Title : Jenny
Author : Sigrid Undset
Translator : Thyra Dohrenburg
Release date
: July 12, 2022 [eBook #68511]
Most recently updated: July 11, 2023
Language : German
Original publication : Germany: Gyldendal
Credits : Jens Sadowski, Reiner Ruf, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This book was produced from scanned images of public domain material, provided by the German National Library.)
Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1921 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen, sowie fremdsprachliche Passagen bleiben gegenüber dem Original unverändert.
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Jenny
Sigrid Undset
Gyldendal’scher Verlag A. G. Berlin
Autorisierte Uebersetzung aus dem Norwegischen
von Thyra Dohrenburg
Alle Rechte vorbehalten
1921
Druck: Gyldendal’scher Verlag A. G., Abt. Buchdruckerei
Berlin SW 68
Die Musik kam über die Via de Condotti, als Helge Gram in der Dämmerung gerade in die Straße einbog. Die Melodie eines altbekannten Gassenhauers ertönte in sinnlos rasendem Tempo wie eine wilde Fanfare. Und die schwarzen kleinen Soldaten stürmten in dem kalten Nachmittag vorüber, als seien sie mindestens eine römische Kohorte, im Begriff, sich in fliegendem Laufschritt auf die Heerscharen der Barbaren zu stürzen. Und sollten doch nur ganz friedlich heimwärts ziehen in ihre nächtlichen Quartiere. Aber vielleicht war gerade das der Grund für ihre stürmende Eile, dachte Helge und lächelte. Wie er so stand, den Mantelkragen gegen die Kälte hochgeschlagen, wallte eine seltsam historische Stimmung in ihm auf. Aber dann begann er, die wohlbekannte Melodie mitzusummen, und setzte seinen Weg die Straße hinab fort, in der Richtung, die, wie er wußte, zum Corso führte.
An der Ecke blieb er stehen und schaute hinüber. — Das also war der Corso. Ein unablässig rinnender Strom von Wagen in der engen Straße, und ein brodelndes Gewimmel von Menschen auf dem schmalen Bürgersteig.
Er stand und ließ den Strom an sich vorüberziehen und lächelte in dem Gedanken, daß er nun Abend für Abend auf dieser Straße in der Dunkelheit durch das Menschengewimmel würde schlendern dürfen, bis sie ihm ebenso alltäglich geworden war wie die Carl Johannstraße daheim.
[S. 8]
Und das Verlangen überkam ihn, noch in dieser Stunde durch alle Straßen Roms zu laufen — ohne Aufhören — am liebsten die ganze Nacht hindurch. Das Bild der Stadt stieg in ihm auf, wie sie vor kurzem zu seinen Füßen gelegen, als er auf dem Pincio stand und dem Untergang der Sonne zuschaute.
Wolken breiteten sich über den ganzen Nachthimmel aus, dicht zusammengedrängt, wie kleine lichtgraue Lämmer. In der Sonne, die hinter ihm versank, erglühten ihre Ränder golden wie Bernstein. Unter dem bleichen Himmel lag die Stadt, und plötzlich kam es Helge zum Bewußtsein: das war Rom! Nicht, wie er es in seinen Träumen erschaut — nein, wie es jetzt vor ihm lag.
Alles, was er auf seiner Reise gesehen, hatte ihn enttäuscht, weil es anders war, als er sich’s im Geiste ausgemalt daheim, in seiner Sehnsucht hinauszukommen und es selbst zu schauen. Endlich, jetzt endlich zeigte sich die Wirklichkeit, reicher als all seine Träume.
Und das war Rom ...
Eine weite Fläche von Dächern lag in der Talsenkung unter ihm — ein Gewimmel von Dächern alter und neuer, hoher und niedriger Häuser, die, wie es schien, aufs Geradewohl und so hoch gebaut worden waren, wie man ihrer gerade bedurfte, denn nur an wenigen Stellen war die gerade Linie einer Straße in dem Heer der Dächer deutlich erkennbar. Und diese ganze Welt unruhiger Linien, die in Tausenden von harten Winkeln aufeinander stießen, lag erstarrt und still unter dem fahlen Himmel, an dem eine unsichtbare, sinkende Sonne hier und da einen kleinen Lichtrand an den Wolken entzündete. Sie lag und träumte unter einem feinen, weißlichen Nebeldunst, in den sich nicht eine einzige lebende geschäftige Rauchsäule mischte. Denn ein Fabrikschlot war nicht zu entdecken, und von den kleinen drolligen Blechschornsteinen, die in die Luft starrten, rauchte nicht ein einziger. Auf den rotbraunen, runden alten Dachziegeln machten sich graugelbe Flechten breit, grüne Pflanzen und kleines Buschwerk mit gelben Blüten wucherte in den Wasserrinnen, am [S. 9] Rande der Terrassen reihten sich tote und schweigende Agaven in Urnen, und von den Gesimsen flossen Schlingpflanzen in stillen und toten Kaskaden. Wo sich das oberste Stockwerk eines höheren Hauses über die Nachbarn erhob, starrten erstorbene und dunkle Fenster aus rotgelbem oder grauweißem Mauerwerk — oder schliefen hinter geschlossenen Läden. Aber aus dem Dunst ragten Altane, Stümpfen alter Wachttürme gleich, und kleine Lauben aus Holz und Blech erhoben sich auf den Dächern.
Ueber dem Ganzen schwebten die Kuppeln der Kirchen, Kuppel an Kuppel; die gewaltige graue weit draußen, jenseits der Stelle, wo Helge den Lauf des Flusses vermutete, das war St. Peter.
Aber diesseits des Talkessels, wo die toten Dächer die Stadt beschützten, die, wie Helge an diesem Abend empfand, mit Recht die ewige hieß, wölbte ein niedriger Höhenzug seinen langen Rücken gen Himmel. Er trug in weiter Ferne eine Allee von Pinien, deren Kronen über der schlanken Säulenreihe der Stämme ineinander liefen. Weit drüben hinter der Peterskuppel, wo der Blick seine Schranke fand, erhob sich eine zweite Anhöhe mit lichten Villen zwischen Pinien und Cypressen. Das mochte wohl der Monte Mario sein.
Ueber Helges Haupt breitete sich schützend das dunkle, dichte Laubdach der Steineichen, und hinter ihm plätscherte der Strahl des Springbrunnens mit einem eigenen lebendigen Laut — das Wasser klatschte gegen das steinerne Becken und rieselte, überfließend, in das Bassin hinab.
Ueber die Stadt seiner Träume, deren Straßen sein Fuß niemals betreten hatte, deren Häuser nicht eine vertraute Seele bargen, flüsterte Helge hin: „Roma, Roma, ewige Roma“. Eine Scheu erfaßte ihn vor seinem eigenen einsamen Ich und ein Bangen vor seiner Ergriffenheit, obwohl er wußte, hier war niemand, der ihn belauschen konnte. Er wandte sich und eilte hinab, der Spanischen Treppe zu.
Nun stand er an der Ecke der Via de Condotti und des Corso und empfand eine wunderbar süße Beklemmung, [S. 10] sollte er doch jetzt der Straße wimmelndes Leben durchkreuzen und versuchen, sich in der fremden Stadt zurechtzufinden — er wollte quer hindurch, gerade auf den Petersplatz zugehen.
Indem er die Straße überschritt, gingen zwei junge Mädchen an ihm vorüber. Das waren sicher Norwegerinnen, kam es ihm sofort in den Sinn, und er empfand eine gewisse Freude bei dem Gedanken. Die eine war lichtblond und trug einen hellen Pelz.
Die Straße, der er folgte, mündete auf einen offenen Platz an einer weißen Brücke. Zwei Reihen Laternen kämpften mit ihren schwindsüchtigen, grünlichgelben Lichtern gegen den gewaltigen, bleichen Schein, den der unruhige Himmel ausstrahlte. Am Wasser entlang zog sich fahl schimmernd eine niedrige steinerne Brustwehr und eine Baumreihe mit welkem Laub und Stämmen, deren Rinde sich in großen weißen Fetzen abschälte. Auf der anderen Seite des Flusses brannten die Gaslaternen unter den Bäumen, die Häusermasse hob sich schwarz gegen den Himmel ab. Doch diesseits des Stromes flackerte der Schein des Abendlichtes noch in den Fensterscheiben. Der Himmel war jetzt fast klar und wölbte sich in durchsichtigem Blaugrün über dem Hügel, dessen Kamm die Pinien trug; noch segelten aber einige wenige schwere zusammengeballte Wolkenberge darüber hin, rot und gelb aufleuchtend, als kündeten sie Sturm.
Helge stand auf der Brücke still und sah in die Tiber hinab. Wie trüb das Wasser war! Es stürzte reißend dahin, bunt aufflammend im Widerschein der abendlich leuchtenden Wolken — riß Zweige, Planken und Geröll mit sich in seinem weißen steinernen Bett da drunten. Seitwärts an der Brücke führte eine kleine Treppe zum Wasser hinab. Helge kam der Gedanke, wie leicht es doch sein müßte, sich eines Nachts, des Treibens müde, hier aus dem Leben zu schleichen. Ob es wohl jemand tat?
Er fragte, auf Deutsch, einen Konstabler nach dem Wege zur Peterskirche; der Konstabler antwortete zunächst auf Französisch, dann italienisch, und als Helge immer [S. 11] wieder den Kopf schüttelte, redete er wieder französisch und wies über den Strom. Helge schlenderte in der gewiesenen Richtung weiter.
Da stieg eine gewaltige, düstere Steinmasse vor ihm empor, ein niedriger runder Turm mit zackigen Mauerkränzen von der tiefschwarzen Silhouette eines Engels gekrönt. — Helge erkannte die Umrisse der Engelsburg. Sein Weg hatte ihn gerade ihr zu Füßen geführt. Im letzten Licht des Himmels leuchteten die Statuen drüben auf der Brücke in der Dämmerung, noch spiegelten die Wellen der Tiber den Schein der roten Wolken wider. Aber schon schossen die Gaslaternen ihre Lichtpfeile auf den Strom hinaus. Hinter der Engelsbrücke surrten elektrische Straßenbahnen mit erleuchteten Fensterscheiben über eine neue schmiedeeiserne Brücke. Aus den Leitungsdrähten sprühten blauweiße Funken.
Helge lüftete den Hut vor einem Manne:
„ San Pietro favorisca? “
Der Mann zeigte geradeaus und sagte etwas, das Helge nicht verstand.
Die Straße, in die er einbog, war eng und finster; so hatte er sich eine italienische Straße oft ausgemalt, und er empfand nun geradezu ein Gefühl der Wiedersehensfreude. Ein Antiquitätengeschäft lag hier neben dem anderen.
Helge schaute mit Interesse in die schlecht erleuchteten Fenster. Das meiste war Schund; die schmutzigen Streifen aus groben, weißen Spitzen, auf Schnüren aneinandergereiht — sollten dies italienische Spitzen sein? Da lagen Scherben und Ueberreste von Tonwaren in staubigen Schachteldeckeln aus, kleine, giftgrüne Bronzefiguren, alte und neue Metalleuchter und Broschen mit unechten Steinen. Trotzdem wandelte ihn unerklärlicherweise eine Lust zum Kaufen an, zu fragen, zu feilschen, zu handeln —. Er war in einen kleinen dumpfen Laden geraten, fast ohne selbst zu wissen, wie. Da sah es übrigens lustig aus; es gab seltsame Dinge aus aller Welt: alte Kirchenlampen, von der Decke herabhängend, Seidenlappen [S. 12] mit goldgestickten Blumen auf rotem und grünem und weißem Grunde, zerbrochene Möbel.
Hinter dem Ladentisch hockte ein gelbhäutiger dunkler Bursche, das Kinn blau von Bartstoppeln, und las. Er fragte und redete, während Helge auf dies und jenes zeigte, und „ quanto “ sagte. Das einzige, was Helge begriff, war, daß die Sachen unerhört teuer waren — man müßte jedenfalls mit dem Kaufen warten, bis man der Sprache mächtig wäre, und dann gehörig feilschen.
Drüben auf einem Regal stand Porzellan, Rokokofiguren und Vasen mit modellierten Rosenbuketts geziert. Sie schienen neu zu sein. Helge ergriff aufs Geratewohl einen solchen kleinen Gegenstand und setzte ihn auf den Tisch: „ quanto? “
„ Sette ,“ sagte der Mann und spreizte sieben Finger.
„ Quattro. “ Helge streckte vier Finger in die Luft. Er hatte ein frohes und sicheres Gefühl, als er so plötzlich in die fremde Sprache gleichsam hinübersprang. Freilich begriff er nichts von dem Protest des Mannes, doch jedesmal, wenn der andere ausgeredet hatte, kam er mit seinem quattro und seinen vier Fingern.
„ Non antica ,“ warf er überlegen hin.
Der Ladenbesitzer beteuerte jedoch: „ antica .“
„ Quattro ,“ sagte Helge zum letzten Male — jetzt hatte der Mann nur fünf Finger in der Luft. Als Helge sich zur Tür wandte, rief der Bursche ihn zurück. Er akzeptierte. Selig nahm Helge den Gegenstand an sich, der sorgsam in rotes Seidenpapier gehüllt worden war.
Am Ausgang der Straße konnte er die dunkle Masse des Doms gegen den Himmel unterscheiden. Er schritt kräftig aus und eilte über den vorderen Teil des Platzes, dort, wo die Läden mit den hellen Fenstern lagen und die Bahnen vorübersausten, — auf die beiden halbkreisförmigen Arkaden zu, die zwei gebogenen Armen gleich sich um einen Teil des Platzes legten und ihn hineinzogen in die Stille der Dunkelheit. Helge flüchtete in den Schutz der gewaltigen dunklen Kirche, die ihre breite Treppe in [S. 13] einer muschelförmigen Zunge bis auf die Mitte des Marktes hinausschob.
Die Kuppel der Kirche und die Statuenreihe der Heiligenschar drüben über dem Dach des Säulenganges hoben sich schwarz gegen das Helldunkel der Himmelswölbung ab; Baumkronen und Häuser, unregelmäßig übereinandergestapelt, breiteten sich über der Anhöhe dahinter aus. Hier waren die Gasflammen machtlos; die Finsternis sickerte durch die Säulen der Arkaden, ergoß sich von der offenen Vorhalle der Kirche über die Treppe hinab. Helge ging still hinüber bis an die Kirche, und schaute neugierig auf die verschlossenen Metalltüren. Dann kehrte er um und schritt zum Obelisk in der Mitte des Platzes. Hier blieb er stehen und starrte auf die dunkle Kirche. Den Kopf zurückbiegend folgte er mit den Augen dem schlanken steinernen Pfeil, der hoch in den Abendhimmel hinaufragte, dort, wo die letzten Wolken hinter den Dächern verschwunden waren und die ersten Sterne ihre funkelnden Lichtnadeln durch die sich vertiefende Dunkelheit schossen.
Wieder erklang in seinen Ohren der wunderliche durchdringende Laut von plätscherndem Wasser, das in steinerne Becken herabstürzte, und das weiche Rieseln des strömenden Ueberflusses, der sich von Schale zu Schale in das Bassin ergoß. Er ging bis dicht an den einen der Springbrunnen heran und betrachtete die vollen weißen Strahlen, die wie in hitzigem Trotz aufschossen und hoch oben zusammenbrachen; dunkel gegen die Klarheit der Luft, sanken sie hinab in die Finsternis, in der das bewegte Wasser weiß aufleuchtete. Helge starrte hinauf. Plötzlich fing ein kleiner Windstoß sich in der Wassersäule und fegte sie über ihn hinweg. Jetzt plätscherte es nicht mehr klatschend gegen das steinerne Becken, es rieselte hinab, und Helge war bedeckt von Tropfen, die in der kalten Abendluft zu Eis erstarrten.
Dennoch blieb er stehen, lauschte und starrte — schritt vorwärts und stand wieder — doch ganz behutsam, um das Flüstern in seinem Innern zu vernehmen. — Jetzt [S. 14] war er also hier, all das, von dem er sich verzehrend fortgesehnt hatte, lag in weiter, weiter Ferne. Und er trat noch leiser auf und schlich wie einer, der dem Gefängnis entronnen war.
Unten an der Ecke der Straße lag ein Restaurant. Dort ging er hinüber. Unterwegs entdeckte er einen Tabaksladen, wo er sich Zigaretten, Ansichtskarten und Freimarken kaufte. Während er auf sein Essen wartete und hin und wieder in langen Zügen vom Rotwein trank, schrieb er Karten an seine Eltern: „Ich denke an diesem Abend viel an Euch hier unten —“. Er lächelte schmerzlich — ja, Herrgott, so war es! An die Mutter schrieb er jedoch: „Ich habe schon eine Kleinigkeit für Dich gekauft, — das erste, was ich hier in Rom erstanden habe.“ Arme Mutter — wie mochte es ihr wohl ergehen. Er war in den letzten Jahren oft lieblos gegen sie gewesen —. Er packte das Geschenk aus — es war sicher eine Eau de Cologneflasche — und betrachtete es. Dann fügte er noch einige Zeilen hinzu, er finde sich mit der Sprache zurecht und das Handeln in den Läden sei gar nicht so schwierig.
Das Essen war gut, doch teuer. Nun, wenn er sich erst hier eingelebt hätte, würde er schon lernen, mit Wenigem auszukommen. Gesättigt und angeregt vom Wein ging er in einer neuen Richtung weiter, entdeckte lange, niedrige, verfallene Häuser und hohe Gartenmauern, gelangte durch einen zerstörten Torbogen auf eine Brücke, über die er hinweg wollte. Ein Mann erschien in der Tür des Zollhauses, hielt ihn an und machte ihm verständlich, daß er einen Soldo entrichten müsse. Drüben auf der anderen Seite lag eine große dunkle Kuppelkirche.
Hier geriet er in einen Wirrwarr finsterer, enger Sackgassen; in der geheimnisvollen Dunkelheit ahnte er in den Himmel hineinragende alte Paläste mit vorspringenden Dachgesimsen, vergitterten Fenstern — in gleicher Front mit elenden Hütten und kleinen Kirchenfassaden. Einen [S. 15] Bürgersteig hatte die Straße nicht; Helge trat in verdächtigen Abfall, der im Rinnstein lag und übel roch. Vor den schmalen erleuchteten Herbergstüren und unter den spärlichen Gaslaternen erblickte er undeutlich zweifelhafte menschliche Gestalten.
Er war von dieser Umgebung begeistert und beklommen zugleich — voll knabenhafter Spannung. Gleichzeitig begann er darüber nachzudenken, wo ein Ausweg aus diesem Labyrinth zu finden sei und wie er zu seinem Hotel zurückgelangen sollte, das weit fort am anderen Ende der Welt lag. Er mußte sich wohl eine Droschke leisten.
So schritt er denn eine neue, enge, ganz menschenleere Gasse hinab. Zwischen den steilaufragenden Häusern mit den schwarzen Fensterhöhlen, die ohne Sims aus dem Mauerwerk starrten, zog sich ein Streifen Himmels hin, klarblau und dunkelleuchtend; unten auf dem holprigen Steinpflaster wirbelte ein leichter Windstoß Staub und Strohhalme und Papierfetzen vor sich her.
Zwei Frauen überholten ihn. Als er sie im Schein einer Laterne betrachten konnte, durchfuhr es ihn: das waren die, die er heute Nachmittag auf dem Corso bemerkt und für Norwegerinnen gehalten hatte. Das helle Pelzwerk der größeren erkannte er sofort wieder.
Plötzlich kam ihm ein verrückter Gedanke — er wollte ein Abenteuer versuchen, sie nach dem Wege fragen, um zu hören, ob es Norwegerinnen seien oder wenigstens Skandinavierinnen. Ihm klopfte aber doch das Herz ein wenig, als er sich anschickte, ihnen nachzufolgen. Ausländerinnen waren es sicher.
Die jungen Mädchen blieben weiter unten vor einem verschlossenen Laden stehen, setzten aber gleich darauf ihren Weg fort. Helge überlegte: sollte er „ Please “ oder „Bitte“ oder „ Scusi “ sagen oder versuchsweise mit einem norwegischen „Verzeihung“ herausplatzen? Wie lustig, wenn es wirklich Norwegerinnen waren.
Die Mädchen bogen um die Ecke. Helge war ihnen dicht auf den Fersen und auf dem Sprunge, sie anzureden. [S. 16] Da wandte sich die kleinere halb um und sagte etwas in italienischer Sprache, leise und empört.
Helge war herb enttäuscht. Er wollte eben „ Scusi “ sagen und verschwinden, als die Große auf Norwegisch zur Freundin sagte: „Nicht doch, Cesca, nichts sagen — es ist viel klüger, zu tun, als merke man nichts.“
„Ich ertrage aber dieses verdammte Italienerpack nicht, das nie ein Frauenzimmer in Frieden lassen kann,“ erklärte die andere.
„Ich bitte um Entschuldigung“, sagte Helge. Die Mädchen blieben stehen und wandten sich brüsk um.
„Sie müssen wirklich entschuldigen.“ Helge stammelte und errötete, ärgerte sich darüber und erglühte nur tiefer in der Dunkelheit. „Ich bin nämlich heute aus Florenz gekommen, und jetzt habe ich mich in diesen Winkelgassen vollständig verloren. — Nun glaubte ich, die Damen seien Norwegerinnen — oder jedenfalls aus Skandinavien — und ich komme so schlecht mit der italienischen Sprache zurecht — und da kam mir die Idee —. Vielleicht haben Sie die Liebenswürdigkeit, mir zu sagen, wo ich eine Straßenbahn finde? Mein Name ist Kandidat Gram“. Er lüftete wieder den Hut.
„Ja, wo wohnen Sie denn?“ fragte die Größere.
„Gleich neben dem Bahnhof, es heißt so ähnlich wie Albergo Torino“, erklärte ihnen Helge.
„Dann muß er mit der Trasteverebahn fahren vom San Carlo ai Catenari aus,“ sagte die Kleine.
„Nein, Sie steigen besser in die Linie 1 auf dem neuen Corso.“
„Die geht aber nicht bis zu den Termini“, antwortete wieder die Kleinere.
„Aber natürlich. Sie nehmen die, auf der San Pietro-Stazione Termini steht“, erklärte sie Helge.
„Die — die fährt doch erst über den Capo de Case und Ludovisi und so weiter bis ans Ende der Welt — mit der dauert es mindestens eine Stunde bis zum Bahnhof.“
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„Nicht doch, Liebes — sie fährt direkt — den kürzesten Weg durch die Via Nazionale.“
„Nein —“, beharrte die Kleine. „Sie fährt übrigens erst um den Lateran herum.“
Die große Dame wandte sich an Helge:
„Sie gehen nur die erste Straße zur Rechten hinunter bis zum Flohmarkt. Dann halten Sie sich links an der Cancelleria, bis Sie auf den neuen Corso hinausgelangen. Soviel ich mich entsinne, hält die Bahn an der Cancelleria, jedenfalls gleich in der Nähe; Sie sehen schon das Schild. Sie müssen aber darauf achten, daß Sie den Wagen bekommen, auf dem San Pietro-Stazione Termini steht — es ist die Linie 1.“
Helge blickte mutlos drein, als die jungen Mädchen neben ihm mit den fremden Namen um sich warfen, als seien es Bälle. Er schüttelte schließlich den Kopf.
„Ich fürchte, ich finde mich da nicht zurecht, ich werde doch lieber gehen, bis ich auf eine Droschke stoße.“
„Wir begleiten Sie gern bis zur Haltestelle“, sagte die Große wieder.
Die Kleine brummte mürrisch auf Italienisch etwas vor sich hin, doch die Große antwortete in verweisendem Tone. Helges Mut sank noch um ein Beträchtliches durch diese Bemerkungen über seinen Kopf weg, die er nicht verstand.
„Ich danke Ihnen, ich möchte Sie wirklich nicht damit belästigen — ich finde sicher schon irgendwie nach Hause.“
„Das ist durchaus keine Mühe,“ erwiderte die Große und schickte sich zum Gehen an. „Wir haben ungefähr denselben Weg.“
„Es ist recht schwierig, sich in Rom zurechtzufinden“, versuchte Helge, ein Gespräch in Gang zu bringen. „Jedenfalls in der Dunkelheit.“
„O nein, man kennt sich schnell aus.“
„Ich kam also heute hierher — ich kam heute Vormittag mit dem Zuge aus Florenz.“
Die Kleine sagte halblaut etwas auf Italienisch. Die Große fragte hierauf Helge:
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„Es ist wohl jetzt kalt in Florenz?“
„Ja, hundekalt. Ist es nicht hier in Rom milder? Ich schrieb übrigens gestern nach Hause an meine Mutter und bat um meinen Wintermantel.“
„Auch hier kann es oft recht scharf und kalt sein. Fühlten Sie sich wohl in Florenz? Wie lange waren Sie dort?“
„Vierzehn Tage“, sagte Helge. „Ich glaube, Rom wird mir doch besser gefallen.“
Das andere junge Mädchen lachte. Die ganze Zeit über hatte es auf Italienisch vor sich hingebrummelt. Doch die Große sprach zu ihm mit ihrer warmen ruhigen Stimme:
„Ja, ich glaube, es gibt keine Stadt, die man so liebgewinnt wie Rom.“
„Ihre Freundin ist Italienerin?“ fragte Helge.
„Nein, Fräulein Jahrmann ist Norwegerin. Wir sprechen Italienisch miteinander, damit ich es lerne — sie ist nämlich schon sehr weit darin. Mein Name ist Winge“, fügte sie hinzu. „Dort liegt Cancelleria“, und sie wies auf einen großen düsteren Palast.
„Ist der Hofraum so schön, wie man sich erzählt?“
„Ja, herrlich. — Nun werde ich Ihnen helfen, die richtige Straßenbahn zu finden.“
Während sie standen und warteten, kamen zwei Herren quer über die Straße.
„Hallo, finden wir Sie hier?“ sagte der eine auf Schwedisch.
„Guten Abend“, begrüßte sie der andere. „Dann gehen wir doch zusammen hinüber? Seid Ihr unten gewesen, um Euch die Korallen anzusehen?“
„Der Laden war geschlossen“, erwiderte Fräulein Jahrmann mißmutig.
„Wir haben einen Landsmann getroffen, dem wir auf die richtige Straßenbahn helfen wollen“, setzte Fräulein Winge auseinander und stellte vor: „Kandidat Gram, Maler Heggen, Bildhauer Ahlin.“
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„Ich weiß nicht, ob Sie sich meiner erinnern, Herr Heggen, Gram ist mein Name — wir lernten uns einmal auf der Mysusenne kennen, vor etwa drei Jahren.“
„Ah, ja natürlich. Und nun sind Sie also in Rom?“
Ahlin und Fräulein Jahrmann hatten abseits gestanden und miteinander geflüstert. Jetzt ging sie auf die Freundin zu:
„Du, Jenny, ich gehe heim. Ich bin doch nicht dazu aufgelegt, zu Frascati zu gehen.“
„Aber liebes Kind, du hast ja selbst den Vorschlag gemacht.“
„Ach nein, nicht Frascati — dazusitzen und sich mit dreißig alten dänischen Weibern beiderlei Geschlechts abzuplagen.“
„Wir können ja etwas anderes wählen — doch da ist Ihre Straßenbahn, Kandidat Gram.“
„Ja, tausend Dank für Ihre Hilfe! Vielleicht sehe ich die Damen einmal wieder — im Skandinavischen Verein?“
Die Bahn hielt vor ihnen — da sagte Fräulein Winge:
„Sie haben vielleicht Lust, sich uns anzuschließen; wir hatten die Absicht, heute Abend ein wenig zu bummeln, Wein zu trinken und Musik zu hören.“
„Ja, danke.“ Helge war unsicher und verlegen und schaute auf die anderen. „Recht gern, aber —“ er wandte sich vertrauensvoll an Fräulein Winge mit dem hellen Antlitz und der freundlichen Stimme: „Sie kennen sich ja untereinander und — nun, ist es nicht am gemütlichsten für Sie alle, ohne fremde Gesellschaft zu sein?“ Er lachte verlegen.
„Aber nein, mein Lieber.“ Sie lächelte. „Im Gegenteil — sehen Sie, dort fährt Ihre Bahn schon — und Heggen kennen Sie ja doch von früher und jetzt uns. Wir werden schon darauf achtgeben, daß Sie richtig nach Hause gelangen — wenn Sie also nicht zu müde sind.“
„Müde! Nein. — Ich möchte sehr gern mit Ihnen zusammen sein“, versicherte Helge eifrig und erleichtert.
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Die drei anderen begannen, Trattorien vorzuschlagen. Helge kannte keinen der Namen, die fielen; es war keiner von denen darunter, die sein Vater erwähnt hatte. Fräulein Jahrmann aber verwarf jeden Vorschlag.
„Nun gut, dann gehen wir eben nach St. Agostino. Du weißt, wo es den roten Wein gibt, Gunnar.“ Jenny Winge schlug ohne weiteres diese Richtung ein; Helge folgte.
„Da ist keine Musik“, hatte Fräulein Jahrmann einzuwenden.
„Aber natürlich — der Scheeläugige und der andere sind dort fast jeden Abend. Laßt uns doch nur nicht hier stehen und Zeit verlieren.“
Helge folgte mit Fräulein Jahrmann und dem schwedischen Bildhauer.
„Sind Sie schon längere Zeit in Rom, Herr Gram?“
„Nein, ich kam heute Vormittag aus Florenz.“
Fräulein Jahrmann lachte leise, Helge wurde verlegen. Er überlegte im Gehen — sollte er nicht doch lieber sagen, daß er müde sei und dann umkehren? Während sie durch finstere enge Straßen ihren Weg fortsetzten, plauderte Fräulein Jahrmann ununterbrochen mit dem Bildhauer und antwortete kaum, wenn er den Versuch machte, mit ihr zu sprechen. Ehe er sich jedoch entschlossen hatte, sah er das andere Paar vorn durch eine schmale Tür verschwinden.
„Was zum Teufel ist nun wieder in Cesca gefahren — ihre Launen kennen ja nachgerade keine Grenzen mehr; leg Deinen Mantel ab, Jenny, sonst erkältest Du Dich, wenn Du wieder hinauskommst.“ Heggen hängte Hut und Frühjahrsmantel an den Ständer und ließ sich in einen Korbsessel fallen.
„Das arme Ding, ihr geht es augenblicklich nicht gut — und außerdem lief uns dieser Gram ein Stück nach, ehe er es wagte, uns anzusprechen und nach dem Wege [S. 21] zu fragen; dergleichen bringt sie immer in Erregung, und dann, Du weißt ja, — ihr Herz.“
„Die Aermste. — Frecher Bursche übrigens.“
„O, nicht doch, er lief ja umher und wußte weder aus noch ein, glaube ich. Er macht nicht gerade den Eindruck, als habe er Erfahrung im Reisen. Du kennst ihn?“
„Keine Ahnung. Aber deshalb kann ich ihn sehr gut mal getroffen haben. Ah, da sind sie.“
Ahlin nahm Fräulein Jahrmann den Mantel von der Schulter.
„Teufel auch,“ meinte Heggen, „wie fein du heut Abend bist, Cesca.“
Sie lächelte erfreut und strich mit der Hand den Rock über den Hüften glatt, dann faßte sie Heggen bei den Schultern:
„Rück’ ein wenig zur Seite — ich will neben Jenny sitzen.“
„Herr des Himmels, wie ist sie schön,“ dachte Helge. Cescas Kleid war leuchtend grün, der üppige Busen hob sich aus dem hoch gearbeiteten Rock wie aus einem Blumenkelch. Die Sammetbluse leuchtete in den Falten wie gleißendes Gold; aus dem tiefen Ausschnitt wuchs der runde, mattbraune Hals empor. Sie war sehr brünett; unter der braunen Glocke des Plüschhutes umschmeichelten kleine kohlschwarze Locken die reinen, pfirsichroten Wangen. Das Antlitz war ganz jungmädchenhaft, schwere Lider bedeckten die tiefen, grauschwarzen Augen, und lächelnde Grübchen verschönten den kleinen, dunkelroten Mund.
Jenny Winge, so hübsch sie auch war, fiel gegen die Freundin ganz ab. Sie war ebenso blond wie die andere dunkel: das Haar, von der hohen weißen Stirn zurückgestrichen, lugte goldig schimmernd unter dem kleinen grauen Pelzbarett hervor; die Haut war schneeig weiß und lichtrot. Selbst Augenbrauen und die Wimpern über den stahlgrauen Augen waren hell — goldbraun. Der etwas bleiche Mund aber schien zu groß für das schmale Gesicht mit der kurzen geraden Nase und den blaugeäderten [S. 22] gewölbten Schläfen; wenn sie lachte, zeigte sie eine dichte Reihe blanker Zähne. Alles übrige an ihr war schmächtig, der lange schlanke Hals, die Arme, von hellen feinen Härchen bedeckt, und die langen, mageren Hände. Lang und aufgeschossen, wie sie war, erschien ihr Körper knabenhaft — sie mußte noch erstaunlich jung sein. Sie trug kleine weiße Aufschläge an den Ellenbogen und am Halsausschnitt des hellgrauen, seidenen Kleides, das, leicht und wallend, über der Brust und an den Hüften gekräuselt war — wohl um ihre Magerkeit etwas zu verbergen. Den Hals schmückte eine Kette von kleinen mattrosa Perlen, die sich in rosenroten Lichtpünktchen auf der Haut widerspiegelten.
Helge Gram hatte sich bescheiden am Ende des Tisches niedergelassen und folgte der Unterhaltung. Die fremde Gesellschaft sprach von einer Frau Söderblom, die krank gewesen war. Ein alter Italiener mit einer schmutzigweißen Schürze über dem dicken Leib kam herbei und fragte nach ihren Wünschen.
„Rot, weiß, sauer, süß — was wollen Sie trinken, Gram?“ wandte Heggen sich an ihn.
„Kandidat Gram soll sich einen halben Liter von meinem Rotwein bestellen“, meinte Jenny Winge. „Es ist einer der besten in Rom, und das will etwas heißen, wissen Sie!“
Der Bildhauer schob den Damen eine Zigarettendose hin. Cesca griff zu.
„O, nicht doch, Cesca“, bat Jenny.
„Nun erst recht“, sagte Cesca „Mir wird nicht besser, auch wenn ich es lasse. Und ich bin böse heute Abend.“
„Aber weshalb denn, liebes gnädiges Fräulein?“
„Ach. — Zum Beispiel weil ich die Korallen nicht bekam.“
„Brauchtest du sie denn heute Abend?“ fragte Heggen.
„Nein, aber ich hatte mich doch endlich entschlossen, sie zu kaufen.“
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„Und morgen hast du dich für die Malachitkette entschieden?“ lachte Heggen.
„Nein, da irrst du dich, mein Lieber. Aber es ist auch abscheulich. Jenny und ich stürzten nur der Korallen wegen dort hinüber.“
„Auf diese Weise trafst du uns aber. Sonst hättet ihr zu Frascati gehen müssen, worauf du plötzlich auch ärgerlich geworden bist.“
„Ich wäre sicher nicht zu Frascati gegangen — das schwör’ ich dir, Gunnar. Und das wäre mir viel besser gewesen. Denn nun will ich rauchen und trinken und die ganze Nacht durchbummeln, da ihr mich nun einmal mitgelockt habt.“
„Ich glaubte, du hättest es vorgeschlagen.“
„Die Malachitkette war außerordentlich schön, finde ich,“ lenkte Ahlin ab, „und sehr billig.“
„Ja, aber Malachit ist in Florenz viel billiger. Diese kostet siebenundvierzig. Und in Florenz, dort wo Jenny ihre cristallo rosso kauft, hätte ich sie für fünfunddreißig Lire haben können. Jenny hat für ihre Kette nur achtzehn gegeben. Er muß mir die Korallen aber für neunzig Lire lassen.“
„Ich begreife nicht recht, wie du mit deinem Gelde auskommst“, sagte Heggen und lachte.
„Ich mag nicht noch länger darüber sprechen,“ sagte Cesca. „Ich habe dieses Hin- und Hergerede satt — morgen gehe ich und kaufe die Korallen.“
„Sind aber neunzig Lire nicht furchtbar teuer für Korallen?“ wagte Helge zu fragen.
„Sie können sich denken, daß es nicht so ganz gewöhnliche sind“, antwortete Cesca herablassend. „Es sind diese Contadinakorallen — eine dicke Kette mit Goldverschluß und langen schweren Ohrhängern.“
„Contadina — ist das eine besondere Art Korallen?“
„Nein, das sind die, mit denen die Contadine gehen.“
„Ich weiß nicht, was eine Contadine ist.“ Helge lächelte schüchtern.
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„Ein Bauernmädchen. Haben Sie niemals diese Ketten gesehen, die sie tragen, diese schweren dunkelroten geschliffenen Korallen?“
„Meine Perlen haben dieselbe Farbe wie Rindfleisch und die mittelste ist so groß —“ sie bildete mit Daumen und Zeigefinger eine eigroße Rundung.
„Das muß wunderhübsch aussehen —“. Helge griff gierig den Gesprächsfaden auf. „Ich kenne Malachit oder cristalla rossa nicht — aber meiner Ansicht nach müßten solche Korallen Ihnen am allerbesten stehen.“
„Da können Sie hören, Ahlin — Sie wollten mich ja immer dazu verleiten, die Malachitkette zu kaufen. Heggens Schlipsnadel ist aus Malachit — bitte gib sie mir einen Augenblick, Gunnar. Und Jennys Perlenhalsband besteht aus cristallo rosso — nicht rossa — rotem Bergkristall, wissen Sie?“
Sie reichte ihm die Nadel und die Halskette. Die Kette war warm von ihrem Hals. Helge betrachtete sie einen Augenblick. In jeder Perle waren gleichsam kleine Spalten, die das Licht aufsogen.
„Sie müßten Korallen tragen, Fräulein Jahrmann. Wissen Sie, ich glaube, Sie sehen dann selbst aus wie eine römische Contadina.“
„Da könnt ihr’s hören.“ Sie lächelte leicht zu Helge hinüber und summte vergnügt vor sich hin. „Da könnt ihr’s selbst hören.“
„Sie haben ja auch einen italienischen Namen,“ fuhr Helge eifrig fort.
„Ach, der stammt noch von der italienischen Familie, bei der ich im vorigen Jahre wohnte, sie veränderten den häßlichen Namen, den ich von meiner Großmutter geerbt habe, und so behielt ich den italienischen bei.“
„Francesca,“ sagte Ahlin leise.
„Ich kann mir Sie nur als Francesca denken — Signorina Francesca.“
„Warum denn nicht Fräulein Jahrmann. Wir können leider nicht italienisch miteinander sprechen. Sie können ja die Sprache nicht.“ Sie wandte sich an die [S. 25] anderen. „Jenny und Gunnar, morgen kaufe ich also die Korallen.“
„Ja, das haben wir schon gehört,“ meinte Heggen.
„Aber ich will sie für neunzig haben.“
„Ja, man muß aber handeln,“ sagte Helge erfahren. „Ich war heute Nachmittag irgendwo in der Nähe der Peterskirche in einem Laden und erstand dies hier für meine Mutter. Er verlangte sieben Lire, ich bekam es aber für vier. Finden Sie es nicht billig?“ Er stellte den Gegenstand auf den Tisch.
Franziska betrachtete ihn verächtlich.
„Die kosten anderthalb auf dem Fischmarkt. Ich habe im vorigen Jahre zwei von der gleichen Art für jedes unserer Mädchen zu Hause mitgebracht.“
„Der Mann behauptete, es sei antik,“ wandte Helge unsicher ein.
„Das sagen sie immer, wenn sie merken, daß die Leute kein Verständnis dafür haben. Und nicht Italienisch können.“
„Es gefällt Ihnen also nicht?“ fragte Helge niedergeschlagen und hüllte es wieder in das rosa Papier. „Finden Sie nicht, daß ich es meiner Mutter schenken kann?“
„Ich finde es greulich,“ sagte Franziska. „Aber ich kenne ja den Geschmack Ihrer Mutter nicht.“
„Was soll ich denn nun aber mit diesem Ding anfangen?“ seufzte Helge.
„Schenken Sie es getrost Ihrer Mutter,“ meinte Jenny Winge. „Sie freut sich gewiß, daß Sie ihrer gedacht haben. Und außerdem — zu Hause haben die Leute Gefallen an solchen Dingen. Wir hier unten, wir sehen zuviel.“
Franziska griff nach Ahlins Zigarettendose, aber er weigerte sich, sie ihr zu geben. Einen Augenblick flüsterten sie heftig miteinander. Dann schleuderte sie das Etui von sich:
„Guiseppe.“
Helge begriff, daß sie beim Wirt Zigaretten bestellen wollte. Ahlin fuhr auf:
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„Liebes Fräulein Jahrmann — ich meinte ja nur — Sie wissen doch, daß Sie das viele Rauchen nicht vertragen.“
Franziska erhob sich, Tränen in den Augen.
„Das ist gleichgültig, ich gehe nach Haus.“
„Fräulein Jahrmann — Francesca.“ Ahlin hielt ihr den Mantel, während er leise bettelte. Sie trocknete ihre Augen mit dem Taschentuch.
„Doch — ich will heim. Kinder — ihr seht doch, daß ich heute Abend unmöglich bin. Nein, ich will nach Haus — allein — nein Jenny, du darfst nicht mit mir gehen.“
Heggen erhob sich ebenfalls. Helge saß verlassen am Tisch.
„Du bildest dir doch wohl nicht ein, daß wir dich zu nächtlicher Stunde allein gehen lassen,“ meinte Heggen.
„Ahso, du verbietest mir’s vielleicht?“
„Ja, allerdings.“
„Still doch, Gunnar,“ sagte Jenny Winge. Sie schob beide Herren zur Seite — sie setzten sich schweigend nieder — während Jenny, den Arm um Franziskas Hüfte gelegt, diese mit sich zog und leise mit ihr sprach. Kurz darauf kamen beide wieder an den Tisch zurück.
Die Gesellschaft war jedoch verstimmt. Franziska lag halb in Jennys Arm — sie hatte ihre Zigaretten bekommen, rauchte und schüttelte den Kopf zu Ahlins Versicherungen, daß die seinen besser wären. Jenny hatte eine Schale mit Früchten bestellt; sie verzehrte eine Mandarine und schob hin und wieder eine Scheibe in Franziskas Mund. Oh — wie hübsch Franziska doch war, wie sie dalag, mit einem kleinen betrübten Kindergesicht und sich von der Freundin füttern ließ. Ahlin starrte sie ununterbrochen an, und Heggen zerbrach abgebrannte Zündhölzer in kleine Stümpfchen und steckte sie in die Mandarinenschalen.
„Sind Sie schon länger in Rom, Kandidat Gram?“ fragte er.
Helge versuchte humorvoll zu sein:
„Ich pflege zu sagen, daß ich heute Vormittag mit dem Zuge aus Florenz kam.“
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Jenny lachte höflich — Franziska jedoch lächelte ersterbend.
Im gleichen Augenblick trat ein barhäuptiges, dunkelhaariges Mädchen mit einem frechen, fetten bleichen Gesicht zur Türe herein. In der Hand trug sie eine Mandoline. Hinter ihr her trippelte ein kleiner, verwitterter Bursche von schäbiger Eleganz mit einer Guitarre.
Jenny plauderte — wie zu einem Kinde.
„Sieh nur, Cesca, das ist Emilia — jetzt bekommen wir Musik.“
„Das bringt Leben herein,“ sagte Helge. „Ziehen diese Volkssänger hier in Rom wirklich immer noch von Osteria zu Osteria?“
Die Volkssänger begannen mit einem modernen Gassenhauer. Das Mädchen hatte eine seltsam hohe, klare, metallische Stimme.
„O pfui, nicht doch!“ Franziska erwachte: „Das wollen wir doch nicht hören — wir wollen natürlich etwas Italienisches haben — ‚ la luna con palido canto ‘ — nicht wahr?“
Sie schlüpfte zu den Musikanten hinüber und begrüßte sie wie alte Freunde — lachte und gestikulierte, ergriff die Guitarre und schlug ein paar Töne an, während sie die eine oder andere Melodie dazu summte.
Die Italienerin sang. Süß und schmeichelnd flatterte die Melodie, begleitet vom Klingen der Metallsaiten, durch den Raum, und Helges Freunde sangen den Kehrreim mit. Das Lied handelte von amore und bacciare .
„Es ist ein Liebeslied, nicht wahr?“
„Ein feines Liebeslied,“ lachte Franziska. „Uebersetzt darf es nicht werden, aber auf italienisch klingt es wunderhübsch.“
„Ach, so häßlich ist es doch nicht,“ sagte Jenny Winge. Sie wandte sich mit ihrem zuvorkommenden Lächeln an Helge: „Nun, Kandidat Gram, finden Sie es nicht gemütlich hier? Ist der Wein nicht gut?“
„Ja, ausgezeichnet. Und das Lokal ist gewiß sehr charakteristisch.“
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Er hatte jedoch den Mut vollständig verloren. Jenny Winge und Heggen wandten sich hin und wieder an ihn, er vermochte aber nicht, ein Gespräch in Fluß zu halten. Schließlich begannen die anderen, sich miteinander zu unterhalten — über Gemälde. Der schwedische Bildhauer saß nur da und betrachtete Franziska. Die fremdartigen Melodien schwirrten von den klingenden Metallsaiten auf — an ihm, Helge, vorüber — als ein Gruß an die anderen. Der Raum, in dem er sich befand, war, wie er sein mußte: der Fußboden aus gelbem Backstein, die Wände und die Deckenwölbung, weißgekalkt, ruhten auf einer dicken Mittelsäule, die Tische waren vorschriftsmäßig ungestrichen, und die Stuhlsitze aus grünen Weiden geflochten. Die Luft war säuerlich durchzogen von gegorenem Brodem, der aus den Weinfässern hinter dem marmorenen Schenktisch aufstieg.
Künstlerleben in Rom! Es war ungefähr, als betrachte er ein Bild oder lese eine Beschreibung darüber in einem Buch. Nur mit dem Unterschied, daß er sich hier überflüssig fühlte — so hoffnungslos einsam. Solange man es in den Büchern oder auf den Bildern erlebte, konnte man im Traume mit dabei sein. Er war jedoch davon überzeugt, daß er sich unter diesen Leuten nie einleben würde.
Zum Teufel, das war auch das Beste! Im Grunde taugte er ja gar nicht dazu, unter Leuten zu sein — erst recht nicht unter Menschen dieser Art. Wie gedankenlos Jenny Winge nun nach dem dicken, undurchsichtigen Glas mit dem dunkelroten Weine griff! — Für ihn war es eine Sehenswürdigkeit — sein Vater hatte davon erzählt — ihn auf das Glas aufmerksam gemacht, das jenes Mädchen auf Marstrands Römischem Bilde, im Kopenhagener Museum, in der Hand hielt. Nach Jenny Winges Ansicht taugte das Bild sicher nichts. — Diese jungen Damen hatten sicher niemals vom Hofraum des Bramante in der Cancelleria gelesen — „dieser Perle der Renaissancearchitektur“. Sie hatten ihn vielleicht zufällig eines Tages entdeckt, als sie auf dem Flohmarkt waren, um sich Perlen [S. 29] und anderen Staat zu kaufen — hatten wohl begeistert ihre Freunde herbeigeholt, um ihnen diese neue Herrlichkeit zu zeigen, die sie sich nicht hätten träumen lassen. — Die hatten wohl kaum in den Büchern nachgelesen über jeden Stein und jeden Ort, bis die Augen davon schmerzten, und all der Schönheit ringsum sich verschlossen, die sie nicht schon in den Träumen daheim erschaut. Sie konnten sich vielleicht an irgendeiner weißen Säule erfreuen, die zum blauen Südhimmel emporragte, ohne pedantische Neugier, welcher Tempel und welchen vergessenen Gottes Heiligtum einst dort gestanden hatte.
Geträumt hatte er — und gelesen. Und er machte die Erfahrung — nichts sah in Wirklichkeit dem gleich, was er erwartet hatte. Alles wurde so grau und hart in des klaren Tages Licht — der Traum hatte sein Phantasiegebilde in ein weiches Halbdunkel gehüllt, es harmonisch abgerundet zu einem Ganzen vereint und über die Ruinen Sommergrün gebreitet. Er war nun gekommen, um nachzuschauen, ob all das, worüber er gelesen, auch auf seinem rechten Platze stand. Später könnte er es auf der Höheren Töchterschule aus den Büchern aufzählen und sagen, daß er es gesehen — und doch würde er nichts berichten können über Dinge, die er selbst entdeckt. Nichts würde er kennenlernen außer dem, wovon er gelesen. Wenn er auf lebendiges Material stieß, versuchte er, unter ihnen eine der toten, erdichteten Gestalten zu finden, wie er sie kannte — ob einer wie sie dabei war. Wie sollte er auch etwas von lebendigen Menschen wissen, er, der niemals gelebt ....
Heggen dort, mit dem dicken roten Mund, träumte jedenfalls kaum von romantischen Abenteuern à la Romanbibliothek aus dem Familienjournal, wenn er Abends auf Roms Straßen mit einem kleinen Mädchen anbändelte.
Helge begann zu verspüren, daß er Wein getrunken hatte.
„Wenn Sie jetzt gehen und sich zu Bett legen, so haben Sie morgen Kopfweh,“ sagte Jenny Winge zu ihm, als sie wieder draußen auf der finsteren Gasse standen. Die [S. 30] drei anderen gingen voraus; Helge folgte mit ihr in geringem Abstand.
„Ehrlich gesagt, Fräulein Winge, finden Sie nicht, daß Sie da einen schrecklich langweiligen Burschen mitbekommen haben?“
„Nein, mein Lieber. Es liegt ja nur daran, daß Sie uns nicht kennen und wir Sie nicht — noch nicht jedenfalls.“
„Mir wird es so schwer, mich anzuschließen — es gelingt mir eigentlich niemals. Ich hätte nicht mitgehen sollen, als Sie so liebenswürdig waren, mich heute Abend einzuladen. Zum Amüsieren scheint man auch Uebung haben zu müssen.“ Er versuchte zu lachen.
„Ja gewiß.“ Helge konnte an ihrer Stimme hören, daß Jenny lächelte. „Ich war fünfundzwanzig, ehe ich begann, mich zu üben, und weiß Gott, der Anfang war auch für mich nicht leicht.“
„Sie? Ich glaubte, daß Sie Künstlerleute immer ... Uebrigens dachte ich, Sie hätten es noch weit bis fünfundzwanzig.“
„Oh, Gott sei Dank, ich bin schon weit darüber.“
„Und da sagen Sie Gott sei Dank? — Und ich dagegen als Mann. — Ich weiß nicht — jedes Jahr, das gleichsam von mir abbröckelt, hinabsinkt in die Ewigkeit, ohne etwas gebracht zu haben — außer der demütigen Erkenntnis, daß die Mitmenschen mich nicht brauchen, mich nicht zu den ihren rechnen —“ Helge hielt plötzlich erschrocken inne. Er fühlte wie seine Stimme zitterte, hatte auch die Empfindung, als sei er ein wenig angetrunken, da er so zu einer Dame sprach, die er nicht einmal kannte. Er fuhr jedoch, gegen seine eigene Scheu ankämpfend, fort: „Ich finde, es ist völlig hoffnungslos. Wenn mein Vater von der Jugend seiner Zeit erzählte — sie führten große Worte im Munde von goldenen Illusionen und dergleichen. Zum Teufel, ich habe in all den Jahren nicht eine einzige Illusion gehabt, von der ich hätte Wesens machen können. Und die Jahre sind verflossen — verloren — nicht wiederzuerlangen.“
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„Das dürfen Sie nicht sagen, Kandidat Gram. Nicht ein Jahr unseres Lebens ist verloren, solange man es nicht so weit getrieben hat, daß Selbstmord der einzige ist. Ich glaube nicht, daß die Alten aus der Zeit der goldenen Illusionen besser daran waren — ihre Jugendillusionen verschlossen ihnen das Leben. Wir — die meisten jungen, die ich kenne, begannen ohne Illusionen — wir wurden hinausgeschleudert in den Kampf um die Existenz, fast alle, ehe wir recht erwachsen waren. Wir waren von Anfang an auf das Schlimmste gefaßt. Doch eines Tages lernten wir erkennen, daß wir uns dennoch mancherlei Gutes herausholen könnten. Dies und jenes geschah, wobei wir dachten, erträgst du das, so hältst du auch das Messer aus. Bekommt man auf die Weise erst ein wenig Selbstvertrauen, dann gibt es keine Illusionen, deren uns zufällige Verhältnisse und Mitmenschen berauben können.“
„Ach — Verhältnisse — oder Zufall! Wenn sie stärker sind als wir selbst, so hilft uns auch das Selbstvertrauen nicht!“
„Ja,“ sie lachte. „Natürlich — wenn ein Schiff in See geht — so kann der Zufall wollen, daß es havariert. Ein Gußfehler im Rade und alles zerspringt. Ein Zusammenstoß ... Aber die ziehen wir nicht in Betracht. Und was die Verhältnisse betrifft, so müssen wir sie zu bekämpfen suchen. Meist findet man am Schluß doch einen Ausweg.“
„Sie sind also durchaus optimistisch, Fräulein Winge?“
„Ja.“ Sie schwieg. „Ich bin es geworden, als ich so nach und nach die Erfahrung machte, wieviel die Menschen wirklich ertragen können, ohne den Mut zum Weiterkämpfen zu verlieren — und ohne schlecht zu werden.“
„Das ist es ja eben — ich finde, sie werden schlecht. Verdorben — oder jedenfalls verkleinert.“
„Nicht alle. Und der Umstand, daß einige sich vom Leben nicht verderben oder — verkleinern lassen, finde ich, genügt, um uns optimistisch zu machen. — Wir wollen hier einkehren,“ sagte sie.
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„Dies gleicht eher einer Montmartrekneipe oder ähnlichem, finde ich — nicht wahr?“ Helge sah sich um.
An den Wänden des winzigkleinen Lokales entlang liefen schmale plüschüberzogene Bänke. Kleine Marmortische standen umher, und auf dem Schenktisch brannte eine Flamme unter zwei großen Nickelkochern.
„Oh. Derartige Lokale sind wohl überall gleich,“ sagte Jenny. „Kennen Sie Paris?“
„Nein — ich dachte nur —“
Er wurde plötzlich ohne jeden Anlaß verwirrt. So ein kleines Kunstmädel, das sich natürlich nach eigenem Gutdünken in der Welt umhertummelt — Gott übrigens mochte wissen, woher ihresgleichen das Geld nahm. Es schien ebenso natürlich, daß man in Paris gewesen war wie eines Abends im Café Dronningen in Kristiania. — Für diese Art von Menschen war es weiß Gott ein Leichtes, von Selbstvertrauen zu sprechen. Ein kleiner Liebeskummer in Paris, den sie in Rom vergaß, das war vielleicht das Schwerste, das sie durchgemacht. Und nun fühlte sie sich so verteufelt keck und übermütig und erfahren, daß sie meinte, das ganze Leben ertragen zu können.
Ihre Figur war eigentlich unschön, obgleich sie ein frisches Antlitz hatte mit wunderbaren Farben.
Am meisten reizte es ihn aber, mit Franziska Jahrmann zu plaudern. Sie sprühte jetzt vor Lebendigkeit, war jedoch von Ahlin und Heggen völlig in Anspruch genommen. Unterdes verzehrte Jenny Winge Spiegeleier mit trockenem Brot und trank kochend heiße Milch dazu.
„Hier scheint mir verdächtiges Publikum zu verkehren,“ wandte Helge sich an sie. „Die reinen Verbrechertypen alle miteinander, finde ich.“
„O ja, hier findet man Menschen von jeder Sorte. Sie dürfen nicht vergessen, Rom ist eine moderne Großstadt. Es gibt viele Leute, die in Nachtschicht arbeiten. Und dieses Lokal ist eines der wenigen, die um diese Stunde noch geöffnet sind. Sind Sie nicht hungrig? Ich werde mir jetzt schwarzen Kaffee kommen lassen.“
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„Halten Sie immer solange aus?“ Helge sah nach der Uhr. Es war um die vierte Stunde.
„Aber nein“, sie lachte. „Nur hin und wieder. Wir sehen uns den Sonnenaufgang an und essen dann zusammen unser Frühstück. Heute Abend ist es nun Fräulein Jahrmann, die nicht nach Hause will.“
Helge wußte selber kaum, weshalb er sitzen blieb. Man trank irgendeinen blaugrünen Likör, der ihn ganz taumelig machte, indes die anderen lachten und plauderten. Um ihn her schwirrten Namen von Menschen und Orten, die er nicht kannte.
„Nein, hört mal, Douglas mit seinen Moralpredigten, kommt mir nicht damit! Ihr müßt nämlich wissen — eines Morgens waren wir allein oben im Aktsaal, er und der Finne. Ihr entsinnt euch doch, Lindberg und ich, und wir beide gingen hinunter, um etwas Kaffee zu trinken — es war im Juni vergangenen Jahres. Als wir zurückkamen, saß Douglas da, das Mädel im Arm. Nun, wir taten, als sei nichts vorgefallen. Er lud mich aber seitdem nie mehr zum Tee ein.“
„Herrgott,“ meinte Jenny, „war es denn so gefährlich?“
„Mitten im Frühling — in Paris,“ lachte Heggen. „Laß dir’s gesagt sein, Cesca: Norman Douglas war ein feiner Kerl — du darfst nicht das Gegenteil behaupten, und geschickt; er zeigte mir einige wunderhübsche Sachen von den Befestigungswerken draußen.“
„Ja — und besinnst du dich auf das Bild vom Père Lachaise — mit den violetten Perlenkränzen links unten?“ sagte Jenny.
„Ja gewiß, das war verflucht hübsch — und das kleine Mädchen am Klavier.“
„Ach, aber stellt euch doch vor, das häßliche Modell,“ sagte Franziska wieder. „Es war obendrein die fette, ältliche, mit dem hellen Haar. Und dabei hat er sich doch so tugendhaft angestellt.“
„Er war es auch,“ sagte Heggen.
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„Pah. Und ich war eben im Begriff, mich aus diesem Grunde in ihn zu verlieben.“
„Ah so, das ändert die Sache allerdings erheblich.“
„Ja, er hatte oftmals um mich angehalten,“ sagte Franziska gedankenvoll. „Und ich hatte mich eigentlich entschlossen, Ja zu sagen. Nun war es freilich ein Glück, daß ich es nicht tat.“
„Hättest du ihm dein Jawort gegeben,“ meinte Heggen, „so hättest du ihn niemals mit dem Modell im Arm zu sehen bekommen.“
Franziskas Antlitz veränderte sich mit einem Male vollständig. Ein blitzartiges Zucken lief über die weichen Züge. Dann lachte sie:
„Ach — ihr seid alle miteinander gleich — ich traue nicht einem von euch, basta. Per bacco. “
„So dürfen Sie nicht denken, Francesca.“ Ahlin hob einen Augenblick den Kopf.
Sie lachte wieder.
„Ach, ich will mehr Likör haben, Herrschaften.“
Gegen Morgen ging Helge an Jennys Seite durch dunkle, ausgestorbene Straßen. Einmal machte die Gesellschaft vorn Halt. Auf einer Steintreppe hockten zwei halbwüchsige Burschen. Franziska und Jenny sprachen mit den Jungen und gaben ihnen Geld.
„Bettler?“ fragte Helge.
„Ich weiß es nicht — der große sagte, er trüge Zeitungen aus.“
„Die Bettler hierunten sind wohl im Grunde nur Simulanten?“
„Ich weiß nicht — einige vielleicht — oder die meisten. Viele schlafen jedoch auf der Straße, sogar mitten im Winter. Mancher ist verkrüppelt.“
„Ich sah es in Florenz. Es ist ein Skandal, daß Leute mit so scheußlichen Wunden oder furchtbar verunstaltet umhergehen und betteln dürfen! Das Armenwesen müßte sich dieser Jammergestalten annehmen.“
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„Ich weiß nicht recht. Es ist nun einmal so hier unten. Wir Fremden können ja nicht darüber urteilen. Es geht ihnen vielleicht besser so — sie verdienen mehr auf diese Art.“
„Auf dem Piazzale Michelangelo beobachtete ich einen Bettler ohne Arme — die Hände saßen ihm oben auf den Schultern. Ein deutscher Doktor, mit dem ich zusammen wohnte, sagte, er besäße eine Villa bei Fiesole.“
„Na also, ist das nicht sehr gut?“
„Daheim bei uns lernen die Krüppel arbeiten,“ wandte Helge ein, „so daß sie sich auf ehrliche Weise durchschlagen können.“
„Zu einer Villa reicht es aber kaum,“ sagte sie und lachte.
„Dennoch — ist etwas Demoralisierenderes denkbar, als davon zu leben, daß man seine Verkrüppelungen zur Schau stellt?“
„So oder so, das Bewußtsein, daß man ein Krüppel ist, wirkt sicher immer demoralisierend.“
„Trotzdem, — davon zu leben, daß man das Mitleid der Leute anruft —.“
„Wer ein Krüppel ist, weiß ja doch, daß er bemitleidet wird und Hilfe annehmen muß — von Menschen oder Gott.“
Jenny stieg ein paar Treppenstufen hinan und hob den Zipfel eines Türvorhanges in die Höhe, der einer schlottrigen Matratze ähnlich sah. Sie standen in einer winzig kleinen Kirche.
Auf dem Altar brannte Licht. Der Schein brach sich mannigfaltig in den Messingstrahlen des Glorienkranzes über dem Monstranzschrank, flimmerte unruhig auf Leuchtern und Metallgegenständen und ließ die Papierrosen in den Vasen auf dem Altar blutigrot und goldgelb erglühen. Ein Priester las, mit dem Rücken gegen das Publikum, lautlos in einem Buche; ein paar Chorknaben huschten hin und her, neigten und bekreuzten sich und machten Bewegungen, deren Sinn Helge nicht verstand.
Sonst war der kleine Kirchenraum dunkel — in zwei Seitenschiffen flackerten winzige Nachtlämpchen, an dunkelleuchtenden [S. 36] Metallketten vor Bildern schwebend, die noch düsterer erschienen als die Dunkelheit.
Jenny Winge kniete auf einem Rohrschemel nieder. Sie legte ihre Hände gefaltet vor sich auf das Pult und beugte den Kopf leicht hintenüber, so daß ihr Profil sich scharf gegen den weichen Goldglanz der Lichter abhob, der in dem hochgestrichenen Haarschopf flimmerte und sanft über die schlanke nackte Wölbung des Halses hinfloß.
Heggen und Ahlin holten sich lautlos ein paar Rohrstühle herbei, die um eine der Säulen übereinandergestapelt waren.
Dieser stille Gottesdienst vor Tagesgrauen war eigentlich seltsam und stimmungsvoll. Gram folgte gespannt jeder Bewegung des Priesters am Altar. Einer der Chorknaben hängte ihm ein weißes Tuch mit einem goldenen Kreuz über die Schultern. Jetzt nahm der Priester die Monstranz vom Schrank über dem Altar, wandte sich um und hielt sie hoch ins Licht. Die Knaben schwenkten die Weihrauchkessel; kurz darauf drang scharfer, süßlicher Rauch zu ihnen hinüber. Helge wartete jedoch vergebens auf Musik oder Gesang.
Jenny kokettierte augenscheinlich ein wenig mit dem Katholizismus, indem sie niederkniete. Heggen starrte geradeaus auf den Altar, er hatte den einen Arm um Franziskas Schulter gelegt — sie war eingeschlummert und hatte sich an ihn geschmiegt. Ahlin konnte er nicht sehen, er saß hinter einer Säule und schlief sicher ebenfalls.
Seltsam war es, hier mit diesen wildfremden Menschen zu sitzen. Helge fühlte sich einsam — aber jetzt schmerzte dieser Gedanke nicht. Jene freie, glückliche Stimmung vom vergangenen Abend kehrte zurück —. Er betrachtete die anderen, die beiden jungen Mädchen. Jenny und Franziska — er wußte nun ihre Namen, viel mehr aber auch nicht. Und keine von ihnen ahnte, was es für ihn bedeutete, hier zu sitzen, was er nun alles zurückgelassen hatte, all die schmerzlichen Kämpfe daheim, vor denen er geflohen. Niemand kannte die Hindernisse, an denen er sich müde gearbeitet, die Fesseln, die ihn eingeschnürt [S. 37] hatten. Eine wundersame, fast hochmütige Freude erfüllte ihn bei diesem Gedanken, und seine Augen ruhten mit nachsichtigem Mitleid auf den beiden Frauen. So junge Dinger wie Cesca und Jenny, unverbraucht und frisch, mit kleinen unumstößlichen Ansichten hinter den weißen, glatten Jungmädchenstirnen. Zwei frische hübsche Mädels, die ihren geraden Weg durchs Leben schritten, hier und da, wie zum Zeitvertreib, wohl ein kleines Steinchen beiseite räumen mußten, von Schicksalen wie dem seinen aber nichts wußten.
Er fuhr auf, als Heggen seine Schultern berührte, und errötete; er war eingenickt.
„Nun, Sie haben auch einen kleinen Schlummer getan, wie ich sehe“, sagte Heggen.
Draußen standen die hohen stillen Häuser in der grauen Dämmerung — schliefen mit geschlossenen Läden in allen Stockwerken. In einer Seitenstraße ratterte eine klappernde Straßenbahn vorüber, eine Droschke holperte über das Steinpflaster, und hier und da schlich eine verfrorene, schläfrige Gestalt den Bürgersteig entlang.
Sie bogen in eine Straße ein, an deren Ausgang man den Obelisk vor der Trinitat dei-Monti-Kirche erblicken konnte — er hob sich weiß gegen des Pincio schwarze Steineichen ab. Nicht eine Menschenseele war zu sehen und nicht ein Laut zu hören außer ihren eigenen Schritten auf den Steinen und dem Rieseln einer kleinen Fontäne in irgend einem Hofe. Und weit entfernt durch die Stille plätscherte der Springbrunnen auf dem Monte Pincio gegen das steinerne Becken. Helge erkannte den Ton wieder, und als sie dem Laut nachgingen, schoß in ihm ein feiner zarter Strahl von Glückseligkeit auf — es war, als erwarte ihn seine eigene Freude vom verflossenen Abend da droben an dem springendem Quell unter den Steineichen.
Er wandte sich an Jenny, ohne zu ahnen, daß seine Augen und seine Stimme für seine kleine Freude baten:
„Hier oben stand ich gestern abend und sah die Sonne untergehen. Es war so wunderlich. Jahrelang habe ich dafür gearbeitet — mein Wunsch war es, Archäologe zu [S. 38] werden. Aber nach meinem zweiten Examen mußte ich die Lehrtätigkeit ergreifen. Immer habe ich auf den Tag gewartet, an dem ich hierher kommen würde — mich gleichsam darauf vorbereitet. Und doch — als ich dann hier stand, so plötzlich — war ich gänzlich unvorbereitet.“
„Ja,“ meinte Jenny, „ich verstehe das sehr gut.“
„Uebrigens, als ich gestern aus dem Zug gestiegen war, da sah ich es gleich alles vor mir liegen: die Ruinen der Termen, die schweren, gelben, von der Sonne überfluteten Mauerreste, und mitten unter ihnen die großartigen Neubauten mit Kaffees und Kinematographen, die Straßenbahnen auf dem Platz, die Anlagen und die herrlichen Springbrunnen mit ihren übervollen Wasserbecken ... Die alten Mauern inmitten der modernen Häuserblocks und das Getriebe der Stadt ringsumher — gerade das fand ich so schön.“
„Ja,“ sagte sie mit fröhlicher Stimme und nickte. „Ich liebe es auch sehr.“
„Und dann ging ich hinab. Altertum und Neuzeit vereint! Ueberall Springbrunnen, rieselnd und rauschend und plätschernd. Ich ging geradenwegs zum St. Peter; es dunkelte, als ich dort ankam, und ich stand und betrachtete die beiden Fontänen auf dem Platz. Hier in der Stadt springen sie wohl die ganze Nacht hindurch.“
„Die ganze Nacht — fast überall hört man Springbrunnen. Die Straßen hier sind ja so still des Nachts. Dort, wo wir wohnen, Franziska und ich, ist eine kleine Fontäne unten im Hof. Wir haben einen Balkon vor unseren Zimmern, und wenn es abends milde ist, sitzen wir draußen und lauschen dem Rinnen bis in die tiefe Nacht hinein.“
Sie hatte sich auf das Steingeländer gesetzt. Helge Gram stand am gleichen Ort wie am Abend vorher und sah wieder über die Stadt mit ihren Höhenzügen im Hintergrund, den grauweißen und verwitterten. Und der Himmel spannte sich darüber so hell und klar wie über [S. 39] dem Hochgebirge. Er sog die reine, eiskalte Luft in vollen Zügen ein.
„Nirgends auf der Welt,“ sagte Jenny, „ist der Morgen so wie hier in Rom. Ich habe das Gefühl, als schlafe die ganze Stadt — einen Schlaf, der leichter und leichter wird — und plötzlich ist sie erwacht, ausgeruht und frisch. Heggen meint, es käme von den Fensterläden; da sind keine Scheiben, die das Morgenlicht einfangen.“
Sie hatten den Rücken dem Morgengrauen und dem goldenen Himmel zugewandt, gegen den sich die Pinienkronen des Medicigartens und die beiden kleinen Türme der Kirche mit den Wimpeln auf der Spitze hart und scharf abzeichneten. Noch war die Sonne nicht aufgegangen. Die graue Häusermasse dort unten aber begann langsam Farben auszustrahlen — es schien, als würde das Mauerwerk auf zauberhafte Weise von innen her mit Farben durchleuchtet; einige Häuser glühten in tiefem Rot auf, bis dies ganz langsam in einen rosenfarbenen Schein überging, andere schimmerten gelblich, andere wieder weiß. Die Villen draußen auf dem dunklen Höhenzug des Monte Mario erhoben sich leuchtend aus den braunen Grashängen und schwarzen Zypressen.
Bis plötzlich draußen von den Höhen hinter der Stadt ein Blinken kam wie von einem Stern; da war doch eine Fensterscheibe, die den ersten Sonnenstrahl eingefangen hatte. Das dunkle Laub dort drüben flammte auf wie das Gold von Oliven.
Eine kleine Glocke drunten in der Stadt begann zu läuten.
Cesca lehnte sich müde an ihre Freundin:
„ Il levar del sole. “
Helge bog den Kopf weit zurück und starrte in das kühle Blau der Himmelskuppel. Jetzt schoß ein Sonnenstrahl hervor, die höchste Spitze der Wassersäule des Brunnens streifend. Die Tropfen da droben funkelten azurblau und golden.
„Ah — Gott segne Euch alle miteinander, ich bin so schauderhaft müde,“ sagte Franziska und gähnte so [S. 40] laut sie konnte. „Uuh, so kalt. Jenny, erfrier dir deinen zarten Körperteil nicht auf den kalten Steinen — nun will ich zu Bett — subito .“
„Ja, müde.“ Heggen gähnte. „Wir wollen heim, Herrschaften. Das heißt, ich trinke erst eine Tasse kochende Milch auf meiner Latteria. Gehen wir also?“
Sie schlenderten die Spanische Treppe hinab. Helge betrachtete all die kleinen grünen Blättchen, die zwischen den weißen Steinstufen hervorlugten.
„Seltsam, daß sie hier gedeihen, wo so viele Menschen gehen und alles niedertreten.“
„Oh ja, es sprießt hier überall, wo sich nur ein wenig Erde zwischen zwei Steinen findet. Sie hätten im letzten Frühjahr das Dach sehen sollen, unter dem wir wohnen. Dort wächst ein kleines Feigenbäumchen zwischen den Dachziegeln. Cesca macht sich solche Sorge, daß es den Winter nicht überdauert — und wovon soll es leben, wenn es größer wird? Sie hat es gezeichnet.“
„Ihre Freundin malt auch, wie ich hörte?“
„Ja, Cesca ist sehr talentvoll.“
„Ich besinne mich jetzt, ich sah im vergangenen Herbst auf der staatlichen Kunstausstellung ein Bild von Ihnen,“ sagte Helge ein wenig zaghaft. „Rosen in einer Kupferschale.“
„Ja, das hab’ ich im Frühling hier unten gemalt. Jetzt bin ich nicht mehr damit zufrieden —. Ich war im Sommer zwei Monate in Paris und finde, daß ich in der Zeit sehr viel gelernt habe. Ich habe es aber verkaufen können, für dreihundert Kronen; das war der Preis, für den ich es ausgeschrieben hatte. Ja, einiges ist übrigens ganz gut daran.“
„Sie malen etwas modern — aber das tun Sie gewiß alle?“
Jenny lächelte leise, antwortete aber nicht.
Die anderen standen am Fuß der Treppe und warteten. Jenny reichte allen die Hand und sagte Guten Morgen.
„Das sieht dir doch wieder ähnlich,“ sagte Heggen. „Ist es dein Ernst, jetzt hinaufzugehen und zu arbeiten?“
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„Gewiß.“
„Du bist völlig irrsinnig.“
„Jenny, komm’ mit nach Haus,“ jammerte Franziska.
„Warum soll ich nicht arbeiten, wenn ich nicht müde bin? Ja, Kandidat Gram, jetzt sollten Sie wohl eine Droschke haben und heimfahren.“
„Ja. Uebrigens: ist das Postamt nicht um diese Zeit geöffnet? Ich weiß, es soll nicht so weit von der Piazza di Spagna entfernt sein.“
„Dort muß ich vorüber — dann können Sie ja mit mir gehen.“
Sie nickte ein letztes Mal den anderen zu, die sich anschickten, heimzuziehen. Franziska hing an Ahlins Arm, taumelnd vor Müdigkeit.
„Nun, Sie haben also Post bekommen,“ sagte Jenny. Sie hatte in der Vorhalle des Postamtes gewartet. „Jetzt werde ich Ihnen zeigen, mit welcher Straßenbahn Sie fahren müssen.“
Der Platz war vom Sonnenschein weiß überflutet, die Luft noch morgenfrisch und rein. Doch schon wimmelten Wagen und Menschen in geschäftiger Eile in den engen Straßen.
„Wissen Sie, Fräulein Winge — ich fahre nicht nach Haus; ich bin jetzt so wach wie nur irgend möglich. Ich hätte die größte Lust, einen Spaziergang zu machen. Ist es aufdringlich, wenn ich frage, ob ich Sie ein kleines Stückchen Wegs begleiten darf —?“
„Aber gar nicht —. Doch wie werden Sie nachher zu Ihrem Hotel zurückfinden?“
„Pah, am hellichten Tage.“
„Freilich, eine Droschke treffen Sie überall an.“
Sie kamen auf den Corso hinaus. Sie nannte die Namen der Paläste, war ihm aber jeden Augenblick ein Stück voraus, da sie schnell ausschritt und sich geschmeidig [S. 42] durch die vielen Menschen wandte, die sich schon auf dem schmalen Bürgersteig drängten.
„Mögen Sie Wermut?“ fragte sie; „ich will eben hier hinein und einen zu mir nehmen.“
Sie leerte das Glas in einem Zuge, während sie am marmornen Schenktisch der Bar stand. Helge fand keinen Geschmack an dem bittersüßen Getränk, das zur Hälfte mit Chinin gemischt war. Es war aber etwas Neues für ihn und es gefiel ihm, so unvermittelt in eine Bar zu laufen.
Jenny bog in schmale Gassen ein, wo die Luft noch nächtlich kühl und dumpf war. Nur hoch oben streifte der Sonnenschein die Mauern der Häuser. Helge schaute mit überwachen Sinnen um sich, betrachtete die blaugestrichenen Karren mit Maultiergespannen, deren Sattelzeug mit Messingbeschlägen und roten Troddeln geschmückt war, sah barhäuptige Frauen und schwarze Kinder, kleine billige Läden und die Verkaufsstände für Obst und Gemüse in den Torwegen. In einer Häusernische stand ein alter Mann und briet Schmalzgebäck auf einem kleinen Herd. Jenny kaufte einige Kuchen und bot sie Helge. Er lehnte jedoch dankend ab. Ein Teufelsmädchen! Sie aß die Kuchen mit gesundem Appetit, ihm aber wurde übel bei der bloßen Vorstellung, eines dieser fettriefenden Stücke zwischen die Zähne zu bekommen, noch dazu mit dem Wermutgeschmack im Mund und nach dem Genuß der vielen Getränke in dieser Nacht. Und außerdem — so schmierig wie der Alte war.
Seite an Seite mit verfallenen, armseligen Häusern, wo graufarbenes Leinenzeug zum Trocknen zwischen den brüchigen Fensterläden hing, lagen große, wuchtige Paläste mit vergitterten Fenstern und ausladenden Gesimsen. Einmal ergriff Jenny ihn am Arm — ein brandrotes Automobil kam tutend aus einem Barockportal, wendete schwerfällig und sauste die schmale Straße hinauf, deren Rinnstein mit Müll und Kohlblättern angefüllt war.
Helge ging und genoß. Wie südlich fremd war hier alles .. Sein einziges inneres Erlebnis seit vielen Jahren [S. 43] war immer nur der Zusammenstoß seiner phantastischen Traumwelt mit der kleinlichen Wirklichkeit des Alltags gewesen, bis er schließlich gleichsam aus Notwehr gelernt hatte, seine Träumereien zu belächeln und seiner Phantasie eine Richtung ins Reale zu geben. So versuchte er auch jetzt, sich unwillkürlich klar zu machen, daß in diesem romantischen Quartier die gleiche Art von Menschen lebte wie in anderen großen Städten. Ladenmädchen und Fabrikarbeiter, Typographen und Telegraphisten — Menschen, die tagtäglich in Geschäften, auf Kontoren und an Maschinen ihre Arbeit verrichteten und nicht anders waren wie überall auf der Welt. — Er spann den Gedanken jedoch mit einer seltsamen Freude weiter aus, weil diese Straßen und Häuser, die seinen Traumgebilden glichen, doch helle Wirklichkeit waren.
Sie traten auf einen offenen Platz hinaus. Hier umfing sie die Sonne mit ihren weißen weichen Strahlen und befreite sie vom letzten Hauche klammer, dumpfer Luft aus den kleinen Gassen, die sie durchwandert hatten. Jenseits des Platzes war der Erdboden kreuz und quer zerwühlt, Berge von Schutt und Müll und Stapel alten Gerölls lagen einträchtig beieinander. Alte, verfallene Häuser, zum Teil halb niedergerissen mit gähnenden Höhlen, vervollständigten in Gemeinschaft mit antiken Ruinen das Bild der Verwüstung.
An einigen zerstreut liegenden Gebäuden vorbei, die verlassen standen, als habe man nur vergessen, sie niederzureißen, gelangten Jenny und Helge auf den Platz am Vestatempel. Hier lag die große neue Dampfmühle und dort das schöne alte Kirchlein mit seiner Säulenhalle und dem schlanken Glockenturm. Und im Hintergrunde stieg der Aventinerhügel klar zum sonnigen Himmel empor, mit den Klöstern auf dem Gipfel, staubiggrauen Bogen namenloser Ruinen in den Gärten auf den Hängen, überwuchert von schwarzem Efeu, grauem kahlen Dorngebüsch und gelbem, winterwelken Gras.
Immer wieder hatten diese Ruinen ihn enttäuscht, in Deutschland wie in Florenz. Er hatte von ihnen gelesen [S. 44] und sie im Geiste mit einem romantischen Rahmen aus grünem Laub umgeben. Blumen sah er in den Mauerspalten blühen, wie auf alten Kupferstichen oder Theaterkulissen. In Wirklichkeit waren sie schmutzig und verstaubt; vergilbtes Papier, zerbeulte Blechbüchsen, schmutziger Abfall hatte sich ringsum angesammelt, rauhe, winterliche Luft entströmte dem Gemäuer. Die einzige Vegetation des Südens bildeten grauschwarzes Immergrün, nacktes dorniges Gebüsch und das welke, farblose Gras.
An diesem sonnigen, durchsichtigen Morgen aber wurde es ihm plötzlich klar, daß sie, betrachtete man sie mit den rechten Augen, dennoch schön sein konnten. —
Hinter der Kirche schlug Jenny einen Weg ein, der zwischen Gärten hindurch führte. Pinien ragten dahinter auf und der Efeu fiel in losen Ranken über die Mauern. Sie machte Halt und entzündete eine Zigarette.
„Ja,“ erklärte sie, „ich bin dem Tabak verfallen, doch Cesca verträgt das Rauchen nicht, ihres Herzens wegen, darum muß ich mich mäßigen, wenn sie dabei ist; hier draußen dampfe ich wie eine Lokomotive — da sind wir.“
Ein kleines gelbes Haus lag vor ihnen, von einem Reisiggitter eingezäunt. Im Garten standen ein Tisch und Bänke unter zwei großen, kahlen Ulmen, und eine Laube, aus Binsen geflochten. Jenny begrüßte vertraulich ein altes Weib, das in die Tür getreten war.
„Wie wär’s mit einem Frühstück, Kandidat Gram —?“
„Kein übler Gedanke. Vielleicht etwas starken Kaffee — und Brot und Butter —.“
„Gott segne Sie — Kaffee! und Butter! Eier und Brot und Wein — Salat und Käse vielleicht —. Ja, sie hat Käse, sagt sie. Wieviele Eier möchten Sie haben?“
Während die Frau den Tisch deckte, brachte Jenny Staffelei und Malgerät heraus. Ihren langen blauen Abendmantel vertauschte sie gegen eine von Oelfarbenflecken bedeckte Wetterjacke.
„Darf ich mir Ihr Bild anschauen?“ fragte Helge.
[S. 45]
„Ja, — ich werde wohl das Grün abtönen müssen, es liegt so hart auf. Bis jetzt ist kein rechtes Licht über dem Ganzen. Der Hintergrund ist, glaube ich, gut.“
Helge betrachtete das kleine Bild, auf dem die Bäume wie große grüne Flecken standen. Er konnte nichts Besonderes daran finden.
„Ah, das Essen steht bereit! Sie kriegt sie an den Kopf, wenn sie hartgekocht sind. — Nein, Gottseigelobt!“
Helge war nicht hungrig. Jedenfalls brannte ihm jetzt der Hals von dem sauren, weißen Wein, und das ungesalzene trockene Brot konnte er kaum herunterbringen. Jenny zermalmte große Stücke davon zwischen ihren weißen Zähnen, stopfte kleine Bissen Parmesankäse dazu in den Mund und trank Wein, denn drei Eiern hatte sie bereits den Garaus gemacht.
„Daß Sie das gräßliche Brot so trocken essen können,“ sagte Helge.
Sie lachte:
„Ich finde dieses Brot so gut. Butter habe ich kaum zu sehen bekommen, seit ich von Kristiania fort bin. Die pflegen Cesca und ich nur für Gesellschaften zu kaufen. Wir müssen nämlich sparen, sehen Sie.“
Er lachte auch:
„Was nennen Sie sparen — Perlen und Korallen —.“
„Ach, — das ist Luxus —. Ich finde beinahe, das ist das Notwendigste — ein wenig jedenfalls. Nein, wir wohnen billig und essen billig, kaufen Seidenschärpen und trinken ein paar Wochen lang des Abends Tee und genießen trockenes Brot und Rettiche dazu.“
Sie hatte ihre Mahlzeit beendet und entzündete eine neue Zigarette. Das Kinn auf die Hand gestützt, saß sie und sah hinaus:
„Nein, Kandidat Gram. Sehen Sie — hungern — ja, ich habe das niemals erleben müssen, aber es kann ja noch einmal kommen. — Heggen zum Beispiel hat es durchgemacht — und doch gibt er mir Recht. Es ist besser, zu wenig vom Notwendigen zu haben, als niemals etwas von dem, was eigentlich überflüssig ist. Das [S. 46] Ueberflüssige, eben das ist es, wofür man arbeitet, wonach man sich sehnt —.
Daheim bei meiner Mutter — da hatten wir das dringend Notwendige ja immer — freilich. Aber nichts darüber. Das mußte eben so sein — die Kinder sollten ja Essen haben.“
Helge lächelte ein wenig unsicher:
„Ich kann mir Sie gar nicht als einen Menschen denken, der jemals die Bekanntschaft mit — mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten gemacht hat!“
„Wieso?“
„Nein, Sie sind so unverzagt, so frei und sicher. Wenn man in engen Verhältnissen aufgewachsen ist, wo man nichts anderes hört als Sparen, da wagt man es bald nicht mehr, sich Anschauungen zuzulegen — in weiterem Sinne. Es ist peinlich, zu wissen, daß der Mammon alles regiert und daß man Mittel besitzen muß, will man sich Pläne und eine eigene Meinung gestatten.“
Jenny nickte nachdenklich.
„Das braucht man nicht, wenn man gesund und frisch ist und etwas kann.“
„Nun zum Beispiel ich. Ich habe immer geglaubt, ich hätte die Fähigkeiten zu wissenschaftlicher Arbeit. Das ist das einzige Ziel, das ich mir gesetzt. Ich habe einige kleine Bücher geschrieben — etwas ganz Populäres natürlich; jetzt arbeite ich jedoch an einer Abhandlung: das Bronzezeitalter in Südeuropa. Ich bin aber Lehrer und habe eine sehr gute Stellung. Bin Leiter einer Privatschule.“
„Jetzt sind Sie aber doch hierher gekommen, um zu arbeiten, wenn ich Sie heute Morgen recht verstand,“ sagte sie lächelnd.
Helge antwortete nicht darauf:
„So erging es meinem Vater auch. Er wollte Maler werden — das Einzige, wozu er Lust hatte. Er hielt sich auch ein Jahr lang hier auf. Dann verheiratete er sich. Jetzt hat er nun eine lithographische Werkstätte — hat sie sechsundzwanzig Jahre hindurch in Gang gehalten, [S. 47] zum Teil unter großen Schwierigkeiten — Ich glaube nicht, daß er der Meinung ist, er habe viel vom Leben gehabt.“
Jenny sah gedankenvoll in den Sonnenschein hinaus. In der Senkung ihnen zu Füßen wuchsen Küchengemüse in Reihen mit kleinen bescheidenen Blätterbüscheln über der grauen Erde. Draußen über den grünen Wiesen leuchteten die Ruinen auf dem Palatin, gelbschimmernd in dem dunklen Laub. Der Tag versprach warm zu werden. Die Albanerberge drüben hinter den Pinien der fernen Villengärten lagen in dämmrigem Dunst unter dem tauigen Blau des Himmels.
„Aber — Kandidat Gram.“ Sie nippte an ihrem Glase, den Blick noch immer in die Ferne gerichtet. Helge folgte mit den Augen dem lichtblauen Rauch ihrer Zigarette — ein kleiner Lufthauch erfaßte diesen und wirbelte ihn hinaus in die Sonne. Jenny hatte das eine Bein über das andere geschlagen — über den ausgeschnittenen perlenbestickten Schuhen erschienen die schmalen Knöchel in dünnen violetten Strümpfen. Die Wetterjacke stand offen über dem faltigen, silbergrauen Kleide mit dem weißen Kragen und über dem Perlenband, welches rosenrote Lichtflecken auf ihren milchweißen Hals warf. Die Pelzmütze auf dem blonden, welligen Haar war weit zurückgeglitten.
„So haben Sie jedenfalls eine Stütze an Ihrem Vater — er versteht Sie und weiß, daß Sie nicht an die Schule gefesselt sein dürfen, da Ihnen eine andere Arbeit am Herzen liegt?“
„Das weiß ich nicht. Er freute sich zwar sehr, daß ich Gelegenheit hatte, ins Ausland zu kommen. Aber —“ Helge zögerte, „sehr vertraut miteinander sind mein Vater und ich nie gewesen. Meine Mutter dagegen quälte mich mit ihrer ständigen Sorge, daß ich mich überanstrengen könnte, daß meine Zukunft nicht genügend gesichert sei. Und meiner Mutter widerspricht mein Vater nicht. Sie sind grundverschieden, Vater und Mutter. Sie hat ihn wohl nie verstanden. So überschüttete sie dann uns Kinder mit ihrer heißen Liebe — in meiner Kindheit war [S. 48] sie mir unendlich viel — doch diese Liebe begleitete eine blinde Eifersucht. Mutter fürchtete sogar, daß Vater mehr Einfluß auf mich gewinnen könne als sie. Auch auf meine Arbeit war sie eifersüchtig, weil ich mich abends einschloß, um zu studieren und zu schreiben, wissen Sie. Sie sorgte sich, wie gesagt, um meine Gesundheit und fürchtete, daß ich den Einfall bekommen könne, meinen Posten aufzugeben —.“
Jenny nickte einige Male gedankenvoll.
„Der Brief, den ich eben holte, war von ihnen.“ Helge zog ihn hervor und betrachtete ihn, öffnete ihn jedoch nicht. — „Heut ist nämlich mein Geburtstag,“ sagte er und versuchte ein Lächeln. „Ich werde heute sechsundzwanzig.“
„Ich gratuliere.“ Jenny reichte ihm die Hand.
Der Blick, den sie auf ihn richtete, war so, wie wenn sie Franziska zu betrachten pflegte, wenn diese sich an sie schmiegte.
Sie hatte bisher noch nicht auf Grams Aussehen geachtet, hatte nur den Eindruck, daß er groß und fein gebaut und dunkel war, und daß er einen kleinen Spitzbart trug. Eigentlich hatte er hübsche regelmäßige Züge und eine hohe, etwas schmale Stirn. Seine Augen waren hellbraun, mit einem eigenen durchsichtigen Bernsteinglanz, der kleine Mund unter dem Schnurrbart war weich und fein, er zeigte eine leise Wehmut.
„Ich verstehe Sie so gut,“ sagte sie plötzlich „Ich kenne das. Ich war selbst Lehrerin bis Weihnachten vorigen Jahres. Ich kam fort als Erzieherin und blieb dabei, bis ich alt genug war, um im Seminar anzufangen.“ Sie lachte etwas verlegen. „Ich reiste fort — gab meine Stellung an der Volksschule auf — da ich eine Kleinigkeit von einer Tante meines Vaters erbte. Ich habe ausgerechnet, es kann etwa drei Jahre reichen — vielleicht auch länger — und wenn ich etwas verkaufen kann —. Aber meine Mutter war natürlich nicht damit einverstanden, daß ich die ganze Summe aufbrauchen wollte. Und daß ich kündigte, nachdem ich endlich nach all den Jahren, [S. 49] in denen ich mich mit Vertretungen und Privatschülern abgeplagt hatte, fest angestellt worden war. Ein festes Einkommen, — das halten die Mütter ja immer für das Wichtigste —.“
„Ich glaube fast, daß ich es in Ihrer Stelle nicht gewagt hätte, so alle Brücken hinter mir abzubrechen —. Ich weiß sehr wohl, es ist der Einfluß meines Vaterhauses. Ich wäre die Angst nicht losgeworden, wovon ich leben sollte, wenn das Geld verbraucht sein würde.“
„Kleinigkeit,“ sagte Jenny. „Ich bin ja frisch und stark und kann sehr viel. Nähen, kochen und plätten und waschen. Auch Sprachen. In Amerika oder England kann ich immer Arbeit bekommen. Als Malerin, glaube ich, wird man dort viel zu tun finden. Franziska“ — sie lachte in die Sonne hinaus — „sie meint, wir sollten nach Südafrika reisen und Milchmädchen werden. Und dann wollen wir Akte bei den Zulukaffern zeichnen — es sollen ganz prachtvolle Modelle sein.“
„Der Gedanke ist durchaus nicht übel. Entfernungen rechnen Sie also nicht als wesentliches Hindernis —.“
„Nein, ganz und gar nicht —. Ach ja, ich rede. Natürlich, in all den Jahren daheim meinte ich, daß es ganz unmöglich sei, hinauszukommen — allein nach Kopenhagen, dort sich eine kurze Zeit aufzuhalten und nichts anderes zu tun als zu lernen und zu malen. Ich hatte natürlich starkes Herzklopfen, als ich mich entschloß, alles aufzugeben und zu reisen. Alle meine Angehörigen fanden es wahnsinnig. Und das wirkte wohl auf mich. — Aber dann wollte ich erst recht. Malen ist ja das Einzige, wozu ich immer Lust hatte, und ich begriff, daß ich zu Haus niemals so intensiv würde arbeiten können, wie es nötig wäre — da lenkte mich so vieles ab. Aber Mama konnte es einfach nicht begreifen, daß ich sofort mit dem Studium beginnen müsse, wollte ich noch etwas lernen, da ich nicht mehr die Jüngste war. Meine Mutter ist nämlich nur neunzehn Jahre älter als ich. Als ich elf Jahre alt war, heiratete sie zum zweiten Male, und das brachte ihre Jugend zurück —.
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Das ist ja eben das Wunderbare, wenn man in die Welt geht — jede Beeinflussung durch Menschen, mit denen man zufällig daheim zusammenlebt, hört auf. Man muß mit seinen eigenen Augen sehen und selbständig denken. Wir lernen begreifen, daß es ganz von uns selbst abhängt, was diese Reise uns gibt — was wir zu sehen und zu erfassen vermögen, in welche Lage wir uns bringen und unter wessen Einfluß wir uns freiwillig begeben. Man lernt verstehen, daß es von einem selbst abhängt, wieviel das Leben uns entgegenbringt. Ja, gewiß, ein wenig auch von den Umständen, wie Sie vorher einmal sagten. Aber man entdeckt bald, wie man die Hindernisse nach seiner Veranlagung am leichtesten überwindet oder sie umgeht — sowohl auf Reisen wie auch im allgemeinen. Man sieht ja, daß man sich all das Schwere, das einem begegnet, immer selbst eingebrockt hat.
In seinem Heim ist man ja niemals allein, nicht wahr, Gram? Das eben ist das Beste am Reisen, finde ich — allein mit sich sein, nicht immer jemand um sich haben, der einem helfen oder über einen bestimmen will. — Das Gute, das man seinem Zuhause verdankt, kann man doch nicht sehen und schätzen, ehe man nicht fort gewesen ist. Man weiß, daß man nie wieder davon abhängig wird, wenn man erst einmal selbständig geworden ist. Man kann nicht eher Freude daran haben — ja man kann überhaupt keine Freude an etwas haben, von dem man abhängt?“
„Ich weiß nicht. Man ist doch immer abhängig von dem, das man lieb hat? Sie sind doch abhängig von Ihrer Arbeit? — Und wenn man einen anderen Menschen liebt,“ sagte er leise, „ist man dann nicht völlig abhängig?“
„Ja, ja.“ Sie überlegte. „Aber da hat man selbst gewählt,“ sagte sie schnell. „Ich meine, man ist dann kein Sklave, man dient dann freiwillig irgend jemandem oder irgendeiner Sache, die man höher bewertet als sich selbst. — Freuen Sie sich nicht, daß Sie ihr neues Jahr allein beginnen werden, frei und frank — nur arbeiten, was Sie selbst gern wollen?“
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Helge dachte an den vergangenen Abend auf dem Petersplatz. Er sah hinaus über die fremde Stadt, sah die gedämpften, grauverschleierten Farben in der Sonne, und das fremde, blonde Mädchen.
„Ja,“ sagte er.
„Ja.“ Sie erhob sich, knöpfte ihre Jacke zu und öffnete den Malkasten. „Nun muß ich aber fleißig sein.“
„Sie wollen mich wohl nun los sein?“
Jenny lächelte: „Sie sind doch jetzt sicherlich müde?“
„Oh nein. Ich möchte aber zahlen —.“
Sie rief die Frau und stellte ihm seine Rechnung auf, während sie gleichzeitig Farben auf der Palette ausdrückte.
„Glauben Sie nun, daß Sie zur Stadt zurückfinden?“
„Ja. Ich merkte mir genau, welchen Weg wir gingen. Und später finde ich schon einen Wagen. — Kommen Sie jemals in den Verein?“
„Oh ja, mitunter.“
„Ich möchte Sie sehr gern wiedersehen, Fräulein Winge.“
„Das werden Sie auch sicherlich.“ Sie überlegte einen Augenblick. „Wenn Sie Lust haben — können Sie uns dann nicht besuchen — zum Tee? Wir wohnen in der Via Vantaggio 111 — Cesca und ich sind des Nachmittags immer daheim.“
„Ich danke Ihnen.“ Er zauderte ein wenig. „Nun, dann schönen Guten Morgen! Und vielen Dank für diese Nacht!“
Er reichte ihr die Hand. Sie gab ihm ihre schmale, magere: „Auch ich danke.“
Als er sich in der Gartentür umwandte, stand sie und schabte mit dem Palettmesser auf der Leinwand. Sie summte — es war die Weise von heut Nacht, die ihm nun so vertraut schien. Er summt sie selbst, während er zur Stadt hinunter ging.
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Jenny zog die Arme unter der Decke hervor und verschränkte sie im Nacken. Es war eiskalt im Zimmer und finster; nicht ein Streifen Tageslicht fiel durch die Läden. Sie entzündete ein Streichholz und sah nach der Uhr — gleich sieben. Ein wenig konnte sie noch liegen und faulenzen; sie kroch wieder ganz unter die Decke und bohrte die Wange ins Kopfkissen.
„Jenny — schläfst du?“ Franziska öffnete die Tür, ohne anzuklopfen. Sie kam an das Bett heran, tastete im Dunkeln nach der Freundin Gesicht und streichelte sie: „Müde?“
„Gar nicht. Jetzt werde ich aufstehen.“
„Wann kamst du nach Haus?“
„Gegen drei. Ich war draußen in Prati und badete vor dem Mittag, und dann aß ich dort bei der Ripetta, weißt Du? Als ich heimkam, legte ich mich hin. Ich bin jetzt völlig ausgeschlafen — nun will ich aufstehen!“
„Wart noch ein wenig, hier ist es so kalt; ich werde etwas bei Dir einheizen.“ Franziska zündete die Lampe auf dem Tische an.
„Du brauchst doch nur nach der Signora zu rufen — nein, aber Cesca, komm her, darf ich sehen?“ Jenny setzte sich im Bett aufrecht.
Franziska stellte die Lampe auf das Nachttischchen und drehte sich im Licht langsam um sich selbst.
Sie hatte eine weiße Spitzenbluse zu ihrem grünen Rock angezogen und eine bronzefarbene Seidenschärpe mit pfauenblauen Streifen um die Schultern geschlungen. Rund um den Hals lagen die großen tiefroten Korallen in doppelter Reihe und lange, geschliffene Ohrgehänge tropften auf ihre gelblichweiße Haut herab. Lächelnd schob Franziska das Haar zur Seite, um zu zeigen, daß sie mit einem Faden Stoffgarn an den Ohren festgebunden waren.
„Denk’ dir, ich bekam sie für sechsundachtzig Lire — ist das nicht großartig — nun, wie stehen sie mir?“
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„Hervorragend. Das Kostüm ist fabelhaft. — Du, ich hätte Lust, dich darin zu malen.“
„Ja. Ich könnte jetzt gut für dich sitzen. Ich habe nicht die Ruhe in mir, am Tage etwas zu tun. Ach du, Jenny —.“ Sie seufzte leise und setzte sich auf die Bettkante. „Nein, ich muß jetzt nach dem Ofen sehen.“
Sie kam zurück mit einem steinernen Krug voll Glut und hockte sich vor dem kleinen Ofen nieder.
„Bleib nur liegen, Jenny, bis es hier warm geworden ist. Ich werde schon das Bett machen, auch den Tisch decken und den Tee kochen. — Ah, du hast deine Studie mit heimgebracht — laß mich sehen!“
Sie stellte das Studienbrett gegen einen Stuhl und beleuchtete das Bild:
„Aber, nein!“
„Es ist nicht übel, findest du nicht? — Ich will noch einige Skizzen dort draußen machen — ich plane ein großes Bild; ist das Motiv nicht gut — mit all den Arbeitsleuten und Maultierkarren dort unten im Ausgrabungsfeld?“
„Ja, weißt du, — daraus müßtest du doch etwas machen können. Ich freue mich darauf, Gunnar und Ahlin dies hier zu zeigen: Aber du bist aufgestanden? Jenny, laß mich dein Haar kämmen! Gott, was hast du doch für Haar, Mädel. Darf ich nicht einmal versuchen, es auf moderne Art zu frisieren, so mit Locken? Bitte!“
Franziska ließ das lange blonde Haar durch ihre Finger gleiten. „Sitz’ ruhig. Ein Brief ist heut Morgen für dich gekommen — ich nahm ihn mit herauf; fandest du ihn? Er war von deinem kleinen Bruder, nicht wahr?“
„Ja,“ sagte Jenny und lachte.
„War der Brief fröhlich — hast du dich gefreut?“
„Du kannst glauben, der war vergnügt. Ach, Cesca, mitunter wünschte ich, daß ich nur so einen Sonntag Vormittag, weißt du — einen kleinen Abstecher nach Hause machen könnte, um mit Kalfatrus über Nordmarken [S. 54] spazieren zu gehen. Er ist wirklich ein guter Kerl, weißt du.“
Franziska betrachtete Jennys lächelndes Gesicht im Spiegel. Darauf nahm sie das Haar wieder herunter und begann aufs neue, es zu bürsten.
„Nein, Cesca — wir haben doch keine Zeit.“
„Natürlich. Kommen sie zu früh, dann können sie ja zu mir hineingehen. Da sieht es freilich aus wie in einer Rumpelkammer, aber meinetwegen. Uebrigens — die kommen nicht so früh. Gunnar wenigstens nicht — und vor ihm geniere ich mich wahrhaftig nicht. Vor Ahlin übrigens auch nicht. Ah richtig, er war heute Mittag bei mir — ich lag im Bett, während er saß und plauderte. Als ich mich ankleiden wollte, schickte ich ihn auf den Balkon hinaus. Wir gingen dann fort und aßen vornehm auf Tre Re . Den ganzen Nachmittag sind wir zusammen gewesen.“
Jenny schwieg.
„Wir sahen Gram drinnen auf Nazionale. Uh, Jenny, er war schauderhaft. Ist dir etwas Schlimmeres je begegnet?“
„Ich finde ihn durchaus nicht so schauderhaft. Er ist nur unbeholfen, der arme Kerl. Genau so wie ich im Anfang war. Einer von den Menschen, die gern fröhlich sein wollen und nicht können.“
„Ich kam heute Vormittag mit dem Zug aus Florenz,“ äffte Franziska nach und lachte. „Puh. Wäre er dann wenigstens im Flugzeug gekommen!“
„Du warst recht ungezogen gegen ihn, mein Kind. Das darfst du nicht. Eigentlich hätte ich Lust gehabt, ihn heute Abend zu uns einzuladen. Ich wagte es aber deinetwegen nicht — ich wollte mich nicht der Gefahr aussetzen, daß du gegen meinen Gast unhöflich bist.“
„Der Gefahr hättest du dich durchaus nicht ausgesetzt. Das weißt du sehr gut.“ Franziska war gekränkt.
„Besinnst du dich auf den Abend, als ich Douglas mit zu mir genommen hatte zum Tee?“
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„Nach der Geschichte mit dem Modell — danke ergebenst!“
„Herrgott. Was ging das im übrigen dich an?“
„So, meinst du nicht? Nachdem er um mich angehalten hatte? Und ich sozusagen entschlossen war, ihn zu nehmen?“
„Das konnte er schwerlich ahnen,“ sagte Jenny.
„Ich hatte jedenfalls nicht bestimmt Nein gesagt. Am Tage vorher war ich mit ihm draußen in Versailles. Und da hatte er mich viele, viele Male küssen und unten im Park seinen Kopf in meine Arme legen dürfen. Und wenn ich ihm sagte, daß ich ihm nicht gut sei, dann glaube er es nicht, meinte er.“
„Cesca.“ Jenny fing ihre Augen im Spiegel ein. „All das hat ja keinen Sinn. Du bist das allerbeste kleine Ding auf der Welt, wenn du richtig überlegst. Manchmal ist es aber, als sähest du nicht, daß es Menschen sind, die du vor dir hast. Menschen mit Gefühlen, auf die du Rücksicht nehmen mußt . Du würdest auch Rücksicht nehmen, wenn du nur nachdächtest. Du willst ja doch nur lieb und gut sein.“
„ Per bacco. Bist du dessen so sicher? Ach, nun sollst du aber einen Strauß Rosen sehen. Ahlin kaufte gestern Abend ein Bukett für mich an der Spanischen Treppe.“ Cesca lächelte trotzig.
„Ich finde, du solltest dergleichen zu verhindern suchen. Unter anderem schon, weil du weißt, Ahlin hat nicht die Mittel dazu.“
„Geht denn das mich etwas an? Wenn er verliebt in mich ist, so macht ihm das sicher Freude.“
„Ich will gar nicht von deinem Ruf sprechen. Der leidet durch diese ewigen Geschichten!“
„Reden wir nicht über meinen Ruf, das lohnt nicht. Aber du hast bitter wahr gesprochen. Meinen Ruf daheim in Kristiania — den habe ich ein für allemal gründlich zunichtegemacht.“ Sie lachte hysterisch. „Was schert es mich aber! Ich lache darüber.“
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„Cesca, Geliebte. Ich begreife nicht — du machst dir ja aus keinem dieser Landsleute etwas. Warum also. Und das mit Ahlin. Kannst du denn nicht begreifen — daß es ihm Ernst ist? Auch Norman Douglas war es Ernst. Du weißt nicht, was du tust. Ich glaube, Gott helfe mir, du hast keinen Instinkt, Kind.“
Franziska legte Kamm und Bürste beiseite und betrachtete Jennys frisierten Kopf im Spiegel. Sie suchte ihr herausforderndes kleines Lächeln festzuhalten. Es welkte jedoch dahin — ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Auch ich bekam heute morgen einen Brief.“ Ihre Stimme zitterte. Jenny erhob sich. „Aus Berlin — von Borghild. — Willst du dich nicht erst fertigmachen, Jenny? Soll ich jetzt das Teewasser aufsetzen oder erst die Artischocken kochen? Sie kommen wohl bald?“
Sie huschte hin und her, und begann, das Bett in Ordnung zu bringen.
„Wir könnten ja auch Marietta rufen — aber wir machen es lieber selbst, nicht wahr Jenny?“
„Also — sie schreibt, Hans Hermann hat sich verheiratet. Vorige Woche. Es ist sicher schon sehr weit.“
Jenny legte die Streichholzschachtel beiseite, während sie ängstlich zu Franziskas weißem Gesicht hinübersah. Darauf schritt sie behutsam auf sie zu.
„Ja, es ist also die, mit der er verlobt war, weißt du. Diese Sängerin — Berit Eck.“ Franziska sprach mit leiser erloschener Stimme. Einen Augenblick beugte sie sich zur Freundin hinüber. Dann begann sie wieder, mit ihren zitternden Händen das Laken wegzustopfen.
Jenny rührte sich nicht.
„Nun — du wußtest ja, daß sie verlobt waren — schon seit einem Jahre.“
„Ja.“
Jenny deckte still den Tisch für vier Personen. Franziska breitete die Decke über das Bett und holte die Rosen herbei. Sie stand und nestelte an ihrem Blusenausschnitt, zog einen Briefumschlag hervor und drehte ihn zwischen den Fingern.
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„Sie hatte die beiden im Tiergarten getroffen, schreibt sie. Sie schreibt ... Oh, sie kann so brutal sein, die Borghild.“ Franziska sprang zum Ofen, riß die Tür auf — und warf den Brief ins Feuer. Darauf sank sie in einem Lehnstuhl zusammen und brach in ein bitterliches Weinen aus.
Jenny legte ihren Arm um ihren Nacken:
„Cesca, meine liebe kleine Cesca!“
Franziska preßte ihr Gesicht gegen Jennys Arm.
„Uebrigens sah sie so elend aus, das arme Ding. Sie ging und hing in seinem Arm, und er schaute verärgert und böse drein. Ja, das kann ich mir lebhaft vorstellen. Ach Gott, das arme, arme Wesen — sich in eine solche Lage zu bringen, daß sie auf diese Weise von ihm abhängig wird — er hat sie sicherlich auf den Knien zu sich kriechen lassen. — Daß sie so wahnsinnig sein konnte, wo sie ihn doch kannte. Aber zu denken, Jenny, daß er ein Kind von einer anderen haben soll — ach Gott, ach Gott, ach Gott.“
Jenny hatte sich auf die Stuhllehne gesetzt. Cesca schmiegte sich an sie:
„Nein, ich besitze scheinbar keinen Instinkt, wie du sagtest. Vielleicht habe ich ihn nicht einmal wirklich geliebt. Und doch hätte ich so gern ein Kind von ihm gehabt. Doch dann vermochte ich nicht, mich dazu zu entschließen. — Mitunter wollte er, daß wir heiraten sollten — ohne weiteres zum Standesamt gehen. Nein, ich wollte nicht. Zu Hause wären sie böse geworden. Die Leute hätten sicher gedacht, daß wir uns heiraten müßten ! Und das wollte ich auch nicht. Sie glaubten ja trotzdem schon das Schlimmste. Aber das war mir gleichgültig. Ich wußte sehr wohl, ich machte meinen Ruf zuschanden um seinetwillen. Doch daraus machte ich mir nichts. Begreifst du das — ich war gleichgültig. Aber Hans dachte, ich weigerte mich aus Angst, er würde mich hinterher nicht heiraten. Dann laß uns erst zum Standesamt gehen, verdammtes Mädel, sagte er. Aber ich wollte nicht. Er glaubte, das Ganze sei nur Berechnung gewesen. Du [S. 58] Eiszapfen, sagte er. Aber, bei Gott, du verstellst dich nur. Mitunter glaubte ich auch, daß ich keiner sei. Vielleicht war ich nur deshalb so ängstlich, weil er so brutal war. Er schlug mich oft — riß mir beinahe die Kleider vom Körper; ich mußte kratzen und beißen, um loszukommen — heulen und weinen.“
„Und doch gingst du immer wieder zu ihm?“ fragte Jenny leise.
„Ja. Die Portierfrau wollte nicht mehr bei ihm aufräumen. So ging ich hinauf und tat es. Ich hatte die Schlüssel zu seinen Zimmern. Ich wischte auf und machte das Bett — Gott weiß, wer dort mit ihm gelegen hatte.“
Jenny schüttelte den Kopf.
„Borghild war rasend darüber. Sie war es, die mir bewies, daß er eine Geliebte hatte. Ich wußte wohl etwas — aber ich wollte gar keine Gewißheit haben! Borghild behauptete, er hätte mir nur die Schlüssel gegeben, damit ich kommen und sie überraschen sollte. Aus Eifersucht sollte ich mich ihm geben, da ich ja doch schon kompromittiert sei. Aber darin irrte sie. Mich liebte er — auf seine Weise. Er hatte mich lieb, Jenny, so wie er es vermochte. Aber Borghild war so erzürnt, weil ich den Diamantring von der Urgroßmutter Rustung versetzte. Ach, das habe ich dir niemals erzählt.“
Sie richtete sich auf und lachte leise.
„Ja, siehst du, er brauchte Geld. Hundert Kronen. Ich versprach ihm, er sollte sie von mir erhalten. Ich ahnte nicht, woher sie nehmen. Papa wagte ich nicht um einen Oere zu bitten — ich hatte schon allzuviel verbraucht. So ging ich denn hin und versetzte — meine Uhr und ein goldenes Kettenarmband und dann den Diamantring; einen ganz alten, du weißt, mit vielen kleinen Diamanten auf einer größeren Platte. Borghild war rasend, weil sie ihn nicht bekommen hatte, denn sie war doch die älteste, aber Großmutter hatte ausdrücklich gesagt, ich sollte ihn haben, weil ich nach ihr genannt war. Ich ging also eines Morgens hin, gleich nachdem geöffnet worden war. Es war ein peinlicher Augenblick. Aber [S. 59] ich bekam doch das Geld und ging hinauf zu Hans. Er fragte, auf welche Weise ich es beschafft hätte, und ich sagte es ihm. Dafür küßte er mich. ‚Dann‘, sagte er, ‚gib mir den Leihschein und das Geld, Pussel‘ — so nannte er mich immer. Ich gab ihm beides — ich glaubte ja, er wolle die Sachen wieder einlösen, und ich sagte, das dürfe er nicht; ich war sehr gerührt, siehst du. Ich kann es auf andere Weise in Ordnung bringen, sagte Hans, und dann nahm er es und ging. Ich saß bei ihm oben und wartete — oh, ich war so gerührt, denn ich wußte, er brauchte das Geld. Ich wollte am nächsten Tage hingehen und es wieder versetzen — ich empfand es nicht mehr als unangenehm, überhaupt nichts würde mir peinlich sein; ich wollte ihm alles herbeischaffen, was er brauchte. Dann kam er zurück — weißt du, was er getan hatte“ — sie lachte unter Tränen — „es in der Volksbank eingelöst und bei einem Privatbankier in Pfand gegeben, wie er sagte. Dort bekam er viel mehr.
Wir bummelten den ganzen darauffolgenden Tag zusammen, siehst du. Champagner und alles Mögliche! Dann blieb ich des Nachts auf, und er spielte — spielte — du großer Gott! Ich lag auf dem Fußboden und heulte. Mir war alles gleich, wenn er nur so spielte — und für mich allein. Ach, du hast ihn nicht spielen hören, du — dann würdest du alles verstehen. Aber danach! Das war eine Geschichte. Wir kämpften auf Leben und Tod. Aber ich entkam ihm doch. Borghild lag wach, als ich heim kam. Mein Kleid war ganz in Fetzen gerissen. — Du siehst aus wie ein Straßenmädchen, sagte Borghild. So wirst du auch noch einmal enden, sagte sie. Ich lachte nur. Die Uhr war fünf.
Schließlich hätte ich mich ja auch ergeben, weißt du. Wäre da nicht ein Hindernis gewesen. Mitunter sagte er: ‚Du bist, weiß der Teufel, auch das einzige anständige Mädchen, das ich getroffen habe — es gibt, weiß Gott, nicht einen einzigen Mann, der dich herumbringen kann.‘ War es nicht furchtbar? ‚Ich habe Achtung vor dir, Pussel!‘ Denk dir, er hatte Achtung vor [S. 60] mir, weil ich das nicht tun wollte, worum er immer gebettelt, weswegen er mir gedroht hatte. Ich, die ich immer wünschte, ich hätte die Kraft — ich wollte ja so gern alles tun, um ihm eine Freude zu machen. Wenn ich nur über diesen Widerwillen hinweggekommen wäre; er war so brutal — und ich wußte, er hatte andere. Ich wünschte, er sollte aufhören mich zu erschrecken — dann hätte ich es gekonnt. Aber dann wäre ich in seinen Augen eine Gefallene gewesen ... Deshalb brach ich schließlich den Verkehr ab, weil er wollte, daß ich etwas tun sollte, um dessentwillen er mich dann verachtet hätte.“
Sie schmiegte sich an Jenny und ließ sich streicheln.
„Hast du mich lieb, Jenny?“
„Das weißt du ja — Cesca, Liebes du!“
„Du bist so gut. Gib mir noch einen Kuß! Gunnar ist auch gut. Ahlin auch. Ich werde auf mich achten — du kannst dir doch denken — ich will ihm kein Leid zufügen. Uebrigens — vielleicht heirate ich ihn. Wenn er mir so gut ist! Ahlin würde nie brutal sein, das weiß ich. Glaubst du, er würde mich quälen? Wohl kaum. Dann könnte ich Kinder bekommen. Du weißt ja, ich erbe einmal. Und er ist so arm. Wir könnten dann im Auslande leben. Ich würde immer arbeiten. Er auch. Du — über allen seinen Arbeiten liegt etwas ungemein Feines. Das Relief mit den spielenden kleinen Knaben! Und der Entwurf zum Almquistmonument! Es ist ja nicht so original in der Komposition, aber Herrgott, wie schön, wie vornehm und ruhig und wie echt — diese plastischen Figuren.“
Jenny lächelte fein und strich Franziska über das Haar — es war an den Seiten feucht geworden von ihren Tränen.
„Wenn ich nur auch immer arbeiten könnte. Ach, aber Jenny. Diese ewigen Stiche im Herzen. Und im Kopf. Die Augen schmerzen auch, Jenny — ich bin ja so totmüde.“
„Du weißt ja, was der Arzt sagt — alles nur Nervosität. Wenn du nur vernünftig sein wolltest.“
[S. 61]
„Ja — das sagen sie. Aber ich habe solche Furcht. Du sagst — ich hätte keinen Instinkt — nicht so, wie du meinst. Aber auf andere Weise. Ich bin häßlich gewesen in dieser Woche. Das weiß ich sehr wohl. Aber ich ging umher und lauerte — ich fühlte , daß etwas Fürchterliches kommen würde. Und nun siehst du ja!“
Jenny küßte sie wieder.
„Ich war unten in der St. Agostino-Kirche heut Abend. Du kennst das wunderwirkende Madonnenbild. Ich kniete nieder und versuchte zur Jungfrau Maria zu beten. Ich glaube, mir würde wohl sein, wenn ich katholisch würde. Eine Frau wie die Jungfrau Maria zum Beispiel würde das alles viel besser verstehen können. Ich dürfte mich im Grunde nicht verheiraten, so, wie ich veranlagt bin. Ich könnte ins Kloster gehen — nach Siena zum Beispiel. Ich könnte dann in der Galerie kopieren; das Kloster würde auf diese Weise Geld verdienen. Als ich den Engel zum Melozzo da Forli in Florenz malte, stand dort jeden Tag eine Nonne und kopierte. Es wäre nicht das Schlimmste.“ Sie lachte. „Ja, das heißt, es wäre geradezu schauderhaft. Aber sie sagten ja alle, meine Kopien seien so gut gewesen. Und das stimmt. Ich glaube, ich würde dabei glücklich werden können. ... Ach, Jenny — wenn ich mich gesund fühlte! Wenn ich da drinnen Frieden bekäme — nicht so wirr und eingeschüchtert wäre innerlich! Dann würde ich frisch, und könnte arbeiten, ohne Aufhören. Ich würde so lieb und gut werden. Gott, wie lieb ich dann sein würde ... Ich bin nicht immer gut, das weiß ich wohl. Ich lasse mich von meinen Stimmungen hinreißen, wenn ich in einem Zustande bin wie eben jetzt. Aber das soll ein Ende haben — wenn Ihr alle mich nur liebhaben wollt. Besonders du. — Wir wollen diesen Gram zu uns einladen — wenn ich ihn wiedertreffe, dann werde ich zu ihm gehen und so lieb und gut zu ihm sein, wie du dirs gar nicht vorstellen kannst. Wir wollen ihn zu uns einladen und ihn mitnehmen, wenn wir ausgehen; ich will gern Kopf stehen, um ihm eine Freude zu [S. 62] machen. Hörst du, Jenny — bist du nun zufrieden mit mir?“
„Ja, Cesca.“
„Gunnar nimmt mich nicht ernst,“ sagte sie gedankenvoll.
„Gewiß tut er das. Er findet nur, es ist oft so viel Kindisches an dir. Du weißt, wie er über deine Arbeit denkt — erinnerst du dich, was er in Paris sagte, über deine Energie — dein Talent? Fein und persönlich, sagte er. Da nahm er dich wahrhaftig ernst genug.“
„Ja, gewiß. Gunnar ist übrigens ein prächtiger Kerl. — Er war aber doch böse über die Sache mit Douglas.“
„Jeder Mann wäre das gewesen. Ich wars auch.“
Franziska seufzte. Sie schwieg eine Weile.
„Wie wurdest du diesen Gram gestern los? Ich glaubte, es würde dir nie gelingen — dachte, er wäre mit dir heim gegangen und hätte sich hier aufs Sofa gelegt — mindestens.“
Jenny lachte.
„Nein. Er begleitete mich hinaus auf den Aventinerhügel und frühstückte dort, und dann fuhr er nach Hause. Im übrigen — ich mag ihn gut leiden.“
„ Dio mio! Jenny, du bist abnorm in deiner Güte. Es muß doch eine Grenze bei dir geben in deiner Rolle, Mutter für uns alle zu sein. Oder bist du vielleicht in ihn verliebt?“
Jenny lachte wieder:
„Kaum. Aber er wird sich auch in dich verlieben. Wenn du nicht ein wenig vorsichtig bist.“
„Das tun sie ja alle miteinander. Gott weiß, aus welchem Grunde. Aber es geht ja immer schnell wieder vorüber. Und hinterher werden sie dann böse auf mich.“ Sie seufzte.
Es kam jemand die Treppe herauf.
„Das ist Gunnar. Ich gehe ein wenig zu mir herüber, ich muß meine Augen kühlen.“
[S. 63]
Sie schlüpfte hinaus und flüsterte Heggen, mit dem sie in der Tür zusammentraf, einen „Guten Tag“ zu. Er trat ein und zog die Tür hinter sich ins Schloß.
„Du bist allright , wie ich sehe, Jenny. Das bist du übrigens immer, verteufeltes Menschenkind. Du hast natürlich den ganzen Vormittag gearbeitet. Aber sie?“ Er machte mit dem Kopf eine bezeichnende Bewegung gegen Cescas Zimmer.
„Schlecht. Armes kleines Wesen.“
„Ich sah es in der Zeitung. Ich war oben im Verein auf dem Wege hierher. Darf ich sehen — bist du mit der Studie fertig? Aber hör mal, die ist fein, Jenny —.“
Heggen hielt das Bild gegen das Licht und betrachtete es lange.
„Fein, du. Dies hier — das ist glänzend. Ich finde es sehr stark ... Liegt sie jetzt wieder und weint?“
„Ich weiß es nicht. Sie saß hier drinnen und weinte. Die Schwester schrieb es ihr.“
„Wenn ich dem Lump jemals begegne,“ sagte Heggen, „so werde ich wohl immer einen Vorwand finden, um ihm eine gehörige Tracht Prügel zu verabreichen.“
Helge Gram saß eines Nachmittags im Verein und brütete über den norwegischen Zeitungen. Allein in dem dämmerigen Lesezimmer. Da kam Franziska.
Helge erhob sich und grüßte. Sie ging geradeswegs auf ihn zu und reichte ihm lächelnd die Hand:
„Nun, mein Lieber, was treiben Sie? Jenny und ich sprachen gerade von Ihnen — wir begriffen nicht, daß man Sie nicht sieht. Wir wollten am Sonnabend hierher gehen und nach Ihnen schauen und Sie hinterher auf einen kleinen Bummel mitnehmen. Haben Sie schon ein Zimmer?“
„Leider nein. Ich wohne noch im Hotel. Die Zimmer sind alle so teuer —.“
[S. 64]
„Im Hotel wird es auch nicht billiger! Sie geben doch mindestens drei Franken pro Tag? Ja, das konnte ich mir denken. Rom ist nicht billig, wissen Sie. Im Winter muß man ein sonniges Zimmer haben. Aber freilich, Sie sprechen ja nicht Italienisch. Wären Sie doch nur zu uns heraufgekommen — Jenny und ich wären gern mit Ihnen gegangen, um etwas anzusehen.“
„Vielen Dank — aber damit konnte ich Sie doch wirklich nicht behelligen!“
„Behelligen — aber Gram. Doch wie geht es Ihnen — haben Sie Bekannte getroffen?“
„Nein. Ich war vergangenen Sonnabend oben im Verein, sprach aber mit niemandem. Ich saß und guckte in die Zeitungen. Ja doch, mit Heggen wechselte ich vorgestern in einem Café auf dem Corso ein paar Worte. Dann habe ich zwei deutsche Doktoren wiedergetroffen, die ich von Florenz her ein wenig kannte. Wir waren an einem dieser Tage draußen auf der Via Appia.“
„Uh. Hören Sie, sind deutsche Doktoren amüsant?“
Helge lächelte etwas verlegen.
„Wir haben ziemlich viel gemeinsame Interessen. Und wenn man so umhergeht und sonst niemanden hat, mit dem man reden kann —.“
„Ja, aber Sie müssen sich daran gewöhnen, Italienisch zu sprechen. Sie haben es ja gelernt. Wollen wir einen Spaziergang zusammen machen? Wir sprechen dann die ganze Zeit nur Italienisch miteinander. Ich werde Ihre maestra sein. Furchtbar streng!“
„Sie werden mich aber nicht besonders amüsant finden, Fräulein Jahrmann — höchstens unfreiwillig.“
„Still. — Nein, wissen Sie was, vorgestern reisten zwei dänische alte Damen nach Capri, vielleicht ist ihr Zimmer noch frei — ach sicherlich. Klein, billig und sehr nett. Ich habe den Namen der Straße nicht behalten, aber ich weiß, wo es ist. Soll ich Sie hinbegleiten, dann sehen wir es uns an? Kommen Sie also!“
Unten auf der Treppe zögerte sie einen Augenblick und blickte mit einem leisen, zaghaften Lächeln zu ihm auf:
[S. 65]
„Ich war furchtbar ungezogen gegen Sie neulich Abend, als wir zusammen waren, Gram. Ich muß Sie wohl um Verzeihung bitten.“
„Aber liebes Fräulein Jahrmann!“
„Doch. Ich war aber krank. Oh, Sie können mir glauben, ich bekam Schelte von Jenny. Ich hatte es aber auch verdient.“
„Ich war es ja, der sich Ihnen aufdrängte. Aber es kam so von selbst — ich sah Sie, und ich hörte Sie Norwegisch sprechen; der Versuch, Sie anzureden, lockte zu sehr.“
„Ja, natürlich. Es hätte so nett sein können — so ein kleines Abenteuer. Wäre ich nur nicht so unartig gewesen. Aber ich war krank, wissen Sie. Ich bin tagsüber so nervös, dann kann ich nicht schlafen — und dann kann ich wieder nicht arbeiten. Schließlich werde ich unleidlich.“
„Geht es Ihnen augenblicklich nicht gut, Fräulein Jahrmann?“
„Ach nein. Jenny und Gunnar arbeiten — alle außer mir arbeiten. Wie geht es mit Ihrer Arbeit — gut? — Haben Sie nicht Freude daran? Ich sitze übrigens jetzt nachmittags für Jenny. Heute habe ich frei. Ich glaube, sie tut es nur, damit ich nicht so allein sein und grübeln soll. Mitunter fährt sie mit mir hinaus, jenseits der Mauern. Sie ist ganz wie eine Mutter zu mir. Mia cara mammina. “
„Sie lieben Ihre Freundin sehr?“
„Sie ist so gut, so gut. Ich bin krankhaft und zerrissen. Keiner außer Jenny hält es auf die Dauer mit mir aus. Sie ist aber so klug und so begabt und energisch. Und schön — finden Sie sie nicht entzückend? Sie sollten ihr Haar sehen, wenn es offen niederfällt! Wenn ich ein artiges Kind bin, darf ich es kämmen und aufstecken —. Wir sind schon da,“ sagte sie dann.
Sie klommen eine unheimlich düstere Steintreppe hinauf: „Daraus darf man sich aber nichts machen. Unser Aufgang ist noch schlimmer; Sie werden es ja sehen, [S. 66] wenn Sie kommen und uns besuchen. Kommen Sie doch einen Abend; wir sehen dann, daß wir die anderen erwischen und gehen auf einen gediegenen Romabummel. Den letzten habe ich ja doch völlig verdorben.“
Sie läutete im obersten Stockwerk. Eine nett und gemütlich aussehende Frau öffnete ihnen. Sie führte sie in ein kleines Zimmer mit zwei Betten. Das Fenster ging auf einen grauen Hinterhof hinaus, vor den Fensterläden hing Wäsche, aber überall auf den Balkons standen Blumen, und hoch oben auf den grauen Dächern lagen Loggien und Lauben zwischen grünen Büschen.
Franziska redete endlich mit der Wirtin, während sie gleichzeitig in den Ofen guckte, die Betten befühlte und ihm zwischendurch Aufklärungen gab:
„Sonne ist hier den ganzen Vormittag. Wenn das eine Bett herauskommt, so ist hier reichlich Platz. Der Ofen sieht ordentlich aus. Es kostet vierzig Lire ohne Licht und Heizung und zwei für servizio . Das ist billig. Soll ich ihr sagen, daß Sie es annehmen? Sie können morgen einziehen, wenn Sie wollen!“ —
„Nichts zu danken. Sie können sich doch vorstellen, daß es mir Freude macht, Ihnen ein wenig zu helfen,“ sagte sie draußen auf der Treppe. „Wenn es Ihnen nur gefällt. Signora Papi ist sehr sauber, das weiß ich.“
„Gewiß eine seltene Tugend hierzulande?“
„Oh nein. Sie sind nicht anders als die Vermieterinnen daheim in Kristiania, glaube ich. Dort, wo meine Schwester und ich wohnten, in der Holbergstraße — ich hatte ein paar neue Lackschuhe unter das Bett gestellt — getraute mich aber nicht, sie wieder hervorzuholen. Manchmal guckte ich nach ihnen — sie standen da und sahen aus wie zwei weiße zottige Lämmchen.“
„Ja,“ sagte Helge. „Ich habe ja immer zuhause gewohnt.“
Franziska lachte plötzlich laut auf:
„Denken Sie, die Signora glaubte, ich sei Ihre moglie — daß wir beide dort wohnen sollten. Ich sagte, ich sei Ihre Kusine; sie kaute übrigens ein bißchen [S. 67] drauf herum. Cugina — das gilt sicher gleich wenig überall auf der Welt!“
Sie lachten beide einen Augenblick darüber.
„Haben Sie Lust zu einem Spaziergang?“ fragte Franziska plötzlich. „Wollen wir auf die Ponte Molle hinausgehen? Sind Sie schon dort gewesen? Können Sie auch noch so weit laufen? Wir fahren mit der Straßenbahn nach Hause, wissen Sie.“
„Können Sie auch noch — Sie sind doch nicht wohl?“
„Es tut mir gerade gut, zu laufen — bitte geh’, sagt Gunnar immer — ich meine Heggen.“
Sie plauderte ununterbrochen und lugte ab und an zu ihm hinauf, um sich zu überzeugen, daß sie ihn gut unterhalte. Sie gingen den neuen Weg längs des Tiber hinauf; der Strom wälzte sich gelblichgrau zwischen den grünen Hügeln dahin. Kleine perlmuttschimmernde Wölkchen lagen über des Monte Mario dunklem Gebüsch mit graugelben Villen zwischen den immergrünen Bäumen.
Franziska grüßte einen Konstabler und lachte zu Gram hinüber:
„Denken Sie sich, dieser Bursche hat mich heiraten wollen. Ich ging hier viel allein spazieren und dann pflegte ich mit ihm zu plaudern. Da fragte er mich. Der Sohn unseres Tabakhändlers hat übrigens auch um mich angehalten. Jenny schalt mich aus, sie sagte, es sei meine eigene Schuld, und das war es vielleicht auch.“
„Ich finde, Fräulein Winge schilt Sie recht oft. Sie scheint eine strenge Mama zu sein?“
„Nur, wenn ich es verdiene. Hätte es doch schon früher jemand getan,“ — sie seufzte. „Aber daran hat leider niemand gedacht.“
Helge Gram fühlte sich frei und leicht, wie er mit ihr dahinschritt. Etwas unsagbar Weiches lag über ihr, über dem Gang, der Stimme, dem Antlitz unter dem großen rauhen Glockenhut. Es war fast, als könne er Jenny Winge nicht recht leiden, wenn er jetzt an sie dachte — sie hatte so selbstsichere hellgraue Augen — und solch [S. 68] fürchterlichen Appetit. Cesca erzählte eben, daß sie in diesen Tagen fast nichts essen könne.
Und er sagte:
„Fräulein Winge ist gewiß eine junge Dame, die ganz von ihrer Eigenart durchdrungen ist?“
„Ja, weiß Gott, sie hat Charakter. Denken Sie — sie wollte immer schon malen. Mußte aber Lehrerin werden. Oh, wie hat sie gearbeitet! Ja, das sieht man ihr jetzt nicht an. Sie ist so stark, daß sie sich immer sofort wieder aufrichtet. Aber als ich sie zuerst auf der Malschule traf, da lag etwas Hartes und Verschlossenes — etwas Gepanzertes, sagt Gunnar, — über ihr. Sie war erschreckend zurückhaltend. Ich lernte sie gar nicht recht kennen, ehe sie hier herunter kam. Die Mutter ist zum zweiten Male Witwe — sie heißt jetzt Berner — drei kleine Stiefgeschwister sind auch da. Denken Sie nur, sie hatten zwei kleine Zimmer, und Jenny schlief in einer winzigen Mädchenkammer, arbeitete und studierte und bildete sich nebenher aus und half der Mutter mit Geld und auch im Hause; sie hatten kein Mädchen. Freunde oder Bekannte besaß sie nicht, wenn sie zu kämpfen hat, schließt sie sich gleichsam in sich ein, sie will nicht klagen; ist das Glück aber mit ihr, so ist es, als öffne sie die Arme allen, die eine Stütze an ihr suchen.“
Franziskas Wangen glühten. Sie schlug ihre großen Augen voll zu ihm auf:
„Ich, sehen Sie, ich habe keine Hindernisse gehabt außer denen, die ich mir selbst in den Weg legte. Ich bin etwas hysterisch, und dann lasse ich meine eigenen Stimmungen mit mir durchgehen. Aber Jenny spricht mit mir darüber; sie sagt, alles Leid, das uns begegnet, und nicht wieder gut zu machen ist, haben wir selbst verschuldet. Wenn man seinen Willen nicht genügend in der Gewalt hat, um seine Stimmungen und Handlungen zu beherrschen, wenn man nicht mehr Herr über sich selber ist, tut man am besten, sich zu erschießen, sagt Jenny.“
Helge blickte lächelnd auf sie nieder: „Sagt Jenny,“ und „Gunnar sagt,“ und „ich hatte einen Freund, der [S. 69] zu sagen pflegte“. Wie jung und vertrauensvoll sie doch war.
„Für Fräulein Winge gelten vielleicht andere Gesetze als für Sie,“ meinte er. „Können Sie sich das nicht denken, — so verschieden wie Sie sind, — selbst der Begriff ‚Leben‘ hat für zwei Menschen eine verschiedene Bedeutung.“
Sie waren auf die Brücke hinaussgelangt. Franziska lehnte sich über die Brüstung. Weiter oberhalb des Stromes am Fuße des bräunlichgrünen Hügels lag eine Fabrik, deren hoher schlanker Schornstein das geschäftige gelbe Wasser zitternd widerspiegelte. Weit hinter der welligen Ebene zeigten sich die Höhen der Sabinerberge, lehmgrau und kahl mit bläulichen Klüften und schneebedeckten Felsen im Hintergrund.
„Das hat Jenny gemalt, aber in glühroter Abendsonne Fabrik und Schornstein von rotem Lichte übergossen. Und die Stimmung, die nach einem so heißen Tage herrscht, an dem man die Felsen vor Dunst nicht sehen kann, höchstens einen leisen Schimmer des Schnees hoch oben in dem schweren, metallenen Blau. Und dazu Wolken, große Wolken über dem Schnee. Es ist schön, ich muß Jenny bitten, es Ihnen zu zeigen.“
„Kann man hier etwas Wein bekommen?“ fragte er.
„Es wird bald kühl, aber einen Augenblick können wir wohl draußen sitzen.“
Sie schlug den Weg über den runden Platz hinter der Brücke ein. Unter allen Osterien wählte sie einen kleinen Garten. Hinter einer Art Schuppen mit Tischen und Rohrstühlen stand eine Bank unter kahlen Ulmen. Vor dem Garten lag eine grüne Wiese, dahinter erhob sich der Hügel jenseits des Stroms dunkel gegen den fahlen bewölkten Himmel.
Franziska brach einen Zweig von den Holunderbüschen längs des Gitters. Er trug kleine, grüne, frische Knospen, deren Spitzen in der Kälte schwarz angelaufen waren.
„Sehen Sie her, so stehen sie und schlagen aus und [S. 70] frieren den ganzen Winter. Und wenn der Lenz kommt, hat der Winter ihnen doch nichts anhaben können.“
Als sie den Zweig beiseite legte, ergriff er ihn. Er behielt ihn die ganze Zeit in der Hand.
Sie hatten sich Weißwein bestellt. Franziska mischte den ihren mit Wasser und nippte nur. Dann lächelte sie flehend:
„Wollen Sie mir eine Zigarette geben?“
„Mit Vergnügen, — wenn Sie es vertragen?“
„Ach, ich rauche ja jetzt fast gar nicht mehr. Meinetwegen unterläßt es auch Jenny fast ganz. Heute Abend übrigens vermute ich, daß sie sich wieder etwas zu Gemüte führt. Sie ist mit Gunnar zusammen.“
Das Licht des Zündhölzchens beleuchtete Franziskas lächelndes Antlitz.
„Sie dürfen es aber Jenny nicht erzählen, daß ich geraucht habe, hören Sie?“
„Nein, nein.“ Er lachte.
„Ja.“ Sie blies den Rauch gedankenvoll vor sich hin. „Ich wünschte so sehr, daß Jenny und Gunnar sich verheirateten. Ich fürchte aber, sie tun es nicht, — sie sind immer so gute Freunde gewesen. Dann verliebt man sich nicht so leicht ineinander, nicht wahr? Nicht in jemanden, den man von früher her so gut kennt. Sie sind sich im Grunde auch so ähnlich. Es sind aber die Gegensätze, die sich anziehen, sagt man. Ich finde, es ist dumm eingerichtet auf diese Weise — aber es stimmt sicher. Es wäre viel besser, man liebte jemanden, mit dem man geistesverwandt ist. Dann gäbe es die Not und das Leid nicht, die Liebe immer begleiten. Glauben Sie nicht auch? — Denken Sie, Gunnar stammt aus einer armen Häuslerfamilie drunten in Smaalene. Er kam aber nach Kristiania — eine Tante von ihm auf Grünerlökken nahm ihn zu sich, weil es bei ihm zu Hause sehr ärmlich zuging. Damals war er erst neun Jahre alt und mußte schon Wäsche austragen, die Tante hatte nämlich eine Plätterei, und später kam er in die Handwerkslehre. Was er kann und weiß, hat er sich [S. 71] selbst angeeignet. Er muß immer studieren, alles interessiert ihn dermaßen, daß er es bis auf den Grund kennen lernen muß. Jenny sagt, er vergißt ganz das Malen; jetzt hat er so gründlich Italienisch gelernt, daß er alle Bücher lesen kann, auch Verse. Jenny ist ebenso. Sie hat furchtbar viel gelernt, nur weil es sie interessierte. Ich kann aus Büchern niemals etwas lernen — ich bekomme Kopfschmerzen vom Lesen. Aber Jenny und Gunnar erzählen mir. Das behalte ich dann. Sie wissen sicher auch sehr viel. — Können Sie mir nicht ein wenig über ihr Studium erzählen? Das Schönste, das ich kenne, ist, wenn jemand mir erzählt. Das behalte ich gut.
Gunnar hat mich auch Malen gelehrt. Ich zeichnete immer als Kind — es fiel mir so leicht. Dann traf ich ihn einmal im Gebirge vor drei Jahren — ich war dort oben, um zu arbeiten. Ein wenig kannte ich ihn ja von früher her. Ich war also dort und malte Bilder — furchtbar ordentlich, aber ohne jede Spur von Kunst. Ich wußte es selbst sehr gut, kannte aber den Grund nicht. Ich wollte etwas in meine Bilder hineinbringen, aber ich wußte nicht recht, was, und ich ahnte nicht, wie ich mich dabei anstellen sollte. Aber dann sprach ich mit ihm. Zeigte ihm meine Sachen. Er konnte viel weniger als ich — ich meine technisch. Er ist auch nur ein Jahr älter als ich. Was er aber gelernt hatte, das beherrschte er. Ja, ich malte dann zwei Sommernachtsbilder. Dieses wundersame clairobscur — alle Farben liegen so tief, sind aber doch leuchtend stark. — Natürlich waren die Bilder nicht gut. Aber etwas war in ihnen, wie ich es haben wollte — ich konnte sehen, daß ich sie gemalt hatte, und nicht irgend ein anderes Mädel, das ein bißchen gelernt hatte —. Verstehen Sie mich? Ich habe ein Motiv hier draußen gefunden: einen anderen Weg zur Stadt. Wir gehen einmal da herunter. Es ist ein Weg zwischen zwei Gartenmauern — ganz schmal. An einer Stelle stehen zwei Portale im Barockstil mit Eisengittern. An jeder Seite erhebt sich eine Zypresse. Ich habe ein paar [S. 72] Federzeichnungen gemacht und sie ausgetuscht. Ueber den Zypressen schwebt eine schwere, tiefblaue Wolke, ein Schimmer von grünlicher Luft und ein blinkender Stern; Dächer und Kuppeln der Stadt weit, weit drinnen sind nur leise angedeutet —. Es sollte so ein gewisses Pathos haben, wissen Sie —.“
Es begann bereits stark zu dämmern. Ihr Antlitz leuchtete bleich unter dem Hut.
„Nicht wahr, finden Sie nicht — ich muß wieder gesund werden, um zu arbeiten —.“
„Ja,“ flüsterte er. „Ach ja — Liebste —.“
Er hörte, wie schwer sie atmete. Ein Weilchen war es still. Dann sagte er leise:
„Wieviel Freude Sie an Ihren Freunden haben, Fräulein Jahrmann.“
„— Und ich wünschte, daß alle Menschen meine Freunde wären. Ich will allen gut sein, verstehen Sie.“ Sie sagte das ganz leis, während sie tief aufatmete.
Helge Gram beugte sich plötzlich nieder und küßte ihre Hand, die weiß und klein auf dem Tische vor ihm lag.
„Ich danke Ihnen,“ flüsterte Franziska still.
Sie saßen einen Augenblick schweigend.
„Wir müssen gehen, lieber Freund, es wird jetzt so kalt ...“
Am nächsten Tage, als er Einzug in sein neues Zimmer hielt, stand auf dem Tisch mitten im Sonnenschein ein Majolikakrug mit kleinen blauen Iris. Die Signora erklärte, die Kusine hätte sie gebracht.
Als Helge allein war, beugte er sich über die Blumen und küßte sie alle — eine nach der anderen.
Helge Gram fühlte sich wohl in seinem neuen Zimmer unten an der Ripetta. Er hatte die Empfindung, als arbeite es sich leicht und gut an dem kleinen Tisch vor dem Fenster mit dem Blick auf den Hof, trocknende [S. 73] Wäsche und die Blumentöpfe auf den Balkons. Die Familie gerade gegenüber hatte zwei kleine Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, etwa sechs bis sieben Jahre alt. Kamen sie auf ihren kleinen Altan heraus, so nickten und winkten sie Helge zu, und er winkte wieder. In letzter Zeit hatte er auch der Mutter einen Gruß zugenickt. Diese kleine Bekanntschaft aus der Ferne gab ihm ein warmes, trauliches Gefühl. — Vor ihm stand Cescas Vase; er versäumte nicht, sie immer mit frischen Blumen zu füllen. Signora Papi konnte sein Italienisch gut verstehen. Es käme daher, daß sie dänische Mieter gehabt hatte, sagte Cesca; Dänen könnten ja fremde Sprachen nicht lernen.
Wenn die Signora bei ihm zu tun gehabt hatte, blieb sie immer eine Ewigkeit in der Türe stehen und plauderte. Meist über die „Kusine“. „ Che bella “, sagte Signora Papi. Einmal war Franziska allein bei ihm gewesen, und einmal zusammen mit Jenny — beide Male, um ihn zum Tee einzuladen. — Wenn Frau Papi schließlich unter Entschuldigungen wegen der Störung, selber unterbrach und verschwand, dann lehnte Helge sich weit zurück in seinem Stuhl, die Arme im Nacken verschränkt. Er dachte an sein Zimmer daheim — neben der Küche, wo Mutter und Schwester während ihrer Arbeit von ihm sprachen, laut, bekümmert, mißbilligend. Er konnte jedes Wort verstehen — was wohl auch beabsichtigt war. Oh, jeder Tag hier unten wurde ihm zu einem kostbaren Gnadengeschenk. Endlich, endlich hatte er Frieden, konnte arbeiten, arbeiten.
Die Nachmittage brachte er in Museen und Bibliotheken zu. Doch in der Dämmerung, so oft er meinte, daß es anging, schaute er zu den beiden Malerinnen hinauf in der Via Vantaggio und trank den Tee bei ihnen.
Gewöhnlich waren sie beide daheim. Mitunter traf er andere Gäste — Heggen und Ahlin sogar sehr häufig. Zweimal hatte er Jenny allein angetroffen und einmal nur Franziska.
Sie hielten sich immer in Jennys Zimmer auf. [S. 74] Dort war es warm und gemütlich, obgleich die Fenster offen standen, bis der letzte blaue Abendschein erloschen war.
Es glühte und knisterte im Ofen und der Wasserkessel summte auf dem Spiritusapparat. Helge kannte jetzt jeden Gegenstand im Raume — die Studien und Photographien an den Wänden, die blumengefüllten Vasen, das blaue Teeservice, den Bücherständer neben dem Bett und die Staffelei mit Franziskas Bild. Ein wenig unordentlich sah es hier immer aus, der Tisch vorm Fenster war bedeckt mit Tuben und Farbenkästchen, Skizzenbüchern und fliegenden Blättern. Jenny schob mit dem Fuße Pinsel und Malerlumpen, die auf dem Boden umherlagen, unter den Tisch, während sie damit beschäftigt war, den Teetisch zurechtzumachen. Häufig lagen Nähzeug und halbfertig gestopfte Strümpfe auf dem Sofa, die sie beiseite räumte, wenn sie sich niedersetzte, um Keks zu streichen. Dann erhob sie sich wieder, und stellte ein Spirituslämpchen an seinen Platz, das immer irgendwo im Zimmer herumstand.
Unterdes pflegte er mit Franziska in der Ofenecke zu sitzen und zu erzählen. Es geschah auch, daß Cesca plötzlich die Idee hatte, häuslich zu sein; Jenny sollte sich setzen und feiern. Jenny wollte es nicht zugeben, aber Cesca räumte auf wie ein Wirbelwind und verstaute alle umherliegenden Kostbarkeiten an Orten, wo Jenny sie niemals wiederfand. Zuletzt klopfte sie fehlende Reißzwecken in die schief hängenden Bilder, die sich auf den Wänden zusammenrollten, wobei sie ihren eigenen Schuh als Hammer benutzte.
Gram konnte nicht recht klug aus Franziska werden. Sie war immer freundlich und liebenswürdig gegen ihn, niemals aber so von innen heraus vertraulich wie an jenem Tage auf der Ponte Molle. Mitunter schien sie so eigentümlich geistesabwesend — es war, als erfaßte sie überhaupt nicht, was er sprach, obgleich sie freundlich antwortete. Einige Male hatte er das Gefühl, als ob er sie ermüde. Fragte er, wie es ihr ginge, so antwortete sie meist überhaupt nicht. Und als er einmal ihr Bild [S. 75] mit den Zypressen erwähnte, sagte sie, allerdings auf eine sehr liebe Art:
„Sie dürfen nicht böse sein, Gram, aber ich möchte nicht von meiner Arbeit sprechen, solange sie nicht fertig ist, jedenfalls nicht jetzt.“
Eine gewisse Ermunterung bedeutete es ihm, als er merkte, daß Bildhauer Ahlin ihn nicht leiden konnte. Der Schwede sah also immerhin einen Rivalen in ihm —. Im übrigen hatte er den Eindruck gewonnen, als ob Franziska sich von Ahlin zurückgezogen hätte.
Wenn er für sich allein war, malte Helge sich in Gedanken aus, was er Cesca erzählen wollte und führte im Geiste lange Gespräche mit ihr. Er sehnte sich danach, mit ihr zu sprechen wie an jenem Tage an der Ponte Molle, er wollte ihr zum Dank für ihr Vertrauen von seinem eigenen Leben berichten. Wenn er sie aber traf, so war er unsicher und nervös und wußte nicht, wie er das Gespräch auf das lenken sollte, worüber er zu sprechen wünschte. Er fürchtete, aufdringlich oder taktlos zu erscheinen, etwas zu tun, wodurch er in ihren Augen verlieren könnte. Sie fühlte seine Verlegenheit wohl und kam ihm zu Hilfe, verwickelte ihn in einen Wortstreit, kicherte mit ihm, so daß es ihm ein Leichtes wurde, auf den Neckton einzugehen und in ihr Lachen einzustimmen —. Im Augenblick war er ihr dankbar, sie füllte leicht und behende alle Pausen aus und half ihm, jedesmal, wenn er sich festgefahren hatte, wieder weiter. Erst hinterher, zu Hause, empfand er die Enttäuschung. Es war wieder nichts anderes gewesen als Geplauder über allerlei muntere Nichtigkeiten.
War er aber mit Jenny allein, so wurde immer ein vernünftiges Gespräch über solide Dinge geführt. Hin und wieder fand er diese ernsten Diskussionen über abstrakte Materien etwas ermüdend. Aber häufig liebte er auch diese Unterhaltungen, weil das Gespräch von allgemeinen Verhältnissen auf seine persönlichen überging. Nach und nach erzählte er ihr sehr viel von sich selber, von seiner Arbeit, den Schwierigkeiten, die sich ihm nach [S. 76] seiner Ansicht in äußeren Umständen wie in seinem eigenen Wesen entgegenstellten. Daß Jenny Winge nicht von sich selbst sprach, merkte er kaum, wohl aber, daß sie es vermied, das Problem Franziska mit ihm zu erörtern.
Es fiel ihm auch nicht auf, daß er so wie mit Jenny niemals mit Franziska würde reden können, die ihn für weit weit bedeutender, stärker und sicherer halten würde, als er in seinen eigenen Augen war —.
Weihnachtsabend waren sie alle im Verein gewesen und gingen darauf zur Mitternachtsmesse in die S. Luigi dei Franchesi.
Helge fand die Messe zuerst sehr stimmungsvoll. In der ganzen Kirche herrschte Halbdunkel trotz der schimmernden Kristallkronen, die freilich hoch oben unter der Decke schwebten. Die Altarwand war ein einziges Lichtmeer, aus dem weichen, goldenen Schein unzähliger Wachslichter zusammenfließend. Chorgesang und Orgelton zitterten gedämpft durch den Kirchenraum. — Er saß neben einer schönen Italienerin, die einem sammetgefütterten Juwelenkästchen einen Rosenkranz aus Lapislazuli entnahm und in ein andächtiges Gebet versank.
Nach einer kurzen Zeit aber begann Franziska halblaut zu murren. Sie saß mit Jenny auf der Bank vor ihm.
„Ach Jenny, wir wollen gehen. Ist das vielleicht Weihnachtsstimmung? Das ist ja nur ein gewöhnliches Konzert. Hör doch den Burschen, der jetzt singt; ganz ohne Ausdruck, die Stimme ist obendrein überschrieen. Pfui!“
„Still, Cesca, denk daran, daß wir in einer Kirche sind.“
„Kirche — pah. Dies hier ist ja ein Konzert — wir mußten sogar Eintrittskarten und Programme haben. Greuliches Konzert — es nimmt mir die ganze Laune.“
„Ja, ja, wir gehen, wenn diese Nummer zu Ende ist. Schweig jetzt aber, solange wir noch hier sind.“
„Nein,“ plauderte Cesca, „Sylvester im vorigen Jahre. Ich war in Gesu — da war Stimmung. Te Deum. [S. 77] Ich kniete neben einem alten Bauern aus der Campagna und einem jungen Mädchen, das krank war — und so schön. Alle Menschen sangen, der alte Bauer konnte das ganze Te Deum auf Lateinisch. Das war stimmungsvoll!“
Während sie sich leise einen Weg durch die überfüllte Kirche bahnten, erklang das Ave Maria durch den Raum.
„Ave Maria,“ Franziska blies verächtlich durch die Nase. „Hört ihr nicht, sie denkt überhaupt nicht an das, was sie singt — wie ein Phonograph. Ich ertrage es nicht, wenn solche Musik derartig mißhandelt wird.“
„Ave Maria,“ sagte ein Däne, der neben ihr ging. „Ich erinnere mich da einer jungen norwegischen Dame — wie sang sie es doch herrlich. Ein Fräulein Eck.“
„Berit Eck — kennen Sie die, Hjerrild?“
„Sie war vor zwei Jahren in Kopenhagen und sang mit Ellen Bech dort. Ich kannte sie ziemlich genau. Sie kennen sie auch, Fräulein Jahrmann?“
„Meine Schwester war mit ihr bekannt,“ sagte Franziska. „Richtig, Sie trafen doch meine Schwester Borghild in Berlin. Mögen Sie Fräulein Eck — Frau Herrmann heißt sie jetzt übrigens?“
„Sie war ein ganz reizendes Mädchen — entzückend. Und ungewöhnlich begabt.“
Franziska blieb mit Hjerrild zurück.
Es war verabredet, daß Heggen, Ahlin und Gram bei den Damen zu Abend essen sollten — Franziska hatte eine Weihnachtskiste von zu Hause bekommen. Man hatte norwegischen Weihnachtskäse auf den Tisch gebracht, der mit Tausendschön aus der Campagna und Kerzen in siebenarmigen Leuchtern geschmückt war.
Franziska trat als letzte ein und hatte den Dänen mitgebracht.
„Ist es nicht nett, Jenny — daß Hjerrild mit kam?“
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Es stellte sich heraus, daß es sowohl Bier wie auch Genfer Likör zu Tisch gab. Und norwegische Butter, braunen Käse und kalten Auerhahn, Sülze und Räucherschinken.
Franziska hatte neben Hjerrild Platz genommen, und sobald das Gespräch am Tisch sich belebte, wandte sie sich an ihn.
„Kennen Sie den Pianisten Herrmann, mit dem Fräulein Eck sich verheiratet hat?“
„Ja, sehr gut. Ich habe in einem Pensionat mit ihm gewohnt, in Kopenhagen, und jetzt in Berlin traf ich ihn wieder.“
„Wie finden Sie ihn?“
„Er ist ein netter Mensch. Ungeheuer begabt — er schenkte mir seine letzten, nach meiner Meinung äußerst originellen Kompositionen. Ja. Ich mag ihn recht gut leiden.“
„Haben Sie die Kompositionen mit? Darf ich sie nicht einmal sehen? Ich würde gern in den Verein gehen und sie durchspielen. Wir waren in früheren Zeiten befreundet,“ sagte Franziska.
„Richtig! Jetzt entsinne ich mich. Er besitzt Ihre Photographie! Er wollte mir nicht erzählen, wer es war.“
„Ja, das stimmt,“ sagte Franziska leise. „Er bekam wohl einmal ein Bild von mir, glaube ich.“
„Im übrigen —“ Hjerrild leerte sein Glas — „ist er ein wenig zu brutal, kann unglaublich rücksichtslos sein. Aber — vielleicht ist es eben das, was ihn bei den Frauen unwiderstehlich macht. Mir persönlich war er mitunter etwas zu sehr — Prolet.“
„Eben das ist es.“ Sie suchte nach Worten. „Das bewunderte ich gerade so an ihm. Daß er sich von unten herauf durchgekämpft hatte zu dem, was er jetzt ist. So ein Kampf muß brutal machen, finde ich. Ja — meinen Sie nicht, es entschuldigt sehr viel — fast alles?“
„Halt, Cesca,“ sagte Heggen plötzlich: „Hans Herrmann wurde entdeckt, als er dreizehn Jahre alt war — und seitdem hat man ihm geholfen.“
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„Ja — aber fremde Hilfe annehmen — und für alles danken müssen! Immer fürchten müssen, nicht genug beachtet, übersehen, daran erinnert zu werden, daß er — nun wie Hjerrild sagte, ein Proletarierkind war.“
„Ich kann auch darauf pochen, daß ich ein Proletarierkind bin.“
„Nein, das kannst du nicht, Gunnar. Du bist immer erhaben über deine Umgebung gewesen, dessen bin ich sicher. Wenn du in einen Kreis kamst, der in sozialer Hinsicht höher stand als der, in welchem du geboren bist — so warst du auch dort schon der Ueberlegene, wußtest mehr, warst klüger, dachtest vornehmer. Du hast immer in dem starken Bewußtsein leben dürfen, daß du dir alles selbst erkämpft und erarbeitet hast. — Du warst niemals gezwungen, anderen Menschen zu danken, von denen du wußtest, daß sie vielleicht auf dich herabsahen um deiner Herkunft willen — Snobs, die sich etwas darauf zugute taten, einer Begabung hilfreiche Hand zu leisten, von deren Größe sie keinen Dunst hatten, die dir innerlich unterlegen waren und glaubten, über dir zu stehen; du brauchtest niemandem zu danken, gegen den du keine Dankbarkeit empfandest. Du kannst nicht von den Gefühlen des Proletariers reden, Gunnar. Du hast ja niemals gewußt, was das heißt.“
„Ein Mensch, Cesca, der solche Hilfe annimmt — von Leuten, denen gegenüber er Dankbarkeit nicht empfinden kann — ist ein unverbesserliches Individuum der Unterklasse.“
„Aber begreifst du denn das nicht, Junge? Man handelt so, wenn man weiß, daß man Talent hat, vielleicht ein Genie ist, das nach Entwicklung verlangt. Im übrigen, du: der du sagst, du seiest Sozialdemokrat, du solltest nicht von Individuen der Unterklasse sprechen, finde ich.“
„Ein Mensch, der vor seinem eigenen Talent Achtung hat, prostituiert es nicht. Und was den Sozialdemokraten betrifft: Sozialdemokratie, das ist das Verlangen nach Gerechtigkeit. Aber die Gerechtigkeit fordert, daß Leute von seiner Art unterdrückt, auf den Boden der [S. 80] menschlichen Gesellschaft niedergepreßt, mit Ketten und Peitschen niedergehalten werden. Die tatsächliche, legitime Unterklasse muß gebändigt werden.“
„Das ist ein eigentümlicher Sozialismus,“ lachte Hjerrild.
„Es gibt keinen anderen — für reife Menschen. Ich rechne nicht mit den hellen blauäugigen Kinderseelen, die da glauben, alle Menschen seien gut und an dem Bösen sei die Gesellschaft schuld. Wären alle Menschen gut, so wäre die soziale Gemeinschaft ein Paradies. Die Proletarierseelen sind es aber gerade, die das Schlechte hineintragen. Sie sind in allen Gesellschaftsklassen zu finden: sind sie die Herren, so sind sie grausam und brutal; dienen sie, so sind sie kriechend und heuchlerisch und faul. Ich habe genug von dieser Sorte in den Reihen der Sozialdemokraten angetroffen. — Ja, Herrmann rechnet sich ja auch zu den Sozialisten. Wenn sie ein Paar Hände finden, die sie vorwärtsbringen wollen, so nehmen sie die Hilfe an, um hinterher auf diesen selben Händen herumzutrampeln. Wittern sie einen Trupp, der vorwärtsmarschiert, so schließen sie sich ihm an, um Teil an der Beute zu haben — Loyalität aber, Kameradschaftsgefühl, das besitzen sie nicht. Das Ziel — sie verlachen es insgeheim. Die Gerechtigkeit — sie hassen sie im Grunde, denn sie wissen ja, wenn sie siegt, so geht es ihnen übel. — Alle, die die Gerechtigkeit fürchten, nenne ich eben das legitime Proletariat, das bekämpft werden muß, schonungslos. Hat es Macht über die Armen und Schwachen, so quält und tyrannisiert es sie und macht auch sie zu Proletariern. Ist es selber arm und schwach, so kämpft es nicht — nein, es bettelt und heuchelt sich vorwärts und überfällt jeden hinterrücks, wenn es seinen Vorteil darin erblickt. — Das Ziel muß eine Gemeinschaft sein, in welcher die Oberklassenindividuen die Führer sind. Denn diese kämpfen niemals für sich selbst, sie sind sich ihrer eigenen unerschöpflichen Quellen wohl bewußt, sie verschwenden sie an die Armen, kämpfen um Licht und Luft für jedes schwache Zeichen von Gutem und Schönem, das sich bei den [S. 81] kleinen Seelen zeigt, die weder das eine noch das andere sind, gut, wenn sie sichs leisten können, schlecht, wenn das Proletariat sie dazu zwingt. Das Ziel ist, daß diejenigen zur Macht gelangen, die ein Verantwortungsgefühl haben für jede kleinste gute Regung, die unterdrückt wird.“
„Du verstehst trotzdem Hans Herrmann nicht,“ sagte Franziska leise. „Er war nicht nur um seiner selbst willen aufgebracht über das soziale Unrecht. Die kleinen guten Seelen, die untergingen — er war es, der von ihnen sprach, oh ja. Wenn wir einen Spaziergang nach dem Osten der Stadt machten und die kleinen blassen Kinder in den häßlichen, trüben, überfüllten Kasernen sahen, die er, wie er sagte, am liebsten in Brand stecken würde.“
„Phrasen. Wenn er die Hausmiete zu bekommen hätte —.“
„Pfui, Gunnar,“ sagte Franziska heftig.
„Ja, ja, er wäre eben kein Sozialist gewesen, wenn er reich geboren wäre. Aber ein ebenso unverfälschter Proletarier.“
„Bist du dessen so sicher, daß du Sozialdemokrat gewesen wärst?“ sagte Franziska — „wenn du — nun als Graf zum Beispiel geboren wärest?“
„Heggen ist ein Graf,“ lachte Hjerrild, „über viele luftige Schlösser.“
Heggen warf den Kopf nach hinten und schwieg einen Augenblick.
„Ich habe jedenfalls niemals das Gefühl gekannt, arm geboren zu sein,“ sagte er, mehr für sich.
„Nun ja,“ ließ sich Hjerrild vernehmen. „Um auf Herrmanns Kinderliebe zurückzukommen — um seinen eigenen kleinen Jungen kümmert er sich nicht viel. Und die Art und Weise, wie er sich gegen sie benahm, war auch recht häßlich. Erst drohte und bettelte er, daß sie sein wurde und als sie dann ein Kind bekommen sollte, mußte sie sicher drohen und betteln, daß er sie heiratete.“
„Haben sie einen kleinen Jungen?“ flüsterte Franziska.
„Ja ja. Der kam, als sie sechs Wochen miteinander verheiratet waren — gerade in den Tagen, als ich Berlin [S. 82] verließ. Herrmann war nach Dresden gereist und hatte sie im Stich gelassen, nachdem sie einen Monat zusammen gehaust hatten. Ich begreife nicht, warum er sie nicht etwas früher heiraten konnte. Es war ja abgemacht, daß sie wieder geschieden werden sollten und sogar ihr eigener Wille.“
„Pfui!“ sagte Jenny. Sie hatte dem Gespräch eine ganze Zeit gelauscht. „Daß man hingeht und sich verheiratet mit dem Vorsatz, sich hinterher wieder scheiden zu lassen!“
„Herrgott.“ Hjerrild lachte ein wenig. „Wenn man einander außen und innen kennt, und weiß, daß man nicht miteinander fertig wird.“
„Dann muß man das Heiraten lassen.“
„Gewiß. Der freie Zustand ist ja weit schöner. Aber Herrgott, sie mußte ja. Sie will nächsten Herbst ein Konzert in Kristiania geben und muß sehen, daß sie Gesangschüler bekommt. Das würde ihr aber als unverheirateter Frau mit einem Kinde unmöglich sein. Armes Ding!“
„Mag sein. — Aber ekelhaft ist es darum doch. Wenn Sie unter freien Zuständen das verstehen, daß sich Leute miteinander einlassen, obgleich sie genau wissen, sie werden einander überdrüssig, so habe ich dafür kein Verständnis. Schon die Auflösung einer so ganz alltäglichen, platonisch bürgerlichen Verlobung .... ich finde, schon daran haftet immer ein Makel. Ist man aber einmal so unglücklich gewesen, sich zu irren — dann um der Leute willen noch diese abscheuliche Komödie spielen — eine blasphemische Trauung, wo man steht und Dinge gelobt, die man im voraus entschlossen ist, nicht zu halten! ...“
Die Gäste gingen erst beim Morgengrauen. Heggen blieb noch einen Augenblick zurück, nachdem die anderen fort waren.
Jenny öffnete die Balkontür um den Tabakrauch herauszulassen. Sie blieb stehen und sah hinaus. Der Himmel war schon fahlgrau mit einem schwachen rötlichgelben [S. 83] Schein über den Häuserdächern. Es war schneidend kalt. — Heggen trat an ihre Seite:
„Ich danke dir. So wäre also wieder einmal ein Weihnachtsabend dahin. Worüber sinnst du nach?“
„Daß jetzt der Weihnachtsmorgen anbricht. ... Ich möchte wissen, ob sie zu Hause meine Kiste rechtzeitig bekamen,“ sagte sie nach einer Weile.
„Sandtest du sie nicht am elften — dann ist sie wohl zur Zeit angekommen.“
„Hoffentlich. — Es war immer eine große Freude für uns, am Weihnachtsmorgen hineinzukommen und den Baum und die Geschenke bei Tageslicht zu besehen. Als ich noch klein war.“ Sie lachte leise. „Es ist viel Schnee gefallen dieses Jahr, schreiben sie. Dann sind sie wohl oben auf den Bergen heute, die Kinder.“
„Ja,“ sagte Heggen. Er schaute wie sie ein Weilchen in die Weite. „Aber, du erkältest dich, Jenny. Gute Nacht also — und für den heutigen Abend vielen Dank.“
„Gute Nacht. Fröhliche Weihnachten, Gunnar!“
Sie reichten einander die Hände. Nachdem er gegangen, blieb sie noch ein wenig stehen, ehe sie die Balkontür schloß und ins Zimmer trat.
Eines Tages — es war in der Weihnachtswoche — kam Gram in eine Trattoria, wo auch Jenny und Heggen saßen. Sie sahen ihn jedoch nicht, und während er seinen Mantel an den Nagel hängte, hörte er Heggen sagen:
„Er ist weiß Gott ein gefährlicher Bursche.“
„Ja, abscheulich,“ seufzte Jenny.
„Und dann verträgt sie das nicht, Teufel auch! In diesem scirocco — morgen ist sie natürlich wieder ganz entkräftet. Ans Arbeiten denkt sie wohl auch nicht und treibt sich nur mit diesem Kerl herum.“
„Nein, arbeiten? Aber ich kann doch nichts dazu tun. Sie marschiert gern von hier nach Viterbo mit [S. 84] ihm, in ihren kleinen, dünnen Lackschuhen trotz scirocco und allem, nur weil der Mensch ihr von Hans Herrmann erzählen kann.“
Gram grüßte im Vorübergehen. Jenny und Heggen machten eine Bewegung, als erwarteten sie, daß er sich zu ihnen setzen sollte. Er tat jedoch, als sähe er nichts und ließ sich weiter oben im Lokal an einem Tisch nieder, den Rücken ihnen zugekehrt.
Er verstand, daß sie von Franziska sprachen.
Beinahe täglich ging er hinauf zur Via Vantaggio. Er konnte es nicht unterlassen. Jetzt saß Jenny fast immer allein zu Hause und nähte oder las. Es schien, als freute sie sich, wenn er kam. Im übrigen fand er, daß sie sich in letzter Zeit ein wenig verändert hatte. Sie war nicht mehr so keck und sicher in ihren Aeußerungen, nicht mehr so aufgelegt zum Diskutieren und Dozieren. Sie schien traurig. Eines Tages fragte er, ob sie sich nicht wohl fühle.
„Wohl — oh doch. Wieso?“
„Ich weiß nicht recht — ich finde, Sie sind so still geworden, Fräulein Winge.“
Sie hatte eben die Lampe angezündet, so daß er sehen konnte, daß sie errötete.
„Ich werde vielleicht bald nach Hause reisen müssen. Meine Schwester hat Lungenspitzenkatarrh bekommen, und Mama ist so unglücklich.“ Sie schwieg einen Augenblick. „Und da bin ich freilich etwas betrübt. Wo ich doch so gern hier bleiben wollte — jedenfalls den Frühling hindurch.“
Sie nahm ihr Nähzeug zur Hand und begann zu arbeiten.
Helge grübelte darüber nach, ob Gunnar Heggen der Anlaß sei — er war sich niemals darüber klar geworden, ob zwischen den beiden etwas spielte. Zurzeit war Heggen, der, wie Helge gehört hatte, ein ziemlich leicht entzündbares Herz haben sollte, für eine junge dänische Krankenschwester entflammt, die sich als Pflegerin einer alten [S. 85] Dame in Rom aufhielt. — Jennys Erröten fand er so merkwürdig, es war ihm so neu an ihr.
An diesem Abend kam Franziska heim, ehe er ging. Er hatte sie seit Weihnachten wenig zu Gesicht bekommen und er wußte nun, daß er ihr vollkommen gleichgültig war. Von Launen oder kindischer Ungezogenheit konnte keine Rede mehr sein. Es war, als sähe sie andere Menschen nicht mehr — irgend etwas erfüllte sie vollständig. Mitunter ging sie umher wie eine Nachtwandlerin.
Er fuhr dennoch fort, Jenny aufzusuchen, entweder in der Trattoria, wo sie zu speisen pflegte, oder daheim auf ihrem Zimmer. Er wußte selber kaum, warum er es tat. Es war ihm aber, als verlange ihn danach, sie zu sehen.
An einem Nachmittag ging Jenny in Franziskas Zimmer, um nach einer Terpentinflasche zu suchen. Da lag Franziska auf ihrem Bett und erstickte ihr Schluchzen in den Kissen. Sie mußte sich heraufgeschlichen haben, Jenny hatte sie nicht kommen hören.
„Aber liebes Kind — was ist geschehen? Bist du krank?“
„Nein, geh nur, Jenny — liebe Jenny, geh. Nein, ich kann es dir nicht sagen; du sagst ja doch nur, es sei meine eigene Schuld.“
Jenny sah ein, daß es ihr nichts nützte, mit ihr zu reden. — Doch am Abend, als sie im Bett lag und las, schlüpfte Franziska plötzlich herein — im Nachthemd. Ihr Gesicht war rotfleckig und geschwollen vom Weinen.
„Darf ich heute Nacht bei dir schlafen, Jenny, ich kann nicht allein sein.“
Jenny machte Platz. Sie schwärmte nicht für diese Sitte, aber Franziska pflegte zu kommen und zu bitten, bei ihr schlafen zu dürfen, wenn sie ganz unglücklich war.
„Nein, lies nur Jenny — ich werde dich nicht stören, ich liege ganz still an der Wand.“
Jenny tat, als lese sie eine Weile. Franziska schluchzte ab und zu trocken auf. Dann fragte Jenny:
[S. 86]
„Kann ich das Licht löschen, oder willst du lieber, daß es brennt?“
„Lösch es nur!“
Im Dunkeln schlang sie die Arme um Jenny und erzählte schluchzend.
Sie war mit Hjerrild wieder in der Campagna gewesen. Da hatte er sie dann geküßt. Erst hatte sie nur ein wenig gescholten, da sie geglaubt, es wäre ein Scherz. „Aber dann wurde er verletzend in seiner Zudringlichkeit. Und schließlich wollte er, daß ich heute Nacht mit in sein Hotel gehen sollte. Er sagte es so, als lade er mich in eine Konditorei ein. Da wurde ich rasend, und auch er wurde zornig. Darauf sagte er mir dann einige gemeine, ekelhafte Dinge ins Gesicht.“ Sie lag einen Augenblick still da, im Fieber erschauernd. „Er sagte dann — ja, du kannst dirs wohl denken — etwas von Hans. Hans hatte von mir erzählt, als er Hjerrild mein Bild zeigte, so daß Hjerrild glauben mußte ... Verstehst du es, Jenny,“ sie schmiegte sich dicht an die andere, „ja, ich tue es nicht mehr — ich will mich nicht länger an diesen Schuft hängen — Hans hatte natürlich nicht meinen Namen genannt, weißt du,“ sagte sie nach einer Weile. „Und er konnte selbstverständlich nicht ahnen, daß Hjerrild mir jemals begegnen und mich nach der Photographie wiedererkennen würde, die gemacht wurde, als ich achtzehn Jahre alt war.“
Am siebzehnten Januar hatte Jenny Geburtstag. Sie und Franziska wollten eine Gesellschaft geben, ein Mittagessen draußen in der Campagna, in einer kleinen Osteria an der Via Appianuova. Sie hatten Ahlin, Heggen, Gram und Fräulein Palm, die dänische Krankenschwester, eingeladen.
Sie gingen paarweise von der Straßenbahnhaltestelle die weiße Landstraße hinauf, die im Sonnenschein gebadet dalag. Der Frühling wob in der Luft und die fahle, braune Campagna war von einem graugrünen [S. 87] Schimmer übergossen, all die Tausendschön, die den ganzen Winter über ihr Blühen nicht eingestellt hatten, begannen sich in silberschimmernden Teppichen auszubreiten. Auch die Büschel ungeduldiger lichtgrüner Knospen auf den Hollundersträuchern längs der Gitter waren größer geworden.
Lerchen schwebten zitternd hoch oben in dem blauweißen Himmel. Die Wärme hüllte alles ein — drinnen über der Stadt und über den häßlichen rotgelben Häuserblocks, die über die Ebene verstreut waren, lag der Dunst. Die Felsen der Albaner Berge mit den weißen Städtchen schimmerten hinter den gewaltigen Bogenreihen der Aquaedukte durch den Nebel.
Jenny und Gram schritten voran, er trug ihren hellgrauen Staubmantel. Sie war strahlend schön, in schwarze Seide gekleidet — er hatte sie vorher nie anders gesehen als in dem grauen Kleid oder in Kostüm und Bluse. Aber heute war es ihm, als ginge er mit einer neuen fremden Frau dahin. Die Linie des schlanken Leibes war weich und rund in dem blanken schwarzen Kleide, das oben in einem schmalen tiefen Viereck bis auf die Brust ausgeschnitten war. Die Haut und das Haar hoben sich leuchtend hell dagegen ab. Sie trug auch einen großen schwarzen Hut, mit dem Helge sie früher schon gesehen hatte, ohne jedoch weiter darauf zu achten. Sogar ihr rosa Perlenhalsband sah anders aus zu diesem Gewand.
Man speiste draußen im Sonnenschein unter den nackten Weinranken, die ein feines, bläuliches Schattennetz auf das Tischtuch zeichneten. Fräulein Palm und Heggen hatten den Tisch mit Tausendschön geschmückt; die Makkaroni waren lange fertig, und die anderen hatten warten müssen, bis die beiden mit der Dekoration kamen. Doch das Essen war gut und der Wein vorzüglich, die Früchte hatte Franziska selbst in der Stadt ausgewählt und mit hinausgenommen, ebenso den Kaffee, den sie selbst zubereiten wollte, darauf bestand sie, um sicher zu gehen, daß er auch gut würde.
Nach dem Essen gingen Heggen und Fräulein Palm umher und studierten die Marmorstümpfe — Ueberreste [S. 88] von Reliefs und Inschriften, die auf dem Grundstück gefunden und in die Hauswand eingemauert waren. Kurz darauf verschwanden sie um die Ecke. Ahlin blieb am Tisch in der Sonne sitzen und rauchte mit halbgeschlossenen Augen.
Die Osteria lag am Abhang eines Hügels. Gram und Jenny klommen aufs Geratewohl die Böschung hinauf. Sie pflückte einige von den kleinen wildwachsenden Ringelblumen, die aus dem rotgelben Sand des Abhangs hervorlugten.
„Von diesen gibt es viele auf dem Monte Testaccio. Sind Sie dort einmal gewesen, Gram?“
„Ja, öfter. Ich war vorgestern drüben, um den protestantischen Kirchhof zu sehen. Die Kamelienbäume sind übersät mit Blüten. Und auf dem alten Teile fand ich Anemonen im Gras.“
„Ja, die kommen jetzt hervor.“ Jenny seufzte ein wenig. „Draußen vor der Ponte Molle, irgendwo an der Via Cassia, gibt es eine Menge Anemonen. Ich bekam von Gunnar heute früh blühende Mandelzweige — man hat sie schon an der Spanischen Treppe. Sie sind aber sicher künstlich zum Blühen gebracht worden.“
Sie waren auf der Höhe angelangt und gingen über Feld. Jenny sah zur Erde. Es sproß überall auf dem kurzen, struppigen Grasboden. Rosetten von bunten Distelblättern und irgendwelchen großen silberfarbenen Blättern standen und ließen sichs wohl sein in der Sonne. Jenny und Gram schlenderten auf eine einsame Mauermasse zu, die sich aus niedergestürztem Schutt mitten auf dem Anger erhob, formlos und namenlos.
Fahl, graugrün dehnte sich die Campagna rund um sie her in sanften Wellen unter dem hellen Lenzhimmel mit den trillernden Lerchen. Ihre Grenzen verloren sich im Dunst des Sonnenglanzes. Die Stadt dort hinter ihnen wurde zu einer hellen Luftspiegelung, Felsen und Wolken liefen ineinander, und die gelben Bögen der Aquädukte ragten aus dem Lichtnebel, um nach der Stadt zu wieder zu verschwinden. Die zahllosen Ruinen waren nur noch kleine schimmernde Mauerreste, im Grünen verstreut, [S. 89] während Pinien und Eukalyptusbäume vor den rosenroten und ockergelben Häuschen grenzenlos einsam und düster und verlassen in dem lichten Vorfrühlingstage standen.
„Erinnern Sie sich des ersten Morgens, als ich hier unten war, Fräulein Winge? Ich war enttäuscht und ich meinte, es käme von meiner großen Sehnsucht und meinen heißen Träumen, deren Welt so reich war, daß die Wirklichkeit fade und armselig erscheinen müßte. — Haben Sie einmal an einem Sommertage mit geschlossenen Augen in der Sonne gelegen? Schlägt man sie wieder auf und blickt umher, so erscheinen alle Farben plötzlich grau und erloschen. Die Augen sind geschwächt und daher außerstande, die Mannigfaltigkeit der Farben aufzufangen, die sich ihrem ersten Blick darbietet. Der erste Eindruck ist unvollkommen und kläglich. Verstehen Sie, was ich meine?“
Jenny nickte vor sich hin.
„Aehnlich ging es mir hier im Anfang. Rom überwältigte mich. Da sah ich Sie — groß, licht und fern kreuzten Sie meinen Weg. Franziska beachtete ich nicht sogleich, erst in der Trattoria fiel sie mir auf. Ich kam in Ihren Kreis, zu lauter mir unbekannten Menschen — es war das erste Mal, daß ich mit Fremden zusammen war. Die flüchtigen Begegnungen daheim auf dem Wege zwischen Schule und Haus sind nicht zu rechnen. Mich verwirrte das Neue einen Augenblick, ich glaubte, nie mit Menschen reden zu können. Und da überfielen mich Gedanken an die Heimat. Fast sehnte ich mich nach ihr und nach dem Rom, von dem ich gehört und Bilder gesehen hatte. Sie wissen, mein Vater ...“ er lachte kurz auf. „Ich hatte geglaubt, auf andere Art mich nicht zurechtfinden zu können. Bilder betrachten, die andere gemalt, lesen, was andere geschrieben hatten, die Arbeiten anderer enträtseln und ordnen und mit erdichteten Menschen aus den Büchern leben — darin lag meine Welt und mein Können. In Ihrem Kreis fühlte ich mich so grenzenlos verlassen ... Da hörte ich Sie vom Alleinsein sprechen. Und jetzt verstehe ich Sie. Sehen Sie den Turm da [S. 90] draußen? Dort war ich gestern. Es ist der Ueberrest einer Befestigungsanlage aus dem Mittelalter, der Ritterzeit. Eigentlich ist eine große Anzahl solcher Türme in der Umgebung wie in der Stadt selbst erhalten. Man kann eine in die Fassadenreihe der Straße eingebaute Hauswand fast ohne Fenster finden — das ist so ein kümmerlicher Rest aus dem Rom der Raubritter. Von dieser Zeit weiß man verhältnismäßig am wenigsten. Ich beginne jetzt, mich gerade hierfür am meisten zu interessieren. Ich finde Namen verstorbener Menschen in den Archiven — man kennt von ihnen häufig nicht viel mehr als den Namen. Mich verlangt, mehr über sie zu erfahren. Ich träume von dem Rom des Mittelalters — als sie in den Straßen kämpften und aus heißen, roten Kehlen bluteten, als die Stadt voller Raubburgen war — auf denen sie eingesperrt waren, ihre Frauen, Töchter dieser wilden Tiere, ihres Stammes und Blutes — und es geschah, daß auch sie ausbrachen und ins Leben hinausstürzten, das um die schwarzroten Mauern lockte. Herrgott, welch’ ein Strom von Leben ist doch über dieses Land hinweggebraust! Die Wellen brachen sich an jeder Felsenspitze, die Stadt und Burg trug. Und dennoch erheben sich die Felsen über dem Ganzen nach wie vor nackt und öde. Allein die endlosen Massen von Ruinen nur hier draußen in der Campagna! Und die Berge von Büchern, die über Italiens Geschichte geschrieben sind, ja über die ganze Weltgeschichte! Das ganze Heer toter Menschen, das wir kennen. Wie bitter, bitterwenig ist dennoch als Rest verblieben von all den Lebenswogen, die über die Welt hinweggegangen sind, eine nach der anderen ... Ich finde aber eben das so wunderbar! ... Nun habe ich so viel mit Ihnen gesprochen, Jenny. Und Sie ebenso viel mit mir. Trotzdem aber kenne ich Sie ganz und gar nicht. Wie Sie jetzt dort stehen — Sie sollten sich selber sehen! Wie ihr Haar schimmert! So sind auch Sie ein solcher unbekannter Turm für mich. Und das ist gerade das Wundersame. Haben Sie jemals darüber nachgedacht, daß Sie niemals Ihr eigenes Antlitz gesehen haben? Nur [S. 91] ein Spiegelbild. Unser Gesicht, wenn es schläft, wenn es die Augen schließt — das können wir niemals sehen. Ist das nicht seltsam? Damals war mein Geburtstag. Heute ist es der Ihre. Sie werden achtundzwanzig. Freuen Sie sich dessen? Sie finden ja, jedes Jahr, das man durchlebt hat, ist kostbar.“
„Das sagte ich nicht. Ich meinte nur, meist hat man in den ersten fünfundzwanzig Jahren vieles durchzukämpfen, so daß man froh sein kann, wenn sie überstanden sind —.“
„Und jetzt?“
„Jetzt —“.
„Ja. Wissen Sie so sicher, was Sie im kommenden Jahre erreichen werden? Wie Sie die Zeit am besten nützen? Das Leben ist so ungeheuer reich an Möglichkeiten — nicht einmal Sie mit all Ihrem Reichtum an Kraft können sich alles untertan machen. Denken Sie daran nie — beunruhigt das niemals Ihr Herz, Jenny?“
Sie lächelte nur, sah nieder und zertrat ein Zigarettenstümpfchen, das sie hingeworfen hatte. Ihre Knöchel schimmerten weiß durch den schwarzen, durchsichtigen Strumpf. Sie folgte mit den Augen einer grauweißen Schafherde, die die Hügelböschung gerade ihnen gegenüber hinablief.
„Aber der Kaffee, Gram! Sie warten natürlich auf uns —“.
Sie gingen nach der Osteria zurück, ohne ein Wort zu sprechen. Der Hügel lief in eine steile, sandige Böschung aus, die sich gerade über dem Tisch, an dem sie gesessen hatten, erhob.
Ahlin lag mit dem Oberkörper auf dem Tisch, den Kopf auf den verschränkten Armen. Das Tischtuch war bedeckt mit Käserinden und Obstschalen zwischen Gläsern und Tellern.
Franziska, im laubgrünen Kleide, stand über ihn gebeugt — die Arme um seinen weißen Hals geschlungen — sie versuchte, seinen Kopf in die Höhe zu heben:
„Nicht weinen, Lennart! Ich will dir auch gut sein — ich will mich gern mit dir verheiraten — hörst du, [S. 92] Lennart, aber du darfst nicht so weinen. Ich glaube wohl, daß ich dich liebhaben kann, Lennart, — wenn du nur nicht so verzweifelt sein wolltest.“
Ahlin schluchzte:
„Nein, nein — so nicht — so will ich nicht, Cesca —“.
Jenny wandte sich um und ging denselben Weg zurück. Gram sah, daß sie bis auf den Hals hinab von glühender Röte übergossen war. Der Fußpfad führte am Hügelabhang hin in den Gemüsegarten der Osteria.
Rund um das kleine Wasserbassin jagte Heggen Fräulein Palm. Sie bespritzten sich gegenseitig mit Wasser, daß die Tropfen in der Sonne funkelten, während sie lachend aufschrie.
Wieder floß tiefe Röte über Jennys Hals und Nacken. Helge folgte ihr durch die Gemüsebeete. Heggen und Fräulein Palm schlossen drunten am Bassin Frieden miteinander.
„Der Reigen schließt sich,“ sagte Helge leise.
Jenny nickte schwach und versuchte zu lächeln.
Am Kaffeetisch herrschte keine rechte Stimmung. Franziska versuchte zu plaudern, während sie am Likör nippten. Nur Fräulein Palm war guter Laune. Sobald es irgend anging, schlug Franziska einen Spaziergang vor.
So machten sich denn die drei Paare auf den Weg über die Campagna. Der Abstand zwischen ihnen wurde größer und größer, bis sie sich zwischen den Hügeln verloren. Jenny ging mit Gram.
„Wo wollen wir eigentlich hin?“ sagte sie.
„Wir können ja zum Beispiel zur Egeriagrotte gehen.“ Diese lag gerade in entgegengesetzter Richtung des Weges, den die anderen eingeschlagen hatten. Sie schlenderten aber doch über die sonnenbeschienenen Hügel, auf den Bosco sacro zu; — über den dunklen Kronen der uralten Korkeichen glühte die Sonne.
„Ich sollte wohl lieber den Hut aufsetzen.“ Jenny strich sich übers Haar.
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Im heiligen Haine war der Erdboden überdeckt mit Papierabfällen, er strotzte von Unreinlichkeit. Auf einem Baumstumpf am Rande saßen zwei Damen und häkelten, ein paar kleine Jungen spielten Verstecken hinter den gewaltigen Stämmen. Jenny und Gram verließen den Hain und wanderten den Hügel hinab der Ruine zu.
„Eigentlich,“ sagte sie, „was wollen wir da unten,“ und setzte sich auf den Abhang, ohne eine Antwort abzuwarten.
„Nein, warum auch —“, Helge streckte sich in dem trockenen kurzen Gras zu ihren Füßen aus. Er nahm den Hut vom Kopf und, sich auf die Ellenbogen stützend, sah er zu ihr hinauf, ohne zu sprechen.
„Wie alt ist sie eigentlich? —“ fragte er plötzlich leise. „Ich meine Cesca.“
„Sechsundzwanzig Jahre.“ Sie saß still da und sah in die Weite.
„Ich bin nicht traurig,“ sagte er wieder leise. „Sie verstehen mich, — vor einem Monat wäre es etwas anderes gewesen —. Sie war einmal so lieb, so warm und vertrauensvoll zu mir. — Nun ja, Aufforderung zum Tanz. Aber jetzt —. Ich finde sie sehr lieb. Aber es rührt mich nicht, daß sie mit einem anderen tanzt.“
Er betrachtete sie.
„Ich glaube, Sie sind es, die ich liebe, Jenny,“ sagte er plötzlich.
Sie wandte sich ihm halb zu, lächelte leise und schüttelte den Kopf.
„Doch,“ sagte Helge bestimmt. „Ich glaube es. Genau weiß ich es nicht. Ich habe ja niemals geliebt — das weiß ich jetzt. Trotzdem ich verlobt gewesen bin“ — er lachte leise. „Ja, diese Dummheit beging ich einmal in meiner frühesten Jugend —. Aber, mein Gott, Jenny — es muß wohl wahr sein. Sie waren es, die ich an jenem Abend sah — nicht die andere. Ich sah Sie schon am Nachmittag, Sie gingen über den Corso. Ich stellte Betrachtungen an über das Leben, fand es so neu und abenteuerlich, da gingen Sie an mir vorüber, licht und [S. 94] rank und fremd. Später, nachdem ich in der Dunkelheit rund durch die fremde Stadt geirrt war, traf ich Sie wieder. Oh ja, ich erblickte jetzt auch Cesca, so daß es ja nicht weiter merkwürdig war, daß ich verwirrt wurde. Aber zuerst sah ich doch Sie. — Und nun ist es so gekommen, daß wir beide hier zusammensitzen —“.
Ihre Hand, auf die sie sich stützte, lag auf dem Erdboden dicht neben ihm. Plötzlich strich er darüber. Da zog sie sie zurück.
„Sie sind doch nicht böse? Nein, denn warum auch. — Warum sollte ich Ihnen nicht sagen dürfen, daß ich Sie liebe? Ich konnte nicht anders, ich mußte Ihre Hand berühren, mußte fühlen, daß sie wirklich da war. Wie seltsam, daß Sie hier sitzen. Ich kenne Sie ja gar nicht. Trotz all dem, wovon wir gesprochen haben — ich weiß freilich, daß Sie klug sind, klar und energisch, gut und wahrheitsliebend, aber das wußte ich gleich, als ich Sie sah und Ihre Stimme vernahm. Mehr weiß ich jetzt nicht — aber natürlich ist da noch vieles andere. Darüber erfahre ich vielleicht niemals etwas. Aber ich kann zum Beispiel sehen, daß Ihr seidenes Kleid glühend heiß ist — wenn ich mein Gesicht an Ihre Brust legte, so würde ich mich verbrennen —“.
Sie machte mit der Hand eine unwillkürliche Bewegung über ihren Schoß.
„Ja, die Seide saugt die Sonne an sich. Es knistert in Ihrem Haar. Drinnen in Ihren Augen funkeln die Lichtstrahlen auf. Ihr Mund ist ganz durchsichtig — wie ein Kredenzbecher in der Sonne —.“
Sie lächelte, sah jedoch ein wenig gequält aus.
„Küssen Sie mich, Jenny —,“ bat er plötzlich.
Sie betrachtete ihn eine Sekunde.
„Aufforderung zum Tanz —?“ Sie lächelte weh.
„Sie dürfen nicht böse werden, nur weil ich Sie um einen einzigen Kuß bitte. An so einem Tage. Ich erzähle Ihnen doch nur, was ich wünsche. Im Grunde ... weshalb könnten Sie es nicht tun?“
Sie rührte sich nicht.
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„Ist da denn irgend ein Grund — Herrgott, ich will ja nicht versuchen, Sie zu küssen, aber ich verstehe nicht, warum Sie sich nicht eine Sekunde herabbeugen und mir einen ganz, ganz kleinen Kuß geben können, so wie Sie dort sitzen, mit der Sonne auf den Lippen — es ist ja nur, als klopften Sie einem Jungen auf die Schulter und gäben ihm einen Soldo. Jenny — für Sie ist es nichts weiter, und alles, was ich wünsche, gerade in diesem Augenblick wünsche ich es so heiß —.“ Er lächelte, während er sprach.
Plötzlich beugte sie sich nieder ... Nur eine Sekunde spürte er ihr Haar und ihren warmen Mund an seiner Wange. Jede Bewegung ihres Körpers unter der schwarzen Seide konnte er sehen, als sie sich niederbeugte und wieder aufrichtete. Er sah auch, daß ihr Antlitz, das ruhig lächelte, als sie ihn küßte, hinterher ein wenig verwirrt und erschrocken war.
Aber er rührte sich nicht — lag nur und lächelte in die Sonne hinein. Da wurde auch sie wieder ruhig.
„Sehen Sie,“ sagte er schließlich und lachte. „Nun ist ihr Mund genau wie früher. Die Sonne scheint auf die Lippen, bis hinein ins Blut. Was bedeutete es Ihnen? Und ich bin so froh —. Sie begreifen wohl, daß ich nicht erwarte, Sie sollen weiter an mich denken. Ich möchte nur an Sie denken dürfen. — Setzen Sie sich nur still hin und denken Sie an alle möglichen Dinge. Die anderen tanzen Reigen, aber dies hier ist weit köstlicher — wenn ich Sie nur ansehen darf.“
Sie schwiegen beide. Jenny hatte das Gesicht abgewandt und sah über die sonnige Campagna hinaus.
Während sie zur Osteria zurückgingen, plauderte er leicht und munter von allen möglichen Dingen, erzählte Geschichten von den deutschen Gelehrten, mit denen er bei seiner Arbeit zusammengetroffen war. Jenny lugte ab und an verstohlen zu ihm auf. Er war so anders als sonst, so frei und sicher. Er schaute im Gehen geradeaus; eigentlich war er schön; die hellbraunen Augen glänzten wie Bernstein in der Sonne.
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Jenny zündete die Lampe nicht an, als sie heimgekehrt war. Im Dunkeln griff sie nach ihrem Abendmantel und setzte sich auf den Balkon hinaus.
Der Himmel erhob sich über den Dächern wie schwarzer Sammet, von dem Gewimmel funkelnder Sterne durchwoben. Die Nacht war kalt.
Er hatte gesagt, als sie sich trennten:
„Ich komme morgen zu Ihnen hinauf, um Sie zu fragen, ob sie mit mir in die Campagna fahren wollen —.“
In Wirklichkeit war ja nichts geschehen. Sie hatte ihn geküßt. Es war aber der erste Kuß, den sie einem Manne gegeben hatte. Und es war ganz anders gekommen, als sie es sich gedacht —. Fast wie ein Scherz war es gewesen — dieser Kuß.
Sie liebte ihn keineswegs. Und hatte ihn doch geküßt. Sie hatte gezaudert und gedacht: ich habe nie geküßt —. Doch da glitt gewissermaßen eine fröhliche Gleichgültigkeit und süße Müdigkeit durch ihren Körper; ach Gott, warum dies alles so lächerlich feierlich nehmen. Sie tat es eben — warum sollte sie auch nicht —.
Nein, es machte ja nichts. Er hatte ja doch ganz ehrlich darum gebeten, weil er glaubte, er wäre verliebt in sie und weil die Sonne schien. Er hatte sie nicht darum gebeten, ihn zu lieben — nichts hatte er verlangt außer einem harmlosen Kuß. Und sie hatte ihn hingegeben, schweigend. Das alles war schön gewesen. Da war nichts geschehen, um dessentwillen sie sich hätte schämen müssen.
Herrgott — achtundzwanzig Jahre war sie geworden. Sie verhehlte es sich selbst auch nicht, daß sie sich nach einem Manne sehnte, den sie liebte und der sie lieb hatte, an den sie sich fest anschmiegen konnte. Jung war sie, gesund und schön — warm war sie und voller Sehnsucht —. Aber da sie mit kalten Augen sah, und sich selber niemals etwas vorzulügen pflegte ...
Sie war dem einen oder anderen Manne begegnet und hatte sich gefragt: ist es dieser? Diesen oder jenen [S. 97] hätte sie vielleicht lieben können, wenn sie wirklich gewollt hätte — wenn sie nachgeholfen und die Ohren der leisen Stimme verschlossen hätte, die immer da war — und die einen hartnäckigen Widerspruch in ihr erweckte, den sie hätte betäuben müssen. Aber keinen hatte sie getroffen, den sie hätte lieben müssen .
So hatte sie es nicht gewagt —.
Cesca freilich vermochte es zu ertragen, daß einer nach dem anderen sie küßte und sie umschmeichelte. Ihr machte es nichts aus. Es berührte nur ihre Lippen und ihre Haut. Nicht einmal Hans Herrmann, den sie doch liebte, konnte ihr merkwürdig dünnes, erstarrtes Blut erwärmen.
Sie selbst war anders. Ihr Blut war rot und warm. Das Glück, nach dem sie sich sehnte, sollte heiß und verzehrend sein, aber rein und fleckenfrei. Sie selbst wollte gut und treu und ehrlich gegen den sein, dem sie sich hingab. Es mußte einer kommen, der sie ganz hinnehmen konnte, so daß keine Regung in ihr unberührt blieb und irgendwo tief drinnen verkam und vergiftet wurde —. Nein — sie wagte es nicht, wollte nicht leichtsinnig sein. Sie nicht —.
Dennoch — sie konnte die Menschen begreifen, die der Mühe des Wollens aus dem Wege gingen. Einen Trieb bezähmen und ihn schlecht nennen, einen anderen aber großziehen und ihn gutheißen. Allen kleinen billigen Freuden entsagen, seine Kräfte aufsparen in Erwartung einer großen Freude. Die vielleicht — vielleicht niemals kam. Sie war sich durchaus nicht gewiß, daß ihr Weg zu ihrem Ziele führte, daß es ihr nicht doch einmal Eindruck machen könnte, wenn Menschen zynisch einräumten, keinen bestimmten Weg zu gehen und keine Ziele zu haben, während diejenigen, die sich an die Moral und ihre Ideale hielten, nach dem Monde im Wasser fischten.
Auch sie hatte es einst erlebt, vor vielen Jahren, daß ein Mann sie in einer Nacht bat, mit ihm nach Hause zu gehen — ungefähr so, als hätte er sie eingeladen, [S. 98] ihn in eine Konditorei zu begleiten. In Wirklichkeit reizte es sie wohl gar nicht — außerdem wußte sie, Mama saß oben und wartete auf sie, so daß es völlig unmöglich war. Auch kannte sie den Menschen kaum, mochte ihn nicht leiden und war obendrein ärgerlich, daß er sie an diesem Abend nach Haus begleiten wollte. Sie hatte kein sinnliches Empfinden dabei, nur eine intellektuelle Neugierde trieb sie dazu, in Gedanken einen Augenblick mit der Frage zu experimentieren: Wenn ich es nun täte? Was würde ich empfinden, wenn ich Willen und Selbstbeherrschung und meinen alten Glauben über Bord würfe? —
Es war nur dieser Gedanke, der einen aufreizenden, wollüstigen Schauder durch ihren Körper gejagt hatte. War dieses Leben besser als ihr eigenes —?
Denn mit ihrem eigenen war sie ja an diesem Abend nicht zufrieden. Sie hatte wieder dagesessen und dem Tanz der anderen zugeschaut — Wein hatte sie auch getrunken, die Musik umtoste sie, und sie hatte gesessen und die bittere Einsamkeit gefühlt, zu der sie, so jung noch, verdammt war, weil sie ja nicht tanzen, nicht die Sprache der übrigen Jugend sprechen, nicht in ihr Lachen einstimmen konnte — dabei hatte sie noch versucht, zu lächeln und zu plaudern und sich wieder den Anschein zu geben, als unterhielte sie sich gut. Während sie dann in der eiseskalten Frühlingsnacht heimging, dachte sie daran, daß sie am nächsten Morgen um acht Uhr eine Vertretung in der Kampfschen Schule übernehmen mußte. Sie arbeitete an ihrem großen Bilde, und es war immer noch so tot und schwerfällig, wie sie sich auch mühte und abarbeitete — in den freien Stunden, bis um sechs Uhr ihre Privatschülerinnen zum Mathematikunterricht kamen. — Sie arbeitete hart zu jener Zeit, so daß sie manchmal das Gefühl hatte, als zittere jeder Nerv vor Ueberspannung — und doch hielt sie in dieser bewußten Ueberanstrengung aus bis zu den Sommerferien.
Und da hatte sie sich einen Augenblick gewissermaßen von seinem Zynismus angezogen gefühlt — wohl nur [S. 99] einen Augenblick — aber ... Sie hatte zu dem Menschen aufgelächelt und Nein gesagt, so trocken und geradezu, wie er gefragt hatte.
Er war übrigens ein Narr, denn nun begann er, ihr Predigten zu halten — flaue Komplimente, sentimentalen Unsinn von Jugend und Lenz, dem Recht der Leidenschaft und dem Evangelium des Blutes. Sie lachte ihn ganz ruhig aus und rief eine vorüberfahrende Droschke herbei.
Oh nein, sie war reif genug, um die begreifen zu können, die sich brutal weigerten, für irgend etwas im Leben zu kämpfen, und sich statt dessen niederlegten und vom Strome treiben ließen —. Aber die Grünschnäbel, die davon faselten, eine Mission zu erfüllen, wenn sie sich nach ihrem Geschmack amüsierten — diese Jugend, die für das ewige Recht der Natur zu kämpfen vorgab, während sie es nicht der Mühe wert hielt, ihre Zähne zu putzen und ihre Nägel zu reinigen — die konnte sie nicht irreführen.
Es war wohl am besten für sie, an ihrer eigenen kleinen Moral festzuhalten. Die baute sich im wesentlichen auf Wahrhaftigkeit und Selbstbeherrschung auf.
Diese Moral hatte sich zu formen begonnen, als Jenny auf die Schule kam. Sie war nicht wie die anderen Kinder in der Klasse, nicht einmal in der Kleidung. Ihre kleine Seele aber war ganz, ganz anders. Sie lebte ja mit ihrer Mutter zusammen, die zwanzigjährig Witwe geworden war und nichts auf der Welt besaß als ihr kleines Mädchen. Und auch mit ihrem Vater zusammen, der gestorben war, lange bevor sie sich erinnern konnte. Er war im Grabe und im Himmel, aber in Wirklichkeit wohnte er daheim bei Mutter und ihr —. Sein Bild hing über dem Klavier und seine Augen schauten auf alles herab, was Mutter und sie unternahmen, er hörte alles, was sie sagten — die Mutter sprach beständig von ihm und erzählte, was er zu allen Dingen meinte — dies dürften sie tun und dies müßten sie lassen des Vaters wegen. Jenny sprach von ihm, als kenne sie ihn, [S. 100] und des Abends sprach sie mit ihm und mit Gott, der ja mit Vater zusammen war und ebenso dachte, wie der Vater.
Der erste Schultag. Jenny entsann sich seiner deutlich und lächelte in die dunkle römische Nacht hinaus.
Die Mutter hatte sie unterrichtet, so daß sie mit acht Jahren in die dritte Klasse kam. Die Mutter pflegte immer alles an Beispielen zu erklären, die Jenny kannte. Sie wußte also sehr wohl, was ein Vorgebirge war. Da fragte die Lehrerin in der Geographiestunde gerade sie, ob sie ein norwegisches Vorgebirge nennen könnte. Jenny sagte „ Naesodden .“ [1]
[1] Anm. der Uebersetzerin: N. ist eine Halbinsel, Kristiania gegenüber, während die im folgenden Absatz genannten Kaps große Vorgebirge sind.
Die Lehrerin lächelte, und die ganze Klasse lachte. „Signe,“ sagte die Lehrerin, und ein kleines Mädchen erhob sich und sagte prompt: „Nordkap, Stat, Lindesnes.“ Jenny aber lächelte überlegen, gleichgültig, über der anderen Gelächter. Das war vielleicht der erste Zusammenstoß. — Sie hatte niemals Kameraden unter den anderen Kindern gehabt. Und sie bekam auch niemals welche.
Ueberlegen und gleichgültig hatte sie zu dem Gehänsel und Gespött der ganzen Klasse gelächelt, aus einem schweigenden und unversöhnlichen Haßgefühl heraus, das sich zwischen sie — die nicht so war wie jene — und alle die übrigen Kinder schob, die für sie eine einförmige Masse waren, ein vielköpfiges Ungeheuer. Die verzehrende Wut, die unter all ihren Quälereien in Jenny aufstieg, verschloß sie hinter höhnischem, gleichgültigem Lächeln. Die wenigen Male, da ihre Selbstbeherrschung sie im Stiche ließ — ein einziges Mal hatte sie in Leid und Verbitterung gar jämmerlich geschluchzt — die wenigen Male hatte sie bemerkt, wie die anderen triumphierten. Nur, wenn sie „hochmütig“ war, wenn die anderen von ihrer indianischen Gefühllosigkeit ihrem Tun und Lassen gegenüber verwirrt wurden, konnte sie sich gegen die vielen behaupten.
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In der obersten Klasse gewann sie ein paar Freundinnen. Das war in dem Alter, wo kein Kind es erträgt, anders zu sein als die anderen. Sie versuchte es den Mädchen gleich zu tun. Viel Freude hatte sie von diesen Freundinnen übrigens nicht gehabt.
Sie entsann sich, wie die Mädchen sie verspotteten, als sie entdeckten, daß Jenny mit vierzehn Jahren noch mit Puppen spielte. Sie aber verleugnete ihre geliebten Kinder und sagte, sie gehörten den kleinen Schwestern.
In dieser Zeit war es auch, daß sie zur Bühne gehen wollte. Sie wie alle Freundinnen waren vollkommen versessen aufs Theater — sie verkauften Schulbücher und Konfirmationsbroschen, um sich Billets zu verschaffen. Abend für Abend saßen sie unten auf dem Sperrsitz für sechzig Oere. Aber eines Tages hatte sie verspielt, als sie erzählte, wie sie Eline Gyldenlöve darstellen würde.
Die Freundinnen lachten Sturm. Sie war also in der Tat völlig größenwahnsinnig. — Man wußte wohl, daß sie eingebildet war, aber nun war die Grenze erreicht. Sie bildete sich also tatsächlich ein, sie könne Schauspielerin werden! Sie, die nicht einmal tanzen konnte! Es würde hübsch aussehen, sie auf der Bühne herumwackeln zu sehen mit ihren langen, stocksteifen Stelzen —.
Auch damals hatte Jenny mit ihren Freundinnen nicht gebrochen. — Nein, sie konnte nicht tanzen. Als sie ganz klein war, pflegte die Mutter ihr Tänze vorzuspielen, während Jenny umhertrippelte, sich verneigte und drehte, wie es ihr in den Sinn kam; Mutter lächelte dann und nannte sie ihr kleines Linerle. Dann kam sie auf den ersten Schülerball, in feierlicher Freude, mit einem neuen grüngeblümten Kleid angetan, — oh, sie entsann sich dessen so deutlich. Es reichte ihr fast bis auf die Füße herab; Mutter hatte es nach einem alten englischen Bilde genäht. Sie erinnerte sich dieses Kinderballes. Noch konnte sie diese wunderliche Steifheit in allen Gliedern spüren —. Seitdem hatte dieses Gefühl ihren weichen schlanken Körper losgelassen, er wurde wie ein Holzstock, [S. 102] wenn sie den Versuch machte, selber das Tanzen zu erlernen. Sie konnte nicht. Schließlich wollte sie in die Tanzstunde gehen, aber dazu fehlten die Mittel.
Sie lachte. O diese Freundinnen! Zwei von ihnen hatte sie auf der Ausstellung wiedergesehen, als sie das erste Mal ein Bild ausgestellt hatte — und einige lobende Worte über sie in die Zeitung gekommen waren. Sie stand mit einigen Malern, darunter auch Heggen, zusammen, den sie damals aber nicht näher kannte. Da kamen die Freundinnen heran und gratulierten:
„Das haben wir schon in der Schule gesagt, Jenny wird Künstlerin. Wir waren alle so überzeugt, daß aus dir noch einmal etwas werden würde.“
Sie hatte gelacht:
„Ich auch, Ella.“
Seit jener Zeit war sie allein gewesen. —
Sie war wohl ungefähr zehn Jahre alt, als die Mutter Ingenieur Berner traf. Die beiden waren zusammen in einem Büro tätig gewesen.
So klein sie war, hatte sie es doch gleich begriffen. Der tote Vater entglitt gleichsam dem Heim. Sein Bild hing weiterhin an seinem Platz — aber nun war er tot. Plötzlich kam ihr das Verständnis dafür, was der Tod bedeutete. Die Toten existierten nur in der Erinnerung der Lebenden — die Anderen konnten willkürlich ihr armseliges Schattendasein auslöschen. Dann waren sie gar nicht mehr vorhanden.
Sie verstand, warum die Mutter wieder so jung, so schön und froh wurde. Sie sah wohl den Lichtschein, der über ihr Antlitz sich breitete, wenn Berner an ihrer Türe läutete. Sie saß und hörte die beiden miteinander sprechen. Niemals waren es Dinge, die das Kind nicht mit anhören durfte, sie schickten sie nie hinaus, wenn sie in der Mutter Heim zusammen waren. Bei aller Eifersucht, die sie im Herzen trug, fühlte Jenny, daß es so vieles gab, worüber eine Mutter nicht mit einem kleinen Mädchen sprechen konnte. Und diese Erkenntnis rief ein starkes Gerechtigkeitsgefühl [S. 103] in ihr wach — sie wollte ihrer Mutter nicht zürnen. Hart war es indessen doch.
Aber das zu zeigen, war sie zu stolz. Wenn jedoch die Mutter dem Kinde gegenüber Gewissensbisse empfand und sie nervös und ganz unvermittelt mit Zärtlichkeit und Fürsorge überschüttete, so schwieg sie kalt und abweisend. Und sie schwieg, als die Mutter sagte, sie solle Berner Vater nennen, und ihr eifrig erzählte, wie lieb er die kleine Jenny hätte. — In den Nächten versuchte sie, zu ihrem eigenen, richtigen Vater zu sprechen wie ehedem — leidenschaftlich versuchte sie, ihn am Leben zu erhalten. Sie vermochte es aber nicht allein — sie kannte ihn ja nur aus den Erzählungen der Mutter. Nach und nach starb Jens Winge auch für sie. Und da er auch der Mittelpunkt all ihrer Vorstellungen von Gott, dem Himmelreich und dem ewigen Leben gewesen war, so verblaßten auch diese mit seinem Bilde. Sie erinnerte sich, daß sie schon im Alter von dreizehn Jahren dem Religionsunterricht mit vollbewußtem Unglauben zugehört hatte. Und da alle anderen in der Klasse an Gott glaubten, und den Teufel fürchteten und dennoch feig und grausam, schmutzig und gemein waren, jedenfalls in ihren Augen, so wurde die Religion für sie zu etwas beinahe Verächtlichem, Feigem, das zu ihnen gehörte.
Gegen ihren Willen mußte sie Sympathie für Nils Berner haben. In der ersten Zeit, nachdem er die Mutter geheiratet hatte, mochte sie ihn eigentlich lieber als die Mutter. Er forderte nicht das Recht des Vaters über die Stieftochter — klug, gut und natürlich kam er ihr entgegen. Sie war das Kind der Frau, die er liebte, und deshalb liebte er auch Jenny.
Was sie ihm verdankte, erkannte sie erst jetzt als Erwachsene klar. Wieviel Krankhaftes und Verschrobenes hatte er ihr doch ausgetrieben und an ihr bekämpft! Solange sie mit der Mutter allein in dieser treibhausschwülen Luft von Zärtlichkeit, Fürsorge und Träumerei gelebt hatte, war sie furchtsam gewesen, hatte Angst vor Hunden, Straßenbahnen, Angst vor Zündhölzern, hatte vor Allem [S. 104] Angst. Die Mutter wagte kaum, sie allein zur Schule gehen zu lassen. Und wie empfindlich war sie gegen körperlichen Schmerz gewesen!
Berners erste Tat war, das Mädel mit hinauf in die Wälder zu nehmen. Sonntag für Sonntag zog er mit ihr in die Nordmarken. In brennender Sommersonne, in weicher Lenzluft und strömendem Herbstregen, den ganzen Winter über auf Schneeschuhen. Und Jenny, die es gewöhnt war, ihre Gefühle nicht zu offenbaren, versuchte, Müdigkeit und Angst zu verbergen. Bis sie sie nach einer Weile gar nicht mehr empfand.
Berner lehrte sie, Karte und Kompaß zu gebrauchen. Er verhandelte mit ihr wie mit einem Kameraden. Er lehrte sie, Zeichen für Wetterumschwung in Wind und Wolken zu entdecken, Zeit und Richtung aus dem Stande der Sonne zu lesen. Mit Tieren und Pflanzen machte er sie vertraut. Sie zeichnete und malte Blumen mit Wasserfarben, Wurzel und Stengel, Blatt und Knospe, Blüte und Frucht. Ihr Skizzenbuch und sein Photographenapparat lagen immer im Rucksack.
Wieviel Liebe und Güte der Stiefvater in dieses Erziehungswerk gelegt hatte, konnte sie erst jetzt ermessen. Ein kleines unscheinbares Mädchen hatte er zum Kameraden gemacht und erzogen, sie, die so ungeschickt gewesen, wie ein blindes Kätzchen nach der Geburt. Er, der namhafte Skiläufer und Bergsteiger in Jotunheim und auf den Bergzinnen des Nordlandes!
Er hatte ihr versprochen, sie mit dort hinaufzunehmen. Das war in dem Sommer, als sie fünfzehn Jahre alt war, dem schwierigsten Alter. Da hatte er sie auf Schneehühnerjagd mitgenommen. Die Mutter mußte daheim bleiben — sie trug damals das Kleine.
Sie wohnten in einer einsamen kleinen Sennhütte unterhalb Rondane. Oh, niemals war sie je so glücklich gewesen wie in jenen Morgenstunden, wenn sie in ihrem kleinen Alkoven erwachte. Sie mußte aufstehen und für Berner Kaffee kochen; er nahm sie dann mit hinauf auf die Rondespitzen und in die Stygfelsen, auf Engelfahrten, [S. 105] oder sie gingen hinab ins Foltal, um Proviant zu holen. Wenn er draußen war und jagte, dann badete sie in eisigen Gebirgsbächen oder wanderte endlose Wege über herbstlich öde Strecken. Oder sie saß in der Hüttentür, strickte und träumte romantische Sennerinnenträume von einem Jäger, der Berner recht ähnlich sah, nur ganz jung war und bildschön. Er sollte aber erzählen, wie Berner es tat, des Abends am Herd, von Jagd und Gebirgsfahrten; er sollte ihr auch ein Gewehr versprechen und sie mit hinausnehmen auf nie erstiegene Zinnen, wie Berner es versprochen hatte.
O ja, sie entsann sich, wie sie damals begriff, daß die Mutter ein Kind haben sollte. Wie zerquält, beschämt, unglücklich sie war, als sie es entdeckte. Sie suchte vor der Mutter zu verbergen, was sie empfand, ganz gelang es ihr nicht, das wußte sie. Erst Berners Angst um sein Weib, als die Stunde der Geburt sich näherte, brachten eine Veränderung in ihre Gefühle. Er sprach mit Jenny darüber: „Ich habe Angst, Jenny. Ich habe deine Mutter doch so lieb, weißt du.“ Er sprach auch davon, wie krank sie gewesen war, als Jenny geboren wurde.
Das Gefühl des Unnatürlichen und Unreinen an dem Zustand der Mutter wich von ihr, während er sprach. Aber auch das Gefühl, daß das Verhältnis zwischen ihr und der Mutter etwas Mystisches und Uebernatürliches war. Es wurde alltäglich und selbstverständlich — sie war geboren worden, und die Mutter hatte Schweres erlitten um ihretwillen, sie war sehr klein gewesen, hatte der Mutter bedurft, und um alles dessentwillen hatte sie die Mutter geliebt. Nun aber kam ein neues kleines Kind, das der Mutter mehr bedürfen würde. Jenny fühlte sich mit einem Male erwachsen, sie hatte Sympathie sowohl für die Mutter als für Berner und sie tröstete ihn altklug: „Ja, aber du weißt doch, es pflegt doch gut auszugehen. Ich finde, sie sterben doch fast nie daran.“
Dennoch hatte sie vor Verlassenheit geweint, als sie ihre Mutter mit dem neuen kleinen Kinde sah, das all ihre Zeit und ihre Sorge in Anspruch nahm.
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Aber sie gewann das kleine Ding lieb, besonders als Klein-Ingeborg das erste Jahr überschritten hatte und der süßeste, schwärzeste kleine Zigeunerkobold wurde, den man sich denken konnte, und als die Mutter ein neues Kindchen bekam.
Eigentlich hatte sie niemals das Gefühl gehabt, als seien die Bernerschen Kinder ihre Geschwister. Sie glichen ganz ihrem Vater. Jetzt bezeichnete sie ihr Verhältnis zu ihnen annähernd als tantenhaft — sie kam sich fast wie eine ältere „vernünftige Tante“ vor, sowohl ihrer Mutter als den Kindern gegenüber.
Als das Unglück geschah, war die Mutter jünger und schwächer als Jenny. Sie war wieder jung geworden, Frau Winge, in ihrer neuen glücklichen Ehe, nur ein wenig müde und mitgenommen von den drei Wochenbetten, die dicht aufeinander folgten. Nils war nur fünf Monate alt, als sein Vater starb.
Berner stürzte eines Sommers drüben von den Skagastölspitzen ab und starb auf der Stelle. Jenny war damals sechzehn Jahre alt. Die Verzweiflung ihrer Mutter war grenzenlos; sie liebte ihren Mann und war von ihm vergöttert worden. Jenny versuchte, ihrer Mutter zu helfen, so gut sie konnte. Wie sehr sie selber um ihren Stiefvater trauerte, zeigte sie niemanden. Sie wußte nur zu gut, daß sie den einzigen Kameraden verloren hatte, den sie je besessen.
Nach dem Mittelschulexamen war sie auf die Zeichenschule gegangen und hatte zu Hause geholfen. Berner hatte sich immer für ihre Zeichnungen interessiert und war der erste gewesen, der sie einiges über Perspektive und dergleichen lehrte, soviel, wie er selber wußte. Er hatte geahnt, daß sie Talent hatte.
Leddy, seine Hündin, zu behalten, dazu fehlten ihnen die Mittel. Die beiden kleinen, dicken Jungen wurden verkauft, und die Mutter meinte auch, Leddy müßte weggegeben werden — es war ein kostbares Tier. Es trauerte tief um seinen Herrn. Aber niemand anderes durfte Berners Hund bekommen, wenn sie ihn nicht selbst behalten konnten [S. 107] — das setzte Jenny durch; einmal bekam sie aus diesem Anlaß einen hysterischen Anfall. Sie brachte das Tier selbst an einem Abend zu Rechtsanwalt Iversnäs, Berners altem Kameraden, der es an einem Sonntage mit über Land nahm, es erschoß und neben einer Hütte begrub.
Was Berner ihr gewesen war — Kamerad und Freund — das versuchte sie, seinen Kindern zu sein. Zu den Stiefschwestern wurde das Verhältnis, als sie nach und nach heranwuchsen, weniger innig, jedoch ganz freundschaftlich — sozusagen mit großem Abstand. Jenny machte auch nicht den Versuch, ihnen näherzukommen. Sie waren jetzt zwei sehr liebe, kleine Mädchen im Backfischalter, mit Bleichsucht, kleinen Verliebtheiten, Freunden und Freundinnen und ständigen Tanzvergnügen, munter und reichlich indolent. Doch der kleine Nils und Jenny waren im Laufe der Jahre immer bessere Kameraden geworden. Kalfatrus hatte Vater den kleinen Burschen getauft, und Jenny behielt den Namen bei. Er selbst nannte die Schwester Indiana.
In den ganzen letzten Jahren der Trübsal waren die Nordmarksfahrten mit Kalfatrus die einzigen Stunden gewesen, in denen sie sich ausruhte. Am liebsten zogen sie im Frühling oder Herbst hinaus, wenn nur wenig Menschen in den Wäldern waren. Dann saß sie mit dem Jungen schweigend da und starrte in das Feuer, das sie sich gemacht hatten — oder sie lagen langgestreckt auf dem Boden, in ihrem eigenen fürchterlichen Pöbeljargon schwatzend, den sie daheim nicht hören lassen durften mit Rücksicht auf die Gefühle der Mutter.
Das Porträt von Kalfatrus war das erste Bild, mit dem sie zufrieden gewesen war. Es war auch brillant, und Gunnar schwor darauf, daß es in die Galerie hätte kommen müssen. Sie hatte seitdem auch nie wieder ein Bild gemalt, das so gut gelungen war.
Sie hätte Berner malen müssen, Papa. Sie hatte ihn so gerufen, als seine Kinder zu sprechen anfingen. Damals hatte sie auch die Mutter Mama genannt. Damit hatte sie gewissermaßen vor sich selbst die Veränderung [S. 108] bestätigt, die mit der Mutter ihrer kurzen Kindheit und in dem Verhältnis zwischen ihnen vor sich gegangen waren.
Und dann die erste Zeit hier unten! Als endlich der wahnsinnige Druck wich, der auf ihr gelegen hatte. Dieser Druck hatte ihr weh getan. Jetzt fühlte sie erst, wie jeder Nerv in ihr vor Ueberanstrengung gezittert hatte. Und sie hatte geglaubt, sie sei zu alt geworden, um jemals die Jugend zurückzuerobern. Von Florenz erinnerte sie sich an nichts weiter, als daß sie dort gefroren und sich verlassen gefühlt und nicht imstande gewesen war, das Neue in sich aufzunehmen. Ab und zu sah sie blitzartig den unendlichen Schönheitsreichtum um sich her und wurde verrückt vor Sehnsucht danach, ihn zu erfassen, zu verstehen und jung zu sein, zu lieben und geliebt zu werden.
Dann die Lenztage, als Gunnar und Franziska sie mit nach Viterbo nahmen. Sonnenschein in dem nackten Eichenwalde, wo Anemonen und Veilchen und gelbe Aurikeln in dichten Massen zwischen dem bleichen, welken Laube blühten. Die kochenden, stinkenden Schwefelquellen, die draußen auf der fahlen steppenartigen Ebene vor der Stadt dampften, das Feld rings um den klagenden Quell war leichenblaß von erstarrtem Kalk. Der Hohlweg dort hinaus mit den Tausenden von smaragdgrünen, blitzähnlich hin- und herschießenden Vögeln in den Steinwällen, die Olivenbäume in den Wiesen, über denen weiße Schmetterlinge sich wiegten. Dann die alte Stadt mit den singenden Springbrunnen, den schwarzen mittelalterlichen Häusern und den Türmen an der Ringmauer und über allem der Mondschein in den Nächten. Und der gelbe, leicht prickelnde Wein, der von der vulkanischen Erde, auf der er gewachsen war, feurig schmeckte.
Sie hatte mit den neuen Freunden Brüderschaft getrunken. Des Nachts vertraute Franziska ihr die Geheimnisse ihres ganzen bunten jungen Lebens an und kroch schließlich in ihr Bett, um sich trösten zu lassen. Während sie lag, wiederholte sie: Wie gut du bist! In [S. 109] der Schule hatte ich immer Angst vor dir! Daß du so gut bist!
Gunnar war in beide verliebt. Er war übermütig wie ein junger Faun von Lenz und Sonne. Und Franziska ließ sich küssen und lachte und nannte ihn einen Schwatzmichel.
Sie aber hatte Angst — nicht vor ihm. Aber sie wagte nicht, seinen heißen roten Mund zu küssen, weil es sie nach etwas Sinnlosem, etwas Berauschendem und Leichtsinnigem gelüstete, das nur diese Tage über währen sollte, während Sonne und Lenz und Anemonen leuchteten und sie hier waren, etwas, worüber sie sich keine Rechenschaft zu geben brauchte. Sie wagte aber nicht, aus ihrem alten Ich zu schlüpfen, sie fühlte, sie würde dem Leichtsinn nicht leichtsinnig ein Ende machen können und er gewiß auch nicht. Sie hatte Gunnar Heggen des öfteren beobachtet — mit anderen Frauen, mit denen er kleine Liebeleien gehabt hatte. Er war so, wie sie waren, und doch wieder nicht ganz, tief im Innern war er er selbst, ein Mann, der besser war als die meisten Frauen.
Später hatte er über seine eigene Verliebtheit gelacht. Sie waren Freunde geworden, mehr und mehr. In der herrlichen, friedvollen, arbeitsreichen Zeit in Paris und später wieder hier unten.
Aber dies hier mit Gram war ja etwas ganz anderes. Er weckte wahrhaftig keine verwegenen Gelüste oder wilden Sehnsuchtsgefühle in ihr. Herrgott — sie mochte ihn eben gern. Er war durchaus nicht dumm, wie sie erst gedacht hatte, nur gleichsam verschüchtert war er gewesen, als er hierher kam. Das war nun freilich etwas, das sie am besten hätte verstehen müssen. Etwas Weiches, Junges und Frisches lag über ihm, das sie an ihm gern mochte. Es war ihr deshalb, als sei er viel mehr als nur zwei Jahre jünger als sie. Was er indes von seiner Verliebtheit sagte — war es wohl etwas anderes als nur ein kleiner Ueberschuß an Freude, wie sie ihn bei all dem Neuen und Befreienden erfaßte? Es war sicher ganz ungefährlich, sowohl für ihn als für sie.
[S. 110]
Sie hatten sie wohl lieb, die zu Hause. Franziska und Gunnar auch. Und doch — ob wohl einer von ihnen heute Nacht an sie dachte? Sie war ganz und gar nicht betrübt darüber, daß sie von einem wußte, der es tat.
Als sie am Morgen erwachte, sagte sie zu sich selber, er würde wohl nicht kommen, und das wäre natürlich auch das Beste. Als er aber an ihre Türe klopfte, war sie dennoch froh.
„Fräulein Winge, ich habe noch nicht gefrühstückt, können Sie mir nicht ein wenig Tee geben und einen Bissen Brot?“
Jenny sah sich im Zimmer um.
„Ja, hier ist aber noch nicht aufgeräumt, Gram.“
„Ich mache die Augen zu, und dann sperren Sie mich hinaus auf den Balkon,“ sagte er an der Tür. „Ich bin ja so schrecklich durstig auf Tee!“
„Na ja, dann warten Sie einen Augenblick.“ Jenny warf die Decke über das ungemachte Bett und räumte den Waschtisch auf. Den Frisiermantel vertauschte sie gegen ihren langen Kimono.
„So, bitte. Setzen Sie sich auf den Balkon hinaus, dann werde ich Ihnen Tee bringen.“
Sie stellte ein kleines Taburett hinaus und brachte Brot und Käse herbei. Gram betrachtete ihre bloßen weißen Arme und die langen Aermel des Kimono, die um sie herflatterten. Das Gewand war dunkelblau, mit gelben und violetten Iris durchwirkt.
„Wie wunderhübsch ist das Kleid — ein echtes Geishagewand!“
„Ja, es ist auch echt. Franziska und ich kauften uns beide eines in Paris — für die Morgenstunden im Hause.“
„Das liebe ich an Ihnen, daß Sie so gut gekleidet umhergehen, auch wenn Sie allein sind.“ Er zündete sich [S. 111] eine Zigarette an und blickte in den Rauch. „Ach — des Morgens daheim — das Mädchen und Mutter und Schwester liefen umher und sahen aus wie —. Finden Sie nicht, Frauen müßten sich so schön machen, als es ihnen nur möglich ist?“
„Doch. Aber es geht nicht, wenn man des Morgens den Haushalt in Ordnung bringen muß, Gram.“
„Zum Frühstück jedenfalls könnten sie sich doch das Haar machen und ein Kleid anziehen wie dies da, nicht wahr?“ Im selben Augenblick fing er eine Teetasse auf, die sie mit dem Zipfel ihres Aermels beinahe heruntergerissen hätte.
„Nun, da können Sie sehen, wie praktisch das ist — so, trinken Sie nun Ihren Tee, Sie waren ja so durstig.“ Sie entdeckte plötzlich Franziskas sämtliche helle Strümpfe, die zum Trocknen draußen hingen, und raffte sie in etwas nervöser Hast zusammen.
Er aß und trank, während er sprach.
„Ja, sehen Sie — ich lag und überlegte gestern, bis fast zum Morgen. Darum verschlief ich und hatte nicht mehr Zeit, noch in eine Latteria zu gehen. Ich finde, wir sollten auf die Via Cassia hinauswandern, zu dem Plätzchen, wo Ihre Anemonen stehen.“
„Das Anemonenplätzchen.“ Jenny lachte leise. „Als Sie ein Junge waren, Gram, hatten Sie da auch Anemonenwinkel und Veilchenplätzchen und dergleichen, wo Sie jedes Jahr Ihre Blumen holten, die Sie vor den anderen Kindern verheimlichten?“
„Und ob ich welche hatte. Ich weiß noch einen Birkenhain, wo es duftende Veilchen gab, an dem alten Holmenkollenweg.“
„Oh, ich weiß,“ unterbrach sie ihn triumphierend. „wo der Sörkedalsweg abbiegt, gleich rechts.“
„Richtig. Einen Ort wußte ich auch auf Bygdö, innerhalb Fredriksborg. Und in Skaadalen.“
„Aber ich muß jetzt hinein und mich umziehen,“ sagte Jenny.
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„Ziehen Sie das Kleid an, das Sie gestern trugen, das wäre lieb von Ihnen,“ rief er ihr nach.
„Es wird so staubig.“ Aber im selben Augenblick ärgerte sie sich. Warum sollte sie sich nicht damit putzen — das alte schwarzseidene Kleid war viele Jahre hindurch ihre Staatsrobe gewesen — nun brauchte sie es wirklich nicht mehr so ehrerbietig zu behandeln.
„Ach, Unsinn! Ja, aber es ist im Rücken zu schließen, und Cesca ist jetzt nicht zu Hause.“
„Kommen Sie, ich werde es zuknöpfen, ich bin darin Spezialist, ich habe meine Mutter und Sofie mein ganzes Leben lang im Rücken geknöpft, müssen Sie wissen.“
Es waren nur zwei Knöpfe, gerade in der Mitte, die sie nicht allein schließen konnte. So ließ sie denn Grams Hilfe zu.
Er spürte den schwachen, milden Duft ihres Haares und Körpers, während sie bei ihm draußen in der Sonne stand und ihn das Kleid zuknöpfen ließ. An der einen Seite entdeckte er plötzlich einige kleine Bruchstellen in der Seide, die sorgsam gestopft waren. Da füllte sich sein Herz mit einer unendlich weichen Zärtlichkeit für sie. —
„Finden Sie den Namen Helge nett?“ fragte er, als sie später in einer Osteria, weit draußen in der Campagna, zusammen bei Tisch saßen und zu Mittag speisten.
„Ja, er ist hübsch.“
„Wissen Sie, daß ich mit Vornamen Helge heiße?“
„Ja, ich sah, daß Sie sich im Verein hatten eintragen lassen.“ Gleichzeitig errötete sie, denn ihr fiel ein, daß er wohl denken könnte, sie hätte danach geforscht.
„Ja, ich glaube auch, der Name ist hübsch. Im Grunde gibt es wenige, die hübsch oder häßlich sind, nicht wahr? Kennt man irgend jemanden, der diesen oder jenen Namen hat, so kommt es darauf an, ob man diesen Menschen leiden mag oder nicht. Als ich ein Knabe war, hatten wir ein Kindermädchen, das Jenny hieß, die konnte ich nicht ausstehen. Seitdem meinte ich immer, es sei ein häßlicher und gewöhnlicher Name und ich fand es so unglaublich, daß [S. 113] Sie Jenny hießen. Jetzt dagegen finde ich den Namen wunderhübsch, gleichsam so blond. Hören Sie nicht, daß sein Klang ganz lichtblond ist? Jenny — eine dunkle Frau kann so nicht heißen, Fräulein Jahrmann zum Beispiel nicht. Franziska paßt nun wieder genau zu ihr, nicht wahr? Der Name ist so kapriziös, Jenny aber ist so hell, so frisch und klar.“
„Ich bin nach meinen Vorfahren so genannt. Es ist ein Familienname väterlicherseits,“ erwiderte sie, nur um etwas zu sagen.
„Was stellen Sie sich zum Beispiel unter einer Rebekka vor?“ fragte er kurz darauf.
„Ich weiß nicht. Ist das nicht ganz hübsch? Vielleicht ein wenig hart und klappernd.“
„Meine Mutter heißt Rebekka,“ sagte Helge nach einer Weile. „Ich finde auch, es klingt hart. Und meine Schwester heißt Sofia. Sie heiratete, nur um von Hause fortzukommen und in ein eigenes Heim, davon bin ich überzeugt. Ist es nicht merkwürdig, daß meine Mutter so entzückt war, sie verheiraten zu können? selbst hat sie mit meinem Vater wie Hund und Katze gelebt. Aber der Staat, der mit Kaplan Arnesen gemacht wurde, war grenzenlos, als meine Schwester und er sich verlobten. Ich kann meinen Schwager nicht ausstehen. Ich glaube auch, mein Vater kann ihn nicht leiden. Aber Mutter. — Meine ehemalige Verlobte hieß Katharine, sie wurde aber immer nur Titti genannt. Ich sah, daß sie auch Titti in die Zeitung setzen ließ, als sie sich verheiratete. Sie können mir glauben, das war eine dumme Geschichte. Es ist jetzt drei Jahre her. Sie hatte eine Vertretung an der Schule, wo ich Lehrer war. Hübsch war sie nicht im geringsten, nur rasend kokett allen Männern gegenüber; ich aber hatte es niemals erlebt, daß eine Dame sich etwas daraus machte, mit mir zu kokettieren. Das können Sie sich vielleicht denken, wenn Sie sich erinnern, welch eine Figur ich im Anfang hier unten machte. Und außerdem lachte sie immer — sie sprühte Funken, wenn sie sich nur bewegte. Sie war erst neunzehn Jahre alt, Gott [S. 114] weiß, warum sie mich eigentlich nahm —. Ja, dann war ich natürlich rasend eifersüchtig, und das machte ihr Spaß. Je eifersüchtiger sie mich machte, desto verliebter wurde ich. Vielleicht war es meine Männereitelkeit — aber ich hatte nun einmal eine Braut, die rasend umschwärmt war. Ich war damals ja noch sehr grün. Natürlich verlangte ich, sie sollte sich einzig um mich bekümmern, das war vermutlich ein ziemlich unbilliges Verlangen, so wie ich damals war. Wie gesagt, der Herrgott mag wissen, was Titti mit mir wollte. Zu Hause wollten sie, das Verlöbnis sollte noch geheimgehalten werden, weil wir so jung waren. Titti wollte es aber gern veröffentlichen, sie pochte darauf, daß ich fände, sie sei zu sehr von anderen in Anspruch genommen, daß sie aber nicht ausschließlich mit mir zusammen sein könnte, wenn wir nur heimlich verlobt wären. Sie kam dann nach Haus zu uns. Aber Mutter und sie zankten sich immer. Titti haßte Mutter geradezu. Im übrigen wäre es immer genau dasselbe gewesen, mit wem ich mich auch verlobt hätte. Mutter genügte der Umstand, daß sie meine Braut war. Ja, dann löste Titti die Verbindung.“
„Waren Sie sehr unglücklich?“ fragte Jenny leise.
„Ja, das war ich. Ich kam eigentlich nicht ganz darüber hinweg, erst, als ich hier war. Es war sicher vor allem meine Eitelkeit, welche litt. Wenn ich sie wirklich geliebt hätte, so hätte ich wünschen müssen, daß sie mit dem anderen glücklich würde, den sie jetzt geheiratet hat. Das war aber durchaus nicht der Fall.“
„Das wäre wohl ein bißchen zu viel Edelmut gewesen,“ sagte Jenny lächelnd.
„Ich weiß nicht. Dies Gefühl müßte man eigentlich haben, wenn man wirklich liebte. Nicht wahr? Aber wissen Sie, was ich so sonderbar finde? Daß Mütter gegen die Bräute ihrer Söhne so wenig freundlich gestimmt sind. Das ist nämlich immer dasselbe.“
„Eine Mutter meint wohl, keine Frau sei gut genug für ihren Jungen.“
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„Ja, es ist aber nicht so, wenn die Töchter sich verloben. Ich sah es doch bei dem ekelhaften, rothaarigen, fetten Kaplan. Ich habe niemals mit meiner Schwester sympathisiert. Wenn ich aber daran dachte, daß dieser Kerl — pfui. Wenn er zu Hause saß, und mit ihr koste ... Nein, wissen Sie, ich habe manchmal überlegt: Wenn Frauen eine Zeitlang verheiratet gewesen sind, werden sie weit zynischer als wir Männer. Sie sagen es nicht, aber ich merke es dennoch, wie zynisch sie im tiefsten Herzensgrunde geworden sind. Das Ganze ist ihnen nur ein Geschäft — wenn die Tochter sich verheiratet, so sind sie froh. Nun hat man sie einem Kerl auf den Hals geladen, der sie mit sich schleppen, sie ernähren und kleiden muß. Daß sie sich als Gegenleistung in die Pflichten der Ehe zu finden hat, ist kein Grund, um die Sache besonders feierlich zu nehmen. Wenn dagegen ein Sohn für die gleiche Gegenleistung eine solche Last auf sich lädt, so sind sie naturgemäß nicht so begeistert. Glauben Sie nicht, daß darin ein Körnchen Wahrheit steckt?“
„Mitunter trifft es wohl zu,“ sagte Jenny.
Als Jenny abends heimkehrte, zündete sie die Lampe an und begann an die Mutter zu schreiben — sie wollte am liebsten gleich für die Geburtstagsgrüße danken und berichten, wie sie den Tag verlebt hatte.
Ueber ihre eigene Feierlichkeit am vergangenen Abend mußte sie lachen.
Ach, Herrgott! Ja, gewiß hatte sie es bitter gehabt und war einsam gewesen. Aber schwer hatten es eigentlich die meisten jungen Menschen, die sie gekannt. Viele noch weit schlimmer als sie. Sie brauchte nur an alle die alten und jungen Mädchen, Lehrerinnen auf der Volksschule, zu denken. Beinahe die meisten hatten eine alte Mutter zu versorgen oder Geschwister, denen sie vorwärtshelfen mußten. Auch Gunnar — und jetzt wieder Gram —. Sogar Cesca — das verwöhnte Geschöpf aus einem reichen Hause — mit ihren einundzwanzig Jahren hatte sie alle [S. 116] Brücken hinter sich abgebrochen und sich seitdem durchgehungert und vorwärtsgearbeitet, wobei ihr nur das kleine Muttererbe ein wenig half.
Und was ihre eigene Einsamkeit betraf, so hatte sie die ja selbst gewählt. Stellte sie eins zum anderen, so war der Grund dafür wohl der, daß sie ihren eigenen Fähigkeiten mißtraute. Und um den Zweifel totzuschweigen, hatte sie sich daran geklammert, daß sie etwas Besonderes sei, etwas ganz Anderes als ihre Umgebung. Sie hatte die anderen selbst von sich gestoßen. Nun sie ein Stück Wegs erobert hatte, sich bewußt war, daß sie zu etwas taugte, da war sie ja weit umgänglicher geworden, weit menschenfreundlicher. Sie mußte zugeben, daß sie nie versucht hatte, anderen entgegenzukommen, weder als Kind noch als Erwachsene. Sie war zu hochmütig gewesen, den ersten Schritt zu tun.
Alle Freunde, die sie gehabt — vom Stiefvater bis zu Cesca und Gunnar — alle hatten zuerst die Hand nach ihr ausstrecken müssen.
Dann das andere: War sie wirklich die leidenschaftliche Natur, für die sie sich selbst hielt? Ach! Sie war achtundzwanzig Jahre alt geworden, ohne je das kleinste Gefühl der Liebe gekannt zu haben. Und diese Tatsache berechtigte sie zu dem Vertrauen zu sich selbst, daß sie als Frau nicht Schiffbruch erleiden würde, sollte sie jemals einen Mann lieben. Gesund und schön war sie auch — mit frischen Sinnen, die noch empfänglicher geworden durch ihre Arbeit und ihr Leben in der Fremde. Selbstverständlich sehnte sie sich danach, zu leben und geliebt zu werden — leben zu dürfen.
Sich jedoch selber weiszumachen, daß sie einer beliebigen Mannsperson in die Arme fliegen würde, die im kritischen Augenblick ihren Weg kreuzte — nur weil das Blut aufsässig war ...! Einbildungen, mein Kind! Im Grunde wollte sie sich nur nicht eingestehen, daß sie sich hin und wieder ein wenig langweilte und ganz einfach das Verlangen empfand, eine kleine Eroberung zu machen und ein wenig umschwärmt zu werden wie die kleinen [S. 117] Mädchen — was sie sonst eigentlich als ein niedriges Verlangen ansah. So zog sie es vor, das Gefühl feierlich als Lebenshunger auszulegen und sehnsüchtige Sinne vorzutäuschen, Faseleien, auf die die armen Männer gekommen waren, weil die Aermsten nicht wissen, daß die Frauen im allgemeinen gewöhnlich eitel und dumm sind, so daß sie sich langweilen, wenn sie nicht einen Mann zur Unterhaltung haben. Daher die ganze Fabel von den sinnlichen Frauen, die ebenso selten zu finden sind wie schwarze Schwäne und disziplinierte, guterzogene Frauen.
Jenny stellte das Bildnis von Franziska auf die Staffelei. Die weiße Bluse und der grüne Gürtel lagen jetzt noch hart und häßlich auf. Die Farben mußten gedämpft werden. Das Antlitz versprach gut zu werden, die Stellung war natürlich. —
Jedenfalls war kein Grund vorhanden, wegen dieser Geschichte mit Gram feierlich zu werden. Sie mußte doch weiß Gott einmal beginnen sich natürlich zu geben; diese Angst, die auch in den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft mit Gunnar in ihr war, und die sie immer empfand, wenn ein neuer Mann in ihren Gesichtskreis trat, Angst davor, daß sie sich in ihn verlieben könnte oder er sich in sie, mußte sie abzustreifen suchen. Der Gedanke, daß ein Mann an ihr Gefallen finden könnte, war ihr so ungewohnt, daß auch er ihr Angst einflößte und sie verwirrte.
Man mußte doch gut Freund miteinander sein können; es wäre ja sonst traurig bestellt um die Menschheit. Gunnar und sie waren ja Freunde — ruhig und fest. Zwischen ihr und Gram war so vieles, das die Grundlage einer Freundschaft hätte bilden können. Sie hatten soviel Gleiches durchgemacht.
Etwas so Junges und Vertrauensvolles lag in seinem Wesen ihr gegenüber. Dieses „Nicht wahr?“ und „Finden Sie nicht?“, mit dem er immer kam.
Sein Gerede von gestern, daß er sie liebe — oder zu lieben glaube, wie er sich ausdrückte! Sie lachte vor [S. 118] sich hin. Nein, ein erwachsener Mann sprach nicht so, wenn er eine Frau ernstlich liebte und gewinnen wollte.
Er war wirklich ein lieber Junge.
Heute hatte er diese Frage gar nicht berührt.
Ein warmes Gefühl für ihn war in ihr aufgewallt, als er sagte, wenn er sie wirklich geliebt hätte, hätte er doch wünschen müssen, daß seine ehemalige Braut mit dem Andern glücklich würde.
Jenny und Helge liefen Hand in Hand die Via Magnanapoli hinab. Die Straße bestand aus einer einzigen Treppe, die zum Trajanischen Forum hinunterführte. Auf der letzten Stufe zog er sie an sich und gab ihr blitzschnell einen Kuß.
„Bist du toll, weißt du nicht, daß es hierzulande nicht erlaubt ist, auf der Straße zu küssen?“
Dann lachten sie beide. An einem der ersten Abende hatten zwei Wächter sie auf dem Lateranplatz angesprochen. Sie waren unter den Pinien an der alten Stadtmauer auf und ab gegangen und hatten sich geküßt.
Der letzte Sonnenstreifen berührte die Bronzestatue des Heiligen auf der Säule und flammte an dem Mauerwerk der Häuser und an den Baumkronen der Anhöhe auf. Der Platz mit seinen alten verfallenen Häusern rings um das ausgegrabene Forum unterhalb des Straßenkörpers lag im Schatten.
Jenny und Helge lehnten sich über das Geländer und versuchten, die fetten faulen Katzen zu zählen, die sich zwischen den grauen Säulenstümpfen drunten auf der grasüberwucherten Schuttstätte breit machten. Jetzt bei beginnender Dämmerung erwachten sie allmählich zum Leben. Ein rotes Tier, das auf dem Sockel der Trajanssäule gelegen hatte, reckte sich, wetzte seine Krallen am Mauerwerk und setzte in lautlos weichem Sprung auf das Gras, glitt wie ein heller Schatten davon und verschwand.
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„Ich zähle nicht mehr als dreiundzwanzig,“ sagte Helge.
„Ich fünfundzwanzig.“ Sie wandte sich halb um und verscheuchte einen Ansichtskartenverkäufer, der herbeigekommen war und seine Ware in allen möglichen Sprachen anbot.
Dann beugte sie sich wieder über das Geländer und starrte gedankenverloren in das buschige Gras, sich der leisen, glücklichen Mattigkeit hingebend, die eines langen Sonntages unzähligen Küssen draußen auf der mattgrünen Campagna folgte. Helge hielt ihre Hand auf seinem Arm fest und streichelte sie; Jenny strich über seinen Aermel und barg die Hand zwischen seine beiden Hände, während Helge leise und froh vor sich hinlachte.
„Lachst du, Jung?“
„Ich dachte nur an die Altertumsforscher.“ Da lachte sie auch — still und gedankenlos, wie glückliche Menschen über etwas Gleichgültiges lachen.
Des Morgens waren sie über das Forum gegangen, hatten eine Weile oben auf dem hohen Sockel der Foscassäule gesessen und miteinander geflüstert. Zu ihren Füßen breitete sich das Ruinenfeld aus, vom Sonnenlicht vergoldet und vom Alter verwittert, während Touristen, klein und schwarz, zwischen den Mauerresten umherkrabbelten. Aber ein wenig abseits, inmitten der Scharen der Reisegesellschaft die Einsamkeit suchend, schlenderte ein jungverheiratetes Paar. Er war fettleibig, sommersprossig und blond, mit Kniehosen und Kodak, und las seinem jungen Weibe aus dem Baedeker vor. Sie aber, ganz jung, üppig und dunkel, mit einem angeborenen hausfraulichen Gepräge in dem weichen, mehlweißen Gesicht, setzte sich auf einer umgestürzten Säule in Positur, worauf der Mann sie knipste. Die beiden aber, die oben zu Füßen der Foscassäule saßen und von ihrer Liebe flüsterten, gedankenlos, unbekümmert darum, daß sie sich zufällig auf dem Forum Romanum befanden, lachten.
„Bist du hungrig?“ fragte Helge.
„Nein. Du?“
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„Nein. Weißt du, wozu ich Lust hätte?“
„Nein?“
„Mit dir nach Haus zu gehen, Jenny. Bei dir zu Hause heute Abend Tee zu trinken. Geht das nicht?“
„Ja, natürlich.“
Sie schickten sich an, durch die Stadt hinabzugehen, durch die Seitengassen, Arm in Arm.
Auf ihrem dunklen Treppenflur riß er sie plötzlich an sich. Sein Arm lag hart unter ihrer Brust, und er küßte sie wild und heftig, daß ihr Herz plötzlich stark und angstvoll zu schlagen begann. Zorn über sich selbst stieg in ihr auf, weil sie diese Furcht nicht zu überwinden vermochte.
„Mein lieber Junge,“ flüsterte sie in der Dunkelheit; sie wollte sich dadurch selber zur Ruhe zwingen.
„Wart’ noch einen Augenblick,“ flüsterte Helge, als sie drin das Licht anzünden wollte. Er küßte sie wie vorher. „Zieh dieses Geishagewand an, du siehst so lieb darin aus — ich setze mich solange auf den Balkon hinaus.“
Jenny zog sich im Finstern um. Dann setzte sie Teewasser auf und füllte die Vasen mit Anemonen und Mandelzweigen, bevor sie ihn hereinrief und die Lampe anzündete.
„O Jenny!“ Er zog sie wieder an sich.
„Du bist so schön. Alles ist so schön an dir. O, es ist herrlich bei dir zu sein. Ich wünschte, ich könnte immer bei dir sein.“
Sie legte beide Hände um sein Gesicht.
„Jenny, möchtest du das auch, daß wir immer beisammen sein könnten?“
Sie blickte ihm in die schönen, goldbraunen Augen:
„Ja Helge. Das möchte ich auch.“
„Wünschst du nicht auch, daß er nie ein Ende nähme, dieser Lenz hier unten — unser Lenz?“
„Doch.“ Sie warf sich jäh im seine Arme. „O ja, Helge.“ Sie küßte ihn und ließ ihre halbgeöffneten Lippen und ihre geschlossenen Augen um mehr Küsse flehen. Die Worte von ihrem nimmer endenden Frühling [S. 121] schienen einen leisen angstvollen Schmerz in ihr zu wecken, sie wußte, daß dieser Frühling und ihr Traum einmal ein Ende finden würden . Und im Unterbewußtsein lag eine leise Furcht, über die sie sich keine Rechenschaft geben wollte, die aber lebendig geworden war, als er sagte: möchtest du, daß wir immer zusammen blieben?
„Ich wünschte, ich brauchte nicht heimzureisen,“ sagte Helge innig.
„Ich reise doch auch,“ flüsterte sie sanft. „Wir kehren wieder hierher zurück, Helge. Zusammen.“
„Du hast dich also entschlossen, nach Hause zu fahren? Und nun komme ich dazwischen und zerstöre alle deine Pläne?“
Sie küßte ihn rasch und sprang fort zum kochenden Teewasser.
„Nein, ich war schon vorher halb dazu entschlossen, siehst du, da Mama mich ja doch sehr nötig hat.“ Sie lachte. „Fast schäme ich mich — sie ist ja so gerührt darüber, daß ich nach Hause komme und ihr helfen will. Und dabei ist es nur, weil ich mit meinem Liebsten zusammen sein möchte. Aber es ist schon gut so. Ich wohne ja billiger zu Haus, wenn ich ihr auch beistehe, und kann vielleicht ein wenig sparen. Dann bewahre ich das Geld auf — bis auf später ...“
Helge nahm die Teetasse, die sie ihm reichte. Dann ergriff er ihre Hand.
„Aber wenn du das nächste Mal fortreist, nimmst du mich mit! Ja, denn — du willst doch — du meinst doch — daß wir uns heiraten, Jenny?“
Sein Antlitz war so jung und sah in so banger Frage zu ihr auf, daß sie es wieder und wieder küssen mußte. Sie vergaß, daß sie sich vor diesem Wort selbst gefürchtet hatte, das vorher zwischen ihnen nicht gefallen war.
„Es wird wohl das Praktischste sein, mein Junge. Da wir uns doch darüber einig sind, daß wir immer zusammen bleiben wollen.“
Helge küßte still ihre Hand.
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„Wann?“ flüsterte er nach einer Weile.
„Wann du willst,“ erwiderte sie ebenso leise — und fest.
Wieder küßte er ihre Hand.
„Ich wünschte, es ließe sich so einrichten, daß wir uns hier unten heiraten könnten,“ sagte er kurz darauf in einem anderen Ton.
Sie antwortete nicht, sondern strich nur über sein Haar.
Helge seufzte auf: „Aber es geht nicht. Wenn wir doch bald nach Hause fahren müssen ... Es würde wohl auch deine Mutter kränken — so eine übereilte Hochzeit, nicht wahr?“
Jenny schwieg. Es war ihr noch niemals in den Sinn gekommen, daß sie ihrer Mutter Rechenschaft schuldig war für ihre Heirat, so wenig als ihre Mutter sie gefragt hatte, als sie wieder heiratete.
„Ich weiß jedenfalls, daß es meine Eltern verletzen würde. Ich bin nicht eben froh darüber, Jenny, aber ich weiß, es würde der Fall sein. Am liebsten möchte ich nach Hause schreiben, daß ich mich verlobt habe. Und da du etwas früher als ich nach Hause reisen willst — würdest du dann wohl zu uns hinaufgehen und sie begrüßen?“
Jenny warf den Kopf zurück, geradeso, als wollte sie ein unbehagliches Gefühl verjagen. Dann sagte sie:
„Ich werde tun, was du willst, mein Freund; das kannst du dir wohl denken.“
„Ich denke selbst nicht gern daran, Jenny. O nein. Es ist so herrlich gewesen, dies hier — nur du und ich auf der ganzen Welt. Aber es würde meine Mutter sehr verletzen, weißt du. Ich möchte ihr das Leben nicht noch schwerer machen, als es für sie schon ist. Ich liebe meine Mutter nicht mehr so wie früher — das weiß sie auch, und grämt sich sehr darüber. — Es sind ja nur Formalitäten, aber sie würde sehr darunter leiden, wenn sie glauben müßte, ich wollte sie übergehen. Sie würde denken, daß es eine Rache sei für die Geschichte, du [S. 123] weißt.... Wenn das dann überstanden ist, Jenny, können wir heiraten. Dann hat uns niemand weiter dreinzureden. Ich wünschte, daß es recht bald sein könnte. Du nicht auch?“
Sie küßte ihn als Antwort.
„Ich sehne mich ja so nach dir, Jenny,“ flüsterte er. Jenny wehrte sich nicht gegen seine Liebkosungen. Aber plötzlich ließ er sie los, scheu und hastig ...
Ein wenig später saßen sie am Ofen und rauchten, sie im Lehnstuhl, er auf dem Fußboden, den Kopf in ihrem Schoß.
„Kommt Cesca auch heute Nacht nicht nach Hause?“ fragte er plötzlich leise.
„Nein, sie bleibt bis Ende der Woche in Tivoli,“ sagte Jenny schnell und ein wenig nervös.
Helge liebkoste ihre Knöchel und Spann unter dem Saum dem Kimono.
„Du hast so schöne, schmale Füße, Jenny!“ Er strich über die schlanke Wade. Und plötzlich preßte er ihr Bein heftig an seine Brust.
„Du bist ja so herrlich, so herrlich. Ich hab dich so lieb — weißt du, wie ich dich liebe, Jenny? Ich will hier auf dem Boden liegen, dir zu Füßen — setz die kleinen schmalen Schuhe auf meinen Nacken — tu es!“ Er warf sich plötzlich lang vor ihr nieder, versuchte, ihre Beine hochzuheben und ihre Füße auf seinen Kopf zu legen.
„Helge. Helge!“ Seine plötzliche Heftigkeit jagte einen kurzen Schreck durch ihren Körper. Aber ich habe ihn doch lieb, sagte sie zu sich selbst. Fürchte ich mich denn vor dem, was mein Geliebter will? Sie fühlte seine brennend heißen Hände durch die dünnen Strümpfe.
Als sie aber merkte, daß er sie unter die Schuhsohle küßte, stieg plötzlich ein Unwillen in ihr empor. In einem verwirrten Gefühl von Angst und Unlust lachte sie gezwungen auf.
„Nein Helge, laß sein — die Schuhe, mit denen ich auf den schmutzigen Straßen umhergehe!“
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Helge Gram richtete sich auf — ernüchtert und gedemütigt. Sie suchte es wegzulachen:
„Bedenke doch, die Schuhe — du kannst dir doch denken, daß Tausende von ekelhaften Bakterien daran kleben.“
„Ach, du Pedant! Und du willst Künstlerin sein?“ Jetzt lachte er auch. Uebertrieben lustig, um seine Verwirrung zu verbergen, nahm er sie in seine Arme, während sie beide aus vollem Halse lachten: „Reizende Braut, laß mich sehen — gewiß doch. Du riechst nach Terpentin und Oelfarben.“
„Unsinn, Geliebter! Ich habe bald drei Wochen lang keinen Pinsel angerührt. Du sollst dich aber waschen, bitte sehr.“
„Hast du vielleicht Karbolwasser, damit ich gehörig desinfiziert werde?“ Er überfiel sie mit eingeseiften Händen. „Frauenzimmer sind chemisch gereinigt von aller Poesie, sagte mein Vater immer.“
„Ja, darin hat dein Vater Recht, Junge!“
„Du verstehst es, eine Kaltwasserkur zu verordnen,“ sagte Helge lachend.
Jenny wurde plötzlich ernst. Sie ging auf ihn zu und legte beide Hände auf seine Schultern, indem sie ihn küßte:
„Ich will nicht, daß du auf dem Erdboden zu meinen Füßen liegst, Helge!“
Als er aber gegangen war, schämte sie sich. Es war wohl doch so, als wenn sie eine Kaltwasserkur hätte verordnen wollen, dachte sie. Sie wollte es aber nicht wieder tun. Sie liebte ihn doch.
Heute Abend hatte sie eine Niederlage erlitten. Ihr war der Gedanke gekommen, was wohl Signora Rosa sagen würde, wenn sich etwas ereignete. Und diese Furcht vor einem Auftritt mit einer gekränkten Signora, und ihr eigener Versuch, aus diesem Grunde das Versprechen, das [S. 125] sie ihrem Jungen gegeben hatte, nicht einzulösen, demütigte sie.
Denn, als sie seine Küsse entgegennahm, seine Küsse erwiderte, da verpflichtete sie sich ja, ihm alles zu geben, was er von ihr erbitten würde. Sie war ja die Letzte, die sich auf ein Spiel einlassen wollte — Liebe annehmen und Kleinigkeiten zurückgeben, nicht mehr, als daß sie sich ohne Verlust von dem Spiele zurückziehen könnte, wenn sie sich anders entschieden hätte.
Diese Angst vor etwas, das sie noch nie durchgemacht hatte, war im Grunde nur Nervosität.
Und doch, sie war froh gewesen, solange er sie nicht um mehr gebeten, als sie fröhlich gewähren konnte. Die Stunde mußte ja kommen, wo sie selbst den Wunsch hatte, ihm alles zu geben.
Ach, es war so langsam und unmerklich gekommen, wie der Frühling hier im Süden. Ebenso gleichmäßig und sicher, ohne schroffe Uebergänge. Es gab keine kalten und stürmischen Tage, die das Herz wild machten vor Sehnsucht nach Sonne und überströmendem Licht, nach verzehrender Glut. Keinen jener unheimlich klaren, endlosen, hinreißenden Lenzabende wie daheim. War der Sonnentag vorübergegangen, so fiel die Nacht still und gleichmäßig hernieder, die Kühle kam im Gefolge der Finsternis und verleitete nur zu geborgenem, ruhigem Schlummer zwischen den warmen, schimmernden Tagen. Jeder Tag war ein wenig wärmer als der vergangene, jeder Tag brachte einige Blumen mehr auf der Campagna, die doch nicht grüner war als gestern und dennoch soviel grüner und weicher als vor einer Woche.
So war zu ihr auch die Liebe gekommen. Jeden Abend war ihre Sehnsucht nach dem folgenden Sonntag mit ihm draußen vor den Mauern gewachsen und ganz allmählich wandelte sich ihr Sehnen und suchte ihn selber und seine junge, warme Liebe. Sie hatte seine Küsse hingenommen, weil es sie glücklich machte, und Tag für Tag waren ihrer Küsse mehr, bis endlich die Gespräche zwischen ihnen verstummt und zu lauter Küssen geworden waren.
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Sie sah, daß er reifer und männlicher wurde, mit jedem Tage. Alle Unsicherheit glitt von ihm ab; die plötzliche Niedergeschlagenheit überfiel ihn jetzt nie mehr. Sie selbst wurde sicherer, wärmer, fröhlicher. Es war nicht mehr ihrer Jugend kühle, streitbare Selbstsicherheit, sondern eine herzliche Sorglosigkeit; sie war nicht mehr mißtrauisch gegen das Leben, das sich ihren Träumen nicht hatte fügen wollen. Jetzt nahm sie vertrauensvoll jeden Tag hin, in froher Erwartung, daß das Unvorhergesehene gut werde und zum Guten gewendet werden könne.
Warum sollte die Liebe nicht so kommen dürfen — langsam wie die Wärme, die von Tag zu Tag wuchs und sich Zeit ließ, sich auszubreiten und glühender zu werden. Weil sie früher geglaubt hatte, die Liebe käme wie ein Unwetter, das im Nu einen anderen Menschen aus ihr schüfe, den sie selbst nicht kannte, über den ihr alter Wille keine Macht mehr hatte?
Helge — er nahm dieser Liebe langsames, gesundes Erblühen so unendlich sanft und ruhig hin. An jedem Abend, wenn sie einander Gute Nacht gewünscht hatten, war ihr Herz von Dank für ihn erfüllt, daß er sie nicht um mehr gebeten, als sie an diesem Tage geben konnte.
Oh, wenn sie doch nur hierbleiben könnte, bis zum Mai, zum Sommer, den ganzen Sommer über! Wenn ihre Liebe hier unten reifen könnte, bis sie ganz eins geworden waren, so selbstverständlich, wie sie jetzt einander näher traten.
Irgendwo in den Bergen zusammen wohnen können, diesen Sommer! Die Formalitäten der Eheschließung könnten sie dann hier in der Stadt in Ordnung bringen oder im Herbst zu Hause. Natürlich wollten sie sich heiraten, wie es üblich war, wenn zwei einander liebten.
Dachte sie daran, daß sie nach Hause reisen sollte, so war es ihr, als fürchte sie, aus einem Traum zu erwachen.
Aber das war ja alles Unsinn. Sie hatten sich doch so unsagbar lieb. Nein, sie konnte diese Störungen mit [S. 127] Verlöbnis und Besuch bei Verwandten und dergleichen nicht leiden. Doch das waren Nichtigkeiten.
Aber ewig Dank für diesen weichen Lenz hier unten, der sie so still und sanft einander zugeführt hatte, Beide allein draußen zwischen den Tausendschön der frühlingsjungen Campagna.
„Glaubst du nicht, Jenny wird es eines Tages bereuen, daß sie sich mit diesem Gram verlobt hat,“ fragte Franziska Gunnar Heggen, als sie einmal oben bei ihm saß.
Heggen wendete und drehte seine Zigarre hin und her. Er bemerkte plötzlich, daß es ihm früher niemals in den Sinn gekommen war, wie indiskret es sei, Franziskas Angelegenheiten mit Jenny zu erörtern. Aber über Jennys intimere Verhältnisse mit Franziska zu sprechen, war etwas anderes.
„Begreifst du, was sie mit ihm will?“ fragte Franziska wieder.
„Das begreift man in den meisten Fällen nicht, Cesca. Besonders, was ihr mit diesem oder jenem Menschen wollt. Ich glaube bei Gott,“ er lachte leise vor sich hin, „wir bilden uns ein, daß wir wählen. Aber wir gleichen unseren Brüdern, den unvernünftigen Tieren, mehr, als wir zugeben wollen. Eines schönen Tages ist über unsere Liebe verfügt, wobei unsere natürliche Veranlagung die Hauptschuld trägt, während Ort und Gelegenheit das Uebrige tun.“
„Ich verstehe dich nicht, Gunnar,“ sagte Franziska und zog die Schultern hoch. „Ist denn so über dich dauernd verfügt worden?“
Gunnar lachte — ein wenig unwillig:
„Vielleicht nie — in genügendem Maße. Ich habe nie den kritiklosen Glauben an eine Frau, daß sie die einzige sei, kennen gelernt. Der gehört aber auch mit zur rechten Liebe, und wiederum ist die natürliche Veranlagung des Menschen die Ursache dazu.“
[S. 128]
Franziska starrte gedankenvoll vor sich hin:
„Es mag häufig der Fall sein. Aber es kommt auch vor, daß man einen bestimmten Menschen liebt, ohne daß Zeit und Umstände die Triebfeder sind. Ich — ich liebe jenen Mann, weil ich ihn nicht verstehe. Ich konnte es damals nicht fassen, daß es Menschen seiner Art geben sollte. Ich wartete auf ein Ereignis, das alles, was ich gesehen und beobachtet hatte, ins rechte Licht rücken und erklären würde. Ich grub nach einem verborgenen Schatz — und da wurde ich besessen, je länger ich grub. Und der Gedanke, daß eine andere Frau ihn finden könnte, brachte mich schließlich an den Rand des Wahnsinns. — Es gibt Menschen, die einen anderen lieben, weil dieser in ihren Augen vollkommen ist, weil sie in ihm gefunden haben, wonach es sie verlangte. Hast du nie die Liebe gekannt, die dich nur Gutes und Schönes und Edles an einem Weibe sehen ließ, so daß du alles an ihm lieben mußtest?“
„Nein,“ sagte er kurz.
„Ja, aber das ist erst die richtige Liebe. Meinst du nicht? Und ich hätte gewünscht, daß Jenny auf diese Art lieben würde. Aber so kann sie Gram nicht lieben.“
„Ich kenne ihn eigentlich gar nicht, Cesca. Ich weiß nur, er ist nicht so dumm wie er aussieht, wie man zu sagen pflegt. Das heißt, ich glaube, er ist bedeutender, als man nach dem ersten Eindruck denken sollte. Jenny hat wohl gemerkt, wes Geistes Kind er eigentlich ist.“
Cesca schwieg. Sie entzündete eine Zigarette und ließ das Wachszündhölzchen ausbrennen, mit den Augen gedankenvoll der Flamme folgend.
„Hast du nicht bemerkt — er fragt immer ‚finden Sie nicht?‘ und ‚stimmt das nicht?‘ und so. Liegt nicht etwas Feminines oder Unfertiges über ihm?“
„Vielleicht. Aber es kann ja sein, daß gerade dies Jenny angezogen hat. Sie ist ja stark und auch selbständig. Vielleicht mag sie am liebsten gerade einen Mann, der schwächer ist als sie selber.“
[S. 129]
„Ich will dir etwas sagen, Gunnar. Ich glaube gar nicht, daß Jenny so stark und selbständig ist. Sie war aber auch auf sich selber angewiesen. Daheim mußte sie unterstützen und helfen und selbst besaß sie keine Seele, bei der sie Schutz suchen konnte. Als wir uns kennen lernten, nahm sie sich meiner an, weil sie sah, daß ich viel weicher war als sie und ihrer bedurfte. Jenny hat immer Menschen getroffen, die bei ihr Zuflucht suchten. Auch Gram bedarf ihrer. Ja, sie ist stark und sicher, sie fühlt es auch, und niemand bittet vergebens um ihre Hilfe. Aber kein Mensch vermag auf die Dauer immer Anderen eine Stütze zu sein, ohne je selber zu empfangen. Begreifst du denn nicht, daß sie furchtbar einsam werden muß, wenn sie immer die Stärkste sein soll? Sie ist allein, und heiratet sie diesen Menschen, so wird es auch nicht anders. Alle sprechen wir mit Jenny über uns selbst, sie aber hat niemanden, mit dem sie reden kann. Oh, Jenny sollte einen Mann haben, zu dem sie aufsehen könnte, dessen Autorität sie fühlte, zu dem sie sagen könnte: so und so habe ich gelebt, so habe ich gearbeitet und so habe ich gekämpft, denn so, meinte ich, sei es recht gewesen. Sie sollte einen Menschen haben, der über ihr Recht und Unrecht zu entscheiden imstande ist. Gram kann es nicht, er ist ihr unterlegen. Und dann kann sie auf sein Urteil nicht vertrauen, nicht wahr? Der Mann, den Jenny braucht, muß genügend Autorität besitzen, um ihre Gedanken zu bestätigen oder zu verwerfen. ‚Nicht wahr?‘ und ‚finden Sie nicht?‘ — jetzt sollte Jenny so fragen dürfen!“
Sie schwiegen beide lange, dann blickte Heggen auf und sagte:
„Es ist recht seltsam, Cesca. Gilt es deine eigenen Geschichten, so weißt du meistens weder aus noch ein. Wenn du aber über die Angelegenheiten anderer sprichst, so habe ich oft den Eindruck, als sähest du am klarsten von uns allen.“
Franziska seufzte schwer auf:
„Darum habe ich ja auch oft die Idee, ins Kloster [S. 130] zu gehen, Gunnar. Wenn ich außerhalb des Ganzen stehe und es beschaue, so glaube ich, alles zu begreifen. Wenn ich aber selbst mitten drin sitze, so verwirrt es mich vollständig.“
Die saftigen, blaugrünen Riesenblätter der Kaktusbüsche waren zerrissen von Namen, Buchstaben und Herzen. Helge stand und schnitzte ein H und ein J hinein. Jenny hatte den Arm um seine Schulter gelegt und sah ihm zu.
„Wenn wir hierher zurückkehren,“ sagte Helge, „so ist es eine solche braune Narbe wie die anderen. Glaubst du, daß wir es wiederfinden, Jenny?“
Sie nickte.
„Unter all den anderen,“ sagte er mißmutig. „Es stehen so viele Namen hier. Wir gehen dann wieder hier hinaus und suchen danach — wollen wir?“
„Ja.“
„Glaubst du daran, daß wir wieder hierher kommen, Jenny? Daß wir wieder hier stehen werden wie jetzt — oder nicht?“ Er zog sie an sich.
„Warum sollten wir nicht, mein Freund?“ Eng umschlungen gingen sie auf ihren Tisch zu. Und dicht aneinandergeschmiegt saßen sie und starrten auf die Campagna hinaus.
Der Sonnenschein des Frühlingstages rückte höher hinan und die Schlagschatten wanderten über die Hügel. Mitunter schoß das Licht in großen Strahlenbündeln hervor, wenn blanke Wolken, leicht und ruhig bewegt, über den blauen Himmel dahinsegelten. Aber draußen am Horizont, wo der dunkle Eukalyptuswald bei Tre Fontane über den entferntesten Hügelkamm lugte, dampfte ein perlenweißer Nebel auf; gegen Abend würde er wohl wachsen und den ganzen Himmel überfluten.
Weit drüben in der Ebene floß die Tiber dem Meere zu, golden, wenn sie der Sonnenschein traf, doch bleigrau [S. 131] mit mattem Glanz wie der Bauch eines Fisches, wenn die Wolken sich in ihr spiegelten.
Die Tausendschön leuchteten wie frischgefallener Schnee auf den Hügeln. Auf dem Abhang unterhalb des Gemüsegartens der Osteria keimte der junge Weizen empor, lichtgrün und seidenweich. Mitten auf dem Acker draußen standen zwei Mandelbäumchen, deren Blütenkronen blaßrot schimmerten.
„Unser letzter Tag in der Campagna,“ sagte Helge. „Ist es nicht seltsam?“
„Für dieses Mal —“. Sie küßte ihn und wollte ihrem eigenen Mißmut nicht nachgeben.
„Ja. Denkst du niemals daran, Jenny, daß es, wenn wir wieder hier sitzen, dann so nicht wieder sein kann wie jetzt? Man ändert sich dauernd, Tag für Tag — wir sind nicht mehr dieselben, wenn wir wieder hier unten sitzen. Nächstes Jahr — nächsten Frühling — es ist dann nicht mehr dieser Frühling, Jenny. Wir sind dann auch nicht mehr genau dieselben. Und unsere Liebe? Wir werden uns ebenso lieben, aber nicht auf ganz dieselbe Art.“
Jenny zog die Schultern hoch, als wenn es sie fröstelte:
„So etwas würde eine Frau niemals sagen, Helge,“ und sie versuchte zu lachen.
„Findest du es so seltsam, daß ich das sage? Ich kann nicht von dem Gedanken loskommen. Denn ich finde, diese Monate haben mich so sehr verändert. Dich auch — entsinnst du dich des ersten Morgens? Du sagtest, alles sei dir so verändert erschienen, als du hinaustratest. So wie ich war, als ich hierher kam, konntest du mich damals ja nicht liebgewinnen, Jenny, nicht wahr?“
Sie strich ihm über die Wangen:
„Aber Helge, mein Jung, das ist ja eben die große Veränderung — daß wir uns liebgewonnen haben. Und unsere Liebe wächst und wächst beständig. Wenn wir uns jetzt verändern, so liegt das nur daran, daß unsere Liebe wächst. Darum braucht man doch keine [S. 132] Furcht zu hegen? Wir sind zwei frohe Menschen geworden — das ist die Veränderung. Entsinnst du dich des Tages — meines Geburtstages — des Tages auf der Via Cassia? Die ersten feinen Fäden begannen damals, sich zwischen uns zu spinnen; jetzt ist ein starkes Band daraus geworden und es wird immer stärker. Ist das ein Grund, sich zu fürchten, Helge?“
Er küßte sie auf den Hals:
„Morgen reist du —“.
„Ja. Und in sechs Wochen kommst du nach.“
„Ja. Aber dann sind wir nicht hier. Wir können nicht in die Campagna fahren. Das ist es eben, daß wir mitten im Frühling aufbrechen müssen.“
„Daheim haben wir auch Frühling, Helge. Auch dort gibt es Lerchen. Sieh diese treibenden Wolken — das ist fast wie daheim. Denk an den Vestre Aker, Jung — an ganz Nordmarken. Da wollen wir zusammen hinauf gehen. Oh, der Frühling daheim, mit weißen Schneestreifen in allen Schluchten rings um den blauen, blauen Fjord! Dann die letzten Schneeschuhfahrten auf der Frühjahrsbahn; wir machen vielleicht in diesem Jahre auch noch eine Skifahrt zusammen. Wenn der Schnee so naß ist, daß er nicht einmal knirscht, wenn alle Bäche brausen und sprudeln, der Abendhimmel sich über uns breitet, grün und klar, mit großen glitzernden Goldsternen bestickt und die Skier in den Felsspalten schürfen und knirschen.“
„Ja, ja.“ Er bog sie sanft zu sich hinüber. „Vestre Aker — Nordmarken .... Ich bin dort soviel allein umhergegangen, daß es mir davor graut. Ich habe das Gefühl, als müßten dort Fetzen meiner alten abgelegten Seelen auf jedem Busche hängen.“
„Still, still! Es kann so schön werden. Mit meinem Freunde an all den Orten umherzugehen, wo ich so viel allein und traurig gewesen bin, so manchen Lenz hindurch.“
Hand in Hand wanderten sie über die graugrüne Campagna. Jetzt, gegen Abend, hatte der Wolkenschleier sich über den ganzen Himmel gebreitet, und ihnen entgegen wehte der Frühlingswind.
[S. 133]
Jenny sagte weh und sehnsuchtsvoll jedem einzelnen Dinge Lebewohl. Drunten auf der Fahrstraße knirschten Heuwagen, von Ochsen gezogen, deren weißgraue Haut in sammetweiches Braun überging, und vor den blaubemalten Weinkarren läuteten die Glöckchen an dem roten Saumzeug der Maultiere.
Alles war lieb und vertraut hier draußen, alles hatte sie Tag für Tag mit ihm zusammen hier gesehen und selber nicht gewußt, daß sie es sah; nun fühlte sie plötzlich, daß alles in ihre Seele eingebrannt war zugleich mit der Erinnerung an diese Tage.
Hier der trockene, rotbraune Hügel, dessen starres, kurzes Wintergras von Tag zu Tag weicher und grüner geworden war, die treuen Tausendschön auf der mageren Erde, die geheimnisvollen Gruben, in die das Erdreich zusammengestürzt war, vor denen sie verwundert gestanden hatten; die dornigen Hecken am Rande der Wege und die blanken, saftiggrünen Blätter der wilden Kalla unter den Büschen ...
Der Lerchen unablässiges Trillern hoch oben unter der weißen Himmelskuppel, die wunderlich glasartigen Töne der unzähligen Drehorgeln, die weit draußen auf den Osterien in der Ebene zum Tanz aufspielten und immer die gleichen kleinen italienischen Melodien hören ließen.
Der Gedanke, daß sie von diesem allen lassen sollte, kam ihr so sinnlos vor.
Sie ging mit Helge durch den flutenden Frühlingswind, der ihren Körper durchkühlte wie ein Bad; sie fühlte sich selbst wie ein kühles, frisches, saftgefülltes Blatt, und sie sehnte sich danach, sich ihm zu geben.
In ihrem dunklen Hausflur sagten sie sich zum letzten Male Lebewohl. Sie wollten nicht voneinander lassen.
„Könnte ich doch heute Nacht bei dir bleiben! Jenny!“
„Helge.“ Sie drängte sich an ihn. „Du darfst!“
Er umfaßte sie heftig, ihre Hüften, ihre Schultern. Aber sobald sie es ausgesprochen hatte, erzitterte sie. Sie [S. 134] wußte selbst nicht, warum ihr Angst wurde — sie wollte nicht ängstlich sein. Im selben Augenblick bereute sie, daß sie eine Bewegung gemacht hatte, als wollte sie sich aus seiner harten Umarmung befreien. Aber da hatte er sie schon freigegeben.
„Nein. Nein. Ich weiß ja, daß es unmöglich ist.“
„Ich will ja so gern,“ flüsterte sie gedemütigt.
„Ja, ja.“ Er küßte sie. „Ich weiß, daß du ... aber ich weiß auch, daß ich nicht darf —.“
„Dank, Jenny! Hab Dank für alles! Jenny, Jenny — Dank für deine Liebe! Gute Nacht.“ —
Die Tränen rannen kalt über ihre Wangen, als sie in ihrem Bett lag. Sie versuchte sich selbst klarzumachen, daß es sinnlos sei, zu liegen und so zu weinen als wäre irgend etwas Schönes zu Ende gegangen, irgend ein Glück zersprungen.
[S. 137]
Als Jenny in Fredrikshald über den Bahnsteig lief, um im Warteraum ein wenig Kaffee zu sich zu nehmen, hielt sie einen Augenblick inne. Irgendwo über ihr tirilierte eine Lerche.
Sie schloß die Augen, als sie dann am Abteilfenster saß. Die Sehnsucht nach dem Süden war schon erwacht.
Der Zug sauste an kleinen, mutwillig zerrissenen und geborstenen Bergkuppen aus rotem Granit vorbei. Der Fjord schimmerte stellenweise in ungebrochenem, leuchtendem Azurblau hindurch. An den Felsen hinan klammerte sich die Föhre fest. Die Nachmittagssonne lag auf roten, erzen schimmernden Stämmen und tiefgrünen, metallblanken Kronen; es war, als glänzte alles vom Bade nach der Schneeschmelze. Bächlein gurgelten den Bahnkörper entlang, und die nackten Kronen der Laubbäume leuchteten in der klaren Luft.
Es war hier so anders als im Lenz des Südens. Sie aber sehnte sich nach ihm — seinem langsamen, gesunden Atem, seiner Farben milder Freude. Diese Farbenorgien hier erinnerten sie an andere Lenztage — mit wilder Sehnsucht nach heißen Freuden, die ihrem jetzigen ruhigen Glück nicht eigen waren.
Oh, der Frühling dort unten mit dem leise sprießenden Grün auf der endlosen Ebene! Das Gebirge umgab sie mit strengen, festen Linien. Die Menschen hatten den Wald gerodet und ihre mauergekrönten steingrauen Städte auf den Felsspitzen errichtet, ihre silberfarbenen Olivenhaine an den Hängen aufgepflanzt. Das Leben hatte [S. 138] sich Jahrtausende über in den Felsen geregt, und die Berge trugen geduldig die kleine Welt auf ihren Schultern, dennoch in ewiger Einsamkeit und Ruhe ihre Scheitel gen Himmel hebend. Diese stolzen, strengen Linien, der Farben gedämpftes Silbergrau, Graublau und Grüngrau, diese uralten Städte und der langsam vorwärtsschreitende Frühling! Wie viel man auch erzählte von des Südens schäumendem Leben, so schien dort doch der Lebensodem in ruhigem, gesünderem Zeitmaß die Menschen zu durchströmen als hier im Norden. Trotz des Lenzes mutwilliger Gewalt im Süden war es dort leichter, die Frühlingswoge vorüberbrausen zu lassen.
Ach Helge! Könnte ich doch bei dir sein! Ihr schien die Zeit, die sie mit ihm verlebt, so unendlich fern. Kaum eine Woche war vergangen, seit sie sich getrennt hatten, und doch war ihr alles wie ein Traum, als sei sie nie von der Heimat fortgewesen.
Wie dankte sie dem Schicksal, das sie von hier geführt. So hatte sie nicht zu sehen und zu fühlen brauchen, wie der weiße, ruhevolle, frostklare Winter wich, wie die klingende, stärkende, lichtblaue Luft, von silberreinem, feuchtem Dunst durchtränkt, über den braunen Erdschollen zitterte. Die Luft flimmerte, alle Linien lösten sich auf, während die Farben scharf und brennend, gleichsam nackt, hervortraten, bis der Abend kam, und alles unter einer Flut blaßgrünen, zehrenden Lichtes erschauerte, das nicht weichen wollte.
Mein kleiner Junge, was du wohl jetzt treibst. Ich sehne mich ja so nach dir — ich kann es fast nicht glauben, daß du mir gehörst. Ich will bei dir sein, ich will nicht allein hier umhergehen und mich den ganzen langen, unheimlich hellen Frühling hindurch nach dir verzehren. —
Weiter hinauf in Smaalene lagen schmelzende Schneestreifen am Waldessaum und unter den Steinwällen. Die welkbraunen Erdschollen und umgepflügten Aecker breiteten sich in milden Farben aus, und hier, wo die Himmelskuppel sich höher wölben konnte, erblaßte das blendend starke Blau nach dem Horizonte zu allmählich. Die niedrige [S. 139] wellige Kette der bewaldeten Bergkuppen lag weit drüben, während das feine Geäst der einzelnen freistehenden Baumgruppen draußen im Lande sich wie Spitzenwerk in der Luft abzeichnete.
Altersgraue Gehöfte gleißten wie Silber, und neue rote Nebengebäude glühten tief auf. Der Föhrenwald leuchtete olivengrün, Birkendickicht und Espenstämme hoben sich rotviolett und lichtgrün dagegen ab.
Ja, es war Frühling. Die hitzigen Farben brennen eine Weile, bis alles gelbgrün schimmert und vor Lebensfreude eine Zeitlang strahlt, um ein paar Wochen später zu dunkeln und zu reifen und dem Sommer zu weichen.
Der Frühling des Nordens ist unersättlich — kein Glück ist ihm strahlend genug! —
Der Abend fiel hernieder, während der Zug gen Norden brauste. Die letzten langen, roten Sonnenstrahlen blitzten über eine Felskuppe. Dann blieb nur ein güldener Schein am wolkenlosen Himmel zurück, der unendlich langsam hinstarb.
Als der Zug Moß verließ, ragten die Berge kohlschwarz zum grünlichklaren Himmel auf. Die Spiegelung lag noch tiefdunkler, durchsichtig schwarz auf dem grasgrünen Fjord. Ein einziger großer Stern stand über der Bergspitze, sein Bild drunten auf dem Wasser zitterte wie ein dünner Strahl Goldes.
Jenny mußte an Franziskas Nachtbilder denken. Das Leben der Farben nach Sonnenuntergang war das, was Cesca am liebsten festzuhalten suchte. Gott weiß, wie es ihr eigentlich ging. Sie arbeitete übrigens fleißig in der letzten Zeit. Jenny hatte Gewissensbisse. Die beiden letzten Monate hatte sie Cesca kaum gesehen und doch durchfuhr sie oftmals der Gedanke, daß Cesca es wohl schwer hatte. Aber alle guten Vorsätze Jennys, sich einmal mit Cesca auszusprechen, waren umsonst gewesen.
Es war Nacht, als sie in Kristiania einfuhr. Mutter, Bodil und Nils nahmen sie auf dem Bahnhof in Empfang.
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Ihr war, als hätte sie die Mutter erst vor einer Woche gesehen. Frau Berner weinte, als sie die Tochter küßte: „Willkommen daheim, mein liebes Kind — Gott segne dich!“
Bodil aber war groß geworden. Sie sah fesch und elegant aus in dem fußfreien Straßenkostüm. Kalfatrus begrüßte sie ein wenig fremd.
Diese Luft auf dem Bahnhofsmarkt war etwas für sich, die gab es in der ganzen Welt nicht wieder — Geruch von Seewasser und Kohlenruß und Heringslauge.
Die Droschke holperte über die Carl Johannstraße, an den bekannten Häusern vorüber. Die Mutter fragte sie nach der Reise. — Jenny überkam ein seltsam alltägliches Gefühl. Es war ihr, als sei sie niemals fort gewesen. Die Kinder auf dem Rücksitz sprachen kein Wort.
Oben auf dem Wergelandswege, vor einer Gartentür, standen zwei junge Menschen und küßten sich unter einer Gaslaterne. Ueber den nackten Baumkronen des Schloßparkes wölbte sich der Himmel tiefblau und klar mit wenigen mattschimmernden Sternen. Jenny spürte einen Hauch wie von moderndem Laub durch die Nacht, einen Hauch aus vergangenen sehnsuchtsschweren Tagen.
Der Wagen hielt vor dem Tore daheim, ein großer ummauerter Hof zog sich hinter dem Hause den Haegdehaug hinauf. Im Milchladen des Erdgeschosses war Licht und die „Delikatesse“ guckte heraus, als sie den Wagen halten hörte, rief Guten Tag und bot Jenny ein Willkommen.
Ingeborg kam die Treppe herabgestürmt und umfing Jenny. Dann lief sie mit dem Handkoffer der Schwester wieder nach oben.
Im Wohnzimmer war der Teetisch gedeckt. Jenny erblickte ihre Serviette mit dem alten Silberring, der noch vom Vater stammte, auf ihrem alten Platz, neben Kalfatrus auf dem Sofa.
Ingeborg stürzte in die Küche hinaus, während Bodil Jenny in ihr Kämmerchen führte, das nach dem Hofe hinausging. Ingeborg hatte es bewohnt, während Jenny im Auslande war, sie hatte noch nicht alle ihre Sachen [S. 141] beiseite geräumt. An den Wänden hingen Schauspielerkarten; Napoléon und Madame Recamier in Mahagonirahmen waren an jeder Seite von Jennys altem Empirespiegel über der Kommode angebracht.
Jenny wusch sich und ordnete ihr Haar. Sie hatte das Gefühl, als sei ihre Haut schwarz von der Reise, und fuhr sich mit der Puderquaste ein paar Mal über das Gesicht. Bodil schnupperte am Puder — ob er parfümiert sei.
Sie gingen hinein zum Tee. Ingeborg hatte ein warmes Fischgericht zubereitet, sie war in diesem Winter auf der Kochschule gewesen. Hier drinnen unter der Lampe sah Jenny, daß beide Schwestern die dicken krausen Flechten im Nacken mit weißer Seidenschleife hochgebunden trugen. Ingeborgs kleines Mulattenfrätzchen war ein wenig schmaler und bleicher geworden, sie hustete aber jetzt nicht.
Und nun sah Jenny auch, daß die Mutter älter geworden war. Oder täuschte sie sich? Hatte sie vielleicht damals, während sie daheim war und sie jahrelang Tag für Tag sah, nur nicht bemerkt, daß der feinen Fältchen in Mutters blondem Antlitz mehr und mehr, daß die Schultern spitzer wurden, die hohe, mädchenhaft schlanke Gestalt gebeugter? Seit Jenny erwachsen war, hatte sie hören müssen, daß Mama aussah wie ihre etwas ältere, schönere Schwester.
Es wurde von allem gesprochen, was sich im verflossenen Jahre daheim zugetragen hatte.
„Warum nahmen wir eigentlich kein Automobil für den Heimweg?“ fragte Nils plötzlich. „Das wäre doch das Praktischste gewesen.“
„Du kommst nun allerdings reichlich spät mit deinem Vorschlag, Junge.“ Jenny mußte lachen.
Das Gepäck kam, und Mutter wie Schwestern folgten atemlos dem Auspacken. Ingeborg und Bodil trugen die Sachen ins Kämmerchen und verstauten sie in den Kommodeschiebladen. Sie befühlten fast mit Andacht die gestickte Wäsche, die, wie Jenny erklärte, in Paris gekauft war. Ueber die Geschenke jubelten sie — Rohseide für Sommerkostüme und venetianische Perlenketten. Sie standen [S. 142] vor dem Spiegel, warfen die Seide prüfend über die Schulter und legten die Halsketten um die Stirn.
Nur Kalfatrus fragte nach ihren Bildern und lüftete die Blechtrommel mit der Leinwand.
„Wieviel hast du da, Jenny?“
„Sechsundzwanzig. Es sind aber meistens kleine Bilder.“
„Wirst du eine Separatausstellung veranstalten?“
„Ich weiß noch nicht recht, gedacht habe ich daran.“
Die Mädels hatten aufgewaschen, Nils hatte sein Bett auf dem Sofa in der Wohnstube zurechtgemacht. Frau Berner und Jenny saßen im Zimmer der Tochter bei einer zweiten Tasse Tee und einer Zigarette.
„Wie findest du Ingeborg?“ fragte die Mutter ängstlich.
„Sie ist frisch und lebhaft, sieht auch nicht schlecht aus. Aber natürlich, in ihrem Alter ist nicht damit zu spaßen. Wir müssen sehen, daß wir sie aufs Land hinausschicken, bis sie wieder ganz frisch ist, Mama.“
„Ingeborg ist immer so lieb und gut, munter und vergnügt. Und so tüchtig im Haushalt. Ich bange mich so um ihretwillen, Jenny. Ich glaube, sie hat diesen Winter zu viel getanzt, ist allzu viel draußen gewesen und zu spät ins Bett gekommen. Aber ich brachte es nicht übers Herz, es ihr zu verbieten. Du hattest es so trübselig, Jenny, und ich sah sehr wohl, daß du Vergnügen und Freude entbehrtest. — Ich war überzeugt, sowohl du wie Papa würden mir Recht geben, wenn ich dem Kinde sein Vergnügen ließe, solange es sich bot.“ Frau Berner seufzte. „Meine armen kleinen Mädels — Mühsal und Arbeit, das ist es nur, was sie erwartet. Was soll werden, Jenny, wenn ihr mir noch obendrein krank werdet? Ich kann so wenig für euch tun, meine Kinder.“
Jenny beugte sich zu ihr hinüber und küßte ihr die Tränen von den schönen, kindergroßen Augen. Sie [S. 143] schmiegte sich an die Mutter und die Sehnsucht, Zärtlichkeit zu erweisen und selber zu empfangen, die Erinnerung an vergangene Tage der Kindheit und das Bewußtsein, daß ihre Mutter der Tochter Leben mit seinen früheren Sorgen und seiner jetzigen Glückseligkeit nicht gekannt hatte, flossen zusammen zu dem Gefühl schützender Liebe. Frau Berner legte ihren Kopf an der Tochter Brust.
„Nicht weinen, Mama — das wird alles schon werden, du sollst nur sehen. Nun bleibe ich ja vorläufig zu Hause. Und dann haben wir doch Gott sei Dank noch etwas von Tante Katharines Geld übrig.“
„Aber Jenny, das brauchst du doch für deine Ausbildung. Ich habe ja nach und nach eingesehen, daß du an deiner Ausbildung nicht gehindert werden darfst. Es war eine solche Freude für uns alle, als du das Bild im letzten Herbst verkauftest.“
Jenny lächelte ein wenig. Jenes Bild, das verkauft wurde, und die wenigen Worte in der Zeitung über sie — es war, als sähe ihre ganze Familie danach mit ganz anderen Augen auf ihre Malerei.
„Das renkt sich noch alles ein, Mama. Alles. Ich kann etwas nebenher verdienen, wenn ich zu Hause bin. Ein Atelier muß ich haben,“ sagte sie einen Augenblick darauf. Und sie fügte hinzu, hastig, erläuternd: „Denn ich muß meine Bilder im Atelier vollenden.“
„Ja aber,“ die Mutter sah ganz entsetzt aus. „Du wohnst doch zu Hause, Jenny?“
Jenny antwortete nicht gleich.
„Ich finde, es geht nicht anders, mein Kind,“ fuhr die Mutter fort. „Ein junges Mädchen kann nicht allein im Atelier wohnen.“
„Nein, gewiß, wohnen kann ich hier,“ entgegnete Jenny. —
Sie holte Helges Photographie hervor, als sie allein war. Dann setzte sie sich hin, um an ihn zu schreiben.
Erst ein paar Stunden war sie jetzt zu Hause. Aber alles, was sie dort unten erlebt hatte, schien ihr so [S. 144] grenzenlos fern und fremd. So ohne Zusammenhang mit ihrem Leben hier zu Hause — früher und jetzt.
Der Brief wurde zu einer einzigen sehnsüchtigen Klage.
Jenny hatte ein Atelier gemietet. Sie ging umher und räumte ein. Nachmittags kam Kalfatrus, um ihr zu helfen.
„Du bist ein gefährliches Langbein geworden, Kalfatrus. Ich war nahe daran, Sie zu dir zu sagen, Bengel, als ich dich das erste Mal sah.“
Der Junge lachte.
Jenny erkundigte sich nach all seinem Tun und Lassen während ihrer Abwesenheit, und Nils erzählte. Er und Jakop und Bruseten — zwei neue Jungen, die im vergangenen Herbst in die Klasse gekommen waren — hatten eine Zeitlang oben in Nordmarken in den Holzhauerkojen als Wilde gelebt, und ihrer Abenteuer waren unzählige. Jenny fragte sich, während sie ihm zuhörte, ob wohl je wieder Zeit bliebe zu Nordmarksfahrten für sie und Kalfatrus. —
An den Vormittagen streifte sie in der Gegend von Bygdö umher — allein in dem weißen Sonnenschein. Bleich lag die Erde mit dem toten, gelblichweißen Gras da. Am Waldrande nach Norden zu fand sich noch immer alter Schnee unter den stahlschwarzen Nadeln. Aber an den Südhängen schimmerten die nackten Zweige der Laubbäume in der sonnengetränkten Luft, und unter dem alten, wärmenden Laub lugten weiche Blauanemonenknöspchen hervor. Dort draußen war die Luft schon von Vogelgezwitscher erfüllt. —
Helges Briefe las sie wieder und wieder — sie trug sie bei sich. Sie sehnte sich nach ihm, krankhaft, ungeduldig, sehnte sich, ihn zu schauen, ihn zu berühren, zu fühlen, daß sie ihn auch wirklich besaß.
[S. 145]
Zwölf Tage war sie nun daheim, und noch war sie nicht dazu gekommen, zu seinen Eltern zu gehen. Als er schließlich zum dritten Male in einem Briefe fragte, raffte sie sich auf. Morgen sollte es Wahrheit werden.
Das Wetter war im Laufe der Nacht umgeschlagen. Ein beißender Nordwind fegte daher — stechende Sonnenglut und wirbelnde Wolken von Staub und Papier in den Straßen — und plötzlich ein Hagelschauer, so heftig, daß sie in einem Torweg Schutz suchen mußte. Die harten weißen Körner spritzten rings um ihre niedrigen Schuhe und dünnen Sommerstrümpfe von den Pflastersteinen auf.
Dann kam die Sonne wieder hervor.
Grams wohnten in der Welthavensstraße. Jenny stand einen Augenblick an der Ecke still. Der Schatten lag klamm und eiskalt zwischen den beiden Reihen schmutziggrauer Häuser. Nur auf der einen Seite fiel hoch oben ein Sonnenstreifchen hinein. Sie wurde froh, sie wußte, daß Helges Eltern im vierten Stock wohnten.
Diese Straße war vier Jahre hindurch ihr Schulweg gewesen. Da waren sie wieder, die winzig kleinen dunklen Kaufläden, die Fenster mit Blumentöpfen in zerrissenem Seidenpapier und farbigen Majolikakrügen und die vergilbten Modenzeitungen an den Fenstern der Näherinnen, die Torwege, die auf kohlschwarze Hinterhöfe hinausstarrten. Noch immer lagen hier Haufen schmutzigen Schnees und machten die Luft in den Hofräumen rauh. Die Straßenbahnen fuhren mit schwerem Getöse die hügelige Straße hinauf.
Gleich daneben, an der Pilengasse, lag eine von den rußigen, grauen Mietskasernen mit einem Hofplatz, der einer dunklen Höhle glich. Dort hatten sie gewohnt, als der Stiefvater starb.
Sie verweilte ein wenig draußen vor der Eingangstür mit dem Messingschilde G. Gram. Sie hatte Herzklopfen und versuchte, über sich selbst zu lachen. Immer ging es ihr so; sinnlos beklommen war sie, wenn sie in eine Lage kam, die sie sich nicht Jahre im voraus hatte ausmalen können. Herrgott — ein Paar zukünftiger Schwiegereltern [S. 146] waren doch keine besonders wichtigen Persönlichkeiten für sie. Auffressen würden sie sie jedenfalls kaum können. Sie läutete.
Drinnen hörte sie jemanden durch einen langen Korridor kommen, und gleich darauf wurde die Tür geöffnet. Helges Mutter. Jenny erkannte sie von der Photographie her.
„Frau Gram? — Mein Name ist Winge.“
„Ah so — bitte sehr, wollen Sie nicht nähertreten?“
Sie ging vor Jenny her durch einen langen, engen Gang, der angefüllt war mit Schränken, Kisten und Mänteln.
„Bitte schön,“ sagte Frau Gram wieder und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Helles Sonnenlicht lag auf den schweren moosgrünen Plüschmöbeln; der Raum war nicht groß und gestopft voll von Nippes und Photographien. Auf dem Fußboden lag ein Teppich in schillernden Farben, vor allen Türen hingen Plüschportieren.
„Entschuldigen Sie die Unordnung, ich habe hier so lange nicht Staub wischen können,“ sagte Frau Gram. „Wir sind an Werktagen nämlich nie in diesem Zimmer, und ich bin augenblicklich ohne Mädchen. Das letzte mußte ich wegjagen — die ärgste Schmutzliese, und dann konnte sie ihren Mund nie halten. So sagte ich ihr denn, sie sollte machen, daß sie fortkäme. Aber eine neue zu bekommen — das ist unmöglich, und schließlich sind sie eine wie die andere. Nein, Hausfrau, das ist der schlimmste Beruf, den es gibt. — Ja, Helge hatte uns ja auf Ihren Besuch vorbereitet, jetzt hatten wir aber die Hoffnung wahrhaftig aufgegeben, daß Sie uns die Ehre geben würden.“
Während sie lächelte und sprach, zeigte sie eine Reihe großer, weißer Vorderzähne. An beiden Seiten fehlten die Augenzähne und hatten eine dunkle Lücke hinterlassen.
Jenny betrachtete sie, Helges Mutter.
Sie hatte sich dies alles so ganz anders gedacht.
Nach seinen Erzählungen hatte sie sich ein Bild von seinem Heim und seiner Mutter gemacht. Die Mutter [S. 147] mit dem schönen Antlitz, das auf der Photographie Helge ähnlich war, mochte sie gern. Sie, die der Mann nicht liebte, die aber ihre Kinder so geliebt hatte, daß sie sich dagegen auflehnten und rebellierten, hinaus wollten, fort von dieser tyrannischen Mutterliebe, die es nicht ertrug, daß sie etwas anderes seien als nur ihre Kinder. In ihrem Herzen hatte Jenny Partei ergriffen für diese Mutter. Männer konnten kaum verstehen, wie eine Frau werden mußte, die Liebe gab und niemals Liebe zurück empfing, außer der Kindesliebe der ersten Jahre. Die Kinder begriffen ja die Gefühle einer Mutter nicht, wenn sie sie heranwachsen und sich von ihr abwenden sah, begriffen nicht, daß eine Mutter sich in Trotz und Zorn gegen das unerbittliche Leben auflehnte, das daran Schuld war, daß die Kinder groß wurden und nicht mehr ihr Ein und Alles in der Mutter sahen, für die doch bis in alle Ewigkeit die Kinder das Höchste bedeuteten.
Jenny hatte Helges Mutter lieben wollen.
Und nun empfand sie eine rein physische Abneigung gegen diese Frau Gram, die da vor ihr saß und unaufhörlich redete.
Es waren wohl Helges Züge wie auf dem Bilde. Diese hohe, ein wenig schmale Stirn, die fein gebogene Nase und die gradlinigen, dunklen Brauen, der kleine Mund mit den feinen schmalen Lippen und das spitze Kinn.
Um ihren Mund lag aber ein Ausdruck, als ob alles, was sie sprach, nur Spott sei. Ein spöttischer und bösartiger Zug war in all den feinen Runzeln des Gesichts. Die großen Augen, selten schön geschnitten mit ganz emailleblauem Weiß im Apfel, hatten einen harten, stechenden Blick, diese großen, tiefbraunen Augen, die viel dunkler waren als die Helges.
Schön mußte sie gewesen sein, selten schön. Und dennoch wußte Jenny ganz bestimmt, was ihr früher schon einmal eingefallen war, daß Gert Gram diese Frau kaum aus Liebe geheiratet hatte. Dame war sie auch durchaus nicht — weder in Sprache noch Wesen. Es gab ja so viele nette junge Mädchen im Mittelstande, die zu Vetteln [S. 148] wurden, sobald sie eine Weile verheiratet waren und sich in der Enge des Hauses mit Dienstmädchen- und Wirtschaftssorgen einige Jahre abgeplagt hatten.
„Kandidat Gram bat mich, zu Ihnen zu gehen und Sie von ihm zu grüßen,“ sagte Jenny. Sie empfand es plötzlich als eine Unmöglichkeit, Helge bei seinem Namen zu nennen.
„Ja, er war in der letzten Zeit nur mit Ihnen zusammen, in den letzten Briefen erwähnt er jedenfalls niemand anderes. Uebrigens schwärmte er im Anfang wohl ein bißchen für ein kleines Fräulein Jahrmann, glaube ich?“
„Meine Freundin, Franziska — ja, im Anfang waren wir eine ganze Schar, die sich oft zusammenfand. Aber jetzt zuletzt war Fräulein Jahrmann mit einer größeren Arbeit beschäftigt.“
„Sie ist wohl die Tochter von Oberstleutnant Jahrmann in Tegneby? Hat sie nicht Geld?“
„Nein. Ihre Ausbildung bestreitet sie von dem Wenigen, was sie von ihrer Mutter geerbt hat, sie steht nicht eben auf gutem Fuße mit ihrem Vater, d. h. er wünschte nicht, daß sie Malerin wurde, und dann wollte sie nichts von ihm annehmen.“
„Wie töricht. — Meine Tochter, Frau Kaplan Arnesen,“ sagte Frau Gram, „kennt sie flüchtig, sie war hier zu Weihnachten. Sie meinte übrigens, da spielten andere Gründe mit, weshalb Oberstleutnant Jahrmann nichts mit ihr zu tun haben wollte; sie soll ja so hübsch sein, aber einen recht schlechten Ruf haben.“
„Das ist durchaus unwahr,“ sagte Jenny steif.
„Ja, Sie Künstlerinnen haben es gut,“ Frau Gram seufzte. „Aber ich begreife nicht, wie Helge arbeiten konnte. Ich fand, er schrieb nie von etwas anderem, als daß er mit Ihnen hier und dort in der Campagna herumgestreift sei.“
„Oh — oh,“ sagte Jenny. — Es war peinlich über das Leben dort unten aus Frau Grams Munde zu hören. [S. 149] „Kandidat Gram war sehr fleißig, fand ich. Einen Feiertag muß man doch hin und wieder haben.“
„Ja. Wir Hausfrauen müssen freilich ohne solche auskommen. Warten Sie, bis Sie verheiratet sind, Fräulein Winge. Aber auch andere Menschen sollen ihre freien Tage haben. Ich habe eine Nichte, die eben Volksschullehrerin geworden ist. Sie sollte Medizin studieren, konnte es aber nicht aushalten, sie mußte aufhören und aufs Seminar gehen. Ja, ich finde, die hat immer frei. Du wirst dich doch wahrhaftig nicht überanstrengen, Aagot, sage ich zu ihr.“
Frau Gram verschwand durch eine Tür auf den Korridor hinaus. Jenny erhob sich und betrachtete die Malereien.
Ueber dem Sofa hing eine große Campagnalandschaft. Man konnte wohl sehen, daß Helges Vater in Kopenhagen gelernt hatte. Das Bild war gut und solide gezeichnet, aber dünn und trocken in der Farbe. Besonders der Vordergrund mit den beiden Italienerinnen in Nationaltracht und den miniaturartig gemalten Pflanzen an einer umgestürzten Säule waren langweilig. Die Modellstudie eines jungen Mädchens darunter war besser.
Sie mußte lächeln. — Man konnte beim Anblick dieser italienischen Romantik verstehen, daß es Helge im Anfang schwer gefallen war, sich in Rom zurechtzufinden, und daß es ihn enttäuscht hatte.
Da waren viele kleine braune, zierlich gezeichnete Landschaften von Italien mit Ruinen und Nationaltrachten. Aber die Studie des Priesters dort war gut.
Einige Kopien dagegen — Corregios Danaë und Guido Renis Aurora — oh Gott! Außerdem fanden sich noch einige andere Kopien von barocken Bildern, die sie kaum kannte.
Dann hing an der einen Seite noch eine große hellgrüne Sommerlandschaft. Gram hatte versucht, impressionistisch zu malen. Das Bild war aber dünn und häßlich in den Farben. Das dort über dem Klavier war besser. [S. 150] Sonnenglut über den Felsspitzen, die Luft war entzückend wiedergegeben.
Daneben hing ein Porträt der Frau des Hauses. Das war das beste. Tatsächlich, es war gut. Die Gestalt plastisch modelliert. Ebenso die Hände. Dann das hellrote Kleid mit den Verzierungen, die durchbrochenen schwarzen Halbhandschuhe. Das olivenbleiche Gesicht mit den dunklen Augen unter den Stirnlocken und der hohe, spitze schwarze Hut mit roter Feder. Sie stand aber leider wie an den Hintergrund geklebt, der mit einem säuerlichen Graublau übermalt war.
Und dort noch ein Kinderbild „Bamse vier Jahre“, stand oben auf dem Rahmen. Nein, Herrgott — war das Helge, der kleine schmollende Kerl im weißen Hemdchen? O, wie lieb er aussah!
Frau Gram brachte ein Tablett mit Rhabarberwein und Kakes herein. Jenny murmelte etwas von Umstände machen:
„Ich habe mir die Bilder Ihres Gatten angesehen, Frau Gram.“
„Ja, ich verstehe mich ja nicht sonderlich darauf, aber ich finde sie großartig. Mein Mann behauptet freilich, es wäre nichts an ihnen dran, aber das ist wohl nur so hingesagt. Nein,“ sie lachte etwas bitter. „Mein Mann ist so sonderbar. Von der Malerei konnten wir nicht leben, als wir heirateten und Kinder bekamen, so daß er daneben etwas Nützliches betreiben mußte. Dann hatte er aber keine Lust, so nur nebenher zu malen, und darum behauptete er eines schönen Tages, er hätte kein Talent. Ich finde ja seine Bilder schöner als die modernen Sachen, aber Sie sind wohl anderer Meinung, Fräulein Winge?“
„Ja, die Bilder Ihres Gatten sind sehr schön,“ entgegnete Jenny. „Besonders das Bildnis von Ihnen, Frau Gram. Das ist wirklich reizvoll.“
„O ja. Aber es hat freilich nicht viel Aehnlichkeit — geschmeichelt hat Gram mich nicht.“ Sie lachte wieder ihr kleines, bitteres, böses Lachen. „Nein, das kann man nicht gerade behaupten. Ich finde ja, er malte [S. 151] viel netter, ehe er begann, all das nachzuäffen, was damals plötzlich modern wurde — Sie wissen, Thaulow und Krogh und Konsorten.“
Jenny trank ihren Rhabarberwein schweigend aus, während Frau Gram sprach.
„Ich würde Sie gern zu Mittag einladen, Fräulein Winge. Aber ich mache die Wirtschaft allein und dann ist man ja nicht auf Gäste vorbereitet, das können Sie sich wohl vorstellen. Ich kann also leider nicht. Aber das nächste Mal, hoffe ich.“
Jenny verstand, daß Frau Gram sie gern los sein wollte. Das war ja auch begreiflich, wenn sie kein Mädchen hatte. Sie war wohl gerade beim Mittagkochen. So verabschiedete sie sich denn.
Auf der Treppe traf sie Gram. Er mußte es sein. Sie empfing so im Vorbeigehen den Eindruck, als sähe er sehr jugendlich aus und hätte leuchtend blaue Augen.
Zwei Tage später, als Jenny des Nachmittags arbeitete, bekam sie Besuch von Helges Vater.
Jetzt, als er dastand, mit dem Hute in der Hand, sah sie, daß sein Haar ganz grau war, so grau, daß man nicht mehr unterscheiden konnte, welche Farbe es ursprünglich gehabt hatte. Jung sah er aber trotzdem aus. Die Gestalt war schlank, ein wenig gebeugt, aber nicht wie bei einem alten Manne, eher, als sei er ein wenig zu schmächtig für seine Größe. Seine Augen waren jung, obgleich sie trüb und müde aus dem mageren, glattrasierten Antlitz blickten. Sie waren aber so groß und so leuchtend blau, daß sie einen merkwürdig offenen Eindruck machten, verwundert und grüblerisch zugleich.
„Ja, Sie werden begreifen, daß es mich danach verlangt, Sie zu begrüßen, Fräulein Winge,“ sagte er und reichte ihr die Hand. „Nein — ich bitte Sie, legen Sie [S. 152] die Schürze nicht ab. Und sagen Sie’s mir, wenn ich Sie störe.“
„Nein, lieber Herr Gram,“ sagte Jenny fröhlich; seine Stimme und sein Lächeln gefielen ihr. Sie warf die Malerschürze auf den Kohlenkasten. „Es wird sowieso bald dunkel. Wie liebenswürdig von Ihnen, mich zu besuchen!“
„Es ist eine Ewigkeit her, daß ich in einem Atelier war,“ sagte Gram und blickte umher. Dann setzte er sich aufs Sofa.
„Verkehren Sie mit keinem anderen der Maler — irgend jemandem aus Ihrer Zeit?“ fragte Jenny.
„Nein, mit niemandem,“ antwortete er kurz.
„Aber.“ Jenny überlegte. „Aber wie in aller Welt haben sie hierher gefunden? Haben Sie sich bei mir zu Hause erkundigt — oder im Künstlerbund?“
Gram lachte.
„Nein. Ich sah Sie ja vorgestern auf der Treppe. Dann gestern, als ich in mein Geschäft ging, sah ich Sie wieder. Ich ging ein Stück hinter Ihnen her, da ich die Absicht hatte, Sie anzuhalten und mich Ihnen vorzustellen. Sie gingen hier hinein, und ich wußte, daß in diesem Hause ein Atelier war. Nun ja, so bekam ich die Idee, zu Ihnen hinaufzusteigen und Ihnen eine Visite zu machen.“
„Wissen Sie,“ Jenny lächelte vergnügt, „Helge lief auch auf der Straße hinter mir her, einer Freundin und mir. Er hatte sich allerdings verlaufen, unten in den alten Straßen am Flohmarkt. Dann kam er eben auf uns zu und sprach uns an — bändelte an, wie der feine Ausdruck dafür heißt. So wurden wir bekannt. Wir fanden zuerst, daß er ein wenig dreist war. Aber es scheint so, daß er von Ihnen seinen Mut geerbt hat.“
Gram runzelte die Stirn und schwieg einen Augenblick. In Jenny stieg ein unbehagliches Gefühl auf, als hätte sie etwas Dummes gesagt. Sie überlegte, wie sie fortfahren sollte.
[S. 153]
„Dürfte ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten, während Sie hier sind?“
Sie zündete ohne weiteres den Apparat an und setzte Wasser auf.
„Ja, ja, Fräulein Winge — Sie brauchen nicht zu fürchten, daß Helge mir sonst irgendwie ähnelt. Ich glaube, daß er glücklicherweise nicht das Geringste mit seinem Vater gemein hat.“ Er lachte.
Jenny wußte nicht recht, was sie darauf erwidern sollte. Sie beschäftigte sich damit, Teetassen herbeizuholen:
„Ja, hier ist es recht leer, wie Sie sehen. Aber ich wohne zu Haus bei meiner Mutter.“
„Ah so, Sie wohnen zu Hause? — Das Atelier ist sicher sehr gut — nicht wahr?“
„O ja, ich glaube.“
Er schwieg wieder und blickte geradeaus.
„Ja, Fräulein Winge — ich habe viel an Sie gedacht. Ich glaubte ja, meines Sohnes Briefe so zu verstehen, daß Sie und er —“
„Ja, Helge und ich haben uns sehr gern,“ sagte Jenny. Sie stand aufrecht da und sah ihn an. Gram ergriff ihre Hand und hielt sie fest.
„Ich kenne meinen Sohn so wenig, Jenny Winge. Ich weiß im Grunde nichts Genaues von ihm — wie er ist. Aber wenn Sie ihn gern haben, so kennen Sie ihn wohl sicher besser als ich. Und daß sie ihn lieben, beweist mir, daß ich seiner froh sein darf und stolz auf ihn. Ich habe immer geglaubt, daß er ein guter Junge sei, auch recht begabt. Daß er Sie lieb hat, dessen bin ich sicher, jetzt, da ich Sie gesehen. Möge er Sie nur glücklich machen, Jenny.“
„Ich danke Ihnen,“ sagte Jenny und reichte ihm nochmals die Hand.
„Ja.“ Gram sah vor sich hin. „Sie können sich denken, daß ich über meinen Jungen froh bin. Mein einziger Sohn. Ich glaube auch, Helge hat mich im Grunde lieb.“
[S. 154]
„Das hat er. Helge hat Sie sehr lieb. Sowohl Sie als seine Mutter.“ Gleich darauf errötete sie aber, als hätte sie etwas Taktloses gesagt.
„Ja, ich glaube wohl. Aber er sah natürlich früh ein, daß sein Vater und seine Mutter einander nicht liebten. Helge hat ein trauriges Heim gehabt, Jenny. Ich kann es ebensogut selbst sagen; haben Sie es noch nicht bemerkt, so werden Sie es bald selber sehen. Sie sind ja sicher ein kluges Mädchen. Aber eben deshalb glaube ich, Helge weiß, was es wert ist, wenn zwei sich lieb haben. Und er wird Sie und sich behüten —.“
Jenny schenkte Tee ein:
„Helge pflegte in Rom nachmittags zum Tee zu mir zu kommen. Eigentlich lernten wir uns gerade in diesen Nachmittagsstunden näher kennen, glaube ich —.“
„Und da gewannen Sie sich lieb.“
„Ja — nicht gleich. Das heißt, im Grunde vielleicht doch. Aber wir dachten an nichts anderes, als gute Freunde zu sein — damals. Ja, später kam er dann natürlich auch und trank seinen Tee bei mir —.“
Sie lächelten beide.
„Können Sie mir nicht ein wenig erzählen, wie Helge als Knabe war — als kleiner Junge, meine ich — oder sonst etwas —?“
Gram schüttelte trübe lächelnd den Kopf:
„Nein, Jenny. Ich kann Ihnen nichts von meinem Sohn erzählen. Er war immer gut und folgsam. Fleißig auf der Schule — nicht gerade ein Licht, doch recht fleißig und tüchtig. Aber Helge war als Knabe sehr verschlossen — auch als Erwachsener — jedenfalls mir gegenüber —. Erzählen Sie lieber, Jenny,“ lachte er warm.
„Wovon?“
„Von Helge natürlich. Ja — zeigen Sie mir, wie mein Sohn in den Augen des jungen Mädchens aussieht, das ihn liebt. Sie sind ja kein gewöhnliches junges Mädchen, sondern eine tüchtige Künstlerin, und ich glaube auch, Sie sind klug und gütig. Können Sie mir nicht erzählen, wie es kam, daß Sie Helge liebgewannen, welche [S. 155] Eigenschaften an dem Jungen Sie veranlaßt haben, ihn zu wählen? Lassen Sie mich hören!“
„Ja.“ Dann lachte sie. „Das ist nicht so ohne weiteres zu erklären, — wir hatten uns eben gern —.“
„So.“ Er lachte auch. „Ja, es war eine dumme Frage, Jenny. Es scheint ja fast, als hätte ich vergessen, wie es zuging, als man jung war und verliebt — nicht wahr?“
„Nicht wahr! Wissen Sie, das sagt Helge auch so oft. Auch etwas, das ich so gern an ihm mochte. Er war so jungenhaft. Ich sah sehr wohl, daß er verschlossen war, dann aber öffnete er mir nach und nach sein Herz —.“
„Das kann ich gut verstehen — daß man zu Ihnen Vertrauen bekommt, Jenny. Ja, aber erzählen Sie weiter — aber, Sie brauchen nicht so erschrocken auszusehen. Sie verstehen doch, ich meinte nicht, Sie sollten mir Ihre und Helges Liebesgeschichte auseinandersetzen oder dergleichen —. Nur ein wenig von sich selbst erzählen — und von Helge. Von Ihrer Arbeit, Kind. Und von Rom. Damit ich alter Mann wieder weiß, wie es ist, Künstler zu sein. Und frei. An Dingen zu arbeiten, die einem Freude machen. Jung zu sein. Verliebt und glücklich —.“
Gram blieb etwa zwei Stunden bei ihr. Dann, als er gehen wollte und im Ueberzieher, den Hut in der Hand, dastand, sagte er leise:
„Hören Sie zu, Jenny. Es hat ja keinen Zweck, Ihnen zu verbergen, wie die Verhältnisse in meiner Familie liegen. Es ist besser, daß, wenn wir uns zu Hause wiedersehen, wir uns noch nicht kennen. Daß Helges Mutter nicht erfährt, daß ich Ihre Bekanntschaft auf eigene Faust gemacht habe. Auch Ihretwegen — damit Sie nicht Spott und Unannehmlichkeiten ausgesetzt sind. Es liegt nun einmal so, daß die Tatsache, daß ich einen Menschen gern habe, besonders eine Dame, schon genügt, um meine Frau gegen den Betreffenden aufzubringen ... Sie finden das seltsam. Aber Sie begreifen —?“
[S. 156]
„Ja,“ sagte Jenny schwach.
„Nun, leben Sie wohl, Jenny. Ich freue mich Helges wegen — glauben Sie mir?“
Sie hatte am Abend vorher an Helge geschrieben und ihm von ihrem Besuch bei seiner Mutter erzählt. Als sie den Brief noch einmal durchlas, quälte es sie, daß der Abschnitt von ihrer Begegnung mit der Mutter so armselig und trocken ausgefallen war.
An diesem Abend schrieb sie ihm wieder und berichtete von dem Besuch seines Vaters. Aber dann riß sie den Brief entzwei und begann von neuem. — Es war so peinlich zu erzählen, daß Frau Gram von dieser Sache nichts erfahren dürfe. Widerwärtig war es, Geheimnisse mit dem einen gegen den anderen zu haben. Helges wegen empfand sie es wie eine Demütigung, daß sie mit einem Male Mitwisser von dem Elend geworden war, das in seinem Vaterhause herrschte. Schließlich erwähnte sie die Angelegenheit gar nicht. Es war leichter, ihm alles zu erklären, wenn er kam.
Ende Mai hatte Jenny ungewöhnlich lange Zeit keine Post von Helge bekommen. Sie begann ängstlich zu werden und hatte gerade beschlossen, am nächsten Tage zu telegraphieren, falls sie bis dahin nichts hörte. Nachmittags war sie im Atelier, als jemand an die Tür klopfte. Nachdem sie geöffnet, wurde sie plötzlich von einem Manne, der draußen im Dunkel des Bodenganges stand, ergriffen, umarmt und geküßt.
„Helge!“ Sie jubelte. „Helge, Helge — laß dich anschauen! Oh, nein, wie du mich erschreckt hast! Laß sehen — Helge — bist du es denn wirklich und gewiß?“ Sie zog ihm die Reisemütze vom Kopfe.
„Ja, natürlich, ein anderer kann es doch kaum sein,“ lachte er unbekümmert.
„Aber, Liebster — was hat denn das zu bedeuten?“
[S. 157]
„Das will ich dir gleich erklären,“ sagte er, fand aber nicht die Zeit dazu, sondern preßte sein Gesicht an ihren Hals.
„Ich wollte dich nämlich überraschen, weißt du.“ Sie saßen Hand in Hand auf dem Sofa und schöpften Atem nach den ersten heißen Küssen. „Und das ist mir doch gut geglückt, nicht wahr? Laß mich sehen, Jenny. Wie schön du bist! Zu Hause denken sie, ich bin in Berlin. Ich übernachte heute im Hotel und bleibe einige Tage inkognito in der Stadt — findest du das nicht großartig? Es ist übrigens dumm, daß du zu Hause wohnst. Sonst könnten wir den ganzen Tag über zusammen sein —.“
„Weißt du,“ sagte Jenny, „als du klopftest, dachte ich, es sei dein Vater.“
„Vater?“
„Ja.“ Sie wurde im selben Augenblick ein wenig verwirrt. Es fiel ihr plötzlich schwer, ihm den ganzen Zusammenhang zu erklären. „Ja, siehst du, dein Vater machte mir eines Tages einen Besuch, und seitdem ist er manchmal zum Tee zu mir gekommen. Wir haben dann gesessen und von dir gesprochen —.“
„Aber Jenny — davon hast du ja kein Wort geschrieben! Du hast ja gar nicht erwähnt, daß du Vater getroffen hast!“
„Nein, das hab’ ich auch nicht. Ich wollte es dir lieber erzählen —. Die Sache ist also die, siehst du, deine Mutter weiß nichts davon. Dein Vater meinte, es sei besser, es nicht zu erwähnen —“.
„Nicht mir gegenüber?“
„Nein, nein, davon haben wir gar nicht gesprochen. Er denkt sicher, ich habe es dir erzählt. Nein, deine Mutter durfte nicht erfahren, daß wir uns kennen.“ Sie schwieg einen Augenblick. „Ich fand, es war — nun ich mochte dir nicht schreiben, daß ich mit deinem Vater ein Geheimnis vor deiner Mutter hatte. Verstehst du mich?“
Helge schwieg.
„Es hat mich selber recht bedrückt,“ fuhr sie fort. „Aber er kam eben herauf und besuchte mich. Und ich [S. 158] finde ihn furchtbar nett, Helge; ich habe ihn sehr gern, deinen Vater.“
„Ja — Vater kann ein sehr gewinnendes Wesen haben, wenn er will. Und daß du Malerin bist und —.“
„Deinetwegen, Helge, hat dein Vater mich gern. Das ist der Grund.“
Helge antwortete nicht.
„Und Mutter hast du nur das eine Mal gesehen?“
„Ja. — Aber liebster, bester Freund, bist du nicht hungrig? Soll ich dir ein wenig zurecht machen?“
„Vielen Dank. Und heute Abend gehen wir zusammen essen!“
Wieder pochte jemand an die Tür.
„Das ist dein Vater,“ flüsterte Jenny.
„Pst — sei still, — nicht öffnen!“
Nach einem Weilchen ging jemand über den Gang wieder fort. Helge verzog das Gesicht.
„Aber liebster Junge, was ist dir?“
„Ich weiß nicht —. Wenn wir ihm nur nicht begegnen, Jenny — wir wollen nicht gestört werden, nicht wahr? Niemanden treffen!“
„Nein.“ Sie küßte seinen Mund, bog seinen Kopf zurück und küßte ihn hinter beide Ohren.
„Und Franziska?“ sagte Jenny plötzlich, während sie nach dem Kaffee bei einem Glase Likör saßen und plauderten.
„Ja! Ja, du wußtest es wohl im voraus; sie hatte dir doch geschrieben?“
Jenny schüttelte den Kopf.
„Nicht ein Wort. Ich fiel ja aus allen Wolken, als ich ihren Brief bekam — sie schrieb in aller Kürze, morgen hätte sie Hochzeit mit Ahlin. Ich ahnte nichts.“
„Wir auch nicht. Die beiden waren ja viel zusammen. Daß sie sich aber heiraten wollten, wußte nicht einmal Heggen, bis sie kam und ihn bat, ihr Trauzeuge zu sein.“
„Hast du sie seither gesehen?“
[S. 159]
„Nein. Sie reisten noch am selben Tage nach Rocca di Papa und waren noch oben, als ich Rom verließ.“
Jenny saß eine Weile in Gedanken.
„Ich glaubte, sie hätte nur ihre Arbeit im Kopf,“ sagte sie.
„Heggen erzählte, daß sie das große Bild mit dem Tor beendet hätte, und daß es sehr gut ausgefallen sei, auch, daß sie mehrere andere Arbeiten begonnen habe.“
„Dann verheiratete sie sich also ganz plötzlich. Ich weiß nicht, ob sie eine Weile verlobt gewesen sind —.“
„Aber du, Jenny — du schriebst, du hättest ein neues Bild angefangen?“
Jenny zog ihn mit sich zur Staffelei.
Die große Leinwand zeigte eine Straße, die sich nach links hinüber verlor, mit einer Häuserreihe in starker Perspektive, Kontor- und Werkstattsgebäude in graugrünen und dunklen, backsteinroten Farben. Auf der rechten Seite der Straße standen einige Lumpenhändlerbuden, und dahinter ragten die Brandmauern zum Himmel empor, in dessen kräftigem Blau hier und da schwere Regenwolken, graublau wie Blei und weiß wie Silber, standen. Greller Nachmittagssonnenschein fiel in die Straße, auf die Buden und Hausmauern, die rotgold aufleuchteten, und auf ein paar goldiggrüne, mit halbaufgesprungenen Knospen übersäte Baumkronen, die auf dem Platz zwischen Buden und Brandmauer standen. Als Staffage dienten Arbeitsleute, Karren und Geschäftswagen auf der Straße.
„Ich verstehe ja nicht viel davon. Aber —.“ Helge hielt sie fest umschlungen. „Ist es nicht sehr gut, du? Ich finde es wunderschön, Jenny — herrlich!“
Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter:
„Während ich hier umherlief und auf meinen Jungen wartete — ich bin ja im Frühling immer hier einsam und trübselig umhergeirrt. Als ich sah, wie Bergahorn und Kastanie ihr klares, lichtes Laub vor den rußigen Häusern und roten Mauern entfalteten — als ich den prachtvollen Frühlingshimmel erblickte, der sich über all den schwarzen Dächern spannte, über Schornsteinen und [S. 160] Telephondrähten: da lockte es mich, dies alles zu malen, die feinen hellen Frühlingsknospen mitten in der schmutzigen schwarzen Stadt.“
„Wo liegt diese Stelle?“ fragte Helge.
„In der Stenerstraße. — Ja, weißt du, dein Vater sprach von einigen Bildern von dir als kleinem Jungen, die er drüben im Büro hatte; die sollte ich mir ansehen. Und da entdeckte ich das Motiv von seinem Bürofenster aus und durfte dann in der Kistenfabrik nebenan arbeiten. Von dort aus ist es gemalt; ich mußte natürlich hin und wieder einiges umgestalten, ein wenig abändern —.“
„Du bist viel mit Vater zusammen gewesen?“ fragte Helge kurz darauf. „Er interessierte sich wohl sehr für dein Bild?“
„Ja, gewiß. Er kam mitunter zu mir herüber und betrachtete es, gab mir auch einige Ratschläge, die übrigens sehr gut waren. Er weiß ja eine Menge.“
„Glaubst du, daß Vater als Maler Talent hatte?“ sagte Helge.
„Ja. Das glaube ich. Die Bilder, die bei euch zu Hause hängen, waren nicht so besonders. Er hat mir aber einige Studien gezeigt, die er im Büro aufbewahrt. Ich glaube nicht, daß dein Vater großes Talent hatte, aber es war ganz fein und eigentümlich. Nur von allen Seiten zu leicht zu beeinflussen. Aber das, glaube ich, hängt wieder mit seiner großen Fähigkeit zusammen, das Gute zu werten und zu lieben, das er bei anderen gesehen hat. Denn er hat so viel Verständnis für Kunst — und Liebe zu ihr —.“
„Armer Vater,“ sagte Helge.
„Ja —.“ Jenny liebkoste ihren Freund. „Dein Vater leidet vielleicht weit mehr als du und ich ahnen.“
Dann küßten sie sich und vergaßen, weiter von Gert Gram zu sprechen.
„Bei dir zu Hause wissen sie nichts?“ fragte Helge.
„Nein,“ erwiderte Jenny.
[S. 161]
„Aber im Anfang, als ich all meine Briefe an deine Mutter adressierte, fragte sie nie, wer da so jeden Tag an dich schrieb?“
„Nein. Meine Mutter ist nicht so!“
„ Meine Mutter,“ sagte Helge plötzlich heftig. „Mutter ist durchaus nicht so taktlos, wie du meinst. Du bist nicht gerade gerecht gegen meine arme Mutter — ich finde, um meinetwillen könntest du es unterlassen, so von ihr zu reden —.“
„Aber Helge!“ Jenny sah zu ihm auf. „Ich habe ja doch nicht ein Wort über deine Mutter gesagt!“
„Du sagtest: Meine Mutter ist nicht so.“
„Das ist nicht wahr. Meine Mutter , sagte ich.“
„ Meine Mutter, sagtest du. Daß du sie nicht leiden kannst, ist eine Sache für sich, obgleich du schließlich keinen Grund hast —. Aber du könntest doch daran denken, daß es meine Mutter ist, von der du sprichst. Und ich habe sie lieb, wie sie auch sein mag —.“
„Helge! Aber Helge —.“ Sie hielt inne, denn sie fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Es war ihr so fremd, Tränen zu vergießen, daß sie schwieg, beschämt und erschrocken. Er hatte es aber schon bemerkt:
„Jenny! Habe ich dir wehgetan? Herrgott! Da siehst du es selbst. Kaum bin ich heimgekehrt, so fängt es auch schon an —.“ Er schrie plötzlich, indem er die geballte Faust drohend erhob: „Oh, ich hasse das, ich hasse das, es wird mein Heim zerreißen.“
„Mein Junge, lieber Junge — du darfst nicht —. Geliebter, nimm es doch nicht so schwer!“ Sie zog ihn fest, fest an sich. „Helge! Hör zu, geliebter Freund — was hat denn das mit uns zu schaffen. Sie können uns doch nichts tun —,“ und sie küßte ihn, bis er aufhörte zu schluchzen und zu beben.
[S. 162]
Helge und Jenny saßen in seinem Zimmer auf dem Sofa und hielten sich schweigend umschlungen.
Es war an einem Sonntag Ende Juni. Jenny hatte am Vormittag einen Spaziergang mit Helge gemacht und bei Grams Mittag gegessen. Nach dem Kaffee hatten sie alle vier im Wohnzimmer gesessen und sich durch den Nachmittag gequält, bis Helge Jenny mit in sein Zimmer zog unter dem Vorwande, sie sollte etwas durchlesen, was er geschrieben hatte.
„Puh,“ sagte Jenny, als sie draußen waren.
Helge fragte nicht, warum sie so sprach. Er legte seinen Kopf fest in ihren Arm, und sie strich ihm übers Haar, stumm, ohne Aufhören.
„Ja, du.“ Helge seufzte „Es war gemütlicher bei dir in der Via Vantaggio — nicht wahr, Jenny?“
Draußen in der Küche rasselten Teller, es brutzelte in der Bratpfanne und roch nach Fett. Frau Gram bereitete etwas Warmes zum Abendessen. Jenny ging an das offene Fenster und sah einen Augenblick in den schwarzen Schacht des Hofes. Alle Fenster nach hier hinaus waren Küchen- oder Schlafzimmerfenster mit Zuggardinen. In jeder Ecke des Hofes befand sich ein größeres Fenster, schräg eingebaut. Oh! Wie gut sie diese Eßzimmer kannte mit einem einzigen Fenster in der Ecke auf den Hof hinaus, dunkel und trübe, ohne einen Streifen Sonne. Der Ruß fegte hinein, wenn man lüftete, und der Essensgeruch setzte sich fest.
Aus dem Fenster eines Mädchenzimmers klang Guitarrespiel und ein kräftiger, ungeübter Sopran:
„Such Schutz bei unserem Herrn Jesus Christus, mein Freund, du brauchst nur anzuklopfen, und der Himmel tut sich auf.“
Die Guitarre erinnerte sie an die Via Vantaggio, an Cesca und Gunnar, der in der Sofaecke zu liegen pflegte, die Beine auf einem Stuhle, auf Cescas Guitarre zupfend und leise ihre italienischen Weisen summend. Plötzlich [S. 163] überfiel sie eine wilde Sehnsucht nach all dem dort unten.
Helge kam auf sie zu:
„Woran denkst du?“
„An die Via Vantaggio.“
„Ja, du — wie herrlich hatten wir es dort, Jenny!“
Sie umschlang plötzlich seinen Hals und barg liebkosend seinen Kopf an ihrer Schulter. Schon als er sprach, hatte sie gemerkt, daß er den Grund ihrer Sehnsucht nicht verstanden hatte.
Sie hob seinen Kopf wieder in die Höhe und blickte in seine bernsteingelben Augen; sie wollte an all die sonnenhellen Tage in der Campagna denken, als er, im Grase zwischen den Tausendschön liegend, zu ihr aufgeblickt hatte.
Sie wollte dieses schwere, erstickende Unlustgefühl von sich abschütteln, das jedesmal wieder Macht über sie gewann, wenn sie in seinem Hause war.
Alles war hier so unleidlich. Gleich vom ersten Abend an, als sie nach Helges offizieller Ankunft eingeladen war. Wie hatte sie es gequält, daß sie dastehen und Komödie spielen mußte, als Frau Gram sie ihrem Manne vorstellte; und Helge war zugegen und sah zu, wie sie seine Mutter betrogen. Es quälte sie fürchterlich. Dann geschah etwas, das noch viel ekelhafter war. Sie war einen Augenblick mit Gram allein; da hatte er beiläufig erwähnt, daß er an jenem Nachmittag oben an ihrer Tür gewesen sei, sie aber nicht angetroffen habe. „Nein, ich war an dem Tage nicht im Atelier,“ hatte sie geantwortet, war aber gleichzeitig blutrot geworden. Dann hatte er sie so merkwürdig erstaunt angesehen, als sie — sie wußte nicht, warum? — plötzlich sagte: „Doch, ich war übrigens zu Hause. Ich konnte aber nicht öffnen, es war jemand bei mir.“
Gram hatte gelächelt und gesagt: „Ich habe es wohl gehört, daß jemand im Atelier war.“ Und in ihrer Verwirrung hatte sie erzählt, daß es Helge gewesen, und [S. 164] daß er sich ein paar Tage inkognito in der Stadt aufgehalten.
„Liebe Jenny,“ hatte Gram sichtbar unwillig erwidert: „Ihr hättet euch doch nicht vor mir zu verstecken brauchen. Ich hätte euch wahrhaftig in Frieden gelassen. Ja, ja. — Aber ich muß doch sagen, daß es mich recht gefreut haben würde, wenn Helge mich begrüßt hätte —.“
Sie hatte darauf nichts zu erwidern gewußt.
„Ich werde aber achtgeben, daß Helge nicht erfährt, daß ich etwas davon weiß.“
Es war gar nicht ihre Absicht gewesen, Helge zu verheimlichen, daß sie seinem Vater davon erzählt hatte. Aber jetzt sagte sie es doch nicht — aus Furcht, daß er darüber ärgerlich sein könnte. Sie litt aber und wurde nervös in dieser Umgebung, in die sie hineingeraten war: der eine durfte es nicht wissen und der andere durfte es nicht wissen.
Daheim hatten sie auch keine Ahnung. Aber das war etwas anderes. Es lag daran, daß sie nicht gewöhnt war, mit ihrer Mutter von ihren eigenen Angelegenheiten zu sprechen, sie hatte dort nie Verständnis gefunden, auch niemals gesucht oder erwartet. Dabei war ihre Mutter jetzt mit der Sorge um Ingeborg beschäftigt. Jenny hatte die Mutter dazu bestimmt, im Bundefjord eine Sommerwohnung zu mieten; Bodil und Nils fuhren von dort zur Schule in die Stadt, Jenny aber wohnte im Atelier und aß auswärts.
Sie war jedoch nie so glücklich über die Mutter und ihr Heim gewesen wie jetzt. Es kam nicht allein daher, daß die Mutter sie jetzt ein wenig verstand. Sie merkte auch hin und wieder, daß es Jenny schwer hatte, und zeigte dann ehrlichen Willen, zu helfen und zu trösten — ohne zu fragen. Denn schon der Gedanke, einem ihrer Kinder eine aufdringliche Frage zu stellen, hätte ihr die Schamröte ins Gesicht getrieben. Aber dies hier, Helges Heim, mußte ja eine wahre Hölle für die Kinder gewesen sein. Und es war, als würfe die Mißstimmung ihre Schatten auf sie, auch wenn sie sonst zusammen waren. [S. 165] Aber sie wollte es überwinden. Ihr armer, armer Junge!
„Mein Helge!“ Und sie überfiel ihn plötzlich mit Liebkosungen. —
Jenny hatte Frau Gram angeboten, ihr mit dem Aufwaschen und dem Abendessen behilflich zu sein, aber jedesmal hatte die Hausfrau mit einem Lächeln erwidert:
„Nein, meine Liebe — dazu sind Sie doch nicht hergekommen, damit sollen Sie wahrhaftig nichts zu tun haben, Fräulein Winge.“
Vielleicht war es nicht so gemeint, aber Frau Gram lächelte immer so spöttisch, wenn sie mit ihr sprach. Die Arme, vielleicht besaß sie kein anderes Lächeln mehr.
Gram kehrte heim; er hatte einen Spaziergang gemacht. Jenny und Helge setzten sich zu ihm ins Rauchzimmer.
Die Hausfrau kam auch einen Augenblick herein:
„Du hattest deinen Regenschirm vergessen, mein Freund — wie gewöhnlich. Es war tatsächlich ein Glück, daß du einem Regenschauer entgingst. Ja diese Männer, wie man auf sie achtgeben muß —!“ Sie lächelte zu Jenny hinüber.
„Du bist ja außerordentlich um mich bemüht,“ sagte Gram. Stimme und Wesen waren immer peinlich höflich, wenn er mit seiner Frau sprach.
„Aber warum sitzt ihr denn hier drinnen?“ sagte sie zu Helge und Jenny.
„Es ist merkwürdig,“ erwiderte Jenny, „— ich finde, es ist in allen Häusern dasselbe: das Herrenzimmer ist immer am gemütlichsten. Bei uns war es auch so, als mein Vater noch lebte,“ fügte sie schnell hinzu. „Es kommt wohl daher, daß es als Arbeitszimmer eingerichtet ist.“
„Dann müßte ja die Küche der allergemütlichste Raum im ganzen Hause sein,“ lachte die Hausfrau. „Aber wo meinst du, daß am meisten gearbeitet wird, Gert, hier in deinem Zimmer oder in meinem — nun ja, die kann ja als mein Arbeitszimmer gelten —.“
[S. 166]
„Ich gebe zu, daß zweifellos die nützlichste Arbeit in deinem Arbeitszimmer verrichtet wird.“
„Ja,“ sagte Frau Gram. „Jetzt glaube ich aber beinahe, ich muß Ihr liebenswürdiges Anerbieten für eine Weile annehmen — würden Sie so lieb sein, und mir ein wenig helfen, Fräulein Winge? Sonst wird es so spät —.“
Als sie beim Essen saßen, läutete es. Es war Frau Grams Nichte, Aagot Sand. Frau Gram stellte Fräulein Winge vor.
„Ah, Sie sind die Malerin, mit der Helge in Rom so viel zusammen war. Ich konnte es mir beinahe denken.“ Sie lachte. „Ich sah Sie drüben in der Stenerstraße jetzt im Frühling, Sie gingen in Begleitung von Onkel Gert und trugen Malgerät in der Hand —.“
„Das ist sicher ein Irrtum, mein Kind,“ unterbrach sie Frau Gram. „Wann sollte das gewesen sein?“
„Einen Tag vor Bußtag. Ich kam von der Schule.“
„Ja, es ist schon richtig,“ sagte Gram. „Fräulein Winge stand und hatte ihren Malkasten auf der Straße fallen lassen, und da half ich ihr, beim Aufsammeln.“
„Das kleine Abenteuer hast du deiner Frau gar nicht gebeichtet.“ Frau Gram lachte laut. „Ich hatte keine Ahnung, daß Ihr Euch von früher her kanntet.“
Gram lachte ebenfalls.
„Fräulein Winge schien mich nicht wiederzuerkennen. Es war zwar wenig schmeichelhaft für mich — ich wollte sie aber nicht daran erinnern. Hatten Sie wirklich keine Ahnung, als Sie mich trafen, daß ich der liebenswürdige alte Herr war, der Ihnen geholfen?“
„Ich war meiner Sache nicht sicher,“ sagte sie leise, von tiefer Röte übergossen. „Ich glaubte, Sie hätten mich nicht wiedererkannt.“ Sie versuchte zu lachen, fühlte jedoch mit peinigender Deutlichkeit, wie unsicher ihre Stimme war, wie ihre Wangen brannten.
„Nun, das war ja ein richtiges Abenteuer,“ lachte Frau Gram. „Tatsächlich ein drolliger Zufall.“
[S. 167]
„O Gott, habe ich denn schon wieder etwas Verkehrtes gesagt?“ fragte Aagot. Sie saßen nach dem Abendessen beisammen im Wohnzimmer. Gram war in sein Zimmer hinübergegangen, die Hausfrau machte sich in der Küche zu schaffen. „In diesem Hause ist man gänzlich ahnungslos, bis die Bombe plötzlich explodiert — das ist doch wirklich schauderhaft. Aber erkläre mir doch, ich begreife ja nicht.“
„Herr des Himmels, Aagot, kümmere du dich um deine eigenen Angelegenheiten,“ sagte Helge heftig.
„Ja, ja, lieber Freund, beiß mich nur nicht! Ist Tante Bekka jetzt auf Fräulein Winge eifersüchtig?“
„Du bist doch wahrhaftig das taktloseste Wesen, das existiert.“
„Nächst deiner Mutter — ja danke, das hat mir Onkel Gert einmal gesagt.“ Sie lachte. „Aber das ist doch die größte Dummheit — eifersüchtig auf Fräulein Winge!“ Sie lugte neugierig zu den beiden anderen hinüber.
„Ich möchte dich bitten, dich nicht in Dinge zu mischen, die nur uns hier im Hause etwas angehen, Aagot,“ schnitt Helge alles weitere ab.
„Ja ja, — ich dachte nur — nun gewiß — es ist ja schließlich gleichgültig.“
„Das ist es, weiß Gott.“
Frau Gram kam herein und machte Licht. Jenny blickte fast ängstlich auf ihr verschlossenes, haßerfülltes Gesicht, das mit den harten, funkelnden Augen vor sich hinstarrte. Dann begann Frau Gram den Tisch abzuräumen. Sie hob Jennys Stickschere auf, die auf den Boden gefallen war:
„Es scheint Ihre Spezialität zu sein, etwas zu verlieren. Sie dürfen nicht so nachlässig mit Ihren Sachen umgehen, kleines Fräulein Winge. Helge ist nicht so galant wie sein Vater, scheint es.“ Sie lachte. „Soll ich jetzt bei dir drinnen die Lampe anzünden, mein Junge?“ Sie ging ins Rauchzimmer und zog die Tür hinter sich ins Schloß.
[S. 168]
Helge lauschte einen Augenblick zum anderen Zimmer hinüber — die Mutter sprach leise und heftig. Dann lehnte er sich wieder zurück.
„Kannst du denn mit deinem Gerede nicht einmal aufhören?“ ertönte Grams Stimme deutlich von drinnen herüber.
Jenny neigte sich zu Helge:
„Ich gehe jetzt nach Hause — ich habe Kopfweh.“
„O nicht doch, Jenny. Dann gibt es hier nur Szenen bis ins Unendliche, wenn du gegangen bist. Sei so lieb und bleib; es geht nicht, daß du jetzt das Feld räumst, Mutter wird nur noch gereizter.“
„Ich kann aber nicht mehr,“ flüsterte sie, dem Weinen nahe.
Frau Gram ging durchs Zimmer. Gram kam und setzte sich zu ihnen.
„Jenny ist müde — sie will jetzt nach Hause gehen, Vater. Ich begleite sie.“
„Wollen Sie schon gehen? Wollen Sie nicht noch ein wenig bleiben?“
„Ich bin müde, ich habe Kopfschmerzen,“ murmelte Jenny.
„Bleiben Sie doch noch etwas,“ flüsterte Gram plötzlich. „Sie“ — er machte eine Kopfbewegung nach der Tür — „sagt Ihnen nichts. Und während Sie hier sind, entgehen wir anderen Szenen.“
Jenny setzte sich wieder still an den Tisch und griff nach ihrer Stickerei. Aagot häkelte eifrig an einem weißen Umlegeschal.
Gram schritt zum Klavier. Jenny war nicht musikalisch, konnte aber hören, daß er es war, und nach und nach kam ein wenig Ruhe über sie, während er seine kleinen weichen Melodien spielte — für sie, das fühlte Jenny.
„Kennen Sie dies, Fräulein Winge?“
„Nein.“
„Du auch nicht, Helge? Habt ihr es nicht in Rom gehört? Zu meiner Zeit sang man es überall. Ich habe hier einige Hefte mit italienischen Melodien.“
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Sie stand neben ihm und blätterte in den Noten.
„Tut mein Spiel Ihnen wohl?“ flüsterte er.
„Ja.“
„Soll ich weiter spielen?“
„Ja. Bitte.“
Er strich über ihre Hand:
„Arme kleine Jenny! Aber gehen Sie jetzt — ehe sie kommt.“
Frau Gram brachte ein Tablett mit Rhabarberwein und Gebäck herein.
„Nein, das ist aber nett, daß du ein wenig spielst, Gert! Finden Sie nicht, daß mein Mann schön spielt, Fräulein Winge? Hat er Ihnen schon früher etwas vorgespielt?“ fragte sie harmlos.
Jenny schüttelte den Kopf:
„Ich wußte gar nicht, daß Herr Gram Klavier spielen kann.“
„Wie wunderschön Sie sticken!“ Sie ergriff Jennys Stickerei und betrachtete sie. „Ich dachte wirklich, Künstlerinnen hielten es für unter ihrer Würde, sich mit derartigen Handarbeiten zu beschäftigen. Welch bezauberndes Muster — wo haben Sie das her? Vom Auslande?“
„Das habe ich mir selber ausgedacht.“
„Nein wirklich? Dann ist es freilich leicht schöne Muster zu arbeiten — sieh her, Aagot, ist das nicht reizend? Sie sind sicher ein tüchtiges Mädchen, Fräulein Winge.“ Sie streichelte Jennys Hand.
Was für abscheuliche Hände sie doch hat, dachte Jenny. Kleine Finger, deren Nägel breiter waren als lang und plattgedrückt.
Helge und Jenny begleiteten erst Aagot bis zu ihrer Pension oben in der Sofienstraße. Dann gingen sie zusammen über die Pilengasse zurück, durch die blaßblaue Juninacht. Nach den Regenschauern strömten die weißen Blütenkerzen der Kastanien an der Hospitalsmauer einen faden Duft aus.
[S. 170]
„Helge,“ sagte Jenny leise. „Du mußt es so einrichten, daß wir übermorgen nicht mit ihnen zusammen sind.“
„Das ist unmöglich, Jenny. Sie haben dich eingeladen und du hast Ja gesagt. Deinetwegen ist es ja nur.“
„Helge, du kannst dir doch denken, daß es nur zu Unzuträglichkeiten führt. Stell dir vor, wenn wir allein irgend wohin fahren könnten, Helge. Ganz für uns allein, nur wir beide, Helge. Wie in Rom.“
„Glaub mir, Jenny, nichts würde ich lieber wollen. Es gibt nur zu Hause so viele Unannehmlichkeiten, wenn wir diese Johannisfahrt nicht mitmachen.“
„Unannehmlichkeiten bringt es auch so,“ sagte sie mit scharfem Spott.
„Aber anders wird es viel schlimmer. Herrgott, kannst du denn nicht versuchen, dich um meinetwillen zu überwinden? Du brauchst doch nicht in all diesem Elend umherzugehen — darin zu leben und zu arbeiten.“
Er hat Recht, dachte sie und machte sich bittere Vorwürfe, daß sie nicht geduldiger war. Ja, ihr armer Junge, er mußte in diesem Heim leben und arbeiten, wo sie es kaum zwei Stunden aushalten konnte. Dort war er aufgewachsen und dort hatte er sich durch seine ganze Jugend gekämpft.
„Helge. Ich bin schlecht und egoistisch.“ Sie klammerte sich an ihn — matt und gequält und gedemütigt. Sie sehnte sich nach seinen Küssen, nach seinem Trost. Es ging sie beide ja doch gar nichts an; sie hatten ja sich, sie gehörten zusammen, irgendwo weit außerhalb dieser Luft voller Haß, Mißtrauen und Schlechtigkeit.
Der Jasmin in den alten Gärten duftete zu ihnen herüber.
„Wir fahren einmal zusammen über Land, wir beide ganz allein, Jenny,“ tröstete er.
„Aber daß ihr auch so hirnverbrannt sein konntet,“ sagte er plötzlich. „Nein, ich kann das nicht fassen! Ihr mußtet euch doch denken, daß Mutter es erfahren würde.“
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„Sie glaubt natürlich die Geschichte nicht, die dein Vater erzählte,“ sagte Jenny zaghaft.
Helge blies durch die Nase.
„Ich wünschte, er sagte ihr, wie das Ganze zusammenhängt,“ seufzte sie.
„Du kannst ganz sicher sein, daß er es nicht tut. Und du mußt natürlich tun, als wüßtest du nichts. Das ist das Einzige, was du machen kannst. Es war einfach hirnverbrannt von euch.“
„Ich kann doch nichts dafür, Helge.“
„Ach, ich habe dir genug von den Verhältnissen zu Hause erzählt. Du hättest dafür sorgen müssen, daß es bei Vaters erstem Besuch blieb — all die späteren Visiten im Atelier und auch die Zusammenkünfte in der Stenerstraße hättet ihr unterlassen sollen.“
„Zusammenkünfte? Ich sah das Motiv und wußte, daß ich ein gutes Bild von dort aus malen konnte — das habe ich auch getan.“
„Nun ja. Es ist natürlich vor allem Vaters Schuld. — Ach!“ Er fuhr heftig auf. „Diese Art und Weise, wie er von ihr spricht — ja, du hast gehört, was er zu Aagot gesagt hat. Und heute Abend wieder zu dir. ‚Sie!‘“ äffte er nach, „‚Ihnen sagt sie nichts!‘ Es ist aber doch unsere Mutter.“
„Ich finde aber, Helge, dein Vater ist weit rücksichtsvoller und höflicher gegen sie als sie zu ihm.“
„Oh, diese Rücksichtnahme von Vater, ja! Nennst du das rücksichtsvoll, wie er vorgegangen ist, um dich auf seine Seite zu bekommen? Seine Höflichkeit! Du solltest wissen, was ich als Kind gelitten habe und jetzt als Erwachsener — unter dieser Höflichkeit. Wenn er kerzengerade dastand, ohne ein Wort zu sagen, und höflich aussah. Sprach er aber, dann klang es so eisig, so schneidend kalt, so höflich! Er bedankte sich fast noch für Mutters Schreien und Schelten und Toben. — Oh!“
„Liebster Junge!“
„O Gott, Jenny. Es ist auch nicht nur Mutters Schuld. Ich kann sie auch verstehen. Alle Menschen geben [S. 172] Vater den Vorzug. Du jetzt auch. Es ist verständlich. Im Grunde tue ichs ebenfalls. Aber gerade deshalb begreife ich, daß sie so geworden ist. Sie will ja doch überall die Erste sein, siehst du. Und sie ist es nirgends. Arme Mutter!“
„Ja, die Aermste!“ sagte Jenny. Doch ihr Herz blieb eiskalt gegen Frau Gram.
Der Abend war schwer von Duft, Laub und Blüten, als sie durch das Studentenwäldchen schritten. In der bleichen Dämmerung der Sommernacht raschelte es geschäftig auf den Bänken tief drinnen zwischen den Bäumen.
Ihr einsamer Schritt hallte in den ausgestorbenen Geschäftsstraßen wieder, deren hohe Häuser mit einem blauen Schein in den großen blanken Fensterscheiben wie ausgestorben lagen.
„Darf ich mit hinaufkommen?“ fragte er vor ihrer Tür.
„Ich bin müde, du,“ sagte Jenny leise.
„Ich möchte so gern ein wenig bei dir sitzen — findest du nicht, daß wir es sehr nötig haben, einmal für uns allein zu sein?“
Sie widersprach nicht mehr, sondern stieg die fünf Treppen vor ihm hinan.
Die Nacht breitete sich blau über ihren Häuptern und blickte durch die großen schrägen Dachfenster zu ihnen hinein. Jenny entzündete den siebenarmigen Leuchter auf dem Schreibtisch, nahm eine Zigarette und hielt sie in die Flamme.
„Willst du rauchen, Helge?“
„Danke.“ Er nahm ihr die Zigarette von den Lippen.
„Das ist es eben, siehst du,“ sagte er plötzlich. „Da war einmal etwas mit Vater und — einer anderen Frau. Ich war damals zwölf Jahre alt. Wieviel daran wahr ist, weiß ich ja nicht. Aber Mutter —. Oh, es war eine fürchterliche Zeit. Nur unseretwegen blieben sie zusammen — das hat Vater selbst einmal gesagt. Der Herrgott weiß, ich danke ihm das nicht. Mutter ist jedenfalls ehrlich und gibt zu, daß sie ihn mit Händen und Füßen festhält, sie will ihn nicht freigeben.“
[S. 173]
Er warf sich aufs Sofa. Jenny setzte sich zu ihm und küßte ihn auf Haar und Augen. Er glitt auf die Knie nieder und legte den Kopf in ihren Schoß.
„Erinnerst du dich des letzten Abends in Rom, als ich Gute Nacht zu dir sagte, Jenny? Hast du mich heute ebenso lieb wie damals?“
Sie erwiderte nichts.
„Jenny?“
„Wir haben heute keinen guten Tag miteinander gehabt, Helge,“ flüsterte sie. „Zum ersten Male.“
Er hob den Kopf:
„Bist du mir böse?“ fragte er leise.
„Nein, nicht böse.“
„Was dann?“
„Ach nichts. Nur —“
„Nur, was?“
„Heute Abend —.“ Sie stockte. „Jetzt auf dem Heimwege —. Wir werden noch allein eine Reise zusammen machen — ein andermal, sagtest du. Es ist nicht wie in Rom, Helge. Jetzt bist du es, der bestimmt und sagt, was ich tun soll und was nicht.“
„Nein, nein, Jenny!“
„Doch. Du mußt mich verstehen, ich will ja auch, daß es so ist. Du bestimmst. Aber dann Helge, dann mußt du mir auch helfen, über all das Andere — das Schwere — hinwegzukommen.“
„Du meinst also, ich habe dir heute nicht geholfen?“ fragte er langsam und richtete sich auf.
„Lieber — doch, du konntest ja nichts tun.“
„Soll ich jetzt gehen?“ flüsterte er kurz darauf und zog sie an sich.
„Du sollst tun, was du willst“, erwiderte sie leise.
„Du weißt, was ich will. Was möchtest du — am liebsten?“
„Ich weiß nicht, was ich möchte, Helge.“ Sie brach in Tränen aus.
„Jenny, ach Jenny!“ Er küßte sie behutsam viele, [S. 174] viele Male. Als sie ruhiger geworden war, ergriff er ihre Hand.
„Ich gehe jetzt. Schlaf gut. Du darfst nicht böse auf mich sein. Du bist so müde, armes Kleines!“
„Sag mir lieb Gute Nacht,“ bat sie und hing an seinem Halse.
„Gute Nacht, meine süße, geliebte Jenny. Du bist müde, Armes — so matt. Gute Nacht. Gute Nacht.“
Dann ging er. Und wieder weinte sie.
„Hier ist es, was ich dir eigentlich zeigen wollte,“ sagte Gert Gram und erhob sich. Er hatte auf den Knien gelegen und in dem unteren Fach des Geldschrankes gekramt.
Jenny schob die alten Skizzenbücher beiseite und rückte die elektrische Tischlampe zu sich hinüber. Er wischte den Staub von der großen Mappe und reichte sie ihr.
„Es ist viele Jahre her, seit ich dies irgend jemandem zeigte oder mir selber angesehen habe. Aber lange habe ich gewünscht, du solltest es sehen, seit dem ersten Male, als ich bei dir im Atelier war. An jenem Tage, als du dir hier die Bilder von Helge als kleinen Jungen ansahst, nahm ich mir vor, dich zu fragen, ob du die anderen sehen willst. Und später, während du hier arbeitetest, habe ich immer wieder daran gedacht. — Ja, es ist sonderbar, Jenny. Wenn ich daran denke, während ich hier den Alltag mit meiner Arbeit zubringe.“ Er blickte sich in dem kleinen engen Büroraum um. „Hier bin ich gelandet mit all meinen Jugendträumen. Drüben im Schrank liegen sie, wie Leichen in ihrem Sarkophage, und hier gehe ich selbst umher — ein toter und vergessener Künstler.“
Jenny schwieg. Gram drückte sich mitunter ein wenig sentimental aus, fand sie. Obgleich sie wußte, daß das Gefühl, das ihm die Worte gab, bitter aufrichtig war. [S. 175] Einer plötzlichen Eingebung folgend, strich sie ihm leicht über das graue Haar.
Gram beugte den Kopf ein wenig nieder, gleichsam als wollte er ihre flüchtige Liebkosung verlängern. Dann — ohne aufzublicken, löste er die Bänder an der Mappe. Seine Hand bebte leicht.
Sie merkte mit Erstaunen, daß ihre eigenen Hände zitterten, als sie das erste Blatt entgegennahm. Ihr war so merkwürdig beklommen ums Herz, als fühlte sie, daß ein Unglück geschehen würde: ihr wurde plötzlich Angst bei dem Gedanken, daß ja niemand von dem Besuch wissen durfte, daß sie nicht wagte, es Helge zu sagen. Sie wurde mißmutig, als sie jetzt an ihren Verlobten dachte. Seit langem hatte sie es absichtlich unterlassen, darüber nachzudenken, was sie eigentlich für ihn fühlte. Sie wollte der Ahnung, die in dieser Sekunde in ihr aufdämmerte, nicht Raum geben und wollte sich nicht noch mehr in Unruhe bringen durch die Frage, was eigentlich Gert Gram für sie empfand.
Blatt für Blatt nahm sie aus der Mappe, die seine Jugendträume enthielt, und es wurde ihr dabei unsagbar traurig zumute.
Er hatte ihr von diesem Werk — Zeichnungen zu Landstads Volksliedern — erzählt, so oft sie allein waren. Es war ihr klar geworden, daß er um dieser einzigen Arbeit willen geglaubt, er sei zum Künstler geboren.
Seine Bilder zu Hause hatte er selber einmal Dilettantenarbeit eines fleißigen und gewissenhaften Schülers genannt. Aber dies hier — das war sein Eigen. Sie sahen auf den ersten Blick sehr gut aus, diese großen Blätter mit der reichen Umrahmung romantischen Laubwerks und den zierlichen Mönchsbuchstaben des Textes. Die Farbenwirkung war überall rein und fein, bei einigen sogar verblüffend. Aber die eingefügten Vignetten und Friese mit Figuren, so sorgfältig und richtig ihre miniaturartige Zeichnung auch war, so leblos und stillos erschienen sie. Einige waren durchaus naturalistisch, wieder andere lehnten sich so eng an italienisch-mittelalterliche Kunst, [S. 176] daß Jenny einzelne ganz bestimmte Offenbarungsengel und Madonnen unter den Kopfbedeckungen der Ritter und Jungfrauen wiedererkannte. Ja, sogar die Farbenwirkung selbst, so z. B. von dem Hukaballiede mit den goldenen und rotvioletten Tönen, erkannte sie aus einem bestimmten Meßbuch, das sie in der San Marco-Bibliothek gesehen hatte. Wie seltsam die groben, festgeformten Verse sich dagegen abhoben, in den zierlichen Typen des Klosterlateins geschrieben. Bei einigen der großen, ganzseitigen Bilder waren Formensprache und Komposition in barockem Stil gehalten, römischen Altarbildern entlehnt. Ein Widerklang all dessen, das er gesehen, worin er gelebt, was er geliebt, das war Gert Grams Jugendmelodie. Keiner dieser Töne war sein eigen, es war nur ein Echo vieler Töne, wenn auch dies Echo alles mit eigenem, weichem, melancholischem Klange wiedergab.
„Du bist nicht damit zufrieden,“ sagte er lächelnd. „O nein, ich sehe wohl.“
„Doch, natürlich. Es liegt so viel Schönes und Zartes darin. Du weißt,“ sie suchte nach dem Ausdruck, „es wirkt auf uns etwas fremd, da wir die gleichen Motive anders behandelt gesehen — und so gut, daß wir sie uns in anderer Art nicht recht vorstellen können.“
Er saß ihr gegenüber, das Kinn auf die Hand gestützt. Nach einer Weile sah er auf — ihr Herz krampfte sich bei diesem Blick zusammen:
„Ich wußte übrigens schon damals, was daran hätte besser sein sollen,“ sagte er still und versuchte zu lächeln. „Wie ich dir sagte, ich habe die Mappe soviele Jahre nicht hervorgeholt.“
„Ich habe niemals recht verstehen können,“ sagte sie nach einer Weile ablenkend, „daß du dich zu Spätrenaissance und Barock so hingezogen fühltest.“
„Es ist auch nicht zu verlangen, kleine Jenny, daß du das verstehst.“ Er blickte ihr mit einem sonderbar wehen Lächeln ins Gesicht. „Siehst du, es gab wohl eine Zeit, da ich felsenfest an mein eigenes Talent glaubte. Aber doch nie so unbedingt, daß nicht ein kleiner nagender Zweifel [S. 177] zurückgeblieben wäre. Nicht daran zweifelte ich, daß ich nicht auszudrücken vermöchte, was ich sagen wollte, ich war mir nicht klar darüber, was ich eigentlich ausdrücken wollte. Ich sah ja, daß die romantische Kunst abgeblüht und im Begriff war, hinzuwelken. Fast auf der ganzen Linie hatten Verfall und Unwahrhaftigkeit um sich gegriffen, und gerade der Romantik gehörte mein ganzes Herz. Nicht nur in der Malerei. Ich sehnte mich nach den sonntäglichen Bauern der Romantik, trotzdem ich als Knabe lange genug auf dem Lande gelebt hatte, um zu wissen, daß es sie nicht mehr gibt. Als ich in die Welt zog, war mein Ziel das Italien der Romantik. Ich weiß sehr wohl, du und deine Zeit, ihr sucht die Schönheit in dem, was ist , sinnlich und wirklich. Ich fand sie nur in der Umbildung der Wirklichkeit, die andere schon vorgenommen hatten. Du weißt, die achtziger Jahre kamen mit ihrem neuen Glaubensbekenntnis, ich machte den Versuch, zu folgen, doch mein Herz lehnte sich auf.“
„Ja, aber Gert,“ Jenny richtete sich auf, „die Wirklichkeit ist doch nicht ein bestimmter Begriff. Sie zeigt sich jedem einzelnen anders. ‚ There’s beauty in everything ,‘ sagte ein englischer Maler einmal zu mir, ‚ only your eyes see it or see it not, little girls ‘“.
„Ja, aber, Jenny — ich vermochte ja die Wirklichkeit nicht zu sehen , ich erfaßte nur ihren Widerschein in den Träumen Anderer. Ich war nicht einmal fähig, aus der Mannigfaltigkeit der Wirklichkeitswelt meine Schönheit herauszufinden. — Ich fühlte meine eigene Ohnmacht deutlich. Als ich dann dort hinunterkam, eroberte der Barock mein Herz. Begreifst du die tiefe Ohnmacht und die Seelenpein, die man unter der Unfähigkeit, der Phrase, erleidet? Nichts Persönliches, Neues zu besitzen, um die Form damit zu erfüllen. — Nur die Technik vervollkommnet sich, die rauschende Bewegung der Gewänder, die halsbrecherischen jähen Reduktionen, die gewaltigen Effekte in Licht und Schatten, die geschraubte Komposition. Die Leere wird unter der Ekstase verborgen — verzerrte Gesichter, verrenkte Glieder, Heilige, [S. 178] deren einzig wahre Leidenschaft die Furcht vor ihrem eigenen hartnäckigen Zweifel ist, den sie in krankhafter Erregung ersticken wollen. Ja, wahrhaftig, du, das ist die Verzweiflung des Niederganges, das Werk der Epigonen, das nur blenden will — und meist sich selbst.“
Jenny nickte. „Dies ist jedenfalls deine subjektive Anschauung. Ich bin durchaus überzeugt, daß die Maler, von denen du sprichst, außerordentlich stolz und zufrieden mit sich selber waren.“
Er schlug plötzlich einen anderen Ton an und lachte: „Möglich. Vielleicht wurde dies mein Steckenpferd, weil, wie du sagtest, es nun einmal mein subjektiver Standpunkt war.“
„Aber das Bild, das du von deiner Frau gemalt hast — in Rot — das ist doch ganz impressionistisch, und es ist ausgezeichnet. Je öfter ich es mir anschaue, desto besser finde ich es.“
„O ja. Aber das ist ja ein vereinzelter Fall.“ Er schwieg. „Als ich malte, war sie für mich das Leben. Ich war toll verliebt in sie — und doch haßte ich sie schon so grenzenlos.“
„Daß du die Malerei aufgabst,“ fragte Jenny leise, „war das ihre Schuld?“
„Nein, Jenny. Alles, was uns an Unglück zustößt, ist unsere eigene Schuld. Ich weiß, du bist nicht, was man gläubig nennt. Darin geht es mir ähnlich. Aber ich glaube — an Gott meinetwegen, oder eine seelische Macht, oder was du sonst willst, die in gerechter Weise straft. — Sie war irgendwo draußen in der Großen Straße Kassiererin in einem Geschäft. Ich sah sie dort zufällig. Sie war herrlich schön; das kannst du vielleicht jetzt noch sehen. Nun ja, ich lauerte ihr eines Abends auf, als sie aus dem Geschäft kam, und sprach sie an. Lernte sie kennen. — Ich verführte sie,“ sagte er leise und hart.
„Und dann hast du sie eben geheiratet, weil sie ein Kind bekam. Das habe ich mir gedacht. Zum Dank hat sie dich siebenundzwanzig Jahre lang gequält und [S. 179] geplagt. — Weißt du, die Gerechtigkeit, an die du da glaubst, ist recht grausam.“
Er lächelte müde: „Ich bin gar nicht so altmodisch, Jenny, wie du vielleicht denkst. Ich erblicke darin keine Sünde, daß zwei junge Menschen, die sich lieben und fühlen, daß sie zusammengehören, sich einander hingeben, ob nun unter gesetzlichen oder ungesetzlichen Umständen. Ich aber habe Rebekka tatsächlich verführt. Sie war unschuldig, als ich sie traf, nicht nur rein körperlich, meine ich. Ich sah, wie sie war — sie ahnte es selber nicht. Ich wußte, wie leidenschaftlich sie war, wie eifersüchtig und tyrannisch sie in ihrer Liebe sein würde. Ich machte mir aber den Teufel etwas daraus, ich fühlte mich geschmeichelt, daß gerade mir diese Leidenschaft galt, daß ich dieses herrliche Mädchen so ganz mein eigen nennen durfte. Natürlich hatte ich nie die Absicht, mich ihr ganz zu opfern, trotzdem ich wußte, sie würde alles fordern. Ich hatte nicht gerade vor, sie zu verlassen, glaubte aber, ich würde mich schon zu behaupten wissen. Ich hoffte, aus unserem Verhältnis ausschalten zu können, was ich ihr nicht geben wollte — meine Interessen, meine Arbeit: mein eigentliches Leben — obwohl ich wußte, sie würde versuchen, alles an sich zu reißen. Es war erzdumm von mir; ich wußte, ich war schwach, und sie stark und rücksichtslos. Aber ich rechnete darauf, daß ihre stärkere Leidenschaft mir, der ich in gewissen Punkten verhältnismäßig kalt war, ein Uebergewicht geben würde. — Ich entdeckte, daß sie außer ihrer großen Fähigkeit zu lieben keine starken Eigenschaften besaß. Sie war eitel und ungebildet, neidisch und roh. Wir hatten keine seelische Gemeinschaft, was ich aber nicht vermißte. Ich wollte ja nur ihren herrlichen Körper besitzen, ihre verzehrende Leidenschaft genießen.“
Er erhob sich und ging zu Jenny hinüber, ergriff ihre Hände und preßte sie einen Augenblick an seine Augen.
„Konnte ich denn wissen, daß eine Ehe mit ihr ein einziges Elend sein würde? — Ich mußte ernten, was ich gesät. Ich mußte sie also heiraten. Es war eine fürchterliche [S. 180] Zeit. Vorher, als sie zu mir ins Atelier kam — wild und toll vor Uebermut — verhöhnte sie jedes altväterische Vorurteil. Sie war stolz, Geliebte zu sein, übermütig — für sie gab es nichts als dies freie Liebesleben. Als es dann eine schlimme Wendung mit ihr nahm, blies sie aus einem anderen Horn. Ich bekam von ihrer achtbaren Familie in Frederikshald zu hören, ihrer unbefleckten Tugend, ihrem guten Ruf — ich dagegen war ein Schurke, ein Wicht, wenn ich sie nicht augenblicklich heiratete. Soundso viele Männer hatten sie auf diese oder jene Weise haben wollen, sie aber wollte sich weder verloben noch sich verführen lassen.
Ich hatte nichts zum Heiraten — ich war Student, nicht einmal tüchtig, und hatte außer der Malerei nichts gelernt. Monate gingen hin. Ich mußte zu meinem alten Vater gehen. Dann heirateten wir, und zwei Monate später kam Helge. — Meine Familie half mir, dies Geschäft zu beginnen. Ich hatte ja einmal große Träume von einem Kunstverlag ... meine Volksliederblätter! — Aber die Herbeischaffung des täglichen Brotes und meine Familie machten mir Sorge und Mühe genug. Ich mußte sogar einmal akkordieren, wie du vielleicht gehört hast — in den neunziger Jahren. Sie nahm ehrlich und redlich ihr Teil an Arbeit, Entbehrung und Armut auf ihre Schultern und hätte mit Freuden für mich und die Kinder gehungert. Es war bei meinen Gefühlen für sie beschämender, eingestehen zu müssen, daß sie sich für mich abarbeitete, sich aufopferte und für mich litt. — Ich mußte auf alles verzichten, was mir lieb war. Zoll für Zoll zwang sie mich all das aufzugeben, was ich vor ihr voraus hatte. Mein Vater und sie waren Todfeinde von der ersten Stunde an. Sie war ihm unsympathisch! Und das verletzte ihre Eitelkeit. So trieb sie einen Keil zwischen uns beide. Vater war Beamter von der alten Schule, vielleicht ein wenig engherzig, steif und trocken — aber so fein und vornehm und rechtlich denkend und im Grunde so warm, so weich und gut. Wir waren einander immer viel — ja, Jenny, ich liebte ihn, aber [S. 181] das durfte ich natürlich nicht. — Dann die Malerei! Ich sah, daß ich nicht die Fähigkeiten hatte, wie ich erst geglaubt. Ich vermochte aber nicht, mich immer und immer wieder zu versuchen, da ich doch nicht an mich selber glauben konnte, müde, wie ich war von der Jagd nach dem täglichen Brot und von diesem Zusammenleben, das mehr und mehr zu einer Karikatur wurde. Sie machte mir Vorwürfe, aber heimlich triumphierte sie. — Und dann die Kinder! Sie war eifersüchtig, wenn sie merkte, ich freute mich über sie oder wenn sie sah, sie waren fröhlich mit mir. Sie wollte die Kinder nicht mit mir teilen, aber sie wollte mich auch nicht mit den Kindern teilen. Ihre Eifersucht wuchs sich mit den Jahren zu einer Art Irrsinn aus. Nun, du hast ja selbst gesehen.“
Jenny blickte zu ihm auf.
„Sie kann es kaum ertragen, daß wir in einem Raume zusammen sind, nicht einmal, wenn Helge dabei ist.“
Sie zauderte einen Augenblick, ehe sie auf ihn zuging und ihre Hände auf seine Schultern legte:
„Ich begreife nicht,“ flüsterte sie, „daß du dies Leben ausgehalten hast.“
Gert Gram beugte sich vor und legte seinen Kopf auf ihre Schulter:
„Ich verstehe es ja selber nicht, Jenny.“
Als er kurz darauf sein Antlitz hob und ihre Augen sich trafen, legte sie ihre Hand um seinen Nacken, und, überwältigt von einem unendlich verzweifelten, zarten Mitleid, küßte sie ihn auf Stirn und Wange.
Sie erschrak hinterher selbst, als sie auf sein Gesicht mit den geschlossenen Augen herniederblickte, wie es an ihrer Schulter ruhte. Aber dann richtete er sich sanft auf und erhob sich.
„Danke, kleine Jenny.“
Gram legte die Blätter in die Mappe zurück und räumte den Tisch ab.
„Ja, Jenny, ich wünsche dir, du mögest recht, recht glücklich werden. Du bist so jung und hell, so frisch und [S. 182] energisch und begabt. Mein liebes Kind — du bist so, wie ich es selbst hatte sein wollen. Ich erreichte es aber niemals.“ Er sprach mit leiser, geistesabwesender Stimme.
„Ich glaube,“ sagte er kurz darauf ganz ruhig, „solange ein Verhältnis neu ist und man sich noch nicht eingelebt hat, kann einem so vieles begegnen, das schwer zu überwinden ist. Ich wünschte, ihr wohntet später nicht hier in der Stadt. Ihr sollt allein sein — in der ersten Zeit — fern von Verwandtschaft und dergleichen.“
„Helge hat ja die Stellung in Bergen beantragt, weißt du,“ sagte Jenny. Wieder überfiel sie diese närrische Verzweiflung und Angst, wenn sie an ihn dachte.
„Sprichst du nie mit deiner Mutter über diese Dinge, Jenny? Warum nicht? Hast du deine Mutter nicht lieb?“
„Doch, gewiß habe ich Mama lieb.“
„Du solltest sie um Rat fragen, mit ihr reden —“
„Es nützt mir nichts, andere um Rat zu bitten. Ich mag nicht über solche Dinge mit anderen sprechen,“ sagte sie abweisend.
„Nein, nein. Du bist —“ Er stand dem Fenster halb zugewandt, als er plötzlich zusammenfuhr und leise und aufgeregt ihr zuflüsterte:
„Jenny — sie geht dort vorüber!“
„Wer?“
„Sie — Rebekka.“
Jenny erhob sich. Sie hatte das Gefühl, als müßte sie schreien , vor Erbitterung und Ekel. Ein Zittern überfiel sie, jede Fiber in ihr krampfte sich zusammen, lehnte sich auf. Sie wollte nicht hineingezogen werden in all das Häßliche, Schauderhafte, in dieses Mißtrauen, diesen Hader, diese haßerfüllten Worte, Zänkereien und Szenen ... Nein, sie wollte nicht da hinein —.
„Jenny, du bebst ja, Kind — du solltest keine Furcht haben, dir darf sie nichts tun —.“
„Das ist es nicht — ich bin nicht ängstlich.“ Sie wurde plötzlich kalt und hart. „Ich bin hier gewesen, [S. 183] um dich zu holen — wir haben uns die Mappen angesehen und nun trinke ich bei euch Tee.“
„Es ist ja nicht sicher, daß sie etwas gesehen hat —“
„Das brauchen wir, weiß Gott, auch nicht zu verbergen! Weiß sie nicht, daß ich hier gewesen bin, so erfährt sie es eben. Ich gehe mit dir nach Hause, hörst du? Wir müssen es tun, sowohl deinet- als auch meinetwegen —.“
Gram blickte sie an:
„Nun ja, nehmen wir es also auf uns.“
Als sie auf die Straße hinunter kamen, war Frau Gram gegangen.
„Wir fahren mit der Straßenbahn, Gert; es ist spät.“ Sie schwieg. Plötzlich fuhr sie auf. „Helges wegen müssen wir es auch tun; diese Geheimniskrämerei zwischen uns muß auch um seinetwillen ein Ende haben.“
Frau Gram öffnete ihnen selbst die Tür, als sie kamen. Während Gert Gram seine Erklärung vorbrachte, begegnete Jenny frei ihren bösen Augen:
„Das ist doch ärgerlich, daß Helge heute Abend nicht zu Hause ist. Glauben Sie nicht, daß er früher zurückkommt, Frau Gram?“
„Es ist aber auch merkwürdig, lieber Freund, daß du nicht daran gedacht hast,“ sagte Frau Gram zu ihrem Manne. „Es ist für Fräulein Winge schließlich kein Vergnügen, mit uns beiden einsamen Alten den ganzen Abend zu verbringen.“
„Oh, was das betrifft,“ meinte Jenny.
„Ich kann mich wirklich nicht entsinnen, daß Helge davon sprach, er ginge heute Abend fort,“ sagte Gram.
„Man ist es nicht gewöhnt, Sie ohne Handarbeit zu sehen,“ lächelte Frau Gram, als sie nach dem Essen im Wohnzimmer bei einander saßen. „Sie, die Sie immer so fleißig sind!“
„Nein, ich konnte nicht mehr nach Hause gehen, ich kam zu spät aus dem Atelier. Können Sie mir nicht eine Arbeit leihen, Frau Gram?“
[S. 184]
Jenny unterhielt sich mit ihr über den Preis aufgezeichneter Handarbeiten hier und in Paris, und über die Bücher, die sie ihr geliehen hatte. Gram saß und las. Hin und wieder fühlte Jenny seine Augen auf ihr ruhen.
Gegen elf Uhr kam Helge. —
„Was ist denn geschehen?“ fragte er, als sie dann die Treppe hinuntergingen. „Ist zu Haus wieder eine Szene gewesen?“
„Durchaus nicht.“ Sie sprach heftig und nervös. „Deine Mutter nahm es wohl ungnädig auf, daß ich mit deinem Vater zusammen zu euch nach Hause kam.“
„Ich finde allerdings auch, das hättet ihr vermeiden können,“ sagte Helge zaghaft.
„Ich fahre mit der Straßenbahn nach Hause!“ Uebernervös, wie sie war, riß sie sich plötzlich unbeherrscht von ihm los. „Mehr ertrage ich heute Abend nicht, hörst du? Ich will nicht jedesmal diese Szenen mit dir haben, wenn ich bei euch gewesen bin. Gute Nacht!“
„Aber Jenny! Jenny —!“ Er lief ihr nach, aber sie war bereits an der Haltestelle. Die Bahn kam im selben Augenblick, Jenny sprang auf und ließ ihn stehen.
Sie ging den ganzen Vormittag über im Atelier auf und ab, ohne zu arbeiten. Sie hatte nicht die Kraft, etwas zu tun.
Der Regen trommelte unaufhörlich und laut auf dem großen Mansardenfenster. Hin und wieder hielt Jenny inne und blickte über die regennassen Schieferdächer, die schwarzen Schornsteine und Telephondrähte hinweg, an denen die Regentropfen wie Perlen entlangglitten, zusammenliefen und niederfielen, um neuen Tropfen, die schnell herbeiliefen, Platz zu machen.
Ihr kam der Gedanke, in den Bundefjord zur Mutter und den Kindern zu reisen, einige Tage wenigstens. Von all diesem hier mußte sie fort. Oder sie wollte die [S. 185] Stadt verlassen, irgendwo in einem Hotel Wohnung nehmen, Helge bitten, nachzukommen, um mit ihm in Ruhe sprechen zu können.
Wenn sie beide nur eine Zeitlang allein sein könnten! Sie versuchte, sich ihren Lenz dort unten vor Augen zu führen, sie erinnerte sich der Wärme und der grünen Campagna, der weißen Blüten, des silberfeinen Dunstes über dem Gebirge und ihrer eigenen Freude. Aber Helges Bild aus jener Zeit — wie er in ihren verliebten Augen ausgesehen hatte, schien sie nicht zurückrufen zu können.
Diese Tage lagen nun schon so weit hinter ihr, und sie standen so sonderbar isoliert von ihrem übrigen Leben da. Wenn sie auch noch so genau wußte , wie es gewesen, so konnte sie doch die Verbindung zwischen damals und heute nicht mehr fühlen .
Dieses Haus in der Welhavenenstraße — nein, dort gehörte sie nicht hin. Und es war ihr, als entschwinde Helge ihr dort gleichsam vor ihren Augen. Es war unfaßbar, sie wollte es einfach nicht glauben, daß diese Menschen zu ihr gehören sollten, für alle Zukunft.
Nein. Er, Gram, hatte Recht. Sie mußten aus all diesem heraus.
Sie wollte reisen. Sofort. Ehe Helge käme und eine Erklärung für den gestrigen Tag forderte.
Eben hatte sie die Handtasche gepackt und zog den Regenmantel über, als es klopfte — mehrmals. Sie erkannte Helges Zeichen.
Jenny stand mäuschenstill und wartete, bis er gegangen war. Kurz darauf ergriff sie ihre Reisetasche, verschloß das Atelier und ging.
Als sie ein Stück die Treppe hinuntergekommen war, sah sie einen Mann in einem der Flurfenster sitzen. Es war Helge. Er hatte sie bereits gesehen. So ging sie denn zu ihm hinunter. Einen Augenblick starrten sie sich an.
„Warum wolltest du mir eben nicht öffnen?“ fragte er.
Jenny antwortete nicht.
„Hörtest du nicht, daß ich klopfte?“
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„Doch. Ich hatte aber kein Verlangen mit dir zu sprechen.“
Er erblickte ihren Handkoffer.
„Willst du zu deiner Mutter fahren?“
Jenny überlegte einen Augenblick:
„Nein. Ich gedenke einige Tage nach Holmestrand zu reisen. Ich wollte dir dann schreiben und dich bitten, nachzukommen. Wir konnten dann eine Weile zusammen sein, ohne daß sich Unbeteiligte hineinmischen und uns Szenen machen. Ich würde gern mit dir in Ruhe und Frieden reden.“
„Ich hätte auch gern mit dir gesprochen. Können wir nicht zu dir hinaufgehen?“
Sie antwortete nicht gleich.
„Ist jemand bei dir oben?“ fragte er.
Jenny richtete ihre Augen auf ihn:
„Jemand oben? Wenn ich gegangen bin?“
„Es könnte ja jemand sein, mit dem du nicht zusammen fortgehen magst.“
Sie wurde brennend rot.
„Wie meinst du das, ich konnte ja gar nicht wissen, daß du mir hier auflauertest.“
„Liebe Jenny, du kannst dir doch denken — ich meine doch nicht, daß von deiner Seite etwas Unrechtes darin läge.“
Jenny erwiderte nichts, sondern stieg die Treppe wieder hinauf. Oben im Atelier setzte sie den Koffer nieder, blieb im Mantel stehen und beobachtete Helge, wie er seinen Regenmantel ablegte und den Schirm in einen Winkel stellte.
„Vater erzählte es mir heute morgen, daß du bei ihm gewesen bist, und daß Mutter draußen vorbeiging —.“
„Ja.“ Sie schwieg einen Augenblick. „Es ist eine merkwürdige Angelegenheit bei euch zu Hause — so auf der Lauer zu liegen. Es wird mir recht schwer, mich daran zu gewöhnen, muß ich sagen.“
Helge wurde rot:
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„Liebste Jenny, ich mußte mit dir sprechen. Die Portierfrau sagte, sie glaubte ganz bestimmt, du seiest oben. Du weißt doch wohl, daß ich nicht dir mißtraue —“
„Ich weiß bald nicht mehr aus noch ein,“ antwortete sie aufgebracht. „Ich kann das nicht mehr aushalten — all den Argwohn, diese Geheimnistuerei, diesen Unfrieden und die Häßlichkeit. Herrgott, Helge — kannst du mich denn nicht ein wenig dagegen schützen!“
„Arme Jenny.“ Er erhob sich und ging zum Fenster, den Rücken ihr zugewandt.
„Ich habe mehr darunter gelitten, Jenny, als du ahnst. Es ist zum Verzweifeln. Denn — begreifst du das nicht selber — Mutters Eifersucht ist doch nicht ganz unbegründet.“
Jenny zuckte zusammen. Helge wandte sich um und sah es.
„Ich glaube natürlich nicht, daß Vater sich dessen bewußt ist. Sonst würde er seinem Verlangen, mit dir zusammen zu sein — nicht in diesem Maße nachgeben. Obgleich —. Er sprach auch mit mir darüber, daß wir beide fort müßten, fort aus dieser Stadt. Ich weiß nicht — hat er dich nicht überhaupt auf die Reise gebracht?“
„Auf diese Reise nach Holmestrand bin ich selbst gekommen. Er sprach aber gestern mit mir davon, daß wir nicht hier in der Stadt wohnen dürften — wenn wir verheiratet wären —“
Sie ging auf ihn zu und legte beide Hände auf seine Schultern. Ihre Stimme war klagend:
„Helge, mein Freund — ich muß ja reisen, wenn es so ist — Helge, Helge — was sollen wir tun?“
„Ich reise,“ sagte er kurz. Er nahm ihre Hände von seinen Schultern und preßte sie an seine Wangen. So standen sie einen Augenblick still.
„Auch ich muß reisen. Kannst du denn nicht verstehen? Als ich noch dachte, deine Mutter sei ungerecht — ja, und auch unfein — konnte ich ihr gegenüber tun, als ginge es mich nichts an. Aber jetzt — du hättest das nicht sagen dürfen, Helge — selbst wenn du dich irrtest. Ich [S. 188] kann nicht mehr dorthin gehen, wenn ich darüber nachgrübeln muß, ob sie auch nur einen leisen Schein von Recht hat; ich werde unsicher, ich weiß, ich kann ihr gegenüber nicht meine Fassung bewahren — ich komme mir vor wie eine Schuldige ...“
„Komm.“ Er zog sie mit sich zum Sofa und setzte sich neben sie. „Ich will dich etwas fragen.“
„Liebst du mich, Jenny?“
„Das weißt du,“ sagte sie hastig und bang.
Er nahm ihre Hand in seine beiden:
„Ich weiß, du hast es eine Zeitlang getan. Gott weiß, ich begriff nie, aus welchem Grunde. Aber ich wußte, du sprachst die Wahrheit, wenn du es sagtest. Dein ganzes Wesen gegen mich war Liebe, Güte und Freude. Aber ich hatte immer Angst, daß der Tag kommen würde, an dem du mich nicht mehr liebtest.“
Sie blickte ihm in das weiße Gesicht:
„Ich bin dir so gut, Helge.“
„Ich weiß es wohl.“ Er lächelte flüchtig. „Ich weiß wohl, du bist nicht eine von denen, deren Herz erkaltet gegen den Mann, den sie einstmals liebten. Ich weiß auch, du willst mir nicht wehe tun — du wirst selbst leiden, wenn du mich nicht mehr liebst. — Ich habe dich so grenzenlos lieb, siehst du —“
Er senkte seinen Kopf und weinte. Sie zog ihn fest an sich:
„Helge. Mein Junge. Mein lieber, lieber Junge.“
Er hob wieder den Kopf und schob sie sanft zurück:
„Jenny — damals in Rom — ich hätte dich nehmen können. Du wolltest mein werden — ganz. Du hattest den guten Willen — in deiner Seele herrschte kein Zweifel darüber, daß unser Zusammenleben für uns Glück bedeuten würde. Ich war nicht so sicher — darum wohl wagte ich es nicht —. Später, hier zu Hause ... Ich sehnte mich so unsagbar. Ich wollte dich ganz besitzen, da ich fürchtete, dich eines Tages zu verlieren. Aber ich merkte, wie du immer auswichest, wenn du fühltest, daß dies Begehren in mir aufstieg.“
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Sie blickte ihn erschrocken an. Es war so! Sie hatte es sich nicht gestehen wollen — aber er hatte Recht.
„Wenn ich dich jetzt bäte. In dieser Stunde!?“
Jenny bewegte die Lippen. Dann sagte sie schnell und fest:
„Ja.“
Helge lächelte traurig und küßte ihre Hand:
„Willig und gern? Weil du mein sein willst? Weil du dir ein Glück ohne mich und dich nicht denken kannst? Nicht nur, weil du mir etwas Liebes antun willst? Nicht nur, weil du nicht dein Wort brechen willst? Antworte aufrichtig!“
Sie warf sich weinend über seine Knie:
„Laß mich fortreisen! Ich will ins Gebirge fahren. Hörst du, Helge — ich muß mich selber wiederfinden — ich will deine Jenny werden, wie in Rom. Ich will , Helge — ich weiß weder aus noch ein, aber ich will . Wenn ich ruhiger geworden bin, schreibe ich an dich; dann kommst du nach und dann bin ich nur deine, ganz deine Jenny —.“
„Jenny,“ sagte Helge leise. „Ich bin meiner Mutter Sohn. Wir haben uns voneinander entfernt — wir haben uns schon jetzt voneinander entfernt. Du müßtest mich davon überzeugen, daß ich dir das Höchste auf Erden bin, das Einzige, mehr als alles andere — aber du kannst nicht. Ich fühle ja, daß du zu deiner Arbeit, deinen Freunden mehr gehörst als zu mir, während du dich unter den Menschen fremd fühlst, die mir nahestehen —.“
„Ich fühle mich deinem Vater gegenüber nicht so fremd,“ flüsterte Jenny unter Tränen.
„Nein. Aber Vater und ich sind uns fremd. Jenny — da ist deine Arbeit, in der ich niemals ganz eins mit dir werden kann. Ich weiß jetzt, daß ich auch darauf eifersüchtig bin. Jenny, verstehst du nicht, ich bin ja ihr Sohn. Fühle ich nicht sicher, daß ich für dich alles auf der Welt bedeute, so muß ich eifersüchtig sein, fürchten, daß eines Tages einer kommt, den du ganz lieben wirst, [S. 190] der dich besser versteht —. Ich bin von Natur eifersüchtig —.“
„Du darfst es nicht sein, Helge. Dann zerbricht alles. Ich dulde kein Mißtrauen gegen mich. Hörst du — ich kann leichter verzeihen, wenn du mich betrügst, als wenn du an mir zweifelst —.“
„Das könnte ich nicht.“ Er lachte gequält.
Jenny strich sich das Haar aus der Stirn und trocknete die Augen:
„Helge. Wir haben uns doch gern. Wenn wir alles um uns her verließen und wenn wir beide den Willen hätten, alles gutzumachen. Wenn zwei Menschen einander gut sein und einander glücklich machen wollen —.“
„Ich habe zu viel gesehen. Ich wage nicht auf meinen und deinen Willen zu bauen. Da sind andere, die auch auf den guten Willen gehofft haben. Ich habe gesehen, wie zwei Menschen einander das Leben zur Hölle machen können. — Du sollst mir auf das antworten, was ich dich fragte. Liebst du mich? Willst du mein sein — wie in Rom? Darf ich heute Nacht bei dir bleiben? Ist das dein Wunsch, der höchste, den du hast?“
„Ich bin dir doch gut, Helge.“ Sie schluchzte verzweifelt und leise.
„Ich danke dir,“ sagte er. Er ergriff ihre Hand und küßte sie. „Du kannst ja nichts dafür, armes Liebes, daß du mich nicht liebst. Das weiß ich wohl.“
„Helge!“ klagte sie flehend.
„Du kannst mir nicht sagen, Jenny, daß ich bleiben soll, weil du ohne mich nicht leben kannst. Wagst du es, die Verantwortung für alle Folgen zu übernehmen, wenn du sagst, du liebtest mich, nur damit ich jetzt nicht traurig von dir gehe —?“
Jenny starrte in ihren Schoß.
Helge zog den Regenmantel an und griff nach seinem Schirm.
„Leb wohl, Jenny.“ Er nahm ihre Hand.
„Gehst du von mir, Helge?“
„Ja, Jenny, ich gehe.“
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„Kommst du nicht wieder?“
„Nur, wenn du mir sagen kannst, was ich dich fragte.“
„Das kann ich jetzt nicht sagen,“ flüsterte sie verzweifelt.
Helge strich ihr flüchtig übers Haar. Dann ging er.
Jenny blieb weinend auf dem Sofa sitzen. Sie schluchzte bitterlich und lange — ohne zu denken. Und inmitten der tiefen Müdigkeit, die darauf folgte, der Mattigkeit nach der kleinlichen Quälerei, der kleinlichen Demütigung und dem kleinlichen Hader der letzten Monate fühlte sie ihr Herz so leer und kalt. Helge hatte Recht.
Nach einer Weile verspürte sie Hunger. Als sie nach der Uhr sah, war es sechs.
Sie hatte vier Stunden so dagesessen. Als sie ihren Mantel anziehen wollte, entdeckte sie, daß sie ihn gar nicht abgelegt hatte.
Drüben an der Tür hatte sich eine Wasserpfütze gebildet — zwischen einigen Bildern im Blendrahmen. Jenny suchte nach einem Lappen und trocknete den Boden auf. Da fiel ihr plötzlich ein, daß das Wasser von Helges Schirm herrührte. Sie lehnte die Stirn an den Türrahmen und weinte wieder.
Das Mittagessen war schnell beendet. Sie versuchte die Zeitung zu lesen und eine Weile ihre Gedanken auszuschalten. Es war aber umsonst. So würde es doch besser sein, heimzugehen und sich dort hinzusetzen —.
Als sie kam, stand ein Mann wartend auf dem obersten Treppenabsatz. Er war groß und schmächtig. Sie sprang die letzten Stufen hinauf und rief Helges Namen.
Sie erkannte seinen Vater. „Es ist nicht Helge,“ entgegnete er.
Jenny streckte ihm atemlos beide Hände entgegen:
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„Gert — was ist — ist etwas Schlimmes geschehen?“
„Still, still, Jenny.“ Er ergriff ihre Hand. „Helge ist fortgereist nach Kongsberg zu einem Freund, einem Schulkameraden, der dort Arzt ist. Zu Besuch. Herrgott, Kind, du fürchtest doch nichts anderes —.“ Er lächelte ganz leise.
„Oh, ich weiß nicht —.“
„Nein. Aber liebe Jenny — du bist ja ganz außer dir —.“
Sie ging ihm vorauf durch den Gang und schloß das Atelier auf. Drinnen war es taghell und Gert Gram betrachtete sie. Er war selbst bleich.
„Ist dir so weh ums Herz, Jenny? — Helge sagte — ich verstand ihn jedenfalls so — daß ihr übereingekommen seid ... ihr fändet beide, daß ihr nicht zueinander paßt —.“
Jenny schwieg. Wie sie jetzt einen Dritten es aussprechen hörte, war es ihr, als müsse sie widersprechen. Sie hatte es vorhin nicht begriffen, daß es vorbei sein sollte. Aber da stand er und sagte: sie seien sich klar geworden, daß es so das Beste wäre. Helge war fortgereist, und die Liebe, die sie einmal für ihn empfunden, war gestorben — sie konnte sie nicht mehr in sich finden — und daher war es eben vorbei. Aber Gott im Himmel, wie war es denn möglich, daß es zu Ende sein sollte, zumal sie es ja gar nicht gewollt —.
„Ist es so schwer für dich, Jenny?“ fragte er wieder. „Hast du ihn doch noch lieb —?“
Jenny warf den Kopf zurück:
„Natürlich bin ich Helge gut.“ Ihre Stimme bebte leise: „Man hört doch nicht ohne weiteres auf, einen Menschen gern zu haben, den man geliebt hat. Es ist einem doch nicht gleichgültig, ob man einem anderen wehetut —.“
Gram antwortete nicht gleich. Er setzte sich aufs Sofa, drehte seinen Hut zwischen den Händen und betrachtete ihn:
„Ich verstehe ja, daß es schmerzlich und schlimm für euch beide ist. Aber Jenny — wenn du es dir [S. 193] überlegst — glaubst du nicht selbst, daß es das Beste für euch ist —?“
Sie entgegnete nichts.
„Wie innig froh ich war, Jenny, als ich dich traf und sah, wie die Frau war, die mein Sohn erwählt hatte — das kann ich dir nicht beschreiben. Es schien mir, als sollte mein Junge alles das besitzen, worauf ich in meinem Leben hatte verzichten müssen. Du warst so schön und fein, ich hatte den Eindruck, als seiest du ebenso gut, wie du klug, stark und selbständig warst; und dann warst du eine begabte Künstlerin, die weder an Ziel noch Mitteln zweifelte. Du sprachst froh und warm von deiner Arbeit, und froh und warm von deinem Freunde ... Dann kam Helge heim. Da fand ich, daß du dich verändertest — merkwürdig schnell. Die peinlichen Vorkommnisse, die in meinem Hause nun einmal an der Tagesordnung sind, machten also einen zu starken Eindruck auf dich. Ich dachte, es sei unmöglich, daß Dinge wie eine — unbehagliche, zukünftige Schwiegermutter einem jungen liebenden Weib vollständig das Glück verbittern könnten. Ich begann zu fürchten, daß tiefere Mißverhältnisse, die du jetzt nach und nach entdecktest, Schuld wären. Daß du vielleicht sahest, daß deine Liebe zu Helge nicht so felsenfest war, wie du geglaubt. Daß dir klar wurde, daß ihr im Grunde nicht zusammen paßtet, wie du natürlich angenommen hattest. Daß mehr eine Augenblicksstimmung euch zusammengeführt hatte —. Dort unten, ihr Beide allein, losgelöst von jedem alltäglichen, heimlichen Band, allein in der neuen Umgebung, Beide jung und frei, glücklich durch die Arbeit und wohl Beide mit der Liebessehnsucht der Jugend im Herzen — sollte all das nicht vorübergehende Sympathie und Verständnis erwecken können, selbst wenn diese Sympathie, dieses Verständnis nicht in die tiefsten Winkel eurer beider Seelen gedrungen war?“
Jenny stand drüben am Fenster und blickte zu ihm hinüber. Sie empfand einen seltsam heftigen Unwillen, als er sprach. Herrgott, vielleicht hatte er Recht. Aber [S. 194] er verstand ja gar nicht, was ihr eigentlich das Herz so schwer machte, während er ihr alles so klar auseinandersetzte:
„Das ändert nichts an der Sache — selbst, wenn etwas an dem ist, was du sagst. Möglich, daß du Recht hast —.“
„Es ist jedenfalls besser, Jenny, daß ihr es jetzt eingesehen habt. Besser, als wenn es später gekommen wäre, wenn die Bande fester geknüpft waren und es schmerzlicher gewesen wäre, sie zu lösen —.“
„Das ist es ja nicht, ach, das ist es ja gar nicht!“ Sie unterbrach ihn plötzlich heftig. „Ich — ich verachte mich selbst. Man gibt einer solchen lächerlichen Stimmung nach, lügt sie herbei. Man soll wissen , daß man, ehe man sagt, man liebt, für sein Wort einstehen kann. Eine solche Leichtfertigkeit habe ich immer am allermeisten verachtet. Nun sitze ich selbst in der Schande.“
Gram blickte plötzlich scharf zu ihr hinüber. Er wurde bleich — und dann glühend rot. Nach einer Weile sagte er mühsam:
„Ich sagte, es sei das Beste, daß, wenn zwei Menschen nicht zueinander passen, sie es entdecken, ehe das Verhältnis so tief in ihr Leben eingegriffen hat, daß Beide — und besonders sie — nie wieder die Spuren auslöschen können. Ist es zu spät, so muß man eher versuchen, ob man nicht — mit ein wenig Resignation und viel gutem Willen von beiden Seiten — eine Harmonie zuwege bringen kann. Erweist sich das als eine Unmöglichkeit, so kann man ja noch immer —. Ich weiß ja nicht, ob du und Helge ... wie tief es gegangen ist —.“
Jenny lachte spöttisch:
„Ah, ich verstehe, was du meinst. Für mich ist es ebenso bindend, daß ich Helge habe angehören wollen — mein Wort gegeben habe und es nun nicht halten kann. Ebenso demütigend — vielleicht mehr als wenn ich wirklich sein gewesen wäre —.“
[S. 195]
„Du wirst das nicht sagen, wenn du einmal einem Manne begegnest, den du mit großer, wahrer Liebe lieben kannst,“ sagte Gram leise.
Jenny zuckte mit den Schultern:
„Glaubst du übrigens an die große und wahre Liebe, von der du da sprichst?“
„Ja, Jenny.“ Gram lächelte schwach. „— Ich weiß, der Ausdruck kommt euch jungen Menschen heutzutage komisch vor. Ich glaube indessen an sie — aus guten Gründen.“
„Ich glaube, eines jeden Menschen Liebe ist wie er selbst. Wer großzügig veranlagt ist und wahrhaftig gegen sich selbst, wirft sich nicht in kleinen Liebeleien fort. Ich dachte, ich selber ... Aber ich war achtundzwanzig Jahre alt, als ich Helge traf, und ich hatte nie geliebt. Dessen war ich überdrüssig und wollte es gern versuchen. Er war verliebt, warm und jung, aufrichtig, und das lockte mich. So log ich denn mir selber etwas vor, genau wie all die anderen Frauenzimmer — seine Wärme ging auf mich über, und ich bildete mir schleunigst ein, ich sei warm. Obwohl ich wußte, daß man diese Illusion nicht lange aufrecht erhalten kann, jedenfalls nur solange, als von dieser Liebe nicht etwas verlangt wird. Andere Frauen begehen dergleichen in aller Harmlosigkeit, weil sie zwischen Gut und Böse nicht unterscheiden können und sich immer etwas vorlügen — so etwas kann ich aber zu meiner Entschuldigung nicht anführen —. Ich bin also in Wirklichkeit ebenso klein und egoistisch und verlogen wie die anderen. Daher kannst du sicher sein, Gert, daß ich schwerlich deine große und wahrhafte Liebe kennen lernen werde —.“
„Jenny,“ und wieder lächelte Gert sein melancholisches Lächeln, „ ich , siehst du, — Gott weiß, ich bin weder groß noch stark, in Lüge und Schlechtigkeit hatte ich zwölf Jahre lang gelebt, und ich war zehn Jahre älter als du jetzt bist — ich sah da eine, die mich an dies Gefühl, von dem du jetzt so höhnisch sprichst, glauben lehrte — so fest, daß ich niemals daran zweifeln werde.“
[S. 196]
Eine Weile war es still.
„Und du — bliebst bei ihr,“ sagte Jenny leise.
„Wir hatten beide Kinder. Ich sah damals noch nicht ein, daß ich nicht den geringsten Einfluß auf meine eigenen Kinder gewinnen würde. Schon gar nicht, wenn eine andere als ihre Mutter mein ganzes Herz und meine ganze Seele besaß. Sie war auch verheiratet. Schlecht verheiratet. Hatte ein kleines Mädchen. Das hätte sie wohl mit sich nehmen können. Der Mann war ein Trinker.
Ja, das war auch ein Teil der Strafe, siehst du — Strafe für das Verhältnis, in das ich mich eingelassen hatte — mit jener. Das mir nie etwas anderes gegeben hat als Befriedigung meiner Sinne —. Unser Verhältnis war zu schön, als daß es aus Lüge bestehen konnte. Unsere schöne, herrliche Liebe mußten wir verbergen wie ein Verbrechen —. Oh, kleine Jenny! — Es gibt kein anderes Glück, siehst du —.“
Sie ging zu ihm hin, während er sich erhob. Sie standen dicht beieinander, ohne sich zu rühren, und ohne zu sprechen.
„Ich muß gehen, Kleines,“ sagte er plötzlich gezwungen und trocken. „Ich muß zur üblichen Zeit zu Hause sein, weißt du. Sonst wird sie nur argwöhnisch —.“
Jenny nickte.
Gert Gram ging zur Tür, Jenny begleitete ihn.
„Du darfst nicht fürchten, daß dein Herz nicht lieben kann,“ lachte er plötzlich still. „Ich glaube, es ist ein stolzes kleines Herz, Jenny — und warm! Willst du mich weiter zu deinen Freunden rechnen?“
„Ja,“ sagte Jenny leise und reichte ihm die Hand. Er beugte sich nieder und küßte sie lange — länger als sonst.
Gunnar Heggen und Jenny Winge wollten im November zusammen eine Ausstellung veranstalten. Aus diesem Anlaß kam er nach Kristiania. Den Sommer hatte [S. 197] er in Smaalene zugebracht, roten Granit, grüne Zweige und blauen Himmel gemalt. Später war er nach Stockholm gefahren, wo er ein Bild verkaufte.
„Wie geht es Cesca?“ fragte Jenny, als sie an einem Vormittag in ihrem Atelier bei einem Glase Whisky saßen.
„Ja — Cesca ...“ Gunnar trank einen Schluck aus seinem Glase, rauchte und blickte Jenny an und Jenny ihn.
Es war so traulich, wieder mit ihm zusammen zu sitzen und von Menschen und Dingen zu sprechen, von denen sie sich so weit entfernt hatte. Ihr war, als habe sie ihn und Cesca einst weit, weit fort von hier in einem Lande am Ende der Welt getroffen, dort mit ihnen gearbeitet, mit ihnen zusammen gelebt und die Freude gesucht.
Sie betrachtete das offene, sonnenverbrannte Gesicht vor ihr mit der schiefen Nase. Er hatte einmal als Kind einen Schlag darüber bekommen. „Und das hat Gunnars Physiognomie gerettet,“ pflegte Cesca zu sagen, „sonst wäre er der schrecklichste Typ eines schönen Mannes geworden.“ Das war damals in Viterbo gewesen.
Im Grunde hatte sie Recht. Zug um Zug besehen war er eigentlich eine richtige Bauernburschenschönheit mit seiner niedrigen, breiten Stirn unter dem braungelockten Haarschopf, mit den großen stahlblauen Augen und dem roten, vollen Munde mit der blanken Reihe weißer Zähne. Bis herab zum runden starken Hals hatte die Sonne ihn verbrannt und seine breite, eher gedrungene Gestalt wirkte fast brutal in ihrer gesunden, muskulösen Schönheit. Im Gegensatz hierzu stand der merkwürdig unschuldige, unberührte Ausdruck, der über dem sinnlichen Mund und den vollen Augenlidern lag und das unendlich feine Lächeln, das mitunter seine Lippen umspielte. Er hatte ein Paar richtige Arbeiterhände mit dicken Sehnen und groben Gelenken an den kurzen Fingern; aber er konnte sie auf eigene, lebhaft anmutige Art bewegen.
Etwas magerer war er geworden, sah aber sonst gesund und wohl aus, während sie sich so müde und [S. 198] unbefriedigt fühlte. Er hatte den ganzen Sommer hindurch gearbeitet, daneben griechische Tragödien, Keats und Shelley gelesen.
„Ich habe aber Lust, die Tragödien in der Ursprache zu lesen,“ sagte Gunnar. „Ich muß also jetzt Griechisch und Latein lernen.“
„Herrgott!“ sagte Jenny. „Ich fürchte, du wirst soviel zu lernen haben, ehe deine Seele Ruhe findet, daß dir schließlich keine Zeit mehr zum Malen bleibt, außer nach Feierabend.“
„Doch, Jenny, ich muß es lernen. Ich will nämlich einige Artikel schreiben.“
„Du auch? Willst du jetzt auch Artikel schreiben?“ Sie lachte.
„Ja, eine ganze Reihe über verschiedene Gegenstände. Unter anderem will ich anregen, daß wir wieder Griechisch und Latein in den Schulen einführen, wir müssen jetzt unbedingt etwas Kultur hier unter die Leute bringen.“
„Teufel!“ sagte Jenny.
„Ja, allerdings Teufel! Es kann nämlich so nicht weiter gehen. Zum nationalen Symbol wird ein rosenrot gefärbter Grütztopf mit einigen eingeritzten Schnörkeln erhoben, was dann eine ungeschickte Nachahmung der armseligsten aller europäischen Stilarten, des Rokoko, vorstellen soll. So sieht nämlich der Nationalismus hier oben aus. Du weißt selbst, den größten Eindruck macht es hierzulande, wenn ein Künstler oder gewöhnlicher Sterblicher mit der Schule oder Tradition bricht, wenn er die Uebernahme der Volkssitte und der Begriffe, die gewöhnliche zivilisierte Menschen von geziemender Lebensweise und Anständigkeit haben, verweigert. Ich habe nun einmal die Absicht, meinen Landsleuten zu erzählen, daß es unter den Verhältnissen, wie sie hier herrschen, eigentlich notwendiger wäre, wenn man versuchte, Verbindungen anzuknüpfen, einiges von den aufgehäuften Schätzen, die man im weiten Europa mit Kultur bezeichnet, sich anzueignen, zu erbeuten und in die heimatliche Höhle zu schleppen. Sie aber brechen ein kleines Glied aus dem [S. 199] Zusammenhang heraus, siehst du, ein einzelnes Ornament aus einem Stil, rein buchstäblich gesprochen, — dasselbe gilt auch für eine Geistesrichtung — schnitzen und klopfen daran herum, und zwar so ungeschickt und häßlich, bis es zuletzt unkenntlich geworden ist, und dann behaupten sie großspurig, es sei original und norwegisches Nationalpatent.“
„Nun ja. Aber diese Sünden beging man auch zu jener Zeit, als die klassische Bildung offizielle Grundlage für die ganze Bildung in unserem Lande war.“
„Ja, gewiß. Hier kannte man jedoch nur einen ganz kleinen Teil des Klassizismus. Ein Bruchstück. Ein wenig lateinische Grammatik wurde gepflegt. Nie hing bei uns ein Bild von dem, was man den klassischen Geist nennt, unter den Gemälden unserer hochehrwürdigen Vorväter. Solange das aber nicht der Fall ist, stehen wir außerhalb Europas. Solange wir nicht in der Historie der Griechen und Römer die älteste Geschichte unserer eigenen Kultur erkennen, haben wir auch keine europäische Kultur. Es kommt ja nicht darauf an, wie diese Geschichte in der Wirklichkeit aussah, sondern nur darauf, wie sie uns überliefert worden ist. Nehmen wir als Beispiel die Kriege zwischen Sparta und Messene: In Wirklichkeit handelte es sich nur um einige halbwilde Hirtenstämme, die sich in grauer Vorzeit bekämpften. Aber in der Ueberlieferung, wie sie uns überbracht ist, waren diese Kriege der klassische Ausdruck des Triebes eines gesunden Volkes, lieber bis zum letzten Mann unterzugehen als Gewalt an seiner Individualität und seinem Recht der Selbständigkeit zu dulden. Herr im Himmel, wir haben für unsere Ehre seit Jahrhunderten nicht mehr gekämpft, sondern statt dessen den Wanst mit einigen Millionen Sandkuchen und ganzen Ladungen von Grütze vollgepfropft. Zum Beispiel die Perserkriege: sie waren eigentlich ganz unbedeutend, doch für ein lebensfähiges Volk bedeuten Salamis, Thermopylae und Akropolis die Blüte aller ältesten und gesündesten Instinkte. Die Worte fahren fort zu leuchten, solange diese Instinkte Wert haben [S. 200] und solange ein Volk glaubt, seine Fähigkeiten behaupten zu müssen und auf seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Zukunft stolz sein zu dürfen. Und solange kann ein Dichter ein lebendiges Werk über Thermopylae schreiben und es mit seinen eigenen lebendigen Gefühlen erfüllen. Erinnerst du dich an Leopardis Ode auf Italien — ich las sie dir einmal in Rom vor?“
Jenny nickte.
„Etwas Rhetorik ist zwar dabei — aber bei Gott, sie ist herrlich! Nicht wahr? Er erzählt von Italia, der schönsten Frau, die gefesselt im Staube liegt, mit aufgelöstem Haar, und in ihren Schoß weint. Und dann wünscht er sich, einer der jungen Griechen zu sein, die in Thermopylae dem Tod entgegenschritten, unerschrocken, freudig, als ginge es zum Tanz. Ihre Namen sind geheiligt und Simonides singt sterbend Jubelgesänge vom Gipfel des Antelos. Dann gibt es all die alten, herrlichen Erzählungen, die wie Symbole und Parabeln wirken und niemals alt werden. Denk nur an Orpheus und Eurydike — wie einfach: den Glauben der Liebe schreckt selbst nicht der Tod — aber der Zweifel eines kurzen Augenblicks, und alles ist verloren. Hierzulande kennt man aber nur eine Operette darüber!
Engländer und Franzosen haben es verstanden, die alten Symbole für ihre neue, lebende Kunst zu verwenden. Dort draußen wurden in den glücklichen Zeiten doch noch Menschen geboren, deren Triebe und Gefühle so kultiviert waren, daß sie stark genug wurden, um uns der Atriden Schicksal verständlich zu machen, so daß es uns packte, als erlebten wir es in der Wirklichkeit. Auch die Schweden haben noch lebendige Verbindung mit dem Klassizismus. — Wir haben ihn nie gekannt. Was sind es dagegen für Bücher, die hier gelesen werden und — auch geschrieben? Sonnenstrahlerzählungen von geschlechtslosen Maskeradefiguren in Empiregewändern — dänische Schmutzbücher, die einen Mann über sechzehn nicht interessieren können . Oder ein grüner Bengel ereifert sich über das Mystische, Ewigweibliche eines kleinen Laufmädels, das naseweis ist [S. 201] und ihn betrügt, weil er nicht genügend gesunden Menschenverstand besitzt, um zu erkennen, daß der ganze Rebus zumeist mit dem spanischen Röhrchen zu lösen ist.“
Jenny lachte. Gunnar wanderte im Zimmer auf und ab.
„Hjerrild arbeitet wahrscheinlich jetzt auch an einem Buch über die Sphinx. Zufällig kenne ich die Heldin etwas näher. Nun ja, sie stand mir nicht so nahe, daß ich es der Mühe für wert hielt, sie durchzuprügeln. Aber immerhin hatte ich sie doch gern, und die ganze Sache widerte mich daher an. Mir wurde übel, als ich entdeckte, daß sie eben diese Heldin sein sollte. Aber durch die Arbeit bin ich darüber hinweggekommen, weißt du. — Im großen und ganzen, Jenny, gibt es kein Leid, das nicht durch die Arbeit zu überwinden wäre, glaube ich.“
Jenny schwieg eine Weile.
„Aber Cesca ...?“ fragte sie dann.
„Ach, Cesca! Sie hat sicher, seit sie verheiratet ist, keinen Pinsel angerührt. Als ich sie besuchte, öffnete sie mir selbst die Tür — sie haben kein Mädchen. Sie trug eine gestreifte Küchenschürze und hielt einen Besen in der Hand. Ihre Wohnung besteht aus einem Atelier und zwei kleinen Löchern, und im Atelier können sie natürlich nicht beide zugleich arbeiten, und außerdem legt die Wirtschaft ihre ganze Zeit mit Beschlag, wie sie sagte. Am ersten Vormittag, als ich dort war, krabbelte sie die ganze Zeit auf dem Fußboden herum — Ahlin war fort. Erst fegte sie mit einem Besen aus, dann kroch sie umher und wirtschaftete mit einer Hasenpfote unter den Möbeln, sie war nach diesen kleinen Flocken in den Winkeln aus, weißt du. Und dann scheuerte sie und wischte Staub, aber Herr im Himmel, wie ungeschickt sie alles anpackte! Dann ging ich mit ihr fort und kaufte zum Mittagessen ein, ich sollte bei ihnen essen. Später kam Ahlin; da verschwand sie in der Küche, und als das Essen endlich fertig war, da waren ihre kleinen Löckchen ganz naß vom Schweiß. Das Mittagessen war aber nicht schlecht. Sie wusch dann [S. 202] auf — aber wie ungeschickt und schwerfällig — rannte fort und spülte jedes Stück unter der Wasserleitung ab. Ahlin und ich halfen ihr. Zum Abendessen lud ich sie in die Stadt ein — die arme Cesca genoß es, sie freute sich, auf diese Weise nicht kochen und aufwaschen zu müssen. Kommen da noch Kinder hinzu — und das wird ja nicht ausbleiben — so kannst du sicher sein, daß es mit Cescas Malerei aus ist. Und das wäre bei Gott eine Schande — ich kann mir nicht helfen, aber es wäre sehr schade.“
„Ach, ich weiß nicht, Gunnar. Für eine Frau sind ja doch Mann und Kinder die Hauptsache. Früher oder später wird man sich jedenfalls doch danach sehnen.“
Gunnar blickte zu ihr hinüber. Dann seufzte er.
„Wenn sie sich nur gern haben! Glaubst du, daß Cesca glücklich mit Ahlin ist?“
„Wenn ich das wüßte, Jenny! Ja, ich glaube wohl, sie hat ihn sehr gern. Es ging jedenfalls dauernd ‚Lennart meint‘ und ‚findest du die Sauce gut, Lennart‘ und ‚willst du‘ und ‚soll ich‘. Sie hat sich natürlich ein fürchterliches Halbschwedisch angeeignet, wie du dir denken kannst. Ich muß sagen, ich verstehe das Ganze nicht recht — er war ja so verliebt in sie, und er ist nicht tyrannisch oder brutal, im Gegenteil. Aber sie ist so merkwürdig gedrückt und demütig geworden, die kleine Cesca. Daran können doch nicht nur diese Hausfrauensorgen Schuld sein, obgleich diese sie recht bedrücken. Ihre Anlagen waren in dieser Beziehung ja nicht gerade hervorragend, andererseits aber ist sie auf ihre Art ein gewissenhaftes kleines Wesen. Außerdem scheinen sie in sehr kleinen Verhältnissen zu leben. — Vielleicht,“ er lachte etwas frivol, „hat sie diesen oder jenen genialen Streich vollführt. Die Brautnacht dazu benutzt, von Hans Hermann und Norman Douglas zu erzählen, von Hjerrild und ihren anderen Erlebnissen, von Anfang bis zu Ende. Das kann ja dann leicht überwältigend gewirkt haben.“
„Cesca hat nun wahrhaftig aus ihren Geschichten [S. 203] nie einen Hehl gemacht, die mußte er doch von früher her kennen.“
„Ja gewiß. Aber es konnte sich ja um diese oder jene Pointe handeln, die sie bisher verschwiegen hatte, jetzt aber vielleicht meinte, ihm beichten zu müssen.“
„Pfui, Gunnar!“ sagte Jenny.
„Ja, zum Teufel auch — man weiß niemals, was man von Cesca eigentlich halten soll. Ihre Schilderung der Freundschaft mit Hans Hermann ist seltsam genug. Cesca hat vielleicht nichts getan, was man sozusagen unmoralisch nennt, dessen bin ich sicher. Ich begreife zum Kuckuck auch nicht, was das einem Manne ausmachen kann, ob seine Frau früher ein Verhältnis oder auch mehrere gehabt hat, wenn sie dabei nur rechtschaffen und loyal gehandelt hat. Denn diese Forderung nach physischer Unberührtheit ist ja im Grunde gemein. Hat eine Frau wirklich einen Mann geliebt und seine Liebe hingenommen, so ist es nichtswürdig, sich aus diesem Verhältnis zurückzuziehen, ohne ihm das Höchste haben opfern zu wollen. Natürlich wäre es mir am liebsten, daß meine dereinstige Frau keinen vor mir geliebt hätte. Und man weiß ja auch nicht, wie man bei seiner eigenen Frau urteilt. Es könnte ja sein, daß alte Vorurteile, egoistische Eitelkeit und dergleichen plötzlich auftauchen ...“
Jenny machte eine Bewegung, als wollte sie etwas sagen, schwieg dann aber.
Gunnar war am Fenster stehen geblieben. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und wandte ihr den Rücken zu:
„Nein, Jenny. Ich will dir sagen, was ich so traurig finde. Man trifft ganz selten einmal auf eine Frau, die wirklich in dieser oder jener Richtung Talente hat und Freude daran, sie zu entwickeln, zu arbeiten. Eine Frau, die Energie besitzt, die fühlt, daß sie ein Mensch ist und selbständig über Recht und Unrecht nachdenken kann. Sie hat vielleicht den Willen, ihre Fähigkeiten, soweit es sich lohnt, zu kultivieren, ihre guten und wertvollen Instinkte zu pflegen, und andere, die ihr schlecht [S. 204] und unwürdig erscheinen, zu unterdrücken. Und dann begegnet sie eines schönen Tages einem Manne. Da heißt es denn: Ade Arbeit und Entwicklung, und es ist vorbei mit der ganzen Herrlichkeit. Sie gibt ihr Selbst auf eines elenden Mannes wegen. Jenny — findest du das nicht auch traurig —?“
„Gewiß. Aber so sind wir nun einmal alle geschaffen!“
„Ich begreife euch nicht. Weißt du, warum ich glaube, daß wir Männer euch nie verstehen werden? Zu guterletzt geht es uns nicht in den Kopf, daß Wesen, die doch Menschen sein wollen, so vollständig jeglichen Selbstgefühls ledig sind. Und das ist bei euch der Fall. Die Frau hat keine Seele — wahrhaftig! Ihr gesteht ja mehr oder weniger offen ein, daß Liebesgeschichten das Einzige sind, das euch interessiert.“
„Es gibt aber auch Männer, bei denen dasselbe zutrifft; jedenfalls läßt ihr Lebenswandel darauf schließen.“
„Ja gewiß, aber ein vernünftiger Mann hat auch keinen Respekt vor solchen Schürzenjägern. Offiziell soll es doch nur als eine Art — nun sagen wir natürlichen Zeitvertreibs aufgefaßt werden, neben unserer Arbeit. Oder ein tüchtiger Mann will eine Familie gründen, weil er die Kraft in sich fühlt, für mehrere Menschen zu sorgen, als für sich allein, und einen Nachfolger für seine Arbeit haben will.“
„Ja, aber Gunnar, die Frau hat natürlich andere Aufgaben.“
„Ach still, das ist gar nicht der springende Punkt. Sie wollen ja überhaupt nicht Menschen sein und arbeiten, sondern nur Weibchen. Was zum Teufel soll das heißen, eine ganze Schar von Kindern in die Welt zu setzen, wenn sie doch nicht zu Menschen heranwachsen, sondern nur weiter fortpflanzen — wenn die Rohprodukte nicht bearbeitet werden?“
„Das stimmt allerdings,“ Jenny lachte.
„Natürlich stimmt das. Und was die Frau betrifft ... Ach, ich habe es von Kindheit an verfolgt [S. 205] und beobachtet. Aus meiner Zeit auf der Arbeiterhochschule entsinne ich mich eines Mädchens, mit dem ich zusammen englischen Unterricht hatte. Sie lernte englisch, um mit den ausländischen Kriegsschiffmatrosen sprechen zu können. Das Höchste, für das sich diese Mädels einzusetzen vermochten, war die Hoffnung auf eine Stellung in England oder Amerika. Wir Jungen, meine Kameraden und ich, wir studierten, um zu lernen, und das Gehirn zu schulen. Wir versuchten auf jede Art und Weise, das Wenige zu ergänzen, was wir in der Schule gelernt hatten. Die Mädels dagegen lasen nur Unterhaltungsbücher. Nimm zum Beispiel den Sozialismus! Kennst du eine einzige Frau, die überhaupt eine Ahnung davon hat, was er eigentlich bedeutet? Sie wissen es, wenn sie einen Mann haben, der ihnen diesen Begriff klargemacht hat. Versuche aber einer Frau zu erklären, warum die menschliche Gesellschaft verpflichtet ist, jedem Kinde, das geboren wird, die Möglichkeit zu geben, seine Anlagen zu entwickeln, wenn solche vorhanden sind, und das Leben in Freiheit und Schönheit zu leben, wenn es den wahren Sinn der Freiheit begreift und Schönheitssinn besitzt.
Was aber halten die Frauen für Freiheit? Es bedeutet für sie, daß sie jeder Arbeit ledig sein und ihrem Hang zur Unanständigkeit die Zügel schießen lassen dürfen. Und Schönheitssinn?! Der fehlt ihnen vollständig! Sie staffieren sich mit dem Teuersten und Abscheulichsten aus, was die Mode nur erfinden kann. Sieh dir doch ihre Häuser an! Je mehr Geld vorhanden, desto schlimmer sieht es in ihnen aus. Ist jemals eine Mode zu häßlich und schamlos, daß sie sich ihr nicht unterwerfen würden? Nein, wenn die Mittel nur da sind, wird alles mitgemacht. Das kannst du doch nicht abstreiten? — Von der Moral der Frauen will ich keine Silbe sagen, denn sie haben keine. Lassen wir es noch hingehen, wie sie sich gegen uns betragen — aber wenn ihr unter euch seid, so beklascht ihr euch gegenseitig und in welchen Tonarten! Pfui Teufel!“
[S. 206]
Jenny lächelte leise. Sie mußte ihm Recht geben und auch wieder nicht, aber sie war zu einer Diskussion nicht aufgelegt. Sie fand aber, daß sie antworten müßte, so sagte sie:
„Das war eine grausame Salve — die ganze Armee auf einmal ruiniert.“
„Du kannst es schriftlich bekommen,“ sagte er zufrieden.
„Ja, du hast ja in vieler Beziehung Recht, Gunnar. Aber es sind doch unter den Frauen Unterschiede zu machen und seien es auch nur Gradunterschiede.“
„Natürlich sind Unterschiede zu machen. Aber laß es gut sein, Jenny, was ich sagte, gilt bis zu einem gewissen Grade auch allen, und weißt du, woher das kommt? Die Hauptsache ist euch allen ein Mann — einen, den ihr habt, oder einer, der euch fehlt. Das Einzige, das im Leben von wirklichem Wert und wirklichem Ernst ist — das hat für euch in Wirklichkeit keinen Wert. Ich meine die Arbeit. Die Besten unter euch nehmen es eine kurze Zeit hindurch ernst. Aber ich glaube wahrhaftig, das liegt daran, daß ihr die sichere Gewißheit habt, während ihr noch jung und schön seid, daß ‚er‘ wohl kommen wird. Geht die Zeit jedoch hin, und er zeigt sich noch immer nicht auf dem Schauplatz, fangt ihr dann an, betagter zu werden, so laßt ihr in der Arbeit nach, geht müde und mißmutig umher und fühlt euch unbefriedigt.“
Jenny nickte.
„Hör zu, Jenny. Ich habe dich immer ebenso hoch geschätzt wie einen ganzen Mann. Du bist jetzt bald neunundzwanzig Jahre, und so alt muß man sein, ehe man anfangen kann, einigermaßen selbständig zu arbeiten. Es ist doch nicht dein Ernst, daß du jetzt, nun du endlich dein eigenes Leben zimmern kannst, dir einen Mann und Kinder, Wirtschaft mit allem Drum und Dran aufladen möchtest, was dir an allen Ecken und Kanten Fesseln auferlegen, in deiner Arbeit immer nur im Wege sein würde?“
[S. 207]
Jenny lachte still.
„Herrgott, Mädel! Wenn dir nun wirklich alles das beschert wäre, und du legtest dich hin, um zu sterben, umgeben von Mann und Kindern und deiner Welt, so würdest du doch bereuen und trauern, daß du nicht das Ziel erreichtest, wozu dir die Fähigkeiten zu Gebote standen, dessen bin ich sicher, Jenny!“
„Ja. Aber: Gesetzt den Fall, ich habe das Aeußerste erreicht, was meine Kraft mir gestattete, und ich weiß, in meiner Sterbestunde, daß mein Leben und meine Arbeit mich eine Zeitlang überdauern wird, und ich bin allein, es gibt kein lebendes Wesen, das mir innerlich nahe steht ... Glaubst du nicht, daß ich dann erst recht trauern und bereuen werde?“
Heggen schwieg.
„Ja gewiß,“ sagte er nach einer Pause. „Natürlich bedeutet Ehelosigkeit nicht das gleiche für Frauen wie für uns Männer. Man muß wohl in Betracht ziehen, daß sie außerhalb dessen gestanden haben, um das die Leute nun einmal am meisten Wesen machen in diesem Leben; und daß auf diese Weise eine ganze Reihe von seelischen wie körperlichen Organen unberührt dahinwelken muß. — Ach, Jenny, ich wünschte oft, daß du ein einziges Mal nur ein wenig leichtsinnig wärest, um mit dieser Unzufriedenheit abzurechnen und dann in Ruhe und Frieden weiterarbeiten zu können.“
„Frauen, die einmal ein wenig leichtsinnig gewesen sind, wie du es nennst, Gunnar, können nicht ohne weiteres mit dieser Unzufriedenheit fertig werden. War es das erste Mal eine Enttäuschung, so hoffen sie auf mehr Glück beim nächsten. Und wieder beim nächsten und immer so fort. Man gibt sich nicht mit Enttäuschungen zufrieden. Und ehe man sich’s versieht, ist es eine ganze Reihe von Malen geworden.“
„Zu denen gehörst du aber nicht,“ sagte er schnell.
„Danke! Es ist mir übrigens neu, daß du dergleichen predigst. Du hast früher selber gesagt, daß Frauen, die [S. 208] sich einmal in solche Dinge verwickelt haben, immer untergehen!“
„Die meisten wohl. Aber es muß auch einige andere geben. Ich spreche natürlich nicht von Frauen, die keine anderen Lebensinteressen haben, als einen Mann — man kann ja nicht dauernd seinen Lebenszweck ändern. Ich meine die anderen, die etwas an sich bedeuten — etwas anderes sind als nur Weibchen. Warum solltest zum Beispiel du nicht ehrlich und loyal an einem Manne handeln, selbst wenn ihr Beide einsähet, daß du nicht deine Welt aufgeben und dich verpflichten kannst, für den Rest des Lebens nur sein Weib zu sein? Denn die Liebe hört ja immer einmal auf, früher oder später. Das darfst du um Gotteswillen nicht anzweifeln!“
„Ja, das wissen wir immer genau — und zweifeln trotzdem daran.“ Sie lachte. „Ach nein. Entweder liebt man — und dann glaubt man auch, es währt ewig und es ist das Einzige, das Wert hat. Oder man liebt nicht — und ist unglücklich, daß man es nicht tut.“
„Jenny, ich kann es nicht mit anhören, daß du so sprichst. Sich seiner Kraft bewußt sein, alle Muskeln spannen, bereit sein, aufzunehmen und zu erobern, zu formen und zu gestalten, das Letzte aus seinem Können ans Tageslicht bringen, arbeiten , das ist das Einzige, das Wert besitzt, Jenny!“
Jenny beugte den Kopf über Gert Grams Chrysanthemenstrauß:
„Ich bin sehr froh, daß du meine Bilder so gut findest!“
„Ja, ich mag sie gern. Besonders das Bildnis von dem jungen Mädchen mit den Korallen.“
Jenny schüttelte den Kopf.
„Es ist so wunderschön in den Farben,“ sagte Gram wieder.
[S. 209]
„Ja. Es ist aber unzusammenhängend. Der Schal und das Kleid — es hätte ganz anders durchgearbeitet sein müssen. Aber gerade, als ich es malte, kam so viel anderes dazwischen, sowohl für Cesca als für mich,“ sagte sie leise.
Nach einer Weile fragte sie:
„Hört ihr etwas von Helge? Wie geht es ihm?“
„Er schreibt nicht viel. Augenblicklich arbeitet er an seiner Doktorabhandlung, du weißt, zu der er die Vorarbeiten in Rom machte. Und er sagt, es ginge ihm gut.“
Jenny nickte.
„An seine Mutter schreibt er gar nicht. Und das kränkt sie natürlich bitter. Das Zusammenleben mit ihr ist nicht gerade angenehmer geworden. Ja, die Arme — es geht ihr übrigens sicher recht schlecht augenblicklich.“
Jenny trug die Blumen zu ihrem Schreibtisch hinüber und begann sie zu ordnen.
„Ich freue mich jedenfalls, daß Helge wieder arbeitet. Gott weiß, er hatte keine Ruhe dazu diesen Sommer.“
„Dir ging es doch genau so, du Aermste.“
„Ja, allerdings. Aber das Schlimmste ist, Gert, daß ich noch immer nicht wieder angefangen habe — noch nicht. Und ich bin auch durchaus nicht aufgelegt. Ich hatte ja doch die Absicht, diesen Winter radieren zu lernen, aber —.“
„Es ist selbstverständlich, Jenny, daß eine solche Enttäuschung Zeit braucht, ehe sie überwunden ist. Glaubst du nun nicht, daß deine Ausstellung dir neue Arbeitslust geben wird, da sie doch so geglückt ist und freundliche Aufnahme gefunden hat? Du hast ja bereits ein Angebot auf dein Aventinerbild bekommen — willst du es annehmen?“
Sie zuckte die Schultern:
„Ich muß ja. Zu Hause brauchen sie immer Geld, wie du weißt. Außerdem — ich muß wegreisen. Ich sehe, daß es nicht gut für mich ist, zu Hause zu sein.“
„Du willst also fort.“ Gram sagte es leise und sah nieder. „Ja natürlich. Das ist ja auch verständlich.“
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„Ach, die Ausstellung!“ Jenny warf sich erregt in den Schaukelstuhl. „Alle meine Bilder — die neuesten jedenfalls ... Es ist eine Ewigkeit her, seit ich daran arbeitete. Das Aventinerbild — die Studie beendete ich an jenem Tag, als ich Helge zum ersten Male sah. Das Bild malte ich, während wir zusammen waren — auch das von Cesca. Und das von der Stenerstraße unten bei dir, während ich auf ihn wartete. Seitdem habe ich nichts getan. O Gott! — So, Helge arbeitet also wieder ...“
„Es ist klar, liebes Kind, daß so etwas tiefere Spuren bei einer Frau hinterläßt —.“
„O gewiß. Bei einer Frau. Das ist ja gerade das ganze Elend. Man geht umher, mürrisch und faul — erzfaul! Um einer Liebe willen, die nicht einmal vorhanden ist !“
„Liebe Jenny,“ sagte Gram ruhig. „Ich finde das so natürlich. Es muß seine Zeit haben, bis du ganz hindurch bist — und auf der anderen Seite drüben. Man kommt nämlich immer auf die andere Seite, siehst du, und dann begreift man, daß man ein solches Erlebnis nicht umsonst gehabt hat. Auf die eine oder andere Art kann man immer seine Seele mit solchen Erfahrungen bereichern.“
Jenny lachte kurz auf, antwortete aber nicht.
„Du hast trotzdem sicher viele Erinnerungen aus jener Zeit, die du nicht missen möchtest — nicht wahr? Die Erinnerung an all die glücklichen, warmen Sonnentage mit deinem Freunde, dort unten in dem wunderbaren Lande, Jenny?“
„Willst du mir nicht erklären, Gert, woher du weißt, daß man seine Seele mit derartigen Erlebnissen bereichert, wie du sagtest. Hast du das aus eigener Erfahrung?“
Er fuhr zusammen, schmerzlich berührt und betroffen von ihrer Brutalität. Es währte einen Augenblick, ehe er ihr Antwort gab:
„Das ist etwas anderes, Jenny. Die Erfahrungen, die der Sünde Lohn sind — du verstehst doch, ich meine nicht die Sünde in orthodoxem Sinne, ich meine die [S. 211] Folgen einer Handlungsweise, die eigenem besserem Wissen zuwiderläuft — die sind immer bitter. Nun, immerhin glaube ich, zuguterletzt haben meine Erfahrungen vielleicht meinen inneren Menschen reicher und tiefer gemacht, als ein kleineres Unglück es vermocht hätte — da mein Geschick mir ja nicht vergönnt hatte, das große Glück zu erleben. Einmal in meinem Leben wird es in vielleicht noch höherem Maße der Fall sein. Ich habe das Gefühl, Jenny, als könnten diese Erfahrungen mich möglicherweise das rechte Verständnis dafür lehren, was der Sinn des Lebens eigentlich ist —. Aber in bezug auf dich meinte ich etwas anderes damit. Obwohl dein Liebesglück sich als unbeständig herausstellte, so war es die Zeit über, die es währte, rein und schuldlos — soweit du vertrauensvoll und ohne Hintergedanken daran glaubtest und niemanden betrogst außer dir selbst.“ —
Jenny schwieg still. Ein Sturm von Widerspruch wogte in ihr, aber sie hatte das dunkle Gefühl, als ob Gram sie nicht verstehen würde.
„Erinnerst du dich nicht der Worte Ibsens:
„Oh, daß du diese kindischen Worte in den Mund nehmen magst, Gert. Die meisten von uns haben zuviel Verantwortungsgefühl und Selbstachtung, um diesen Ausspruch gelten zu lassen. Laß mich schiffbrüchig werden und untergehen, ich werde versuchen, nicht mit der Wimper zu zucken, wenn ich nur die Gewißheit habe, daß ich nicht selbst meine Schute auf Grund fuhr. Soviel ich weiß, ziehen die besten Seeleute es vor, selber mit ihrem Schiff unterzugehen, wenn sie die Schuld an seinem Untergange tragen.“
„Ich bin freilich der Ansicht, daß man alle Widerwärtigkeiten nur sich selber zuzuschreiben hat — jedenfalls in letzter Instanz.“ Gram lächelte. „Aber daß man meistens auch imstande sein wird, aus seinem Unglück selber geistige Werte zu holen —.“
[S. 212]
„Ich gebe dir recht im ersten Punkte. Auch im letzten. Aber nur insoweit, als das Unglück nicht darin besteht, daß die Selbstachtung herabgemindert wird.“
„Aber, kleine Jenny, diese Sache solltest du wirklich nicht zu schwer nehmen. Du bist ja ganz aufgebracht und bitter. Ja, ich besinne mich, was du an jenem Tage sagtest, als Helge reiste. Aber, Herrgott, Kind, du meinst doch nicht im Ernst, jede Verliebtheit im Entstehen ersticken zu müssen, falls du nicht vom ersten Augenblick dafür einstehen kannst, daß das Gefühl bis zum Tode dauert, alle Widrigkeiten erträgt, zu allen Opfern bereit ist und die Seele des Geliebten wie in einer Vision erfaßt und versteht, ihre geheimnisvollsten Tiefen beleuchtet, so daß eine spätere Enttäuschung ausgeschlossen ist?“
„Doch,“ sagte Jenny heftig.
„Hast du das jemals selbst empfunden?“ fragte Gert Gram leise.
„Nein, aber ich weiß es dennoch. Ich habe immer gewußt, daß es so sein müßte.
Als ich aber achtundzwanzig Jahre alt geworden und noch immer alte Jungfer war, als ich mich danach sehnte, zu lieben und geliebt zu werden, als dann Helge kam und sich in mich verliebte, da legte ich all meine Forderungen an mich selbst und meine Liebe beiseite und nahm, was ich bekommen konnte — natürlich bis zu einem gewissen Grade in gutem Glauben. Es wird schon gehen, dachte ich, es geht sicher, aber die innerliche vertrauende Gewißheit, daß es gehen würde, weil es anders nicht möglich war, die hatte ich nicht.
Ich will dir erzählen, was mein Freund Heggen hier eines Tages zu mir sagte. Er verachtet die Frauen redlich und rechtschaffen — und er hat Recht. Wir, wir haben nicht die Selbstachtung, und außerdem sind wir so träge, daß wir niemals im Ernste entschlossen sind, uns unser Leben und unser Glück selber zu zimmern, indem wir arbeiten und kämpfen. Insgeheim hoffen wir beständig darauf, daß ein Mann kommen und uns das [S. 213] Glück bescheren werde, so daß wir jeder Anstrengung überhoben seien. Die Weiblichsten unter uns, die nur Müßiggang, Putz und Vergnügen im Sinne haben, hängen sich dem Manne an den Hals, der ihnen das in reichstem Maß verschaffen kann. Ist aber wirklich die eine oder andere darunter, die wirklich menschlich fühlt und danach strebt, ein fester und feiner Mensch zu werden, und ernstlich dieses Ziel verfolgt, so lebt doch im Unterbewußtsein die Hoffnung, daß ein Mann ihr auf halbem Wege begegne und ihr mit seiner Liebe helfe, leichter zum Ziele zu gelangen. Wir können wohl eine Weile arbeiten, durchaus ehrlich und ordentlich. Auch Freude an der Arbeit empfinden. Aber in aller Heimlichkeit warten wir auf eine größere Freude, als wir sie mit unserer ehrlichen Mühe erkämpfen können, auf etwas, das wie ein Geschenk zu uns kommen soll —. Niemals werden wir Frauen dahin gelangen, daß wir die höchste Befriedigung in unserer Arbeit finden.“
„Meinst du, die Arbeit allein genügt einem Manne? Niemals!“ sagte Gram ruhig.
„Bei Gunnar zum Beispiel ist es der Fall. Du kannst dich darauf verlassen, er wird immer wissen, den Frauen in seinem Leben den rechten Platz anzuweisen — als Bagatellen.“
Gram lachte.
„Wie alt ist eigentlich dein Freund Heggen? Ich will um des Mannes Willen hoffen, daß er mit der Zeit ein wenig anders auf das Ausschlaggebende im Leben blicken wird.“
„Ich aber nicht,“ sagte Jenny heftig. „Und ich will hoffen, auch ich lerne einmal, diesem Liebesunwesen seinen rechten Platz anzuweisen —.“
„Herrgott, Jenny, du sprichst — ich hätte beinahe gesagt, wie du’s verstehst, aber du bist klüger, das weiß ich.“ Gram lächelte schwermütig. „Soll ich dir ein wenig erzählen, was ich von der Liebe weiß, Kleines? Glaubte ich nicht daran, wie sollte ich dann die kleinste Spur von Glauben an die Menschen haben — und an mich [S. 214] selbst? Meinst du etwa, nur ihr Frauen findet das Leben sinnlos, fühlt euch im Herzen kalt und leer, wenn ihr nichts anderes habt, das ihr lieben könnt als eure Arbeit — nur eine Ausstrahlung eures Selbst — nichts anderes, auf das ihr euch verlassen könnt! Glaubst du, es gibt eine einzige Seele, die nicht Stunden kennte, in denen sie an sich selber zweifelt? Nein, Kind, man braucht einen anderen Menschen, bei dem man sein Bestes, seine Liebe und sein Vertrauen gleichsam deponiert, und sieh, auf diese Bank muß man sich verlassen können. Wenn ich dir sage, daß mein eigenes Leben seit meiner Verheiratung eine Hölle gewesen ist, so brauche ich nicht zu starke Worte. Daß ich es schließlich doch ausgehalten habe, liegt zum Teil daran, daß ich von dem Gedanken ausging, Rebekkas Liebe entschuldige sie auf eine Art. Ich weiß, was sie jetzt fühlt: eine niedrige und rohe Freude an ihrer Macht, mich zu peinigen und zu demütigen, Eifersucht, Verbitterung, ein Zerrbild, aus betrogener Liebe entstanden. Verstehst du nicht, daß ich daran eine Art Befriedigung meines Gerechtigkeitsgefühls erblicke? Ein Grund für mein Unglück ist vorhanden. Ich betrog sie, als ich ihre Liebe entgegennahm ohne die Absicht, ihr eine ganze Liebe zurückzugeben, mit der heimlichen Berechnung, ihr einige Brocken geben zu können, Bettelpfennige der Liebe, während sie mir das Beste bot. Straft aber das Leben so unbarmherzig eine jede Versündigung gegen das Heiligtum der Liebe, so ist das ein Beweis für mich, daß sie das Allerheiligste im Leben ist und daß das Leben denjenigen, der seiner eigenen Liebessehnsucht treu bleibt, mit der reinsten und schönsten Seligkeit belohnen wird. Ich habe dir einmal von einer Frau erzählt, die ich lieben lernte als es zu spät war. Sie hatte mich geliebt, seit wir Kinder waren, ohne daß ich darauf geachtet hatte oder mir etwas daraus machte. Als sie hörte, daß ich heiratete, nahm sie einen Mann, der darauf schwor, daß sie ihn dadurch erretten und aufrichten könnte. Ja, ich weiß, du spottest über derartige Rettungsversuche. Aber ich sage dir, Kind, du [S. 215] kannst nicht urteilen, ehe du nicht den Mann, den du mit deiner ganzen Seele liebst, in den Armen einer anderen gewußt hast, so daß dein eigenes Leben dir wertlos erschien und ehe du nicht eine verirrte Menschenseele darum betteln hörst, sie aus einem wertlosen Leben zu erretten. Nun, Helene wurde unglücklich, und ich ebenfalls. Wir trafen uns wieder und verstanden uns, es kam zu einer Aussprache. Was die Menschen unter Glück verstehen, das widerfuhr uns nicht, und dennoch —. Beide waren wir durch Bande gefesselt, die wir nicht zu brechen wagten. Ich gestehe, als meine Hoffnung, sie einstmals zum Weibe zu erhalten, langsam, langsam hinstarb, änderte sich meine Liebe. Aber noch immer leuchtet wie das herrlichste Kleinod meines Lebens die Erinnerung an sie, die jetzt weit fort in einem anderen Weltteil dafür lebt, ihren Kindern die Last zu erleichtern, die das Leben mit einem Vater bedeutet, der umhergeht, vom Trunk zerrüttet, wie ein Wrack. Um ihretwillen habe ich all diese Jahre hindurch an meinem Glauben an Reinheit, Schönheit und Kraft der Menschenseele festgehalten — und an meinem Glauben an die Liebe. Ich weiß, daß die Erinnerung an mich der Frau die geheimnisvolle Kraft gibt, weit drüben jenseits der Meere zu kämpfen und zu dulden. Denn sie liebt mich heute wie in unserer Kindheit und glaubt an mich, an mein Talent, meine Liebe und daran, daß ich eines besseren Schicksals würdig gewesen sei. Aber so bin ich ihr doch heute noch etwas, nicht wahr, Jenny?“
Sie erwiderte nichts.
„Das Glück bedeutet ja nicht nur, geliebt zu werden, Jenny. Der größte Teil des Glückes ist — zu lieben.“
„Es ist doch gewiß nur ein geringes Glück, Gert, zu lieben, wenn man nicht wieder geliebt wird.“
Er schwieg lange und sah nieder. Bis er fast flüsternd sprach:
„Groß oder klein — es ist ein Glück, ein Menschenkind zu kennen, von dem man nur Gutes denkt. Eines, um dessentwillen man zu sich selber spricht: Herrgott, laß mich sie glücklich sehen, denn sie verdient es, sie [S. 216] ist ja rein und schön, warm und fein, klug und gut. So daß man beten kann: Gott, gib ihr alles, was ich nicht besaß. Ich halte es für ein Glück, kleine Jenny, daß ich so für dich beten kann —. Nein, es ist kein Grund, deswegen ängstlich aufzusehen, Kleines —.“
Er hatte sich erhoben, sie stand ebenfalls auf und machte eine Bewegung, als fürchte sie, er werde sich ihr nähern. Gram hielt inne, er lachte leise:
„Wie konntest du etwas anderes denken, solch kluges, kleines Mädchen wie du. Jenny, ich glaubte, du hättest es gefühlt, lange, ehe ich es selbst recht gewußt —. Konnte es denn anders kommen? Mein Leben neigt sich jetzt seinem Ende zu, dem Alter, der Schwäche, der Finsternis, dem Tode. Schon weiß ich sicher, alles, wonach ich mein Leben lang mich gesehnt — ich erlange es nie. Da begegne ich dir. Mir ist, als seiest du die herrlichste Frau, die ich je getroffen. Du strebst nach alledem, wonach ich einst gestrebt, nach dem Ziele, das ich mir gesetzt hatte. Konnte mein Herz anders als inbrünstig flehen, Gott, führ sie zum Ziele, Gott, hilf ihr, laß sie nicht stranden, wie ich gestrandet bin —. Und dann warst du so lieb gegen mich, Jenny. Du kamst dort hinunter in meine Höhle, du erzähltest von dir selbst und hörtest mir zu, du hattest so viel Verständnis, deine herrlichen Augen waren voller Mitgefühl und so mild und warm —. Aber Herrgott, weinst du?“
Er ergriff ihre Hände und preßte seinen Mund darauf.
„Das darfst du nicht, Jenny. Du darfst nicht so weinen; warum weinst du? Du bebst ja —. Worüber weinst du nur?“
„Ueber alles,“ schluchzte sie.
„Setz dich — so.“
Er lag vor ihr auf den Knien und eine Sekunde senkte er seine Stirn auf ihren Schoß. „Du darfst nicht meinetwegen so weinen, hörst du? Um nichts auf der Welt möchte ich meine Liebe zu dir hergeben. Mein geliebtes Mädchen, hast du einmal einen Menschen geliebt und hinterher gewünscht, es wäre nie geschehen? — Dann [S. 217] hast du dennoch nicht geliebt, das, kannst du mir glauben, ist wahr. Jenny, ich möchte das nicht missen, was ich für dich fühle, nicht um mein Leben! Doch auch um deinetwillen sollst du nicht weinen. Du wirst glücklich werden, das weiß ich. Von allen Männern, die dich lieben werden, wird eines Tages einer, wie jetzt ich, vor dir liegen und sagen, das ist das Leben, so vor deinen Füßen liegen zu dürfen, und du wirst selber glauben, das sei das Leben. Dann wirst du begreifen, daß so das Glück aussieht; so mit ihm zu sitzen, und sei es in der armseligsten Hütte, eine einzige kurze Ruhestunde lang nach einem Tage grauester, schwerster Mühsal —. Weit weit größeres Glück ist es dir dann, als wenn du die größte Künstlerin wärest, die gelebt hat, als wenn du all das erreichtest, was man an Ehren und Berühmtheit erreichen kann. Daran glaubst du selber auch, nicht wahr?“
„Ja,“ flüsterte sie unter Tränen.
„Und du sollst nicht fürchten, daß das Glück dir nicht zuteil werden könnte. — Nicht wahr, Jenny, die Sehnsucht fühlst auch du, nachdem du gekämpft, um ein guter und tüchtiger Mensch und ehrlicher Künstler zu werden, die Sehnsucht, einem Manne zu begegnen, der dir sagt, dein Kampf war recht, und der dich darum lieb hat?“
Jenny nickte. Gram küßte ehrfürchtig ihre Hände.
„Du bist ja schon so gut und fein, stolz und herrlich. Ich sage es dir, und eines Tages wird ein Mann, der jünger und besser und stärker ist als ich, das Gleiche sagen und du wirst froh werden, ganz froh. Bist du nicht ein ganz klein wenig glücklich darüber, daß ich sage, du seiest das beste, liebste und wunderbarste Mädchen auf der Welt? Blick mich an, Jenny. Kann ich dir nicht eine kleine Freude machen, wenn ich dir sage, ich glaube, du wirst des Lebens reichstes Glück kosten dürfen, weil du es verdienst?“
Sie blickte auf sein Antlitz nieder und versuchte [S. 218] ein schwaches Lächeln. Dann senkte sie den Kopf und strich mit den Händen über sein Haar:
„O Gert — o Gert — ich kann doch nichts dafür! Ich wollte dir ja nicht wehe tun. Ich kann nichts dafür — nicht wahr?“
„Darüber solltest du nicht traurig sein. Kleines — ich habe dich lieb, weil du dein Ziel, nach dem du strebst, ja schon erreicht hast, weil du so bist, wie ich einmal hatte sein wollen —. Du darfst nicht traurig sein, selbst wenn du meinst, du hättest mir Leid zugefügt. Es gibt Leiden, die gut sind — gesegnet gut, glaube mir.“
Sie fuhr fort, leise zu weinen.
Nach einer Weile flüsterte er:
„Darf ich hin und wieder zu dir kommen —? Wenn du traurig bist, kannst du mich da nicht rufen lassen? Ich will gern versuchen, ob ich nicht meinem kleinen Mädchen ein wenig helfen kann, sprich, Jenny —?“
„Ich wage es nicht, Gert.“
„Liebe kleine Freundin, ich bin ja ein alter Mann, könnte dein Vater sein.“
„Deinetwegen — meine ich. Es ist nicht recht von mir deinetwegen.“
„O doch, Jenny. Meinst du, ich dächte weniger an dich, wenn ich dich nicht sähe. Ich möchte dich ja nur sehen, mit dir sprechen, versuchen, dir ein wenig zu sein — darf ich? — Oh, darf ich —?“
„Ich weiß nicht, Gert — ich weiß nicht. Ach, Lieber, geh jetzt, du mußt jetzt gehen — ich kann nicht — es ist so hart. — Lieber, geh.“
Er erhob sich still.
„Dann gehe ich. Leb wohl, Jenny — aber Kind, du bist ja ganz außer dir.“
„Ja,“ flüsterte sie.
„So gehe ich denn. Darf ich einmal wiederkommen? Ich will dich gern sehen, ehe du reist. Wenn du ruhiger geworden bist und wenn es dich nicht erregt. Es liegt ja kein Grund dafür vor, Jenny —.“
[S. 219]
Sie stand einen Augenblick still. Dann zog sie ihn plötzlich hastig an sich und streifte seine Wange mit dem Munde.
„Geh jetzt, Gert.“
„Ich danke dir. Gott segne dich, Jenny.“
Hinterher lief sie im Zimmer auf und ab. Sie begriff selber nicht, warum sie so bebte. Aber tief im Innern — es war vielleicht nicht gerade Freude, aber es hatte ihr wohlgetan zu hören, was er gesagt, während er auf den Knien vor ihr lag.
Oh Gert, Gert! Sie hatte ihn immer für einen schwachen Menschen gehalten, für einen, der sich hatte überwinden lassen und unterdrückt worden war wie alle Charaktere ohne Widerstandskraft. Aber jetzt hatte sie plötzlich erfahren, daß er ganz im Innern eine tiefe Stärke und Sicherheit besaß. Er hatte da gestanden als der Reiche, der wußte, daß er helfen könne und es gern wollte. Während sie verwirrt und unsicher war — krank vor Sehnsucht in ihrem tiefsten Innern, hinter dem Bollwerk von Ansichten und Gedanken, das sie sich selbst geschaffen.
Und dann hatte sie ihn gebeten zu gehen. Weshalb? Weil sie selbst so grenzenlos arm war, weil sie ihm ihre Not geklagt, von dem sie dachte, er sei ebenso arm wie sie, während er ihr doch gezeigt hatte, wie reich er war, und ihr aus der Quelle seines Reichtums freudig eine kleine Hilfe bot. Dadurch hatte sie sich gedemütigt gefühlt und ihn gebeten, sie zu verlassen. So war es sicher.
Hilfe von einer Liebe entgegennehmen, ohne etwas dafür geben zu können, hatte sie immer als schändlich angesehen. Sie hatte ja nie daran gedacht, daß sie es sein würde, die solcher Hilfe bedürfte.
Er hatte sein Werk nicht vollenden dürfen, wie er gewollt. Die Liebe, der er sich hingegeben, hatte nicht ein Leben hindurch gedauert, dennoch war er nicht verzweifelt. [S. 220] Der nie versiegende Quell, woraus ein solches Glück geschöpft wird, um immer aufs Neue zu blühen, war Vertrauen und Glaube. Es bedeutete gleichviel, woran man glaubte, wenn nur die Seele dabei nicht einsam war. Allein vermochte sie den Glauben nicht zu nähren. Das Leben war unerträglich, wenn man außer sich selber niemanden hatte, den man liebte, an den man glaubte.
Mit dem Gedanken an den freiwilligen Tod hatte sie immer gespielt. Wenn sie jetzt stürbe ... Sie besaß wohl einen Kreis von Menschen, die sie liebten. Sie würden um sie trauern, aber es gab keinen, der sie nicht entbehren könnte. Nicht einen, dem sie unersetzlich war, so daß sie um seinetwillen die Pflicht hätte, ihr Leben weiterzuschleppen. Die Mutter und Geschwister ... Wenn sie nicht erfahren würden, daß sie es selbst getan, so würde ihr Leid nach einem Jahre zu milder Trauer geworden sein. Cesca und Gunnar würden sie wohl am tiefsten betrauern, denn sie würden vielleicht verstehen, daß sie unglücklich gewesen war, aber sie stand ja nur an der Außenseite ihres Lebens. Derjenige, der sie am meisten liebte, würde vielleicht am tiefsten getroffen sein — aber ihm hatte sie ja nichts zu geben. So konnte er sie ja ebenso lieb haben, wenn sie tot war. Ja, er liebte sie, dessen Glück sie war, und dabei trug er das Glück als eine Macht in sich.
Wenn ihr selber wirklich diese Kraft fehlte, so half ihr nichts. Die Arbeit konnte sie nicht in dem Maße ausfüllen, daß ihre Sehnsucht nach einem Glücke schwieg. Und weshalb sollte sie dann leben, wenn es auch hieß, sie sei talentvoll. Niemand konnte soviel Freude daran haben, ihre Kunst zu schauen, wie sie dabei empfand, sie auszuüben. Aber diese Freude war nicht so groß, daß sie ihr nichts zu wünschen übrig ließ.
Es war auch nicht nur das, wovon Gunnar gesprochen: daß ihre Tugend sie peinigte, um brutal zu sprechen. Dem konnte leicht abgeholfen werden. Aber sie wagte nicht, diesen Schritt zu tun, aus Angst, daß ihre Sehnsucht einst in späteren Jahren ihr wahres Ziel [S. 221] finden könnte. Das wäre ja von allem das Schlimmste, mit einem Menschen im engsten Zusammenhang zu leben, und tief im Innern doch wieder einsam zu sein. O nein, nein. Einem Manne anzugehören, mit allen möglichen daraus folgenden Intimitäten, körperlichen wie seelischen — und dann eines Tages vielleicht zu entdecken, daß sie ihn nie gekannt, und daß er sie nie gekannt, daß der eine niemals ein Wort von des anderen Rede verstanden hatte —.
Ach nein. Sie wollte leben, weil sie noch auf etwas wartete. Sie wollte keinen Liebhaber, denn sie erwartete ihren Gebieter. Sie wollte auch nicht sterben, nicht jetzt, denn sie wartete.
Nein. Sie wollte ihr Leben noch nicht von sich werfen, weder auf die eine noch auf die andere Art. Sie konnte so nicht sterben — so arm, daß sie nicht ein einziges geliebtes Wesen besaß, dem sie Lebewohl sagen konnte. Sie wagte nicht, sie durfte doch hoffen, daß es einmal anders werde.
So mußte sie sich also mit der Malerei etwas ins Zeug legen. Sonst würde sie auf den Hund kommen, krank wie sie war vor Verliebtheit.
Sie lachte.
Das war es eben. Der Gegenstand war vorläufig nicht vorhanden, aber die Liebe, die war da.
Durch das schräge Fenster dunkelte der Himmel veilchenblau herein. Jenny sah hinaus. Die Schieferdächer, die Schornsteine und Telephondrähte, die ganze stille Welt dort draußen breitete sich, mit weißem Reif bedeckt, in der Dämmerung aus. Von den Straßen leuchtete ein rötlicher Schein auf und färbte den Frostnebel. Wagengerassel und das Kreischen der Straßenbahn klangen jetzt so hart auf der trockenen, gefrorenen Straße.
Sie hatte wenig Lust, nach Hause zu gehen und bei der Mutter zu essen. Aber so war es verabredet. Sie schraubte den Ofen zu, zog ihren Mantel an und ging.
Draußen herrschte rauhe, klamme Kälte — der Nebel [S. 222] roch nach Ruß, Gas und gefrorenem Staub. Wie hoffnungslos öde diese Straße im Grunde war. Sie erstreckte sich vom Mittelpunkt der Stadt mit seinem lärmenden Getriebe und seinen hellerleuchteten Geschäften, wo der Menschenstrom aus- und einging, bis hinab zu den leblosen, grauen Festungsmauern. Ihre eigenen Häuserreihen lagen düster und ausgestorben. Neue Geschäftshäuser aus Stein und Glas, hinter deren großen Fenstern mit dem sanften weißen Licht arbeitsames junges Volk in stiller Geschäftigkeit den flatternden Papieren Weg und Richtung gab und durch das Telephon ihre Mitteilungen in alle vier Winde sandte, wechselten sich ab mit alten Gebäuden, Ueberresten aus der ältesten Zeit Kristianias. Es waren meist niedrige, graubraune Häuser mit glatter Front und Rolläden vor den Bürofenstern. Hier und da fand sich auch eine kleine Scheibe, mit Gardinen und Topfpflanzen verziert, die zu einem Kleineleuteheim gehörten, wunderlich einsamen Heimen in diesem Stadtviertel, dessen Häuser des Nachts meist verlassen lagen.
Aus den Läden, die sich in dieser Gegend befanden, strömte nicht das Volk aus und ein wie unten im Zentrum. Hier gab es nur Geschäfte für Tapeten und Gipsrosetten für Zimmerdecken. Hier fanden sich Ofen-, Herd- und Möbellager, deren Schaufenster voller leerer Mahagonibetten und gefirnißter Eichenstühle standen, die aussahen, als würden sie wohl nie in Gebrauch genommen werden.
In einem Torweg stand ein Kind — ein kleiner blaugefrorener Junge mit einem großen Korb am Arme. Er schaute einigen Hunden zu, die sich mitten auf dem Damme balgten, daß der feuchte, reifkalte Staub um sie flog. Das Kind schrie auf, als die Tiere sich zu ihm hinüberwälzten.
„Hast du vor den Hunden Angst?“ fragte Jenny.
Erst antwortete der Junge nichts. Da sagte sie:
„Soll ich dich an ihnen vorüberführen?“ Da schlüpfte er an Jennys Seite, sprach aber kein Wort.
„Wo willst du denn hin — wo wohnst du?“
„Voldstraße.“
[S. 223]
„Hast du eingeholt? Ganz hier unten? Du bist ja so klein — bist aber ein tüchtiger Junge.“
„Wir kaufen bei Aases in der Strandstraße, weil Vater sie kennt,“ sagte der Junge. „Und der Korb ist so schwer.“
Jenny sah die Straße hinauf und hinunter — sie war fast menschenleer:
„Komm, Kleiner, soll ich ihn dir ein Stück tragen?“
Der Knabe ließ den Korb ein wenig ängstlich fahren.
„Gib mir die Hand, du, dann will ich dich an diesen Kötern vorbeiführen. Nein, wie kalt du bist! Hast du denn keine Handschuhe?“
Der Junge schüttelte den Kopf.
„Sieh her, steck die andere Hand in meinen Muff — willst du nicht? Du meinst vielleicht, es schickt sich nicht für einen Jungen, mit dem Muff zu gehen?“
Sie dachte an Nils, als er klein war. Nach ihm hatte sie sich so oft gesehnt. Jetzt war er so groß und hatte viele Kameraden — er war in dem Alter, wo sich ein Junge schämt, sich mit der großen Schwester abzugeben. Selten kam er zu ihr herüber. In dem einen Jahre, das sie draußen war, und dann in den Monaten, als sie in all dem Wirrwarr mit Helge gelebt, hatten sie sich voneinander entfernt. Später, wenn er größer geworden, würden sie vielleicht wieder Freunde werden wie ehemals. Sicherlich, denn sie hatten sich lieb. Aber in seinem Alter ging es auch ohne sie, das wußte sie wohl. Oh, wenn doch Nils jetzt ein kleiner Junge wäre, daß sie ihn auf den Schoß nehmen und ihm Märchen erzählen könnte, während sie ihn wusch, ihn auskleidete und ihn küßte! Oder, wenn es noch wäre wie damals, als sie mit ihm über Nordmarken wanderte, wo der Riese weit fort war und der Weg voller Abenteuer und merkwürdiger Erlebnisse! —
„Wie heißt du denn, Kleiner?“
„Ausjen Torstein Mo.“
„Wie alt bist du, Ausjen?“
„Sechs Jahre.“
[S. 224]
„So gehst du wohl noch nicht zur Schule?“
„Nein, aber ich soll im April anfangen.“
„Freust du dich auf die Schule?“
„Nein, die Fräuleins sind so böse. Der Oskar geht auch hin, aber wir kommen nicht in dieselbe Klasse. Oskar soll in der zweiten anfangen.“
„Oskar, ist das dein Spielkamerad?“ fragte Jenny.
„Ja, die wohnen in demselben Haus wie wir.“
Dann entstand eine kleine Pause. Jenny plauderte wieder:
„Ist es nicht schade, daß wir keinen Schnee bekommen? Ihr habt ja den Berg, die Piperviken hinunter, wo ihr rodeln könnt? Hast du einen Schlitten?“
„Nein, aber ich habe Schneeschlittschuhe und auch Skier —.“
„Ja, dann freilich sollte sich der Schnee ein bißchen beeilen!“
Sie waren in die Stortingstraße gekommen. Jenny ließ seine Hand fahren und dann den Korb. Er war aber so schwer und Ausjen so klein. So behielt sie ihn denn.
In der dunklen Voldstraße nahm sie wieder seine Hand und trug ihm den Korb bis zu dem kleinen Haus, wo er wohnte. Zum Abschied schenkte sie ihm zehn Oere.
In der Homansstadt kaufte sie Schokolade und rote Fausthandschuhe, die sie Ausjen schicken wollte.
Herrgott, wenn sie nur einem Menschen eine kleine Freude machen könnte! Eine kleine, unerwartete Freude.
Sie wollte versuchen, ihn ein paar Stunden am Tage als Modell zu bekommen. Er war wohl aber zu klein, um ihr zu stehen.
Die arme kleine Faust, sie war in der ihren ganz warm geworden. Ihr war, als hätte es ihr gut getan, sie festzuhalten.
Doch. Sie wollte versuchen, ihn zu malen. Ein lebendiges Frätzchen hatte er. Er sollte dann Milch mit einem Tropfen dünnen Kaffee und gutes Butterbrot bekommen, und dann wollte sie arbeiten und mit Ausjen plaudern.
[S. 227]
An einem lichten und lauen Maiennachmittag, der sich schon zum Abend neigte, lag Sonnenglanz über den schwarzen Bauplätzen; die nackten Brandmauern waren rotgolden, und die Fabrikschlote glühten lederbraun im Sonnenbrand. Die Umrisse der Stadt mit hohen und niedrigen Dächern, großen und kleinen Häusern zeichneten sich gegen die grauviolette Luft scharf ab, die geschwängert war von Staub und Rauch und Dünsten.
Das Bäumchen an der roten Mauer trug klare, gelbgrüne Blättchen, durch die das Licht schien, in diesem Jahre wie im vergangenen.
Jenny sah den Schimmel an den Bretterwänden der Lumpenbuden, wie weich und leuchtend grün er war! Die Rußflocken an den Mauern der Geschäftshäuser waren an einigen Stellen tiefschwarz und an anderen wie von einer feinen glitzernden Silberhaut überzogen.
Sie sah in die Luft hinaus. Den ganzen Vormittag hatte sie auf Bygdö verbracht, dort hatte die Himmelskuppel sich dunkelblau und heiß über den olivengoldenen Föhrenkronen und der Laubbäume bernsteinfarbenen Knospen gewölbt. Aber hier schimmerte der Himmel über den hohen Häusern und dem Netz der Telephondrähte fahlblau hinter einem feinen, opalweißen Schleier von Dunst verborgen. Im Grunde war es übrigens schöner so. Gert konnte es nicht sehen. Die Stadt war für ihn nur immer schmutzig, häßlich und grau. Sie hatten sie alle verflucht, diese Stadt, die Jungen aus den achtziger Jahren, die hier wie zur Strafarbeit hergesandt waren. Jetzt stand [S. 228] er sicher dort oben und blickte in die Sonne hinaus, das Spiel des Lichtes mit Linien und Farbtönen sah er kaum, für ihn war es nur ein Sonnenstreifen vor den Gefängnismauern.
Sie hielt ein Stück vor seinem Torweg inne und sah gewohnheitsmäßig die Straße hinauf und hinunter. Bekannte waren hier nicht, Arbeitsleute strömten hinüber zum „Vaterland“ oder nach der Stadt zu. Die Uhr war also sechs.
Jenny lief die Treppe hinauf, die abscheulichen Stufen, von denen es zwischen den nackten Steinwänden widerhallte, wenn sie sich von seinem Zimmer hoch oben herunterschlichen — in den späten Stunden der Winternächte. Es war fast, als säße in diesen Wänden immer Kälte und rauhe Luft.
Sie lief schnell über den Korridor und pochte dreimal an seine Tür.
Gram öffnete. Er zog sie mit dem einen Arm an sich, und während sie sich küßten, verschloß er mit der freien Hand die Tür hinter ihr.
Ueber seine Schulter hinweg erblickte sie die frischen Blumen auf dem kleinen Tisch mit der Weinkaraffe und den ausländischen Kirschen in einer geschliffenen Kristallschale. Ein leichter Dunst von Zigarettenrauch lag über dem Raum. Sie wußte, daß er seit vier Uhr hier gesessen und auf sie gewartet hatte mit all dem, was um ihretwillen aufgebaut war.
„Ich konnte nicht früher kommen, Gert,“ flüsterte sie. „Es tat mir so leid, daß du warten mußtest.“
Als er sie freigab, ging sie zum Tisch und beugte sich über die Blumen.
„Ich darf doch zwei davon haben und mich schmücken, darf ich? O, ich werde so verwöhnt, Gert, wenn ich bei dir bin.“ Sie streckte ihm beide Hände entgegen.
„Wann mußt du hier fort, Jenny?“ fragte er, während er ihre Arme ganz behutsam küßte.
Jenny senkte ein wenig den Kopf.
[S. 229]
„Ich mußte versprechen, zum Abendessen zu Hause zu sein, du. Mama sitzt ja immer auf und wartet auf mich, und sie ist müde vom Tage. Sie hat es so nötig, daß ich ihr des Abends mit diesem oder jenem zur Hand gehe,“ sagte sie schnell.
„Es ist nicht so leicht, von Hause loszukommen, weißt du,“ setzte sie flehend hinzu.
Er senkte den Kopf unter ihren vielen Worten. Als sie ihm entgegenkam, zog er sie fest an sich. Sie barg ihr Antlitz an seiner Schulter.
Sie konnte nicht lügen, das arme Ding, nicht einmal so gut, daß er auch nur eine einzige barmherzige Sekunde daran glaubte. Den kurzen, kurzen Winter über, in den ersten blaugrünen Lenztagen, da hatte sie sich immer von Hause freimachen können.
„Es ist ja traurig für uns. Aber es ist jetzt so schwer, wo ich zu Hause wohne, das wirst du begreifen. Und es muß sein, Mama braucht das Geld und außerdem muß ich ihr helfen. Du gabst mir ja recht, als ich es für das Richtigste hielt, nach Haus zu ziehen?“
Gert Gram nickte. Sie hatten sich aufs Sofa gesetzt, dicht aneinander geschmiegt. Jennys Kopf lag an seiner Brust, so daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte.
„Du, ich war heute auf Bygdö, Gert. Ich ging dort umher, wie wir kürzlich zusammen. Wir fahren beide bald wieder dort hinaus, nicht wahr? Vielleicht übermorgen, wenn das Wetter sich hält? Dann finde ich schon eine Ausrede daheim, daß wir den ganzen Abend zusammen sein können, willst du? Du bist sicher betrübt darüber, daß ich so schnell wieder fort muß, nicht wahr?“
„Liebste Jenny, das habe ich dir doch tausendmal gesagt —,“ sie hörte es seiner Stimme an, daß er nun wieder mit seinem trüben Lächeln dasaß: „Ich bin dir für jede einzige Sekunde dankbar, die du deinem Freunde schenkst.“
„Sprich nicht so, Gert,“ bat sie gequält.
„Warum darf ich das nicht sagen, wenn es so ist? Mein geliebtes, kleines Mädchen, meinst du, ich werde [S. 230] jemals vergessen, daß alles, was du mir gegeben, eine fürstliche Gnade war, daß ich nie begreifen werde, wie du es mir geben konntest?“
„Gert! Im Winter, als ich merkte, daß du mir gut bist, wie gut du mir bist, sagte ich zu mir selber, daß es ein Ende haben müsse. Aber da begriff ich auch, daß ich ohne dich nicht sein könnte, und so wurde ich dein. War das eine Gnade? Wenn ich dich nicht lassen konnte?“
„Das ist es ja eben, Jenny, daß du mich so lieben lerntest, was ich eine fürstliche Gnade nenne.“
Stumm schmiegte sie sich an ihn.
„Du junge, herrliche kleine Jenny —.“
„Ich bin nicht jung, Gert. Als du mich trafst, fing ich schon an, alt zu werden, ich bin nie jung gewesen. Ich fand, du warst jung, viel jünger in deinem Herzen als ich, denn du glaubtest noch immer an alles, was ich verlachte und Kinderträumereien nannte, bis du mich glauben lehrtest, daß es das gab, Liebe und Wärme und all das Andere —.“
Gert Gram lachte still vor sich hin. Dann flüsterte er:
„Vielleicht war mein Herz nicht älter als das deine, du. Ich fand jedenfalls, daß ich noch keine Jugend gehabt hatte, und ich hoffte trotzdem tief im Innern, daß sie einmal, ein einziges Mal, mich streifen würde — die Jugend. Doch war mein Haar inzwischen weiß geworden.“
Jenny schüttelte den Kopf. Sie erhob ihre Hand und legte sie auf seinen Scheitel.
„Ist mein Kleines müde? Soll ich dir die Schuhe ausziehen? Willst du dich hinlegen und ausruhen?“
„Nein. Ich will so liegen. Es tut so gut.“
Sie zog die Beine hoch und schmiegte sich in seinem Schoß. Gert legte den Arm um sie. Mit der freien Hand schenkte er Wein ein und hielt ihr das Glas an den Mund. Sie trank begierig. Dann reichte er ihr Kirschen, nahm die Steine von ihren Lippen und legte sie auf den Teller.
„Du, ich will bei dir bleiben. Ich schicke einen Boten nach Hause und lasse sagen, daß ich Heggen getroffen [S. 231] habe. Er ist sicher in der Stadt. Aber ich muß nach Hause, ehe die letzte Straßenbahn fährt. — Leider.“
„Ich werde für dich gehen.“ Er ließ sie auf das Sofa niedergleiten. „Du sollst liegen und dich ausruhen. Oh, mein Kind!“
Als er gegangen, knöpfte sie die Schuhe auf und schob sie von sich. Sie trank noch etwas von dem Wein. Dann kroch sie ganz auf das Sofa hinauf, bohrte den Kopf tief in die Kissen und zog die Decke über sich. —
Sie liebte ihn ja doch. Sie wollte bei ihm sein. Wenn sie so sitzen, sich ganz zusammenrollen und in seinen Armen ruhen durfte, dann war ihr wohl. Er war ja der einzige Mensch auf der Welt, der sie auf den Schoß genommen und sie gewärmt, der sie geborgen und kleines Mädchen genannt hatte. Ja, er war der Einzige, der ihr wirklich nahe gestanden. Darum wurde sie sein.
Wenn er sie nur bei sich halten und sie schützen wollte, so daß sie nichts sah, sondern nur fühlte, daß er sie umschlungen hielt und wärmte. Dann ging es ihr gut. O nein, sie durfte ihn wohl nicht verlieren. Und so mußte sie ihm denn das Wenige geben, das sie besaß, wenn sie von ihm erhielt, was sie nicht entbehren konnte.
Er durfte sie küssen, mit ihr tun, was er wollte. Wenn er nur nicht sprach. Denn dann entfernten sie sich so weit von einander. Er sprach von Liebe, aber ihre Liebe war nicht, wie er glaubte. Sie konnte es aber nicht mit Worten erklären; sie klammerte sich nur an ihn — und das war keine Gnade, kein fürstliches Geschenk. Es war nur eine kleine, bettelnde Liebe, für die er nicht danken durfte, er sollte sie nur liebhaben und kein Wort sagen.
Als er wieder heraufkam, öffnete sie weit die Augen. Sie schloß sie aber wieder unter seinen stillen, ehrfürchtigen Liebkosungen und lächelte leise. Dann schlang sie die Arme um seinen Körper und klammerte sich an ihn. Das schwache Veilchenparfüm, das er an sich hatte, duftete so mild und frisch. Und sie nickte still, als er sie fragend aufhob. Er wollte sprechen, aber sie legte erst die Hand [S. 232] auf seinen Mund und küßte ihn dann, so daß er nichts sagen konnte, während er sie behutsam in das Nebenzimmer trug.
Gert begleitete sie zur Straßenbahn. Einen Augenblick blieb sie draußen auf der Plattform stehen und sah ihm nach, wie er drüben auf der Straße in der blauen Maiennacht verschwand. Dann setzte sie sich hinein.
Gram hatte seine Frau um die Weihnachtszeit verlassen. Er wohnte jetzt allein in der Stenerstraße. Außer dem Büro hatte er noch ein Zimmer. Jenny wußte, daß er daran dachte, eine Scheidung herbeizuführen, wenn einige Zeit hingegangen und Rebekka Gram eingesehen hätte, daß er nicht zurückkehren würde. Es entsprach seiner Natur, so vorzugehen, mit einemmale einen Bruch herbeizuführen, das vermochte er nicht.
Was er eigentlich weiter von der Zukunft erwartete, wagte sie sich nicht vorzustellen. Meinte er wohl, daß sie ihn heiraten würde?
Sie konnte sich nicht verhehlen, daß sie nicht eine Sekunde die Absicht gehabt hatte, sich für immer an ihn zu binden. Darum aber empfand sie dies alles wie eine bittere, hoffnungslose Demütigung, wie eine Schande, sobald sie nicht bei ihm war und sich mit seiner Liebe betäuben konnte. Sie hatte ihn betrogen, die ganze Zeit über hatte sie ihn betrogen.
„Das ist es ja eben, Jenny, daß du mich so lieben lerntest, was ich eine unbegreifliche Gnade nenne.“
Was konnte sie dafür, daß er es mit diesen Augen ansah?
Er hätte sie nicht zu seiner Geliebten gemacht, wenn sie selbst es nicht gewollt, wenn sie ihn nicht hätte fühlen lassen, daß sie es wollte. Aber, o Gott! Sie fühlte doch, daß er sich danach sehnte, es quälte sie, bei jedem Zusammensein sich begehrt zu wissen und zu sehen, wie er kämpfte, um zu verbergen, was er viel zu stolz war zu zeigen. Ja, sie hatte gesehen, daß er stolz war, zu stolz, [S. 233] um dort zu bitten, wo er einstmals nur seine Hilfe geboten. Vielleicht auch zu stolz, um sich einer Abweisung auszusetzen. Und da sie wußte, daß sie seine Liebe nicht von sich weisen, nicht den einzigen Menschen hergeben konnte, der sie liebte. Konnte sie wohl anders handeln, anders ehrenhaft bleiben, als daß sie ihm bot, was sie besaß und auf diese Weise zu vergelten suchte, was er mit seinem Reichtum an Liebe, die sie nicht missen konnte, an ihr tat.
Aber dann kam hinzu, daß sie Worte hatte aussprechen müssen, stärker und heißer als ihre Gefühle. Er aber hatte ihr geglaubt und sie bei ihrem Wort genommen.
Es geschah wieder und wieder. Kam sie zu ihm, freudlos, mutlos, müde vom Grübeln darüber, wie das enden solle, und sie sah, daß er es spürte, dann sagte sie ihm wieder warme Worte und heuchelte viel Stärkeres als sie fühlte. Und er glaubte ihr.
Er wußte von keiner anderen Liebe als derjenigen, deren Wesen das Glück ist. Unglück in der Liebe, das kam von außen her, von der Tücke des Schicksals oder von einer grausamen Gerechtigkeit, die alles Unrecht strafte. Sie wußte, was er fürchtete: daß ihre Liebe eines Tages hinsterben könnte, wenn sie sähe, daß er zu alt sei, um ihr Geliebter zu sein. Aber niemals hatte er ahnen können, daß ihre Liebe krank geboren war, mit dem Todeskeim in sich.
Es würde nichts nützen, ihm das zu erklären. Er würde es nicht verstehen: daß sie Zuflucht in seinen Armen gesucht, weil er der Einzige war, der sie ihr geboten hatte. Sie war so todeinsam gewesen. Als er ihr Liebe und Wärme bot, vermochte sie nicht, dies von sich zu stoßen. Obgleich sie hätte wissen müssen, daß sie es nicht annehmen durfte — sie war dieser Liebe nicht würdig. Nein, er war nicht alt. Die Leidenschaft eines Zwanzigjährigen, der kindliche Glaube und die andächtige Anbetung, eines reifen Mannes Wärme und Güte, all die Liebe, die ein Mannesleben fassen konnte, flammten jetzt an der Grenze des Alters noch einmal auf. Sie [S. 234] hätten einer Frau zuteil werden sollen, die mit einem gleichen Gefühl vergelten, die in den kurzen verbleibenden Jahren ihres Zusammenseins ihn das ganze Dasein, das er herbeigesehnt, wovon er geträumt und das er erhofft, durchleben lassen könnte, so daß sie durch tausend glückliche Erinnerungen an seine Seite gekettet wäre, wenn das Alter käme — in getreuer Liebe als seiner Jugend und seines Mannestums Gefährtin bei ihm ausharrend und nun auch mit ihm alternd. Aber sie —. Wenn sie auch versuchen wollte, zu bleiben, was konnte sie ihm geben, wenngleich sie wollte? Nie hatte sie ihm je etwas darbieten können — sie hatte nur genommen. Es nützte ihr nichts, daß sie versuchte zu bleiben, auf die Dauer konnte sie ihn nicht täuschen und zu dem Glauben zwingen, daß ihre Lebenssehnsucht durch diese erste Liebe für immer gestillt sei.
Er würde sagen, sie solle gehen. Sie habe geliebt und gegeben, jetzt liebe sie aber nicht mehr und solle wieder frei sein. So würde es in seinen Augen aussehen; nie würde er begreifen, daß sie deshalb trauerte, weil sie nichts, nichts, nichts hatte geben können .
Ah, er peinigte sie, wenn er von ihren Gaben sprach. Ja, sie war Mädchen, als sie sein wurde. Er betonte es, als wenn es ihm ein Maßstab dafür sei, wie unendlich tief und stark ihre Liebe wäre. Hatte sie ihm doch die Reinheit ihrer Jugend geschenkt.
Die Unberührtheit ihrer neunundzwanzig Jahre. O ja, sie hatte sie wie ein weißes Brautgewand gehütet, das sie nicht angetastet und nicht befleckt hatte. In Sehnsucht und Angst, daß sie es niemals tragen würde, in Verzweiflung über ihre eisige Einsamkeit, über ihr Unvermögen in der Liebe, hatte sie sich daran geklammert, es zerknittert und mit ihren Gedanken befleckt. — War die nicht reiner, die das Leben der Liebe gelebt, als sie, die nur gegrübelt, gespäht und sich gesehnt hatte, bis alle Kräfte von dieser Sehnsucht gelähmt waren?
Als sie dann sein geworden — wie wenig Eindruck hatte es auf sie gemacht. Sie war nicht völlig kalt [S. 235] gewesen. Mitunter hatte seine Liebe sie hingerissen. Aber sie heuchelte Glut und war nur lau. War sie nicht bei ihm, so dachte sie kaum daran, sie spiegelte ihm eine erlogene Sehnsucht vor, um ihn zu erfreuen. Ja, sie heuchelte und heuchelte seiner ehrlichen Leidenschaft gegenüber.
Und doch, es hatte eine Zeit gegeben, wo sie nicht nur geheuchelt hatte — oder, belog sie Gert, so belog sie auch sich selber. Sie hatte einen Sturm in sich gefühlt, es war wohl Mitleid mit ihm und seinem Geschick und Auflehnung gegen ihr eigenes, weshalb sie Beide, jeder auf seine Art, im Verlangen nach etwas Unmöglichem sich zerrissen, und dazu kam noch die grauenhafte Angst, wohin das alles führen solle. Damals hatte sie gejubelt, daß sie ihn liebte. Sie hatte sich ja in dieses Mannes Arme stürzen müssen, so wahnsinnig es auch war.
An jenem Abend hatte sie in der Straßenbahn gesessen und, auf all die schläfrigen, ruhigen Bürger blickend, triumphiert. Sie kam von ihrem Geliebten, um sie und ihn lag das Unwetter des Schicksals, sie hatte da hinaus müssen und wußte nicht, wohin es sie treiben würde. Sie war stolz auf ihr Geschick gewesen, weil Unglück und Finsternis drohten.
Jetzt aber sehnte sie sich nur nach einem Ende. Machte Pläne für eine Auslandsreise, Flucht vor alledem. Sie hatte Cescas Einladung, nach Tegneby zu kommen, angenommen, um den Bruch vorzubereiten.
Es war jedenfalls besser für Gert, daß er jetzt allein war. Hatte sie es erreicht, daß er dem Zusammenleben mit jener ein Ende gemacht, so hatte sie ihm doch etwas Gutes getan.
Jenny gegenüber saßen zwei junge Frauen. Sie waren vielleicht nicht älter als sie, nur verkommen und verbraucht von dem Leben in langjähriger Ehe. Vor drei, vier Jahren waren es vielleicht noch ein paar hübsche Geschäftsmädchen gewesen, die sich putzten und mit ihren Kavalieren in den Nordmarken Sport trieben. Ja, jetzt [S. 236] glaubte sie, das Gesicht der einen von dort her wiederzuerkennen — sie hatten an einem Osterfest zusammen auf Hakloa übernachtet. Sie war Jenny sogar aufgefallen mit ihrer geschmeidigen Gestalt und weil sie so gut Ski lief und so keck und schick in der Sportstracht ausgesehen hatte.
In gewisser Beziehung war sie noch heute herausgeputzt. Das Straßenkostüm war modern, aber es saß nicht und die Figur hatte keine Festigkeit mehr, sie war behäbig und dick geworden, während Schultern und Hüften dabei eckig geblieben waren. Das Gesicht erschien alt, die Zähne waren schlecht, mürrische Furchen zogen sich um den Mund. Das Ganze krönte ein großer Hut mit vielen Straußenfedern. Sie predigte und die Freundin hörte eifrig zu, mit gespreizten Knien träge dasitzend, die Hände in einem Riesenmuff auf dem schwangeren Leibe vergraben. Eigentlich war ihr Gesicht hübsch, aber fett und rotfleckig, mit einem Doppelkinn.
„Ja, den Käse muß ich also im Büfett verschließen; kommt er hinaus in die Küche, dann sind am anderen Morgen nur Rinden übrig. Ein schwerer Schweizer Käse zu fast drei Kronen das Pfund!“
„Ja, das kann ich mir lebhaft vorstellen.“
„Aber nun sollen sie etwas hören! Hinter Eiern ist sie her wie — ich weiß nicht was. Neulich komme ich ins Mädchenzimmer — sie ist unglaublich schmutzig — und da riecht es in der Kammer ...! Die Betten sind nicht gemacht — wer weiß wie lange Zeit. Nein, aber Solveig, sage ich, und als ich die Decke hochhebe, da hat sie drei Eier und eine Papiertüte mit Zucker in dem schmutzigen Bett liegen — was sagen Sie dazu? Na, sie sagte, sie hätte alles selber gekauft, und das mag bei dem Zucker wohl stimmen —.“
„Ja, das glaube ich auch,“ sagte die andere.
„Na ja, der war ja auch in einer Tüte, aber die Eier hat sie genommen. Ich sagte ihr das aber auch, können Sie mir glauben. Aber nun sollen Sie etwas hören! Letzten Sonnabend komme ich in die Küche, wir [S. 237] sollten Reisbrei zu Mittag haben, oho, da steht der Topf auf dem Gase und amüsiert sich, während das Mädel in ihrer Kammer sitzt und häkelt. Und ich rufe sie und rühre inzwischen im Topf herum — und was glauben Sie, was ich mit der Kelle auffische? Ein Ei, wollen Sie das glauben? Sie kocht sich ein Ei im Reisbrei, na ich mußte lachen, aber können Sie sich eine solche Schweinerei vorstellen? Ich sagte ihr aber meine Meinung und zwar gehörig. Was sagen Sie nur dazu?“
„O Gott, Dienstmädchen. — Ja, wissen Sie, was meine neulich gemacht hat? ...“
Diese beiden hatten sich als junge Mädchen sicher auch nach Liebe gesehnt — auf ihre Art. Nach einem frischen und strammen Burschen in fester Stellung, einem Manne, der sie von den einförmigen Arbeitstagen im Büro oder Geschäft erlöste, sie in ein kleines Heim brachte, in dessen drei Zimmern sie all ihre eigenen Kleinigkeiten ausbreiten durften, all diese Stickereien mit Heckenröschen und blauen Glockenblumen, in die sie ihre Mädchenträume verwoben hatten.
Mädchenträume der Liebe hatten auch sie geträumt. Doch jetzt belächelten sie diese überlegen. Es war ihnen eine Genugtuung denen gegenüber, die jetzt so träumten, festzustellen, wie ganz anders die Wirklichkeit doch war. Sie waren stolz darauf, zu den Eingeweihten zu gehören, welche wußten, wie die Wirklichkeit aussah. Vielleicht waren sie sogar zufrieden.
Glücklich dennoch, wer unzufrieden. Glücklich, wer nicht abdankte und sich damit begnügte, daß das Leben ihm ein Armeleutedasein bot. Wer trotzdem sagte, ich glaube meinen Träumen, kein anderes Glück gibt es für mich außer dem, das ich begehrte. Ich glaube doch, dies Glück gibt es. Zeigt es sich mir nicht, so trage ich eben Schuld daran, ich war dann eine schlechte Jungfrau, die nicht imstande war, zu wachen und des Bräutigams zu harren. Doch die klugen Jungfrauen werden ihn schauen, sie werden in seinem Haus Einzug halten zum Tanz —.
[S. 238]
In dem Schlafzimmer der Mutter brannte Licht, als Jenny nach Hause kam. Sie ging hinein und mußte von der Gesellschaft auf Ahlströms Atelier erzählen und wie es Heggen ging.
Ingeborg und Bodil schliefen hinten im Halbdunkel, die schwarzen Flechten hingen über die Kissen herab.
Es rührte Jenny nicht im geringsten, dastehen und der Mutter etwas vorlügen zu müssen. Sie hatte es immer getan, seit sie als Schulmädchen in munterem Tone von den Kindergesellschaften berichten mußte, auf denen sie einsam dagesessen und der Anderen Tanz zugeschaut hatte, unglücklich und verlassen, ein kleines Mädchen, das nicht mittanzen konnte und nichts sagte, was den Jungen Vergnügen machte.
Wenn Ingeborg und Bodil vom Balle kamen, saß die Mutter aufrecht im Bett, fragte und hörte zu und lachte, vom Lampenlicht mit jugendlicher Röte übergossen. Sie konnten der Mama immer die Wahrheit sagen, denn die war munter und lachend. Vielleicht unterschlagen sie das eine oder andere kleine Erlebnis, das so lustig war, daß sie es für sich behalten wollten. Was tat das, ihr Lächeln war doch echt.
Jenny küßte die Mutter und wünschte ihr Gute Nacht. Im Wohnzimmer riß sie aus Versehen eine Photographie herunter. Sie hob sie auf und wußte im Dunkeln, wer es war. Sie stellte einen Bruder von Jennys rechtem Vater dar, mit seiner Frau und seinen Töchtern. Er hatte in Amerika gelebt, so daß sie ihn nie zu Gesicht bekamen. Jetzt war er tot, und niemand dachte mehr an das Bild. Sie wischte dort jeden Tag Staub und sah es gar nicht, es war wie jeder andere Nippesgegenstand.
Als sie in ihrem Kämmerchen war, begann sie ihr Haar zu lösen.
Sie hatte ja immer ihrer Mutter etwas vorgelogen. Wie hätte sie ihr gegenüber denn ehrlich sein können, ohne ihr Kummer zu bereiten? Und wozu sollte sie es auch —?
[S. 239]
Niemals würde die Mutter sie verstanden haben. Bei ihr hatten Glück und Trauer sich abgelöst, seit sie ganz jung war. — So war sie mit Jennys Vater glücklich gewesen und weinte über seinen Tod. Dann hatte sie mit dem Kinde allein fortgelebt und war zufrieden gewesen. Als sie Nils Berner traf, hatte er ihr Dasein mit neuem Glück und neuem Elend erfüllt. Und wieder lebte sie weiter in den Kindern. Die Kinder bedeuteten das Glück des Mutterseins, das greifbare Ausgefülltsein einer Leere, ein Glück, das mit tatsächlichen Leiden erkauft, das allzu körperlich, klein und warm in ihrem Arme gelegen hatte, um angezweifelt zu werden. Ja, sein Kind zu lieben, das mußte wohl tun. Diese Liebe war so natürlich, daß man darüber nicht zu grübeln brauchte. Eine Mutter zweifelte nicht daran, daß sie ihr Kind liebte, daß sie sein Bestes im Auge hatte, und zu seinem Wohle handelte, auch nicht daran, daß das Kind sie wiederliebte. So groß aber ist die Gnade der Natur gegen die Mütter, daß der Kinder innerster Instinkt es nicht zuläßt, die bittersten und unheilbarsten Sorgen zur Mutter zu tragen. Sie erfahren von nicht viel Anderem als von Krankheit und Geldsorgen. Niemals von dem Unwiederbringlichen — der Schande, der Niederlage im Leben — und wenn das Kind wimmerte vor Leid — eine Mutter glaubt nicht, daß das Verlorene unersetzbar sei.
Nichts dürfte die Mutter von ihrem Kummer erfahren — die Natur selbst hatte dort eine Mauer errichtet. Niemals würde Rebekka Gram den zehnten Teil von dem erfahren, was ihr Kind um ihretwillen gelitten hatte. Wie hatte Frau Lund um ihren schönen Sohn geweint, als er verunglückte. Noch immer trauerte sie tief und wehmütig über ihren Jungen und träumte von der reichen Zukunft, der er entrissen worden. Seine Mutter war die Einzige, die nicht ahnte, daß er sich erschossen hatte, um nicht irrsinnig zu werden.
Die Mutterliebe stand auch keinem anderen Glück im Wege. Von dieser oder jener Mutter wußte sie, daß [S. 240] sie Liebhaber gehabt hatte und glaubte, die Kinder sähen es nicht. — Da gab es solche, die sich scheiden ließen und auf andere Art glücklich wurden. Nur, wenn die neue Liebe eine Enttäuschung war, so jammerten sie und waren reuig. Ihre Mutter hatte sie vergöttert, und doch hatte ihre Liebe für Berner Raum gehabt, sie war mit ihm glücklich gewesen. Gert hatte seine Kinder geliebt, und eines Vaters Liebe war wohl nachdenklicher, verstehender, weniger instinktiv, als die einer Mutter. Und doch hatte er in diesem Winter kaum an Helge gedacht.
Jenny hatte drinnen beim Stationsvorsteher die Post geholt. Sie gab Franziska die Zeitungen und ihren Brief und öffnete ihren eigenen. Draußen auf dem Kiese des Bahnsteiges mitten im Sonnenbrand stehend, überflog sie Gerts langes Schreiben. Die liebevollen Worte am Anfang und am Schlusse las sie, während sie das Uebrige überging. Es waren nur lange allgemeine Betrachtungen über die Liebe.
Jenny steckte den Brief wieder in den Umschlag und legte ihn in ihre Handtasche. Oh, diese Briefe von Gert — sie war fast nicht imstande, sie zu lesen. Die Worte allein zeigten ihr, daß sie sich doch nicht verstanden. Sie fühlte es, wenn sie miteinander sprachen; beim Schreiben trat es aber klar zutage.
Und dennoch war Wesensverwandtschaft zwischen ihnen. Warum konnten sie dann nicht harmonieren?
War er stärker oder schwächer als sie? Er hatte verloren und verloren, hatte resigniert und sich an allen Ecken und Kanten beugen müssen — und fuhr fort zu hoffen, fuhr fort zu leben und fuhr fort zu glauben. — War das Weichheit oder Lebenskraft? Sie verstand ihn nicht.
Vielleicht lag es doch am Altersunterschied. Er war nicht alt. Aber seine Jugend stammte aus einer anderen Zeit. Er gehörte zu eine Jugend, die jetzt ausgestorben [S. 241] war, einer Jugend mit gesünderem Glauben und mehr Naivität. Vielleicht war auch sie naiv — mit ihrem Glauben und ihren Zielen. Aber dann war es eine andere Art von Naivität. Die Worte wechseln im Laufe von zwanzig Jahren ihre Bedeutung, ob es letzten Endes das war?
Der Kies leuchtete rotviolett und die graugelbe Farbe an der Mauer des Stationsgebäudes platzte in der Sonnenhitze auf. Es dunkelte einen Augenblick vor ihren Augen, als sie vom Abhang in die Höhe blickte. Es war seltsam, aber sie vertrug die Hitze in diesem Jahre nicht gut.
Ueber das Kirchspiel hin zitterte der heiße Dunst von Heuwiesen und weißen Aeckern, ganz bis hinüber zum Waldrande, der sich schwarzgrün gegen den sommerlich blauen Himmel abhob. Die wenigen Laubbäume vor den Gehöften trugen bereits dunkle Kronen.
Cesca las noch immer an ihrem Brief. Er war von ihrem Manne. Ihr Leinenkleid leuchtete weiß gegen den blauen Kies des Bahnsteigs.
Gunnar Heggen hatte sein Gepäck auf dem hinteren Sitz des Wägelchens verstaut. Er liebkoste das Pferd und plauderte mit ihm, während er auf die Damen wartete.
Cesca steckte ihren Brief fort, hob den Kopf und machte eine Bewegung, als wollte sie etwas verjagen.
„Ja, du mußt entschuldigen, mein Junge — jetzt können wir fahren.“ Sie und Jenny setzten sich auf den Vordersitz; Cesca lenkte selbst. „Das ist furchtbar gemütlich, Gunnar, daß du kommen konntest! Ist es nicht famos, daß wir drei wieder einige Tage zusammen sein können? Ich soll euch beide von Lennart grüßen!“
„Danke. Geht es ihm gut?“
„O ja. Er berichtet nur Gutes. Es war wirklich genial von Papa und Borghild, daß sie wegreisten. Ich bin jetzt mit Jenny allein auf dem Hof, siehst du, und die alte Gina steht Kopf für uns — das ist herrlich!“
„Ja, es macht Freude, euch wiederzusehen, Mädelchen!“
Er lachte sie beide so offenherzig an. Aber Jenny bildete sich ein, sie hätte einen merkwürdig ernsten [S. 242] Schimmer dahinter gesehen. Sie wußte, daß sie verwelkt und müde aussah, Cesca in dem billigen, fertiggekauften Leinenkleid glich einem Backfisch, der alt zu werden anfing, ohne erwachsen gewesen zu sein. Es war ihr, als sei Cesca kleiner geworden in diesem Jahre, aber sie zwitscherte und plauderte in einem fort — was sie zum Mittagessen bekamen und zum Kaffee, ob sie ihn im Garten trinken sollten, und von all dem Likör und Whisky und Selterwasser, was sie eingekauft hatte.
Als Jenny in der Nacht in ihr Zimmer hinaufkam, setzte sie sich auf das Fensterbrett und ließ sich den frischen Luftzug, der mit den Gardinen spielte, über das Antlitz wehen. Sie war ziemlich berauscht — ganz unbegreiflich war es ihr, aber Tatsache.
Sie konnte nicht verstehen, wie es zugegangen war. Anderthalb Glas Whisky und einige Gläschen Likör war alles, was sie getrunken, und sogar nach dem Abendessen — allerdings hatte sie nicht viel gegessen, aber sie hatte augenblicklich keinen Appetit. Starken Kaffee hatte es auch gegeben.
Vielleicht war gerade der Kaffee schuld — und die Zigaretten. Obgleich sie jetzt weniger rauchte als früher.
Jedenfalls hatte sie Herzklopfen und ein widerliches Hitzegefühl durchrann sie in großen Wogen, so daß sie in Schweiß gebadet war. Das Bild dort draußen drehte sich langsam vor ihren Augen — vorwärts und zurück — die graugefärbte Ebene, das blaßleuchtende Blumenbeet und die dunklen Baumkronen des Gartens an dem weißlichen Sommernachtshimmel. Das Zimmer lief rund um sie her.
Sie wankte, als sie die Waschschüssel mit Wasser füllte. Unsicher in den Bewegungen war sie auch. Das ist doch aber ein Skandal. Es geht bereits bergab mit dir, mein Kind. Nun verträgst du keinen Alkohol mehr. Früher hatte sie das Doppelte trinken können, ohne etwas zu verspüren.
[S. 243]
Erst hielt sie die Hände mit dem Puls unter Wasser. Dann badete sie lange ihr Gesicht. Riß sich die Kleider vom Körper und ließ das Wasser von dem nassen Schwamm über den ganzen Leib rieseln.
Gott weiß, ob Gunnar und Cesca etwas gemerkt hatten. Sie selbst hatte zwar erst jetzt, als sie heraufkam, etwas verspürt. Wie gut, daß der Oberstleutnant und Borghild nicht zu Hause waren.
Es wurde besser, als sie sich eine Weile gewaschen hatte. Sie zog ihr Nachthemd über und setzte sich wieder ans Fenster.
Die Gedanken schwirrten ziellos zwischen Fragmenten der Gespräche des Tages mit Gunnar und Cesca umher. Mitten drin stand ihre Verwunderung hellwach still — vor der Erkenntnis, daß sie sich betrunken hatte! Es war ihr noch nie zuvor begegnet — sie kannte das Gefühl kaum, auch wenn sie einmal viel trank.
Jetzt war es übrigens sicher vorbei, sie fühlte sich matt und schläfrig und kalt. Sie stand auf und taumelte in das große Himmelbett. Wenn sie nun erst am späten Vormittag erwachte — jedenfalls würde es eine neue Erfahrung sein.
Soeben hatte sie sich in den Kissen zurechtgelegt und die Augen geschlossen, als die widerwärtige üble Hitze sie wieder überflutete, so daß der Schweiß aus allen Poren brach. Das Bett wankte wie ein Schiff im Wellengang, so daß sie seekrank wurde. Sie lag eine Weile still da und versuchte, Herr über diese widerliche Empfindung zu werden — ich will nicht, ich will nicht. Aber es nutzte nichts — der Mund lief voller Wasser. Es war gerade noch Zeit genug, zum Zimmer zu gelangen, ehe sie sich erbrach.
Aber du großer Gott, war sie wirklich so betrunken? Jetzt wurde es geradezu unangenehm. Aber nun war es wohl vorüber. Sie brachte alles wieder in Ordnung, trank einen Schluck Wasser und legte sich nieder. Jetzt konnte sie vielleicht schlafen.
[S. 244]
Aber als sie kurze Zeit mit geschlossenen Augen gelegen hatte, begann der Seegang von neuem, ebenso Schweiß und Uebelkeit. Es war erstaunlich, da sie doch jetzt völlig klar im Kopfe war. Trotzdem mußte sie noch einmal auf.
Im Augenblick, als sie zum Bett zurückging, blitzte ein Gedanke in ihr auf. —
Still. Sie legte sich hin und bohrte den Nacken ins Kopfkissen. Es war ja unmöglich. Sie wollte nicht daran denken. Aber sie konnte es nicht lassen und überlegte sich: Sie hatte sich die ganze letzte Zeit hindurch nicht wohl gefühlt.
Müde und zermürbt war sie natürlich. Zerquält und nervös. Deshalb hatte sie vielleicht nicht das winzige Bißchen gestern Abend vertragen können. Wahrhaftig, sie begriff, daß Menschen Abstinenzler wurden nach einigen solchen Nächten.
An das Andere wollte sie nicht denken. War es traurige Wirklichkeit, so erfuhr sie es noch zeitig genug. Nur sich nicht mit Beängstigungen plagen, ehe es notwendig war.
Jenny öffnete das Nachtkleid und strich sich über die Brüste.
Sie wollte schlafen. — Jetzt könnte sie natürlich nicht aufhören, an diesen Unsinn zu denken — ach. Sie war doch so müde.
In der ersten Zeit mußte sie natürlich immer daran denken, daß es wohl Folgen haben könnte und war einige Male ängstlich gewesen. Sie hatte aber ihre eigene Furcht beim Schopfe gepackt und sich gezwungen, sie in vernünftigem Lichte zu sehen — ja, wenn nun etwas geschähe? Zum großen Teil war es ja sinnloser Aberglaube, diese Furcht davor, ein Kind zu bekommen. Derartiges geschah eben häufig — wollte sie schlechter sein als alle die Arbeiterinnen, die sich allein mit dem Kind zurechtfanden? Der größte Teil des Schrecks stammte ja von der Zeit, als eine unverheiratete Frau in solchem Falle zum Vater oder zu Verwandten gehen und bekennen mußte, [S. 245] daß sie leichtsinnigen Vergnügungen nachgegangen war, und daß sie nun die Kosten bezahlen sollten — sogar mit der Aussicht, später niemals ihre Versorgung auf jemand anders abschieben zu können. So daß diese dann mit gutem Recht erbittert waren.
Aber niemand hatte das Recht, sich über sie zu erbittern. Schlimm war es natürlich der Mama wegen. Aber Herrgott, wenn ein erwachsener Mensch versuchte, sein Leben nach eigenem Gewissen zu leben, so hatten die Eltern zu schweigen. Sie hatte versucht, ihrer Mutter so viel zu helfen, wie es ihr möglich war, hatte sie nie mit Sorgen geplagt, niemals ihren Ruf einer leichtsinnigen Tat wegen aufs Spiel gesetzt — in Vergnügen oder Bummeln. Aber dort, wo ihre Ansichten über Recht und Unrecht mit denen guter Bürger auseinander gingen, hatte sie den eigenen zu folgen, selbst wenn es der Mutter weh tun würde, daß die Bürger häßlich von ihr redeten.
War ihr Verhältnis mit Gert sündig, so bestand die Sünde jedenfalls nicht darin, daß sie zuviel gegeben hatte, sondern zu wenig. Und wie es auch endete, so mußte sie dafür leiden und durfte nicht mucksen.
Ein Kind zu versorgen, müßte sie eigentlich genau so gut imstande sein wie alle die Mädchen, die nicht ein Zehntel von dem konnten, was sie an Fähigkeiten besaß. Etwas Geld hatte sie ja auch noch übrig, so daß sie fortreisen konnte. War es auch ein kümmerlicher Beruf, den sie sich gewählt — viele ihrer Kollegen mußten doch sogar Frau und Kinder damit ernähren. Außerdem hatte sie, seit sie annähernd erwachsen war, anderen helfen müssen.
Natürlich wäre es ja das Beste, der Sache zu entgehen. Bisher war es ja gut gegangen.
Sie wollte nicht daran denken. —
Gert würde wohl verzweifelt sein.
Oh, aber Herrgott — wenn es zutraf — jetzt! Wäre es wenigstens damals gekommen, als sie ihn liebte — oder ihn zu lieben glaubte. Damit sie in diesem Glauben hätte von ihm fortreisen können. Aber jetzt, jetzt, wo alles, was zwischen ihnen bestanden hatte, in kleine Stückchen [S. 246] zerbröckelte, von ihrem Denken und Grübeln aufgezehrt.
Sie hatte es in diesen Wochen hier auf Tegneby klar empfunden, daß es so nicht weitergehen könne. Sie hatte sich hinausgesehnt, nach neuen Verhältnissen, neuer Arbeit. Ja, die Arbeitssehnsucht war zurückgekehrt. Sie hatte dieses krankhafte Verlangen von sich abgeschüttelt, sich an einen Menschen anzuklammern, von ihm umschmeichelt, umsorgt und „kleines Mädchen“ genannt zu werden.
Sie hatte sich im Schmerz zusammengekrampft, wenn sie an den Bruch dachte, und daß sie ihm wehe tun mußte. Aber Herrgott — sie hatte ihm doch gegeben, solange sie konnte. Gert war glücklich gewesen. Jedenfalls war er dem erniedrigenden Sklavendasein mit ihr — der Frau — entronnen.
Was sie selbst betraf, so hatte sie resigniert. Arbeit und Einsamkeit würden ihr Leben bedeuten. Diese Monate aus ihrem Dasein auslöschen, das wußte sie, konnte sie nicht. Sie würde die Erinnerung daran behalten und die bittere Lehre dieser Zeit, daß die Liebe, die vielen genügte, nicht für sie ausreichte, mit sich nehmen. Für sie schien es besser, zu entbehren, als sich zu begnügen.
O ja, vergessen würde sie diese Monate nicht. Aber gemildert würden sie vor ihr stehen, und umgedichtet zu Erinnerungen an das kurze, schmerzdurchzogene Glück und die bittere, reueerfüllte Qual. Mit der Zeit wollte sie die Erinnerung an den Mann, gegen den sie blutiges Unrecht verübt hatte, halbwegs auszulöschen suchen.
Und jetzt trug sie vielleicht sein Kind.
Aber es war ja undenkbar. Es war ja sinnlos, darüber nachzugrübeln. Aber wenn es doch Wahrheit wurde?
Jenny schlummerte endlich ein. Draußen war es schon ganz hell. Sie schlief traumlos und tief. Als sie aber auffuhr, hellwach, war es nicht viel lichter. Der Himmel war drüben über den Baumkronen des Gartens ein wenig gelblicher und die Vögel zwitscherten schläfrig.
[S. 247]
Die gleichen Gedanken stellten sich im selben Augenblick wieder ein. Jenny wußte, daß sie diese Nacht kaum mehr schlafen würde. Resigniert gab sie nach und dachte alles von neuem durch.
Heggen reiste ab und Oberstleutnant Jahrmann kehrte mit seiner ältesten Tochter zurück. Diese fuhren dann wieder weiter zu einer verheirateten Schwester Franziskas.
Cesca und Jenny waren nun wieder allein auf Tegneby. Sie gingen jede für sich umher, in ihre Gedanken eingesponnen.
Jenny wußte jetzt bestimmt, daß sie schwanger war. Was es aber in Wirklichkeit bedeutete, hatte sie sich noch nicht klargemacht. Versuchte sie, ein wenig in die Zukunft zu denken, so streikte ihre Phantasie. Eigentlich war ihr jetzt ungleich wohler zumute, als in den verzweifelten Wochen, als sie unablässig darauf wartete, daß es sich als Irrtum erweisen sollte.
Sie tröstete sich damit, daß sich wohl ein Ausweg für sie, wie für die vielen anderen, finden würde. Von ihrer Reise ins Ausland hatte sie ja schon seit dem Herbst gesprochen. Wie an eine schwache Möglichkeit dachte sie an Paris — dorthin zu fahren und zu einer age-femmes zu gehen. Aber sie mochte es sich nicht genauer überlegen.
Ob sie überhaupt Gert gegenüber erwähnen wollte, wie es mit ihr stand, wußte sie nicht. Sie hatte die Absicht, es nicht zu tun.
Wenn sie nicht mit sich selbst beschäftigt war, so dachte sie an Cesca. Mit ihr war auch etwas nicht so, wie es sollte. Trotzdem war sie sicher, daß Cesca Ahlin sehr gern hatte. War er es, der sich nichts mehr aus ihr machte?
Cesca hatte es schwer gehabt das Jahr hindurch, während sie verheiratet gewesen, das merkte Jenny. Sie war so klein und schüchtern geworden. Furchtbar beschränkt [S. 248] waren ihre Verhältnisse, und sie saß abends eine Stunde nach der anderen auf Jennys Bettrand und klagte über ihre häuslichen Widerwärtigkeiten. Stockholm war so teuer und billiges Essen herzustellen war schwer, wenn man so etwas nicht gelernt hatte. Alle Hausarbeit ging schwer von der Hand, wenn man so irrsinnig erzogen worden war wie sie. Und es war zum Verzweifeln, daß man die Arbeit, kaum daß sie getan war, wieder von neuem in Angriff nehmen mußte. Sowie sie das Haus gereinigt hatte, war es wieder schmutzig, und kaum war sie mit dem Essen fertig, mußte aufgewaschen werden — und dann hatte sie schon wieder Essen zu kochen und wieder abzuwaschen. — Wenn Lennert auch versuchte, ihr zu helfen, so war er doch ebenso ungeschickt und unpraktisch wie sie selbst. Dazu kamen ihre Sorgen um ihn — das Monument hatte er nicht bekommen — niemals begegnete er einer Anerkennung, trotzdem er doch so begabt war. Er war aber nur zu vornehm, sowohl als Mensch wie als Künstler. Das war nun eben nicht zu ändern, sie wünschte ja auch nicht, daß er anders wäre. Dann diese langwierige Krankheit im Frühling — zwei Monate hatte er an Scharlachfieber und Lungenentzündung und anderen Krankheiten, die eine Folge davon waren, gelegen — diese Zeit hatte Cesca furchtbar angegriffen.
Da war aber etwas anderes, wovon Cesca nicht sprach — das fühlte Jenny. Jenny wußte auch, sie konnte nicht so gegen Cesca sein wie früher, sie hatte nicht mehr das ruhige Herz und den offenen Sinn, um anderer Sorgen hinnehmen und trösten zu können. Es schmerzte sie, daß sie Cesca nicht helfen konnte.
Cesca war eines Tages nach Moß gefahren, um Einkäufe zu machen. Jenny wollte sie nicht begleiten, so blieb sie denn daheim und vertrieb sich die Zeit im Garten. Sie las, um nicht zu denken, und begann, Muster zu stricken, weil sie die Gedanken nicht bei ihrer Lektüre sammeln konnte. Aber sie verzählte sich bei der Arbeit, mußte trennen und strickte wieder, indem sie sich zwang, aufzupassen.
[S. 249]
Cesca kam nicht zum Essen nach Hause, wie sie versprochen hatte. Jenny aß schließlich allein und beschäftigte sich den Nachmittag über, so gut es ging. Sie rauchte, aber die Zigaretten schmeckten nicht, sie strickte, aber die Arbeit sank ihr jeden Augenblick in den Schoß.
Endlich gegen zehn Uhr fuhr Cesca die Allee herauf. Jenny war ihr entgegengegangen. Gleich nachdem sie zu ihr auf das Wägelchen gestiegen war, sah sie, daß irgendetwas vorgefallen sein mußte. Aber keine von ihnen sprach.
Erst gegen Ende der Mahlzeit, als sie bei der letzten Tasse Tee saßen, sagte Franziska, ohne Jenny anzublicken, leise:
„Weißt du, wen ich heute in der Stadt traf?“
„Nein?“
„Hans Hermann. — Er ist zu Besuch auf Jelö. Dort lebt ein altes, reiches Fräulein Oehrn, bei der er wohnt. Sie protegiert ihn sozusagen in Allem.“
„Ist seine Frau mit?“ fragte Jenny nach einer Weile.
„Nein, sie sind jetzt geschieden. Die Aermste, sie verlor ihren kleinen Jungen im Frühling, ich las es in der Zeitung.“
Dann begann Cesca von anderen Dingen zu sprechen.
Als Jenny sich aber niedergelegt hatte, schlich sie zu ihr hinüber. Sie kroch ins Himmelbett hinauf, setzte sich ans Fußende, zog die Beine hoch und deckte ihren Nachtrock darüber. Die Arme über die Knie verschränkt, saß sie in der weißen Dämmerung des Bettes; das schwarzhaarige Köpfchen hob sich wie ein dunkler Schattenfleck gegen die hellen Gardinen ab.
„Du, ich reise morgen nach Hause. Ich telegraphiere morgen früh an Lennart, und mittags fahre ich dann. Du weißt ja, Jenny, daß du durchaus hier bleiben darfst, solange du Lust hast. Du mußt mich nicht für rücksichtslos halten, aber ich wage es nicht, ich reise sofort.“
Sie atmete schwer.
[S. 250]
„Ich verstehe es nicht, Jenny. Ich habe mit ihm gesprochen und er hat mich geküßt, und doch schlug ich nicht nach ihm. Ich hörte allem zu, was er mir sagte, und ich schlug ihm nicht einmal mitten ins Gesicht. Ich liebe ihn nicht mehr, das weiß ich jetzt, und dennoch hat er diese Macht über mich. Weißt du, daß ich Furcht habe? Ich wage nicht hierzubleiben, denn ich weiß nicht, wozu er mich verleiten könnte. Wenn ich jetzt an ihn denke , so hasse ich ihn, aber ich werde geradezu versteinert, wenn er spricht. Ich kann nicht verstehen, daß ein Mensch so zynisch sein kann, so brutal, so schamlos ! Es ist geradezu, als könne er nicht begreifen, daß es etwas gibt, was Ehre und Scham heißt. Er rechnet nicht damit und glaubt nicht, daß es andere tun. Er geht ohne weiteres davon aus, daß es nur aus Berechnung geschieht, wenn wir anderen an Recht und Unrecht glauben. Es ist mir, als hypnotisierte er mich damit. Denk dir, ich bin den ganzen Nachmittag mit ihm zusammen gewesen, und ich hörte mir an, was er sagte. Ach Gott, er sprach davon, daß ich jetzt verheiratet sei und daß ich nun meiner Tugend wegen nicht so zimperlich zu sein brauchte oder wie er sagte. Uebrigens deutete er an, daß er jetzt frei sei und daß ich mir irgendwie Hoffnungen machen dürfte, glaube ich. Er küßte mich im Park, und mir war, als müßte ich aus vollem Halse schreien, aber ich konnte nicht einen Laut hervorbringen. O Gott, wie war mir Angst! Er sagte, er käme übermorgen hier hinaus — morgen haben sie große Gesellschaft. Und die ganze Zeit ging er mit dem Lächeln umher, vor dem ich schon früher solche Furcht hatte. —
Muß ich nicht reisen, wenn es so mit mir steht?“
„Doch, Cesca.“
„Ich bin sicher eine Gans. — Aber du begreifst —“ rief sie plötzlich heftig aus. „Ich wage es nicht, mich auf mich selbst zu verlassen. Aber eines kannst du mir glauben: wäre ich Lennart untreu geworden, weiß Gott, ich ginge geradenwegs zu ihm und erzählte es ihm, und dann brächte ich mich sofort vor seinen Augen um —.“
[S. 251]
„Liebst du deinen Mann?“ fragte Jenny leise.
Franziska schwieg einen Augenblick.
„Ich weiß es nicht. Wenn ich ihn richtig lieb hätte, so wie man soll, dann hätte ich keine Angst vor Hans Hermann. Meinst du nicht auch, daß ich Hans dann hätte ohrfeigen müssen, wenn er mich so behandelte und mich küßte? Aber jedenfalls weiß ich, daß ich nicht würde weiterleben können, wenn ich Lennart Unrechtes angetan hätte, verstehst du. Während ich Franziska Jahrmann war, war ich nicht weiter vorsichtig mit dem Namen. Aber jetzt heiße ich Franziska Ahlin. Und hätte ich nur den Schatten eines Mißtrauens auf diesen Namen fallen lassen — seinen Namen — so verdiente ich, daß er mich wie eine Dirne niederschösse. Dazu ist Lennart nicht imstande, aber ich bin es, das weiß ich —.“
Sie löste ihre Glieder plötzlich aus der verschlungenen Stellung und schmiegte sich dicht an Jenny.
„Nicht wahr, du glaubst an mich? Meinst du wohl, daß ich leben könnte, wenn ich etwas Ehrloses getan hätte?“
„Nein, Cesca.“ Jenny zog sie an sich und küßte sie. „Ich glaube nicht, daß du es könntest.“
„Ich weiß nicht, was Lennart denkt. Er versteht mich nicht, siehst du. Wenn ich aber nach Hause komme, so sage ich ihm alles. Wie es ist. Das muß sein.“
„Cesca,“ sagte Jenny sanft. Aber dann wollte sie doch nicht fragen, ob Cesca glücklich war.
Aber Cesca begann von selbst zu erzählen.
„Ich habe es die ganze Zeit über schwer gehabt, siehst du. Es ist nicht alles so einfach gegangen, das kannst du glauben. Ich war in vieler Beziehung so unvernünftig, als ich mich verheiratete. Ich nahm Lennart ja, weil Hans wieder anfing, mir zu schreiben, nachdem er geschieden war, und weil er schrieb, daß er mich jetzt haben wollte . Ich hatte aber vor ihm Angst und wollte nicht wieder mit dergleichen beginnen. Das alles sagte ich Lennart, und er war so fein und lieb; er verstand alles und ich fand, er sei der großartigste Mensch auf der [S. 252] ganzen Welt. Das ist er auch, das weiß ich sehr gut. Aber dann tat ich etwas Entsetzliches. Lennart kann es nicht verstehen und ich weiß, er wird es mir nie verzeihen. Vielleicht ist es verkehrt von mir, es zu erzählen, aber ich verstehe es doch nicht, Jenny. Ich muß einen Menschen fragen, ob es so schlimm ist, daß ein Mann es nie verzeihen kann. Und du mußt mir ganz offen antworten, ganz offen, hörst du, ob du glaubst, daß es nie wieder gutzumachen ist .... Wir reisten nachmittags, nach Rocca di Papa, nachdem wir getraut waren. Du weißt ja, welch furchtbare Angst ich davor hatte und wie mir davor graute. Dann am Abend, als Lennart mich in unser Zimmer führte und ich das große Doppelbett sah, begann ich fürchterlich zu weinen. Lennart war aber so lieb — ich sollte dem entgehen, so lange ich selbst wollte. Das war an einem Sonnabend. Wir hatten es nicht besonders gemütlich, das heißt Lennart nicht, glaube ich. Ich wäre ja heilfroh, auf diese Art verheiratet zu sein. Jeden Morgen, wenn ich erwachte, war ich so dankbar, aber ich durfte fast nicht meinen eigenen Gatten küssen. Dann am Mittwoch waren wir auf den Gipfel des Monte Cavo hinaufgestiegen. Es war so wunderbar schön dort oben. Wir schrieben Ende Mai und die Sonne schien. Der Kastanienwald, eben aufgesprungen, leuchtete, der Goldregen blühte wie toll an den Hängen herab, und am Wege entlang standen unzählige weiße Blumen und Lilien. Die Luft war ganz dunstig von der Sonne — es hatte einige Stunden vorher geregnet — und der Nemisee und Albanersee lagen silberweiß vor uns unter dem Waldabhang, umgeben von all den kleinen weißen Städten. Drüben die ganze Campagna und Rom in einen weißen Nebelschleier gehüllt. Und ganz fern das Mittelmeer wie ein matter Goldrand am Horizont. O, es war so herrlich, so herrlich, und ich fand das Leben so wunderbar, nur Lennart war traurig. — Ich fühlte, er war der vorzüglichste Mensch auf der Welt und ich hatte ihn so grenzenlos lieb, das andere war nur furchtbarer Unsinn, das empfand ich plötzlich. Da schlang ich die Arme um [S. 253] seinen Hals und sagte: ‚Jetzt will ich ganz dein werden, denn ich liebe dich —.‘“
Cesca schwieg und atmete schwer.
„Ach Gott, Jenny, der Junge wurde so glücklich, der Aermste.“ Sie verschluckte ihre Tränen. „Ja, er wurde froh. ‚Jetzt,‘ sagte er, ‚hier?‘ Er nahm mich auf den Arm und wollte mich in den Wald hineintragen. Ich aber wehrte mich und sagte: ‚heute Nacht, heute Nacht!‘ O, Jenny, ich verstehe ja nicht, warum ich es tat, eigentlich wollte ich es aber doch. Es wäre schön gewesen, in dem tiefen Wald mit der Sonne über uns. Aber ich tat, als wollte ich nicht — Gott mag wissen, warum. Dann am Abend, als ich mich zur Ruhe gelegt und nun die vielen Stunden hindurch auf diesen Augenblick gewartet hatte, als dann Lennart kam — ja, da begann ich denn wieder zu heulen —. Doch da raste er hinaus, siehst du, und blieb die ganze Nacht über weg. Ich lag wach. Ich weiß nicht, wo er geblieben war. Wir reisten am nächsten Vormittag nach Rom zurück und wohnten im Hotel. Lennart mietete zwei Zimmer, aber ich ging zu ihm hinein. Schön war es aber dann nicht mehr. Seitdem ist es zwischen mir und Lennart nie wieder gut geworden. Ich verstehe wohl, daß ich ihn furchtbar gekränkt haben muß. Aber du sollst mir sagen, Jenny, ob du glaubst, daß ein Mann so etwas vergessen oder verzeihen kann?“
„Er müßte später eingesehen haben,“ sagte Jenny leise und unsicher, „daß du es damals nicht verstandest, die Gefühle nicht kanntest, die du gekränkt hast.“
„Nein.“ Cesca erschauerte. „Ich verstehe es jetzt. Ich verstehe, daß es etwas Fleckenloses, Reines und Schönes war, das ich beschmutzte. Aber ich wußte es damals nicht. Jenny — kann eines Mannes Liebe das niemals überwinden?“
„Sie müßte es können. Du hast ja späterhin bewiesen, daß du seine gute, treue Frau sein wolltest. Jetzt im Winter rackertest du dich ab, mühtest du dich ab und [S. 254] klagtest nicht. Im Frühling, als er krank war, wachtest du Nacht für Nacht, pflegtest ihn Woche für Woche.“
„Das war ja gar nichts,“ sagte Cesca eifrig. „Er war so gut und geduldig und half mir, so viel er konnte, bei meiner mühevollen Arbeit, wie du es nennst. Und während seiner Krankheit kamen hin und wieder Freunde von ihm und halfen bei der Nachtwache. In der Woche, als er fast im Sterben lag, hatten wir übrigens auch eine Schwester, aber ich wachte trotzdem, weil ich so gern wollte, verstehst du, aber ich hätte es natürlich nicht nötig gehabt.“
Jenny küßte Cesca auf die Stirn.
„Aber etwas habe ich dir noch nicht erzählt, Jenny. Ja, du hast mich auch vor dem gewarnt, wofür mir der Instinkt fehlte, und Gunnar hatte gescholten. Fräulein Linde sagte sogar einmal frei heraus, weißt du noch, daß ein Mann, wenn man ihn aufreizte, zu einer anderen ginge —.“
Jenny erstarrte vor Schreck.
Cesca nickte in die Kissen:
„Ja, ich fragte ihn also so etwas Aehnliches — an jenem Morgen —.“
Jenny lag vollkommen sprachlos da.
„Ich kann mir denken, daß er das nicht vergessen kann. Und nicht verzeihen. Wenn er es nur ein wenig entschuldbar fände, sich vorstellen könnte, wie grenzenlos unerfahren ich alles ansah. Aber später —“ Sie suchte nach Worten. „Es ist — so unharmonisch zwischen uns geworden — alles. Es ist, als wollte er mich nicht anrühren; geschieht es, dann ist es gegen seinen Willen und hinterher ist er böse, sowohl auf sich selbst als auf mich. Trotzdem ich versucht habe, es ihm zu erklären. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht recht, was eigentlich dabei ist. Ich habe keinen Widerwillen mehr dagegen, wenn ich ihm eine Freude damit machen kann. Alles, womit ich Lennart eine Freude bereiten kann, ist gut und schön für mich. Er glaubt, es seien Opfer, aber das ist nicht wahr, im Gegenteil. O, ich habe Nacht [S. 255] für Nacht in meinem Zimmer geweint, weil ich wußte, er sehnte sich nach mir, ich habe versucht, ihn herbeizulocken, Jenny, mit dem Bißchen, das ich konnte — und er stößt mich von sich —. Ich habe ihn so gern, Jenny. Sag mir, kann man nicht sehr gut einen Mann auf diese Art liebhaben? Kann ich nicht sehr gut sagen, ich liebe Lennart?“
„Doch, Cesca.“
„O, wie verzweifelt war ich! Aber ich kann doch nichts dafür, daß ich so geschaffen bin. Dann, wenn wir mit anderen Künstlern ausgingen, war er schlechter Stimmung. Er sagt nichts, aber ich weiß, er findet, daß ich mit ihnen kokettiere. Das ist sicher wahr, denn ich werde guter Laune, wenn ich auswärts essen darf und einen Abend kein Essen zu kochen und hinterher nicht aufzuwaschen brauche. Manchmal war ich auch froh, nicht mit Lennart allein sein zu müssen, trotzdem ich ihn gern habe und er mich — das tut er, o ja, das weiß ich wohl, und frage ich ihn danach, so sagt er: das weißt du ja, und lacht dann so seltsam und bitter. Aber er vertraut mir nicht, weil ich ihn nicht so — sinnlich — lieben kann und trotzdem kokett bin. Einmal sagte er, ich ahnte ja nicht, was Liebe bedeute, und es wäre wohl seine Schuld, daß er mich nicht habe erwecken können, es würde aber vielleicht ein anderer kommen — o Gott, wie ich weinte. Dann jetzt im Frühjahr. Du weißt ja, wir haben nicht viel zum Leben. Gunnar verkaufte mir das Stilleben, das ich vor drei Jahren ausgestellt hatte, für dreihundert Kronen. Wir lebten viele Monate von diesem Geld, aber Lennart mochte nicht, daß wir Geld verbrauchten, das ich verdient hatte. Ich verstehe ja nicht, was das ausmachen soll, wenn wir uns liebhaben. Aber er sagt immer, daß er mich ins Elend hinabgezerrt habe. Schulden haben wir auch, natürlich. Ich wollte dann einmal an Papa schreiben und ihn bitten, mir einige hundert Kronen zu schicken. Aber das durfte ich nicht. Ich fand es so ungerecht — Borghild und Helga hatten zu Hause gelebt und alles von Papa bekommen. Er hat [S. 256] sie ins Ausland geschickt, während ich mich von dem kleinen Erbteil von Mama durchgespart und durchgeschlagen habe, seit ich mündig wurde, weil ich nicht einen Oere von Papa annehmen wollte, nachdem er das zu mir gesagt hatte, als ich mit Leutnant Kaarsen auseinanderging und dieses Gerede über mich und Hans entstand. Aber er hat es zurückgenommen und gibt jetzt zu, daß ich Recht hatte. Es war gemein, sowohl von Kaarsen als von denen zu Hause, mich zwingen zu wollen, weil er mich zu der Verlobung verleitet hatte, als ich siebzehn Jahre alt war und nicht wußte, daß eine Ehe etwas anderes bedeutet als das, was in den verdammten Backfischbüchern steht. Als ich anfing, es zu verstehen, wußte ich, daß ich mich lieber umbringen würde als mich mit ihm zu verheiraten. Hätten sie mich aber dazu gebracht — oh, ich wäre reizend geworden, ich hätte alle Liebhaber genommen, die ich hätte bekommen können, nur aus Trotz, um mich an ihnen allen zu rächen. Papa versteht es jetzt und hat gesagt, daß ich Geld von ihm bekommen könne, wenn ich wolle —. Als aber Lennart so krank war und so elend, als sie dann sagten, er müßte aufs Land, um gut zu leben, und als ich selbst so müde und elend war, da sagte ich zu ihm, daß ich aufs Land müßte, um mich auszuruhen, weil ich ein Kindchen bekäme. So durfte ich denn an Papa schreiben und um Geld bitten, wir reisten hinauf nach Vermland und lebten dort so herrlich, Lennart erholte sich gut und ich begann, wieder zu malen. Aber allmählich merkte er natürlich, daß ich doch kein Kind bekam. Als er fragte, ob ich mich nicht geirrt hätte, sagte ich ihm, ich hätte gelogen, denn ich wollte ihn jetzt nicht wieder belügen. Darüber ist er aber auch böse, das weiß ich. Ich glaube, er traut mir nicht recht und das ist so schrecklich. Wenn er mich verstände, so müßte er doch an mich glauben, meinst du nicht?“
„Doch, Cesca.“
„Ich habe es früher schon einmal gesagt, daß ich ein Kindchen bekommen würde — im Herbst, als er so traurig war und es uns so schlecht ging. Damit er [S. 257] fröhlich werden sollte und lieb zu mir. Das war er dann auch — o, du kannst dir nicht denken, wie herzlich es war. Ich hatte gelogen, aber denke dir, ich glaubte zum Schluß selber daran, daß es wahr wäre. Ich meinte, Gott würde es so einrichten, damit ich ihn nicht zu enttäuschen brauchte. Aber daraus wurde freilich nichts. Ich bin so verzweifelt, daß ich kein Kind bekomme. Jenny, glaubst du, daß es wahr ist: manche sagen —“ sie flüsterte bebend — „daß eine Frau, die keine solche — Leidenschaft empfinden kann, keine Kinder bekommt?“
„Nein,“ sagte Jenny hart. „Das ist bestimmt nur Unsinn.“
„Ich weiß ganz sicher, daß dann alles gut würde. Lennert wünscht es so furchtbar. Und ich — ja, ich glaube, ich würde ein wahrer Engel werden aus Freude, wenn ich mein eigenes Kindchen hätte. Kannst du dir so etwas wunderbar Schönes vorstellen?“
„Ja,“ flüsterte Jenny mühsam. „Wenn ihr euch doch liebt. Es würde über viele Hindernisse hinweghelfen.“
„Ach gewiß. Wenn es nicht so peinlich wäre, würde ich einmal zu einem Arzt gehen. Ich glaube übrigens, daß ich es eines Tages tue. Meinst du nicht, daß ich es sollte? Wenn ich mich nur nicht so genierte — aber das ist dumm. Es ist ja übrigens einfach meine Pflicht, wenn ich verheiratet bin. Ich kann ja zu einer Aerztin gehen, zu einer verheirateten Frau, die Kinder und alles hat. O denk dir nur: ein kleines winziges Wesen, das einem selbst gehört, wie froh würde Lennart sein!“
Jenny biß in der Dunkelheit die Zähne zusammen.
„Meinst du nicht, daß ich morgen reisen sollte?“
„Doch.“
„Ich sage Lennart alles. Ich weiß nicht, ob er es verstehen wird, wenn ich es auch selbst nicht kann. Aber ich will ihm immer die Wahrheit sagen. Muß ich das nicht, Jenny?“
„Wenn du es für richtig hältst, so sollst du es tun. Ach, Cesca, man sollte immer das tun, was man für [S. 258] recht hält und niemals das, wovon man nicht sicher weiß, ob es richtig ist, Cesca.“
„Ja, das ist wahr! Gute Nacht, meine Jenny, ich danke dir.“ Sie drückte plötzlich die Freundin heftig an sich. „Es ist so herrlich, sich mit dir auszusprechen. Du verstehst es so gut, mich richtig zu nehmen. Du — und Gunnar. Ihr bringt mich immer auf den rechten Weg. Ich wüßte nicht, was ich ohne dich tun sollte.“
Sie stand einen Augenblick neben dem Bett:
„Kannst du nicht im Herbst über Stockholm fahren? O, tu es doch! Du kannst bei uns wohnen, ich bekomme jetzt tausend Kronen von Papa, das soll nämlich auch Borghild für eine Pariser Reise erhalten.“
„Ich weiß nicht recht. Ich hätte schon Lust?“
„Ach tu es doch! Bist du schläfrig? Soll ich gehen?“
„Ja, ich bin ein wenig müde.“ Sie zog Cesca zu sich herab und küßte sie. „Gott behüte dich!“
Cesca schlürfte mit den bloßen Füßen über den Fußboden. In der Tür sagte sie mit ihrer kleinen traurigen Kinderstimme:
„Ich wünschte so sehr, daß Lennart und ich glücklich würden, du!“
Gert und Jenny gingen unter den mageren Nadelbäumen Seite an Seite über den Weg hinab. Einmal stand er still und pflückte einige vertrocknete Erdbeeren, sprang ihr nach und steckte sie ihr in den Mund. Sie lächelte ein wenig zum Dank und er nahm ihre Hand, während sie hinunter gingen, dem Wasser zu, das hinter den Bäumen unter der Sonnenbrücke bläulich schimmerte.
Er sah fröhlich und jung aus in dem hellen Sommeranzug. Der Panamahut verbarg sein Haar.
Jenny setzte sich an den Waldrand und Gert streckte sich vor ihr im Schatten der großen Hängebirken aus.
Es war glühend heiß und still. Der Grashügel, der am Strande auslief, war gelbgefärbt vom Sonnenbrand. [S. 259] Ueber Nesodden stand eine metallblaue Dunstwolke, hinter deren Rand einige Wölkchen hervorglitten, rauchgelb und weißlich. Der Fjord breitete sich lichtblau aus, von quirlenden Stromstreifen unterbrochen; die Segler weit draußen lagen still und weiß auf der Fläche und der Rauch der Dampfschiffe stand unendlich lange in grauen Streifen in der schwülen Luft.
Aber zwischen den Steinen, die von der Ebbe bloßgelegt waren, rieselte das Wasser, und die rankenartigen Zweige der Hängebirken bewegten sich ganz sacht über ihnen, indem hin und wieder ein Blatt, in der Trockenheit verdorrt, herniedersank.
Gert nahm eines, das sich in ihrer lichten Haarflut verfangen hatte, fort, sie hatte den Hut abgelegt. Er betrachtete das Blatt:
„Ist es nicht sonderbar, daß es in diesem Jahre nicht regnen kann, du? Ihr Frauen habt es gut, ihr dürft so dünn gekleidet gehen. Dein Kleid sieht übrigens wie Halbtrauer aus, wenn du nicht die hellrosa Perlen trägst, aber es steht dir außerordentlich gut!“
Das Kleid war weiß und durchsichtig, mit kleinen schwarzen Blumen gemustert, überall gekräuselt und von einem strammen schwarzseidenen Gürtelband zusammengehalten. Der Strohhut, den sie im Schoß hatte, war ebenfalls schwarz, mit schwarzen Sammetrosen geziert. Nur die blaßroten Krystallperlen leuchteten auf der reinen Haut des Halses.
Er beugte sich vor, so daß er ihren Fuß gerade über dem Ausschnitt des Schuhes küssen konnte. Dann strich er mit zwei Fingern über die feine Biegung des Spanns mit dem durchsichtigen Strumpf und faßte um ihre Knöchel.
Kurz darauf schob sie behutsam seine Hand zurück, er griff nach der ihren, hielt sie fest und lächelte zu ihr empor. Sie lächelte zurück, dann drehte sie den Kopf nach der anderen Seite.
„Du bist so still, Jenny, ist dir die Wärme lästig?“
„Ja,“ sagte sie. Dann schwiegen sie wieder.
[S. 260]
Ein Stück Weges von ihnen entfernt, dort wo sich ein Villengarten bis zum Wasser erstreckte, trieben einige halbwüchsige Jungen auf der Badehausbrücke ihr Spiel. Oben im Hause schnarrte ein Grammophon. Ab und zu wehten Klänge der Musik vom Seebade zu ihnen herüber.
„Du, Gert —“ Jenny hielt plötzlich seine Hand fest. „Wenn ich einige Tage oben bei Mama gewesen und dann wieder in die Stadt zurückgekehrt bin, reise ich fort.“
„Wieso?“ Er stützte sich auf seinen Ellenbogen. „Wohin willst du reisen?“
„Nach Berlin,“ sagte Jenny. Sie fühlte selbst, wie ihre Stimme zitterte.
Gert blickte ihr ins Gesicht, schwieg aber still. Auch sie sprach nicht.
Schließlich meinte er:
„Wann hast du dich dazu entschlossen?“
„Eigentlich ist es die ganze Zeit hindurch meine Absicht gewesen — das weißt du ja — wieder ins Ausland zu gehen —“
„Ja, gewiß. Aber, wann hast du dich entschlossen, jetzt zu reisen?“
„Im Sommer auf Tegneby.“
„Ich wünschte, du hättest es mir eher gesagt, Jenny,“ sagte Gram. Obgleich seine Stimme leise und ruhig klang, schnitt sie ihr in die Seele.
Sie zögerte.
„Ich wollte es dir sagen , Gert. Nicht schreiben, sondern sagen. Als ich an dich schrieb und dich bat, gestern hierher zu kommen, hatte ich es dir sagen wollen. Aber ich kam nicht dazu —.“
Sein Antlitz färbte sich steingrau.
„Ich verstehe. Aber Gott des Himmels, Kind, wie mußt du es schwer gehabt haben!“ rief er plötzlich aus.
„Ja,“ sagte Jenny ruhig. „Am meisten deinetwegen, Gert. Ich bitte dich nicht, mir zu verzeihen.“
„Ich — dir? Ach, du großer Gott, kannst du mir verzeihen, Jenny —? Ich ahnte ja, daß dieser Tag kommen würde.“
[S. 261]
„Das ahnten wir wohl beide,“ sagte sie wie vorher.
Er warf sich plötzlich auf den Boden und bohrte das Gesicht in den Sand. Sie beugte sich nieder und legte ihre Hand auf seinen Nacken.
„Kleine, kleine, kleine Jenny — oh, kleine Jenny, was habe ich dir getan!“
„Lieber —“.
„Mein weißes Vögelchen, habe ich dich mit meinen häßlichen, schmutzigen Fäusten berührt, deine weißen Flügel befleckt?“
„Gert!“ Sie ergriff seine Hände und sprach schnell und heftig. „Hör zu. Du hast mir doch nur Gutes erwiesen, ich bin es ja, die —. Ich war so müde, und du botest mir eine Ruhestätte, ich fror, und du wärmtest mich. Ich mußte ausruhen und ich mußte gewärmt werden, ich mußte fühlen, daß ein Mensch mich liebte. Herrgott, Gert, ich wollte dich nicht betrügen, aber du konntest es nicht verstehen, ich hätte dir niemals erklären können, daß ich dich auf andere Art liebte, so — armselig. Kannst du nicht begreifen?“
„Nein, Jenny. Ich glaube nicht daran, daß ein junges, unschuldiges Mädchen einem Manne alles schenkt, wenn sie nicht sicher meint, ihre Liebe würde immer dauern.“
„Das gerade bitte ich dich, mir zu vergeben. Ich wußte, daß du es nicht verstehen würdest, und ich nahm dennoch alles hin, was du mir gabst. So wurde es eine Qual für mich selbst — schlimmer und schlimmer, und ich fühlte, ich war nicht imstande, so fortzufahren. Ich habe dich doch gern, Gert, aber wenn ich nur annehmen soll und in Wahrheit nichts besitze, womit ich es dir vergelten kann ...“
„Wolltest du mir das gestern sagen,“ fragte Gert kurz darauf.
Jenny nickte.
„Und statt dessen —“.
Er wurde glühend rot.
[S. 262]
„Ich konnte nicht, Gert. Du kamst so froh an. Ich wußte, daß du gewartet und dich gesehnt hattest.“
Er erhob brüsk den Kopf:
„Das hättest du nicht tun sollen, Jenny. Nein. Hättest mir nicht so ein — Almosen geben sollen.“
Sie bedeckte ihr Gesicht. Die qualvollen Stunden fielen ihr ein, die sie oben in ihrem verstaubten Atelier in der sonnendurchglühten, eingeschlossenen Luft zugebracht, in steter Ruhelosigkeit umhergehend, aufräumend und ihn erwartend, während ihr Herz sich vor Schmerz zusammenkrampfte. Aber sie war nicht fähig, es ihm zu sagen.
„Ich war mir über mich selbst nicht klar, als du kamst. Ich dachte einen Augenblick — ich wollte versuchen.“
„Almosen.“ Er schüttelte einen Augenblick schmerzlich das Haupt. „Die ganze Zeit, Jenny — alles was du mir gabst!“
„Gert, ich bin es ja, die von dir Almosen entgegengenommen hat — immer — begreifst du denn nicht?“
„Nein,“ sagte er heftig. Er preßte sein Gesicht wieder in den Boden.
Nach kurzer Zeit erhob er den Kopf:
„Jenny, ist da — irgend ein anderer?“
„Nein,“ sagte sie heftig.
„Glaubst du, ich würde dir einen Vorwurf machen, wenn ein anderer zwischen uns getreten wäre, ein junger Mensch — deinesgleichen? Ich würde das besser verstehen.“
„Kannst du dir denn nicht denken —? Ich finde nicht, daß daran ein anderer Schuld sein muß.“
„Nein, nein.“ Er glitt wieder nieder. „Ich fände es natürlicher. — Als mir dann einfiel, was du mir geschrieben hattest, daß Heggen auf Tegneby gewesen und nach Berlin gefahren ist —.“
Jenny wurde wieder blutrot:
„Glaubst du denn, ich hätte — gestern —“.
Gert schwieg. Kurz darauf sagte er müde:
„Ich verstehe dich ja doch nicht.“
[S. 263]
Da schoß plötzlich in ihr das Verlangen hoch, ihm wehe zu tun:
„Einesteils kann man doch sagen, eine zweite oder dritte Person spielt eine Rolle dabei.“
Er sah auf, fragend. Dann griff er plötzlich nach ihr:
„Jenny, Herr Jesus — was meinst du —!“
Sie bereute es schon, rot und hastig sagte sie:
„Nun — meine Arbeit — also die Kunst.“
Gert Gram hatte sich vor ihr auf die Knie erhoben:
„Jenny — ist etwas — Besonderes — du sollst die Wahrheit sagen — du darfst nicht lügen. Ist etwas mit dir vorgefallen? — Sprich —“
Einen Augenblick versuchte sie, ihm frei in die Augen zu schauen. Dann senkte sie den Kopf. Gert Gram aber sank vorn über, das Gesicht in ihrem Schoß bergend:
„O Gott, o Gott. Ach Gott im Himmel —“
„Gert! Lieber, Lieber! Ach, nicht doch Gert! Du reiztest mich mit deinen Vermutungen über einen anderen,“ sagte sie gedemütigt. „Ich hätte es nicht sagen sollen. Ich hatte nicht die Absicht, es dir zu sagen — vielleicht später.“
„Das hätte ich dir nie verziehen,“ sagte Gram. „Wenn du es mir nicht gesagt hättest. Aber — du mußt es doch schon eine Zeitlang gewußt haben,“ meinte er plötzlich. „Weißt du — wie weit du bist?“
„Im dritten Monat,“ sagte sie kurz.
„Aber Jenny,“ er faßte entsetzt ihre beiden Hände, „jetzt kannst du dich ja nicht — von mir trennen, so ohne weiteres, meine ich. Jetzt können wir ja nicht auseinandergehen.“
„Doch.“ Sie strich ihm liebkosend über das Gesicht. „Doch. Wäre es nicht so gekommen, so hätte ich es wohl noch eine Zeitlang so weitergetrieben. Aber jetzt mußte ich der Sache in die Augen schauen — und alles klarstellen.“
Er lag eine Weile still da.
„Hör einmal zu, Kind. Du weißt, ich wurde im vergangenen Monat geschieden. In zwei Jahren bin ich [S. 264] frei. Dann komme ich zu dir. Ich gebe dir — und dem da — meinen Namen. Ich verlange nichts, verstehst du — nichts . Aber ich fordere mein Recht, dich wieder aufzurichten, wie ich es dir schuldig bin. Weiß Gott, ich werde genug darunter leiden, daß es nicht eher sein kann. Aber ich verlange nichts, das ist selbstverständlich. Du sollst nicht im geringsten an mich alten Mann gebunden sein —“
„Gert. Ich bin froh, daß du von ihr geschieden bist. Aber ich sage dir ein für allemal: ich heirate dich nicht, wenn ich nicht deine richtige Frau werden kann. Es ist nicht der Jahre wegen, die zwischen uns liegen. Hätte ich nicht das Gefühl, Gert, daß ich niemals ganz dein gewesen bin, wie es hätte sein sollen, so bliebe ich bei dir, als dein Weib, solange du jung wärst, als deine Freundin, wenn das Alter käme, deine Krankenschwester, gern, willig und glücklich. Aber ich weiß, ich kann dir nicht das sein, was eine Frau sein soll. Um der Leute willen gehe ich aber nicht hin und verspreche etwas, was ich nicht halten kann, weder vor dem Pfarrer, noch dem Bürgermeister.“
„Oh, aber Jenny, das ist doch Wahnsinn von dir.“
„Du bringst mich jedenfalls nicht davon ab,“ sagte sie hastig.
„Ja, aber Kind, was willst du denn tun? Nein, ich kann es nicht zulassen. Was soll denn mit dir werden? Kleines, du mußt verstehen — du mußt mich dir helfen lassen, Jenny.“
„Still, lieber Freund. Du siehst ja, ich trage es ganz ruhig. Wenn man erst davorsteht, ist es eigentlich nicht so gefährlich, wie man sich immer einbildet. Glücklicherweise habe ich noch etwas Geld.“
„Aber die Menschen, Jenny — sie werden häßlich gegen dich sein — dich in Verruf bringen.“
„Das vermag niemand. Meine einzige Schande ist, Gert, daß ich dich deine Liebe an mir verschwenden ließ.“
„Ach, dieser Unsinn! Nein, aber die Leute — du weißt nicht, wie herzlos sie sind, wie sie dich mit ihrer [S. 265] Bosheit mißhandeln, dich kränken und dich verletzen werden.“
„Daraus mache ich mir nicht viel, Gert.“ Sie lachte ein wenig. „Uebrigens bin ich Gott sei Dank Künstlerin. Man erwartet fast nichts anderes von uns, als daß wir hin und wieder einen Skandal heraufbeschwören.“
Er schüttelte den Kopf. Aus einem plötzlichen, verzweifelten Reuegefühl darüber, daß sie es ihm gesagt, daß sie ihm wehgetan hatte, zog sie ihn fest an sich:
„Du Lieber, du darfst nicht so unglücklich sein, hörst du? Ich bin es auch nicht, wie du siehst. Im Gegenteil, manchmal bin ich froh. Wenn ich versuche, richtig darüber nachzudenken, was es eigentlich bedeutet, daß ich ein Kind bekomme, mein eigenes, kleines, süßes Kind, so kann ich es gar nicht fassen. Ich glaube sicher, daß ich glücklich werde, so glücklich, daß ich es mir noch gar nicht vorstellen kann. Ein lebendiges, kleines Menschlein, das nur mir gehört, das ich lieben, für das ich leben und arbeiten werde. Manchmal denke ich, daß erst jetzt Sinn in mein Leben und meine Arbeit kommt. Glaubst du vielleicht nicht, daß ich mir einen Namen machen könnte, der für mein Kind gut genug ist, Gert? Nur das macht mich noch etwas mutlos, daß ich noch nicht recht weiß, wie es wird, und dann, daß du so traurig bist. O Gert, ich bin vielleicht arm und nüchtern, egoistisch und all so etwas, aber ich bin schließlich eine Frau, ich muß mich doch darüber freuen, daß ich Mutter werde.“
„Jenny.“ Er küßte ihre Hände. „Arme, kleine tapfere Jenny. Es ist beinahe noch schlimmer für mich, daß du es so auffaßt,“ sagte er leise.
Jenny lächelte weh:
„Oh, es wäre doch wohl schlimmer für dich, wenn ich es anders auffaßte.“
[S. 266]
Zehn Tage später reiste Jenny nach Kopenhagen. Die Mutter und Bodil Berner gaben ihr in der frühen Morgenstunde das Geleite zum Bahnhof.
„Du hast es gut, du Glückspilz,“ sagte Bodil und lachte über ihr ganzes weiches braunes Gesichtchen. Dann gähnte sie, daß die Tränen ihr in die Augen stiegen.
„Es muß auch solche geben.“ Jenny lachte ebenfalls. „Dir geht es auch nicht gerade schlecht, finde ich.“
Aber sie fühlte mehr und mehr, daß sie nahe daran war, in Tränen auszubrechen, während sie ihre Mutter zum Abschied küßte. Sie stand am Abteilfenster und starrte sie an. Ihr war, als hätte sie diese ganze Zeit hindurch ihre Mutter niemals richtig angesehen. Diese schlanke und schmächtige, ein wenig gebeugte Gestalt. Man sah fast nicht, wie grau das Haar geworden, so blond war Frau Berner. In ihren Zügen lag etwas seltsam Unberührtes, Mädchenhaftes, trotz der vielen Fältchen. Aber es war, als ob die Jahre und nicht das Leben ihr Gesicht gezeichnet hatten. Trotz allem, was sie durchgemacht hatte.
Wenn sie es nun einmal erführe. Nein, Jenny würde nie den Mut haben, es zu sagen und zuzusehen, wie die Mutter den Schlag ertragen würde. Sie, die nichts gewußt hatte und nichts verstehen würde. Hätte Jenny nicht fortreisen können — dann wußte sie, hätte sie es nicht überlebt. Nicht aus Liebe, aus Feigheit. Einmal mußte sie es ja sagen, und von draußen her war sie eher dazu imstande.
In dem Augenblick, als der Zug anruckte und davon zu gleiten begann, erblickte sie Gert. Er kam langsam den Bahnsteig herauf; hinter den anderen, Mutter und Schwester, die mit ihren Taschentüchern winkten, grüßte er herüber. Wie bleich er war.
Der erste September. Jenny saß am Fenster und sah hinaus in die vorübergleitende Landschaft.
Es wurde ein schöner Tag. Die Luft war so klar und frisch, der Himmel so dunkelblau und die Wolken so weiß. [S. 267] Der Tau lag schwer und grau über den saftiggrünen Wiesen, auf denen der Margueriten später Flor schimmerte. Nach dem heißen Sommer waren die Birken am Waldrande ganz gelb und über den Waldboden hin schlängelte sich kupferrotes Blaubeerengebüsch. Die Büschel der Ebereschen waren blutrot, aber an einer etwas tiefgelegenen fruchtbaren Stelle hingen sie noch dunkelgrün im Laub. Welche Farben!
Auf den kleinen Hügeln zwischen den Wiesen lagen die alten, silbergrauen Gehöfte, auch neue, weißschimmernde und gelbe, mit roten Nebengebäuden. Davor standen alte verkrüppelte Apfelbäume mit gelben und glasgrünen Früchten in dunklem Laub.
Immer wieder blendeten Tränen ihren Blick. Wenn sie zurückkehrte — ob sie jemals hierher zurückkam?
Bei Moß trat der Fjord leuchtend blau hervor. Die Stadt zog sich mit ihren roten Fabrikmauern am Kanal entlang, die kleinen bunten Holzhäuser inmitten der Gärten lachten herüber. Sie hatte so oft gedacht, wenn sie vorüberfuhr, hier wollte sie sich einen Sommer über niederlassen und malen.
Der Zug brauste an der kleinen ländlichen Station vorüber, wo man nach Tegneby ausstieg. Jenny sah über die Aecker, dort lief die Fahrstraße. Der Hof lag weit drüben hinter dem Nadelwäldchen.
Sie erblickte den Kirchturm. Eigenartige kleine Cesca, sie ging oft in die Kirche, fühlte sich sicher und geborgen in der alten Stimmung, die dort überirdischen Kräften entsprang. Sie glaubte an etwas, wußte selbst nicht, was, aber sie hatte sich eine Art Gott zurechtgemacht.
Sie war doch froh darüber, daß Cesca jetzt besser mit ihrem Mann zusammenzuleben schien. Er habe sie nicht verstanden, schrieb sie, aber er sei doch so wunderbar zart und lieb gewesen, und fest davon überzeugt, daß sie mit Willen nie etwas Schlechtes tun würde.
Seltsame kleine Cesca. Ihr mußte es ja schließlich gut gehen. Cesca war rechtschaffen und gut. Gerade [S. 268] das aber war sie selber nicht, keines von beiden im eigentlichen Sinne.
Wenn sie nur der Mutter Tränen nicht sah, so konnte sie es eher ertragen, ihr Kummer zu machen. — Das hieß mit anderen Worten nur, sie fürchtete Tränen.
Und Gert. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Ein geradezu körperlicher Schmerz durchfuhr sie — Verzweiflung, Widerwillen, so tief, daß sie fast alle Kraft verlor und völlig gleichgültig wurde gegen alles.
Diese fürchterlichen letzten Tage in Kristiania mit ihm. Schließlich hatte sie nachgegeben.
Er wollte nach Kopenhagen kommen. Sie hatte versprechen müssen, irgendwo in Dänemark aufs Land zu gehen, wo er sie besuchen könnte. Gott mochte wissen, ob sie der Sache jemals würde ein Ende machen können.
Schließlich blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als ihm das Kind zu übergeben und ihn zu verlassen. Ja, denn alles, was sie ihm gesagt hatte, daß sie sich darauf freute und so weiter, war Lüge. Auf Tegneby hatte sie ein solches Gefühl des öfteren gehabt, denn dort hatte sie nur daran gedacht, daß es ihr Kind war und nicht das seine. Sollte es jedoch eine lebendige Fessel zwischen ihr und ihrer Schande werden, so wollte sie es um keinen Preis behalten. Sie würde es hassen müssen — sie haßte es ja schon, wenn sie an die letzten Tage in der Stadt dachte.
Das krankhafte Verlangen, aus Herzenslust zu schluchzen, war vorüber. Sie fühlte sich trocken und hart, als ob sie niemals wieder weinen könnte.
Eine Woche später, als Gert Gram kam, war sie so müde und gleichgültig, daß sie gute Laune vortäuschen konnte. Wenn er ihr vorgeschlagen hätte, in sein Hotel hinüberzuziehen, so hätte sie es getan. Sie veranlaßte ihn, mit ihr ins Theater zu gehen, außerhalb zu Abend zu essen und eines Tages bei schönem Wetter mit ihr nach Fredensborg zu fahren. Sie sah, daß es ihm gut tat, wenn sie sich munter und frisch gab.
[S. 269]
Sie dachte kaum mehr nach. Ohne Anstrengung konnte sie ihre Gedanken ausschalten. In Wirklichkeit war ihr Gehirn kraftlos. Wie ein dauerndes mahnendes Erinnern war es nur, daß sich ihr die Brust schmerzhaft spannte und daß das Korsett sie behinderte.
Jenny hatte sich bei einer Lehrerswitwe auf Westseeland eingemietet. Gram begleitete sie dorthinaus und reiste am Abend nach Kopenhagen zurück. So war sie endlich allein.
Sie hatte aufs Geratewohl gemietet. Während ihres Studienaufenthaltes in Kopenhagen war sie einen Tag über mit einigen Kameradinnen in dem Dorfe gewesen; sie hatten im Krug gegessen und bei den Dünen gebadet. Sie entsann sich, daß es dort schön war, und als auf ihre Anzeige eine Frau Rasmussen dort sich erboten hatte, die junge Dame aufzunehmen, die ihre Niederkunft erwartete, da griff sie zu.
Eigentlich fühlte sie sich wohl. Allerdings wohnte die Lehrerswitwe in einem elend häßlichen, winzigkleinen gelben Backsteinhaus etwas außerhalb des Dorfes, an der Landstraße, die sich staubig und ohne Ende zwischen offenen, bestellten Feldern hinzog. Aber Jenny mochte ihr Zimmer gern mit der Tapete in Berlinerblau und den Lithographien nach Exner an den Wänden, mit den weißen, gehäkelten Deckchen ringsumher, auf dem Bett, dem amerikanischen Schaukelstuhl und der Kommode, auf die Frau Rasmussen bei Jennys Ankunft einen großen Rosenstrauß gestellt hatte.
Draußen vor den beiden Fensterchen lief die Landstraße vorbei. Im Vorgärtchen blühten Rosen, Geranien und „Christi Blutstropfen“, ungeachtet all des Staubes, mit dem sie gepudert waren. Jenseits der Straße erhob sich ein nackter Hügelkamm im Acker. Steinwälle, an deren Hängen struppige, leuchtende Herbstblumen zwischen Brombeerhecken wucherten, teilten den Hügel in weiße Stoppelfelder, blaugrüne Rübenäcker und braungrüne Wiesen, umrändert von zackigen, zerzausten Weidenbüschen. War die Abendsonne aus Jennys Kammer geschwunden, [S. 270] so flammte der Himmel über dem Hügelkamm und den spärlichen Zweiglein der Weiden auf.
Hinter ihrem Zimmer ging eine kleine puppenstubenartige Küche mit rotem Backsteinfußboden, auf den Hof hinaus, wo die Hühner der Witwe gackerten und die Tauben gurrten. Ein kleiner Flur lief quer durch das ganze Haus. Auf der anderen Seite lag Frau Rasmussens Stube mit Blumen vor den Fenstern und gehäkelten Decken überall, Daguerreotypien und Photographien an den Wänden, einem kleinen Bücherschrank mit religiösen Schriften in schwarzem Pappeinband, einigen Jahrgängen von „Frem“ und Gyldendals Serien in Prachtbänden. Dahinter befand sich ein Zimmerchen, in dem die Luft immer merkwürdig dick war, und das ein unbestimmbarer Geruch erfüllte, obgleich es vor Sauberkeit blitzte. Hier schlief sie selbst und konnte nicht hören, wenn sich ihre Pensionärin jenseits des Ganges Nacht für Nacht in den Schlaf weinte.
Frau Rasmussen war übrigens nicht so schlimm. Groß und schlottrig schlürfte sie in einer Art von Filzschuhen leise umher; immer sah sie gleichmäßig sorgenvoll aus mit ihrem langen gelben Pferdegesicht, unter dem graugesprenkelten Haar, das mit einem drolligen kleinen Schwung über jedem Ohr weggestrichen war. Sie sprach fast gar nicht, höchstens stellte sie einige besorgte Fragen, ob das gnädige Fräulein mit dem Essen und dem Zimmer zufrieden sei. Selbst wenn Jenny nach dem Mittagessen sich hin und wieder mit ihrer Handarbeit in das Wohnzimmer zu Frau Rasmussen setzte, schwiegen sie still. Jenny war ihr besonders dafür dankbar, daß Frau Rasmussen niemals ihren Zustand erwähnte; nur ein einziges Mal hatte sie ängstlich gefragt, als Jenny mit ihrem Malgerät hinausging, ob das wohl dem gnädigen Fräulein nicht schaden könnte.
Sie arbeitete in der ersten Zeit eifrig, stand hinter einem Steinwall mit ihrer Feldstaffelei, die der scharfe Wind fast umblies. Unter dem Wall erstreckte sich das gelbe Stoppelfeld eines endlosen Roggenackers bis zum Moor hinab, wo sich weißes Wollgras an blauen Wasserlöchern [S. 271] hinzog, wo samtschwarze Torfmieten auf saftiggrünem Wiesengrund lagen. Hinter dem Sumpf wellte sich das Land mit grünen Rübenfeldern, Wiesen und gemähten Roggenäckern, mit kalkweißen Bauernhöfen in üppigen, dunkelgrünen Hainen — bis hinüber zum frischen, blauen Fjord. Der Strand lief in Bogen und Zungen, mit weißgelbem Sand und kurzem, vergilbtem Gras, in die See hinaus. Gegen Norden fiel der Hügel, vom Heidekraut braun gefärbt, mit der Windmühle auf der Spitze, in steilen, gelben Sanddünen zum blauen Fjord ab. Schatten und Licht wechselten auf dem offenen Lande ab, je nachdem wie die Wolken über den weißen, ewig blauen unruhigen Himmel wanderten.
Wenn Jenny müde wurde, legte sie sich am Walle nieder, starrte in den Himmel und über den Fjord. Sie konnte nicht längere Zeit hintereinander stehen, doch das reizte sie nur, weiterzuarbeiten. Zwei kleinere Bilder vollendete sie oben auf dem Wall, und freute sich selbst an ihnen. Eines malte sie vom Dorfe unten, wo die weißgekalkten Häuser, umgeben von Kletterrosen und Georginen, um einen sammetgrünen Dorfteich lagen. Ihre Strohdächer hingen bis über die Fensterscheiben hinab, die rote Backsteinkirche erhob ihren treppengiebligen Turm über die Laubmassen des Pfarrhausgartens. Es machte sie aber nervös, daß die Leute zu ihr kamen und ihr zusahen; die weißhaarigen Jungen umstanden sie in Knäueln, während sie malte. Als das Bild dann fertig war, zog sie mit ihrer Staffelei wieder hinauf zum Wall, der See entgegen.
Dann kam aber im Oktober der Regen; es goß ein oder zwei Wochen lang. Ab und zu klärte es sich etwas auf und ein trüber, gelber Lichtstreifen glitt durch die Wolken, über dem Hügel mit den traurigen Weidenbüschen hin, und die Wasserpfützen lagen ein Weilchen blank da. Dann regnete es wieder.
Jenny lieh sich Frau Rasmussens Bücher und ließ sich die Muster der gestrickten Spitzen an ihren Gardinen zeigen. Aber es wurde nicht viel, weder mit dem Lesen [S. 272] noch mit dem Stricken. Sie saß den lieben langen Tag im Schaukelstuhl am Fenster und war nicht einmal imstande, sich ordentlich anzuziehen, sondern schlüpfte nur in ihren verwaschenen Kimono.
Sie litt furchtbar darunter, daß ihre Schwangerschaft nach und nach sichtbar wurde.
Da meldete Gert Gram seinen Besuch. Schon zwei Tage später kam er am frühen Morgen in strömendem Regen angefahren. Er blieb eine Woche, wohnte im Bahnhofshotel, eine halbe Meile entfernt, war aber den ganzen Tag bei ihr draußen. Als er abreiste, versprach er, bald wiederzukommen, vielleicht schon in sechs Wochen.
Jenny lag die Nächte hindurch bei brennender Lampe wach. Sie wußte nur, sie konnte das nicht mehr ertragen. Es war zu furchtbar gewesen.
Unerträglich war es — alles — von seinem ersten teilnehmenden, besorgten Blick an, als er sie in dem neuen dunkelblauen Hängerkleid erblickte, welches das Nähmädchen im Dorf für sie angefertigt hatte. „Wie schön du bist,“ hatte er gesagt und gemeint, sie gliche einer Madonna. Reizende Madonna! O ja. — Sein vorsichtiger Arm um ihren Leib, seine langen behutsamen Küsse auf ihre Stirn — ihr war, als sollte sie sterben vor Scham. Ja, wie er sie gepeinigt hatte mit seiner liebevollen Besorgnis um ihre Gesundheit, mit seinen Ermahnungen, für Bewegung zu sorgen. Als einmal eine Pause zwischen den Regenschauern eintrat, hatte er sie mit hinaus auf einen Spaziergang geschleppt, und sie mußte sich um jeden Preis bei ihm einhängen und sich auf seinen Arm stützen. Eines Abends besah er verstohlen ihre Handarbeit — er hatte sicher erwartet, daß sie damit beschäftigt sei, Windeln zu säumen.
Es war ja keine böse Absicht von ihm. Aber darum war auch keine Hoffnung vorhanden, daß es besser sein würde, wenn er wiederkam, im Gegenteil. Aber sie konnte auch nicht mehr. —
[S. 273]
Eines Tages bekam sie einen Brief von ihm, in dem er unter anderem schrieb, daß sie auf jeden Fall einen Arzt zu Rate ziehen müsse.
Am nämlichen Abend schrieb sie einen kurzen Brief an Gunnar Heggen: sie erwarte im Februar ein Kind; ob er ihr die Adresse eines stillen Ortes in Deutschland verschaffen könne, wo sie bleiben könne, bis es überstanden sei.
Er antwortet umgehend:
Liebe Jenny!
Ich habe in zwei hiesigen Zeitungen annonciert und schicke dir alle Briefe zu, wenn sie kommen; dann kannst du sie dir selbst ansehen. Falls du willst, daß ich irgendwo hinreise und mir für dich etwas ansehe, ehe du mietest, so weißt du, daß ich es mit Vergnügen tue, und überhaupt kannst du in jeder Weise über mich verfügen. Schreibe, wann du reisest und welchen Weg, ob du willst, daß ich dir entgegenkommen, oder ob ich dir mit irgend etwas anderem helfen kann. Was du mir erzählst, hat mich sehr betroffen, aber ich weiß ja, du bist verhältnismäßig stark genug, um einen Stoß zu vertragen. Willst du mir bitte schreiben, ob ich dir noch in anderen Sachen beistehen kann? Du weißt, ich würde mich freuen, dir einen Dienst zu erweisen. — Ich höre, du hast ein gutes Bild auf der Staatsausstellung — herzlichen Glückwunsch!
Viele Grüße von Deinem alten Freunde
Einige Tage später kam ein ganzes Paket Briefe. Jenny buchstabierte sich durch einen Teil der Schreiben hindurch, die vielfach mit fürchterlichen Krähenfüßen bemalt waren. Dann schrieb sie an Frau Schlessinger in der Umgegend von Warnemünde und mietete dort vom fünfzehnten Oktober ab, teilte Gunnar ihren Entschluß mit und kündigte Frau Rasmussen.
Erst am letzten Abend schrieb sie an Gert Gram:
[S. 274]
Lieber Freund!
Ich habe einen Entschluß gefaßt, der Dir, wie ich fürchte, wehe tun wird. Aber Du darfst mir nicht zürnen. Ich bin so müde und nervös, weiß selbst, daß ich ungerecht und häßlich gegen Dich war, als Du hier warst, und das möchte ich so ungern. Daher will ich Dich nicht eher sehen, als bis alles überstanden ist und ich wieder in normalem Zustande bin. Ich reise morgen früh ins Ausland — meine Adresse gebe ich vorläufig nicht an, Briefe kannst Du mir aber durch Frau Franziska Ahlin, Varberg, Schweden, senden; ich schreibe vorläufig über sie an Dich. Du darfst Dich meinetwegen nicht ängstigen; ich bin frisch und es geht mir recht gut, aber, Lieber, versuche nicht, bis auf weiteres anders mit mir in Verbindung zu kommen, ich bitte Dich inständig. Und sei mir nicht allzu böse, aber ich glaube, dieser Ausweg ist für uns beide der beste. Versuche, um meinetwillen so wenig betrübt und besorgt zu sein, wie es Dir möglich ist.
So zog sie denn zu einer neuen Witwe in ein neues Häuschen, diesmal ein rotes mit weißgekalkten Fenstersimsen. Es lag in einem kleinen Garten mit fliesenbedeckten Wegen und Muscheln am Rande der Beete, auf denen schwarze, verfaulte Astern und Georginen standen. Etwa zwanzig bis dreißig solcher Häuser lagen an einem Stückchen Straße entlang, die von einem Bahnhof bis zu einem Fischerhafen hinabführte, wo die See sich an langen Steinmolen brach. Eine Strecke entfernt, drüben auf dem weißen Strand, wo der Tang in Massen hereintrieb, lag ein kleines Badehotel mit verschlossenen Läden. Ins Land hinein erstreckten sich endlose Wege mit nackten, struppigen Pappeln, die sich im Winde neigten, vorbei an kleinen Steingehöften mit einem Stümpfchen Vorgarten und ein bis zwei großen schwarzen Heumieten, über unendliche [S. 275] schwarze Felder und Moore. Des Morgens war das Land mitunter von wässriggrauem frischem Schnee bedeckt, der im Laufe des Tages schwand.
Jenny wanderte die Straßen hinauf, so weit sie konnte, dann kam sie nach Haus und saß in ihrem Zimmerchen, das diesmal mit den prächtigsten Nippessachen überfüllt war, mit farbigen Gipsreliefs von Ritterburgen und munteren Wirtshausszenen in Messingrahmen. Sie war nicht einmal imstande, das nasse Schuhzeug zu wechseln, Frau Schlessinger zog ihr Stiefel und Strümpfe aus, ununterbrochen schwatzend und Jenny ermahnend, guten Mutes zu sein. Sie erzählte von all den Leidensgenossinnen Jennys, die sie im Hause gehabt hatte — jetzt war die eine oder andere verheiratet und es ging ihnen gut, ja!
Sie hatte etwa einen Monat hier gewohnt, als Frau Schlessinger hereinkullerte, aufgeregt und strahlend — es sei ein Herr gekommen, der das gnädige Fräulein begrüßen wollte.
Jenny saß gelähmt vor Angst. Dann konnte sie fragen, wie der Herr aussähe. Ganz jung, sagte Frau Schlessinger, und sie lächelte lauernd. Sollte es Gunnar sein? Sie erhob sich, — aber dann warf sie das Reiseplaid über, hüllte sich ganz darin ein und kroch in den tiefsten Lehnstuhl.
Frau Schlessinger wackelte entzückt hinaus, um den Herrn hereinzuholen. Sie führte Gunnar zu Jenny hin und verweilte, glücklich lächelnd, einen Augenblick in der Tür, ehe sie verschwand.
Er preßte ihre Hände, daß es wehe tat. Aber er lachte strahlend:
„Ich muß doch einmal nach dir sehen, wie es dir geht. — Ich finde allerdings, du hast dir ein trauriges Stück Erde ausgesucht, aber jedenfalls ist hier frische Luft.“ Er schüttelte ein wenig Wasser von seinem Filzhut, den er in der Hand gehalten hatte.
Jenny machte eine Bewegung, als ob sie sich erheben wollte, blieb jedoch sitzen und sagte errötend: „Vielleicht [S. 276] bist du so lieb und läutest für mich. Du sollst jetzt Tee — und Essen bekommen!“
Heggen aß wie ein Wolf und plauderte unterdeß beständig. Er war begeistert von Berlin; er wohnte oben in Moabit, im Arbeiterviertel, und sprach mit gleichem Entzücken von deutschen Sozialdemokraten wie vom Militarismus — „ja, an denen ist so was herrlich Maskulines, siehst du. Das eine folgt außerdem aus dem anderen.“ Er hatte ein paar großindustrielle Betriebe zu sehen bekommen, auch das Nachtleben hatte er ein wenig studieren müssen, da er auf einen norwegischen Ingenieur gestoßen war, der sich dort auf der Hochzeitsreise befand, und auf eine norwegische Familie mit zwei reizenden, anmutigen Töchtern — die jungen Damen waren förmlich begeistert nachdem sie das Laster ein wenig aus der Nähe gesehen hatten.
„Uebrigens entzweite ich mich mit ihnen. Ich schlug nämlich Fräulein Paulsen eines späten Abends vor, mit zu mir nach Haus zu kommen —.“
„Nein, aber Gunnar —“.
„Ja, Teufel auch, ich war eben etwas betrunken, das kannst du dir wohl denken, und dann war es doch nur Scherz, weißt du. Das hätte ja bloß gefehlt, daß sie darauf eingegangen wäre — dann hätte ich hübsch in der Tinte gesessen. Hätte mich vielleicht mit einem Mädel verheiraten müssen, das sich damit amüsiert, an solchen Dingen zu schnuppern — nein, danke. Es machte mir nur Spaß, zu sehen, wie sie sich sittlich entrüstete. Nun, Gefahr war nicht vorhanden — diese Art Mädchen gibt nicht ihr Kleinod hin, ohne sich die Valuta zu sichern —.“
Er wurde plötzlich rot. Es kam ihm in den Sinn, daß Jenny es taktlos finden könnte, wenn er so zu ihr sprach — jetzt. Aber sie lachte nur:
„O, bist du verrückt, Junge!“
Die unnatürliche, quälende Scheu war nach und nach von ihr gewichen. Heggen fuhr fort zu plaudern. Einige Male, wenn sie es nicht sah, hingen seine Augen ängstlich an ihrem Gesicht. Herrgott, wie war sie mager und [S. 277] hohläugig geworden — so gefurcht um den Mund. Die Sehnen am Halse traten hervor, und ein paar häßliche Streifen zogen sich über die Kehle.
Es war trockenes Wetter geworden, so daß sie einen Spaziergang mit ihm machen wollte.
Ueber die öde Landstraße mit den verwehten Pappeln hin gingen sie durch den Seenebel, Jenny schwerfällig und müde.
„Nimm doch meinen Arm,“ sagte Gunnar beiläufig, was sie auch tat.
„Ich finde es hier schrecklich trübselig, Jenny. Weißt du was, wäre es nicht besser, du reistest nach Berlin?“
Jenny schüttelte den Kopf.
„Dort hast du die Museen und so viel anderes. Jemand, mit dem du zusammen sein kannst. Oder mach’ wenigstens eine kleine Reise dort hinunter, um dich aufzumuntern. Ich finde, hier muß es langweilig sein.“
„Ach nein, Gunnar, du kannst dir doch denken — nicht jetzt —.“
„In diesem Ulster siehst du so hübsch aus,“ sagte er kurz darauf vorsichtig.
Jenny senkte den Kopf.
„Ich bin ein Tolpatsch,“ erklärte er plötzlich heftig. „Verzeih! Du mußt mirs sagen, Jenny, wenn ich dich quäle.“
„Nein, das tust du nicht.“ Sie sah auf. „Ich bin froh, daß du kamst.“
„Ich verstehe ja, daß es schwer sein muß.“ Seine Stimme klang jetzt ganz anders. „Ja, Jenny, ich verstehe es. Aber es ist mein Ernst, ich glaube, du machst es dir noch schwerer, wenn du hier umherläufst — in diesem Zustand. Ich finde, du solltest an einen anderen Ort reisen, der weniger — trostlos ist!“ Er blickte hinaus über die dunklen Wiesenstrecken und die Pappelreihen, die sich im Nebel verloren.
„Frau Schlessinger ist aber so freundlich,“ sagte Jenny ausweichend.
[S. 278]
„Ja, Armes, das stimmt schon.“ Er begann zu lachen. „Sie verdächtigt sicher mich, der Missetäter zu sein!“
„Ja,“ sagte Jenny, ebenfalls lachend.
„Nun ja, Teufel auch.“ Sie gingen schweigend weiter. „Du — hast du dir schon überlegt, wie du dir dein Leben einrichten willst in Zukunft?“
„Ich weiß noch nicht recht. Du meinst wohl mit — dem Kinde? Ich lasse es vielleicht — bis auf weiteres — bei Frau Schlessinger. Sie wird es sicher ordentlich pflegen. Oder es adoptieren.“ Sie lachte. „Man adoptiert ja mitunter solche Kinder. Du weißt, ich könnte mich Frau Winge nennen und darauf pfeifen, was die Leute denken —.“
„Du bist also fest entschlossen, wie du schriebst, jegliche Verbindung mit — dem betreffenden Vater des Kindes abzubrechen?“
„Ja,“ sagte sie hart. „Es ist nicht der, mit dem ich — verlobt war,“ fügte sie nach einer Weile hinzu.
„Na, Gott sei Dank!“ Es klang so herzlich, daß sie unwillkürlich lächelte „Ja, weißt du was, Jenny, er war es wahrhaftig nicht wert, reproduziert zu werden, für dich jedenfalls. Er hat übrigens seinen Doktor gemacht, sah ich kürzlich. Nun ja, es hätte also schlimmer sein können — ich fürchtete ja, siehst du —.“
„Es ist sein Vater,“ sagte sie plötzlich.
Heggen hielt inne.
Als sie in Tränen ausbrach, wild und herzzerreißend, umfing er sie. Er legte seine Hände um ihr Gesicht, während sie fortfuhr, an seiner Schulter zu schluchzen.
Sie begann zu erzählen, während sie so standen. Einmal blickte sie ihm ins Antlitz — es war ganz bleich und verzerrt — da weinte sie aufs neue.
Als es vorüber war, hob er einen Augenblick ihren Kopf:
„Herr Jesus, Jenny — so ist es dir ergangen! Ich begreife es nicht.“ —
Sie gingen schweigend wieder zur Stadt zurück.
„Komm mit mir nach Berlin,“ sagte er plötzlich [S. 279] bestimmt. „Ich ertrage den Gedanken nicht. Es geht nicht, daß du hier allein bleibst und über all das nachgrübelst —.“
„Ich habe fast aufgehört zu grübeln,“ flüsterte sie matt.
„Das Ganze ist überhaupt sinnlos!“ Er wurde so heftig, daß sie stehen blieb. „Den Besten von euch geht es so! Und wir ahnen nicht, wie ihr es tragt! Das ist sinnlos!“
Heggen blieb drei Tage in Warnemünde. Jenny verstand es selber kaum, warum ihr nach seinem Besuch so viel besser zumute war. Aber dieses unleidliche Gefühl der Demütigung war geschwunden, sie sah ihr Geschick jetzt mit viel ruhigeren und natürlicheren Augen an.
Frau Schlessinger lief umher und lächelte froh und untertänig, obgleich Jenny ihr erklärt hatte, daß dieser Herr ihr Vetter war.
Er hatte ihr angeboten, ihr seine Bücher zu schicken, und bald kam eine ganze Kiste voll an, zum Weihnachtsfest sandte er Blumen und Konfekt. Jede Woche schrieb er lange Briefe von allen möglichen Dingen und schickte Ausschnitte aus norwegischen Zeitungen. Zu ihrem Geburtstag im Januar kam er selbst herauf und blieb zwei Tage, ihr einige neue norwegische Bücher vom Fest her zurücklassend.
Aber gleich nach seinem letzten Besuch erkrankte sie. Sie war elend, matt, zerquält und hatte in der letzten Zeit nicht schlafen können. Vorher hatte sie nur selten an die Geburt selbst gedacht und sich nicht davor gefürchtet. Jetzt, bei den ständigen Schmerzen ergriff sie eine fürchterliche Angst vor dem, was ihr bevorstand. Als sie sich dann schließlich legen mußte, war sie von Angst und Schlaflosigkeit völlig entkräftet.
Es war eine schwere Geburt. Jenny war dem Tode näher als dem Leben, als der Arzt, der von Warnemünde herbeigeholt worden war, endlich ihren Jungen in seinen blutigen Händen hielt.
[S. 280]
Jennys Knabe lebte sechs Wochen — genau vierundvierzig und einen halben Tag, sagte sie bitter zu sich selber, wenn sie wieder und wieder die kurze Zeit überdachte, während der sie gewußt hatte, was es heißt, glücklich zu sein.
Sie weinte die ersten Tage danach nicht, ging nur um das tote Kind herum und würgte tief in der Kehle. Sie nahm es hoch und liebkoste es:
„Bübchen — Mutters kleiner, kleiner, süßer Junge — du darfst nicht — hörst du — Bübchen darf nicht tot sein, verstehst du mich denn nicht —.“
Der Knabe war klein und schwächlich gewesen, als er zur Welt kam. Aber Jenny wie auch Frau Schlessinger meinten, daß er gedeihen und großartig wachsen würde. Dann wurde er eines Morgens krank und starb gegen Mittag.
Als er begraben war, begann sie zu weinen, und jetzt konnte sie nicht innehalten. Sie schluchzte fast andauernd, Tag und Nacht, wochenlang. Krank wurde sie auch, bekam eine Brustentzündung, so daß Frau Schlessinger den Arzt holen mußte, der sie dann schnitt. — Die körperlichen Schmerzen und die Verzweiflung ihrer Seele flossen zu einem zusammen, den fürchterlichen Fiebernächten.
Frau Schlessinger schlief im Zimmer nebenan. Wenn sie die merkwürdig tierischen, erstickten Klagelaute aus dem Zimmer des jungen Mädchens vernahm, wackelte sie entsetzt herbei und setzte sich auf einen Stuhl vor dem Bett: „Um Gotteswillen, Fräulein —.“
Sie pflegte Jenny und streichelte ihre mageren, klammen Hände mit ihren dicken, warmen. Sie redete ihr gut zu. Es sei Gottes Wille, vielleicht das Beste für den Jungen wie für das gnädige Fräulein selber. Fräulein sei ja noch so jung —. Frau Schlessinger hatte selbst ihre beiden Kinder verloren, die kleine Bertha, als sie zwei Jahre alt war, und Wilhelm mit vierzehn Jahren, [S. 281] so einen kecken Burschen. Sie waren doch in gesetzlicher Ehe geboren und hatten ihre Stütze sein sollen, aber dieser Kleine hier, er wäre ja nur eine Fessel an Fräuleins Fuß gewesen — und Fräulein sei doch so jung und nett. Ach Gott, gewiß war er lieb gewesen, der kleine Engel, ja, schwer genug sei es schon —.
Ihren Mann hatte Frau Schlessinger auch verloren — ja. Und es gab viele Leidensgenossinnen von Jenny, die Frau Schlessinger im Hause gehabt hatte, deren Kinder gestorben waren — ja, einige seien froh gewesen, einige hätten sie geradezu vernachlässigt, um sie loszuwerden — ja, es war häßlich, aber was soll man dazu sagen? Einige hatten auch geweint und gejammert wie jetzt Jenny, aber sie kamen mit der Zeit darüber hinweg; die eine und die andere war jetzt verheiratet und hatte es glücklich getroffen. Aber eine solche Verzweiflung wie beim gnädigen Fräulein habe sie doch noch nie erlebt. Herrgott im Himmel!
Daß der Vetter nach dem Süden gereist war, erst nach Dresden und darauf nach Italien, gerade in jenen Tagen, als der Knabe starb, dem schrieb Frau Schlessinger in ihrem Herzen einen großen Teil von Jennys Verzweiflung zu. Ja, ja, so waren sie nun einmal, die Mannsleute.
Unauflöslich verbunden mit der Erinnerung an diese wahnwitzigen, qualerfüllten Nächte war seitdem für Jenny das Bild von Frau Schlessinger, wie sie dort auf dem Stühlchen vor dem Bette saß, während das Lampenlicht sich in den Tränen brach, die aus ihren freundlichen Aeuglein sickerten und über ihre runden roten Apfelwangen tropften. Ihr Mund, der nicht einen Augenblick still stand, ihr kleiner grauer abstehender Zopf und ihre weiße Nachtjacke mit dem Zackenbesatz, ihr Unterrock aus rosa und grau gestreiftem Flanell mit den gestickten Zacken rings herum. Und das kleine Zimmer mit den Gipsreliefs in Messingrahmen.
Sie hatte Heggen von ihrem großen Glück geschrieben. Er hatte auch geantwortet; er wäre gern gekommen, um sich den Buben anzuschauen, aber die Reise war lang [S. 282] und teuer, außerdem war er im Begriff, nach Italien aufzubrechen. Später sei sie mit dem Prinzen willkommen und er sende die besten Glückwünsche! —
Als das Kind starb, war Heggen in Dresden: sie bekam einen langen schönen Brief von ihm.
An Gert hatte sie einige Zeilen geschrieben, sobald sie konnte. Sie gab gleichzeitig ihre Adresse auf, bat ihn jedoch, nicht vor dem Frühling herunterzukommen, dann wäre der Kleine groß und hübsch geworden. Jetzt könnte wohl nur die Mutter sehen, wie prächtig er war. — Als sie wieder aufgestanden war, sandte sie ihm ein längeres Schreiben.
Am Tage, als das Kind begraben wurde, schrieb sie wieder und teilte in wenigen Worten seinen Tod mit. Gleichzeitig erwähnte sie, daß sie am selben Abend nach dem Süden reise und daß er nicht erwarten dürfe, von ihr zu hören, bis sie ruhiger geworden: „Du brauchst dich nicht um mich zu ängstigen,“ schrieb sie, „ich bin jetzt soweit vollkommen ruhig und gefaßt, aber natürlich grenzenlos traurig.“
Dieser Brief kreuzte sich mit einem von Gert Gram. Dieser lautete:
Meine kleine Jenny!
Ich danke Dir für Deinen letzten Brief. Zu allererst muß ich Dir sagen, da Du Dir scheinbar Vorwürfe machst in bezug auf Dein Verhältnis zu mir; liebes kleines Mädchen, ich mache Dir ja keine, und darum darfst Du es auch nicht. Du bist ja immer nur gut und weich und liebevoll gegen Deinen Freund gewesen. Nie werde ich Deine Zärtlichkeit und Deine Wärme aus der kurzen Zeit, da Du mich liebtest, vergessen — Deine süße Jungfräulichkeit und feine, sanfte Hingebung in den Tagen unseres kurzen Glücks.
Unser Glück konnte nur kurz sein; das hätten wir beide wissen müssen. Ich hätte es wissen müssen . Du hättest es wohl wissen können , wenn Du nachgedacht [S. 283] hättest; aber was denken zwei Menschen, die sich zu einander hingezogen fühlen? Daß Du eines Tages aufhörtest, mich zu lieben — glaubst Du, ich werfe Dir das vor? Wenn es mir auch das bitterste Leid verursachte in meinem sonst nicht eben glücklichen Leben — doppelt bitter für mich, da ich gleichzeitig erfuhr, daß Du für unser Verhältnis nun durch dein ganzes Leben büßen mußt.
Aber nun sehe ich aus Deinem Briefe, daß diese Folgen, über die ich sicher viel verzweifelter war als Du, was Du auch an Sorgen und körperlichen Leiden durchgemacht haben magst, Dir dennoch eine tiefere Freude, ein größeres Glück geschenkt haben, als es Dir sonst im Leben begegnet ist. Ich sah, daß die Mutterfreude Dich ganz mit Frieden, Lebensmut und Zufriedenheit erfüllte, so daß Du meinst, mit Deinem Kinde im Arm genug Kraft zu besitzen, um alle Schwierigkeiten, ökonomische wie soziale zu überwinden, die die Zukunft einer jungen Frau in Deiner Lage bringen kann. Daß Du dies schreibst, macht mich froher, als Du ahnen kannst. Für mich ist dies wiederum ein Beweis für das Walten jener ewigen Gerechtigkeit, an der ich ja nicht zweifle. Dir, die Du einen Irrtum begingst, weil Dein Herz warm und zärtlich war und nach Zärtlichkeit dürstete, wird gerade dieser Irrtum, der Dir so verzweifelte Stunden gebracht hat, schließlich all das bescheren, wonach Du so brennend verlangtest, besser, schöner und reiner, als Du es je erträumt. Schon jetzt, da dein Herz ganz von Liebe zu Deinem Kinde erfüllt ist und später in noch höherem Maße, wenn der kleine Bursche heranwächst, seine Mutter kennen lernt, sich an sie hängt und ihre Liebe erwidern kann, stärker, tiefer und bewußter mit jedem Jahre, das dahingeht.
Und mir, der ich Deine Liebe entgegennahm, obgleich ich hätte wissen müssen, daß ein Liebesverhältnis zwischen uns unmöglich und unnatürlich war — mir haben diese Monate unerträgliches Leiden und Trauern [S. 284] gebracht — und einen Verlust, Jenny, einen Verlust, wie Du ihn Dir nicht vorstellen kannst, den Verlust Deiner Person, Deiner Jugend, Deiner Schönheit, Deiner gesegneten Liebe. Jede kleinste Erinnerung an diese Dinge war durch die Reue verbittert — diese ständig nagende Frage, wie konnte ich sie es tun lassen, wie konnte ich es annehmen, wie konnte ich an ein Glück für mich mit ihr glauben? Ja, Jenny, ich habe daran geglaubt, so wahnsinnig es auch klingt, weil ich mich bei Dir so jung fühlte. Vergiß nicht, daß ich meiner eigenen Jugend verlustig ging, und dies, als ich weit jünger war als Du jetzt bist; der Jugend arbeitsfrohes Leben und frohes Liebesglück durfte ich — durch eigene Schuld — nicht kennen lernen. Und dies war die Strafe. Gespenstisch kehrte meine tote Jugend zurück, als ich Dich gesehen — mein Herz fühlte sich nicht älter als das Deine. Oh, Jenny, nichts auf der Welt ist fürchterlicher, als wenn ein Mann alt und sein Herz jung geblieben ist.
Du schreibst, Du sähest es gern, wenn ich später, sobald der Knabe größer geworden ist, Dich besuchte, um mir unser Kind anzusehen. Unser Kind — es ist ein so widersinniger Gedanke. Weißt Du, woran ich dauernd denken muß? Kannst Du Dich des alten Joseph entsinnen auf den italienischen Altarbildern, der immer abseits oder im Hintergrunde zur Seite steht, zärtlich und wehmütig das göttliche Kind und dessen junge, herrliche Mutter betrachtend, diese beiden, die ganz von einander in Anspruch genommen sind, und seine Anwesenheit gar nicht beachten. Liebe Jenny, mißverstehe mich nicht, ich weiß ja, daß das Kindchen, das jetzt in Deinem Schoß liegt, auch mein Fleisch und Blut ist und doch — wenn ich jetzt an Dich denke, die Mutter geworden ist, dann komme ich mir wie der arme alte Joseph vor, der draußen steht.
Aber deshalb solltest Du ebensowenig Bedenken tragen, den Namen als meine Gattin anzunehmen und den Schutz, der für Dich und Dein Kind darin liegt, [S. 285] wie Maria, als sie sich dem Joseph anvertraute. Eigentlich finde ich, es ist nicht ganz richtig von Dir, dem Kinde den Vatersnamen zu rauben, auf den es doch ein Anrecht hat — Du magst soviel Selbstvertrauen haben wie Du willst. Selbstverständlich ist es, daß Du im Falle einer solchen Ehe ebenso frei und ungebunden bleibst wie sonst, und daß diese Ehe auch, sobald du es wünschest, gesetzlich aufgehoben wird. Ich bitte Dich inständig, Dir dies zu überlegen. Wir können uns im Auslande trauen lassen, wenn Du es wünschest, und schon einige Monate danach können Schritte zur Trennung getan werden. Du brauchst nie wieder nach Norwegen zurückzukehren, geschweige denn unter einem Dach mit mir zu wohnen.
Von mir selbst ist nicht viel zu berichten. Ich habe zwei kleine Zimmer hier oben auf dem Haegdehaug ganz in der Nähe jenes Landhauses, in dem ich geboren bin und bis zu meinem zehnten Jahre gelebt habe, als mein Vater im Numetal Vogt wurde. Von meinem Fenster aus sehe ich die Spitzen der beiden großen Kastanien an der Eingangstür meines Vaterhauses. Sie haben sich nicht sonderlich verändert. Hier oben beginnen die Abende bereits lang und licht und lenzhaft zu werden, die Bäume zeichnen ihre nackten braunen Kronen in den fahlgrünen Himmel, an dem einzelne goldene Sterne durch die scharfe klare Luft funkeln. Abend für Abend sitze ich hier an meinem Fenster und starre in die Ferne, während mein ganzes Leben in Träumen und Erinnerungen an mir vorüberzieht. Ach, Jenny, wie hatte ich jemals vergessen können, daß ein ganzes Leben zwischen Dir und mir lag, ein Leben, fast doppelt so lang wie das Deine, ein Leben, von dem mehr als die Hälfte in ununterbrochener Demütigung, Niederlage und Schmerz dahingeschleppt worden ist. —
Daß Du ohne Zorn und Bitterkeit an mich denkst, ist mehr, als ich erhofft und erwartet habe. Das Glück, das durch jede Zeile Deines Briefes atmet, hat mir so unsagbar wohlgetan. Gott segne und behüte mein [S. 286] Kind und Dich; alles Glück der Welt wünsche ich auf Dich und das Kind herab. Ich habe Dich so unsäglich lieb, Du kleine Jenny, die einst mein war.
Dein treuer
Gert Gram.
Jenny blieb bei Frau Schlessinger wohnen. Dort war es billig — und sie wußte nicht, wohin mit sich.
Es lag Lenzeswehen in der Luft, über die gewaltige, offene Himmelskuppel hin segelten schwere, vom Sonnenlicht verbrämte Wolken, die wie Gold und Blut brannten und sich an den Abenden im unruhigen Meer spiegelten, wenn sie draußen auf der Mole war. Die trübseligen, dunklen Flächen im Lande wurden lichtgrün, die Pappeln schimmerten braunrot von neuem Sproß, und dufteten lind und weich. Am Eisenbahndamm wimmelte es von Veilchen und kleinen weißen und gelben Blumen. Schließlich war die Ebene üppig grün, es sprühte von Farben an den Wegrainen, schwefelgelbe Iris und große weiße Doldenpflanzen spiegelten sich in den Wasserlöchern der Torfmieten. Eines schönen Tages strömte süßer Heuduft über Land, der sich in dem salzigen Algengeruch vom Strande her mischte.
Das Badehotel wurde eröffnet und Sommergäste zogen in die kleinen Häuser an der Mole. Es wimmelte von Kindern auf dem weißen Sandstreifen. Sie kugelten sich im Sand und platschten barfuß ins Wasser hinaus, Mütter, Kindermädchen und Ammen in Spreewäldertracht saßen nähend im Grase und beaufsichtigten sie. Die Badehäuschen waren ins Wasser gerollt worden, und kleine deutsche Backfische schrien und juchten dort draußen. Luxussegler legten an der Mole an; Besuch kam aus der Stadt, abends war Tanz im Badehotel; die kleine Tannenplantage war voller Spaziergänger. Hier hatte Jenny zu Beginn des Frühlings in dem struppigen Gras gelegen, dem Wellenschlag [S. 287] und dem Sausen des Windes in den zerzausten Kronen lauschend.
Diese oder jene der Damen sandte ihr einen interessierten oder teilnehmenden Blick nach, wenn sie den Weg am Badestrand entlang spazierte, mit ihrem schwarzweißen Sommerkleide angetan. Die Badegäste im Ort hatten natürlich erfahren, daß sie eine junge Norwegerin war, die ein Kind bekommen hatte, über dessen Tod sie so furchtbar trauerte. Einige waren auch darunter, die es mehr rührend als skandalös fanden.
Im übrigen wanderte sie meist landeinwärts; dorthin kamen niemals Sommergäste. Ganz selten ging sie bis hinauf zur Kirche und zum Kirchhof, wo der Knabe lag. Sie saß dann und starrte auf das Grab, das sie nicht hatte herrichten lassen. Sie legte dann einige wilde Blumen nieder, die sie unterwegs gepflückt hatte, aber ihre Phantasie weigerte sich, den kleinen, grauen Erdhügel, auf welchem Unkraut und Gräser in die Höhe schossen, mit ihrem Bübchen in Verbindung zu bringen.
An den Abenden saß sie in ihrem Zimmer mit einer Handarbeit, die sie nicht anrührte, und starrte in die Lampe. Sie dachte immer an das Gleiche, rief die Tage wieder zurück, als sie ihren Jungen besessen hatte, die erste Zeit, das matte, friedliche Glück, während sie lag und genas, später, wenn sie aufrecht im Bett saß und Frau Schlessinger ihr das Baden und Wickeln, das An- und Auskleiden des Kindes zeigte, dann, als sie zusammen nach Warnemünde reisten, um feinen Stoff, Spitzen und Band zu kaufen, als sie heimkehrte, zuschnitt, nähte, zeichnete und stickte — ihr Junge sollte feine Sachen haben statt des schlechten fertiggekauften Zeuges, das sie aus Berlin bestellt hatte. Eine drollige Gartenspritze hatte sie gekauft mit Abziehbildern auf dem grünbemalten Blech: ein Löwe und ein Tiger standen zwischen Palmen an einem himmelblauen Meer und betrachteten entsetzt die deutschen Panzerungetüme, die den afrikanischen Besitzungen des Reichs zudampften. Sie fand das Ding so lustig — Bübchen sollte es zum Spielen haben, wenn [S. 288] er einmal groß genug geworden war. Erst mußte er ja Mutters Brust finden, an der er sich jetzt nur blind festsog — und seine eigenen kleinen Finger, die er nicht voneinander bekommen konnte, sobald er sie ineinander verfilzt hatte — bald würde er die Mutter kennen, nach der Lampe blinzeln und nach Mutters Uhr, die sie vor ihm schaukeln ließ — da war so viel, was Bübchen lernen mußte.
In einer Schieblade lagen alle seine Sachen, sie nahm sie nie heraus. Sie wußte ja doch, wie jedes Stück aussah und wie es sich auf der Handfläche anfühlte — das glatte, weiche Linnen, die rauhe Wolle und die halbfertige Jacke aus grünem Flanell, die sie mit Butterblumen bestickt hatte, die sollte er haben, wenn er ausgefahren wurde. —
Sie hatte ein Bild vom Strande angefangen mit den roten und blauen Kindern auf dem weißen Sandstrand. Einige der teilnehmenden Damen kamen herbei, schauten zu und versuchten, eine Bekanntschaft anzubahnen: „Wie nett!“ Sie war aber unzufrieden mit der Skizze und mochte sie nicht beendigen, auch eine neue wollte sie nicht anfangen. —
Eines Tages schloß das Badehotel wieder, es stürmte auf See, und der Sommer war vorüber.
Gunnar schrieb aus Italien und riet ihr, herunterzukommen. Cesca wollte sie nach Schweden haben. Die Mutter, die nichts wußte, schrieb und begriff nicht, warum sie dort blieb. Jenny dachte daran, fortzureisen, konnte aber zu keinem Entschluß kommen. Obgleich doch allmählich eine unbestimmte Sehnsucht in ihr wach wurde. Sie wurde selbst dadurch nervös, daß sie so umherging und nichts tun konnte. Sie mußte einen Entschluß fassen — wenn sie auch nur eines Nachts von der Mole aus in die See spränge.
Eines Abends hatte sie die Kiste mit Heggens Büchern hervorgeholt. Unter ihnen befand sich ein Band italienischer Gedichte — Fiori della poesia italiana . Eine Ausgabe, [S. 289] für Touristen berechnet, in einfaches Leder gebunden. Sie blätterte darin, um zu sehen, ob sie all ihr Italienisch vergessen hätte.
Sie schlug das Buch zufällig bei Lorenzo von Medicis Karnevalslied auf und fand ein zusammengefaltetes Stück Papier, von Gunnars Hand beschrieben:
„Liebe Mutter. Jetzt kann ich Dir endlich berichten, daß ich glücklich und wohl in Italien angekommen bin, und daß es mir in jeder Hinsicht gut geht, sowie —“ Der Rest des Bogens war mit Vokabeln bedeckt. Bei den Verben standen zugleich die Deklinationen. Auch am Rande des Buches standen Vokabeln — ganz dicht, an dem tragisch frohen Karnevalsgedicht entlang. „Wie schön ist die Jugend, die so schnell entflieht“.
Selbst die gewöhnlichsten Worte waren aufgeschrieben. Gunnar mußte versucht haben, das Lied zu lesen, gleich nachdem er nach Italien gekommen war — ehe er etwas von der Sprache konnte. Sie sah auf dem Titelblatt nach: G. Heggen, Firenze und die Jahreszahl stand dort. Das war, ehe sie ihn kennengelernt hatte.
Sie blätterte und las hier und da. Dort stand Leopardis Hymne an Italia, für die Gunnar so begeistert war. Sie las sie. Der Rand war schwarz von Vokabeln und Tintenflecken.
Es schien wie ein Gruß von ihm, eindringlicher als alle seine Briefe. Er rief sie, jung und gesund, fest und voller Tatendrang. Er bat sie, zum Leben zurückzukehren und zur Arbeit. Ja, wenn sie sich doch zusammennehmen und wieder anfangen könnte. Sie mußte versuchen, zu wählen zwischen Leben — oder Tod. Sie wollte wieder dort hinab, wo sie sich einst frei und stark gefühlt hatte, allein, nur mit ihrer Arbeit. Sie sehnte sich danach, und nach den Freunden, den zuverlässigen Kameraden, die einander nicht so nahe kamen, daß Leid daraus entstand, sondern Seite an Seite, jeder in seiner eigenen Welt, die auch all den anderen gehörte, miteinander dahinlebten, im Vertrauen auf ihr Können, in der Freude an ihrem [S. 290] Schaffen. Sie wollte das Land wiedersehen, das felsige Land mit den stolzen, strengen Linien und den sonnedurchtränkten Farben.
Kurz darauf reiste sie nach Berlin. Sie lief einige Tage in der Stadt umher, so auch in den Galerien. Aber sie fühlte sich müde, fremd und überflüssig. So fuhr sie weiter nach München.
In der Alten Pinakothek sah sie Rembrandts Heilige Familie. Sie betrachtete das Bild gar nicht als Malerei an sich, sie sah nur die junge Bauersfrau, das Hemd von der milchgefüllten Brust weggezogen und das Kind anschauend, das eingeschlafen war. Liebkosend griff die Mutter um sein eines bloßes Füßchen. Ein häßlicher kleiner Plebejerjunge war es, aber strotzend vor Gesundheit, und er schlief so gut, war so herrlich und lieb. Josef guckte über der Mutter Schulter auf ihn nieder. Es war aber kein alter Josef, und Maria war keine weltfremde Himmelsbraut. Es war ein kräftiger, mittelalterlicher Handwerker mit seiner jungen Frau, und das Kind war ihrer beider Lust und Freude.
Am Abend schrieb sie an Gert Gram. Einen langen Brief, zart und traurig — aber es war ein Lebewohl für immer.
Am nächsten Tage löste sie eine Karte direkt bis Florenz. Beim ersten Morgengrauen saß sie am Abteilfenster nach einer schlaflosen Nacht im Zuge. Wildbäche hüpften silbrig über waldbewachsene Felshänge. Es wurde licht und lichter, die Städte, an denen sie vorüberflog, nahmen mehr und mehr italienischen Charakter an. Rostbraune und moosgoldene Dachziegel, Loggien an den Häusern, grüne Stabjalousien an rotgelben Hauswänden, barocke Kirchenfassaden, die Bogenreihen der Steinbrücken draußen im Fluß. Die Schilder auf den Stationen trugen jetzt deutschen und italienischen Text. Weinberge zeigten sich außerhalb der Städte und graue Burgruinen erschienen auf den Bergkuppen.
Ala. Sie stand an der Zollschranke, die verdrießlichen Passagiere aus der ersten und zweiten Klasse betrachtend [S. 291] — und war so sinnlos froh. Nun war sie wieder in Italien. Der Zollbeamte lächelte sie an, weil sie blond war, und sie lächelte zurück, weil er sie für die Kammerjungfer dieser oder jener Herrschaft hielt.
Die Felsketten wichen zur Seite, lehmgrau mit blauen Schatten in den Klüften, das Erdreich leuchtete rostrot, die Sonne flammte weiß und glühend auf.
In Florenz aber war es bitter kalt und trübe in diesen Novembertagen. Müde und verfroren irrte sie etwa vierzehn Tage in der Stadt umher, ihr Herz blieb kalt gegen all die Schönheit, die sie erblickte, und melancholisch und mutlos, weil sie sich nicht wie früher an ihr wärmen konnte. —
Eines Morgens fuhr sie nach Rom. Die Felder in der toskanischen Landschaft waren von weißem Reif bedeckt. Später am Tage lichtete sich der Nebel und die Sonne erschien. Sie sah die Stelle wieder, die sie nie vergessen konnte: Der Trasimenische See lag fahlblau zwischen den Felsen im Dunst. Ins Wasser hinaus schoß eine Landzunge mit den Türmen und Zinnen einer kleinen steingrauen Stadt. Eine Zypressenallee führte vom Bahnhof aus dort hinüber. —
In Rom hielt sie in strömendem Regen ihren Einzug. Gunnar war auf dem Bahnhof und nahm sie in Empfang. Er preßte ihre Hände, als er sie willkommen hieß. Während sie im Regen, der vom grauen Himmel auf das Straßenpflaster niederklatschte, nach der Wohnung ratterten, die er ihr verschafft hatte, fuhr er mutig fort zu plaudern und zu lachen. —
Heggen saß am äußersten Ende des Marmortisches und nahm an der Unterhaltung fast nicht teil. Ab und zu schielte er zu Jenny hinüber, die sich, Whisky und Selter vor sich, in eine Ecke geklemmt hatte. Sie unterhielt sich übertrieben lebhaft quer über den Tisch mit [S. 292] einer jungen schwedischen Frau und nahm nicht im geringsten Notiz von den neben ihr sitzenden Dr. Broager und der kleinen dänischen Malerin, Loulou von Schulin, die beide versuchten, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Heggen sah, sie hatte wieder zuviel getrunken.
Sie bildeten eine kleine Schar von Skandinaviern und einigen Deutschen, die in einer Weinkneipe zusammengetroffen und jetzt am Ende der Nacht im hintersten Winkel eines düsteren Cafés gelandet waren. Die Gesellschaft hatte dem Alkohol reichlich zugesprochen und war sehr wenig gewillt, den Aufforderungen des Wirtes nachzukommen, zu gehen, da es weit über die vorgeschriebene Polizeistunde sei und er zweihundert Lire Strafe zu zahlen haben würde, ja sicher!
Gunnar Heggen war der einzige, der es mehr als gern gesehen hätte, daß das Trinkgelage ein Ende nähme. Er war der einzig Nüchterne und hatte schlechte Laune.
Dr. Broager brachte alle Augenblicke seinen schwarzen Schnurrbart auf Jennys Hand an. Wenn sie diese an sich zog, versuchte er es auf ihrem nackten Arm. Die andere Hand hatte er hinter ihr aufs Sofa gelegt. Sie saßen zusammengedrängt im Winkel, so daß jeder Versuch, sich ihm zu entwinden, umsonst gewesen wäre. Im übrigen war ihr Widerstand auch ziemlich schwach, und sie lachte ohne Zorn über seine Zudringlichkeit.
„Pfui!“ sagte Loulou von Schulin und zog die Schultern hoch. „Daß Sie das ertragen können! Finden Sie ihn denn nicht widerlich, Jenny?“
„O doch, natürlich. Aber Sie sehen ja, er ist genau so wie eine Schmeißfliege — es nützt nichts, ihn wegzujagen. Pfui, hören Sie doch auf, Doktor —“
„Pfui,“ sagte die andere wie vorher. „Daß Sie das aushalten können!“
„Pah! Ich kann mich ja mit Seife abwaschen, wenn ich nach Hause komme.“
„So?“ Loulou von Schulin warf sich über Jennys Schoß und streichelte ihre Arme. „Wir geben jetzt auf die armen schönen Hände acht! Sehen Sie!“ Sie hob [S. 293] die eine Hand in die Höhe und zeigte sie der Tafelrunde. „Ist sie nicht entzückend?“ Dann löste sie ihren giftgrünen Automobilschleier vom Hute und hüllte Arme und Hände darin ein. „Ins Fliegennetz — seht doch nur!“ Und sie streckte Broager blitzschnell die Zunge heraus.
Jenny blieb einen Augenblick, die Arme in den grünem Schleier gewickelt, sitzen. Dann machte sie sich frei und zog Jacke und Handschuhe an.
Broager versank in einen kleinen Halbschlummer. Aber Fräulein Schulin hob ihr Glas:
„Prost! Herr Heggen!“
Er tat, als hörte er nicht. Erst, als sie es wiederholte, griff er nach seinem Glase. „Pardon — ich sah nicht,“ trank und sah wieder fort.
Dieser oder jener lächelte. Da Heggen und Fräulein Winge Tür an Tür im obersten Stockwerk irgendwo drüben zwischen Babuino und Corso wohnten, glaubte man genug zu wissen. Was aber Fräulein von Schulin betraf, so war sie vorübergehend mit einem norwegischen Schriftsteller legitim verheiratet gewesen, reiste dann von ihm und dem Kinde in die weite Welt hinaus, wo sie wieder ihren Mädchennamen, die Anrede Fräulein und Malerin angenommen hatte, und außerdem Freundschaften mit Frauen unterhielt, worüber besonders üble Gerüchte im Umlauf waren.
Der Wirt kehrte wieder zur Gesellschaft zurück und parlamentierte eindringlich, um sie zur Tür hinauszubekommen. Die beiden Kellner löschten die Gasflammen drüben im Lokal und stellten sich abwartend am Tische auf. Es blieb also nichts anderes übrig, als zu bezahlen und dann zu gehen.
Heggen gehörte zu den letzten, die das Lokal verließen. Drüben auf dem Marktplatz im Mondenschein sah er, wie Fräulein Schulin Jennys Arm ergriff. Sie liefen auf eine leere Droschke zu, die die anderen im Begriff waren zu stürmen. Er sprang hinüber und hörte von weitem Jenny rufen: „Ihr wißt, die in der Via Paneperna.“ [S. 294] Sie hüpfte in die überfüllte Droschke und fiel irgend jemanden auf den Schoß.
Aber einige Damen wollten wieder ins Freie, andere in den Wagen — ununterbrochen sprang jemand aus der einen Wagentür hinaus und in die andere hinein. Der Kutscher saß unbeweglich auf dem Bock und wartete. Der Gaul schlief, den Kopf bis fast aufs Steinpflaster gesenkt.
Jenny stand wieder auf der Straße, aber Fräulein Schulin streckte die Hand nach ihr aus — es war noch Platz.
„Es ist eine Schande um das Pferd,“ sagte Heggen kurz. So begann sie denn zu gehen, neben ihm, als letzte in der Schar derer, die in der Droschke nicht Platz gehabt hatten. Der Wagen rollte langsam vorauf.
„Du willst doch nicht behaupten, daß du länger mit diesen Menschen zusammen sein magst, ganz bis zur Via Paneperna hinaustrotten nur deswegen?“ sagte Heggen.
„Oh, wir werden schon unterwegs eine leere Droschke finden —“
„Daß du dazu Lust hast — betrunken wie die Lumpen sind sie auch — alle miteinander,“ wiederholte er.
Jenny lachte müde.
„Das bin ich sicher auch.“
Heggen antwortete nicht. Sie waren bis zur Piazza di Spagna gekommen. Da stand sie still:
„Du willst also nicht mitgehen, Gunnar?“
„Wenn du es durchaus noch weiter mitmachen willst, dann ja — sonst nicht.“
„Du brauchst doch um meinetwillen nicht — du kannst dir doch denken, daß ich schon nach Hause finden werde.“
„Gehst du mit, so gehe ich auch mit. Ich erlaube dir nämlich nicht, dich allein mit diesen betrunkenen Menschen herumzutreiben.“
Sie lachte, das gleiche matte und gleichgültige Lachen.
„Zum Teufel, dann bist du morgen so müde, daß du mir auch nicht sitzen kannst.“
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„Oh, ich werde das schon fertigbringen.“
„Das glaube ich nicht. Ich kann jedenfalls nicht ordentlich arbeiten, wenn wir so die ganze Nacht durchbummeln.“
Jenny zuckte mit den Schultern. Aber sie schlug die Richtung nach Babuino ein, den anderen entgegengesetzt.
Zwei Polizisten in ihren Umhängen gingen an ihnen vorüber. Sonst war nicht die Spur von Leben auf dem öden Platz. Der Springbrunnen rieselte vor der Spanischen Treppe, die inmitten der immergrünen, schwarzen und silberblinkenden Büsche der Anlagen vom Mondenschein weiß übergossen dalag.
Jenny sagte plötzlich hart und spöttelnd:
„Ich weiß, es ist gut gemeint, Gunnar. Es ist nett von dir, daß du versuchst, auf mich aufzupassen. Aber es hat keinen Zweck.“
Er schwieg.
„Nein, wenn du selbst nicht willst,“ sagte er kurz nach einer Weile.
„Willst,“ äffte sie ihm nach.
„Ja, ich sagte ‚willst‘.“
Jenny atmete kurz und heftig, als wollte sie etwas antworten, hielt aber an sich. Ekel stieg in ihr auf — halbbetrunken war sie, das wußte sie selbst sehr wohl. Es fehlte ja noch, daß sie hier aufschrie, jammerte und heulte, berauscht, wie sie war, Gunnar gegenüber. Sie biß die Zähne zusammen.
So kamen sie zu ihrer Haustür. Heggen schloß auf, entzündete ein Wachshölzchen und begann, die endlos dunkle Treppe hinaufzuleuchten.
Ihre beiden Zimmerchen lagen für sich auf einem halben Stockwerk oben am Ende der Treppe. An den Türen vorüber lief ein kleiner Gang, der in einer Marmortreppe zum flachen Dach des Hauses endigte.
In ihrer Tür reichte sie ihm die Hand:
„Gute Nacht, Gunnar — hab Dank,“ sagte sie leise.
„Ich danke dir. Schlaf gut —“
„Gleichfalls.“
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Drinnen in seinem Zimmer öffnete er das Fenster. Gerade gegenüber glänzte der Mondschein auf einer ockergelben Hauswand mit geschlossenen Fensterläden und schwarzen eisernen Balkons. Der Pincio erhob dahinter seinen Gipfel mit den scharfabstechenden dunklen Laubmassen gegen den mondlichtblauen Himmel. Darunter lagen alte, moosbewachsene Dächer; wo des Hauses kohlschwarzer Schatten endete, hing leichenfahle Wäsche zum Trocknen auf einer niedrigen Terrasse. Gunnar beugte sich weit über das Fenstersims, traurig und angewidert. Tod und Teufel, war er denn engherzig oder — aber Jenny in diesem Zustande zu sehen —!
Aber gerade er hatte sie zuerst in dieses Getriebe hineingezogen. Um sie aufzumuntern. Sie verkümmerte ja in den ersten Monaten wie ein kranker Vogel. Er hatte geglaubt, es würde für sie Beide eine boshafte Unterhaltung sein, die anderen zu beobachten — diese Affen. Er hatte ja nicht geahnt, daß es eine derartige Wirkung haben könnte.
Er hörte sie aus ihrem Zimmer und hinauf zum Dache gehen. Heggen zauderte einen Augenblick. Dann folgte er ihr.
Sie saß in dem einzigen Stuhl dort oben, hinter der kleinen Wellblechlaube. Die Tauben gurrten schläfrig in ihrem Schlage, der auf dem Laubendach angebracht war.
„Bist du noch nicht zu Bett gegangen?“ sagte er leise. „Du wirst dich erkälten.“ Er holte ihren Schal aus der Laube und reichte ihn ihr, dann setzte er sich auf den Mauerrand zwischen die Blumentöpfe.
Eine Weile starrten sie so schweigend über die Stadt, deren Kirchenkuppeln im Mondenlicht schwammen. Die Linien der fernen Höhenzüge waren vermischt.
Jenny rauchte. Auch Gunnar zündete sich eine Zigarette an.
„Ich merke übrigens, ich vertrage fast nichts mehr — beim Trinken meine ich. Es wirkt sofort,“ sagte sie gleichsam entschuldigend.
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Er sah, daß sie jetzt völlig nüchtern war.
„Ich finde, du solltest es jetzt eine Weile lassen, Jenny. Auch das Rauchen, solltest jedenfalls nur ganz wenig rauchen. Du hast ja über dein Herz geklagt.“
Sie antwortete nicht.
„Im Grunde bist du ja über diese Menschen der gleichen Meinung wie ich. Ich begreife nicht, daß du dich dazu herablassen magst, mit ihnen zusammen zu sein — in dieser Art und Weise.“
„Mitunter,“ sagte sie leise, „braucht man — Betäubung, gerade heraus gesagt. Und was das Sichherablassen betrifft —.“ Er blickte ihr in das weiße Antlitz. Das unbedeckte blonde Haar flimmerte im Mondlicht. „Mitunter finde ich: nicht. Obgleich — jetzt in diesem Augenblick zum Beispiel, schäme ich mich. Jetzt bin ich also ungewöhnlich nüchtern, siehst du.“ Sie lachte ein wenig. „Manchmal ist das nicht der Fall, selbst wenn ich nichts getrunken habe. Dann überkommt mich das Verlangen, mit dieser Sorte zusammen zu sein.“
„Es ist gefährlich, Jenny,“ flüsterte er. Und nach einer Weile: „Ich kann mir nicht helfen, aber ich fand das heute Abend widerlich. Ich habe manches gesehen — wie es zugeht. Ich möchte dich doch nicht gern sinken sehen, so enden sehen wie etwa Loulou —.“
„Du kannst durchaus ruhig sein, Gunnar. So ende ich nicht. Im Grunde bin ich zu so etwas gar nicht fähig. Ich werde schon vorher einen Punkt machen —.“
Er blickte still auf sie.
„Ich weiß, was du meinst,“ sagte er schließlich leise. „Aber Jenny, andere haben ebenso gedacht. Und wenn man dann eine Zeitlang den Strom abwärts geschwommen ist — so tut man es nicht mehr — das, was du einen Punkt machen nennst.“
Er glitt von der Mauerkante herab, ging auf sie zu und ergriff ihre Hand:
„Du Jenny, hör damit auf — ja?“
Sie erhob sich und lachte kurz.
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„Vorläufig wenigstens. Ich bin sicher für eine lange Zeit von meiner Bummelsucht geheilt, glaube ich.“
Sie standen einen Augenblick still. Dann schüttelte sie seine Hand:
„Gute Nacht, mein Junge. — Und morgen sitze ich dir,“ sagte sie auf der Treppe.
„Ja, danke.“
Heggen verweilte noch etwas, nachdenklich, während er ein wenig fröstelte. Dann ging er in sein Zimmer hinunter.
Sie saß ihm am nächsten Tage nach dem Frühstück, bis es zu dämmern begann. Ruhte sie sich aus, so wechselten sie einige gleichgültige Worte, während er fortfuhr, am Hintergrund zu arbeiten oder die Pinsel wusch.
„So!“ Er legte die Palette fort und ordnete den Malkasten. „Für heute bist du erlöst!“
Sie ging zu ihm, und sie betrachteten das Bild.
„Das Schwarz ist sehr fein — findest du nicht, Jenny?“
„Doch. Ich finde, es läßt sich gut an.“
„Ja,“ er blickte auf die Uhr. „Es ist eigentlich Essenszeit — gehen wir zusammen?“
„Ja, gern. Ich will nur mein Kostüm anziehen, wartest du so lange?“
Kurz darauf, als er an ihrer Tür pochte, stand sie fertig da, den Hut vor dem Spiegel aufsetzend.
Wie schön sie ist, dachte er, als sie sich ihm zuwandte. Schlank und hell in dem festanliegenden stahlgrauen Kleide, wirkte sie so damenhaft fein und zugeknöpft, kühl und stilvoll. Und er wollte nicht glauben, was er selbst gedacht hatte —.
„Hattest du nicht übrigens mit Fräulein Schulin verabredet, sie heute Nachmittag zu besuchen, um dir ihre Sachen anzusehen?“
[S. 299]
„Ja, ich gehe aber nicht hin.“ Sie wurde sehr rot. „Ehrlich gesagt, habe ich keine Lust, diese Bekanntschaft zu pflegen — an ihren Sachen ist wohl auch nicht viel zu sehen?“
„Nein, das weiß der Herrgott! Ich begreife nur nicht, wie du ihre Annäherungen gestern Abend zulassen konntest. Pfui, ich würde lieber einen Teller mit lebenden Mehlwürmern essen.“
Jenny lachte. Dann sagte sie ernst:
„Die Aermste, im Grunde ist sie wohl unglücklich.“
„Pah — unglücklich! Ich begegnete ihr in Paris vor einigen Jahren. Das Schlimmste ist ja, daß sie von Natur sicher gar nicht pervers ist. Nur dumm und eitel. Nun war das interessant. Wäre es modern gewesen, tugendhaft zu sein, so hätte sie auf einer Empore gesessen und Kinderstrümpfe gestopft, vielleicht sich hin und wieder damit beschäftigt, Rosen zu malen mit Tauperlen darauf. Sie wäre die tugendsamste aller Johanne Luisen im Danneweg gewesen — und obendrein fröhlich. Aber als sie den ‚Etatsrätlichen‘ entronnen war, von denen sie stammte, da wollte sie den übrigen nicht nachgeben, befreit und Malerin, und meinte, sie müsse sich jetzt einen Liebhaber anschaffen um ihrer Selbstachtung willen. Unglücklicherweise erwischt sie dann einen Tolpatsch, der sie in andere Umstände bringt. Er ist altmodisch und will, daß sie sich — völlig unmodern — heiraten und verlangt, sie solle das Kind warten und die Wirtschaft führen.“
„Du kannst ja gar nicht wissen — es kann ja zum Teil auch Paulsens Schuld gewesen sein, daß sie ihm davonlief.“
„Ja, natürlich war es seine Schuld. Er war altmodisch, wie gesagt, und fand Geschmack am häuslichen Glück, er bot ihr wohl zu wenig an Liebe und keine Prügel.“
„Ja ja, Gunnar. Du willst nun absolut haben, daß das Leben so verflucht leicht zu übersehen sein soll.“
[S. 300]
Heggen setzte sich rittlings über einen Stuhl und schlang die Arme um die Lehne.
„Das wenige Gewisse im Leben, an das wir uns halten können, ist wahrlich leicht genug zu übersehen. Man muß seine Rechnung und seine Ansichten danach in Ordnung bringen. Mit all dem Ungewissen aufräumen, so gut man kann, sobald es auf dem Tapet erscheint.“
Jenny setzte sich aufs Sofa und stützte den Kopf in die Hand:
„Ich habe nicht mehr das Gefühl, daß es irgend etwas im Leben gibt, worüber ich die genügende Uebersicht habe, so daß ich es als Grundlage für meine Anschauungen gebrauchen oder meine Rechnung danach machen könnte,“ sagte sie ruhig.
„Das ist nicht dein Ernst.“
Sie lächelte nur.
„War es nicht immer,“ sagte Gunnar.
„Es gibt wohl niemanden, der immer dasselbe meint.“
„Doch, immer, wenn man nüchtern ist. Wie du heute Nacht sagtest, man ist nicht immer nüchtern, auch wenn man nichts getrunken hat.“
„Jetzt — wenn ich mich hin und wieder nüchtern fühle —“ Sie brach ab und schwieg.
„Du weißt, was auch ich weiß. Du hast es immer gewußt. Im großen und ganzen leitet der Mensch sein Geschick selbst. Man ist seines eigenen Schicksals Herr — in der Regel. Hin und wieder ist man es nicht. — doch dann tragen Umstände die Schuld, über die man nicht gebietet. Aber es ist eine gewaltige Uebertreibung, zu behaupten, daß es oft der Fall sei.“
„Gott mag wissen, mir ist es nicht ergangen, wie ich gewollt, Gunnar. Ich habe viele Jahre hindurch den Willen gehabt und nach meinem Willen gelebt.“
Sie schwiegen beide eine Weile still.
„Eines Tages,“ sagte sie langsam, „änderte ich einen Augenblick den Kurs. Ich fand es so kalt und hart, dieses Leben zu leben, das, wie ich glaubte, das würdigste sei. So einsam, weißt du. So bog ich denn einen Augenblick [S. 301] zur Seite, wollte jung sein und ein wenig spielen. Und dadurch geriet ich in eine Strömung hinaus, die mich trieb — ich endete in Dingen, mit denen in Berührung zu kommen, ich niemals eine Sekunde für möglich gehalten hatte.“
Heggen schwieg.
„Es gibt einen Vers,“ sagte er dann leise. „Rosetti — er ist nämlich ein weit besserer Dichter als Maler:
Jenny erwiderte nichts.
„ That the same goal is still on the same track ,“ wiederholte Gunnar.
„Glaubst du,“ fragte Jenny, „daß es so leicht ist, zu seinem Ziel zurückzufinden?“
„Nein. Aber müßte man es nicht?“ sagte er beinahe kindlich.
„Was für ein Ziel hatte ich übrigens,“ sagte sie plötzlich hastig. „Ich wollte so leben, daß ich mich niemals zu schämen brauchte, weder als Mensch noch als Künstlerin. Niemals wollte ich etwas tun, von dem ich wußte, daß es nicht richtig sei. Rechtschaffen wollte ich sein, fest und gut und wollte niemals eines Menschen Schmerz auf mein Gewissen laden. Und darin bestand [S. 302] dann das ganze Verbrechen, das den Anfang bildete — woraus alles andere folgte? Daß ich mich nach Liebe sehnte, ohne daß ein bestimmter Mann da war, dem diese Sehnsucht galt. War das so seltsam? Daß ich so gern glauben wollte, als Helge kam, daß er es war, nach dem ich mich gesehnt? Daß ich es schließlich wirklich glaubte? Das war ja der Anfang, worauf das andere folgte. Gunnar — ich habe geglaubt, daß ich sie glücklich machen könnte — und dann tat ich ihnen nur weh.“
Sie hatte sich erhoben und wanderte im Zimmer auf und nieder:
„Glaubst du, daß die Quelle, von der du sprichst — glaubst du, daß sie jemals wieder rein und klar wird bei einer, die weiß, daß sie selber sie getrübt hat? Meinst du, es würde mir jetzt leichter, zu resignieren? Ich sehnte mich nach dem, wonach sich alle Frauen sehnen. Und ich sehne mich jetzt — wieder danach. Nur mit dem Unterschied, daß ich jetzt weiß, ich habe eine Vergangenheit. Und eine Folge davon ist, daß ich das einzige Glück, das ich anerkenne, nicht annehmen darf — denn es sollte frisch und gesund und rein sein — und das alles bin ich selbst nicht mehr. Ich muß weiter eine Sehnsucht mit mir schleppen, deren Erfüllung — oh, ich weiß es — unmöglich ist. Diese Sehnsucht ist also mein Schicksal, mein ganzes Leben ist durch sie gezeichnet.“
„Jenny,“ — Gunnar erhob sich ebenfalls — „ich behaupte dennoch, es kommt auf dich selbst an — es muß so sein. Ob es dein Wille ist, daß diese Erinnerungen dich vernichten oder ob du sie als ein Lehrgeld betrachten willst, so grausam hart es sich auch anhört. Das Ziel, das du einstmals vor dir hattest, war, glaube ich, das richtige — für dich.“
„Kannst du dir denn nicht vorstellen, daß das unmöglich ist, mein Junge. Es hat sich etwas in mich hineingeschlichen wie eine Säure, die alles zerfrißt, was einst mein Wesen war; ich fühle selber, wie ich inwendig zerfalle. — Oh. Und ich will doch nicht, ich will nicht. Und ich habe ein Verlangen nach — ich weiß nicht —. [S. 303] Will alle Gedanken zum Stillstand bringen. Sterben —. Oder leben — ein wahnsinniges, abscheuliches Dasein, zugrunde gehen in einem Elend, das noch fürchterlicher ist als dies —. Laß mich so tief in den Schmutz treten, daß ich spüre, hiernach kommt das Ende. Oder —“ sie sprach leise und wild, es klang wie erstickte Schreie — „mich unter einen Eisenbahnzug schleudern — mit dem Bewußtsein der letzten Sekunden, daß jetzt — jetzt gleich — mein ganzer Körper, Nerven und Hirn und Herz, — alles — zu einem einzigen zuckenden blutigen Klumpen zermalmt ist.“
„Jenny!“ schrie er auf. Er war fahl im Gesicht geworden. Dann flüsterte er mühsam: „Ich kann dich nicht so sprechen hören.“
„Ich bin hysterisch,“ sagte sie beruhigend. Aber sie ging trotzdem zu dem Winkel, wo ihre Leinwand stand und schleuderte sie fast die Wand entlang:
„Man kann doch nicht leben und bestehen, um so etwas da zu bearbeiten. Oelfarben auf die Leinwand zu kleistern — du siehst ja, etwas anderes wird nicht daraus — tote Malkleckse. Du großer Gott, du hast gesehen, wie ich die ersten Monate hindurch gearbeitet habe, wie ein Sklave — ich kann überhaupt nicht mehr malen.“
Heggen betrachtete die Bilder. Es war ihm trotzdem, als fühle er wieder festen Grund und Boden unter den Füßen.
„Du darfst ruhig deine aufrichtige Meinung über diese — Schweinerei sagen,“ meinte sie herausfordernd.
„Ja, es sind nicht gerade schöne Sachen — das will ich gern zugeben.“ Er stand, mit den Händen in den Hosentaschen, und betrachtete die Bilder. „Aber das ist doch etwas, was einem jeden von uns begegnen kann — Perioden, wo wir nicht können. Was das betrifft, so müßtest du wissen, meine ich, daß es etwas Vorübergehendes ist — für dich. Ich glaube nicht daran, daß man sein Talent einbüßen kann, und wenn man noch so unglücklich ist. Deine Arbeit hat übrigens zu lange geruht. Man muß sich doch wieder erst einarbeiten, die Herrschaft über seine Schaffensmöglichkeiten zurückgewinnen, siehst du. [S. 304] Allein die Modellstudie dort, Mädel — es ist wohl bald drei Jahre her, seit du einen Akt zeichnetest. So etwas bleibt nicht ungestraft, das weiß ich aus Erfahrung.“
Er trat an das Regal und wühlte unter Jennys alten Skizzenbüchern:
„Denk nur daran, wie du dich in Paris hochgearbeitet hattest — ich werde dir Einiges zeigen.“
„Nein, nein — nicht das da,“ sagte Jenny hastig und streckte die Hand nach dem Buche aus.
Heggen hielt es zusammengeklappt in der Hand und sah sie erstaunt an. Sie wandte das Antlitz ab:
„O, du darfst übrigens ruhig hineinsehen. Ich versuchte nur, eines Tages den Jungen zu zeichnen.“
Heggen blätterte langsam darin herum. Jenny hatte sich wieder aufs Sofa gesetzt. Er betrachtete eine Weile die kleinen Bleistiftzeichnungen von dem schlafenden Kindchen. Dann legte er das Buch behutsam fort.
„Es war traurig, daß du deinen kleinen Jungen verlorst,“ sagte er leise.
„Ja. — Hätte er gelebt, so wäre ja alles andere gleichgültig gewesen, weißt du. Du sprichst vom Willen, aber eines Menschen Wille kann nicht einmal — seines Kindes Leben — festhalten, und dann —. Ich bin nicht dazu imstande, nach Höherem zu streben, Gunnar, denn ich sah, dies war das Einzige, wozu ich etwas taugte, woraus ich mir etwas machte — meines kleinen Knaben Mutter zu sein. Ja, ihn konnte ich lieben. Vielleicht bin ich ein Egoist durch und durch, denn jedesmal, wenn ich den Versuch machte, die anderen zu lieben, so erhob sich mein eigenes Ich wie eine Mauer zwischen uns. Doch der Knabe war mein. Hätte ich ihn, so könnte ich arbeiten — ach, wie würde ich dann arbeiten! Ich schmiedete Pläne. Mir fiel es wieder ein im vergangenen Herbst, als ich hierher reiste, — ich wollte ja den Sommer mit ihm in Bayern verbringen. Ich fürchtete, die Seeluft würde zu scharf für ihn sein. Er sollte im Wagen liegen und unter den Apfelbäumen schlummern, während ich arbeitete. Siehst du, ich könnte an keinen Ort der Welt kommen, wo ich [S. 305] nicht im Traum schon mit dem Kind gewesen wäre. Es gibt auf der Welt nichts Gutes und Schönes, von dem ich nicht gedacht, daß er es lernen oder sehen sollte. Ich besitze nichts, was nicht auch ihm gehörte, das rote Plaid brauchte ich, um ihn darin einzuhüllen. Das schwarze Kleid, in dem du mich malst, wurde in Warnemünde für mich genäht, nachdem ich genesen war, ich wählte diese Form, damit es bequem wäre, ihn zurecht zu legen. Im Futter sind noch Milchflecken.
Ich kann nicht arbeiten, weil ich ganz von ihm beherrscht bin. Ich sehne mich so heftig nach ihm, daß es mich fast lähmt. Des Nachts rolle ich mein Kopfkissen zusammen, nehme es in den Arm und wimmere nach Bübchen. Ich rufe ihn und rede mit ihm, wenn ich allein bin. Ich hatte ihn malen wollen, so daß ich Bilder von ihm aus jedem Alter gehabt hätte. Jetzt wäre er bald ein Jahr alt gewesen, denk nur — hätte Zähnchen bekommen und würde kriechen können, hätte sich aufgerichtet und wäre vielleicht ein bißchen gelaufen. Jeden Monat, jeden Tag denke ich, heute wäre er so und so alt gewesen — wer weiß, wie er wohl ausgesehen hätte. — Alle Frauen, die mit einem bambino auf dem Arme herumlaufen — alle Jungen, die ich auf der Straße sehe, erinnern mich daran, wie wohl meiner ausgesehen hätte, wenn er größer geworden wäre —.“
Sie schwieg wieder. Heggen saß ganz still vornübergebeugt.
„Ich glaubte nicht, daß es so sei, Jenny,“ sagte er leise und heiser. „Ich sah wohl, daß es schmerzlich war, aber ich dachte, andererseits — wäre es besser so. Hätte ich gewußt, wie es sich wirklich verhielt, so wäre ich zu dir gekommen —.“
Sie antwortete nicht und fuhr fort in ihren Gedanken:
„Und dann starb er — so winzig, winzig klein. Es ist ja nur Egoismus von mir, daß ich es ihm nicht gönne — gestorben zu sein, ehe er anfing, das allergeringste zu verstehen. Er konnte nur nach dem Lichte blinzeln oder schreien, wenn er zurechtgemacht werden sollte oder [S. 306] hungrig war. Er suchte nach meiner Wange in dem Glauben, es sei die Brust. Er kannte mich auch noch nicht, jedenfalls noch nicht richtig. Ein ganz schwacher Schimmer von Bewußtsein war vielleicht in seinem kleinen Köpfchen erwacht, aber stell dir vor, er hat nie gewußt, daß ich seine Mutter war —. Einen Namen hat er auch nicht gehabt, der Arme, nur Mutters Bübchen war er. Keinerlei Erinnerung habe ich an ihn, außer dieser rein körperlichen.“ Sie erhob die Hände, als drückte sie das Kind an sich. Dann fielen sie tot und leer auf den Tisch zurück.
„Das erste Mal, als ich sein Gesichtchen an meine Wange legte, war seine Haut so weich, ein wenig feucht, wie etwas Eingeschlossenes, die Luft hatte sie ja noch kaum berührt, weißt du. Ich glaube, man würde angewidert sein, einem neugeborenen Kinde zu nahe zu kommen, wenn es nicht das eigene Fleisch und Blut ist. Seine Augen, sie hatten noch keine richtige Farbe, waren dunkel, ich glaube übrigens, sie wären graublau geworden. Sie sind so seltsam, die Augen solcher kleinen Kinder — mystisch, hätte ich beinahe gesagt. Und sein kleines Köpfchen — wenn er bei mir lag und die Brust bekam, wenn er dann seine Nasenspitze flach drückte und es oben in der kleinen Fontanelle pochte, das dünne, flaumige Haar — er hatte soviel Haar, als er geboren wurde — dunkles —. Ich fand ihn so entzückend. Ach, sein ganzer kleiner Körper. Ich denke ja an nichts anderes. Ich kann ihn in meinen Händen spüren. Die Lenden waren so rund — er war am dicksten in der Mitte, weißt du —. Und sein Hinterteilchen war so komisch zusammengeklemmt, ein wenig spitz — ich fand natürlich auch das wunderhübsch. O Gott, wie süß war er, mein kleiner Junge —. Und dann starb er. — Ich hatte mich gefreut auf alles, was kommen sollte, so daß ich nachher meinte, ich hätte dem, was war, nicht genügend Beachtung geschenkt, der Zeit, als ich ihn hatte; ich hätte ihn nicht genügend geküßt oder betrachtet, obwohl ich in all den Wochen nichts anderes tat. — Und zurück blieb dann nur die Lücke — du kannst dir nicht denken, wie das war. Mir schien, als arbeite mein ganzer Körper [S. 307] in der Sehnsucht nach ihm. Ich bekam eine Entzündung in der Brust, der Schmerz und das Fieber waren nur die Sehnsucht, die hinauswollte. Ich vermißte ihn in den Armen, zwischen den Händen und an der Wange —. Manchmal, in den letzten Wochen, schloß er die Hand um meinen Finger, wenn ich ihn hinstreckte. Einmal hatte er ganz von selbst einige von meinen Haaren erwischt, die sich gelöst hatten —. Die süßen, süßen kleinen Hände.“
Sie legte sich über den Tisch, schluchzte leise und heftig, daß sie bebte.
Gunnar war aufgestanden, zögerte, im Zweifel mit sich, ein Weinen in der Kehle. Dann lief er plötzlich zu ihr hin, hastig und verlegen küßte er sie heftig auf den Scheitel.
Sie blieb eine Zeitlang liegen und weinte. Aber schließlich richtete sie sich auf, ging zum Waschtisch und badete ihr Gesicht im Wasser:
„O Gott, wie sehne ich mich nach ihm,“ sagte sie unvermittelt, mit verweinter Stimme.
„Jenny —.“ Er wußte nichts anderes zu sagen: „Jenny. — Ich wußte ja nicht, daß es dir so ergangen war —“.
Sie kam zurück und legte einen Augenblick ihre Hände auf seine Schultern:
„Ja, ja, Gunnar. Du sollst nicht so viel an das denken, was ich vorher sagte. Mitunter weiß ich nicht, wohin mit mir selbst. Aber du kannst dir denken, wenn auch nur um des Jungen willen: mich geradezu Ausschweifungen hinzugeben, das bringe ich wohl doch nicht fertig. Eigentlich will ich natürlich selber versuchen, das Bestmöglichste aus dem Leben zu machen — weißt du. Versuchen, wieder zu arbeiten, wenn es auch im Anfang nicht so leicht wird. Man hat ja immer den einen Trost, daß man nicht länger lebt, als man selber will —.“
Sie setzte sich wieder den Hut auf und suchte nach einem Schleier:
„Gehen wir also zum Essen, du mußt ja hungrig geworden sein, so spät wie es ist —.“
[S. 308]
Gunnar Heggen wurde blutrot über sein ganzes junges Gesicht. Bei ihren Worten merkte er plötzlich, daß er einen Bärenhunger hatte, aber er schämte sich, jetzt etwas derartiges zu empfinden. Er trocknete die Tränen von seinen nassen, heißen Wangen und nahm seinen Hut vom Tisch.
Ohne es verabredet zu haben, gingen sie an dem Restaurant vorüber, wo sie sonst zu essen pflegten und immer viele Skandinavier trafen. Sie schritten immer weiter durch die Dämmerung, nach der Tiber und über die Brücke bis in die alten Borgo-Viertel. In einem Winkel am Petersplatz lag ein kleines Restaurant, wo sie mitunter gegessen hatten, wenn sie vom Vatikan kamen. Hier traten sie ein.
Sie aßen, ohne mit einander zu sprechen. Jenny zündete sich eine Zigarette an, als sie fertig war, nippte an ihrem Rotwein und rieb die duftenden Mandarinenschalen zwischen ihren Fingern.
Heggen rauchte ebenfalls und starrte vor sich hin. Sie befanden sich fast allein im Lokal.
„Hast du Lust, den Brief zu lesen, den ich kürzlich von Cesca bekam?“ fragte Jenny plötzlich.
„Danke. Ich sah es, daß ein Brief für dich gekommen war. Ist er aus Stockholm?“
„Ja. Sie sind jetzt dort, werden auch den Winter über da wohnen bleiben.“
Jenny holte den Brief aus ihrer Handtasche hervor und reichte ihn Gunnar.
Cescas Brief lautete:
„Meine liebe, süße Jenny!
Du darfst mir nicht böse sein, daß ich Dir noch nicht für Deinen letzten Brief gedankt habe. Ich hatte jeden Tag die Absicht, es zu tun, aber es wurde nichts [S. 309] daraus. Ich freue mich so sehr, daß Du wieder in Rom bist und daß Du malst, besonders auch, daß Du mit Gunnar zusammen bist.
Wir sind jetzt also nach Stockholm zurückgekehrt und wohnen wieder in der alten Wohnung. Es war unmöglich, in unserem Dörfchen zu bleiben, als es wirklich kalt wurde, denn dort zog es schrecklich und wir konnten es nur in der Küche ordentlich warm bekommen. Wenn wir es uns doch leisten könnten, das kleine Häuschen zu kaufen, aber es wird zu teuer, denn wir müßten zuviel daran ausbessern, die Scheune als Atelier für Lennart umbauen und überall Oefen setzen lassen. Aber wir haben es für den nächsten Sommer wieder gemietet, und darüber freue ich mich, denn es ist mir der liebste Platz auf der Welt. Du kannst Dir etwas so Schönes wie die Westküste nicht vorstellen. Sie ist so eigentümlich, öde und verwittert mit den grauen Hügeln und dem vom Sturm zerzausten Gestrüpp in den Felsspalten, mit den Geißblattranken und den armseligen kleinen Häusern, dem Meer und dem wunderbaren Himmel. Die Bilder, die ich davon gemalt habe, seien gut, sagt man, und Lennart und ich leben dort so herrlich miteinander. Jetzt sind wir für immer Freunde, und wenn er findet, daß ich merkwürdig bin, so küßt er mich nur und sagt, ich sei eine kleine Seejungfrau, und irgend sowas Nettes, und mit der Zeit schlage ich auch völlig Wurzel bei ihm.
Aber jetzt sind wir wieder in der Stadt. Aus der Pariser Reise wird diesmal nichts, und das ist auch gleich. Ich finde es beinahe herzlos, Dir darüber etwas zu schreiben, Jenny, denn Du bist viel, viel besser als ich, und es war so bitter und fürchterlich, daß Du Deinen kleinen Jungen hergeben mußtest und ich finde, ich habe es nicht verdient, das Glück, meinen heißen Wunsch erfüllt zu sehen, aber ich erwarte also ein kleines Baby. Es dauert nur noch fünf Monate. Ich wollte es zuerst selbst nicht glauben, aber jetzt ist [S. 310] es ganz sicher. Ich versuchte, es so lange wie möglich Lennart zu verheimlichen, ich schämte mich furchtbar der beiden Male wegen, die ich ihn damit an der Nase herumgeführt, und hatte Angst, daß ich mich täuschen könnte, so daß ich es erst ableugnete, als er es zu ahnen begann. Aber schließlich mußte ich mich ja zu einem Bekenntnis bequemen, ich begreife es aber eigentlich noch nicht, daß ich wirklich einen kleinen Buben bekomme. Lennart sagt übrigens, er will am liebsten noch eine kleine Cesca haben, aber das tut er bloß, um mich im voraus zu trösten, wenn es so würde, denn ich bin überzeugt, eigentlich will er am liebsten einen Sohn haben. Aber Du weißt, wird es ein Mädchen, so freuen wir uns ebenso sehr darüber, und außerdem, haben wir erst eins, so können wir ja immer mehr bekommen.
Jetzt bin ich so froh, daß es mir eigentlich gleichgültig ist, wo wir sind; jedenfalls sehne ich mich nicht nach Paris; denke Dir, Frau Lundquist fragte, ob ich nicht ärgerlich sei, daß dieser Junge uns nun die ganze Pariser Fahrt über den Haufen würfe; kannst Du so ein Menschenkind begreifen, und dabei hat sie die zwei entzückendsten Knaben von der Welt. Aber sie verwahrlosen vollständig, wenn sie nicht bei uns sind, und Lennart sagt, sie würde sie uns gern schenken, und könnte ich es mir leisten, so nähme ich sie auch. Dann hätte der Kleine gleich zwei große liebe Brüder zum Spielen, wenn er kommt; es wird einen Spaß geben, wenn wir ihnen den kleinen Vetter zeigen — sie sagen Tante zu mir, eine drollige Sitte, finde ich.
Aber nun muß ich schließen. Weißt Du, worüber ich auch froh bin — unter diesen Umständen kann Lennart doch unmöglich eifersüchtig werden, nicht wahr? Uebrigens glaube ich, das hat aufgehört, denn jetzt weiß er sehr gut, daß ich eigentlich nur ihn wirklich lieb gehabt habe.
Findest Du das häßlich von mir, daß ich Dir soviel von all diesem schreibe, und daß ich so glücklich [S. 311] bin? Aber ich weiß ja doch, daß Du es mir so herzlich gönnst.
Grüß alle Bekannten, die Du dort unten triffst, und Gunnar zu allererst viele Male. Du darfst ihm dies hier ruhig erzählen, wenn Du magst. Und nun leb wohl. Zum Sommer besuchst Du uns!
Tausend liebe Grüße von Deiner treuen kleinen Freundin
PS. Jetzt fällt mir plötzlich ein: Wird es ein Mädchen, so soll es meiner Treu Jenny heißen, was auch Lennart sagen mag. Ich sollte übrigens von ihm grüßen.“
Gunnar reichte Jenny den Brief zurück, die ihn wieder wegsteckte.
„Ich bin froh,“ sagte sie leise. „Ich freue mich über jeden Menschen, den ich glücklich weiß. Diese Freude ist mir geblieben aus alter Zeit — wenn es auch das Einzige ist.“
Sie gingen nicht nach der Stadt zurück, sondern schlenderten über den Petersplatz, der Kirche zu.
Im Mondschein fielen die Schatten kohlschwarz über den Platz. Gleißendes Licht und nächtliche Finsternis lösten sich gespenstisch in dem einen der gewölbten Säulengänge ab. Der andere lag ganz im Dunkeln; nur die Konturen der Statuenreihe auf dem Dache waren von flimmerndem Licht umspielt. Auch die Fassade der Kirche lag im Schatten, während die Kuppel hoch oben hier und da wie silbriges Wasser schimmerte.
Die beiden Fontänen jagten ihre weißen Strahlen funkelnd und schäumend zum mondblauen Himmel auf. Wirbelnd schoß das Wasser in die Höhe, plätscherte gegen die Porphyrschalen, um in die Becken zurückzurieseln und abzutropfen.
Gunnar und Jenny gingen langsam zur Kirche hinüber, im Schatten des Säulenganges.
„Jenny“, sagte er plötzlich. Seine Stimme klang ganz ruhig und alltäglich. „Willst du mich heiraten?“
[S. 312]
„Nein,“ sagte sie ebenso ruhig und lachte ein wenig.
„Es ist mein Ernst.“
„Ja, aber du wirst wohl begreifen, daß ich das nicht will.“
„Warum eigentlich nicht?“ Sie gingen weiter, der Kirche zu. „Wie ich verstanden habe, bist du augenblicklich selbst der Ansicht, dein Leben sei nicht lebenswert. Mitunter hast du die Absicht, dich ums Leben zu bringen, wie ich gemerkt habe. Wenn du dich aber in einem solchen Aufruhr befindest, weshalb kannst du dich denn nicht ebenso gut mit mir verheiraten? Du kannst es doch auf jeden Fall versuchen, meine ich!“
Jenny schüttelte den Kopf:
„Ich danke dir, Gunnar, aber das heißt, finde ich, die Freundschaft unerlaubt weit treiben.“ Sie wurde mit einem Male ernst: „Erstens mußt du dir doch sagen, daß ich das nicht annehme. Zweitens: würdest du mich dazu bringen, dich als Rettungsplanke anzusehen, so wäre ich nicht wert, daß du dich bemühtest, mir nur den kleinen Finger zu reichen.“
„Es ist nicht Freundschaft, Jenny.“ Er zögerte einen Augenblick. „Sondern ich habe — dich lieb gewonnen. Ich sage es nicht, um dir zu helfen — natürlich will ich dir auch gern helfen. Aber mir ist plötzlich klar geworden — wenn es mit dir ein böses Ende nähme — ich weiß nicht, was ich dann täte. Ich bin nicht fähig, daran zu denken. Nichts auf der Welt würde ich scheuen, um dir zu helfen — weil ich dir so gut bin, verstehst du?“
„O nicht doch, Gunnar.“ Sie stand still und blickte erschrocken zu ihm auf.
„Ja, natürlich weiß ich, daß du mich nicht liebst. Aber deshalb könntest du dich doch gut mit mir verheiraten, dies ebenso gut wie irgend etwas anderes tun, wenn du doch des Ganzen müde bist und meinst, du hättest dich selber aufgegeben.“ Seine Stimme klang heiß und bewegt, als er ausrief: „Du mußt mich ja eines Tages liebgewinnen, ich weiß es so sicher — weil ich dich so lieb habe!“
[S. 313]
„Du weißt, daß ich dich gern mag,“ sagte sie ernst. „Aber das ist kein Gefühl, mit dem du dich auf die Dauer begnügen könntest. Zu einem ganzen und starken Gefühl bin ich aber nicht fähig.“
„Natürlich bist du das. Alle Menschen sind es. Ich war doch so überzeugt, daß ich nie etwas anderes als diese — Geschichtchen erleben würde. Ich glaubte eigentlich nicht daran, daß es etwas anderes gäbe —.“ Er senkte die Stimme. „Du bist ja die erste, die ich liebe.“
Sie stand stumm und still.
„Dies Wort, Jenny, habe ich noch niemals ausgesprochen. Ich hatte eine Art von Scheu, Ehrfurcht davor. Ich habe bisher nie eine Frau geliebt. Etwas anderes war dieses dauernde Verliebtsein — in dies oder jenes an ihnen. Cescas Grübchen, wenn sie lachte — das unbewußt Raffinierte an ihr. Dies oder jenes, das meine Phantasie in Bewegung setzte, das mich anregte, Märchen über sie zu dichten, Abenteuer, die ich erleben würde. Einmal war ich in eine Frau verliebt, weil sie das erste Mal, als ich sie sah, ein so wundervolles tiefrotes seidenes Kleid trug, ganz schwarz in den Falten wie die dunkelsten Rosen, ich stellte sie mir immer in diesem Kleide vor. Und du damals in Viterbo. Du warst so fein und still, so zurückhaltend, gleichsam als trügst du Handschuhe bis hinauf zu den Ellenbogen, sowohl innen wie außen, und du hattest einen Schimmer in den Augen, wenn wir anderen lachten, als wolltest du gern mit uns spielen, du konntest aber nicht und wagtest nicht. Da war ich verliebt in den Gedanken, dich ausgelassen und lachend zu sehen. — Aber nie zuvor habe ich ein zweites, lebendes Wesen geliebt.“
Er wandte einen Augenblick die Augen von ihr und starrte zur Säule des Springbrunnens hinauf, die im Mondlicht funkelte. So spürte er das neue Gefühl in sich aufsteigen und funkeln, sein Sinn war voller neuer Worte, die in Ekstase über seine Lippen sprangen:
„Verstehst du mich, Jenny — ich liebe dich so, daß ich finde, alles andere ist gleichgültig. Ich trauere nicht [S. 314] darüber, daß du mich nicht liebst, denn ich weiß, daß es eines Tages der Fall sein wird; ich fühle ja, daß meine Liebe dich dahin bringen wird. Ich habe Zeit zu warten, denn es ist wunderbar, dich so zu lieben. Als du davon sprachst, dich niedertrampeln zu lassen, dich unter eine Lokomotive zu werfen, da geschah etwas mit mir. Ich wußte nicht, was es war, ich wußte nur, ich konnte es nicht mit anhören, ich wußte, ich durfte es nicht geschehen lassen. Es war, als gelte es mein Leben. Du sprachst vom Kinde — es schmerzte mich so wahnsinnig, daß du so gelitten hattest, und ich konnte dir nicht helfen, ja, ich wußte es noch nicht, aber der Wunsch war auch schon in mir wach, daß du mir gut sein mögest.
Ich verstand alles, Jenny, die grenzenlose Liebe und den furchtbaren Verlust, so lieb habe ich dich. Als wir drüben in der Trattoria saßen, als wir dann hier hinübergingen, da war mir plötzlich alles klar und wie grenzenlos lieb und teuer du mir bist. — Jetzt ist mir, als sei es immer so gewesen. Alle Erinnerungen an dich gehören mit zu meiner Liebe. Jetzt verstehe ich auch, warum ich so niedergedrückt war, seit du hierher kamst. Ich sah, wie schwer dich dein Geschick drückte, wie still und trostlos du in der ersten Zeit warst, und wie du später diese wilden Anfälle bekamst. Ich besinne mich auf den Tag in Warnemünde auf der Landstraße, als du dastandst und weintest — auch das gehört mit dazu, weswegen ich dich liebe. Die anderen Männer, die du gekannt hast, Jenny, auch der Vater des Knaben — o ich weiß, wie es gewesen ist. Du hattest mit ihnen geredet und geredet — über all deine Gedanken, und es war schließlich nur ein Gerede von Gedanken. Selbst, wenn du versuchtest, ihnen klar zu machen, wie du fühltest, sie konnten ja nicht verstehen, wie du warst. Aber ich weiß es. Was du an jenem Tag in Warnemünde sagtest, und auch heute, das — du weißt, daß du darüber nur mit mir sprechen kannst; das sind alles Dinge, die ich allein verstehen kann. Ist es nicht so?“
Sie senkte überrascht, zustimmend den Kopf.
[S. 315]
„Ich weiß, daß ich der einzige bin, der dich von Grund auf versteht, und ich weiß genau, wie du bist. Ach. So lieb wie ich dich habe! Wärst du voller Flecken und blutiger Wunden in deinem Gemüt, ich möchte nur dich haben und all das fortküssen, bis du wieder rein und gesund wärest. Ich will dir ja mit meiner Liebe nur dazu verhelfen, Jenny, so zu werden, wie du’s erstrebst und erreichen mußt, um dich glücklich zu fühlen. Auf welche schlimmen Gedanken du auch kämst — ich würde glauben, du seiest krank, etwas Fremdes habe sich in dein Wesen geschlichen. Wenn du mich auch betrögst, wenn ich dich betrunken im Rinnstein fände — du bist dennoch meine eigene geliebte Jenny. Hörst du? Kannst du nicht mein werden — nur mir gehören, dich in meine Arme legen und dich zu meinem Eigen machen lassen? Du wirst wieder gesund und glücklich werden. — Ich weiß noch nicht recht, wie ich es anfangen werde, aber ich weiß, meine Liebe wird einen Weg finden. Du wirst jeden Morgen ein wenig froher erwachen, und jeder Tag wird etwas lichter und wärmer sein als der vorhergegangene und deine Trauer etwas weniger schwer. Können wir nicht nach Viterbo fahren, irgend wohin? — Ach, laß mich dich mein nennen — ich will dich hegen wie ein krankes Kind. Und wenn du wieder geheilt bist, dann hast du mich liebgewonnen und weißt, wir Beide können gar nicht ohne einander leben. — Hörst du mich, Jenny — du bist krank, du kannst nicht allein auskommen. Schließ nur die Augen und gib mir deine Hände, so nehme ich dich und liebe dich gesund — ach, ich weiß, daß ich es kann.“
Jenny wandte ihm ihr weißes Antlitz zu. Sie hatte sich an eine Säule gelehnt und lächelte weh in den Mondenschein hinaus:
„Wie sollte ich diese große Bosheit und Sünde gegen Gott begehen können.“
„Meinst du, weil du mich nicht liebst? Ich sage dir ja, es macht nichts. Ich weiß, daß meine Liebe so mächtig ist, daß sie dich eines Tages geweckt haben wird, [S. 316] wenn du nur eine Zeitlang von der meinen umsponnen warst.“
Er umfing sie, küßte ihr ganzes Gesicht, badete es in Küssen. Sie war willenlos. Aber nach einer Weile flüsterte sie trotzdem:
„Tu es nicht, Gunnar — sei lieb.“
Er ließ sie zögernd fahren:
„Warum darf ich es nicht tun?“
„Weil du es bist. Wäre es ein anderer gewesen, der mir gleichgültig gewesen wäre — dann weiß ich nicht, ob ich hätte Widerstand leisten mögen.“
Gunnar nahm sie bei der Hand, während sie im Licht des Mondes auf und ab gingen.
„Ich verstehe dich. Als du deinen kleinen Buben bekommen hattest, sahest du in deinem Leben wieder einen Sinn — nach all dem Sinnlosen. Denn du liebtest ihn, und er brauchte dich. Als er dann starb, wurdest du gleichgültig gegen dich selber, denn du fandest, du seiest überflüssig.“
Jenny nickte:
„Ich kenne einige Menschen, die ich gern habe, um deretwillen es mich schmerzen würde, wüßte ich, daß sie traurig sind, und um deretwillen ich froh wäre, wenn es ihnen gut ginge. Aber ich vermag ihnen weder größere Trauer noch Freude zu bringen. So ist es immer gewesen. Und gerade das hat mich früher insgeheim so unglücklich und sehnsüchtig gemacht, daß ich umherlief und mein Dasein keines Menschen Glück bedeutete. Das aber wollte ich sein, Gunnar, eines anderen Menschen Glück. Ich habe nie an ein anderes Glück geglaubt. Du sprachst von der Arbeit, aber ich war nie davon überzeugt, daß sie uns erschöpft — es wäre mir auch so egoistisch vorgekommen. Die tiefste Freude, die man dabei empfindet, ist ja die eigene — und die kann man mit niemanden teilen. Aber es gibt keine Freude, die zugleich Glück bedeutet, wenn man sie nicht mit anderen teilen kann. Außer dem, was uns einzelne Augenblicke in unserer Jugend als Glück empfinden lassen. Das habe ich auch [S. 317] gefühlt, wenn ich meinte, ich hätte etwas erreicht in meinem Streben, besser zu werden. Aber es ist ja töricht, irgendwelche Reichtümer zu sammeln, wenn man sie nicht anwenden will. Bei einer Frau jedenfalls. Ich finde, das Leben einer Frau hat keinen Sinn, wenn sie nicht irgend jemandem zur Freude dient. Mir war es nie beschieden, ich habe nur einigen Menschen Leid gebracht, die kleine, armselige Freude, die ich gab, konnte wohl irgend eine andere auch geben, denn sie liebten mich ja nur, weil sie etwas anderes in mir sahen, als das, was ich wirklich war. — Nachdem Bübchen dann gestorben war, gelangte ich zu der Ansicht, es sei gut, daß niemand mir so nahestand, daß ich ihm ernstlich Leid zufügen konnte. Es gab niemanden, dem ich unersetzlich war. — Und nun sagst du mir dies. Dich hätte ich vielleicht am allerwenigsten in mein verwirrtes Leben hineingezogen. Eigentlich habe ich dich immer am liebsten gehabt von allen, die ich kannte. Mir tat es wohl, daß wir Freunde waren auf diese Art. Daß Liebe und all dergleichen Gefährliches und Unruhiges sich nicht zwischen uns drängen konnte! Ich hielt dich für zu gut dafür. Ach Herrgott, wie innig wünschte ich, es hätte sich nichts geändert.“
„Ich habe heute nicht mehr die Empfindung, als sei es jemals anders gewesen,“ sagte er leise. „Ich liebe dich. Und ich glaube, du brauchst mich. Ich bin so fest überzeugt, daß ich dich wieder zum Glücke zurückführen kann. Und wenn mir nur das gelingt, so hast du mich glücklich gemacht.“
Jenny schüttelte den Kopf:
„Wäre nur das Geringste zurückgeblieben von meinem Glauben an mich selbst! Betrachtete ich mich nicht als so unwiederbringlich abgetan — dann vielleicht. Aber Gunnar, wenn du davon sprichst, daß du mich liebst, so weiß ich, daß das, was du an mir liebst, tot und vernichtet ist. Dann aber ist es ja wieder die alte Sache, du bist verliebt in etwas, was du dir an mir nur einbildest, vielleicht etwas, was ich gewesen bin oder hätte sein können. [S. 318] Aber dennoch — eines Tages wirst du mich sehen, wie ich jetzt bin und dann wirst auch du nur unglücklich.“
„Wie es auch endet — niemals werde ich es als ein Unglück betrachten, daß ich dich liebe. Ich weiß viel besser als du selbst, in dem Zustande, in dem du jetzt bist, bedarf es nur eines Stoßes, und du stürzest — in etwas ganz Wahnwitziges hinaus. Aber ich fühle mich dir nah. Denn ich kann den ganzen Weg übersehen, der dich bis hierher gebracht hat, und wenn du stürztest, so würde ich dir folgen und versuchen, dich auf meinem Arm zurückzutragen und dich dennoch zu lieben.“
Als sie nachts oben im Gang vor ihren Zimmern standen, ergriff er ihre Hände:
„Jenny, soll ich nicht heute Nacht lieber bei dir bleiben, anstatt dich allein zu lassen? Glaubst du nicht, dir würde wohl sein, wenn du in den Armen eines Menschen einschliefest, dem du alles bist — und wenn du morgen so erwachtest?“
Sie blickte auf und lächelte bedeutsam in den goldenen Schein der Wachskerze:
„Vielleicht heut Nacht. Aber ich glaube nicht morgen.“
„Ach Jenny.“ Er schüttelte heftig den Kopf. „Es ist vielleicht gut, daß ich heute Nacht zu dir komme. Ich finde, ich habe das Recht — ich täte damit nichts Schlechtes. Ich weiß, es wäre das Beste für dich, wenn — du mein würdest. Wirst du böse — wirst du traurig, wenn ich komme?“
„Ich glaube, ich würde traurig werden — hinterher. Deinetwegen. — Ach nein, tu es nicht, Gunnar. Ich will nicht dein werden, wenn ich weiß, daß es für mich ebenso gut ein anderer sein könnte —“
Er lachte kurz, mutwillig und schmerzlich zugleich:
„Wärest du erst mein, dann würdest du dich keinem anderen geben, so gut kenne ich dich, Jenny. Aber wenn du bittest — ich kann warten. — Aber riegele deine Tür zu,“ sagte er mit demselben Lachen.
[S. 319]
Den ganzen Tag hindurch war das Wetter trübe gewesen, mit kalten, fahlgrauen Wolken hoch oben am Himmel. Jetzt gegen Abend zeigten sich einige dünne, messinggelbe Streifen über dem westlichen Horizont.
Jenny war am Nachmittag auf den Monte Celio gegangen, um zu zeichnen. Es war nichts daraus geworden — sie hatte nur auf der großen Freitreppe vor San Gregorio gesessen und gedankenverloren in den Hain geblickt, dessen große Bäume unter dem fahlen Himmel lenzhaft zu knospen begannen und in dem die Tausendschön hell unter dem grünen Grase leuchteten.
Sie ging jetzt durch die Allee, die unter dem Südhang des Palatins dahinläuft, wieder zurück. Ueber die Palmen des Klosters auf dem Gipfel ragte die Masse der Ruinen grau und verwittert gen Himmel. Den Abhang hinab zogen sich die ewiggrünen Büsche, jetzt fast schwarz mit Kalkstaub gepudert.
Vor dem Konstantinsbogen, auf dem Platz zwischen den Ruinen des Colosseum, des Palatin und des Forums schlichen einige verfrorene Ansichtskartenverkäufer umher. Nur wenig Touristen waren heute draußen. Einige spindeldürre Damen feilschten in unmöglichem Italienisch mit einem wandernden Mosaikkrämer.
Ein kleiner Bursche, vielleicht drei Jahre alt, klammerte sich an Jennys Mantel fest und hielt ihr einen Büschel Stiefmütterchen entgegen. Er hatte seltsam schwarze Augen, war langhaarig und in Nationaltracht herausgeputzt, mit spitzem Filzhut, Sammetjacke und Sandalen über den weißwollenen Socken. Als er um einen Soldo bat, hörte sie, daß er noch nicht richtig sprechen konnte.
Jenny reichte ihm die Münze, als plötzlich seine Mutter an ihre Seite fegte und das Geldstück dankend in Verwahrung nahm. Auch sie hatte den Versuch gemacht, ihrer Tracht einen leichten nationalen Anstrich zu geben, hatte ein rotes Sammetkorsett über ihre schmutzige, karierte [S. 320] Bluse geschnürt und ein Tuch im Viereck über das Haar gebreitet. Im Arme trug sie ein kleines Kind.
Es sei drei Wochen alt, erfuhr Jenny, als sie fragte. Das arme Wesen war krank.
Das Kind war nicht viel größer als Jennys Knabe nach der Geburt. Seine Haut war rot und wund und schälte sich, es atmete pfeifend, als seien die Luftröhren voller Schleim, und die Augen blickten glanzlos unter den entzündeten halbgeschlossenen Lidern hervor.
Ja, sie ginge jeden Tag mit ihm zur Poliklinik, sagte die Mutter. Aber sie meinten, es würde sterben. Es wäre auch für das arme Ding das Beste. Die Frau sah müde und mißmutig aus, obendrein war sie häßlich und zahnlos.
Jenny fühlte ein Weinen in der Kehle aufsteigen. Armes, kleines Wesen. Ja, für das Kind wäre es das Beste, wenn es stürbe. Armer kleiner Krüppel. Sie strich liebkosend über das häßliche Gesichtchen.
Sie hatte der Frau noch etwas Geld gegeben und wollte eben gehen. In diesem Augenblick ging ein Herr vorüber. Er grüßte, zögerte einen Augenblick, ging dann aber weiter, da Jenny den Gruß nicht erwiderte. Es war Helge Gram.
Sie hatte es gar nicht begriffen, daß sie hätte grüßen müssen. Sie hockte sich vor den kleinen Burschen mit den Blumen und ergriff seine Hände, zog das Kind näher zu sich heran und plauderte mit ihm, indem sie versuchte, das wahnsinnige Beben niederzuzwingen, das durch ihren Körper raste.
Einmal wandte sie den Kopf und blickte in die Richtung, in der er weitergegangen war. Drüben auf der Treppe, die zum Platz am Colosseum führte und zur Straße hinauf, stand er und sah herüber.
Sie fuhr fort, in hockender Stellung mit der Frau und dem Kinde zu sprechen. Als sie wieder aufsah, war er gegangen — aber sie wartete, noch lange, nachdem sein grauer Hut und Mantel verschwunden war.
[S. 321]
Dann rannte sie förmlich nach Hause zu, durch Hintergäßchen und Schlupfwinkel, vorsichtig um jede Ecke biegend, voller Angst, daß er ihr hier begegnen könnte.
Weit drüben jenseits des Pincio hielt sie inne. Sie aß dort in einer Trattoria zu Abend, in der sie vorher nie gewesen war.
Als sie ein wenig verweilt und einige Schluck Wein getrunken hatte, wurde sie ruhiger.
Wenn sie nun Helge begegnete und er sie anredete, so war es natürlich peinlich. Selbstverständlich würde sie es am liebsten vermeiden. Aber wenn es sich nun so traf, brauchte sie deshalb eine so sinnlose Furcht zu hegen? Sie waren ja beide fertig miteinander; für das, was geschehen war, nachdem sie auseinander gegangen waren, hatte er sie nicht zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn er es tat, so kam ihm kein Recht dafür zu. Was er auch wußte, was er auch sagen mochte, sie wußte ja selbst, was sie getan. Sich selber hatte sie Rechenschaft ablegen müssen — was war alles andere dagegen!
Brauchte sie sich vor irgendeinem Menschen zu fürchten? Niemand konnte ihr schlimmeres Leid zufügen, als sie selbst sich angetan.
Aber es war wieder ein böser Tag gewesen, daran lag es. Einer von den Tagen, an denen sie nicht nüchtern war. Jetzt war es besser geworden.
Sie war jedoch kaum wieder auf der Straße, als die tolle, verzweifelte Angst sie wieder überfiel. Diese Angst peitschte sie, so daß sie vorwärtsstürmte, ohne es zu wissen. Sie faltete ihre Hände und sprach halblaut mit sich selbst.
Einmal riß sie die Handschuhe von den Händen, denn ihr war glühend heiß geworden. Jetzt erst fiel ihr ein, daß sie einen nassen Fleck auf dem einen bemerkt hatte, nachdem sie das kranke Kind gestreichelt. Angewidert schleuderte sie die Handschuhe von sich.
Als sie zu Hause ankam, stand sie im Gange still. Sie klopfte an Gunnars Tür. Er war aber nicht daheim. [S. 322] Dann blickte sie auf das Dach hinaus, aber auch dort war niemand.
Sie ging in ihr Zimmer und zündete die Lampe an. Die Arme auf der Brust verschränkt, saß sie und starrte in die Flamme, erhob sich, wanderte ruhelos im Zimmer auf und ab und setzte sich schließlich nieder.
Angespannt horchte sie auf jeden Laut im Treppenflur. Ach, wenn doch Gunnar käme und nur der andere nicht! — Aber er wußte ja nicht, wo sie wohnte. Er konnte aber jemanden getroffen und gefragt haben. Ach Gunnar, Gunnar, komm!
Dann wollte sie gleich zu ihm gehen, sich in seine Arme werfen und ihn bitten, sie hinzunehmen.
Von dem Augenblick, als sie Helge Grams goldbraunen Augen begegnet war, hatte die ganze Vergangenheit, die unter dieser Augen Blick ihren Anfang genommen, sich gegen sie aufgelehnt. Alles überfiel sie aufs neue, der Ekel, der Zweifel an der eigenen Fähigkeit, zu fühlen, zu wollen und zu wählen, der Zweifel, ob sie das wirklich nicht wolle, was sie abzulehnen sich einbildete. — Und sie sah sich wieder, wie sie sich damals gesehen, verlogen, verträumt, schlaff, während sie vor sich selber tat, als fordere sie ein reines, starkes und ganzes Gefühl von sich, während sie sagte, sie wolle ehrlich, arbeitsam, mutig, opferwillig, diszipliniert sein. Dabei ließ sie Stimmungen und Triebe mit sich Fangball spielen, gegen die zu kämpfen sie sich nicht die Mühe machte, obgleich sie wußte, sie müßte es tun. Sie spiegelte Liebe vor, um sich einen Platz unter Menschen zu erschleichen, den sie nie gewonnen hätte, solange sie ehrlich gewesen —.
Sie hatte sich umwandeln wollen, um sich zu den Menschen rechnen zu können, unter denen sie, wie sie immer gewußt hatte, eine Fremde war, weil aus anderem Holz geschnitzt. Aber sie war nicht imstande gewesen, allein zu bleiben, eingesperrt in ihrer eigenem Natur. Sie hatte Gewalt an ihrer Natur verübt. Widerwärtig, unnatürlich war ihr Verhältnis zu den Menschen geworden, die ihr im tiefsten Innern wesensfremd waren. Der [S. 323] Sohn und der Vater —. Und was nachfolgte — ihr eigenes inneres Wesen war dadurch entstellt, jeder feste Halt, den sie in sich selbst besessen hatte, ließ sie im Stich, zerbröckelte zu einem Nichts. Sie löste sich innerlich auf.
Kam Helge, traf sie ihn, so würden, fühlte sie, die Verzweiflung und ihr Lebensüberdruß sie überwältigen. Sie wußte nicht, was dann geschehen würde, nur soviel, daß, mußte sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, ihre Kräfte sie verlassen würden —.
Ach, Gunnar! Ob sie ihn liebte oder nicht, daran hatte sie in diesen Wochen, als er um sie gebettelt hatte, wie sie war, nicht nachgedacht. Er hatte geschworen, ihr hinüberhelfen zu können, alles wieder in ihr aufzurichten.
Mitunter hatte sie nur den Wunsch, er nähme sie mit Gewalt. Dann brauchte sie sich nicht selbst zu entscheiden. Denn es war, wie er sagte; wählte sie, sein zu werden, so sagte ihr der letzte Rest von Stolz, daß sie die Verantwortung trüge. Dann mußte sie das werden, was sie gewesen, das, wofür er sie hielt, und das, was die Zukunft aus ihr machen sollte. Ob sie dazu imstande war oder nicht, sie mußte sich wieder hocharbeiten aus alledem, worin sie jetzt herumwühlte — unter einem neuen Leben mußte sie alles begraben, was geschehen war, seit sie Helge Gram den Kuß gegeben, mit dem sie ihren eigenen Glauben und ihr ganzes Leben bis zu dem Frühlingstage in der Campagna verraten hatte.
Ob sie sich Gunnar zu eigen geben wollte —? Liebte sie ihn denn, der ganz so war, wie sie hatte werden wollen? Dessen ganzes Wesen alles in ihr wachrief, was sie einstmals entwickeln und pflegen wollte — jedes Talent, das sie zu fördern für wert erachtet hatte —.
Die Liebe, die sie auf wirren Pfaden gesucht, dort, wohin ihr krankhaftes Sehnen und ihre heiße Ruhelosigkeit sie getrieben hatten — bestand sie denn nur in dem Selbstverständlichen, die Augen zu schließen und sich in die Gewalt des Mannes zu begeben, der allein ihr Vertrauen [S. 324] besaß, den alle Instinkte das Gewissen und den rechten Richter nannten —?
Aber sie hatte es doch nicht über sich bringen können — die ganzen Wochen hindurch hatte sie es nicht gekonnt. Sie wollte nur erst etwas weiter aus diesem Schlamm, in dem sie sich befand, heraus, durch eigene Kraft. Sie wollte erst fühlen, daß ihr eigener Wille aus fernen Tagen wieder die Herrschaft über ihr zerrissenes Gemüt ergriffen hatte. Wenn sie dann nur wieder einen Funken Achtung und Vertrauen zu sich selbst zurückgewinnen könnte.
Durfte sie weiterleben, so war Gunnar als Mensch alles, was das Leben für sie bedeutete. Ach, ein paar Worte, die er auf ein Stück Papier gekritzelt hatte, ein Buch, das als Bote zu ihr kam, von irgend einem Zug seines Wesens kündend — gerade das hatte ja das letzte aufflackernde Sehnen nach dem Leben in ihr geweckt, damals, als sie sich nach des Kindes Tode wie ein zuschanden geschlagenes Tier durchs Dasein schleppte —.
Kam er jetzt, so durfte er sie nehmen. Er mußte sie das erste Stück des Weges tragen. Später wollte sie versuchen, allein zu schreiten —.
Und ihre Seele, die sich zerfleischte, während sie dort wartend saß, gelangte zu diesem Ergebnis:
Kam er, so wollte sie leben. Kam der andere, mußte sie sterben.
Als sie dann Schritte auf der Treppe hörte und es nicht Gunnars Schritte waren, als es an ihre Türe pochte, senkte sie das Haupt und ging bebend, um Helge Gram zu öffnen. Ihr war es nur, als öffnete sie dem Schicksal, das sie selbst über sich heraufbeschworen hatte.
Sie folgte ihm mit den Blicken, während er ins Licht trat und den Hut auf einen Stuhl warf. Auch jetzt begrüßte sie ihn nicht.
„Ich wußte, du seiest in der Stadt,“ sagte er. „Ich kam vorgestern an. Aus Paris. Ich sah deine Adresse im Verein — hatte die Absicht, dich einmal zu besuchen. Dann traf ich dich heute nachmittag auf der Straße. Ich erkannte schon von weitem dein graues Pelzwerk.“ [S. 325] Er sprach schnell — fast atemlos. „Willst du mir nicht Guten Abend wünschen, Jenny — bist du böse, daß ich zu dir gekommen bin?“
„Guten Abend, Helge,“ sagte sie und nahm die Hand, die er ihr entgegenstreckte. „Bitte sehr, willst du nicht Platz nehmen?“
Sie selbst setzte sich aufs Sofa. Sie vernahm ihre eigene Stimme — ganz ruhig und alltäglich klang sie. Aber im Gehirn verspürte sie das gleiche sonderbare, taumelnde Angstgefühl wie vordem.
„Ich wollte dich gern begrüßen,“ sagte Helge und setzte sich neben sie auf einen Stuhl.
„Das ist nett von dir,“ entgegnete Jenny.
Sie schwiegen wieder.
„Du wohnst jetzt in Bergen,“ sagte sie dann. „Ich sah, daß du deinen Doktor gemacht hast — ich gratuliere.“
„Danke.“
Wieder entstand eine Pause.
„Du hast jetzt sehr lange im Auslande gelebt —. Manchmal hatte ich die Absicht, dir zu schreiben, aber dazu kam es nie. Heggen wohnt, wie ich sah, im selben Haus wie du —.“
„Ja. Ich schrieb an ihn und bat ihn, etwas für mich zu mieten, ein Atelier, aber die sind so teuer hier und so schwer zu bekommen. Dies Zimmer hat jedoch auch ganz gutes Licht —.“
„Ich sehe, du hast eine ganze Anzahl Bilder stehen —.“
Er erhob sich plötzlich, ging durch das Zimmer, kam aber gleich darauf zurück und setzte sich wieder hin. Jenny senkte den Kopf, sie fühlte, wie er sie dauernd anstarrte.
Dann sprach er wieder — sie versuchten, sich mit einander zu unterhalten, er fragte nach Franziska Ahlin und anderen gemeinsamen Bekannten. Doch das Gespräch starb schnell wieder hin, und er saß stumm da und starrte sie an wie vorher.
„Weißt du, daß meine Eltern sich scheiden ließen?“ fragte er plötzlich.
Sie nickte.
[S. 326]
„Ja.“ Er lachte kurz. „Sie hielten ja unsertwegen solange miteinander aus. Prallten aneinander und rieben sich wie zwei Mühlsteine, bis all unser Gut zwischen ihnen zu Pulver vermahlen war. Jetzt war wohl nichts mehr übrig, was zerrieben werden konnte, so blieb die Mühle stehen —. O ja. Ich besinne mich auf die Zeit, als ich ein Knabe war. Wenn sie miteinander sprachen — sie schlugen sich ja nicht gerade. Aber in ihren Stimmen lag etwas —. Mutter schalt übrigens, hatte einen großen Mund und weinte schließlich. Vater war nur ruhig und still, aber ein Klang war in seiner Stimme, ein Haß, so kalt und hart, daß es wie mit Messern schnitt. Ich lag drinnen im Schlafzimmer und wurde von einer Art Zwangsvorstellung geplagt, wenn ich es so nennen darf. Welch ein Genuß müßte es sein, eine Stricknadel zu nehmen und quer durch den Kopf zu stechen, in das eine Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus. Die Stimmen schmerzten rein physisch im Trommelfell, verursachten einen Schmerz, der sich gewissermaßen durch den ganzen Kopf fortpflanzte, weißt du —. Das war also der Anfang. Nun haben die beiden ihre Pflicht als Eltern getan. Jetzt ist es aus —.“
Er nickte ein paar Mal vor sich hin.
„Es ist so häßlich. Diesen Haß meine ich — alles wird so häßlich, was in seine Nähe kommt. Ich besuchte vergangenen Sommer meine Schwester. Wir sympathisierten ja nie miteinander — aber —. Es war abscheulich, sie mit dem Manne zusammen zu beobachten. Manchmal küßte er sie, nahm die Pfeife aus dem dicken, feuchten Munde und küßte seine Frau. Ein Papst auf dem Predigerstuhl, und daheim praßt er —. Sofie wurde mitunter ganz weiß, wenn er sie anrührte. Dann du und ich. Ich fand es später so selbstverständlich, daß alles zerbrechen mußte, all das feine, weiche Lichtgrüne zwischen uns — erfrieren mußte in dieser Luft. Als ich dich damals verlassen hatte, bereute ich es. Ich wollte schreiben — aber weißt du, warum ich es nicht tat? Ja, ich erhielt einen Brief von meinem Vater, er erzählte, daß er bei dir gewesen sei. Es war eine Mahnung, weißt du, daß ich [S. 327] versuchen sollte, die Verbindung mit dir wieder aufzunehmen —. Darum schrieb ich nicht, ich hatte eine abergläubische Furcht davor, einem Rat aus jener Richtung zu folgen —. Dann habe ich mich die ganze Zeit über nach dir gesehnt und von dir geträumt, Jenny. Alle Erinnerungen wieder und wieder hervorgeholt. Weißt du, welchen Ort ich hier in Rom zuerst aufsuchte — gestern? Ich war draußen auf der Montagnola. Ich fand unsere Namen in den Kaktusblättern wieder —.“
Jenny saß bleich mit geballten Händen da.
„Du siehst genau so aus wie früher. Und hast doch drei Jahre verlebt, von denen ich nichts weiß,“ sagte Helge leise. „Jetzt, wo ich wieder mit dir zusammen bin, kann ich es nicht fassen. Es ist, als sei es alles nicht wahr, was zwischen uns liegt, seit wir uns hier in Rom trennten —. Und jetzt gehörst du vielleicht einem anderen —.“
Jenny erwiderte nichts.
„Bist du — verlobt?“ fragte er leise.
„Nein.“
„Jenny!“ Helge senkte den Kopf, so daß sie sein Antlitz nicht sehen konnte. „Weißt du — alle diese Jahre hindurch habe ich gehofft, geträumt, dich zurückzugewinnen. Ich habe mir ausgemalt, daß wir beide uns wiedersehen — und einander verstehen würden; du sagtest ja, ich sei der Erste gewesen, den du geliebt hast. Jenny — ist es unmöglich?“
„Ja,“ sagte sie.
„Heggen?“
Erst antwortete sie nicht.
„Ich bin immer eifersüchtig auf Heggen gewesen,“ sagte Helge leise. „Ich fürchtete, er war der Rechte —. Als ich sah, daß ihr zusammen wohnt — —. Nun habt ihr — euch also — lieb?“
Jenny schwieg noch immer.
„Liebst du ihn?“ fragte Helge wieder.
„Ja. Aber ich will ihn nicht heiraten.“
„Ah, auf diese Art,“ sagte er hart.
[S. 328]
„Nein.“ Sie lächelte flüchtig. Müde und erregt senkte sie das Haupt. „Ich bin nicht mehr zu irgend einem Verhältnis einem Menschen gegenüber fähig — jetzt nicht mehr. Ich bin zu nichts fähig. Ich wünschte, du gingest, Helge.“
Aber er blieb sitzen.
„Ich kann nicht fassen, daß alles wieder aus sein soll. Ich habe es nie geglaubt, und jetzt, wo ich dich wiedersehe —. Ich habe nachgedacht, immer und immer wieder, es war meine eigene Schuld. Ich bin so verzagt, wußte nie, was das Richtige war. Es hätte anders sein können. Ich dachte an den letzten Abend, als ich in Rom mit Dir zusammen war. Ich meinte immer, dieser Augenblick müßte wiederkehren. Ich ging damals, weil ich glaubte, es sei das Beste. Ich kann dich doch wohl nicht deswegen verloren haben —.“
„Damals“ — er blickte nieder — „hatte ich noch nie ein Weib berührt. Ich war scheu geworden durch die Zustände daheim. — Träume und Phantasien — mitunter schufen sie eine Hölle, aber immer war die Furcht am stärksten —. Ach. Jetzt bin ich neunundzwanzig Jahre alt. Ich habe nichts Schönes und Glückliches erlebt — außer dem kurzen Lenz mit dir. Begreifst du denn nicht, daß ich den Gedanken an dich nie aufgeben konnte? Begreifst du nicht, wie ich dich liebe — das einzige Glück, das ich gekannt habe? Ich kann nicht ohne dich sein — jetzt kann ich nicht mehr —.“
Sie hatte sich erhoben, bebend, und auch er war aufgestanden. Sie wich unwillkürlich einige Schritte zurück.
„Helge — ein anderer ist dagewesen.“
Er stand still und blickte sie an.
„So — ein anderer ist also dagewesen. Ich hätte es sein können — und dann wurde es ein anderer. Aber, ich will dich haben, was kümmert es mich. Jetzt will ich dich besitzen, denn einst hast du es mir zugesagt —.“
Als sie erschrocken an ihm vorbeizuschlüpfen suchte, riß er sie mit Gewalt an sich.
[S. 329]
Es dauerte einige Augenblicke, ehe es ihr recht bewußt wurde, daß er ihren Mund küßte. Sie glaubte, Widerstand zu leisten, aber sie lag wehrlos in seinen Armen.
Sie wollte sagen, daß er nicht dürfe. Sie wollte ihm sagen, wer der andere gewesen. Aber sie konnte nicht, denn sie hätte dann gesagt, daß sie ein Kind gehabt hatte. Und in dem Augenblick, als sie an den Knaben dachte, fühlte sie, daß sie ihn nicht zu nennen vermochte — inmitten dieses Kampfes. Ihr Kind mußte sie von dem Untergang fernhalten, der, wie sie wußte, jetzt kam —. Und dieser Gedanke erschien ihr wie eine zarte Liebkosung des toten Kleinen, die sie wärmte und ihr wohltat, sodaß ihr Körper einen Augenblick in seinen Armen weich und nachgiebig wurde.
„Du bist mein — mein bist du, Jenny — ja, ja, ja,“ flüsterte Helge über ihr.
Sie sah einen Augenblick in sein Gesicht. Dann riß sie sich von ihm los und rannte zur Tür. Gleichzeitig rief sie laut nach Gunnar.
Er sprang ihr nach und riß sie zurück:
„Er bekommt dich nicht — du bist mein, du —.“
Dann kämpften sie wortlos an der Tür. Jenny war es, als käme alles nur darauf an, ob sie öffnen und in Gunnars Zimmer gelangen könnte. Wie sie aber dann Helges Körper an dem ihren spürte, heißer, stärker als ihr eigener, wie er sie festhielt mit Armen und Knien, da war es ihr, als sollte es so sein, als sollte sie sich ergeben. Und sie warf sich ihm freiwillig in die Arme.
Im Dämmerlicht, während er sich ankleidete, trat er alle Augenblicke an ihr Bett und küßte sie:
„Herrliche du! Wie schön du bist Jenny! Jetzt bist du mein. Alles wird wieder gut, nicht wahr? O, wie ich dich liebe! — Du bist müde? Du sollst schlafen ich gehe jetzt. Morgen Vormittag komme ich wieder zu dir. Schlaf gut, süße, geliebte Jenny. Bist du so müde?“
[S. 330]
„Ja, sehr müde, Helge.“ Sie lag mit halbgeschlossenen Augen da und blickte in das fahle Morgenlicht, das Helge durch die Laden hereingelassen hatte.
Dann küßte er sie. Er hatte den Mantel angezogen und hielt den Hut in der Hand. Noch einmal ließ er sich auf den Knien vor dem Bette nieder und schob den Arm unter ihre Schultern:
„Ich danke dir für diese Nacht, Jenny —. Besinnst du dich darauf, daß ich dasselbe an jenem ersten Morgen in Rom sagte, draußen auf Aventin? Erinnerst du dich dessen?“
Jenny nickte, in die Kissen vergraben.
„Schlaf wohl. Gib mir noch einen Kuß — so, Gute Nacht meine herrliche Jenny!“ —
In der Tür hielt er inne:
„Gibt es einen Schlüssel zu der Tür? Oder ist es eine von den altmodischen mit einer Klinke innen?“
„Ja, es ist die gewöhnliche Art,“ sagte sie, „du öffnest ohne weiteres von innen —.“
Sie blieb mit geschlossenen Augen liegen. Aber sie sah ihren eigenen Körper, wie er unter der Decke lag, weiß, nackt, schön, ein Ding, das sie von sich geschleudert hatte, wie sie den beschmutzten Handschuh heut Nachmittag fortgeworfen. Er gehörte ihr nicht mehr.
Plötzlich durchfuhr sie ein Ruck. Sie hörte Heggen die Treppe heraufkommen, langsam, hörte ihn die Türe zu seinem Zimmer öffnen. Er ging eine Weile dort drinnen auf und ab, dann wieder hinaus, zum Dach hinauf. Jetzt hörte sie seine eiligen Schritte über ihrem Kopfe — auf und ab.
Sie war überzeugt, daß er es wußte. Aber es machte keinen Eindruck auf ihr müdes Hirn. Sie fühlte keinen Schmerz mehr. Es war ihr, als müsse alles ihm ebenso selbstverständlich und unabwendbar vorkommen wie ihr.
Was sie vorhatte, war nicht ihr freier Entschluß. Es mußte geschehen wie das andere geschehen war, — wie [S. 331] eine unabänderliche Folge dessen, daß sie gestern Helge die Türe geöffnet hatte.
Jenny streckte einen Fuß unter der Decke hervor und betrachtete ihn wie einen fremden Gegenstand, der nicht ihr gehörte. Er war hübsch. Sie krümmte ihn, so daß der Spann sich straffte. Hübsch war er, weiß und blaugeädert, mit feinem Rot an der Ferse und den Zehen.
Sie war so müde. Diese Müdigkeit tat wohl. Als hätte sie Schmerzen gehabt, die jetzt vorüber waren. Während er bei ihr war, hatte nur ein Gefühl sie beherrscht, als würde sie in die Finsternis gestoßen und sänke und sänke. Es war Wollust, so zu vergehen, seines Willens beraubt, sich aus dem Leben treiben lassen, hinab auf den Grund, wo es still war. Sie wußte dunkel, daß sie seine Liebkosungen erwidert, sich an ihn geschmiegt hatte. Jetzt war sie müde, und was ihr zu tun noch übrig blieb, tat sie mechanisch.
Sie stand auf und kleidete sich an. Als sie Strümpfe, Leibchen und Unterrock angezogen hatte, steckte sie die Füße in ein Paar Goldkäferschuhe, die sie im Hause trug. Sie wusch sich und steckte das offene Haar vor dem Spiegel hoch, ohne zu wissen, daß sie ihr eigenes Antlitz erblickte.
Dann ging sie zu dem kleinen Tisch, auf dem ihre Malgeräte lagen. Sie kramte in dem Kasten mit ihrem Radierwerkzeug. An das spitze dreieckige Schabeisen hatte sie in der Nacht denken müssen. Früher hatte sie es manchmal halb spielerisch gegen ihre Pulsadern gehalten.
Jenny nahm es auf und prüfte es, befühlte es mit dem Finger. Dann legte sie es zurück und ergriff ein Taschenmesser. Sie hatte es einmal in Paris gekauft, es hatte Korkzieher, Büchsenöffner und viele Klingen. Die eine war kurz, spitz und breit — diese öffnete sie.
Dann ging sie zurück und setzte sich aufs Bett. Sie legte das Kopfkissen über den Rand des Nachttisches, — stützte die linke Hand darauf und schnitt die Pulsader durch.
Das Blut spritzte hoch auf, der Strahl schoß gegen ein kleines Aquarell, das sie an der Wand über dem Bett [S. 332] aufgehängt hatte. Als sie das sah, rückte sie die Hand zur Seite. Sie legte sich nieder — streifte unwillkürlich mit den Füßen die Schuhe ab und legte sie ganz aufs Bett. Als sie sah, wie das Blut spritzte, verbarg sie die verwundete Hand unter der Decke.
Sie hatte keinen Gedanken und keine Angst, fühlte nur, daß sie sich dem Unabwendbaren hingab. — Der Schmerz selbst, als sie sich schnitt, war nicht stark — scharf und klar, gleichsam auf die eine Stelle konzentriert.
Aber nach einer Weile durchrieselte sie ein unbekanntes, sonderbares Gefühl — eine Angst, die wuchs und wuchs. Nicht die Furcht vor etwas — das Gefühl selbst bestand nur in einer fürchterlichen Angst in der Herzgegend — als würde sie erwürgt. Sie öffnete die Augen — aber schwarze Fetzen nisten an ihren Blicken vorüber. Sie konnte nicht atmen — das Zimmer überfiel sie von allen Seiten —. Sie taumelte aus dem Bett, wankte zur Tür, blindlings die Treppe zum Dach hinauf, bis sie auf der obersten Stufe zusammenbrach — —
Helge war Gunnar Heggen begegnet, als er gerade aus dem Tore trat. Sie hatten sich beide angeblickt, während sie zum Hute griffen. Dann waren sie aneinander vorbeigegangen — ohne ein Wort.
Aber diese Begegnung hatte Helge nüchtern gemacht. Nach dem Rausch der Nacht schlug seine Stimme plötzlich um. Was er erlebt hatte, erschien ihm plötzlich unglaubhaft, unbegreiflich und unheimlich.
Dieses Zusammentreffen mit ihr, wovon er die ganzen Jahre hindurch geträumt hatte. Sie, von der er geträumt, sie hatte fast nicht gesprochen, nur stumm und kalt dagesessen und sich dann plötzlich in seine Arme geworfen. Wild und wahnsinnig, doch ohne einen Laut. Jetzt plötzlich erinnerte er sich — sie hatte nichts gesagt, nichts erwidert auf alle seine Liebesworte heute Nacht.
Eine fremde, unheimliche Frau war das — seine Jenny? Er wußte mit einem Male, sie war nie sein gewesen.
[S. 333]
Helge schritt immer weiter durch die morgenstillen Straßen. Den Corso auf und nieder.
Er versuchte, sie sich vorzustellen. Die Erinnerungen von den Träumen loszulösen. Sie aus jener Zeit sich vor Augen zu führen, als sie verlobt waren. Aber er konnte sie nicht festhalten — er wußte mit einem Male, daß er es nie gekonnt. Immer war etwas dahinter gewesen, das er nicht hatte sehen können, er hatte nur gefühlt, es war da.
Nichts wußte er von ihr. Heggen konnte jetzt bei ihr sein — er wußte es nicht. Ein anderer war dagewesen, hatte sie selbst gesagt — welcher andere — welche anderen — welches andere, das er nicht kannte und doch immer gefühlt hatte?
Nach diesem Ereignis aber konnte er sie auch nicht aufgeben, er wußte es. Jetzt weniger als je zuvor. Und dabei kannte er sie nicht. Wer war sie, die ihn in ihrer Gewalt hatte —? Wem hatte er angehört mit jedem einzigen Gedanken, drei Jahre lang —?
Furcht war es, Raserei, die ihn trieb, während er zu ihrer Tür zurückjagte. Sie stand offen. Er lief die Treppen hinauf, sie sollte ihm Rede stehen — sie kam nicht frei, bis sie ihm alles gesagt —.
Ihre Türe stand offen. Helge blickte hinein — auf das leere Bett, die blutigen Laken und das Blut auf dem Fußboden. Er wandte sich um und sah sie zusammengekrümmt auf der obersten Stufe liegen, sah das Blut auf der weißen Marmortreppe.
Er schrie auf und sprang hinzu — riß sie hoch, hielt sie in seinen Armen. Er spürte ihre erschlafften Brüste an seiner Hand und einen kleinen lauen Rest von Lebenswärme, am Rande des Leibchens verborgen. Doch Arme und Hände fielen kalt herab. Und er begriff, schaudernd, greifbar, daß dieser Körper, den er vor wenigen Stunden in seinen Armen gehalten hatte, heiß und bebend vor Leben, jetzt ein Leichnam war, der bald zerfallen sein würde —.
[S. 334]
Er sank nieder mit ihr und schrie wild auf —.
Heggen riß die Tür zur Terrasse auf. Sein Antlitz war weiß und vergrämt. Da sah er Jenny —.
Er ergriff Helge und schleuderte ihn zur Seite — ließ sich vor ihr auf die Knie nieder.
„Sie lag hier — als ich zurückkam, lag sie hier —.“
„Laufen Sie nach einem Arzt! — Schnell —!“ Gunnar hatte ihr Hemd aufgerissen — inwendig gefühlt — um ihren Kopf gefaßt — die Arme hochgehoben, da erblickte er die Wunde. Jetzt riß er das hellblaue Seidenband von ihrem Leibchen und band es fest über ihrem Handgelenk zusammen.
„Ja, ja, wo wohnt —“
Rasend schrie Gunnar auf. Dann sagte er halblaut:
„Ich werde gehen. Tragen Sie sie hinein —,“ aber er schlang selbst die Arme um sie und ging auf ihre Türe zu. Als er das blutige Bett sah, verzog er plötzlich das Gesicht. Dann wandte er sich um und stieß die Tür zu seinem Zimmer auf. Er legte sie auf sein eigenes unberührtes Bett nieder. Dann sprang er auf.
Helge war neben ihm geblieben, den Mund wie in einem erstarrten Schrei halb geöffnet. Aber in Gunnars Tür hielt er inne. Als er allein mit ihr war, schlich er herbei und berührte mit den Fingerspitzen ihre Hand. Dann brach er auf dem Fußboden zusammen, den Kopf an die Bettkante gelehnt und weinte jämmerlich, sich zusammenkrampfend vor Grauen.
Gunnar schritt über den schmalen, grasbewachsenen Weg zwischen hohen, weißgekalkten Gartenmauern dahin. Auf der einen Seite lag die Kaserne, eine Terrasse mußte dort drinnen sein — hoch über seinem Kopf standen einige Soldaten, lachend und leise plaudernd. An der Ecke wippte ein Büschel gelber Blumen, die in einem Mauerspalt wucherten. Doch auf der anderen Seite des [S. 335] Weges ragten die gewaltigen alten Pinien an der Cestiuspyramide und der dichte Zypressenwald auf dem neuen Teil des Kirchhofs zum blauen, silberbewölkten Himmel empor.
Vor dem Gittertor saß ein halberwachsenes Mädchen im Gras und häkelte. Sie öffnete ihm und knickste dankend, als er ihr eine Münze reichte.
Die Luft war lenzhaft feucht, klar und weich. Hier drinnen auf dem Friedhof in dem dichten, grünen Schatten wurde sie treibhausartig warm und naß. Die Narzissen in den Rabatten am Wege dufteten heiß und schwül.
Die alten Zypressen umstanden dicht wie ein Hain die Gräber, die sich, dunkelfarbig von dem kriechenden Laube des Immergrüns und der Veilchen in Terrassen bis zur epheubewachsenen alten Stadtmauer hinzogen. Die Gedenktafeln der Toten leuchteten — kleine Marmortempel, weiße Engelstatuen und schwere große Sarkophage. Moos breitete sich darüber aus und schimmerte an den Stämmen der Zypressen. Hier und da war eine weiße und rote Blüte in den dunkelleuchtenden Kronen der Kamelienbäume zurückgeblieben, doch der größte Teil lag braun und welk auf dem schwarzen, feuchten Humus, dessen herber, klammer Duft zu ihm aufstieg. Ihm fiel etwas ein, was er einmal gelesen hatte — die Japaner liebten die Kamelien nicht, denn ihre Blüten fielen voll und frisch ab wie abgehauene Köpfe. —
Jenny Winge war am weitesten drüben auf dem Friedhof begraben worden, in der Nähe der Kapelle. Am äußersten Rande eines lichtgrünen, von Tausendschön übersäten Grashügels, wo erst wenige Gräber lagen. Am Rasenplatz entlang waren Zypressen gepflanzt worden. Sie waren aber noch winzig klein, glichen Spielzeug mit den spitzen, schwarzgrünen Kronen über den ranken, gezwirbelten braunen Stämmen, die an Säulen im Kreuzgang eines Klosters gemahnten.
Ihr Grab lag ein wenig für sich auf dem Anger. Das Gras war ringsherum abgestochen worden, so daß der Hügel von einem Erdstreifen umgeben war. Er war [S. 336] hellgrau, die Sonne schien darauf und die Zypressen erhoben sich dahinter wie eine Mauer.
Gunnar preßte die Hände gegen sein Gesicht und ließ sich auf die Knie nieder, bis sein Kopf ganz auf den welken Blumenkränzen lag.
Er fühlte die Müdigkeit des Lenzes in allen Gliedern, und das Blut rann krank vor Trauer und Leid bei jedem schweren Schlage seines Herzens. Jenny — Jenny — Jenny — ihren lichten Namen hörte er in jedem Vogelpfiff des Frühlings — und sie war tot —.
Sie lag dort drunten in der Finsternis. Eine Locke ihres blonden Haares hatte er abgeschnitten und trug sie in seinem Taschenbuch bei sich. Er nahm sie wohl hervor und ließ sie in der Sonne funkeln — die kleinen armseligen Fünkchen waren alles, was die Sonne jetzt zünden konnte von all ihrem schweren, schimmernden Haar.
Sie war tot und fort. Einige Bilder hatte sie hinterlassen, und ein Abschnitt über sie stand in den Zeitungen. Eine Mutter und einige Schwestern blieben zurück, die über ihre Jenny trauerten — die wahre hatten sie nie gekannt, sie wußten nichts über ihr Leben und ihren Tod. Da waren die anderen — die starrten verzweifelt nach der Jenny, die sie gekannt —. Sie wußten einiges, verstanden aber nichts.
Es war nur seine Jenny, sie, die hier lag.
Helge Gram war zu ihm gekommen. Er hatte gefragt und hatte erzählt, er hatte gejammert und gebettelt:
„Ich verstehe ja nichts. Weißt du es — oh, erkläre es mir, Heggen. Du weißt es. Kannst du mir nicht sagen, was du weißt!“
Er hatte nicht geantwortet.
„Da war ein anderer. Sie selbst sagte es. Wer war es? Warst du es?“
„Nein.“
„Weißt du, wer es war?“
„Ja, aber ich will es nicht sagen. Es nützt nichts, daß du fragst, Gram.“
[S. 337]
„Ja, aber ich werde verrückt, hörst du, Heggen — ich werde wahnsinnig, wenn du mir nicht erklären kannst —.“
„Du hast kein Recht, Jennys Geheimnisse zu wissen.“
„Aber weshalb tat sie es denn? Meinetwegen — seinetwegen — deinetwegen?“
„Nein. Sie tat es allein ihretwegen.“
Dann hatte er Gram gebeten, zu gehen. Jetzt war er fortgereist. Sie hatten sich seitdem nicht wieder gesehen.
Es war oben im Borghesegarten gewesen, als Gram zu ihm kam. Einige Tage nach der Beerdigung. Er hatte dort im Sonnenschein gesessen. Er war so müde. Er hatte alles ordnen und die nötigen Erklärungen nach allen Richtungen abgeben müssen — anläßlich der Untersuchung des Selbstmordes, des Begräbnisses — an Frau Berner hatte er geschrieben, daß ihre Tochter plötzlich an Herzschlag verstorben sei. Aber etwas in all dem hatte ihm gut getan. Die Tatsache, daß niemand von seinem Leide wußte. Daß die große Erklärung, die er kannte, die einzig wahre war — und die behielt er für sich. Das hatte seinen Schmerz so unendlich tief in ihn versenkt. Jetzt würde er nie zu einem Menschen davon sprechen. Er war sein eigen, ganz allein. Er würde den innersten Kern seiner Seele für alle Zeiten bilden.
Er würde sein Wesen färben und von seinem Wesen seine Farbe erhalten. Er würde seinem Leben Richtung geben — und von ihm gelenkt werden — würde Farbe und Form mit ihm wechseln, aber nie aus seinem Leben getilgt werden können. Zu jeder Stunde des Tages in dieser ganzen Zeit war er verschiedenartig — aber immer war er da, und so würde es immer sein.
Gunnar entsann sich des Morgens, als er zum Arzt lief, während der andere mit ihr allein geblieben war — damals hatte er Helge Gram sagen wollen, was er wußte, und es ihm sagen wollen, daß des anderen Herz zu Asche zerfiel — wie sein eigenes.
Aber während der Tage, die dazwischen lagen, war alles, was er wußte, zu einem Geheimnis zwischen der [S. 338] toten Frau und ihm geworden, zum Geheimnis ihrer Liebe. Alles, was geschehen war, war geschehen, weil sie war, wie sie war, und so, wie sie war, hatte er sie geliebt. Helge Gram aber war ein gleichgültiger und zufälliger Fremder für ihn und für sie, und er empfand nicht das Bedürfnis, sich an ihm zu rächen, ebensowenig wie er Mitleid mit Helges Trauer hatte und mit seinem Entsetzen über das Unfaßliche, was geschehen war.
Diesen Menschen hatte ja nur der Zufall gesandt. Weil sie war, wie sie war, geschah das alles. Ihr Sinn mußte sich eines Tages verwirrt einem Windstoß beugen und fügen, weil er so rank und schlank emporgewachsen war. Er selbst hatte geglaubt, sie könnte wachsen wie ein Baum, und hatte nicht verstanden, daß sie nur wie eine Blume emporkeimte, um Sonne zu bekommen und Blüten zu treiben mit all ihren schweren, sehnsuchtsvollen Knospen. Auch sie war nur ein kleines Mädchen gewesen. Und das würde als ewiger Schmerz in seinem Herzen zurückbleiben, daß er das erst begriffen, nachdem es zu spät war.
Sie konnte sich nicht wieder aufrichten, nachdem sie einmal geknickt war. Sie war wie eine Lilie, die auch nicht aus der Wurzel aufs neue treiben konnte, wenn der erste Stengel gebrochen wurde. In ihrem Wesen lag nichts Geschmeidiges und Ueppiges. Aber er liebte sie, wie sie war.
Und ihre Eigenart gerade verstand nur er allein. Er allein wußte, wie blond und rein sie gewesen, wie aufstrebend, stark und rank, und doch wie zerbrechlich und spröde mit ihrer empfindsamen Ehre, von der ein Fleck niemals abgewaschen werden konnte, weil er seine Furchen zu tief eingrub.
Jetzt war sie tot. Und er war mit seiner Liebe viele Tage und Nächte allein gewesen. Seines ganzen Lebens Tage und Nächte mußte er nun mit ihr allein bleiben.
Es hatte Nächte gegeben, in denen er verzweifelte Schreie in den Kissen seines Bettes erstickte. Sie war [S. 339] tot, und er hatte sie nie besessen. Ihn aber hatte sie lieben, ihm hatte sie angehören sollen, und sie war die einzige, die er geliebt. Sie war tot, und ihren herrlichen, schlanken weißen Körper, der ihre Seele umschloß wie eine sammetene Scheide eine schmale und feine, spröde Klinge, hatte er nie berührt, nie gesehen. Andere hatten ihn besessen und nie gewußt, welch wunderbarer und seltener Schatz es war, der sich in ihre Hände verirrt hatte. Jetzt lag er vergraben in der Erde, häßlich, häßlich würde er verändert werden, verzehrt und aufgelöst, bis er zu einem Häuflein Erde inmitten der Erde zerfiele.
Gunnar lag, erschüttert von Schluchzen, auf dem Erdboden.
Andere hatten sie besessen. Sie aber hatten sie besudelt und vernichtet, und hatten nicht gewußt, was sie taten. Er hatte sie nie gehabt.
Solange er lebte, würden Stunden kommen, wo er jammerte wie jetzt, daß es so war.
Und doch hatte nur er allein sie besessen. Nur in seiner Hand konnte ihr goldenes Haar jetzt funkeln. Sie selbst, sie lebte jetzt in ihm, ihre Seele und ihr Bild spiegelten sich in ihm, so klar und scharf wie in einem stillen Wasser. Sie war tot, ihr Leid gehörte ihr nicht mehr — es war jetzt in ihm — dort lebte es weiter und würde nicht sterben, bis er selbst einst starb. Weil es lebte, würde es aber wachsen und sich verändern — er konnte nicht wissen, wie sein Leid in zehn Jahren aussehen würde, aber es konnte zu etwas Großem und Herrlichem wachsen.
Solange er lebte, würden Stunden kommen, in denen er eine merkwürdig schwere und tiefe Freude empfinden würde, daß es so war.
Doch jene Morgenstunden, als er auf der Terrasse über ihrem Haupte auf und ab ging, während sie ihrem Leben ein Ende machte. Er entsann sich dunkel, welche Gefühle ihn beherrscht hatten. Ein Aufruhr hatte in [S. 340] ihm getobt, sein Herz war in Harm und Zorn über ihre Tat, gegen sie erbittert. Er hatte gebettelt und gefleht, um ihr helfen zu dürfen, um sie aus dem Sumpf zu retten, in den sie sich verirrt — und sie hatte ihn von sich gewiesen und sich vor seinen Augen weggeworfen, auf Frauenart, eigensinnig, verantwortungslos, töricht, trotzig.
Aber als er sie dann liegen sah — er hatte auch darüber gerast, verzweifelt. Er würde sie dennoch nicht aufgegeben haben. Was sie auch getan hätte — er hätte sie freigesprochen, ihr geholfen, ihr sein Vertrauen, seine Liebe geschenkt, trotz allem.
Solange er lebte, würden Stunden kommen, in denen er ihr vorwerfen würde, daß sie den Tod gewählt hatte — Jenny, du hättest es nicht tun sollen. Aber es würden auch Stunden kommen, da er finden würde, sie hatte es tun müssen, so wie sie war. Auch darum liebte er sie — ewig, solange er lebte.
Nur eines würde nie eintreten — der Wunsch, daß er sie nie geliebt hätte.
Wie er geweint hatte, verzweifelt, würde er wieder weinen müssen. Darüber, daß er sie nicht eher geliebt. Ueber die Jahre, die er neben ihr dahingelebt hatte, als sie sein Freund und Kamerad war, und er nicht sah, daß sie das Weib war, das seines Lebens Gefährtin sein sollte.
Aber nie würde der Tag kommen, an dem er wünschte, er sei niemals sehend geworden, wenn auch nur, um zu entdecken, daß es zu spät war.
Gunnar richtete sich auf den Knien auf. Er holte eine kleine flache Pappschachtel aus der Tasche hervor und öffnete sie. Darin lag eine kleine Perle von Jennys rosa Kristallhalskette. Als er ihre Sachen ordnete, fand er die Kette im Nachttisch; die Schnur war zerrissen. Eine Perle hatte er an sich genommen und verwahrte sie.
Er nahm etwas Sand vom Grabe und legte ihn in die Schachtel. Die Perle rollte hin und her und wurde über und über mit grauem Staub bedeckt, aber das [S. 341] klare Rosa leuchtete hindurch, und die feinen Funken im Kristall schimmerten und brachen sich im Sonnenlicht.
All ihr Eigentum hatte er sorgfältig verpackt und an ihre Angehörigen geschickt, sorgsam alle Briefe gesammelt und sie verbrannt. In einem versiegelten Pappkasten lag ihr Kinderzeug. Das hatte er Franziska geschickt, da Jenny eines Tages davon gesprochen hatte, daß sie es tun wollte.
Ihre Mappen und Skizzenblätter hatte er durchgeblättert und sie darauf zusammengepackt. Aber erst hatte er vorsichtig einige Blätter mit Zeichnungen von ihrem Buben herausgeschnitten und sie in seinem Taschenbuch verwahrt.
Sie waren sein. Alles, was in ihrem Leben ihr allein gehört hatte, das war jetzt sein.
Draußen auf dem Rasen wuchsen einige rotviolette Anemonen. Er erhob sich gedankenlos und pflückte sie.
Ach Frühling, Frühling.
Er entsann sich des letzten Males, als er im Frühling daheim war, es war jetzt zwei Jahre her.
Auf der Umsteigestation erwartete ihn ein Karren mit einer roten Mähre davor. Der Besitzer des Gefährtes war ein alter Schulkamerad. An einem sonnenklaren Märzvormittag fuhr er auf dem Feldweg daher. Unter dem lichtblauen Himmel breiteten sich Felder mit gelblichfahlem altem Grase aus. Wo der verwitterte Hügel sich über der Ebene erhob, standen Wacholder, Birken und Ebereschen in kleinen Gruppen bei einander, die nackten glatten Zweige in die Luft streckend. Die Düngerhaufen auf den gepflügten Feldern glänzten wie goldbrauner Sammet. Gehöfte tauchten auf, eines nach dem anderen, mit den bekannten Umrissen der Scheunen, mit gelben, grauen und roten Häusern, mit Aepfelgärten und Fliederbüschen davor. Um den Ort zog sich der Wald, olivengrün, mit einem lenzhaften, violetten Schimmer über den Birkenästen. Ein vereinzelter Streifen Schnee lag nordwärts grünlichweiß im Schatten.
[S. 342]
Ueber das ganze Kirchspiel herab rieselten an jenem Tage Triller unsichtbarer Lerchen.
Er nahm zwei weißschöpfige Bürschchen mit, die mit einem Eimer voll Essen über den Weg trabten. Armselig gekleidet, in Holzschuhen trotteten sie durch den Schmutz.
„Wo wollt ihr hin, Jungens?“
Sie blieben stehen und betrachteten ihn mißtrauisch.
„Wollt ihr vielleicht dem Vater Essen bringen?“
Sie gaben es zögernd zu, ein wenig überrascht, daß der fremde Mann das wissen konnte.
„Klettert herauf, dann dürft ihr mitfahren.“
Er hob sie in den Wagen.
„Wo arbeitet euer Vater denn, was?“
„Auf Brustad.“
„Brustad — ah so — ist das nicht der Schule gegenüber?“
So ging das Gespräch hin und her. Der dumme, unwissende erwachsene Mann fragte und fragte, wie Erwachsene immer mit Kindern sprechen. Der Erwachsene fragt, und die Kleinen, die so viel Weisheit besitzen, konferieren stumm mit Augenblinzeln und geben mit Vorbehalt nur so viel zum besten, als sie für angemessen halten.
Hand in Hand trabten sie über den Erdboden unter den rostbraunen Palmweiden an dem brausenden Bach entlang, nachdem er sie abgesetzt hatte. Er sah ihnen eine Weile nach, wendete den Wagen und fuhr seinem eigenen Ziele zu.
Daheim hatten sie abends Lesestunde. Ingeborg, seine Schwester, saß drüben neben dem alten Eckschrank aus Birkenholz und lauschte mit ekstatisch bleichem Antlitz und stahlblau glänzenden Augen einem Schuhmachermeister aus Fredriksstad, der von Gnade sprach. Dann sprang sie auf und sprach ihr Glaubensbekenntnis, zitternd vor Leidenschaft.
Ingeborg, seine schöne, frische Schwester! Wie wild war sie einst gewesen, wie hatte sie Tanz und Vergnügen geliebt! Und Lesen und Lernen! Während er in der Stadt arbeitete, mußte er ihr Bücher und Broschüren [S. 343] senden und den „Socialdemokraten“ in Paketen zweimal die Woche. Alles wollte sie wissen und lernen. Dann, als sie dreißig Jahre alt war, wurde sie erweckt. Jetzt redete sie mit Zungen. —
Ihre ganze Liebe hatte sie auf ihren kleinen Brudersohn Anders geworfen, und das kleine Mädelchen, das sie in Pflege hatten, ein uneheliches Kind aus Kristiania. Mit blitzenden Augen erzählte sie ihnen von Jesus, dem Kinderfreund.
Am Tage darauf schneite es. Er hatte die Kinder ins Lichtspieltheater eingeladen, in einer kleinen Stadt eine halbe Meile von ihrem Kirchspiel entfernt.
Sie trabten an einem Steinwall zwischen dem Nadelwald und den Feldern entlang. Alles war grauweiß von nassem Märzschnee — nur ihre Fußspuren blieben dunkel hinter ihnen zurück. Er versuchte, die Kinder zu unterhalten; fragte, und sie gaben ihre bedächtigen, zurückhaltenden Antworten.
Aber auf dem Heimwege waren es die Kinder, die fragten, und geschmeichelt antwortete er ihnen ausführlich, ohne Vorbehalt. Sie hatten Bilder von Cowboys in Arizona gesehen, und einer Kokosernte auf den Philippinen. Er wurde eifrig und tat sein Bestes, um ordentlich Bescheid zu geben und sich nicht festzufahren.
O Frühling, Frühling!
Es war auch ein Frühlingstag, als er mit ihnen, Jenny und Franziska, nach Viterbo gefahren war.
Schlank hatte sie in ihrem schwarzen Kleide dagesessen und aus dem Fenster gestarrt. Wie groß und grau ihre Augen waren — genau erinnerte er sich dessen.
Ueber die Campagna — hier, wo keine Ruinen standen, die die Touristen an sich zogen, höchstens hin und wieder in weiten Zwischenräumen eine zusammengestürzte, formlose und namenlose Mauermasse, oder dieser und jener kleine Pachthof mit zwei Pinien und einigen spitzen Strohmieten vor dem Hause — hier fegten Sturmwolken grauschwarze, zerfetzte Regenschleier über die öde, braune Weite hin. Die Schafherden drunten im Tale, wo hin und wieder [S. 344] etwas dorniges Gebüsch an dem Bette eines Bächleins entlang wucherte, drängten sich zusammen.
Dann fuhr der Zug zwischen Bergrücken und Wäldern hindurch, hochstämmigem Eichwald, wo es weiß und blau und gelb in dem alten verwelkten Laub blühte, wie daheim. Weiße Anemonen, blaue und schwefelgelbe Primeln. Sie sehnte sich danach, hinauszukommen und sie zu pflücken, sagte sie — zu sammeln und zusammenzuraffen im fallenden Regen, unter den triefenden Zweigen, in dem nassen Laube. „Es ist wie im Frühling daheim,“ sagte sie.
Es hatte hier geschneit — graunasser Frühlingsschnee lag in den Lüften — an den herabgefallenen Zweigen schmolz er zu hellen Streifen ein. Die Blumen senkten ihre zusammengeklebten Kelche herab, naß und schwer vom Schlamm.
Kleine Wildbäche sprudelten die Abhänge hinab und schlüpften unter den Bahnkörper. Hier färbte sie der Erdboden rostrot.
Dann peitschte ein Regenschauer gegen die Abteilfenster und blendete sie, trieb den Rauch der Lokomotive zur Erde nieder. Später klärte es sich ein wenig auf, ein Lichtschimmer breitete sich über Tälern und waldbestandenen Berghalden aus, der Nebel wich über die Gebirge zurück.
Einige seiner Sachen hatte er in einen der Koffer der jungen Mädchen gepackt. Abends, als es ihm einfiel, hatten sie bereits begonnen sich auszukleiden. Sie lachten und plauderten drinnen, als er kam und an ihre Türe pochte. Jenny öffnete einen Spalt und reichte ihm das Erbetene hinaus. — Sie trug eine durchsichtige Frisierjacke mit kurzen Aermeln, so daß der schmächtige, weiße Arm entblößt war. Der hatte ihn zum Küssen verlockt, und doch wagte er nur einen einzigen so flüchtigen, scherzhaften, daß dieser Kuß von selber um Verzeihung bat.
Damals war er verliebt in sie gewesen. Als er berauscht war vom Lenz, vom Wein und dem munteren, peitschenden Regen, den hastigen Sonnenstrahlen und [S. 345] seiner eigenen Jugend und Lebenskraft. Er hatte das Verlangen, sie mit zum Tanz zu nehmen, das hohe, lichte Mädchen, das so behutsam lachte, als versuche sie eine neue Kunst, die sie nie zuvor getrieben. Sie, die mit ihren grauen Augen hinausstarrte, ernst und sehnsuchtsschwer, auf all die Blumen, an denen sie vorüber fuhren und die sie so gern hatte pflücken wollen.
Oh, Herr mein Gott, wie hätte alles sein können! Das trockene, bittere Schluchzen erschütterte ihn von neuem.
An jenem Tage, als sie zum Montefiascone emporstiegen, regnete es auch, daß es um der beiden Frauen geraffte Röcke und schmale Knöchel und Füße vom Steinpflaster hoch aufspritzte. Wie hatten sie aber gelacht, die drei, während sie durch die steilen, schmalen Straßen wateten, wo der Regen ihnen, Wasserfällen gleich, entgegenrauschte.
Als sie dann auf der Rocca angelangt waren, der Burgklippe inmitten des kleinen alten Städtchens, da teilten sich die Wolken.
Sie beugten sich alle drei über die Brustwehr und blickten an den Bolsenersee hernieder, der tief unter den grünen Hängen mit den Olivenhainen und Weingärten schwarz dalag. Die Wolken schwebten niedrig über den Bergkuppen rings um den See. Dann aber lief ein silberschlanker Regenschauer über den dunklen Wassersspiegel, breitete sich aus und wurde blau, der Nebel wallte zurück und glitt in Senkungen und Klüfte, während die Linien der Gebirge hervortraten. Die Sonne brach durch die herabsinkenden Wolken, die sich golden und bleiernblau um den Fuß kleiner, von steingrauen Burgstädten gekrönter Berge legten. Im Norden, weit entfernt, tauchte eine hohe, kegelförmige Spitze auf. Cesca behauptete, es sei der Monte Amiata.
Ueber den frisch gewaschenen, blauen Lenzhimmel hin zogen sich die letzten Reste der Regenwolken fort, schwer und silberverbrämt, vor der Sonne zerfließend; das Unwetter flüchtete westwärts, dunkel drohend, dorthin, wo die etrurische Hochebene sich braunschwarz und einsam [S. 346] zum fernen, weißgelben Glanzstreifen des Mittelmeeres herabsenkte.
Oede, groß und streng war das Land weithin, wie eine Hochgebirgslandschaft daheim, trotz der grauen Olivenhaine und Weinranken, die sich zwischen den Reihen der Ulmen auf den grünen Hügeln am See hinzogen.
In den kleinen Anlagen oben rings um die Burgruine warfen die Steineichen ihre eisenschwarzen alten Blätter von den Zweigen ab, die schon neue Knospen trugen. Hier waren Hecken von einer Art immergrünen Buschwerks mit lederartigem Laub. Das junge neue von diesem Frühling glänzte in unnatürlichem Goldgrün.
Gemeinsam mit ihr hatte er sich in den Schutz der Hecke gehockt und seine Jacke vorgehalten, damit sie sich eine Zigarette anzünden könnte. Der Lenzwind blies eisig scharf und rein hier oben, so daß sie in ihren nassen Kleidern leicht erschauerte. Ihre Wangen waren rot und die Sonne glänzte auf dem feuchten, goldenen Haar, das sie sich mit der freien Hand aus den Augen strich.
Dort hinauf wollte er reisen. Morgen schon.
Dort wollte er den Lenz grüßen, den frierenden, nackten, erwartungsvollen Lenz, dessen Blütenaugen ringsum geblendet sind von Nässe, vor Kälte im Winde zittern und dennoch blühen.
Der Lenz und sie — sie waren jetzt eins für ihn. O Gott — sie, die dort oben stand und fror und lachte, in dem unbeständigen Wetter, und alle Blumen in ihrem Schoße sammeln wollte.
„Ach, du meine kleine Jenny, du konntest nicht all die Blumen pflücken, wie du gewollt, deine Träume erblühten nie — und jetzt träume ich sie.
Wenn ich dann lange genug gelebt habe, so daß mich Sehnsucht erfüllt wie einst dich — vielleicht tue ich dann wie du und spreche zu meinem Schicksal, gib mir einige Blüten nur, ich begnüge mich mit weit Geringerem, als ich ersehnte, da ich mein Leben begann. [S. 347] Und dennoch sterbe ich nicht, wie du gestorben bist, denn dir konnte es doch nicht genügen. Ich behalte nur die Erinnerung an dich, küsse deine Perle und dein goldenes Haar und denke, nein, sie konnte nicht leben, wenn sie nicht die Beste sein und das Beste als ihr Recht fordern durfte. Dann sage ich vielleicht, dem Himmel sei Dank, daß sie lieber den Tod wählte, als so weiterzuleben.
Aber heute Nacht gehe ich hinaus auf den Petersplatz und lausche des Springbrunnens ekstatischer Musik, die niemals schweigt und träume meinen eigenen Traum.
Ja, Jenny, denn nun bist du mein Traum, niemals habe ich einen anderen gehabt. —
Ach, Träume, Träume.
Wenn dein Kind gelebt hätte, Jenny, so wäre es nicht geworden, wie du es dir geträumt hattest, als du den Knaben in deinen Armen hieltest und ihm deine Brust reichtest. Gut und schön hätte er werden können — oder schlecht und häßlich — nur wie du ihn erträumtest, so wäre er nicht geworden. —
Keine Frau hat je das Kind geboren, von dem sie träumte, als sie schwanger ging. Kein Künstler hat je das Werk geschaffen, das er in der Stunde der Eingebung vor sich sah. Wir erleben Sommer auf Sommer, aber keiner ist wie der, den wir herbeisehnten, als wir uns niederbeugten und die ersten nassen Blüten unter den Sturmschauern des Lenzes pflückten.
Keine Liebe wurde so, wie sie zwei erträumten, die einander zum ersten Male küßten. Hätten wir, du und ich, zusammen gelebt — wir hätten glücklich oder auch unglücklich mit einander werden können; wir konnten einander unsagbare Freude oder unsagbares Leid zufügen. Jetzt aber werde ich niemals erfahren, wie unsere Liebe geworden wäre, wenn du mir angehört hättest. Das Einzige, was ich weiß, ist: so, wie ich sie erträumte in jener Nacht, als ich mit dir zusammenstand, und der Springbrunnen im Mondenschein plätscherte — so wäre unsere Liebe nicht geworden. Und das ist bitter. — —
Dennoch. —
[S. 348]
Herr mein Gott — ich wünsche nicht, daß ich diesen Traum nie geträumt hätte. Und ich möchte den Traum nicht missen, dem ich mich jetzt hingebe.
Jenny, mein Leben wollte ich opfern, könntest du mir droben auf der Bergklippe begegnen wie einst, könntest du mich küssen, mir nahe sein — einen Tag nur, eine Stunde. — Ständig, unablässig muß ich daran denken, wie unser beider Leben sich gestaltet hätte, wenn du nicht von mir gegangen, wenn du mein eigen geworden wärest. Ach Jenny, ein grenzenloses Glück ist verspielt. Du bist nicht mehr und hast mich so arm, so arm gemacht. Nur meine armseligen Träume umweben dich und irren ruhelos umher, dich zu suchen. — Und dennoch. Messe ich meine Armut an der Anderen Reichtum, so dünkt sie mich überwältigend reich und strahlend. Sollte ich sie auch mit meinem Leben bezahlen, so würde ich doch nimmer meine Liebe zu dir, meine Träume und meinen Gram um dich, wie er mich jetzt zerreißt, hingeben ....“
Gunnar Heggen wußte nicht, daß er in seines Herzens grenzenlosem Aufruhr seine Arme gen Himmel streckte und halblaut vor sich hinflüsterte. Die Anemonen, die er gepflückt, hielt er noch immer in seinen Händen, aber er wußte es nicht.
Die Soldaten auf der Kasernenmauer lachten über ihn, aber er sah es nicht. Er preßte die Blumen gegen seine Brust und murmelte leise vor sich hin, während er sich von dem Sonnenschein, der über dem Grabe lag, langsam dem dunklen Zypressenhain zuwandte.
Ende.
In demselben Verlage erschienen:
HARALD BERGSTEDT
Alexandersen
Eine Pilgerfahrt
Roman
327 Seiten
Hamburger Correspondent v. 1. 3. 21:
.... Lukians köstliche Lügen der milesischen Märchen, Swift Gullivers Reisen, Wielands Abderiten und nicht zuletzt Andersens Mär vom fliegenden Teppich scheinen Vorbilder zum Bau dieser prächtigen Pilgerfahrt gewesen zu sein. Doch es scheint nur so. Das Buch ist ganz Eigenart — tief und voll abgeklärter Weltanschauung. ....
Welt am Montag v. 20. 12. 20:
.... Gedankentiefe Symbolik, gelegentlich mit heiterer Satire gewürzt, projiziert Welt und Zeit, in der wir leben, in ein Märchenreich. Der Skandinavier Harald Bergstedt wird in Deutschland bald zu den bekanntesten Autoren zählen. ....
W—r.
Vossische Zeitung v. 12. 6. 21:
.... Dieser Roman ist mit einem ganz brillanten Witz, mit einer ungewöhnlich scharfen Satire erzählt, mit barocken Zwischenstrophen durchsetzt. In überraschender Fülle drängt sich Bild an Bild. Man liest in atemloser Spannung, kommt aus dem Lachen nicht heraus, und überlacht doch niemals den Ernst des Ganzen. Das ist die ergötzlichste Universal-Zivilisationskarikatur, die mir seit langem vorgekommen ist. Dieser dänische Küsterssohn hat in seiner kleinen Provinzstadt — Saeby — ein Buch von europäischer Geltung geschrieben. ....
JOHANNES BUCHHOLTZ
Egholms Gott
Roman
224 Seiten
München-Augsburger Ztg. v. 19. 5. 21:
.... Tragik und schneidender satirischer Humor verbinden sich in erschütternder Weise. ....
Welt am Montag v. 20. 12. 20:
.... In „Egholms Gott“ lernen wir einen Erzähler kennen, der mit naturalistischer Schärfe die Tragödie des proletarischen Phantasten schildert. ....
Weser-Zeitung v. 12. 2. 21:
.... In dem starken Werk, das ein Familienschicksal aus der Tiefe der sozialen Schichtung schildert, einen sich tiefernste Tragik und satirisch schneidender Humor in ergreifender Weise.
ur.
Neues Wiener Tageblatt v. 27. 4. 21:
.... Buchholtz setzt die Linie der großen skandinavischen Erzähler einer älteren Generation fort. Die Gestalt dieses Egholm, eines Typus des nordischen Menschen, ist mit Meisterhand gezeichnet, wie überhaupt der Roman von hohem, dichterischem Können Zeugnis gibt. Kein falsches Wort stört, und keine Konzession an sentimentale Herzen, und er ist von einer weltabgewandten, in sich ruhenden Gedanklichkeit durchströmt.
Dr. Hugo Greinz .
LAURIDS BRUUN
OANDA
Roman
277 Seiten
Hamburger Correspondent v. 6. 4. 21:
.... alle diese Schilderungen zeugen von unübertrefflicher Gestaltungskraft. „Oanda“ ist ein sozialer Roman im besten Sinne des Wortes, in eigentümlicher Weise verklärt durch die fast märchenhaft anmutende Gestalt der Heldin selbst. Die musterhafte Übersetzung und die ausgezeichnete äußere Ausstattung erhöhen noch den Wert des Buches.
Dr. Nagel .
Vorwärts v. 5. 6. 21:
.... Wer Laurids Bruuns frühere Bücher, insbesondere sein van Zantens Buch kennt, weiß, daß der Verfasser von einem Utopia der Menschengüte träumt, weiß auch, daß er seinen Träumen Gestalt zu geben versteht. ....
Literarisches Echo, 23. Jahrgang, Heft 13:
Aus den Romanen Laurids Bruuns, die wie sonnige glückliche Inseln im trüben Meer unserer literarischen Erinnerungen liegen, kehren manche vertrauten, edlen Menschen in diesem Buche wieder, so daß wir alsbald in ihm heimisch sind und die Vorgänge sofort Relief und Perspektive bekommen. ....
EJNAR MIKKELSEN
Sachawachiak
der Eskimo
Ein Erlebnis aus Alaska
180 Seiten
Deutsche Allgemeine Zeitung v. 8. 5. 21:
.... Dieses Buch hätte niemand schreiben können, der nicht selbst eine Zeit seines Lebens fern von der Kultur, dem Abenteuer hingegeben, Entbehrungen und Gefahren auf sich genommen hat; aber der wagemutige Forscher allein hätte es ebensowenig zustande gebracht. Es gibt in der Erzählung einige Partien, etwa die Schilderung der rasenden Jagd, in der Sachawachiak seinen Peiniger verfolgt, die an die grobe Volksepik, an alte Heldenlieder erinnern, an Gogols „Taras Bulba“ oder Selma Lagerlöfs „Gösta Berling“. ....
Weser-Zeitung v. 5. 2. 21:
.... Da sind Urlaute, da pulst — trotz Schnee und Eis — ein wildes Leben. Die Fabel ist eigentlich nur Mittel zum Zweck. Gewiß: die Zertrümmerung einer primitiven Kultur durch Branntwein und Syphilis soll sich gestalten, in der Hauptsache aber will der Verfasser, der als arktischer Forscher einen guten Namen hat, den eigenartigen Daseinsrhythmus jener nördlichen Himmelsstriche, wo Menschen wohnen, vergegenwärtigen. ....