The Project Gutenberg eBook of Die Eiks von Eichen: Roman aus einer Kleinstadt

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Title : Die Eiks von Eichen: Roman aus einer Kleinstadt

Author : Felicitas Rose

Release date : February 15, 2022 [eBook #67409]
Most recently updated: October 18, 2024

Language : German

Original publication : Germany: Deutsches Verlagshaus Bong & Co

Credits : The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE EIKS VON EICHEN: ROMAN AUS EINER KLEINSTADT ***

Anmerkungen zur Transkription

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist so ausgezeichnet . Im Original in Antiqua gesetzter Text ist so markiert .

Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches .

Die Eiks von Eichen

Roman aus einer Kleinstadt

von

Felicitas Rose

Sechsundvierzigstes bis fünfzigstes Tausend

Berlin * Leipzig * Wien * Stuttgart

Deutsches Verlagshaus Bong & Co.


Alle Rechte vorbehalten

Copyright 1910 by Deutsches Verlagshaus Bong & Co.

Graphia Akt.-Ges. vormals C. Grumbach in Leipzig


[1]

Dekoration

Motto :

Dort an der Ecke das alte Haus
Wird doch noch stehn?
An dem die Leute tagein, tagaus
Vorübergehn?
– – – – – – – – –
O heil’ge Heimat, ich grüße dich
An jedem Ort – – –

Carmen Sylva.

Da stand es noch. – Genau wie einst im Schatten der uralten Eichen.

Grau und langgestreckt mit einer langen Reihe niedriger Fenster. Und aus dem Giebelfenster schauten die steinernen Pferdeköpfe, beide von einem steinernen Eichenkranz umschlungen.

Wie ging noch die Sage? Die Sage vom Eichenborn?

Im Jahre 1298 hatte von diesem Fenster aus ein Jungfräulein Eik von Eichen nach ihrem Liebsten ausgeschaut.

Das war ein Musikant gewesen, »ein fahrender Schüler, ein wilder Gesell«, den erst die allmächtige Liebe zahm gemacht. Der ergrimmte Vater hatte gesprochen:

[2]

»Ebensowenig wie meine Rösser hier oben in deine Kemenate steigen, sich unser Wappen umhängen und aus dem Fenster hinabschauen ins Tal der wilden Gera, ebensowenig sollst du und dein Buhle jemals es tun.«

Aber da hatte es plötzlich getrammst und getrappelt, und die beiden Rosse waren die gewundenen Treppen hinaufgestiegen, umschlungen von einem Eichenkranz. Sie hatten sich eng aneinander geschmiegt und schauten ins Tal der wilden Gera, darinnen der herzwunde, einsame Spielmann seines Weges zog.

Darauf gab es eine fröhliche Hochzeit und – wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.

Es gab kaum einen alten Mann oder eine alte Frau in Schwarzhausen, die nicht auf diese Legende schworen.

Hinter dem schloßähnlichen Gebäude lag der weite, große, grasbestandene Hof, in seiner Mitte standen steinerne Bänke um einen Riesentisch, und über diesem Platz wölbte ein alter Nußbaum seine Riesenzweige.

O wie duftete ein Blatt von diesem Baum, wenn man es in die warme Kinderhand nahm – – –

Alles kann man vergessen in der raschen, hastenden, lockenden Welt da draußen, aber diesen Duft nicht, – niemals – – –

Und auch jenen leisen Klang nicht, so eng verwachsen mit der Kinderzeit, – jenes melancholische [3] Rieseln und Rauschen des alten Brunnens im Grashof, der unter einem knorrigen Fliederstrauch stand.

Hatte man sich müde gespielt, dann setzte man sich unter den Nußbaum, oder lief nach dem Fliederstrauch und pflückte sich schwere zartlila Dolden. Die kleinen Blütchen steckte man ineinander und hing sich dann die langen Ketten um den Hals, – wie stolz sah man aus! Nicht nur die Gespielen, – nein, alle Hühner und Enten und der große, kollernde Truthahn und der bunte, häßlich schreiende Pfau bewunderten die kleine Tochter des Hauses.

Und ab und zu lief man nach dem Brunnen und besprengte die lila Fliederdolden – – oh – Nußbaum und Fliederstrauch – – –


Schwer seufzte die junge Frau auf.

»Mutter, sind wir jetzt daheim?« fragte eine klare Knabenstimme.

Da konnte sie zum erstenmal wieder weinen.

»Ja, Bertold, wir sind daheim!«

Und sie nahm den Knaben fest an der Hand und schritt mit ihm über die Schwelle ihres Vaterhauses.


In der dämmerigen Diele, in die sie eintraten, war es köstlich kühl. Die schwere Eichentür schloß sich hinter ihnen und sperrte die sengende Mittagsglut eines heißen Julitages ab.

[4]

Der von langer Postfahrt ermüdete Junge atmete hoch auf. »Hier ist’s schön, Mutter.«

Rings an den Wänden hingen Ölbilder. Ehrbare, ernste Gesichter in steifen Ratsherrnkrausen sahen aus schwarzen, strengen Augen auf die beiden Ankömmlinge nieder.

»Sind das die Onkel und Tanten, zu denen wir wollen, Mutter?« fragte der Knabe.

»Nein, Bertold, – diese hier sind lange tot.«

»Aber Großvater lebt!«

»Ja, mein Junge.«

Es fröstelte plötzlich die junge Frau.

Sie setzte sich auf die schmale Bank, die sich rings an der Diele entlang zog, und lehnte den Kopf an die Holztäfelung.

Die feinen Nasenflügel bebten und sogen den Duft des Heimathauses ein. Thymian und Lavendel. –

Spurlos war die Zeit an diesem Hause vorübergegangen – – alles deutete auf Thymian und Lavendel.

Der kleine Bertold schlief auf der harten Holzbank und seine Mutter saß und dachte nach in schwerer Beklommenheit.

Sie wußte, daß jetzt niemand kam.

Die Tante hielt ihren Mittagsschlaf, der Vater – war wohl auch, wie früher, zu dieser Stunde in seinem Arbeitszimmer, und Herr Eik von Eichen junior kam nie in diesen Flügel des ausgedehnten Gebäudes.

[5]

Sie sehnte sich plötzlich nach einer Menschenstimme.

Wenn doch der alte Teichmann käme oder seine Frau, oder irgendeiner der alten dienstbaren Geister.

Sie wußte, daß auch in ihren Reihen die letzten acht Jahre keine Veränderung gebracht hatten.

Nervös strich sie an ihrem Trauergewand herunter. Herrgott, wie die Gedanken auf sie einstürmten!

Sie krochen aus den Wänden und aus den Fugen der Holztäfelung, sie schwebten wie kleine Spukgeisterchen in der Luft und hingen in den Verschnörkelungen der Goldrahmen.

»Weißt du noch?« fragten sie wieder und wieder.

Und die junge Frau dachte daran, wie sie vorhin scheu aus der Postkutsche gestiegen war, damit der Postverwalter sie nicht sehen sollte und auch seine Frau nicht, die hinter dem »Spion« saß und strickte.

Sonst würde es ja sofort jeder im Orte wissen –

Und wie sie den schwarzen, fadenscheinigen Regenschirm aufgespannt und in der brennenden Mittagsglut unter seinem Schutze an den Häusern entlang geschlichen war.

Nur niemandem begegnen von den Menschen da draußen, – von den guten Freunden, getreuen Nachbarn – – und desgleichen.

Aber jetzt – jetzt sehnte sie sich nach einem Willkomm, – nach einem einzigen, kurzen, guten Wort.

»Alle guten Geister loben Gott den Herrn, – da sitzt Fräulein Franziska!«

[6]

Mit einem Schrei sprang sie auf, man wußte nicht, war’s ein Wehlaut oder ein Jubelruf, und der alte Mann, der aus einem Seitengang hervorgetreten war, setzte sich mit zitternden Knien auf dieselbe Stelle, wo sie vorhin geruht, und starrte die Dame an.

Der Knabe war jäh erwacht. Er rieb sich die Augen.

»Bist du der Großvater?« fragte er beherzt.

»Gott soll mich bewahren in meinen alten Jahren. Wie sollt’ ich mich vermessen, auch nur zum Schein, und dein Großvater sein?«

»Hieronymus!« jubelte die blasse junge Frau, – »alter Hieronymus Teichmann! Du bist’s noch! Gott Lob und Dank! Als du vorhin riefst: ›Da sitzt Fräulein Franziska‹, gab es mir einen Stich ins Herz. Er reimt nicht mehr, mein alter Teichmann – – – dachte ich, – aber nun –«

Der alte Diener hatte die runzligen Hände vor das Gesicht geschlagen, schwere Tränen quollen zwischen den Fingern hervor.

»Herrgott, es war der erste Schreck, den hatt’ ich weg,« stammelte er und trocknete sich die Augen.

»Guter, lieber Teichmann!«

Die junge Frau liebkoste seine rauhe Hand, sie lachte und weinte in einem Atem. »Teichmann, ich bin daheim!«

Der Alte war immer noch fassungslos. Er deutete auf den Knaben.

[7]

»Ja, Teichmann, das ist mein Junge, – hab’ ihn lieb, hörst du?«

Er nickte lebhaft.

»Herrgott, das Fräulein ist wieder da. Gott sei gepriesen, halleluja!« murmelte Hieronymus Teichmann.

* * *

An diesem Abende wurden drei Dinge in die Annalen der Schwarzhausener Geschichte aufgenommen.

Da waren zum ersten die neuen Gaslaternen angekommen und aufgestellt, zum zweiten war Franziska Malcroix, geborene Eik von Eichen wieder heimgekehrt, nachdem ihr plötzlich verstorbener Mann sie völlig mittellos und mit beflecktem Namen zurückgelassen, und drittens sollte Fräulein Adelgunde Eik von Eichen so etwas wie der Schlag getroffen haben, weil die verlorene Tochter des Hauses ihr die acht Jahre lang geführten Schlüssel abverlangt und sich wieder an die Spitze des Haushaltes gestellt hatte.

Der Provisor der Apotheke hatte unter dem Siegel der Verschwiegenheit einigen Honoratioren erzählt, daß Dr. Hempel im Hause Eichenborn Schröpfköpfe gesetzt habe, wem?, wußte er nicht zu sagen.

Aber mit ungewissen Dingen gaben sich die Schwarzhausener ungern ab und wenn auch dem schlechten Kerl, dem alten Eiken zuzutrauen war, daß er aus reiner Bosheit seinen Familienmitgliedern Schröpfköpfe setzen [8] ließ, – so löste der Gedanke an einen Schlaganfall Fräulein Adelgundens doch mehr Befriedigung aus in den Herzen der lieben Mitmenschen. –

Der nächste Tag war ein Sonntag.

Die Schwarzhausener waren heute alle in der Kirche, und der alte Herr Pfarrer Klingenreuter lächelte fein, als er die Kanzel bestieg.

Er hatte halb Schwarzhausen getauft, konfirmiert und getraut, er kannte seine schwarzen und weißen Schäflein als getreuer Hirte. Er sah durch ihre fromm emporgerichteten Stirnen in ihre unfrommen Gedanken. Und predigte sehr schön und höchst unbequem heute vom Splitter im Auge des Nächsten und vom Balken im eigenen Auge. Man war nicht befriedigt. Vom Hören nicht und auch vom Sehen nicht. Denn der Kirchenstuhl der Eik von Eichens blieb leer, und Fräulein Adelgunde, die nach dem schweren Schlaganfall eigentlich auf dem Schragen liegen sollte, saß am Fenster und häkelte ihre bekannte Gardinenspitze, von der Böswillige behaupteten, sie ginge schon um das ganze Fürstentum herum. –

Es ward ein höchst langweiliger Sonntag vom Morgen bis zum Abend. Denn man hatte gehofft, wenigstens an einem der Fenster des »Eichenhauses«, wie es kurzweg genannt wurde, einen Schatten von Franziska Malcroix oder ihrem Sprößling zu sehen, und vom Mittagessen an pilgerte ganz Schwarzhausen dort vorbei, – vergebens. Nur der alte Teichmann, [9] der so unverständig war, nie einen Ton über seine Herrschaft zu sagen, der er seit fünfzig Jahren diente, – ihn nur erspähte man. Er saß auf seinem bekannten Platz, auf einer der steinernen Bänke im Grashof, hatte sich das stadtbekannte Luftkissen untergeschoben, welches seit zehn Jahren schadhaft war und von der guten Frau Teichmann unentwegt aufgeblasen wurde. Man fürchtete sich etwas vor Hieronymus Teichmann, denn man begriff immer noch nicht seine wunderliche Art zu reden, trotzdem er schon als zehnjähriges Kind derselbe Reimschmied gewesen war. Ja, die verstorbene Hebamme von Schwarzhausen behauptete unter ihrem Eide, er sei »mit’n Versch« auf die Welt gekommen.

Was sie damit sagen wollte, verstand niemand, aber unheimlich war’s.

Nur Fräulein von Bebeleben, eine der zwanzig Stiftsdamen des adligen Klosters Schwarzhausen, fürchtete sich nicht vor ihm und überhaupt vor keinem Menschen und keinem †††.

Deshalb stelzte sie mit großen Schritten in den Grashof, und nun stand sie vor dem ungeheuer pfiffig Dreinschauenden.

»Warum waren Sie heute nicht in der Kirche, Teichmann? Es könnte Ihnen doch wahrhaftig nichts schaden, sich mit unserm Herrgott ein bißchen auf du und du zu stellen.«

Die Antwort war unbefriedigend.

»Bei allem Respekt vor der Heiligkeit,« meinte [10] Teichmann bedächtig, »ich hatte dazu heut keine Zeit, und wo soviel Schafe im christlichen Stall, kann so’n alter Hammel wohl fehlen mal, der liebe Gott ist ’n braver Mann, aber ich schau’ ihn ganz gern von ferne an.«

»Ketzer!« rief die Stiftsdame entsetzt und wendete ihm den Rücken. Da lachte der alte Teichmann wieder sein feines, pfiffiges Lachen und nahm sein geliebtes Buch vor seine große Hornbrille, das Buch, das er Sonntags kaum aus den Händen legte, – das Neue Testament.

Aber die Frau Postverwalterin Nehring war heute die Heldin des Tages.

Sie hatte ja die schwarzgekleidete Fremde, welche mit der Post ankam, gesehen und – erkannt.

»Blaß, – liebe Damen, war sie und verweint.« So lautete später ihr Bericht. »Weiß wie mein Tischtuch, wenn ich’s Sonntags auflege, und der Schirm zerlöchert; und das Kleid, – höchstens eine Mark fünfzig Pfennig das Meter bei Dingelmann und Sohn. Und der kleine Junge machte ’ne närr’sche ›Fichur‹, – ich weiß nicht, hat er ’n Buckel, oder war’s ’n Rucksack.«

Die Schwarzhausener beschlossen, daß es ein Buckel gewesen sei.

Acht Tage später waren schon in aller Morgenfrühe die Fenster samt den Spionen in Schwarzhausen besetzt, und junge und alte Leute drückten sich die Nasen platt, – Franziska Malcroix brachte ihren Sohn zur Schule. [11] Und vor dem Schulhause nahm sie das schöne Köpfchen in beide Hände und küßte ihn auf die Augen. Dann ging sie heim.

»Na, nun werden wir doch endlich was zu wissen kriegen.«

»Wundern kann’s einen doch, daß der reiche Eik von Eichen dem Enkel keinen Hauslehrer hält.«

»Wenigstens bis zum richtigen Gymnasium.«

»Man kann gespannt sein, was es für ein Früchtchen ist.«

»Nun, auf den Kopf gefallen sind ja die Eik’s nicht.«

»Die Franziska schon mal gar nicht.«

»Und der Lump, der Malcroix, auch nicht, sonst wäre er nicht mit der reichsten Schwarzhausener durchgegangen.«

»Du lieber Gott, man freut sich ja wahrhaftig, wenn die Vaterstadt sich durch Zuwachs vergrößert, ob aber der Buckolorum uns Ehre unters Dach trägt – der Enkel von so einem – und der Sohn von so einem – – –«

Nun, jedenfalls schärfte man den Kindern der Schule ein, heute tüchtig aufzupassen und gleich, aber auch gleich nach Schulschluß heimzuspringen, ohne erst vorher Stinnerte zu spielen. – – –


Bertold Malcroix stand mit sehr unbehaglichen Gefühlen in der Schulstube und wartete mit zwanzig [12] andern Kindern, Knaben und Mädchen, auf den Herrn Rektor.

Es war eine Vorschule, die er bis zum zehnten oder elften Jahre besuchen sollte, je nachdem er für reif erklärt wurde, ins Gymnasium nach E. zu kommen. Auch Mädchen waren in der Klasse, die entweder beim Herrn Rektor bis zu ihrem vierzehnten Jahre »weitergingen« und dann in einen Dienst traten, oder – eine Gouvernante bekamen. Die Rektorschule erfreute sich eines großen Zuspruches und ungeteilter Beliebtheit nicht nur im Orte, sondern auch in der Umgegend.

Denn, was der Herr Rektor lehrte, das saß fest.

Ja selbst die ganz Vernagelten profitierten noch etwas von ihm, ehe sie abgingen; den dummen Buben gab er den ehrlichen Rat, nie zu heiraten, damit diese Rasse ausstürbe, und den »törichten Jungfrauen« schenkte er wenigstens »Kochrezepte«.

Zu jedem einzelnen dieser Unbegabten aber meinte er gütig:

»Du Brät! Sag’s nur kei’ Menschen, wie dei Lehrer geheißen hat.« – –

Rektor Dillen war eigentlich kein Rektor, er hatte nur das zweite Examen bestanden, aber zu seinem 50. Geburtstage beschloß man in Schwarzhausen, ihn zu ehren, indem man ihn von diesem Tage an »Rektor« nannte. Ihm selbst bekam die Standeserhöhung verhältnismäßig gut, aber seine zarte, kleine, bescheidene Frau, die sogar vor der Köchin des Herrn Bürgermeisters [13] einen tiefen Knicks hinsetzte, war dem nicht mehr gewachsen, und sie flüchtete sich aus dieser Welt der Titulaturen.

Das war nun fünf Jahre her, und seitdem führte »Fräulein Rektor«, seine alte Schwester, ihm die Wirtschaft.

Sie pflegte zu sagen: »Ich habe bei Präsidents und bei Rats und bei Majören gedient, – nu werd’ ich wohl genug Benehmigung for’n Rektor Dillen, meinen Herrn Bruder, haben.«

Doch auch der Name des Rektors war falsch, er hieß eigentlich »Tüllen«. Aber mit so unerhörten sprachlichen Anstrengungen befaßt sich der echte »Dhiringer« nicht, und der Mann selbst stellte sich vor: »Mei Name is Dillen.«

Und als diesen Biederen einmal ein junger Kreisschulinspektor anschrie: »Herr, wenn Sie Tüllen heißen, warum nennen Sie sich nicht so?«, da antwortete er: »Es glingt so ibermit’ch, – – wenn ich ämol Gultusminister bin, – dann!«

Und zu ihm kam Bertold Malcroix, d. h. vorläufig noch nicht, denn es war erst acht Uhr und Rektor Dillen hatte die Angewohnheit, das akademische Viertel innezuhalten, das einzige Zugeständnis, das er einer glorreichen Vergangenheit machte, – er hatte einst Theologie studieren sollen. – An seinem fünfzehnten Geburtstage war ihm diese schwindelnde Aussicht eröffnet worden, die sich dann auch als Schwindel erwies. [14] Denn er bekam nach und nach vierzehn Geschwister, und die fraßen ihm mit ihren hungrigen Mäulern die Zukunftshoffnungen auf, wenigstens knabberten sie so lange an der »Kanzel« herum, bis nur ein schlichtes »Katheder« übrig blieb. –

Vor diesem Katheder wartete Bertold Malcroix, bis es ein Viertel nach acht sein würde, sämtliche Mitschüler und Mitschülerinnen standen um ihn herum, aber sie redeten ihn nicht an, sie kicherten nur, schubsten ihn ein wenig oder traten ihm auf die Füße, es mußte irgend etwas Ehrenrühriges darin liegen, ein »Neuer« zu sein.

Aber fünf Minuten vor ein Viertel auf neun flog ein kleines Mädchen zur Tür herein, bahnte sich mit zwei rührigen Ellbogen durch die Kinderschar eine Gasse und stand nun vor Bertold, den sie von allen Seiten mit prüfenden Blicken musterte.

»Du hast ja gar keinen Buckel!« rief sie dann. Das war ihre Begrüßung. Bertold lachte.

Es war ein herzliches, sonniges, frohes Kinderlachen, so recht aus dem Innersten heraus, wie man es sonst nur bei ganz jungen Dreijährigen hört, und das Gesicht des kleinen Mädchens erstrahlte bei diesem Lachen, sie nahm den Jungen gleich fest bei der Hand.

»Warum sollte ich denn einen Buckel haben?« Und wieder lachte Bertold. Diesmal war’s ein Duett mit dem Mädel.

»Sie sagten’s alle, – aber es ist gut, daß du [15] keinen hast, denn sonst hätte ich sanft mit dir sein müssen, meinte Trine.«

»Wer ist Trine?«

»Trine ist – Trine.«

»Wie heißt du denn?«

»Liselotte Windemuth. Aber halt jetzt nur den Mund, da ist der Herr Rektor.«

Rektor Dillen sah erst den kleinen Ankömmling gar nicht, so groß und schlank das Bürschchen auch war.

Oder wollte er ihn nicht sehen?

Wurde die Erinnerung zu mächtig in ihm, die Erinnerung an die Mutter dieses Knaben, die mit so sonnigen Augen in diese düstere Welt und insbesondere in die düstere Welt der Eichenborns geschaut hatte, und die seine Lieblingsschülerin gewesen war?

Neunzehn Zeigefinger fuhren in die Höhe, der zwanzigste lag still geborgen in der Hand des einundzwanzigsten Schülers.

Bertold hielt Liselottes Händchen fest umklammert.

»’s is ein Neuer da! Herr Rektor.«

»Ruhig, liebe Kinder! Wir wollen erst unser Morgenlied singen.«

»Unsern Eingang segne Gott,
Unsern Ausgang gleichermaßen,
Segne unser täglich Brot,
Segne unser Tun und Lassen,
Segne uns in sel’gem Sterben,
Und mach’ uns zu Himmelserben.«

[16]

Schon bei dem ersten Vers, lange ehe die Strophe zu Ende ging, hatte der Lehrer die Geige sinken lassen, – denn eine helle, glockenreine Knabenstimme führte den Chor fest und sicher bis zu Ende.

»Tausend Wetter, mein lieber Junge,« rief Rektor Dillen in ehrlicher Begeisterung, aber dann mußte er sich umständlich die Nase schneuzen, weil die Bewegung ihn übermannte. Zwei wunderschöne tiefe Kinderaugen schauten ihn an, wie früher die stahlblauen Augen der Franziska, und dieselbe klare Kinderstimme, die einst das Schulstübchen mit Wohllaut erfüllte, rief ihm zu: »Ich soll Sie von der Mutter grüßen, und sie würde ihren verehrten Lehrer bald aufsuchen.«

»Schön, schön, mein Junge.« Wieder schluckte er heftig. »Und nun sage mir noch, wie du heißt und wie alt du bist.«

»Ich bin neun Jahre alt, und ich heiße: Bertold Eik von Eichen.«

Es ging ein Summen und Tuscheln durch die Kinderschar.

»Is ja gar nich wahr.«

»Malcroix, – Malcroix –«

» Wie heißt du, Kleiner? Besinne dich einmal!«

»Bertold Eik von Eichen. Großvater hat es gesagt, ich sollte so antworten.«

»Ahhh! So so – gut und schön! Setz’ dich! Oder nein, lies mir gleich einmal ein Stückchen aus dem Kinderfreund. Seite einhundertachtundsechzig oben, damit [17] ich sehe, was du kannst. Liselotte Windemuth, ich glaube gar, du willst schon frühstücken, das ist sehr ungehörig.«

Liselotte wurde rot, aber es achtete niemand darauf, denn der neue Bertold las ganz unerhört schön und gänzlich fehlerfrei das schwierige Lesestück.

»Das war ja sehr gut, Bertold.« Die guten Augen des Lehrers strahlten. »Ich sehe schon, du bist der echte Sohn meiner braven Schülerin Franziska.«

Sei es nun, daß seine Stimme bei diesen Worten bebte, oder war es sonst etwas, – Bertold Eik warf plötzlich beide Arme auf den Tisch, legte sein Gesicht darauf und fing an bitterlich zu weinen. –

Liselotte Windemuth saß verstört neben ihm, – – die anderen waren je nach Veranlagung frech oder verlegen, beinahe aber alle stellten innerlich fest, daß es noch nie so »fein« in der Schule gewesen sei, – Mütter und Tanten würden Augen und Ohren aufsperren, was sie heute erführen.

Und Rektor Dillen stellte bei sich fest, daß die erste Stunde recht unruhig verlaufen sei und die Kinder wenig in ihr gelernt hätten, – nur ihm selbst hatte sie einen Gewinst gebracht.

Durch schöne, reine Kinderaugen hatte er in ein schönes, reines Kinderherz geschaut, ein Erlebnis, das einem Lehrer wohl einen ganzen Tag verklären konnte.

Er beschloß, die Pause heute etwas zu verlängern, um den Kindern Gelegenheit zu geben, ihre Neugierde [18] zu befriedigen und sich zu sammeln. Und den arg verweinten Kinderaugen wollte er erlauben, sich zu waschen und zu kühlen, damit sie wieder hell würden für den Rest des Tages.

Rektor Dillen war ein erfahrener Lehrer, der ja auch in den dreißig Jahren seiner pädagogischen Tätigkeit viel hatte strafen müssen, aber Kindertränen waren seinem liebevollen Herzen immer etwas Heiliges gewesen. –

Kaum hatte das kleine, heisere Schulglöckchen, von Fräulein Rektor in Bewegung gesetzt, den Stundenschluß verkündigt, so wandte sich der Rektor gleich an Bertold.

»Du kannst in das Grasgärtchen gehen, mein Sohn, und die Liselotte wird dich begleiten, wenn du sie bittest.«

»Er braucht nicht zu bitten,« rief Liselotte rasch, »und ich hatte mir gerade dasselbe ausgedacht, während er das lange Lesestück vorlas. Komm, Bertold.«

Ihre schlanken Beinchen liefen sehr schnell, Bertold konnte kaum folgen, und dann saßen sie einträchtig auf dem kleinen Holzbänkchen in der Geißblattlaube.

»Warum hast du geweint, Bertold?« fragte die Kleine energisch.

»Ich weiß es nicht.« Seine Augen wurden schon wieder verdächtig blank.

»O, dann ist es sehr dumm. Man weint doch nicht, wenn man’s nicht weiß. Man hat schon genug [19] zu weinen bei Ungerechtigkeiten und Leibweh. Willst du jetzt wieder heulen, oder kann ich dich viel fragen?«

»Frag’ mich nur.«

»Ich möchte wissen, ob wir sehr gut zusammen passen. Sieh mal, du bist schon neun und ich erst sieben, das paßt doch schon nicht. Aber sag’ mal, bist du auch altklug, Bertold?«

»Das weiß ich nicht, – bist du es denn?«

»Freilich, – sie sagen’s alle in Schwarzhausen. Es tut nicht weh, aber es ist nichts Schönes.«

»Nun dann sei es doch nicht.«

»Phh! Als ob das so ginge. Das ist so was Festgewachsenes, wie Haare und Augen.«

»Das glaube ich nicht.«

»Dann laß es bleiben.«

Eine Pause entstand.

»Schade wär’s, wenn wir gar nicht paßten,« meinte die Kleine endlich nachdenklich. – »Und dann habe ich auch absolutes Tonbewußtsein!«

»Was ist denn das ?« rief Bertold in ungemessenem Erstaunen.

»Junge, du weißt aber auch rein nichts. – Das ist so: Wenn ich a singe, denn ist es auch a.«

»So? Und wenn du nun b, c, d, e, f, g, h, i, k, l, m, n, o, p singst?«

Da lachten sie beide und es klang wie zwei Glocken, eine hohe und eine tiefe, und der alte Rektor, der in einiger Entfernung an der Geißblattlaube vorbeiging, [20] meinte, sie läuteten gewiß eine schöne, frohe Lehrstunde ein.

»Sag’ mal, Liselotte,« fragte jetzt Bertold, »warum meintet ihr denn alle, ich hätte einen Buckel?«

»Ach so! – Na ja, du hattest so ’ne Erhöhung auf dem Rücken, sagte die Frau Postverwalter, wie du aus der Postkutsche stiegst.«

»I, seid ihr komische Menschen! Das war meine Geige!«

»Eine Geige? Eine ganz wirkliche Geige? Und du kannst richtig spielen? Ist es eine kleine Kindergeige? Darf ich mal drauf probieren?«

»Oho, das ist nicht so einfach. Meine Geige ist außerdem eine echte Amati.«

»Was ist denn das?«

»Oho, nun fragst du auch, und ich könnte dir sagen: du weißt aber auch gar nichts. Amati und Stradivarius, das waren die zwei berühmtesten Geigenbauer.«

»Ach so, dann will ich Väterchen bitten, daß er mir Stra–ti–«

»Stradivarius – – –«

»Ja, – so ein Stratifarius kauft.«

»O du Dummerchen! Weißt du denn, wo man ihn so schnell kriegt? Meine Amati hat Vater in Nürnberg gefunden, auf einer Bodenkammer, in einer alten Truhe von einem alten Fräulein, die gar nicht wußte, [21] wer sie da mal reingelegt hatte, und dann machte Vater sie zurecht, und nun soll sie fünfzigtausend Mark kosten.«

»So!!« Liselotte sah sehr nachdenklich aus. »Ich habe nur achtunddreißig Pfennige. Von Herrn Organisten Brennstoff. Das ist ein guter, lieber Mann. Immer, wenn er mich sieht, sagt er: Sing mal a, dann tu’ ich’s und dann zieht er die Stimmgabel raus und probiert und dann ruft er: Heil’ge Cäcilie, es stimmt! Du bist doch ä Luderchen. Und dann schenkt er mir einen Pfennig.«

»Achtunddreißigmal!« rief Bertold, »das muß sehr lustig für dich sein. Aber eine Stradivarius kriegst du nicht dafür.«

»Das ist einerlei, – ich habe ja auch noch ’ne Akkordzither.«

Herr Rektor Dillen zog jetzt die beiden aus ihrem Plauderwinkel.

»Kinder, Kinder, ’s is die hechste Zeit, – schreiben missen mer.«

Das war eine weitere Eigentümlichkeit des Herrn Rektors, – er sprach in der Aufregung, im Zorn und in der Begeisterung immer arg thüringisch, aber sobald er in Ruhe war, redete er ein völlig einwandfreies Hochdeutsch.

Und sie schrieben eine ganze Stunde lang Sprichwörter, und wieder mußte Rektor Dillen den Neuen loben, der eine geradezu vorbildliche Handschrift hatte.

[22]

»Aber ich kann nicht dahinter kommen, was du mit diesem Sprichwort gemeint hast, Bertold – –«

Und der Lehrer las aus des Knaben Heft vor: »Wer achtunddreißigmal a sagt, muß auch b sagen.«

Da lachte die ganze Klasse schallend, Bertold und Liselotte lachten auch ihr schönes, klingendes Glöckchenduett, und Rektor Dillen legte dem Knaben die alte runzlige Hand auf den dunkeln Lockenkopf und sagte leise: »Lache nur zu, mein Junge, – die im Eichenhause können Sonne brauchen.«

Dann war der Unterricht beendet.

Man konnte von diesem Tage an von Schwarzhausen das Bild gebrauchen: »Sturm im Wasserglase«.

Früher hatte es der alte gallige Herr Eik von Eichen öfter einen stehenden Teich genannt, – Teich mit Entengrün.

Es hatte ihm immer ungeheuern Spaß gemacht, ab und zu ein Steinchen hereinzuwerfen in die grünüberzogene Stille, aber der Stein, den sein eigenes, vergöttertes Kind durch kopflose Heirat und heimliches Durchbrennen in den Teich warf, war zu schwer und wuchtig gewesen. Der hatte einen brodelnden Morast aufgewühlt, dessen übelriechende Dünste dem alten Vater das Leben, mindestens aber die letzten zehn Jahre vergiftet hatten.

Jetzt war das Wasser heller und reinlicher geworden, aber es stürmte, brauste und zischte, wie eitel Kohlensäure.

[23]

Also der Name Malcroix sollte einfach abgetan werden?

Und der Knabe war etwas ganz Besonderes? Der die ganze Stunde hindurch über den Schellenkönig gelobt wurde und in den Pausen in Herrn Rektors Grasgärtchen sitzen durfte, damit nur ja kein Schwarzhausener Kind ihn necke und hänsele?

Man erwog ernstlich, ob der Rektor nicht etwa zu alt und kindisch würde und durch eine strammere Kraft ersetzt werden müsse. –

Franziska aber zog ihren Jungen mit einem Jubelruf in die Arme, sie war nur vier Stunden von ihm getrennt gewesen, aber ihr hatten es Tage gedünkt, und Bertold schmiegte sich innig an die Mutter und plauderte von seinen neuen Eindrücken und Erlebnissen.

Nur die Tränen des plötzlichen Heimwehs verschwieg er ihr, vielleicht, weil sie zu rasch getrocknet waren durch Liselottes Plaudereien. Immer wieder kam der Name des kleinen Geschöpfes in Bertolds Erzählungen vor: »Da sagte Liselotte, – da meinte Liselotte, – und da lachte Liselotte, – und ich soll sie besuchen. Und denk dir, Mutter, sie ist altklug und hat absolutes Tonbewußtsein und eine Akkordzither, und sie hat noch nie gewußt, was ’ne Amati ist.« –

Durch Frau Franziskas Herz war während dieser Erzählungen ihres Jungen etwas gehuscht, über das sie sich selbst ausschalt.

Wäre es möglich, daß sie Eifersucht empfand?

[24]

Aber sie war bis heute so ausschließlich das A und O ihres Jungen gewesen, bisher hatte er nach jedem Schultag so aus Herzensgrund gerufen: »Gottlob, Mutter, daß ich wieder bei dir bin!« Deshalb erblaßte sie heute leicht, als dies Jubelwort fehlte und Bertold statt dessen sagte: »Und nachher will ich Liselotte besuchen.«

Herr von Eichen senior kam ihr zu Hilfe. Er hatte dem Plaudern des Knaben mit ganz merkwürdigem Gesichtsausdruck zugehört. –

»Daraus wird nichts,« erklärte er finster. »Die Schule bringt Unruhe genug. Das fehlte noch gerade, daß mir hier kreischende, polternde, unzurechnungsfähige Sprößlinge fremder Leute ins Haus kämen – – –«

»Da bin ich,« sagte in diesem Augenblicke eine frohe Kinderstimme und ein warmes, kleines Händchen schob sich vertrauensvoll in die behaarte große Rechte des Scheltenden. »Ihr habt gewiß schon gewartet, aber ich konnte wirklich nicht eher, immer muß ich von dem Bertold erzählen, die Leute sind schrecklich neugierig. Und kein Mensch wollte es glauben, daß ich zu dir dürfte, denk bloß – –«

Und Liselotte Windemuth lachte silberhell und lehnte ihr weiches Körperchen an den grimmigen alten Herrn, so daß ihre blonden langen Locken über seinen grauen Flaus fielen.

Niemand von der Tafelrunde, die um den Familientisch der Eik von Eichens saß, sprach ein Wort. Aber von [25] dem einen Ende des Tisches kam ein häßliches, meckerndes, hölzernes Lachen, und dies Lachen berührte um so verwunderlicher, als es aus dem Munde des »schönen Eiks« kam. So nannte man Eik von Eichen junior , den Pflegesohn und Haupterben der Eichenschen Besitztümer, den vorbildlichen Prachtmenschen, den korrekten, fleißigen, wohltätigen Handels-, Fabriks- und Gutsherrn, den »Heiligen von Schwarzhausen«.

Liselotte warf einen etwas scheuen Blick auf ihn, dann drückte sie rasch die Hand des stummen, alten Herrn und küßte sie, wie sie es von ihrem Vater gewohnt war, darauf wandte sie sich an den Jungen:

»Komm, Bertold, – komm rasch und zeige mir deine Geige,« rief sie, anscheinend höchst froh, aus der stummen Gesellschaft fortzukommen. »O, ich kann’s ja gar nicht erwarten, die Amati zu sehen, und Herrn Organist Brennstoff habe ich auch schon davon erzählt, der freut sich halbtot. Stunden will er dir geben, hat er gesagt, und etwas Großes aus dir machen, und er rief immer: Heilige Cäcilie, habe Dank!«

Das Kind verstummte, denn der alte Herr von Eichen hatte sich langsam aufgerichtet und sein verändertes Gesicht war furchtbar anzusehen. Die Adern lagen wie große, blaurote Schwielen auf der breiten Stirn und die grauen, düsteren Augen schossen Blitze. Schwer fiel seine Faust auf den Tisch, daß das Kaffeegeschirr tanzte und klirrte. –

[26]

»Die Geige« – keuchte er und faßte das Handgelenk seiner Tochter, die blaß und schreckensbang zu ihm aufschaute. »Du hast es gewagt, Franziska, sie mitzubringen?« – –

Und nun folgte ein Jähzornsausbruch, so gewaltig, so wuchtig und tobend, daß die jahrhundertealten Wände zu beben schienen. »Hinaus!« schrie er mit einer Stimme, die nichts Menschliches an sich hatte, und Frau Franziska nahm mit zitternden Händen die beiden Kinder und flüchtete mit ihnen auf die große Diele. Von hier aus lief sie, wie gejagt, in ihr eigenes Zimmer, während Bertold und Liselotte sich erschreckt ansahen.

Liselotte strich sich die wirren Locken hinter die Ohren.

»Na so was!« meinte sie empört. » Das erzähle ich aber zu Hause, – das ist ja ffffurchtbar nett, daß ich nun auch den schlechten Kerl mal gesehen habe.«

»Meinen Großvater,« stammelte Bertold, blaß bis in die Lippen.

»I wo, den mein’ ich ja gar nicht. Ich mein’ natürlich deinen Onkel, der so gräßlich lacht und grinst.« – – –

Sie streichelte liebevoll den verstörten Kameraden. »Fürchte dich nur nicht, Bertold, ich beschütz’ dich schon. Weißt du, ich hab’s furchtbar gern, wenn einer so losballert wie dein Großvater, mein Väterchen tut [27] auch so, wenn die Base ihm Papiere verkramt, – komm, Bertold, komm zur Amati.«




Am andern Tage ging es in der Schule weit lebhafter zu als am ersten.

Denn in den letzten zwölf Stunden des vergangenen Tages und der vergangenen Nacht hatte man in Schwarzhausen so viel Neues erfahren, wie sonst nicht in Wochen, und in jeder Familie, die schulpflichtige Kinder besaß, ermahnte man die Kinder, den Bertold Malcroix ein bißchen auszuhorchen und vor allen Dingen es nicht zu leiden, daß er während der Pausen sich mit Liselotte Windemuth verkrümele.

Rektor Dillen war beim alten Herrn Eik von Eichen gewesen, das wußte man auch, und er hatte dort verbrieft und versiegelt vorgefunden, daß der Bertold wirklich Eik von Eichen hieß und daß der durch leichtsinnige und schlechte Streiche des verstorbenen Malcroix besudelte Name durchaus verschwinden solle. Das heißt, wenn dies Frau Fama, das geschwätzigste aller Weiber, das in Schwarzhausen Ehrendienstwohnung besaß, zuließ. Vorläufig nannte man den Bertold erst recht Malcroix, und es war ein fortgesetzter Ärger von den Schwarzhausenern, daß der hergelaufene Junge nicht auf ihn hörte, sondern den Rufenden höchstens mit ernsten, stillen [28] Augen ansah, – mit höchst unbequemen Augen, vor denen man sich beinahe schämte.

Ja, einer schämte sich so gründlich, daß er ein guter, zuverlässiger Freund von Bertold wurde, trotzdem er wenige Minuten vor diesem Schamprozeß recht hämisch quer über die Straße gerufen hatte: »Komm einmal her, kleiner Malcroix!«

Dieser Mann, dem dann der abweisende, ernste, tiefe Kinderblick »bis an die Nieren« gegangen war, war der Apotheker von Schwarzhausen, Herr Nothnagel, – und da er zu den gewichtigen Leuten zählte, konnte sich Bertold zu dessen plötzlicher Freundschaft wohl beglückwünschen.

Und Herr Nothnagel bekräftigte diese Freundschaft mit einem halben Pfund »Abfallschokolade«, die er einem geheimnisvollen Fache seiner Apotheke entnahm und die Bertold und Liselotte auf einen Hieb vertilgten.

Darauf bekamen sie drei Tage heftigen Durchfall, ohne zu ahnen, daß sie ihn der plötzlich erwachten Zuneigung des Herrn Nothnagel verdankten.

In der Pause saßen Bertold und Liselotte doch wieder eng aneinander geschmiegt im Grasgärtchen.

Sie hörten gar nicht auf das Höhnen und die Schmährufe der anderen Kinder, sie waren auf der fernen, glückseligen Insel der Jugendfreundschaft und des ersten rückhaltlosen Vertrauens.

Liselotte erzählte stürmisch und temperamentvoll die wichtigsten Ereignisse ihres jungen Daseins.

[29]

Daß ihre Lieblingspuppe Emmy ein schleichendes Fieber habe und schon seit einem Jahre ohne Kopf daliege, aber »zu süß« sei und gescheiter und netter als alle anderen dreiundzwanzig Puppenkinder, – daß ihr Papa ein grundgelehrter Professor sei und »Väterchen« heiße, daß ihre Mama schon seit vier Jahren im Himmel sei, gerade dort, wo er am Tage am allerblauesten sei und wo des Nachts der Abendstern stünde – – – so hätte es Väterchen ihr erzählt. Und daß die Base Juliane den Haushalt führe und die alte Trine koche und flicke und stopfe und schimpfe, aber sonst beinahe so lieb sei, wie Puppe Emmy, – nur eben leider mit Kopf.

Bei der Trine waren auch alle Puppen in »Penzion«, denn die Base Juliane erlaube nicht, daß Liselotte viel mit ihnen spiele, und es seien doch ihre Kinder, ihre süßen, wonnigen Kinder, die der Storch gebracht habe und der habe sie Liselotte, ganz richtig ins Bein gebissen, sie könne Bertold jeden Augenblick ihre große Zehe zeigen, wo die Narbe noch dran wäre.

Liselottes Phantasie war großartig und ging jeden Tag zwölfmal mit ihr durch, aber für den ernsten Jungen war es ein tiefes Glück, in die begeisterten Augen seiner kleinen Gespielin zu schauen.

»Bring’ mir nur deine Puppen,« meinte er, »ich will sie auch lieb haben.«

Diese Aussicht überwältigte Liselotte dermaßen, daß sie die Ärmchen um seinen Hals legte und ihm einen [30] Kuß gab, worauf sie sich beide den Mund abwischten.

»Du bist ein lieber Junge,« rief Liselotte, »willst du Puppe Emmy heiraten, oder lieber Vater sein?«

»Vater sein,« erklärte Bertold, und die Sache war abgemacht.

Als Rektor Dillen die Pause für beendet erklärte, hatte man sich schon für denselben Nachmittag verabredet, um fünf Uhr nach den Schularbeiten auf Windemuths Oberboden zusammen zu kommen, und zwar sollte Bertold seine Amati mitbringen und Liselotte ihre sämtlichen Puppen.

»Und wenn Base Juliane es nicht erlaubt, dann werde ich brüllen und um mich schlagen, daß das Haus wackelt,« erklärte Liselotte, »dann darf ich’s schon, denn Väterchen braucht Ruhe.«

Bertold lachte wieder sein herzliches, tiefes Lachen. Dann meinte er sinnend: »Meine Mutter hat früher auch immer mit Puppen gespielt, sie erzählt mir wunderschöne Geschichten davon. Deine Base Juliane ist wahrscheinlich nie Mutter gewesen.«

Dies rührende Kinderwort sollte später die Schwarzhausener darin bestärken, daß Bertold »Malcroix« ein grundverdorbener Bengel sei.

Denn als der Kampf mit Base Juliane an demselben Nachmittag wirklich entbrannte und Liselotte wie eine Löwin um ihre Jungen kämpfen mußte, rief das [31] Kind ihrer Base empört zu: »Sag’ mal, bist du mal Mutter gewesen?«

Und auf die wütende Gegenfrage der alten Jungfrau: »Wer, – wer wagt es, so gemein zu fragen?« kam die Antwort: »Der Bertold.«


In all solchen Dingen handelte Schwarzhausen immer unglaublich rasch und holte die zehntausend Meilen, die es sonst in der Kultur zurück war, oft in einer Stunde ein.

Schon am Nachmittag brachte es Base Juliane dem Professor Windemuth, der natürlich gerade in einer wichtigen archäologischen Arbeit saß, unter Tränen, Wut, Zittern und schamhaftem Erröten bei, daß, – (o du mein himmlischer Vater, Vetter Windemuth, ich kann’s dir kaum andeuten), daß der hergelaufene Bengel Malcroix an ihrer, Julianes, Jungfrauschaft frech gezweifelt hätte, und der nun sehr aufgebrachte Professor, der sich ohnedem nach seiner schnöde unterbrochenen Arbeit zurücksehnte, rief: »Der Junge darf mir selbstverständlich nie ins Haus.«

Und am selben Abend wußte es ganz Schwarzhausen mit Ausnahme des Hauses Eik von Eichen, daß der neunjährige Bertold ein ganz und gar verdorbenes Früchtchen sei.

»Sie sind alle wild und verrückt,« plauderte Liselotte und sah ihren neuen Freund, der mit dem sorglich behüteten Geigenkasten vor ihr stand, ängstlich an. [32] »Du darfst nicht rein zu uns, Bertold, ich soll nicht mit dir spielen.«

Ganz schwarz wurden seine Augen in der Schmach dieser Minute. Wortlos drehte er Liselotte den Rücken und ging zurück ins Eichenhaus. Sie sah ihm nach und begriff mit der ganzen Stärke ihres Empfindens seinen Schmerz, und nun schrie und tobte Liselotte so ausgiebig, wie sie sich’s am Vormittag vorgenommen, und weinte die Hausbewohner zusammen mit dem unerklärlichen Jammerwort: »Ohhh, er wollte Vater sein und ihr erlaubt es nicht.«

Ja, Schwarzhausen, das moralische Schwarzhausen, ging schweren Zeiten entgegen.



Im »Eichenborn« gab es einen Raum, ein echtes, rechtes Poetenwinkelchen, das hatte sich der alte Hieronymus Teichmann, der im übrigen eine schöne, geräumige Dienstwohnung besaß, ganz besonders für sich ausbedungen, und in diese heiligen Hallen verirrte sich nicht einmal seine liebe, gute, runde Frau.

Fingerdick lag der Staub allüberall, aber alles, was er bedeckte, waren für Hieronymus Heiligtümer und unantastbare Geheimnisse.

Nur einmal hatte Frau Thereschen Teichmann in diese Blaubartkammer hineingeschaut, und nachdem sie einen Schrei der Entrüstung ausgestoßen, hatte sie [33] sich schnurstracks Wassereimer und Schrubber, grüne Seife, Besen, Schaufel und Wischtuch geholt.

Aber der unmelodische Schrei hatte die beiden Hüter des Heiligtums herbeigelockt, und Frau Thereschen fand sich einem Doppelposten gegenüber, der ihr den Eintritt samt den Abzeichen ihrer Hausfrauenwürde wehrte.

»Bei allem Respekt vor deiner Weiblichkeit, Teichweibchen, – halt’s Maul,« rief ihr der Gatte Hieronymus entgegen. »Staub ist alles hier auf Erden, auch du sollst einst zu Staube werden. Und nun mache kein Federlesen und heb’ dich hinweg mit deinem Besen.«

Frau Therese warf noch drei vorwurfsvolle Blicke zurück, den einen auf ihren Gatten, den andern auf den Staub und den dritten auf den Organisten Brennstoff.

Das war der andere Teil des Doppelpostens, der beste und geliebteste Freund ihres Hieronymus, an welchen niemand auch nur »tippen« durfte. Vom sechsten Jahre ihres Lebens an waren die beiden unzertrennliche Kameraden.

Brennstoff, selbst Lehrerssohn, hatte Musik studieren dürfen, gab sämtlichen Musikunterricht in Schwarzhausen und war Organist der Stadtkirche; Hieronymus Teichmann dagegen war der Nachfolger seines eigenen Vaters geworden, – die Teichmanns dienten seit Menschengedanken den Eik von Eichens, waren Schloßverwalter, Silberdiener und Haushofmeister [34] seit Generationen. Originale waren sowohl Brennstoff wie Teichmann.

Beide liebten in ihrer Jugend das gleiche Mädchen, aber Teichmann durfte sie heiraten und hatte es nie bereut.

Thereschen Balian aber ahnte nichts von Kantor Brennstoffs Liebe und so wurde sie Teichweibchen.

»Das paßt und klingt gut,« meinte der Kantor entsagungsvoll. »Der Teichmann und das Teichweibchen. Hingegen der ›Brennstoff‹, und weiter gar nichts, noch mehr Brennstoff bringt nur Explosion.«

Ganz allmählich waren aus den zwei Freunden vier Unzertrennliche geworden, es hatten sich Beethoven und Wagner zu ihnen gesellt.

Auf irgendeinem spinnewebdunkeln Oberboden des grauen Hauses hatte ein Spinett gestanden; Hieronymus erhielt die Erlaubnis, es sich herunterzuholen, und auf diesem Spinett tippte er leise und andächtig in seinen Mußestunden herum, bis dann abends Organist Brennstoff kam und mit weichen, großen Händen wunderbare Töne daraus hervorlockte.

Diese Töne wühlten das Innere auf und sänftigten es wieder, diese Töne ließen die beiden alten Herzen wunderbar schwingen, also daß die Hände, die zu den Herzen gehörten, sich falten mußten.

»Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre!«

»Herrgott, lieber Zacharias Brennstoff, – gibt es denn nur noch so etwas auf dieser Erden! Man könnte [35] wahrlich närrisch werden, – spiel’ weiter, Brennstoff, – damit ich mein’, es musizieren die Engelein.«

Dann präludierte der Stadtorganist weiter, und die schlichten Töne verdichteten sich zu einem Gemälde, und es war den beiden Alten, als hinge das Adagio der fünften Symphonie in breitem, wunderbarem Goldrahmen an der Wand über dem alten Spinett.

Aber den Beschluß machte immer dasselbe Lied, das so gut zu dem glutroten Ball stimmte, der allabendlich hinter den Tannen des Thüringer Waldes versank:

»Fahr wohl, du goldne Sonne,
Du gingst zu deiner Ruh,
Und voll von deiner Wonne
Gehn mir die Augen zu.
Schwer sind die Augenlider,
Du nimmst das Lied mit fort,
Fahr wohl, wir sehn uns wieder,
Hier unten oder dort.
Und trägt des Tods Gefieder
Mich statt des Traums empor,
Dann schau’ ich selbst hernieder
Zu dir aus höherm Chor.«

So war es jahrelang gewesen, – da sah und hörte und fühlte der Organist Brennstoff zum ersten Male Bayreuth.

Ein Stipendium, eine Fahrkarte und eine Berechtigungskarte für den Nibelungenring fiel vom Himmel hernieder in seine Hand, – so meinte er [36] heute noch, und doch hatte er den eingeschriebenen Brief dem Postboten selbst abgenommen.

Wie im Traum war er damals aus Bayreuth zurückgekommen, und die Schwarzhausener merkten es nicht, daß die heiligen Hallen der Stadtkirche sich mit Wotans und Siegfrieds Gesängen füllten, und daß sich von dem Platze ihres Organisten aus ein goldener Regenbogen spannte, auf dem der verzückte Orgelspieler geradeswegs in Walhalla einzog.

Es war ein Glück, daß Hieronymus Teichmann eine so gleichgestimmte Seele war, – Meister Richard Wagner brauchte gar nicht lange auf dieser Harfe zu schlagen, da hatte er den ganzen Menschen schon mit Haut und Haar.

Alles ersparte Geld ging beinahe auf Partituren drauf, die Brennstoff dem Freunde mit himmelhochjauchzender Begeisterung vorspielte, und Hieronymus sang beim Silberputzen: »Winterstürme wichen dem Wonnemond« und »Heialaweia«.

Und jedesmal, wenn die beiden Freunde über Wagner philosophierten, schlossen sie ihr Zwiegespräch: »Es war ein herrlicher Mann und ein göttlicher Musiker, aber auch der, der uns die Bayreuther Karten gab, soll bis in die Knochen gesegnet sein!«

»Uns« – sagten sie, – denn wenn auch nur der eine im gnadenreichen Bayreuth gewesen war, – sie fühlten sich eben beide als dieser eine.

Heute waren sie wieder einmal in Walhall gewesen, [37] – hatten dann den herabsinkenden Sonnenball mit Beethoven heimgeleitet und wollten nun selbst die Ruhe aufsuchen, als der Organist plötzlich sagte: »Meister Beethoven hängt tatsächlich in der Luft. Mir ist’s, als hätte ich ihn heute immerfort in den Ohren, auch wenn dieses Klavizimbel schweigt, – hörst du nichts, Hieronymus?«

»Freilich, – ich wollt’ es nur nicht wagen, und dir von der Erscheinung sagen, – hör’ nur – – als ob’s hier oben wär’. Oder kommt es von draußen her?«

Die beiden Freunde sahen sich an und lauschten wieder.

Es war wie der Gesang einer Äolsharfe.

Aber Äolsharfen pflegen nicht Beethoven zu säuseln, und doch unterschieden die beiden alten Freunde gar genau, wenn auch nur harfenfein, die Töne.

»Heil’ge Nacht, o gieße du
Himmelsfrieden in dies Herz – – –«

Sie forderten sich nicht zu irgendeiner Tat auf, – wann wären sie jemals uneins in ihren Gedanken gewesen?

Mit dem Finger auf dem Mund stiegen sie die gewundenen, schnörkeligen Holztreppen hinauf, und auf dem zweiten Absatz kam Beethoven schon deutlicher zu Wort. Aber nirgends eine Spur von dem Sänger oder Spieler, nur – die Tür eines uralten Schrankes klaffte ein wenig, allein dem strengen Auge eines ordentlichen [38] Haushofmeisters bemerkbar, und dann zogen die Freunde aus den Tiefen des Riesenschrankes das Geigerlein hervor, das ganz betäubt war von Dunkelheit, Musik und – Mottenpulver.

»Jesus! Unser Junker Bertold!« rief Hieronymus »Nun sag’ nur mal, wie kommst du rein in diesen dunkeln Kleiderschrein?«

Bertold blinzelte die beiden an.

»Ach, nirgends darf ich spielen, – und nun hast du mich auch hier gefunden, Hieronymus. Wirst du es dem Großvater sagen?«

Der Alte schüttelte begütigend den Kopf und zog ihn mit sich die Treppe hinunter. Organist Brennstoff aber hatte vorsichtig die Geige dem Knaben abgenommen und prüfte nun beim Dämmerlicht, das durch das Flurfenster fiel, die herrliche Maserung des alten Holzes und erkannte schließlich mit andächtigem Entzücken den Namen auf dem Boden der Geige durch das geschwungene S hindurch.

»Heilige Cäcilie, ich halte eine Amati in der Hand, – Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren.« Brennstoff drohte zu explodieren, »Das, was ich sagte, ist keine Gotteslästerung, – das sei ferne von mir, – aber es ist etwas Heiliges um eine Amati, und dieser Jungherr scheint zu wissen, was er Kostbares hegt.«

Sie waren wieder in das Poetenwinkelchen eingetreten.

[39]

»Ja, ich weiß es,« entgegnete Bertold ernsthaft. »Vater hat sie mir ja gegeben, ehe – ehe er starb. Heiligtum, sagte er nur, und dann – – –«

Die Augen des Knaben waren wieder ganz schwarz vor Erregung, und Hieronymus strich ihm hastig über den dunkeln Kopf. Still bei sich dachten beide Männer dasselbe.

Daß der Name Malcroix auch ehemals ein Heiligtum gewesen sei und durch die Schuld des Mannes, der eine Geige so hoch hielt, zu einem wertlosen Fetzen geworden war, den man seinem Knaben zum eigenen Besten fortgenommen.

»Nun spiele,« brach Hieronymus das Schweigen, »hier ist mein Reich, und ich kann wehren, wer uns hier etwa wollte stören.«

Und der Knabe spielte.

Ob auch die goldene Sonne längst zur Ruhe gegangen war, es lag ein lichter Schein um das Haupt des Kindes.

Das jubelte und jauchzte, das klagte und zitterte in den Saiten, es war ein gewaltiges, sehnsüchtiges Klingen. – Spielte wirklich nur ein kleiner, schwarzlockiger Junge, oder meisterte unsichtbar ein anderer die Saiten des wunderherrlichen Instrumentes?

Organist Brennstoff saß mit gefalteten Händen da, und Träne auf Träne tropfte auf sie herab.

Er war nicht imstande, dem Jungen auch nur ein Wort zu sagen, als dieser endlich den Bogen sinken [40] ließ und mit leisem, ernsten »Gute Nacht« das Zimmer verließ.

Aber dann brach es los bei ihm, – wie ein Sturzbach kamen die ungestümen Worte:

»Ich hab’ mich vermessen, Freund Hieronymus. Ich wollte ihn unterrichten und fühle, den kann ich nichts mehr lehren. Heilige Cäcilie, wie ist’s möglich, daß ein Kind so wunderbar spielt! Ich will dir etwas sagen, Freund, – dies Spielen hat ihn sein Vater gelehrt. O, ich habe die Fräulein Franziska immer verstanden, daß sie diesem Rattenfänger von Hameln folgte, – »sie mußten alle hinterdrein«. Und so ein zartes Weibchen, so eine schöne Seele in einem schwächlichen Gefäß – was sollte sie wohl widerstehen? Und wir zwei, Hieronymus, wir müssen diesem kleinen Musikus das Andenken seines Vaters retten, denn wo viel Licht ist, ist viel Schatten, und jener Malcroix war ein Genie. Heilige Cäcilie, es kommt wieder echte Musik nach Schwarzhausen, es kommt wieder Klang in unsere verdudelte Leierkastenatmosphäre – Hieronymus, die Manen Beethovens und Wagners schwebten heute in diesem gesegneten Raume!« – –

Er war ganz außer sich, der lange, hagere Organist, raffte seinen Hut und seine große Pelerine zusammen und stürzte zur Tür hinaus, kaum noch hörend, was Teichmann ihm unter Kopfschütteln nachrief: »Gute Nacht, gute Nacht! Allen Müden sei’s gebracht.« –


[41]

Im Frühstückszimmer des Hauses Eichen herrschte die Stimmung wie nach dem Gewitter. Eben war die schwere Tür mit lautem Krach zugeflogen, und die wilden Flüche und Reden des alten Herrn hingen noch in der Luft. Erschreckt und blaß saß Frau Franziska auf ihrem Stuhl, und ihre Augen standen voll Tränen.

Sie starrte gequält vor sich hin, und vielleicht ohne daß sie es wollte, kamen die Worte von ihren Lippen: »O Gott, soll das nun immer so fortgehen?«

Ihr gegenüber saß Herr Baldamus Eik von Eichen.

Er hatte sich mit keiner Silbe an dem vorhergegangenen Wortwechsel beteiligt.

Er liebte das Reden nicht und war zu korrekt für eine Einmischung. Er verabscheute Aufregungen und mied sie auch aus gesundheitlichen Gründen, – die wilden Jähzornsanfälle des Pflegevaters waren ihm höchst unsympathisch, und da er immer logisch dachte, so versuchte er jetzt, nachdem er mit großer Seelenruhe eine echte Importe in Brand gesetzt, seiner Pflegeschwester Franziska den einzig möglichen Schritt zur Vermeidung solcher Auftritte anzuraten.

»Tue Bertold von hier fort in eine Knabenpension,« meinte er in seiner leisen, lauernden Art, die immer sofort auf die Antwort horchte.

»Niemals!« war die rasche Erwiderung. »Mein Junge entbehrt schon den Vater in so jungen Jahren, mich soll er wenigstens behalten.«

[42]

»Hm.« – – Herr Baldamus bog sich etwas vor, um ihr besser in die Augen schauen zu können. »Und die Geige, – sein Wimmerholz – möchtest du ihm nicht fortnehmen? Dann wäre doch ein Stein des Anstoßes fort.«

»Aber auch seine einzige Freude,« rief Franziska leidenschaftlich.

»Ich denke, die einzige Freude bist du ?« fragte die verhaltene Stimme des Mannes.

Sie sah ihn jetzt ruhig an.

»Bertold, die Geige und ich sind eins,« sagte sie langsam und betonend. »Und wo man dies eine verjagt, da verjagt man uns drei.«

Das unsympathische Lachen, welches die kleine Liselotte so sehr empört hatte, tönte wieder zu der jungen Frau hinüber, aber heute war es nicht so meckernd, – heute schwang etwas anderes mit, ein Unterton, der Franziska erschreckte, denn sie kannte dies Lachen ihres Pflegebruders von ihren Kindertagen her; es sollte oft sein Temperament verbergen, das er immer sorgsam gezügelt hatte vor anderen.

»Franziska – – komm zu mir!«

Sie sah ihn ohne Verständnis an.

»Franziska!!!« Er war sachte aufgestanden und trat mit lautlosen Schritten zu ihr. »In meinem Hause hat dir niemand etwas zu verbieten, und ich will deinen Knaben und« – jetzt kam doch das meckernde Lachen, – »auch das Marterholz will ich schützen.«

[43]

»Wir schützen uns schon selbst.« Ganz ruhig klang es. »Vater ist maßlos in seinem Zorn, aber – ich habe ja auch gefehlt und muß es büßen.«

»Du sollst aber nicht büßen, und du willst mich nicht verstehn,« flüsterte eine heiße Stimme, »Franziska, – hör’ mich, komm, – Franziska – –«

Er bebte vor Leidenschaft und suchte sie in seine Arme zu ziehen. Ganz weiß war ihr Gesicht und eisigkalt Stirn und Hände, – sie war aufgesprungen und wich vor ihm weit ins Zimmer zurück.

»Ich bitte dich, mein Trauerkleid zu achten, das ich um meinen Mann trage,« sagte sie tonlos.

»Wie lange noch?« fragte er lauernd.

» Immer! «

Er sah aus, als wolle er sich auf sie stürzen, – – aber da klopfte es an die Tür, und Hieronymus Teichmann meldete, daß Herr Eik von Eichen senior die Frau Tochter zu sprechen wünsche und recht matt wie nach einem schweren »Anfall« in seinem Zimmer liege.

Teichmann brachte seine Meldung, wie immer, in Reimen vor, ohne aber eine Miene dabei zu verziehen.

»Alter Schwätzer!« murmelte Herr Baldamus, während Franziska hastig zum Vater eilte.

Hieronymus sah den jüngeren Eik ernst an, – es lagen tausend schwere Worte in diesem einen Blick. –



[44]

»Du wirst noch deine Stelle verlieren, Bruder,« meinte Fräulein Rektor klagend und hob eindringlich die rechte Hand, in der sie einen großen Holzlöffel hielt, von dem es unaufhörlich blutrot herabtropfte, ohne daß sie es merkte.

Sie kochte Saft in der Küche.

»So will ich sie lieber verlieren,« meinte Rektor Dillen ruhig, »aber es geht nicht so rasch mit dem Absetzen.« –

»Gott, dieser Leichtsinn in deinen alten Tagen! Und alles wegen so ’nem Bengel. Du hast ’n Narren an ihm gefressen, wie früher an seiner Mutter, und eines schönen Tages wird er auch durchgehen.«

»Das gehört hier gar nicht her.« Der Bruder war plötzlich sehr ernst geworden. »Und in meiner Schule habe ich zu sagen.«

Die Schwester lief ärgerlich in die Küche zurück, und auf dem Teppich in der Studierstube blieb eine kleine Blutlache vom Saftlöffel zurück, als Zeichen des harten Kampfes.

Sturm im Wasserglase.

Die Schwarzhausener litten durchaus das liebe, köstliche Plauderviertelstündchen nicht, welches Bertold mit Liselotte alltäglich pflegte, und sie machten der braven Rektorschwester die Hölle heiß und das Leben sauer. Aber Rektor Dillen lief wie eine brave Glucke um seine zwei Kücken herum und verscheuchte jeden [45] jungen Habicht, der es wagte, die beiden zu stören. Das tiefe, gute Lachen des Knaben und das altkluge Geplauder des Blondchens waren jetzt die Freude seines einförmigen, stillen Lebens geworden. Er wollte sie sich nicht rauben lassen durch Weibergeschwätz und Kleinstadtklatsch. – Er liebte den Eichenborn, er war mit dem Hause Eik verwachsen und mit ihm durch Höhen und Tiefen geschritten, trotzdem Jahrzehnte dazwischen lagen, seitdem er den Eichenborn das letztemal betreten.

Aber er war doch einmal ein Jemand gewesen, der in dem langen grauen Hause etwas zu sagen hatte, – der Hauslehrer des jungen stattlichen Baldamus von Eichen.

Aber der Volksschulmeister, der von früher Jugend an von jedem geduckt wurde, von vielen über die Achsel angesehen, die es wahrlich nicht nötig hatten, der spielte oft eine klägliche Rolle in dem Herrenhause.

Sein Brotgeber war der jähzornige Eichen senior , der damals noch nicht alt, dafür aber noch maßloser heftig war, als ihm jetzt die Leute andichteten, und sein Schüler war der schöne Pflegesohn, der sich nichts sagen lassen wollte von einem »Seminaristen«.

Und unbequem war es ja, daß auch Seminaristen helle, scharfe Augen haben und eine unbegreifliche Art, das Unrecht auch Unrecht zu nennen, selbst wenn es von reichen Zöglingen begangen wird.

Nun hätte der Seminarist Tüllen alias Dillen ja ruhig und unbehelligt alles von dem verwöhnten [46] Baldamus denken können, nur das laute Denken war sehr unvorsichtig von ihm.

Eik von Eichen senior verbat es sich auch einfach, denn trotzdem er den Lehrer Tüllen schätzte, so reichte das doch nicht an den Stolz und die Liebe, mit denen er an seinem Pflegesohn hing.

Baldamus Eik war schon als Knabe unfehlbar in den Augen seines Pflegevaters, der dem höchst anfechtbaren und zweischneidigen Wahlspruch huldigte: »Nun gerade!«

Unter den Schwarzhausener Bürgern waren keine Pestalozzis, und auch der junge Lehrer Tüllen war keiner.

Hätte er nur ein einziges Mal Herrn von Eichen senior als lohnendes Erziehungsobjekt angesehen und sich überlegt, daß er ihn mit seinem eigenen Wahlspruch schlagen und auf den richtigen Weg bringen konnte, – er hätte sich wahrhaft Verdienste erworben, – aber krumme oder schwachbeleuchtete Wege waren vor Herrn Lehrer Tüllens Augen verborgen, und er tat aus Gewissenhaftigkeit, was die Schwarzhausener aus Freude am Schelten und Nörgeln taten, er sagte Herrn von Eichen senior , daß sein Neffe Baldamus sich zum Schleicher und Taugenichts auswachse. Aber der Wahlspruch: »Nun gerade« ließ die Ankläger als grobe Lügner scheinen. Mut besaß der kleine Seminarist damals für zwei, das mußte man ihm lassen, doch nachdem sich Herr von Eichen von seiner Verblüffung über die [47] Dreistigkeit des Hauslehrers erholt, warf er ihn hinaus.

Das ließ sich Lehrer Tüllen auch gefallen, denn er war schmächtig und klein, und die Faust des alten Eiks hatte schon Stärkere geworfen, aber er ließ es sich nicht gefallen, daß Baldamus, sein Schüler, ihn auf offener Straße verhöhnte, sondern er verabreichte ihm eine ganz gepfefferte Ohrfeige vor allen Leuten, welche die Beleidigung angehört.

Diese Ohrfeige vergaß Baldamus nie, und auch Lehrer Tüllen hatte vollauf Ursache, sich stets ihrer zu erinnern, denn sie war sozusagen der Stein, über den er fortgesetzt in seiner Laufbahn stolperte, der Knüppel, der ihm ins Rad flog, der Balken, der sich vor jede Tür legte, durch welche er in ein besseres Amt schreiten wollte.

Schon hatte er sich es als das Beste ausgedacht, seine Heimat ganz zu verlassen, als sich etwas sehr Verwunderliches ereignete.

Die guten Schwarzhausener waren bibelfest, aber sie hielten sich zumeist an das Alte Testament, das gar kräftig »Auge um Auge, Zahn um Zahn« predigte, das Neue Testament mit dem Evangelium der Liebe war ihnen noch fremd.

Und so begriffen sie es niemals, daß Lehrer Tüllen ohne weiteres die rasenden Pferde aufhielt, welche das Gefährt des Baldamus und ihn selbst darin hinter sich herschleiften.

[48]

Arg zerschunden und zerrissen hing der Lehrer am Zügel des Handpferdes, das endlich zitternd stand, während der junge Herr Baldamus zwar blaß, aber nach dem bewährten Sprichwort: »Unkraut vergeht nicht«, doch völlig gesund aus dem Wagen kletterte, ohne seinem Todfeind ein Dankeswort zu gönnen.

Dafür dankte Eik von Eichen ihm mit der leitenden Stelle an der Rektorschule, und Lehrer Tüllen nahm sie ohne weiteres an. Hatte er doch eine alte, verwitwete Mutter und eine Menge halbwüchsige Geschwister zu unterstützen. Er nahm sie auch an, weil sein Herz ein energisches Veto gegen das Verlassen von Schwarzhausen einlegte, sein Herz, das gar nicht einmal mehr ihm gehörte, sondern der wunderlieblichen, ach so fröhlich-sonnigen Anna Teichmann, der Tochter des alten Hieronymus.

Er hatte sie schon als Kind geliebt, das Ännchen, und obgleich ihre Augen nachtdunkel waren, für ihn waren sie die Sonne.

Freilich war das Mädel viel jünger als er, aber er hatte sich innerlich jung, rein und herzwarm gehalten; der Vater Hieronymus liebte ihn, und das Ännchen vertraute ihm alle ihre Geheimnisse.

Nur das eine nicht, – – und er war doch jahrelang ihr treuester Freund, der nur auf ihren achtzehnten Geburtstag wartete, um die inhaltreiche Frage zu tun: »Hast du mich lieb, Ännchen?«

Zu spät, du dummer, gescheiter Herr Lehrer.

[49]

Denn an ihrem achtzehnten Geburtstage zog man Ännchen aus dem Mühlenteich, das kleine, liebevolle, vertrauende Mädel, das dem Lehrer Tüllen zu jung gedünkt hatte für die heilig-tiefe Frage – – –

Und wie er damals den rasenden Pferden in die Zügel fiel, so tat er es jetzt mit dem rasenden Vater Hieronymus, er nahm ihm den Revolver aus der Hand.

Schlaf ruhig, Ännchen!

Dein alter braver Vater soll nicht zum Mörder werden und – dein Liebster ist keinen Schuß Pulver wert.

Lehrer Tüllen betrat Haus Eichenborn nicht wieder.

Wenn er und Vater Hieronymus Teichmann sich begegneten, dann grüßten sie sich stumm mit schweren Blicken; gesprochen hatten sie nicht wieder miteinander.

Wie lange war das alles schon her!

Ewigkeiten!

Die Thüringer Edeltanne auf Ännchens Grab war schon ein stattlicher Baum, beinahe so stattlich, wie der Herr Baldamus Eik von Eichen. – – –

»Rektor Dillen« mußte jetzt manchmal dieser alten Zeiten gedenken, und er jagte nicht, wie früher, die düsteren Gedanken fort, sondern vertiefte sich in sie.

Denn er liebte den kleinen Bertold Malcroix und ahnte mit dieser Liebe, daß von dem glatten, korrekten, angesehenen und hochgeachteten Herrn Baldamus ein Unheil für den Knaben ausgehe.



[50]

Bertold und Liselotte saßen wieder im Grasgärtchen zusammen.

»Nun kommen bald Ferien,« lachte das Mädchen, »und dann kommt Hans.«

»Hans? Ist das dein Bruder?«

»O nein! Ein Vetter. Hans von Windemuth!«

»Wie komisch! Du bist doch nicht ›von‹!«

»Nein. Väterchen sagt, drei Buchstaben tun’s nicht, wenn’s nicht drin steckt.«

»Verstehst du das, Liselotte?«

»Ach – ich weiß nicht, ich denke nicht stark dran. Weißt du es denn? Du bist nur zwei Jahr älter als ich.«

Bertold reckte sich. »Zwei Jahre sind sehr viel. Ja, ich weiß, was dein Vater meint. ›Wenn man dumm und schlecht ist, dann kann einem der adlige Name nichts nützen.‹«

»Hans von Windemuth ist aber nicht dumm und schlecht.«

»O, den meine ich auch gar nicht. Erzähl’ mir von ihm, was ist er?«

»Kadett ist er. Schon beinahe Fahnenjunker. In Groß-Lichterfelde ist das Kadettenhaus.«

»Ist es ein guter Junge?«

»Hm – – ja – ich glaub’ – –«

»Klug?«

»Klüger als die meisten Menschen. Er weiß alles, das sagt er selbst.«

»Meinst du, daß er mich gern haben wird?«

[51]

»Aber natürlich. Du spielst ja Geige. Er spielt ja so prachtvoll Klavier, schon ganz rasend schwere Stücke. O, es ist zu fein, daß Hans kommt, dann können wir zusammen musizieren. Du Geige, – ich und der Hans begleiten dich abwechselnd – – –«

»Ja, das wird herrlich!« rief Bertold lebhafter, als es sonst seine Art war. »Du kannst mir nun jeden Tag von dem Vetter erzählen, damit ich ihn richtig kennen lerne. Und wenn er so furchtbar klug ist, dann will ich mich ordentlich auf die Hosen setzen.«

»Sitzt du denn nicht immer drauf, Bertold?«

Der Junge lachte. »Wie du ernsthaft fragst. Es ist nur so ’ne Redensart. Ich mein’ damit, ich will noch strammer arbeiten.«

Liselotte erhob Einspruch. »Das kannst du gar nicht, Bertold. Herr Rektor sagt, du wärst der Beste von uns allen.«

Bertold zuckte die Achseln. »Na weißt du, Liselott, viel gehört da nicht zu. Findest du nicht, daß die Kinder sehr faul sind?«

Liselotte zog ihr nachdenkliches Gesichtchen. »Weiß nicht. Aber es ist am Ende einerlei. Bertold, ich hab’ Sorgen, Puppe Emmy kommt gar nicht aus dem Fieber raus. Weißt du, die Base versteht gar nichts von Kinderkrankheiten, sie meint, Fieber käme nur vom Kopf, und Puppe Emmy hätte keinen, und deshalb könnte sie auch kein Fieber haben, aber das ist ja Unsinn. Wenn die Base ’ne Mutter wär’, wie ich, und an die vierundzwanzig [52] Kinder hätte, dann würde sie nicht so dumm reden. Was meinst du, Bertold?«

Der Knabe sah voll Ernst und Mitgefühl in das Gesichtchen der Spielgefährtin, das im Schmerz um die kranke Puppe einen ganz rührenden Ausdruck zeigte. Er hätte es um die Welt nicht vermocht, ihr einen wehtuenden Vortrag über kopflose Geschöpfe zu halten, trotzdem etwas in ihm sagte: »Sie ist doch ein furchtbar dummes kleines Mädchen.«

»Puppe Emmy ist schwer krank,« meinte er zögernd, »weißt du, Liselotte, wenn der Kopf fehlt, wirft sich alles aufs Innerliche – – –«

Sie nickte ernst und sah beruhigt aus. »Du hast recht, Bertold. Es wird eine Sägespänentzündung sein. Gott, was hat man für Sorgen mit seinen Kindern!«

Dann schritten sie wieder zum gemeinsamen Unterricht, und so vergingen die Tage und Wochen im gleichmäßigen Einerlei.

Aber doch nicht ganz.

Denn Bertold war die feierliche Erlaubnis zuteil geworden, in das Haus von Professor Windemuth zu kommen. Die Base war zwar noch immer von tiefem Mißtrauen gegen ihn erfüllt und überhaupt gegen alles, was von dem alten »Eik« abstammte, aber Liselotte war wenigstens beschäftigt, wenn sie mit dem Freunde zusammen war, und die Base konnte nichts Anstößiges entdecken, wenn sie einmal »revidierte«, was gewöhnlich in der Weise geschah, daß sie auf Filzpantoffeln [53] zu der Kinderstube schlich und mit einem ganz plötzlichen Ruck die Tür aufriß.

Weder Bertold noch Liselotte waren nervös, sie guckten manchmal kaum von ihrem Spiel auf, während die Base doch gewohnt war, bei derartigen Überfällen, z. B. der Dienstboten, diese mit glühend roten, arg verlegenen Gesichtern verschiedenes verbergen und fortpacken zu sehen. So ließ sie jetzt tagelang die beiden unbehelligt. Noch lieber freilich war es dem Bertold, wenn er zu Professor Windemuth ins Arbeitszimmer durfte. Im Gegensatz zum Großvater war der Gelehrte nicht wortkarg oder mürrisch und ernst, sondern ein herzensheiterer, mitteilsamer Mann, der mehr als einmal einen lustig sprühenden Humor zu Hilfe nahm und mit ihm gegen Base Juliane zu Felde zog. Für alle kleinen Herzensnöte seines Töchterchens hatte Professor Windemuth offene Augen und Ohren, und daher kam es, daß Liselotte die längst verstorbene Mutter gar nicht vermißte, vielmehr noch nie darüber nachgedacht hatte, was ihrem Leben eigentlich mangelte. Der Vater ersetzte ihr alles und nahm sie auch gegen allzu heftige An- und Übergriffe der Base kraftvoll in Schutz.

Der Professor hatte längst erkannt, daß seine kleine wilde Hummel nur gewinnen könne, wenn Bertold ihr Spielkamerad bliebe, es hatte ihm imponiert, daß der Junge streng das einstmalige Verbot, das Haus zu betreten, innehielt. Von wem er wohl diesen festen [54] Gehorsam hatte? Vom Großvater sicherlich nicht, der sich in seinem ganzen Leben noch niemandem gebeugt, und von der Mutter, die das vierte Gebot so wenig geachtet, daß sie bei Nacht und Nebel aus dem Hause entwich, um ihrem Liebsten zu folgen, doch sicher auch nicht.

Gewiß hielt der ehrenfeste Herr Baldamus von Eichen seine strenge Hand über den Knaben. Dieser Sproß des Hauses ging wenigstens seine geraden Bahnen, wie sie Schwarzhausen jedem seiner Bürger vorschrieb – – – sympathisch war er ja dem Professor nicht, aber das lag wohl mehr daran, daß Eik ein vollständiger Zahlenmensch war, während bei ihm, Professor Windemuth, das Herz öfter mal mit dem Verstande durchging. Vom weiblichen Einfluß hielt Professor Windemuth nicht viel. Seine eigene, früh verstorbene Gattin war ein hilfsbedürftiges Wesen ohne jede eigene Meinung gewesen, der Inbegriff aller zarten Weiblichkeit. Liselottes Geburt kostete ihr das Leben, und da ihre Nachfolgerin in Küche und Haus, Base Juliane, das genaue Gegenteil von ihr bildete, mürrisch, ungehobelt, lärmend, aber tüchtig und umsichtig schaltete, so nahm der Professor an, daß Frauenzimmer unberechenbare Geschöpfe seien, durchaus keine Logik und erwiesenermaßen anderthalb Lot Gehirn weniger besäßen.

Das alte Fräulein Adelgunde von Eichen aber, das am liebsten das ganze Deutsche Reich umhäkelt hätte, zählte überhaupt nicht mit.

[55]

Armer, kleiner Bertold!

So sollte er wenigstens ein klein wenig den Zuspruch eines gebildeten Mannes genießen. –

Vielleicht hätte sich das Schicksal dem jungen Bertold ein bißchen gnädiger erweisen sollen; es wäre so gut gewesen, wenn Liselotte ihr feines musikalisches Gehör vom Vater geerbt hätte, anstatt von der früh heimgegangenen Mutter, die ihren Gatten nun nicht mehr darauf aufmerksam machen konnte, daß da in unmittelbarer Nähe ein Genie steckte. Infolgedessen bekam Bertold keinen weiteren Unterricht und hatte nichts als die beinahe vergötternde Zustimmung von Brennstoff und Teichmann, bei denen er noch allabendlich musizierte, ein gelegentliches Melden beim Großvater, der aber den Enkel so wenig als möglich zu sehen wünschte, ferner einen täglichen einstündigen Besuch bei Tante Adelgunde von Eik und ihrer sprichwörtlichen Häkelei und – seine Mutter.

Frau Franziska Malcroix war so jung, so schön und – so ernst. Sie lebte nur für ihren Bertold, – sie erhob sich des Morgens um vier Uhr und blieb, nachdem sie abends neun Uhr mit ihrem Knaben gebetet, noch ein Stündchen in dem neben Bertolds Schlafstube befindlichen Zimmer, wo sie arbeitete und schrieb und auf die regelmäßigen Atemzüge ihres Einzigen lauschte. An den Tag, der ihr den Knaben nehmen und in das Gymnasium nach E. führen würde, dachte sie mit Grauen. Jetzt gehörte er ihr noch, [56] wenn sie auch mit leisem Schmerz fühlte, daß sie seine Liebe mit der kleinen Liselotte teilen müsse.

So handelte sie wie eine echte Mutter und nahm auch das Mädelchen noch an ihr Herz, – ja sie ließ die beiden kaum von sich, denn sie waren der sicherste Schutz gegen die Besuche ihres Vetters Baldamus. –

Franziska Malcroix hatte Angst vor ihm.

Sie konnte sich selbst nicht begreifen, denn sie war doch sonst so energisch und zielbewußt gewesen.

Sie hatte Angst vor Herrn Baldamus, wenn dieser auch ganz ruhig und scheinbar in ein interessantes Buch oder eine Zeitung vertieft in seinem Lehnstuhl saß, oder wenn er Bertold etwas erklärte, der seinen Wissensdurst stillte, wo immer er eine Quelle fand. Ja, sie hatte Angst, auch wenn er nur Bertolds Geige zur Hand nahm, – Angst, daß er das Instrument mit einem Griff seiner schmalen, weißen Hände zerbrechen könne. Sie hatte Angst, daß er irgendein Mittel besitzen oder ergreifen könne, sie zu zwingen, sein Weib zu werden.

Denn er war beinahe allmächtig in Schwarzhausen, das konnte sie täglich erfahren, und sie wäre wohl mit einem Male wieder angesehen in dem Städtchen gewesen, wenn sie plötzlich die Braut des hochmögenden Herrn Baldamus wurde.

Wie sie dieser Gedanke schauern machte und ihre Arme so fest um ihren Bertold legen ließ, ja er ließ sogar den Schmerz um den verachteten, toten Gatten [57] milder werden und die Liebe heller leuchten, die doch die Vergangenheit geheiligt hatte.

Merkwürdig war es, daß der Vater, Herr Eik von Eichen senior , sich in keiner Weise in die Angelegenheiten des Pflegesohnes Baldamus mischte, – er, der die Tochter einst verstieß, weil sie diesem Pflegesohn einen Korb gab um eines Unwürdigen willen.

Die Liebe der Schwarzhausener hatte Herrn Eik senior kopfscheu gemacht. »Nun gerade!« war und blieb sein Wahlspruch, und der Pflegesohn sank um so viel Grade in seiner Wertschätzung, wie er in der seiner Vaterstadt stieg. Die verachtete Tochter aber kam dem alten, verbitterten Vaterherzen wieder näher, während der Junge, der Bertold, weit, weit von ihm abrückte, denn von diesem Knaben erzählten die Leute Wunderdinge; und besonders Rektor Tüllen und Hieronymus Teichmann taten sich in begeisterten Lobeserhebungen hervor.



Und nun kamen die Ferien, und Hans von Windemuth, der Herr Fahnenjunker, zog in Schwarzhausens Hallen ein.

»Das ist also Hans?« fragte sich selbst Bertold von Eiken, der mit einer Mischung von begeisterter Erwartung und leiser Eifersucht der Bekanntschaft entgegengesehen hatte.

»Das ist Hans!« bestätigte strahlend Liselotte [58] Windemuth, und der Herr Fahnenjunker brauchte gar nichts zu sagen, dem sah man das stolze Bekenntnis schon auf drei Schritte weit an: » Ich bin Hans von Windemuth! «

Die dreiundzwanzig Puppen wurden in die tiefsten Tiefen des Schrankes versenkt und Puppe Emmy ohne Kopf ganz besonders fest und weitab verstaut, denn der Fahnenjunker fand sie »scheusälig«. Bertold wunderte sich über all diese Dinge, wunderte sich auch, daß Liselotte so fröhlich und gleichmütig blieb und nur leise ihm zuflüsterte: »Weißt du, Bertold, die Puppen verreisen jetzt ins Bad, und Puppe Emmy kommt zu einem Kopfspezialisten. Wenn dann Hans abgereist ist, holen wir die Puppen wieder von der Bahn ab, und dann spielen wir weiter.«

»Puppe Emmy hat dann aber immer noch keinen Kopf,« gab Bertold zu bedenken.

»O, ich hab’ mir das alles überlegt,« meinte Liselotte. »Dann ist eben die Operation nicht geglückt, – es kommt oft vor bei großen Leuten, nur daß ich eben meine süße Emmy nicht sterben lasse.«

Liselotte sah ernsthaft und wichtig aus; dann zog sie Bertold mit sich nach Hause in das große, tiefe Zimmer, in welchem der prächtige Bechsteinflügel stand, und sagte: »Nun wirst du gleich nicht mehr an die Puppen denken, denn Hans will uns vorspielen.«

Der Fahnenjunker betrachtete etwas spöttisch seine gespannt dasitzende Zuhörerschaft, – die kleine, strahlende [59] Base, den ernsthaften Jungen und die Base Juliane, welche Tränen vergoß, wenn er den »guten Mond«, den »schönen Schweizerbub« oder »das Gebet der Jungfrau« vom Stapel ließ, während sie bei Chopin und Grieg in der Stube herumwirtschaftete, mit Scheren und Fingerhüten, Messern und Gabeln, Gläsern und Tellern viel Spektakel vollführte und schließlich türschlagend das Zimmer verließ.

Hans von Windemuth war ein künstlerischer Dilettant.

Die schwersten Sachen perlten unter seinen weißen, wohlgepflegten Händen, Grieg und Schumann, Chopin, Liszt, er spielte sie alle herunter, und Bertold und Liselotte starrten ihn an, als sei er etwas ganz Unglaubliches.

Das gefiel dem jungen Krieger über die Maßen.

»So, nun spielt ihr,« meinte er gnädig und überließ seinen Platz am Flügel der kleinen Base.

Aber sie kam nicht zum Spielen, denn die Tür war mit leisem Klapp hinter Bertold zugefallen, – er ging ohne Abschiedswort.

»So ist er nun,« klagte Liselotte. »Du hast zu schön gespielt, dann kann er immer kein Wort sagen.«

»Er hat keine Manieren,« meinte Hans von Windemuth streng.

Bertold aber war nach Hause gelaufen, hatte seine Geige aus dem Kasten gerissen, und in den tiefsten Tiefen des Riesenkleiderschrankes ließ er das, was [60] seine Seele bewegte, ausklingen. Dann stieg er langsam aus dem Schranke heraus, sah sich vorsichtig um und huschte in das Zimmer von Hieronymus Teichmann.

»Gott steh’ mir bei und soll mich bewahren, Büblein, was ist in dich gefahren?« fragte dieser erschrocken, als er den blassen Jungen sah.

»O Teichmann, – Teichmann –« murmelte Bertold.

»Du siehst ja aus, als wolltst du versaufen, – welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?«

Ein stoßweises Schluchzen brach aus der Brust des Knaben.

»Teichmann, er verhunzt mir den Grieg – –«

»Büblein, – wo soll Krieg sein?«

»Ach, Teichmann, ich meine ja den Komponisten, – – der Hans von Windemuth spielt ihn und verhunzt ihn, ich kenne ihn nicht wieder, – – hör’ nur mal, Teichmann – (Bertold nahm hastig die Geige und fuhr mit ein paar Strichen darüber hin) – hör’ nur, das Grollen und Stöhnen der Nordsee, das Kreischen der Möwen, die Klagen des Mädchens – – o und so spielt er das, – – Teichmann, ich kann das nicht mit anhören, und die Liselotte ist doch ganz begeistert.«

»Büblein, ich kann dich nicht recht verstehn, – Grieg? sagst du, oder wer und wen?«

»Teichmann, du wirst doch den großen Grieg [61] kennen? Kantor Brennstoff hat dir doch so viel von ihm vorgespielt.«

Der Alte strich sich besinnend über die Stirn.

»Den großen Grieg, sagst du? Ich kenne nur einen Großen, das ist der alte Beethoven. Schweig’ still, Büblein, sag’s dem Brennstoff nicht, er zieht dann gleich so’n närrisch Gesicht, – er steckt so ganz im Wagner drin und, weiß es Gott, ich lieb’ auch ihn , aber sie sind nicht zu vergleichen. Ob der eine den andern mag erreichen, – ich weiß es nicht, mich kümmert’s nicht. Nur eins tu’ ich mir ausbedingen, zu jedem Tag, zu jeder Stund’, man soll mir immer den Wagner singen, so lange ich lebe und bin gesund. Aber in Krankheitstagen, in bangen, will ich nach meinem ›Großen‹ langen, – und die Fünfte Symphonie führ’ mich zur ew’gen Harmonie.

Büblein, was schaust du mich so an?«

Bertold sah in der Tat ganz selbstvergessen in das Gesicht das alten Faktotums.

»Rektor Dillen fragte heute, ob wir schon mal ’n Dichter gesehen hätten – – –« antwortete er stockend, »und da riefen wir alle ›nö‹, aber nun, – aber nun, – bist du ein Dichter, Teichmann?«

Der alte Diener sah sehr ärgerlich aus, weit ärgerlicher und grimmiger, als er eigentlich war, denn er war in der Hauptsache verlegen.

»Ein Dichter! Wie kann ein kluger Junge so dummerhaft fragen! Schiller, Goethe, Lessing und [62] Uhland sind Dichter, und dann die Loreley und die Wacht am Rhein und Heil dir im Siegerkranz, verstanden?«

»O, Teichmann, jetzt hast du nicht ein einziges Mal gereimt, wie kommt das?«

»Junge, du bist genau wie deine Mutter war, – die fragte mich auch immer das Blaue vom Himmel runter. Ich kann dir aber nichts Gescheites antworten. Das kommt eben vom Himmel geflogen, daß es dann so mit den Wörtern paßt.«

»Aber nun, Teichmann, aber nun? Es paßt ja gar nicht – – –«

»Weil ich in Wehmut und Aufregung bin, Bertold. Dann verliert sich das. Sobald milde Denkart eintritt, kommt das andere so sachtchen mit, ich merk’ es freilich selber nicht, Freund Brennstoff steckt mir auf das Licht, und Thereschen freundlich auf mich blickt und sagt: Mein Teichmann, du bist verrückt.«

Bertold lachte.

»Wie einem gleich froh ums Herz wird, wenn man bei dir ist, Teichmann. Ich war ganz unglücklich und zerschlagen vorhin. Vielleicht ist auch Grieg zu schwer und wunderlich. Er dürfte nur von musikalischen Menschen gespielt werden. Gelt, Teichmann, du verstehst mich doch, daß ich das so einfach sage? Klingt es sehr eingebildet? Denn ich spiele ja Grieg – o so gern!«

»Musik ist eine Gottesgabe. Ich kann nichts dafür, [63] daß ich sie habe, und dir geht es ebenso, sei darüber ganz ruhig und froh!«

»Sieh, Teichmann, weil der Grieg so leicht aussieht , da meinen alle, sie könnten ihn spielen, und mein Vater sagte – – –: ›Das kleinste lyrische Stück von ihm sollte man erst einmal ein Jahr lang durch leben , ehe man wagte, es mit einem Instrument anzufassen‹.« –

Teichmann antwortete nicht. Vielleicht verstand sein einfacher Sinn nicht diese Tiefe der Auffassung, – aber sein feines Gefühl spürte aus den Worten des Knaben und aus der Art, wie dieser den Vater erwähnte, die grenzenlose Verehrung, welche dem verachteten Toten bewahrt wurde. Und mit einem Male fühlte er auch, daß das Leben dieses jungen Menschenkindes ein Dornenweg sein würde, voll Stacheln, voll Lieblosigkeit und Häßlichkeiten, wie der seiner Mutter. Und das Ende des Dornenweges?

Teichmann schüttelte seinen grauen Kopf. »Was kümm’re und vergrübel’ ich mich? Da oben ist einer klüger als ich.«

»Was murmelst du da, Teichmann? – Wenn sie nun morgen wieder mit mir spielen wollen, und ich kann es doch nicht mit anhören?«

»Ich will dir etwas sagen, Bertold.« Der alte Mann geriet in Begeisterung. »Du nimmst Beethoven mit. Ganz einfach Beethoven! Und den spielt ihr! Himmelherrgott, – den können sie einfach nicht verhunzen, [64] – sie können’s nicht. Der bleibt immer Beethoven, – verstehst du, Sohn? Und wenn sie ihn dreschen und hacken oder schludern und verludern, – Junge, er bleibt Beethoven. Das ist einer, das ist einer!«

»Teichmann, du hast wieder nicht gereimt!«

Der Alte sah den Knaben starr an.

» Das hörst du? Auf solchen Kram achtest du, wenn ich von dem Großen rede? Schäm’ dich, Bertold! Und könntest du irgendeinen Reim auf Beethoven finden? Ich nicht! Schäm’ dich, Bertold!«


Drei ganze Tage ließ Bertold dahingehen, ehe er sich den Spielkameraden wieder zugesellte.

Aber diese drei Tage dünkten ihm Jahre. Frau Franziska sah bekümmert auf ihren Jungen, der mit großen Augen sehnsüchtig aus dem Fenster schaute in der Richtung, in welcher man den Giebel des roten Windemuthhauses erblickte.

Die leise Eifersucht regte sich wieder in ihrer Brust. Drei Tage war ihr Junge verändert und scheu, bis sie selbst ihm zurief: »Du warst so lange nicht bei Liselotte, habt ihr euch gezankt?«

Da leuchtete sein Blick. »Mutter, – ich gehe! Darf ich lange bleiben? Ich nehme die Geige mit! Mutter, und Beethoven nehme ich mit. Den können sie mir nicht verhunzen! Den nicht! Teichmann hat’s gesagt.«

[65]

Frau Franziska strich sanft über sein dunkles Haar.

»Du Wilder! Geh nur – geh! Sei brav! Und kehr’ mir gesund wieder!«

Ihre eigenen Worte hallten in ihr nach, als sie ihrem Jungen nachblickte, wie er mit dem Geigenkasten dahinschritt durch die Eichenstraße und immer wieder zurückwinkte nach der Mutter.

Er war doch ihr Junge.

Du Wilder! Sei brav! Diese Worte sprach ihr Herz und ihr Mund täglich unzählige Male und hatte sie gesprochen beinahe von dem Tage an, da man ihr den Knaben zuerst in die Arme gelegt hatte.

Denn vom ersten Atemzug an war er ein ungebärdiges Büblein gewesen. Als der Verstand kam, wurde er merkwürdig still, nachdenklich und ernst. Aber daneben wucherte ein Kräutlein auf, das giftige, verderbliche, zerstörende Erbteil der Eik von Eichens , – der Jähzorn.

Wie Franziska Malcroix diesen Jähzorn haßte! Die Chronik des Hauses war erfüllt von Beispielen seiner unheimlichen Macht über die Eiks.

Er überschlug aber immer eine Generation.

So war sie selbst verschont geblieben von diesem unseligen Temperament, das ihren Vater bis zur Sinnlosigkeit beherrschte und einen gehaßten, gefürchteten, gemiedenen Mann aus ihm gemacht hatte.

Aber ihr Junge, ihr lieber Trost, ihr ein und alles, den sie herausgerettet aus einer tief unglücklichen Ehe, [66] welche der Tod zur rechten Zeit noch getrennt hatte! Sie hatte schon geglaubt, daß das böse Erbteil vor ihm haltmache, hatte dankbar die Hände gefaltet, daß ihr Sohn weder den haltlosen Leichtsinn seines Vaters, noch den lodernden Jähzorn des Großvaters geerbt, hatte sich in der Sicherheit gewiegt, daß ihm ein gütiges Geschick nur die heilige Wahrheitsliebe und den eisernen Fleiß der Eik von Eichens in die Wiege gelegt habe – bis vor drei Jahren.

Ja, so lange war es her.

Da hatte sie an einem heißen Nachmittage arbeitend am Fenster gesessen, ihr Mann war wieder einmal auf »Kunstreisen«, von welchen er immer haltloser denn je und oft in zweifelhafter Gesellschaft heimkehrte, – – ihre Gedanken weilten bei dem Fernen, dem sie von Tag zu Tag fremder wurde, – da hatte sie gellendes Kindergeschrei gehört und war auf die Straße gestürzt, ohne Hut, ohne Tuch, wie sie gerade war.

Zur rechten Zeit kam sie, um Bertolds kleine, feste Fäuste aus dem dunkeln Schopf eines Spielkameraden loszulösen, aber ganze Büschel Haare blieben trotzdem in der Hand des Raufenden.

Frau Franziska hatte entsetzt in die entstellten Züge ihres Knaben gesehen.

Dunkelrot das kleine Gesicht, schneeweiß die Lippen und die Nasenspitze, und die Augen sprühend vor Zorn.

»Er liegt, Mama, er liegt!« Mehr konnte der Junge nicht hervorkeuchen.

[67]

Ja, das war der Eiksche Jähzorn.

Eine Menschenmenge hatte sich damals angesammelt, o sie wußte es so genau noch. Der Vater des gemißhandelten Jungen war dazu gekommen und hatte von »Zwangserziehung« gesprochen. Böse Reden waren gegen sie und Bertold geflogen – – welche Schmach für die feinfühlige Frau!

Und ihr kleiner, guter, stolzer Junge!

Als die lodernde Aufregung nachließ, weinte er bitterlich und war ganz krank. Es hatte sich um eine Kinderei gehandelt, um eine Unwahrheit, wie sie unter Kindern im täglichen Spiel oft vorkommt, aber dem streng wahrheitsliebenden Jungen war sie unerhört erschienen.

An all dies dachte Frau Franziska und dachte auch an die große Ähnlichkeit zwischen Großvater und Enkel.

Zug für Zug glich der junge Bertold dem alten Bertold.

Nichts hatte er von seinem Vater bekommen, als etwa die dunkeln Augen, die bei Lotar Malcroix aber übermütig gestrahlt hatten, während Bertold gewöhnlich ernst dreinschaute.

Auch die große Figur und die kerzengerade, aufrechte Haltung würde er gleich dem Großvater haben, ebenso die dichten, schöngeschwungenen Augenbrauen, den energischen Mund und – – den Jähzorn.

An all dies dachte Frau Franziska, als sie ihrem [68] fröhlichen Knaben nachschaute, wie er federnden Ganges mit seiner geliebten Geige dahinschritt, und an all dies dachte sie, als er nach kaum einer halben Stunde totenblaß zu ihr ins Zimmer zurückkam und sich vor ihr auf die Knie warf, den wirren Lockenkopf in ihren Schoß drückte und nur immer wieder stammelte: »Mutter, ach Mutter!«

»Was war geschehen?« So fragte sie sich selbst, als sie nur einen Augenblick in das verstörte, gramvolle Gesicht ihres Buben geschaut hatte, das so traurig, so krank aussah, daß sie die Frage gar nicht laut stellen mochte.

»Mutter, ach Mutter!« Wieder ein wehes Aufschluchzen.

»Werde ruhig, mein Herzensjunge!«

»Ich kann nicht ruhig werden, nie wieder, Mutter! Mutter – sag’ – ist es wahr? War der Papa, – mein Papa, – – sie sagen, er wäre ein Schuft gewesen.«

Das Gespenst! Da stand es wieder vor Franziska Malcroix und grinste sie an. Es würde nie verschwinden, das wußte sie. Und ob sie fliehen würde weit über die lieben Thüringer Berge, das Gespenst ihres befleckten Namens würde neben ihr schreiten oder hinter ihr drein laufen und sie immer wieder einholen.

Frau Franziska weinte bitterlich. »Mein Junge, mein armer Junge!«

[69]

Bertold strich sich die feuchten Locken aus dem verweinten Gesicht und sah die Mutter an. »Du sagst nichts, Mutter? Ist es wahr?«

Ihre Augen sahen über ihn hinweg ins Weite.

»Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!« sprach sie laut und hart, und dann schlossen sich ihre Lippen fest. Ein unendlicher Jammer lag in ihren Augen, und Bertold fühlte, daß er nicht fragen, daß er nur trösten müsse.

Seine Arme umschlangen sie fest, und so saßen Mutter und Sohn schweigend mit ihren übervollen Herzen.

Die Abendsonne stahl sich herein und wob überall lichte Kränzlein: das eine legte sie um Bertolds dunkeln Lockenkopf, der an der Brust seiner Mutter ruhte, ein anderes flimmerte an dem Rahmen, der ein Pastellbild des alten Eik von Eichen aus seiner Knabenzeit darstellte, ein drittes tanzte auf Bertolds poliertem Geigenkasten.

Und als die Sonne unterging, ließ sie das Licht dieser drei Kränzlein in den Herzen von Mutter und Sohn zurück. –

Franziska küßte die Stirn des Knaben.

»Erzähle mir alles,« bat sie.

Bertold bettete seinen Kopf wieder fest an ihre Schulter.

»Mutter, sie spielten wieder Grieg, als ich hinkam, die Ballade, die – – die Väterchen noch vor [70] seinem Tode mit uns aus der Partitur las, – oh – weißt du noch?« Die Erinnerung überwältigte das Kind förmlich.

»Ich weiß,« flüsterte Frau Franziska.

»Ich hatte die Hände an den Ohren, denn ich konnt’s nicht ertragen, wie der Hans von Windemuth alles herunterspielte, – du weißt ja, wie Vater so eine Technik haßte, die nur Technik war. Irgend was spielte Hans, nur eben Grieg war es nicht. – Dann sollte ich sagen, es sei herrlich gewesen, die Liselotte verlangte es. – Ich rief nur immer, der Hans spiele sehr schön und fertig, und das war ihnen denn auch genug. Dann legte ich still den Beethoven auf das Pult, – es war nur der Auszug aus Vaters Lieblingssymphonie, – wir spielten es zu deinem letzten Geburtstag zusammen, und du sangst uns damals die Worte dazu: ›Still sank der Abendsonne Gold hinunter an das Himmelszelt, in Abendfrieden süß und hold ruht um uns her die ganze Welt‹ – – –«

»Mein Junge!« stöhnte Franziska, denn alles Leid und alle kargen Freudenstunden der Vergangenheit wurden in diesem Liede lebendig.

Bertold hatte den Kopf aufgerichtet und sah jetzt mit leuchtenden Augen in den dämmernden Abend.

Sein Kindergesicht sah reif und ernst aus, als habe die Hand des Schicksals heute darüber gestreift und die harmlose Freude daraus mitgenommen.

»›O wohnte doch im Herzen mein so tiefer Friede [71] für und für; mein Gott, laß mich dein Eigen sein, den Frieden find’ ich nur bei dir!‹ Mutter, – als du das sangst, da hielt uns Vater beide umschlungen und war so gut, so gut – –«

Bertold drückte sich wieder fest in den Arm der Mutter, als könne dieser allein ihm Schutz gewähren vor dem Furchtbaren, das heute auf ihn geschleudert worden war. –

Und die Mutter hielt ihn fest, so fest – aber sie schwieg.

Dies Kindergemüt war ihr zu heilig, zu zart noch, um es auch nur schattenhaft ahnen zu lassen, wie furchtbar sie unter dem genialen Künstler Malcroix gelitten, wie selbst die härtesten Beschuldigungen, die fremde Menschen aussprachen, noch nicht die Wirklichkeit erreichten – – –

Der Knabe schrie plötzlich weh auf, und seine Fäuste ballten sich.

» Ein schlechter Kerl! Mutter, – Mutter – einen schlechten Kerl nannte ihn der Hans, und die Liselotte nickte dazu, – ja Mutter, das tat sie. Und ich hatte ihnen doch nichts zuleide getan, – – war nur ein paarmal aufgesprungen und hatte gerufen: › Es , es , um Gottes willen es ‹, – kannst du dir vorstellen, Mutter, daß der Hans e spielte in As-dur ? Da lachten sie über mich, und das machte mich so wütend; und immer mehr lachten sie, und dann verhunzten sie den Beethoven weiter – – – und Teichmann [72] hatte doch gesagt – – – es ginge gar nicht – – – da riß ich Hans die Geige aus der Hand und schlug – – –«

»Bertold!!!«

Der Knabe war aufgesprungen, – starrte seiner Mutter ins Gesicht, und es war, als käme er durch ihren Ruf erst langsam zur Besinnung. Langsam strich er sich über die Stirn. »Mutter,« stammelte er, »ich glaube, ich habe ihn sehr geschlagen, sehr , Mutter, – er gab ja dem Beethoven Schimpfnamen, und dann – dir – und dann – – dem Vater – – ich solle nicht mit ihm prahlen, – er sei ein großer Künstler gewesen, aber ein schlechter Kerl, – ein ganz, ganz schlechter Kerl – – –«

»Schweig!« rief Franziska außer sich. »Du sollst das Wort nicht sagen, ich kann es nicht hören.« Sie schüttelte ihren Knaben in Zorn und Weh und hielt ihn dann doch wieder umschlungen, ihren Einzigen, – ihren Augen- und Herzenstrost.

So brach die Nacht herein über den beiden, – die große Trösterin.



Nur mit einem aufgescheuchten Wespennest konnte man anderntags Schwarzhausen vergleichen.

Es war ganz unerhört, was geschehen war.

Der Wagen des Herrn Kreisphysikus Dr. Hempel hielt vor Professor Windemuths Hause, und Dr. Hempel [73] selbst hatte beim üblichen Abendschoppen im »Weißen Roß« sehr freimütig erzählt, daß der kleine schwarze Satan, Bertold Eik von Eichen, alias Malcroix, dem hübschen Fahnenjunker Hans von Windemuth die Geige buchstäblich auf dem Kopfe zerschlagen habe. »Kaput, – ganz kaput!«

»Um Gottes willen, der Kopf?«

»Nein, die Geige.«

Und wieder sprach man von Zwangserziehung und »Rauhem Haus«, wieder erörterte jeder Vetter und jede Base, vom Bürgermeister an bis herunter zum Nachtwächter, daß der Knabe erblich belastet sei, und daß es wohl nur ein Mittel gebe: eine feste Hand und gebietende Persönlichkeit über ihn zu setzen, und für die Schwarzhausener konnte diese Persönlichkeit nur Herr Baldamus Eik von Eichen sein, dessen Zuneigung für Frau Franziska stadtbekannt war. Aber würde seine Liebe groß genug sein, um sich aufzuopfern für eine Frau mit beflecktem Namen und mit einem mißratenen Buben, wie dieser Bertold war?

Der eine ganze Stadt durch sein bisheriges Wohlverhalten und Ehrbarkeit getäuscht hatte?

Der schon an seinem letzten Aufenthalt reif für eine Besserungsanstalt gewesen war und dessen schlechter Charakter noch gerade zeitig genug zum Vorschein kam?



Das Haus Windemuth konnte die Zahl der teilnehmenden [74] Frager kaum fassen, – freilich sah der Professor immer aus, als nähme er am liebsten die Mitbürger beim Kragen und würfe sie zur Tür hinaus; aber man hielt sich an Base Juliane, die bereitwillig und ausführlich die Schreckensszene immer wieder schilderte und stundenlang schwatzend vor der Haustür stehen konnte. »Zerrissen und zerschunden sei das hübsche Gesicht des Fahnenjunkers,« berichtete sie, »und die Kopfhaut an zwei Stellen genäht, und die wertvolle Geige – – –«

»Sei sofort vom alten Herrn Eik von Eichen ersetzt worden, und zwar durch eine weit wertvollere,« war hier Hieronymus Teichmann eingefallen, der gerade vorbeiging und sich ausnahmsweise und nur zum Steuer der Wahrheit in die Verhandlung mischte.

»Nun ja freilich – ersetzt,« murrte Base Juliane, »als ob damit alles abgetan sei! Der Hieronymus Teichmann war eben Partei. In seinen Augen, das wußten alle, waren die Eik von Eichens geborene Engel, und sie hätten auch einen Raubmord begehen können, Teichmann würde doch noch Entschuldigungsgründe für seine langjährige Dienstherrschaft gefunden haben.«

Aber man wollte in Schwarzhausen nicht so lange warten, bis etwas ganz Schreckliches durch diesen Bertold Malcroix geschah; man wollte den Brunnen zudecken, ehe das Kind hereinfiel, und da man nicht den Mut hatte, zum alten Eik zu gehen, der nun doch einmal die meisten Steuern zahlte, und ihm zu sagen: »Nimm [75] dein Enkelkind aus der Schule heraus, es stört da unsere sorgfältig erzogenen Sprößlinge«, so bearbeitete man eben jene sorgfältig Erzogenen, und diese isolierten den Bertold.

Er fand sich immer allein, beim Spiel und beim Lernen, beim Plaudern, beim Stillsitzen und beim Frühstücken.

Während der ersten Tage nach jenen bösen Jähzornsstunden fehlte Liselotte ganz in der Schule. Der Anblick ihres leeren Platzes gab dem Jungen immer einen Stich ins Herz, mehr noch die kummervollen Augen des Rektors Tüllen, zu welchem die aufgebrachten Schwarzhausener gesagt hatten: »Entweder der jähzornige Bengel geht, oder wir nehmen unsere Kinder fort.« Es war verlorene Liebesmühe des braven Rektors gewesen, daß er alle guten Seiten des Knaben hervorgehoben hatte; man machte die Frage einfach zu einer Existenzfrage für den Rektor und seine brave Schwester.

Als Liselotte zum ersten Male wieder in der Schule erschien, hatte sie etwas Merkwürdiges mitgebracht, ein längliches, sauber zusammengeschnürtes Paket, das sie hastig unter die Bank steckte.

Erst als die lange Pause kam, holte sie das Päckchen vor und begab sich mit ihm nach dem Grasgarten. Bertold folgte ihr dorthin, wie er es ja immer getan hatte, ehe er sich durch sein strafwürdiges Verhalten die Pforten zum Paradiese verschloß.

Und ein Stück Paradies war ihm das Windemuthhaus [76] gewesen. – Die ganze Klasse wollte den beiden nachstürmen, aber Rektor Tüllen stand sozusagen mit feurigem Schwerte vor der kleinen, grün angestrichenen Tür, die zum Grasgarten führte, und sein Lineal, mit dem er wild umherfuchtelte, glänzte leuchtend in der Sonne. »Weg da,« rief er und scheuchte die Neugierigen fort, »in das Grasgärtchen dürfen nur die besten Schüler.«

Das war die Wahrheit, und das half auch. –

Liselotte setzte sich, Bertold stand vor ihr mit bekümmerter, ernster Miene. Liselotte hatte das Paket auseinandergeschnürt, und nun lag »Puppe Emmy ohne Kopf« auf ihrem Schoß.

»Liselotte, bist du böse mit mir?« begann Bertold das Gespräch.

Das kleine Mädel schaute nicht auf, ihre Augen guckten nur die Puppe an, und dann erwiderte sie:

»Sieh mal, liebe Puppe Emmy, ich darf doch nicht mit dem bösen Bertold sprechen, weil er ein schrecklicher Bengel ist. Nun habe ich dich mitgenommen, und du kannst ihm alles sagen.«

Der Schatten eines Lächelns flog über des Knaben Gesicht, als er die List der kleinen Evastochter verstanden, aber es war nur ein Augenblick, dann fragte er ganz ernst: »Puppe Emmy, ist Liselotte Windemuth mir böse?«

Und die kopflose Puppe Emmy besaß ein furchtbar erregtes Stimmchen, das antwortete: »Gräßlich böse [77] ist Liselotte, und aus und vorbei ist’s. Hans von Windemuth ist ganz schwach und dösig, er hat so schauderhaft geblutet und liegt immer noch zu Bett. Nie darfst du wieder zu Liselotte kommen, – du wärst ein Rowdy, hat Vater gesagt. Und wenn du wieder Geigen zerschlügst, solltest du lieber deine eigene Geige an deinem eigenen Kopf zertrümmern.«

»Meine Amati!« stammelte Bertold.

»Jawohl, deine Amati,« bestätigte Puppe Emmy ohne Kopf ungerührt. »Und es ist eine ganz schreckliche Geschichte. Hans wartet jetzt bloß, bis du ein Mann bist, dann fordert er dich zum Duell, hat er gesagt, und schießt dich tot.«

Bertold wollte laut rufen, daß er doch auch dabei den Hans totschießen könnte, aber sein Gerechtigkeitsgefühl verbot es ihm, und im Bewußtsein seiner Schuld senkte er tief den Kopf.

»Darf ich auch nicht, bis ich tot bin, mit Liselotte spielen?« fragte er zaghaft.

»Nein,« lautete Puppe Emmys unbarmherzige Antwort. »Die Liselotte mag auch gar nicht. Alle Leute sagen, du wärst so ein Zornnickel, daß man seines Lebens nicht sicher wäre.«

In Bertold begann sich schon wieder etwas zu regen, – es stieg ihm heiß ins Gesicht, und Tränen des Zorns füllten seine Augen.

»Wie die Nachtwächter habt ihr Beethoven gespielt,« [78] brach er leise grollend los, »und dann nachher – – –«

»Wenn es doch aber wahr ist –« eiferte Puppe Emmy und stürzte sich in des Wortes vollster Bedeutung unüberlegt und »kopflos« in eine höchst gefährliche Situation, – »dein Vater hat doch auch –«

»Schweig!« schrie Bertold und sah mit seinen erhobenen Fäusten so schreckenerregend aus, daß Liselotte einen gellenden Schrei ausstieß.

Auf diesen Ausbruch lief sofort Rektor Tüllen herbei, und auch seine Schwester kam aus der Küche gelaufen, und die übrigen Kinder verließen ihre Spiele und schauten neugierig in das verbotene Gebiet des Grasgärtchens.

Da stand der Junge, der beste Schüler, der seit wenigen Tagen das schwarze Schaf des Städtchens war, mit rollenden Augen und knirschenden Zähnen, aber in Gegenwart des Herrn Rektors fürchtete sich Liselotte nun nicht mehr. Sie raffte Puppe Emmy an sich, nestelte an ihrer Tasche, die sich ziemlich dick und auffällig unter ihrer Schulschürze bauschte, und dann flog etwas vor Bertolds Füße, und noch etwas und noch etwas.

»Da! – da! und da!« rief diesmal nicht Puppe Emmy, sondern Liselotte, die ebenso blaß war, wie ihr ehemaliger Freund rot; und alle Schwarzhausener Kinder sahen mit Genugtuung, daß hier eine von ihnen längst geneidete Freundschaft in Stücke ging.

[79]

Unzählige Bildchen flatterten zur Erde vor Bertolds Füße, viele seltene Steinchen, getrocknete Vierkleeblättchen und bunte Glaskugeln – lauter Sachen, die Bertold ach so mühselig einst gesammelt und der kleinen, geliebten Freundin dargebracht hatte. Auch seine wertvollsten Marken waren darunter und selbstgezeichnete Bildchen – – es lag nun alles im Kies des Grasgärtchens, und viele schmutzige Kinderhände bückten sich danach und schlugen sich darum. – – –

Totenblaß, aber mit hoch erhobenem Kopf schritt der Knabe über all die verschmähten Liebesgaben hinweg, die Hände hatte er tief in den Taschen vergraben, seine Augen schauten geradeaus – – – so ging er zur Schultür und zum Hause hinaus, ohne sich nur ein einziges Mal umzusehen.




Zum erstenmal seit ungezählten Jahren stand Rektor Tüllen wieder im Hause Eichen vor dem alten Herrn, der einst sein Gönner und Brotgeber gewesen war.

Und daran, daß er dort wirklich wieder stand, konnte der Rektor die Kraft der Liebe ermessen, die ihn mit seinem kleinen Schüler verband.

Diese Kraft allein hatte ihn über die Schwelle des Hauses gezogen, aus dem er einst fortgewiesen wurde, und das er mit einem jungen Herzen voll Haß und Bitterkeit verlassen hatte.

[80]

Jetzt war er alt und mild geworden, und der Greis, der ihm einst wilde, harte Worte zugerufen, streckte ihm heute die Hand entgegen. Dabei wetterleuchtete es förmlich in dem alten Gesicht, – er setzte auch ein paarmal zu einer Begrüßung an, aber das Reden war nie eigentlich seine Sache gewesen, und er fühlte wohl, wie schwer es war, nach fünfundzwanzig Jahren plötzlich eine Anknüpfung zu finden, besonders bei einem so jäh zerrissenen Faden.

Aber sein Händedruck war ehrlich und fest, und Rektor Tüllen erwiderte ihn ebenso.

Herr Eik von Eichen senior führte seinen Gast zu einem der tiefen Sessel in seinem Arbeitszimmer, und beide setzten sich.

»Erzählen!«

Es war nur ein barsch geknurrtes Wort, aber der Rektor hatte ein scharfes Auge und ein feines Ohr, er sah, daß sein Gegenüber heftig erregt war, und er hörte aus der Art, wie das einzige Wort hervorgestoßen wurde, etwas heraus, das ihn veranlaßte, sofort zu willfahren.

Ruhig und mit mildem Ernst setzte er dem alten Herrn alles auseinander, schilderte mit etwas trockener Sachlichkeit die Freundschaft des Knaben Bertold mit der kleinen Liselotte Windemuth, schilderte den Auftritt im Hause des Professors, soweit er ihn vom Hörensagen kannte, und betonte den heftigen Jähzorn des Knaben, der sich am letzten Schultage wieder erschreckend [81] gezeigt und die Schwarzhausener von neuem aufgeregt habe. Er selbst, der Rektor, würde den Knaben nie aus der Schule gewiesen haben, denn Bertold sei ein kluger Kopf und lerne fleißig, im übrigen sei es ihm, Rektor Tüllen, gleichgültig, was seine Mitbürger dächten, aber Bertold habe vor drei Tagen die Schule freiwillig verlassen und sei bis heute nicht zurückgekehrt, deshalb sei er hier und wolle Herrn Eik von Eichen gut überlegte Vorschläge unterbreiten. –

Rektor Tüllen fühlte plötzlich bei dieser Unterredung, daß ein Diplomat an ihm verloren gegangen war.

Mit keiner Silbe lobte er den Jungen, dem sein ganzes altes Herz gehörte, mit keinem Worte beschönigte er Bertolds Jähzorn, – und von dem gottbegnadeten, wunderbaren musikalischen Talent des Knaben sprach er mit einer Nüchternheit, daß der argwöhnische Zuhörer auch nicht schattenhaft die Sorge spürte, welche Rektor Tüllen beseelte, wenn er an eine Erfolglosigkeit seiner Mission dachte. Er hatte ja vor diesem Gang eine lange Unterredung mit dem Organisten Brennstoff gehabt, und dieser hatte ihn nach allen Regeln der Diplomatie bearbeitet.

»Immer an den Wahlspruch des Alten denken: ›Nun gerade‹. Nicht das Herz ›weghuppen‹ lassen, wir müssen das Kind für Frau Musika retten, und dazu brauchen wir den alten Isegrimm. Rektor, reden Sie vorsichtig, Rektor, machen Sie keine Dummheiten!«

[82]

Der alte Eik war aufgesprungen und lief wild im Zimmer umher. Es schüttelte ihn wie ein Sturm. »Bande!« knirschte er, »Bande! Sie sind um kein Haar besser geworden, meine lieben Schwarzhausener. Was nicht im Geleise geht mit hü und hott, das wird einfach verfemt und totgeschlagen, – ich kenne sie, o ich kenne sie!«

Immer wieder durchmaß er das tiefe, große Zimmer mit wuchtigen Schritten, und sein schweres, stoßweises Atmen begleitete jeden Schritt.

Mit hartem Ruck blieb er endlich vor dem Lehrer stehen.

»Und Sie wollen sich überwinden, Herr Tüllen, und täglich hierher kommen, meinen Enkel weiter unterrichten?« fragte er ungläubig.

»Ja, das will ich,« bestätigte der Rektor. Plötzlich reckte er seine schmächtige Gestalt hoch auf und sah dem alten Eik furchtlos in die düsteren Augen. »Unter zwei Bedingungen will ich’s.«

Eik von Eichen senior erstaunte. Er kannte seit seiner frühesten Jugend nur gebückte, demütige Kreaturen, oder hämische und schadenfrohe, immer aber furchtsame Seelen, die ihm, wenn möglich, weit aus dem Wege gingen.

Daß dieser »hungrige Lehrer«, der ganz mit seiner Existenz auf die Milde der Schwarzhausener Bürger angewiesen war, und der offenbar ihn doch jetzt auch brauchte, – – ihm Bedingungen zu stellen wagte, [83] war ihm mindestens neu, und deshalb interessierte es ihn.

»Bedingungen?« lachte er kurz auf. »Und die wären?« –

»Daß ich niemals Herrn Baldamus von Eik zu sehen brauche, und daß ich niemals für meine geistige Arbeit an dem Knaben Bertold irgendein Honorar anzunehmen brauche.« – – –

»Was für eine Verrücktheit!« rief Eik von Eichen senior . »Was wollen Sie damit? Meinen Sie, ich lasse mir etwas von Ihnen schenken?«

Lehrer Tüllen sah ihn ruhig an.

»Das müssen Sie wohl, Herr von Eik, – oder Sie verzichten eben auf mich. Nur die – – Anhänglichkeit an Frau Franziska, meine ehemalige Schülerin, führte mich nach fünfundzwanzig Jahren über diese Schwelle, und der Gedanke, daß Bertold Eik von Eichen zu schade ist, um in die Schablone der Schwarzhausener eingepreßt zu werden.«

Eine lange Pause entstand.

Unverwandt schaute der Greis mit den düsteren Augen auf den kleinen Lehrer, der wieder zusammengesunken, wie unter einer großen Anstrengung, in dem tiefen Lehnsessel saß.

»Ich nehme beide Bedingungen an.« Wieder streckte sich die große Hand aus, und der Lehrer legte die seine hinein.

»Herr Baldamus von Eik, mein Pflegesohn, will [84] in den nächsten Wochen eine Auslandsreise antreten. Vorher will er sehen, ob sich einige Wünsche und Hoffnungen von ihm verwirklichen lassen, – – – hm – – das würde dann große Veränderungen in meinem Hause bedingen, die auch den Knaben mit betreffen würden. Vorläufig – – sehe ich Sie also täglich hier, mein Arbeitszimmer ist tabu für jedermann,« (wieder lachte er rauh), »Sie werden niemandem hier begegnen. Ich stelle aber auch eine Bedingung.«

Lehrer Tüllen sah gespannt fragend auf.

»Sie erwähnten vorhin, daß mein Enkel im Hause Windemuth musiziert habe, ich hörte aus Ihren wenn auch noch so bedachten Worten heraus, daß Bertold das Talent seines Vaters erbte, – ich will davon nie wieder etwas hören, merken Sie wohl auf. In dem Augenblick, da auch nur ein Ton des verfluchten Instrumentes an mein Ohr dringt, ziehe ich meine Hand von meinem Enkel ab.«

Wieder ging die große Gestalt mit dröhnenden Schritten auf und ab.

»Das ist eine sehr harte – – und eine ungerechte Bedingung,« tönte die ruhige Stimme des Lehrers.

»Darüber habe ich zu entscheiden,« lautete die schroffe Erwiderung. »Ich habe dem Bengel Windemuth die zerstörte Geige ersetzt, – wie ein Hohn war’s auf die ganze Vergangenheit, – ich – Eik von Eichen kaufte eine Geige – –« Wieder das heisere, rauhe [85] Lachen, und wieder der Unterton dabei, nur dem feinen Ohre des Lehrers vernehmbar, ein Ton des grollenden Schmerzes, der vom bitteren Hasse kaum mehr zu unterscheiden war.

Lehrer Tüllen stand auf.

Er überlegte, daß er heute genug erreicht hatte, er wußte wenigstens, daß der Junge ihm für einige Zeit wieder gehörte, und daß die Förderung dieser jungen Menschenseele die köstlichste Aufgabe für ihn sein werde. Ruhig verabschiedete er sich vom Herrn des Hauses. Es wurde kein Wort weiter gewechselt, dann fiel die schwere Eichentür hinter ihm ins Schloß.

Ganz erschöpft saß der Rektor dann noch eine Stunde in dem Stübchen von Hieronymus Teichmann, der gemeinsam mit Kantor Brennstoff auf ihn mit Spannung gewartet hatte. Das Wiedersehen mit dem alten Vater seiner einstigen Liebe griff den Rektor ungemein an. Er war ja kein Jüngling mehr, und es stürmten seit einiger Zeit zu viel neue Eindrücke auf ihn ein. Fast mechanisch berichtete er über seine Unterredung mit Herrn von Eik, und der alte Teichmann saß ihm stumm und bedrückt gegenüber. Jeder erlösende Reim schien ihm abhanden gekommen zu sein.

Desto lebhafter und aufgeregter war Brennstoff.

»Diese ganze Sache ist nur ein Danaergeschenk,« grollte er. »Himmelherrgott, was nützt uns alles, wenn diese verrückte, tolle, hirnverbrannte Bedingung mit [86] der Geige bestehen bleibt. Diese ist sozusagen die Hauptsache im Leben des jungen Eik, wie Frau Musika überhaupt das A und O eines jeden musengeküßten Individuums sein müßte. Wenn Jung-Bertold auch weder schreiben, noch lesen könnte, – mit seinem Geigenspiel allein käme er durch die ganze Welt. Musik macht gut und groß und erbt in jedem Falle den Himmel, und die heilige Cäcilie ist wahrhaft anbetungswürdig!«

»Brennstoff, stoppe ein wenig!« bat jetzt Hieronymus. »Mir scheint, das Schicksal hat’s schon gut gemeint. Unser Junge, der Bertold, in sicherer Hut, – der Gedanke belebt schon meinen Mut. Paßt auf, – was heute noch meilenweit, das kommt schon näher mit der Zeit.«

»Unsinn, Hieronymus! Frau Musika ist ’n ungeduldiges Weibsen. Das wartet nicht. Und so’n Talent verkommen lassen, – was sag’ ich, Talent? – – so’n Genie!« – – –

»Ein Genie bricht sich immer Bahn,« warf Rektor Tüllen ruhig und etwas müde ein, reichte den beiden still die Hand und ging.

»Billige Brombeerenweisheit,« rief ihm Brennstoff nach. »Herrgott, ich hätte dem alten Eik gegenüber stehen sollen,« tobte er weiter und vergaß ganz, daß er vor kaum zwei Stunden noch ausgerufen hatte: »Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen schweren Gang, Gott sei gepriesen, daß ich mit dem Schlagetot nicht allein zu sein brauche!« – –

[87]

Schwarzhausen selbst stürmte, brauste und gärte in ungeheurer Aufregung. – Daß man den Bertold nicht sofort auf den Schub gebracht und irgendwohin expediert hatte, war so echt Eikensch. Alles sah dem alten Einsiedler in Eichenborn aufs Haar ähnlich nach der Meinung der Schwarzhausener Bürger:

Daß er dem Herrn Professor Windemuth wieder nachträglich die ersetzte Geige mit einem groben Brief abgejagt und sie dem Bertold geschenkt habe, damit dieser ein großer Künstler werde, daß er den »Rektor Dillen« mit unerhörten Drohungen gezwungen habe, den Unterricht des Knaben im Hause Eichen zu übernehmen, und daß er mit dem jähzornigen Enkel zusammen nun einen bitteren Haß gegen alle gut gesinnten Bürger der Stadt fühle und immer neu schüre, so daß man sich ja wohl seines Lebens nicht mehr sicher fühlen könne. Wie wohl der ehrenfeste Herr Baldamus Eik darunter litt. Er sah in letzter Zeit recht schlecht aus – – – ein Jüngling war er ja gerade auch nicht mehr, und es wäre wohl die höchste Zeit für ihn gewesen, sich nach einer Hausfrau umzusehen, die dann vielleicht die Macht gehabt hätte, etwas mehr Zucht und Ordnung in den Eichenborn zu bringen. Das, was einige munkelten, – – Herr Baldamus stiege noch immer der schönen Witwe Malcroix nach, die ihn einstens verschmähte, war natürlich Unsinn, – die hätte wohl mit beiden Händen zugegriffen, wenn ihr Gelegenheit geboten wäre, sich warm und unabhängig vom [88] Vater in Eichenborn festzusetzen. Denn Herr Baldamus besaß ein großes, eigenes Vermögen. – – –

Durch die dicken Mauern des Eichenborns drangen diese Gerüchte nicht.

»Wie kann ich Ihnen danken!« hatte Franziska Malcroix mit hellen Tränen in ihren schönen Augen den Rektor gefragt, als er zum erstenmal den Unterricht beginnen wollte.

» Ich habe zu danken!« lautete die ruhige Antwort, »daß Sie so viel Vertrauen hatten, mir dies seltene, liebe Kind zu überlassen.«

über die Bedingungen, die von beiden Parteien gestellt waren, sprachen sie nicht. Bertold, dem Nächstbeteiligten, war der Befehl seines Großvaters unbekannt geblieben.

Seine Freunde, von denen ja die Mutter sein allerbester war, wollten ihn nicht zum bewußten Ungehorsam verleiten, aber sie wollten auch nicht die Schuld auf sich laden, dies herrliche Talent verkümmern zu lassen, so ging Bertold jeden Tag eine Stunde in das Haus von Kantor Brennstoff, und dieser gab ihm gediegenen theoretischen Unterricht mit dem innerlichen, heißen Wunsche, Gott möge ein Wunder tun und irgendeinen großen Meister nach Schwarzhausen führen, der dann den Jungen mit sich fortnehmen würde.

Inzwischen führte Bertold ein strenges Leben der Arbeit.

Er sah so wenig frohe Menschen, es war, als [89] ob die Luft des Hauses Eichenborn jedes Lachen im Keime erstickte.

Und Bertold hatte doch so gern gelacht.

Seine Mutter bemühte sich wohl, in seiner Gegenwart heiter und froh zu erscheinen, aber sein feines Empfinden fühlte deutlich das Bemühen und den Schein heraus. Zudem glaubte er, daß sein häßlicher Jähzorn die Ursache von Frau Franziskas Tiefstimmung sei, und er grämte sich darum.

Täglich wurde sein nachdenkliches Gesichtchen etwas schmaler, trotzdem ihm seine Mutter die sorgsamste körperliche Pflege angedeihen ließ, trotzdem im Parke Luft- und Sonnenbäder errichtet waren für ihn und der Großvater, den er aber selbst kaum jemals zu Gesicht bekam, ihn auf vier Wochen nach Borkum geschickt hatte, unter Aufsicht des Herrn Rektors Tüllen, seines verehrten Lehrers.

War es die Scheu, täglich unter so vielen, fremden Menschen zu sein, war es die Sehnsucht nach seiner geliebten Mutter, die beim Großvater zurückgeblieben war, – – Bertold kam noch ein wenig blasser und hagerer, sowie gänzlich appetitlos aus dem Seebade zurück.

Sie forschten und fragten und ergingen sich in Mutmaßungen, aber keiner ahnte, daß es ein kleines, quecksilbriges Persönchen war, das dem Knaben beständig vorschwebte, – daß Liselottes altkluges Reden, ihr unermüdliches Interesse, ihre frische Lebendigkeit [90] ihm fehlte, – wo er ging und stand, – ach so sehr fehlte!

Aber über seine Lippen kam kein Wort, und auf seinem ausdrucksvollen Knabengesicht lag ein neuer Zug, – etwas wie Verachtung; der war an jenem Tage entstanden, als seine kleine Freundin ihm so mitleidlos das liebevoll aufgespeicherte Sammelsurium vor die Füße warf. –



In dem ausgedehnten Parke hinter Eichenborn ging der alte Eik von Eichen täglich eine Stunde spazieren.

In früheren Zeiten, die aber weit, weit zurücklagen, hatte das Herrenhaus ganz einsam dagestanden, nur Wald und Wiesen, Sträucher und Hecken waren seine Nachbarn gewesen, und ganz am Ende der Besitzung, die sich weithin ausdehnte, schlängelte sich die wilde Gera wie ein silbernes Band.

Genau so entfernt, wie Haus Eichenborn vom Ort Schwarzhausen lag, war auch die seelische Entfernung der aristokratischen Bewohner von den Bürgern des Städtchens. Kaum einer fühlte das Bedürfnis, die lange und langweilige, schnurgerade Allee zu durchwandern, um das langgestreckte düstere Haus Eichen aufzusuchen, das wie ein verwunschenes Märchenschloß in seinem Eichendickicht lag, in welchem nur ruhig-ernsthafte oder boshaft-jähzornige Menschen wohnten, auf manches [91] Glied waren auch beide Eigenschaften zusammengefallen.

Nur die jeweiligen Pfarrer hatten seit Generationen treu zu den Eichens gehalten, weil sie sich allzeit als ein frommes Geschlecht auszeichneten, zu denen auch die Kirche immer mit ihren Wünschen und Bedürfnissen kommen konnte, ohne Gefahr zu laufen, abgewiesen zu werden. Knauserei gehörte jedenfalls nicht zu den vielen Untugenden, die den Eik von Eichens mit Recht oder Unrecht nachgesagt wurden. Im achtzehnten Jahrhundert ward ein ganz besonders tatkräftiger Bertold Zacharias Eik von Eichen Erbe des Eichenborns, und er war es, der auf seinem eigenen Grund und Boden Reichtümer in Gestalt von Feldspat entdeckte. Er war der Begründer der großen Eikschen Porzellanfabriken und zugleich der festgegründeten Wohlhabenheit des Hauses Eichenborn.

Beziehungen mit Frankreich wurden angeknüpft, und der Gatte von Franziska Malcroix war der Urenkel jenes Mannes, der durch die erste Lieferung von weichem Frittenporzellan mit Haus Eichen in Verbindung trat.

Schwarzhausen fing an, sich zu dehnen und zu strecken, Fabrikgebäude, Schmelzöfen und Ziegeleien wuchsen auf, alle unter der Firma: »Eik«, und um das düstere Haus selbst lagerten sich wie ein Kranz die roten Ziegeldächer der schmucken Häuschen, in denen die Angestellten wohnten.

[92]

Es hatte in merkwürdig genauer Abwechslung immer einen streng gewissenhaften, fleißigen Eiksohn gegeben, der das Besitztum mehrte, und dann wieder einen genialen Feuerkopf, der sich nicht in Schablonen pressen ließ, und der in einem selbstgewählten Berufe genügend Zeit fand, aus dem Geleise der Eiks zu weichen und das reichlich vorhandene Vermögen auch nützlich oder unnützlich zu verbringen. Ein solcher Feuerkopf war Lorenz Eik von Eichen, der Vater des Herrn Baldamus gewesen.

Bertold Eik senior hatte diesen jüngeren Bruder sehr geliebt, aber das Drohnenleben, welches Lorenz führte, war allezeit der Gegenstand heftigen Unfriedens zwischen ihnen beiden gewesen.

Durch die vom älteren Bruder und Chef des Hauses förmlich aufgezwungene Ehe mit einer stillen, demütigen Frau, die sich später als eine im ärgsten Muckertum steckende Seele entpuppte, wurde Lorenz zur Verzweiflung getrieben, – er nahm sich das Leben. – Bertold Eik holte den verwaisten Baldamus zu sich und führte einen jahrelangen erbitterten Kampf mit der Mutter des Knaben, bis auch diese starb. Baldamus war das getreue Ebenbild seiner Eltern. Vom Vater den Hang zum Leichtsinn, ohne die geniale Offenheit und Frohmütigkeit dabei, die ersetzt wurde von der glatten, gesellschaftlichen Miene des Scheines. Von der Mutter den Hang zum Duckmäusern. – »Laß dich nicht erwischen!« war ein Gebot, das obenan im Katechismus [93] des Baldamus Eik stand, und da er es verstand, diese Lehre mit dem, was Kirche und Schule von ihm verlangten, in Einklang zu bringen, so fand sich niemand genötigt, seinem Pflegevater die Augen zu öffnen, ausgenommen der junge Hauslehrer vor vielen Jahren, der denn auch umgehend »flog«.

An all dieses dachte Herr Bertold Eik, wenn er in der Mittagsstunde seinen Spaziergang machte. Er schlief trotz seines hohen Alters niemals nach Tisch, wie er auch Schlafrock und Hausschuhe verachtete und wegen seiner immer noch scharfen, alles Ungehörige sofort entdeckenden Augen in Haus und Fabriken sehr gefürchtet war.

Heute dachte er noch an etwas anderes.

Seit fünfzig Jahren spielte er mit seiner Schwester Adelgunde jeden Abend eine Stunde Schach.

Die Schwarzhausener irrten sich sehr, wenn sie glaubten, Fräulein Adelgunde hätte keine weiteren Interessen als ihre Häkelspitze, die allerdings beinahe um das Fürstentum herumreichte, – sie hatte nur kein Interesse für Kaffee- und Teegesellschaften, für Skandalgeschichten und fahrlässige Verleumdungen, sie besaß aber eine tiefe Heimatliebe, einen Lokalpatriotismus, der weit über alles Maß hinausging, und der sie einst in jungen Jahren alle Bewerber ausschlagen ließ, – sie wollte ihre Geburtsstadt nicht verlassen. Sie liebte Schwarzhausen, wie eine Mutter ihr ungeratenes Kind liebt, denn als solches hatte sich das [94] Städtchen ihr gegenüber immer bewiesen, freilich ahnte es ja auch nicht, wem es sein Krankenhaus, sein Säuglingsheim, seine schönen Anlagen und den bedeutenden jährlichen Zuschuß zum Damenstift verdankte.

Fräulein Adelgundes rechte Hand wußte niemals, was die linke tat, aber das war in Schwarzhausen nicht wohl angebracht. Deshalb liebte Fräulein von Eik mehr als die Mitbürger die Heimaterde, das heilige Fleckchen, darauf sie geboren und darinnen ihre Ahnen schlummerten, sie liebte die dunkeln Tannenwälder und grünen Fichten, die geheimnisvollen Waldwiesen und rauschenden Waldbäche und die muntere, glänzende, heiter-geschwätzige, wilde Gera.

Fräulein Adelgunde zählte fünfundachtzig Jahre, aber ihr Geist war klar, ihre Augen waren durchdringend und scharf, und wenn sie abends dem Bruder zurief: »Schach dem König!« dann klang ihre Stimme beinahe jugendlich und hell.

Hatte sie Herrn Bertold dann, wie es gewöhnlich geschah, matt gesetzt, dann warf sie froh-geschäftig die Figuren zusammen und äußerte wohl: »Gott Lob und Dank! Wenn ich heute nacht sterbe, so habe ich wenigstens die letzte Partie gewonnen!«

Und einmal hatte der Bruder darauf geantwortet: »Die vorletzte ! Ob man die letzte Partie gewinnt, das weiß kein Mensch!«

Jedenfalls war dies Schachspiel allabendlich, wenn nicht unaufschiebbare Geschäftsreisen oder ernste Krankheiten [95] dazwischen gekommen waren, seit fünfzig Jahren so wiederkehrend, wie das Amen in der Kirche, und deshalb hatte es denn auch Herrn von Eik stark verblüfft, daß gestern abend die Schwester weder die Figuren aufstellte, noch, als er ihr diese Obliegenheit abgenommen, irgendeinen Schachzug tat.

Tief nachdenklich hatte sie im Sessel gelehnt und zum ersten Male in ihrem Leben statt des Spieles ein absonderliches Gespräch eröffnet.

»Das ist sehr unrecht von dir, Bruder Eik!«

Daß irgend jemand es wagte, ihn, Bertold Eik senior , zur Rede zu stellen, war jedenfalls neu, und deshalb erregte es das Interesse des Alten.

» Was ist unrecht?«

»Ich kenne ja das Kind nicht,« fuhr Fräulein Adelgunde jetzt mit etwas belegter Stimme fort. »Ich will es nicht kennen, wie ich auch deiner Tochter noch meine Schwelle bis jetzt verweigerte. Sie hat das ehrenhafte Haus Eichen durch Flucht verlassen, und ich bin zu alt, um Eichenborn als ein Gasthaus ansehen zu lernen, in das man beliebig zu jeder Stunde kommen oder aus dem man ohne Gottbehüt gehen kann. Das müßt ihr erwachsenen, denkenden Menschen mit euch selbst ausmachen. Aber ich bin Mitglied vom Tierschutzverein, und ebenso hilfsbedürftig, wie die stumme Kreatur, dünken mich Kinder. Und hier bei uns im Eichenborn wird eins gequält, – das ist sehr unrecht von dir, Bruder.«

[96]

»Ich quäle keine Kinder,« war die rauhe Erwiderung.

Mit einem einzigen Griff hatte Fräulein Adelgunde alle aufgestellten Figuren umgeworfen. Damit zeigte sie, daß das Spiel ihr heute völlig verleidet sei.

»Du tust es!« entgegnete sie fest. »Nie kommt ein anderes Kind in unser stilles Haus, dein Enkel hat keinen Umgang als seine Mutter, die mehr Tränen als Lachen kennen gelernt hat. – Du hältst dem Knaben kein Pferd, und nie sah ich ihn im Hofe turnen oder spielen oder auf dem See rudern; die Schwimmanstalt am Ende des Parkes ist verfallen, weil Baldamus ein Weichling und du zu alt bist, – – hast du dir denn schon einmal überlegt, Bertold, daß dieses Kind der Letzte unseres Stammes ist? Weißt du etwas von ihm? Was hat er für Anlagen? Was für Eigenheiten? Hat er das Talent seines Vaters geerbt? Oder nur schlechte Anlagen von ihm? Liebt er dich und die Familienüberlieferungen unseres Hauses? Wird er in unser ehrbares, philisterhaftes Gefüge passen, oder –«

Wie scharfe Hiebe waren diese Fragen der alten Schwester auf den Herrn des Hauses gefallen und hatten einen seiner heftigsten Zornanfälle hervorgerufen. Aber dieser Anfall hatte gar keinen Eindruck auf Fräulein Adelgunde gemacht, – sie legte die Schachfiguren in den alten, wunderbar eingelegten und geschnitzten Kasten, und dann war sie mit der eindringlichen Mahnung: [97] »Besinne dich, Bruder – – auf dich und unser altes Haus!« in ihr Schlafgemach gegangen.

Das fand Herr Eik von Eichen abscheulich von der Schwester, denn er selbst hatte natürlich kein Auge zugetan, und die ganze Nacht hindurch wie auch den heutigen Tag hatte ihn die Frage verfolgt: »Denkst du daran, daß er der Letzte unseres Stammes ist?«

Über Baldamus, der ja noch in den besten Jahren stand, war die Schwester einfach hinweggegangen.

Er war ihr sein Leben lang unsympathisch und fremd geblieben, und manchmal hatte auch Herr Bertold Eik an ein Kuckucksei denken müssen, denn die Vereinigung von böser Lust und Muckertum war bisher unbekannt in der Geschichte des Hauses gewesen.

Und daß niemand aus der weiteren Verwandtschaft, niemand aus seinem Fabrikbereich, niemand von den maßgebenden Persönlichkeiten in der Stadt selbst ahnte, daß Herr Baldamus nicht ganz der Erzengel Gabriel war, für den man ihn hielt, – das hatte den alten, grimmen Eik oft höhnisch und überhebend lachen lassen. Er war sich ja über sich selbst nicht klar.

Er wußte nicht, daß er selbst den einst so geliebten Pflegesohn noch immer viel zu hoch einschätzte, – wie hätte er sonst auch nur einen Gedanken an seinen ehemaligen Plan verschwenden können, seine Tochter Franziska mit seinem Neffen Baldamus Eik zu vermählen, – eine Hoffnung zu nähren für seine [98] letzten Tage, daß der Name Eik von Eichen in aller Reinheit der Rasse neu erstehen könne.


Mit schweren, wuchtigen Schritten ging der Greis den schmalen, tannenbestandenen Weg entlang, der zu einem kleinen Tempelchen führte, von welchem man einen schönen Blick auf die Berge, Wiesen, Wälder und den Fluß hatte. Dieser steinerne Tempel hatte auf die Kinderspiele von Generationen Eiks hinabgeschaut, – die Chronik erzählte von Kinderbällen und Theateraufführungen, von Festgelagen der Stadt- und Dorfjugend, sogar von dem Besuche eines jungen königlichen Prinzen bei den Eiks, und so wenig sentimental der grimme Bertold Eik auch veranlagt war, er wußte, daß bei diesem altersgrauen Tempel immer etwas wie Heimatgefühl über ihn kam, weil seine Kindheit sich unter den Augen einer guten, sorglichen Mutter dort abgespielt hatte.

Ein schmaler Weg mündete von den Anlagen des Damenstiftes her an dem Tempel, aber er wurde beinahe nie begangen, denn die adligen Jungfrauen hatten eine wahre Dornröschenhecke um ihre Burg wachsen lassen, und nur wenige von ihnen wußten noch um den Weg, den einst Adelgunde von Eik und Hermine von Windemuth, eine Großtante der kleinen Liselotte, angelegt, als sie noch junge, reizende Mädchen voll glühender Freundschaftsgefühle gewesen waren. Jetzt war der Weg moosbewachsen und durch überhängende Zweige [99] beinahe unkenntlich geworden, nur sehr schmale Füßchen konnten ihn durchwandeln und sehr schmale Persönchen: wie es auch damals die feingliedrige Hermine von Windemuth gewesen, der die erste, bewundernde Liebe des Bertold Eik senior gegolten.

Schmal und fein war auch das goldlockige Mädchen, das heute diesen Weg entlang geschlüpft war und – nun auf der Korbbank des Tempels saß, mit großen, trotzigen Blauaugen auf ein Bündel schauend, das in seinem Schoß lag.

Liselotte bemerkte kaum das Herannahen des alten Herrn, der unhörbar auf dem weichen Moose daherschritt, und als sein großer Schatten in den Raum fiel, erhob es erschrocken den Kopf.

»Ach du bist’s,« meinte Liselotte dann aber ganz ruhig, »ich glaubte schon, es sei der schreckliche Kerl.«

»Wer ist denn das ?« fragte Herr von Eik und wunderte sich selbst, daß er sich mit der Kleinen in ein Gespräch einließ, aber dies Kind hatte die Windemuthschen Augen, und er sah gern in sie hinein.

»Eigentlich bist du es ja,« entgegnete Liselotte gleichmütig, »aber ich nenne den Herrn Baldamus so.«

Eik senior lachte heiser. »Und wer nennt mich so?« fragte er rauh.

»O – alle! Die Base Juliane und die Trine und die Frau Postverwalter und die Eiermale und der Briefträger und – –«

Liselotte streckte ihm plötzlich die Hand hin. »Ich [100] hab’ dich nie so genannt,« versicherte sie treuherzig, »ich fürchte mich auch gar nicht vor dir, du darfst dich gern neben mich auf die Bank setzen, du störst mich nicht.«

Eik senior sah mit einem Gemisch von Zorn und Humor auf das kleine Ding hin, das ihm auf Eikschen Grund und Boden gnädigst erlaubte sich zu setzen. Aber zu seinem eigenen großen Erstaunen setzte er sich wirklich.

»Wo kommst du eigentlich her, Hermine?« fragte er weiter.

»Liselotte heiße ich. Hermine ist ja meine Großtante drüben im Damenstift, und die habe ich eben mit Base Juliane besucht. Es ist furchtbar langweilig bei ihr, und denke dir, – sie kann Puppe Emmy nicht leiden. Deshalb zwängte ich mich durch die Dornenhecke und lief hierher.«

Voll Entrüstung sagte es die Kleine, und gleichzeitig hob sie das Bündel von ihrem Schoß auf und drückte es in den Arm des neuen Freundes. »Ist sie nicht süß? Leider immer krank!«

Herr von Eik beschaute sich das grau-schmutzige Bündel, ohne sich zu rühren. »Ich kann den Kopf nicht finden,« meinte er unbehaglich.

»Den kann auch kein Mensch mehr finden,« berichtete Liselotte entsagungsvoll. »Weiß Gott, wo er sein mag. Das ist ja eben ihre schwere Krankheit. – Bitte, rühr’ dich nicht,« bat sie eindringlich, als Herr [101] von Eik Miene machte, seine unbequeme Stellung als Kinderwärter aufzugeben, »Puppe Emmy mag gern so liegen, es beruhigt alle ihre Nerven so.«

Die Windemuthsaugen sahen vertrauend in die strengen, von buschigen Brauen umrahmten Eiksaugen und übten seltsame Macht. Herr Bertold senior rührte sich nicht. –

»Sprechen kannst du gern,« ermunterte ihn Liselotte nach einer Weile. »Auch lachen, wenn es dir Spaß macht.«

»Ich wüßte nicht, worüber,« war die kurze Antwort.

»Ich meine auch bloß so.«

»Woher kennst du denn diesen Platz?« fragte der alte Herr, und da er ein leises Kribbeln in seinem linken Arm wahrnahm, bettete er Puppe Emmy in seinen rechten, welche Tätigkeit ein ganz süßes, mütterliches Lächeln auf Liselottes Gesichtchen zauberte.

»Diesen Tempel? – Da hat mir zuerst Großtante Hermine davon erzählt,« beantwortete sie jetzt die Frage. »Auch von dir hat sie mir erzählt, lauter so gute, schöne Sachen, wie du früher warst vor hundert Jahren, und dann brachte ich ihr auch mal den Bertold. Da meinte sie, das wäre auf und nieder dein Ebenbild, – sie hatte auch so’n närrischen Namen für ihn, den lernten Bertold und ich auswendig: ›Schewalliee ßang Pör ang Minniatür‹.«

»So? Hm!«

»Ja und dann fragten wir sie, was das auf [102] Deutsch wäre, – ein Ritter ohne Furcht und Tadel, aber nicht so’n großer, wie du, sondern ein winziger. Das war doch nett von ihr, nicht wahr, Herr von Eik? Ich habe ihr auch nicht erzählt, daß du dem Diener manchmal die Feuerschaufel an den Kopf geworfen hast und so viele Gläser.«

Mit einem einzigen Ruck stand der alte Herr auf, und Puppe Emmy flog auf den Boden. Ein Wehschrei ertönte, und jetzt sah ein blasses, zorniges Gesichtchen den Schloßherrn an.

»Du hast es wohl gar mit Willen getan?« fragte ein ungläubiges, bebendes Stimmchen. »Ja, ist denn das möglich? So ein armes, krankes Emmylein auf die Erde zu ballern? Mit ohne Kopf und Sägspänenentzündung? I, da glaub’ ich aber nun auch , daß du ein – – –«

Herr von Eik sah mit unbeschreiblichem Ausdruck auf das Kind nieder, und in seinem Blick mußte etwas liegen, was dieses unerschrockene Persönchen zwang, seinen Satz unvollendet zu lassen. Hastig nahm es die mißhandelte Puppe auf den Schoß und begann, sie kunstgerecht aufzuwickeln. »Natürlich,« – meinte Liselotte verlegen-sachverständig, »naß ist sie auch, – natürlich, bei der Aufregung, – sie tut es sonst nie.«

Rasch wurde dem Puppenwagen anderes Weißzeug entnommen und das Püppchen trocken gelegt.

Wie lange war es her, seit Herr von Eik senior solch weiche Kinderlaute gehört, solch zarte Fingerchen [103] hantieren sah! – Seine Franziska, ja die war auch solch Puppenmütterchen gewesen, und hier am Tempel hatte sie halbe Tage lang gespielt und mit der eigenen Mutter ihre kleinen Sorgen und großen Freuden besprochen. Nie mit ihm, dem Vater. Er hatte immer nur zürnend oder spöttisch ihr gegenüber gestanden und kein Verständnis für Kinderlachen und Kindertränen gezeigt. Und als die Mutter starb, da lag alles kindliche Vertrauen mit in dem schwarzen Schrein, darin man sie begrub, und Vater und Kind waren arm und einsam. Zwar kam die Liebe und das Vertrauen wieder, aber das wurde dann dem fremden Manne geschenkt, mit dem sein Kind entfloh.

Vielleicht waren es alle diese schweren, so plötzlich auf den alten Eik hereinstürmenden Gedanken, daß er einen Schritt näher herantrat, den blonden Scheitel der kleinen Zürnenden sacht berührte und mit guter, sanfter Stimme sagte: »Gib her, ich will dein Kind wieder gesund machen.«

Liselotte sah ihn prüfend und forschend an.

»Aha,« meinte sie verständnisvoll, »du willst nun gewiß Doktor sein, weil du so’n schlechter Vater bist. Na dann nimm sie, aber – vooorsichtig – ohhhh vooorsichtig – – –«

Als trüge er seltenes Glas oder Porzellan, so besorgt schritt Herr Eik von Eichen den Waldpfad zurück nach Haus Eichenborn mit einem wunderlichen, nie gekannten Gefühl im Herzen.

[104]

Vorsichtig schaute er sich um, ob ihn auch niemand sähe, wie er das kleine, unförmliche Bündel auf seinem Arm hütete.

Es war niemand Störendes zu sehen, nur die blondlockige kleine Gestalt stand unbeweglich im Tempelchen und blickte ihm mit großen, vertrauenden Augen nach.

Da winkte er mit der Hand, und das Mädelchen zog ein winziges, arg schmutziges Taschentüchlein hervor und winkte auch.

So schaute er sich wohl dreimal um, blieb auch dabei stehen und hörte die klare Stimme rufen: »Komm bald wieder, hörst du? Morgen, oder übermorgen, – ade, ade!«

Dann kam eine Wegbiegung und entzog ihm den lieben, ungewohnten Anblick.

Auch im Herrenhause selbst begegnete dem alten Herrn niemand, aber es fiel ihm heute zum ersten Male auf, wie öde und einsam die großen, weiten Hallen und Gänge waren.

Ordentlich unheimlich kamen sie ihm vor, aber weil er sich doch nicht gut fürchten konnte auf seine alten Tage, so zog er es vor, ärgerlich zu werden. Schon wollte er mit Stentorstimme nach Hieronymus oder sonst einem dienstbaren Geist rufen, doch da war etwas, das hielt ihn vor solch rücksichtslosem Gebaren ab.

Vor seinem geistigen Auge gaukelte immer noch [105] das kleine, zierliche Mädchen mit den mahnenden Blicken: »Vorsichtig, damit Puppe Emmy nicht aufwacht!«

Mit einem Male stand der alte Herr still und horchte.

Es klang wie unterdrücktes Weinen an sein Ohr, jedoch er konnte keine Menschenseele entdecken.

Wieder ging er ein paar Schritte vorwärts und blieb dann abermals lauschend stehen.

»Ist jemand hier?« fragte er halblaut.

Keine Antwort, doch drang das Schluchzen deutlicher zu ihm, was ihn plötzlich veranlaßte, den mächtigen Kleiderschrank zu öffnen, der ihm selbst in seiner fernen Knabenzeit als Unterschlupf gedient hatte. Er fand eine zusammengekauerte Gestalt in der Schranktiefe, und nach ein paar Sekunden stand sein Enkel Bertold vor ihm, und ein vom Weinen verschwollenes Gesicht schaute zu ihm auf. Der Junge sah nicht sehr schön aus in diesem Augenblick, sondern recht gedrückt, kläglich und verzweifelt, und sein Anblick erbitterte den Alten, der gerade eben das hübsche, unerschrockene Mädchen vor sich gehabt hatte.

»Warum heulst du?« fragte er barsch.

»Ich – ich weiß nicht,« – lautete die verzagte Antwort, verbunden mit einem verlegenen Schulterziehen.

»Jammerlappen!« stieß Herr von Eik rauh hervor. Die Abneigung gegen seinen Enkel übermannte ihn [106] förmlich und er fühlte, wie ein sinnloser Zorn in wilden Wogen über ihm zusammenschlagen wollte. Als sei er selbst nicht fünfundsiebzig, sondern fünfundzwanzig Jahre alt, mit solcher Kraft hob er den Knaben hoch und schüttelte ihn derb und ungestüm, so daß die schlanke Gestalt hin und her taumelte. »Jammerlappen! Deiner Lebtage wirst du kein Kerl, – kein Eik von Eichen! – Und sowas ist mein Erbe!«

Der junge Bertold hatte die Lippen zusammengepreßt und sah dem Großvater starr und groß in die Augen.

Da ließ ihn Herr von Eik los und stampfte mit schweren Schritten und keuchendem Atem davon; an Bertolds Kopf aber flog ein Bündel, im höchsten Zorn geworfen, und dann fiel die Eichentür hinter dem alten Herrn ins Schloß und der Knabe stand allein. Mechanisch hob er das Bündel auf, – er zitterte vor Angst, Zorn und Weh.

Herrgott, was war er für ein unglücklicher Junge!

Wie verloren kam er sich vor in dem großen, weiten Hause, – es litt ihn nirgends.

»Sei doch tapfer!« hatte ihn die Mutter ermahnt, mit der er die Aufgaben für Rektor Tüllen zu lösen versuchte, – – doch konnte er nicht sehen noch lesen vor den verdunkelnden Tränen. »Sei doch tapfer, was fehlt dir denn?«

Und zu wem er auch kam, – sei es im Stübchen des Hieronymus oder in der Wohnung des Organisten [107] Brennstoff, – überall ermahnte und fragte man ihn: »Wer wird denn so weinen, – so ein großer Junge!«

O wie er sich schämte! Wie die Schmach brannte, gleich einem Bündel hin und her geschüttelt zu sein, er meinte, ersticken zu müssen vor Zorn über die brutale Behandlung. Aber größer als der Zorn und die Scham war das Weh in seiner Brust, – das wunderliche Etwas, – wie nannte er es? O wenn er doch seine Geige hier hätte! Daß er seinen Jammer in all den Melodien vergessen könnte, die in den Saiten schlummerten, und die er so oft geweckt hatte, wenn er sich einsam fühlte. Aber die Geige war dauernd zu dem Organisten gebracht worden, und nur in dessen Zimmer durfte er spielen, – nie allein mit ihr sein, nie. Wie furchtbar weh das tat! Aber war es die Geige allein, die ihm so schmerzlich fehlte? Wirklich ganz allein die Geige?

Wie aus weiter Ferne hörte Bertold die Laute einer zornigen Kinderstimme: »Nie spiele ich wieder mit dir, nie

Das war es. – – –

Mit einem Wehelaut warf sich Bertold auf den harten Fußboden und stöhnte in das Bündel hinein, das ihm der harte Großvater in ausbrechendem Jähzorn an den Kopf geworfen hatte.

Aber von dem Bündel ging etwas Seltsames aus, ein Duft, den der Knabe kannte und den er jetzt spürend und begierig einsog. Alle Arzeneien und [108] Belebungsmittel, deren Liselotte in ihrem jungen Leben habhaft werden konnte, besonders Baldriantropfen, Kamillentee und Eau de Cologne, hatte sie verschwenderisch über Puppe Emmy ausgegossen, und an diesem Duft erkannte Bertold mit einem Schlage, was da vom Himmel herunter gefallen war.

Ja, vom Himmel. – Vergessen war der Großvater und sein Jähzorn, vergessen die schmähliche Behandlung, vergessen selbst die Geige – – »Puppe Emmy!« sprach der Junge laut, und eine heiße Zärtlichkeit lag in den zwei Worten verborgen und eine feste Zuversicht, als ob ja nun alles gut werden müsse.

Er erhob sich vom Boden, versicherte sich noch einmal am hellen Fenster, daß er wirklich das liebste Eigentum der verlorenen Gespielin in seinen Händen halte, schob dann die Puppe in seine weite Knabenbluse und atmete tief auf.

Wo sollte er das Kleinod verbergen? Denn daß er es nicht wieder heraus gab, stand ganz fest bei ihm. Er fragte sich gar nicht, wie das Bündel in seines Großvaters Hand gelangt war, – – es war ihm in seiner weichen Stimmung lieb, an ein Wunder zu glauben. –

Aber er zermarterte nun seinen Kopf, ein dauerndes Versteck ausfindig zu machen, wo er doch ab und zu hingelangen konnte, um das Bündel zu sehen. Der Boden! Das war ein Gedanke! Auf seinen Streifzügen war er in die verschiedensten Regionen gekommen, [109] aber vor dem Boden hatte er sich immer noch etwas gescheut. Denn an der Bodendecke prangte ein unheimliches, mächtiges Bild in düster-bunten Farben, den großen Christopher darstellend – – er sah das Bild, wenn er den Kopf weit zurückbog und in die Höhe blickte.

Heute fühlte er keine Angst.

Puppe Emmy war wie ein Talisman, – ein Amulett, das ihn vor allem Bösen schützen mußte.

Sinnend, lächelnd und glücklich stieg der Knabe die Treppen in die Höhe, aber er erreichte den Oberboden nicht, er verirrte sich in andere, weite Gänge, in nie zuvor gesehene Säle und Zimmer, auf hallende, von schön und seltsam geschnitzten Geländern umgebene Treppen und in unzählige geheimnisvolle, dunkle Winkel.

Endlich geriet er auch wieder auf weiche Teppiche, die seinen Schritt dämpften, er sah lichte Fenster- und dunkle Türvorhänge und entdeckte schöne, farbenprächtige Bilder an den Flurwänden. Eine große, weiße Katze strich an ihm vorbei, und als er sie anrief, rieb sie sich zärtlich an seinem Körper. Das Wunderbarste aber war, daß ihm jemand aus einem der verschlossenen Zimmer »Bertold! Bertold!« zurief.

Er klopfte bescheidentlich an und trat ein.

Zuerst sah er nur einen großen, grauen Papagei, der sich schwatzend und kreischend in seinem Ringe schaukelte, dann gewahrte er in dem behaglichen Raume einen teppichbelegten, altmodischen Tritt, auf diesem [110] ein in voller Bewegung befindliches Spinnrad, und davor – – – das konnte nur die alte Spinnerin aus Dornröschens Zauberschloß sein. Etwas wie Furcht beschlich ihn, aber er bezwang sich tapfer. »Haben Sie mich gerufen?« fragte er höflich und mit tiefer Verbeugung. Die graue, etwas gebückte Gestalt, die so eifrig spann, sah ihn forschend an. –

»Bertold, Bertold!« krächzte der Papagei, und nun lachte der schlanke Junge, lachte so herzhaft, so klingend, so musikalisch, so aus dem Innersten heraus, daß es tönend von den Wänden zurückkam.

Da stand das Spinnrad plötzlich still, und der Stuhl, worauf die graue Gestalt saß, wurde polternd zurückgestoßen. Trippelnde Schritte näherten sich dem Knaben, dann umschlangen ihn zwei Arme, und er sah in ein gutes, altes Gesicht, dessen blaue Augen voll Tränen standen.

»Du Junge! Du Bertold! Du echter Eik mit deinem Eikschen Lachen! Willkommen bei Großtante Adelgunde!«

Es mußte ja ein Märchen sein. Bertold rieb sich immer wieder die Augen, aber der Papagei und das Spinnrad blieben und die graue Gestalt blieb auch leibhaftig vor ihm, nur daß sie jetzt geschäftig im Zimmer herumlief und kleine Kuchen, Obst und feine Schokolade vor Bertold hinsetzte mit der Aufforderung, tüchtig zuzulangen. Das tat der Junge gern, denn in seinem großen Kummer war er nicht dazu gekommen, [111] sein Vesperbrot zu genießen. Nun saß er neben der plötzlich entdeckten Großtante, die wohl hundert Jahre nach seiner Schätzung zählte, und sie nötigte ihn immer wieder liebevoll zum Zulangen, bis auch kein Stellchen in seinem Magen mehr frei war.

»Jetzt erzähle!« bat die alte Dame.

»Warum ruft der Papagei immer Bertold?« wollte der Junge gern noch wissen, »er kennt mich ja gar nicht.«

»Das gilt deinem Großvater,« lachte leise die Großtante. »Früher war der Papagei immer bei ihm, – – aber er ist so sehr gelehrig und gewöhnte sich alles an, was dein Großvater rief – – hm, – das war oft lästig – wenn er es so unablässig wiederholte. Jetzt habe ich ihm alles bis auf den Namen seines früheren Herrn abgewöhnt, – – der ja auch der deine ist, mein kleiner Bertold!«

Sie war so vertrauenerweckend, die Großtante Adelgunde!

Weit tat sich Bertolds Herz auf und erzählte ihr alles, seine Freuden, seine Leiden, seinen ganzen letzten Kummer.

»Du stehst jetzt unter meinem Schutz,« bedeutete ihm die alte Dame. »Und du wirst nicht mehr heimlich beim Organisten Brennstoff spielen, sondern du wirst hier laut und deutlich bei mir üben, und ich werde nach E. schreiben und den besten Lehrer für dich bestellen. Du wirst gleich heute noch deine Geige holen und sie [112] zu mir bringen, – du lieber Herrgott, ich soll wieder einmal eine Amati in den Händen halten – und vielleicht können wir beide sogar zusammen musizieren.«

Die Achtzigjährige wurde ganz lebhaft, – sie trippelte zu dem hellen Mahagonispinett und öffnete es feierlich. »Mach’ noch einmal eine tiefe Verbeugung, kleiner Bertold, denn auf diesem Instrument hat – Beethoven gespielt.«

Der Junge atmete tief auf. Immer noch meinte er, alles müsse vor seinen Augen plötzlich verschwinden, – es war zu wunderseltsam, was er erlebte. Ungestüm warf er beide Arme um den Hals der alten Dame, daß sie sogar ein wenig taumelte.

»Ei, ei,« mahnte sie, »du ungestümer Eik! So sind und so waren sie eben auch alle. Aber ungestüm und musikalisch darfst du sein, wenn du nur nicht jähzornig bist,« setzte sie leise hinzu, indessen doch laut genug, daß Bertold sie verstanden hatte. Er erblaßte bis in die Lippen. »Schließ das Beethovenspinettchen!« bat er schmerzlich. »Ich – ich verdiene nicht, drauf zu spielen.« – – –

Der Abend brach herein. Mit einem zärtlichen »Gott behüt« wurde der Junge entlassen unter dem feierlichen Bedeuten, sein Mütterchen aufzufordern, sie möchte Großtante Adelgunde besuchen. Dann schritt er all die Gänge, Treppen und Treppchen wieder zurück bis zu dem Seitenflügel, den er und seine Mutter bewohnten.

[113]

Lange saß er noch mit Mutter Franziska in eifriger, zärtlicher Zwiesprache zusammen, und dann brachte sie ihn zu Bett und betete dankbar mit ihm. Unter seinem Kopfkissen aber lag, ohne daß es eine Menschenseele außer ihm selbst ahnte, ein schmutzig-weißes Bündel, und vielmals in der mondhellen Sommernacht zog er es hervor, um die geliebte Puppe Emmy ohne Kopf anzuschauen und sich zu vergewissern, daß dieser Gruß und Augentrost wirklich bei ihm sei. – Bis ihm nach all den aufregenden Sachen am heutigen Tage die müden Augen zufielen. –


Gegen Abend des nächsten Tages schritt Frau Franziska über Gänge und Treppen des Vaterhauses denselben Weg, den Jung-Bertold zurückgelegt. Sie aber kannte jedes Winkelchen, und aus jedem Eckchen schaute sie die Erinnerung an.

Das ernste Zürnen von Großtante Adelgunde hatte ihr schmerzlich weh getan, kaum wollte sie die liebe, freudige Botschaft aus dem Munde ihres Jungen als richtig ansehen.

So klopfte sie nur zaghaft an, aber auch ihr erschien der Ruf des grauen Papageis als eine günstige Vorbedeutung. Still öffnete sich die Tür, so als ob jemand schon lange, lange dahinter gestanden und auf ihren Schritt gewartet habe, – still öffneten sich zwei alte Arme, und das alte, dazugehörende Herz hatte wohl schon längst offen gestanden und sich nur noch [114] etwas gewehrt, das auffordernde »Herein« laut zu rufen.

Die Liebe zu Jung-Bertold überbrückte auch lückenlos die große Kluft, welche die Flucht der Nichte vor Jahren gerissen, Tante Adelgunde dachte nicht mehr an Unrecht und Schmach, sie dachte nur an das Leid, das Frau Franziska getroffen, und das wollte sie jetzt mit ihren schwachen Kräften in Sonnenschein wandeln.

»Von gestern ab gehört der Junge mir mit,« rief die alte Dame in ungewöhnlicher Lebhaftigkeit, »er selbst hat mein Reich erobert.«

In all den Tagen, die nun folgten, sah Frau Franziska ihren Vater wenig oder gar nicht, und Fräulein Adelgunde mußte es erleben, daß der Schachtisch und das Schachbrett völlig verwaist blieben.

Das war etwas Unerhörtes, und die Schwester nahm sich vor, dem Oberhaupt vom Eichenborn einmal wieder gründlich ihre Meinung zu sagen; als sie aber durch Zufall ihm begegnete, erschrak sie vor dem finsteren, gequälten Ausdruck in seinem Gesicht und verlor den Mut, ihn nach der Ursache zu fragen. Herr Baldamus von Eik war verreist.

Frau Franziska freute sich dieser Tage, – man hörte sie sogar mit ihrem Knaben lachen, und ihre Wangen bekamen einen Anflug feiner Röte, so daß sie oft wie ein junges Mädchen aussah.

So gern hätte sie nun recht gemütliche Mittagstunden mit ihrem Vater genossen, aber sobald sie mit [115] Jung-Bertold das große Eßzimmer betrat, meldete ihr der Diener, daß Herr Eik von Eichen senior heute allein zu speisen wünsche. Dies »heute« bezog sich nun aber schon auf viele Tage. –

War es der junge Diener, der die Meldung machte, dann begnügte sich Frau Franziska mit einem Kopfnicken, – als aber Hieronymus Teichmann bei Tisch aufwartete und sie wieder nur zwei Gedecke erblickte, da trat sie rasch auf den alten Getreuen zu.

»Hieronymus, was ist’s mit dem Vater? Irgend etwas bedrückt ihn schwer, – ich sorge mich. Und du scheinst es zu wissen, Hieronymus, was hier vorgeht.«

Der Diener wich ihrem forschenden Blicke aus.

»Da ist nichts zu raten und nichts zu sagen,« murmelte er. »Haus Eichen hat einen guten Magen, und wenn wir dem lieben Herrgott trauen, kann der Eichborn auch das verdauen.«

»Ist es etwas sehr Schweres, Hieronymus?« fragte Franziska, ängstlich geworden, – – »ich kann es mir gar nicht zusammenreimen. Sind es etwa gar – Zahlungsschwierigkeiten?«

Ein leises Lächeln trat auf das gute, alte Gesicht des Faktotums.

»Du liebe Zeit, – so Schwierigkeiten, was haben die für Haus Eik zu bedeuten? ’s sind weiter nichts als Mückenstiche. – Aber es gibt so andere Schliche, – – die sich nicht ziemen für Eichenborn – die bringen Herzweh und heiligen Zorn. Ich bin nur [116] ein Diener und hab’ nichts zu sagen, aber der Herr sollt’ dazwischen schlagen mit Knüppeln – und mit eisernem Besen auskehren all das schlimme Wesen.«

Er hatte sich in Zorn geredet, der Alte, und nun erschrak er, daß sowohl Frau Franziska, als auch Bertold die Suppe völlig unberührt gelassen hatten, und daß beide mit traurigen, ängstlichen Augen zu ihm aufschauten.

»Ich bin ein Schwätzer, Fräulein Franziska,« stotterte er, denn diese Bezeichnung gebrauchte er immer für seine liebe Herrin; sie sah so mädchenhaft aus, und der fremdländische Name, der ihr zukam, wollte nicht über seine Lippen.

»Vorhin ging der alte Valentin die Treppe hinunter,« nahm Bertold das Wort. »Er grüßte mich gar nicht, ich glaube, er war sehr krank und sah aus, als ob er geweint hätte.«

»Der alte Valentin?« fragte lebhaft Frau Franziska. »Ich war lange nicht bei ihnen, das ist eine häßliche Unterlassung von mir. Hat das hübsche Jettchen genug zu tun immer? Ich will ihr gern wieder Aufträge für Wäschesticken zuwenden – – –«

Hieronymus antwortete nicht, er hatte sich plötzlich zur Tür gewendet und war mit dem großen Präsentierbrett hinausgeschritten in unziemlicher Hast, die er sich noch niemals sonst hatte im Beisein der Herrschaft zuschulden kommen lassen. Mit bangen Blicken schaute ihm Frau Franziska nach.

[117]

Als er mit dem zweiten Gang herein kam, winkte ihm die junge Frau, damit er recht leise hantiere.

Im Nebenzimmer, dem Arbeitsgemach des alten Herrn von Eichen, hatten sich laute Stimmen erhoben, die sich immer mehr steigerten. Bekümmert und verständnislos sah Frau Franziska drein.

Jetzt nickte Hieronymus gleichmütig.

»Das ist die Arbeiterdeputation,« meinte er. »Wenn doch da unser Herr nachgeben wollte. Sie verlangen nicht zu viel, die Leute, es ist eben alles teurer geworden, und die Eiksche Fabrik sollte lieber mit gutem Beispiel vorangehen, als im alten Schlendrian verbleiben. Es gärt schon allzuviel unter den Böswilligen, aber das sind alles junge, verführte Leute, – unsere Arbeiter sind gut, – nur besser möcht’s eben jeder haben.«

»Ihr irrt euch,« tönte von drüben scharf und laut die Stimme, »zu mir kommt nur nicht mit so hirnverbrannten Ideen. Ob ich euch aufbessern kann , habe ich allein zu entscheiden, jedenfalls will ich es nicht, weil die letzte Aufbesserung erst vor Jahresfrist erfolgte und ich eine neue noch nicht für nötig halte; zwingen lasse ich mich nicht, das wißt ihr ja.«

Man konnte die Erwiderung nicht verstehen, aber jedenfalls wurde sie von einem Einzelnen in heftigem Ton gegeben.

»Der Heinrich Liebetraut ist’s,« murmelte Hieronymus [118] ängstlich. »Nur beim Reden tut der Kerl nicht faul, – ich wollt’, er hielte jetzt – den Mund.«

Dem treuen Hieronymus versagte plötzlich der beabsichtigte, kräftigere Reim, denn drüben hatte Herr von Eik mit seiner kräftigen Faust auf den Tisch geschlagen. »Hinaus!« brüllte er, »macht, daß ihr hinaus kommt!«

Dann ein nicht eben sachtes Türenschlagen, das erregte Sprechen von drei oder vier Menschen auf dem Hausflur und hastiges Entfernen stark und polternd auftretender Männerfüße.

Mit klopfenden Herzen standen Franziska und Bertold nebeneinander, während Hieronymus leise das Zimmer verlassen hatte. Er konnte es nicht mit ansehen, wie eine Speise nach der anderen unberührt stehen blieb, und er konnte auch nicht der verehrten Tochter seines Herrn ganz genau Rede und Antwort stehen, konnte vor allen Dingen ihren ernsten, reinen Augen gegenüber nicht der Aufklärende sein, der ihr sagte, daß ihre letzte Zuflucht, ihre geliebte Heimat, in welche sie sich aus Unehre und Schmutz gerettet, längst eines eisernen Besens bedürfe, der viel Fäulnis, viel böse Stoffe herauskehren müsse.

Als Hieronymus die Tür öffnete, steckte Herr Eik von Eichen senior zur gleichen Zeit den Kopf aus seinem Zimmer herein, und der Diener erschrak, so grau und verärgert sah das Gesicht aus, so zornig die Augen zwischen den starken Brauen.

[119]

»Ich bin für niemand zu sprechen,« rief der alte Herr ihn an, »für niemand, weder jetzt, noch nachher, noch heute abend. Sorge dafür, daß keine Menschenseele auf diesen Flügel kommt, – meine Tochter und ihr Sohn sollen anderswo essen.«

»Sehr wohl, Herr von Eichen!« war die leise Antwort des bestürzten Hieronymus, und dann war er auf leisen Sohlen zu Frau Franziska zurückgekehrt, um ihr Bescheid zu bringen. Sie entfernte sich traurigen Blickes mit Bertold, – gar zu gern hätte sie mit ihrem Vater alle Vorgänge besprochen, wäre ihm so gern eine verständnisvolle Gefährtin gewesen in all diesen Wirren einer neuen Zeit, die den patriarchalischen Zuschnitt vom Hause Eichenborn längst nicht mehr verstand.

Aber Franziska wußte, daß ein Hereinreden in den väterlichen Zorn ihn nur noch mehr schüren und zur lodernden Flamme anfachen würde.

Mit mächtigen Schritten durchmaß der alte Herr sein Riesenarbeitszimmer. Beide Hände hielt er geballt, – ein schweres Stöhnen, unartikulierte Laute, die beinahe nichts Menschenähnliches hatten, entrangen sich seiner heftig atmenden Brust. Ein Jähzornanfall schlimmster Art hielt ihn gepackt, dabei schlug sein Herz hart und schmerzhaft gegen die Brust, und kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. Immer wieder nahm er die Wanderung auf, der dicke Teppich minderte nur wenig das Dröhnen seiner Schritte.

[120]

Wütende Flüche und eine Flut von Schmähungen ergossen sich aus seinem Munde, er tobte in wilden Drohungen, bis er sich erschöpft niedersetzen mußte. Aber auch jetzt noch umkrampften seine großen Fäuste die Lehnen des tiefen Sessels, als wollte er sie zerdrücken. – – –

»Da bist du ja!« tönte ein durchaus tapferes, selbstbewußtes Stimmchen durch die schwüle Zornatmosphäre des großen Raumes. Liselotte Windemuth schloß sorgfältig die Tür wieder, legte beide Händchen auf den Rücken und schritt ruhig zum Arbeitssessel des alten Herrn. » Wo hast du Puppe Emmy? « fragte sie energisch.

Herr von Eik griff mit beiden Händen nach seinem Kopfe. Es sah aus, als glaubte er eine Erscheinung vor sich zu haben. Dann wich allmählich dieser Wahn von ihm, um einem erneuten Wutanfall Platz zu machen. Beide Hände hob er, als wolle er diese unglaublich freche, kleine Person da vor ihm niederschlagen.

Liselotte fing aber die Hände unterwegs auf und hielt sie fest. »Was machst du denn?« fragte sie unwirsch. »Du hast wohl Angst, ich tu’ dir nun was? – Ich will bloß mein Kind wieder haben. Auch wenn’s noch krank ist. Macht nichts! Gib’s her!«

»Ich habe es nicht,« stotterte Herr von Eik verblüfft. Ja, es muß gesagt werden, der grimmige, jähzornige, gegen jegliche Gefühlsduselei abgehärtete Herr von Eik war verlegen diesen blauen, unerschrockenen Kinderaugen [121] gegenüber, besonders weil noch etwas anderes aus ihnen sprach, eine wirkliche, mütterliche Angst um ihr Puppenkind.

Und der alte Herr war all sein Lebtag ein zu gewissenhafter Mensch und Geschäftsmann gewesen, als daß er jetzt nicht eine Art unbehaglicher Beschämung empfinden sollte, weil er das Eigentum eines anderen verschleppt hatte. Wo in aller Welt hatte er Puppe Emmy gelassen?

Ob er diese Frage laut getan hatte? Jedenfalls zog sich Liselotte Windemuth einen der großen Sessel herbei, lehnte sich behaglich hinein und meinte: »Besinn dich nur, – ich habe Zeit!«

Dieses Wort hatte sie öfters von ihrem Väterchen gehört, wenn sie irgendeinen wertvolleren Gegenstand verschleppt hatte und sich nicht erinnern konnte, wohin er gekommen war. –

Bei Herrn von Eik war dies Verfahren aber doch nicht angebracht. Denn beim Besinnen kam ihm auch wieder der Zorn über den Eindringling, kam ihm das Bewußtsein, daß der Wertgegenstand eine abscheuliche, zerschlagene und zerrissene Puppe sei, und daß er über dem für ihn unwürdigen Forschen nach ihrem Verbleib eine Menge wertvoller Zeit vertrödele.

»Du mußt jetzt gehen,« beschied er die Kleine. »Die Puppe wird sich finden.«

Liselotte setzte sich noch etwas fester zurück. »Wo ist sie denn?« fragte sie ungerührt.

[122]

»Ich weiß es jetzt nicht, du hörst es ja.«

»Du hast sie jetzt schon viele, viele Tage, Herr von Eik. Hast du sie immer gut gefüttert?«

»Wen? Die Puppe? – Nein!«

»Nicht gefüttert? So lange nicht? Du hast sie hungern lassen?«

»Ach, Dummheiten! Puppen hungern nicht.«

Liselotte war starr über diese vermessene Behauptung. Aber sie hielt sich nicht dabei auf, sondern setzte streng das Verhör fort.

»Hast du sie gebadet?«

»Nein.«

»Trocken gelegt?«

»Nein.«

»Hast du ihr Geschichten erzählt und sie abends mit in dein Bett genommen?«

Liselotte hatte den Bogen zu straff gespannt. Die letzte Zumutung brachte dem gestrengen Herrn von Eik seine unwürdige Lage diesem Dreikäshoch gegenüber besonders zum Bewußtsein.

Mit einem energischen Ruck hob er das kleine Mädchen aus dem Sessel hoch, es wehrte sich kräftig und stieß und schlug um sich, verschlechterte aber dadurch nur seine Lage. Denn der Griff, der sie umklammert hielt, wurde nun fester und äußerst schmerzhaft, sie wurde von dem jetzt sehr aufgebrachten Herrn einfach zur Tür hinausgeworfen, die er dann unbarmherzig hinter sich abschloß. Liselotte wußte zuerst kaum, was [123] ihr geschehen war, sie strich ihr zerknülltes, weißes Röckchen glatt und schüttelte die zerzausten blonden Locken, dann aber begannen ihre kleinen Fäuste energisch an die verschlossene Tür zu schlagen und zu pochen, – ein ohnmächtiges Beginnen diesem schweren Eichengefüge gegenüber. »Gib mir Puppe Emmy her! Ich will meine Emmy wieder haben!« schrie und schluchzte in Zorn und Verzweiflung das kleine Ding, daß das Echo gellend von den hohen, hallenden Gängen wiederkam. »Du da drinnen! Du großes Ungetüm! Du schlechter Kerl! Ich will meine Emmy ohne Kopf wiederhaben!«

Und als dieser Ausbruch nichts nützte, – ach so ganz und gar nichts, und nichts in dem weiten, unheimlichen, einsamen Gebäude sich rührte, niemand sich blicken ließ, der ihr Antwort auf ihre tobenden Fragen geben konnte, da brach Liselotte in ein schluchzendes, bitterliches Weinen aus, dann lief sie die Treppe herunter, durch das Grasgärtchen, zum Tor hinaus, durch die Straßen an schwatzenden Kindern, an neugierig stehen bleibenden Leuten vorüber, und in jammervoll hohen Tönen schrie sie: »Der schlechte Kerl! O der schlechte Kerl!« bis sie das Haus Windemuth erreicht hatte und Base Juliane das aufgeregte Kind in Empfang nahm. –



Der Spätabend war hereingebrochen, als Herr [124] von Eik sich von seinem Sessel erhob und auf ein sachtes Pochen an der Tür diese öffnete.

Stundenlang hatte er allein gesessen, er hatte auch hin und wieder einen leichten Schritt sich nahen hören, und einmal hatte auch eine bittende Stimme gerufen: »Vater, willst du nicht wenigstens etwas zu dir nehmen? Ich ängstige mich.«

Aber er hatte mit finster gefalteter Stirn geschwiegen, und die leichten Schritte hatten sich wieder entfernt. Dann wieder nach Stunden hatte Schwester Adelgunde sich energisch gemeldet: »Bruder, – das ist ja Torheit, du wirst uns ja krank!« Aber auch sie war ohne Erfolg in ihre Gemächer zurückgekehrt.

Auch Hieronymus war zur Tür gekommen und hatte sich in wohlgeformten, etwas unsicher hervorgebrachten Reimen zur abendlichen Kammerdienstleistung gemeldet und durch die unerbittlich verschlossene Tür den Bescheid bekommen, daß sie alle der Teufel holen solle, als endlich ein bekanntes, etwas zögerndes Schreiten draußen vernehmbar wurde und auf das vorsichtige Klopfen die Tür sich öffnete.

Baldamus Eik von Eichen glitt in das Zimmer.

Es war erhellt von einer hohen, altertümlichen Öllampe, die auf dem Schreibtisch stand. Herr von Eik haßte Gaslicht und ebenso elektrische Beleuchtung, er war ganz und gar altmodisch vom Kopf bis zu den Füßen und stach gar nicht so sehr von seinem Pflegesohn [125] ab, der in neuester Biedermeiertracht sich äußerst würdevoll präsentierte.

Nicht vereinbaren mit dieser äußeren Würde ließ sich der flackernde Ausdruck in seinen Augen, das verlegene Vorbeisehen an der imposanten Gestalt des Greises, der ihn düster und scharf ansah.

»Du hast mir hübsche Neuigkeiten zutragen lassen, Baldamus,« begann der alte Herr ohne Umschweife.

Dieser zuckte die Achseln. »Willst du es nicht meine Angelegenheit bleiben lassen, Pflegevater? Wir werden uns darüber nicht verständigen können und –«

»Allerdings nicht.« Man hörte in der Stimme des alten Herrn den aufsteigenden Sturm. »In derartig schuftigen Dingen habe ich keine Erfahrung.«

»Ich muß doch bitten – Pflegevater!« fuhr Herr Baldamus auf, aber er sah dem Alten nicht in die Augen. »Es ist meine Angelegenheit,« setzte er trotzig hinzu.

»Nein, die ist es nicht .« Herr von Eik senior war einige Schritte näher getreten. »Der alte Valentin Erkner ist seit vierzig Jahren an unserer Fabrik, er und seine alte Frau sind ganz gebrochen von der Schande ihrer Enkelin.«

Herr Baldamus zuckte unbehaglich die Achseln. »Laß uns doch nicht darüber sprechen! Ich werde alles mit ihnen abmachen.«

»Du willst sie heiraten, Baldamus?«

Ein häßliches Lächeln trat auf das Gesicht des [126] jüngeren Mannes, – es verschwand aber sofort wieder und machte einem harten, wilden Ausdruck Platz. »Ich heirate niemand und will niemand heiraten, als die eine, die du mir einst fest versprachst. Hörst du, Pflegevater, – fest versprachst,« zischte Herr Baldamus. »Weiß Gott, ich bin ein geduldiger Warter gewesen, – – – hilf mir, Pflegevater!« Diese letzten Worte wurden mit völlig veränderter Stimme gerufen, er schien in großer Aufregung zu sein, ein ganz ungewohnter Anblick bei dem sonst so glatten, ruhigen, gesetzten Manne, den ja auch die Schwarzhausener gerade wegen dieser Ausgeglichenheit so sehr schätzten. Der alte Eik sah seinen Pflegesohn zornig und ungläubig an.

»Du weißt wohl nicht mehr, was du sprichst, Baldamus. Ich – soll Franziska zureden? Ich? Nachdem ich dies weiß? Und nachdem mir schon jahrelang der Anblick von Hieronymus Teichmann unerträglich war – – –«

»Laß doch die uralten Geschichten, Pflegevater. Ich wärme ja auch nicht auf – – –«

Lauernd richteten sich seine Augen auf den alten Herrn, der plötzlich müde und verfallen aussah. »Du weißt ja selbst, Pflegevater,« fuhr er langsam und streng betonend fort, »wie schwer es wird, immer und immer den Schein zu wahren, – – deine ganze Lebensarbeit hast du daran gesetzt, und die sittenstrenge Kleinstadt lohnt dir nicht einmal deinen einwandfreien [127] Lebenswandel. Mehr als einmal schon – – –« er lachte hölzern und meckernd, »hörte ich, wie man dich einen ›schlechten Kerl‹ nannte.«

»Schweig!« rief Herr Eik senior heftig, und die Adern auf seiner Stirn schwollen an.

»Gut, ich schweige! Aber dann erzähle auch du keine ollen Kamellen und – – – sprich mit Franziska.«

Herr von Eik senior antwortete nicht, er ließ sich schwer in den Sessel fallen, und man sah, wie die furchtbare Aufregung in ihm arbeitete. Erst als er bemerkte, daß Baldamus das Zimmer verlassen wollte, beruhigte er sich etwas und rief mit heiserer Stimme seinen Pflegesohn an.

»Bleibe noch, Baldamus! – Ich habe noch etwas mit dir zu besprechen. Wie kommst du dazu, den Leuten zu sagen, daß ihre höhere Lohnforderung von mir berücksichtigt werden würde? Die Arbeiterdeputation war heute bei mir, der Heinrich Liebetraut war der Sprecher, – er ist ein Stänker, behauptet aber, von dir besonders ausgesucht worden zu sein.«

»Damit hat er recht,« meinte Herr Baldamus gelassen. »Ich wollte durch diesen verbissenen Krakehler, dem beinahe einzigen Wühler in unserem kleinstädtischen, biederen Betriebe den Worten der Arbeiter etwas mehr Nachdruck geben, falls du etwa zögern solltest, ihren unverschämten Forderungen nachzugeben. Du hast bewilligt, Pflegevater?«

»Bewilligt? Ich denke nicht dran. Du nennst [128] ja selbst ihre Forderungen unverschämt. Besonders sind sie es deshalb, weil ich erst vor Jahresfrist erhöhte.«

»Du wirst sie wohl annehmen, Pflegevater. Es ist besser, wir wenden bei diesen Leuten Vorsicht an, als daß wir merken lassen, daß wir ihre Nachsicht brauchen. Die Eiks wirft die Mehrbewilligung nicht um, den Leuten wird der Mund gestopft, und sie trotten in ihrem Schlendrian weiter, ohne Verlangen zu tragen, uns etwas am Zeuge zu flicken.«

Es sah aus, als striche wieder eine Hand über das Antlitz des alten Herrn und ließe es grau und verfallen erscheinen.

»Baldamus, ich kann nicht. Ich helfe ihnen, wo es nur möglich ist, offen oder heimlich, aber nach meinem Willen und Gesetz. Lasse ich mir jetzt plötzlich von ihnen vorschreiben, dann bin ich nicht mehr der alte Eik, und sie schieben mich zu den Fabrikbesitzern, die vor ihren Arbeitern zittern, und ich bin bei ihnen drunter durch, denn für Ertrotztes sagen sie mir keinen Dank.«

»Meinst du, sie danken dir, wenn du ihnen gar nichts gibst?« fragte Baldamus heftig; innerlich dachte er, daß sein Pflegevater jetzt doch recht alt würde und sich mit einem Male durch verrückte Empfindungen leiten ließe. Dieser starre Eiksche Ehrbegriff mußte etwas ins Wanken gebracht werden.

»Ja, das meine ich,« stieß Herr Eik senior hastig heraus. »Die meisten von unseren Leuten hängen an [129] unserem Hause, wissen, daß sie es gut haben, daß sie nicht gedrückt werden. Ihre Forderungen sind ihnen von den paar jungen Kerlen, die frisch von der Walze kommen und unverdauliches Zeug gehört und gelesen haben, aufgeschwatzt worden. Ich werde ihre Entlassung verfügen, mit den Alten dann noch ein vernünftiges Wort reden und – – –«

Herr Baldamus lachte laut und erbittert.

»Und Heinrich Liebetraut wird Herr der Situation sein.« Baldamus legte schwer die Hand auf den Arm des Pflegevaters. »Du mußt nachgeben,« sagte er hastig. »Du mußt . Heinrich Liebetraut ist gefährlicher, als du ahnst. Er hat viel gelernt, ist mit der Feder gewandt und lauert darauf, uns einen Knüppel in den Weg zu werfen.« Herr Baldamus dämpfte jetzt seine Stimme. »Er ist außerdem Jettchen Erkner nachgestiegen, – – ahnt aber noch nichts. Bewilligen wir die Zulage, so geht er als Agitator fort, denn in Schwarzhausen ist ihm der Horizont zu eng, – bewilligen wir sie nicht, so bleibt er als unser Feind und wird nicht ruhen, bis er alles herausgebracht hat. Dann ist aber auch dein Königtum von Schwarzhausen vorbei, und du bist nichts als – – –«

»Ein schlechter Kerl,« lachte der alte Eik bitter-schmerzlich auf. »Das meintest du ja wohl. – Ich werde bewilligen! «

Das Letzte kam so unvermittelt heraus, daß Herr Baldamus über den plötzlichen Sinneswechsel ganz verblüfft [130] dastand und auf seinen Pflegevater starrte, der jetzt mit gebietender Handbewegung nach der Tür zeigte. Und wenn sein Königtum auch auf tönernen Füßen stand, wenn es auch etwas im Leben dieses starren, unzugänglichen, finsteren Mannes gab, das einen schweren, tiefen Schatten auf die Eik-Ehre warf, – – Herr Baldamus fühlte doch, daß er dieser gebietenden Hand, die ihm die Tür wies, zu gehorchen habe. –

Ruhelos wanderte der alte Herr in seinem Zimmer umher. Ein paarmal griff seine Hand nach dem altmodischen Klingelzug, der den Diener herbeirufen sollte, aber er ließ sie immer wieder sinken.

Bis wieder ein leichter Schritt heran kam und auf sein müdes »Herein!« Frau Franziska sich im Türrahmen zeigte.

»Endlich, Vater! Ich habe Angst um dich gehabt! Seit deinem Frühbrot hast du nichts genossen. Denke doch auch ein wenig an dich selbst – – –«

»Ich habe mit dir zu reden, Franziska.«

Seine Tochter sah erstaunt-forschend zu ihm auf. Die Stimme des alten Herrn klang sonderbar rauh, gebrochen und müde, und er sah die junge Frau nicht an.

»Ich höre, Vater!«

Lange Pause. – – »Baldamus Eik hat heute wieder um deine Hand angehalten.«

»Ich trage noch Trauer, Vater – – –«

[131]

»Ich weiß es, – und drängen wird dich Baldamus nicht, er will wohl nur Gewißheit haben.«

»Ich begreife Baldamus nicht, Vater. Was mir vor Jahren unmöglich war, – ist es auch heute noch. Er will mich nicht verstehen.«

»Franziska, – bist du ganz von Grund aus mit dir zu Rate gegangen, und – bist du dir klar, was du aufgibst? – Das große Vermögen würde in einer Hand bleiben und dein Knabe einmal alles bekommen. Baldamus liebt dich – – –«

Frau Franziska schauerte zusammen. »Laß mich bei dir bleiben, Vater,« bat sie müde. »Ich habe so überreichlich zum Leben durch deine Güte, und mein Junge soll werden wie du, so einfach – und so aufrecht.«

Der alte Herr Eik zuckte zusammen, aber er litt es still, daß die Tochter seine Hand an ihre Lippen zog.

Sie wußte, wie er an dem Gedanken hing, sie mit dem Pflegesohn eins zu wissen, sie wußte, daß sie ihm auch heute wieder weh tat, wie sie ihm vor Jahren den bittersten Schmerz seines Lebens zufügte, und daß nun wieder eine Kluft zwischen Vater und Tochter sich auftat, die sich nie mehr überbrücken ließ – – –

»Du weinst, Franziska?«

Sie schluchzte weh auf.

»Daß ich dir so wenig zeigen kann, wie lieb ich dich habe, Vater – – –«

[132]

Er strich ihr sacht über das dunkle, wellige Haar mit einer scheuen, verlegenen Bewegung, der man wohl anmerkte, daß Liebkosungen etwas Seltsames für ihn bedeuteten.

Franziska hatte ihren Kopf tief geneigt, und der alte Eik schaute über sie hinweg durch das Fenster in die grünen Parkwipfel hinein in ernstem Sinnen.

Franziska fühlte ihr Herz hart und schwer klopfen. »Wie wird alles werden,« dachte sie, »was wird er bestimmen, was wird er mir sagen, wenn diese Pause vorüber ist?«

Herr von Eik richtete sich hoch auf.

»Ich habe eine Bitte an dich, Franziska, – eine seltsame – – –«

»Wenn ich sie erfüllen kann , Vater, – – –« entgegnete sie zögernd.

Da zog es wie ein Lächeln über seine ernsten, finsteren Züge, – und Frau Franziska meinte, ihr eigener, lieber Junge schaue sie auf einmal aus diesem erhellten Antlitz an.

Es fiel dem Alten schwer, seine sonderbare Bitte in Worte zu formen: »Franziska, – bringe mir, – – besorge mir aus der Stadt eine Puppe – – eine große, schöne Puppe, – – hörst du, – die schönste, die das Nest hat.«




[133]

Liselotte Windemuth führte ein recht einsames Dasein.

Der Professor lebte mit seinen Büchern, Base Juliane mit ihren Kochtöpfen, und so kam es, daß Liselotte nur auf die Schule, auf Herrn Rektor Tüllen, auf ihre Schulkameraden und ihre Puppen angewiesen war.

Unter den Schulgespielen hatte sie keinen Freund und keine Freundin.

Sie war zu eigenartig, das kleine Ding, und nichts verzeiht eine Kleinstadt weniger als Eigenart.

Liselotte ließ sich in keine Schwarzhausener Schablone pressen, und niemand wußte etwas mit ihr anzufangen. Ihre unerschrockene Offenheit und Wahrheitsliebe, ihre wißbegierige Fragelust, – das waren lauter unbequeme Dinge für die Mitbürger und deren Sprößlinge. Man lachte wohl laut und anhaltend über ihre närrischen Einfälle und Fragen, aber weit öfter ärgerte man sich darüber und schalt; auch Base Juliane war mehr grillig und grimmig mit dem Kinde, als liebenswürdig.

Ab und an, wenn der Professor Windemuth in seinen Arbeiten auf einen toten Punkt geriet und eine kleine Rast halten mußte, fiel ihm wohl sein kleines Töchterchen ein. Befand es sich gerade in der Schule, so rief er Base Juliane und fragte, wie es dem Kinde ginge und ob es auch ja alles empfange an Körperpflege, wie es die verstorbene Mutter bestimmt.

[134]

Über diese Fragen empörte sich aber die Base immer weidlich.

»Wie eine Prinzessin hat sie’s,« – das war gewöhnlich die Antwort, »der Vetter braucht ja nur zu gucken, wie sauber und ordentlich ich das Kind halte, – eine leichte Arbeit ist’s nicht bei dem Quirlefitsch. Und gesund ist’s auch alleweil, – dafür bin ich da und der Herr Doktor.«

So war der Professor beruhigt. Doktor Hempel war ein Mann der alten Schule, recht für Schwarzhausen geboren. Er arbeitete mit altbewährten Mitteln, bei den Erwachsenen mit Schröpfköpfen, Aderlässen und Kamillentee, bei Kindern mit Wurmpulver und »Kurella«, und jedes Frühjahr, wenn die Hausfrauen »reinegemacht« hatten und auf ihren Lorbeeren ausruhten, benutzte Doktor Hempel diese Ruhezeit und unterzog sämtliche Mitbürger einer Reinigungskur, wonach sie sehr abgemattet und zahm wurden und manches für die Stadt bewilligten, was sonst noch gute Weile gehabt hätte. –

Ja, Professor Windemuth sah es, seine Liselotte war ein gesundes, blühendes, schönes Kind, und ihr lockenumrahmtes, blondes Köpfchen mit den blauen, tiefen Schelmenaugen, die doch auch wieder so ernst blicken konnten, wurde der verstorbenen Mutter immer ähnlicher.

Daß sein Kind geistige Nahrung entbehren könne, kam dem Manne nicht in den Sinn. Ja, wäre Liselotte [135] sein heißersehnter Knabe gewesen! – Aber Mädchen blieben ja zu Hause, kochten, strickten und – wurden geheiratet.

So stillte denn Liselotte ihren geistigen Hunger durch Lesen, und sie las bunt durcheinander, was ihr in den Weg kam, sie las aber auch hauptsächlich immer wieder, was in dem Bücherschränkchen der heimgegangenen Mutter steckte, und das war gut. Und sie las mit großem Eifer, was der sorgende, wachsame Rektor Tüllen in ihre kleine Hand legte, und das war noch besser. –

Was Liselotte gelesen, das erzählte sie gern wieder, und da Base Juliane und der Professor nie Zeit für sie hatten, so erzählte sie es ihren Puppen und wurde dadurch altklug und etwas selbstherrlich, denn die Puppen widersprachen ihr niemals.

Seit dem Erlebnis mit dem »schlechten Kerl«, wie sie innerlich den bösen, alten Herrn nannte, war Liselotte recht nachdenklich geworden, so daß es selbst Base Juliane auffiel.

»Ist dir nicht extra?« fragte sie das Kind wohl zehnmal am Tage, »du hast gewiß Würmer.«

»Es kann schon sein,« bestätigte Liselotte, denn sie aß Zitwersamen mit Sirup recht gern. Und während sie das Kindertäßchen mit dem braunen Saft auslöffelte, hatte sie eine eingehende Unterredung mit Base Juliane.

»Darf man Müttern ihre Kinder einfach wegnehmen, wenn man groß ist, Base Juliane?«

[136]

»Hm! Das ist eigentlich noch nichts für dich, Kind. Aber sowas gibt es. Die Leute haben sich dann lieb und heiraten sich.«

»Weißt du das ganz sicher, Base Juliane?«

»Freilich, du Dreikäshoch.«

»Warum hat dich denn niemand der Mutter fortgenommen?«

»Das sind sehr unanständige Fragen, Liselotte, du solltest dich was schämen. Es hat eben nicht jede Jungfrau das Glück – – –, ich meine, – nicht jede Jungfrau kann sich entschließen, ihr gottwohlgefälliges Leben aufzugeben.«

»Bitte, sag’ das noch mal langsam, Base Juliane, und erkläre mir’s recht ordentlich – – – so kann ich dich nicht recht verstehen.«

»Du schreckliches Kind! Nein, das ist nichts für dich. Durchaus nicht. Wo du nur immer die Fragen her hast!«

Liselotte saß tief nachdenklich da.

»Base Juliane, wenn nun aber der Mann alt und schrecklich ist und das Kind ganz kopflos – – –«

»Du gerechter Gott,« schrie Base Juliane, »wie kommst du bloß auf so was Fürchterliches! Das muß ich deinem Vater erzählen. Kind! Hast du etwa schlechten Umgang? Mit wem redest du so am Tage?«

»Nur mit dir,« meinte Liselotte harmlos. »Mit dir und den Puppen, aber sie wissen mehr als du und [137] fahren mich nicht an und petzen nicht alles, was ich sage, dem Väterchen.«

»Nur zahm, nur zahm!« meinte Base Juliane und sah doch selbst aus wie ein geharnischtes Sonett. »Das ist längst nicht gepetzt, wenn ich so gefährliche Sachen dem Herrn Professor wieder erzähle. Weiß Gott, kein anderes Kind aus Schwarzhausen würde solche Dinge gefragt haben.«

In voller Entrüstung stand sie auf, räumte Zitwersamen und Sirup fort, und Liselotte wischte sich das klebrige Mäulchen ab, packte ihren Puppenwagen voll geliebter Babys und murmelte dabei unverständliche Worte, von denen die entsetzte, kopfschüttelnde Base nur immer wieder: »Alter schlechter Kerl« und »Kopfloses Kind« verstand.

Sie beschloß, umgehend dem Herrn des Hauses Mitteilung von dem eben Erlebten zu machen, während Liselotte eilig das Haus verließ und sich auf ihr stilles Plätzchen, zu dem Tempelchen im Park Eichenborn, begab.

Friedlich lag der Spielplatz da, – goldene Sonnenlichtchen tanzten auf den Zweigen der Tannen, und ein köstlich-herber Harzduft füllte rings den Platz. Liselottchen fuhr schnuppernd mit ihrem feinen Näschen in der Luft umher.

»O wie gut riecht es hier, wie gut!« meinte sie anerkennend zu sich selbst, und den Puppen rief sie zu: »Kinder, sperrt die Nasenlöcher auf, – es ist ja zu gesund!«

[138]

Rasch strebte sie der Steinbank zu, um ihre Kleinen darauf zu verteilen und eine große »Bettensömmerung« vorzunehmen, aber zu ihrem höchsten Erstaunen fand sie das Rundteil bereits von einer Persönlichkeit besetzt, die ihr mit weit aufgerissenen und doch ziemlich ausdruckslosen Augen entgegensah.

»Was ist denn das ?« fragte Liselotte laut und sah sich nach allen Seiten um, ob wohl jemand zu der Balldame gehöre, denn als solche erwies sich die sehr große, majestätische Puppe, die da auf der Steinbank mit tief ausgeschnittenem und weit ausgebreitetem Staatskleide lehnte.

Niemand war ringsum zu sehen, nur Liselottes Puppenkinder schauten auf den fremden Eindringling hin.

»Kannst du nicht antworten?« fuhr Liselotte ihn an. – Auch nicht das geringste Gefühl der Zuneigung zog sie zu der feinen Dame hin, und so verschmähte sie es auch, auf ihre Frage selbst Antwort zu geben, wie sie es sonst immer mit ihren Lieblingen tat.

Am Staatskleide der Puppe steckte ein Zettel mit den Worten: »Diese Puppe soll Liselotte Windemuth gehören.«

Die Kleine entzifferte ihn mühelos, aber in ihrem Gesichtchen veränderte sich kein Zug. »Wer schickt dich?« fragte sie noch einmal, und als die Puppe nicht antwortete, sondern dumm weiter stierte, sagte ihr Liselotte ehrlich und zornig die Meinung:

[139]

»Du bist furchtbar häßlich. Ich mag dich gar nicht. O Gott, wenn ich denke, wie schön meine Puppe Emmy ohne Kopf war. Wie ihr alles gut stand! Wenn ich nur wüßte, was ich mit dir anfangen soll! Du versperrst nur den Platz, und ich will doch Betten sömmern. Pfui, was für ’n ausgeschnittenes Kleid! Ich hab’ mal heimlich zum Hoffenster reingesehen, wie Fräulein Ziddelmann auf den Ball ging. Base Juliane sagte, ein Christenmensch müßte sich tot schämen. So siehst du aus. So sprich doch! Kannst du nicht? Willst du nicht? Bist du am Ende schon tot und willst es nur nicht sagen?«

Liselotte gab der Staatsdame einen derben Stoß, so daß sie auf die Bank polterte und mit geschlossenen Augen liegen blieb.

»Siehst du, daß du tot bist? Du konntest es gleich sagen, du arme, häßliche Person, dann hätte ich dich nicht erst so angefahren. Komm, ich will dich begraben, – ich habe es erst gestern gesehen beim Nachbar. Base Juliane nahm mich mit auf den Kirchhof, – ich weiß alles gut.«

Liselotte sah sich aufmerksam um. – Der Waldboden rings umher hatte lockere, weiche Erde, und mit einem flachen Stein und ihren eigenen, festen, kleinen Händen grub sie rasch und emsig ein genügend weites Loch. –

»Kinder, ihr müßt jetzt stark weinen, es kommt was Trauriges,« wandte sie sich an die anderen Puppen [140] und fing sogleich selbst ein jammervolles Heulen und Piepsen an.

»So, und nun ein Choral! – Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren,« sang sie andächtig, und währenddem hob sie die Staatsdame vorsichtig auf und trug sie unter die Tannen hin, wo sie feierlich in die Erde gebettet wurde. Und da gerade die Sonne durch die grünen Zweige auf das Grab schien, gab Liselotte noch ein Lied zu: »Goldne Abendsonne, wie bist du so schön!«

Dann schickte sie sich an, das Grab zuzuschaufeln.

»Was spielst du denn da?« fragte eine tiefe Stimme hinter ihr.

Liselotte fuhr herum und starrte ihren größten Feind und Widersacher an.

»Beerdigen!« meinte sie kurz und ließ sich nicht weiter stören, sondern grub und schaufelte, bis auch nicht ein Schimmer des himmelblauen Seidenkleides mehr zu entdecken war.

Tief atmend sprang Liselotte auf und wischte sich mit den schwarzen, erdigen Händen die feuchten Locken aus dem erhitzten Gesicht.

»Wie du aussiehst,« rief Herr von Eik vorwurfsvoll, »die Base Juliane wird sich freuen – – –«

Liselotte sah ihn mürrisch an. »Nein, die freut sich nicht, wenn ich schmutzig bin,« gab sie zur Antwort.

»Du bist ein närrisches Ding!« meinte der alte Herr kopfschüttelnd. »Komm, setze dich zu mir auf [141] die Steinbank dort, da will ich dir etwas Schönes zeigen, – das soll dir gehören, – weil die Puppe Emmy verloren ist – weißt du – die alte, häßliche, kranke Puppe Emmy ohne Kopf – – – da, – ich habe dir eine wunderschöne, neue Puppe gekauft –«

Herr von Eik wandte sich sehr verlegen zur Steinbank, denn ihm selbst war seine Rolle als Beschützer und Beglücker kleiner, puppenspielender Kinder neu, – doch die Bank war leer, keine neue, feine, teure Puppe weit und breit, aber vor ihm stand mit schmerzlich verzogenem, schmutzigem Gesichtchen ein zartgliedriges, lebendiges Püppchen, das warf beide Arme über die harte Steinbank und verbarg laut weinend das Gesicht darein: »O meine Puppe Emmy, meine liebe, einzige, schöne Puppe Emmy!!!«

»Immer dasselbe Lied!« stieß Herr von Eik hervor. »Was bist du für ein sonderbares, unbändiges Kind! Wenn ich nur wüßte, wo die neue ist? Ich habe sie vorhin selbst hergesetzt.«

»Da!« schluchzte Liselotte und wies nur eben mit dem Kopf nach der Begräbnisstätte.

Herr von Eik ging mit schweren Schritten nach dem schwarzen Erdhügel, und sein wuchtiger Stock schaufelte und bohrte in der Erde, bis er nach einer Weile ein Stückchen blaue Seide entdeckte, – das arg zugerichtete Staatskleid der begrabenen Balldame. Rasch schaufelte er sie wieder zu und kehrte mit finsterem Antlitz zu der heftig Weinenden zurück.

[142]

»Warum tatest du das?« fragte er mit heiserer Stimme.

»Weil ich sie nicht lieb habe,« brach das Kind leidenschaftlich los. »Weil sie dumm und häßlich und tot war. O du hast mir meine schöne, süße, lebendige Emmy gestohlen und die garstige Balldame hingelegt! Tot und häßlich war sie und deshalb habe ich sie beerdigt.« –

In fliegender Eile raffte Liselotte ihre Püppchen zusammen, man sah es ihr an, ihr kleines Herz zitterte vor Angst, der große, harte, böse Mann könnte sich an ihnen vergreifen. Dann fuhr sie, immer noch bitterlich schluchzend, mit ihnen davon, ohne auch nur noch einen Blick zurückzuwerfen. Auch Herr von Eik schritt langsam den Weg nach seinem düsteren Hause zurück. Ein seltsames, bitteres Lächeln lag um seinen Mund. »Tot und häßlich« hatte dieses Kind sein farbenprächtiges, leuchtendes Geschenk genannt. Tot und häßlich hatte ihn auch gestern seine Vergangenheit angestarrt, – aber er konnte sie nicht so verblüffend einfach beseitigen und begraben, wie dies mutige, kleine Mädchen es vorhin getan, und für ihn gab es keine »goldene Abendsonne« mehr. – – –




Schwarzhausen schüttelte wieder einmal den Kopf.

Da lag das kleine Städtchen so recht warm eingebettet [143] in den thüringer Bergen, durchduftet von Tannenluft, umrauscht von der lustigen, wilden Gera. Es war wohlhabend und stattlich gebaut, es hatte treue Väter, die sein Wohl zu dem ihrigen machten, aber es hatte Sorgen, und so kam es eigentlich nicht aus dem Kopfschütteln heraus.

Sorgen um das schwarze Schaf inmitten der reinlichen, frommen, guten und vor allen Dingen ach, so selbstgefälligen Schäflein, – Sorgen um den Eichenborn. Würde er das Städtchen nie zur Ruhe kommen lassen???

Nun hatte Schwarzhausen wohl einen treuen, guten Stadtvater, der sich mit gelegentlichem Kopfschütteln begnügte und wohlmeinend murmelte: »Wir verdanken den Eiks eigentlich alles , und wenn ich bloß reden dürfte – –« Aber es hatte keine milde, liebe, ältliche, rundliche Stadtmutter, sondern eine unendlich lange, hagere, spitze Frau Bürgermeisterin, die es sich nicht einfallen ließ, wie gute Mütter tun, sich von der mutmaßlichen Schlechtigkeit ihres Kindes persönlich zu überzeugen, sondern die in vielen, besonders zu diesem Zwecke anberaumten Kaffeegesellschaften die Abneigung gegen den Eichenborn und seine Bewohner noch schürte. Und wenn der Kaffee auch koffeïnfrei war, den die Frau Bürgermeisterin ihren Gästen vorsetzte, ihre Reden waren es nicht, in denen saß das Gift und harrte seiner Bestimmung.

Schon nach der dritten Tasse waren beinahe alle [144] Damen einig darüber, daß es so nicht weiter gehen könne.

Und daß Frau Pfarrer Klingenreuter und Frau Doktor Hempel so arg zugeknöpft taten und besonders die Pfarrerin so gar nichts gegen , wohl aber manch mildes Wort für die Verurteilten einlegte, nun das war ihre eigene Sache und störte die bösen Zungen nicht im mindesten in ihrem Verdammungsgeschäft.

»Das ist nun eben Ihr Beruf, Frau Pfarrer,« meinte die Bürgermeisterin, »ich könnt’s nicht, meine Ohren und Augen sind zu offen dazu.«

Die Pastorin lächelte.

»Meinen Sie, daß ich Augen und Ohren von Berufs wegen schließe?« fragte sie mit feinem Spott. »Und sollte es nicht der Beruf jeder Frau sein, Gutes zu reden und erst einmal das Beste von jedem Menschen anzunehmen?«

»Bitte, Frau Pfarrerin, zeigen Sie uns bei dieser Geschichte das Gute!« rief die Bürgermeisterin aufgeregt. »Sie können es einfach nicht, denn es ist nicht vorhanden. Aus reiner Schlechtigkeit und Bosheit hat dieser Bertold Malcroix, genannt Eik, den von uns allgemein so verehrten Herrn Baldamus schwer verletzt – – –«

»Ich bitte mich von der Allgemeinheit auszunehmen, – ich verehre den Herrn nicht,« rief Frau Doktor Hempel kampfesmutig dazwischen.

[145]

»Und offenbare Schlechtigkeit gut nennen, das kann eben nur ein Pfarrer,« schloß die Bürgermeisterin.

Logik war nie ihre Stärke gewesen und bei dem hellen Ärger, in dem sie sich augenblicklich befand, besann sie sich überhaupt nicht auf ihre Worte.

Frau Pfarrer Klingenreuter war rot geworden.

»Ei ei,« meinte sie dann. »Ich glaube, wirklicher Schlechtigkeit und Bosheit gegenüber darf jeder Mensch, also auch jeder Pfarrer in ehrlichen, heiligen Zorn geraten. Hier handelt es sich aber gar nicht darum. Und das Gute kann ich Ihnen nicht zeigen, weil es nicht auf der Oberfläche liegt. Es ist aber tatsächlich vorhanden. Selig sind die, die da nicht sehen und doch glauben.«

Die Bürgermeisterin stieß unter dem Tisch die Frau Postverwalter an und beide Damen verbargen darauf ein überlegenes Lächeln hinter ihren Spitzentaschentüchern.

Natürlich, wenn die Pfarrerin mit Bibelsprüchen kam, – da mußte man schweigen. Man war ja freilich ein beglaubigter Christ, getauft, konfirmiert und kirchlich getraut, aber – – Bibelsprüche waren doch mehr für einfache Leute.

Die Unterhaltung ging weiter.

»Ist Herr Baldamus von Eik sehr krank?«

» Sehr. «

»Weiß man, was nun mit dem Bengel, dem Bertold geschieht? Kommt er nun endlich in Zwangserziehung?«

[146]

»Ich weiß es nicht. Jedenfalls nicht nach dem rauhen Haus, was doch das einzig richtige wäre. Für die Eiks wird ja aber immer eine besondere Wurst gebraten, und so soll Bertold Malcroix nach E. aufs Gymnasium kommen – – –«

»Aufs Gymnasium?« schrien sämtliche Frauen, mit Ausnahme von Frau Pfarrer Klingenreuter und Frau Doktor Hempel, welche still mit ihrer Arbeit beschäftigt schienen. »Das ist doch ganz unmöglich! Solch einen Buben in eine öffentliche Anstalt? Wenn er nun die Mitschüler massakriert? Das ist ja gemeingefährlich!!!«

Die Frau Bürgermeisterin antwortete erst eine Weile nicht. Sie war buchstäblich geschwollen vor Stolz und Mitteilungsbedürfnis. Denn sie wußte alles und noch ein bißchen mehr.

Erst nachdem sie sich zurecht gesetzt und eine tief heruntergefallene Masche ihres Strumpfes wieder auf den Pfad des Rechtes gebracht, kam sie mit dem Trumpf zum Vorschein.

»Unsere Rektorschule in Schwarzhausen verliert ihren Leiter,« sagte sie langsam, wichtig und betonend. »Rektor Tüllen geht als Aufpasser mit nach E., weil er den schlechten Charakter des Burschen kennt, und damit er selbst geschützt ist, wenn Bertold Malcroix seine zerstörenden Tobsuchtsanfälle bekommt, geht der Organist Brennstoff auch mit.«

»Herr du meines Lebens! Warum nicht noch zehn [147] Hofmeister und seine ganze Sippe dazu?« eiferte die Frau Postverwalter.

»Ja wahrhaftig! Da kann man auch sagen: ›Viel Lärm um einen Eierkuchen‹,« rief Frau Großschlachter und Hoflieferant Bentel. Sie konnte das Sprichwort auch französisch sagen und hätte es brennend gern getan, aber sie wußte nicht genau, ob es » un « oder » une omelette « hieß, und so unterließ sie es lieber. Manche Menschen waren so »penniebel« in so was, und sie wollte ihren Ruhm als gebildete Frau, die in »Penksion« gewesen, nicht einbüßen. –

»Und das sollen wir uns gefallen lassen?« Diesmal waren es mindestens sechs aufgeregte Damen, die Antwort auf diese Frage heischten.

Die Bürgermeisterin zuckte die Achseln.

»Was sollen wir tun?« fragte sie dagegen. »Die Rektorschule ist Privatsache, und der Organist sollte auf alle Fälle pensioniert werden, weil ein Bericht über ihn gekommen ist, daß er heidnische Gesänge in der Kirche spielt. Also, sagt mein Mann, wir täten klug, wenn wir ihn einfach gehen ließen. Solchen Musiknarren ist überhaupt nichts zu beweisen. Die halten manchen Kram für hochheilig, vor dem man sich eigentlich bekreuzigen sollte.«

»Was sagen Sie denn eigentlich zu dem allen, Fräulein Windemuth? und was sagt Ihre Kleine?« wandte man sich jetzt an die eifrig stickende und zählende »Base Juliane«, die sich noch mit keinem Worte [148] an der Unterhaltung beteiligt hatte, teils weil sie für den Professor ein Paar Schuhe stickte mit schwierigem Muster, teils weil ihr der Vetter eingeschärft hatte: »Halt lieber den Mund in der Kaffeeschlacht. Es geht uns nichts an, und der Kleine war doch mal Liselottes Freund.«

Sie warf jetzt auch nur einen Blick gen Himmel und rief: »Ich sage gar nichts

Aber dieser Himmelblick und ihr übereifriges Weitersticken redeten ganze Bände und stellten sie sozusagen über die Parteien.

Wenn Base Juliane, die allzeit Redegewandte und Redelustige, schon schwieg, wie entsetzlich mußte da die Wirklichkeit sein, – und was mußte sie mit dem altklugen, kleinen Mädchen erlebt haben, das von allen Schwarzhäuser Kindern das einzige war, das sich nicht entblödet hatte, mit Bertold Malcroix zu spielen.

Aber Base Juliane empfand mit einem Male ihre Schweigsamkeit als etwas Entehrendes. Wo jeder seinen Senf dazu gab, sollte sie, die Base des angesehenen und gelehrten Professors, alle schmackhaften Gewürze für sich behalten? Sie grübelte und grübelte, welche von den vielen pikanten Geschichtchen aus dem Hause Eik, die sie als verbürgt von maßgebender Seite vernommen, sie wohl zum besten geben könnte, aber immer sah sie die ernsten Augen des Vetters Windemuth vor sich und begnügte sich deshalb mit der Bemerkung: »Ihr Bild wollte sie ihm durchaus zum Abschied [149] schenken, – die Liselotte nämlich, – wir waren beim Photographen gewesen und gestern kamen die Bilder, – sie hat ’n weißes Spitzenkleidchen an mit rosa Schärpe, – bildschön – und auch teuer genug – die Bilder nämlich, aber das Kleid auch – und da sagte ich: ›Um Gottes willen, Liselotte, doch bloß so was nicht tun, da kann man ja wohl noch mal ins Verbrecheralbum kommen mit dem Jungen‹.«

Das war stark! Aber Base Juliane war als furchtlos bekannt, und man freute sich, von angesehener Seite etwas gehört zu haben, was Hand und Fuß hatte, und das man abends überall wiedererzählen konnte, ohne das bekannte Siegel der Verschwiegenheit zur lästigen Bedingung zu machen. –

Es war wirklich nicht nett von der Frau Pfarrer, daß sie so einen Aufstand um diese Bemerkung machte und mit so tränendurchzitterter Stimme rief: »Tut denn niemandem von Ihnen der arme Junge leid, der im Jähzorn fehlte? Wollen wir ihn mit so lieblosen Worten ziehen lassen?«

Und die sanfte Frau hatte mit flammenden Augen die ganze Kaffeegesellschaft angeschaut, und als auf ihre Frage sich niemand meldete, war sie ohne Abschied fortgegangen und Frau Doktor Hempel mit ihr.

Das sah beinahe ein bißchen wie Verachtung aus, aber man war viel zu sehr überzeugtes »weißes Schaf«, als daß man so etwas auf sich bezogen hätte.

Mindestens aber war es ärgerlich.

[150]

Doch konnte ja die Frau Pfarrer tun, was sie wollte. Man würde sie eben so bald nicht wieder einladen und ihretwegen sich gewiß nicht scheuen, seine eigene Meinung über die Eiks zu haben und auch auszusprechen. –

Frau Doktor Hempel ging direkt von der Kaffeeschlacht heim und in die Studierstube ihres Gatten, während Frau Pfarrer noch einige Schwerkranke besuchte, um »ins Gleichgewicht zu kommen«, wie sie meinte.

Doktor Hempel war noch auf Praxis, aber seine Frau nahm sich gar nicht Zeit, sich bis zu seiner Ankunft ihres seidenen Kleides zu entledigen und sich’s hausfraulich bequem zu machen, – ja sie setzte sich nicht einmal, – sie war zu aufgeregt dazu. Wie der förmlichste Besuch wartete sie in Hut und Mantel auf ihren Mann, und auf ihrem offenen, energischen Gesicht lag ein Ausdruck von Zorn und Trauer.

Da kam Doktor Hempel schon über den Platz in heftigen Schritten, er grüßte die ihm Begegnenden nur mit einem Handwink und zerstreuter Miene, und die Schwarzhausener sahen ihm nach und tuschelten miteinander. Er kam ja vom Eichenborn. –

Als Doktor Hempel in sein Zimmer trat, kam ihm seine Frau entgegen und forschte angstvoll in seinen Augen.

»Nun?«

»Es geht zu Ende. –«

[151]

»O der arme Junge!« rief sie aus, »der arme Junge!«

Der Doktor war zu seinem Schreibtisch gegangen, um die eingetroffene Post nachzusehen, jetzt drehte er sich schroff um.

»So ein Unsinn! Was hat der Junge damit zu tun? Das heißt, ja – – natürlich, – etwas schon, – aber was will das besagen? Für den Arzt gar nichts.«

»Aber für die Schwarzhausener,« fiel seine Gattin erregt ein und erzählte ihm alles, was das Kaffeekränzchen an Gift entwickelt hatte.

»Verdammte Klatschweiber!« fluchte Doktor Hempel. – »Jawohl, ich höre sie ordentlich reden: ›Der allgemein verehrte Herr Baldamus!‹ So’n Kerl! Pfui Teufel! Jetzt kann ich ja noch schimpfen. Du bist ja meine liebe, dienstlich vereidigte Alte. Und wenn er erst tot ist, dann halte ich’s mit dem Wort: › De mortuis nil nisi bene ‹.«

»Wird er wirklich sterben?« fragte sie bang.

Er nickte ernst. »Ich bitte dich, – zuckerkrank in diesem Alter, außerdem verseucht bis oben hin, – herzleidend, – – nun ist eine Fußwunde aufgebrochen und – der heftig blutende Biß dazu – – –«

»Sie werden alle, alle dem letzteren die Schuld geben,« meinte Frau Doktor Hempel traurig.

»Aber das ist Unsinn, – verrückter Blödsinn,« fuhr der Doktor auf. »Unsere verehrten Mitbürger sind [152] Hornochsen, besonders aber die Ehehälften. Ein paar vernünftige Kerle hielten heute Kriegsrat mit mir, der Postverwalter und der Apotheker. Den Rektor Tüllen wollten wir mit zuziehen, um dann dem alten Eik vorsichtig beizubringen, daß es das beste wäre, den Jungen erst mal aus Seh- und Hörweite der lieben Schwarzhausener zu bringen. Aber siehe da, der Alte war schon von selbst so weitsichtig gewesen, – die Übersiedlung des Bertold junior nach E. war schon beschlossene Sache. Herr von Eik senior ist vernünftiger als alle Schwarzhausener zusammen.«

Doktor Hempel schüttelte sich.

»Gib mir’n Kognak, liebe Alte! Brrr! Ich muß gleich nachher wieder hinüber. Jetzt ist der Pfarrer dort. Aber dem wohnten auch ›zwei Seelen, ach, in seiner Brust‹, – – ich möchte nicht die Beichte des Herrn Baldamus abhören – – –.« Und der Doktor schüttelte sich noch einmal.




Am nächsten Abend war alles vorüber. – – –

Der junge Bertold konnte sich später, als er zwischen seinen beiden treuen Begleitern im Arbeitszimmer zu E. saß, nur weniger Einzelheiten erinnern, so rasch war alles gegangen. Aber die wenigen Einzelheiten saßen um so fester, teils weil sie so schrecklich und traurig und teils, weil sie so wunderlich süß waren.

[153]

Der Abschied von seinem Mütterchen, das war das Herbste an dem Ganzen und der Knabe konnte nicht einmal darüber weinen. Denn in seinem tiefen Empfinden und frühreifen Nachdenken meinte er, er müsse all seine eigenen Tränen noch für sein Mütterchen aufheben, die sonst am Ende mit heißen, trockenen, brennenden Augen dasäße, – soviel weinte Mütterchen jetzt.

Aber Bertold wußte wenigstens seit seiner Abreise, daß Mütterchen nicht über ihn selbst weine, über seinen greulichen Jähzorn und seine unheilvolle Tat, sondern hauptsächlich über die schlimmen Menschen, die ihn dazu gebracht und nun so häßlich und verstockt und richtend dastanden.

Auch der letzten Unterredung mit dem Großvater erinnerte er sich. Man konnte dies Beisammensein wohl eigentlich nicht »Unterredung« nennen, es war mehr ein Kampf gewesen. Wer war der Unterliegende darin? Der junge Bertold wußte es nicht. Vielleicht war er es selbst, denn man hatte ihn ja nach E. geschafft, und hier mußte er nun bleiben, – ohne Mütterchen. Aber in den Augen des harten Großvaters hatte etwas gelegen, – Bertold wußte es nicht sicher zu deuten, etwas Müdes, etwas, das den jungen Enkel beinahe veranlaßt hatte, zu sagen: »Stütz’ dich auf mich, Großvater, ich bin stärker als du!« War man aber unterlegen, wenn man sich so stark fühlte? –

»Wir müssen den Jungen auf andere Gedanken [154] bringen,« meinte Rektor Tüllen und sah sorgenvoll auf Bertold Eik. »So sieht doch kein Kind aus! Kein Zehnjähriger! Lieber Brennstoff, wir haben eine schwere Verantwortung!«

»Das weiß ich, Rektor! Aber ich glaube, dies verträumte Hinstarren hat einen Grund, der uns keine Sorge zu machen braucht. Er denkt an Beethoven! Welch ein Umschwung seiner Verhältnisse! Aus der Wüste des musik- und geigen-, kurz des tonlosen Daseins, plötzlich in eine Oase des ungestörten Harmoniegenusses versetzt zu werden, muß ja etwas Überwältigendes haben.«

Aber Rektor Tüllen teilte nicht die Ansicht des poetischen Brennstoffs, und sein Antlitz blieb sorgenvoll.

Bertold aber sann weiter, und wie er alle Erlebnisse in seine Herz- oder Gehirnkämmerchen verteilte, trat ein gespannter, frühreifer Ausdruck auf sein schmales Jungengesicht.

Wie sie alle entsetzt gewesen waren im Eichenborn, als der Onkel Baldamus starb. Und er selbst, Bertold, hatte nur einen Gedanken gehabt und ihn auch gleich ausgesprochen: »Mütterchen, nun kann er dich nicht mehr quälen!«

»Still, o still!« hatte die Mutter erwidert, aber in ihrem ganzen Wesen lag doch etwas wie aufatmende Zustimmung. O Bertold sah viel, – sah mehr, als andere sahen. Und sein Ohr war scharf, schärfer als das der anderen, hätte es sonst wohl den halberstickten [155] Hilferuf vernommen, der damals aus Mütterchens Zimmer kam? Wie der Wind war er aus seinem Bette gesprungen und von dort gleich durchs Fenster auf das platte Dach, und von dort hatte er durch das offene Balkonfenster in Mütterchens Zimmer geschaut. Sie hatte noch Licht gehabt, – mitten in der Nacht. Armes Mütterchen, gewiß las sie wieder stundenlang in des verstorbenen Vaters Briefen – – –

Aber das Licht stand nicht an ihrem Bett – das flackerte auf dem Ofensims nahe der Tür und – Mütterchen rang mit jemand – rang mit Onkel Baldamus.

Oh – jetzt in der Ruhe kam die Erinnerung wieder klar über Bertold, – damals ging alles so furchtbar schnell. Der Jähzorn war über ihm zusammengeschlagen, als er sein Mütterchen in Gefahr sah. Als ihm die volle Besinnung wieder kam, da hatte ihn Onkel Baldamus schon vor den Großvater geschleppt, und da sollte er angesichts des heftig blutenden Baldamus Eik gezüchtigt werden. Warum hatte Großvater es nicht getan?

Mütterchen hatte sich zwischen ihn und Großvater geworfen und ihn verteidigt, – o wie seltsam hatte Mütterchen ausgesehn! Viel weißer und starrer und seltsamer, als damals, da man Bertolds Vater tot ins Haus brachte.

Und Onkel Baldamus hatte auf einen gebietenden Wink des Großvaters das Zimmer verlassen müssen, und Bertold hatte ihn nicht wieder gesehen.

[156]

Dann schlich man auf leichten Sohlen durch den Eichenborn, denn Onkel Baldamus war todkrank. Und auf alle seine, Bertolds, Fragen an das Mütterchen: »Ist er von dem kleinen Biß krank, Mütterchen? Der so blutete? Bin ich schuld? Was wollte er dir tun?« da hatte die Liebste immer nur geantwortet: »Still, o still! Nicht fragen, mein Liebling!« Und sie hatte ihn auf die Augen geküßt, daß er sie schließen mußte und seiner Mutter blasses Antlitz nicht mehr sah. –

Dann waren seine Koffer gepackt worden, und Frau Thereschen Teichmann hatte Betten verschnürt, und sein ganzes Jungenzimmer war auf einen Wagen geladen worden und stand nun hier in der fremden Stadt E.

Wenigstens hatte man ihn nicht allein ziehen lassen.

Zwei so gute, treue Freunde, Mütterchens Freunde, waren mit ihm gegangen. Und sie sahen ihn nicht mit häßlichen, beobachtenden Augen an, wie alle die andern Leute in Schwarzhausen, sie redeten lind auf ihn ein, daß er nicht schuld sei an Herrn Baldamus’ Tode – – sie waren gut, – gut. –

Und noch jemand war gut. Ein kleines, blondlockiges Mädchen, das er, Bertold Eik, bestohlen hatte. Ja, es nützte gar nichts, daß er sich vor sich selbst entschuldigt hatte: »ich habe sie ja gefunden ,« oder, »es ist ja nur Puppe Emmy ohne Kopf,« er war doch ein ganz abscheulicher Junge, er war wirklich ein »schlechter Kerl«.

[157]

Aber er hätte Puppe Emmy um die Welt nicht herausgeben können, – etwas mußte er sich aus dem Eichenborn hinüber retten in die fremde Stadt.

Und nun, – als er am Bahnhof in Schwarzhausen mit seinen beiden Beschützern aus dem Eikschen Wagen gestiegen war, hatte sich im Gedränge der Reisenden die Liselotte an ihn gedrängt, – gute Liselotte! – und hatte ihm hastig und sprudelnd zugeraunt: »Ich darf ja nicht mit dir reden, – aber ich tu’s, weil du doch so weit fortgehst. Da – nimm! Es ist mein Bild. Steck’s ja nicht ins Verbrecheralbum, sonst schimpft die Base Juliane. Dies hat mir der Photograph geschenkt, – weil’s verdorben war, – ich habe gewackelt, es kam gerade Musik vorbei. Ade, ade, ade!«

Oh, Bertold wußte noch Wort für Wort. Dann war sie davon gesprungen, aber ihr Händchen hatte ihm wohl zehnmal noch zugewinkt, und er selbst war wie angewurzelt auf einer Stelle stehen geblieben, bis ihn Rektor Tüllen aus seiner Versunkenheit rüttelte.

Wie im Traum war er in den Zug eingestiegen und hierher gefahren. Zu tiefst in seinem Reisekoffer ruhte Puppe Emmy, er hatte sie gleich hervorgeholt und unter sein Kopfkissen gelegt, dort hatte sie Rektor Tüllen gefunden.

Aber Bertold verriet mit keinem Wort, woher das kleine, unförmige Bündel stammte, und man ließ es ihm stillschweigend.

Jetzt holte er es plötzlich sacht hervor und legte [158] es vor sich auf den Tisch. Und aus der Brusttasche holte er das Bildchen der Jugendgespielin, legte es daneben und betrachtete es aufmerksam. Ja, Liselotte hatte wohl gewackelt. Er nickte dem Bildchen ernsthaft zu und fand es ganz in der Ordnung, daß es zwei Köpfe zeigte, denn Puppe Emmy hatte ja gar keinen. Und plötzlich raffte er Puppe und Bild an sich und legte seinen schwarzen Lockenkopf fest – fest darauf.

»Er weint,« sagte Rektor Tüllen leise und winkte dem Organisten.

Dann war der Junge allein mit seinem tiefen, tiefen Heimweh. –



In Schwarzhausen waren alle Fenster der kleinen und großen Häuser besetzt, die an der Hauptstraße standen. Es lohnte sich wohl, heute einmal alles stehn und liegen zu lassen und nur zu schauen. – Was nicht an den Fenstern stand, das kam aus den Nebenstraßen herangeschritten und stellte sich dicht an die Häuser in langen Reihen. Die Mütter hatten ihre kleinen Kinder auf dem Arm und die größeren an der Hand. Wo ein Prellstein an der Ecke stand, hob man eine kleine Person hinauf und besonders wagehalsige Buben saßen sogar in den Bäumen.

Herr Baldamus Eik von Eichen wurde zu Grabe getragen. –

Das war draußen auf dem neuen Friedhof für ihn [159] ausgeschaufelt, wo es noch recht kahl und unwirtlich aussah; aber er hatte es verschmäht, als der »Frömmsten und Gerechtesten einer« in das Erbbegräbnis der Eiks aufgenommen zu werden, wo gar zu viel wilde Gesellen drin moderten und sogar ein paar heidnische Urnen standen; denn drei seiner Vettern hatten sich in Gotha verbrennen lassen und der alte Eik hatte bereits dieselbe Bestimmung getroffen, wenn er einmal mit Tode abgehen würde. Aber das heutige Begräbnis war wirklich etwas für Herz und Gemüt. Dieser prachtvolle, gelbe, silberbeschlagene Eichensarg, der beinahe verschwand unter Lorbeer und Rosen, die Träger nebenher bis an die Nasen in teuren Krepp gewickelt und mit Zitronen in den Händen, die Kirchenjungen in schwarzen Mäntelchen, die Stadtkapelle mit Hofmusikus Kniller an der Spitze, dessen rote Nase heute das einzig Leuchtende in dem schwarzen Zuge darstellte. Und die ungeheure Menge Leidtragender! Und die stattliche, unabsehbare Reihe leerer Staatswagen hinterher, deren Kutscher sämtlich florumhüllte Peitschen trugen.

Man mußte selbst als unbeteiligter Zuschauer herzbrechend weinen, denn so ungeheure Liebe und Verehrung für den hochangesehenen Toten können und müssen überwältigen – – –

Hinter dem Sarge fährt ein einzelner Wagen und nach diesem kommen erst die Verwandten, die Geschäftsfreunde und Angestellten der Eikschen Fabrik, dann die lange Reihe der Arbeiter, der »Porzelliner«. Der einzelne [160] Wagen ist die alte Staatskarosse der Eiks und in ihr sitzt Bertold Eik von Eichen senior . – »Ganz allein,« raunt man sich zu, »Franziska Malcroix geleitet den Pflegebruder nicht zur letzten Ruhestätte.«

»Das kann sie doch gar nicht. Wo ihr Junge, der schlechte Kerl, dran schuld ist.«

»Weiß man das denn so genau? Er war doch immer leidend, der Herr Baldamus, und sah aus wie Braunbier und – – –«

Schreinermeister Hellwig muß verstummen, denn man dreht ihm entrüstet den Rücken. Es spricht ja auch nur der Ärger aus ihm, weil der Sarg nicht bei ihm bestellt ist, sondern in der Residenz. Im übrigen wollen sich die Schwarzhausener auch nicht ihren Prügeljungen nehmen lassen. »Na überhaupt der junge Bertold Malcroix! Ein Glück, daß man ihn los war, – der hätte noch mal die Stadt an allen vier Ecken angezündet.« –



Die Glocken läuten, und der Zug zieht langsam zum Kirchhof – – –

Im Eichenborn ist es auch still und leer. Sie sind alle zum Begräbnis mit Ausnahme des alten Fräuleins Adelgunde, der Frau Franziska und Hieronymus Teichmann. Der letztere hat einen Augenblick am Fenster gestanden und hinabgeschaut auf die vielen Kränze und Blumen und hinausgehorcht auf das mächtig tönende [161] Geläute, und ein bitteres Lächeln hat dabei auf seinem Antlitz gelegen. –

Tante Adelgunde sitzt in ihrem großen, weiten, behaglichen Zimmer, aber nicht auf dem Fenstertritt, wo das Spinnrad steht, sondern weit ab vom Lichte in einem der großen, tiefen Sessel. –

Sie will den langen, ehrenden Leichenzug nicht sehen und nicht den blumenüberdeckten Sarg, sie will auch die Staatskarosse der Eiks nicht sehen, worin der einsame Mann sitzt, der allzeit so aufrecht ging …

Wie eigen mag ihm zumute sein, daß er jetzt in dem langsam fahrenden Wagen drüber nachsinnt, wie blind die Menschen doch sind.

Fräulein Adelgunde will auch die Musik nicht hören, die so aufdringlich laut mit Pauken, Drommeten und Schalmeien verkündigt: »Horcht alle auf! Hier wird etwas ganz Besonderes zu Grabe getragen, der Gerechtesten einer …«

Sie liest laut aus der großen, alten Familienbibel, die in ihrem Schoße ruht: »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich tönendes Erz oder klingende Schelle«, und sie meint, solch tönendes Erz und solch klingende Schelle sei allzeit der Baldamus gewesen und seine Leichenmusik das Sinnbild seines Lebens.

Aber Tante Adelgunde liest auch in der Bibel: »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet«, und ihr Haupt neigt sich tiefer herab auf das Buch der [162] Bücher, und sie betet zum erstenmal seit dem Tode des Neffen: »Herr, nimm ihn gnädig in dein himmlisch Reich!«

Auch Frau Franziska sitzt allein und auch sie liest, – aber nicht in der Bibel. Ein kleines Lederbuch liegt in ihrer Hand, abgegriffen und viel benutzt. Vergilbte Blätter bilden seinen Inhalt, und sie sind bedeckt mit den feinen Schriftzügen einer Frauenhand.

Dieses Buch hatte Baldamus Eik ihr vermacht.

Sie war, – der Schmach nicht mehr denkend, die er ihr hatte antun wollen, – in sein Sterbezimmer geeilt, da man ihr sagte, der Kranke versuche unablässig ihren Namen zu formen, er könne nicht leben und nicht sterben, wie es scheine, ohne daß er sie noch einmal gesehen.

Als sie zu ihm trat, war ein Lächeln über sein Antlitz gegangen, – ein fürchterliches Lächeln, vor dem ihr graute.

Aber sie hatte sich selbst gescholten und war zu ihm getreten. Und weil sie das Nahen des Todes spürte, beugte sie sich tief über den Kranken und sagte laut: »Ich will vergessen und verzeihen.«

Da war wieder das fürchterliche Lächeln gekommen, und die matte Hand hatte sich gehoben und nach dem Schreibtisch gezeigt. Dort lag das Buch, umwunden mit Seidenband und mit dem großen Wappen der Eiks versiegelt. Die Aufschrift lautete: »Mein Vermächtnis für Franziska Malcroix, geb. Eik von Eichen.«

[163]

Erst als sie das Buch in Händen hielt und sich ihm so zeigte, – da wurde er ruhig und legte sich zum Schlafe hin, aus dem er nicht wieder erwachte. Und auf seinem toten, starren Gesicht lag der Ausdruck gesättigten Behagens.

Franziska hatte das Büchlein in ihr Zimmer mitgenommen und das Siegel dort gelöst.

Und wie sie sah, daß der Umschlag ein Buch enthielt, das ihrer eigenen Mutter gehört hatte, als sie die geliebten Schriftzüge erblickte von der treuen Hand, die schon so lange moderte, – da war das Verzeihen für die Schuld des Toten bewußt in sie gekommen, – er hat mir Gutes tun wollen, er wollte sühnen, indem er mir als letzte Gabe das Liebste reichte, was es für mich geben konnte.

Und sie hatte gelesen, was die teure Mutter in dem kleinen Buche niedergelegt – – –

Aber das Haupt der Medusa konnte nicht schrecklicher blicken, als dies kleine Buch mit den zarten Schriftzügen; und langsam, langsam erstarrte das Herz der Lesenden. –

Eichenborn, den 17. Mai …

»Nun bleiben aber Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen.«

Das war unser Trauspruch.

»Und nun frage ich dich, Carola Dannenstein, willst du diesen gegenwärtigen Bertold Eik von Eichen [164] lieben und ehren, und ihm treu sein, bis der Tod euch scheidet?«

»Ja!« rief ich hell und freudig, »ja!«

Die Schwarzhausener haben darüber gelacht und getuschelt, es ist nicht Sitte hier, daß eine Braut so laut das »Ja« herausjubelt, man darf es schon auf der ersten Kirchenbank nicht verstehen. Nur der Bräutigam darf es laut sagen.

Was kümmert’s mich? Ich komme aus der freien Reichsstadt Bremen und – wenn mein Herz »ja« jubelt, dann tut mein Mund es freudig kund.

Wie gern hätte ich mich in Bremen trauen lassen, in derselben alten, lieben Kirche, da ich getauft und konfirmiert wurde, – aber mir lebt niemand mehr dort, – so ganz verwaist bin ich. Da bin ich vom Hause meiner Schwiegereltern in das meines Gatten getreten, – es ist ja im Grunde ein und dasselbe, – der schöne Eichenborn. Aber der Flügel, da ich mit meinem Bertold hausen soll, ist hell und licht, – – die Zimmer der andern sind umschattet von hohen, dichten Eichen.

»So ganz verwaist bin ich?« Lieber Herrgott, vergib mir dies Wort, da mich doch der Eine, der Einzige, der Herzliebste heute an sein reiches Herz genommen hat, das vor mir noch keine geliebt, und das mir Vater, Mutter, Bruder und Schwester sein will. – Nein, ich bin wahrlich nicht verwaist.

[165]

Frau Therese Teichmann, die runde, stattliche Frau unseres Dieners und Faktotums, hat mir geholfen, den Brautstaat abzulegen und mir das Strumpfband gelöst, – eine alte, uralte Sitte im Hause Eichenborn. Bertold und ich wollten nicht in die Welt hinaus fahren, sondern die ersten, seligen Stunden des Vereintseins in unsern vier Wänden genießen.

Jetzt umfängt mich das traute Wohnzimmer mit lauter lieben, alten Möbeln aus meinem Vaterhause, dem alten Bremer Patrizierheim. Nebenan liegt der ungeheure Saal, weit und dämmrig tut er sich auf und die vergoldete Stukkatur seiner Decke leuchtet matt zu mir herüber. Prunkvoll ist er eingerichtet, – die Eiks sind ein reiches Geschlecht. – An den Saal reiht sich Zimmer an Zimmer, ich habe sie alle an Bertolds Hand durchschritten.

Nur das eine nicht, das neben diesem, meinem Wohnzimmer liegt. – Aber heimlich, ganz heimlich hab’ ich hineingesehen, – dort stehen zwei ungeheure Riesenbetten, und schneeiges Linnen bauscht sich in ihnen unter rotleuchtenden, seidenen Decken. Eine herzbeklemmende, süße Angst befällt mich, wenn ich an das Stübchen denke – – – Herzliebster! Herzliebster! Herzliebster!

Mein Ruf holt ihn nicht herbei, – – er ist fortgeholt worden zu einem Schwerkranken, zu einem Sterbenden.

Das war recht seltsam für mich, und Hieronymus [166] Teichmann, der die Botschaft überbrachte, sah mich mit mitleidigem, ernstem Blicke an. Er wollte sich wohl überzeugen, wie tapfer oder untapfer ich sei an meinem Hochzeitstage.

Aber das liebe ich ja gerade so an meinem Bertold, daß er in dem großen, ihm unterstellten Getriebe alles ist, Herr und Arbeiter, Freund, Bruder, Körper- und Seelenarzt. Und so trete ich willig zurück, da man ihn an ein Sterbebett ruft.

Ach, – nicht nur das Ziel, auch der Weg dahin ist schön.

Könnte ich wohl dies kleine Buch mit meinen tiefinnersten Gedanken füllen, wenn mein Bertold neben mir säße?

Er würde mich stürmisch in seine urgewaltige Liebe reißen und mich ersticken mit seinen Küssen.

Es ist süß, darauf zu warten und in diesem kleinen Buch von ihm zu träumen. –

Eine Stunde später.

Die Nacht, die stille Mainacht ist hereingebrochen.

Vor dem geöffneten Fenster schluchzt klagend eine Nachtigall.

Frau Therese Teichmann hat mir die Lampe gebracht und nach meinen Befehlen gefragt.

Ich habe keine Befehle, ich habe nur den tiefen Wunsch, mein liebster Bräutigam möchte endlich bei mir sein, – er zögert lange. – Die Dienerin sah [167] mich an, genau so seltsam ernst wie vorhin ihr Mann. Dann wollten wir beide scherzen, aber es gelang uns nicht.

Sacht strich sie mir über das Haar und die gefalteten Hände, die auf diesen Blättern ruhten. Sie hat etwas Mütterliches an sich, ich werde diese Dienerin sehr lieb haben.

»Eine ernste, stille Brautnacht!« meinte sie leise.

»So wird unser Leben hoffentlich um so froher,« rief ich dagegen, vielleicht lauter als nötig, – ich hatte viel Bangigkeit zu verscheuchen.

»Gott walt’s!«

Zwei Stunden später.

Ich bin schon ein paarmal aus dem Schlafe aufgeschreckt, der mich im Sessel überfallen hatte. Alles ist so totenstill um mich. Ich wage nicht die Tür zu dem großen, gähnenden Saal zu schließen und wage nicht, jene zu öffnen, welche das heimliche Gemach, das liebe, traute auf der anderen Seite für mich verbirgt.

Soll ich mich allein niederlegen? Der Schlaf wird mich fliehen, wenn er auch jetzt in öder Stille versucht, meine Augen zu schließen.

Bertold! Bertold! Komm! Ach komm! Ist denn niemand bei dem fremden Sterbenden, der dich ablösen könnte? Das Leben ruft dich, das süße, beglückende Leben. Dein junges Weib ruft dich und die Sehnsucht meines Herzens. Komm, ach komm zu mir!

[168]

Eine Stunde später.

Was ist dir jener Sterbende, Bertold? Warum findest du nicht ein paar karge Minuten Zeit, um zu mir zu eilen und mir ein liebes Wort zu sagen? Wie bin ich einsam!

Drei Stunden später.

Langsam dämmert der Morgen. Bleischwer liegt es in meinen Gliedern. Schon sendet die Sonne den ersten Schein über die dunklen Thüringer Berge, die von nun an meine Heimat sein sollen. – Meine Heimat ist Bertold.

Weh, ich bin heimatlos – – –

Den 19. Mai.

Soll ich die ersten Blätter mit ihren Seufzern und Tränen herauslösen aus diesem kleinen Buch? – – Ich will sie darinnen lassen, – sie sollen der Ring des Polykrates sein, die Opfergabe, den Göttern dargebracht.

Kann es nur so viel Glück auf dieser armen Erde geben?

Nicht nur in dem köstlichen Rausche der hingebenden Liebe liegt und leuchtet es, – – für mich ruht es weit mehr in dem Lächeln, das auf dem ernsten Antlitz meines Gatten erstanden ist, seit wir vereint sind.

»Der düstere Eik«, »der grimmige Eik!« Es paßt gar nicht mehr auf ihn.

[169]

So nannten sie ihn in Bremen und auch hier in seiner Heimat sind es seine Übernamen.

Er hat mir schon in unserer Brautzeit bekannt, daß der Jähzorn ein Erbteil der Eiks sei und daß seine Vorfahren ihn ganz besonders belastet hätten, aber er schreckte mich nicht mit diesem Geständnis.

»Jähzornige sind immer auch gut,« gab ich ihm zur Antwort und er küßte mich dafür.

Freilich ist seine Güte nicht augenfällig, – seine Augen schauen dreuend unter dichten, schwarzen Brauen hervor, sein Mund ist herb geschlossen und kein Bart verdeckt den verächtlichen Zug, der um die Winkel liegt.

»Wo hast du die Welt so verachten gelernt?« fragte ich ihn sinnend-neckend und strich mit meiner Hand sacht über die beiden Fältchen, die seinen schönen, großen Mund mit den eisenfesten, blitzenden Zähnen leicht herabziehen.

Eine feine Röte stieg in sein Gesicht.

Dann aber blitzten seine dunklen Augen mich an, sein dürstender Mund lag auf dem meinen, und wir tranken aus dem Becher der Seligkeit.

»Ich liebe die Welt, seit sie dich trägt,« flüsterte er mir zu. –

»Seit zwanzig Jahren?« fragte ich zweifelnd. »Wann kam denn das Verachten?«

»So lieb’ ich die Welt, seit du mein eigen bist!«

[170]

»Also immer !« rief ich jubelnd und schmiegte mich an sein Herz.

Den 22. Mai.

Eifersüchtig bin ich. Wer hätte das gedacht! Ich am wenigsten von mir selbst.

Ich hatte es ja nie gespürt, – wie sollte ich auch? Er liebte mich, er wählte mich, und aus den Wonnen eines kurzen Brautstandes, in welchem er nur für mich und ich für ihn lebte und webte, holte er mich in den Eichenborn, in das stille, düstere Haus seiner Väter.

Und hier auf einmal tritt das Gorgonenhaupt des grüngeäugten Scheusals vor mich hin.

Ich kann es nicht bannen, ich kann es nicht nehmen, fassen und unschädlich machen. Es ist ein Schmerz, der immer mit mir geht. Es ist klein und unvornehm von mir. Denn ich habe keinen Grund zur Eifersucht. Und mir schwebt auch keine bestimmte Person, keine Frau, kein Mädchen vor, – mir ist, als sei ich eifersüchtig auf alles, was den Einzigen von mir fern halten könnte, auf seinen Beruf, – – ja auf die Luft, die er fern von mir atmet. Es ist ein so öder Gemeinplatz: »Eifersucht ist Mangel an Vertrauen.« Und dieser Gemeinplatz lügt.

Eifersucht ist Liebe, höchste Liebe. Und Eifersucht ist Angst. –

Auf die Stunden, die uns in der Brautnacht trennten, bin ich nie wieder zurückgekommen.

[171]

Er war so blaß und verstört, mein armer Liebster, als er heimkehrte zu seinem jungen, wartenden Weib.

»Ist er tot?« fragte ich.

»Ja, Liebste.«

»War er es wert, daß du mir fern bliebst?«

»Ja, Liebste.«

Das war unsere Unterredung.

Im August.

Heute führte uns der Weg nach dem kleinen, alten Friedhof. Man kommt zuerst an das Mausoleum mit untermauertem Grund, in welchem seit Jahrhunderten die Eiks von Eichen schlafen.

Ach, bei solch einer Anhäufung von Särgen, da kann ich nie an Schlaf denken, sondern nur an Moder. Im grünen Wald oder im dichtverwachsenen, kleinen Totenhain, unter Efeu und Immergrün, umrauscht von alten Bäumen, da kann man schlafen. Vom Mausoleum ab führen die stillen moosbewachsenen Pfade nach den Gräbern der andern, die aber immer mit dem Hause Eik in irgendeiner Verbindung standen: Angestellte und Arbeiter der Fabrik, Gutsleute und ihre Kinder.

»Warum ruht ihr Eiks nicht hier?« fragte ich, »o wie es hier nach Rosen duftet und Jasmin, nach Jelängerjelieber und Jesuskraut. Die Zypresse im Erbbegräbnis schaut so streng und traurig.«

»Die Eiks sind ja auch ein strenges und trauriges [172] Geschlecht,« meinte mein Liebster ernst. »Außerdem,« setzte er kurz auflachend hinzu, »wollen sie selbst im Tode noch etwas Besonderes sein und getrennt von den übrigen Sündern.«

»Da liegt auch ein Sünder!« rief ich lebhaft und zeigte auf ein ziemlich neues Grab, dem mein Bertold den Rücken kehrte. Dünne Grashälmchen wuchsen darauf, durch welche man die kahle Erde überall hervorblicken sah. Ein kleiner, düstergrauer Stein schmückte die Stelle, – nein doch, er schmückte sie nicht, er zeigte sie drohend dem Beschauer. »Gott sei mir Sünder gnädig!« stand mit großen, schwarzen Buchstaben auf dem Stein.

Mein Bertold hatte sich herumgedreht, und sein braunes Gesicht war blaß, als er die Worte las.

»Wie furchtbar!« stieß er hervor. »Wie konnte der Alte das tun!«

»Wer ist der Alte?« fragte ich.

Bertold biß sich auf die Lippen. Vielleicht war ihm der Ausruf nur so entschlüpft, doch entgegnete er ruhig: »Der alte Hörschel. Sein Kind – – – es war ein Selbstmörder.«

»War es dein Freund?«

»Nein.«

Dann zog Bertold meinen Arm rasch und fest durch den seinen und schritt mit mir fort aus dem Reiche der Toten in unser lebendiges Heim. –

[173]

Ein Jahr später.

Schwer habe ich gelitten. So schwer, daß ich nicht dazu kam, mein Wohnzimmer zu betreten, viel weniger, dies Buch aufzuschlagen.

Eine Fehlgeburt brachte mich nahe an jenes dunkle Tor, das zum Erbbegräbnis der Eiks führt.

Und nun eröffnen mir die Ärzte, daß ich nie mehr ein Kind zur Welt bringen würde – – –.

Warum legte Gott solche tiefe Muttersehnsucht in mein Herz? Warum gab er tausend und abertausend vornehmen Frauen Kinder, die doch von den Müttern vernachlässigt und den Dienstboten übergeben werden? Warum sandte er tausend und abertausend siechen, verderbten, armen, hungernden Müttern und Vätern dies Gottesgeschenk und versagt es gerade mir so grausam? Warum, warum? Verlorene Frage! Aber sie verläßt mich nicht, sie wird zum Hammer und schlägt immerfort auf mein armes Herz. Warum? Warum? All mein Kinderglaube, mein starker Glaube, zerbricht, ich hadre mit Gott und nenne ihn nicht mehr den Allgütigen, Allweisen, nur noch den Allmächtigen, der mein Glück in Trümmer schlug. – – –

Ein Jahr später.

Wenn ich mein ganzes Leben lang so selten in diese Blätter schaue, – dann wird das Büchlein hundert Jahre aushalten. Und wer trägt die Schuld, daß die gern plaudernde Carola Eik verstummt ist? Verstummt? Kommt ins Kinderstübchen und lauscht dem [174] sprudelnden Quell der Worte und Lieder, die ich meinem Kleinchen darbringe.

Meinem Kindchen? – – Muß man denn immer Unmögliches haben wollen? Immer wie unmündige, törichte Kinder nach den Sternen langen?

Mein Bertold wurde mein Arzt. Unter seinem guten, ernsten Zuspruch wurde ich ruhiger, wurde Trostgründen zugänglich, und er eröffnete mir das reiche Feld der Armen- und Krankenpflege, er schickte mich mit reichlichen Summen in die Wohltätigkeitsanstalten ringsum, damit ich mit eigenen Augen sähe, wo es not tut, mild und werktätig einzugreifen. So braucht der Liebesquell in meiner Brust nicht zu versiegen, täglich erneut er sich, und sein Reichtum wird größer, je mehr ich davon abgebe. –

Und als ich eines Abends zu ihm sagte, ganz leise in sein Ohr flüsterte: »Bertold, – für ein süßes Kindchen hätte ich doch noch Zeit bei all meiner Arbeit und vor allen Dingen, du großer Bertold brauchst so wenig Pflege, und ich habe solch einen Überschuß an Liebe in mir, – – es braucht doch nicht ein eigen Kind zu sein – – –«

Da – – am andern Tag lag’s in dem blau seidenen, weiß verschleierten Himmelbettchen, so recht mitten in den Thüringer Landesfarben. – Und es war ein süßes, holdes, zweijähriges Mägdelein, das mich zur Mutter begehrt, weil seine eigene, gute, treue Mutter tot ist. – Es heißt Franziska.

[175]

Ein halbes Jahr später.

Ei du kleine Franziska, – wie schwingst du dein winziges Machtzepterchen über den Eichenborn. Alles ist dir untertan, vom Vater an bis herunter zum kleinsten Küchenmädchen und Stiefelwichsjungen.

Du hast auch gar zu liebe, blaue Augen, gar so ein feines Näschen, du siehst eigentlich aus, wie eine echte Eik von Eichen. Das macht unsere Pflegeelternliebe, die dich geboren hat, zu einem neuen Leben im Hause Eik. – O ich könnte eifersüchtig werden, jetzt mehr denn je, ja jetzt sogar mit Berechtigung, denn mein Bertold liebt das Kind, – beinahe hätte ich geschrieben: »über alles

Aber das wäre Sünde, das darf ich meinem Liebsten nicht antun.

Und es ist eigen, – er kann nicht die zarteste Anspielung auf seine zärtliche Neigung zu Klein-Franziska vertragen. Er wird nicht heftig oder mürrisch oder abwehrend, – er wird so tief ernst und traurig, daß mir das Wort, kaum dem Munde entflohn, schon leid tut und ich mir immer mehr vornehme, diesen Fehler meines Herzens zu bekämpfen. – Eifersucht! Es ist ja auch zu häßlich, auf ein kleines, schönes, liebes Kind von zwei Jahren eifersüchtig zu sein. –

Manchmal meine ich, Franziska gehöre mir, und ich sei seine Mutter. Meine Phantasie arbeitet dann so stark, daß ich mich in die Schmerzen noch einmal hineinträume, die ich um mein totes Glück erlitt, und [176] dann träume ich weiter, daß dies tote Glück nur ein Traum sei, – daß es in Wahrheit lebe und Franziska Eik heiße.

Kleines, liebes und geliebtes Fränzchen! Nie sollst du fühlen, daß ein andrer Schoß, als der meine, dich getragen – – mein Kindchen bist du! – – –

Ein halbes Jahr später.

Gestern sah ich die Großeltern von – meinem Kindchen. Das ist doch ein seltsames Gefühl. Mir war mit einemmal das Fränzchen fremder geworden, – Das sollte doch nicht sein. – Es war auf dem Friedhof, wohin ich so gern gehe, weil er so tief verwachsen die heiligste Ruhe predigt. Aber gestern war auch der Geburtstag der Urahnin und Stammutter der Eiks, und nach alter Familienüberlieferung pilgert an diesem Tage Herrschaft und Dienerschaft nach dem Mausoleum, um Blumen und Kränze niederzulegen. So auch gestern. Ich blieb dann mit Fränzchen noch etwas zurück, trotzdem mich mein Bertold gern mitgenommen hätte. Aber ich hatte zwei Charakterköpfe entdeckt, zwei alte Leute, die an dem Grabe beschäftigt waren, das mir von allen Gräbern am interessantesten dünkte, am Grabe des Selbstmörders: »Gott sei mir Sünder gnädig!«

Bertold zog den Hut, als wir an dem Grabe vorbeischritten, aber die beiden Alten erwiderten seinen Gruß nicht.

[177]

Nachdem wir den großen Kranz im Erbbegräbnis niedergelegt, nahm Bertold einen anderen Weg, um heimzugelangen, mir aber war Klein-Franziska entwischt, die sich gern zwischen Eibenhecken versteckt, wenn wir hier weilen. Dem Kinde dünkt der Kirchhof der liebste Spielplatz. – –

Klein-Franziska stand bei den beiden Alten, die so ernsthaft und düster dreinschauen, als habe der Tod des Sohnes jede Sonne von der Erde fortgenommen. Das Kind plauderte lieblich und hielt die Alten bei den Händen, – es ist ein rechtes Sonnenscheinchen und meint, daß jeder Mensch sein bester Freund sei. Beide Altchen sahen unverwandt das Kind an, und dann rang es sich schwer von den Lippen des Alten: »Es gleicht Zug für Zug meiner Tochter, aber es hat die Eikschen Augen «.

»So sind Sie die Großeltern?« fragte ich leise und befremdet, denn Bertold hatte mir gesagt, das Kind sei ohne Anhang, seit seine Mutter gestorben. Über den Nachsatz machte ich mir keine Gedanken, – ich wußte, daß alle mir, der kinderlosen Frau, gern etwas Liebes sagten, und Fränzchens Augen paßten ja auch wirklich in das Eikgeschlecht. Ich grüßte die beiden und schritt tief nachdenklich nach Hause.

Am nächsten Tage.

Wie mit unsichtbaren Händen zog es mich heute wieder nach dem kleinen Friedhof. – – –

[178]

»Gott sei mir Sünder gnädig.«

Da waren die beiden Alten wieder, und mir war es, als winke mir der Mann. Ich hatte die Kleine wieder mitgebracht, – sie weicht ja nicht von meiner Seite, wenn sie sieht, daß ich einen Ausgang habe, und ihre »Mutti« dünkt ihr alles – – –

Ich schritt auf das Grab zu und reichte beiden die Hand, als könne es nicht anders sein.

»Hören Sie nicht auf ihn!« raunte die alte Frau leise, »er soll nicht reden und darf es nicht. Wir leben jetzt schuldenfrei auf eigenem Grund und Boden, seit das Kind da ist, das vergißt er immer und ist undankbar.«

Und dabei vergaß die alte Frau, der jetzt, während sie Fränzchen anschaute, die helle Güte aus den Augen sprach, völlig, daß sie doch wohl auch nicht reden durfte. Mich fröstelte inmitten der warmen Sommersonne. Aber ich konnte mich nicht vom Platze rühren.

»Warum gaben Sie Ihrem Sohne solch’ einen traurigen Spruch?« fragte ich, um etwas zu sagen.

»Unserm Sohne? Hier liegt unsere Tochter, die Fränze, die Schande auf uns brachte.«

»Nicht Schande!« schluchzte die alte Frau, »sie war gut, – so gut.«

»Ja zu gut war sie!« lachte der Alte heiser und dann loderte es in seinen Augen auf und er trat vor mich hin und zeigte auf die kleine Franziska: »Hüten [179] Sie das Mädchen! Es ist Zug um Zug mein Kind, aber es hat die Eikschen Augen! Hüten Sie es«. –

Das andere verlor sich im Murmeln, die Frau nahm den Arm des Mannes und zog ihn rasch vom Friedhof fort, sie weinte jetzt laut und bitterlich.

Und ich war wissend geworden!

O über jenen Augenblick, da mir so grausam die Augen geöffnet wurden!

Nun ist etwas zerrissen in mir, was sich nie wieder heilen läßt. –

O ich weiß, daß die Welt mich nicht verstehen wird. Es ist ja so etwas Alltägliches! Man kann darüber hinweggehen und lächeln. › Man ‹, aber nicht ›ich‹! Mir ist über dieser alltäglichen Geschichte das Herz gebrochen.

Als Bertold mich zum gemeinsamen Mittagsmahl aus meinem Zimmer abholte, da sah er, daß sein Glück zertrümmert am Boden lag.

Doch stand ich ganz ruhig vor ihm, – mir war’s, als sei ich gealtert um viele Jahre in den wenigen Stunden.

»Nicht deine Schuld trennt uns,« sagte ich ihm mit beinahe tonloser Stimme, so daß er sein Haupt zu mir neigen mußte, um mich zu verstehen, »uns trennt deine Lüge

»Du willst von mir gehen?« fragte er heiser, und seine Augen, seine lieben, dunklen Augen sahen mich wie erloschen an.

[180]

»Nein, – nicht von dir gehen, – nicht äußerlich – ich habe ja das Kind, – ich will ihm weiter Mutter sein.«

Kein Wort wurde sonst zwischen uns gewechselt. Bertold ging aus dem Zimmer und ließ sein Pferd satteln. Dann ritt er stundenlang in der Weite herum, und als er wiederkam, sah ich, daß er nicht mehr der »aufrechte Eik« war.

Nun soll das Leben so weiter gehen. –

Das Vertrauen zum liebsten Menschen ist dahin und das Kind? – – Ich sehe an ihm nur immer die Eikschen Augen und sehe Zug um Zug das Antlitz des unglücklichen Mädchens, das mein Bertold verdarb. Wo soll ich die Kraft hernehmen, weiter zu leben? Wie ein Gralskelch leuchtete mein Glück, – jetzt liegen die Scherben, ein billiger Tand, staubbedeckt zu meinen Füßen. – – –

Aber das Kind soll es nie erfahren. In jeder einsamen Stunde will ich mich stärken zu dem schweren Missionswerk, – – – hilf mir, – hilf mir, Allerbarmer, der du diese Last auf meine Schultern legtest.




Franziska Malcroix wußte nicht, wie lange sie gelesen hatte, – waren es Stunden, waren es Jahre? Sie strich mit der Hand über das kleine Buch, das [181] die liebste Mutter geschrieben, welche es auf Erden gegeben hatte. –

Dann schritt sie langsam, – o so langsam die gewundene Treppe hinunter in ihres Vaters Zimmer.

Der alte Eik saß an dem wuchtigen Schreibtisch und schrieb und rechnete, aber mitten in die Belege seines Reichtums kam die Störung, und auf den Zahlen, die sich im letzten gesegneten Jahre wieder um eine Null vergrößert hatten, lag plötzlich das kleine Buch, das er einst vor so langen Jahren seiner jungen Braut geschenkt, damit sie ihre beiderseitigen, glückseligen Erlebnisse darin verewige. – – –

Er hatte das Büchlein zuerst wiedergesehen, damals als sein Weib starb. Von einem Eik konnte ja niemals Glück ausgehen, und so waren auch diese Blätter erfüllt von Leid, erfüllt von jener häßlichen Schuld und einzigen Lüge seines ehrenhaften Lebens. Er hatte das Buch am Todesabend seines Weibes gelesen und war von jenem Augenblicke an der düstere, grimme Eik geworden, der sich ganz in Schmerz und Bitterkeit versenkte und kaum noch seines Kindes achtete.

Aber die kleine Franziska trat mit sicherem Schritt in die Fußstapfen ihrer geliebten Mutter, deren Hinscheiden sie zuerst beinahe verzweifeln ließ.

Als das Kind damals die tiefe, wortlose Trauer des Vaters gewahrte, raffte es sich auf, und tausend kleine Aufmerksamkeiten, welche die Verstorbene für den Gatten gehabt, die übernahm nun das Fränzchen mit [182] einer sicheren Liebe, welche den grimmen Eik rührte und zugleich erstaunte. Ganz eng schlossen sich Vater und Tochter aneinander an, und der alte Eik hatte nur die eine Sorge, das Buch, das kleine Buch mit den feinen, zarten Schriftzügen, die doch so furchtbar beredt von seiner Schuld erzählten, vor dem jungen Mädchen zu verbergen. Jahrzehnte lang hatte es in der Schublade seines festen dunklen Schreibtisches geruht, zu dem niemand gelangte, als er allein. Und nun lag es plötzlich vor ihm, und seine Franziska stand so blaß und mit so wehen, anklagenden Blicken im Zimmer, wie einst sein Weib. –

»Wer gab dir das Buch, Franziska?«

»Baldamus Eik.«

Der alte Eik stöhnte auf. »Dieb!« – murmelte er, »Dieb!« Und dann schüttelte ihn der Jähzorn, und wilde, schreckliche Worte und Flüche kamen aus seinem Munde.

»Was siehst du mich so an, Franziska? Was forderst du von mir? Deinen Namen? Deine Mutter? Deine Pflegemutter? – Herrgott, ich habe nichts, – nichts, – ich bin arm, arm – – –«

Franziska sah ihn an, – nicht anklagend, nicht scheu, nicht verachtend. Es wuchs etwas in ihr und blühte auf, etwas, das stärker war als die Schmach und Bitterkeit jener Minuten, da sie das Büchlein las – – ein tiefes, erbarmendes Mitleid mit dem armen Reichen vor ihr.

[183]

»Ich will nicht meine Mutter und nicht meinen Namen,« sprach sie leise, aber fest. »Ich will nur endlich meinen Bertold an dein Herz legen und dich bitten: ›Hab uns lieb‹!«

Da schlang der alte Mann beide Arme um sein Kind, und im schweren Weinen löste sich jahrelanges Leid.




Der junge Bertold Eik war fleißig.

Er lebte nicht gerade als Bücherwurm, aber er betrachtete es auch nicht als Vorrecht des Begabten, bummelig und nachlässig zu sein.

Für die Bezeichnung »Streber« und »Musterknabe« hatte er sein wohllautendes, klingendes Lachen, das ihm manchen Freund schuf. Aber es waren Schulfreunde, – keine Lebensfreunde.

Es war etwas Knappes und Stolzes an ihm, das mit Unrecht von manchen Lehrern mit Hochmut bezeichnet wurde. Denn Bertold hatte nie lange bei dem Gedanken geweilt, daß er einem reichen und alten Geschlecht zugehöre, sondern weit eher darüber gegrübelt, warum er seines eigenen Vaters Namen nicht tragen dürfe. Und aus den vielen Bitterkeiten, die sein junges Leben schon aufzuweisen hatte, aus den unschuldig erlittenen Kränkungen entstand und wuchs ein ernster Stolz. Seine beiden Begleiter waren wie zwei gute Gluckhennen, die Entlein ausgebrütet haben und nun [184] sorgenvoll am Ufer stehen. Aber es waren verständige Gluckhennen, die es sofort einsahen, daß Bertold sich nicht zum Küchlein eigne, sondern unter allen Umständen schwimmen müsse.

Manch spottendes Wort fiel aus Schülermund über die beiden »Kindermädchen«, ohne deren Begleitung Bertold nie in den Freistunden zu sehen war, aber so lange der Spott harmlos blieb und sich mehr auf Bertold, als auf die beiden Getreuen bezog, lachte Bertold sein liebes Lachen und versöhnte die Spötter damit. Übelwollende aber banden nicht mit ihm an, denn der junge Eik hatte eine kräftige Faust, und viel Gras wuchs nicht mehr dort, wo er hinschlug.

Sein Geigenspiel aber war der Stolz aller.

Ganz unerwartet trat ein neuer Musikdirektor an die Spitze des Gesangvereins in E., und dieser war ein feinsinniger Geiger, der selbst einmal den glühenden Wunsch in sich getragen hatte, als ein heller Stern am Kunsthimmel zu glänzen, aber durch das harte »Muß« der Mittellosigkeit nach einer Brotstelle getrieben war.

Zu diesem Lieblingsschüler Meister Joachims kam nun Bertold Eik, und nicht nur in seine Hände nahm der Alte den Jungen, nein er zog ihn gleich in und an sein Herz.

» Der soll das erreichen, was mir das Schicksal versagte,« rief er nach der Prüfung den beiden Getreuen zu, »das ist einer von Gottes Gnaden. Und er soll sein bißchen Geld zusammenhalten, damit es [185] zum ernsten Studium ausreicht, und er soll sich nicht verplempern mit irgend einer Hanne oder Suse, sondern nur zur heiligen Cäcilie beten. Zwei Jahre will ich das Büblein lehren, was ich selbst kann, dann soll er mir nach Berlin.« –

Organist Brennstoff hörte dies alles mit wahrer Vaterwonne und nickte begeistert dem Musikdirektor zu, aber Rektor Tüllen setzte gleich einen Dämpfer auf die Geige, auf welcher so hochtönend musiziert wurde.

»Bertold Eik wird nach uralter Familienüberlieferung der Eichens zuerst sein Abiturium ablegen, dann zwei Jahre die Universität Bonn beziehen und darauf ins Ausland gehen. Nach seiner Rückkehr übernimmt er dann Eichenborn und die übrigen ausgedehnten Besitzungen der Eiks – – –«

»Amen!« schrie der aufgeregte Direktor. Er dachte aber nicht »amen«, sondern: »Der Teufel hole diese Familienüberlieferungen!« Mit beiden Händen fuhr er sich durch seine Künstlermähne. »Da schafft nun unser Herrgott mal was nach seinem Herzen, und bläst diesem Goldjungen einen besonders musikalischen Odem in die Nase, – – nützt alles nichts, die Familientradition verhunzt ihm sein Kunstwerk, – ihm, dem großen Schöpfer. Es ist, um gleich aus den Stiefeln zu springen! Wenn der alte Banause von Großvater diesen Jungen durch’s Humanistische schleppt und ihn dann noch die besten Jahre verkneipen läßt, – – dann hätte er ihn gleich zu Anfang seines Daseins versaufen lassen sollen, [186] – wie’n jungen Hund. – Denn der Junge verfehlt seinen Beruf, und sein Beruf ist: Sonne zu geben, Feuer zu entfachen in kalten Herzen, Himmelsfunken zu senden in das dürre Stroh der Verstandsköpfe. – Alles muß brennen, leuchten, glühen, wenn ein wahrer Künstler von Gottes Gnaden geigt, alle Zuhörer müssen durch himmlisches Feuer geläutert werden und geheiligt, Frau Musika aufzunehmen.«

»Amen!« rief Brennstoff und meinte es nun wirklich so und drückte die Hände des Musikdirektors, der noch ganz wild um sich blickte.

An demselben Tage noch ging ein langer Brief an Frau Franziska Malcroix ab, der recht beweglich darstellte, wie es am besten wäre, den lieben Bertold entweder gleich zu Meister Joachim zu geben, oder ihn auf eine andere Schule zu tun, damit er in zwei Jahren, wenn auch keine humanistische, so doch eine andere abgeschlossene Bildung erhielte, die er später als Künstler auf seinen Reisen erweitern könne. Sie schrieben alle Vier. – Der Musikdirektor herrisch in kategorischen Imperativen, denn hinter ihm stand die heilige Cäcilie mit göttlichen Forderungen; der Organist als Kenner der Verhältnisse in Eichenborn um eine Schattierung gedämpfter, aber immer noch beredt genug, um seinen Namen nicht zu verleugnen; Rektor Tüllen mit warmer Bitte, die vielleicht am eindringlichsten in ihrer Schlichtheit war. Bertold fügte nur eine kurze Nachschrift hinzu: »Liebes, liebes Mütterchen, [187] es wäre schön, wenn Großvater und du › ja ‹ sagen möchtet. Aber nur, wenn du es richtig willst, mein Mütterchen!«

Acht Tage warteten die vier Verbündeten in Spannung und Sorge auf die Antwort, und dann kam nur ein kurzer, wehmütig-stiller Brief von Bertolds Mutter zurück:

»Mein Junge! Wenn es dein Beruf ist, Sonne zu geben, so teilst du ihn mit den andern Menschen. Wir sind alle dazu in die Welt geschickt, diese kalte Erde zu durchsonnen. Tut dies ein Jeder auch nur mit dem kleinen Teil, dem heiligen Heimatfleckchen, auf welches Gott ihn gestellt hat, so wird schon viel Wärme geschaffen. Laß uns Deinem Großvater Sonne geben, mein Junge! Dein Wunsch, schon jetzt die Geige als Beruf in die Hand zu nehmen, würde tiefer Schatten für ihn sein. Ich komme bald zu dir! Gott behüte Dich!«


Bertold steckte den Brief ruhig in seine kleine Brieftasche, die er immer auf dem Herzen trug, und zu seinen beiden Freunden, welche mit erwartungsvollen Mienen das Lesen des Schriftstückes verfolgt hatten, sagte er nichts als »Nein«.

Dies tapfere »Nein« wurde von Brennstoff dem Musikdirektor überbracht, der sich darüber weidlich austobte. –

Dies Toben hinderte ihn aber nicht, mit feinstem [188] Verständnis den Knaben weiter zu führen, ihm alles zu geben, was er selbst besaß an technischem Können und tiefer Auffassung, und so reifte Bertold Eik zum Künstler heran, ohne daß man in Schwarzhausen eine Ahnung davon hatte, ja ohne daß er selbst es wußte. Auf diese Weise gab er reiche Sonne in die Herzen der drei alten Hüter seiner Jugend, und seiner Mutter ernste Augen lernten das Lachen. Die Musik und die Natur, – das waren Jung-Bertolds Zerstreuungen, beide gaben ihm Reichtümer und blieben doch selbst unerschöpflich reich und groß.

Die beiden alten Freunde führten ihn mit sorglichen Händen, auf daß Seele und Körper zugleich gediehen, und so kam es, daß gute Schulzeugnisse und schöne Prämien für Bertolds Wohlverhalten nach Schwarzhausen geschickt wurden, von denen aber nur der Großvater etwas erfuhr. Für die Schwarzhausener war und blieb Bertold der geheimnisvolle Tunichtgut und manchesmal des Abends, wenn die Bürger vor ihren Türen saßen und über das Wohl und Wehe der Stadt berieten, legten sie den Finger an die Nase und versuchten ein weises Gesicht zu machen: »Der alte Eik wird immer reicher. Aber ins Grab kann er nichts mitnehmen! Was wird aus dem vielen Gelde, dem großen Besitz und den Fabriken, wenn der schlechte Kerl, der junge Bertold, einmal alles bekommt?«

In den Ferien kam Bertold nicht nach dem Eichenborn und nicht nach Schwarzhausen. Sobald der Schulschluß [189] da war, erschien sein Mütterchen und reiste mit ihm. Sie zeigte ihm das Thüringerland mit all seiner schlichten Schönheit, sie lehrte ihn die Heimat lieben und feste Wurzeln in ihr schlagen. Sie gab ihm hohe Vorbilder in guten, großen Menschen, die alle der Thüringer Mutterboden getragen und genährt, und stählte in ihm den Willen, diesen Großen nachzueifern. – Die Bücher, von Rektor Tüllen und Brennstoff sorglich ausgewählt, wurden nicht mit auf Reisen genommen, – Frau Franziska liebte nicht dies bequeme, elterliche Mittel, Störenfriede auf längere Zeit unschädlich zu machen, – sie erzählte dem Knaben. Durch scharfe, feine, kluge und gute Mutteraugen hindurch lernte er die Märchengestalten, die Helden der Sage und die Großen der Gegenwart, betrachten. Kehrte er dann in die Einsamkeit der großen Stadt und in die seines Studierstübchens zurück, im Herzen noch das Trennungsweh vom Mütterchen, dann holte er sich ein gutes Buch, schaute seine geliebten Helden mit geschärftem Verständnis und ließ sich von ihnen wieder zur Mutter führen. Für Bertold war ja sein Mütterchen der größte und liebste Held. Sie litt körperlich viel und sah oft leidend aus, aber sie klagte nie, sie litt seelisch unter dem gewiß oft harten Großvater und schien viele, ach so viele trübe Erinnerungen zu haben, aber immer erzählte sie Gutes und Liebes vom Eichenborn und seinen Bewohnern, so daß Bertolds Heimatliebe wachsen und erstarken konnte. Die Mutter [190] predigte nicht langweilige Moral, sie lebte alle ihre Ermahnungen und guten Worte selbst vor, – wie hätte ihr Junge da nicht nachleben sollen? Und wie die Mutter so gehorsam gegen Gott war und sich beugte unter seinen Willen, so lernte Bertold nach diesem Vorbilde Gehorsam und straffe Selbstzucht. – – –

Innerlich unendlich reich kehrte Frau Franziska immer heim und ließ ihren Knaben gewachsen und reifer zurück. –

Trotz alledem behaupteten die Mitschüler in E.: »Der Eik hat was zu verbergen«.

Der Jähzorn war’s, den er verbarg, der ihn noch oft peinigte und quälte, den er doch Mütterchen zulieb als erstes bezwingen wollte.

Viele Anfechtungen hatte er durch ihn noch zu bestehen, und besonders bei rohen Handlungen seiner Mitschüler, bei Tierquälereien und häßlichen Lügen geriet er noch immer außer sich.

Und die tägliche Übung der Selbstüberwindung nahm ihm viel Kraft fort, er blieb schmal und mager, und trotz sorgsamer Pflege schauten seine großen, dunklen Augen ernst und viel zu düster aus seinem jungen Gesicht.

Aber Bertolds Körper war sehnig dabei, nicht schlaff, et turnte gut und gern und hob große Lasten ohne besondere Anstrengung. –

» Der Eik hat was zu verbergen. «

Dies war das einzige, was von allen Dingen, die [191] Bertold tat oder versäumte, nach Schwarzhausen gelangte, und es wurde in allen Kaffeegesellschaften erzählt, besprochen, weise belächelt und als bestehende und längst bekannte Tatsache angesehen.

Und er hatte in Wahrheit etwas zu verbergen, drei Dinge: Den Jähzorn, Puppe Emmy und einen Brief, einen langen, einzigen Brief der früheren Gespielin, die er nun sechs Jahre nicht mehr gesehen hatte. Das Papier mit der festen Kinderhandschrift war nicht mehr ganz sauber, es war ja schon mehrere Wochen alt und vielfach von Bertold selbst aufgeplättet worden, wenn er es verknüllt unter seinem Kopfkissen hervorgezogen hatte. Die gute Hauswirtin, welche ihre fünf möblierten Zimmer noch nie so vorteilhaft vermietet hatte, wie diesmal an die beiden ruhigen Herren Lehrer und den braven, stillen, blassen Zögling, wußte schon immer Bescheid, wenn der Junge mit seinem immer dunkler werdenden Papier in ihre Küche kam: »Wenn ich bitten dürfte um ein Plätteisen!« Die brave Frau glaubte freilich, es sei mindestens ein wertvolles Dokument, das der »Jungherr« nicht von sich ließ, und hatte sich eine ganze Legende selbst gedichtet um dieses Papier, Testament oder unersetzliche Urkunde.

Den Jähzorn und Puppe Emmy kannten seine beiden Erzieher, aber diesen Brief kannte nur Liselotte, der liebe Gott und er, Bertold: »Lieber Bertold, ich soll fort in Pension, weil Base Juliane nicht mehr mit mir fertig werden kann. Sie kann schon, aber die [192] Schwarzhausener wollen es. Es geht mir nun wie Dir, und deshalb schreibe ich Ihnen. – Ich soll nämlich ›Sie‹ zu Dir sagen, sagt die Gouvernante, und ich hatte es wieder vergessen. Nämlich ich habe eine Gouvernante, und wir sind nun fünf Frauenzimmer und nur der eine Papa. Die Gouvernante sagt, Du würdest jetzt auch im Gymnasium ›Sie‹ genannt mit fünfzehn Jahren und Sie müßten jetzt auch ›Sie‹ zu mir sagen. Ich hoffe, daß Du das nie tun wirst, ich würde es gemein finden. Wie siehst Du jetzt aus? Es ist schon wieder vor acht Tagen ein neues Bild von mir gemacht worden, und ich hätte es Ihnen gern geschickt, aber die Gouvernante sagt, es wäre der Gipfel der Pöbelhaftigkeit, wenn ein Mädchen einem Jungen ein Bild von sich schenkte. – Du siehst daraus, daß sie überhaupt sehr viel sagt. Aber ich will nichts über sie sagen, denn es soll edle und wohltätige Gouvernanten geben, meine ist es noch nicht. Lieber Bertold, wenn Sie es keinem Menschen und sonst auch niemand wieder erzählen, dann möchte ich es Dir allein kund tun, daß ich meine alte Puppe Emmy nicht wiedergefunden habe. Ich habe viele Jahre so gespielt, als ob sie von Zigeunern geraubt wäre, weil sie so schön und gut war. Aber es ist mir ein Rätsel. Dein Großvater ist ja auch eigentlich kein Zigeuner. – Ich mochte ihn auch beinahe immer so gern wie Dich, aber wir kommen nie mehr zusammen. Niemand hier versteht meinen Schmerz. Und nun soll ich in Pension, – von meinem Väterchen fort, und [193] kein Mensch beschützt mich, sondern Papa steckt sich Watte in die Ohren, wenn ich tobe, und die Base und die Gouvernante blasen in ein und dasselbe Horn. Die Gouvernante will nämlich ihre letzten Nerven noch in Ruhe genießen, so ähnlich hat sie sich ausgedrückt. Wir haben immer sehr schöne Ferien gehabt und der Hans von Windemuth, – nein, ich glaube – ich darf Dir nichts darüber schreiben, denn sie sind alle noch genau so böse wie vor sechs Jahren auf Dich und höchstens noch mehr. Aber Hans’ Wunden von Dir sehen schneidig aus, wie’n Korpsstudent.

Und indem ich noch zum Schluß mit einer Kusine zusammen in die Pension komme, bleibe ich Deine

Liselotte Windemuth.

P.S. Es ist niemand gestorben in Schwarzhausen, und ich weiß meine neue Adresse nicht richtig, und ich grüße Dich! –«

O gewiß, es war nur ein dummer Brief eines kleinen Mädchens, aber er war so ganz aus der echten Liselotte heraus geschrieben. Mit diesem Briefe in der Hand träumte sich Bertold in die kargen Freudenstunden seiner Kindheit zurück, und all das Trübe und Häßliche versank in den äußersten Winkel des Erinnerns.

* * *

Schwarzhausen alterte nicht. Es blieb jahraus, jahrein das hübsche, schmucke Städtchen, dessen äußere Schäden sofort von einem aufmerksamen Magistrat ausgebessert [194] wurden. Und innere Schäden wurden überhaupt selten bemerkbar, nur einem Fremden hätte es auffallen müssen und auch dann nur, wenn er sich allsonntäglich in der Stadtkirche die Predigt des alten Pfarrers Klingenreuter angehört, daß das Thema vom Balken und Splitter, vom Zöllner und Pharisäer und von den neunundneunzig Gerechten gar so oft wiederkehrte. Aber Fremde setzten sich nicht in die Stadtkirche, sondern stiegen zu den Bergen und Wäldern empor, und die Einheimischen hörten die Predigt, weil die gute Sitte es wollte, und bezogen die Pharisäer nicht auf sich. Denn es war ja des Pfarrers Beruf, von der Sünde zu reden, auch wenn diese nirgends vorhanden war. Also blieb Schwarzhausen leichten Gemütes, hatte ruhige Nächte, führte eine gute Küche und erhielt sich jung. Irgend ein moderner Leichtfuß war zwar einmal nach Schwarzhausen gekommen und hatte im großen Saale des Gasthauses zur Thüringer Edeltanne viel hohe Worte von Luftkurort und Sanatorium geredet und sich erboten, Bohrungen auf Solequellen vorzunehmen, aber er war bald wieder mit »dickem Kopfe« abgezogen, trotzdem er schwindelnd hohe Zahlen vor den Augen und Ohren der Zuhörer aufgebaut hatte. Nicht niedergeschrien wurde er, denn die Schwarzhausener waren durchaus nicht für Schreien und Lärmen, sondern einfach nieder geschwiegen . Erst nachher hielt noch der wohllöbliche Magistrat eine Sitzung ab und verständigte sich mit ein paar Worten [195] sofort, daß sie die gute Thüringer Luft selbst brauchten, daß sie auch ohne Solbäder gesund seien und daß sie wohlhabend genug wären, um keine Sommerfremden zu brauchen. Dann redete man noch ein Weilchen über den Brief, der vom alten Herrn von Eik eingegangen war, und worin er der Stadt einen bedeutenden Zuschuß anbot, falls die Bohrungen vorgenommen würden, kopfschüttelte, zuckte die Achseln und legte den Brief zu den Akten. –

So fand der junge Bertold Eik von Eichen ein ganz unverändertes Bild, als er nach neun Jahren zum erstenmal seine Heimat wieder betrat.

Nur er selbst war anders geworden. Hochgewachsen und gut gebaut, überragte er seine Altersgenossen weitaus. Das zielbewußte Arbeiten, das Vertiefen in gute Musik und das anstrengende Üben hatten ihm etwas Vergeistigtes gegeben, das gut zu seinem scharf geschnittenen Gesicht paßte. Von Traumseligkeit war nicht mehr viel zu entdecken in seinen dunklen Augen, – etwas nachdenklich konnten sie blicken, waren aber sonst scharf und sogar ein wenig spöttisch. Frau Franziska hatte leicht ihre kühlen, weißen Hände auf diese Augen gelegt bei der ersten Begrüßung.

»Was ist denn da hineingekommen?« fragte sie forschend.

»Nun, – was sieht mein Mütterchen darin?«

»Zuerst mich selbst, Gott Lob und Dank!« meinte die Mutter, »aber dann noch tausend Teufelchen.«

[196]

Da war das alte, echte Knabenlachen erklungen, das sie so sehr liebte, und welches sie gleich beruhigte.

»Mütterchen, kam dir Schwarzhausen nicht heute etwas wie eine Humoreske vor?«

Sie hatte wohl dasselbe gedacht, aber doch schmerzte sie der Ausspruch aus seinem Munde. »Sahst du nichts anderes in deiner Heimat?« fragte sie mit leisem Vorwurf.

»Mütterchen, ich sah zuerst nur dich ,« entgegnete er frohmütig und umschlang sie mit beiden Armen, »du wirst bei jedem Wiedersehen schöner!«

Frau Franziska lachte nun doch ein wenig. »Und was sahst du dann, du Schelm?«

»Unser altes Schwarzhausen! Das aussah, als hätte man es vor neun Jahren in eine Spielzeugschachtel gelegt, den Deckel fest draufgedrückt, damit kein Staub darauf falle, und es nun herausgeholt frisch und neu zu Ehren des Herrn Abiturienten Bertold Eik.«

»War es ein gutes Examen, Bertold?«

»Ja, Mütterchen! Nicht mit Befreiung vom Mündlichen. Weißt du, das litten Johann Sebastian Bach und der alte Musikdirektor nicht; beide wollten mir die Chaconne einverleiben, die ich vor Meister Joachim spielen soll, ehe ich nach Bonn gehe. Im übrigen war ich ja nie ein Musterbub’ und hab’ mich auch in Mathematik und Geschichte elend verhauen. Da hieß es denn: ›Antreten zum Mündlichen‹. Aber oberfein war’s. Da konnte man erst zeigen, was man intus [197] hatte. Wir kreuzten nicht schlecht die Klingen, die Herren Schulmonarchen und wir sieben.«

»Sind alle durchgekommen?«

»Freilich, Mütterchen! Wir gaben ihnen aber Nüsse zu knacken!«

Frau Franziska lachte. »Oder sie euch, mein Junge.«

» Ergo , es war famos.«

»Und wie nahmen die Lehrer deinen Entschluß auf, später dem Eichenborn vorzustehen?«

»Mütterchen, – der prächtige Doktor Gabriel war eigentlich der einzige, der so mit mir drüber sprach, wie es nottat. Im ganzen finde ich’s ja nett, daß es in E. noch so patriarchalisch zugeht und die Tyrannen der Schulbank so gemütlich mit den Mulis zusammenkommen, – aber nur Doktor Gabriel sprach mir ernstlich zu, bevor ich zur Universität gehe, noch mal vor den Großvater zu treten, ihn zu bitten: ›Laß mich Musiker werden!‹ Und dabei das stramme und doch gütige Wort: ›Kopf hoch, Eik!‹ Das tat mir wohler, als die Moralpauke über das vierte Gebot, die mir Doktor Mops und die Schildkröte hielten. Ebenso gaben der Patagonier, der Gesprächsgegenstand und der Schreibkrampf noch ihren Senf dazu. Ach, und mir nützt das so gar nichts!«

Bertold sah mit einem Male sehr bekümmert aus. »Ich weiß nicht, Mütterchen, ob du mich verstehst, wie mir zumute ist, so abseits zu stehen, wenn die andern mit tausend Masten segeln.«

[198]

»Hat Doktor Gabriel keinen Spitznamen?« fragte Frau Franziska, sehr beflissen, Bertolds Gedanken von seinem letzten schmerzlichen Ausruf fortzulenken.

»Freilich, Mütterchen, – Erzengel heißt er, und – und er möchte so gern mit Großvater sprechen – –«

»Bertold! Wenn du ihm und uns doch das ersparen könntest! Kannst du dem Großvater nicht wenigstens deinen guten, ehrlichen Willen zeigen?«

»Mütterchen, ich habe hierin keinen guten ehrlichen Willen. Sieh’, ich würde ja gern die Universität beziehen, wenn ich Arzt werden dürfte. Lieber als alles aber ist mir die Musik. Darf ich weder Arzt noch Musiker werden, dann ist mein Platz auf Eichenborn, wo junge Kräfte unbedingt nötig sind. Für Frau Musika und für Eichenborn sind die zwei Universitätsjahre vergeudete Zeit.«

»Und für dich?«

»Für mich auch, – – das heißt – – Mütterchen, – ich habe nun mal kein Verständnis für Familienüberlieferungen, die einen so dingfest machen, wie mich jetzt eben.« Bertold lief im großen Zimmer auf und ab, genau wie es der Großvater tat, wenn er erregt war.

» Mein Junge!« – Frau Franziska streckte ihm bittend die Hände entgegen, und er hielt in seinem Sturmschritt inne. »Gott weiß, ob ich dich verstehe. Aber, – was wir haben und sind, verdanken wir deinem Großvater. Ich – – ich – sieh’, Bertold, – ich [199] wüßte gar nicht, wo wir die Mittel zum Studium hernehmen sollten, wenn wir uns gegen meinen Vater vertrotzten.«

»Das verstehe ich nun wieder nicht,« fiel Bertold erregt ein. »Soviel ich weiß, war deine Mutter doch, wie alle Dannenbergs, sehr reich, – – hat denn mein Vater alles – – ich meine – – –«

Frau Franziska war sehr blaß geworden. »Das war ein Irrtum, Bertold, Mutter war nicht reich, nicht einmal wohlhabend, – – ich bin ganz arm – –«

Bertold schüttelte den Kopf und seufzte. »Der ganze Eichenborn ist ein Geheimnis,« meinte er sinnend. »Es müßte schön sein, Mütterchen, wenn man einmal alles wüßte und Unrecht von Recht sondern könnte. Und dann allen Menschen klar in die Augen sehen. Manchmal habe ich schon gedacht – – es klebe unrecht Gut –«

»Bertold! Nein, nein! Sieh’ auf deine Worte! Wenn dich der Großvater hörte!« Franziska zog ihren Sohn neben sich auf das niedrige Sofa. Da hatte sie oft mit ihm gesessen, als er noch ein kleiner Junge war, – Bertold liebte das alte Möbel mit seinen vielen Erinnerungen. »Nein, mein Junge, – unser Eichenborn trägt kein unrecht Gut. – Viel, viel Schuld und Fehle anderer Art wohl – – verjährte Geschichten, aber die sollen meines Bertolds Augen nicht verdunkeln.« Sie küßte ihn, und er atmete erleichtert auf.

Frau Franziska lehnte ihren Kopf an Bertolds Schulter. »Wie gern hülfe ich dir! Ich leide am meisten [200] unter meiner Armut und – daß ich meinem Einzigen nicht helfen kann.«

Bertold umschlang sie fest mit beiden Armen. » Du sollst nicht leiden, Mütterchen,« rief er zärtlich und küßte sie knabenhaft stürmisch. Dann bettete er sie wieder sorglich an seine Brust und sah auf den lieben, schönen Kopf herunter. War es denn möglich, daß sich schon so viele weiße Fäden durch das dunkle Gelock zogen? Wie er seine Mutter liebte! Wie viel sie gelitten haben mußte! Durch ihn, Bertold, sollte ihr nur Freude und Gehorsam kommen, das war sein Entschluß.

»Jetzt sage ich zu dir : ›Mütterchen, Kopf hoch!‹« versuchte er zu scherzen. »Wir wollen nachher zum Großvater gehen und alles Nötige wegen Bonn besprechen. Vielleicht kommt ihm auch selbst der Gedanke, daß ich hier am nötigsten bin.«

Frau Franziska sah halb zweifelnd noch in das liebe, ehrliche Gesicht ihres Jungen. Aber darin war nur ein fester Entschluß und mannhafte Entsagung zu lesen. » Mein Junge!«

»Mütterchen?«

Sie sahen sich beide wieder froh in die Augen und dachten nur daran, daß sie beisammen waren.

Nach einer langen Weile des Schweigens meinte Frau Franziska: »Sahst du die Liselotte Windemuth, als wir an der Kirche vorüberfuhren?«

»Ja, Mütterchen.«

»Sie ist groß geworden und sehr hübsch, Bertold. [201] Das lange, schwarze Kleid veränderte sie heute etwas, und die Feierlichkeit der Konfirmation lag noch ganz auf ihrem Schelmengesicht.«

»Wie ist sie innerlich, Mütterchen?«

Die Frage klang seltsam, und ein Ton schwang mit – Franziska hätte keine Frau sein müssen, um die Worte nicht sofort als etwas Besonderes aufzufassen. Sie hob den Kopf von der Schulter ihres Jungen und sah ihn prüfend an. Da wurde er rot bis unter den dunkeln Lockenschopf.

»Deine erste Liebe, Bertold,« neckte die Mutter zärtlich. »Wie sie sich entwickelt hat, die kleine Liselotte? Nun, wie ein Mädchen, das keine Mutter hat und sich immer im Kampf mit halbgebildeten Hausunken befindet. Wie ein Mädchen, das einen Vater hat, der in ihr den ersehnten Buben vermißt und sie mit Gelehrsamkeit vollpfropft, – einen Knopf wird sie sich wohl nicht annähen können.«

»Mir schien, sie hatte heute alle Knöpfe am Kleidchen,« bemerkte Bertold mit leisem Humor, und die Mutter lächelte.

»Willst du damit sagen, daß sie sehr ›zugeknöpft‹ war?« neckte sie. »Aber ich will Liselotte nicht verkleinern, Bertold. Sie ist anders als die Schwarzhausener Mädchen, und das kann ihr ja nur zum Vorteil gereichen. Und aus der Pension, wo das arme Geschöpf sechs Jahre verbleiben mußte, ist sie verändert wiedergekommen.«

[202]

»Verbildet? Mütterchen?«

»Nein, im Gegenteil. Das › arm ‹ bezog sich auf die Tatsache, daß man so ein Mutterloses zu lange dem Vaterhause entfremdete. Aber dem alten Jüngferchen, das dem Institut vorstand, verdankt Liselotte viele unvergängliche Werte. ›Mütter werden geboren ‹, sagt irgend ein Großer, und diese alte Jungfer war eine echte Mutter!«

»Woher weißt du das alles, Mütterchen?« Bertold drückte die Erzählende plötzlich zärtlich an sich, so als wäre der Ausspruch über jenes alte Jüngferchen überaus beglückend für ihn.

»Von Liselotte selbst. Wir treffen uns manchmal am Tempel der Geselligkeit unten im Park. Ich las diesen Namen in der Eikchronik. Es waren damals wohl andere Zeiten für die Eiks, – jetzt könnte man ihn Tempel des Schweigens nennen.« Frau Franziska seufzte.

Sie löste sich leicht aus den Armen ihres Sohnes und strich sich Haar und Kleid glatt. Denn es hatte an die Tür geklopft; der junge Diener meldete irgendeinen Namen, und vor Mutter und Sohn stand gleich darauf eine hochgewachsene, schlanke Mädchengestalt.

»Ich wollte meinen Dank für die Blumen selbst bringen,« sagte Liselotte Windemuth.

Die Einleitung war nicht sonderlich geistreich oder verblüffend, aber Bertold wußte nicht ein Wörtchen zu entgegnen oder sich selbst mit irgendeiner passenden [203] Redensart nach neun Jahren wieder vorzustellen. Er, der den Herren Examinatoren »Nüsse zu knacken« gegeben, stand blöde und stumm vor der Jugendgespielin.

Liselotte sah nicht gerade freundlich auf ihn hin. Sie hatte sich von den Gratulanten fortgestohlen und selbst dem amüsanten, strahlenden Leutnant Hans von Windemuth den Rücken gekehrt, um Bertold in der Heimat willkommen zu heißen. Er war ihr ja fremd geworden, aber es war so eine Art heißer Trotz gewesen gegen den moralischen Dünkel der Schwarzhausener, sich plötzlich zu den Eiks zu bekennen, gerade als man den heimgekehrten Bertold wieder einmal zwischen die Scheren nahm.

Und nun tat der einstige Freund nicht dergleichen, stand abseits mit seinem düstersten Gesicht und schaute sie an, als empfände er ihre Störung höchst lästig, ja als wollte er sie beinahe verschlingen. Von beidem war ein Körnchen Wahrheit vorhanden, – dem Bertold war unglaublich beklommen zumute, und dabei fand er doch die erwachsene Liselotte mit dem Mozartzopf und den großen Schleifen so wunderniedlich, daß er sie nur immer und immer anschauen mußte. Es war ja die alte Liselotte, und sie war es auch wieder nicht. In die Augen des jungen sechzehnjährigen Menschenkindes war etwas getreten, ein Ausdruck, den sich der Achtzehnjährige nicht zu deuten wußte. Denn er sah beinahe wie »Hunger« aus, und wonach hätte die Liselotte wohl hungern sollen?

[204]

Sogar eine große Erbschaft hatten die Windemuths gemacht, und Liselotte plauderte sehr unbefangen über ihre veränderten Verhältnisse, daß sie nun mit dem Vater reisen wolle durch das In- und Ausland, erzählte auch, daß ihre Konfirmation eine Art von Familientag bedeute, denn durch die Erbschaft seien die adligen Windemuths arg benachteiligt worden, und da sollte nun ein Vergleich geschlossen werden.

Aber was sie auch plauderte, es riß Bertold nicht aus seinem schweigenden Anstarren, denn weit interessanter als die Erbschaft dünkten dem Jungen die blonden, eigensinnigen Löckchen, die sich so lieblich über der weißen Mädchenstirn krausten, und die trotzigen, stahlblauen Augen, in die richtig hineinzuschauen er sich doch nicht einmal getraute. – Zwei Dinge, zwei sonst so sehr wichtige, waren überhaupt im Gespräche nicht berührt worden: die Geige – und Puppe Emmy.

»Du warst nicht höflich zu Liselotte,« meinte Frau Franziska nachdenklich-vorwurfsvoll zu ihrem Jungen, als der Besuch sich entfernt hatte.

»Höflich? Zu Liselotte? Höflich??? « fragte Bertold verblüfft. Er hätte am liebsten den ganzen Tag immerfort gestaunt und hätte es für das einzig Richtige gehalten, mit diesem kleinen, süßen Mädchen gar kein einzig Wort zu reden, es nur immer anzusehen und zu bewundern. Höflichkeit war für irdische Menschen, aber nicht für den ersten Engel, der zum Eichenborn herniedergestiegen war.

[205]

Tief enttäuscht schritt Liselotte heim.

Ihr Hinüberlaufen in den Eichenborn war ganz impulsiv gewesen. Sie hatte den Jugendfreund sofort erkannt, als sie aus der Kirche trat. Er saß neben seiner Mutter im Eikschen Viktoriawagen mit den stadtbekannten schönen Apfelschimmeln, und die festen hellen Koffer mit den leuchtenden Messingbeschlägen schienen vom Kutschbock herunter zu lachen: »Bertold kommt wieder.« Und nun war er so wiedergekommen.

So düster und ungesellig wie nur je. Steif und fremd hatte er dagestanden, – oh und sie hätten sich doch eine Menge zu erzählen gehabt! Liselotte dachte gar nicht entfernt mehr daran, daß sie ja ursprünglich das »Karnickelchen« gewesen war, sie tobte sich rechtschaffen aus und arbeitete sich in einen tiefen Groll gegen den »Unnahbaren« hinein.

Wäre sie doch nur nicht zuerst in den Eichenborn gegangen!

Hätte sie doch lieber erst Vetter Hans ins Vertrauen gezogen!

Neun Trennungsjahre hatten doch wohl eine zu tiefe Kluft gerissen, und ihr lebhaftes Temperament hatte diese zu rasch überbrücken wollen. Nie, nie würde sie wieder ungebeten den Eichenborn aufsuchen, nie!

Und sie, Liselotte Windemuth, glaubte nun auch, was sich alle von Bertold erzählten: Düster und greulich und hochmütig war er und – – –

So kam es, daß, als Bertold sich in seinen Träumen [206] recht eng mit der Jugendgespielin verknüpft fühlte, er in Wirklichkeit weit – weit ab von ihr weilte. –

Haus Eichenborn versank nach Bertolds Abgang zur Universität noch ein wenig mehr in Dornröschenschlaf.

Von außen und in einzelnen Teilen auch von innen, hätte man es mit Recht für ein verwunschenes Schloß halten können, besonders, wenn man Fräulein Adelgundes graue Gestalt am Spinnrade erblickte, oder wenn man die alte Dame vor Beethovens Spinettchen sitzen sah, das unter dem weichen Anschlag ihrer runzeligen Hände zitternde Klänge hinaussandte durch das rosen- und efeuumrankte Fenster in den stillen verwachsenen Park.

»Einsam wandelt dein Freund im Frühlingsgarten, Adelaide – –«

Und von Beethoven, dem alten Meister, war es der Spielenden nur ein kurzer Gedankensprung zu dem lieben Jungen, dem die Musik eine Kapelle und Beethoven der Heilige darin dünkte. Tante Adelgunde hatte es dem Knaben nie vergessen, daß er sich einst nicht würdig genug befunden hatte, die Tasten auf dem Spinett zu berühren, das Beethovens Hände gemeistert.

Mit klaren Augen und scharfen Ohren, zu denen sich ein junges, warmes Herz gesellte, verfolgte die beinahe Neunzigjährige den Lebenslauf des Großneffen.

Seine Briefe aus Bonn waren stärkender Wein und heilkräftige Arzeneien für sie; Frau Franziska mußte ihr jede Epistel des Fernen bringen und ihr [207] vorlesen, dann wurde sie abends vor dem üblichen Schachspiel dem Bruder noch einmal laut verlesen, hierauf nahm Tante Adelgunde den Brief mit in ihr Schlafgemach und plauderte noch mit Frau Therese Teichmann, während diese ihr kleine Handreichungen verrichtete, über den Studenten, der beiden so sehr ans Herz gewachsen war. Die Ferien führten Bertold nur auf kurze Tage in den Eichenborn, die übrige Zeit dagegen hinaus in Gottes weite Welt. Und auch hier war wieder seine Mutter sein treuer Reisekamerad, der mit so feinem Verständnis dem Jüngeren sich anpaßte. Frau Franziska hatte auch an manchem Kommers, sowie an einigen Ausflügen teilgenommen und die Kommilitonen verehrten die schöne, ernste, jugendliche Mutter des Eik und achteten das enge, innige Verhältnis zwischen Mutter und Sohn. –

Freundschaften wurden geschlossen und begeisterte Berichte hierüber von Bertold heimgesandt, die die Vortrefflichkeit des Erkorenen in begeisterten Worten schilderten, nie aber spielte irgend eines der schönen, lebhaften, übermütigen, rheinischen Mädchen eine bedeutendere Rolle in Bertolds Leben, so scharf auch Frau Franziska beobachtete, wenn sie ihn in Bonn besuchte, und so aufmerksam sie auch zwischen den Zeilen seiner Briefe las.

Trotzdem munkelten alle Schwarzhausener Bürger von einem tollen Liebeshandel, als Bertold ein Säbelduell mit einem blutjungen Husarenoffizier austrug.

[208]

Bertold lag sehr lange in der Klinik, und dann hatte er eine tiefe Narbe über der Stirn von der dunkeln »Tolle« bis zur kühngezeichneten, dichten Augenbraue des linken Auges … das war wieder einmal etwas für das Städtchen.

Dieses letzte hatte ja noch gefehlt zur Charakteristik des bösen Buben: » cherchez la femme !« Noch so jung – und schon so Etwas.

Was dies Etwas gewesen war, wußte man nicht genau, aber man redete doch laut und zischelte leise über das schwarzhaarige, junge Ding in Bonn am Rhein, das den jungen Eik betört, um derentwillen der Zweikampf mit dem Offizier stattgefunden hatte.

Auch Base Juliane verfehlte nicht, den interessanten Fall dem Professor Windemuth mitzuteilen und Liselottes Gesicht überflog jedesmal eine brennende Röte, wenn sie den Namen des Jugendgespielen nennen hörte, beinahe immer mit einem Zusatz, von denen noch der mildeste war: »Kind, den jungen Eik guck’ nur nie wieder über’n Weg an. Wie der sich aufführt! Wenn wir noch nicht genau wußten, wer der schlechte Kerl in Eichenborn ist, jetzt wissen wir’s.«

Professor Windemuth schüttelte in ehrlichem Bedauern den Kopf. »Schade, schade um den Jungen! Ein begabter Mensch! Ein hübscher Kerl! Ein musikalisches Genie, und nun will er sich zum Raufbold auswachsen? Schade um die nutzlos vergeudete Kraft!«

Liselotte war und blieb ein wunderliches Ding. Sie [209] vergoß sogar heimliche Tränen über den Bertold Eik, trotzige Tränen, über deren Ursprung sie sich gar nicht klar wurde. Sie führte auch immer noch gelegentliche Selbstgespräche, was sie bei Base Juliane erst recht in den Geruch einer »überspannten Lise« brachte, und da Puppe Emmy schon so lange tot und verschwunden war, hielt sie Zwiesprache mit Bäumen und Blumen und irgendeiner unsichtbaren Person, zu welcher sie ehrlich sagte: »Pfui schäm’ dich, Bertold!«

Als Bertold nach der Verwundung übersiedlungsfähig war, holte ihn Frau Franziska nach dem Eichenborn, um ihn gesund zu pflegen. Noch ein anderes Geschöpf kam ebenfalls zur Pflege nach Eichenborn, ein unglaublich häßlicher Pudel, der genau so verklebt und verbunden war wie der junge Herr von Eik, und von dem man munkelte, daß er dem »jungen, reizenden Ding vom Theater« gehört habe.

Bertold war ziemlich matt von Stubenluft und Blutverlust, er konnte wohl schon auf Stunden aufstehen, aber er streckte sich noch immer mit ganz besonderem Wohlgefühl in seinem Bette aus; vielleicht war ihm auch der Anblick seiner sorgsamen Pflegerin, Mütterchen genannt, ein ganz besonders lieber, den er auszukosten wünschte. Er brauchte nicht mehr so streng mit Gesprächen und Aufregungen verschont zu werden, sondern konnte schon wieder einen Puff vertragen und dieser Puff war ihm auch von Tante Adelgunde nicht vorenthalten worden.

[210]

»Schlachtergesellen sind vom Eichenborn seiner Lebtage nicht zu seinesgleichen gerechnet worden«, hatte sie mit ihrer feinen, dünnen, alten Stimme zu Bertold gesagt. »Und ihr Raufbolde habt euch wie Schlachtergesellen verhackstümmelt. Schäm’ dich! Der liebe Gott hatte dich als hübschen Jungen erschaffen, jetzt gibt dir kein einigermaßen hübsches Mädel je wieder einen Kuß.«

Wahrhaftig, der Junge konnte noch lachen, – nicht mal verlegen, sondern frisch, frei, frohmütig, so, wie nur er es verstand, echt aus dem Herzen heraus. »Wieder? sagst du? Wieder? Tante Adelgunde? Meiner Seel’, ich hab’ noch nie einen Kuß von einem Mädel gekriegt.«

Ganz ehrlich klang es, aber er brauchte doch nicht so krebsrot und verlegen hinterher zu werden, – es war also geschwindelt und Tante Adelgunde verließ ärgerlich und aufgeregt den Kranken.

Frau Franziska hantierte ruhig und ernst im Krankenzimmer und bereitete alles für die Nacht vor, die Bertold nun nicht mehr mit einem gelernten Wärter, sondern nur noch unter Obhut von Hieronymus Teichmann zubrachte, der im Nebenzimmer sein Lager aufgeschlagen hatte.

Bertold betrachtete sein Mütterchen mit einem humorvollen Lächeln.

»Wie schlecht du dich verstellen kannst, Liebstes«, meinte er leise und ergriff ihre Hand, die ein Glas [211] frischen Wassers auf das Nachttischchen setzte. »Deine Augen fragen den ganzen Tag und ebenso dein Mund, trotzdem er nur das Notwendigste mit deinem bösen Buben spricht. Soll ich nun jetzt antworten, Mütterchen?«

Frau Franziska beugte sich über ihren Sohn, sah ihm ein Weilchen in die Augen und küßte ihn dann auf die Stirn.

»Hast du es doch gemerkt, du Siebengescheidter?« lachte sie leise und verlegen auf, während helle Röte über ihr Gesicht flog. »Schön und gut, ich erwarte deine Beichte. Aber gleich eins sage ich dir vorher.« Frau Franziska reckte sich hoch auf. »Ich glaube nichts von dem Unsinn, den die Schwarzhauser über dich verbreiten und ich werde dir selbst nicht glauben, wenn du mir jetzt etwa tolles Zeug vorreden willst. Mein Junge bist du und ich bin dein treuer Kamerad. Unbesonnen und jähzornig kannst du handeln, aber nicht niedrig oder unritterlich, es ist einfach nicht möglich – und auch mit dem Mädel – ich glaub’s nicht, – mein Bub ist höchstens in mich verliebt, – gelt, Bertold?«

Ein wahres Leuchten zog über des jungen Burschen Gesicht. »Gibt es nun wohl noch eine solche Mutter?« lachte er glücklich. »Wie du mich kennst, deinen wilden Jungen! Komm her, Altchen, ganz nahe zu mir.«

Er zog die Mutter auf die Bettkante, wo sie sich [212] möglichst bequem hinsetzte und schmiegte sich in ihren Arm. »Also nur neugierig ist meine kleine alte Dame?« fragte er zärtlich, – »kein bißchen mißtrauisch, trotz Schwarzhausen und angrenzender Raubstaaten? Aber ehe ich dir mein kurzes, gar nicht sehr interessantes Erlebnis schildere, muß ich erst von dir hören, wie rabenschwarz man mich in unserer lieben Vaterstadt anstreicht.«

Frau Franziska erzählte ruhig und sachlich. Es wurde ihr nicht ganz leicht, denn die Schwarzhausener waren hart und bös mit ihrem Jungen verfahren, und sie vermochte es nicht über sich, vor Bertold das ganze Gewebe von Häßlichkeiten auszubreiten. Immerhin blieb noch ein großer Teil unguter Verleumdungen übrig und Bertold mußte erst ein paar Mal rasch und heftig aufatmen und tapfer tausend Bitterkeiten hinunterschlucken, ehe er antworten konnte.

»Armes Mütterchen!« sagte er zuerst nur. Dann legte sich ein altmachender, verächtlicher Zug auf sein offenes Knabengesicht, so daß Frau Franziska sacht glättend mit der Hand über seine Stirn strich. Gerade diesen Zug mochte sie am wenigsten an ihm sehen, er tat ihr mehr weh, als irgend sonst etwas.

»Es ist eigentlich schade, daß die Leute ihre Phantasie an eine so kleine, unbedeutende Tatsache hängen,« meinte er spöttisch. »Du wirst lachen, mein Liebes, wenn du siehst, was für ein harmloses Mäuslein der kreisende Berg zur Welt bringt.«

[213]

»Je weniger es ist, desto lieber ist’s der Mutter von Bertold Eik,« erwiderte sie einfach, »erzähle mir alles.«

Nun ja, der Jähzorn war wieder einmal mit ihm durchgegangen, aber Mütterchen würde sich wahrscheinlich auch nicht beherrscht haben in solch unwürdiger Sachlage.

Bertold schmiegte sich wie ein Kind behaglich in den Mutterarm:

»Ein schöner, sonniger Morgen war’s,« erzählte er, »und ich wollte mir einen kleinen Brummschädel wegbringen durch rasches, kräftiges Zuschreiten. In der Nähe vom Münsterplatz, ich nicke immer gern dem Beethoven erst mal zu, ehe ich an mein Tagewerk gehe. – Da höre ich ein Jammergeschrei und Jammergeheul gleichzeitig von Mensch und Vieh und finde ein scheues, sich bäumendes Pferd, an dem ein Pudel unaufhörlich schnappend in die Höhe springt, und finde meine kleine filia hospitalis – Mutterle, du kennst ja die schwarze Gretel – die hat die Leine verloren, an der sie den Pudel halten soll, und wie sie mich sieht, schreit sie wie besessen »Herr von Eik, Herr von Eik!« und fällt mir beinahe um den Hals. Helfen konnte ich gar nichts, der Offizier brachte sein Pferd selbst zur Ruhe, sprang ab und übergab es seinem Burschen, der hinter ihm ritt.

Aber nun nahm er den Pudel vor, der ja wohl auch Prügel verdient hatte, aber – – – brrr!« Bertold schüttelte sich. »Na Mutterle, du weißt ja, was für [214] ein sieches, krüppeliges Jammergestell aus dem Pudel Fidelio geworden ist – – ich riß ihn dem Leutnant aus den Fäusten – – es war nicht schön, Mütterchen – – ja – so kams.«

»Ihr wurdet handgreiflich?« fragte Frau Franziska leise.

»Was heißt da handgreiflich – Mutterchen – zwei neunzehnjährige Kerle, denen beiden der Jähzorn im Nacken sitzt. Am andern Tag war das Duell – ich habe für mein Leben den scheußlichen Schmiß weg, der mir noch genug Kopfschmerzen machen wird, und dem Leutnant von Senz habe ich die Nase gespalten – – Tante Adelgunde hat ganz recht: ›Schlachtergesellen!‹«

»Du böser Wilder!« Frau Franziska strich sanft über die rote Narbe; »du wirst dich nun umlegen und ganz ruhig schlafen viele Stunden lang, damit das Fieber nicht wiederkommt.«

»I, das ist ja schon da, Mütterchen,« lächelte Bertold matt, »und da schadet es nichts, wenn ich dir noch rasch sage, daß die schwarze Gretel mir den zerschlagenen, geschundenen Pudel samt seinen gebrochenen Rippen schenkte, weil sie meinte, ich hätte ihr und ihm das Leben gerettet – – –«

»Schlaf, mein Junge!«

Frau Franziska erhob sich und verließ sacht das Zimmer. Vor der Tür lag Fidelio. Trotz seiner Schmerzen schleppte sich der kluge, häßliche Hund immer wieder in die Nähe Bertolds, und Franziska ließ den [215] Pudel gewähren, dessen Tage trotz guter Pflege gezählt waren – man hatte dem armen Tier gar so bös mitgespielt.

Sie dachte an die kleine filia hospitalis , die ihre Nelken und Geranienstöcke am Fenster plünderte, damals als der Bertold in die Klinik kam – die Mutter mußte ihm jede Blüte mitgeben. So ein gutes, kleines, dankbares Ding! Und aus dem mageren, verwachsenen Persönchen, das im Theater in dem Garderoberaum mithalf, weil es zu schwerer Arbeit zu schwach war, hatten die Schwarzhausener ein »üppiges, tolles, schwarzes Theaterfräulein« herausphantasiert!

Gottlob, daß es Phantasie war. Sie tat ja weh, doch das würde vorübergehen – ihr Junge gehörte noch ihr, der Mutter, und das war für das Mutterherz die Hauptsache. –

Der Großvater sah Bertold erst, als er sich schon wieder zur Abreise nach der »Universität« rüstete. Diesmal setzte er sich selbst die Gänsefüßchen in Gedanken vor das Wort. Denn er mußte erst einmal drei Monate auf eine andere Art studieren, aber auch sein Mütterchen vermied das Wort »Festung« und sprach immer nur von der Universität Bonn.

Nun hatte Bertold sich noch durch Teichmann in einer kleinen Privatangelegenheit beim alten Herrn melden lassen und das Gespräch zwischen Großvater und Enkel war sonderbar genug.

»Ich hatte dir deinen Wechsel schon durch deine [216] Mutter zustellen lassen« – empfing Eik senior den Enkel.

»Es bedarf nicht noch eines besonderen Dankes, Bertold. Was wünschest du sonst?«

»Die Erlaubnis, meinen Hund Fidelio im Park beerdigen zu dürfen, Großvater.«

»Deinen Hund? Ist es der schauderhafte Pudel, den du aus Bonn herschlepptest?«

»Jawohl, Großvater.«

»Man sagt – – hm – er hätte einem Frauenzimmer gehört? Ist’s so?«

»Ja Großvater.«

»Die dir wert war? Du fängst früh an, Bertold, ich wünschte, du ließest dir zu derartigen Sachen noch Zeit.«

»Mir war das Mädchen fast unbekannt. Ein armes, verwachsens Geschöpf, älter als ich – –«

»Du sprichst die Wahrheit? – –«

Diesmal folgte als Antwort nur ein fester Blick.

»Also wieder einmal Schwarzhausener Geträtsch?«

»Ja Großvater.«

Laut und bitter lachte der Alte auf. –

»Bertold, dein Weg wird wahrscheinlich noch rauher, als der meine es war. Verstehst du das, mein Junge?« Es war das erste Mal, daß eine so gütige Bezeichnung erfolgte und Bertold empfand es mit dankbarer Freude. »Du hast das unglückliche Temperament der Eiks, daneben aber noch einen ganz unvernünftigen [217] Idealismus, der dir – hm – wohl von anderer Seite vererbt ist.«

Herr von Eik senior schritt jetzt im Zimmer auf und ab, man sah, daß ihm die Trennung vom Enkel zu schaffen machte.

»Sich für ein unbekanntes, häßliches Weib aus dem Volke zersäbeln und außerdem drei Monate aufbrummen zu lassen, ist der Gipfel der Dummheit; auch für das Hundewrack, das du mit herschlepptest, fehlt mir das Verständnis, obwohl wir Eiks alle Ursache haben, die stumme Kreatur der schwatzenden, hechelnden, verleumderischen, hetzenden vorzuziehen. Deinen Begräbnisplatz für das Vieh sollst du haben, komm mit.«

Bald darauf standen Großvater und Enkel vor dem Gesellschaftstempelchen im Park, und Bertold sah sich nach einem geeigneten Platze um. Das tote Tier lag, in ein Leinentuch geschlagen, unter der Tannengruppe; Bertold hatte Schaufel, Hacke und Rechen mitgenommen.

»Hier!« rief der Großvater rasch und lebhaft und bezeichnete seinem Enkel die Stelle, wo dieser graben sollte. Bertold war es froh ums Herz, wie seit langer Zeit nicht. Er fühlte zum erstenmal bewußt, daß er dem alten Eik verwandt war und die Zukunft, in der er mit dem Großvater gemeinsam arbeiten sollte, sah ihn nicht mehr so fremd und kalt an. Mit jedem Spatenstich, den er tat, wurde es ihm freier ums Herz; [218] es war ihm, als seien in dem verhüllten Bündel alle seine und Mütterchens Sorgen verborgen, die er nun für immer verscharren wollte.

Vielleicht bewegten den alten Eik ähnliche Gedanken, er erschien dem Enkel aufgeräumt und munter wie nie zuvor. Mit Interesse verfolgte er das Ausschaufeln der Grube, half dann dem Enkel die Last hineinzusenken und setzte sich beschaulich auf die Bank des Tempelchens. Als Bertold die Öffnung zuschaufelte, fiel ihm etwas auf.

»Großvater«, rief er lebhaft, »hier daneben ist noch ein Grab, – da liegt gewiß schon ein vierbeiniger Eichenborner Hausgenosse.«

Wie sonderbar doch der Großvater war! Er lachte mit einem Male rauh und schallend auf und schaute den Enkel belustigt mit wetterleuchtenden Augen an.

»Nein Bertold, da ruht eine Staatsdame «, rief er zurück, und dann sah ihn Bertold mit wuchtigen Tritten nach dem Herrenhause schreiten.

Kopfschüttelnd blieb der Enkel zurück.

* * *

Schwarzhausen schwelgte in der Behaglichkeit des Rechthabens. Es war alles bis auf das I-Tüpfelchen eingetroffen, was man seit zehn Jahren vorhergesagt.

Bertold Eik taugte wirklich nichts. Der Ehrenhandel, den er in Bonn ausgefochten hatte, mußte [219] etwas ganz Unsauberes gewesen sein, denn der Student saß im Gefängnis .

Man wußte nicht recht, sollte man empört sein über dies Vorkommnis, das eine der angesehensten Schwarzhauser Familien betraf, oder sollte man das Behagen überwiegen lassen, daß endlich einmal etwas Richtiges in Schwarzhausen passierte. – Es half nichts, daß Dr. Hempel und Pfarrer Klingenreuter jedem, der es hören wollte, das Wort »Festung« in die Ohren schrie, die lieben Mitbürger wurden dadurch weder gescheidter noch wohlwollender. Und als irgendeiner von den »ganz Klugen« aus Fritz Reuters »Festungstid« nachwies, daß in den Kasematten hauptsächlich »Königsmörder« untergebracht würden, wurden die Mutmaßungen immer geheimnisvoller und belastender für den Übeltäter. Man brauchte auch nur Frau Franziska, die bedauernswerte Mutter anzusehen, um zu spüren, daß das nichtsnutzige Leben ihres Einzigen ihr beinahe das Herz brach. Wie sie aussah, – so blaß, so erschöpft und hinfällig! Sie war doch noch jung und die Nachtwachen und Krankenbesuche, die sie seit einiger Zeit aufgenommen, konnten unmöglich solche Verheerungen in ihrem Körper anrichten. –

Man fing wirklich an, die »arme« Frau aufrichtig zu bedauern, die solch ein Kreuz zu tragen hatte, und den alten Herrn von Eik dazu, der seinen herrlichen Besitz einst solchen unwürdigen Händen überlassen mußte. Man sah jetzt Frau Franziska täglich.

[220]

Was man ursprünglich in edlem Zorn und Gerechtigkeitsgefühl für Haus Eichenborn vom Himmel erfleht, nämlich eine kleine, reinigende Sintflut, das kam mit einem Mal höchst unbegründet für ganz Schwarzhausen, der Typhus. Wie aber nicht anders zu erwarten, war auch hier die Quelle des Übels der Brunnen im Eichenborn, aus dem seit uralten Zeiten die Mägde aus der Stadt das Brunnenwasser holten. Man hätte doch vorsichtiger sein und von dem Augenblicke an, da Bertold Malcroix sich zum Taugenichts auswuchs, den Eichenborn überhaupt meiden sollen. Nun wurde er zum » mal croix « für ganz Schwarzhausen. Irgend ein Schlingel des Städtchens, der viele krumme Wege ging, Vogelnester ausnahm und reifes und unreifes Obst stahl, machte sich wichtig und erzählte, daß er nach der Krankheit des jungen Herrn Bertold und kurz vor dessen Abreise den alten Herrn mit seinem Enkel im Parke gesehen habe, wie sie ein großes, geheimnisvolles Bündel in die Erde vergraben. Man hätte dem als verlogen und diebisch bekannten Jungen sonst nicht die einfachste Mitteilung geglaubt, aber diese Nachricht schlug ein und zündete sofort. Der Erzähler wurde beinahe der Held des Tages und in der Parochialschule umstanden ihn die Schüler, auf der Straße die Bürger und seine Wahrnehmungen wurden andächtig aufgenommen. Natürlich schwoll sein Kamm und je öfter er die Geschichte erzählte, desto unheimlicher wurde der Inhalt des Bündels. Der Schauplatz des Begebnisses [221] verschob sich immer mehr, bis er schließlich nahe der Quelle alles Übels, dicht vor dem verseuchten Brunnen lag. –

Es war nur Gerechtigkeit des Himmels, daß die Seuche als erstes Opfer den Hieronymus Teichmann forderte, ihn, der immer und ewig die Partei des schlechten Eiks genommen hatte und auch bei den letzten Munkeleien, die sich ja leider als nur zu wahr erwiesen, ganz aus dem Häuschen gekommen war. Nun hatte er’s, – nun lag er in einer der Isolierbaracken und seine Stunden waren jedenfalls gezählt.

Daß diese Isolierbaracken und alle die Vergrößerungen und Neuanschaffungen im Krankenhause Geschenke des alten Herrn von Eik waren, erschien nicht mehr als billig und ebenso richtig war es gewesen, daß Frau Franziska sich tatkräftig der Kranken und ihrer Pflege annahm, um die Schuld des schlechten Sohnes etwas zu versühnen.

Der alte, brave Teichmann schickte sich wirklich zum Sterben an .

Und so ruhig war er darüber, und so wenig Macht hatten die Schmerzen über ihn, daß seine poetische Ader nicht versiegte, sondern bis zum letzten Atemzuge kräftig quoll. –

Sein gutes Auge leuchtete, als Frau Franziska zu ihm trat; doch gleich darauf erlosch der Glanz wieder, und bekümmert schaute er seinen Liebling an:

»Das Fräulein – sollt an sich – selber denken – [222] und mir nicht noch Zeit und Weile schenken,« flüsterte er zärtlich besorgt mit matter Stimme.

»So blaß sieht Fräulein Fränzchen aus, – ich kann’s nicht sehn und nicht verstehn, vielleicht liegt es am Eichenhaus, daß Lust und Freuden dort vergehn – –«

»Das mag wohl sein, alter lieber Hieronymus, aber davon wollen wir jetzt gar nicht sprechen, sondern nur sehen, wie wir dir Linderung bringen. Wie geht es Frau Thereschen? Ruht sie sich ein wenig?«

Er nickte matt.

»Sie hat sich Ruhe nie gegönnt, hat all ihr Lebtag nur geschafft, doch nun sie sieht, daß man uns trennt, da holt sie sich zum Schmerz die Kraft, – ich bin ohn’ Sorgen allerwegen, – kann ja mein Weib in Eiksche Hände legen.«

»Du Treuer! Frau Thereschen wird nie verlassen sein, wie du uns nicht verlassen hast in guten und bösen Tagen.«

Er lächelte dankbar, schlummerte dann ein Weilchen und schlug wieder die Augen auf. »Wenn ich bitten dürft – – mit schuldigem Respekt, – daß man den Herrn von Eichen weckt, – möcht gern die starke Hand noch drücken und mich dann still bei Seite rücken. – Und Brennstoff – – und den Rektor Tüllen – wird man mir wohl den Wunsch erfüllen? Ich möchte sie beide noch mal sehn – – und kann dann ruhig – – nach Hause gehn.«

[223]

Er sprach abgerissen, leise und langsam, aber Franziska hörte deutlich jedes Wort und nickte ihm gewährend zu. »Sie werden alle bald da sein, mein guter Teichmann, soll ich auch Frau Thereschen holen?«

Er schüttelte abwehrend den Kopf. »Ich glaube nicht, daß ihr das frommt; sie braucht die Ruh für das, was kommt, – – sie würde jammern auch und klagen, – ich kann das jetzt nicht gut vertragen« – – Teichmann schlummerte wieder und Frau Franziska verließ sacht das Zimmer. Es währte nicht lange, und sie standen alle um ihn, die seine Treue im Leben besessen und sie fühlten, daß etwas Gutes von ihnen wegschritt. Die rechte Hand reichte der Sterbende dem Rektor Tüllen und die Linke Frau Franziska. Zwischen ihm und dem alten Lehrer bildete das längst verstorbene Ännchen das Bindeglied, aber der Tochter seines alten Herrn schlug sein Herz unmittelbar entgegen.

Am Fußende ragte die hohe ungebeugte Gestalt des alten Eik, und zu Häupten des Bettes mühte sich Kantor Brennstoff vergebens, einer heftigen Bewegung Herr zu werden. –

»Will mir mein Herr ein gutes Sprüchlein sagen?« fragte Teichmann mühsam. »Ich muß den letzten Gang nun wagen und aus dem Eichenhause ziehn – – – Den Pfarrer möcht’ ich nicht bemüh’n – –«

Der alte Eik trat rasch näher, – er legte seine große Hand auf die des Kranken: »Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über Weniges getreu gewesen, [224] ich will dich über Vieles setzen, gehe ein zu deines Herren Frieden!« – –

Das war ein wunderschönes Lächeln, das jetzt auf dem Antlitz des alten Dieners lag. Das Sprüchlein war wohl mitten in sein treues Herz hineingesprochen worden und hatte ihm den Trost gegeben, nach dem er verlangte. Deshalb suchten seine müden Augen nun nicht mehr die umstehenden Menschen, sondern richteten sich in weite, lichte Fernen – – –

»Brennstoff, ich sehe den Großen, ich sehe Beethoven« sagte er laut und dann mühte sich seine sterbende Stimme, eine Melodie zu formen, aber es war nur mehr eine zersprungene Glocke, die ihm heimläutete, – heim. Nur die Worte konnte man deutlich verstehen:

»Fahr wohl, du goldene Sonne – – –«

* * *

Dem Schnitter Tod schien es in dem kleinen, freundlichen Schwarzhausen wohl zu behagen, er kümmerte sich nicht um Hygiene und nicht um die Ärzte, er rief: Arzt, hilf dir selber, und winkte Doktor Hempel. Dieser sträubte sich zuerst mächtig, er war ein kräftiger, willensstarker Mann und unermüdlich in dieser schweren Zeit auf dem Posten gewesen. Vielleicht zu sorglos und unermüdlich.

Als er den Totenschein für Hieronymus Teichmann ausstellte, sprach Doktor Hempel noch eindringlich [225] mit Frau Franziska, daß sie sich schonen und hinlegen müsse, sie sähe erbärmlich aus von ihren angreifenden Nachtwachen, und die Schwarzhausener hätten es den Kuckuck nicht verdient, daß sie sich aufopfere.

Doktor Hempel war überhaupt verdrießlich und heftig aufgebracht gegen die ganze Welt, die einen schiefen Gang ginge, gegen die Seuche insbesondere, die so tat, als hätte es nie die bewährten und berühmten Hempelschen Reinigungskuren gegeben, und welche über Kurellasches Brustpulver, Zitwersamen und Brennersches Pflaster einfach hinwegschritt.

Ganz besonders aber war er aufgebracht gegen Schwarzhausen, welches noch hinter dem Monde zurück war und von absichtlicher Brunnenvergiftung »gärte und märte«.

»Und Sie müssen die Ohren steif halten, meine liebe Frau Fränzchen, und sich für Ihren Bertold schonen und tapfer aufbewahren, denn der braucht Sie wie das liebe Brot. Er hat nicht viel Freunde in Schwarzhausen und die wenigen sind alt. Und das Heer seiner Feinde sieht scharf nach ihm hin, der später doch einmal so eine Art Vater von ihnen sein soll und doch ist es so kurzsichtig von den Einwohnern, nicht den Segen zu erkennen, der vom Eichenborn für Schwarzhausen ausgeht. Darum hüten Sie als Mutter Bertolds guten Engel, – und der sind Sie selbst. – Und nun Gott befohlen! Mir ist heute selbst gar nicht »extra«, – ich werde mir jetzt einen Aromatique genehmigen [226] und dann zu den Porzellinern gehn, – die sterben reineweg wie die Fliegen, weil sie alle Zwetschenbäume gepachtet haben und »nichts umkommen« lassen wollen, das verbohrte Volk – – –«

Aber Doktor Hempel ging nicht zu den Porzellinern und nahm auch keinen Aromatique. Es war immer seine Art gewesen, sich hinter diesem köstlichen Dietendorfer Schnabus tüchtig zu schütteln, aber diesmal schüttelte es ihn selber vorher und er mußte sich ins Bett legen.

Und weil er selbst sein Wort nicht hielt, glaubte auch Frau Franziska ihm nicht gehorchen zu müssen. –


Bertold Eik saß unter fröhlichen Kumpanen auf der Kneipe, als man ihm den Eilbrief von seinem Großvater brachte.

Schon den ganzen Abend hatte man Bertold seiner großen Schweigsamkeit halber geneckt und ihn auf »tiefsten Dalles« oder »höchste Verliebtheit« taxiert; er konnte einer unerklärlichen Bangigkeit nicht Herr werden.

Sein Großvater schrieb sonst nie an ihn, alle Nachrichten, auch die geschäftlichen, gingen ihm durch seine Mutter oder durch den Prokuristen der Firma Eik zu, – der Eilbrief übte einen seltsamen Bann, – er spornte nicht zur Eile, er lähmte alles Denken und Fühlen und nur mechanisch betrieb Bertold seine Abreise, die noch in derselben Nacht erfolgte.

[227]

Grau und trübe der Himmel über Schwarzhausen, grau und trübe die ganze Stimmung in den Straßen, grau und düster das langgestreckte Herrenhaus der Eik von Eichen.

Bertold fröstelte, als er heimkehrte in das Haus seiner Väter. Selbst die Gesichter der Menschen, die ihm in der Herrgottsfrühe begegneten, waren ihm grau erschienen, und sie waren es wohl auch wirklich, – vor Sorgen, vor Angst, weil die Seuche nicht schwinden wollte aus Thüringer Landen.

Und noch etwas starrte dem jungen Studenten aus den Augen seiner Landsleute in grauer Öde entgegen, – tiefe Abneigung gegen ihn und seine Heimkehr.

Er hatte in ruhig ernstem Gruß den Hut gezogen, als er rasch durch die morgenstillen Straßen schritt und hatte den wenigen Kindern freundlich zugenickt, die sich an den Fenstern zeigten. Aber sein Gruß war nicht erwidert worden, und die Kinder hatten sich eilig und scheu zurückgezogen.

Selbst die geliebten Thüringer Berge hatten eine Nebelkappe aufgesetzt, die sie verhinderte, freundlich, heimatlich, vertraut auf den Heimkehrenden zu blicken und die sonst so silberne Gera schien allen Glanz verloren zu haben und schlich grau und langsam dahin.

Einmal mußte doch wieder alles hell und licht werden, mußte doch dieses öde Grau verschwinden, dachte Bertold, und suchte durch junge, hoffnungsfrohe [228] Gedanken die unerklärliche Bangigkeit zu verscheuchen, welche sich um sein warmes, junges Herz legte.

Einmal? Gleich! Jetzt! – sobald er die Mutter an seine Brust drückte, an seine junge, kraftvolle Brust, nach welcher sich die liebe Kranke sehnte, wie der Großvater ihm geschrieben. Schien nicht die Sonne schon ein wenig in das Nebelgrau des Morgens, da er so innig an die Mutter dachte und sein Herz ihm selbst schon voraus flog zu ihr? Er würde nicht wieder die Heimat verlassen, die liebe Heimat, die für ihn gleichbedeutend war mit seiner Mutter Herz. Nie wieder! Er würde von nun an immer zu ihren Füßen sitzen, und herrliche, trauliche Abende sollten kommen nach des Tages Last und Mühe, frohe Feste nach sauren Wochen. – Liebe sollte den Eichenborn durchsonnen.

Der Großvater empfing den Enkel am Portal des Hauses – war denn heute alles so anders? Das hatte der gestrenge, alte Herr noch nie getan. Die Förmlichkeit der ersten Begrüßung durch sämtliche Dienerschaft war bisher immer streng innegehalten worden.

Und noch etwas verwunderte Bertold und erschreckte ihn zugleich:

Die gebeugte, müde Haltung des Großvaters, die ungewohnte Milde in seinem strengen Gesicht.

»Grüß Gott, Großvater!«

»Lieber Bertold – – –«

Ihre Hände lagen mit festem Druck ineinander, [229] dann lief der Jüngere mit eiligen Schritten durch die Diele, die Treppen hinauf, daß er nichts versäume, nicht eine heilige Minute, die er bei der Mutter sein konnte. Er hörte hinter sich den Großvater rufen, – vielleicht sollte er auf ihn warten, bis der alte Herr mit seinen wuchtigen, langsamen Schritten ihn begleitete, aber das war ja sonst auch nie geschehen, immer hatte er seine Mutter allein begrüßt. Beinahe lächelte der Student ein wenig, daß er so knabenhaft ungestüm und trotzig dem Großvater entlief. Und nun kam noch die braune Tür mit den blitzenden Messingbeschlägen, die den Sohn noch trennte von der lieben Kranken. Wenn er als Knabe Sehnsucht nach der Mutter empfand, dann stand diese braune Tür vor seinem geistigen Auge, und es war ihm, als brauche er nur die Klinke niederzudrücken, um sofort wieder daheim zu sein.

Sacht, sacht! – die Mutter könnte schlafen, könnte erschrecken. Aber eine Mutter erschrickt nicht, wenn der Einzige heimkehrt – sie muß ihn ja lange schon erwartet haben, sie hat sich gebangt nach ihm, so schrieb der Großvater.

»Mütterchen!«

Nein, eine Mutter stört der heimkehrende Sohn nie – besonders nicht, wenn sie so fest schlummert wie Mütterchen Franziska – – aber trotz des tiefen Schlafes hat sie das liebe Lächeln auf ihrem Antlitz für ihn, für ihren Einzigen.

[230]

»Mutter! Mutter! «

Nie wieder vergißt der Eichenborn diesen Ton. Denn das Weh einer Welt liegt in ihm. Und er wird noch tagelang und nächtelang nichts anderes hören, als diesen Ruf.

Mutter! Mutter!

Die junge Seele drinnen ist aus den Fugen. Kleiner, großer, törichter Bertold! Glaubtest du, ein Mutterherz sei so heilig und hehr, daß niemand daran rühren könne; sei so lebendig, so liebeübervoll, daß es nie verstumme? Daß es klopfen müsse in alle Ewigkeiten?

Mutter! Mutter!

Störe den heiligen Schlaf nicht, Bertold! Jammere nicht so wild! Es ist umsonst, du weckst sie nicht. Du bist ein zwanzigjähriger Knabe und da sind zwei Gewaltige, die leben seit Urbeginn, und sie sind wider dich.

Der Tod und – der ihn rief.

Weine dich gesund.

Denn du brauchst Kraft, dir jetzt deinen Kinderglauben zu retten. – Du kanntest sie ja bis in ihre innersten Gedanken, deine Einzige.

Du weißt, daß sie ihren Mutterberuf als heilige Mission auffaßte, an deren Erfüllung sie sich selbst hingab.

Nach ihrem unerschütterlichen Glauben warst du ihr von Gott gegeben – würde Gott dich auch wieder von ihr fordern: »Wo ist dein Kind? Wie erzogst [231] du es? Was können seine Mitwanderer und Weggenossen von ihm erwarten? Warst du würdig, eine Mutter zu sein?« –

Weine dich gesund, Bertold!

Denn du sollst jetzt einen einsamen Weg gehen, sollst aus dir selbst heraus etwas Tüchtiges werden, ohne Mutterwort und Mutterrat, sollst eine Persönlichkeit werden.

Kraft brauchst du, um Gottes Fragen an deine Mutter zu beantworten. – – –

* * *

Dicht hinter dem Sarge von Frau Franziska schritten Großvater und Enkel.

Die Augen des alten Herrn streiften besorgt das Antlitz des jungen Mannes an seiner Seite.

Es war wie versteint in Schmerz.

Die Schwarzhausener fanden erst lange Zeit nach dem Begräbnis die richtigen Worte, das Wesen des Bertold Eik zu zeichnen, – während der ganzen Zeremonie war er ihnen unheimlich und unverständlich.

»Bertold! Aber Bertold!«

Der alte Herr von Eichen nahm die Hand des Enkels und hielt sie fest. Er wußte nicht, weshalb? – er hatte das unbestimmte Gefühl, der junge, verstörte Mensch an seiner Seite könne irgendeine kopflose Handlung begehen.

[232]

Aber Bertold dachte gar nicht daran. Er hatte die Augen nicht zu Boden gesenkt, wie es eigentlich die ehrbare, altväterische Trauersitte vorschrieb, sondern hatte sie, weit aufgeschlagen, in Fernen gerichtet.

Wo war die Mutter?

Sein übermüdetes Herz klopfte flatternd und schmerzhaft in seiner Brust. Er sah und hörte nichts, was um ihn vorging, vernahm nichts von den herzlichen Worten des Predigers und hob die schlaffe, herniederhängende Hand nicht, als man sie teilnehmend drücken wollte.

So schritt er wieder aus der Kirchhofspforte heraus und die Karosse der Eiks nahm ihn auf und führte ihn zurück in den verödeten Eichenborn.

Er saß bei Großtante Adelgunde und die Neunzigjährige klagte mit feinem, verstaubtem Stimmlein, daß der Herrgott sie vergessen habe und alle die Jungen vor ihr fort hole.

Er hörte es, aber er faßte nicht den Sinn ihrer Worte. Er hörte auch den Großvater sprechen und raten mit ernster, gütiger Stimme und sprach selbst zustimmende Worte.

Seine Koffer standen wieder gepackt und ein Auslandspaß war ausgefertigt.

Nach Paris würde er gehen, nach London und New York, er würde Holland und Belgien bereisen und alle Plätze besuchen, an denen Haus Eik von Eichen angesehen und berühmt war.

[233]

Aber er würde nicht die braune Tür wieder öffnen, die nahe, ganz nahe an seinem eigenen Zimmer lag, die Tür, hinter welcher das leere Bett stand und all die lieben Sachen lagen, die seine Mutter getragen.

Den Schlüssel zu dieser Tür barg er auf seiner Brust.

Der Vollmond stand am abendlichen Himmel und sah auf den rastlos Wandernden, der noch einmal im Parke von Eichenborn alle Plätzchen aufsuchte, die er als Kind geliebt.

Rastlos kamen und gingen die Gedanken.

Er hatte ja die Heimat nicht wieder verlassen wollen – – nun hatte seine Heimat ihn verlassen.

Drum ging er gern in die weite Welt.

In seiner wilden Verzweiflung hatte er nicht mehr an die offenkundige Abneigung der Schwarzhausener gedacht und auch ehe der tiefe Schmerz kam, hatte ihn seine Wahrnehmung nur stutzig, nicht grübeln gemacht.

Bertold war ja so jung, so gesund und so erfüllt von guten Gedanken für die Heimat, für Schwarzhausen und den Eichenborn.

Er würde den närrischen Leuten schon zeigen, daß er nicht nur jähzornig, sondern auch arbeitswütig war, und daß er gewissenhaft in seines Großvaters Fußstapfen treten wollte.

Das war gewesen . –

Waren es Jahre, die zwischen dem Tage seiner Ankunft und heute lagen? Heute grübelte er, heute [234] wurden ihm die vielen, unbeantworteten »Warum« zu einer unerträglichen Pein.

Aber der Duft der Thüringer Tannen, die so dicht den Tempel der Geselligkeit umstanden, und welche Bertold immer wieder auf schmalem Wege umschritt, übte eine wunderbare Macht. Dieser Duft umfaßte den jungen Menschen weich und stark zugleich – wie Mutterarme.

Bertold lehnte seinen Kopf an die Rinde des nächststehenden Baumes und griff über sich in das Geäst, wie er als Knabe oft getan, um in kindischem Spiel zu fühlen, wie die spitzigen, braunen, welken Nadeln herunterfielen und sich in seinem dichten Haar versteckten.

Seitwärts von der Tanne auf dem weichen Erdboden wölbten sich zwei Hügel, ein großes und ein kleines Grab.

Da lag Fidelio, der häßliche, gute Hund und dort – – die Staatsdame. So hatte der Großvater ohne weitere Erklärung ihm gesagt.

Aus dem kleinen Erdhügel schimmerte im Mondlicht etwas Weißes hervor – es mußte vor kurzem ein größeres Tier hier gewesen sein; vielleicht ein Hund aus der Fabrik, der durch Zäune und Wiesen herlief. Das kleine Grab war zerwühlt.

Bertold befühlte das weiß schimmernde Etwas mit seinem Stock und blieb daran hängen; als er den Stock [235] hob, fiel die wenige Erde zur Seite und legte eine größere weiße Fläche frei, die Bertold, jetzt doch etwas neugierig geworden, mit der Hand betastete. Seidenstoff war es, rauh geworden von Erde und Nässe, aber an dem Seidenstoff hing ein kleiner, harter, runder Gegenstand. Immer mehr schüttelte Bertold den Kopf, denn er sah nun, daß er eine Puppe vor sich hatte, keine Emmy ohne Kopf, aber einen Kopf ohne Haare und nun fand er auch die abgelöste Perücke und einen dicht zusammengelegten Zettel. Der hatte so verborgen in den Kleiderfalten der Puppe gelegen, daß die Schrift sich gut gehalten hatte und er las die Buchstaben, von seines Großvaters Hand geschrieben, deutlich im hellen Mondlicht: »Diese Puppe soll Liselotte Windemuth gehören.«

Ergründen konnte Bertold dieses Rätsel nicht, – aber er wollte es auch gar nicht ergründen.

Er legte die Puppe wieder sorglich in die Grube hinein und holte noch mehr Erde, die er darauf schüttete und dann gleichmäßig fest trat.

Viel ruhiger wurde er durch diese seltsame Arbeit – denn der wehe Schmerz um seine Mutter wurde abgelöst und abgelenkt durch ein warmes, herzliches Sehnen nach einem lebendigen Menschenkinde, nach einem lieben, rosig-weißen, trotzigen Mädchengesicht, nach einem Paar stahlblauer Augen – – nach dem herzlieben, närrischen Mütterchen der kopflosen Puppe Emmy und der begrabenen haarlosen Staatsdame.

[236]

Hoch atmete Bertold auf – das Herz wurde ihm zu eng in der Brust.

Er mußte sie noch einmal sehen, die kleine Liselotte, seine Jugendfreundin, ehe er ins Ausland ging.

Wie hatte er sie nur vergessen können drei lange Tage!

Mutter, liebe Mutter!

Verzeihst du es deinem Jungen, wenn er das lachende Leben mit seinen tiefsten Gedanken verschwiegen grüßt?

Bertold schritt rasch aus dem Park. Im klaren Mondlicht schaute er noch einmal alles hell und schön und vertraut, jeden Baum, jeden Strauch, jede alte, seltsame, verwitterte Steinfigur. Im Grasgarten rauschte der Born, da erzählten sich die Eichen flüsternde Märchen, Märchen von Mutterliebe und Heimat, Märchen von Thüringer Edeltannen, von denen die schlankste und schönste und lieblichste die Liselotte Windemuth war.

Bertold hielt die Hand unter die murmelnde Quelle, und auch sie erzählte und rannte. Von einem jungen Burschen, der seine Mutter verlor und der in die weite Welt ging. Aber er würde wiederkommen, bald – in einem Jahr oder in zweien, dann würde er in das hohe Giebelhaus treten dort in der nahen Straße und würde das schöne Haustöchterlein fragen und – – dann könnte es doch noch einmal sonnig werden im düstern Eichenborn.

[237]

Hinschritt er durch die stille Straße mit leuchtenden Augen, mit raschem Atem und jung – junger Liebe.

Da lag es, das Windemuthhaus.

Aber nicht so still wie der trübe, ernste, schweigsame Eichenborn, aus dem man die letzte Freude hinausgetragen und in die Erde versenkt hatte.

Die schöne, warme, helle Sommermondnacht hatte die Bewohner des Hauses im Garten festgehalten.

Bertold unterschied ganz deutlich die einzelnen Personen: Base Juliane, den alten Herrn Professor und eine junge Dienstmagd, welche noch einige Blumen mit der Gießkanne tränkte.

Wie sah das alles so traut und heimelig aus.

Er trat in den Schatten der Geisblattlaube, die dicht am Straßenzaun lag. Seine Augen spähten und suchten.

Wo bleibt sie? Wo bist du, Liselotte? – Sieh – ich will Abschied nehmen.

Wie durch Gedankenübertragung schickte zu gleicher Zeit Professor Windemuth seine Augen suchend durch den Garten, und deutlich vernahm Bertold dessen behagliche Stimme: »Wo bist du Liselotte? Hans! Wo bleibt denn unser Brautpaar – – –?«

Furchtbar deutlich – lächerlich deutlich.

Und furchtbar und lächerlich war doch auch das, was der unverantwortlich helle, abscheuliche Mond da [238] beleuchtete, – ein eng verschlungenes Paar, das den Weg heranschritt, Arm in Arm, Auge in Auge. – Das weiße Kleid des Mädchens schimmerte zu Bertold hinüber und ebenso die blitzende Uniform des Leutnants Hans von Windemuth.

Lächerlich deutlich.

So lächerlich, daß man eben lachen mußte.

Gellend lachte Bertold auf – – daß das glückliche in sich versunkene Pärchen zusammenschreckte und der alte Herr eilends nach der Stelle hin lief, von welcher das unheimliche Lachen ausging.

Aber Bertold war schon geflohen, und immer noch lachte er, – jähzornig, wütend, weh, verzweifelt.

Ein paar Schwarzhausener Burschen standen mit ihren Liebchen vor den Haustüren.

An ihnen vorbei stürmte Bertold, sie sahen sein seltsames Gebaren und deuteten es sich in hellem Entsetzen und Empörung über so viel Verworfenheit.

»Er muß betrunken gewesen sein, – sonst könnte er nicht nachts – durch die stillen, ehrbaren Straßen planlos rennen und lachen – laut lachen am Abend des Tages, da man seine Mutter begrub.«

»O über den schlechten Kerl!«

Am nächsten Abend wußte man es in ganz Schwarzhausen, daß der Eichenborn nun wirklich verödet war.

Daß die großen Auslandskoffer gepackt im Zimmer des jungen Eik stünden, aber niemals abgeholt würden. [239] Daß der alte, grimme Eik als ein einsamer Mann zurückgeblieben und sein Enkel geflohen war mit nichts als seiner Amatigeige – – – um ein Musikant zu werden.

* * *

Wird er kommen?

Das war die brennende Frage des Abends.

Erregte Gruppen standen zusammen, Künstler und Kunstfreunde.

Der schlicht-vornehme kleine Saal harmonierte gut mit den Menschen, die sich darin versammelt hatten; er sah feierlich aus in seinem Weiß und Gold und Kerzenschimmer, feierlich mit dem strengen, grünen Lorbeerschmuck.

Und wie Feiertagsstimmung lag es auch über den Versammeltem trotz einiger erregter Lautsprecher.

Wird er kommen?

Meister Joachims Gestalt löste sich jetzt aus der einen Gruppe und winkte abwehrend und lächelnd zurück.

»Versprechen kann ich gar nichts. Sie kennen doch den Malcroix. Der läßt sich weder in Krieg noch in Frieden etwas abnötigen, was er nicht selbst hergeben will, und ob er sich heute Ihnen gibt – –«

»Gehen Sie gleich jetzt zu ihm, Meister?« fragte ein blutjunges, blasses Bürschchen mit schwärmerischen Augen und blonder Künstlermähne.

[240]

»Ja, das tue ich. Aber ich weiß nicht, ob ich ihn treffe. Und weiß nicht, ob ich meinen ehemaligen Schüler dann nicht für mich behalte. – Kindskopf!!!« fuhr er gleich darauf den Frager an, dem wahrhaftig die Augen feucht wurden. »Närrisches Volk alle miteinander! Aber mir geht’s ja nicht um ein Haar besser. Herrgott, hat der Mensch gespielt! – – Guten Abend, meine Herrschaften!«

Man geleitete Meister Josef Joachim noch zur Tür und trat dann wieder zusammen, bildete neue Gruppen und behandelte doch nur das alte Thema: Bertold Malcroix und sein wunderbares Geigenspiel am heutigen Abend in der Singakademie.

Der Impresario ging mit lebhaften, kleinen Schritten von Gruppe zu Gruppe.

»Das war ein Erfolg!« Sein glatt rasiertes Gesicht glänzte und strahlte.

»Den halte ich noch fest – der darf mir nicht schon wieder ins Ausland, mag es nach ihm kabeln, so viel es will. Summen zahlt dies Amerika – – Aber dem Malcroix ist das einerlei – – ich halte ihn fest – –«

»Menschenkinder – ich hatte euch Berliner für viel nüchterner gehalten,« meinte jetzt halblaut ein dunkler, geistvoll aussehender Herr, der mit einem bekannten Berliner Maler allein an einem der Marmortischchen saß. »Ihr treibt ja Götzendienst mit diesem Malcroix.«

Der Maler lachte.

[241]

»Nennen Sie es so. Aber in Ihrem Munde hat das Wort Götzendienst einen spöttischen Klang. Er ist jedoch von allen Völkern und Stämmen immer sehr ernst betrieben worden, und so halten wir es auch mit Malcroix. Daß Sie zum heutigen Konzert noch nicht in Berlin waren, sondern genau eine Viertelstunde nach Schluß anlangten, machen Sie mit dem Unglücksstern aus, der schon über Ihrer Wiege geschwebt haben muß.«

»Na, da haben wir’s! Stopp, alter Freund! Ehe Sie mir ganz aus dem Häuschen geraten: Wer sind die zwei närrischen Zwickel dort in ihren vorsintflutlichen Fräcken? Sie sehen aus, als seien sie aus der Biedermeierzeit stehen geblieben, um für sie Reklame zu machen.«

»Ihr Scharfblick ehrt Sie,« lachte der Maler. »Diese beiden närrischen Zwickel, wie Sie sich auszudrücken belieben, sind eigentlich Eins , sind die Achse, um die wir uns hier drehen, sind der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht, sind Jonathan für unsern David Malcroix, sind Marquis Posa für unsern Don Carlos Malcroix, sind Pylades für unsern Orest Malcroix, sind unsere einzige Hoffnung, daß der Held heute abend doch noch erscheint, sind Brennstoff und Tüllen

»Herr Ober, bringen Sie sofort ein Glas eiskaltes Wasser und eine Stirnkompresse für diesen Herrn, wenn irgend möglich noch Leibumschlag und Wadenwickel,« rief der Doktor.

[242]

»Lieber Doktor, Sie scheinen uns hier alle etwas für geistesgestört zu halten,« wehrte lachend der Maler.

»Ich sprach bis jetzt nur mit Ihnen ,« neckte der andere, »und halte da allerdings eine Ableitung vom Gehirn für geboten. Haben Sie Erbarmen und erzählen Sie mir meinetwegen auf deutsch, französisch, spanisch, italienisch, russisch, Volapükisch und Esperanto’sch von diesem Malcroix, – aber nüchtern – nüchtern!«

»Ich bin so nüchtern wie ein Kalb vor seiner Geburt,« versicherte der Maler. »Wie Sie sehen, ehren wir Bertold Malcroix noch auf andere Art, indem wir in den kargen Stunden des Zusammenseins mit ihm den Alkohol meiden.«

»Sind Sie verrückt?« entfuhr es dem andern.

»Ich glaube nicht.« Der Maler wurde ernst. »Malcroix hat vor Jahren im betrunkenen Zustand irgend eine schwere Tat begangen – als halber Knabe allerdings, man weiß gar nichts Genaues, erzählt sich aber die tollsten Geschichten von ihm, und besonders in seiner Vaterstadt Schwarzhausen, berühmt durch Porzellan, viertausend und eine Seele stark, gilt Malcroix als gänzlich schwarzes, verlorenes Schaf. – Jedenfalls ist er völliger Abstinent, weil er einen angeborenen, furchtbaren, schier grotesken Jähzorn meistern will, und – alle Achtung vor ihm – wir helfen ihm stillschweigend dabei, wenigstens solange wir ihn erwarten und mit ihm zusammen sind.«

»Soll ich heute den ganzen Abend Element in einer [243] Trockenbatterie spielen?« fragte der Gast kläglich. – »Was trinkt denn euer großer Geiger? Zu Beethoven und Bach paßt doch kein Himbeersaft?«

» Muß denn immer ges… trunken werden?«

Der Doktor seufzte. »Es wäre nichts für mich, nur am Busen der heiligen Cäcilie zu saugen, besonders da diese Dame älteren Semestern angehört, ich ziehe Pilsener vor – – –«

»Sie sind wohl nicht musikalisch, Doktor? – –«

»Ich weiß nicht. Als zweijähriger holder Knabe sollte ich in der Kindersymphonie von Haydn mitwirken, war aber noch nicht stubenrein und vergaß mich. Es war mein erstes und letztes Auftreten, aber ich getraue mich doch, das Gebet einer Jungfrau vom Radetzkymarsch zu unterscheiden.«

»Malcroix! Hurra! Malcroix! Evviva! Malcroix!«

Der Maler war, jegliche Gastfreundschaft schnöde vergessend, aufgesprungen und zur Tür geeilt, durch welche ein reckenhafter Hüne eintrat. Es entstand ein völliger Tumult.

»Malcroix, evviva! Malcroix willkommen! Malcroix hoch!«

»Sie sind verrückt – und alles ohne Alkohol,« murmelte der Doktor, der still an seinem Platze geblieben war.

Aber dann erhob er sich ebenfalls rasch und über sich selbst erstaunt, denn sein Malerfreund führte ihm den Helden des Abends zu.

[244]

Und vergessen war aller Spott, alle Kritik, alles Nörgeln, vergessen das Vorhaben, recht ruhig und objektiv zu urteilen, sich nicht planlos mitreißen zu lassen vom allgemeinen Taumel.

Es ging wirklich ein Zauber von diesem Hünen aus, der Zauber eines Sonntagskindes. Was für kluge, ernste, tiefe, gute, leuchtende Augen dieser Künstler hatte, was war er für ein bildschöner Kerl mit dem dunklen Lockenhaar, das doch so gar nicht romantisch flatterte, sondern einfach und schlicht gescheitelt die hohe sein gemeißelte Stirn umrahmte. Und wie er lachte! Dies Lachen kennzeichnete ihn schon als Liebling der Musen, – das war Musik, die auch den unmusikalischsten Menschen bezaubern mußte.

Und wie dieser Malcroix seine Mitmenschen um Haupteslänge überragte, so war sein ganzes Wesen eher väterlich zu nennen, trotzdem er kaum dreißig Jahre zählen konnte.

»Die Freunde meiner Freunde sind meine Freunde,« sagte Bertold Malcroix herzlich und schüttelte dem Gast die Hand. »Wenn Sie erlauben, setze ich mich nachher ein Weilchen still zu Ihnen, augenblicklich« – er deutete lachend auf die aufgeregten Verehrer ringsum – »habe ich noch keinen eigenen Willen.«

»Ein prächtiger Mann, ein lieber Kerl, ein Vollmensch!« Immer wieder sagte es sich der fremde Gast an diesem Abend, je länger er Malcroix beobachtete, wie er der gefeierte Mittelpunkt eines erlesenen Kreises [245] war, ohne auch nur ein einziges Mal unbescheiden, protzig oder nervös-launenhaft zu sein. Dieser Malcroix besaß die »Höflichkeit des Herzens, der Liebe verwandt, aus der die Höflichkeit des äußeren Betragens entspringt«.

»Nicht wahr, Sie gehören ihm auch?« fragte scherzhaft-ernst der Maler, als er wieder allein bei seinem Gaste saß, während Bertolds hohe Gestalt bald hier, bald da unter neuen Gruppen auftauchte.

»Er muß ein treuer Freund und guter Lebenskamerad sein,« meinte der Doktor sinnend, ohne direkt zu antworten – »ist er verheiratet?«

»Nein. – Auch über diesen Fall berichtet Frau Fama ganze Legenden.«

»Um Gottes willen, sagen Sie mir nicht, daß dieser Mann Herzensbrecher oder Weiberfeind ist,« rief der Doktor. »Beides würde mir wie ein platter, trivialer Berg zu einem Meisterbilde sein.«

»Malcroix ist auch keins von beiden nach meiner festen Überzeugung, aber – wie gesagt, ein wahrer Rattenkönig von Legenden heftet sich an seine Person. Man kann sich ja schwer vorstellen, daß dieser Vollmensch ein Erzengel Gabriel ist, wie einige behaupten, – ich kann darüber gar nicht urteilen, denn er spricht selten über Frauen und niemals über ›Weiber‹. Mit klugen Frauen plaudert er in derselben Weise wie mit gescheiten Männern und mit Gänsen scherzt er gutmütig, ohne sich lange bei ihnen aufzuhalten.«

[246]

»Ich kann mir nicht denken, daß ihm irgend eine Frau widerstehen könnte,« meinte der Doktor, »und doch sieht er so gar nicht aus, als läge ihm etwas daran, oder als hätte er sich vergeudet – vielleicht ist er irgendwo gebunden – – –«

Der Maler nickte.

»Man sagt es. Und ich selbst habe meine Beobachtungen gemacht. Er tritt in keiner Stadt Deutschlands auf, ohne irgend ein geheimnisvolles Landhaus in der Nähe zu mieten, wo er dann wohnt und auch hier hat er in einer Tiergartenvilla sein Domizil aufgeschlagen – nicht allein. Aber das geheimnisvolle Wesen, das ihn begleitet, ist dicht verschleiert und er selbst trägt es in den Wagen hinein und aus dem Wagen heraus. Er mietet eine versteckte Loge, wo es seinem Spiel lauschen kann und – –«

»Ist wahrscheinlich eifersüchtig wie ein Türke, und das Weib ist schön – – item, dieser Malcroix versteht’s. Wird er heute abend noch spielen?«

»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht. Neulich kamen wir – es war in Amsterdam – ganz unverhofft zu so einem Genuß. Da stritt er sich mit einem Kritiker herum, wurde wütend, riß die Geige aus dem Kasten und überzeugte den Kerl mit der Tat , so daß dieser windelweich wurde.«

In diesem Augenblick trat eine kleine Stille im Saale ein, irgend jemand, der von draußen hereingekommen war, erzählte eine Geschichte, die sehr belacht [247] wurde. Dann wurde die Unterhaltung wieder lebhaft und allgemein.

»Wo ist er denn?« hörte man Bertold Malcroix fragen.

»Immer noch vor der Tür.«

»Er soll hereinkommen.«

»Aber er ist sehr schmutzig.«

Malcroix winkte ungeduldig mit der Hand.

»Was ist denn los?« fragten einige neugierig, die nichts Genaues von dem Vorgang hören und sehen konnten.

»Nichts Besonderes,« war die Antwort. »Ein zerlumpter Bengel steht vor der Hoteltür und will durchaus den ›großen Malcroix‹ sehen. Er ist der Sohn eines verstorbenen Musikers, lebt bei fremden, harten Leuten und sieht jammervoll aus. Jetzt läßt ihn der Künstler holen.«

Man erhob sich von den Sitzen und spähte neugierig nach der Tür.

Nach einer Weile ging diese auf und ein ungefähr zwölfjähriger Junge kam hereingestolpert, – er war offenbar geblendet von dem vielen Licht. Seine Jacke war zerrissen und verknüllt, so als hätten viele grobe Hände ihn daran herumgeschüttelt, auch der Junge selbst sah aus, als sei er öfters mit Mutter Erde in allzu dichte, unsanfte Berührung gekommen. –

Bertold hob das Kinn des Knaben leicht in die Höhe und sah ihm in das zitternde, verweinte Gesicht.

[248]

»Nun, mein Junge, – du wolltest mich sehen? Ich bin Malcroix.«

Und der fremde Junge sah.

Nicht wie Neugierde blickt, die sich mit Verständnislosigkeit paart, es war auch nicht Liebe, mit der der blasse Knabe den großen Künstler betrachtete, es war wie Durst.

Durst nach etwas Hohem, Herrlichem, das nie bis heute in sein armes Leben getreten war.

Und die Umstehenden schauten wieder auf die beiden und sie vermochten nicht einmal zu lächeln, so rührend war die Versunkenheit des Jungen.

»Wie heißt du?«

»Fritz Bach.«

»Du hast einen Wunsch an mich?«

»Ich habe den Herrn spielen hören – heute im Konzert, aber ich wußte nicht, ob ein Mensch spielte – – –«

»Was redest du da. Wo warst du? Im Saal drinnen? Erzähl ordentlich.«

»Hinter dem Vorhang auf der Bühne steckte ich. Die Frau, bei der ich bin« – der Junge schüttelte sich – »ist Garderobefrau, der Mann hat auch eine Anstellung da. Ich habe schon viele Musik gehört. Gestern hatten sie mich so geschlagen, weil ich den Herrn geigen hören wollte, daß ich mich nur noch hinter den Vorhang stecken konnte; ich meinte, ich müßte sterben. Und als [249] der Herr geigte, glaubte ich, ich wär’ tot, und es wär’ schon ein Engel – – –«

Die Umstehenden sahen sich an.

Das war eine andere Sprache, als die gewohnten Huldigungen, die man dem begnadeten Künstler darbrachte, und dabei dies selbstvergessene Anschauen –

»Sprich weiter.«

»Dann wurde ich ohnmächtig, denn man fand mich, und dann wurde ich wieder geschlagen – es ist immer so – aber ich mußte Sie noch einmal sehen.«

»Du liebst die Musik sehr, Fritz Bach?«

»Ohhh!«

Nun lächelten doch die Umstehenden, der Ausruf kam zu rasch und urwüchsig heraus.

»Spielst du selbst?«

Der Junge nickte.

»Was kannst du?«

»Alles!!!«

Nun lachte Malcroix – und das war auch schon Musik, es war sein altes liebes Knabenlachen.

»Sieh, mein Junge, – das ist mehr, als irgend ein Mensch von sich sagen kann. Aber wenn du Bach heißt, ist’s ja nicht so verwunderlich. Bei wem hast du gelernt?«

»Ich kann’s von mir selbst.«

»Hm.« Malcroix winkte seinen getreuen Brennstoff zu sich heran und raunte ihm etwas zu, worauf der alte [250] Organist hinauseilte. Nicht lange darauf kam er mit Bertolds Geige wieder, die er ihm reichte.

Jetzt kam Leben in die Versammlung, ein lautloses, rasches, freudiges Verständigen, ein Zuraunen: »er wird spielen«; ein sachtes Hinsetzen und gespanntes Lauschen.

Der Künstler stimmte leicht, dann führte er den Knaben zu seinem eigenen bekränzten Sessel und drückte ihn sacht hinein. Malcroix setzte die Geige an – –

Es war wohl ein erlesenes Programm heute abend gewesen und alle alten und neuen Meister hatten dem genialen Künstler ihre Stimmen verliehen, um mit ihnen die Zuhörer zu packen und hinzureißen, aber was Malcroix jetzt den Lauschern gab, das war mehr.

Sie saßen alle weltentrückt und Malcroix war es selbst. Der arme Junge in der schmutzigen, zerlumpten Kleidung, der im bekränzten Sessel kauerte, duckte sich immer mehr und kroch ganz in sich zusammen.

Denn der Reichtum war zu mächtig, der sich da auf ihn niederließ, und sein kleines, verzagtes, verstörtes Herz konnte ihn nicht bergen.

» Fahr wohl, du goldne Sonne! «

Aber die Sonne ging nicht fort, sie schritt im Gegenteil golden und groß in den Saal hinein. Alle ihre Strahlen verfingen sich in die braune Amati und der Künstler webte aus ihnen ein goldenes Netz, das alle umspann. –

Die Augen hingen an dem Geiger.

[251]

Was er ihnen sagte, war gewaltig.

Eine Predigt hielt die Geige, wie sie wuchtiger kaum je vernommen ward. – Mußte man wirklich einen solchen Dornenweg des Entsagens gehen, wenn man zu dieser Höhe klimmen wollte?

Denn jene unter den Zuhörern, welchen Frau Musika zur Seherin wurde, tief Verschlossenes offenbarend, sie fühlten jetzt mit dem Künstler den Segen des Leides. Sie schritten mit ihm durch Höhen und Tiefen und sahen mit leidgeschärften Augen, daß blumenumstandene Wege sich in Sümpfe verirren und nur ein schmaler, rauher und einsamer Weg hinaufführt ins lichte Kinderland, ins Hochland.

Dann war der letzte Ton verklungen, aber es blieb still im Saal. Nach einem Weilchen hörte man ein wildes, wehes Weinen – Fritz Bach sprang auf, schob ungestüm seinen Sessel zurück und umklammerte den Arm des Künstlers.

» Nichts kann ich, nichts !« stöhnte er und lief hinaus, quer durch den ganzen Saal mit den vielen fremden Leuten, ohne Gruß, ohne Dank.

»Den hole ich mir wieder,« sagte Bertold sinnend.

Er schlug das seidene Tuch um die Amati und legte sie wieder in Brennstoffs Hände. Dieser sah besorgt in Bertolds Antlitz. Es war tiefblaß und nur die rote Narbe quer über der Stirn brannte wie ein feuriges Mal.

»Nur einmal gar nicht mehr an andere denken,« [252] meinte der Organist, »ganz und völlig ausruhen, nicht wahr, Meister Bertold?« Es klang, als spräche eine gute, alte Mutter mit ihrem Sohne. –

»Gewiß, mein Alter, – sei ganz ohne Sorgen.«

»Schmerzt die Narbe wieder?« fragte nun auch leise Rektor Tüllen. –

»Was soll ich’s hehlen? Ja, sie rumort etwas. –«

Die Umstehenden merkten kaum das Flüstern der drei. –

Nun der Bann des Schweigens gebrochen, waren sie alle völlig bei dem seltenen Genuß, den sie eben gehabt. – Sie redeten und gestikulierten heftig, sie legten die Sonde der Kritik an einzelne Stellen, und gegensätzliche Meinungen prallten hart aneinander.

Als man den Künstler zum Schiedsrichter nehmen wollte, war er mit den beiden Getreuen verschwunden.

Die letzteren schritten durch die Nacht, glückselig wie zwei Kinder über den wunderbaren Verlauf des Konzertes in Berlin, und auch darüber, daß das Ausland wieder hinter ihnen lag. Sie hätten sich ja nie dazu entschließen können, ihren jungen Meister Bertold allein ziehen zu lassen, – aber die Heimat übte ihre uralte Macht, und die Heimat war auch den beiden nicht mehr nur Schwarzhausen, sondern Deutschland. Und morgen, – morgen wollten alle drei nach Bayreuth – sie wollten Parsifal hören, zum ersten oder zum wievielten Male, sie wußten es nie zu sagen.

[253]

Es war ihnen ein Gottesdienst, den sie nie versäumten, wenn er sich ihnen bot. –

Bertold Malcroix schritt durch den stillen Tiergarten, rasch und weit ausschreitend.

Es ging schon stark auf Mitternacht, aber er wußte, daß er in dem kleinen, verschwiegenen Gartenhaus immer willkommen war, und daß die einsame Bewohnerin noch weniger Schlaf brauchte, als er selbst.

Etwas Starkes, Seltsames bewegte ihn heute.

Nicht der Künstlerstolz über den brausenden Erfolg des Abends, auch nicht der Gedanke, daß er heute wieder das Steuer eines Lebensschiffleins geworden war, denn daß er Fritz Bach die Mittel zu einem ernsten Studium gewährte, stand bei ihm fest.

Es war etwas anderes. Er hatte eine Erscheinung gehabt, ein Erlebnis, das ihn nicht losließ, und das er heute abend in Vergessenheit hatte bringen wollen bei sich selbst. –

Er, Bertold Malcroix, der nie einen Menschen vom andern im gefüllten Saale unterschied, er, dessen Sehen im Fühlen unterging, sobald er die Geige im Arm hielt, er hatte heute abend diese seltsame Erscheinung.

Im Adagio von Beethoven war sie auf ihn zugetreten und hatte ihn mit Augen der Erinnerung angeschaut.

Und sie war nicht leblos, trotzdem das schwarze Gewand der Trauer sie umschloß, sie atmete und schaute [254] aus stahlblauen, ernsten Sternen auf seine Geige. Nur auf diese, nicht auf den Mann.

So jäh war sein Erschrecken und das wunderlich süße Entzücken gewesen, als er sie sah, daß er im Spiel ganz leise stockte, und da war auch über das süße Gesicht der Liselotte ein Rot des Erschreckens gegangen.

Jetzt quälte er sich mit dem Gedanken an ihr Aussehen, an ihr verändertes, blasses, ernstes Gesicht, aus dem jedes Schelmenlachen gewichen war.

Kleine Liselotte, dachtest du dir das Leben einfacher?

Du warst so für die Sonne geschaffen, gab es dir Schatten? Zu viel Schatten? –

An diesem Abend hatte er nur für die junge, mädchenhafte Frau gespielt, die so düster in dem tiefen Schwarz unter all den strahlend geschmückten Menschen gesessen. Für ihre Augen hatte er gespielt, die einst so lachen konnten, für die schlanken Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen, für den Heiligenschein, der in Gestalt von flimmernden Löckchen das liebe Gesicht umgab, für die Seele der kleinen Liselotte Windemuth. Damit versank für ihn der große, helle Saal und alle Menschen dazu, und das stille Grasgärtchen des Rektors Tüllen stieg auf aus der Erinnerung. Nichts war auf dem Inselchen vorhanden, als die kleine Liselotte und er.

So kam es, daß seine Geige heute jubelte und [255] weinte und so inbrünstig warb um die Vergangenheit. Die reiche, volle Tonflut der braunen Amati wollte die Kluft ausfüllen, welche acht Jahre gerissen, wollte einen neuen Weg schaffen zur Heimat und zum Herzen der Jugendgespielin.

Jeder Akkord, jeder Klang, jedes leise Schwingen der Saiten sprach zu ihr und fragte sie und klagte mit jeder Frage sich selbst an: »Kleiner Kamerad, warum blieben wir nicht zusammen? Meine Liselotte, warum ließ ich dich mit einem andern ziehn? Du erfahrenes Mütterchen von Puppe Emmy, warum verstandest du an deinem Konfirmationstage den großen, unbeholfenen Jungen nicht, dem die Liebe zu dir über Kopf und Kragen schlug?«

Und gerade bei dieser eindringlichen Frage, welche die Geige an das Herz der blassen, jungen Frau tat, war eine Störung im Konzertsaal entstanden und Bertold hatte gesehen, wie Liselotte aufstand und den Saal verließ.

Wo war sie jetzt? Wie sollte er sie finden in dem großen, weiten Berlin?

Unter all diesen drängenden Erinnerungen war Bertold Malcroix an das kleine versteckte Gartenhaus gekommen, das sich efeuumsponnen seltsam verwunschen in der Großstadt mit ihren ragenden Prachtbauten ausnahm. Bertold schloß die Gartenpforte auf, die sich lautlos in den Angeln drehte, und schritt den hellen Kiesweg entlang nach dem Häuschen hin, dessen Fenster erleuchtet waren.

[256]

Noch ehe er die Glocke zog, öffnete sich die Haustür.

Frau Thereschen Teichmann stand knixend auf der Schwelle.

»Wie geht es der Kranken?« fragte der Ankommende, »hat sie sehr auf mich gewartet?«

» Sehr! Sie ist aufgestanden und behauptet, ganz frisch zu sein. Denn es ist ein Eilbrief gekommen und sie will heim.«

»Heim? Es ist wohl nicht möglich!«

Bertold hatte rasch Hut und Mantel abgelegt und klopfte nun leise an die Tür des nächstliegenden Zimmers, deren Klinke er sacht herunterdrückte.

Und dann hielt der Hüne in den Armen ein feines, kleines, graues Persönchen und Tante Adelgundes verstaubtes Stimmlein schalt mit ihm.

»Du Langbleiber, du launischer Künstlerbub! Vergißt du mich ganz?«

Und als er besorgt nach ihrem Befinden fragte, wies sie ihn herrisch zurecht.

»Ich bin gesund, und ich will reisen. Bertold, wir müssen beide heim.«

Sie hielt ihm einen großen Brief hin und Bertold sah, wie ihre runzligen Hände zitterten. Und er selbst war blaß, nachdem er ihn gelesen; er mußte sich in einen der tiefen Sessel setzen.

Das alte, heisere Stimmlein schalt weiter.

»Gelt, das ist nun doch was anderes und Schwereres, sich zu entscheiden, wo deine Pflicht liegt, dummer [257] Bub? Hier der Ruhm und die Welt, dort die verhaßte Arbeit.«

»Die Arbeit war mir nie verhaßt, Tante Adelgunde,« murmelte Bertold.

»Ach, – versteh mich doch recht, ich versteh’ dich ja auch. Hier liebt und vergöttert dich alles und in dem fernsten Auslandsnest bist du heimischer als in Schwarzhausen. Dort wartet schwere, verantwortungsvolle Arbeit auf dich und ein verbitterter Greis, der jetzt – – –«

Das verwitterte Stimmchen schlug um und Bertold trat zu dem uralten Dämchen und umarmte es zärtlich. »Wann mag der Schlaganfall gekommen sein, Tante Adelgunde?«

»Gott mag’s wissen. Der alte Prokurist schreibt ja nichts drüber, aber du liest ja, daß der Großvater dringend nach dir verlangt – – –«

»In einer Stunde geht der Nachtzug, – ich reise, Tante Adelgunde. Du kommst morgen nach mit Brennstoff und Tüllen und Frau Teichmann. Wirst du die Fahrt ertragen können?«

Da richtete sich das zusammengesunkene Körperchen auf. »Du fragst, wie dumme Buben fragen.« Das Stimmlein war jetzt fest und ernst. »Wenn man sich mit neunzig Jahren noch auf die Wanderschaft begibt, wie ich vor acht Jahren, dann muß etwas Großes, – das Größeste uns treiben: die Liebe , du dummer Bertold Eik. Ich allein hatte dich lieb und [258] ich wußte, daß man einen Eik nicht mit dem Haß und der Menschenverachtung in die Welt hinaus lassen darf. Aber nun hat dich deine Geige die Menschenliebe gelehrt und du brauchst mich nicht mehr. Bald bin ich hundert Jahr – – ich möchte in der Heimat sterben.« – –



* * *

Das alte Windemuthhaus hatte lange einsam gestanden.

Man wunderte sich in Schwarzhausen darüber, denn man hatte eine ausgeprägt praktische Veranlagung.

Das Grundstück mit dem schönen, geräumigen Wohnhaus und dem großen Park hatte hohen Wert, und mancher Schwarzhausener Bürger suchte es an sich zu bringen, aber ohne Erfolg.

Man sagte, die verwitwete Frau Oberleutnant von Windemuth wolle mit ihrem einzigen Kinde nach Schwarzhausen ziehen, um das Grab des Vaters pflegen zu können.

Aber es geschah nichts dergleichen, und die Einwohner der Stadt und Umwohner des Windemuthschen Grundstückes gewöhnten sich schließlich an die zugezogenen Fenster und freuten sich, daß der große Garten dem Stadtgärtner übergeben war, der ihn sorglich pflegte.

Durch das Ereignis der Übersiedlung des berühmten [259] Malcroix nach Schwarzhausen wurde das Interesse für die Windemuths in den Hintergrund gedrängt.

Man konnte sich zuerst gar nicht darein finden, daß der verachtete Name mit einem Male so hoch in Ehren stand, daß viele Fremde nach Schwarzhausen kamen und die Unbequemlichkeit des Reisens auf der Nebenlinie und Klingelbahn nicht scheuten, nur um die Heimat des großen Geigers zu besuchen. –

Und nun, da der Sohn den befleckten Namen des Vaters wieder ehrlich gemacht, also daß jeder mit abgezogenem Hute davor stand, nun führte Bertold wieder den Namen »Eik von Eichen«. – Er war und blieb eben »närrsch« und für die Schwarzhausener unverständlich. Und unverständlich blieb ihnen lange Zeit der ungeheure Aufschwung, den der Betrieb der Fabriken nahm, – es war doch unmöglich, daß der »Musikant« sich solche Fach- und Sachkenntnis angeeignet hatte, die den Erfolg bedingten.

Bertold Eik schritt durch alle Neugierde, allen Spott und einen guten Teil Nichtachtung, die sich trotz der acht Jahre gut erhalten hatte, mit eherner Stirn hindurch.

Der alte Herr von Eik hatte sich wieder erholt, aber er überließ dem Enkel die volle Verwaltung aller Geschäfte, und dieser ehrte den Großvater als Senior und holte seinen Rat ein, kehrte jedoch mit eisernem Besen jeglichen zopfigen Schlendrian aus. Das schaffte ihm einige neue Feinde zu den vielen alten, aber es verschaffte ihm [260] auch treue Anerkennung und der Erfolg war auf seiner Seite.

Der Eichenborn blieb geheimnisvoll, weil niemand gebeten wurde, ihn von innen zu besehen; man munkelte von Lebenspülverchen, die darin nach einem Teufelsrezept verfertigt würden und zu tausendjährigem Dasein berechtigten. Irgendwo mußte ja immer noch die Tante Adelgunde leben, die man nie mehr sah; und doch brachte man nicht die Hundertjährige mit der geheimnisvollen Person in Verbindung, welche Bertold mit auf Reisen nahm und durch Heben und Tragen vor jeder unsanften Berührung schützte.

Es war doch weit interessanter, vom »schlechten Kerl« zu sprechen und sich alle seine schlimmen Taten ins Gedächtnis zurückzurufen, als in dem Herrn von Eichenborn einen ruhigen, arbeitsamen Staatsbürger zu sehen.

Der Eichenborn blieb geheimnisvoll, weil das langgestreckte, düstere Haus niemals Gäste sah, niemals Fremde hineinließ. Und weil Dienstbotenklatsch keinen Nährboden hatte, denn die Schar der Dienenden im Eichenborn war altbewährt und wurde im Todesfall immer nur durch erprobte und empfohlene Verwandte des Verstorbenen ersetzt.

Die neue Zeit schritt rings um den Eichenborn und Bertold Eik junior tat ihr weit die Pforten der Fabrikräume auf und setzte sie auf den Ehrenplatz. – Was zum Wohle der Arbeiter geschehen konnte, das wurde in den Eikschen Fabriken eingeführt; alle neuen Erfindungen [261] im Betriebe der Schutzeinrichtungen fanden einen warmen, tätigen Förderer in dem jungen Besitzer. Aber die neue Zeit kam nicht nach dem Eichenborn selbst; sie mußte Halt machen vor dem mächtigen schmiedeeisernen Portal, das jeden Abend mit wuchtigem Schlüssel verwahrt wurde, und sie durfte sich nicht einmal erlauben, den uralten Klopfer durch den kleinen, weißen, elektrischen Knopf zu ersetzen.

Der Fürst des Landes war durch Schwarzhausen gereist und hatte dem Städtchen dadurch ungeheure Kosten, Mühe und Aufregung bereitet. Und wenn wirklich, wie man sagt, der Grad der Kultur eines Volkes nach dem Verbrauch der Seife abgemessen wird, so stand Schwarzhausen durchaus auf der Höhe.

Aber der Fürst fuhr mit dem ernstesten Gesicht durch all die Reinlichkeit und Kultur, selbst der Anblick der jungen und alten Ehrenjungfrauen vermochte sein Antlitz nicht zu erhellen, trotzdem die alten schon seinen Vater und Großvater begrüßt hatten.

Ohne Aufenthalt begab er sich nach den Eikschen Fabriken, wo er alles auf das eingehendste besichtigte. Und der Abend fand den Landesherrn nicht auf dem Honoratiorenball in der Thüringertanne, wo verschiedene Hände und Knopflöcher bereit waren, Segen zu empfangen, sondern er fand ihn im Gartenhause des Parkes Eichenborn, und das Gesellschaftstempelchen sah zum erstenmal wieder fürstliche Gäste, wie in längst vergangenen Glanztagen.

[262]

Schwarzhausen hatte Ursache, wieder den Kopf zu schütteln. Denn der als streng moralisch bekannte Fürst machte auch der geheimnisvollen Liebsten des jungen Bertold seinen ehrenden Besuch, ja er nahm sogar das »Pfand der Liebe«, die Frucht des unerhörten, lichtscheuen Verhältnisses mit nach der Residenz, damit die musikalische Ausbildung durch berühmte Hände erfolge.

Die neue Schwarzhausener »Schmach«, welche Bertold Eik den sittenstrengen Mitbürgern angetan hatte, war ein vierzehnjähriger Knabe, der in Eichenborn vom Rektor Tüllen unterrichtet wurde, wie denn überhaupt Tüllen und Brennstoff auf Wunsch der Eiks sich dauernd in Eichenborn niederließen.

Der »Sohn« von Bertold Eik junior wurde Fritz Bach genannt, und trotzdem sich der Fürst zu der unerhörten Heimlichkeit hergab, die sich im Gartenhause des Eikschen Parkes abspielte, und trotzdem überall wachthabende Eichenborner Garde auf Posten gestellt war, hatte doch ein Schwarzhausener Schlingel Gelegenheit, sich in einem Tannenwipfel einzunisten; er erzählte dem atemlos lauschenden Städtchen, daß der Fürst neben » der « gesessen. Er habe ihr sogar eigenhändig einen Schemel gebracht. Bertold Eik junior habe Geige gespielt, worauf der Fürst ihn umarmt und geküßt habe . Das gleiche habe darauf plötzlich »Fritz Bach« getan und Bertold Eik habe darüber herzhaft gelacht, worauf der Fürst laut und deutlich gesagt habe: »Mein lieber Eik, auch ohne Ihr Geigenspiel, [263] schon durch Ihr Lachen allein wären Sie der musikalischste Mensch unter der Sonne!«

Man konnte sich nur denken, daß der Fürst schon »alt« wurde und deshalb solche – (mit tiefem Bückling wurde es gesagt) – Ungereimtheiten vorbrachte. – Außerdem hatten sich Durchlaucht ja nie die Mühe gegeben, sich zu überzeugen, wie seine übrigen Landeskinder lachten, so z. B. ganz besonders laut die Tochter des Bürgermeisters, wenn sie keinen Heuschnupfen hatte.

Irgend einen Haken besaß natürlich die ganze Geschichte; denn trotzdem der Fürst öfters »unerhört gemütlich« zu den Eiks kam und Bertold Eik junior der Lieblingsgast des fürstlichen Residenzschlosses wurde, nannte sich noch niemand der Eiks »Kommerzienrat« und nicht die geringste Ordensdekoration wurde von ihnen getragen. –

Es war gut, daß das Schicksal dem Städtchen Ersatz gab und es an einem anderen Schwarzhauser Kinde Freude erleben ließ. Das war die Frau Liselotte von Windemuth, die nun als junge, ehrbare Witwe des Oberleutnants in ihr Vaterhaus eingezogen war. Daß die achtundzwanzigjährige Frau keinen Verkehr suchte, sondern nur der Erziehung ihres Töchterchens lebte, daß sie weder Kaffees, noch Abendgesellschaften mitmachte, sondern sich der Pflege der Musik hingab, war freilich nicht nachahmenswert, aber sie war ja ein Mensch und Fehler haben die alle. Die Schwarzhausener rechneten sich selbst nicht eigentlich in die Kategorie des homo [264] sapiens Linné , sie waren eben etwas Besonderes, waren »Fürstlich Schwarzhausensch«.

Frau von Windemuth hätte wohl eigentlich bei ihrer Jugend noch nicht so allein leben sollen, aber sie war nicht zu bewegen, der verstorbenen Base Juliane eine würdige Nachfolgerin zu geben, und setzte allen Anzapfungen dieser Art ein Lächeln entgegen, von dem man nicht recht wußte, ob man es lieblich oder spöttisch nennen dürfe.

Wunderschön war jedenfalls die junge Witwe, und um einen Blick aus den stahlblauen Augen zu erhaschen, ging, fuhr und ritt die Schwarzhausener Männlichkeit mit besonderer Vorliebe durch die Straße, wo sie wohnte, und der Verkehr in diesem Stadtteil hob sich, ohne daß Frau Liselotte selbst eine Ahnung hatte. Einige hochangesehene, ernsthafte Bewerber waren über die Schwelle des Windemuthhauses geschritten, aber die junge Frau zeigte keine Bereitwilligkeit, ihr eigenes Ansehen und ihre Ernsthaftigkeit zu teilen. –

So mußte man sich damit begnügen, manchmal beim Sonnenuntergang vor dem Zaun des parkartigen, dicht verwachsenen Gartens zu stehen und nach dem geöffneten Fenster des ersten Stockwerkes zu spähen, »bis die Liebliche sich zeigte«.

Aber sie zeigte sich nie.

Nur die wunderbar weiche Altstimme drang zu den Lauschenden, ein Klang wie aus anderen Welten: »Aus [265] der Jugendzeit, aus der Jugendzeit klingt ein Lied mir immerdar – – –«


Das kleine sechsjährige Wesen, das man im Windemuthsgarten spielen sah, hatte den Unternehmungsgeist der Mutter geerbt. Es stieg über den Windemuthzaun in Nachbargärten und sprach mit den Inhabern wie ein alter Verstandskasten. Es lernte stundenweise ernsthaft sein Abc und teilte ein Herzchen voll Liebe mit Blumen, Vögeln, Puppen, Mutti und dem lieben Gott.

Stahlblaue Augen schauten aus rosigem Gesicht lachend und zeitweise wiederum ernsthaft prüfend. Flimmernde Goldlöckchen umrahmten eine feine Stirn und unter dem geraden Näschen plauderte ein nicht allzukleiner Mund mit Mausezähnchen und etlichen Zahnlücken. –

Die Puppen des quecksilbrigen Wesens liebten weite, gefährliche Spazierfahrten in der »Kajüte«, wie der uralte Puppenwagen genannt wurde; und manche hatte schon ihr Dasein eingebüßt bei den verwegenen Ausflügen und lag begraben im Garten. Etliche waren Krüppel für Lebenszeit und dadurch ganz besonders verhätschelte Lieblinge.

Frau Liselotte erlaubte ihrem Kinde Selbständigkeit.

Automobile und elektrische Bahnen gab es nicht in Schwarzhausen; kläffenden, knurrenden Hunden trat das kleine Mädchen furchtlos entgegen und der Begriff des Bösen und Schlechten ging ihm überhaupt ab, so daß [266] es mürrische und garstige Leute einfach fragte: »Was fehlt dir?«

Vor dem lauschigen, verwachsenen Eingang zum Eichenborn, darinnen die Quelle murmelte, war die Kleine wohl manchmal mit ihrem Puppenwagen stehen geblieben und hatte in das tiefe Grün des Parkes hineingestaunt. Denn es erbte die Eigenart der Mutter, allüberall Melodien zu hören, und im Eichenborn schienen wundersüße Klänge in der Luft zu hängen. Aus der Quelle tönten sie, aus dem Gründickicht quollen sie hervor und dort unten, wo sich das silberne Band der wilden Gera schlängelte und das dunkle Gartenhaus stand, schienen sich die Weisen zu einer geheimnisvollen Symphonie zu verdichten. –

Schon oft wollte das kleine Persönchen all dieses näher ergründen, aber »Mutti« hatte es immer vor dem Eichenborn besonders eilig gehabt und das Kind rasch vorbeigeführt.

So lebte in der Kleinen das unbewußte Gefühl, daß der Eichenborn verbotenes Gebiet sei.

Wenn aber das Schicksal es gerade vor dem Eichenborn erlaubte, daß die Lieblingspuppe heftiges Nasenbluten bekam und abgewaschen werden mußte, dann konnte man natürlich ohne Bedenken hineingehen, und ebenso mußte es jedermann als berechtigt ansehen, daß man die Schwerleidende nach dem Abwaschen noch ein wenig in dem stillen Parke umherfuhr.

Also die kleine Diplomatin.

[267]

Sie schritt mit Trippelschrittchen den Melodien nach und machte mit erhobenem Zeigefinger ihre zwei Puppen auf die immer lauter werdenden Klänge aufmerksam. Vor dem Gartenhause hob sie unter Ächzen und Seufzen den schweren Puppenwagen über die Schwelle und schob ihn und sich selbst durch die Tür in die große, altväterisch möblierte Diele. Da saß ein steinaltes Mütterchen am Spinnrade.

»Um Verzeihung –« begann die Kleine mit tiefem Knix, »sind Sie vielleicht Frau Holle?«

Sie nannte sonst noch alle Menschen »du«, aber bei Personen aus dem Märchenlande mußte eine höfliche Ausnahme gemacht werden.

»Komm her zu mir,« rief ein verstaubtes, heiseres Stimmchen, aber die Kleine wehrte ab. »Danke, danke, ich muß rasch zu Mutti, aber vorher möchte ich ›das da‹ sehen.«

Ohne Zögern klinkte sie das Nebengemach auf, und »das da« stand vor ihr und starrte mit Schrecken und Entzücken in das liebe Kindergesicht.

»Liselotte!« rief der große dunkle Mann, der die Geige im Arm hielt, aus welcher die märchenhaften Klänge gekommen waren.

Ein grauer Papagei, der im Bauer am Fenster saß, fing plötzlich an, sich wild und heftig im Ringe zu schaukeln.

»Liselotte! Bertold!« krächzte er.

Die Kleine erschrak und machte einen tiefen Knix.

[268]

»Woher weiß er es?« fragte sie neugierig und schmiegte sich an den Mann.

»Was meinst du, du liebes Kind? Heißt du nicht Liselotte?«

Bertold Eiks Hand strich sacht und zärtlich über das blonde Gelock.

»Nein, ich heiße Elfi. Aber die beiden hier.«

Sie schlug die Wagendecke zurück und hob zwei Puppenkinder hoch, das eine im Steckkissen mit verbundener Nase, das andere in schwarzen Samthöschen: »Liselotte und Bertold«.

»Liselotte! Bertold!« schrie der Papagei.

»Siehst du, er weiß es,« triumphierte Elfi, »woher weiß er es?«

»Das war immer so,« murmelte der große Mann, dann legte er mit raschem Griff die Geige in den Kasten, hob die federleichte Elfi hoch, was die Kleine zu jubelndem Lachen veranlaßte, und drückte sie stürmisch an seine Brust.

»Du hast mich wohl lieb?« fragte sie erstaunt-zutraulich, und ihre Ärmchen legten sich weich und herzlich um seinen Hals.

Dann zog sie ein verknülltes, nasses Taschentüchlein, mit dem sie vorhin die Puppe abgewaschen, aus dem perlengestickten Margaretentäschchen und wischte damit dem fremden Mann über das Gesicht.

Denn er hatte Wasser in den Augen und immer mehr Tränen kamen noch, trotzdem ihm die Elfi so mütterlich-zärtlich [269] zusprach, genau so, wie es ihre eigene Mutti bei ihr selbst tat: »Nicht weinen, – nicht doch – es ist ja gar kein Grund da!«

Plötzlich lachte er herzlich und glücklich, was sehr hübsch klang, und sie durfte mit ihren kleinen Fingerchen die Saiten der Geige zupfen und nach Herzenslust mit ihrem neuen Freunde plaudern. Sie erzählte von Mutti und vom Windemuthhaus und dem großen Garten, und daß Großvater und Großmutter und auch der Papa im Himmel seien und daß Mutti oft weine.

Unglaublich rasch verflog die Zeit, denn der ernste Mann und das holde Kind hatten sich gar so viel zu erzählen, und als endlich Elfi mit dem Puppenwagen heimfuhr, lag zutiefst auf seinem Boden ein graues, närrisches Bündel und Klein-Elfi und Bertold von Eik hatten ein wundersüßes, großes Geheimnis miteinander.


Frau Liselotte schritt in ihrem Garten auf und ab; er war so dicht verwachsen, daß er sie vor jedem Späherauge schützte, und das war gut und verständig von seinen dichten Zweigen. Denn in den lieben Garten des Vaterhauses trug Frau Liselotte viel heimlichen Kummer; all die vertrauten Stellen darin kannten ihr Leid, wußten, wie schwer sie an der Ehe mit Hans von Windemuth getragen hatte, und wie sie geistig beinahe verhungert war an seiner Seite. Sie war auf Wunsch des Arztes nach dem plötzlichen Tode des Gatten auf Reisen gegangen, aber Mutterliebe trieb sie wieder, [270] seßhaft zu werden, weil Klein-Elfi nicht die Unruhe vertrug. Frau Liselotte hatte sich eine Villa im Tiergarten gemietet, um ihre Stimme in Berlin noch weiter auszubilden, aber sie litt unter dem Tanz um das goldene Kalb, der begann, als man erfuhr, daß die schöne Gesangschülerin der Königlichen Hochschule reich und frei war.

Ernst und unnahbar wurde sie und – einsam.

Dann kam der Konzertabend in der Singakademie, an dem sie Bertold Eik zum ersten Male wiedersah.

Wiedersah als großen, unerreichten Künstler.

Und das Kinderherz in ihr flog ihm entgegen und alles Trennende schien zu versinken, aber sie hörte, daß er jäh die Künstlerlaufbahn abgebrochen habe und die großen Besitzungen der Eiks übernehmen werde. Sie hörte, daß seine schwere einstige Kopfwunde ihm immer noch zu schaffen machte, und man verhehlte ihr nicht die häßlichen Einzelheiten ihrer Entstehung.

Auch seine geheimnisvolle Begleiterin sah sie und hörte von ihr, aber nichts von alledem drang in das Stillste und Tiefste ihres Herzens, das dem Jugendfreunde seit Urbeginn gehörte.

Und als die Sehnsucht nach der Thüringer Heimat sie packte und schüttelte, daß sie meinte in der fremden Großstadt verzagen zu müssen, da ließ sie die Pforten ihres Vaterhauses öffnen, ließ Licht und Luft und Sonne durch die unverhüllten Fenster einziehen und duckte sich mit ihrem Kinde in das stille, sonnenwarme Nest. –

[271]

Heute an dem Sommernachmittag, der sich schon sacht mit dem Abend grüßte, wartete Frau Liselotte auf Elfi, die ihren Gesundheitsspaziergang mit den Puppen etwas gar zu lange ausdehnte, so daß die Mutter schon ein paarmal in Sorge über den Gartenzaun gelugt hatte.

Nun setzte sie sich in die Geisblattlaube und die sonst immer fleißigen Hände, die am liebsten jedes Stück, dessen der Liebling bedurfte, selbst nähten, lagen gefaltet auf der kühlen Platte des alten Steintisches.

Allgemach kam ein süßes Träumen über sie und der Kopf sank auf die verschlungenen Hände.

»Gewiß weint Mutti wieder,« meinte Elfi zu sich selbst, die ganz leise durch das Gartenpförtchen über den weichen Rasen herangefahren war. Ein glückliches Lachen überzog das Schelmengesicht und wechselte mit einem rührend sorglichen Ausdruck.

Was hatte der große, gute Herr im Eichenborn ihr zugeflüstert?

»Wenn deine Mutti wieder weint, dann leg ihr dies Bündelchen in den Schoß; gib acht, sie wird dann froh.« – –

Und Elfis Herzchen pochte in Erwartung, das graue Bündel wanderte aus dem Puppenwagen auf den alten Steintisch und berührte die gefalteten Hände der Ruhenden. Langsam und verträumt hob Frau Liselotte den blonden Kopf und kichernd schlüpfte Klein-Elfi, sich versteckend, hinter einen dichten Fliederbusch.

[272]

Von dort aus sah sie, daß Mutti gar nicht geweint, vielleicht nur ein wenig geschlafen hatte, aber nun lag der Trost doch einmal neben ihr und – – –


O was hatte Elfi da angerichtet!

Sie sah, wie das Bündel mit stürmischen Küssen bedeckt wurde, wieder und immer wieder, und die Mutti rief einen Namen dabei, den Elfi nicht verstand; was sie aber wohl verstand, war, daß Mutti nun weinte, – weinte, wie Elfi es nie gesehen, herzbrechend und bitterlich. –

Also hatte der Herr vom Eichenborn unrecht gehabt und sehr, sehr bös gehandelt, daß er der Mutti solchen Kummer mit dem greulichen Bündel verursachte, und Elfi war sofort entschlossen, es ihm zu sagen, gleich jetzt – sofort.

Die flinken Beinchen legten den kurzen Weg unglaublich rasch zurück und Bertold von Eik war sehr erstaunt, seine kleine, neue Freundin sobald schon wieder zu sehen. Der Plaudermund Elfis strömte über von raschen, zornigen Vorwürfen und sie verhehlte ihm gar nichts von dem jähen Leid, das über Mutti beim Anblick des grauen Bündels gekommen war.

Noch viel zorniger aber wurde ihr Herzchen, als sie den großen Herrn lachen sah, ganz strahlend und herzlich lachen, und sie wehrte sich mit Händen und Fäustchen, als er sie stürmisch lieb haben wollte, und fing nun selbst an, kläglich zu weinen.

[273]

Da wurde er ernst und redete gute, liebe Worte und sie legte vertrauensvoll ihre kleine Rechte in die seine und er ließ sich von ihr leiten bis ins Windemuthhaus.

Dort ließ sie aber die große Hand nicht los, sondern gemeinsam schritten die beiden durch das Portal des Windemuthhauses und hinaus in den Garten.

Erst vor der Geisblattlaube löste sich Elfis Händchen aus der Hand des Freundes, und sie stieß ihn ein wenig unsanft hinein. »Da!« sagte sie nur –


Und der große ernste Herr von Eichenborn mußte seine böse Tat wohl sehr bereuen, denn er lag vor Mutti auf den Knien und küßte immer wieder ihre beiden Hände und diese Hände legten sich auf seinen Kopf und schlangen sich um seinen Hals und Mutti, die gute Mutti, schien ihm auch verziehen zu haben, denn sie küßte ihn ja und sah unbeschreiblich glückselig aus.

Da umfing Klein-Elfi beide liebe Menschen mit ihren weichen Kinderarmen.



An Tante Adelgundes hundertstem Geburtstag führte Bertold Eik von Eichen seine Liselotte heim. – Eine hundertjährige Bürgerin hatte Schwarzhausen seit seiner Begründung noch nicht aufzuweisen gehabt. –

Die Schwarzhausener waren sehr stolz.

Nirgends in der Welt passierten so seltsame Dinge, wie in ihrem Städtchen, und es hatte den Anschein, [274] als ob der liebe Gott die Schwarzhausener ganz besonders liebte und ehrte.

Denn daß die liebe, gute Liselotte Windemuth, die so viel für die Armen der Stadt tat, den Bertold Eik heiratete und damit den einzigen schlechten Kerl, den Schwarzhausen aufzuweisen hatte, zur Besserung vorbereitete, das wollten sie ihr nie vergessen, ja manchem dämmerte es in seinem Pharisäerherzen, daß Herr Bertold Eik von Eichen es doch am Ende verdiente, ein Schwarzhausener Bürger zu sein.

Und mehr kann der Leser wohl von Schwarzhausen nicht verlangen.




»Du willst meinem Enkel das Glück bringen?« fragte Eik senior die junge, blonde, schöne Frau.

Es war am Abend ihres Hochzeitstages.

»Ich will ihm die Heimat geben,« antwortete Liselotte schlicht.

Da schloß der alte grimme Eik sie in seine Arme, und er fühlte seherisch, daß das heilige Feuer in diesen beiden Menschenkindern wohl imstande sein würde, das Gold, welches im Eichenborn verborgen lag, von allen Schlacken zu läutern.

Vom Großvater fort schritten Bertold und Liselotte in Tante Adelgundes Gemächer.

[275]

Und das Geburtstagskind segnete sie und gab ihnen die silberbeschlagene Bibel, aus der sie noch eben gelesen: »Und wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich tönendes Erz und klingende Schelle – –«

Denn sie ist die Größeste – – –!

Fräulein Adelgunde blickte aus hellen Augen dem schönen Paare nach – es schritt Hand in Hand über den Hof des Herrenhauses und dann stand es vom hellen Mondlicht beschienen im gegenüberliegenden Turmzimmer, dem Brautgemach, von dem man weithin schauen konnte über die geliebten Thüringer Berge.

Ein Rauschen ging durch die Edeltannen, wie eine ernste Mahnung, und ihr herbes Duften war wie stilles Grüßen in dieser heiligen Nacht.

» Heimat ist Glück ,« murmelte die Hundertjährige.

Ende.


Weitere Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Lange Folgen von Gedankenstrichen wurden gekürzt. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.

Korrekturen:

S. 64: auf Jungen → auf ihren Jungen
sah bekümmert auf ihren Jungen

S. 65: Eikens → Eichens
zerstörende Erbteil der Eik von Eichens

S. 78: Vater doch → Vater hat doch
dein Vater hat doch auch