Title : Die heimtückischen Champignons: und andere Geschichten
Author : Gustav Meyrink
Release date : December 22, 2022 [eBook #69604]
Language : German
Original publication : Germany: Verlag Ullstein
Credits : the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
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DAS NEUE
ULLSTEIN-BUCH
und
andere Geschichten
von
Gustav Meyrink
*
Verlag Ullstein / Berlin
Die heimtückischen Champignons
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Der Opal
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Das Wildschwein Veronika
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Izzi Pizzi
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Bal macabre
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Der Buddha ist meine Zuflucht
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Das Wachsfigurenkabinett
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Bologneser Tränen
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Der Albino
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Chimäre
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Die Geschichte vom Löwen Alois
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Der violette Tod
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Die Königin unter den Bregen
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Bocksäure
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Der Schrecken
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Der Fluch der Kröte
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Eine Suggestion
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Der Mann auf der Flasche
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Das Präparat
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Das ganze Sein ist flammend Leid
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Tut sich — macht sich — Prinzeß
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Das Fieber
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Die Pflanzen des Dr. Cinderella
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Tschitrakarna, das vornehme Kamel
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[S. 7]
„Das Geld liegt auf der Straße, man braucht sich nur danach bücken, um es aufzuheben“, ist ein alter Satz, den ich des öfteren von smarten Geschäftsleuten äußern hörte, ohne daß es mir jedoch bis heute gelungen wäre, seine Stichhaltigkeit einwandfrei zu erproben. Um so mehr bin ich deshalb geneigt, die pessimistische Weltanschauung jener zu teilen, die auf den — allerdings apokryphen — Nachsatz schwören: „Wer sich bückt, um es aufzuheben, dem fällt die Brieftasche aus der Jacke.“
Als fanatischen Verfechter dieses hämischen Glaubensbekenntnisses lernte ich vor Jahren in Prag einen Agenten namens Dowidl Taubeles kennen; wenn ich nicht irre, war er nebenbei mosaischer Konfession, wenigstens konnte er mir — insbesondere solange ich mit ihm noch keine Geschäfte gemacht hatte — nicht oft genug im Sprudelton felsenfester Überzeugung versichern:
„Ihnen gesagt, junger Mann, die Brieftasch’ fällt einem ’raus!“
Wahrscheinlich, um Widersprüche meinerseits im Keim zu ersticken, faßte er mich dabei jedesmal beim zweiten Rockknopf und versuchte, ihn abzudrehen, was jedoch mißlang, da ich den Knopf in weiser Voraussicht [S. 8] solcher Fälle vom Schneider mit Blumendraht hatte annähen lassen.
Begab es sich, daß Dowidl Taubeles Kenntnis erhielt, ich stünde im Begriff, mit andern Agenten in Verkehr zu treten, pflegte er mir seine Warnung sogar dreimal hintereinander, ohne Atem zwischen den Worten zu schöpfen, zu erteilen.
Ohne Zweifel kannte er die magische Kraft, die derartigen seelischen Einhämmerungen innewohnt.
Geraume Zeit hindurch war es mir gelungen, den Wackeren nicht mehr zu Gesicht zu bekommen, da ereignete es sich, daß er mich in einer einsamen schmalen Gasse, aus der ein Entrinnen unmöglich war, stellte.
Besorgt griff er nach meinem Knopf: Gott sei Dank, ich hatte zum Glück den Blumendrahtrock an.
Aber das Schicksal wollte es anders; diesmal überlistete mich Taubeles.
Ohne den Knopf Nummer zwei auch nur eines Blickes zu würdigen, faßte er den dritten, hatte ihn im Nu abgedreht, hielt mir ihn triumphierend vors Gesicht und sprudelte:
„Ihnen gesagt, junger Mann, Sie wissen doch ...“
„Ja, ja, ich weiß“, stammelte ich niedergeschlagen.
„Nein, Sie wissen nicht!“ fuhr er auf mich los; „nix wissen Sie! — — Das Geld liegt auf der Straße, mer braucht sich nur dernach zu bücken und — und mer hat ihn schon!“ Ich bezog seine letzten Worte auf das Geld; erst viel, viel später wurde mir klar, er könne vielleicht den Knopf oder gar mich selbst damit gemeint haben.
Ich sah meinen Besieger forschend an: seltsam, wie [S. 9] treuherzig er heute aus runden Kinderaugen in den brühwarmen Sonnendampf hineinblickte! — Was für eine merkwürdige Wandlung war in ihm vorgegangen?
„Ich heiß nämlich von jetz an Kunz Peter Taubinger“, vertraute er mir lächelnd an, als habe er meine Gedanken gelesen.
„Doch nicht etwa meinetwegen?“ fragte ich bestürzt.
„Wie mer’s nimmt“, gab er kopfwiegend zu, und wieder rundeten sich seine Augen. Ich spürte förmlich, wie seine Seele sich — allerdings vergebens — abmühte, ihnen die dazugehörige arisch-himmlische Bläue zu verleihen. — „Wie mer’s nimmt. — Ich hab’ mer nämlich vorgenommen, von heite ab nur mehr mit die bessern Kreise zu verkehren. — Iebrigens: ich mach jetz in Schampiohns.“
„Worein?“ forschte ich.
Ohne weiter ein Wort zu verlieren, schleifte er mich in das nächste Kaffeehaus und machte mir mit einer Eindringlichkeit, die mir außer den übrigen Rockknöpfen zwei Stunden Zeit kostete, den keine Widerrede duldenden Vorschlag, mich mit ihm behufs Gründung einer Champignonzucht zu assoziieren.
Die Vorteile leuchteten mir ohne weiteres ein — wurden doch, wie in einer Broschüre stand, die er mir wies, jährlich in Paris über fünf Millionen an Champignons verdient.
Auch die plötzliche Sinnesänderung Taubingers, was die Deutung des Satzes vom Geldverdienen betraf, schien mir nicht weiter wunderbar; wußte ich doch vom Gymnasium her, daß weiland der griechische Seher Teiresias sich über Nacht aus einem Weibe in einen [S. 10] Mann verwandelt hatte. Warum sollte sich da ein Agent nicht aus einem Pessimisten in einen Optimisten verwandeln?
„Roßmist!“ unterbrach Taubinger meine Reflexionen und deutete ringbefingert durch die Spiegelscheibe auf mehrere runde, spatzenumworbene Gegenstände auf den Pflastersteinen, — „mer braucht sich nur danach zu bücken. — Roßmist ist alles!“
„Reif sein ist alles!“ verbesserte ich unwillkürlich, das bekannte Zitat gebrauchend, denn ich hatte Herrn Taubingers sprunghaften Gedankengängen nicht ganz zu folgen vermocht und erfuhr überdies erst im Laufe der kommenden Geschäftsverbindung, daß der Champignon die tadelnswerte Eigentümlichkeit besitzt, sich auf mangelhafte Beschaffenheit des Pferdedüngers auszureden, wenn er nicht wachsen will.
„Jenne Äppel brauchen nix reif zu sein!“ belehrte mich Taubinger, das Mißverständnis dadurch ins Uferlose erweiternd.
Das Studium des wissenschaftlichen Elaborates, das er mir sodann mit geheimnisvoller Miene aushändigte — plötzlich finster werdend, als er bemerkte, daß ich keinen Knopf mehr zum Abdrehen besaß —, verfolgte mich in selbiger Nacht bis tief in den Schlaf hinein.
Oh, hätte ich damals doch der holden Traumgöttin ein williges Ohr geliehen!
Falstaff behauptet, Träume kämen aus dem Bauche; mag sein, daß dies bei ihm zutraf, — bei mir kamen sie damals aus der verfluchten Broschüre, die die Rentabilität der Champignonzucht in überschwenglichen Tönen pries, — das weiß ich bestimmt. Von Grotten [S. 11] war darin die Rede, in denen zu sprießen — wie einstens des gottseligen Barbarossas Bart — die Champignons versprächen, wenn man nur gewissenhaft darauf achte, daß das Wärmemaß den 34. Grad Réaumurs nicht überschreite und genügend Lüftung vorhanden sei.
Ich wanderte im Traum durch unterirdische dämmerige Gefilde, oft bis zum Knie einsinkend in rätselhaft weiche Massen — vermutlich mein Plumeau —, sah mich selbst, als sei ich der leibhaftige Tod, eine Sense schwingend nach den Scharen bleicher Pilzköpfe, die sich aber leider jedesmal, wenn mein Hieb sie treffen und in Goldstücke verwandeln wollte, mißgünstig duckten und meiner Mordgier entzogen.
Immer weiter und weiter ausholend, schwang ich den mähenden Arm, und wer weiß, vielleicht hätte ich doch noch glücklich die Stunde verschlafen, wo Kunz Peter Taubinger meiner in einer Advokatenkanzlei behufs gemeinsamer Besiegelung des Gesellschaftsvertrages harrte, wäre nicht mein Traum jählings dadurch unterbrochen worden, daß ich mit wild fuchtelnder Faust meine arglos über dem Bette hängende Geliebte mitten auf den Bauch traf, das schirmende Glas in sternförmige Splitterstrahlen verwandelnd.
Eine Stunde später hatte ich mit ähnlichem Schwung den Kontrakt unterschrieben, der mich berechtigte, monatlich die Hälfte des zu erwartenden Riesengewinnes mittels Panzerautos abholen zu lassen, während meine Pflichten — abgesehen von der Einzahlung des Betriebskapitals — auf umfassende Tatenlosigkeit beschränkt waren.
[S. 12]
Da Herr Taubinger, mein nunmehriger Kompagnon, jedoch miserabel vom Start ging, d. h. deutlicher gesagt: da er, was den Beginn der geschäftlichen Tätigkeit betraf, in eine seltsame Art Totenstarre verfiel, die er nur jeden Freitag unterbrach, um sich von mir einen Gewinnvorschuß geben zu lassen, so beschloß ich, das Rennen nach dem Mammon selbst zu leiten.
Die Folgen wurden bald sichtbar: „Waas? Ä Grotte suchen Sie?“ war jedesmal die mißtrauische Gegenfrage, wenn ich mich in den Kaffeehausspielklubs an meine Bekannten forschend gewandt hatte.
„Ä Grotte sucht jenner!“ wurde das Gespräch, halblaut geknurrt, von Schachbrett zu Schachbrett weitergegeben, bis es nach geraumer Zeit die intimen Gettoschranken durchbrochen hatte, um in der ganzen Stadt zu kursieren wie ein Sphinxproblem, das trotz seiner Unlösbarkeit die Menschengehirne immer wieder zum Grübeln zwingt.
„Ä Grotte sucht jenner!“ hörte ich hinter mir dreinraunen, wenn ich, den Kopf voller Zahlen, schnellen Schrittes Geschäftsleute auf der Straße überholte.
„Ä Grotte sucht jenner!“ las ich von den murmelnden Lippen der violettrasierten Herren, wenn sie abends unter dem Vorwand, dem Kunstgenuß zu frönen, die Theatersperrsitze füllten.
„Ä Grotte sucht jenner!“ fühlte ich, sprachen in stummer Geste die Dutzende heimlich unter Liderzwinkern auf mich gedrehten Daumen neugieriger Fahrgäste, wenn ich, des Angestarrtwerdens überdrüssig, die „Elektrische“ zu verlassen mich anschickte.
„Ä Grotte sucht jenner!“ hörte ich sogar einmal [S. 13] mitten im Telephongespräch sich eine krächzende Stimme in meine Rede verirren.
Wie ungemein schwierig es ist, Grotten im Weichbilde einer Großstadt zu entdecken, das weiß nur jemand, der wie ich sich wochenlang darauf versteift hat, welche zu finden.
Aber Fleiß bricht Eisen! In meinem Falle brach er es auf folgende Weise:
Nahe daran, das Vorhandensein von Grotten überhaupt ins Reich der Fabel zu verweisen — siehe: Konversationslexikon, Artikel „Untersberg“ —, hatte ich nach und nach eine mir schon von Kindesbeinen an liebgewordene Beschäftigung wieder aufgenommen, nämlich die Veranstaltung von Rendezvous mit jungen Damen, und zu diesem Zwecke mehrere gleichlautende Briefchen dem Postkasten hinter die gefletschten Zähne geschoben.
Leider fiel mir erst zu spät ein, daß sie auch hinsichtlich des Ortes und der Zeit des Stelldicheins gleichlautend gewesen waren. Die Rasseveredelung in Prag zu fördern, hatte ich von je als hohes Ziel angesehen, aber in diesem Falle schien sie mir kaum durchführbar, denn angesichts des betrüblichen Überflusses an seelischem Ballast, der allen meinen Geliebten leider eigen war, durfte es wohl als ausgeschlossen gelten, sie am gleichen Ort und zu gleicher Stunde sozusagen unter einen Hut zu bringen.
Als ich im Geiste den Inhalt der Liebeskorrespondenz nochmals überflog, kam ich gesträubten Haares — ich war damals noch jung — zu dem Resultat, daß ich nicht weniger als vier Stück auf den Wyschehrad [S. 14] bestellt hatte. Darunter Msi (eine Abkürzung von: „Mein süßes Julchen“, denn ich pflegte meine Geliebten des schnelleren Überblicks wegen stets mit Anagrammen zu bezeichnen), ein junges Mädchen von furienhaftem Temperamente und einer so gellenden Stimme, daß bei ihrem Ertönen sicherlich jeder Durchschnittsjochgeier entmutigt die Segel gestrichen hätte.
Der Wyschehrad ist ein hohes viereckiges Hügelmassiv, das die Stadt nach Süden, unberufen, abschließt; die eine Seite fällt steil in die Moldau ab. Uralte Mauerreste, mehrere Meter über dem Flusse, führen den Namen Libussabad. Hier soll die sagenhafte Königin Libussa einst ein Bad genommen haben. — Ob seitdem eins fehlt, weiß ich nicht.
Die Tatsache an sich wird von Geschichtsforschern bezweifelt, die Bevölkerung jedoch hält stolz daran fest.
Einwandfrei läßt die Wahrheit sich heute nicht mehr feststellen; freilich, trüb ist das Wasser an jener Stelle immer noch.
Den Hügel krönt eine Art Festungswerk, bestehend aus langen, ein Viereck bildenden Wällen.
Beim Erklimmen der steinernen Stufen fiel mir die bange Ahnung schwer aufs Herz, daß eine fünfte, in der Nähe wohnende Geliebte möglicherweise mittels Zeißbinokels Augenzeugin des unabwendbar bevorstehenden Eifersuchtsdramas werden könnte, aber ich raffte meinen Mut zusammen und schwang mich auf die oberste Zinne.
Allerdings der Anblick, der sich mir bot, ließ mich erbleichen: sämtliche vier Stück lustwandelten bereits, scheinbar unbefangen, auf den Wällen, aber doch schon [S. 15] halb und halb einander umkreisend wie ein giftgeschwollenes Planetensystem, — keines vom andern weiter als je fünfzig Meter entfernt.
Unten auf der grünen, von den Schanzen umschlossenen Wiese übte außerdem noch ein Feldwebel vor schwarzgelbem Schilderhaus rastlos Angriffssignale auf einer Trompete.
Ein vierfaches Winken mit Sonnenschirmen verriet mir, daß ich erkannt sei, und bereits im nächsten Augenblick hatte Msi die Situation erfaßt.
In den ersten Sekunden ihrer Unschlüssigkeit, auf welche der Rivalinnen sie sich stürzen solle, plusterte sich ihr rosa Tüllkleid auf wie das Gefieder einer Truthenne, dann legte es sich wieder glatt an, und mit zunehmender Geschwindigkeit sauste Msi auf eine Feindin los.
Die beiden andern lenkten ihre Flugbahn auf mich zu.
Ich flüsterte: jetzt bin ich verloren! Da! — Was tut Gott? — Ein schriller Schrei! — Msi war verschwunden. Spurlos.
Ich ließ mir keine Zeit zum Überlegen, ob es sich hier vielleicht um einen ähnlichen Fall handeln könne wie im Altertum bei Proserpina, die bekanntlich die Erde verschlang, sondern eilte auf die Unglücksstelle zu.
Kein Zweifel: Msi war in ein kreisrundes Loch, in eine Art Luftschacht, hinabgestürzt.
Von Entsetzen gepackt, suchten die drei restlichen Geliebten mit Hechtsprüngen das Weite.
„Wenzel!“ brüllte ich hinunter dem unentwegt schmetternden Feldwebel zu, — „Wenzel!“ (denn anders konnte der Mann doch nicht gut heißen) — „Wenzel! — Ein Unglück! Herbei!“
[S. 16]
Mit Hilfe des Trefflichen, der mir am Fuße des Luftschachtes eine Tür aufschloß, gelang es bald, Msi’n nicht nur wohlbehalten zu bergen, denn sie war lediglich auf einen Reisighaufen gefallen, sondern auch ihre Eifersucht durch den Hinweis zu beschwichtigen, die drei andern Mädchen seien zum Teil Luftspiegelungen, zum Teil Bräute des Feldwebels gewesen.
Der bleibende Gewinn, den ich aus jenem Abenteuer zog, war die Entdeckung einer für Champignonzucht geradezu einzigartigen Brutstätte. — Vier Schanzengänge tief unter der Erde! Trocken! Dunkel! Und überdies mit Luftschächten zum Hinabwerfen des Mistes versehen!!
„In dem, was die linksene is, ise sich, här ich, eine Marktweib drin mit Gemüs’“, erklärte mir Wenzel, nachdem ich ihn eine Weile lang mit Zehn-Kreuzer-Stücken behagelt hatte, die drei anderen könne ich mir bestimmt beim k. k. Korpskommando mietweise sichern, wenn ich gegen entsprechenden Preis eine Pacht von dreißig Jahren nachsuchen würde. — Hurra, die Grotte war also gefunden! — — —
Ein Gesuch in diesem Sinne gab ich natürlich noch am selben Abend zur Post.
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„Roßmist sucht jenner!“ fing bereits wieder wenige Tage später ein neues Gerücht, mit meinem Namen in enge Verbindung gebracht, an, das alte, bis dato in Handelskreisen umlaufende zu verdrängen.
Die paar Konservativen, die an dem „Ä Grotte sucht jenner“ festhalten wollten, waren in Bälde von der lawinenhaft anschwellenden Zahl derer, die dem [S. 17] ein energisches: „Roßmist!-Ihnen-gesagt!-Was-heißt-Grotte?!“ entgegensetzten, niedergestimmt.
Das Bild meiner mich stets belauernden bürgerlichen Umgebung fing an allmählich den Charakter zu wechseln.
Der roßkammartige Typus im Gesichtsschnitt wurde von Tag zu Tag ausgeprägter.
Unter den Nebentischen im Caféhaus klirrten „Sporen“ an den Gummizugstiefeletten von Füßen, die ich früher sicherlich als ausschließlichen Börsengalopinbesitz angesprochen hätte — Fiakerhalter mit Pepitahosen baten mich zutraulich auf der Straße um Feuer, Trainleutnants fixierten mich drohend — Reitpeitschen hingen statt Regenschirmen reihenweise in den Garderoben der von mir bevorzugten Restaurants.
Beunruhigend wirkte auf mich jedoch nur das eine, daß, wohin ich auch meine Schritte lenkte, mich wie mein eigener Schatten ein gewisser Löwy verfolgte, ein plattfüßiges, hämisches Individuum mit geschäftseilig zuckenden Hosenbeinrändern, von dem die einen behaupteten, er sei Akquisiteur für eine Privatirrenanstalt, während die andern seiner Glaubensgenossen den Verdacht zu mildern suchten, indem sie versicherten, er sei selber — „meschugge“.
Keineswegs günstig für ihn stimmte mich die Art, wie er mich durch seine brennglasdicke Brille, hinter der seine Augen etwas unheimlich glotzend Haifischartiges bekamen, anzugrinsen liebte. Auch daß er trotz meines unwilligen Stirnrunzelns in immer gleichen Intervallen krampfhaft im Kehlkopfton gurgelte: „Roßmist sucht jenner“, buchte ich zu seinen Lasten.
[S. 18]
Es ging mir nachgerade auf die Nerven.
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Um mir möglichst viel Betriebsstoff und so rasch wie möglich zu sichern, hatte ich Taubingern beauftragt, weder Mühe noch Kosten zu scheuen, sämtlichen in der Stadt verfügbaren Pferdedüngers habhaft zu werden.
Ein Börsenleben, wie es Prag noch nie gesehen, war die Folge jener Verfügung.
Eine Unzahl dicker jüdischer Reitlehrer (ich hatte bis dahin gar nicht geahnt, daß mosaischerseits in Prag so viel geritten wurde) hatte das sogenannte Hotel „Gänsebristel“ belagert, betrieb eine Art Kulissenhandel, und bis heraus auf die „Langgasse“ konnte man ihr emsiges:
hören.
— — — — — — — — —
„Nu, was sagen Sie jetzt?“ fragte mich eines Morgens Taubinger, als ich ihn in unserem neugemieteten Bureau aufsuchte, und deutete triumphierend auf die frischlackierte Ladentafel, auf der sein Name, mit dem meinigen zur Firma legiert, prangte, und darunter:
„Erster christlicher Champignon-Export.“
Ich sagte nichts, denn ich war sprachlos.
Noch sprachloser wurde ich, als mir Taubinger eröffnete, wir seien nunmehr glückliche Besitzer sämtlichen Pferdedüngers der Stadt auf Jahre hinaus. Allerdings für einen Preis, der sich ungefähr auf eine Krone pro Karat belief.
[S. 19]
Am sprachlosesten wurde ich jedoch, als ein Soldat hereinkam und mir einen Brief gab, dem ich ungefähr folgendes entnahm:
„Hierorts eingelaufenes Gesuch des Privaten G. M. um mietweise Überlassung der Schanzengänge auf dem Wyschehrad behufs Einrichtung von Pilzkultur wird unter Hinweis auf die kriegsoberstliche Entscheidung vom 31. Februar 1712, daß zurzeit Privatpersonen keinerlei Zugang zu den k. k. Festungswällen zu gewähren ist, und insbesondere unter Beachtung, daß deren Anlage strategischer Geheimhaltung untersteht, sowie angesichts der damit verbundenen Mauerschwammgefährdung abschlägig beschieden.
Das k. k. Korpskommando.“
Also wieder keine Grotte!!
Wutschnaubend verfaßte ich auf der Stelle einen Protest an das Kriegsministerium in Wien, die unter fächerförmigem Entfalten sämtlicher zehn Finger vorgebrachten Warnungen Taubingers: „Nor mit de Balmachomes keinen Streit anfangen; sie sind doch unsere Hauptlieferanten!“ mißachtend.
Wochenlanges Telephongeklingel mit darauffolgenden Drohungen, da und dort stünden die Düngerwagen bereit, mir den erworbenen Betriebsstoff in die Wohnung zu bringen, wenn ich nicht sofort anders verfügte, warfen mich schließlich aufs Krankenlager.
Nur Taubinger, der eines Morgens melden kam, es sei ihm nach unsäglicher Mühe gelungen, in der Vorstadt ein leeres Haus zu mieten, in dessen Keller nunmehr heimlich und nächtlicherweile der Mist abgeladen [S. 20] würde, habe ich es zu verdanken, daß das Fieberthermometer endlich sank.
Den Tag meiner Genesung feierte ich jedoch erst, als Bonifazius Felbermeier, ein mir von der Gärtnerinnung als hervorragender Champignonzüchter warm empfohlener Schlot und Fachmann, mit Eilzug aus Wien herbeigeeilt, mein Zimmer betrat und mir alle Qual vom Herzen nahm, indem er beteuerte: „Dös lassen S’ alles mich mochen, gnä Herr! — Werden S’ segen, gnä Herr“ — und wie zum Schwur erhob er seine Palmenblatthände — „wann s’ erst sechs Wochen gärt hat, dö Schwammbrut — ‚Mühzählium‘ heißen mir’s in die entern Gründ’ — nachher, Herrschaft, i’ kenn dös, da wurrln’s a so außer wia dö Soldaten.“
Voll neuer Zuversicht atmete ich auf.
Ja! Das Proletariat! Es ist eben immer unsere — Rettung! Der Mann, der da vor mir stand — verriet nicht schon sein Äußeres, daß es für ihn keine Champignonfragen, sondern nur Champignon lösungen geben mußte? — Die gelben Augen, die niedrige Stirn, das hutkrempenartig geschnittene Haar, überhaupt der ganze Höhlenmenschentypus: kann die Natur noch deutlicher sprechen? Nein, das Gesetz der Mimikry lügt nicht! Der da steht, ist mehr als ein sterblicher Mensch: er ist die Personalunion mit dem Gotte der Champignons! —
Er war sogar viel mehr, sage ich mir heute: er war ein klassenbewußter Proletarier! Was schon daraus hervorging, daß er fast keinen Tag verstreichen ließ, ohne sich nicht einen Lohnvorschuß auszahlen zu [S. 21] lassen oder mir eine Rechnung über allerlei angeschaffte phantastische Gerätschaften zu präsentieren.
Von nun an jeglicher Mistsorge enthoben, zahlte ich willig und gern, und fröhlich ging ich wieder daran, meine Rendezvous zu regeln, um das vernachlässigte, massenhaft angesammelte Material, soweit es meine erschütterte Gesundheit und die Umstände erlaubten, aufzuarbeiten.
Monat um Monat schwand dahin; wie üblich, begann der Herbst das Laub zu bräunen; die Lausbuben in den Parkalleen bewarfen den sinnenden Wanderer bereits hinterrücks mit Wildkastanien, aber immer noch hoffte ich vergebens der erlösenden Kunde, daß es in dem Vorstadtkeller zu „wurrln“ begänne.
Allmählich beschlich mich ein tiefes Unbehagen, das sich schließlich bis zu einem Anfall nicht mehr zu bändigenden Mißtrauens gegenüber Felbermeier steigerte.
Ich warf mich in einen Fiaker und fuhr auf die Suche nach dem mir bis dahin nur aus Taubingers Schilderungen bekannten Champignonhaus.
Schon von weitem glotzten mir die blinden Fensterscheiben des erbarmungswürdigen Gebäudes entgegen.
Übernächtig, ungepflegt, vom gramdurchfurchten Mauermörtel angefangen bis hinauf zur triefenden Dachrinne, erregte es mein heftigstes Mitleid.
Es hatte förmlich Ringe um die Augen.
„Felbermeier!“ schrie ich in den einsamen Flur hinein.
Keine Antwort; nur ein schwindsüchtiges Echo stöhnte: „— — ber — — mei — —“
[S. 22]
„Felbermeier!“ brüllte ich aus voller Lunge. — Niemand.
Der Höhlenmensch schien abwesend zu sein.
Ich stieg zur Kellertür hinab, faßte die Klinke; sie war glühend heiß. Ich nahm einen Stein und hämmerte gegen die Pfosten.
Endlich tat sich gespenstisch leise die Pforte auf, und ein Gluthauch, wie Wüstensamum, schlug mir entgegen.
Mitten in der wabernden Luftsäule stand entblößten Oberleibes, die Reste einer roten Krawatte um den nackten Hals geschlungen, der champignonkundige Bonifazius.
„Sie — Sie — Sie entarteter Troglodyt, Sie!“ schrie ich ihn an. „Das ist ja viel zu heiß! Da muß doch jede Schwammbrut verbrennen!“
„Dös is gar nöt heiß“, erwiderte er gelassen; „dös is nur a so a g’spannte Luft! — — Murgen, werden S’ segen, gnä Herr, da wurrln s’ scho!“
Zwar hatte ich noch am selben Tage den pflichtvergessenen Schlot seines Amtes enthoben und ihn nach Begleichung seines vertragsmäßig ausbedungenen Halbjahrsgehaltes im Schwunge aus dem Hause entfernt; aber nachts ließ es mir keine Ruhe: Was, wenn sie morgen doch wurrln sollten?!
Ich fuhr nochmals hin; vielleicht hatte der liebe Gott in letzter Stunde ein Wunder getan!
Nein! Er hatte keins getan.
Sie wurrlten nicht.
Alles, was ich im Keller vorfand, war:
Stück 1 — geplatztes Thermometer;
[S. 23]
Stück 1137 — morsche Sargbretter;
Stück ca. 1016 — Kubikmeter einer tiefschwarzen mir fremden Substanz;
Stück 188 — leere Schnapsflaschen;
Stück 1 — Frauenmieder (Herkunft und Zweck für den Keller nicht zu erklären);
Stück 1 — infolge übermäßiger Inanspruchnahme zusammengeschmolzener Koksofen.
Von Champignons war nichts zu sehen.
Nur alle fünf Schritt weit ragten aus dem Humus ein oder zwei stricknadeldünne, mir gänzlich unbekannte pilzartige Gewächse mit durchsichtigen winzigen Hütchen auf den unendlich langen Stengeln.
Sie bildeten später den Gegenstand eifrigsten Studiums seitens der botanischen Stadtkoryphäen. Das Gutachten lautete, es seien zwar Pilze, aber diese Art käme nur in den heißesten Distrikten der Äquatorialgegend vor.
Von ihrem Genusse müsse aufs dringendste abgeraten werden.
— — — — — — — — —
Der Winter nahte, trostlos angefüllt mit Eis, Schnee, nicht endenwollenden Rechnungen, einer Mordsunterbilanz der „Ersten christlichen Champignonexportfirma“ und schließlich einer Gerichtsklage des Vorstadthausbesitzers: ich hätte unverzüglich den Roßmist aus dem Keller zu entfernen, sonst ... Überhaupt sei der ganzen Sauwirtschaft unverzüglich ein Ende zu bereiten ...
Beim Ausräumen des nebenbei bemerkt unheilbar erkrankten Gebäudes stellte sich wunderbarerweise heraus, [S. 24] daß, seit die fachmännische Beaufsichtigung aufgehört hatte, heimlich doch noch sieben Stück Champignons gewachsen waren. Offenbar hatten sie keine Ausrede mehr gewußt, ihr mangelndes Gedeihen zu entschuldigen.
Ich habe sie aus Rache ganz allein aufgegessen.
Das Stück hat, wie ich aus meinen Büchern genau nachweisen kann, fl. öw. 6347 und 41 Kreuzer gekostet.
„Bald wird der Mai kommen,“ tröstete ich mich nach der Mahlzeit, „dann will ich nur noch der Liebe leben, und alles wird rasch vergessen sein.“
Freilich, der Mai kam — was hätte er auch sonst tun sollen —, aber er kam nicht allein; ein Brief des Kriegsministeriums aus Wien kam mit, und drin stand, daß nunmehr meinem Begehren stattgegeben worden und ich als alleiniger Mieter der Wyschehrader Schanzengänge für 30 Jahre anzusehen sei!
Kunz Peter Taubinger blickte mir über die Schulter, als ich es ächzend las, und triumphierte:
„Nu, was hab’ ich gesagt! Das Geld liegt auf der Straße, aber die Brieftasch’ fallt einem ’eraus, wenn mer sich danach bückt.“
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Nachträglicher Stoßseufzer des Autors:
Hoffentlich nimmt mich die neuentstandene tschechoslowakische Republik nicht beim Wort!
[S. 25]
Der Opal, den Miß Hunt am Finger trug, fand allgemeine Bewunderung.
„Ich habe ihn von meinem Vater geerbt, der lange in Bengalen diente, und er stammt aus dem Besitze eines Brahmanen“, sagte sie und strich mit den Fingerspitzen über den großen schimmernden Stein. „Solches Feuer sieht man nur an indischen Juwelen. — Liegt es am Schliff oder an der Beleuchtung, ich weiß es nicht, aber manchmal kommt es mir vor, als ob der Glanz etwas Bewegliches, Ruheloses an sich hätte, wie ein lebendiges Auge.“
„Wie ein lebendiges Auge“, wiederholte nachdenklich Mr. Hargrave Jennings.
„Finden Sie etwas daran, Mr. Jennings?“
— — — — — — — — —
Man sprach von Konzerten, von Bällen und Theater — von allem möglichen, aber immer wieder kam die Rede auf indische Opale.
„Ich könnte Ihnen etwas über diese Steine, über diese sogenannten Steine mitteilen,“ sagte schließlich Mr. Jennings, „aber ich fürchte, Miß Hunt dürfte dadurch der Besitz ihres Ringes für immer verleidet sein. Wenn Sie übrigens einen Augenblick warten, will ich das Manuskript in meinen Schriften suchen.“
Die Gesellschaft war sehr gespannt.
[S. 26]
„Also hören Sie, bitte. (Was ich Ihnen hier vorlese, ist ein Stück aus den Reisenotizen meines Bruders — wir haben damals beschlossen, nicht zu veröffentlichen, was wir gemeinsam erlebten.)
Also: Bei Mahawalipur stößt das Dschungel in einem schmalen Streifen bis hart ans Meer. Kanalartige Wasserstraßen, von der Regierung angelegt, durchziehen das Land von Madras fast bis Tritschinopolis, dennoch ist das Innere unerforscht und einer Wildnis gleich, undurchdringlich, ein Fieberherd.
Unsere Expedition war eben eingetroffen, und die dunkelhäutigen tamulischen Diener luden die zahlreichen Zelte, Kisten und Koffer aus den Booten, um sie von Eingeborenen durch die dichten Reisfelder, aus denen nur hie und da Gruppen von Palmyrapalmen wie Inseln in einem wogenden hellgrünen See emporragen, in die Felsenstadt Mahawalipur schaffen zu lassen.
Oberst Sturt, mein Bruder Hargrave und ich nahmen sofort Besitz von einem der kleinen Tempel, die, aus einem einzigen Felsen herausgehauen, eigentlich herausgeschnitzt, wahre Wunderwerke altdrawidischer Baukunst darstellen. Die Früchte beispielloser Arbeit indischer Frommer, mögen sie jahrhundertelang den Hymnen der begeisterten Jünger des großen Erlösers gelauscht haben, — jetzt dienen sie brahminischem Shivakult, wie auch die sieben aus dem Felsrücken gemeißelten heiligen Pagoden mit den hohen Säulenhallen.
Aus der Ebene stiegen trübe Nebel, schwebten über den Reisfeldern und Wiesen und lösten die Konturen [S. 27] heimziehender Buckelochsen vor den rohgezimmerten indischen Karren in regenbogenartigen Dunst auf. Ein Gemisch von Licht und geheimnisvoller Dämmerung, das sich schwer um die Sinne legt und wie Zauberduft von Jasmin und Holunderdolden die Seele in Träume wiegt.
In der Schlucht vor dem Aufgang zu den Felsen lagerten unsere Mahratten-Sepoys in ihren wilden malerischen Kostümen und den rot und blauen Turbans, und wie ein brausender Lobgesang des Meeres an Shiva den Allzerstörer dröhnten und hallten die Wogenschläge aus den offenen Höhlengängen der Pagoden, die sich vereinzelt längs des Gestades hinziehen.
Lauter und grollender schwollen die Töne der Wellen zu uns empor, wie der Tag hinter den Hügeln versank und Nachtwind sich in den alten Hallen fing.
Die Diener hatten Fackeln in unseren Tempel gebracht und sich in das Dorf zu ihren Landsleuten begeben. Wir leuchteten in alle Nischen und Winkel. Viele dunkle Gänge zogen durch die Felswände, und phantastische Götterstatuen in tanzender Stellung, die Handflächen vorgestreckt mit geheimnisvoller Fingerhaltung, deckten mit ihren Schatten die Eingänge wie Hüter der Schwelle.
Wie wenige wissen, daß alle diese bizarren Figuren, ihre Anordnung und Stellung zueinander, die Zahl und Höhe der Säulen und Lingams Mysterien von unerhörter Tiefe andeuten, von denen wir Abendländer kaum eine Vorstellung haben.
Hargrave zeigte uns ein Ornament an einem Sockel, [S. 28] einen Stab mit vierundzwanzig Knoten, an dem links und rechts Schnüre herabhingen, die sich unten teilten: Ein Symbol, das Rückenmark des Menschen darstellend, und in Bildern daneben Erklärungen der Ekstasen und übersinnlichen Zustände, deren der Yogi auf dem Wege zu den Wunderkräften teilhaftig wird, wenn er Gedanken und Gefühl auf die betreffenden Rückenmarksabschnitte konzentriert. —
„Dies da Pingala, großer Sonnenstrom“, radebrechte bestätigend Akhil Rao, unser Dolmetsch.
Da faßte Oberst Sturt meinen Arm: „Ruhig — — — hören Sie nichts?“
Wir horchten gespannt in der Richtung des Ganges, der, von der kolossalen Statue der Göttin Kala Bhairab verborgen, sich in die Finsternis zog.
Die Fackeln knisterten — sonst Totenstille.
Eine lauernde Stille, die das Haar sträubt, wo die Seele bebt und fühlt, daß etwas geheimnisvoll Grauenhaftes blitzartig ins Leben bricht, wie eine Explosion, und nun unabwendbar eine Folge todbringender Dinge aus dem Dunkel des Unbekannten, aus Ecken und Nischen emporschnellen muß.
In solchen Sekunden ringt sich stöhnende Angst aus dem rhythmischen Hämmern des Herzens — wortähnlich, wie das gurgelnde, schauerliche Lallen der Taubstummen: Ugg — ger , — Ugg — ger , — Ugg — ger . —
Wir horchten vergebens — kein Geräusch mehr.
„Es klang wie ein Schrei tief in der Erde“, flüsterte der Oberst.
Mir schien es, als ob das Steinbild der Kala [S. 29] Bhairab, des Choleradämons, sich bewegte: unter dem zuckenden Lichte der Fackeln schwankten die sechs Arme des Ungeheuers, und die schwarz und weiß bemalten Augen flackerten wie der Blick eines Irrsinnigen.
„Gehen wir ins Freie, zum Tempeleingang,“ schlug Hargrave vor, „es ist ein scheußlicher Ort hier.“
Die Felsenstadt lag im grünen Lichte wie eine steingewordene Beschwörungsformel.
In breiten Streifen durchglitzerte der Mondschein das Meer, einem riesigen, weißglühenden Schwerte gleich, dessen Spitze sich in der Ferne verlor.
Wir legten uns auf die Plattform zur Ruhe — es war windstill und in den Nischen weicher Sand.
Doch es kam kein rechter Schlaf.
Der Mond stieg höher, und die Schatten der Pagoden und steinernen Elefanten schrumpften auf dem weißen Felsboden zu krötenähnlichen phantastischen Flächen zusammen.
„Vor den Raubzügen der Moguln sollen alle diese Götterstatuen von Juwelen gestrotzt haben — Halsketten aus Smaragden, die Augen aus Onyx und Opal“, sagte plötzlich Oberst Sturt halblaut zu mir, ungewiß, ob ich schliefe. — Ich gab keine Antwort.
Kein Laut als die tiefen Atemzüge Akhil Raos.
Plötzlich fuhren wir alle entsetzt empor. Ein gräßlicher Schrei drang aus dem Tempel — ein kurzes, dreifaches Aufbrüllen oder Auflachen mit einem Echo wie von zerschellendem Glas und Metall.
Mein Bruder riß ein brennendes Scheit von der Wand, und wir drängten uns den Gang hinab in das Dunkel.
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Wir waren vier, was war da zu fürchten.
Bald warf Hargrave die Fackel fort, denn der Gang mündete in eine künstliche Schlucht ohne Deckenwölbung, die, von grellem Mondlicht beschienen, in eine Grotte führte.
Feuerschein drang hinter den Säulen hervor, und von den Schatten gedeckt schlichen wir näher.
Flammen loderten von einem niedrigen Opferstein, und in ihrem Lichtkreis bewegte sich taumelnd ein Fakir, behängt mit den grellbunten Fetzen und Knochenketten der bengalischen Dhurgaanbeter.
Er war in einer Beschwörung begriffen und warf unter schluchzendem Winseln den Kopf nach Art der tanzenden Derwische mit rasender Schnelle nach rechts und links, dann wieder in den Nacken, daß seine weißen Zähne im Lichte blitzten.
Zwei menschliche Körper mit abgeschnittenen Köpfen lagen zu seinen Füßen, und wir erkannten sehr bald an den Kleidungsstücken die Leichen zweier unserer Sepoys. Es mußte ihr Todesschrei gewesen sein, der so gräßlich zu uns emporgeklungen.
Oberst Sturt und der Dolmetsch warfen sich auf den Fakir, wurden aber von ihm im selben Augenblick an die Wand geschleudert.
Die Kraft, die in dieser abgemergelten Asketengestalt wohnte, schien unbegreiflich, und ehe wir noch zuspringen konnten, hatte der Fliehende bereits den Eingang der Grotte gewonnen.
Hinter dem Opferstein fanden wir die abgeschnittenen Köpfe der beiden Mahratten.“
— — — — — — — — —
[S. 31]
Mr. Hargrave Jennings faltete das Manuskript zusammen: „Es fehlt ein Blatt hier, ich werde Ihnen die Geschichte selber zu Ende erzählen:
„Der Ausdruck in den Gesichtern der Toten war unbeschreiblich. Mir stockt heute noch der Herzschlag, wenn ich mir das Grauen zurückrufe, das uns damals alle befiel. Furcht kann man es nicht gut nennen, was sich da in den Zügen der Ermordeten ausdrückte, — ein verzerrtes, irrsinniges Lachen schien es. — Die Lippen, die Nasenflügel emporgezogen, — der Mund weit offen und die Augen, — die Augen, — es war fürchterlich; stellen Sie sich vor, die Augen — hervorgequollen — zeigten weder Iris noch Pupille und leuchteten und funkelten in einem Glanze wie der Stein hier an Miß Hunts Ring.
Und wie wir sie dann untersuchten, zeigte es sich, daß sie wirkliche Opale geworden waren.
Auch die spätere chemische Analyse ergab nichts anderes. Auf welche Weise die Augäpfel hatten zu Opalen werden können, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Ein hoher Brahmane, den ich einmal fragte, behauptete, es geschähe durch sogenannte Tantriks (Wortzauber), — und der Prozeß gehe blitzschnell, und zwar vom Gehirn aus vor sich; doch wer vermag das zu glauben! Er setzte damals noch hinzu, daß alle indischen Opale gleichen Ursprungs seien, und daß sie jedem, der sie trüge, Unglück brächten, da sie einzig und allein Opfergaben für die Göttin Dhurga, die Vernichterin alles organischen Lebens, bleiben müßten.“
Die Zuhörer standen ganz unter dem Eindruck der Erzählung und sprachen kein Wort.
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Miß Hunt spielte mit ihrem Ring. — — — —
„Glauben Sie, daß Opale wirklich deswegen Unglück bringen, Mr. Jennings?“ sagte sie endlich. „Wenn Sie es glauben, bitte, vernichten Sie den Stein!“ — — —
Mr. Jennings nahm ein spitzes Eisenstück, das als Briefbeschwerer auf dem Tische lag, und hämmerte leise auf den Opal, bis er in muschelige, schimmernde Splitter zerfiel.
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Ein dreifach geflochtener Kranz, niedergelegt auf dem Altare schlichter Heimatkunst
Vom Alpensee wehte kühl der Odem des keimenden Morgens, und voll Unruhe irrten die Nebel umher auf den nassen, schlummernden Wiesen.
Kein Auge hatte Veronika, die Gezähmte, geschlossen die ganze Nacht und sich schlaflos hin und her gewälzt auf dem häuslichen Misthaufen. „Der Holzlapp’ von Miesbach“ von Xaver Hinterstoißer hatten sie drin im Saale gespielt gestern abend, und kein Auge war trocken geblieben, als so der „Pfarrer“ dreiviertelstundenlang laut mit sich selber gekämpft.
„Das nenn’ ich mir halt wahre Heimatskunst“, hatte der fremde Städter mit der krummen Hahnenfeder auf dem Hute, als er — aus dem Gasthause getreten — sich für einen Augenblick an den Misthaufen stellte, laut zu seinem Nebenmann gesagt und dabei voll Inbrunst zum Monde aufgeblickt. „Alles so grundwahr aus dem Volke herausgewachsen. Oh, Erdgeruch, du mein Erdgeruch. Und haben Sie auch beobachtet, Herr Meier, was für ergreifende Töne dem Oberniedertupferseppl [S. 34] als ‚Großknecht‘ zur Verfügung standen! Es ist doch kaum zu glauben! Dieser schlichte biedere Bauernsohn!“
„Ja, und gar der prächtige Schnackl-Franz. Dieses urwüchsige Dudludludl, so naiv und doch so innig — gar nicht mehr los werde ich die Weise“, hatte der andere freudig zugestimmt. Und dann waren beide wieder hineingegangen.
Dem Schwein Veronika auf seinem erhöhten Lager aber war kein Wort entgangen.
Stunde um Stunde verrann, und kein Schlaf kam mehr in seine Augen.
Der Mond war quer über den Himmel geschlichen; vorsichtig hatte der Misthaufen zuerst auf der linken Seite einen blauschwarzen Schatten herausgebleckt, ihn allmählich wieder eingezogen, dann rechts herausgebleckt — weiter, immer weiter, bis er endlich ganz und gar die Herrschaft über ihn verloren. Und nichts von alldem hatte das Schwein beachtet, wie doch sonst in hellen Nächten. So sehr jagten sich seine Gedanken!
Schon quoll der erregende Hauch des Morgengrauens aus der Erde, brutwarm stank es aus den Bauernhäusern, und immer noch grübelte Veronika. Grübelte und grübelte. Und Erinnerungen aus der Jugendzeit, an Alma, die liebliche Stiefschwester, und die andern — — alle — — alle, wurden wieder neu. Gott, wie war es doch damals nur gewesen?! Richtig, richtig, ja — — — der schöne Mann mit der Ballonmütze aus schwarzer Seide und dem blanken Messer als Hüftzier war eines Tages gekommen und hatte Alma [S. 35] genommen. Und der Papa hatte gesagt: „Es ist ein Theaterdirektor, er hat Alma entdeckt.“
Und die Mama hatte gesagt: „Wegen ihrer rosa Hautfarbe kam er, — sie ist nicht wie ihr; — ach, und so verführerisch konnte halt das Mädchen mit dem Busen wogen. Sie wird bestimmt Koloratursängerin.“
Eine ganze Woche hatten sie dann allesamt auf dem Misthaufen gelegen und rastlos geübt, verführerisch mit dem Busen zu wogen.
Wohl war von Zeit zu Zeit, wenn die Kirchweih nahte, der Theaterdirektor mit der Mütze immer wieder gekommen und hatte zur Feier des frommen Festes ein Familienmitglied an den Ohren weggeführt, aber von Alma sprach er nie.
„Soll ich denn auch auf ihn warten?“ überlegte Veronika. „Soll ich nicht?“
Unentschlossen zählte sie an ihren zwölf Knöpfen ab: soll ich, soll ich nicht — —
Soll ich nicht! — kam heraus. Da erhob sich Veronika, schüttelte den Tau von den Borsten und blickte in den Himmel. Es gähnte der Morgen, rosenrot barst der junge Tag. Rosenrot. — — Wie Schminke.
Da frohlockte das Schwein ob des günstigen Zeichens. Und suchend blickte es umher.
„Ja, was wär’ denn jetzt gar dös?! Ein grünwollenes Futteral liegt da?!“
Schnell biß es vier Stücke davon ab, zog sie über die Waden und setzte den Lampenschirm aufs Haupt, den grasgrünen, den die Wirtin neulich auf den Misthaufen geworfen hatte.
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So, und jetzt noch eine Träne: „Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Triften, — — — ihr Wiesen, die ich wässerte — —,“ und im Trab zum Herrn Uhrmacher ging’s, die zwölf Knöpfe versilbern lassen. Der machte das recht gern, wenn auch nicht billig, und sagte dabei ein- ums anderemal: „A Pferdsketten mit a paar Pfund Eberzähnt, dös fehlet halt no, und auf ’m Huat den Pinsel fein nöt vergessen!“
Denn er durchschaute des Schweines Pläne.
Dann zottelte Veronika von dannen, nach Norden der Hauptstadt zu.
Die Vöglein pfiffen, es glitzerten die Gräser, und hie und da stank ein Bauernlackel vorüber.
Unendlich rollte sich die Landstraße auf. Dichte Wolken wirbelte Veronika aus dem weißen verdursteten Boden, daß die engbrüstigen Pappeln mit ihren staubigen Blättern so husten mußten. Schon war die Sonne rot wie ein Krebs, und immer noch, in weiter, weiter Ferne, lag der Dunst der Stadt.
Doch emsig trottete Veronika dahin; ihre versilberten Knöpfe klirrten.
Eine vornehme Equipage rollte vorbei; es saß ein feiner Herr darin mit seiner Dame, und als er das Schwein erblickte in Landestracht, da ging ihm das Herz auf. „Grüß’ Gott“, rief er leutselig, dann schloß er die Augen und gellte mit viereckigem Mund jjjjiiijach-hu-hu, so laut er konnte, daß die Pferde erschraken und einen kleinen Hopser machten.
Und zu seiner Dame gebeugt, sprach er bewegt von den Fährnissen der Berge, von dem tosenden Wildbach und — piff — paff — der flüchtigen Gemse. „Und [S. 37] riechst du es auch, Cläre? Das ist Scholle. Ackerduft! Und nicht mal gedankt hat das Deandl auf meinen Gruß! Ja, so sind sie alle, diese stolzen unverdorbenen Naturkinder! Treu wie Gold!“ — — — — — —
Nacht war’s, halb zehn, fahl wie ein Knochen stierte der Mond vom Himmel, da buchstabierte Veronika die Theaterzettel an der Ecke, und mißtrauisch sah ein Schutzmann von weitem zu.
Das Wildschwein nickte befriedigt.
Dann tat es plötzlich einen furchtbaren Satz, warf den Schutzmann um, raste durch die Straßen und zur Seitentür ins Theater hinein, durch lange Gänge kreuz und quer, trampelte den neuen Pappendeckel-Fafner kaputt und fuhr dem Tenoristen Herrn Povidlsohn zwischen den Beinen durch, gerade als er hinter der Szene sang:
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Der Vorhang war soeben in die Höhe gerauscht, hinter einem Leinwandfelsen kniete Wilhelm Tell, und das Publikum wartete gespannt auf einige Verse von ihm, ehe er aus dem Hinterhalt auf den ahnungslosen österreichischen Beamten abdrücken werde.
Da sprang das Schwein wie der Blitz auf die Bühne.
Und erst langsam, dann schneller, immer schneller vollführte es ein idiotisches Getrappel auf den Brettern.
Hie und da quiekte es schrill dazwischen.
Wilhelm Tell war geflüchtet und hatte sich laut weinend hinter die Kulissen verkrochen. Den Souffleur hatte der Schlag getroffen. Nur im Publikum rührte sich nichts.
Minutenlang kam kein Laut aus dem schwarzen gähnenden Rachen des Zuschauerraums.
Dann aber brach es los wie ein Erdbeben.
„Allppenkunscht, Allppenkunscht, der Dichchter ischt sichcherlichch ous der Schwiez gsi“, röchelte ein Schweizer Kritiker ohne Hemdkragen.
Rechtschaffene Männer mit Hirschhornknöpfen wuchsen aus dem Boden, hinter wallenden Bärten, die blauen treu-dreieckigen Augen mit deutscher Biederkeit gefüllt.
Im Stehparterre war eine Druse pechschwarz gekleideter Oberlehrer aufgeschossen, und aus ihrer Mitte stieg ein hohler Ton ekstatisch zum Himmel an: „Anz Pfaderland, anz dojre, schlüs düch an.“ Es war da des Patriotismus kein Ende mehr! Und der einzige Oskar-Wilde- und Maeterlinck-Verehrer der Stadt, ein degenerierter Zugereister, hielt sich zitternd in der Toilette verborgen.
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Veronika war ein gemachtes Schwein von Stund an. Immer wieder mußte es den famosen Schuhplattler wiederholen und Arm in Arm mit dem Herrn Regisseur unzählige Male vor der Rampe erscheinen.
Das Stück konnte gar nicht zu Ende gespielt werden, — Geßler blieb unerschossen zum großen Ärger der anwesenden Schweizer — und in den Korridoren noch wollte sich die Begeisterung nicht legen. Und fast wäre es zu Tätlichkeiten gekommen, als der Herr Charcutier Schoißengeyer aus Linz es wagte, mitten in den allgemeinen Enthusiasmus hinein bedenklich den Kopf zu schütteln und sich zu den Worten: „I woaß nöt, i glaub halt allaweil, ’s is a Sau“, hinreißen zu lassen.
— — — — — — — — —
Veronikas Ruhm wuchs von Tag zu Tag. Ein „Veronikatheater“ wurde gegründet, und Schliersee, Bayerns berühmte Jodlquelle, als mutmaßlicher Geburtsort der Künstlerin, war in aller Munde. Kein Stück dürfe mehr die Zensur passieren, wenn es nicht mindestens 500 Meter über dem Meeresspiegel spielte, gellte der Schrei der Zeit.
An alle Fürstenhöfe drang die frohe Kunde, schon wieder sei die deutsche bodenständige Kunst auferstanden; — und selbst die scheue norddeutsche Herzogin Meta wurde aufmerksam und ließ sich berichten.
„Ach, lieber Graf,“ so sagte eines Tages die hohe Frau, „wie heißt doch nur das neue urwüchsige Bauerndrama, das so allgemein gefällt? Der — — der — — Seppell, — ach, es war ja aber noch ’ne Bezeichnung oder ein Vorname bei, der — — der — —“
„Es läßt sich nur unzulänglich ins Hochdeutsche übersetzen, [S. 40] Hoheit“, hatte da errötend der Zeremonienmeister erwidert. „Der äh, der äh, der — ‚Fäkalien-Joseph‘, das käme dem Sinne noch am nächsten. Ein neu aufgefundenes Fragment,“ fuhr er dann hastig fort, um das Peinliche des Eindrucks zu verwischen, „ein Fragment aus dem Nachlasse des leider allzu früh verewigten Volksdichters Hinterstoißer, voll packenden Realismusses und so ganz mitten aus dem pulsierenden Leben des Volkes geschöpft. Wie denn überhaupt Xaver Hinterstoißer es wie kein zweiter verstand, sich an die Natur anzulehnen. Ja, wahrlich, wahrlich: natura artis magistra .“
Und da hatte die hohe Frau neugierige Augen gemacht und sogleich die Reise nach Süddeutschland angeordnet, um nicht die letzte zu sein.
Wer kennt nicht Frau Veronika Schoißengeyers niedliches Landhaus draußen ganz am Ende der Vorstadt! Mit spiegelnden, fröhlichen Fensterlein guckt es gar schelmisch über die Flur, wenn Frau Sonne gütig herniederlacht.
Frau Veronika Schoißengeyers Villa .
Ja, staune du nur, schöne Leserin! Frau Veronika Schoißengeyers Villa . Denn kaum ein paar Jährlein, oder so, waren ins Land gegangen, seit wir Zeugen von Veronikas Triumphen gewesen, als die
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Künstlerin dem wackern Charcutier errötend zum Altare folgte.
Ja, ja, und du, lieber Leser, hättest es wohl auch nicht vermutet! Ja, ja, demselbigen Charcutier Schoißengeyer, der damals die unbedachte Äußerung tat.
Und was ihn betrifft, selbst heute noch, wenn der Wackere, — beut das Kirchweihfest frischfröhliche Lustbarkeit, — ein wenig zu tief in das Krüglein geguckt, kannst du ihn plötzlich ein gar ernsthaft Gesicht machen sehen, und hast du ein scharfes Ohr, werden dir auch gewiß seine gemurmelten Worte nicht entgehen: Ich woaß nöt, i glaub halt allaweil, ’s is a Sau!
Doch du und ich, wir beide, wissen nur zu gut, was er damit meint. Daß es nur Reminiszenzen sein können an jenen Abend, da sich Veronika in aller Herzen sang und tanzte. Ein erkleckliches Sümmchen war es, das das heute so rundliche, aber immer noch so resolute Frauchen so ganz still und ohne viel Aufhebens durch ihre Kunst erworben hatte, ehe es den Brettern, die die Welt und — leider muß es gesagt sein — nicht immer die des Herzensreinen bedeuten, für immer Valet sagte, und von dessen Zinsen, nicht zu vergessen dessen, was der zielbewußte Gatte vordem durch nimmerrastender Hände Arbeit geschaffen, das Paar nun einträglich schaltete und waltete.
Und willst du jetzt, geneigte Leserin, Zeugin sein eines stillzufriedenen Glückes, — komm, folge mir in das behagliche Stübchen, wo Vater Schoißengeyer von des Tages Unrast und Mühsal verschnaufend, an dem grünen Kachelofen sitzend, der derben Stiefel entledigt, in den stets weißen blitzsaubern Socken die fleißigen [S. 42] Füße — die von treubesorgt emsigem Auf- und Niedergang in dem schmucken Anwesen so ermüdeten — Erquickung atmen läßt.
Frau Veronika, wie immer in der geliebten Tracht ihrer Heimat, wehrt den übermütigen Rangen, die, zwölf an der Zahl, bei der stämmigen Gestalt ihres Erzeugers doch alle der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, sie jauchzend umdrängen. Gestehet, ist das nicht ein entzückendes Bild?! Ein erhebendes Symbol wahren dauernden Glückes zweier, die mit klarer Besonnenheit ihren gegenseitigen schlichten Wert erkannten und jedem Tande abhold, stets ihrem Stande, ihrem Stamme treu geblieben waren. Die nie zu hoch hinaus gewollt ins Unreale und flugs zugegriffen, wenn es galt, ehrlichen irdischen Vorteil beim Schopfe zu fassen. Oh, könnte sich unser Auge, wohin es in der Welt auch blicke, doch stets an solch inniger Vollkommenheit erlaben!
Doch jetzt geht das Öl der Lampe zur Neige, und alles sucht die schwellende Lagerstätte auf.
Nur Frau Veronika bleibt noch ein Weilchen und gedenkt im stillen der bewegten Vergangenheit, der nahen und doch, ach, so fernen.
Wie ihr guter Mann verlegen die Ballonmütze in den Händen gedreht, damals, und sie ihm ohne viel Federlesens um den Hals gefallen war. Und der Ärger des verschmähten Freiers, jenes windigen Gecken, dem es ja doch nur um ihr Geld zu tun gewesen.
Und dann die Hochzeit! Die Hochzeit in Linz, der Vaterstadt ihres Schoißengeyer — —!!
[S. 43]
Frau Veronika wiegte summend das Köpfchen, und ihre Augen wurden feucht.
Wiederum, als sei es eben erst gewesen, sah sie im Geiste die Deputation des oberösterreichischen Dichterbundes feierlich auf sich zuschreiten und ihr die Ehrengabe überreichen, einen breiten, wunderschönen roten „Andreas-Hofer“-Gürtel und dazu, wie der Sprecher schelmisch hervorhob, für ihren künftigen Erstgeborenen einen prachtvollen künstlichen Kropf aus fleischfarbenem Leder zum Umschnallen, falls ihn dereinst die Zünfte zum Abgeordneten für die Alpenländer wählen sollten. Rasch sich in die Lage findend, hatte Veronika damals in schmuckloser Einfachheit das „Zu Mantua in Banden“ vorgetragen, und als sie mit dem herzzerreißenden Wehruf:
schloß, da wischten sich die bärtigen Männer mit den rauhen Handrücken über die Augen.
Es ging ein Schluchz durch Österreichs Gaue!
— — — — — — — — —
Selig lächelte Frau Veronika vor sich hin. Dann sehnte auch sie sich nach der labenden Ruhe des Schlummers an der Seite des geliebten Gatten —
[S. 44]
— — — — — — — — —
Und wir? Lasset uns kommen zu Hauf allesamt und dem Wildschwein Veronika ein treulich Andenken bewahren auch fürder. Und drohe auch welsche Art wie nächtlich grimmer Wolf unsere Hürde zu beschleichen, die tückischen Krallen zu wetzen nach dem Hort teutscher Kunst, — nein, Herz, sei unverzagt, nimmermehr sollen sie es uns entfremden — die Pierre Lotis, die Oskar Wildes und Maeterlincke, die Strindberge, Wedekinde und der grämliche Ibsen und wie sie alle heißen mögen, diese ausgestoßenen Stiefkinder bodenständiger unverfälschter Fabulierkunst, — nimmermehr entfremden das holde, innigschlichte Bild
unserer, unserer, unserer Veronika .
Das walte Gott!
[S. 45]
Die letzte Sehenswürdigkeit, die ich auf einer Gesellschaftsreise zu mir nahm, war das „goldene Dachl“ in Innsbruck gewesen.
Seitdem habe ich bei Wischnu geschworen, nichts dergleichen mehr zu besichtigen.
Ich gebe lieber ganz offen zu, daß ich ein verkommener Mensch bin, der kein Interesse an den Dingen hat, die die Nation mit Stolz erfüllen — den selbst die erbeutetsten Kanonen langweilen und dessen Herz auch beim Anblick der Spitzenbinden Klothilde der Keuschen nicht höher schlägt.
So ein Kerl wie ich weiß nichts Besseres zu tun, als auf einer Reise in den Straßen herumzubummeln, Leute zu betrachten, stundenlang auf dem Tandelmarkt zu stehen oder in Schaufenster zu gucken. —
So hatte auch ich es wieder einmal den ganzen Tag getrieben, und als der Abend kam, zog ich meinen Kompaß aus der Tasche und schlug jene Richtung ein, die am schnellsten und sichersten weg von dem Theater der Stadt führt. —
Ein zweites Theater gab es bestimmt nicht, das hatte mir ein Polizeimann auf Ehrenwort versichert, und so war ich denn ganz beruhigt. —
Nicht lange, und ich studierte das auffallende Plakat [S. 46] der „Wiener Orpheum-Gesellschaft“ beim Schein der darüberhängenden roten Laterne:
„Izzi Pizzi, die reizende jugendliche Chansonette, genannt der ‚Stolz von Hernals‘, debütiert heute abermals,“ so las ich, schlug an meine Brust, ob ich meine Brieftasche auch ganz sicher bei mir habe, und betrat mit dem entschlossenen Schritte des Wüstlings das „Schwarze Roß“. So wurde das Lokal genannt — offenbar nach dem bärtigen Besitzer, der mir eine Glastür wies. —
Ein langes, schmales Zimmer, gesteckt voll. — Ich setze mich an jenen Tisch, der mit „reserviert“ bezeichnet ist und daher dem Kenner sagt, daß hier nur Wüstlinge sitzen dürfen. —
Soeben betritt Izzi Pizzi das Podium und singt das herrliche Lied: „Ja, mir von Lerchenfeld, mir san hussarisch g’stellt.“ — Bei dem Worte Lerchenfeld produziert sie jedesmal eine Armbewegung von unnachahmlicher Grazie, tritt mit dem linken Fuß zurück und stellt ihn auf die Spitze.
Die oder keine, flüstert mein pochendes Herz.
Ich rufe den Zahlkellner, zücke einen Silbergulden und lade die Schöne zum Souper.
— Halb zwölf Uhr, und die Vorstellung wird gleich zu Ende sein. —
Etelka Horváth, ein schwarzes Ungarmädel, schlank wie eine Gerte, strampft noch die Schlußtakte eines wunderschönen ixbeinigen Csardás und heult ä und ö dabei. —
„Die Dame wird sofort erscheinen“, meldet der Kellner.
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Ich setze den Hut auf, lasse meinen Überzieher im Stich und gehe über den Hof ins „ Chambre séparée “. —
Es ist bereits gedeckt.
Für drei Personen? — Aha, der blödsinnige Trick mit der Gardedame! —
Und dann viererlei Gläser?! Pfui Teufel! — Was kann man dagegen tun? — Ich versinke in dumpfes Brüten. —
Ein rettender Gedanke: „Sie, Oberkellner, schicken Sie sofort zu Franz Maader, Weinhandlung in der Eisengasse, um eine große Steinflasche Otschischciena, verstehen Sie? Otschischciena — O—tschisch—ciena!“
Ein Geräusch an der Tür!
Ein fraisfarbener Mantel mit wabernden blonden Federn und einem blauen Mühlstein tritt ein. — Ich mache drei Schritte auf das Phantom zu und verbeuge mich ernst und feierlich.
„Izzi Pizzi“, stellt sich der Mantel zuerst vor.
„Baron Semper Saltomortale vom Vorgebirge Athos“, erwidere ich ruhig und würdevoll.
Zwei blaue, große Augen schauen mich mißtrauisch an. — Ich reiche der Dame den Arm und führe sie zu Tisch.
Was ist denn das?! Ein schwarzer Seidenklumpen mit Schmelztropfen sitzt bereits dort? — Ich reiße die Augen auf: Teufel! bin ich verrückt geworden? Oder war die Alte am Ende im Klavier versteckt gewesen?
Ich schiebe der Schönen den Sessel unter.
Er ist wirklich ein Ausländer, denkt sie.
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„Meine Erzieherin,“ stellt sie die Alte vor, „Sie gestatten doch.“
Der Kellner kommt herein, ich stürze ihm entgegen und stelle ihn noch an der Tür: „Sie, ich zahle weder Schusterrechnungen, noch etwaige gestrige Zechen — und dann: die Krachmandeln ohne Schale, verstanden — daß mir keine Vielliebchen drunter sind, überhaupt ...“
Der Kellner zwinkert verständnisvoll mit dem rechten Auge; — ich drücke ihm ein Trinkgeld in die Hand, wie es sonst nur regierende Herzöge bekommen.
„Und den Stock hängen Sie mir auch her,“ setze ich laut hinzu, damit die Damen keinen Verdacht schöpfen.
Izzi Pizzi bestellt selbst: „Zuerst bringen S’ Kaviar — bringen S’ gleich die ganze Blechbüchs’n, damit man nöt immer klingeln muß ...“
„Kaviar ist sehr gesund“, wendet sie sich zu mir und wirft mir einen Glutblick zu. —
„In meiner Heimat trägt sogar jeder Gentleman eine Zitrone bei sich“, füge ich verständnisinnig hinzu.
— — — — — — — — —
„Der Kaviar ist leider ausgegangen, vielleicht Ölsardinen gefällig?“ sagt der Kellner.
Izzi Pizzi fährt auf: „Aber draußen steht doch noch eine ganze Büchse voll!“
„Da ist Schrot drin, Fräulein“, erwidert der Wackere, eingedenk des erhaltenen Trinkgeldes. —
„Also Krebse — zwölf Stück!“
„Izzi ist ein seltener Vorname“, sage ich zu ihr, als sie mit dem Bestellen endlich fertig ist.
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„Izzi ist nur mein Bühnenname, eigentlich heiße ich Ida. — So eine, wie d’ Ida war noch nie da.“
„Geistreich, wie alle Wienerinnen, mein Fräulein.“
„Das sagt der Graf auch immer, nöt wahr, Izzi?“ wirft die Alte mit süßlicher Miene dazwischen.
„Der Graf, der immer so eifersüchtig ist?“ frage ich.
„Sie wissen ...?“ —
„Grafen sind immer eifersüchtig“, ist meine Antwort.
Ich behandle die Chansonette wie eine grande dame und lege noch nie gesehene exotische Manieren an den Tag.
Der Alten tritt bereits der Schweiß auf die Stirn — von dem ewigen, verbindlichen Lächeln.
Izzi heuchelt verhaltene Glut und hängt rachsüchtig im Geist an die Zahl, die sie in Verbindung mit meinem Portemonnaie in Gedanken trägt, eine Null an.
„Multiplizieren Sie sie mit fünf“, fahre ich unvermittelt heraus. —
Entsetzt zuckt die Kleine zusammen: „Wie kommen Sie darauf? Was sagen Sie da?“
Kann er Gedanken lesen? denkt sie.
Die Gardedame glotzt mich stier an und scheint zu glauben, ich sei verrückt geworden.
Ich sinne nach irgend einer unklaren Antwort, da bringt der Kellner die Krebse.
Die beiden „Damen“ warten verlegen auf mich, was ich wohl Seltsames mit den Krebsen beginnen werde.
Ich lasse sie warten und putze sorgsam mein Monokel.
[S. 50]
Die Alte hüstelt und rückt an ihrem Schmelzskalp. Die Junge nestelt an ihrer Bluse.
Endlich erbarme ich mich, blicke schmerzlich auf meine Fingernägel, nehme einen Krebs und wickle ihn in meine Serviette, die ich sodann vor mich auf den Tisch lege. —
Izzi hat es mir bereits nachgemacht, nur die Alte traut sich noch nicht recht.
Dann schlage ich mit der Faust darauf und wickle den zertrümmerten Krebs wieder aus.
Die Alte ist starr vor Staunen. „Krebsflecken gehen nicht aus der Wäsche“, fährt es ihr heraus.
„Kusch“, murmelt halblaut die Junge und gibt ihr einen Fußtritt unter dem Tisch.
In meinem Herzen jubelt die Hölle.
— — — — — — — — —
„Der Rheinwein war sauer, und der Burgunder hat an Stich g’habt“, hat die kleine Ida gesagt, ganz glücklich, daß das dumme Essen vorbei und mit ihm die Gelegenheit, sich arg zu blamieren.
Die Alte hat nur geknabbert.
Siehst du, alte Bestie, denke ich mir, hättest du Mythologie studiert, so wüßtest du jetzt, was der gottselige Tantalus damals gelitten hat!
Aber jetzt kommt der Sekt, du dummer Fex, und trinken kann jeder, wie er will, da gibt’s keine Arabesken, denkt sich die Alte und wirft mir einen grünen Blick zu.
„Kühlen Sie vorläufig nur eine Flasche Pommery, goût américain , Kellner; wir werden dann zu einer andern Marke schreiten, und jetzt entkorken Sie mal [S. 51] den Steinkrug da und bringen Sie zwei mittelgroße Wassergläser dazu — eines für die gnädige Frau! — Ihnen, mein Fräulein, wage ich nicht anzubieten,“ wende ich mich zu Izzi, „es erhitzt das Blut ein wenig.“
„Was ist denn drin?“ fragt die Kleine neugierig.
„Otschischciena — Tischwein auf Deutsch, ein russischer Labetrunk, den wir immer vor dem Champagner nehmen — Damen und Herren —, sieht genau aus wie gewöhnliches Wasser, — Sie sehen“, sage ich und schenke das Glas der Alten voll.
Das meinige fülle ich unbemerkt mit wirklichem Trinkwasser.
„Man muß das ganze Glas auf einen Ruck hinunterstürzen, sonst leidet der Geschmack darunter; ich werde mir erlauben, es Ihnen vorzumachen, gnädige Frau — sehen Sie, so ...“
Ich weiß nicht, woraus Otschischciena gemacht wird, ich weiß auch nicht, ob der Erfinder dieses Getränkes überhaupt ein lebender Mensch war, ich weiß nur eines, rauchende Salpetersäure ist lauwarmes Weihwasser dagegen.
Ein Gefühl des Mitleides beschlich mich, wie ich sah, daß die alte Frau das volle Glas wirklich so hinunterstürzte.
Selbst Chingagook, der große Häuptling der Mohikaner, wäre tot zusammengebrochen.
Die Gardedame aber verzog keine Miene, sie hatte die Augen niedergeschlagen und griff nach ihrer Frisur.
Sie wird jetzt eine lange Hutnadel hervorziehen und sie mir ins Herz bohren, denke ich mir. Doch nichts [S. 52] Ähnliches geschieht. Die Alte schaut mir voll ins Gesicht mit dankbarem Blick: „Wirklich ausgezeichnet, Herr Baron.“
„Ich möchte auch einmal kosten“, lispelt Izzi und macht einen kleinen Schluck.
Dann fischt sie ein hineingefallenes Insekt aus dem Glas und trällert so gewiß: „Die Flieg’n kommt mir spanisch vor, spanisch vor, spanisch vor.“
Ich lasse mich aber nicht aus der Rolle bringen und bleibe so konventionell wie zuvor.
Als Izzis Knie das meine drückt, sage ich Pardon und werfe einen scheuen Blick auf die „Erzieherin“.
Das wird der Kleinen zu dumm, und sie schickt die Alte endlich ärgerlich schlafen.
Ich lege der Gnädigen den Steinkrug an die Brust und wünsche ihr eine recht geruhsame Nacht. —
— — — — — — — — —
Also jetzt werden sie der Reihe nach kommen, die alten bekannten Geschichten: daß es Ida auch nicht an der Wiege gesungen worden war, und so; daß sie sich einem Kavalier hingab, nur um ihres Bruders Spielschulden zu decken. Die Alte, die eben ging, stamme noch aus der Zeit, als sie selbst, noch ein Wildfang, sich auf den herrschaftlichen Gütern ihres Vaters herumgetummelt; eine alte treue Dienerin! — Und wie sie den Grafen hasse, der sie so eifersüchtig bewacht, — nur ein paar Gulden in der Hand, um einige kleine Schulden: Schusterrechnung und dergleichen, zu bezahlen, die sie zu stolz ist, ihm einzugestehen — und sie würde ihm auf der Stelle den Laufpaß geben. — Und dann die Kolleginnen! — Ach [S. 53] Gott, schamlose Dinger — besser, gar nicht davon zu reden! —
Ich sehe Izzi forschend an. — Richtig, sie hat ein ernstes Gesicht aufgesetzt und macht bereits Märchenaugen.
„Etelka Horváth ist heute abend das letztemal aufgetreten, das Publikum hat schon gezischt“, beginnt sie.
Aha, denke ich mir, Abwechslung macht das Leben schön; die fängt einmal von hinten an.
„Heute schläft sie schon drüben im Hotel Bavaria, die — die — — na — die — die Ungarin. — Ich selbst wohne hier im Hause, im ‚Schwarzen Roß‘, oben im ersten Stock. — Von sieben Uhr abends darf ich weder ausgehen, noch auch Besuche auf meinem Zimmer empfangen. Der Graf ist ein elender Tyrann“, fährt sie fort.
„Und dann ist es obendrein Polizeivorschrift“, werfe ich träumerisch ein.
„Auch das,“ gibt sie verlegen zu, „aber von 9 Uhr früh an kann man mich besuchen, — bis 12 Uhr liege ich im Bett!“
Pause.
Mein Fuß streift den ihren.
Sie lehnt sich zurück, sieht mich durch halbgeschlossene Lider an, knirscht mit den Zähnen und beginnt hastig zu atmen. —
Ich reiße sofort den Federnmantel von der Wand und lege ihn um ihre Schultern: „Sie müssen sich schlafen legen, liebes Kind, Sie fiebern ja förmlich?“
— — — — — — — — —
Wir gehen über den Hof zurück zum Stiegenhaus.
[S. 54]
Beim Portier bleibt Izzi zum Abschied stehen: „Gehen Sie schon nach Hause oder noch ins Café, Baron?“
„Ich muß morgen zeitig aufstehen und gleich um neun Uhr einen Besuch machen,“ antworte ich, und schaue ihr tief in die Augen; „ich habe heute abend mein Herz verloren, — aber werden Sie auch nichts verraten?“
Die Kleine schüttelt unsicher den blauen Samtmühlstein.
„Dann will ich es Ihnen anvertrauen: Ich bin ganz weg in die süße Etelka, Ihre reizende Kollegin.“
Izzi fegt die Treppe hinauf, ich aber stehe seelenvergnügt und pfeife mir eins:
„Denn die Rose —
Und das Mädchen —
Will betro—gen —
Sein.“
[S. 55]
Lord Hopeleß hatte mich aufgefordert, doch an seinem Tisch zu sitzen, und stellte mich den Herren vor.
Es war spät nach Mitternacht, und ich habe mir die meisten Namen nicht gemerkt.
Den Doktor Zitterbein kannte ich schon früher.
„Sie sitzen ja immer allein, es ist schade,“ hatte er gesagt und mir die Hand geschüttelt, — „warum sitzen Sie immer allein?“
Ich weiß, daß wir nicht viel getrunken hatten und dennoch unter jenem feinen, unmerklichen Rausche standen, der uns manche Worte nur wie von weitem hören läßt, und wie ihn die Nachtstunden bringen, wenn Zigarettenrauch und Weiberlachen und seichte Musik uns umhüllt.
Daß aus einer Cancanstimmung wie dieser — aus einer Atmosphäre von Zigeunermusik, Cake-Walk und Champagner ein Gespräch über phantastische Dinge auftauchen konnte?! Lord Hopeleß erzählte etwas.
Von einer Brüderschaft, die allen Ernstes existiere, von Menschen — besser gesagt, von Toten oder Scheintoten, — Leuten aus besten Kreisen, die im Munde der Lebenden schon seit langem gestorben seien, sogar auf dem Friedhof Leichensteine und Grüfte mit Namenszug und Todesdatum besäßen, in Wirklichkeit aber in jahrelangem, ununterbrochenem Starrkrampfe [S. 56] irgendwo in der Stadt, im Innern eines altmodischen Hauses, bewacht von einem buckligen Diener mit Schnallenschuhen und gepuderter Perücke, den man den gefleckten Aron nenne, empfindungslos, geschützt vor Verwesung, in Schubladen lägen. — In gewissen Nächten trete ihnen ein mattes, phosphoreszierendes Leuchten auf die Lippen, und damit sei dem Krüppel das Zeichen gegeben, eine geheimnisvolle Prozedur an den Halswirbeln dieser Scheinleichen vorzunehmen. Sagte er.
Frei könnten ihre Seelen dann umherschweifen — auf kurze Zeit von ihren Leibern gelöst — und sich den Lastern der Großstadt hingeben. Mit einer Intensität und einer Gier, die selbst nicht für den Raffiniertesten ausdenkbar sei.
Unter anderem fände da ein vampirartiges, zeckenhaftes Sichansaugen an die von Laster zu Laster taumelnden Lebenden statt, — ein Stehlen, ein Sichbereichern am Nervenkitzel der Massen. Sogar Satzungen habe dieser Klub, der übrigens den kuriosen Namen Amanita führen solle, und Statuten und strenge Bestimmungen, die Aufnahme neuer Mitglieder betreffend. Doch darüber läge ein undurchdringlicher Schleier des Geheimnisses.
Das Ende dieses Gespräches des Lord Hopeleß konnte ich nicht mehr verstehen, zu laut fielen die Musikanten mit dem neuesten Gassenhauer ein:
[S. 57]
Die grotesken Verrenkungen eines Mulattenpaares, das dazu eine Art Niggercancan tanzte, all dies wirkte wie die wortlose Verstärkung des verstimmenden Einflusses, den die Erzählung auf mich genommen.
In diesem Nachtlokal mitten unter geschminkten Straßendirnen, frisierten Kellnern und brillant-hufeisengeschmückten Zutreibern bekam der ganze Eindruck etwas Lückenhaftes, Verstümmeltes und gerann in meinen Sinnen zu einem grauenvollen, halblebenden Zerrbild.
Wie wenn die Zeit in unbewachten Momenten plötzlich einen geräuschlos hastenden Schritt tue, verbrennen Stunden in unserm Rausche zu Sekunden, wie Funken in der Seele aufglimmend, um ein krankhaftes Geflecht kurioser, waghalsiger Träume, geschlungen aus wirren Begriffen, aus Vergangenheit und Zukunft, zu beleuchten.
So höre ich noch aus dem Dunkel der Erinnerung heraus eine Stimme sagen: „ Wir sollten dem Klub Amanita eine Karte schreiben. “
Wie ich jetzt schließen kann, muß also das Gespräch immer wieder zum selben Thema zurückgekehrt sein.
Dazwischen dämmern mir Bruchstücke kleiner Wahrnehmungen auf, wie das Zerbrechen eines Likörglases, ein Pfiff, — dann, daß eine Französin auf meinem Knie gesessen, mich geküßt, mir Zigarettenrauch in den Mund geblasen und die Zungenspitze ins Ohr gesteckt habe. Später wieder schob man mir eine verschnörkelte Karte hin, ich solle mitunterschreiben, und mir fiel der Bleistift aus der Hand, — und dann ging [S. 58] es wieder nicht, weil mir die Kokotte ein Glas Champagner über die Manschette goß.
Deutlich weiß ich nur, wie wir alle mit einem Schlage ganz nüchtern wurden und in unseren Taschen, auf und unter dem Tische nach der Karte suchten, die Lord Hopeleß mit aller Gewalt zurückhaben wollte, die aber spurlos verschwunden blieb.
— — — — — — — — —
kreischten die Geigen den Refrain und versenkten unser Bewußtsein immer wieder in tiefe Nacht.
Wenn man die Augen schloß, glaubte man sich auf einem dicken, schwarzen Samtteppich liegen —, aus dem nur vereinzelte rubinrote Blumen aufleuchteten.
„Ich will etwas zu essen haben,“ hörte ich jemand rufen, — — „was, — was? — — Kaviar — Blödsinn. Bringen Sie mir — bringen Sie mir, na — bringen Sie mir eingemachte Schwämme.“
Und wir aßen alle saure Schwämme, die mit einem würzigen Kraut in einer fadenziehenden, wasserhellen Flüssigkeit schwammen.
— — — — — — — — —
Da saß plötzlich an unserem Tische ein seltsamer Akrobat in einem schlotterigen Trikot und rechts daneben ein maskierter Buckliger mit einer weißen Flachsperücke.
[S. 59]
Neben ihm ein Weib; und alle lachten.
Wie ist er nur hereingekommen, mit — denen? Und ich drehte mich um: außer uns war niemand mehr im Saal.
Ach was, dachte ich mir, — — ach was.
Es war ein sehr langer Tisch, an dem wir saßen, und der größte Teil des Tischtuches schimmerte weiß, — leer von Tellern und Gläsern.
„Monsieur Phalloides, tanzen Sie uns doch etwas vor“, sagte einer der Herren und schlug dem Akrobaten auf die Schulter.
Sie sind vertraut miteinander, träumte ich mir zurecht, wahr — — wahrscheinlich sitzt er schon lange hier, der — der — — — das Trikot.
Und dann sah ich den Buckligen zu seiner Rechten an, und seine Blicke begegneten meinen. Er trug eine weißlackierte Maske und ein verschossenes, hellgrünes Wams, ganz zerlumpt und voll aufgenähter Flecken.
Von der Straße!
Wenn er lachte, war es wie ein schwirrendes Rasseln.
„ Crotalus! — Crotalus horridus “, fiel mir ein Wort aus der Schulzeit ein; ich wußte seine Bedeutung nicht mehr, aber ich schauderte, wie ich es mir leise vorsagte.
Da fühlte ich die Finger der jungen Dirne unterm Tisch an meinem Knie.
„Ich heiße Albine Veratrine“, flüsterte sie stockend, als wolle sie ein Geheimnis verraten, wie ich ihre Hand faßte.
Sie rückte dicht neben mich, und ich erinnerte mich [S. 60] dunkel, daß sie mir einmal ein Glas Champagner über die Manschette gegossen hatte. — — Ihre Kleider strömten einen beißenden Geruch aus, man mußte fast niesen, wenn sie sich bewegte.
„Sie heißt natürlich Germer, — Fräulein Germer, wissen Sie“, sagte der Doktor Zitterbein laut.
Da lachte der Akrobat kurz auf und sah sie an und zuckte mit den Achseln, als ob er etwas Entschuldigendes sagen wolle.
Ich ekelte mich vor ihm, er hatte handbreite Hautentartungen am Halse — wie ein Truthahn, aber krausenartig — ringsherum und von blasser Farbe.
Und sein mattfleischfarbenes Trikot schlotterte an ihm von oben bis unten, weil er engbrüstig und mager war. Auf dem Kopfe trug er einen flachen, grünlichen Deckel mit weißen Tupfen und Knöpfen. Er war aufgestanden und tanzte mit einer, die hatte eine Kette gesprenkelter Beeren um den Hals.
Sind neue Frauenzimmer hereingekommen? fragte ich Lord Hopeleß mit den Augen.
„Es ist die Ignatia — meine Schwester“, sagte Albine Veratrine, und wie sie das Wort „Schwester“ sagte, blinzelte sie mich aus den Augenwinkeln an und lachte hysterisch.
Dann streckte sie mir plötzlich die Zunge heraus, und ich sah, daß sie einen trockenen, langen, roten Streifen mitten darauf hatte, und entsetzte mich.
Es ist wie eine Vergiftungserscheinung, dachte ich mir, warum hat sie einen roten Streifen? — — Es ist wie eine Vergiftungserscheinung.
Und wieder hörte ich wie von weitem die Musik:
[S. 61]
und ich wußte bei geschlossenen Augen, wie alle im Takt dazu mit den Köpfen nickten. — — — —
Es ist wie eine Vergiftungserscheinung, träumte ich und wachte in einem Kälteschauer auf:
Der Bucklige in dem grünen, fleckigen Wams hatte eine Dirne auf dem Schoße und zupfte ihr mit eckig zuckenden Händen, wie im Veitstanz und als wolle er den Rhythmus einer unhörbaren Musik angeben, die Kleider ab.
Dann stand Doktor Zitterbein mühsam auf und knöpfte ihr die Achselbänder los.
— — — — — — — — —
„Zwischen Sekunde und Sekunde liegt immer eine Grenze, die ist nicht in der Zeit, die ist nur gedacht. Das sind so Maschen, wie bei einem Netz“ — hörte ich den Buckligen reden, — „und diese Grenzen zusammengezählt sind noch immer keine Zeit, aber wir denken sie doch, — einmal, noch einmal, noch eine, eine vierte — —
Und wenn wir nur in diesen Grenzen leben und die Minuten und Sekunden vergessen und nicht mehr wissen, — dann sind wir gestorben, dann leben wir den Tod.
Ihr lebet fünfzig Jahre lang, davon stiehlt euch die Schule zehn: sind vierzig.
Und zwanzig frißt der Schlaf: sind zwanzig.
Und zehn sind Sorgen, macht zehn.
Und fünf Jahre regnet es: bleiben fünf.
[S. 62]
Von diesen fürchtet ihr euch vier hindurch vor morgen, so lebet ihr ein Jahr — — vielleicht !
Warum wollt ihr nicht sterben?!
Der Tod ist schön.
Da ist Ruhe, immer Ruhe.
Und kein Sorgen um morgen.
Da ist die schweigende Gegenwart, die ihr nicht kennt, da ist kein Früher und kein Später.
Da liegt die schweigende Gegenwart, die ihr nicht kennt! — Das sind die verborgenen Maschen zwischen Sekunde und Sekunde im Netz der Zeit.“
— — — — — — — — —
Die Worte des Buckligen sangen in meinem Herzen, und ich blickte auf und sah, wie dem Mädchen das Hemd heruntergefallen war und sie nackt auf seinem Schoße saß. Sie hatte keine Brüste und keinen Leib — nur einen phosphoreszierenden Nebel vom Schlüsselbein zur Hüfte.
Und er griff mit den Fingern in den Nebel hinein, da schnarrte es wie Baßsaiten, und rasselnd fielen Stücke Kesselstein heraus. — So ist der Tod, fühlte ich — wie Kesselstein.
Da hob sich langsam die Mitte des weißen Tischtuches wie eine große Blase, — ein eisiger Luftzug wehte und verwehte den Nebel. Glitzernde Saiten kamen ans Licht, die zogen sich vom Schlüsselbein der Dirne bis zur Hüfte. Ein Wesen, halb Harfe, halb Weib!
Der Bucklige spielte darauf, träumte mir, ein Lied von Tod und Lustseuche, das klang in einen fremdartigen Hymnus aus:
[S. 63]
Und mir kam ein Heimweh nach dem Tode bei diesen Strophen, und ich sehnte mich nach dem Sterben.
Doch im Herzen bäumte sich das Leben auf — ein dunkler Trieb. Und Tod und Leben standen drohend einander gegenüber; das ist der Starrkrampf.
Mein Auge war unbeweglich, und der Akrobat beugte sich über mich, und ich sah sein schlotteriges Trikot, den grünlichen Deckel auf seinem Kopf und die Halskrause.
„Starrkrampf“, wollte ich lallen und konnte nicht.
Wie er von einem zum andern ging und ihnen lauernd ins Gesicht blickte, wußte ich, wir sind gelähmt: er ist wie ein Giftschwamm .
Wir haben giftige Schwämme gegessen und Veratrum album dabei, das Kraut des weißen Germers.
Das alles sind Nachtgesichte!
Ich wollte es laut rufen und konnte nicht.
Ich wollte zur Seite sehen und konnte nicht.
Der Bucklige mit der weißlackierten Maske stand leise auf, und die anderen folgten ihm und ordneten sich schweigend in Paare.
Der Akrobat mit der Französin, der Bucklige mit der menschlichen Harfe, Ignatia mit Albine Veratrine. — So zogen sie im fersenzuckenden Cake-Walk-Schritt zu zwei und zwei in die Wand hinein.
[S. 64]
Einmal noch drehte sich Albine Veratrine nach mir um und machte eine obszöne Bewegung.
Ich wollte meine Augen zur Seite drehen oder die Lider schließen und konnte nicht, — ich mußte immer die Uhr sehen, die an der Wand hing, und wie ihre Zeiger wie diebische Finger um das Zifferblatt schlichen.
Dabei tönte mir in den Ohren das freche Couplet:
und wie ein Basso ostinato predigte es in der Tiefe:
Ich genas von dieser Vergiftung nach langer, langer Zeit, die andern aber sind alle begraben.
Sie waren nicht mehr zu retten, — hat man mir gesagt, — als Hilfe kam.
Ich aber ahne, man hat sie scheintot bestattet, wenn auch der Arzt sagt, Starrkrampf komme nicht von giftigen Schwämmen, Muskarinvergiftung sei anders; — ich ahne, man hat sie alle scheintot begraben und muß schaudernd an den Klub Amanita denken und den gespenstischen buckligen Diener, den gefleckten Aron mit der weißen Maske.
[S. 65]
Das hab’ ich gehört:
Zu einer Zeit lebte ein alter Musiker in dieser Stadt; arm und verlassen. Das Zimmer, in dem er wohnte, in dem er einen Teil der Nacht zubrachte und einen Teil des Tages, war eng, düster, armselig, und in dem armseligsten, engsten, düstersten Viertel gelegen.
Nicht von je war der Alte so verlassen gewesen. An Jahre konnte er zurückdenken, an Jahre voll Pracht und Prunk — und was an Glanz die Erde dem Reichsten bietet, das hatte sie einst ihm geboten.
Was an Freude die Erde dem Freudvollen bietet, das hatte sie einst ihm geboten.
Was an Wonnen und Schönheit die Erde dem Glücklichen bietet und dem Schönen bietet, das hatte sie auch ihm geboten.
An einem Tage aber war die Wende in seinem Glücke gekommen. So wie an einem hellen Morgen die Sonne aufsteigt in wolkenlosem Himmel, ihren Höhepunkt erreicht an Klarheit, um dann niederzugehen und in trübes Dunkel zu tauchen, in dichtes Dunkel zu tauchen, in undurchdringliches Dunkel zu tauchen, dann unsichtbar wird, in Nacht versinkt.
Und als die Wende in seinem Glücke gekommen war und jeder neue Tag neues Unheil brachte, hatte er Hilfe im Gebet gesucht; — auf daß sein Untergang [S. 66] aufgehalten werde, auf den Knien gelegen lange und viele Nächte.
Aber Pracht und Prunk verblaßten, Freude und Glanz schwanden dahin, sein Reichtum zerbrach. Sein Weib verließ ihn, sein Kind starb, als er in seiner Armut nichts mehr besaß, es zu pflegen.
Da hatte er um nichts mehr gebetet.
— So trat seine Seele in die Dunkelheit. —
Wie in tiefer Nacht, wenn Finsternis die Formen und Kanten und Farben der Dinge und Wesen verschlungen hat, und eines vom andern nicht mehr kann unterschieden werden, — wie in tiefer Nacht der Himmel sich leise, unmerklich hellt vom Schimmer des kommenden Mondes und flüsternd die verschwundenen Formen und Kanten der Dinge und Wesen zu einem andern Leben weckt, so tauchten leise, unmerklich, flüsternd aus dem Dunkel seines Herzens die Worte auf, die er einstmal vernommen, gelesen irgendwo, irgendwann in der Zeit seines Reichtums, — die Worte des Buddha:
[S. 67]
Da trat seine Seele in die Dämmerung.
Alles Wünschen und alles Hoffen war von ihm abgefallen, aller Gram, alle Gier, alles Leid, alle Freude.
Morgens, wenn er erwachte, sandte er seine Liebe und sein Mitleid nach Osten, nach Westen, nach Süden, nach Norden, nach oben, nach unten, und wenn er seine Arbeit begann, murmelte er: „Der Buddha ist meine Zuflucht“, und wenn er sich schlafen legte, murmelte er: „Der Buddha ist meine Zuflucht.“
Wenn er sein karges Mahl einnahm, wenn er trank, wenn er aufstand oder sich niedersetzte, wenn er fortging oder wiederkam, murmelte er: „Der Buddha ist meine Zuflucht.“
Verschlossen wurden da die Tore seiner Sinne, daß Wünschen und Hassen, — Gier, Leid und Freude keinen Einlaß mehr fanden.
An Feiertagen, wenn die Glocken läuteten, — zuweilen —, holte er eine Glasplatte hervor und befestigte sie an seinem Tisch, schüttete feine Sandkörner darauf, und wenn er mit dem Bogen seines Cello an dem Rande des Glases niederstrich, daß es sang, schwingend und klingend, tanzte der Sand und bildete kleine, feine, regelmäßige Sterne. — Klangfiguren.
Und wie die Sterne und Formen entstanden, wuchsen und vergingen und wieder entstanden, gedachte er dumpf der Lehre des Buddha Gautama vom Leiden, von der Leidensentstehung, von der Leidensvernichtung, von dem zur Leidensvernichtung führenden Pfad. —
„Der Buddha ist meine Zuflucht.“
[S. 68]
In das Land zu ziehen, wo die Heiligen leben, die um nichts mehr zu beten haben —, wo einst der Erhabene, Vollendete geweilt — der Aszet Gotamo — und den Weg zur Freiheit gewiesen, — war seine glühende Sehnsucht.
Dort zu suchen, zu finden den Kreis der wenigen Erkorenen, die den lebendigen Sinn der Lehre behüten, den von Herz zu Herzen vererbten, unverdeuteten, unverwirrten, zur atmenden Kraft gewordenen, — war seine glühende Sehnsucht.
Und das Geld zu erwerben, nach Indien pilgern zu können, in das Land seiner glühenden Sehnsucht, spielte er mit verschlossenen Sinnen sein Cello in Schenken seit Tagen und Wochen und Monaten und vielen, vielen Jahren.
Wenn seine Gefährten ihm seinen schmalen Teil reichten, von dem, was sie ersammelt, dachte er an den Erhabenen, Vollendeten, — daß er Ihm wieder näher sei um einen Schritt: „Der Buddha ist meine Zuflucht.“
Weiß und gebrechlich war er so geworden, da kam der Tag, der ihm die letzten noch fehlenden Kreuzer brachte.
— — — — — — — — —
In seinem armseligen düstern Zimmer stand er und starrte auf den Tisch.
Was sollte das Geld dort auf dem Tisch!? — Warum hatte er es gesammelt?
Sein Gedächtnis war erloschen.
Er sann und sann, was sollte das Geld dort auf dem Tisch!
[S. 69]
Sein Gedächtnis war erloschen.
Er wußte nichts mehr und konnte nicht mehr denken. Nur immer wieder und wieder, wie eine Welle aus den Wassern springt und zurückfällt, tauchte der Satz auf in seinem Hirn: „Der Buddha ist meine Zuflucht. Der Buddha ist meine Zuflucht.“
Da öffnete sich die Tür, und sein Gefährte, der Geiger, ein mildtätiger, mitleidsvoller Mensch, trat herein.
Der Alte hörte ihn nicht und starrte auf das Geld.
„Wir sammeln heute für die Kinder der Armen“, sagte endlich leise der Geiger.
Der Alte hörte ihn nicht.
„Wir sammeln heute für die Kinder derer, die vom Wege stehen.
Wir alle, arm und reich. — Daß sie nicht frieren und nicht verderben, nicht hungern. Daß sie gepflegt werden, wenn sie krank sind. — — —
Willst du nichts geben. Alter? — — — Und bist doch so reich!“
Der Alte begriff den Sinn der Worte kaum; das dumpfe Gefühl, er dürfe nichts wegnehmen, nichts hergeben von dem Gelde dort auf dem Tisch, hielt sein Herz fest wie ein Bann.
Er konnte nicht sprechen, ihm war, als hätte er diese Welt vergessen.
Ein Traumgesicht zog an ihm vorüber. — Er sah die glühende Sonne Indiens über regungslosen Palmen und schimmernden Pagoden und in der Ferne die weißen Berge blinken.
Die unbewegliche Gestalt Gautama Buddhas kam [S. 70] wie von weitem heran, und wie ein Echo hörte er im Herzen die kristallene Stimme des Vollendeten erklingen, wie sie einst im Walde bei Sumsŭmaragĭram die seltsamen Worte gesprochen:
„ So seh’ ich dich denn hier, Böser! — Laß die Hoffnung fahren: ‚Er sieht mich nicht!‘
Wohl kenn’ ich dich, Böser, laß die Hoffnung fahren: ‚Er kennt mich nicht!‘ — Mārō bist du, der Böse.
Nicht den Vollendeten plage, nicht des Vollendeten Jünger. — —
Weiche von hinnen aus dem Herzen, Mārō, weiche von hinnen aus dem Herzen, Mārō. “
Da fühlte der Alte, als lasse eine Hand von ihm. Er gedachte seines eigenen Kindes, — das gestorben, weil er in seiner Armut nicht hatte, es zu pflegen. — Dann nahm er all das Geld, das auf dem Tische lag, und gab es dem Geiger. — — — — — —
— — — — — — — — —
Der Geiger war fort, und der Alte hatte, wie an Feiertagen, — zuweilen —, wenn die Glocken läuteten, die Glasplatte hervorgeholt und am Tische befestigt.
Und feine Sandkörner darauf geschüttet.
Als er mit dem Bogen seines Cello an dem Rande des Glases niederstrich, daß es sang, schwingend und [S. 71] klingend, tanzte der Sand und bildete kleine, feine, regelmäßige Sterne.
Und wie die Sterne und Formen entstanden, wuchsen und vergingen und wieder entstanden, gedachte er dumpf der Lehre des Buddha Gautama vom Leiden, von der Leidensentstehung, von der Leidensvernichtung, von dem zur Leidensvernichtung führenden Pfad. Da begab es sich, daß durch das löchrige Dach des Zimmers eine Schneeflocke herab auf den Tisch fiel, einen Augenblick verweilte und zerging. — Ein kleiner, feiner, regelmäßiger Stern.
Wie ein Blitz die Finsternis zerreißt, plötzlich — so war da das Licht der Erkenntnis in das Herz des Alten gefallen:
Töne , unerkannte, unhörbare, jenseitsliegende, sind der Ursprung dieser Flocken, dieser Sterne, sind der Ursprung der Natur, der Ursprung aller Formen, der Wesen und Dinge, sind der Ursprung dieser Welt.
Nicht ist diese Welt die wirkliche Welt: klar ward er sich dessen bewußt.
Nicht ist diese Welt die wirkliche, nicht entstehende, nichtvergehende, nichtwiederumentstehende Welt: — klar ward er sich dessen bewußt.
Und klaren bewußten Sinnes erkannte er des Weltalls verborgenen Pulsschlag und das Innere seines Herzens, des Abgeklärten, Trieberstorbenen, Wahnversiegten, darinnen die Stille des Meeres herrschte und eine letzte Welle schlafengehend sprang und fiel:
[S. 72]
„Es war ein guter Gedanke von dir, Melchior Kreuzer zu telegraphieren! — Glaubst du, daß er unserer Bitte Folge leisten wird, Sinclair? Wenn er den ersten Zug benutzt hat“ — Sebaldus sah auf seine Uhr — „muß er jeden Augenblick hier sein.“
Sinclair war aufgestanden und deutete statt jeder Antwort durch die Fensterscheibe.
Und da sah man einen langen schmächtigen Menschen eilig die Straße heraufkommen.
„Manches Mal gleiten Sekunden an unserm Bewußtsein vorbei, die uns die alltäglichsten Vorgänge so schreckhaft neu erscheinen lassen, — hast du es auch zuweilen, Sinclair? — Es ist, als sei man plötzlich aufgewacht und sofort wieder eingeschlafen und habe währenddessen einen Herzschlag lang in bedeutsame rätselvolle Begebnisse hineingeblickt.“
Sinclair sah seinen Freund aufmerksam an. „Was willst du damit sagen?“
„Es wird wohl der verstimmende Einfluß sein, der mich in dem Wachsfigurenkabinett befiel,“ fuhr Sebaldus fort, „ich bin unsäglich empfindlich heute, — — — als soeben Melchior von weitem herankam und ich seine Gestalt immer mehr und mehr wachsen sah, je näher sie kam, — da lag etwas, was mich quälte, etwas — wie soll ich nur sagen — Nicht-Heimliches [S. 73] für mich darin, daß die Entfernung alle Dinge zu verschlingen vermag, ob es jetzt Körper sind oder Töne, Gedanken, Phantasien oder Ereignisse. Oder umgekehrt, wir sehen sie zuerst winzig von weitem, und langsam werden sie größer, — alle, alle, — auch die, die unstofflich sind und keine räumliche Strecke zurücklegen müssen. — Aber ich finde nicht die rechten Worte, fühlst du nicht, wie ich es meine? — Sie scheinen alle unter demselben Gesetze zu stehen!“
Der andere nickte nachdenklich mit dem Kopfe.
„Ja, und manche Ereignisse und Gedanken, die schleichen verstohlen heran, — als ob es ‚dort‘ — etwas wie Bodenerhebungen oder dergleichen gäbe, hinter denen sie sich verborgen halten könnten. — Plötzlich springen sie dann hinter einem Versteck hervor und stehen unerwartet, riesengroß vor uns da.“
Man hörte die Tür gehen, und gleich darauf trat Dr. Kreuzer zu ihnen in die Weinschenke.
„Melchior Kreuzer — Christian Sebaldus Obereit, Chemiker“, stellte Sinclair die beiden einander vor.
„Ich kann mir schon denken, weshalb Sie mir telegraphiert haben“, sagte der Angekommene. — „Frau Lukretias alter Gram!? Auch mir fuhr es in die Glieder, als ich den Namen Mohammed Daraschekoh gestern in der Zeitung las. Haben Sie schon etwas herausgebracht? Ist es derselbe?“
*
Auf dem ungepflasterten Marktplatz stand der Zeltbau des Wachsfigurenkabinetts, und aus den hundert [S. 74] kleinen zackigen Spiegeln, die auf dem Leinwandgiebel in Rosettenschrift die Worte formten:
Mohammed Daraschekohs orientalisches Panoptikum,
vorgeführt von Mr. Congo-Brown
glitzerte rosa der letzte Widerschein des Abendhimmels.
Die Segeltuchwände des Zeltes, mit wilden, aufregenden Szenen grell bemalt, schwankten leise und bauchten sich zuweilen wie hautüberspannte Wangen aus, wenn im Innern jemand umherhantierte und sich an sie lehnte.
Zwei Holzstufen führten zum Eingang empor, und oben stand unter einem Glassturz die lebensgroße Wachsfigur eines Weibes in Flittertrikot.
Das fahle Gesicht mit den Glasaugen drehte sich langsam und sah in die Menge hinab, die sich um das Zelt drängte, — von einem zum andern; blickte dann zur Seite, als erwarte es einen heimlichen Befehl von dem dunkelhäutigen Ägypter, der an der Kasse saß, und schnellte dann mit drei zitternden Rucken in den Nacken, daß das lange schwarze Haar flog, um nach einer Weile wieder zögernd zurückzukehren, trostlos vor sich hinzustarren und die Bewegungen von neuem zu beginnen.
Von Zeit zu Zeit verdrehte die Figur plötzlich Arme und Beine wie unter einem heftigen Krampfe, warf hastig den Kopf zurück und beugte sich nach hinten, bis die Stirn die Fersen berührte.
„Der Motor dort hält das Uhrwerk in Gang, das diese scheußlichen Verrenkungen bewirkt,“ sagte Sinclair [S. 75] halblaut und wies auf die blanke Maschine an der andern Seite des Eingangs, die, in Viertakt arbeitend, ein schlapfendes Geräusch erzeugte.
„ Electrissiti , Leben ja, lebendig alles ja“, leierte der Ägypter oben und reichte einen bedruckten Zettel herunter. „In halb’ Stunde Anfang ja.“
„Halten Sie es für möglich, daß dieser Farbige etwas über den Aufenthalt des Mohammed Daraschekoh weiß?“ fragte Obereit.
Melchior Kreuzer aber hörte nicht. Er war ganz in das Studium des Zettels vertieft und murmelte die Stellen, die besonders hervorstachen, herunter.
„Die magnetischen Zwillinge Vayu und Dhanándschaya (mit Gesang), was ist das? Haben Sie das gestern auch gesehen?“ fragte er plötzlich.
Sinclair verneinte. „Die lebendigen Darsteller sollen erst heute auftreten und — —“
„Nicht wahr, Sie kannten doch Thomas Charnoque, Lukretias Gatten, persönlich, Dr. Kreuzer?“ unterbrach Sebaldus Obereit.
„Gewiß, wir waren jahrelang Freunde.“
„Und fühlten Sie nicht, daß er etwas Böses mit dem Kinde vorhaben könne?“
Dr. Kreuzer schüttelte den Kopf. — „Ich sah wohl eine Geisteskrankheit in seinem Wesen langsam herankommen, aber niemand konnte ahnen, daß sie so plötzlich ausbrechen würde. — Er quälte die arme Lukretia mit schrecklichen Eifersuchtsszenen, und wenn wir Freunde ihm das Grundlose seines Verdachtes vorhielten, so hörte er kaum zu. — Es war eine fixe Idee in ihm! — Dann, als das Kind kam, dachten wir, [S. 76] es werde besser mit ihm werden. — Es hatte auch den Anschein, als wäre dem so. — Sein Mißtrauen war aber nur noch tiefer geworden, und eines Tages erhielten wir die Schreckensbotschaft, es sei plötzlich der Wahnsinn über ihn gekommen, er habe getobt und geschrien, habe den Säugling aus der Wiege gerissen und sei auf und davon.
Und jede Nachforschung blieb vergeblich. — Irgend jemand wollte ihn noch mit Mohammed Daraschekoh zusammen auf einem Stationsbahnhof gesehen haben. — Einige Jahre später kam wohl aus Italien die Nachricht, ein Fremder namens Thomas Charnoque, den man oft in Begleitung eines kleinen Kindes und eines Orientalen gesehen, sei erhenkt gefunden worden. — Von Daraschekoh jedoch und dem Kinde keine Spur.
Und seitdem haben wir umsonst gesucht! — Deshalb kann ich auch nicht glauben, daß die Aufschrift auf diesem Jahrmarktszelt mit dem Asiaten zusammenhängt. — Andererseits wieder der merkwürdige Name Congo-Brown!? — Ich kann den Gedanken nicht los werden, Thomas Charnoque müsse ihn früher hie und da haben fallen lassen. — Mohammed Daraschekoh aber war ein Perser von vornehmer Abkunft und verfügte über ein geradezu beispielloses Wissen, wie käme der zu einem Wachsfigurenkabinett?!“
„Vielleicht war Congo-Brown sein Diener, und jetzt mißbraucht er den Namen seines Herrn?“ — riet Sinclair.
„Kann sein! Wir müssen der Fährte nachgehen. — Ich lasse es mir auch nicht nehmen, daß der Asiat in [S. 77] Thomas Charnoque die Idee, das Kind zu rauben, geschürt, sie vielleicht sogar angeregt hat. —
Lukretia haßte er grenzenlos. Aus Worten zu schließen, die sie fallen ließ, scheint es mir, als habe er sie unaufhörlich mit Anträgen verfolgt, trotzdem sie ihn verabscheute. — Es muß aber noch ein anderes, viel tieferes Geheimnis dahinter stecken, das Daraschekohs Rachsucht erklären könnte! — Doch aus Lukretia ist nichts weiter herauszubekommen, und sie wird vor Aufregung fast ohnmächtig, wenn man das Gebiet auch nur flüchtig berührt.
Überhaupt war Daraschekoh der böse Dämon dieser Familie. Thomas Charnoque hatte vollständig in seinem Bann gestanden und uns oft anvertraut, er halte den Perser für den einzigen Lebenden, der in die grauenvollen Mysterien einer Art präadamitischer geheimer Kunstfertigkeit, wonach man den Menschen zu irgendwelchen unbegreiflichen Zwecken in mehrere lebende Bestandteile zerlegen könne, eingeweiht sei. Natürlich hielten wir Thomas für einen Phantasten und Daraschekoh für einen bösartigen Betrüger, aber es wollte nicht glücken, Beweise und Handhaben zu finden — —
Doch ich glaube, die Produktion beginnt. — Zündet nicht schon der Ägypter die Flammen rings um das Zelt an?“
*
Die Programmnummer „Fatme, die Perle des Orients“ war vorüber, und die Zuschauer strömten hin und her oder sahen durch die Gucklöcher an den mit rotem Tuch bespannten Wänden in ein roh bemaltes [S. 78] Panorama hinein, das die Erstürmung von Delhi darstellte.
Stumm standen andere vor einem Glassarg, in dem ein sterbender Turko lag, schweratmend, die entblößte Brust von einer Kanonenkugel durchschossen, — die Wundränder brandig und bläulich.
Wenn die Wachsfigur die bleifarbenen Augenlider aufschlug, drang das Knistern der Uhrfeder leise durch den Kasten, und manche legten das Ohr an die Glaswände, um es besser hören zu können.
Der Motor am Eingang schlapfte sein Tempo und trieb ein orgelähnliches Instrument.
Eine stolpernde, atemlose Musik spielte, — mit Klängen, die, laut und dumpf zugleich, etwas Sonderbares, Aufgeweichtes hatten, als tönten sie unter Wasser.
Geruch von Wachs und schwelenden Öllampen lag im Zelt.
„Nr. 311 Obeah Wanga-Zauberschädel der Voudous“, las Sinclair erklärend aus seinem Zettel und betrachtete mit Sebaldus in einer Ecke drei abgeschnittene Menschenköpfe, die unendlich wahrheitsgetreu — Mund und Augen weit aufgerissen — mit gräßlichem Ausdruck aus einem Wandkästchen starrten.
„Weißt du, daß sie gar nicht aus Wachs, sondern echt sind?“ sagte Obereit erstaunt und zog eine Lupe hervor, — „ich begreife nur nicht, wie sie präpariert sein mögen. — Merkwürdig, die ganze Schnittfläche der Hälse ist mit Haut bedeckt oder überwachsen. — Und ich kann keine Naht entdecken! — Es sieht förmlich so aus, als wären sie wie Kürbisse frei gewachsen und hätten niemals auf menschlichen Schultern gesessen. — [S. 79] — Wenn man nur die Glasdeckel ein wenig aufheben könnte!“
„Alles Wachs ja, lebendig Wachs ja, Leichenkopf zu teuer und riechen — — phi —“, sagte plötzlich hinter ihnen der Ägypter. Er hatte sich in ihre Mähe geschlichen, ohne daß sie ihn bemerkt hatten; und sein Gesicht zuckte, als unterdrücke er ein tolles Lachen.
Die beiden sahen sich erschreckt an.
„Wenn der Nigger nur nichts gehört hat; vor einer Sekunde noch sprachen wir von Daraschekoh“, sagte Sinclair nach einer Weile. —
„Ob es Dr. Kreuzer wohl gelingen wird, Fatme auszufragen?! — Schlimmstenfalls müßten wir sie abends zu einer Flasche Wein einladen. Er steht immer noch draußen und spricht mit ihr.“
Einen Augenblick hörte die Musik auf zu spielen, jemand schlug auf ein Gong, und hinter einem Vorhang rief eine gellende Frauenstimme:
„Vayu und Dhanándschaya, magnetische Zwillinge, 8 Jahre alt, — das größte Weltwunder. — Ssie ssingen!“
Die Menge drängte sich an das Podium, das im Hintergrunde des Zeltes stand.
Dr. Kreuzer war wieder hereingekommen und faßte Sinclairs Arm. „Ich habe die Adresse schon,“ flüsterte er, „der Perser lebt in Paris unter fremdem Namen, — hier ist sie.“
Und er zeigte den beiden Freunden verstohlen einen kleinen Papierstreifen. „Wir müssen mit dem nächsten Zug nach Paris!“
[S. 80]
„Vayu und Dhanándschaya — — ssie ssingen“ — kreischte die Stimme wieder.
Der Vorhang schob sich zur Seite und, als Page gekleidet, ein Bündel im Arm, trat auf das Podium mit wankenden Schritten ein Geschöpf von grauenhaftem Aussehen.
Die lebendig gewordene Leiche eines Ertrunkenen in bunten Samtlappen und goldenen Tressen.
Eine Welle des Abscheus ging durch die Menge.
Das Wesen war von der Größe eines Erwachsenen, hatte aber die Züge eines Kindes. Gesicht, Arme, Beine, — der ganze Körper — selbst die Finger waren in unerklärlicher Weise aufgedunsen.
Aufgeblasen, wie dünner Kautschuk, schien das ganze Geschöpf.
Die Haut der Lippen und Hände farblos, fast durchscheinend, als wären sie mit Luft oder Wasser gefüllt, und die Augen erloschen und ohne Zeichen von Verständnis.
Ratlos starrte es umher.
„Vayu, där gressere Brudär“, sagte erklärend die Frauenstimme in einem fremdartigen Dialekt; und hinter dem Vorhang, eine Geige in der Hand, trat ein Weibsbild hervor im Kostüm einer Tierbändigerin mit pelzverbrämten, roten, polnischen Stiefeln.
„Vayu“, sagte die Person nochmals und deutete mit dem Geigenbogen auf das Kind. Dann klappte sie ein Heft auf und las laut vor:
[S. 81]
„Diese beiden männlichen Kindär ssind nunmehr 8 Jahre alt und das greßte Weltwunder. Sie ssind nur durch eine Nabelschnur verbunden, die 3 Ellen lang und ganz durchsichtig ist, und wenn man den einen abschneidet, mißte auch der andere sterben. Es ist das Erstaunen aller Gelehrten. Vayu, er ist weit über sein Alter. Entwickelt. Aber geistig zurückgeblieben, während Dhanándschaya von durchdringende Verstandesschärfe ist, aber so klein. Wie ein Säugling. Denn er ist ohne Haut geboren und kann nichts wachsen. Er muß aufgehoben werden in einer Tierblase mit warmem Schwammwasser. Ihre Eltern sind immer unbekannt gewesen. Es ist das greßte Naturspiel.“
Sie gab Vayu ein Zeichen, worauf dieser zögernd das Bündel in seinem Arm öffnete.
Ein faustgroßer Kopf mit stechenden Augen kam zum Vorschein.
Ein Gesicht, von einem bläulichen Adernnetz überzogen, ein Säuglingsgesicht, doch greisenhaft in den Mienen und mit einem Ausdruck, so tückisch, haßverzerrt und boshaft und voll so unbeschreiblicher Lasterhaftigkeit, daß die Zuschauer unwillkürlich zurückfuhren.
„Me — me — mein Brudel D — — D — Dhanándschaya“, stammelte das aufgedunsene Geschöpf und sah wieder ratlos ins Publikum — — — — — —
„Führen Sie mich hinaus, ich glaube, ich werde — ohnmächtig — Gott im Himmel“, flüsterte Melchior Kreuzer.
[S. 82]
Sie geleiteten den Halbbewußtlosen langsam durch das Zelt an den lauernden Blicken des Ägypters vorbei.
Das Weibsbild hatte die Geige angesetzt, und sie hörten noch, wie sie ein Lied fiedelte und der Gedunsene mit halb erloschener Stimme dazu sang:
— — — — — — — — —
Und der Säugling — unfähig, die Worte zu artikulieren — gellte mit schneidenden Tönen bloß die Vokale dazwischen:
— — — — — — — — —
Dr. Kreuzer stützte sich auf Sinclairs Arm und atmete heftig die frische Luft ein.
Aus dem Zelte hörte man das Klatschen der Zuschauer.
„Es ist Charnoques Gesicht!! — Diese grauenhafte Ähnlichkeit,“ stöhnte Melchior Kreuzer, — „wie ist es nur — — ich kann es nicht fassen. Mir drehte sich alles vor den Augen, ich fühlte, ich müsse ohnmächtig werden. — Sebaldus, bitte — holen Sie mir einen Wagen. — Ich will zur Behörde. — Es muß irgend etwas geschehen, und fahren Sie beide sogleich nach Paris! — Mohammed Daraschekoh — — Ihr müßt ihn auf dem Fuße verhaften lassen.“
*
[S. 83]
Wiederum saßen die beiden Freunde beisammen und sahen durch die Fenster der einsamen Weinstube Melchior Kreuzer eiligen Schrittes die Straße heraufkommen.
„Es ist genau wie damals,“ sagte Sinclair, — — „wie das Schicksal manchmal mit seinen Bildern geizt!“
Man hörte das Schloß zufallen, Dr. Kreuzer trat ins Zimmer, und sie schüttelten einander die Hände.
„Sie sind uns eigentlich einen langen Bericht schuldig,“ sagte endlich Sebaldus Obereit, nachdem Sinclair ausführlich geschildert, wie sie zwei volle Monate in Paris vergeblich nach dem Perser gefahndet hatten, — „Sie sandten uns immer nur so wenige Zeilen!“
„Mir ist das Schreiben bald vergangen, — beinahe auch das Reden“, entschuldigte sich Melchior Kreuzer.
„Ich fühle mich so alt geworden seit damals. — Sich von immer neuen Rätseln umgeben zu sehen, es zermürbt einen mehr, als man denkt. — Die große Menge kann gar nicht erfassen, was es für manchen Menschen bedeutet, ein ewig unlösbares Rätsel in seiner Erinnerung mitschleppen zu müssen! — Und dann, täglich die Schmerzensausbrüche der armen Lukretia mit ansehen zu müssen.
Vor kurzem starb sie, — das schrieb ich euch —, aus Gram und Leid.
Congo-Brown entsprang aus dem Untersuchungsgefängnis, und die letzten Quellen, aus denen man hätte Wahrheit schöpfen können, sind versiegt.
Ich will euch später einmal ausführlich alles erzählen, bis die Zeit die Eindrücke gemildert hat, — es griffe mich jetzt noch zu sehr an.“
[S. 84]
„Ja, aber hat man denn gar keinen Anhaltspunkt gefunden?“ fragte Sinclair.
„Es war ein wüstes Bild, das sich da entrollte, — Dinge, die unsere Gerichtsärzte nicht glauben konnten oder durften. — Finsterer Aberglauben, Lügengewebe, hysterischer Selbstbetrug, hieß es immer, und doch lagen manche Dinge so erschreckend klar da.
Ich ließ damals alle kurzerhand verhaften. Congo-Brown gestand zu, die Zwillinge, — überhaupt das ganze Panoptikum von Mohammed Daraschekoh als Lohn für frühere Dienste geschenkt bekommen zu haben. — Vayu und Dhanándschaya seien ein künstlich erzeugtes Doppelgeschöpf, das der Perser vor acht Jahren aus einem einzigen Kinde (dem Kinde Thomas Charnoques) präpariert habe, ohne die Lebenstätigkeit zu vernichten. — Er habe nur verschiedene magnetische Strömungen, die jedes menschliche Wesen besitze, und die man durch gewisse geheime Methoden voneinander trennen könne, — zerlegt und es dann durch Zuhilfenahme tierischer Ersatzstoffe schließlich zuwege gebracht, daß aus einem Körper — zwei mit ganz verschiedenen Bewußtseinsoberflächen und Eigenschaften geworden wären.
Überhaupt habe sich Daraschekoh auf die sonderbarsten Künste verstanden. — Auch die gewissen drei Obeah Wanga-Schädel seien nichts anderes als Überbleibsel von Experimenten, und — sie wären früher lange Zeit lebendig gewesen. — Das bestätigten auch Fatme, Congo-Browns Geliebte, und alle andern, die übrigens harmloser Natur waren.
Ferner gab Fatme an, Congo-Brown wäre epileptisch, [S. 85] und zur Zeit gewisser Mondphasen käme eine sonderbare Aufregung über ihn, in der er sich einbilde, selber Mohammed Daraschekoh zu sein. — In diesem Zustand stünden ihm Herz und Atem still, und seine Züge veränderten sich angeblich derart, daß man glaube, Daraschekoh (den sie früher öfter in Paris gesehen) vor sich zu haben. — Aber mehr noch, er strahle dann eine solch unüberwindliche magnetische Kraft aus, daß er, ohne irgendein befehlendes Wort auszusprechen, jeden Menschen zwingen könne, ihm sofort alle die Bewegungen oder Verdrehungen nachzuahmen, die er vormache.
Es wirke wie Veitstanz ansteckend auf einen — unwiderstehlich. Er besäße eine Gelenkigkeit sondersgleichen und beherrsche zum Beispiel alle die sonderbaren Derwischverrenkungen vollkommen, vermittelst derer man die rätselhaftesten Erscheinungen und Bewußtseinsverschiebungen hervorbringen könne — der Perser habe sie ihn selbst gelehrt —, und die so schwierig seien, daß sie kein Schlangenmensch der Welt nachzuahmen imstande sei.
Auf ihrer gemeinsamen Reise mit dem Wachsfigurenkabinett von Stadt zu Stadt sei es auch zuweilen vorgekommen, daß Congo-Brown versucht habe, diese magnetische Kraft zu verwenden, um Kinder auf solche Art zu Schlangenmenschen abzurichten. Den meisten wäre aber dabei das Rückgrat abgebrochen, bei den andern habe es wieder zu stark auf das Gehirn gewirkt, und sie seien blödsinnig geworden.
Unsere Ärzte schüttelten zu Fatmes Angaben natürlich den Kopf, was aber später vorfiel, muß ihnen wohl sehr zu denken gegeben haben. — Congo-Brown entwich [S. 86] nämlich aus dem Verhörszimmer durch einen Nebenraum, und der Untersuchungsrichter erzählt, gerade als er mit dem Nigger ein Protokoll aufnehmen wollte, habe ihn dieser plötzlich angestarrt und befremdliche Bewegungen mit den Armen gemacht. Von einem Verdacht ergriffen, hätte der Untersuchungsrichter um Hilfe läuten wollen, aber schon sei er in Starrkrampf verfallen, seine Zunge habe sich automatisch in einer Weise verdreht, an die er sich nicht mehr erinnern könne (— überhaupt müsse der Zustand von der Mundhöhle aus seinen Anfang genommen haben —), und dann sei er bewußtlos geworden.“
„Konnte man denn gar nichts über die Art und Weise erfahren, wie Mohammed Daraschekoh das Doppelgeschöpf zustande brachte, ohne das Kind zu töten?“ unterbrach Sebaldus.
Dr. Kreuzer schüttelte den Kopf. „Nein. Mir ging aber vieles durch den Kopf, was mir früher Thomas Charnoque erzählt hat.
Das Leben des Menschen ist etwas anderes, als wir denken, sagte er immer, es setzt sich aus mehreren magnetischen Strömungen zusammen, die teils innerhalb, teils außerhalb des Körpers kreisen; und unsere Gelehrten irren, wenn sie sagen, ein Mensch, dem die Haut abgezogen ist, müsse aus Mangel an Sauerstoff sterben. Das Element, das die Haut aus der Atmosphäre auszieht, sei etwas ganz anderes als Sauerstoff. — Auch saugt die Haut dieses Fluidum gar nicht an, — sie ist nur eine Art Gitter, das dazu dient, jener Strömung die Oberflächenspannung zu ermöglichen. Ungefähr so wie ein Drahtnetz — taucht man es in Seifenwasser [S. 87] — sich von Zwischenraum zu Zwischenraum mit Seifenblasen überzieht.
Auch die seelischen Eigenschaften des Menschen erhielten ihr Gepräge je nach dem Vorherrschen der einen oder andern Strömung, sagte er. — So wäre durch das Übergewicht besonders der einen Kraft das Entstehen eines Charakters von solcher Verworfenheit denkbar, — daß es unser Fassungsvermögen übersteige.“
Melchior schwieg einen Augenblick und hing seinen Gedanken nach.
„Und wenn ich mich daran erinnere, welch fürchterliche Eigenschaften der Zwerg Dhanándschaya besaß, wodurch sich überhaupt die Quelle seines Lebens verjüngte, so finde ich in all dem nur eine entsetzliche Bestätigung dieser Theorie.“
„Sie sprechen, als ob die Zwillinge tot wären, sind sie denn gestorben?“ fragte Sinclair erstaunt.
„Vor einigen Tagen! — Und es ist das beste so, — die Flüssigkeit, in der der eine den größten Teil des Tages schwamm, trocknete aus, und niemand kannte ihre Zusammensetzung.“
Melchior Kreuzer starrte vor sich hin und schauderte. „Da waren noch Dinge, — so grauenvoll, so namenlos entsetzlich, — ein Segen des Himmels, daß Lukretia sie nie erfuhr, daß ihr das wenigstens erspart geblieben ist! — Der bloße Anblick des fürchterlichen Doppelgeschöpfes schon warf sie zu Boden! Es war, als sei das Muttergefühl in zwei Hälften zerrissen worden.
Lassen Sie mich für heute von all dem schweigen! Das Bild von Vayu und Dhanándschaya — — es macht mich noch wahnsinnig — — —.“ Er brütete [S. 88] vor sich hin, dann sprang er plötzlich auf und schrie: „Schenkt mir Wein ein — — ich will nicht mehr daran denken. Schnell irgend etwas anderes. — Musik — irgend was — nur andere Gedanken! Musik — —!“
Und er taumelte zu einem polierten Musikautomaten, der an der Wand stand, und warf eine Münze hinein.
Tsin. Man hörte das Geldstück innen niederfallen.
Es surrte der Apparat.
Dann stiegen drei verlorene Töne auf. Einen Augenblick später klimperte laut durchs Zimmer das Lied:
[S. 89]
Sehen Sie den Hausierer dort mit dem wirren Bart? Tonio nennt man ihn. Gleich wird er zu unserem Tische kommen. Kaufen Sie ihm eine kleine Gemme ab oder ein paar Bologneser Tränen; — Sie wissen doch: diese Glastropfen, die in der Hand in winzige Splitter — wie Salz — zerspringen, wenn man das fadenförmige Ende abbricht. — Ein Spielzeug, weiter nichts. Und betrachten Sie dabei sein Gesicht, — den Ausdruck!
— — — — — — — — —
Nicht wahr, der Blick des Mannes hat etwas Tiefergreifendes? — Und was in der klanglosen Stimme liegt, wenn er seine Waren nennt: Bologneser Tränen, gesponnenes Frauenhaar. Nie sagt er gesponnenes Glas, immer nur Frauenhaar. — — — — — — Wenn wir dann nach Hause gehen, will ich Ihnen seine Lebensgeschichte erzählen, nicht in diesem öden Wirtshaus — — — draußen am See — im Park.
Eine Geschichte, die ich niemals vergessen könnte, auch wenn er nicht mein Freund gewesen wäre, den Sie hier jetzt als Hausierer sehen und der mich nicht mehr erkennt —
Ja, ja, — glauben Sie es nur, er war mir ein guter Freund, — früher, als er noch lebte, — seine Seele noch hatte, — noch nicht wahnsinnig war. — [S. 90] — — Warum ich ihm nicht helfe? — Da läßt sich nicht helfen. Fühlen Sie nicht, daß man einer Seele nicht helfen soll, — die blind geworden — sich auf ihre eigene, geheimnisvolle Weise wieder zum Lichte tastet, — vielleicht zu einem neuen, hellern Licht? —
Und es ist nichts mehr als ein Tasten der Seele nach Erinnerung, wenn Tonio hier Bologneser Tränen feilbietet! — Sie werden dann hören. — Gehen wir jetzt fort von hier. —
*
— — — Wie zauberhaft der See im Mondlicht schimmert!
— — — Das Schilf, da drüben am Ufer! — So nächtig — dunkel! — Und wie die Schatten der Ulmen auf der Wasserfläche schlummern — — — dort in der Bucht! — —
— — — In mancher Sommernacht saß ich auf dieser Bank, wenn der Wind flüsternd, suchend durch die Binsen strich und die plätschernden Wellen schlaftrunken an die Wurzeln der Uferbäume schlugen, — und dachte mich hinab in die zarten, heimlichen Wunder des Sees, sah in der Tiefe leuchtende, glitzernde Fische, wie sie leise im Traume die rötlichen Flossen bewegten, — alte, moosgrüne Steine, ertrunkene Äste und totes Holz und schimmernde Muscheln auf weißem Kies.
Wäre es nicht besser, man läge — ein Toter — da unten auf weichen Matten von schaukelndem Tang — und hätte das Wünschen vergessen und das Träumen?! —
Doch ich wollte Ihnen von Tonio erzählen.
[S. 91]
Wir wohnten damals alle drüben in der Stadt; — wir nannten ihn Tonio, obwohl er eigentlich anders heißt.
Von der schönen Mercedes haben Sie wohl auch nie gehört? Eine Kreolin mit rotem Haar und so hellen, seltsamen Augen.
Wie sie in die Stadt kam, weiß ich nicht mehr, — jetzt ist sie seit langem verschollen. — —
Als Tonio und ich sie kennenlernten — auf einem Feste des Orchideenklubs —, war sie die Geliebte eines jungen Russen.
Wir saßen in einer Veranda, und aus dem Saale wehten die fernen, süßen Töne eines spanischen Liedes heraus zu uns. —
— — Girlanden tropischer Orchideen von unsagbarer Pracht hingen von der Decke herab: — Cattlëya aurea , die Kaiserin dieser Blumen, die niemals sterben, — Odontoglossen und Dendrobien auf morschen Holzstücken, weiße, leuchtende Lobelien, wie Schmetterlinge des Paradieses. — Kaskaden tiefblauer Lykasten, — und von dem Dickicht dieser wie im Tanze verschlungenen Blüten loderte ein betäubender Duft, der mich immer wieder durchströmt, wenn ich des Bildes jener Nacht gedenke, das scharf und deutlich wie in einem magischen Spiegel vor meiner Seele steht: Mercedes auf einer Bank aus Rindenholz, die Gestalt halb verdeckt hinter einem lebenden Vorhang violetter Vandeen. — Das schmale, leidenschaftliche Gesicht ganz im Schatten.
Keiner von uns sprach ein Wort. —
[S. 92]
Wie eine Vision aus Tausendundeiner Nacht; mir fiel das Märchen ein von der Sultanin, die eine Ghule war und bei Vollmond zum Friedhof schlich, um auf den Gräbern vom Fleische der Toten zu essen. Und Mercedes Augen ruhten — wie forschend auf mir.
Dumpfes Erinnern wachte in mir auf, als ob mich einstmals in weiter Vergangenheit — in einem fernen Leben kalte, starre Schlangenaugen so angeblickt hätten, daß ich es nie mehr vergessen konnte.
Den Kopf hatte sie vorgebeugt und die phantastischen schwarz und purpur gesprenkelten Blütenzungen eines birmesischen Bulbophyllums waren in ihrem Haar verfangen, wie um neue, unerhörte Sünden ihr ins Ohr zu raunen. Damals begriff ich, wie man um solch ein Weib seine Seele geben könne. — — — — —
— — — Der Russe lag zu ihren Füßen. — Auch er sprach kein Wort. — —
Das Fest war fremdartig — wie die Orchideen selbst — und seltsamer Überraschungen voll. Ein Neger trat durch die Portieren und bot glitzernde Bologneser Tränen in einer Jaspisschale an. — Ich sah, wie Mercedes lächelnd dem Russen etwas sagte, — sah, wie er eine Bologneser Träne zwischen die Lippen nahm, lange so hielt und sie dann seiner Geliebten gab.
In diesem Augenblick schnellte, losgerankt aus dem Dunkel des Blättergewirres, eine riesige Orchidee, — das Gesicht eines Dämons, mit begehrlichen, durstigen Lefzen, — ohne Kinn, nur schillernde Augen und ein klaffender, bläulicher Gaumen. Und dieses furchtbare Pflanzengesicht zitterte auf seinem Stengel; wiegte sich wie in bösem Lachen, — auf Mercedes’ Hände starrend. [S. 93] Mir stand das Herz still, als hätte meine Seele in einen Abgrund geblickt.
Glauben Sie, daß Orchideen denken können? Ich habe in jenem Augenblick gefühlt, daß sie es können, — gefühlt, wie ein Hellsehender fühlt, daß diese phantastischen Blüten über ihre Herrin frohlockten. — Und sie war eine Orchideenkönigin, diese Kreolin mit ihren sinnlichen, roten Lippen, dem leise grünlichen Hautschimmer und dem Haar von der Farbe toten Kupfers. — — — Nein, nein — Orchideen sind keine Blumen, — sind satanische Geschöpfe. — Wesen, die nur die Fühlhörner ihrer Gestalt uns zeigen, uns Augen, Lippen, Zungen in sinnbetörenden Farbenwirbeln vortäuschen, daß wir den scheußlichen Vipernleib nicht ahnen sollen, der sich — unsichtbar — todbringend verbirgt im Reiche der Schatten.
Trunken von dem betäubenden Duft traten wir endlich in den Saal zurück.
Der Russe rief uns ein Wort des Abschieds nach. — In Wahrheit ein Abschied, denn der Tod stand hinter ihm. — Eine Kesselexplosion — am nächsten Morgen — zerriß ihn in Atome. — — — — — — — —
Monate waren um, da war sein Bruder Ivan Mercedes’ Geliebter, ein unzugänglicher, hochmütiger Mensch, der jeden Verkehr mied. — Beide bewohnten die Villa beim Stadttor, — abgeschieden von allen Bekannten, — und lebten nur einer wilden, wahnsinnigen Liebe.
Wer sie so gesehen, wie ich, abends in der Dämmerung durch den Park gehen, aneinandergeschmiegt, sich fast im Flüstertone unterhaltend, weltverloren — keinen [S. 94] Blick für die Umgebung —, der begriff, daß eine übermächtige, unserem Blute fremde Leidenschaft diese beiden Wesen zusammengeschmiedet hielt. — — — — —
Da — plötzlich — kam die Nachricht, daß auch Ivan verunglückt —, bei einer Ballonfahrt, die er scheinbar planlos unternommen, auf rätselhafte Weise aus der Gondel gestürzt sei.
Wir alle dachten, Mercedes werde den Schlag nicht verwinden.
— — Wenige Wochen später — im Frühjahr — fuhr sie in ihrem offenen Wagen an mir vorüber. Kein Zug in dem regungslosen Gesicht sprach von ausgestandenem Schmerze. Mir war, als ob eine ägyptische Bronzestatue, die Hände auf den Knien ruhend, den Blick in eine andere Welt gerichtet, und nicht ein lebendes Weib an mir vorbeigefahren sei. — — — Noch im Traume verfolgte mich der Eindruck: Das Steinbild des Memnon mit seiner übermenschlichen Ruhe und den leeren Augen in einer modernen Equipage in das Morgenrot fahrend, — immer weiter und weiter durch purpurleuchtende Nebel und wallenden Dunst der Sonne zu. — Die Schatten der Räder und Pferde unendlich lang — seltsam zerzogen — grauviolett, wie sie im Lichte des Frühmorgens gespenstergleich über die tauignassen Wege zucken.
— — — — — — — — —
Lange Zeit war ich dann auf Reisen und sah die Welt und manches wunderbare Bild, doch haben wenige so auf mich gewirkt. — Es gibt Farben und Formen, aus denen unsere Seele wache, lebendige Träume spinnt. — Das Tönen eines Straßengitters in der Nachtstunde [S. 95] unter unserm Fuß, ein Ruderschlag, eine Duftwelle, die scharfen Profile eines roten Häuserdaches, Regentropfen, die auf unsere Hände fallen, — sie sind oft die Zauberworte, die solche Bilder in unser Empfinden zurückwinken. Es liegt ein tief melancholisches Klingen wie Harfentöne in solchem Erinnerungsfühlen.
Ich kehrte heim und fand Tonio als des Russen Nachfolger bei Mercedes. — Betäubt vor Liebe, gefesselt an Herz — an Sinnen, — gefesselt an Händen, gefesselt an Füßen, — wie jener. — Ich sah und sprach Mercedes oft: dieselbe zügellose Liebe auch in ihr. — Zuweilen fühlte ich wieder ihren Blick forschend auf mir ruhen.
Wie damals in der Orchideen-Nacht.
In der Wohnung Manuels — unseres gemeinsamen Freundes — kamen wir manchmal zusammen, — Tonio und ich. Und eines Tages saß er dort am Fenster — gebrochen. Die Züge verzerrt, wie die eines Gefolterten.
Manuel zog mich schweigend beiseite.
Es war eine merkwürdige Geschichte, die er mir hastig flüsternd erzählte: Mercedes, Satanistin, — eine Hexe —! Tonio hatte es aus Briefen und Schriften, die er bei ihr gefunden, entdeckt. Und die beiden Russen waren von ihr durch die magische Kraft der Imagination, — mit Hilfe von Bologneser Tränen, — ermordet worden. —
Ich habe das Manuskript später gelesen: Das Opfer, heißt es darin, wird zur selben Stunde in Stücke zerschmettert, wenn man die Bologneser Träne, die von [S. 96] ihm im Munde getragen und dann in heißer Liebe verschenkt wurde, in der Kirche beim Hochamt zerbricht.
Und Ivan und sein Bruder hatten ein so plötzliches schauerliches Ende gefunden! —
— — — Wir begriffen Tonios starre Verzweiflung. Auch wenn am Gelingen des Zaubers nur der Zufall die Schuld getragen hätte, welcher Abgrund dämonischer Liebesempfindung lag in diesem Weibe! — Ein Empfinden, so fremd und unfaßbar, daß wir normalen Menschen mit unserer Erkenntnis wie in Triebsand versinken, wenn wir den Versuch wagen, mit Begriffen in diese schrecklichen Rätsel einer krebsigen Seele hinabzuleuchten. — —
Wir saßen damals die halbe Nacht — wir drei — und horchten, wie die alte Uhr tickend die Zeit zernagte, und ich suchte und suchte vergeblich nach Worten des Trostes in meinem Hirn — im Herzen — in der Kehle; — und Tonios Augen hingen unverwandt an meinen Lippen: er wartete auf die Lüge, die ihm noch Betäubung bringen konnte. — — — — — — —
Wie Manuel — hinter mir — den Entschluß faßte, den Mund öffnete, um zureden, — ich wußte es, ohne mich umzusehen. Jetzt — jetzt würde er es sagen. — — Ein Räuspern, ein Scharren mit dem Stuhl, — — — dann wieder Stille, eine ewig lange Zeit. Wir fühlten, jetzt tastet sich die Lüge durch das Zimmer, unsicher tappend an den Wänden, wie ein seelenloser Schemen ohne Kopf.
Endlich Worte — verlogene Worte — wie verdorrt: „Vielleicht — — — — — — vielleicht — — liebt sie dich anders als — — — — als die andern.“
[S. 97]
Totenstille. Wir saßen und hielten den Atem an: — daß nur die Lüge nicht stirbt, — — sie schwankt hin und her auf gallertenen Füßen und will fallen, — — — nur eine Sekunde noch! — —
Langsam, langsam begannen sich Tonios Züge zu verändern: Irrlicht Hoffnung!
— — — Da war die Lüge Fleisch geworden! —
— — — — — — — — —
— — Soll ich Ihnen noch das Ende erzählen? Mir graut, es in Worte zu kleiden. — Stehen wir auf, mir läuft ein Schauer über den Rücken, wir haben zu lange hier auf der Bank gesessen. Und die Nacht ist so kalt.
— — — Sehen Sie, das Fatum blickt auf den Menschen wie eine Schlange, — es gibt kein Entrinnen. — Tonio versank aufs neue in einen Wirbel rasender Leidenschaft zu Mercedes, er schritt an ihrer Seite, — ihr Schatten. — Sie hielt ihn umklammert mit ihrer teuflischen Liebe wie ein Polyp der Tiefsee sein Opfer.
— — — An einem Karfreitag packte das Schicksal zu: Tonio stand frühmorgens im Aprilsturm vor der Kirchentür, barhaupt, in zerrissenen Kleidern, die Fäuste geballt, und wollte die Menge am Gottesdienste hindern. — Mercedes hatte ihm geschrieben — und er war darüber wahnsinnig geworden; — in seiner Tasche fand man ihren Brief, in dem sie ihn um eine Bologneser Träne bat. — —
Und seit jenem Karfreitag steht Tonios Geist in tiefer Nacht.
[S. 98]
„Sechzig Minuten noch — bis Mitternacht“, sagte ‚Ariost‘ und nahm die dünne, holländische Tonpfeife aus dem Mund.
„Der dort“ — und er wies auf ein dunkles Porträt an der rauchgebräunten Wand, dessen Züge kaum mehr kenntlich waren — „der dort wurde Großmeister gerade vor hundert Jahren weniger sechzig Minuten.“
„Und wann zerfiel unser Orden? — Ich meine, wann sanken wir zu Zechbrüdern herab, wie wir’s jetzt sind, Ariost?“ fragte eine Stimme aus dem dichten Tabakqualm heraus, der den kleinen altertümlichen Saal erfüllte.
Ariost flocht die Finger durch seinen langen weißen Bart, fuhr wie zögernd über die Spitzenhalskrause an seinem samtnen Talar: — — „Es wird in den letzten Dezennien gewesen sein — — — vielleicht — kam es auch nach und nach.“
„Du hast da eine Wunde in seinem Herzen berührt, Fortunat“, flüsterte ‚Baal Schem‘, der Arche-Zensor des Ordens im Ornate der mittelalterlichen Rabbiner, und trat aus dem Dunkel einer Fensternische an den Frager heran zum Tisch. — „Sprich von etwas anderem!“
[S. 99]
Und laut fuhr er fort: „Wie hieß denn dieser Großmeister im profanen Leben?“
„Graf Ferdinand Paradies,“ antwortete rasch jemand neben Ariost, verständnisvoll auf das Thema eingehend, „ja, illustre Namen waren das damaliger Zeit — und früher noch. Die Grafen Spork, Norbert Wrbna, Wenzel Kaiserstein, der Dichter Ferdinand van der Roxas! — Sie alle zelebrierten das ‚Ghonsla‘ — den Logenritus der ‚asiatischen Brüder‘ im alten Angelusgarten, wo jetzt die Hauptpost steht. Vom Geiste Petrarcas umweht und Cola Rienzos, die auch unsre ‚Brüder‘ waren.“
„So ist es. Im Angelusgarten! Nach Angelus de Florentia benannt, Kaiser Karls IV. Leibarzt, bei dem Rienzo Asyl fand bis zu seiner Auslieferung an den Papst“, fiel eifrig der ‚Skribe‘ Ismael Gneiting ein.
„Wißt ihr aber auch, daß von den ‚Sat-Bhais‘, den alten asiatischen Brüdern, sogar Prag und — und — und Allahabad, kurz, alle jene Städte, deren Name soviel wie ‚die Schwelle‘ bedeutet, begründet wurden?! Gott im Himmel, welche Taten, welche Taten!
Und alles, alles verraucht, verflogen.
Wie sagt doch Buddha: ‚Im Luftraum bleibet keine Spur‘. — Das waren unsere Vorfahren! Wir aber Saufbrüder!! — Saufbrüder!! hip hip hurra; — es ist zum Lachen.“
Baal Schem machte dem Sprecher Zeichen, er möge doch schweigen. — Der aber verstand ihn nicht und redete weiter, bis Ariost sein Weinglas heftig zurückstieß und das Zimmer verließ.
„Du hast ihn verletzt,“ sagte Baal Schem ernst zu [S. 100] Ismael Gneiting, „seine Jahre schon hätten dir Rücksicht gebieten sollen.“
„Ah bah,“ murrte dieser, „habe ich ihn denn kränken wollen ? Und wenn auch!
Übrigens wird er ja zurückkommen.
In einer Stunde beginnt die hundertjährige Feier, der er doch beiwohnen muß .“
„Immer ein Mißton, wie ärgerlich,“ meinte einer der Jüngeren, „hat es sich doch so gemütlich getrunken.“
Verstimmung lag über der Tafelrunde.
Stumm saßen alle um den halbkreisförmigen Tisch und sogen an ihren weißen, holländischen Pfeifen.
In den mittelalterlichen Ordensmänteln, behangen mit kabbalistischen Zieraten, sahen sie wie eine spukhafte Versammlung seltsam und unwirklich aus in dem trüben Lichte der Öllampen, das kaum bis in die Ecken des Zimmers und hin zu den vorhanglosen gotischen Fenstern drang.
„Werde ihn besänftigen gehen, den Alten“, sagte endlich ‚Corvinus‘, ein junger Musiker — und ging hinaus.
Fortunat neigte sich zum Arche-Zensor: „Corvinus hat Einfluß auf ihn? — Corvinus?!“
Baal Schem brummte etwas in den Bart: — Corvinus sei mit Beatrix, Ariosts Nichte, verlobt.
Wieder nahm Ismael Gneiting die Rede auf und sprach von den vergessenen Glaubenssätzen des Ordens, der zurückreiche bis in die graue Vorzeit, wo die Dämonen der Sphären noch die Vorfahren des Menschen gelehrt.
[S. 101]
Von den schweren, düsteren Prophezeiungen, die alle, alle mit der Zeit ihre Erfüllung gefunden hätten, Buchstabe um Buchstabe, Satz für Satz, daß es einen verzweifeln lasse an der Willensfreiheit der Lebenden; — und von dem „versiegelten Briefe von Prag“, der letzten echten Reliquie, die heute noch der Orden besitze. „Kurios! Wer ihn vorwitzig öffnen wolle, diesen ‚ sealed letter from Prague ‘, ehe die Zeit erfüllet sei, der — — — wie heißt es doch im Original, ‚Lord Kelwyn‘?“ wandte Ismael Gneiting fragend seinen Blick zu einem uralten Bruder, der zusammengesunken und unbeweglich gegenüber in einem geschnitzten und vergoldeten Lehnstuhl saß. „ Der verderbet, ehe er beginnt! Sein Angesicht wird die Finsternis verschlingen und nicht mehr herausgeben.“ — — —?
„Die Hand des Schicksals wird seine Züge verbergen im Reiche der Form bis zum Jüngsten Tag,“ ergänzte langsam der Greis, bei jedem Worte mit dem kahlen Kopfe nickend, als wolle er den Silben besondere Kraft verleihen — „und wird sein Gesicht austilgen aus der Welt der Umrisse. Unsichtbar wird sein Antlitz werden: unsichtbar für alle Zeit! Verschlossen gleich dem Kern in der Nuß — — —, gleich dem Kern in der Nuß.“
— Gleich dem Kern in der Nuß! — die Brüder in der Runde sahen sich erstaunt an.
Gleich dem Kern in der Nuß! — seltsames, unverständliches Gleichnis!
— — — — — — — — —
Da ging die Tür auf, und Ariost trat ein.
Hinter ihm der junge Corvinus.
[S. 102]
Der zwinkerte den Freunden fröhlich zu, als wolle er sagen, alles sei wieder in Ordnung mit dem Alten.
„Frische Luft! Lassen wir frische Luft ein“, sagte jemand und ging zu den Fenstern und öffnete eins.
Viele standen auf und schoben ihre Sessel zurück, hinauszusehen in die Vollmondnacht, wie die Mondesstrahlen opalgrün auf dem buckligen Pflaster des Altstätter Rings glänzten.
Fortunat wies auf den blauschwarzen Schlagschatten, der von der Teinkirche über das Haus hinweg auf den alten, menschenleeren Platz fiel und ihn in zwei Hälften zerschnitt: „Die riesige Schattenfaust da unten mit den zwei vorgestreckten Spitzen — die mit Zeige- und Merkurfinger nach Westen deutet, ist sie nicht wie das uralte Abwehrzeichen gegen den bösen Blick?“
— — — — — — — — —
In den Saal kam der Diener und brachte neue Chiantiflaschen — mit langen Hälsen — wie rote Flamingos — — — —
Um Corvinus hatten sich in einer Ecke seine jüngeren Freunde geschart und erzählten ihm halblaut und lachend von dem „versiegelten Briefe von Prag“ und der verrückten Prophezeiung, die sich an ihn knüpfe.
Aufmerksam hörte Corvinus zu, dann blitzte es übermütig in seinen Augen auf wie ein lustiger Einfall.
Und in hastigem Flüsterton machte er seinen Freunden einen Vorschlag, den sie mit Jubel begrüßten.
So ausgelassen wurden ein paar von ihnen, so ausgelassen, daß sie auf einem Bein tanzten und sich vor Tollheit kaum mehr zu halten wußten. — — — —
[S. 103]
— — — — — — — — —
Die Alten waren allein.
Corvinus hatte sich mit seinen Kumpanen in großer Eile auf eine halbe Stunde beurlaubt; er müsse sich bei einem Bildhauer das Gesicht in Gips abgießen lassen, um ein spaßiges Vorhaben, wie er sagte, noch rasch vor Mitternacht, ehe die große Feier beginne, auszuführen. — — — — —
— — — „Närrische Jugend“, murmelte Lord Kelwyn. — — —
„Das muß wohl ein seltsamer Bildhauer sein, der so spät noch arbeitet“, sagte jemand halblaut.
Baal Schem spielte mit seinem Siegelring: „Ein Fremder, Iranak-Essak heißt er, sie sprachen vorhin von ihm. Er soll nur in der Nacht arbeiten und bei Tage schlafen; — — er ist ein Albino und verträgt kein Licht.“
— — „Arbeitet nur in der Nacht?“ wiederholte zerstreut Ariost, der das Wort Albino überhört hatte.
— — Dann blieben alle stumm eine lange Zeit.
„Ich bin froh, daß sie fort sind — die Jungen“, brach endlich Ariost gequält das Schweigen.
„Wir zwölf Alten sind so wie die Trümmer aus jener vergangenen Zeit, und wir sollten zusammenhalten. — Vielleicht treibt dann unser Orden nochmals ein frisches grünes Reis. — — — — —
Ja! — Ja, ich trage die Hauptschuld am Zerfall.“
Stockend fuhr er fort: „Ich möchte euch gern eine lange Geschichte erzählen; — und mein Herz ausschütten, bevor sie zurückkommen — die andern, — und ehe das neue Jahrhundert einzieht.“
Lord Kelwyn in dem Thronsessel sah auf und machte [S. 104] eine Bewegung mit der Hand, und die übrigen nickten zustimmend.
Ariost sprach weiter: „Ich muß es kurz machen, sollen meine Kräfte ausreichen bis zum Ende. Hört also.
Vor dreißig Jahren, ihr wißt, war Doktor Kassekanari Großmeister und ich sein erster Arche-Zensor.
Das Steuer des Ordens lag nur in unserer Hand. — Doktor Kassekanari war Physiolog — ein großer Gelehrter. Seine Vorfahren stammten aus Trinidad — ich denke von Negern — daher wohl seine grauenhafte exotische Häßlichkeit! Doch das wißt ihr alle noch.
Wir sind Freunde gewesen; — wie aber heißes Blut auch die festesten Dämme niederreißt, so — — —. Kurz, ich betrog ihn mit seiner Frau Beatrix, die schön war wie die Sonne und die wir beide liebten über alle Maßen. — —
Ein Verbrechen unter Ordensbrüdern!!
— — — Zwei Knaben hatte Beatrix, und einer von ihnen — Pasqual — war mein Kind.
Kassekanari entdeckte die Untreue seiner Gattin, ordnete seine Angelegenheiten und verließ Prag mit den beiden kleinen Kindern, ohne daß ich es hätte verhindern können.
Zu mir hat er kein Wort mehr gesprochen, mich nicht einmal mehr angeblickt.
Wie er sich aber an uns rächte, das war entsetzlich. Daß ich heute noch nicht fasse, wie ich es überleben konnte.“
Einen Augenblick lang schwieg Ariost und starrte wie geistesabwesend an die gegenüberliegende Wand. Dann fuhr er fort:
[S. 105]
„Nur ein Hirn, das die finstere Phantasie eines Wilden mit der durchdringenden Verstandesschärfe des Gelehrten, des tiefsinnigsten Kenners menschlicher Seelenvorgänge verband wie das seine, konnte den Plan ersinnen, der Beatrix das Herz im Leibe verbrannte, mir arglistig den freien Willen stahl und mich langsam hinein zwang in die Mitschuld an einem Verbrechen, das grauenvoller kaum gedacht werden kann.
Meiner armen Beatrix erbarmte sich wohl bald der Wahnsinn, und ich segne die Stunde ihrer Erlösung.“
Des Sprechers Hände schlugen wie im Fieber und verschütteten den Wein, den er zur Stärkung zum Munde führen wollte.
„Weiter! Nicht lange war Kassekanari fort, da kam ein Brief von ihm mit einer Adresse, die alle ‚wichtigen Nachrichten‘, wie er sich ausdrückte — an ihn befördern werde — wo immer er sich auch aufhalten möge .
Und gleich darauf schrieb er, nach langem Grübeln sei er zur Überzeugung gekommen, der kleine Manuel sei mein Kind, der jüngere Pasqual dagegen zweifellos das seinige.
Während es in Wirklichkeit sich gerade umgekehrt verhielt. —
Aus seinen Worten klang eine dunkle Rachedrohung, und ich konnte mich einer leisen Regung selbstsüchtiger Beruhigung nicht erwehren, meinen kleinen Sohn Pasqual, den ich anders ja nicht zu schützen vermochte, infolge dieser Verwechslung gegen Haß und Verfolgung gefeit zu wissen.
So schwieg ich denn und tat unbewußt den ersten [S. 106] Schritt jenem Abgrunde zu, aus dem es kein Entrinnen mehr gab.
Viel, viel später erschien es mir wie Arglist, — — als habe Kassekanari mich an eine Verwechslung nur glauben lassen, um mir die unerhörtesten Seelenqualen aufzubürden.
Langsam zog das Ungeheuer die Schraube zu.
In regelmäßigen Intervallen, mit der Pünktlichkeit eines Uhrwerks trafen mich seine Berichte über gewisse physiologische und vivisektorische Experimente, die er, — ‚um fremde Schuld zu sühnen und zum Wohle der Wissenschaft‘ — an dem kleinen Manuel — der ja nicht sein Kind sei, ‚wie ich doch stillschweigend zugegeben‘ — vornehme, — wie an einem Wesen vornehme, das seinem Herzen ferner stehe als ein beliebiges Versuchstier.
Und Photographien, die beilagen, bestätigten die entsetzliche Wahrheit seiner Worte. — Wenn solch ein Brief ankam und verschlossen vor mir lag, da glaubte ich, ich müsse meine Hände in lodernde Flammen strecken, um die furchtbare Folter zu übertäuben, die mich bei dem Gedanken zerriß, wieder von neuen gesteigerten Schrecknissen erfahren zu müssen.
Nur die Hoffnung, endlich, endlich doch den wahren Aufenthalt Kassekanaris entdecken und das arme Opfer befreien zu können, hielt mich vom Selbstmord zurück.
Stundenlang lag ich auf den Knien, Gott anflehend, mich die Kraft finden zu lassen, den Brief ungelesen zu vernichten.
Aber niemals fand ich die Kraft dazu.
Immer wieder habe ich die Briefe geöffnet, und immer [S. 107] wieder bin ich in Ohnmacht zusammengebrochen. Kläre ich ihn auf über seinen Irrtum, sagte ich mir vor, so fällt wohl sein Haß auf meinen Sohn, der andere aber — der Unschuldige — ist erlöst!
Und ich griff zur Feder, um alles zu schreiben, zu beweisen.
Doch der Mut verließ mich — ich konnte nicht wollen und wollte nicht können und wurde so zum Missetäter an dem armen kleinen Manuel, — der doch auch Beatrix’ Kind war, — — — indem ich schwieg.
Das fürchterlichste jedoch in allen meinen Qualen war das gleichzeitige grauenvolle Emporzüngeln eines fremden, finstern Einflusses in mir, über den ich keine Gewalt hatte, der sich in mein Herz schlich, — leise und unwiderstehlich — eine Art haßerfüllter Befriedigung, daß es sein eigenes Fleisch und Blut sei — gegen das das Ungeheuer raste.“
Die Logenbrüder waren aufgesprungen und starrten Ariost an, der sich in seinem Sessel kaum aufrecht erhielt und die Sätze mehr flüsterte als sprach.
„Jahrelang hat er Manuel gefoltert —, ihm Martern zugefügt, deren Schilderung ich nicht über die Lippen bringe — hat ihn gefoltert und gefoltert, bis ihm der Tod das Messer aus der Hand schlug, — hat Bluttransfusionen von weißen entarteten Tieren und solchen, die das Tageslicht scheuen, an ihm vollzogen, ihm die Gehirnteilchen exstirpiert, die nach seinen Theorien die guten und milden Regungen im Menschen erwecken, — und ihn dadurch zu dem gemacht, was er einen ‚seelisch Gestorbenen‘ nannte. Und mit der Ertötung aller menschlichen Regungen des Herzens, aller [S. 108] Keime des Mitleids, der Liebe, des Erbarmens, trat bei dem armen Opfer, genau wie Kassekanari in einem Briefe vorausgesagt, auch die körperliche Degeneration ein, jenes grausige Phänomen, das die afrikanischen Völker den ‚echten, weißen Neger‘ nennen. — —
Nach langen, langen Jahren verzweiflungsvollen Forschens und Suchens — die Verhältnisse des Ordens und meine eigenen ließ ich achtlos ihrer Wege treiben — gelang es mir endlich (Manuel war und blieb spurlos verschwunden) meinen Sohn — als Erwachsenen aufzufinden.
Aber ein letzter Schlag traf mich dabei: Mein Sohn nannte sich Emanuel Kassekanari — — —!
Derselbe Bruder ‚Corvinus‘, den ihr ja alle in unsrem Orden kennt.
Emanuel Kassekanari.
Und er behauptet unerschütterlich, niemals mit dem Vornamen Pasqual genannt worden zu sein.
Seitdem verfolgt mich der Gedanke, daß der Alte mich belogen und Pasqual und nicht Manuel verstümmelt haben könnte, — daß also doch mein Kind zum Opfer gefallen ist. — Die Photographien damals zeigten die Gesichtszüge so undeutlich, und im Leben sahen die Kinder einander zum Verwechseln ähnlich. — — — —
— — — — — — — — —
Doch das darf, das darf, das darf ja nicht sein , — das Verbrechen, all die ewiglange Gewissenspein umsonst! — Nicht wahr?“ schrie plötzlich Ariost wie ein Wahnsinniger auf; — „nicht wahr, [S. 109] sagt Brüder, nicht wahr, ‚Corvinus‘ ist mein Sohn, mir wie aus den Augen geschnitten!“
Die Brüder sahen scheu zu Boden und brachten die Lüge nicht über die Lippen.
Nickten nur stumm.
Ariost sprach leise zu Ende:
„Und manchmal in schreckhaften Träumen, da fühle ich mein Kind verfolgt von einem scheußlichen weißhaarigen Krüppel mit rötlichen Augen, der — lichtscheu — im Zwielicht haßerfüllt auf ihn lauert: Manuel, der verschwundene Manuel, — der — der grauenhafte — — ‚ weiße Neger ‘.“
Keiner der Logenbrüder konnte ein Wort hervorbringen.
— — Totenstille. — —
Da, — als ob Ariost die stumme Frage gefühlt hätte — sagte er halblaut, wie erklärend vor sich hin: „Ein seelisch Gestorbener! — Der weiße Neger — — ein echter
Albino .“
— Albino? — — Baal Schem taumelte an die Wand.
„Barmherziger Gott, der Bildhauer! — Der Albino Iranak-Essak!“
— — — — — — — — —
„Kriegstrompeten erschallen — weit durch Morgenrot“, sang Corvinus das Turniersignal aus „Robert der Teufel“ vor dem Fenster seiner Braut Beatrix, — [S. 110] Ariosts blonder Nichte, — und seine Freunde pfiffen unisono die Melodie.
Gleich darauf flogen die Scheiben auf, und ein junges Mädchen im weißen Ballkleid sah in den altertümlichen, im Mondlicht flimmernden „Teinhof“ hinab und fragte lachend, ob denn die Herren das Haus zu stürmen gedächten.
„Ah, du gehst auf Bälle, Trixie, — und ohne mich?“ rief Corvinus hinauf, „und wir fürchteten, du schliefest schon längst!“
„Da siehst du, wie ich mich ohne dich langweile, daß ich schon vor Mitternacht zu Hause bin! — Was willst du denn nur mit deinen Signalen; ist etwas los?“ fragte Beatrix zurück.
„Was los ist? — Wir haben eine gro—o—oße Bitte an dich. Weißt du nicht, wo Papa den ‚versiegelten Brief von Prag‘ liegen hat?“
Beatrix legte beide Hände an die Ohren: „Den versiegelten — was?“
„Den versiegelten Brief von Prag — die olle Reliquie!“ — schrien alle durcheinander.
„Ich verstehe doch kein Wort, wenn Sie so brüllen, Messieurs“ — und Trixie zog das Fenster zu, „aber warten Sie, gleich bin ich unten, — ich suche nur den Hausschlüssel und schleiche mich an der braven Gouvernante vorbei.“
Und in wenigen Minuten war sie vor dem Tor.
„Reizend, entzückend, — so im weißen Ballkleid, im grünen Mondschein“, die jungen Herren umdrängten sie, ihr die Hand zu küssen.
„Im grünen Ballkleid, — im weißen Mondschein“, [S. 111] — Beatrix knixte kokett und verbarg abwehrend ihre winzigen Hände in einem riesigen Muff, — „und mitten unter lauter ganz schwarzen Femrichtern ! Nein, muß so ein ehrwürdiger Orden etwas Verrücktes sein!“
Und neugierig musterte sie die langen, feierlichen Gewänder der Herren mit den unheimlichen Kapuzen und den goldgestickten kabbalistischen Zeichen.
„Wir sind so Hals über Kopf davongelaufen, daß wir uns gar nicht umkleiden konnten, Trixie“, entschuldigte sich Corvinus und ordnete zärtlich ihr seidenes Spitzentuch.
Dann erzählte er ihr in fliegenden Worten von der Reliquie, „dem versiegelten Brief von Prag“, der verrückten Prophezeiung und daß sie einen prächtigen Mitternachtsspaß ersonnen hätten.
Nämlich zu dem Bildhauer Iranak-Essak zu laufen, einem höchst kuriosen Kerl, — der in der Nacht arbeite, weil er ein Albino sei, übrigens aber eine wertvolle Erfindung gemacht habe: — eine Gipsmasse, die sofort an der Luft hart und unverwüstlich werde wie Granit. Und dieser Albino solle ihm nun rasch einen Gesichtsabguß verfertigen — —
„Dieses Konterfei nehmen wir dann mit, wissen Sie, mein Fräulein,“ fiel Fortunat ein, „nehmen ferner den ‚geheimnisvollen Brief‘, den Sie uns gütigst im Archiv aufstöbern und ebenso gütig herabwerfen wollen. Wir öffnen ihn natürlich sofort, um den Blödsinn, der darin steht, zu lesen, und begeben uns dann ‚verstört‘ in die Loge.
Natürlich wird man uns bald nach Corvinus fragen, [S. 112] und wo er denn stecke. Da wollen wir laut weinend die entweihte Reliquie zeigen und gestehen, er habe sie aufgemacht, und plötzlich sei unter Schwefelgestank der Teufel erschienen und habe ihn beim Kragen genommen und in die Luft entführt; Corvinus aber, der das vorausgesehen, habe sich vorher noch schnell in Iranak-Essaks unzerstörbarem Gipsstein abgießen lassen, zur Sicherheit! Um die schauerlich-schöne Prophezeiung ‚vom gänzlichen Verschwinden aus dem Reiche der Umrisse‘ ad absurdum zu führen. Und hier sei nun diese Büste, und wer sich als etwas Besonderes dünke, ob einer der alten Herren, oder alle zusammen, oder die Adepten, die den Orden gegründet, vielleicht der liebe Gott selber, — der trete vor und zerstöre das Steinbild — — wenn er könne. Übrigens lasse Bruder Corvinus alle recht herzlich grüßen, und in längstens zehn Minuten werde er aus dem Hades zurück sein.“
„Weißt du, Schatz, das hat noch das Gute,“ unterbrach Corvinus, „daß wir damit den letzten Ordensaberglauben entwurzeln, die öde Zentenarfeier abkürzen und um so schneller dann zum fröhlichen Gelage kommen.
Aber jetzt Adieu und gute Nacht, denn: eins, zwei, drei, im Sauseschritt — läuft die Zeit — — —“
„Wir laufen mit,“ ergänzte jauchzend Beatrix und hängte sich in ihres Bräutigams Arm, — „ist’s weit von hier zu Iranak-Essak — — — heißt er nicht so? Und wird ihn auch ganz gewiß nicht der Schlag treffen, wenn wir in solchem Aufzug bei ihm einbrechen?!“
[S. 113]
„Wahre Künstler trifft nie der Schlag“, — schwur Saturnilus, einer der Herren. — „Brüder! Ein Hurra, Hurra, für das mutige Fräulein!“
Und vorwärts ging’s im Galopp.
Über den Teinhof, durch mittelalterliche Torbogen, krumme Gassen, um geschweifte Ecken herum und an barocken, verwitterten Palästen vorbei.
Dann machte man halt.
„Hier wohnt er, Nummer 33,“ sagte Saturnilus atemlos — „Nummer 33, nicht wahr, ‚Ritter Kadosh‘? Schau du hinauf, du hast bessere Augen.“
Und schon wollte er läuten, da öffnete sich plötzlich das Haustor nach innen, und gleich darauf hörte man eine scharfe Stimme Worte in Niggerenglisch die Treppen hinaufkreischen. Corvinus schüttelte erstaunt den Kopf: „ The gentlemen already here?! — Die Gentlemen bereits hier, — das ist ja, als hätte man schon auf uns gewartet!!
Vorwärts also, aber Vorsicht, es ist stockdunkel hier; Licht haben wir nicht, in unseren Kostümen fehlen schlauerweise die Taschen und mit diesen daher auch die so beliebten Schwefelhölzer.“
Schritt für Schritt tappte die kleine Gesellschaft vorwärts — Saturnilus voran, hinter ihm Beatrix, dann Corvinus und die andern jungen Herren: Ritter Cadosh, Hieronymus, Fortunat, Pherekydes, Kama und Hilarion Termaximus.
Enge, gewundene Treppen empor nach links und nach rechts, der Kreuz und der Quer.
Durch offene Wohnungstüren und leere, fensterlose Zimmer tasteten sie sich, immer der Stimme folgend, [S. 114] die unsichtbar und anscheinend ziemlich weit entfernt vor ihnen herging und ihnen kurz die Richtung wies.
Endlich landeten sie in einem Raum, in dem sie wohl warten sollten, denn die Stimme war verstummt, und niemand antwortete mehr auf ihre Fragen.
Nichts regte sich.
— — — — — — — — —
„Es scheint ein uraltes Gebäude zu sein, mit vielen Ausgängen, wie ein Fuchsbau, — eines jener seltsamen Labyrinthe, wie sie noch aus dem 17. Jahrhundert her in diesem Stadtviertel stehen,“ sagte endlich halblaut Fortunat, „und das Fenster dort geht wohl auf einen Hof, daß so gar kein Schein hereinfällt!? — Kaum daß sich das Fensterkreuz etwas dunkler abhebt —“
„Ich denke, eine hohe Mauer dicht vor den Scheiben nimmt alles Licht“ — antwortete Saturnilus — „finster ist es hier, — nicht die Hand sieht man vor Augen.
Nur der Fußboden ist etwas heller. Nicht?“
Beatrix klammerte sich an den Arm ihres Verlobten. „Ich fürchte mich unsagbar in dieser grauenhaften Dunkelheit hier. — Warum bringt man kein Licht —“
„Sst, sst, ruhig alle,“ flüsterte Corvinus, „sst! Hört ihr denn nichts!? — Es nähert sich leise irgend etwas. Oder ist es schon im Zimmer?“
— — — „ Dort! Dort steht jemand ,“ fuhr plötzlich Pherekydes auf, „dahier, — kaum zehn Schritte vor mir, — ich sehe es jetzt ganz genau.
Heda, Sie! “ — rief er überlaut, und man hörte [S. 115] seine Stimme beben vor verhaltener Furcht und Erregung. — — —
— „ Ich bin der Bildhauer Pasqual Iranak-Essak “, sagte jemand mit einer Stimme, die nicht heiser klang und doch seltsam aphonisch war.
„ Sie wollen sich den Kopf abgießen lassen! — Schätze ich! “
„Nicht ich, hier unser Freund Kassekanari, Musiker und Komponist“, machte Pherekydes den Versuch, in der Dunkelheit Corvinus vorzustellen.
Ein paar Sekunden Stille.
„Ich kann Sie nicht sehen, Herr Iranak-Essak, wo stehen Sie?“ fragte Corvinus.
„Ist’s Ihnen nicht hell genug?“ antwortete spöttisch der Albino. „Machen Sie beherzt ein paar Schritte nach links — es ist hier eine offene Tapetentür, durch die Sie müssen —, sehen Sie, ich komme Ihnen schon entgegen.“
Es schien, als schwebte bei den letzten Worten die klanglose Stimme näher heran, und plötzlich glaubten die Freunde einen weißlichgrauen verschwommenen Dunst an der Wand schimmern zu sehen, — die undeutlichen Umrisse eines Menschen.
„Geh nicht, geh nicht, um Christi willen; wenn du mich lieb hast, gehst du nicht“, — flüsterte Beatrix und wollte Corvinus zurückhalten. Dieser wand sich leise los: „Aber Trixie, ich kann mich doch nicht so blamieren, er denkt gewiß schon, wir fürchten uns alle.“
Und entschlossen ging er auf die weißliche Masse [S. 116] zu, um mit ihr im nächsten Augenblick hinter der Tapetentür in der Finsternis — zu verschwinden.
— Beatrix jammerte angsterfüllt vor sich hin, und die Herren versuchten alles mögliche, ihr Mut einzuflößen.
„Seien Sie doch ganz unbesorgt, liebes Fräulein,“ tröstete Saturnilus, „es geschieht ihm nichts.
Und wenn Sie das Abgießen sehen könnten, würde es Sie sehr interessieren und unterhalten. Zuerst, wissen Sie, kommt gefettetes Seidenpapier auf Haare, Wimpern und Augenbrauen. — Öl aufs Gesicht, damit nichts haften bleibt, — und dann drückt man, auf dem Rücken liegend, den Hinterkopf bis an die Ohrränder in eine Schüssel mit nassem Gips. Ist die Masse hart geworden, wird auf das noch freiliegende Gesicht — etwa eine Faust stark — wiederum nasser Gips gegossen, so daß das ganze Haupt wie in einen großen Klumpen eingehüllt erscheint. Nach dem Erhärten werden die Verbindungsstellen aufgemeißelt und so ergibt sich die Hohlform für die prächtigsten Abgüsse und Konterfeis.“
„Da muß man doch unfehlbar ersticken“, jammerte das junge Mädchen.
Saturnilus lachte: „Natürlich, — wenn man nicht zum Atmen Strohhalme in Mund und Nasenlöcher gesteckt bekäme, die aus dem Gips herausragen, — so müßte man ersticken.“
Und um Beatrix zu beruhigen, rief er laut ins Nebenzimmer:
„Meister Iranak-Essak, dauert’s lange und wird es weh tun?“
[S. 117]
Einen Augenblick herrschte tiefe Stille, dann hörte man die klanglose Stimme von ferne antworten, — wie aus einem dritten, vierten Zimmer herüber oder wie durch dicke Tücher hindurch:
„ Mir tut’s gewiß nicht weh! Und Herr Corvinus wird sich wohl kaum beklagen, — — he, he. Und lange dauern?! Manchmal dauert’s bis zu zwei und drei Minuten.“
Etwas so unerklärlich Erregendes, ein so unbeschreiblich boshaftes Frohlocken lag in diesen Worten und der Betonung, mit der sie der Albino sprach, daß es wie ein erstarrendes Schrecken auf die Zuhörer fiel.
Pherekydes krampfte seines Nebenmannes Arm. „Seltsam, wie der redet! Hast du es gehört? — Ich halte es nicht mehr länger aus vor wahnsinnigem Angstgefühl. Woher kennt er denn plötzlich Kassekanaris Logennamen ‚Corvinus‘? Und gleich anfangs wußte er, weshalb wir gekommen sind?!! Nein, nein; — ich muß hinein. Ich muß wissen, was da drinnen vorgeht.“
In diesem Augenblick schrie Beatrix auf. „Da, — da oben, da oben, — was sind das für weiße, scheibenförmige Flecke dort, — an der Wand! —“
„Gipsrosetten, nur weiße Gipsrosetten,“ wollte sie Saturnilus beruhigen, „ich habe sie auch schon gesehen, es ist viel heller jetzt — und unsere Augen sind besser an die Dunkelheit gewöhnt — —“
Da schnitt ihm eine heftige Erschütterung, die durch das Haus lief wie der Fall eines schweren Gewichtes, — das Wort ab.
Die Wände zitterten, und die weißen Scheiben fielen [S. 118] herab mit klingendem Schall wie von glasiertem Ton, rollten einen Schritt weit und lagen still.
Gipsabgüsse verzerrter menschlicher Gesichter und Totenmasken.
Lagen still und grinsten mit leeren weißen Augen zur Decke empor.
Aus dem Atelier drang ein wilder Lärm herüber. Poltern, Fallen von Tischen und Stühlen.
Dröhnen — —.
Ein Krachen, wie von splitternden Türen, als schlüge ein Rasender um sich im Todeskampf und bahne sich verzweifelt einen Weg ins Freie.
Ein stampfendes Laufen, dann ein Anprall — — und im nächsten Augenblick brach ein heller, unförmlicher Steinklumpen durch die dünne Stoffwand — Corvinus’ umgipster Kopf! — Und leuchtete — mühsam sich bewegend — weiß und gespenstisch aus dem Zwielicht. Körper und Schultern aufgehalten von den kreuzweise stehenden Latten und Sparren.
Mit einem Ruck hatten Fortunat, Saturnilus und Pherekydes die Tapetentür eingedrückt, um Corvinus beizuspringen: doch kein Verfolger war zu sehen.
Corvinus, in der Wand eingekeilt bis zur Brust, wand sich in Konvulsionen.
Im Todeskrampf bohrten sich seine Nägel in die Hände seiner Freunde, die, fast von Sinnen vor Entsetzen, ihm beistehen wollten.
„Werkzeuge! Eisen!“ heulte Fortunat, „holt Eisenstangen, schlagt den Gips entzwei, — er erstickt! Das Scheusal hat ihm die Halme zum Atmen [S. 119] herausgezogen — — — und den Mund vergipst! “
Wie rasend stürzten viele umher, Rettung zu bringen, Sesselstücke, Latten, was sich in der blinden Eile fand, zerbrach an der Steinmasse.
Umsonst!
Eher wäre ein Granitblock zersplittert.
Andere stürmten durch die finsteren Räume und schrien und suchten vergebens nach dem Albino, zertrümmerten, was in den Weg kam; verfluchten seinen Namen; fielen in der Dunkelheit zu Boden und schlugen sich wund und blutig.
— — — — — — — — —
— — — — Corvinus’ Körper regte sich nicht mehr.
Wortlos und verzweifelt umstanden ihn die „Brüder“.
Beatrix’ herzzerreißendes Schreien gellte durch das Haus und weckte ein grausiges Echo, und ihre Finger riß sie blutig an dem Stein, der das Haupt ihres Geliebten umschloß.
— — — — — — — — —
Lang, lang war Mitternacht vorüber, da erst hatten sie den Weg ins Freie gefunden aus dem finsteren, unheimlichen Labyrinth und trugen gebrochen und stumm durch die Nacht die Leiche mit dem steinernen Kopf.
Kein Stahl, kein Meißel hatte vermocht, die grausame Hülle zu sprengen, und so hat man Corvinus begraben im Ornate des Ordens:
„
unsichtbar das Antlitz und verschlossen
gleich dem Kern in der Nuß
.“
[S. 120]
Reifes Sonnenlicht liegt auf den grauen Steinen, — der alte Platz verträumt den stillen Sonntagnachmittag. —
Aneinandergelehnt schlummern die müden Häuser mit den verfallenen Holztreppen und heimlichen Winkeln, — mit den treuen Mahagonimöbeln in den kleinen altmodischen Stuben.
Und warme Sommerluft atmet durch wachsame offene Fensterchen.
Ein Einsamer geht langsam über den Platz zur Kirche des heiligen Thomas, die fromm herabsieht auf das ruhige Bild. Er tritt ein. — Weihrauchduft.
Seufzend fällt die schwere Tür zurück an das Lederpolster.
Verschlungen ist der laute Schein der Welt — grünrosa fließen die Sonnenstrahlen durch schmale Kirchenfenster auf die heiligen Steinquadern. — Hier unten ruhen die Frommen aus vom wechselnden Sein.
Der Einsame atmet die tote Luft. — Gestorben sind die Klänge, andächtig liegt der Dom im Schatten der Töne. — Das Herz wird ruhig und trinkt den dunklen Weihrauchduft.
Der Fremde blickt auf die Schar der Kirchenbänke, die, weihevoll zum Altar hingebeugt, wie auf ein kommendes Wunder warten.
[S. 121]
Er ist einer jener Lebendigen, die das Leid überwunden haben und mit andern Augen tief hineinsehen in eine andere Welt. Er fühlt den geheimnisvollen Atem der Dinge: das verborgene, lautlose Leben der Dämmerung.
Die verleugneten, heimlichen Gedanken, die hier geboren wurden, ziehen unstet — suchend — durch den Raum. Wesen ohne Blut, ohne Freude und Weh — wachsbleich, wie die kranken Gewächse der Dunkelheit.
Verschwiegen schwingen die roten Ampeln — feierlich — an langen geduldigen Stricken; — der Luftzug von den Flügeln der goldenen Erzengel bewegt sie. —
— Da. Ein leises Scharren unter den Bänken. — Es huscht zum Betstuhl und versteckt sich.
Jetzt kommt es um die Säule geschlichen:
Eine bläuliche Menschenhand!
Auf flinken Fingern läuft sie am Boden hin: eine gespenstische Spinne! — Horcht. — Klettert eine Eisenstange empor und verschwindet im Opferstock.
Die silbernen Münzen darin klirren leise.
Träumend ist ihr der Einsame mit den Augen gefolgt, und seine Blicke fallen auf einen alten Mann, der im Schatten eines alten Pfeilers steht. — Die beiden sehen sich ernst an.
„Es gibt viel gierige Hände hier“, flüstert der Alte.
Der Einsame nickt.
— — — — — — — — —
Aus dem nächtigen Hintergrunde ziehen trübe Gestalten heran. Langsam — sie bewegen sich kaum.
Betschnecken!
Menschenbüsten — Frauenköpfe mit schleiernden [S. 122] Umrissen auf kalten, schlüpfrigen Schneckenleibern — mit Kopftüchern und schwarzen, katholischen Augen — saugen sie sich lautlos über die kalten Fliesen.
„Sie leben von den leeren Gebeten“, sagt der Alte. „Jeder sieht sie, und doch kennt sie keiner, — wenn sie tagsüber bei den Kirchentüren hocken.“
Wenn der Priester die Messe liest, schlafen sie in den Flüsterecken.
„Hat sie mein Hiersein im Beten gestört?“ fragt der Einsame. —
Der Alte tritt an seine linke Seite: „Wessen Füße im lebendigen Wasser stehen, der ist selber das Gebet! Wußte ich doch, daß heute einer kommen würde, der sehen und hören kann!“ —
Gelbe Lichtreflexe hüpfen über die Steine, wie Irrlichter.
„Sehen Sie die Goldadern, die sich hier unter den Quadern hinziehen?“ Das Gesicht des Alten flackert.
Der Einsame schüttelt den Kopf: „Mein Blick dringt nicht so tief. — Oder meinen Sie es anders?“
Der Alte nimmt ihn an der Hand und führt ihn zum Altar. —
Das Bild des Gekreuzigten ragt stumm.
Schatten bewegen sich leise in den dunkeln Seitenlogen hinter gebauchten, kunstvollen Gittern: — Schemen alter Stiftfräulein aus vergessenen Zeiten, die nie mehr wiederkehren, — fremdartig — entsagungsvoll wie Weihrauchduft.
Es rauschen ihre schwarzen seidenen Kleider.
Der Greis deutet zu Boden: „Hier tritt es fast zutage. Einen Fuß tief unter den Fliesen, — lauteres [S. 123] Gold, ein breiter, leuchtender Streifen. Die Adern ziehen sich über den alten Platz bis weit unter die Häuser. — Wunderbar, daß die Menschen nicht längst schon darauf gestoßen sind, als sie das Pflaster gelegt haben. — Ich allein weiß es seit vielen Jahren und habe es niemandem gesagt. — Bis heute. — Keiner hatte ein reines Herz —“
Ein Geräusch! —
In dem gläsernen Reliquienschrein ist das silberne Herz herabgefallen, das in der Knochenhand des heiligen Thomas lag. Der Alte hörte es nicht. Er ist entrückt. Seine Augen schauen ekstatisch ins Weite mit starrem, geradem Blick: „Die jetzt kommen, sollen nicht mehr betteln gehen. Es soll ein Tempel sein aus schimmerndem Gold. — Der Fährmann holt über — zum letztenmal.“
Der Fremde lauscht den prophetischen Worten, die flüsternd in seine Seele dringen, wie feiner, erstickender Staub aus dem heiligen Moder versunkener Jahrtausende.
Hier unter seinen Füßen! Ein blinkendes Zepter gefesselter, schlafender Macht! Es steigt ihm brennend in die Augen: Muß denn auf dem Golde der Fluch sein, läßt er sich nicht bannen durch Menschenliebe und Mitleid? — Wieviel Tausende verhungern! —
Vom Glockenturm tönt die siebente Stunde. Die Luft vibriert.
Die Gedanken des Einsamen fliegen mit dem Schall hinaus in eine Welt voll üppiger Kunst, voll Pracht und Herrlichkeit.
[S. 124]
Ihn schaudert. Er sieht den Alten an. — Wie verändert sind die Räume. — Es hallt der Schritt. Die Ecken der Betstühle sind abgestoßen, abgeschürft der Fuß der steinernen Pfeiler. Die weißgestrichenen Statuen der Päpste bedeckt mit Staub.
„Haben Sie das ... das Metall mit körperlichen Augen gesehen — in den Händen gehalten?“
Der Alte nickt. „Im Klostergarten draußen, beim Muttergottesbild unter blühenden Lilien kann man es greifen.“ — — — Er zieht eine blaue Kapsel hervor: „Hier.“ Öffnet sie und gibt dem Einsamen ein zackiges Ding.
Die beiden Männer schweigen. — —
— — — — — — — — —
Zur Kirche dringt weit her der Lärm des Lebens: das Volk kehrt heim von den lustigen Wiesen — morgen ist Arbeitstag. —
Die Frauen tragen müde Kinder auf dem Arm.
Der Einsame hat den Gegenstand genommen und schüttelt dem Alten die Hand. — Dann wirft er einen Blick zurück zum Altar. Nochmals umwogt ihn der geheimnisvolle Hauch friedvoller Erkenntnis:
„Vom Herzen gehen die Dinge aus — sind herzgeboren und herzgefügt.“
Er schlägt das Kreuz und geht.
Am offenen Türspalt lehnt der müde Tag.
Frischer Abendwind weht herein. —
Über den Markt rasselt ein Leiterwagen, mit Laub bekränzt, voll lachender, fröhlicher Menschen, und in die Bogengänge der alten Häuser fallen die roten Strahlen der sinkenden Sonne.
[S. 125]
Der Fremde lehnt an dem steinernen Denkmal inmitten des Platzes und sinnt: Er ruft im Geiste den Vorübergehenden zu, was er soeben erfahren. Er hört, wie das Lachen verstummt. — — — Die Bauten zerstauben, die Kirche stürzt. — — — Ausgerissen, im Staube, die weinenden Lilien des Klostergartens. —
Es wankt die Erde; die Dämonen des Hasses brüllen zum Himmel!
Ein Pochwerk hämmert und dröhnt und stampft den Platz, die Stadt und blutende Menschenherzen zu goldenem Staub. — —
Der Träumer schüttelt den Kopf und sinnt und lauscht der klingenden Stimme des verborgenen Meisters im Herzen:
— — — — — — — — —
Wie ist doch der zackige Brocken so leicht für hartes Gold? — — Der Einsame sieht ihn an:
Ein menschlicher Wirbelknochen!
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war so: Seine Mutter hatte ihn geboren und war sofort gestorben.
Vergebens hatte er getrachtet, mit seinen runden Pfoten, die so weich waren wie Puderquasten, sie aufzuwecken, denn er verschmachtete vor Durst in der sengenden Mittagsglut.
„Wie die Sonne frühmorgens die Tautropfen schlürft, wird sie auch sein Leben austrinken“, murmelten pathetisch die wilden Pfauen oben auf der Tempelruine, machten Prophetengesichter und schlugen rauschend stahlblau schimmernde Räder.
Und wären nicht die Schafherden des Emirs des Weges gezogen, hätte es auch so kommen müssen.
Da aber wendete sich das Schicksal.
„Hirten haben wir nicht, unberufen, die dreinreden dürften,“ meinten die Schafe — „warum sollen wir diesen jungen Löwen also nicht mitnehmen?
Übrigens die Witwe Bovis macht’s gewiß gern, erziehen ist ja ihre Leidenschaft. Seit ihr Ältester nach Afghanistan geheiratet hat — (die Tochter des fürstlichen Oberwidders) —, fühlt sie sich sowieso ein bißchen einsam.“
Und Frau Bovis sagte kein Wort, nahm das Löwenjunge zu sich, säugte und hegte es — neben Agnes, ihrem eigenen Kind.
[S. 127]
Nur der Herr Schnucke Ceterum aus Syrien — schwarz gelockt und mit krummen Hinterbeinen — war dagegen. Er legte den Kopf schief und sagte melodisch: „Scheene Sachen werden da noch emol ’erauskommen“, aber weil er immer alles besser wußte, kümmerte sich niemand um ihn. — Der kleine Löwe wuchs erstaunlich, wurde bald getauft und erhielt den Namen „Alois“.
Frau Bovis stand dabei und fuhr sich ein ums andere Mal über die Augen; — und der Gemeindeschöps trug ins Buch ein: „Alois †††“, und statt eines Familiennamens drei Kreuze.
Damit aber jeder sehen könne, daß hier wahrscheinlich eine uneheliche Geburt vorliege, schrieb er es auf eine Extraseite.
Alois’ Kindheit floß dahin wie ein Bächlein.
Er war ein guter Knabe, und nie gab er — von gewissen Heimlichkeiten vielleicht abgesehen — Grund zur Klage. — Rührend war es anzusehen, wie er heißhungrig mit den andern weidete und die Schafgarbe, die sich ihm widerspenstig immer um die langen Eckzähne legte, in kindlicher Unbeholfenheit mühsam zerkaute.
Jeden Nachmittag ging er mit klein Agnes, seinem Schwesterchen, und ihren Freundinnen ins Bambusgehölz spielen, und da war des Scherzens und der Lustbarkeiten kein Ende.
Alois, hieß es dann immer, Alois, zeig mal deine Krallen, bitte, bitte, und wenn er sie recht lang herausstreckte, erröteten die kleinen Mädchen, steckten kichernd die Köpfe zusammen und sagten: „Ffui, wie [S. 128] unanßtändig“; aber sie wollten es doch immer wieder sehen.
Zur kleinen schwarzhaarigen Scholastika, Schnucke Ceterums lieblichem Töchterlein, entwickelte sich in Alois frühzeitig eine tiefe Herzensneigung.
Stundenlang konnte er an ihrer Seite sitzen, und sie bekränzte ihn mit Vergißmeinnicht.
Waren sie ganz allein, so sagte er ihr das wunderschöne Gedicht auf:
Und sie vergoß dabei Tränen tiefster Rührung.
Dann tollten sie wieder durch das saftige Grün, bis sie umfielen.
Kam er abends erhitzt vom kindlichen Spiele nach Hause, sagte Frau Bovis, seine Mähne nachdenklich betrachtend, immer nur: „Jugend hat keine Tugend,“ — und — „Junge, wie du heute wieder mal unfrisiert aussiehst!“ (Sie war so gut.)
Alois reifte zum Jüngling, und das Lernen war seine Lust. In der Schule allen ein Vorbild, glänzte er stets durch Fleiß und gute Sitten, — und im Singen und in „Vaterländischer Ruhmesgeschichte“ hatte er durchwegs I a .
„Nicht wahr, Mama,“ sagte er immer, wenn er mit einem Lob des Herrn Lehrers heimkam, „nicht wahr, ich darf später in die Kadettenschule?“
Da mußte sich jedesmal Frau Bovis abwenden und [S. 129] eine Träne zerdrücken. „Er weiß ja nicht, der gute Junge,“ seufzte sie, „daß dort nur wirkliche Schafe aufgenommen werden“, — streichelte ihn, zwinkerte verheißungsvoll mit den Augen und sah ihm gerührt nach, wenn er, hochaufgeschossen, wie er war, mit dem ein wenig dünnen Hals und den weichen X -Beinen der Flegeljahre wieder hinaus an seine Schulaufgaben ging.
— — — — — — — — —
„Der Herbst zog ins Land“, da hieß es eines Tages: Kinder, vorsichtig sein, ja nicht zu weit außerhalb spazieren gehen, besonders nicht in der Dämmerung, wenn die Sonne zu sinken beginnt, — wir kommen jetzt in gefährliches Gebiet. — Der persische Löwe — nämlich — mordet und würgt dort.
Und immer wilder wurde das Pundshab und immer finsterer das Gesicht, das die Landschaft schnitt.
Die steinernen Finger der Berge von Kabul krallen sich in die Niederungen, — Bambusdschungel starrt wie gesträubtes Haar, und auf den Sümpfen treiben träge die Fieberdämonen mit lidlosen Augen und atmen vergiftete Mückenschwärme in die Luft.
Die Herde zog durch einen Engpaß, ängstlich und schweigend. Hinter jedem Felsblock Todesgefahr.
Da machte ein hohler, schauerlicher Ton die Luft beben, — in wilder, besinnungsloser Furcht stürmte die Herde davon.
Hinter einem Felsen hervor schoß ein breiter Schatten gerade auf Herrn Schnucke Ceterum los, der nicht rasch genug vorwärts kam.
[S. 130]
Ein riesiger alter Löwe!
Herr Schnucke wäre rettungslos verloren gewesen, hätte sich nicht in diesem Augenblick etwas Merkwürdiges ereignet. Mit Gänseblümchen bekränzt, ein Sträußchen Georginen hinter dem Ohre, kam Alois mit schmetterndem „Bäh, bäh!“ im Galopp vorbei.
Als hätte vor ihm der Blitz eingeschlagen, hielt der alte Löwe im Sprung inne und stierte in maßlosem Staunen dem Fliehenden nach.
Lange konnte er keinen Laut hervorbringen, und als er endlich ein wütendes Gebrüll ausstieß, antwortete ihm Alois’ „Bäh, bäh!“ schon aus weiter Ferne.
Eine ganze Stunde noch blieb der Alte in tiefem Grübeln stehen; alles, was er je über Sinnestäuschungen gelesen und gehört, ließ er an seinem Geist vorüberziehen.
Vergebens!
Die Nacht fällt rasch und kalt vom Himmel im Pundshab; fröstelnd knöpfte sich der alte Löwe zu und ging in seine Höhle.
Aber er konnte keinen Schlaf finden, und als das gigantische Katzenauge des Vollmondes grünlich durch die Wolken starrte, brach er auf und setzte der geflohenen Herde nach.
Gegen Morgengrauen erst fand er Alois — die Blumenkränze noch im Haar — süß schlummernd hinter einem Strauche.
Er legte ihm die Pranke auf die Brust, und mit entsetztem „Bäh!“ fuhr Alois aus dem Schlafe.
„Herr, so sagen Sie doch nicht immer ‚bäh!‘. Sind [S. 131] Sie denn wahnsinnig? Sie sind doch ein Löwe, um Gottes willen“, brüllte ihn der Alte an.
„Da irren, bitte —,“ antwortete Alois schüchtern, „ich bin ein Schaf.“
Der alte Löwe schüttelte sich vor Wut. „Sie, — wollen Sie mich vielleicht zum besten haben?! Frozzeln Sie gütigst meinetwegen die Frau Blaschke — — —.“
Alois legte die Tatze beteuernd aufs Herz, blickte ihm treuherzig ins Auge und sagte tiefbewegt:
„Mein Ehrenwort , — ich bin ein Schaf!“
Da entsetzte sich der Alte, wie tief sein Stamm gesunken, und ließ sich Alois’ Lebensgeschichte erzählen.
„Das alles,“ meinte er dann, „ist mir zwar gänzlich schleierhaft, aber daß Sie ein Löwe und kein Schaf sind, steht fest, und wenn Sie’s nicht glauben wollen — zum Teufel —, so vergleichen Sie unser beider Bild hier im Wasser.
Und jetzt lernen Sie zuvörderst mal anständig brüllen, schauen Sie — so:
Uuuaah, uuuuaah!“
Und er brüllte, daß die Oberfläche des Weihers ganz rieselig wurde und aussah wie Schmirgelpapier. „Also versuchen Sie’s, es ist ganz leicht.“
„Uhah!“ setzte Alois schüchtern an, verschluckte sich jedoch und mußte hüsteln.
Der alte Löwe blickte ungeduldig zum Himmel auf: „Na, meinetwegen üben Sie’s, wenn Sie allein sind, ich muß jetzt sowieso nach Hause.“
Er sah auf die Uhr: „Himmelsakra! schon wieder halb fünf! — Also Servus!“ Und er salutierte flüchtig [S. 132] mit der Pranke und verschwand. — — — — — —
— — — — — — — — —
Alois war wie betäubt — — — —: Also doch!!
Vor ganz kurzer Zeit erst hatte er das Gymnasium absolviert — hatte es sozusagen schwarz auf weiß bekommen, daß er ein Schaf sei — und jetzt!
Gerade jetzt, wo er in den Staatsdienst treten sollte!
Und — und — und — Scholastika!
Er mußte weinen — Scholastika!!
So schön hatten sie alles miteinander verabredet, wie er vor Papa und Mama hintreten solle usw.
Und Mama Bovis hatte noch zu ihm gesagt — neulich —: „Junge, den alten Schnucke, den halte dir warm, der hat ein Viechsgeld; — das wäre so ein Schwiegervater für dich bei deinem Riesenappetit.“ — Und immer lebendiger zogen die Ereignisse der letzten Tage vor Alois’ innerem Auge vorüber: Wie er auf einem Spaziergange Herrn Schnucke über sein blühendes Aussehen und seinen Reichtum Elogen gemacht hatte: „Herr von Schnucke haben, wie ich vernahm, in Syrien einen so schwunghaften Exporthandel in Trommelschlägeln unterhalten, und das soll, höre ich, den Grundstock zu Ihrem Reichtum gelegt haben!?“ — — „Auch hab’ ich gehandelt dermit —“, hatte Herr Ceterum etwas zögernd geantwortet, ihn aber dabei recht argwöhnisch von der Seite angesehen.
„Sollte ich da am Ende etwas Dummes gesagt haben?“ — hatte sich Alois damals gedacht — „aber man spricht doch allgemein — — — — — — —“ — — Ein Geräusch schreckte ihn jetzt aus seinen [S. 133] Träumereien. — Also alles, alles sollte jetzt zu Ende sein! Alois legte sein Haupt auf die Tatzen und weinte lange und bitterlich.
Tag und Nacht vergingen, — da hatte er sich durchgerungen.
Übernächtig, tiefe Schatten um die Augen, ging er zur Herde, trat mitten unter sie, richtete sich majestätisch auf und rief:
„Uh——hah!“
Ein ungeheures Gelächter brach los.
„Pardon, ich meine damit,“ stotterte Alois verlegen — „ich meine damit nur — — ich bin nämlich ein Löwe.“ Ein Augenblick der Überraschung, allgemeine Stille, und wiederum erhoben sich großer Lärm, höhnische Worte, Warnungsrufe, lautes Lachen.
Erst als Dr. Simulans, der Herr Pastor, hinzutrat und Alois in strengem Tone befahl, ihm zu folgen, legte sich der Tumult.
Es mußte ein langes, ernstes Gespräch gewesen sein, das die beiden miteinander führten, und als sie zusammen aus dem Bambusdickicht traten, da leuchteten des Predigers Augen in frommem Eifer. „Sei dössen eingedenk, mein Sohn,“ waren seine letzten Worte, — „mannigfaltig sind die Fallstricke des bösen Feindes! Tag und Nacht versuchet ör uns, auf daß wir gögen den Stachel löcken, dörweilen wir im Fleische wandeln allhier.
Siehe, das ist ös ja eben, wir allesamt sollen trachten, das Löwentum in uns niederzuwerfen und in Demut zu verharren, daß wir einen nojen Bund schließen und [S. 134] unsere Bitten erhöret werden — hier zeitlich und dort öwiglich.
Und was du gesehen und gehört gestern morgens dort am Weiher, das vergiß; — ös war nicht Wirklichkeit, — war teuflisch Gaukelspiel dös bösen Feindes! Anathema!
Eines noch, mein Sohn! Heiraten ist gut, und ös wird dir die finstern Dünste des Fleisches vertreiben, die den Teufeln ein Wohlgefallen sind, so freie denn die Jungfrau Scholastika Cöterum und sei zahlreich wie der Sand am Meere.“
Er hob seine Augen zum Himmel, — „das wird dir helfen des Fleisches Bürde tragen und — (hier wurde seine Rede zum Gesang):
Und dann schritt er von hinnen.
— — — — — — — — —
Alois’ Augen standen voll Tränen.
Drei Tage lang sprach er kein Wort, reinigte nur rastlos sein Inneres von allen Schlacken, und als ihm eines Nachts im Traum eine Löwin erschien, die angab, der Geist seiner Mutter zu sein und verächtlich dreimal vor ihm ausspuckte, da trat er erhobenen Hauptes vor den Herrn Pastor — jauchzend, daß nunmehr die Blendwerke der Hölle von ihm abgelassen hätten und er von nun an das Denken wolle ganz und gar sein lassen, um sich um so blinder der Leitung des Herrn Pastors hinzugeben.
Der Herr Pastor aber hielt in beredten Worten Fürsprache [S. 135] für ihn um die Hand der Jungfrau Scholastika bei ihren Eltern.
Zwar wollte Herr Ceterum anfangs nichts hören, war sehr wild und rief immer: „Er is nix, er hat nix“, aber schließlich fand seine Ehegattin den Schlüssel zu seinem Herzen: „Schnucke“, sagte sie, „Schnucke, was willst de eigentlich, was hast de gegen Alois? Schau — — — er is doch blond .“ —
Und tags darauf war Hochzeit.
Bäh!
[S. 136]
Der Tibetaner schwieg.
Die magere Gestalt stand noch eine Zeitlang aufrecht und unbeweglich, dann verschwand sie im Dschungel. —
Sir Roger Thornton starrte ins Feuer: Wenn er kein Sannyasin — kein Büßer — gewesen wäre, der Tibetaner, der überdies nach Benares wallfahrtete, so hätte er ihm natürlich kein Wort geglaubt — aber ein Sannyasin lügt weder, noch kann er belogen werden. —
Und dann dieses tückische, grausame Zucken im Gesichte des Asiaten!?
Oder hatte ihn der Feuerschein getäuscht, der sich so seltsam in den Mongolenaugen gespiegelt? —
Die Tibetaner hassen den Europäer und hüten eifersüchtig ihre magischen Geheimnisse, mit denen sie die hochmütigen Fremden einst zu vernichten hoffen, wenn der große Tag heranbricht. —
Einerlei, er, Sir Hannibal Roger Thornton, muß mit eigenen Augen sehen, ob okkulte Kräfte tatsächlich in den Händen dieses merkwürdigen Volks ruhen. — Aber er braucht Gefährten, mutige Männer, deren Wille nicht bricht, auch wenn die Schrecken einer anderen Welt hinter ihnen stehen. —
Der Engländer musterte seine Gefährten: — Dort der Afghane wäre der einzige, der in Betracht käme [S. 137] von den Asiaten, — furchtlos wie ein Raubtier, doch abergläubisch! —
Es bleibt also nur sein europäischer Diener. —
Sir Roger berührt ihn mit seinem Stock. — Pompejus Jaburek ist seit seinem zehnten Jahre völlig taub, aber er versteht es, jedes Wort, und sei es noch so fremdartig, von den Lippen zu lesen.
Sir Roger Thornton erzählt ihm mit deutlichen Gesten, was er von dem Tibetaner erfahren: Etwa zwanzig Tagereisen von hier, in einem genau bezeichneten Seitentale des Himavat, befinde sich ein ganz seltsames Stück Erde. — Auf drei Seiten senkrechte Felswände; — der einzige Zugang abgesperrt durch giftige Gase, die ununterbrochen aus der Erde dringen und jedes Lebewesen, das passieren will, augenblicklich töten. — In der Schlucht selbst, die etwa fünfzig englische Quadratmeilen umfaßt, solle ein kleiner Volksstamm leben — mitten unter üppigster Vegetation —, der der tibetanischen Rasse angehöre, rote spitze Mützen trage und ein bösartiges, satanisches Wesen in Gestalt eines Pfaues anbete. — Dieses teuflische Wesen habe die Bewohner im Laufe der Jahrhunderte die schwarze Magie gelehrt und ihnen Geheimnisse geoffenbart, die einst den ganzen Erdball umgestalten sollen; so habe es ihnen auch eine Art Melodie beigebracht, die den stärksten Mann augenblicklich vernichten könne. —
Pompejus lächelte spöttisch.
Sir Roger erklärt ihm, daß er gedenke, mit Hilfe von Taucherhelmen und Tauchertornistern, die komprimierte Luft enthalten sollen, die giftigen Stellen zu [S. 138] passieren, um ins Innere der geheimnisvollen Schlucht zu dringen. —
Pompejus Jaburek nickte zustimmend und rieb sich vergnügt die schmutzigen Hände.
— — — — — — — — —
Der Tibetaner hatte nicht gelogen: Dort unten lag im herrlichsten Grün die seltsame Schlucht; ein gelbbrauner, wüstenähnlicher Gürtel aus lockerem, verwittertem Erdreich — von der Breite einer halben Wegstunde — schloß das ganze Gebiet gegen die Außenwelt ab.
Das Gas, das aus dem Boden drang, war reine Kohlensäure.
Sir Roger Thornton, der von einem Hügel aus die Breite dieses Gürtels abgeschätzt hatte, entschloß sich, bereits am kommenden Morgen die Expedition anzutreten. — Die Taucherhelme, die er sich aus Bombay hatte schicken lassen, funktionierten tadellos. —
Pompejus trug beide Repetiergewehre und diverse Instrumente, die sein Herr für unentbehrlich hielt. —
Der Afghane hatte sich hartnäckig geweigert mitzugehen und erklärt, daß er stets bereit sei, in eine Tigerhöhle zu klettern, sich es aber sehr überlegen werde, etwas zu wagen, was seiner unsterblichen Seele Schaden bringen könne. — So waren die beiden Europäer die einzigen Wagemutigen geblieben. —
— — — — — — — — —
Die kupfernen Taucherhelme funkelten in der Sonne und warfen wunderliche Schatten auf den schwammartigen Erdboden, aus dem die giftigen Gase in zahllosen, winzigen Bläschen aufstiegen. — Sir Roger [S. 139] hatte einen sehr schnellen Schritt eingeschlagen, damit die komprimierte Luft ausreiche, um die gasige Zone zu passieren. — Er sah alles vor sich in schwankenden Formen wie durch eine dünne Wasserschicht. — Das Sonnenlicht schien ihm gespenstisch grün und färbte die fernen Gletscher — das „Dach der Welt“ mit seinen gigantischen Profilen — wie eine wundersame Totenlandschaft. —
Er befand sich mit Pompejus bereits auf frischem Rasen und zündete ein Streichholz an, um sich vom Vorhandensein atmosphärischer Luft in allen Schichten zu überzeugen. — Dann nahmen beide die Taucherhelme und Tornister ab. —
Hinter ihnen lag die Gasmauer wie eine bebende Wassermasse. — In der Luft ein betäubender Duft wie von Amberiablüten. Schillernde handgroße Falter, seltsam gezeichnet, saßen mit offenen Flügeln wie aufgeschlagene Zauberbücher auf stillen Blumen.
Die beiden schritten in beträchtlichem Zwischenraume voneinander der Waldinsel zu, die ihnen den freien Ausblick hinderte. —
Sir Roger gab seinem tauben Diener ein Zeichen, — er schien ein Geräusch vernommen zu haben. — Pompejus zog den Hahn seines Gewehres auf. —
Sie umschritten die Waldspitze, und vor ihnen lag eine Wiese. — Kaum eine viertel englische Meile vor ihnen hatten etwa 100 Mann, offenbar Tibetaner, mit roten spitzen Mützen einen Halbkreis gebildet: — man erwartete die Eindringlinge bereits. — Furchtlos ging Sir Thornton — einige Schritte seitlich vor ihm Pompejus — auf die Menge zu. —
[S. 140]
Die Tibetaner waren in die gebräuchlichen Schaffelle gekleidet, sahen aber trotzdem kaum wie menschliche Wesen aus, so abschreckend häßlich und unförmlich waren ihre Gesichter, in denen ein Ausdruck furchterregender und übermenschlicher Bosheit lag. — Sie ließen die beiden nahe herankommen, dann hoben sie blitzschnell, wie ein Mann, auf das Kommando ihres Führers die Hände empor und drückten sie gewaltsam gegen ihre Ohren. — Gleichzeitig schrien sie etwas aus vollen Lungen. —
Pompejus Jaburek sah fragend nach seinem Herrn und brachte die Flinte in Anschlag, denn die seltsame Bewegung der Menge schien ihm das Zeichen zu irgendeinem Angriff zu sein. — Was er nun wahrnahm, trieb ihm alles Blut zum Herzen:
Um seinen Herrn hatte sich eine zitternde, wirbelnde Gasschicht gebildet, ähnlich der, die beide vor kurzem durchschritten hatten. — Die Gestalt Sir Rogers verlor die Konturen, als ob sie von dem Wirbel abgeschliffen würden — der Kopf wurde spitzig —, die ganze Masse sank wie zerschmelzend in sich zusammen, und an der Stelle, wo sich noch vor einem Augenblick der sehnige Engländer befunden hatte, stand jetzt ein hellvioletter Kegel von der Größe und Gestalt eines Zuckerhutes. —
Der taube Pompejus wurde von wilder Wut geschüttelt. — Die Tibetaner schrien noch immer, und er sah ihnen gespannt auf die Lippen, um zu lesen, was sie denn eigentlich sagen wollten. —
Es war immer ein und dasselbe Wort. — Plötzlich sprang der Führer vor, und alle schwiegen und [S. 141] senkten die Arme von den Ohren. — Gleich Panthern stürzten sie auf Pompejus zu. — Dieser feuerte wie rasend aus seinem Repetiergewehr in die Menge hinein, die einen Augenblick stutzte. —
Instinktiv rief er ihnen das Wort zu, das er vorher von ihren Lippen gelesen hatte:
„ Ämälän — Äm — mä — län “, brüllte er, daß die Schlucht erdröhnte wie unter Naturgewalten.
Ein Schwindel ergriff ihn, er sah alles wie durch starke Brillen, und der Boden drehte sich unter ihm. — Es war nur ein Moment gewesen, jetzt sah er wieder klar. —
Die Tibetaner waren verschwunden — wie vorhin sein Herr —; nur zahllose violette Zuckerhüte standen vor ihm. —
Der Anführer lebte noch. Die Beine waren bereits in bläulichen Brei verwandelt, und auch der Oberkörper fing schon an zu schrumpfen, — es war, als ob der ganze Mensch von einem völlig durchsichtigen Wesen verdaut würde. — Er trug keine rote Mütze, sondern ein mitraähnliches Gebäude, in dem sich gelbe, lebende Augen bewegten. —
Jaburek schmetterte ihm den Flintenkolben an den Schädel, hatte aber nicht verhindern können, daß ihn der Sterbende mit einer im letzten Moment geschleuderten Sichel am Fuße verletzte.
Dann sah er um sich. — Kein lebendes Wesen weit und breit. —
Der Duft der Amberiablüten hatte sich verstärkt und war fast stechend geworden. — Er schien von den violetten Kegeln auszugehen, die Pompejus jetzt [S. 142] besichtigte. — Sie waren einander gleich und bestanden alle aus demselben hellvioletten gallertartigen Schleim. Die Überreste Sir Roger Thorntons aus diesen violetten Pyramiden herauszufinden, war unmöglich.
Pompejus trat zähneknirschend dem toten Tibetanerführer ins Gesicht und lief dann den Weg zurück, den er gekommen war. — Schon von weitem sah er im Gras die kupfernen Helme in der Sonne blitzen. — Er pumpte seinen Tauchertornister voll Luft und betrat die Gaszone. — Der Weg wollte kein Ende nehmen. Dem Armen liefen die Tränen über das Gesicht. — Ach Gott, ach Gott, sein Herr war tot. — Gestorben, hier, im fernen Indien! — Die Eisriesen des Himalaya gähnten gen Himmel, — was kümmerte sie das Leid eines winzigen pochenden Menschenherzens. — — — — — — — — — — —
Pompejus Jaburek hatte alles, was geschehen war, getreulich zu Papier gebracht, Wort für Wort, so wie er es erlebt und gesehen hatte — denn verstehen konnte er es noch immer nicht —, und es an den Sekretär seines Herrn nach Bombay, Adheritollahstraße 17, adressiert. — Der Afghane hatte die Besorgung übernommen. — Dann war Pompejus gestorben, denn die Sichel des Tibetaners war vergiftet gewesen. —
„Allah ist das Eins und Mohammed ist sein Prophet“, betete der Afghane und berührte mit der Stirne den Boden. — Die Hindujäger hatten die Leiche mit Blumen bestreut und unter frommen Gesängen auf einem Holzstoße verbrannt. — — — — — — —
Ali Murrad Bey, der Sekretär, war bleich geworden, als er die Schreckensbotschaft vernahm, und hatte [S. 143] das Schriftstück sofort in die Redaktion der „Indian Gazette“ geschickt. —
Die neue Sintflut brach herein. —
Die „Indian Gazette“, die die Veröffentlichung des „Falles Sir Roger Thornton“ brachte, erschien am nächsten Tage um volle drei Stunden später als sonst. — Ein seltsamer und schreckenerregender Zwischenfall trug die Schuld an der Verzögerung:
Mr. Birendranath Naorodjee, der Redakteur des Blattes, und zwei Unterbeamte, die mit ihm die Zeitung vor der Herausgabe noch mitternachts durchzuprüfen pflegten, waren aus dem verschlossenen Arbeitszimmer spurlos verschwunden. — Drei bläuliche gallertartige Zylinder standen statt dessen auf dem Boden, und mitten zwischen ihnen lag das frischgedruckte Zeitungsblatt. — Die Polizei hatte kaum mit bekannter Wichtigtuerei die ersten Protokolle angefertigt, als zahllose ähnliche Fälle gemeldet wurden.
Zu Dutzenden verschwanden die zeitunglesenden und gestikulierenden Menschen vor den Augen der entsetzten Menge, die aufgeregt die Straßen durchzog. — Zahllose violette kleine Pyramiden standen umher, auf den Treppen, auf den Märkten und Gassen — wohin das Auge blickte. —
Ehe der Abend kam, war Bombay halb entvölkert. Eine amtliche sanitäre Maßregel hatte die sofortige Sperrung des Hafens, wie überhaupt jeglichen Verkehrs nach außen verfügt, um eine Verbreitung der neuartigen Epidemie, denn wohl nur um eine solche konnte es sich hier handeln, möglichst einzudämmen. — Telegraph und Kabel spielten Tag und Nacht und [S. 144] schickten den schrecklichen Bericht sowie den ganzen Fall „Sir Thornton“ Silbe für Silbe über den Ozean in die weite Welt. —
Schon am nächsten Tag wurde die Quarantäne, als bereits verspätet, wieder aufgehoben.
Aus allen Ländern verkündeten Schreckensbotschaften, daß der „violette Tod“ überall fast gleichzeitig ausgebrochen sei und die Erde zu entvölkern drohe. Alles hatte den Kopf verloren, und die zivilisierte Welt glich einem riesigen Ameisenhaufen, in den ein Bauernjunge seine Tabakspfeife gesteckt hat. —
In Deutschland brach die Epidemie zuerst in Hamburg aus; Österreich, in dem ja nur Lokalnachrichten gelesen werden, blieb wochenlang verschont.
Der erste Fall in Hamburg war ganz besonders erschütternd. Pastor Stühlken, ein Mann, den das ehrwürdige Alter fast taub gemacht hatte, saß früh am Morgen am Kaffeetisch im Kreise seiner Lieben: Theobald, sein Ältester, mit der langen Studentenpfeife, Jette, die treue Gattin, Minchen, Tinchen, kurz alle, alle. Der greise Vater hatte eben die angelangte englische Zeitung aufgeschlagen und las den Seinen den Bericht über den „Fall Sir Roger Thornton“ vor. Er war kaum über das Wort Ämälän hinausgekommen und wollte sich eben mit einem Schluck Kaffee stärken, als er mit Entsetzen wahrnahm, daß nur noch violette Schleimkegel um ihn herumsaßen. In dem einen stak noch die lange Studentenpfeife. —
Alle vierzehn Seelen hatte der Herr zu sich genommen. —
Der fromme Greis fiel bewußtlos um. —
[S. 145]
Eine Woche später war bereits mehr als die Hälfte der Menschheit tot.
Einem deutschen Gelehrten war es vorbehalten, wenigstens etwas Licht in diese Vorkommnisse zu bringen. — Der Umstand, daß Taube und Taubstumme von der Epidemie verschont blieben, hatte ihn auf die ganz richtige Idee gebracht, daß es sich hier um ein rein akustisches Phänomen handle. —
Er hatte in seiner einsamen Studierstube einen langen wissenschaftlichen Vortrag zu Papier gebracht und dessen öffentliche Verlesung mit einigen Schlagworten angekündigt.
Seine Auseinandersetzung bestand ungefähr darin, daß er sich auf einige fast unbekannte indische Religionsschriften berief, — die das Hervorbringen von astralen und fluidischen Wirbelstürmen durch das Aussprechen gewisser geheimer Worte und Formeln behandelten — und diese Schilderungen durch die modernsten Erfahrungen auf dem Gebiete der Vibrations- und Strahlungstheorie stützte. —
Er hielt seinen Vortrag in Berlin und mußte, während er die langen Sätze von seinem Manuskripte ablas, sich eines Sprachrohres bedienen, so enorm war der Zulauf des Publikums. —
Die denkwürdige Rede schloß mit den lapidaren Worten: „Gehet zum Ohrenarzt, er soll euch taub machen, und hütet euch vor dem Aussprechen des Wortes ‚Ämälän‘.“ —
Eine Sekunde später waren wohl der Gelehrte und seine Zuhörer nur mehr leblose Schleimkegel, aber das Manuskript blieb zurück, wurde im Laufe der Zeit [S. 146] bekannt und befolgt und bewahrte so die Menschheit vor dem gänzlichen Aussterben.
Einige Dezennien später, man schreibt 1950, bewohnt eine neue, taubstumme Generation den Erdball. —
Gebräuche und Sitten anders, Rang und Besitz verschoben. — Ein Ohrenarzt regiert die Welt. — Notenschriften zu den alchimistischen Rezepten des Mittelalters geworfen, — Mozart, Beethoven, Wagner der Lächerlichkeit verfallen, wie weiland Albertus Magnus und Bombastus Paracelsus. —
In den Folterkammern der Museen fletscht hie und da ein verstaubtes Klavier die alten Zähne.
Nachschrift des Autors : Der verehrte Leser wird gewarnt, das Wort „Ämälän“ laut auszusprechen.
[S. 147]
Der Herr da drüben ist der Doktor Jorre.
Er besitzt ein technisches Bureau und verkehrt mit keinem Menschen.
Regelmäßig um ein Uhr ißt er im Restaurant des Staatsbahnhofes zu Mittag, und wenn er eintritt, bringt ihm der Kellner die „Politik“. —
Dr. Jorre setzt sich immer darauf, nicht etwa aus Verachtung, sondern um sie jeden Augenblick bei der Hand zu haben, — denn er liest bruchstückweise während des Essens.
Er ist überhaupt ein eigentümlicher Mensch, — ein Automat, der niemals in Eile ist, niemanden grüßt und nur das tut, was er will.
Gemütsbewegungen hat noch keiner an ihm wahrgenommen. —
— — — — — — — — —
„Ich möchte mir eine Portemonnaiefabrik — egal wo, nur in Österreich muß es sein — errichten,“ sagte eines Tages ein Herr zu ihm, — „so und so viel will ich daran wenden, — können Sie mir das besorgen, — samt Maschinen, Arbeitern, Bezugs- und Absatzquellen und so weiter und so weiter, — — kurz: ganz komplett?“ —
Vier Wochen später schrieb Dr. Jorre dem Herrn, daß die Fabrikgebäude fix und fertig seien — an der [S. 148] ungarischen Grenze. Der Betrieb bei der Behörde angemeldet, — 25 Arbeiter und zwei Werkmeister vom Ersten des Monats ab angestellt, ebenso das kaufmännische Personal; Leder aus Budapest, — Alligatorenhäute aus Ohio unterwegs. — Bestellungen von Wiener Abnehmern zu günstigen Preisen in den Geschäftsbüchern bereits eingetragen. Bankverbindungen in den Hauptstädten angeknüpft.
Nach Abzug seines Honorars seien 5 fl. 63 Kr. von dem ihm übergebenen Gelde übrig, die sich in Briefmarken in der linken Schublade des Schreibtisches im Chefzimmer befänden.
Solche Geschäfte machte Dr. Jorre.
Zehn Jahre hatte er auf diese Art schon gearbeitet und wahrscheinlich viel Geld verdient. Jetzt stand er wieder mit einem englischen Syndikat in Unterhandlungen, und morgen früh um acht Uhr sollten sie zum Abschlusse kommen. Eine halbe Million würde Dr. Jorre dabei verdienen, meinten seine Konkurrenten. —
Es könne gar nicht mehr gelingen, ihn noch aus dem Felde zu schlagen, glaubten sie. —
Die Engländer glaubten es auch nicht.
Dr. Jorre erst recht nicht.
„Kommen Sie morgen pünktlich ins Hotel“, sagte der eine Engländer.
Dr. Jorre gab keine Antwort und ging nach Hause. Der Kellner, der die Bemerkung gehört, lachte bloß.
— — — — — — — — —
In Jorres Schlafzimmer steht nur ein Bett, ein Stuhl und ein Waschtisch. —
[S. 149]
Totenstille im ganzen Haus.
Lang ausgestreckt liegt der Mann und schläft.
„Morgen soll er am Ziele seines Strebens sein, mehr besitzen als er verbrauchen kann. Was wird er dann wohl beginnen? Welche Wünsche bewegen dieses Herz, das so freudlos schlägt?“
Das hat er wohl keinem Menschen je gesagt. — Er steht ganz allein in der Welt.
Ob die Natur zu ihm spricht, ob Musik, ob Kunst? — Niemand weiß es. — — — Es ist, als ob der Mann tot wäre, — kein Atemzug ist hörbar.
Das kahle Zimmer schläft mit ihm, — kein Knistern — nichts. — Solch alte Räume sind nicht mehr neugierig.
So verfließt die Nacht — langsam — Stunde um Stunde. — — — — — — — — — —
— War das nicht ein Schluchzen, — wie aus dem Schlaf? — Pah, — Dr. Jorre schluchzt nicht. — Auch nicht im Schlaf.
Und jetzt ein Rascheln. — Es ist etwas herabgefallen, — ein leichter Gegenstand. — Eine dürre Rose, die an der Wand neben dem Bette hing, liegt auf dem Boden. — Der Faden, der sie gehalten, ist zerrissen; — er war schon alt — und morsch geworden. Ein Lichtschein fällt auf die Zimmerdecke — eine Wagenlaterne von der Gasse war es wohl. — — — —
— — — — — — — — —
Früh stand Dr. Jorre auf, wusch sich und ging ins Nebenzimmer. Dann setzt er sich an seinen Schreibtisch und starrt vor sich hin.
Wie alt und verfallen er heute aussieht. —
[S. 150]
Draußen fahren Lastwagen; man hört sie über das Pflaster holpern. Ein nüchterner, öder Morgen, — halbdunkel noch, als ob es nie mehr freudiger Tag werden wolle. —
Daß die Menschen den Mut haben, da weiter zu leben.
Was soll das alles, — dieses mürrische Arbeiten im trüben Nebel!
Jorre spielt mit einem Bleistift. — Die Dinge stehen in wohlgeordneten Abständen auf dem Schreibtische. — Er klopft zerstreut auf den Briefbeschwerer, der vor ihm liegt. Ein Basaltstück mit zwei gelbgrünen Olivinkristallen; — wie zwei Augen sehen ihn die Steine an. — Warum quält ihn das so? — Er schiebt den Block beiseite. —
Immer wieder muß er hinschauen. — — — Wer hat ihn nur so angeblickt, so gelbgrün? Und noch vor ganz kurzer Zeit? — — — —
Bregen — — — — — — Bregen — — —
Was für ein Wort ist das nur? — Bregen? — —
Er hält die Hand an die Stirn und sinnt. —
Ein Traumgesicht dämmert in seiner Seele. —
Heute nacht hatte er von dem Worte geträumt; — jawohl, — gerade vor wenigen Stunden:
Er war in den Herbst hineingeschritten, in eine fröstelnde Landschaft. — Weidenbäume mit hängenden Zweigen. Das Laub tot auf allen Sträuchern. — Dicht bedecken die abgefallenen Blätter die Erde, mit Wasserstaub bestanden, als ob sie die sonnigen Tage beweinten, wo sie noch in der Höhe — im Winde — gejauchzt und gezittert, — die silbergrünen Weidenkinder. —
[S. 151]
Es ist ein eigenes, trostloses Rauschen, wenn der Fuß durch die dürren Blätter streift.
Ein brauner Pfad liegt zwischen wirren Sträuchern, die wie erstarrte Krallen in die nasse Luft greifen. — — Er sieht sich auf diesem Wege gehen. — Vor ihm humpelt ein altes Weib in Lumpen — tief gebückt — mit einem Hexengesicht. — Er hört ihren Krückstock auf die Erde stampfen. — Jetzt bleibt sie stehen.
Ein Sumpf liegt vor ihnen im Dunkel der Ulmen, und grüne Schwaden decken die tückische Fläche. —
Die Hexe reckt ihren Krückstock aus — die Decke zerreißt.
Jorre blickt in die unergründliche Tiefe. —
Die Wasser werden klar, — klar wie Kristall, — und da unten erscheint eine seltsame Welt. Immer höher hinauf taucht es: — Nackte Frauen wie Schlangen verschlungen bewegen sich dort; leuchtende Leiber schwimmen in wirbelndem Reigen. — Und eine mit grünen großen Augen, eine Krone im Haar, sieht herauf zu ihm und schwingt ein Zepter über die anderen. — Sein Herz schreit auf vor Weh unter diesem Blick; er fühlt, wie sein Blut diese Augen aufnimmt und wie ihr grüner Schein in seinen Augen zu kreisen beginnt. —
Da läßt die Hexe den Krückstock sinken und sagt:
„Die einst deines Herzens Königin war, ist Königin jetzt hier unter den Bregen!“
Und wie die Worte verklingen, schießen die dichten Schwaden über dem Sumpf zusammen.
— — — — — — — — —
Die einst deines Herzens Königin war ...
— — — — — — — — —
[S. 152]
Dr. Jorre sitzt an seinem Schreibtisch, den Kopf auf die Arme gelegt, und weint.
Es schlägt acht Uhr; er hört es und weiß, daß er fortgehen soll. — Und er geht nicht. Was soll ihm auch das Geld! — Der Wille hat ihn verlassen. —
„Die einst deines Herzens Königin war, ist Königin jetzt hier unter den Bregen.“
Er denkt es immerfort. — Das herbstlich spukhafte Bild steht unbeweglich vor seiner Seele — und die grünen Augen kreisen in seinem Blute. —
Was das Wort Bregen nur bedeuten mag? Er hat es nie im Leben vernommen und kennt seinen Sinn nicht. — Es heißt etwas Grauenhaftes, namenlos Trauriges, etwas Elendes — fühlt er —, und das freudlose Klappern der Lastwagen von der Straße her dringt wie beißendes Salz in sein krankes Herz.
[S. 153]
Malaga ist wunderschön.
Aber heiß.
Die Sonne prasselt den ganzen Tag auf die steilen Hügel und reift den Wein, der auf natürlichen Terrassen wächst. —
— — — — — — — — —
In der Ferne auf blauem, stillem Meer die weißen Segel, sie ziehen wie Möwen. — — —
Die dicken Mönche dort oben im Kloster Alkazaba sind stolz geworden und reich — vom Guindre, den nur Herzöge trinken.
Wer kennt nicht den Guindre vom Kloster Alkazaba?! — — So feurig, so süß, so schwer; — — man spricht von ihm in ganz Spanien. —
Doch nur die Erlesenen des Landes gießen ihn in die schimmernden Gläser; ist er doch kostbar gleich trinkbarem Gold.
Weiß steht das Kloster in den nachtblauen Schatten, hoch über der Stadt von blendenden Strahlen beschienen. — —
Vor Jahren waren die Brüder so arm, daß sie betteln gingen und die Malagueños segneten, die ihnen spärliche Almosen gaben: Milch, Gemüse, Eier.
Dann kam der neue Abt Padre Cesáreo Ocáriz, der milde, und brachte das irdische Glück.
[S. 154]
Zufrieden und rund wie eine Kugel, verbreitete er frohen Sinn, wohin er ging.
Die schlanken Mädchen aus den Dörfern strömten zu ihm, wenn er die Beichte abnahm. — Wie sie ihn liebten! — Hatte er doch für die heißesten Küsse so milde Buße. — — — — — — — — — — — — Balsa war gestorben, der Weinbauer, und hatte sein kleines Gut, das an den Klostergarten stieß, den Fratres verschrieben, weil ihm der Trost des guten Abtes die letzten Stunden gar so leicht gemacht. — —
Padre Ocáriz segnete des Toten Vermächtnis. — Er schlug die Heilige Schrift auf und wies den Mönchen das Gleichnis vom Weinberg. — Und die Brüder gruben und gruben, daß die Schollen schwarz glänzten in dem glühenden Sonnenlicht und die Eseltreiber auf den staubigen Wegen verwundert stehen blieben. —
— — — Ja, damals ging es noch, da waren die Fratres noch mager und jung, und ihre emsigen Hände achteten nicht der schmerzenden Schwielen.
Im Schatten saß der Abt in seinem alten Lehnstuhl und warf Brotkrumen den hellen Tauben zu, die in den Klosterhof geflogen kamen.
Sein rundes, rotes Gesicht glänzte zufrieden und nickte ermunternd, wenn einer der Fleißigen innehielt und sich den Schweiß von der Stirne wischte. — Zuweilen klatschte er auch drohend in die fleischigen Hände, hatte sich irgendein spanischer Lausbub zu nahe an die Gartenhecke gewagt.
— — — Und war die Vesperglocke verklungen, und wehte die Abendbrise ihren kühlen, milden Segen her vom Meere, saß er oft noch lange unter dem Maulbeerbaum [S. 155] und sah hinaus auf die spielenden Wellen da unten in der Bucht. —
Wie die sinkenden Strahlen der Sonne an die flimmernden Kämme sich schmiegen, sich ihnen vermischen zu leuchtendem Schaum, — da wird es so friedvoll, und die dunkelnden Täler warten und schweigen. — —
Dann ließ er sich wohl auch den alten Manuel kommen, den Gärtner des Kaufherrn Otero, der die Geheimnisse des Weinbaues kannte wie kein zweiter im Lande, und hörte ihm zu. — Und die Blätter des Maulbeerbaumes rauschten besorgt, als wollten sie die leisen Worte verwehen, daß sie kein Unberufener hörte. —
Kopfschüttelnd vernahm da der gute Abt, daß man verwitterte Lederstücke, je schmutziger desto besser, in den gärenden Most tun müsse, um das Aroma zu erhöhen, und sah dem Alten forschend in das gefurchte Gesicht, ob er auch die Wahrheit spräche. —
Wurde es dunkel, und war die Sonne hinter den grünen Hügeln versunken, so sagte er einfach: „Gehe nun heim, mein Sohn, ich danke dir. Siehe, da fliegen schon die Schwalben des Teufels.“ Damit meinte er die Fledermäuse, die er nicht leiden konnte. „Und der Segen der Jungfrau sei auf deinen Wegen.“ —
— — — — — — — — —
Dann kam die blaue, schweigende Nacht mit ihren tausend freundlichen Augen, und Funken glommen im schlummernden Hafen.
— — — — — — — — —
Schwer hingen die Trauben an den Stöcken, jahraus, jahrein. —
Wie der junge, stürmische Wein im Keller tobte, als [S. 156] müsse er fort aus dem Dunkel, hinaus ins Freie, wo er geboren! — — — — —
— — — Es waren bloß wenige Fässer, und die Mönche murrten, daß die Früchte der harten Arbeit so spärlich seien. — — —
— — — Padre Cesáreo Ocáriz sagte kein Wort, schmunzelte nur listig, wenn das Botenweib kam und die Briefe der Kaufherren brachte, — blaue, rote, grüne, — mit Wappen und krauser Schrift aus allen Gegenden Spaniens. —
Als aber ein Sendschreiben eintraf vom Hofe, mit dem Siegel des Königs, da blieb es kein Geheimnis mehr:
Der Klosterwein von Alkazaba war die Perle von Malaga geworden. — Wie den Purpur des Altertums — kostbar — wog man ihn mit Gold auf, und sein Duft wurde gepriesen in Lied und Sang.
Herrscher tranken ihn und hohe Frauen, — und küßten die Tropfen vom Rande des Bechers.
Der Reichtum zog ins Kloster, und wie der Keller sich leerte vom Wein, füllten sich die Schreine mit prunkenden Schätzen.
Die herrliche Kapelle erstand an Stelle der alten, und eine mächtige silberne Glocke „del Espiritu Santo“ sang das Lob des Herrn, daß es in heiliger Weihe über den Tälern klang. —
— — — Die Fratres sahen freundlich, wurden dick und rund und saßen gemächlich auf den steinernen Bänken. —
Mit dem Graben war es schon lange nichts mehr.
Doch die Trauben wuchsen nach wie vor, — ganz wie von selbst. Und das war den Mönchen recht.
[S. 157]
Die aßen und tranken; nur einmal im Jahre zogen sie — wie zum Feste — mit ihrem Abt in den Keller, wenn der Most gärte, und sahen blinzelnd zu, wie er in jedes Faß einen halben alten Stiefel warf. — Das war das ganze Geheimnis, wie sie meinten, und sie freuten sich mit dem frommen Alten, der für diesen feierlichen Moment immer seine eigenen Schuhe sorgfältig aufhob und sie selber zerschnitt. —
— — — Der greise Manuel hatte ihnen wohl oft erklärt, daß es eigentlich ein Wunder sei, daß das Leder allein die Ursache der so besonderen Güte des Weins nicht sein könne. Leder lege doch jeder dritte Weinbauer in Malaga in seinen Most, während er gäre. — Es müsse also wohl nur der segensreiche Boden des Erbstückes sein. — —
Aber was kümmerte all das die Brüder: — die Sonne schien, die Trauben wuchsen, und der Hoflieferant aus Madrid kam pünktlich Jahr für Jahr, holte die Fässer und brachte das Geld.
— — — An einem klaren Herbsttage war Padre Ocáriz in seinem Sessel unter dem Maulbeerbaum eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. —
Im Tale unten läuteten die Glocken. —
Jetzt ruht er draußen im Acker Gottes. —
Ein grünes, schlichtes, kühles Erdenbett! —
Neben den toten Äbten schläft er nun. — — Und die maurische Ruine auf dem Gipfel des Hügels wirft ihren stillen, ehrwürdigen Schatten auf sein Grab. — Viele kleine dunkelblaue Blumen und eine schmale Steintafel: „ Requiescat in pace. “
[S. 158]
Der Kardinal von Saragossa hat einen jungen Abt geschickt. —
Padre Ribas Sobri.
Ein sehr gelehrter Mann von tiefem Wissen, — erzogen in den Schulen der Fratres vom Herzen Jesu.
Mit festem, stechendem Blick, — hager und willensstark. — —
Vorbei sind die Zeiten süßen Nichtstuns, — die Knechte entlassen, — und ächzend bücken sich wieder die feisten Mönche bei der Weinlese. — Tief in die Nacht müssen sie auf den Knien liegen und beten, beten.
Im Kloster herrscht die strenge Observanz: — bleiernes Schweigen. — Gesenkten Hauptes, aufrecht stehend, mit gefalteten Händen üben murmelnd die Fratres die „Anmutungen“:
Non est sanitas in carne mea a facie irae tuae: non est pax ossibus meis a facie peccatorum meorum. — —
Auf dem Hofe wächst das Gras zwischen den Steinen, und die weißen Tauben sind fortgeflogen. Aus kahlen Zellen dringt die gramvolle „Betrachtung der Strafen“:
Unusquisque carnem brachii sui vorabit. —
Wenn der kalte Morgen schimmert, siehst du die dunkeln Gestalten zur Kapelle ziehen, und summende Stimmen beten bei flackerndem Kerzenschein das Salve Regina.
— — — — — — — — —
Die Weinlese ist vorüber. — Streng befolgt Don Pedro Ribas Sobri die Rezepte seines toten Vorgängers: [S. 159] seine eigenen Schuhe wirft er in die offenen Fässer, genau wie jener. — — Es hallt in dem gewölbten Keller, wie der süße Wein gärt und kämpft. —
Der König wird zufrieden sein mit dem Guindre. —
— — — — — — — — —
Die schönen Mädchen kommen nicht mehr und beichten nicht mehr. — Sie fürchten sich. —
Schwer lastet die Scheu, — wortlos wie der mürrische Winter, der seine harten Hände auf die toten Fluren legt. — — — — Und der Frühling zieht vorüber und der tanzende junge Sommer — — und locken umsonst.
Verdrossen laden die Maultiertreiber um halben Lohn die schweren Fässer in die Leiterkarren.
— — — — — — — — —
Don Pedro Ribas liest und zieht finster die Stirn: „— der ehrwürdige Vater muß sich wohl geirrt und anderen Wein geschickt haben. — Das sei doch nicht der alte Guindre, — gewöhnlicher ‚ Dulce del Color ‘, wie jede andere Sorte aus Malaga“, schreibt man aus der Hauptstadt.
Täglich kommen die Sendungen zurück. Volle Fässer. Aus Lissabon, aus Madrid, aus Saragossa. — — —
Der Abt kostet, — kostet — und vergleicht. Kein Zweifel, — es fehlt der fremdartige würzige Duft.
Man holt den greisen Manuel, — der prüft und zuckt traurig die Achseln.
Ja, ja, der gute, alte Don Cesáreo, der hatte eine glückliche Hand; mehr Segen als der junge Padre. [S. 160] — Doch das darf man nicht laut sagen; — die Mönche raunen es einander zu. —
— — — — — — — — —
Don Pedro sitzt Nacht um Nacht in seiner Zelle bei seltsamen Retorten, und der Kerzenschein wirft den Schatten seines scharf geschnittenen Profils an die kalkweiße Wand. — Seine langen, mageren Finger hantieren an funkelnden Gläsern mit häßlichen, dünnen Hälsen. — Abenteuerliche Werkzeuge und Kolben stehen umher. — Ein spanischer Alchimist! —
Vergessen die Observanz, — — — die ermatteten armen Mönche schlafen tief und fest. — — — —
Das tut nicht gut! — Mit weißen Pulvern und den gelben, beißenden Wässern Lucifers findest du nicht, was die schweigsame Natur in verschlossene Bücher schrieb mit heimlichem Finger. — — —
Die Herzöge werden ihn wohl nie mehr trinken, den herrlichen, duftenden Guindre! — — —
Wieder stehen die Fässer in Reih und Glied mit gärendem Moste gefüllt. In jedem Gebinde ein anderer zerschnittener Stiefel, — der von dem dicken Bruder Theodosio, — dort einer selbst vom alten Manuel. —
Vom toten Abt noch einer dort im Fasse links in der Ecke. — — — — — — — — —
Und wieder kommt das andere Jahr, man kostet und prüft: gut ist der Wein, aber Guindre ist es nicht; — ein Faß nur birgt solchen.
Das in der Ecke mit dem Schuh des alten Abtes.
Das schicket dem König! — — — — —
Pedro Ribas Sobri ist ein willensstarker Mann, der [S. 161] nicht aufhört zu suchen, zu prüfen, zu vergleichen. — Er sagt, jetzt endlich kenne er das Geheimnis. — Die Mönche schweigen und zweifeln. — Sie fragen nicht und tun blind, was ihr Abt befiehlt, — sie kennen seine eiserne Strenge.
Manuel schüttelt den Kopf.
Die Knechte sind wieder in Diensten des Klosters, graben und wenden die schwarzen Schollen und schneiden den Weinstock, daß die Fratres keinen Finger rühren sollen, wieder feist und rund werden, wie ehedem. —
So will es der Abt.
— — — Wenn die glühenden Strahlen der Sonne unbarmherzig den Klosterhof von Alkazaba sengen, daß der Maulbeerbaum lechzend die Zweige hängt, stehen die braunen Mädchen in den farbigen Mantillas an der Hecke und recken den Hals und kichern.
— — — In langer Reihe müssen die armen Mönche auf hölzernen Bänken liegen — schwitzend — mit schweren wollenen Kutten in der quälenden Glut, — die dicken Füße in hohe Stiefel gesteckt und mit breitem Band aus Gummistoff umflochten. — —
Denn Pedro Ribas Sobri hat sich gelobt, den Guindre wiederzufinden; er ist ein willensstarker Mann, der nicht aufhört zu suchen, zu prüfen, zu vergleichen. —
Ich aber sage, es ist alles umsonst, wenn der Wein auch besser wird: dem alten Abt tut es doch keiner mehr gleich. —
[S. 162]
Die Schlüssel klirren, und ein Trupp Sträflinge betritt den Gefängnishof. — Es ist zwölf Uhr, und sie müssen im Kreise herumgehen, um Luft zu schöpfen, paarweise — einer hinter dem andern. —
Der Hof ist gepflastert. Nur in der Mitte ein paar Flecken dunkles Gras wie Grabhügel. — Vier dünne Bäume und eine Hecke aus traurigem Liguster.
Ringsum alte gelbe Mauern mit kleinen, vergitterten Kerkerfenstern.
Die Sträflinge in ihren grauen Zuchthauskleidern, sie reden kaum und gehen immer im Kreise herum — einer hinter dem andern. — Fast alle sind krank: Skorbut, geschwollene Gelenke. — Die Gesichter grau wie Fensterkitt, die Augen erloschen. Mit freudlosem Herzen halten sie gleichen Schritt.
Der Aufseher mit Säbel und Mütze steht an der Hoftür und starrt vor sich hin. —
Längs der Mauern ist nackte Erde. — Dort wächst nichts: das Leid sickert durch die gelben Wände.
„ Lukawsky war eben beim Präsidenten!“ ruft ein Gefangener den Sträflingen durch sein Kerkerfenster halblaut zu. — Der Trupp marschiert weiter. — „Was ist’s mit ihm?“ fragt ein Neuling seinen Nebenmann.
„Lukawsky, der Mörder, ist zum Tode verurteilt [S. 163] durch den Strang, und heute, glaub’ ich, soll sich’s entscheiden, ob das Urteil bestätigt wird oder nicht. Der Präsident hat ihm die Bestätigung des Urteils auf dem Amtszimmer verlesen. — Der Lukawsky hat kein Wort gesagt, nur getaumelt hat er. — Aber draußen hat er mit den Zähnen geknirscht und einen Wutanfall bekommen. — Die Aufseher haben ihm die Zwangsjacke angelegt und ihn mit Gurten auf die Bank geschnallt, daß er kein Glied rühren kann bis morgen früh. — Und ein Kruzifix haben sie ihm hingestellt.“ — Bruchstückweise hatte der Gefangene den Vorbeimarschierenden dies zugerufen. —
„Auf Zelle Nr. 25 liegt er, der Lukawsky“, sagt einer der ältesten Sträflinge. — Alle blicken zum Gitterfenster Nr. 25 hinauf. —
Der Aufseher lehnt gedankenlos am Tor und stößt mit dem Fuß ein Stück altes Brot beiseite, das im Wege liegt. —
In den schmalen Gängen des alten Landgerichts liegen die Kerkertüren dicht nebeneinander. — Niedrige Eichentüren, in das Mauerwerk eingelassen, mit Eisenbändern und mächtigen Riegeln und Schlössern. — Jede Tür hat einen vergitterten Ausschnitt, kaum eine Spanne im Geviert. Durch diese ist die Neuigkeit gedrungen und läuft längs der Fenstergitter von Mund zu Mund: „Morgen wird er gehenkt!“ —
Es ist still auf den Gängen und im ganzen Hause, und doch herrscht ein feines Geräusch. Leise, unhörbar. Nur zu fühlen. — Durch die Mauern dringt es und spielt in der Luft wie Mückenschwärme. — Das ist das Leben, das gebundene, gefangene Leben!
[S. 164]
Mitten im Haupteingang, dort, wo er weiter wird, steht eine alte leere Truhe ganz im Dunkeln.
Lautlos, langsam hebt sich der Deckel. — Da fährt es wie Todesfurcht durchs ganze Haus. — Den Gefangenen bleibt das Wort im Munde stecken. — Auf den Gängen kein Laut mehr, — daß man das Schlagen des Herzens hört und das Klingen im Ohr. —
Die Bäume und Sträucher auf dem Hofe rühren kein Blatt und greifen mit herbstlichen Ästen in die trübe Luft. — Es ist, wie wenn sie noch dunkler geworden wären. —
Der Trupp Sträflinge ist stehen geblieben wie auf einen Wink: Hat nicht jemand geschrien? —
Aus der alten Truhe kriecht langsam ein scheußlicher Wurm. — Ein Blutegel von gigantischer Form. — Dunkelgelb mit schwarzen Flecken, saugt er sich die Zellen entlang am Boden hin. — Bald dick werdend, dann wieder dünn, bewegt er sich vorwärts und tastet und sucht. — Am Kopfe seitlich in jeder Höhle starren fünf aneinandergequetschte Augäpfel, — ohne Lider und unbeweglich. — Es ist der Schrecken. —
Er schleicht sich zu den Gerichteten und saugt ihnen das warme Blut aus — unterhalb der Kehle, dort wo die große Ader das Leben vom Herzen zum Kopfe trägt. — Und umschlingt mit seinen schlüpfrigen Ringen den warmen Menschenleib. — — —
Jetzt ist er zur Zelle des Mörders gekommen. —
Ein langes grauenhaftes Schreien, ohne Unterbrechung, wie ein einziger nicht endender Ton, dringt auf den Hof. —
Der Aufseher am Türpfosten fährt zusammen und [S. 165] reißt den Torflügel auf. — „Alle, marsch hinauf, auf die Zellen!“ schreit er, und die Gefangenen laufen an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen, die steinernen Treppen hinauf. — Trapp, trapp, trapp — mit plumpen, genagelten Schuhen.
Dann ist es wieder still geworden. — Der Wind fährt in den öden Hofraum hinunter und reißt eine alte Dachluke ab, die klirrend und splitternd auf die schmutzige Erde fällt. — — —
Der Verurteilte kann nur den Kopf bewegen. — Er sieht die weiß getünchten Kerkerwände vor sich. — Undurchdringlich. — Morgen früh um sieben Uhr werden sie ihn holen. — Noch achtzehn Stunden bis dahin. — Und sieben Stunden, dann kommt die Nacht. — — — Bald wird Winter sein, und das Frühjahr kommt und der heiße Sommer. — Dann wird er aufstehen — früh — schon in der Dämmerung —, und auf die Straße gehen, den alten Milchkarren ansehen und den Hund davor ... Die Freiheit —! Er kann ja tun, was er will. —
Da schnürt es ihm wieder die Kehle: — wenn er sich nur bewegen könnte, — verflucht, verflucht, verflucht — und mit den Fäusten an die Mauern schlagen. — Hinaus! — — — Alles zerbrechen und in die Riemen beißen. — Er will jetzt nicht sterben — will nicht — will nicht! — Damals hätten sie ihn hängen dürfen, als er ihn ermordet hat, — den alten Mann, — der schon mit einem Fuß im Grabe stand. — — — Jetzt hätte er es doch nicht mehr getan! — — — Der Verteidiger hat das nicht erwähnt. — Warum hat er es den Geschworenen nicht selbst [S. 166] zugerufen?! — Sie hätten dann anders geurteilt. — Er muß es jetzt noch dem Präsidenten sagen. — Der Aufseher soll ihn vorführen. — Jetzt gleich. — — — — Morgen früh ist’s zu spät, da hat der Präsident die Uniform an, und er kann nicht so dicht an ihn heran. — Und der Präsident würde ihn nicht anhören. — Dann ist’s zu spät, man kann die vielen Polizeileute nicht mehr wegschicken. — Das tut der Präsident nicht. — — —
Der Henker legt ihm die Schlinge über den Kopf, — er hat braune Augen und sieht ihm immer scharf auf den Mund. — Sie reißen an, alles dreht sich — halt, halt — er will noch etwas sagen, etwas Wichtiges. — — —
Ob der Aufseher kommen und ihn heute noch losbinden wird von der Bank? — Er kann doch nicht so liegen bleiben die ganzen achtzehn Stunden. — Natürlich nicht, der Beichtvater muß doch noch kommen, so hat er es immer gelesen. Das ist Gesetz. — Er glaubt an nichts, aber nach ihm verlangen wird er, es ist sein Recht. — Und den Schädel wird er ihm einschlagen, dem frechen Pfaffen, mit dem steinernen Krug dort. — — — — Die Zunge ist ihm wie gedörrt. — Trinken will er — er ist durstig. — Himmel, Herrgott! — Warum geben sie ihm nichts zu trinken! — Er wird sich beschweren. — Er wird vortreten und sich beschweren, wenn die Inspektion nächste Woche kommt. — Er wird es ihm schon eintränken, — dem Aufseher, — dem verfluchten Hund! — Er wird so lange schreien, bis sie kommen und ihn losbinden, immer lauter und lauter, daß die Wände [S. 167] einstürzen. — Und dann liegt er unter freiem Himmel, ganz hoch oben, daß sie ihn nicht finden können, wenn sie um ihn herumgehen und ihn suchen. — — — — — — — — Er muß irgendwo herabgefallen sein, deucht ihm, — es hat ihm einen solchen Ruck gegeben durch den Körper. —
Sollte er geschlafen haben? — Es ist dämmerig. —
Er will sich an den Kopf greifen: seine Hände sind festgebunden. — — Vom alten Turme dröhnt die Zeit — eins, zwei — wie spät mag’s sein? — Sechs Uhr. Herrgott im Himmel, nur noch dreizehn Stunden, und sie reißen ihm den Atem aus der Brust. — Hingerichtet soll er werden, erbarmungslos — gehenkt. — Die Zähne klappern ihm vor Kälte. — Etwas saugt ihm am Herzen, er kann es nicht sehen. — Dann steigt es ihm schwarz ins Gehirn. — Er schreit und hört sich nicht schreien, — alles schreit in ihm, die Arme, die Brust, die Beine, — der ganze Körper, — ohne Aufhören, ohne Atemholen. — — —
— — — — — — — — —
An das offene Fenster des Amtszimmers, das einzige, das nicht vergittert ist, tritt ein alter Mann mit weißem Bart und einem harten, finstern Gesicht und sieht in den Hofraum hinab. Das Schreien stört ihn, er runzelt die Stirn, — murmelt etwas und schlägt das Fenster zu. — —
Am Himmel jagen die Wolken und bilden hakenförmige Streifen. — — Zerfetzte Hieroglyphen, wie eine alte, verloschene Schrift: „ Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet! “
[S. 168]
Breit, mäßig bewegt und gewichtig.
„Meistersinger“.
Auf der Straße zur blauen Pagode scheint heiß die indische Sonne herab — heiß die indische Sonne herab.
Die Menschen singen im Tempel und streuen dem Buddha weiße Blüten, und die Priester beten feierlich: Om mani padme hum; Om mani padme hum.
Die Straße menschenleer und verlassen: heute ist Feiertag.
Die langen Kushagräser hatten Spalier gebildet in den Wiesen an der Straße zur blauen Pagode — an der Straße zur blauen Pagode. Die Blumen alle warteten auf den Tausendfüßler, der da drüben wohnte in der Rinde des verehrungswürdigen Feigenbaumes.
Der Feigenbaum war das vornehmste Viertel.
„Ich bin der Verehrungswürdige,“ hatte er von sich selbst gesagt, „und aus meinen Blättern kann man Schwimmhosen machen — kann man Schwimmhosen machen.“
Die große Kröte aber, die immer auf dem Steine saß, verachtete ihn, weil er angewachsen war, und hielt auch nichts von Schwimmhosen. — Und den Tausendfüßler haßte sie. Fressen konnte sie ihn nicht, denn er war sehr hart und hatte einen giftigen Saft, — giftigen Saft.
[S. 169]
Darum haßte sie ihn — haßte sie ihn.
Sie wollte ihn verderben und unglücklich machen und hatte sich mit den Geistern der toten Kröten die ganze Nacht beraten.
Seit Sonnenaufgang saß sie auf dem Stein und wartete und bebte zuweilen mit dem Hinterfuß — bebte zuweilen mit dem Hinterfuß.
Dann und wann spuckte sie auf das Kushagras.
Alles schwieg: Blüten, Käfer, Blumen und Gräser. — Und der weite, weite Himmel. Denn es war Feiertag.
Nur die Unken im Tümpel — die unheiligen — sangen gottlose Lieder:
Da glitzerte es in der Rinde des Feigenbaumes und rieselte schimmernd herab wie eine Schnur schwarzer Perlen. — Wand sich kokett und hob den Kopf und spielte tanzend im strahlenden Sonnenlicht.
Der Tausendfüßler — der Tausendfüßler.
Der Feigenbaum schlug voll Wonne die Blätter zusammen, und das Kushagras raschelte entzückt — raschelte entzückt.
Der Tausendfüßler lief zum großen Stein, dort lag sein Tanzplatz — ein heller sandiger Fleck — sandiger Fleck. Und huschte umher in Kreisen und Achtern, [S. 170] daß alles geblendet die Augen schloß — die Augen schloß.
Da gab die Kröte ein Zeichen, und hinter dem Stein hervor trat ihr ältester Sohn und überreichte mit tiefer Verbeugung dem Tausendfüßler ein Schreiben seiner Mutter. — Der nahm es mit dem Fuß Nr. 37 und fragte das Kushagras, ob alles auch richtig gestempelt sei.
„Wir sind zwar das älteste Gras der Erde, aber das wissen wir nicht, — die Gesetze sind jedes Jahr anders, — das weiß nur Indra allein — weiß nur Indra allein.“
Da holte man die Brillenschlange, und die las den Brief vor:
„Seiner Hochgeboren, dem Herrn
Tausendfuß!
Ich bin nur ein Nasses, Schlüpfriges — ein Verachtetes auf Erden, und mein Laich wird gering geschätzt unter Pflanzen und Tieren. — Und glänze nicht und schillere nicht. — Ich habe nur vier Beine — nur vier Beine — und nicht tausend wie Du — nicht tausend wie Du. — O Verehrungswürdiger! — Dir nemeskar, Dir nemeskar! —“
„Ihm nemeskar, ihm nemeskar“, stimmten begeistert die wilden Rosen aus Schiras mit ein in den persischen Gruß — in den persischen Gruß.
„Doch wohnet Weisheit in meinem Haupte und tiefes Wissen — und tiefes Wissen. Ich kenne die Gräser, die vielen, beim Namen. — Ich weiß die Zahl der [S. 171] Sterne am Nachthimmel und der Blätter des Feigenbaumes, — des angewachsenen. — Und mein Gedächtnis hat seinesgleichen nicht unter den Kröten in ganz Indien.
Siehe und dennoch kann ich die Dinge nur zählen, wenn sie stille stehen, — nicht, wenn sie sich bewegen — nicht, wenn sie sich bewegen.
Sage mir doch — o Verehrungswürdiger, wie es sein kann, daß Du beim Gehen immer weißt, mit welchem Fuße Du anfangen mußt, welcher der zweite sei, — und dann der dritte, — welcher dann kommt als vierter, als fünfter, als sechster, — ob der zehnte folgt oder der hundertste, — was dabei der zweite macht und der siebente, ob er stehen bleibt oder weitergeht, — wenn Du beim 917ten angelangt bist, den 700sten aufheben und den 39sten niedersetzen, den 1000sten biegen oder den vierten strecken sollst — strecken sollst.
O bitte, sage mir armem Nassen, Schlüpfrigen, das nur vier Beine hat — nur vier Beine hat — und nicht tausend wie Du — nicht tausend wie Du —, wie Du das machst, o Verehrungswürdiger!
Hochachtungsvoll
die Kröte.“
„Nemeskar“, flüsterte eine kleine Rose, die fast eingeschlafen war. Und die Kushagräser, die Blumen, die Käfer und der Feigenbaum und die Brillenschlange blickten erwartungsvoll auf den Tausendfüßler.
Selbst die Unken schwiegen — Unken schwiegen.
[S. 172]
Der Tausendfüßler aber blieb starr an den Boden festgebannt und konnte hinfort kein Glied mehr rühren.
Er hatte vergessen, welches Bein er zuerst heben solle, und je mehr er darüber nachdachte, desto weniger konnte er sich entsinnen — konnte er sich entsinnen.
— — — — — — — — —
Auf der Straße zur blauen Pagode schien heiß die indische Sonne herab — indische Sonne herab.
[S. 173]
23. September
So. — Jetzt bin ich fertig mit meinem System und sicher, daß kein Furchtgefühl in mir entstehen kann.
Die Geheimschrift kann niemand entziffern. Es ist doch gut, wenn man alles vorher genau überlegt und in möglichst vielen Gebieten auf der Höhe des Wissens steht. Dies soll ein Tagebuch für mich sein; kein anderer als ich ist es zu lesen imstande, und ich kann jetzt gefahrlos niederschreiben, was ich zu meiner Selbstbeobachtung für nötig halte. — Verstecken allein genügt nicht, der Zufall bringt es an den Tag. —
Gerade die heimlichsten Verstecke sind die unsichersten. — Wie verkehrt alles ist, was man in der Kindheit lernt! — Ich aber habe mit den Jahren zu lernen verstanden, wie man den Dingen ins Innere sieht, und ich weiß ganz genau, was ich zu tun habe, damit auch nicht eine Spur von Furcht in mir erwachen kann.
Die einen sagen, es gibt ein Gewissen, die anderen leugnen es; das ist dann beiden ein Problem und ein Anlaß zum Streit. Und wie einfach doch die Wahrheit ist: Es gibt ein Gewissen, und es gibt keines, je nachdem man daran glaubt. —
Wenn ich an ein Gewissen in mir glaube, suggeriere ich es mir. Ganz natürlich.
[S. 174]
Seltsam ist dabei nur, daß, wenn ich an ein Gewissen glaube, es dadurch nicht nur entsteht , sondern auch sich ganz selbständig meinem Wunsche und Willen entgegenzustellen vermag. — — —
„Entgegen“stellen! — Sonderbar! — Es stellt sich also das Ich, das ich mir einbilde, dem Ich gegenüber, mit dem ich es mir selbst geschaffen habe, und spielt dann eine recht unabhängige Rolle. — — —
Eigentlich scheint es aber auch in andern Dingen so zu sein. Z. B. schlägt manchmal mein Herz schneller, wenn man von dem Morde spricht, und ich stehe dabei und bin doch sicher, daß sie mir nie auf die Spur kommen können. Ich erschrecke nicht im geringsten in solchen Fällen, — ich weiß es ganz genau, denn ich beobachte mich zu scharf, als daß es mir entgehen könnte; und doch fühle ich mein Herz schneller schlagen.
Die Idee mit dem Gewissen ist wirklich das Teuflischste, was je ein Priester erdacht hat. —
Wer wohl der erste war, der diesen Gedanken in die Welt brachte! — Ein Schuldiger? Kaum! Und ein Schuldloser? Ein sogenannter Gerechter? Wie hätte der sich so in die Folgen einer solchen Idee hineindenken können?! —
Es kann nur so sein, daß irgendein Alter es Kindern als Schreckgespenst dargestellt hat. Mit dem Instinkt der drohenden Wehrlosigkeit des Alters gegenüber der keimenden brutalen Kraft der Jugend. —
Ich kann mich ganz gut erinnern, wie ich noch als großer Junge für möglich gehalten hätte, daß sich die Schemen der Erschlagenen an die Fersen des Mörders heften und ihm in Visionen erscheinen. —
[S. 175]
Mörder! — Wie listig schon wieder das Wort gewählt und gebaut ist. — Mörder! Es liegt ordentlich etwas Röchelndes drin. —
Ich denke, der Buchstabe „Ö“ ist die Wurzel, aus der das Entsetzliche ausklingt. — —
Wie einen die Menschen mit Suggestionen schlau umstellt haben!
Aber ich weiß schon, wie ich solche Gefahren entwerte. Tausendmal habe ich mir dieses Wort an einem Abend vorgesagt, bis es die Schrecklichkeit für mich verloren hat. — Jetzt ist es mir ein Wort wie jedes andere. — —
— — Ich kann mir ganz gut vorstellen, daß einen ungebildeten Mörder die Wahnideen, von den Toten verfolgt zu werden, in den Irrsinn hetzen, aber nur den, der nicht überlegt, nicht wägt, nicht vorausdenkt. — Wer ist denn heutzutage gewöhnt, in brechende Augen voll Todesangst kaltblütig hineinzuschauen, ohne ein inneres Leck davonzutragen, oder in gurgelnde Kehlen den Fluch zurückzudrosseln, vor dem man sich heimlich doch fürchtet. — Kein Wunder, daß so ein Bild lebendig werden kann und dann eine Art Gewissen erzeugt, dem man schließlich erliegt. —
Wenn ich über mich nachdenke, muß ich bekennen, daß ich eigentlich geradezu genial vorgegangen bin:
Zwei Menschen kurz hintereinander zu vergiften und dabei alle Spuren des Verdachtes zu verwischen, ist wohl schon Dümmeren, als ich bin, geglückt; aber die Schuld, das eigene Schuldgefühl zu ersticken, noch ehe es geboren, das — — — Ich glaube wirklich, ich bin der einzige — — —
[S. 176]
Ja, wenn einer das Unglück hätte, allwissend zu sein, für den gäbe es schwerlich einen inneren Schutz: — so aber habe ich wohlweislich meine eigene Unwissenheit benützt und klug ein Gift gewählt, das eine Todesart erzeugt, deren Verlauf mir gänzlich unbekannt ist und auch bleiben soll:
Morphium, Strychnin, Zyankali; — alle ihre Wirkungen kenne ich oder könnte ich mir vorstellen: Verrenkungen, Krämpfe, blitzartiges Niederstürzen, Schaum vor dem Mund. — Aber Curarin! — Ich habe keine Ahnung, wie bei diesem Gift der Todeskampf aussehen mag, und wie sollte sich da eine Vorstellung in mir bilden können?! Darüber nachzulesen werde ich mich natürlich hüten, und zufällig oder unfreiwillig etwas darüber mit anhören zu müssen, ist ausgeschlossen. — Wer kennt denn heute überhaupt den Namen Curarin?!
Also! — Wenn ich mir nicht einmal ein Bild von den letzten Minuten meiner beiden Opfer (welch albernes Wort) machen kann, wie könnte mich ein solches je verfolgen? — Und sollte ich dennoch davon träumen, so kann ich mir beim Erwachen die Unhaltbarkeit einer solchen Suggestion direkt beweisen . Und welche Suggestion wäre stärker als ein solcher Beweis !
26. September
Merkwürdig, gerade heute nacht träumte ich, daß die beiden Toten links und rechts hinter mir hergingen. — Vielleicht, weil ich gestern die Idee vom Träumen niedergeschrieben habe!? —
Da gibt es jetzt nur zwei Wege, um solchen Traumbildern den Eintritt zu verrammeln:
[S. 177]
Entweder fortwährend sie sich innerlich vorzuhalten, um sich daran zu gewöhnen, wie ich es mit dem dummen Wort „Mörder“ mache, oder zweitens diese Erinnerung ganz auszureißen aus dem Gedächtnis. —
Das erstere? — Hm. — — Das Traumbild war zu scheußlich! — — Ich wähle den zweiten Weg. —
Also: „Ich will nicht mehr daran denken! Ich will nicht! Ich will nicht, nicht, nicht mehr daran denken! — Hörst du! — Du sollst gar nicht mehr daran denken! —“
Eigentlich ist diese Form: „Du sollst nicht usw.“ recht unüberlegt, wie ich jetzt bemerke, man soll sich nicht mit „Du“ anreden, — dadurch zerlegt man sozusagen sein Ich in zwei Teile: in ein Ich und ein Du, und das könnte mit der Zeit verhängnisvolle Wirkungen haben! —
5. Oktober
Wenn ich das Wesen der Suggestion nicht so genau studiert hätte, könnte ich wirklich recht nervös werden: Heute war es die achte Nacht, daß ich jedesmal von demselben Bilde geträumt habe. — Immer die zwei hinter mir her, auf Schritt und Tritt. — — Ich werde heute abend unter die Leute gehen und etwas mehr als sonst trinken. —
Am liebsten ginge ich ins Theater, — aber natürlich: gerade heute ist „Macbeth“. — — — — — — —
7. Oktober
Man lernt doch nie aus. — Jetzt weiß ich, warum ich so hartnäckig davon träumen mußte . — Paracelsus [S. 178] sagt ausdrücklich, daß man, um beständig lebhaft zu träumen, nichts anderes zu tun brauche, als ein- oder zweimal seine Träume niederzuschreiben. Das werde ich nächstens gründlich bleiben lassen.
Ob das so ein moderner Gelehrter wüßte. Aber auf den Paracelsus schimpfen, das können sie.
13. Oktober
Ich muß mir heute genau aufschreiben, was passiert ist, damit nicht in meiner Erinnerung etwa Dinge dazuwachsen, die gar nicht geschehen sind. — —
Seit einiger Zeit hatte ich das Gefühl — die Träume bin ich Gott sei Dank los —, als ob stets jemand links hinter mir ginge. —
Ich hätte mich natürlich umdrehen können, um mich von der Sinnestäuschung zu überzeugen, das wäre aber ein großer Fehler gewesen, denn schon dadurch hätte ich mir selbst gegenüber heimlich zugegeben, daß die Möglichkeit von etwas Wirklichem überhaupt vorhanden sein könne. — Das hielt so einige Tage an. — Ich blieb gespannt auf meiner Hut. —
Wie ich nun heute früh an meinen Frühstückstisch trete, habe ich wieder dieses lästige Gefühl, und plötzlich höre ich ein knirschendes Geräusch hinter mir. — Ehe ich mich fassen konnte, hatte mich der Schrecken übermannt, und ich war herumgefahren. — Einen Augenblick sah ich ganz deutlich mit wachen Augen den toten Richard Erben, grau in grau, — dann huschte das Phantom blitzschnell wieder hinter mich, — aber doch nicht mehr so weit, daß ich es nur wie vorher bloß [S. 179] ahnen kann. — Wenn ich mich ganz grad richte und die Augen stark nach links wende, kann ich seine Konturen sehen, so wie im Augenschimmer; — drehe ich aber den Kopf, so weicht die Gestalt im selben Maß zurück.
— — — — — — — — —
Es ist mir ganz klar, daß das Geräusch nur von der alten Aufwärterin verursacht sein konnte, die keinen Augenblick still ist und sich immer an den Türen herumdrückt.
Sie darf mir von jetzt ab nurmehr in die Wohnung, wenn ich nicht zu Haus bin. Ich will überhaupt keinen Menschen mehr in die Nähe haben. —
Wie mir das Haar zu Berge stand! — Ich denke mir, daß das davon kommt, daß sich einem die Kopfhaut zusammenzieht. — —
Und das Phantom? Die erste Empfindung war ein Nachwehen aus den früheren Träumen, — ganz einfach; und das Sichtbarwerden entstand ruckweise durch den plötzlichen Schrecken. — Schrecken, — Furcht, Haß, Liebe sind lauter Kräfte, die das Ich zerteilen und daher die eigenen, sonst ganz unbewußten Gedanken sichtbar machen können, daß sie sich im Wahrnehmungsvermögen wie in einem Reflektor spiegeln. —
Ich darf jetzt längere Zeit gar nicht unter Leute gehen und muß mich scharf beobachten, denn das geht so nicht mehr weiter. —
Unangenehm ist, daß all das gerade auf den Dreizehnten des Monats fallen muß. — Ich hätte wirklich gegen das alberne Vorurteil mit dem Dreizehnten, das [S. 180] eben auch in mir zu stecken scheint, von allem Anfange an energisch kämpfen sollen. — Übrigens, was liegt an diesem unwichtigen Umstand. — — —
20. Oktober
Am liebsten hätte ich meine Koffer gepackt und wäre in eine andere Stadt gefahren. —
Schon wieder hat sich die Alte an der Tür zu schaffen gemacht. —
Wieder dieses Geräusch, — diesmal rechts hinter mir. — Derselbe Vorgang wie neulich. — Jetzt sehe ich rechts meinen vergifteten Onkel, und wenn ich das Kinn auf die Brust drücke, so quasi auf meine Schultern schiele, alle beide links und rechts. —
Die Beine kann ich nicht sehen. Es scheint mir übrigens, als ob die Gestalt des Richard Erben jetzt mehr hervorgetreten, näher zu mir gekommen wäre. —
Die Alte muß mir aus dem Hause, — das wird mir immer verdächtiger, — aber ich werde noch einige Wochen ein freundliches Gesicht machen, — damit sie nicht Mißtrauen schöpft. —
Auch das Übersiedeln muß ich noch hinausschieben, es würde den Leuten auffallen, und man kann nicht vorsichtig genug sein. —
Morgen will ich wieder das Wort „Mörder“ ein paar Stunden lang üben — es fängt an, unangenehm auf mich zu wirken —, um mich wieder an den Klang zu gewöhnen. — — —
Eine merkwürdige Entdeckung habe ich heute gemacht: ich habe mich im Spiegel beobachtet und gesehen, daß ich beim Gehen mehr mit dem Ballen [S. 181] auftrete als früher und daher ein leichtes Schwanken spüre. — Die Redensart vom „festen Auftreten“ scheint einen tiefen, inneren Sinn zu haben, wie überhaupt in den Worten ein psychologisches Geheimnis zu stecken scheint. — Ich werde darauf achten, daß ich wieder mehr auf den Fersen gehe. —
Gott, wenn ich nur nicht immer über Nacht die Hälfte von dem vergäße, was ich mir tagsüber vornehme. — Rein, als ob der Schlaf alles verwischte.
1. November
Letztesmal habe ich doch absichtlich nichts über das zweite Phantom niedergeschrieben, und doch verschwindet es nicht. — Gräßlich, gräßlich. — Gibt es denn keinen Widerstand? —
Ich habe doch einmal ganz klar unterschieden, daß es zwei Wege gibt, um mich aus der Sphäre solcher Bilder zu rücken. — Ich habe doch den zweiten eingeschlagen und bin dabei immerwährend auf dem ersten! —
War ich denn damals sinnesverwirrt? —
Sind die beiden Gestalten Spaltungen meines Ichs oder haben sie ihr eigenes unabhängiges Leben?
— — — Nein, nein! — Dann würde ich sie ja füttern mit meinem eigenen Leben! — — — — — Also sind es doch wirkliche Wesen! — Grauenhaft! — Aber nein, ich betrachte sie doch nur als selbständige Wesen, und was man als Wirklichkeit betrachtet, das ist — das ist — — — Herrgott, barmherziger, ich schreibe ja nicht, wie man sonst schreibt. — Ich schreibe ja, als ob mir jemand diktierte. — [S. 182] — — — Das muß von der Geheimschrift kommen, die ich immer erst übersetzen muß, ehe ich sie fließend lesen kann. —
Morgen schreibe ich das ganze Buch noch einmal kurrent ab. — Herrgott, steh mir bei in dieser langen Nacht. — — — — — — —
10. November
Es sind wirkliche Wesen, sie haben mir im Traum ihren Todeskampf erzählt. — Jesus, schütze mich, — ja — Jesus, Jesus! — Sie wollen mich erdrosseln! — Ich habe nachgelesen; — es war die Wahrheit, — Curarin wirkt so, genau so. — Woher wüßten sie es, wenn sie nur Scheinwesen wären — —
Gott im Himmel, — warum hast du mir nie gesagt, daß man nach dem Tode weiterlebt, — ich hätte ja nicht gemordet.
Warum hast du dich mir nicht als Kind geoffenbart? — — —
— — — Ich schreibe schon wieder so, wie man spricht; und ich will nicht.
12. November
Ich sehe wieder klar, jetzt, wo ich das ganze Buch abgeschrieben habe. — Ich bin krank. Da hilft nur kalter Mut und klares Wissen.
Für morgen früh habe ich mir den Dr. Wetterstrand bestellt, der muß mir genau sagen, wo der Fehler lag. — Ich werde ihm alles haarklein berichten, er wird mir ruhig zuhören und das über Suggestion verraten, was ich noch nicht weiß. —
[S. 183]
Er kann im ersten Augenblick unmöglich für wahr halten, daß ich wirklich gemordet habe, — er wird glauben, ich sei bloß wahnsinnig. —
Und daß er es sich zu Hause nicht mehr überlegt, dafür werde ich sorgen: — — Ein Gläschen Wein!!!
13. November
— — — — — — — — —
— — — — — — — — —
[S. 184]
Melanchthon tanzte mit der Fledermaus, die den Kopf unten und oben die Füße hatte.
Die Flügel um den Leib geschlagen und in den Krallenzehen einen großen goldenen Reifen steif emporhaltend, wie um anzudeuten, daß sie von irgendwo herabhänge, sah sie ganz absonderlich aus, und es mußte einen merkwürdigen Eindruck auf Melanchthon machen, wenn er beim Tanzen beständig durch diesen Ring zu sehen gezwungen war, der genau in seine Gesichtshöhe reichte.
Sie war eine der originellsten Masken auf dem Feste des persischen Prinzen — auch eine der scheußlichsten allerdings — diese Fledermaus. —
Sogar Seiner Durchlaucht Mohammed Darasche-Koh, dem Gastgeber, war sie aufgefallen.
„ Schöne Maske, ich kenne dich“, hatte er ihr zugeflüstert und damit große Heiterkeit bei den Nebenstehenden erregt.
„Es ist bestimmt die kleine Marquise, die intime [S. 185] Freundin der Fürstin“, meinte ein holländischer Ratsherr, gekleidet im Stile Rembrandts —, es könne gar nicht anders sein; jeden Winkel wisse sie im Schlosse — ihren Reden nach —, und vorhin, als mehreren Kavalieren der „frostige“ Einfall gekommen, sich von dem alten Kammerdiener Filzstiefel und Fackeln bringen zu lassen, um draußen im Parke Schneeballen zu werfen, wobei die Fledermaus ausgelassen mitgetollt habe, hätte er wetten mögen, ein ihm wohlbekanntes Hyazintharmband an ihrem Handgelenk aufblitzen gesehen zu haben.
„Ach, wie interessant,“ mischte sich ein blauer Schmetterling ins Gespräch, — „könnte da nicht Melanchthon vorsichtig ein wenig sondieren, ob Graf de Faast, wie es in letzter Zeit den Anschein hat, bei der Fürstin wirklich Hahn im Korbe ist?“
„Ich warne dich, Maske, sprich nicht so laut“, unterbrach ernst der holländische Ratsherr. „Nur gut, daß die Musik den Walzerschluß fortissimo spielte, — vor wenigen Augenblicken noch stand der Prinz hier ganz in der Nähe!“
„Ja ja, am besten kein Wort über solche Dinge,“ riet flüsternd ein ägyptischer Anubis, „die Eifersucht dieses Asiaten kennt keine Grenzen; und es liegt vielleicht mehr Zündstoff im Schlosse aufgehäuft, als wir alle ahnen. — Graf de Faast spielt schon zu lange mit dem Feuer, und wenn Darasche-Koh wüßte — —“
Eine rauhe, zottige Figur, ein geschlungenes Knäuel aus Seil darstellend, bahnte sich — in wilder Flucht vor einem hellenischen Krieger in schimmerndem Waffenschmuck — eine Gasse durch die Gruppe der [S. 186] Masken, die den beiden verständnislos nachsahen, wie sie auf flinken Gummisohlen über den spiegelglatten Steinboden huschten.
„Hättest du denn keine Angst, durchgehauen zu werden, Mynheer Kannitverstahn, wenn du der gordische Knoten wärest und wüßtest, daß Alexander der Große hinter dir her ist?“ spottete die umgekehrte Fledermaus und tippte mit dem Fächer auf des Holländers ernsthafte Nase.
„Ei, ei, ei, schöne Marquise Fledermaus, der scharfe Geist verrät sich stets“, scherzte ein baumlanger „Junker Hans“ mit Schweif und Pferdefuß. „Wie schade, ach wie schade, daß man dich — Füßchen oben — nur als Fledermaus so auf dem Kopfe stehen sehen darf.“
Jemand stieß ein brüllendes Gelächter aus.
Alle drehten sich um und sahen einen dicken Alten mit breiten Hosen und einem Ochsenkopf.
„Ah, der pensionierte Herr Handelsgerichtsvizepräsident hat gelacht“, sagte trocken der „Junker Hans“.
Da ertönt dumpfes Läuten, und ein Henker im roten Talar der westfälischen Feme, eine erzene Glocke schwingend, stellt sich inmitten des ungeheuren Saales auf — über sein blitzendes Beil gelehnt.
Aus den Nischen und Loggien strömen die Masken herbei: Harlekins, „ Ladies with the rose “, Menschenfresser, Ibisse und gestiefelte Kater, Piquefünfe, Chinesinnen, deutsche Dichter mit der Aufschrift: „Nur ein Viertelstündchen“, Don Quichottes und Wallensteinsche Reiter, Kolombinen, Bajaderen und Dominos in allen Farben.
[S. 187]
Der rote Henker verteilt Täfelchen aus Elfenbein mit Goldschrift unter die Menge.
„Ah, Programme für die Vorstellung!!“
„Was?! Vom Prinzen selbst ist das Puppenspiel?“
„Vermutlich eine Szene aus Tausendundeiner Nacht?“
„Wer wird denn die Dame in der Sänfte geben?“ hört man neugierige Stimmen durcheinander fragen.
„Unerhörte Überraschungen stehen uns heute noch bevor, o ja,“ zwitschert ein niedlicher Incroyable in Hermelin und hängt sich in einen Abbé ein, — „weißt du, der Pierrot vorhin, mit dem ich die Tarantella tanzte, das war der Graf de Faast, der den Mann in der Flasche spielen wird, und er hat mir viel anvertraut: — Die Marionetten werden schrecklich unheimlich sein, aber nur für die, die es verstehen, weißt du — und einen — — — — Elefanten hat der Prinz eigens aus Hamburg telegraphisch bestellt — — aber du hörst mir ja gar nicht zu!“ — Und ärgerlich [S. 188] läßt die Kleine den Arm ihres Begleiters los und läuft davon.
Durch die weiten Flügeltüren fluten immer neue Scharen von Masken aus den Nebengemächern in die Festeshalle, sammeln sich planlos in der Mitte, laufen durcheinander wie das ewig wechselnde Farbenspiel eines Kaleidoskops, oder drücken sich an den Wänden zusammen, die wundervollen Fresken Ghirlandajos zu bestaunen, die, bis zur blauen, sternenbesäten Decke emporsteigend, gleich Märchengeländen den Saal umrahmen.
Wie eine buntschillernde Insel des Lebens liegt die Halle, umspült von den Gefilden farbengebundener Phantasien, die, einst in froh pochenden Künstlerherzen erwacht, eine jetzt kaum mehr verständlich einfache und langsame Sprache den hastenden Seelen des Heute zuraunen.
— — — — — — — — —
Diener reichen Erfrischungen auf Silbertassen in das fröhliche Gewoge — Sorbet und Wein. — — Sessel werden gebracht und in die Fensternischen gestellt.
Mit scharrendem Geräusch schieben sich die Wände der einen Schmalseite zurück, und langsam rollt eine Bühne aus dem Dunkel vor, mit rotbraun und gelb geflammter Umrahmung und weißen Zähnen oben und unten: ein stilisierter, gähnender Tigerrachen.
In der Mitte der Szene steht eine riesige kugelförmige Flasche. Aus fußdickem Glas. Fast zwei Mann hoch und sehr geräumig. Rosa Seidenvorhänge im Hintergrunde des Theaters. —
Die kolossalen Ebenholztüren des Saales fliegen [S. 189] auf, und mit majestätischer Ruhe tritt ein Elefant — gold- und juwelengeschmückt — herein. Auf seinem Nacken der rote Henker lenkt ihn mit dem Stiel seines Beiles.
Von den Spitzen der Stoßzähne schwingen Ketten von Amethysten, nicken Wedel aus Pfauenfedern.
Goldgewirkte Decken hängen dem Tier in rosinfarbenen Quasten über die Flanken bis auf den Boden herab.
Die ungeheure Stirne hinter einem Netz mit funkelnden Edelsteinen, schreitet der Elefant gelassen durch den Festraum.
In Zügen umdrängen ihn die Masken und jauchzen der bunten Schar vornehmer Darsteller zu, die in einem Palankin auf seinem Rücken sitzen: Prinz Darasche-Koh mit Turban und Reiheragraffe. — Graf de Faast als Pierrot daneben. — Marionetten und Musikanten lehnen starr und steif wie Holzpuppen.
Der Elefant ist bei der Bühne angelangt und hebt mit dem Rüssel Mann um Mann aus dem Palankin; — Händeklatschen und lauter Jubel, als er den Pierrot nimmt und in den Hals der Flasche hinabgleiten läßt, dann den Metalldeckel schließt und den Prinzen obendrauf setzt.
Die Musikanten haben sich im Halbkreis niedergelassen und ziehen seltsame, dünne, gespenstisch aussehende Instrumente hervor.
Ernsthaft sieht der Elefant ihnen zu, dann kehrt er langsam um und schreitet zum Eingang zurück. Toll und ausgelassen wie Kinder hängen sich ihm scharenweise die Masken an Rüssel, Ohren und Stoßzähne [S. 190] und wollen ihn jauchzend zurückhalten; — — er spürt ihr Zerren kaum.
Die Vorstellung beginnt. Irgendwoher, wie aus dem Boden herauf, tönt leise Musik. —
Puppenorchester und Marionetten bleiben leblos wie aus Wachs.
Der Flötenbläser stiert mit gläsernem, blödsinnigem Ausdruck zur Decke — die Züge der Rokokodirigentin in Perücke und Federhut, den Taktstock wie lauschend erhoben und den spitzen Finger geheimnisvoll an die Lippen gelegt, sind in grauenhaft lüsternem Lächeln verzerrt.
Im Vordergrund der Bühne die Marionetten — ein buckliger Zwerg mit kalkweißem Gesicht, ein grauer grinsender Teufel und eine fahle geschminkte Sängerin mit roten lechzenden Lippen — scheinen in satanischer Bosheit um ein schreckliches Geheimnis zu wissen, das sie in brünstigem Krampfe erstarren ließ. — — —
Das haarsträubende Entsetzen des Scheintodes brütet über der regungslosen Gruppe.
— — Nur der Pierrot in der Flasche ist in ruheloser Bewegung, — schwenkt seinen spitzen Filzhut, verbeugt sich, und mitunter grüßt er hinauf zu dem persischen Prinzen, der mit gekreuzten Beinen unbeweglich auf dem Deckel der Flasche sitzt, — dann wieder schneidet er tolle Grimassen.
Seine Luftsprünge bringen die Zuschauer zum Lachen, — — — — wie grotesk er aussieht!
Die dicken Glaswände verzerren seinen Anblick so seltsam; — manchmal hat er Glotzaugen, die hervorquellen [S. 191] und so wunderlich funkeln, dann wieder gar keine Augen, nur Stirne und Kinn, — oder ein dreifaches Gesicht; — zuweilen ist er dick und gedunsen, dann wieder skelettartig dürr und langbeinig wie eine Spinne. — Oder sein Bauch schwillt zur Kugel an.
Jeder sieht ihn anders, je nachdem der Blick auf die Flasche fällt.
In gewissen kurzen Zeiträumen ohne jeden erkennbaren, logischen Zusammenhang kommt ruckweise ein spukhaftes, sekundenlanges Leben in die Gestalten, das gleich darauf wieder in die alte, grauenvolle Leichenstarre versinkt, daß es scheint, als hüpfe das Bild über tote Zwischenräume hinweg von einem Eindruck zum andern, — wie der Zeiger einer Turmuhr traumhaft von Minute zu Minute zuckt.
Einmal hatten die Figuren aus schnellenden Kniekehlen heraus drei gespenstische Tanzschritte seitwärts der Flasche zu gemacht; — und im Hintergrund verrenkte sich ein verwachsenes Kind wie in lasterhafter Qual. —
Von den Musikanten einer — ein Baschkir mit irrem, wimpernlosem Blick und birnenförmigem Schädel — nickte dazu und spreizte mit einem Ausdruck schreckhafter Verworfenheit seine dürren, gräßlichen Finger, die trommelschlegelartig in kugelförmige Enden ausliefen, wie wächserne Symbole einer geheimnisvollen Entartung.
Dann wieder war an die Sängerin ein phantastisches weibliches Zwitterwesen herangesprungen — mit langen, schlotternden Spitzenhöschen — und in tänzelnder Stellung erstarrt.
[S. 192]
Wie erfrischendes Aufatmen wirkte es förmlich, als mitten in eine solche Pause der Regungslosigkeit durch die rosaseidenen Vorhänge aus dem Hintergrunde eine verschlossene Sänfte aus Sandelholz von zwei Mohren auf die Szene getragen und in der Nähe der Flasche niedergestellt wurde, auf die jetzt von oben plötzlich ein fahles, mondscheinartiges Licht fiel.
Die Zuschauer waren sozusagen in zwei Lager geteilt, die einen — unfähig sich zu rühren und sprachlos — ganz im Banne dieser traumhaft vampyrartigen, rätselhaften Marionettentänze, von denen ein dämonisches Fluidum vergifteter, unerklärlicher Wollust ausströmte, — während die andere Gruppe, zu plump für derlei seelische Schrecken, nicht aus dem Lachen über das spaßige Gebaren des Mannes in der Flasche herauskam.
Dieser hatte zwar die lustigen Tänze aufgegeben, aber sein jetziges Benehmen kam ihnen nicht minder komisch vor.
Durch alle möglichen Mittel trachtete er offenbar, irgend etwas ihm äußerst dringend Scheinendes dem auf dem Flaschendeckel sitzenden Prinzen verständlich zu machen.
Ja, er schlug und sprang zuletzt gegen die Wandungen, als wolle er sie zerbrechen oder gar die Flasche umwerfen.
Dabei hatte es den Anschein, als schreie er laut, obwohl natürlich nicht das leiseste Geräusch durch das fußdicke Glas drang.
Die pantomimischen Gebärden und Verrenkungen des Pierrots beantwortete der Perser von Zeit zu Zeit [S. 193] mit einem Lächeln, — oder er wies mit dem Finger auf die Sänfte.
Die Neugier des Publikums erreichte den Höhepunkt, als man bei einer solchen Gelegenheit deutlich bemerkte, daß der Pierrot sein Gesicht längere Zeit fest an das Glas drückte, wie um etwas drüben am Sänftenfenster zu erkennen, dann aber plötzlich wie ein Wahnsinniger die Hände vor den Kopf schlug, als hätte er etwas Gräßliches erblickt, auf die Knie fiel und sich die Haare raufte. — Dann sprang er auf und raste mit solcher Schnelle in der Flasche herum, daß man bei den spiegelnden Verzerrungen manchmal nur noch ein helles, umherflatterndes Tuch zu sehen vermeinte.
Groß war auch das Kopfzerbrechen im Publikum, was es denn eigentlich mit der „Dame in der Sänfte“ für eine Bewandtnis habe; man konnte wohl wahrnehmen, daß ein weißes Gesicht an das Sänftenfenster gepreßt war und unbeweglich zur Flasche hinübersah, — alles andere aber verdeckte der Schatten, und man war auf bloßes Raten angewiesen.
„Was nur der Sinn dieses unheimlichen Puppenspieles sein mag?“ flüsterte der blaue Domino und schmiegte sich ängstlich an den „Junker Hans“.
Erregt und mit gedämpfter Stimme tauschte man seine Meinungen aus.
Einen so recht eigentlichen Sinn habe das Stück nicht, — — nur Dinge, die nichts Gehirnliches bedeuten, könnten den verborgenen Zutritt zur Seele finden, — meinte ein Feuersalamander, und so, wie es [S. 194] Menschen gebe, die beim Anblick der wässerigen Absonderungen blutleerer Leichen, von erotischem Taumel geschüttelt, kraftlose Schreie der Verzückung ausstoßen, so gebe es gewiß auch — — — — — —
„Kurz und gut: Wollust und Entsetzen wachsen auf einem Holz,“ unterbrach die Fledermaus, „aber glaubt mir, ich zittere am ganzen Körper vor Aufregung, es liegt etwas unsagbar Grauenhaftes in der Luft, das ich nicht abschütteln kann; immer wieder legt es sich um mich wie dicke Tücher. — Geht das von dem Puppenspiel aus? — Ich sage: nein; auf mich strömt es vom Prinzen Darasche-Koh über. Warum sitzt er so scheinbar teilnahmlos da oben auf der Flasche? Und doch läuft manchmal ein Zucken über sein Gesicht!! — — — Irgend etwas Unheimliches geht hier vor, ich lasse mir’s nicht nehmen.“
„Eine gewisse symbolische Bedeutung glaube ich doch herausgefunden zu haben, und dazu paßt ganz gut, was du eben sagtest“, mischte sich Melanchthon in das Gespräch. „Ist denn nicht der ‚Mann in der Flasche‘ der Ausdruck der im Menschen eingeschlossenen Seele, die ohnmächtig zusehen muß, wie die Sinne — die Marionetten — sich frech ergötzen, und wie alles der unaufhaltsamen Verwesung im Laster entgegengeht?“
Lautes Gelächter und Händeklatschen schnitt ihm die Rede ab.
Der Pierrot hatte sich auf dem Boden der Flasche zusammengekrümmt und umkrallte mit den Fingern seinen Hals. — Dann wieder riß er den Mund weit [S. 195] auf, deutete in wilder Verzweiflung auf seine Brust und nach oben — und faltete schließlich flehend die Hände, als wolle er etwas vom Publikum erbitten.
„Er will zu trinken haben, — na ja, so eine große Flasche und kein Sekt drin — gebt ihm doch zu trinken, ihr Marionetten“, rief ein Zuschauer.
Alles lachte und klatschte Beifall.
Da sprang der Pierrot wieder auf, riß sich die weißen Kleider von der Brust, machte eine taumelnde Bewegung und fiel der Länge nach zu Boden.
„Bravo, bravo, Pierrot — großartig gespielt. Da capo, da capo! “ jubelte die Menge.
Als jedoch der Mann sich nicht mehr rührte und keine Miene machte, die Szene zu wiederholen, legte sich langsam der Applaus, und die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich den Marionetten zu.
Diese standen noch immer in derselben geisterhaften Stellung, die sie zuletzt eingenommen hatten, doch lag jetzt eine Art Spannung in ihren Mienen, die früher nicht wahrzunehmen gewesen. Es schien, als ob sie auf irgendein Stichwort warteten.
Der bucklige Zwerg mit dem kalkweißen Gesicht drehte schließlich vorsichtig seine Augen nach dem Prinzen Darasche-Koh. —
Der Perser rührte sich nicht.
Seine Züge sahen verfallen aus.
Endlich trat von den Figuren im Hintergrund einer der Mohren zögernd an die Sänfte heran und öffnete den Schlag.
Und da geschah etwas höchst Seltsames.
[S. 196]
Steif fiel ein nackter weiblicher Körper heraus und schlug mit dumpfem Klatschen lang hin.
Einen Augenblick Totenstille, dann schrien tausend Stimmen durcheinander — — — es brauste der Saal.
„Was ist’s — was ist geschehen?!“
Marionetten, Affen, Musikanten — alles sprang zu; Masken schwangen sich auf die Bühne:
Die Fürstin, die Gemahlin Darasche-Kohs lag da, ganz nackt; auf ein stählernes Stangengerüst geschnürt. Die Stellen, wo die Stricke in das Fleisch einschnitten, waren blau unterlaufen.
Im Munde stak ihr ein seidener Knebel. —
Unbeschreibliches Entsetzen lähmte alle Arme.
— „Der Pierrot!“ gellte plötzlich eine Stimme, — „der Pierrot!“ — Eine wahnsinnige, unbestimmte Angst fuhr wie ein Dolchstoß in alle Herzen.
— „Wo ist der Prinz?!“
Der Perser war während des Tumultes spurlos verschwunden.
— — — — — — — — —
Schon stand Melanchthon auf den Schultern des Junker Hans; vergebens, — — er konnte den Deckel der Flasche nicht heben, und das kleine Luftventil war — — — — zugeschraubt ! —
„So schlagt doch die Wandungen ein, schnell, schnell!“
Der holländische Ratsherr entriß dem roten Henker das Beil, mit einem Satz sprang er auf die Bühne.
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Es klang wie eine geborstene Glocke, als die Schläge schmetternd niederfielen; — ein schauerlicher Ton.
Tiefe Sprünge zuckten durch das Glas wie weiße Blitze; die Schneide der Axt bog sich.
Endlich — endlich — — — die Flasche brach in Trümmer.
Darinnen lag, erstickt, die Leiche des Grafen de Faast, die Finger in die Brust gekrallt.
Durch die Festeshalle mit lautlosem Flügelschlag unsichtbar zogen die schwarzen Riesenvögel des Entsetzens.
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Die beiden Freunde saßen an einem Eckfenster des Café Radetzky und steckten die Köpfe zusammen.
„Er ist fort, — heute nachmittag mit seinem Diener nach Berlin gefahren. — Das Haus ist vollkommen leer; — ich komme soeben von dort und habe mich genau überzeugt; — die beiden Perser waren die einzigen Bewohner.“
„Also ist er doch auf das Telegramm hereingefallen?!“
„Darüber war ich keinen Moment im Zweifel; wenn er den Namen Fabio Marini hört, ist er nicht zu halten.“
„Wundert mich eigentlich, denn er hat doch Jahre mit ihm zusammengelebt, — bis zu seinem Tode, — was könnte er da noch Neues über ihn in Berlin erfahren?“
„Oho! Professor Marini soll ihm noch vieles geheim gehalten haben; — er hat es selbst einmal so gesprächsweise fallen lassen, — ungefähr vor einem halben Jahr, als unser guter Axel noch unter uns war.“
„Ist denn tatsächlich etwas Wahres an dieser geheimnisvollen Präparationsmethode Fabio Marinis? — Glaubst du wirklich so fest daran, Sinclair? —“
[S. 199]
„Von ‚glauben‘ kann hier gar keine Rede sein. Mit diesen Augen habe ich in Florenz eine von Marini präparierte Kindesleiche gesehen. Ich sage dir, jeder hätte geschworen, daß das Kind bloß schlafe, — keine Spur von Starre, keine Runzeln, keine Falten — sogar die rosa Hautfarbe eines Lebendigen war vorhanden.“
„Hm. — Du denkst, der Perser könnte wirklich Axel ermordet und — — —“
„Das weiß ich nicht, Ottokar, aber es ist denn doch unser beider Gewissenspflicht, uns Gewißheit über Axels Schicksal zu verschaffen. — Was, wenn er damals durch irgendein Gift bloß in eine Art Totenstarre versetzt worden wäre! — Gott, wie habe ich auf dem anatomischen Institut den Ärzten zugeredet, — sie angefleht, noch Wiederbelebungsversuche zu machen. — — — Was wollen Sie denn eigentlich, hieß es, — der Mann ist tot, das ist klar, und ein Eingriff an der Leiche ohne Erlaubnis des Doktor Darasche-Koh ist unzulässig. Und sie wiesen mir den Kontrakt vor, in dem ausdrücklich stand, daß Axel dem jeweiligen Inhaber dieses Scheines seinen Körper nach dem Tode verkaufe und dafür bereits am so und sovielten 500 fl. in Empfang genommen und quittiert habe.“
„Nein, — es ist gräßlich, — und so etwas hat in unserem Jahrhundert noch Gesetzeskraft. — So oft ich daran denke, faßt mich eine namenlose Wut. — Der arme Axel! — Wenn er eine Ahnung gehabt hätte, daß dieser Perser, sein wütendster Feind, der [S. 200] Besitzer des Kontraktes sein könnte! — Er war immer der Ansicht, das anatomische Institut selbst — —“
„Und konnte denn der Advokat gar nichts ausrichten? —“
„Alles umsonst. — Nicht einmal das Zeugnis des alten Milchweibes, daß Darasche-Koh einmal in seinem Garten bei Sonnenaufgang den Namen Axels so lange verflucht habe, bis ihm im Paroxysmus der Schaum vor den Mund getreten sei, wurde beachtet. — — Ja, wenn Darasche-Koh nicht europäischer medicinae doctor wäre! — Wozu aber noch reden, — willst du mitgehen oder nicht, Ottokar? Entschließe dich.“
„Gewiß will ich — aber bedenke, wenn man uns erwischt — als Einbrecher! — Der Perser hat einen tadellosen Ruf als Gelehrter! Der bloße Hinweis auf unseren Verdacht ist doch, — weiß Gott, — kein plausibler Grund. — Nimm es mir nicht übel, aber ist es wirklich ganz ausgeschlossen, daß du dich geirrt hast, als du Axels Stimme vernahmst? — — Fahre nicht auf, Sinclair, bitte, — sage mir noch einmal genau, wie das damals geschah. — Warst du nicht vielleicht schon vorher irgendwie aufgeregt?“
„Aber gar keine Spur! — Eine halbe Stunde früher war ich auf dem Hradschin und sah mir wieder einmal die Wenzelskapelle und den Veitsdom an, diese alten fremdartigen Bauten mit ihren Skulpturen wie aus geronnenem Blut, die immer von neuem einen so tiefen, unerhörten Eindruck auf unsere Seele machen, — und den Hungerturm und die Alchimistengasse. — Dann ging ich die Schloßstiege hinab und bleibe [S. 201] unwillkürlich stehen, da die kleine Tür, die durch die Mauer zum Hause Darasche-Kohs führt, offen ist. — Im selben Augenblick höre ich deutlich, — es mußte aus dem Fenster herübertönen — eine Stimme (und ich schwöre einen heiligen Eid darauf: es war Axels Stimme) — rufen:
Eins — — zwei — — drei — — vier. —
Ach Gott, wäre ich doch damals sofort in die Wohnung eingedrungen; — aber ehe ich mich recht besinnen konnte, hatte der türkische Diener Darasche-Kohs die Mauerpforte zugeschlagen. — Ich sage dir, wir müssen in das Haus! — Wir müssen! — Was, wenn Axel wirklich noch lebte! — Schau, — man kann uns ja gar nicht erwischen. — Wer geht denn nachts über die alte Schloßstiege, ich bitte dich, — und ich kann jetzt mit Sperrhaken umgehen, daß du staunen wirst.“
*
Die beiden Freunde hatten sich bis zur Dunkelheit in den Straßen umhergetrieben, ehe sie ihren Plan ausführten. Dann waren sie über die Mauer geklettert und standen endlich vor dem altertümlichen Hause, das dem Perser gehörte.
Das Gebäude — einsam auf der Anhöhe des Fürstenbergschen Parkes — lehnt wie ein toter Wächter an der Seitenmauer der grasbewachsenen Schloßstiege.
„Dieser Garten, diese alten Ulmen da unten haben etwas namenlos Grauenhaftes,“ flüsterte Ottokar [S. 202] Dohnal, „sieh nur, wie drohend sich der Hradschin vom Himmel abhebt. — Und diese erleuchteten Nischenfenster dort in der Burg! — Wahrhaftig, es weht eine seltsame Luft hier auf der Kleinseite. — Als ob sich alles Leben tief in die Erde zurückgezogen hätte — aus Angst vor dem lauernden Tode. Hast du nicht auch das Gefühl, daß eines Tages dieses schattenhafte Bild plötzlich versinken könnte — wie eine Vision, — eine Fata morgana , — daß dieses schlafende zusammengekauerte Leben wie ein gespenstisches Tier zu etwas Neuem, Schreckhaftem erwachen müßte? — Und sieh nur, da unten die weißen Kieswege — wie Adern.“ —
„Komm doch schon,“ drängte Sinclair, „mir schlottern die Knie vor Aufregung, — hier, — halte mir unterdessen den Situationsplan.“ — — — — —
Die Tür war bald geöffnet, und die beiden tappten eine alte Treppe empor, auf die der dunkle Sternenhimmel durch die runden Fenster kaum einen Schein warf.
„Nicht anzünden, man könnte von unten — vom Gartenhaus — das Licht bemerken, hörst du, Ottokar! Geh dicht hinter mir. — — — —
Achtung, hier ist eine Stufe ausgebrochen. — — — — — Die Gangtür ist offen — — — — hier, hier — links.“
Sie standen plötzlich in einem Zimmer.
„So mach’ doch keinen solchen Lärm!“
„Ich kann nicht dafür: die Tür ist von selbst wieder zugefallen.“
— — — — — — — — —
[S. 203]
„Wir werden Licht machen müssen. Ich fürchte jeden Augenblick etwas umzuwerfen, es stehen soviel Stühle im Weg.“
In diesem Moment blitzte ein blauer Funken an der Wand auf, und ein Geräusch wurde hörbar — wie ein seufzendes Einatmen.
Leises Knirschen schien aus dem Boden, aus allen Fugen zu dringen.
Eine Sekunde wieder Totenstille. — Dann zählte laut und langsam eine röchelnde Stimme:
Eins — — — zwei — — — drei — — —
Ottokar Dohnal schrie auf, kratzte wie wahnsinnig an seiner Streichholzschachtel, — seine Hände flogen vor grauenhaftem Entsetzen. — Endlich Licht — Licht! Die beiden Freunde blickten sich in die kalkweißen Gesichter: „Axel!“ —
— vier — fünf — sssechss — siiieben
Dort aus der Nische kommt das Zählen.
„Die Kerze anzünden! Rasch, rasch!“
— acht — neun — zeeeehn — elf —
— — — — — — — — —
Von der Decke der Wandvertiefung an einem Kupferstab hing ein menschlicher Kopf mit blondem Haar. — Der Stab drang mitten in die Scheitelwölbung. — Der Hals war unter dem Kinn mit einer seidenen Schärpe umwickelt — — und darunter mit Luftröhren und Bronchien die zwei rötlichen Lungenflügel. — Dazwischen bewegte sich rhythmisch das Herz, — mit goldenen Drähten umwunden, die auf den Boden zu [S. 204] einem kleinen elektrischen Apparate führten. — Die Adern, straff gefüllt, leiteten Blut aus zwei dünnhalsigen Flaschen empor.
Ottokar Dohnal hatte die Kerze auf einen kleinen Leuchter gestellt und klammerte sich an seines Freundes Arm, um nicht umzufallen.
Das war Axels Kopf, die Lippen rot, mit blühender Gesichtsfarbe, wie lebend. — Die Augen, weit aufgerissen, starrten mit einem gräßlichen Ausdruck auf einen Brennspiegel an der gegenüberliegenden Wand, die mit turkmenischen und kirgisischen Waffen und Tüchern bedeckt schien. — Überall die bizarren Muster orientalischer Gewebe. —
Das Zimmer war voll präparierter Tiere — Schlangen und Affen in seltsamen Verrenkungen lagen unter umhergestreuten Büchern. —
In einer gläsernen Wanne auf einem Seitentische schwamm ein menschlicher Bauch in einer bläulichen Flüssigkeit.
Die Gipsbüste Fabio Marinis blickte von einem Postamente ernst auf das Zimmer herab. —
Die Freunde konnten kein Wort hervorbringen; hypnotisiert starrten sie auf das Herz dieser furchtbaren menschlichen Uhr, das wie lebendig zitterte und schlug.
„Um Gottes willen — fort von hier — ich werde ohnmächtig. — Verflucht sei dieses persische Ungeheuer.“
Sie wollten zur Tür. —
Da! — Wieder dieses unheimliche Knirschen, das aus dem Munde des Präparates zu kommen schien. —
[S. 205]
Zwei blaue Funken zuckten auf und wurden von dem Brennspiegel gerade auf die Pupillen des Toten reflektiert.
Seine Lippen öffneten sich, — schwerfällig streckte sich die Zunge vor, — bog sich hinter die Vorderzähne, — und die Stimme röchelte:
Ein Vier — rrr — tel.
Dann schloß sich der Mund, und das Gesicht stierte wieder geradeaus. —
„Gräßlich!! — Das Gehirn funktioniert — lebt. — — — — — Fort — fort — ins Freie — — hinaus! — Die Kerze, — nimm die Kerze, Sinclair!“
„So öffne doch, um Himmels willen — warum öffnest du nicht?“
„Ich kann nicht, da — da, schau!“
Die innere Türklinke war eine menschliche Hand, mit Ringen geschmückt. — Die Hand des Toten; die weißen Finger krallten ins Leere. —
„Hier, hier, nimm das Tuch! Was fürchtest du dich — — es ist doch unseres Axels Hand!“
— — — — — — — — —
Sie standen wieder auf dem Gang und sahen, wie die Tür langsam ins Schloß fiel.
Eine schwarze gläserne Tafel hing daran:
Dr.
Mohammed Darasche-Koh
Anatom.
Die Kerze flackerte im Luftzug, der über die ziegelsteinerne Treppe emporwehte.
Da taumelte Ottokar an die Wand und sank stöhnend [S. 206] in die Knie: „Hier! — Das da — —“, er wies auf den Glockenzug.
Sinclair leuchtete näher hin.
Mit einem Schrei sprang er zurück und ließ die Kerze fallen. — —
Der blecherne Leuchter klirrte von Stein zu Stein.
— — — — — — — — —
Wie wahnsinnig, — die Haare gesträubt, — mit pfeifendem Atem rasten sie in der Finsternis die Stufen hinab.
„Persischer Satan! — Persischer Satan!“
[S. 207]
Um sechs Uhr ist es längst dunkel in den Sträflingszellen des Landgerichts, denn Kerzen sind dort nicht gestattet, und überdies war es Winterabend — neblig und sternenlos. —
Der Aufseher ging mit dem schweren Schlüsselbund von Tür zu Tür, leuchtete noch einmal durch die kleinen vergitterten Ausschnitte, — wie es seine Pflicht ist, — und überzeugte sich, daß die Eisenstangen vorgelegt waren. — Endlich verhallte sein Schritt, und die Ruhe des Jammers lag über all den Unglücklichen, die der Freiheit beraubt — immer vier beisammen — in den trostlosen Zellen auf ihren hölzernen Bänken schliefen.
Der alte Jürgen lag auf dem Rücken und blickte zu dem kleinen Kerkerfenster empor, das wie mattleuchtender Dunst aus der Finsternis schimmerte. — Er zählte die langsamen Schläge der mißtönenden Turmglocke und überlegte, was er morgen vor den Geschworenen sagen wollte, und ob er wohl freigesprochen würde. —
Das Gefühl der Empörung und des wilden Hasses, daß man ihn, wo er doch vollkommen unschuldig war, so lange eingesperrt hielt, hatte ihn in den ersten Wochen bis in den Traum verfolgt, und oft hätte er vor Verzweiflung am liebsten aufgeschrien. —
[S. 208]
Aber die dicken Mauern und der enge Raum — kaum fünf Schritte lang — schlagen den Schmerz nach innen und lassen ihn nicht heraus; — dann lehnt man nur die Stirn an die Wand oder steigt auf die Holzbank, um einen Streifen blauen Himmels durch das Kerkergitter zu sehen.
Jetzt waren diese Regungen erloschen, und andere Sorgen, die der freie Mensch nicht kennt, drückten ihn nieder. —
Ob er morgen freigesprochen würde oder verurteilt, regte ihn nicht einmal so sehr auf, wie er sich früher wohl gedacht hatte. — Geächtet war er, was blieb ihm da als Betteln und Stehlen!
Und fiel das Urteil, so würde er sich erhenken — bei der nächsten besten Gelegenheit, — und sein Traum wäre in Erfüllung gegangen, den er in der ersten Nacht in diesen verfluchten Mauern gehabt.
Seine drei Gefährten lagen schon lange still; — sie hatten nichts Neues zu hoffen, daß sie wach geblieben wären, und die langen Freiheitsstrafen kürzt nur der Schlaf. — Er aber konnte nicht schlafen, seine trübe Zukunft und trübe Bilder der Erinnerung zogen an ihm vorbei: anfangs, als er noch ein paar Kreuzer besaß, hatte er sein Los verbessern, sich hie und da eine Wurst und etwas Milch, manchmal einen Kerzenstummel kaufen können, solange er mit Untersuchungsgefangenen beisammen bleiben durfte. — Später hatte man ihn zu den Sträflingen gesteckt, aus Bequemlichkeitsgründen — und in diesen Zellen wird es bald Nacht — auch in der Seele. —
Den ganzen langen Tag sitzt man und brütet vor [S. 209] sich hin, die Ellbogen auf die Knie gestützt, — nur ab und zu eine Unterbrechung, wenn der Schließer die Tür öffnet und ein Sträfling schweigend den Wasserkrug trägt oder die Blechtöpfe mit den gekochten Erbsen. —
Da hatte er stundenlang gegrübelt, wer den Mord wohl mochte begangen haben, und immer klarer war es ihm geworden, daß nur sein Bruder der Täter sein könne. — Der Bursche war nicht umsonst so schnell verschwunden. —
Dann dachte er wieder an die morgige Gerichtsverhandlung und den Advokaten, der ihn verteidigen sollte.
Er hielt nicht viel von ihm. Der Mann war immer so zerstreut gewesen und hatte nur mit halbem Ohr zugehört und so devot wie möglich gekatzenbuckelt, wenn der Untersuchungsrichter hinzugetreten war. — Aber offenbar gehörte das schon so mit dazu. — —
Jürgen hörte noch von weitem das Rasseln der Droschke, die immer um dieselbe Stunde am Gerichtsgebäude vorbeifuhr. — Wer wohl darin sitzen mochte? — Ein Arzt — ein Beamter vielleicht. — Wie scharf die Hufeisen auf dem Pflaster klangen. — — —
— — — — — — — — —
Die Geschworenen hatten Jürgen freigesprochen, — — aus Mangel an Beweisen — und jetzt ging er zum letzten Male hinunter in die Zelle.
Die drei Sträflinge sahen stumpf zu, wie er mit zitternden Händen einen alten Kragen am Hemde befestigte und seinen dünnen schäbigen Sommeranzug anlegte, den ihm der Aufseher hereingebracht hatte. — [S. 210] Die Zuchthauskleider, in denen er acht Monate gelitten, warf er mit einem Fluche unter die Bank. — Dann mußte er in die Kanzlei beim Eingangstor, — der Kerkermeister schrieb etwas in ein Buch und ließ ihn frei. —
Es kam ihm alles so fremd vor auf der Straße: die eiligen Menschen, die gehen durften, wohin sie wollten und das so selbstverständlich fanden, — und der eisige Wind, der einen fast umwarf. —
Vor Schwäche mußte er sich an einem Alleebaum halten, und sein Blick fiel auf die steinerne Aufschrift über dem Torbogen:
„ Nemesis bonorum custos. “ — Was das wohl heißen mag? —
Die Kälte machte ihn müde; zitternd schleppte er sich zu einer Bank in den Parkgebüschen und schlief ermattet, fast ohnmächtig ein.
Als er erwachte, lag er im Krankenhause, — man hatte ihm den linken Fuß amputiert, der ihm erfroren war. — — — — — — — — — — — — —
— — — — — — — — —
Aus Rußland waren zweihundert Gulden für ihn gekommen, — wohl von seinem Bruder, den das Gewissen gemahnt haben mochte, und Jürgen mietete ein billiges Gewölbe, um Singvögel zu verkaufen. —
Er lebte kümmerlich und einsam und schlief hinter einem Bretterverschlag in seinem armseligen Laden.
Wenn des Morgens die Bauernkinder in die Stadt kamen, kaufte er ihnen die kleinen Vögel um einige Kreuzer ab, die sie in Schlingen und Fallen gefangen [S. 211] hatten, und steckte sie zu den übrigen in die schmutzigen Käfige. — — — —
Von dem eisernen Haken in der Mitte des Gewölbes hing an vier Stricken befestigt ein altes Brett herab, auf dem ein räudiger Affe kauerte, den Jürgen von seinem Nachbarn — dem Trödler — gegen einen Nußhäher eingetauscht hatte.
Tag für Tag blieben die Schuljungen stundenlang vor dem blinden Fenster stehen und starrten den Affen an, der unruhig hin und her rückte und mürrisch die Zähne fletschte, wenn ein Käufer die Tür öffnete.
Nach ein Uhr kam gewöhnlich niemand mehr, und dann saß der Alte auf seinem Schemel, blickte trübselig auf sein hölzernes Bein und brütete vor sich hin, was wohl jetzt die Sträflinge machen mochten und der Herr Untersuchungsrichter, und ob der Advokat noch immer auf dem Bauch vor ihm läge. —
Wenn dann ab und zu der Polizeibeamte, der in der Nähe wohnte, vorüberging, wäre er am liebsten aufgesprungen, um ihm ein paar mit der Eisenstange da über seine bunten Schandlappen zu hauen. —
O Gott, daß doch das Volk einmal aufstünde und die Schurken erschlüge, die arme Teufel einfangen und für Taten bestrafen, die sie selbst insgeheim und mit Lust begehen. — — —
An den Wänden übereinandergeschichtet, standen die Käfige bis fast zur Decke, und die kleinen Vögel flatterten, wenn man ihnen zu nahe kam. — Viele saßen ganz traurig und still und lagen frühmorgens mit eingesunkenen Augen tot auf dem Rücken. —
[S. 212]
Jürgen warf sie dann achtlos in den Schmutzkübel, — sie kosteten ja nicht viel, — und da es Singvögel waren, hatten sie auch kein schönes Gefieder, das man noch hätte verwenden können. —
Ruhig war es eigentlich im Laden nie, — ein ewiges Scharren und Kratzen und leises Piepsen, — doch das hörte der Alte nicht, — er war zu sehr daran gewöhnt. — Auch der unangenehme faule Geruch störte ihn nicht weiter. —
— — — — — — — — —
Einmal hatte ein Student eine Elster verlangt, und als er fort war, bemerkte Jürgen, dem an diesem Tage ganz eigentümlich zumute war, daß der Käufer ein Buch hatte liegen lassen. —
Obwohl es deutsch war, wenn auch aus dem Indischen übersetzt, wie es auf dem Titelblatte hieß, verstand er doch so wenig davon, daß er den Kopf schütteln mußte. — Nur eine Strophe las er immer wieder flüsternd durch, weil sie ihn so schwermütig stimmte:
Als dann sein Blick auf die vielen kleinen Gefangenen fiel, die elend in den engen Käfigen saßen, zog es ihm das Herz zusammen, und er fühlte mit ihnen, als ob auch er ein Vogel sei, der um seine verlorenen Fluren trauert.
Ein tiefer Schmerz zog in seine Seele, daß ihm die Tränen in die Augen traten. — Er gab den [S. 213] Tieren frisches Wasser und schüttete ihnen neues Futter zu, was er sonst nur frühmorgens tat.
Dabei mußte er der grünen, rauschenden Wälder im goldenen Sonnenglanz gedenken, die er schon lange vergessen hatte wie alte Märchen aus früher Jugend. — —
Eine Dame in Begleitung eines Dieners, der ein paar Nachtigallen trug, störte ihn in seinen Erinnerungen. —
„Ich habe diese Vögel bei Ihnen gekauft,“ sagte sie, „da sie aber zu selten singen, müssen Sie mir sie blenden.“ —
„Was? Blenden?“ stotterte der Alte.
„Ja, — blenden. — Die Augen ausstechen oder brennen, oder wie man das macht. — Sie als Vogelhändler müssen das doch besser verstehen. — Sollten auch vielleicht ein paar eingehen, schadet das nichts, so ersetzen Sie mir die fehlenden Stücke einfach durch andere. — Und schicken Sie sie mir bald zu. — Meine Adresse wissen Sie doch? — Adieu.“ —
Jürgen dachte noch lange nach und ging nicht schlafen. —
Die ganze Nacht saß er auf seinem Schemel, — stand auch nicht auf, als der Nachbar, der Trödler, den es befremdete, daß der Laden so lange offen blieb, an die Fensterscheibe klopfte. —
Er hörte es in der Dunkelheit in den Käfigen flattern und hatte die Empfindung, als ob kleine weiche Fittiche an sein Herz schlügen und um Einlaß bäten. —
Als der Morgen graute, öffnete er die Tür, ging [S. 214] ohne Hut bis auf den öden Marktplatz und sah lange in den erwachenden Himmel. —
Dann kehrte er still zurück in seinen Laden, machte langsam die Käfige auf — einen nach dem andern — und wenn ein Vogel nicht sogleich herausflog, holte er ihn mit der Hand aus dem Bauer. — — —
Da flatterten sie in dem alten Gewölbe umher, alle die kleinen Nachtigallen, Zeisige und Rotkehlchen, bis Jürgen lächelnd die Tür öffnete und sie ins Freie, in die luftige, göttliche Freiheit ließ — — —
Er sah ihnen nach, bis er sie aus den Augen verlor, und dachte an die grünen, rauschenden Wälder im goldenen Sonnenglanz. — — —
Den Affen band er los, nahm das Brett von der Decke, daß der große eiserne Haken frei wurde.
Den Strick, den er daran hängte, wand er zu einer Schlinge und legte sie sich um den Hals. — Nochmals zog der Satz aus dem Buche des Studenten durch seinen Sinn, dann stieß er mit dem Stelzfuß den Schemel unter sich fort, auf dem er stand.
— — — — — — — — —
[S. 215]
„Guten Morgen“, sagte das Gigerl und schob seinen gelbledernen Handkoffer auf das Tragnetz des Waggons.
„Ich hab’ die Ehre“ und „mein Kompliment wünsch’ ich“, grüßten die beiden behäbigen alten Herren, und zwar auffallend verbindlich, denn das Gigerl war sehr reich, wie jeder anständige Prager wissen mußte, und hatte außerdem etwas Undefinierbares an sich — so eine Art schreckeinflößender Sicherheit.
Nachdem natürlich kein Mensch von dem beharrlich ausgerufenen „frischen Wasser“ getrunken hatte, und jene übliche Viertelstunde verflossen war, die nötig ist, um den Laien glauben zu machen, das Eisenbahnwesen sei eine Wissenschaft, setzte sich der Zug langsam in Bewegung.
Die beiden würdigen alten Herren betrachteten mißgünstig die scharfe Bügelfalte an den Hosenbeinen des neuen Passagiers. —
Sie billigten solchen Tand natürlich nicht. — Ein charaktervoller Mann hat an den Knien knollenartige Ausbuchtungen der Hosen — er trägt breitkrempige Hüte, wenn schmalkrempige modern sind, und umgekehrt. — (Die meisten Hutläden nähren sich von solchen ehrenfesten Leuten.) —
Und wie affektiert, den kleinen Finger mit einem [S. 216] Ring zu schmücken. — Wozu — um Gotteswillen — hat man denn einen Zeigefinger! — An diesen gehört doch der Siegelring — mit den Initialen des Großvaters. —
Und gar die dumme Mode mit den schmalen Uhrketten! —
Da sieht meine schon ein bißl würdiger aus, dachte sich der Herr Baurat und sah stolz auf seinen geschmückten Bauch herab, auf dessen Mitte die anerkannt schöne und übliche Amethystberlocke baumelte.
„Können Sie mir vielleicht einen Gulden umwechseln?“ fragte das Gigerl den zweiten alten Herrn. „Ich muß nämlich dem Kofferträger noch schnell ein Trinkgeld hinauswerfen.“
Der Herr Oberinspektor fischte zögernd sein großes Portemonnaie mit dem schweigsamen Messingmaul hervor und machte ein Gesicht, wie wenn ihn jemand um tausend Gulden angepumpt hätte. —
Beim Öffnen fielen viele Münzen heraus, unter ihnen — o weh — auch der Milchzahn der kleinen Mizzi; — die des kleinen Franzl und des Max waren — Gott sei Dank — im inneren Fach. —
Es ging aber nichts verloren, denn der junge Herr hatte Glück im Suchen und gute Augen. —
Eine ältliche Dame blieb im Wagenkorridor stehen. — Der Herr Baurat grüßte verbindlich durch die offene Tür.
„Bitt’ Sie, wer ist das?“ fragte der Oberinspektor neugierig.
„Die — die kennen Sie nicht? Das ist doch die Frau Syrovatka, die, was die Witwe ist nach dem gottseligen [S. 217] Oberlandesgerichtsrat. — Sie wohnt jetzt nach seinem Tode wieder bei ihrer Familie — Sie wissen doch: Die Müllerischen von der obern Neustadt. — Ihren Papagei hat sie, hör’ ich, aber weggeben müssen, damit er nicht zu viel ausplaudert vor den jungen Mädchen und so. — Na, sie wird ihn ja nicht zu sehr vermissen — sie und ihre Schwestern haben doch alles. — Bitt’ Sie was, denn die, die haben’s gut — das sind — das sind ...“
„Verdammte Spießbürger“, ergänzte doppelsinnig das Gigerl, schob das Kinn vor und zerrte mit dem Zeigefinger ungeduldig an dem Rande seines Stehkragens. —
Eine peinliche Stille entstand — der Baurat schwieg, der Oberinspektor spuckte verlegen zwischen seine Stiefel, und der vorlaute junge Mann sah etwas gedrückt zum Fenster hinaus, an dem die vorüberfliegenden Telegraphendrähte sich hoben und senkten.
Selbst der Zug schien den allgemeinen Druck mitzuspüren und schlug, wie um der bedenklichen Stimmung ein Ende zu bereiten, ein geradezu rasendes Tempo ein. —
Verfluchtes Gerumpel! — Die Waggons schleuderten und rasselten, die Fensterscheiben klirrten. —
Bald befanden sich die beiden Alten wieder auf den breiten Bahnen der üblichen Bürgergespräche. —
Verstehen konnte man freilich nichts, denn das Rasseln war schauderhaft.
Nur hie und da tauchten ein paar abgerissene Sätze an die Oberfläche: „Ich wäre natürlich gar nicht gefahren, wenn ich gewußt hätt’, daß das Barometer [S. 218] gefallen ist, — der Maxl, — Quarta — Kunstgeschichte — Griechisch, — unglaublich, mit was sich der Bub alles den Kopf einnimmt.“ —
„Na, meine Tochter erst — nächsten Monat wird sie zwanzig — prachtvolles rotes Haar — hundsmager und hat immer so alberne Redensarten: den ganzen Tag hört man: ‚Tut sich, macht sich, Prinzeß‘ —, ganz sinnlos — das kommt von den dummen modernen Romanen — Maeterlinck — Gehirnerweichung — polizeilich verbieten.“ — — —
Den jungen Mann mußte offenbar eine tiefe Sorge plötzlich überfallen haben, denn er hatte an den Gesprächen nicht den geringsten Anteil mehr genommen, vielmehr aufmerksam das grüne baumelnde Fensterband angestarrt und schließlich ein Notizbuch herausgezogen, in dem er angestrengt rechnete.
„Der Herr von Vacca wird’s gewiß wissen“, störte ihn der Herr Baurat, als das Schleudern ein wenig nachließ: „Sagen Sie, bitte, wie heißt der Roman von Prévost, den sie jetzt im Sommertheater sogar aufführen?“
„ Demi-vierges “, antwortete das Gigerl.
„ Demi-vierges , ja richtig. — Sie, Herr Oberinspektor, ich sag’ Ihnen — sowas! Und das soll realistisch sein. So was gibt’s ja gar nicht. Erstens kommt das in einem guten Haus nicht vor und zweitens bei uns in Prag schon gar nicht.“
Das Gigerl grinste.
„Und den Helden in dem Roman versteht man überhaupt nicht. Was man der ... der ..., wie heißt er denn g’schwind?“
[S. 219]
„Julien de Suberceaux“, half der junge Mann.
„Ja, richtig, Suberceaux, — was treibt denn eigentlich der mit dem Frauenzimmer, ich versteh’ das Ganze nicht.“ —
Das Gigerl warf einen boshaften Blick auf den Sprecher.
Der eintretende Schaffner verlangte die Karten und ersparte ihm die Antwort.
— — — — — — — — —
„Wohin fahren eigentlich Herr von Vacca?“ fragte leutselig wiederum der Herr Baurat.
„Ich? — Ich fahre nur bis Trautenau, eine ekstatische Frau ansehen. — Beglaubigter Fall.“ —
„No natürlich, haben Sie schon wieder so was Verrücktes! Ekstase! Ich bitt’ Sie, Ekstase! — Sowas! Ein gutes G’selchtes mit Kraut und Knödeln und ein paar Glas Pilsner ist die beste Ekstase.“
Pause. —
„Pilsner! Das ist halt ein Bierl“, meditierte der Alte.
Das Gigerl wollte eine heftige Antwort geben, spülte sie aber im letzten Augenblick mit einem Mundvoll Zigarettenrauch hinunter. Der Herr Baurat ging ohnehin rasch auf ein anderes Thema über: „Sie sollten doch einen Leinwandüberzug über Ihren schönen Lederkoffer geben, Herr von Vacca, damit er nicht ruiniert wird.“ —
„Da schaffe ich mir doch lieber gleich einen Leinwandkoffer an“, entgegnete der junge Mann mißlaunig, [S. 220] holte aber nach einer kleinen Weile ein Paket Photographien hervor, das er versöhnlich dem Alten reichte: „Interessiert Sie vielleicht sowas?“
Der Baurat rückte seine Brille zurecht und sah mit feistem Schmunzeln die Bilder durch, die er dann einzeln seinem Nachbar reichte:
„Die da, die Blonde, das ist ein strammes Mensch, — sowas zum Anhalten, ha, ha, ha.“ — (Der Herr Oberinspektor stimmte vergnügt in das fettige Lachen ein.) — „Aber was ist denn mit der da, die hat ja gar keinen Kopf? — Das magerne Ding!“ fuhr er fragend fort, schwieg aber plötzlich, — warum lächelte denn der junge Laffe gar so süffisant?
„Das!? — Das ist eine junge Dame,“ war die Antwort, „nach dem Körper allein — ohne den Kopf kann sie eben ein Unberufener nicht erkennen!“
Wieder entstand eine lange Pause.
Eine Wolke war vor die Sonne getreten. Graues Licht lag über den fächerförmigen Äckern; — die scharfen Schatten waren verflattert. —
Erwartungsvoll hielt die Natur den Atem an.
„Meine Älteste, die Erna, wird jetzt auch bald heiraten“, platzte der Herr Baurat unvermittelt heraus.
Wieder allgemeine Stille.
„Sagen Sie, halten Sie von Telepathie — Gedankenübertragung — auch nichts?“ hob das Gigerl an.
„Sie meinen die neueste drahtlose Telegraphie?“ fragte der Oberinspektor.
[S. 221]
„Nein, nein, — die spontane direkte Übertragung der Gedanken von Hirn zu Hirn: — ‚Gedankenlesen‘ meinetwegen.“
„Aber hören Sie mir mit solchen Ibsensachen auf, — so ein Unsinn,“ spottete der Herr Baurat, „man weiß ja in der ganzen Stadt, Sie befassen sich gerne mit derlei Kram, aber mich kriegen Sie mit sowas nicht dran. Gedankenübertragung! — Ha, ha, ha. — Wenn ich nicht die Bilder vorhin von Ihnen gesehen hätt’, möcht’ ich wahrhaftig glauben, Sie sind wirklich so ein Phantast!“
Der junge Mann knipste mit seiner Zigarettendose.
„No, und die ohne Kopf haben Sie selbst photographiert?“ fragte der Oberinspektor, „no, und ist die was Feines?“
Das Gigerl schwang seine Handschuhe in der Luft und gähnte: „Tut sich — macht sich — Prinzeß.“
Dem Herrn Baurat fiel die Zigarre aus der Hand: „Wa wa… tut sich, Prinzeß, wa… was?“ —
„Na ja“, sagte das Gigerl. „Das ist so eine gedankenlose Redensart von ihr.“ —
Ein Ruck!
Der Lederkoffer fiel dem Herrn Baurat auf den Schädel.
Es hält der Zug.
Trrr—autenau, — Trauten — au.
Trrr—autenau.
Fünfzehn Minuten.
[S. 222]
Es war einmal ein Mann, den verdroß die Welt so sehr, daß er beschloß, im Bette liegen zu bleiben. Jedesmal, wenn er aufwachte, wälzte er sich auf die andere Seite, und so gelang es ihm, jedesmal noch ein bißchen weiterzuschlafen.
Aber eines Tages ging es durchaus nicht mehr. Es ging nicht mehr und ging nicht mehr.
Da lag der Mann im Bette und blieb ganz unbeweglich, aus Furcht, es werde ihn frösteln, wenn er seine Lage verändere.
Von seinem Kopfkissen aus war er gezwungen, durch das Fenster ins Freie zu sehen, und eben jetzt, wo er ganz ausgeschlafen war, ging es dem Sonnenuntergang zu.
Eine breite, goldgelbe Wunde klaffte quer über den Himmel unter einem dunklen Wolkenkopf hervor.
Es geht nicht an, gerade um diese unglückselige Stunde herum aufzustehen, sagte der Mann zähneklappernd — und fürchtete sich noch mehr vor dem Frösteln als vorher —, auch für einen, den das Leben nicht so verdrießt, wie mich.
[S. 223]
Elend, stierte er wieder in das Abendgelb unter dem glimmenden Nebelsaum.
Eine schwarze Wolke hatte sich losgetrennt, wie ein geschwungener Flügel geformt, mit befiedertem Rand.
Da kroch langsam im Hirn des Mannes — mit den flaumigen Umrissen eines pelzigen Muffs eine Erinnerung an einen Traum aus ihrer Höhle heraus. An einen Traum von einem Raben, der ein Herz ausgebrütet.
Und die ganze Zeit seines Schlafes über hatte er sich mit diesem Traum herumgeschlagen. Dessen war sich der Mann jetzt deutlich bewußt.
Ich muß es herausbekommen, wem dieser Flügel gehört, sagte er, stieg im Hemde aus dem Bett — und die Treppe hinunter auf die Straße. Immer weiter ging er so, immer dem Sonnenuntergang zu.
Die Leute aber, denen er begegnete, raunten: „Pst, pst, leise, leise, er träumt doch das alles bloß!“
Nur der beeidete Hostienbäcker Vrieslander glaubte sich einen Spaß machen zu dürfen. Er stellte sich ihm in den Weg, spitzte den Mund und machte runde Augen wie ein Fisch. Sein dünner Schneiderbart schien noch gespenstischer als sonst. Mit den magern Armen und Fingern machte er eine verrenkte sinnlose Geste und verdrehte die Beine ganz seltsam. „Ssst, ssst, nur gemach, hörst du,“ flüsterte er dem Manne giftig zu, „ich bin das Kichern, weißt du, das Kich...“ und schnellte plötzlich das spitze Knie zur Brust empor, riß den Mund auf und wurde bleifarben im Gesicht, als habe ihn mitten in seiner tänzelnden Stellung der Tod ereilt.
[S. 224]
Dem Manne im Hemde sträubte sich das Haar vor Grauen, und er lief aus der Stadt hinaus. — — — Über Wiesen und Stoppelfelder, immer dem Sonnenuntergange zu, und immer mit bloßen Füßen.
Zuweilen trat er auf einen Frosch.
— — — — Erst in der Nacht, als sich längst der glühende Riß am Himmel wieder geschlossen, erreichte er die weiße, langgestreckte Mauer, hinter der der Wolkenstrich verschwunden war.
Er setzte sich auf einen kleinen Hügel. Ich bin hier auf dem Friedhof, je nun, sagte er sich und sah um sich, je nun, das kann ein arger Kitsch werden. Aber ich muß doch erfahren, wem der Flügel eigentlich gehört!
Als die Nacht vorrückte, wurde ihr Schein allmählich heller, und der Mond kroch langsam über die Mauer. Eine gewisse Art dämmernden Erstaunens legte sich an den Himmel.
Wie der Mondglanz grell auf den Flächen schwamm, schlüpften hinter den Grabsteinen, an den Seiten, die dem Lichte abgewandt waren, blauschwarze Vögel aus der Erde und flogen lautlos in Scharen auf die kalkbetünchte Mauer.
Dann lag eine lange Zeit eine leichenhafte Unbeweglichkeit auf allem.
Es ist der dunkle Wald in der Ferne, der aus den Nebeln taucht, natürlich, und in der Mitte der runde Kopf, das ist der Hügel mit seinen Bäumen, träumte der Mann im Hemde, doch als seine Augen schärfer sahen, da war es ein riesiger Rabe, der mit ausgespannten Schwingen auf der anderen Mauer saß.
Ah, der Flügel, — besann sich der Mann und war [S. 225] sehr zufriedengestellt, der Flügel — — — Und der Vogel brüstete sich: „Ich bin der Rabe, der die Herzen ausbrütet. Wenn einem Menschen ein Sprung am Herzen geschieht, so fahren sie ihn schnell heraus zu mir.“ Dann flog er von der Mauer herab auf einen Marmorstein, und der Wind von seinem Flügelschlag roch wie verwelkte Blumen.
Unter dem Marmorstein aber lag einer seit heute morgen bei seiner Familie.
Der Mann im Hemde buchstabierte einen Namen und wurde sehr neugierig, was für ein Vogel aus diesem gesprungenen Herzen kriechen werde, denn der Verstorbene war ein bekannter Menschenfreund gewesen, hatte sein ganzes Leben für Aufklärung gewirkt, nur Gutes getan und gesprochen, die Bibel gereinigt und erhebende Bücher geschrieben. Seine Augen, schlicht und ohne Falsch — wie Spiegeleier, — stets hatten sie Wohlwollen gestrahlt im Leben, und auch jetzt noch im Tode stand:
in goldenen Lettern auf seiner Gruft.
Der Mann im Hemde war sehr gespannt. Aus dem Grabe drang leises Knistern, wie sich der junge Vogel aus dem Herzen löste, — und da flog’s auch schon — pechschwarz — mit Gekrächz hinauf zu den andern auf die Mauer. —
„Das war aber doch wirklich vorauszusehen; — [S. 226] oder? Haben Euer Liebden vielleicht ein Rebhuhn erwartet?“ spottete der Rabe.
„Etwas Weißes hat er doch“, sagte der Mann verbissen und meinte damit eine leichte helle Feder, die deutlich abstand.
Der Rabe lachte. „Der Gänseflaum? — Der ist doch nur angeklebt. Vom Daunenkissen, worauf der Tote immer schlief!“ und weiter flog er von Grab zu Grab und brütete da und brütete dort, und überall wurde es flügge und kam schwarz aus dem Boden geflattert.
„Alle, alle sind sie schwarz?“ fragte der Mann beklommen nach einer Weile.
„Alle, alle sind sie schwarz!“ brummte der Rabe.
Da bereute der Mann im Hemde, daß er nicht in seinem Bette geblieben war.
Und wie er empor zum Himmel blickte, standen die Sterne voll Tränen und blinzelten. Nur der Mond glotzte vor sich hin und begriff nicht.
Auf einem Kreuz aber saß mit einemmal regungslos ein Rabe, der glänzte schneeweiß. Und es schien, als käme all der Schimmer der Nacht von ihm. Der Mann sah ihn erst, als er zufällig den Kopf nach ihm wandte. Auf dem Kreuz die Inschrift nannte den Namen eines, der war ein Müßiggänger gewesen sein Leben lang.
Der Mann im Hemde kannte ihn gut. Und er sann lange nach.
„Welche Tat hat denn sein Herz so weiß gemacht?“ fragte er endlich.
Der schwarze Rabe aber war mürrisch und mühte sich unablässig, über seinen eigenen Schatten zu springen.
[S. 227]
„Welche Tat, welche Tat, welche Tat?“ quälte der Mann ruhelos.
Da fuhr der Rabe zornig auf: „Glaubst du, Taten können weiß machen? Du ... Du ... kannst ja nicht einmal eine Tat tun ! — Eher spränge ich noch über meinen Schatten. Der morsche Hampelmann auf dem kleinen Grab — siehst du ihn? Er gehörte einst dem Kinde dort unten — der morsche Hampelmann glaubte auch eine lange Zeit, er fuchtle in der Welt herum. Weil er die Schnüre nicht sah, an denen er hing, und es nicht wahr haben wollte, daß ein Kind mit ihm spiele. Und du!? Und du!? Was glaubst du wohl, wird mit dir sein, wenn das — — ‚Kind‘ ein anderes Spielzeug sucht! — Wirst alle viere von dir strecken und ver — —,“ der Rabe blinzelte listig zur Mauer hin, — „und ver — —“
„— — — recken!“ krächzte die Rabenschar, fröhlich, daß sie auch einmal dran kam.
Da erschrak der Mann im Hemde ganz außerordentlich.
„Und was denn sonst hat sein Herz so weiß gemacht? Hörst du denn nicht, — was denn sonst hat sein Herz so weiß gemacht?“ fragte er.
Unschlüssig trat der Rabe von einem Bein aufs andere: „Es muß wohl die Sehnsucht gewesen sein. Die Sehnsucht nach etwas Verborgenem, das ich nicht kenne und auf der Erde nirgends gefunden habe. Wir alle sahen seine Sehnsucht wachsen wie ein Feuer und begriffen es nicht; — es verbrannte sein Blut und endlich sein Hirn — — wir begriffen es nicht — —“
Den Mann im Hemde faßte es eiskalt an: — — [S. 228] — — Es Schien Das Licht In Der Finsternis, Und Die Finsternisse Haben Es Nicht Begriffen — —!
— — — „ja, wir begriffen es nicht,“ fuhr der Rabe fort, „doch einer der gigantischen schimmernden Vögel, die im Weltenraume unbeweglich schweben seit Anbeginn, erspähte die flammende Lohe und stieß herab. — Wie Weißglut. Und er hat auf jenes Menschen Herz gebrütet Nacht um Nacht.“
Scharfe Bilder traten dem Mann im Hemde vor das Auge, Bilder, die in seinem Gedächtnis nicht hatten sterben können, — Geschehnisse im Schicksal des Müßiggängers, die immer noch von Mund zu Mund gingen unter den Leuten: — Er sah jenen Menschen unter dem Galgen stehen — — der Henker zog ihm die leinene Maske übers Gesicht — — die Feder, die das Brett unter den Füßen des armen Sünders kippen sollte, weigerte sich, — da führten sie ihn weg und rückten das Brett zurecht.
Und wieder ordnete der Henker die leinene Maske — — und wieder versagte die Feder. Und als nach einem Monat abermals der Mensch dort stand, die leinene Maske über den Augen, — — da brach die Feder.
Die Richter aber ergrimmten und bissen die Zähne zusammen über — — den Zimmermann, der den Galgen so schlecht gezimmert hatte.
— — — — — — — — —
Dann verschwand die Vision.
„Und was ist aus dem Menschen geworden?“ fragte voll Grauen der Mann im Hemde.
„Ich habe sein Fleisch gefressen und seine Gebeine, [S. 229] die Erde ist kleiner geworden um das Stück, das sein Leib groß war“, sagte der weiße Rabe.
„Ja, ja,“ flüsterte der schwarze, „sein Sarg ist leer, er hat das Grab betrogen.“
— — Das hörte der Mann, und sein Haar sträubte sich, er zerriß sein Hemd über der Brust und lief hin zu dem weißen Vogel, der auf dem Kreuze saß: „Brüte mein Herz, brüte mein Herz! Mein Herz ist voll Sehnsucht — — —!“
Doch der schwarze Rabe warf ihn mit den Schwingen zur Erde und setzte sich schwer auf ihn — — die Luft roch nach sterbenden Blumen — — „Daß Euer Liebden nur nicht irren: Gier und nicht Sehnsucht schläft in Euer Liebden Herz! Ja, das möchte mancher gern probieren vor dem Kre — —,“ listig blinzelte er zur Mauer hin, „vor dem Kre — — —?“
„— — — pieren!“ pfiff die Rabenschar, entzückt, daß sie schon wieder dran kam.
— Die Hitze seines Leibes ist fremdartig und erregend wie das Fieber, fühlte der Mann, dann zerflatterte sein Bewußtsein.
— — — — — — — — —
Als er nach langem Schlaf erwachte, da stand der Mond gerade im Zenith und starrte ihm ins Gesicht.
Der Glanz hatte die Schatten getrunken und troff an den Steinen herab von allen Seiten.
Die schwarzen Raben waren fortgeflogen.
Noch hatte der Mann ihr hämisches Gekrächz in den Ohren, und verdrossen stieg er über die Mauer in sein Bett.
[S. 230]
Schon stand da auch im schwarzen Rock der Herr Medizinalrat, faßte seinen Puls, schloß die Augen hinter der goldenen Brille und babbelte lang und unhörbar mit der Unterlippe. Suchte dann umständlich in seinem Taschenbuch und schrieb auf einen Zettel:
Rp
:
|
|
Cort. chin. reg. rud. tus
|
3β
|
coque c. suff. quant. vini
rubri, per horam
|
j
|
ad co’at
|
3
viij
|
cum hac inf. herb. abs.
|
3
j
|
postea solve
|
|
acet. lix.
|
3
j
|
tunc adde
|
|
syr. cort. aur
|
3β
|
M. d. ad
|
|
vitr. s.
|
dreimal täglich ein Eßlöffel.
Und als er damit fertig war, schritt er mit Weihe zur Tür, sah noch einmal zurück und sagte geheimnisvoll, den Zeigefinger würdig erhoben:
„Gögön das Fübör, gögön das Fübör.“
[S. 231]
Siehst du, dort die kleine schwarze Bronze zwischen den Leuchtern ist die Ursache aller meiner sonderbaren Erlebnisse in den letzten Jahren.
Wie Kettenglieder hängen diese gespenstischen Beunruhigungen, die mir die Lebenskraft aussaugen, zusammen, und verfolge ich die Kette zurück in die Vergangenheit, immer ist der Ausgangspunkt derselbe: die Bronze.
Lüge ich mir auch andere Ursachen vor, — immer wieder taucht sie auf wie der Meilenstein am Wege.
Und wohin dieser Weg führen mag, ob zum Licht der Erkenntnis, ob weiter zu immer wachsendem Entsetzen, ich will es nicht wissen und mich nur an die kurzen Rasttage klammern, die mir mein Verhängnis freiläßt bis zur nächsten Erschütterung.
In Theben habe ich sie aus dem Wüstensande gegraben, — die Statuette, — so ganz zufällig mit dem Stock, und von dem ersten Augenblick an, wo ich sie genauer betrachtete, war ich von der krankhaften Neugier befallen, zu ergründen, was sie denn eigentlich bedeute. — Ich bin doch sonst nie so wissensdurstig gewesen!
Anfangs fragte ich alle möglichen Forscher, aber ohne Erfolg.
Nur ein alter arabischer Sammler schien zu ahnen, um was es sich handle.
[S. 232]
„Die Nachbildung einer ägyptischen Hieroglyphe“, meinte er; und die sonderbare Armstellung der Figur müsse irgendeinen unbekannten ekstatischen Zustand bedeuten.
Ich nahm die Bronze mit nach Europa, und fast kein Abend verging, an dem ich mich nicht sinnend über ihre geheimnisvolle Bedeutung in die seltsamsten Gedankengänge verloren hätte.
Ein unheimliches Gefühl überkam mich oft dabei: ich grüble da an etwas Giftigem — Bösartigem, das sich mit hämischem Behagen von mir aus dem Banne der Leblosigkeit losschälen lasse, um sich später wie eine unheilbare Krankheit an mir festzusaugen und der dunkle Tyrann meines Lebens zu bleiben. Und eines Tages bei einer ganz nebensächlichen Handlung schoß mir der Gedanke, der mir das Rätsel löste, mit solcher Wucht und so unerwartet durch den Kopf, daß ich zusammenfuhr.
Solch blitzartige Einfälle sind wie Meteorsteine in unserem Innenleben. Wir kennen nicht ihr Woher, wir sehen nur ihr Weißglühen und ihren Fall. — —
Fast ist es wie ein Furchtgefühl — — dann — — ein leises — — so — so, als sei jemand Fremder — — — — — Was wollte ich doch nur sagen?! — Verzeih, ich werde manchmal so seltsam geistesabwesend, seitdem ich mein linkes Bein gelähmt nachziehen muß; — — ja, also die Antwort auf mein Grübeln lag plötzlich nackt vor mir: — Nachahmen!
Und als hätte dieses Wort eine Wand eingedrückt, so schossen die Sturzwellen der Erkenntnis in mir [S. 233] auf, daß das allein der Schlüssel zu allen Rätseln unseres Daseins.
Ein heimliches automatisches Nachahmen, ein unbewußtes, rastloses, — der verborgene Lenker aller Wesen!!
Ein allmächtiger geheimnisvoller Lenker, — ein Lotse mit einer Maske vor dem Gesicht, der schweigend beim Morgengrauen das Schiff des Lebens betritt. Der aus jenen Abgründen stammt, dahinter unsere Seele wandern mag, wenn der Tiefschlaf die Tore des Tages verschlossen! Und vielleicht steht tief dort unten in den Schluchten des körperlosen Seins das Erzbild eines Dämons errichtet, der da will, daß wir ihm gleich seien und sein Ebenbild werden — — —
Und dieses Wort „nachahmen“, dieser kurze Zuruf von „irgendwoher“ wurde mir ein Weg, den ich augenblicklich betrat. Ich stellte mich hin, hob beide Arme über den Kopf, so wie die Statue, und senkte die Finger, bis ich mit den Nägeln meinen Scheitel berührte.
Doch nichts geschah.
Keine Veränderung innen und außen.
Um keinen Fehler in der Stellung zu machen, sah ich die Figur genauer an und bemerkte, daß ihre Augen geschlossen und wie schlafend waren.
Da wußte ich genug, brach die Übung ab und wartete, bis es Nacht wurde. Stellte dann die tickenden Uhren ab und legte mich nieder, die Arm- und Handstellungen wiederholend.
Einige Minuten verstrichen so, aber ich kann nicht glauben, daß ich eingeschlafen wäre.
[S. 234]
Plötzlich war mir, als käme ein hallendes Geräusch aus meinem Inneren empor, wie wenn ein großer Stein in die Tiefe rollt.
Und als ob mein Bewußtsein ihm nach eine ungeheure Treppe hinabfiele — zwei, vier, acht, immer mehr und mehr Stufen überspringend, — so verfiel ruckweise meine Erinnerung an das Leben, und das Gespenst des Scheintodes legte sich über mich.
Was dann eintrat, das werde ich nicht sagen, das sagt keiner.
Wohl lacht man darüber, daß die Ägypter und Chaldäer ein magisches Geheimnis gehabt haben sollen, behütet von Uräusschlangen, das unter Tausenden Eingeweihter auch nicht ein einziger je verraten hätte.
Es gibt keine Eide, meinen wir, die so fest binden!
Auch ich dachte einst so, in jenem Augenblicke aber begriff ich alles.
Es ist ein Vorkommnis aus menschlicher Erfahrung, in dem die Wahrnehmungen hinter einander liegen, und kein Eid bindet die Zunge, nur der bloße Gedanke einer Andeutung dieser Dinge hier — hier im Diesseits — und schon zielen die Vipern des Lebens nach deinem Herzen.
Darum wird das große Geheimnis verschwiegen, weil es sich selbst verschweigt, und wird ein Geheimnis bleiben, solange die Welt steht.
Aber all das hängt nur nebensächlich zusammen mit dem versengenden Schlag, von dem ich nie mehr gesunden kann. Auch das äußere Schicksal eines Menschen gerät in andere Bahnen, durchbricht sein Bewußtsein [S. 235] nur einen Augenblick die Schranken irdischer Erkenntnis.
Eine Tatsache, für die ich ein lebendes Beispiel bin.
Seit jener Nacht, in der ich aus meinem Körper trat, ich kann es kaum anders nennen, hat sich die Flugbahn meines Lebens geändert, und mein früher so gemächliches Dasein kreist jetzt von einem rätselhaften, grauenerregenden Erlebnis zum andern — irgendeinem dunklen, unbekannten Ziele zu.
Es ist, als ob eine teuflische Hand mir in immer kürzer werdenden Pausen immer weniger Erholung zumißt und Schreckbilder in den Lebensweg schiebt, die von Fall zu Fall an Furchtbarkeit wachsen. Wie um eine neue, unbekannte Art Wahnsinn in mir zu erzeugen — langsam und mit äußerster Vorsicht — eine Wahnsinnsform, die kein Außenstehender merken und ahnen kann und deren sich nur ein von ihr Befallener in namenloser Qual bewußt ist.
In den nächsten Tagen schon nach jenem Versuch mit der Hieroglyphe traten Wahrnehmungen bei mir auf, die ich anfangs für Sinnestäuschungen hielt. Seltsam sausende oder schrillende Nebentöne hörte ich den Lärm des Alltags durchqueren, sah schimmernde Farben, die ich nie gekannt. — Rätselhafte Wesen tauchten vor mir auf, ungehört und ungefühlt von den Menschen, und vollführten in schemenhaftem Dämmer unbegreifliche und planlose Handlungen.
So konnten sie ihre Form ändern und plötzlich wie tot daliegen, — glitschten dann wieder wie lange Schleimseile an den Regenrinnen herab oder hockten [S. 236] wie ermattet in blödsinniger Stumpfheit in dunklen Hausfluren.
Dieser Zustand von Überwachsein bei mir hält nicht an, — er wächst und schwindet wie der Mond.
Der stetige Verfall jedoch des Interesses an der Menschheit, deren Wünschen und Hoffen nur noch wie aus weiter Ferne zu mir dringt, sagt mir, daß meine Seele beständig auf einer dunklen Reise ist — fort, weit fort vom Menschentum.
Anfangs ließ ich mich von den flüsternden Ahnungen leiten , die mich erfüllten, — jetzt — bin ich wie ein angeschirrtes Pferd und muß die Wege gehen, auf die es mich zwingt.
Und siehst du, eines Nachts, da riß es mich wieder auf und trieb mich, planlos durch die stillen Gassen der Kleinseite zu gehen um des phantastischen Eindruckes willen, den die altertümlichen Häuser erzeugen.
Es ist unheimlich in diesem Stadtviertel wie nirgends auf der Welt.
Nie ist Helle und nie ganz Nacht.
Irgendein matter, trüber Schein kommt von irgendwo, wie phosphoreszierender Dunst sickert es vom Hradschin auf die Dächer herab.
Man biegt in eine Gasse und sieht nur totes Dunkel, da sticht aus einer Fensterritze ein gespenstischer Lichtstrahl plötzlich wie eine lange boshafte Nadel einem in die Pupillen.
Aus dem Nebel taucht ein Haus, — mit abgebrochenen Schultern und zurückweichender Stirn und glotzt besinnungslos aus leeren Dachluken zum Nachthimmel auf wie ein verendetes Tier.
[S. 237]
Daneben eines reckt sich, gierig mit glimmernden Fenstern auf den Grund des Brunnens da unten zu schielen, ob das Kind des Goldschmiedes noch darinnen, das vor hundert Jahren ertrank. Und geht man weiter über die buckligen Pflastersteine und sieht sich plötzlich um, da möchte man wetten, es habe einem ein schwammiges, fahles Gesicht aus der Ecke nachgestarrt, — nicht in Schulterhöhe — nein, ganz tief unten, wo nur große Hunde die Köpfe haben könnten. — — — —
Kein Mensch ging auf den Straßen.
Totenstille.
Die uralten Haustore bissen schweigend ihre Lippen zusammen.
Ich bog in die Thunsche Gasse, wo das Palais der Gräfin Morzin steht.
Da kauerte im Dunst ein schmales Haus, nur zwei Fenster breit, ein hektisches, bösartiges Gemäuer; dort hielt es mich fest, und ich fühlte den gewissen überwachen Zustand kommen.
In solchen Fällen handle ich blitzschnell wie unter fremdem Willen und weiß kaum, was mir die nächste Sekunde befiehlt.
So drückte ich hier gegen die nur angelehnte Tür und schritt durch einen Gang eine Treppe in den Keller hinab, als ob ich in das Haus gehöre.
Unten ließ der unsichtbare Zügel, der mich führt wie ein unfreies Tier, wieder nach, und ich stand da in der Finsternis mit dem quälenden Bewußtsein einer Handlung, vollbracht ohne Zweck.
Warum war ich hinuntergegangen, warum hatte ich nicht einmal den Gedanken gefaßt, solch sinnlosen Einfällen [S. 238] Halt zu gebieten?! Ich war krank, offenbar krank, und ich freute mich, daß nichts anderes, nicht die unheimliche, rätselhafte Hand im Spiele war.
Doch im nächsten Moment wurde mir klar, daß ich die Tür geöffnet, — das Haus betreten hatte, die Treppe hinabgestiegen war, ohne nur ein einziges Mal anzustoßen, ganz wie jemand, der Schritt und Tritt genau kennt, und meine Hoffnung war schnell zu Ende.
Allmählich gewöhnte sich mein Auge an die Finsternis, und ich blickte umher.
Dort auf einer Stufe der Kellertreppe saß jemand. — Daß ich ihn nicht gestreift hatte im Vorbeigehen?!
Ich sah die zusammengekrümmte Gestalt ganz verschwommen im Dunkel.
Einen schwarzen Bart über einer entblößten Brust. — Auch die Arme waren nackt.
Nur die Beine schienen in Hosen oder einem Tuch zu stecken.
Die Hände hatten etwas Schreckhaftes in ihrer Lage; — sie waren so merkwürdig abgebogen, fast rechtwinklig zu den Gelenken.
Lange starrte ich den Mann an.
Er war so leichenhaft unbeweglich, daß mir war, als hätten sich seine Umrisse in den dunklen Hintergrund eingefressen und als müßten sie so bleiben bis zum Verfall des Hauses.
Mir wurde kalt vor Grauen, und ich schlich den Gang weiter, seiner Krümmung entlang.
Einmal faßte ich nach der Mauer und griff dabei in ein splitteriges Holzgitter, wie man es verwendet, [S. 239] um Schlingpflanzen zu ziehen. Es schienen auch solche in großer Menge daran zu wachsen, denn ich blieb fast hängen in einem Netz stengelartigen Geranks.
Das Unbegreifliche war nur, daß sich diese Pflanzen, oder was es sonst sein mochte, blutwarm und strotzend anfühlten und überhaupt einen ganz animalischen Eindruck auf den Tastsinn machten.
Ich griff noch einmal hin, um erschreckt zurückzufahren: ich hatte diesmal einen kugeligen, nußgroßen Gegenstand berührt, der sich kalt anfühlte und sofort wegschnellte. War es ein Käfer?
In diesem Moment flackerte ein Licht irgendwo auf und erhellte eine Sekunde lang die Wand vor mir.
Was ich je an Furcht und Grauen empfunden, war nichts gegen diesen Augenblick.
Jede Fiber meines Körpers brüllte auf in unbeschreiblichem Entsetzen.
Ein stummer Schrei bei gelähmten Stimmbändern, der durch den ganzen Menschen fährt wie Eiseskälte.
Mit einem Rankennetz blutroter Adern, aus dem wie Beeren Hunderte von glotzenden Augen hervorquollen, war die Mauer bis zur Decke überzogen.
Das eine, in das ich soeben gegriffen, schnellte noch in zuckender Bewegung hin und her und schielte mich bösartig an.
Ich fühlte, daß ich zusammenbrechen werde, und stürzte zwei, drei Schritte in die Finsternis hinein; eine Wolke von Gerüchen, die etwas Feistes, Humusartiges wie von Schwämmen und Ailanthus hatten, drang mir entgegen.
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Meine Knie wankten, und ich schlug wild um mich. Da glomm es vor mir auf wie ein kleiner glühender Ring: der erlöschende Docht einer Öllampe, die im nächsten Augenblick noch einmal aufblakte.
Ich sprang darauf zu und schraubte den Docht mit bebenden Fingern hoch, so daß ich ein kleines rußendes Flämmchen noch retten konnte.
Dann mit einem Ruck drehte ich mich um, wie zum Schutz die Lampe vorstreckend.
Der Raum war leer.
Auf dem Tisch, auf dem die Lampe gestanden, lag ein länglicher, blitzender Gegenstand.
Meine Hand fuhr danach wie nach einer Waffe.
Doch war es bloß ein leichtes, rauhes Ding, das ich faßte.
Nichts rührte sich, und ich stöhnte erleichtert auf. Vorsichtig, die Flamme nicht zu verlöschen, leuchtete ich die Mauern entlang. Überall dieselben Holzspaliere und, wie ich jetzt deutlich sah, durchrankt von offenbar zusammengestückelten Adern, in denen Blut pulsierte.
Grausig glitzerten dazwischen zahllose Augäpfel, die in Abwechslung mit scheußlichen, brombeerartigen Knollen hervorsproßten und mir langsam mit den Blicken folgten, wie ich vorbeiging. — Augen aller Größen und Farben. — Von der klarschimmernden Iris bis zum hellblauen toten Pferdeauge, das unbeweglich aufwärts steht.
Manche, runzelig und schwarz geworden, glichen verdorrten Tollkirschen.
Die Hauptstämme der Adern rankten sich aus blutgefüllten [S. 241] Phiolen empor, aus ihnen kraft eines unbekannten Prozesses ihren Saft ziehend.
Ich stieß auf Schalen — gefüllt mit weißlichen Fettbrocken, aus denen Fliegenpilze, mit einer glasigen Haut überzogen, emporwuchsen. — Pilze aus rotem Fleisch, die bei jeder Berührung zusammenzuckten.
Und alles schienen Teile, aus lebenden Körpern entnommen, mit unbegreiflicher Kunst zusammengefügt, ihrer menschlichen Beseelung beraubt und auf rein vegetatives Wachstum heruntergedrückt.
Daß Leben in ihnen war, erkannte ich deutlich, wenn ich die Augen näher beleuchtete und sah, wie sich sofort die Pupillen zusammenzogen. — Wer mochte der teuflische Gärtner sein, der diese grauenhafte Zucht angelegt!
Ich erinnerte mich des Menschen auf der Kellerstiege.
Instinktiv griff ich in die Tasche nach irgendeiner Waffe, da fühlte ich den rissigen Gegenstand, den ich vorhin eingesteckt. — Er glitzerte trüb und schuppig, — ein Tannenzapfen aus rosigen Menschennägeln!
Schaudernd ließ ich ihn fallen und biß die Zähne zusammen: nur hinaus, hinaus, und wenn der Mensch auf der Treppe aufwachen und über mich herfallen sollte!
Und schon war ich bei ihm und wollte mich auf ihn stürzen, da sah ich, daß er tot war, — wachsgelb.
Aus den verrenkten Händen — die Nägel ausgerissen. Kleine Messerschnitte an Brust und Schläfen zeigten, daß er seziert worden war.
Ich wollte an ihm vorbei und habe ihn, glaube [S. 242] ich, mit der Hand gestreift. — Im selben Augenblick schien er zwei Stufen herunter auf mich zuzurutschen, stand plötzlich aufrecht da, die Arme nach oben gebogen, die Hände zum Scheitel.
Wie die ägyptische Hieroglyphe, dieselbe Stellung — dieselbe Stellung!
Ich weiß nur noch, daß die Lampe zerschellte, daß ich die Haustür aufwarf und fühlte, wie der Dämon des Starrkrampfes mein zuckendes Herz zwischen seine kalten Finger nahm. — — —
Dann machte ich mir halbwach irgend etwas klar — — der Mann müsse mit den Ellenbogen an Stricken aufgehängt gewesen sein, nur durch Herabrutschen von den Stufen hatte sein Körper in die aufrechte Stellung geraten können — — — und dann — — dann rüttelte mich jemand: „Sie sollen zum Herrn Kommissär.“ — — — — —
Und ich kam in eine schlecht beleuchtete Stube, Tabakspfeifen lehnten an der Wand, ein Beamtenmantel hing an einem Ständer. — — Es war ein Polizeizimmer.
Ein Schutzmann stützte mich.
Der Kommissär saß vor einem Tisch und sah immer von mir weg — er murmelte: „Haben Sie sein Nationale aufgeschrieben?“
— „Er hatte Visitkarten bei sich, wir haben sie ihm abgenommen“, hörte ich den Schutzmann antworten.
„Was wollten Sie in der Thunschen Gasse — vor einem offenen Haustor?“
Lange Pause.
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„Sie!“ mahnte der Schutzmann und stieß mich an.
Ich lallte etwas von einem Mord im Keller in der Thunschen Gasse. — —
Darauf ging der Wachmann hinaus.
Der Kommissär sah immer von mir weg und sprach einen langen Satz.
Ich hörte nur: „Was denken Sie denn, der Doktor Cinderella ist ein großer Gelehrter — Ägyptologe — und er zieht viel neuartige, fleischfressende Pflanzen, — Nepenthen, Droserien oder so, — glaube ich, ich weiß nicht, — — — — — Sie sollten nachts zu Hause bleiben.“
Da ging eine Tür hinter mir, ich drehte mich um, und dort stand ein langer Mensch mit einem Reiherschnabel — ein ägyptischer Anubis.
Mir wurde schwarz vor den Augen, und der Anubis machte eine Verbeugung vor dem Kommissär, ging zu ihm hin und flüsterte mir zu: „Doktor Cinderella.“
Doktor Cinderella!
Und da fiel mir etwas Wichtiges aus der Vergangenheit ein, — das ich sogleich wieder vergaß.
Wie ich den Anubis abermals ansah, war er ein Schreiber geworden und hatte nur einen Vogeltypus und gab mir meine eigenen Visitkarten, darauf stand: Doktor Cinderella.
Der Kommissär sah mich plötzlich an, und ich hörte, wie er sagte: „Sie sind es ja selbst. Sie sollten nachts zu Hause bleiben.“ —
Und der Schreiber führte mich hinaus, und im Vorbeigehen streifte ich den Beamtenmantel an der Wand.
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Der fiel langsam herunter und blieb mit den Ärmeln hängen.
Sein Schatten an der kalkweißen Mauer hob die Arme nach oben über den Kopf, und ich sah, wie er unbeholfen die Stellung der ägyptischen Statuette nachahmen wollte.
— — — — — — — — —
Siehst du, das war mein letztes Erlebnis vor drei Wochen. Ich aber bin seitdem gelähmt: habe zwei verschiedene Gesichtshälften jetzt und schleppe das linke Bein nach.
— — — — — — — — —
Das schmale hektische Haus habe ich vergeblich gesucht, und auf dem Kommissariat weiß niemand etwas von jener Nacht.
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„Bitt’ Sie, was ist das eigentlich: Bushido?“ fragte der Panther und spielte Eichelaß aus.
„Bushido? hm,“ brummte der Löwe zerstreut, — „Bushido?“ —
„Na ja, Bushido,“ — ärgerlich fuhr der Fuchs mit einem Trumpf dazwischen, — „was Bushido ist?“
Der Rabe nahm die Karten auf und mischte. „Bushido? Das ist der neueste hysterische ‚Holler‘! Bushido, das ist so ein moderner ‚Pflanz‘, — eine besondere Art, sich fein zu benehmen, — japanischen Ursprungs. Wissen Sie, so was wie ein japanischer ‚Knigge‘. Man grinst freundlich, wenn einem etwas Unangenehmes passiert. Zum Beispiel, wenn man mit einem österreichischen Offizier an einem Tische sitzen muß, grinst man. Man grinst, wenn man Bauchweh hat, man grinst, wenn der Tod kommt. Selbst wenn man beleidigt wird, grinst man. Dann sogar besonders liebenswürdig. — Man grinst überhaupt immerwährend.“
„Ästhetentum, mhm, weiß schon, — Oskar Wilde — ja, ja,“ sagte der Löwe, setzte sich ängstlich auf seinen Schweif und schlug ein Kreuz, — „also weiter.“
„Na ja, und der japanische Bushido wird jetzt sehr modern, seit sich die slawische Hochflut im Rinnstein verlaufen hat. Da ist z. B. Tschitrakarna — —“
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„Wer ist Tschitrakarna?“
„Was, Sie haben noch nie von ihm gehört? Merkwürdig! Tschitrakarna, das vornehme Kamel, das mit niemandem verkehrt, ist doch eine so bekannte Figur! Sehen Sie, Tschitrakarna las eines Tages Oskar Wilde, und das hat ihm den Verkehr mit seiner Familie so verleidet, daß es von da an seine eigenen einsamen Wege ging. Eine Zeitlang hieß es, es wolle nach Westen, nach Österreich, — dort seien nun aber schon so unglaublich viele — —“
„Kscht, ruhig, — hören Sie denn nichts?“ flüsterte der Panther —. „Es raschelt jemand —“
Alle duckten sich nieder und lagen bewegungslos wie die Steine.
Immer näher hörte man das Rascheln kommen und das Prasseln von zerbrochenen Zweigen, und plötzlich fing der Schatten des Felsens, in dem die vier kauerten, an zu wogen, sich zu krümmen und wie ins Unendliche anzuschwellen — — —
Bekam dann einen Buckel, und schließlich wuchs ein langer Hals heraus mit einem hakenförmigen Klumpen daran.
Auf diesen Augenblick hatten der Löwe, der Panther und der Fuchs gelauert, um sich mit einem Satz auf den Felsen zu schnellen. Der Rabe flatterte auf wie ein Stück schwarzes Papier, auf das ein Windstoß trifft.
Der bucklige Schatten stammte von einem Kamel, das den Hügel von der anderen Seite erklommen hatte und jetzt, beim Anblick der Raubtiere in namenlosem [S. 247] Todesschreck zusammenzuckend, sein seidenes Taschentuch fallen ließ.
Aber nur eine Sekunde machte es Miene zur Flucht, dann erinnerte es sich: — Bushido!! Blieb sofort steif stehen und grinste mit verzerrtem käseweißem Gesicht.
„Tschitrakarna ist mein Name,“ sagte es dann mit bebender Stimme und machte eine kurze englische Verbeugung, — „Harry S. Tschitrakarna! — — Pardon, wenn ich vielleicht gestört habe!“ — — Dabei klappte es ein Buch laut auf und zu, um das angstvolle Klopfen seines Herzens zu übertönen.
Aha: Bushido! dachten die Raubtiere.
„Stören? Uns? Keineswegs. Ach, treten Sie doch näher“, sagte der Löwe verbindlich (Bushido), „und bleiben Sie, bitte, solange es Ihnen gefällt. — Übrigens wird keiner von uns Ihnen etwas tun, — Ehrenwort darauf, — mein Ehrenwort.“
Jetzt hat der auch schon Bushido, natürlich jetzt auf einmal, dachte der Fuchs ärgerlich, grinste aber ebenfalls gewinnend.
Dann zog sich die ganze Gesellschaft hinter den Felsen zurück und überbot sich in heiteren und liebenswürdigen Redensarten.
Das Kamel machte wirklich einen überwältigend vornehmen Eindruck.
Es trug den Schnurrbart mit den Spitzen nach abwärts, nach der neuesten mongolischen Barttracht „Es ist mißlungen“ und ein Monokel — ohne Band natürlich — im linken Auge.
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Staunend ruhten die Blicke der vier auf den scharfen Bügelfalten seiner Schienbeine und der sorgfältig zur Apponyikrawatte geschlungenen Kehlmähne.
Sakerment, Sakerment, dachte sich der Panther und verbarg verlegen seine Krallen, die schwarze, schmutzige Ränder hatten vom Kartenspiel. — —
Leute von guten Sitten und feinem Takt verstehen einander gar bald. Nach ganz kurzer Zeit schon herrschte das denkbar innigste Einvernehmen, so daß man beschloß, für immer beisammen zu bleiben.
Von Furcht war bei dem vornehmen Kamel begreiflicherweise keine Rede mehr, und jeden Morgen studierte es „ The Gentlemans Magazine “ mit derselben Gelassenheit und Ruhe wie früher in den Tagen der Zurückgezogenheit.
Zuweilen wohl des Nachts — hie und da — fuhr es aus dem Schlafe mit einem Angstschrei auf, entschuldigte sich aber stets lächelnd mit dem Hinweis auf die nervösen Folgen eines bewegten Vorlebens. — —
Immer sind es einige wenige Auserwählte, die ihrer Umgebung und ihrer Zeit den Stempel aufdrücken. Als ob ihre Triebe und ihr Fühlen wie Ströme geheimnisvoller lautloser Überredungskunst sich von Herz zu Herz ergössen, schießen heute Gedanken und Ansichten auf, die gestern noch mit kindlicher Angst das zagende, sündenreine Gemüt erfüllt hätten und die vielleicht schon morgen das Recht der Selbstverständlichkeit werden erworben haben.
So spiegelte sich schon nach wenigen Monaten der erlesene Geschmack des vornehmen Kamels überall wider.
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Nirgends mehr sah man plebejische Hast.
Mit dem stetigen gelassenen, diskret schwingenden Schritte des Dandy promenierte der Löwe — weder rechts noch links blickend, und zum selben Zwecke wie weiland die vornehmen Römerinnen trank der Fuchs täglich Terpentin und hielt streng darauf, daß auch in seiner gesamten Familie ein gleiches geschah.
Stundenlang polierte der Panther seine Krallen mit Onglissa, bis sie rosenfarbig in der Sonne glänzten, und ungemein individuell wirkte es, wenn die Würfelnattern stolz betonten, sie seien gar nicht von Gott erschaffen worden, sondern, wie sich jetzt herausstelle, von Kolo Moser und der „Wiener Werkstätte“ entworfen.
Kurz, überall sproßte Kultur auf und Stil, und bis in die konservativsten Kreise drang modernes Fühlen.
Ja, eines Tages machte die Nachricht die Runde, sogar das Nilpferd sei aus seinem Phlegma erwacht, frisiere sich rastlos die Haare in die Stirne (sogenannte Giselafransen) — und bilde sich ein, es sei der Schauspieler Sonnenthal. — —
Da kam der tropische Winter.
Krschsch, Krschsch, Prschsch, Prschsch, Krschsch, Prschsch.
So ungefähr regnet es zu dieser Jahreszeit in den Tropen. Nur viel länger.
Eigentlich immerwährend und ohne Unterlaß von Abend bis früh, von früh bis Abend.
Dabei steht die Sonne am Himmel mies und trübfarbig wie ein Lebkuchen.
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Kurz, es ist zum Wahnsinnigwerden.
Natürlich wird man da gräßlich schlecht aufgelegt. Gar wenn man ein Raubtier ist.
Statt sich nun eben jetzt eines möglichst gewinnenden Benehmens zu befleißigen — schon aus Vorsicht —, schlug ganz im Gegenteil das vornehme Kamel des öfteren einen ironisch überlegenen Ton an, besonders, wenn es sich um wichtige Modefragen, Schick und dergleichen handelte, was naturgemäß Verstimmung und mauvais sang erzeugen mußte.
So war eines Abends der Rabe in Frack und schwarzer Krawatte gekommen, was dem Kamel sofort Anlaß zu einem hochmütigen Ausfall bot.
„Schwarze Krawatte zum Frack darf man — man sei denn ein Sachse — bekanntermaßen nur bei einer einzigen Gelegenheit tragen“ — hatte Tschitrakarna fallen lassen und dabei süffisant gegrinst.
Eine längere Pause entstand, — der Panther summte verlegen ein Liedchen, und niemand wollte zuerst das Schweigen brechen, bis sich der Rabe doch nicht enthalten konnte, mit gepreßter Stimme zu fragen, welche Gelegenheit das denn sei. „Nur, wenn man sich begraben läßt“, hatte die spöttische Erklärung gelautet, die ein herzliches, den Raben aber nur noch mehr verletzendes Gelächter auslöste.
Alle hastigen Einwendungen wie: Trauer, enger Freundeskreis, intime Veranstaltung usw. usw. machten die Sache natürlich nur noch schlimmer.
Aber nicht genug damit, ein anderes Mal — die Sache war längst vergessen — als der Rabe mit einer [S. 251] weißen Krawatte, jedoch im Smoking, erschienen war, brannte das Kamel in seiner Spottlust förmlich nur darauf, die verfängliche Bemerkung anzubringen:
„Smoking? Mit weißer Krawatte? Hm! wird doch nur während einer Beschäftigung getragen.“
„Und die wäre?“ war es dem Raben voreilig herausgefahren.
Tschitrakarna hüstelte impertinent: „Wenn Sie jemanden rasieren wollen.“
Das ging dem Raben durch und durch.
In diesem Augenblick schwur er dem vornehmen Kamel Rache bis in den Tod. — —
Schon nach wenigen Wochen fing infolge der Jahreszeit die Beute für die vier Fleischfresser an immer knapper und spärlicher zu werden, und kaum wußte man, woher auch nur das Allernötigste nehmen.
Tschitrakarna genierte das natürlich nicht im geringsten; stets bester Laune, gesättigt von prächtigen Disteln und Kräutern, lustwandelte es, wenn die andern mit aufgespannten Regenschirmen fröstelnd und hungrig vor dem Felsen saßen, in seinem raschelnden wasserdichten Macintosh — leise eine fröhliche Melodie pfeifend — in allernächster Nähe.
Man kann sich den steigenden Unwillen der vier leicht vorstellen. Und das ging Tag für Tag so! Mitansehen müssen, wie ein anderer schwelgt, und selbst dabei verhungern!!!
„Nein, hol’s der Teufel,“ hetzte eines Abends der Rabe (das vornehme Kamel war gerade in einer Premiere), „hauen wir doch dieses idiotische Gigerl in die [S. 252] Pfanne. Tschitrakarna!! Hat man denn was von dem Binsenfresser? — Bushido! — natürlich Bushido! — ausgerechnet jetzt im Winter; so ein Irrsinn. Und unsern Löwen — — bitte, sehen Sie doch nur, wie er von weitem aussieht jetzt, — wie ein Gespenst — unsern Löwen, den sollen wir glatt verhungern lassen? Hm? Das ist vielleicht auch Bushido, ja?“
Der Panther und der Fuchs gaben dem Raben rückhaltlos recht. — — —
Aufmerksam hörte der Löwe die drei an, und das Wasser lief ihm zu beiden Seiten aus dem Maul, während sie ihm Vorstellungen machten. „Töten? — Tschitrakarna?“ — sagte er dann. „Nicht zu machen, gänzlich ausgeschlossen; Pardon, ich habe doch mein Ehrenwort gegeben!“ Und erregt ging er auf und nieder.
Aber der Rabe ließ nicht locker: „Auch nicht, wenn es sich von selbst anbieten würde?“
„Das wäre natürlich was anderes“, meinte der Löwe. „Wozu aber all diese dummen Luftschlösser!“
Der Rabe warf dem Panther einen heimtückischen Blick des Einverständnisses zu.
In diesem Augenblick kam das vornehme Kamel nach Hause, hängte Opernglas und Stock an einen Ast und wollte eben einige verbindliche Worte sagen, da flatterte der Rabe vor und sprach: „Weshalb sollen alle darben: — besser drei satt als vier hungrig. Lange habe ich —“
„Verzeihen Sie recht sehr, ich muß aber hier allen Ernstes — schon als Älterer — auf dem Rechte des Vortritts bestehen.“ Damit schob ihn der Panther — [S. 253] nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Fuchs — höflich aber bestimmt zur Seite mit den Worten:
„Mich, meine Herrschaften, zur Stillung des allgemeinen Hungers anzubieten, ist mir nicht nur Bushido, ja sogar Herzenswunsch; ich äh — — ich äh — —“
„Lieber, lieber Freund, wo denken Sie hin,“ unterbrachen ihn alle, auch der Löwe (Panther sind bekanntlich ungemein schwierig zu schlachten), „Sie glauben doch nicht im Ernst, wir würden — — — Ha, ha, ha.“
Verdammte Geschichte, dachte sich das vornehme Kamel, und eine böse Ahnung stieg in ihm auf. Ekelhafte Situation; — — aber Bushido, — übrigens — — ach was, einmal ist’s ja schon geglückt, also Bushido!!
Mit lässiger Gebärde ließ es das Monokel fallen und trat vor. „Meine Herren, äh, ein alter Satz sagt: Dulce et decorum est pro patria mori! Wenn ich mir also gestatten darf — — —“
Es kam nicht zu Ende.
Ein Gewirr von Ausrufen ertönte: „Natürlich, Verehrtester, dürfen Sie“, hörte man den Panther höhnen.
„ Pro patria mori , juchhu, — dummes Luder, werde dir geben Smoking und weiße Krawatte“, gellte der Rabe dazwischen.
Dann ein furchtbarer Schlag, das Brechen von Knochen, und Harry S. Tschitrakarna war nicht mehr.
*
Tja, Bushido ist eben nicht für Kamele.
TIER-
GESCHICHTEN
MAX GEISSLER
Kikimora, die Waldeule
Aus dem Teufelsmoor bei Bremen kommt die Waldeule Kikimora auf ein nach Indien fahrendes Segelschiff. Wie sie dann entflieht, zum Libanon flattert, bis sie nach der deutschen Heimat, in den sächsischen Wald zurückkehrt das ist der Inhalt dieses reizvollen Tierromans. Er hat die dichterische Note Geißlers, die man kennt, sein lebendiges Naturgefühl und einen weisen Humor, der die Vorgänge im Tierrevier für Menschen vermenschlicht.
In Halbleinen geb. M. 3.50
Die grüne Stadt
Mit unendlicher Andacht zum Kleinen gibt Geißler hier den Roman des vom Konzert vieler tausend Stimmen durchklungenen mitteldeutschen Waldes.
In Halbleinen geb. M. 3.50
VERLAG ULLSTEIN
BERLIN
TIER-
GESCHICHTEN
MAX GEISSLER
Schmetterlingstanz
Voller Lebensfreudigkeit ist dieses Buch und doch auch voller Ernst, wenn die Gesetze der Natur zur Geltung kommen.
In Halbleinen geb. M. 4.—
FELIX SALTEN
Bambi
Von einem jungen Reh handelt die episch einfache Erzählung. Überraschend ist die Intimität von Saltens Eindringen in die geheimsten Vorgänge des Waldreviers.
In Halbleinen geb. M. 4.—
A. BERGER
Exotische Tiergeschichten
Mit vielen Zeichnungen von M. Pathe
Alles ist so fabelhaft echt gesehen, so scharf belauscht, daß diese Bilder wie die große Natur selbst wirken.
In Halbleinen geb. M. 4.50
VERLAG ULLSTEIN
BERLIN
In Kürze erscheint:
GUSTAV MEYRINK
Des deutschen Spießers Wunderhorn
Gesammelte Erzählungen
Geheftet 6 Mark, in Leinen gebunden 8.50 Mark
Diese Gesamtausgabe von Gustav Meyrinks Novellen enthält außer einigen neuen Arbeiten die Novellen der früher erschienenen Bücher
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Wachsfigurenkabinett
Sonderbare Geschichten
Buchschmuck und Umschlag von André Lambert
Geheftet 4 Mark, gebunden 6 Mark
Orchideen
Sonderbare Geschichten
Umschlag und Buchschmuck von Ign. Taschner
Geheftet 2 Mark, gebunden 4 Mark
Der heiße Soldat
und andere Geschichten
Künstlerisch gebunden 1 Mark
Jörn Uhl und Hilligenlei
Zwei Parodien
Umschlag von O. Gulbransson, Buchschmuck von André Lambert — Geheftet —.50 Mark
Diese Einzelausgaben bleiben auch weiterhin bestehen
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ALBERT LANGEN, VERLAG
MÜNCHEN
Gedruckt im Ullsteinhaus, Berlin