kam, weil mein Mann mich schlecht behandelte, hat Edlef mir zuerst die Tür gewiesen. Aber du kennst ihn ja. Keinen Hund konnte er fortjagen, und als der Lütte anfing zu schreien, versprach er mir, einen Dienst bei Bekannten für mich zu suchen. – Er gehört zu den Leuten, die nicht ›nein‹ sagen können. Bei der weichen Stelle sind sie zu packen. Ich wußte ja längst, daß ihr unglücklich miteinander wart, weil du kein Kind hattest, Maren Holgers …« Von der Stelle, da Maren saß, kam ein Laut. Und das Gesicht der jungen Frau war ganz weiß. »Nicht!« sagte sie abweisend und hart. »Nicht von mir und meinem Mann sollst du sprechen, – nur von dir.«

Akke lachte bitter. »Ja, das ist dein Hochmut. Und so war auch Edlef. Er litt es nie, daß ich von dir sprach. Ob bös oder gut, ich sollte deinen Namen nicht erwähnen.«

[281]

Da faltete Maren die Hände noch fester, und in ihr wundes Herz kam es wie Frieden.

»Maren Holgers, – ich hab’ den Edlef mit meiner Liebe verfolgt . – Wenn er in die Versammlung ging, war ich da, und wenn er nach Hause kam, fand er mich. Und wies mich fort. – – – Sag nicht, daß sich jeder Mann jedes Mädchens erwehren könnte. Konnte er mich nicht mehr lieben, so sollte er wenigstens mit mir sprechen. So blieb ich immer um seinen Weg. – Ich habe ihm erzählt, daß ich das Gerücht nach der Hallig brachte, mein Kind sei von ihm. Da hat er mir kalt und ruhig gesagt: › Das glaubt die Maren nicht. ‹ Und so ganz zuversichtlich immer wiederholt: ›Nein, meine Maren glaubt das nicht.‹ Da fraß der Zorn an mir. Da hab ich’s anders angefangen. Und da hatte ich Erfolg …«

Maren hob den tief geneigten Kopf. Banges Entsetzen trat in ihre leidvollen Augen.

»Ich sagte Edlef für heilig und ganz gewiß …« Akke sah scheu auf Maren und stieß dann rasch heraus: »Daß du schon vor der Hochzeit gewußt habest, niemals Kinder zu bekommen … Daß dein Bruder und du den Mutterhof bewußt mit einer Unfruchtbaren betrogen hättet …«

»Akke!« stöhnte Maren, »was tat ich dir …?«

Die Worte kamen nun stoßweise aus Akkes Mund: »Du kennst ja Edlef. Das traf ihn. Er hatte dir so vertraut. Und er war stolz. Ich wußte, er hätte dich nie gefragt. Stolz und hochmütig wie du. Und er glaubte mir. Weil er selbst nicht lügen konnte. Dann hat er [282] mich zum letztenmal davongejagt … Aber ganz gebrochen sah er aus. Weil sein Vertrauen tot war …«

Akke erhob sich. Und sah befremdet auf die Herrin des Mutterhofes. Die konnte sich wohl kaum noch aufrecht halten. Wie der Tod sah sie aus. Aber sie schrie nicht und klagte und weinte nicht, wie andere Frauen. Hätte sie es doch getan. Dann wären die grauen, ernsten Augen wohl nicht so furchtbar anklagend auf Akke geheftet. Diese leidvollen Augen, denen man durchwachte Nächte ansah.

Wieder tönte Akkes harte Stimme:

»Ich habe dir das alles nicht gesagt, Maren Holgers, um dich etwa jetzt um Verzeihung zu bitten. Die will ich nicht. Und brauche ich nicht. Nur um meiner selbst willen klage ich mich an. Ich will besser sein als Edlef von mir gedacht hat.«

Tiefe Stille. Und darin nur diese anklagenden, wehen Augen. Akke schlich nach der Tür.

»Ich gehe nun, Maren Holgers. Ich ziehe ganz fort von der Hallig. Den kranken Vater nehme ich mit mir. Und das Kind. Mein Mann ruft mich. Er hat einen Schlaganfall gehabt und ist gelähmt …«

Da war Maren Holgers plötzlich neben ihr, und ihre Hand legte sich auf Akkes Arm und hielt sie zurück.

»Arme Akke!« sagte eine gute Stimme. Das Bewußtsein des eigenen Reichtums, des festen Verbundenseins mit Edlef über Tod und Vergehen hinaus stand groß auf in Maren Holgers. Und sie dachte nicht mehr an die Schuld, nur noch an das Unglück der Halligschwester. Der man das letzte »Scherflein« nehmen wollte, – die Heimat. Und [283] mit diesem starken Empfinden kam eine große Ruhe über sie. »Willst du nicht deinen Mann auf die Hallig holen, Akke?« fragte sie. »Euer Haus hat doch Raum für ihn. Und die Hallig – die braucht dich, Akke. Du bist fleißig, – und – viel stärker als ich – – du wirst mir oft helfen können … Willst du, Akke?«

Da straffte sich eine gebeugte Gestalt und ein heißes, irrendes Herz wurde seiner Last ledig. Eine Antwort bekam Maren nicht. Aber deren Herz schlug zum erstenmal ruhig und froh, als sie der Enteilenden nachsah. Dann horchte sie befremdet nach draußen hin. Da waren viele Stimmen aufgestanden. Die rannten miteinander. Auch leise lachende Kinderlaute waren dazwischen. Onnens helle, warme Stimme tönte obenauf.

Maren tritt vor die Haustür.

Die ist mit Tannen bekränzt und mit zwei Tannenbäumen eingerahmt. Und den Weg bedecken Blüten der blauen Halligblume. Kinder treten auf sie zu, die tragen Bonnestave in ihren Händen. Und lachen sie glücklich an, und rufen: »Mutter Maren!«

Und der Gemeindevorsteher liest etwas aus einem großen Bogen vor, aber seine Stimme versagt so oft, daß Maren gar nichts davon versteht. Bis er plötzlich abbricht und auch nur die zwei Worte stammelt: »Mutter Maren.« Dann drängen sich die »drei Obdachlosen« vor und drücken ihre Hände, und Lütt Krischan wird ihr auf den Arm gegeben. So steht sie lieblich da, die »Mutter Maren mit dem Kinde«. Auch Bruder Mannes Hände strecken sich ihr entgegen, und Schwester Nomine umfängt sie glücklich. Mutter Holgers weint still in ihr Tuch. [284] Tanten Frauke steht etwas abseits mit ihren versonnenen Augen. Die sieht wieder die Holgerssippe. Sieht Geschlechter kommen und gehen, und zieht ihre stillen Vergleiche.

Maren drückt viele Hände und sagte wenig Worte.

Aber ihr Herz spricht laut: » Ich hab’ euch alle lieb! «

Dann gehen die hundert Inselleute still davon.

Ein tiefes Freuen liegt über der Hallig.

Maren hebt das Antlitz, über das linde Tränen rinnen. Sie schaut nach dem Gottesacker …

Und weiter hin über die liebe Heimat und die salzen See. – In ihrem Herzen ist ein heiliges Gelöbnis.

Sie nimmt Onnens Hand und schreitet mit dem jungen Erben still über die Schwelle des Mutterhofes.

Ende.


Verlagsanzeigen


Romane von

Felicitas Rose

Wien Sleef, der Knecht

Ein Buch, das mit seinem Glauben in das Morgen deutet; eine Dichtung, die Storms reifen Schöpfungen gleichgestellt werden darf.

(Dresdner Nachrichten.)

Die vom Sunderhof.

Das Schicksal eines Bauerngeschlechtes, das sich durch vier Generationen vollzieht, wächst hier ins Große, Bedeutsame. Echtes deutsches, heimatverbundenes Leben ersteht aus der Heidelandschaft.

* Das Haus mit den grünen Fensterläden.

Mehr noch als in den bisherigen Werten der Heidedichterin leuchtet in ihrem neuesten Roman ein starker gütiger Humor durch eine ernste, reich bewegte Handlung.

* Die Wengelohs. Roman.

Es ist, als ob die Welt Reuters in neuer Wandlung auferstanden wäre und ein Klang aus dem Waldhorn Eichendorffs darüber hinflöge.

* Der hillige Ginsterbusch.

Das Aufblühen einer edlen Frauenseele. Ein Buch der Selbsterneuerung von innen heraus, wie es unserer Zeit dringend not tut!

* Die Erbschmiede.

Ein Buch aus der Seele der Lüneburger Heide, das geheimnisvolle Einblicke in die Eigenart der wortkargen, kraftvoll gütigen Heidjer erschließt.

* Heideschulmeister Uwe Karsten.

Die stille und doch mächtige Poesie der Heide, wie sie in so ergreifender Melodie seit Liliencrons Heidebildern nicht gehört wurde, durchströmt dieses Buch, und mit dem Leben der Heide sind Menschenschicksale wunderbar verflochten.

(Badische Neueste Nachrichten.)

* Die Eiks von Eichen.

Kantige Menschen, die im Jähzorn fehlen können, aber in Wahrheit einen Schatz von Tatkraft und leuchtender Güte bergen. Seltsame Gestalten und eigenartige Erlebnisse legen eine ungewöhnliche Stimmung über dieses Buch.

(Fränkischer Kurier.)

* Das Lyzeum in Birkholz.

Der stille, schwermütige Zauber der niederdeutschen Landschaft, die anheimelnde Geschlossenheit einer kleinen Stadt, der schwerblütige Charakter des Heideschulmeisters stehen scharf umrissen in den meisterlich miteinander verwobenen Schicksalen.

(Düsseldorfer Tageblatt.)

* Erlenkamp Erben.

Der Abenteuerlust des Erben der Erlenkamp steht das bodenständige Patriziertum gegenüber. Der ernsten Tragik hält köstlicher Humor das Gleichgewicht, und gesunde Lebensbejahung treibt die Sorgenwolken immer wieder auseinander.

(Abendpost, Chikago.)

* Meerkönigs Haus.

Mit vollendeter Kunst sind die Menschen in das ruhige, selbstsichere Leben der alten Hansastadt gestellt, und wie aus Gemälden alter deutscher Meister schauen sie uns daraus entgegen.

(Literaturbericht, Berlin.)

* Der Mutterhof. Ein Halligroman.

In diesem Roman ist alles groß, stark, sicher und schicksalsvoll. Auf dem Mutterhof gilt der uralte Wahlspruch vom Segen der Fruchtbarkeit, doch eine schwere Tragik hängt über der jungen Frau Maren, der das Schicksal Mutterglück verweigerte.

(Tägliche Rundschau.)

* Der Tisch der Rasmussens. Die Geschichte einer Familie.

Eine spannende Handlung, durchweht von einem köstlichen Humor.

* Der graue Alltag und sein Licht.

Mit 20 Originalzeichnungen von H. Krahforst , Aachen.

Ein bestrickender Zauber geht von diesem Buch aus, das uns vom Alltag zum Licht führt. Wieder weiß Felicitas Rose ungemein zu fesseln, die mannigfaltigen Schicksale sind mit der sicheren Hand gezeichnet.

* Drohnen. Eine Geschichte für junge und alte Nichtstuer.

Lebensechte Gestalten in bunter Fülle, eigenartige und fein beobachtete Charaktere, feiner, warmer Humor.

(Karlsruher Tageblatt.)

* Bilder aus den vier Wänden.

Ein köstlicher Humor durchleuchtet diese intimen und feinen Kabinettstücke. Aus den Erzählungen spricht eine Liebe, die über die engen Grenzen sich weitet zur alles umfassenden Menschenliebe.

Jeder Band in Original-Ganzleinen gebunden 4.80 RM.,
die mit * bezeichn. Bände auch als Sonderausg. Ganzleinen RM. 3.80

Einige Bände auch in Halbleder lt. besonderer Liste.

Rotbraunes Heidekraut. Lieder. Mit 4 Bildern von H. Krahforst . Aachen.

Volksausgabe 1 RM.

Provinzmädel. 5 Doppelbände, jeder Doppelband in biegsamem Ganzleinen 2.25 RM. Band I: Kleinstadtluft / Kerlchens Lern- und Wanderjahre. / Band II: Kerlchen wird vernünftig. / Kerlchen als Erzieher. / Band III: Kerlchen als Anstandsdame / Kerlchen als Sorgen- und Sektbrecher. / Band IV: Liebesgeschichten / Kerlchens Flitterwochen / Band V: Kerlchens Mutterglück. / Kerlchens Ebenbild

Berlin · Deutsches Verlagshaus Bong & Co. · Leipzig


Bongs Klassiker-Bibliothek

Die Texte sind sorgfältig revidiert, eine von ersten Literarhistorikern geschriebene Einleitung führt in den Dichter und sein Wert ein, und reichhaltige Erläuterungen erleichtern das Verständnis. So kommt Bongs Klassiker-Bibliothek nicht nur ein literarisches, sondern zugleich ein ethisches und nationales Verdienst zu.

(»Danziger Zeitung«.)

Arndt , 4 Bde.

Arnim , 2 Bde.

Arnim und Brentano , Des Knaben Wunderhorn, 2 Bde.

Bürger , 2 Bde.

Chamisso , 2 Bde. (3 Teile).

Chamisso (Vollst. Ausg.), 3 Bde.

Droste-Hülshoff , 3 Bde.

Eichendorff , 3 Bde.

Fouqué , 1 Bd.

Freiligrath , 3 Bde.

Goethe (Auswahl) 6 Bde.

Goethe (Erweiterte Ausgabe), 11 Bde.

Goethe , Register allein, 2 Bde.

Grabbe , 3 Bde.

Grillparzer (Auswahl), 5 Bde.

Grimm , Märchen, 2 Bde.

Grimm , Sagen, 2 B.

Grimmelshausen , 3 Bde.

Grün , 3 Bde.

Gutzkow , 4 Bde.

Gutzkow (Erweit. Ausgabe), 7 Bde.

Gutzkow , Ritter v. Geiste, 3 Bde.

Halm , 2 Bde.

Hauff , 3 Bde.

Hebbel , 5 Bde.

Hebbel (Werke und Tagebücher), 7 Bde.

Hebbel (Tagebücher), 2 Bde.

Hebel , 2 Bde.

Heine (Auswahl), 5 Bde.

Heine , 15 Teile (Vollst. Ausg.), 7 B.

Herder , 6 Bde. (z. Zt. nur Halbleder)

Herwegh , 1 Bd.

Hoffmann (E. T. A.), 8 Bde.

Hoffmann v. Fallersleben , 2 Bde.

Hölderlin , 2 Bde.

Homer , 2 Bde.

Immermann , Münchhausen mit Oberhof, 2 Bde.

Immermann , 3 B.

Keller (Gottfried), 5 Bde.

Kerner (Just.), 2 B.

Kleist (H. v.), 3 Bde.

Körner , 1 Bd.

Lenau , 2 Bde.

Lessing , 5 Bde.

Ludwig , 3 Bde.

Meyer , C. F., 3 Bde.

Mörike , 2 Bde.

Nestroy , 2 Bde.

Nibelungenlied , 1 Bd.

Nietzsche , 4 Bde.

Novalis , 2 Bde.

Reuter , 6 Bde.

Scheffel , 3 Bde.

Schenkendorf , 1 Bd.

Schiller , Auswahl, 6 Bde.

Schiller (Vollständ. Ausgabe), 11 Bde.

Shakespeare , Dramen, 4 Bde.

Shakespeare (Erw. Ausgabe), 6 Bde.

Shakespeare (Vollst. komment. Ausgabe), 7 Bde.

Storm , 3 Bde.

Sturm u. Drang , Dichtungen aus der Geniezeit, 2 Bde.

Uhland (Schulausgabe), 1 Bd.

Uhland (Erweit. Ausgabe), 2 Bde.

Wagner , Musikdramen (s. unten)

Zschokke , 4 Bde.

Jeder Band in Ganzleinen RM. 2.20, in Halbleder RM. 4.50.
Halblederausgaben nach besonderer Liste.

Weitere Klassiker-Ausgaben:

Goethe (Vollst. Ausgabe mit Register) 22 Bde. Ganzleinen 88 RM. Halbleder 132 RM.

Lessing (Vollst. Ausg.) 25 Bde. Ganzl. 135 RM.; Halbled. 180 RM. Anmerk. u. Register allein 5 Bde. 27 RM.; Halbled. 36 RM.

Rich. Wagner Musikdramen 2 Bde. Geschenkausg. Ganzl. je 3.25 RM.

Den Freunden von »Bongs Goldener Klassiker-Bibliothek« steht das 160 S. starke, reich illustr. Bändchen »Lebensbilder unserer Klassiker« gegen Einsendung von 25 Pf. postfrei zur Verfügung. Die »Lebensbilder« enthalten eine Schilderung des Lebens und Wirkens unserer Klassiker sowie die Inhaltsangaben der in »Bongs Goldener Klassiker-Bibliothek« erschienenen Werke, ferner: 58 Porträte und einen Anhang: »Grundlinien der Kultur- und Literaturgeschichte von 1740 bis zur Gegenwart.«


Weitere Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. Unterschiedliche Schreibweisen im Original wurden beibehalten.