Title : Auf Schneeschuhen durch Grönland. Erster Band
Author : Fridtjof Nansen
Illustrator : Andreas Bloch
Thorolf Holmboe
Eivind Nielsen
Erik Theodor Werenskiold
Translator : Mathilde Mann
Release date : August 6, 2023 [eBook #71354]
Language : German
Original publication : Hamburg: Verlagsanstalt und Druckerei Actien-Gesellschaft
Credits : The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1898 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.
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Das Original-Umschlagbild wurde vom Bearbeiter ergänzt und in die Public Domain eingebracht. Ein Urheberrecht wird nicht geltend gemacht. Das Bild darf von jedermann unbeschränkt genutzt werden.
Von
Dr. Fridtjof Nansen.
Autorisirte deutsche Uebersetzung von M. Mann.
Zweite Ausgabe.
Mit 159 Abbildungen und 4 Karten.
Erster Band.
Hamburg.
Verlagsanstalt und Druckerei Actien-Gesellschaft
(vormals J. F. Richter).
1898.
Druck der Verlagsanstalt und Druckerei
Actien-Gesellschaft
(vormals J. F. Richter) in Hamburg.
Seite
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Kap. I.
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Einleitung
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II.
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Ausrüstung
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III.
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Das Schneeschuhlaufen, die Entwickelung und die
Geschichte dieser Kunst
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IV.
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Von Norwegen nach Island
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V.
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Reise von Island zum Klappmützenfang
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VI.
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Die Klappmütze (
Cystophora Cristata
)
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VII.
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An Bord des Jason
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VIII.
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Gegen Land. — Das Treiben im Eise
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IX.
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Wir treiben weiter durch das Eis
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X.
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Historische Uebersicht über frühere Versuche, den
Eisgürtel auf Grönlands Ostküste zu durchdringen etc.
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XI.
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Nordwärts an der Ostküste entlang. Zusammentreffen
mit Eskimos
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XII.
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Ein Eskimolager
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XIII.
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Weiter nordwärts an der Küste entlang
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XIV.
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Neues Zusammentreffen mit Eskimos. Zwischen Eisbergen
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[S. 1]
s war im Sommer 1882, als ich an Bord des norwegischen Seehundfängers „ Viking “ unter dem noch unbekannten Theil der grönländischen Ostküste (auf dem 66° 50′ N. B.) im Eise stecken blieb. 24 Tage lagen wir dort fest, und mit jedem Tage wurden wir zum Entsetzen der Besatzung der felsigen Küste näher getrieben. Die Berggipfel und Gletscher dort hinter dem Treibeise lagen am helllichten Tage da und glänzten. Am Abend und zur Nachtzeit, wenn die Sonne sie bei ihrem Rundgang berührte und den Horizont hinter ihnen in ein Feuermeer verwandelte, trat ihre wilde Schönheit noch mehr hervor. Daß das Fernrohr vom Großmast aus mehr als einmal am Tage gen Westen gerichtet wurde, und daß diese ganze unbekannte Welt meine junge Seele zu sich hin zog und lockte, ist wohl kaum zu verwundern. Unablässig grübelte [S. 2] ich darüber nach, wie diese Küste zu erreichen sei, die so Viele vergebens gesucht haben, und ich kam zu dem Resultat, daß sie zu erreichen sei, wenn nicht durch das Eis vermittels eines Schiffes — wie man das früher versucht hatte —, so doch über dasselbe, und zwar indem man Boote hinter sich herzog. Ich wollte sogar gleich einen Versuch machen und allein über das Eis an Land spazieren. Dies Vorhaben scheiterte jedoch an dem Kapitän, der es unter den obwaltenden Verhältnissen nicht verantworten zu können glaubte, daß irgend Jemand das Schiff auf längere Zeit verließ.
Nach meiner Heimkehr schrieb ich infolge einer Aufforderung einen Artikel in der „Geografisk Tidsskrift“ (7. Band, S. 76), in welchem ich meine Vermuthung aussprach, daß sich Grönlands Ostküste ohne Schwierigkeiten würde erreichen lassen, indem man mit einem norwegischen Seehundfänger so weit wie möglich vordränge, das Schiff dann verließe und sich über das Eis an Land begäbe. Daß mir schon damals der Gedanke vorschwebte, in das Innere des Landes vorzudringen, läßt sich also nicht leugnen, — dieser Gedanke gewann jedoch erst bei einer späteren Gelegenheit feste Gestalt.
Es war an einem Herbstabend im darauf folgenden Jahre — also 1883 —, ich erinnere mich dessen, als sei es gestern gewesen. Ich saß und hörte gleichgültig zu, wie aus den Zeitungen vorgelesen wurde. Da fesselte meine Aufmerksamkeit plötzlich ein Telegramm, welches berichtete, daß Nordenskjöld glücklich von seiner Expedition nach Grönlands Innerem zurückgekehrt sei, daß er keine Oasen, sondern nur endlose Schneefelder gefunden habe, auf welchen seine beiden Lappen in kurzer Zeit eine unglaubliche Strecke zurückgelegt und sich äußerst günstig über die Schneeschuhbahn geäußert haben sollten. Der Gedanke, Grönland auf Schneeschuhen von einer Küste bis zur anderen zu durchdringen, [S. 3] durchzuckte mich wie ein Blitz. Der Plan war fertig, so wie er später vorgelegt und ausgeführt wurde.
Mein Plan war in aller Kürze der folgende: Wenn man eine Expedition kräftiger Schneeschuhläufer auf zweckmäßige Art ausrüstete, so mußten diese im stande sein, Grönland zu durchqueren, falls sie von der richtigen Seite anfingen; dieser letzte Punkt aber war von großer Wichtigkeit.
Fing man, wie alle früheren Expeditionen, von der Westküste an, so konnte man sicher sein, nicht durchzudringen. Man würde in dem Falle die Fleischtöpfe Aegyptens hinter sich haben, während man vor sich nur die unbekannte Eiswüste und die Ostküste hatte, die nicht viel besser ist. Und selbst für den Fall, daß man durchdrang, hatte man einen ebenso langen Weg zurückzulegen, um wieder in die Heimath zu gelangen.
Der einzig sichere Weg war meiner Meinung nach, durch das Treibeis vorzudringen, an Grönlands öder, eisbedeckter Ostküste zu landen und sich von hier aus nach der bewohnten Westküste zu begeben. Auf diese Weise brach man alle Brücken hinter sich ab, man hatte nicht nöthig, die Mannschaft vorwärts zu treiben, — die Ostküste würde kaum einen Einzigen zur Umkehr verlocken, während vor uns die Westküste lag, die uns mit allen Annehmlichkeiten der Civilisation winkte und zu sich zog. Da war keine Wahl, — nur vorwärts! Die Parole würde lauten: Der Tod oder Grönlands Westküste.
Im folgenden Jahr setzte ich meinen Plan einem Bekannten in Dänemark brieflich auseinander und machte den Vorschlag, eine dänisch-norwegische Expedition nach der Ostküste Grönlands zu unternehmen. Die Dänen sollten die Ostküste untersuchen, während sich die Norweger auf Schneeschuhen über das Inlandseis nach der Westküste begaben.
[S. 4]
Dieser Vorschlag führte jedoch zu keinem Resultat, und da ich anderweitig stark in Anspruch genommen war, ruhte die Sache während einiger Jahre. Erst im Herbst 1887 faßte ich den Entschluß, meinen Plan allen Ernstes wieder aufzunehmen. Meine ursprüngliche Absicht war es, die Expedition mit Privatmitteln auszuführen, als ich aber von verschiedenen Seiten dringend aufgefordert wurde, die norwegische Universität um die nöthigen Mittel zu ersuchen, um der Expedition dadurch ein öffentliches, nationales Gepräge zu verleihen, willigte ich ein und reichte ein Gesuch um 5000 Kronen zu der Ausführung einer Reise nach diesem Plan an die Universität ein.
Das Gesuch wurde auf das kräftigste von dem akademischen Kollegium unterstützt und der Regierung übersandt, damit diese die Sache in Erwägung ziehen und das Gesuch auf reguläre Weise als Regierungsvorschlag an das Storthing weiter befördern sollte. Von der Regierung erhielt ich indessen die Antwort, daß man nicht glaube, auf den Vorschlag eingehen zu können, und in den regierungsfreundlichen Organen hieß es sogar, daß man keinerlei Grund habe, das norwegische Volk die große Summe von 5000 Kronen bezahlen zu lassen, damit ein Privatmann eine Vergnügungsreise nach Grönland unternehmen könne. Die Meisten, die von meinem Plan hörten, hielten ihn für den reinsten Blödsinn, — ich müsse entweder nicht bei meinen fünf Sinnen oder doch mindestens lebensüberdrüssig sein, — was denn in Grönlands Innerem zu holen sei? Glücklicherweise war eine Unterstützung seitens der Regierung oder anderer keine Nothwendigkeit für mich, denn ich erhielt von einem Manne in Kopenhagen das Anerbieten, mir die Summe, um welche ich eingekommen war, auszubezahlen. Dieser Mann war der Etatsrath Augustin Gamél , der sich schon durch die Ausrüstung der [S. 7] Dijmphna -Expedition um die arktische Forschung verdient gemacht hatte. Dies Anerbieten von einem Ausländer und einem mir persönlich unbekannten Manne, zu einer Expedition beizutragen, welche von den Meisten für Wahnsinn erklärt wurde, erschien mir so edelmüthig, daß ich mich keinen Augenblick besinnen konnte, es anzunehmen.
Erst im Januar 1888 trat ich in einem Artikel in der norwegischen Zeitschrift „Naturen“, betitelt „Grönlands Inlandsis“, mit meinem Plan an die Oeffentlichkeit. Nachdem ich u. a. die zahlreichen früheren Versuche, in das Innere Grönlands vorzudringen, erwähnt hatte, sage ich:
„Mein Plan ist in aller Kürze der folgende: Mit drei bis vier der besten, ausdauerndsten Skiläufer, die aufzutreiben sind, beabsichtige ich, mich anfangs Juni mit einem der norwegischen Seehundsfangfahrzeuge von Island aus nach Grönlands Ostküste zu begeben und ungefähr beim 66° N. B. zu versuchen, mich so weit wie möglich der Küste zu nähern. [1]
Kann das Fahrzeug das Land nicht erreichen, was jedoch nach den von den Seehundsfängern gemachten Erfahrungen, die sich häufig dieser Küste genähert haben, [2] nicht unwahrscheinlich ist, — so verläßt die Expedition das Fahrzeug, sobald dies der Küste so nahe wie möglich gekommen ist, und begiebt sich über das Eis an Land. Um über das offene Wasser zu gelangen, das [S. 8] sich voraussichtlich in der Nähe der Küste befindet, zieht man ein leichtes Boot auf Schienen hinter sich her über das Eis. Daß eine solche Fahrt über das Treibeis möglich ist, glaube ich auf Grund früherer Bekanntschaft mit demselben annehmen zu können. Im Jahre 1882 machte ich nämlich mit dem Seehundsfänger „Viking“ aus Arendal eine Reise in diese Gegend, und wir saßen im Juni an der Ostküste von Grönland im Eise fest. 24 Tage hindurch trieben wir an der Küste, an welcher ich jetzt an Land zu gehen gedenke, entlang, und ich hatte während der Zeit auf meinen zahlreichen Wanderungen und Jagdausflügen reichliche Gelegenheit, Bekanntschaft mit der Beschaffenheit des Eises und den Schneeverhältnissen zu machen, wie wir auch auf unserer Reise häufig infolge plötzlicher Einklemmungen gezwungen waren, unsere Boote lange Strecken über die Eisschollen zu ziehen. — Auf diese Weise glaube ich also das Land erreichen zu können. Am liebsten würde ich es sehen, wenn dies ein wenig nordwärts von Kap Dan geschehen könnte, da die Küste hier noch nicht von Europäern bereist ist und schon an der Küste vielerlei von Interesse zu untersuchen sein würde. Weiter südwärts dagegen ist die Küste verhältnißmäßig bekannt, da die dänische Frauenboots-Expedition unter Kapitän Holms Leitung im Jahre 1884 bis zu einem etwas nördlich von Kap Dan gelegenen Punkt vordrang und in Angmagsalik, einer Kolonie heidnischer Eskimos, etwas südlich von dem genannten Vorgebirge, überwinterte. Nachdem wir die Untersuchungen an der Küste gemacht haben, die sich ohne große Zeitvergeudung ausführen lassen, treten wir sobald wie möglich die Wanderung über das Inlandseis an. Gelangt die Expedition nördlich von Kap Dan ans Land, so beginnen wir unsere Wanderung am Ende eines der dort belegenen Fjorde; landen wir dagegen südlicher, so müssen wir uns in den tiefen [S. 9] Sermilikfjord begeben, um von hier aus auf das Eis zu kommen.
Die Expedition versucht gleich so hoch wie möglich auf eisfreies Terrain zu gelangen, selbst wenn die Steigung hier bedeutend stärker sein sollte als auf den Gletschern; hierdurch hat man nämlich den Vortheil, daß man, wenn es sich endlich als nothwendig zeigt, auf das Eis zu gehen, voraussichtlich flacheres und ebeneres Eis finden und gleichzeitig das schlimmste Gletschereis vermeiden wird, das uns durch seine Unebenheiten und Spalten nicht geringe Gefahren und Hindernisse in den Weg legen kann. Auf das Eis gekommen, richtet die Expedition ihren Kurs auf Christianshaab an der Diskobucht, und sucht diesen Ort baldmöglichst zu erreichen. Indem man sich nach der Diskobucht begiebt, statt eine südlichere Richtung einzuschlagen, hat man auf der einen Seite den Vortheil, daß man auf dem nördlicheren Wege voraussichtlich eine bessere Schneeschuhbahn finden wird, und auf der anderen Seite den, daß man an der Diskobucht, wo keine tiefen Fjorde in das Land einschneiden, verhältnißmäßig leicht bewohnte Orte antreffen wird, da die vor der Küste belegene Diskoinsel mit ihren etagenförmigen Basaltklippen vom Inlandseise aus gesehen einen guten Wegweiser abgeben dürfte, um von dort mit Leichtigkeit nach einer der beiden Kolonien Jakobshafen oder Christianshaab zu gelangen, die ungefähr einen halben Grad voneinander entfernt an der Diskobucht liegen.
Die Entfernung von der Ostküste, wo ich zu landen gedenke, bis zu der Diskobucht beträgt ungefähr 670 km ; wenn man nun rechnet, daß man täglich 20-30 km zurücklegen kann, was für Schneeschuhläufer sehr mäßig gerechnet ist, so wird die Reise nicht über einen Monat währen; nimmt man aber Proviant [S. 10] für die doppelte Zeit mit, so scheint alle Wahrscheinlichkeit für einen glücklichen Ausgang vorhanden zu sein.
Der Proviant muß auf Schlitten gezogen werden. Außer den gewöhnlichen Schneeschuhen ( Ski ) denke ich eine andere Art Schneeschuhe ( Truger ) [3] mitzunehmen, die dort, wo der Schnee weich und naß ist, zweckmäßiger sind.
Neben dem Proviant für ungefähr zwei Monate, sowie den verschiedenen Arten von Schneeschuhen sollen ferner die nothwendigen Instrumente zur Ortsbestimmung etc. etc. mitgenommen werden.“
Daß gegen einen Plan wie diesen auch in der Presse mehr oder weniger kräftige Einwendungen erhoben wurden, ist ja nicht zu verwundern; sie zeichneten sich jedoch durchgehend dadurch aus, daß sie auffallende Unkenntniß der Eis- und Schneeverhältnisse sowie der Passage über die Eis- und Schneefelder verriethen.
Ich kann mir das Vergnügen nicht versagen, hier einige kleine Auszüge aus einem Vortrag wiederzugeben, der von einem jungen dänischen Grönlandsfahrer in Kopenhagen gehalten und in der dänischen Zeitschrift „Neue Erde“ ( Ny Jord ) im Januar 1888 abgedruckt worden ist. Da heißt es u. a.:
„Andere Pläne sind nicht weiter als bis auf das Papier gelangt, so z. B. der Vorschlag in einem Ballon quer über das Inlandseis zu gehen, der schon Ende des vorigen Jahrhunderts gemacht wurde. Zu der letzten Klasse von Vorschlägen, die bis dahin nur bis auf das Papier gelangten, gehört auch derjenige, der von dem nordischen Zoologen, dem Konservator an dem Museum zu Bergen, Fridtjof Nansen gemacht ist.“ — — —
[S. 11]
„Es ist sehr viel, was für den Grundgedanken in Nansens Expedition spricht, sowohl daß er sich von der Ostküste nach dem civilisirten Theil Grönlands hinüberzubegeben gedenkt (statt umgekehrt), als auch, daß er als tüchtiger Skiläufer Ski als Beförderungsmittel benutzen will. Aber mit dieser Anerkennung der Grundgedanken des Planes muß auch für Jeden, der etwas von den Verhältnissen kennt, die Anerkennung aufhören. Schon die Art und Weise, wie Nansen die Ostküste zu gewinnen gedenkt, indem er nämlich die sichere Schiffsplanke verlassen und gleich einem Eisbären von einer schaukelnden Eisscholle auf die andere wandern will, bis er das Ufer erreicht hat, ist ja so dummdreist, daß man nicht weiß, was man dazu sagen soll.
Jedoch den Fall gesetzt, das Glück wäre dem Kühnen hold und Nansen erreichte die Ostküste Grönlands, was will er dann anfangen, um das eigentliche, ebene Inlandseis zu erreichen, — mit anderen Worten, wie will er über den äußeren Rand des Inlandseises gelangen, wo Fels auf Fels aus der Eisdecke emporragt und diese aller Wahrscheinlichkeit nach an den meisten Stellen unpassirbar macht.“ — — —
„ Nansens Plan, gerade die steilen Küstenfelsen zu erklimmen und von dort auf das aufgedämmte hohe Eisfeld zu spazieren, verräth deshalb eine vollständige Unkenntniß der Verhältnisse.“ — —
— — „Mit dem, was man vom Außenlande sehen kann, hört meine Erfahrung auf, und ich kann deswegen nicht darauf eingehen, den Plan zu kritisiren, der darauf ausgeht, den inneren Theil des Inlandseises zu passiren, und eine genügende Menge Proviant mit sich zu führen, — ich glaube übrigens, daß sich dieser Plan möglicherweise ausführen ließe, falls Nansen wirklich über den ersten Rand des Eises gelangen könnte.
[S. 12]
Auf etwas ganz anderes dagegen halte ich mich für verpflichtet und berechtigt in der vorliegenden Angelegenheit aufmerksam zu machen: nämlich, daß meiner Ansicht nach Niemand das moralische Recht hat, durch Wagnisse, die nur eine geringe Aussicht haben, zu irgend welchem Resultat zu führen, die Eskimo-Einwohner Ostgrönlands zu belästigen, indem man von ihnen verlangt, daß sie Einem aus der Klemme helfen, in die man sich selber ohne jeglichen Zweck hineinbegeben hat. Es kann nämlich für uns Wenige, die etwas von den Verhältnissen im dänischen Ostgrönland kennen, kein Zweifel darüber sein, daß man, — so wie Nansens Plan entworfen ist, falls nicht das Schiff die Küste erreicht und auf ihn wartet, bis er gezwungen ist, seinen Plan aufzugeben, — zehn gegen eins wetten kann, daß Nansen entweder sein Leben und vielleicht das Anderer, ohne allen Zweck aufs Spiel setzt oder auch, daß er von den Eskimos aufgenommen und von diesen an der Küste entlang bis zu den dänischen Stationen an der Westküste geführt wird. Niemand aber hat das Recht, die Ostgrönländer ohne Zweck zu einer langen und für sie verderblichen Reise zu veranlassen.“ — — —
Diese Artikel waren sicher in bester Absicht geschrieben, aber sie geben doch ein klares Beispiel, welche fast abergläubische Angst viele Menschen — und darunter selbst Sachverständige und Autoritäten — vor dem Inlandseise und vor einer Passage über die Schnee- und Eisfelder bis vor ganz kurzem empfunden haben müssen. Der Verfasser des oben erwähnten Artikels hatte sich selber mehrere Jahre lang am Rande des Inlandseises aufgehalten, aber niemals war ihm der Gedanke gekommen, einen kleinen Spaziergang über diesen Rand hinaus zu machen. Er würde sicher schon bei den ersten Schritten viele seiner groben [S. 13] Irrthümer eingesehen haben und sich darüber klar geworden sein, „was eine völlige Unkenntniß der Verhältnisse“ bedeute.
In einem anderen wenn möglich noch weniger sachkundigen Artikel hieß es, daß wenn Nansen selber so verrückt sein wolle, so etwas zu wagen, er doch sicher nicht einen einzigen Menschen mit sich bekommen würde, und allein könne er das Wagniß doch nicht unternehmen!
Auch in der englischen Presse erschienen mehrere Artikel gegen die Expedition.
Aber trotz aller dieser warnenden Stimmen und trotz der allgemeinen Ansicht, daß das Ganze eine Tollheit sei, fanden sich doch genug Menschen, die sich daran betheiligen wollten. Ich erhielt über 40 Gesuche von Leuten in den verschiedensten Stellungen. — Da waren Offiziere, Pharmaceuten, Kaufleute, Bauern, Seeleute, Studenten etc. etc. Und außerdem waren noch Viele da, die kein direktes Gesuch einreichten, die aber sagten, daß sie mehr als gerne mitwollten, und daß sie sich melden würden, wenn sie wüßten, daß es ihnen nützen könne. Es waren auch nicht allein Norweger, sondern aus Dänemark, Frankreich, Holland und England liefen gleichfalls Gesuche ein.
Ich konnte indessen nur Leute gebrauchen, die mit dem Schneeschuhlaufen vertraut und die als energische ausdauernde Menschen bekannt waren. Ich wählte folgende Norweger: Otto Sverdrup , früheren Schiffskapitän, Oluf Dietrichson , damals Premier-Lieutenant, jetzt Kapitän bei der norwegischen Infanterie, und Kristian Kristiansen Trana , einen norwegischen Bauernburschen. Da ich ursprünglich die Absicht hatte, Rennthiere mitzunehmen, und da ich glaubte, Nutzen aus dem angeborenen Ortssinn der Naturvölker, sowie ihrer Gabe, sich in alle möglichen Lagen des Lebens zu finden, ziehen zu können, so schrieb ich an ein [S. 14] paar mir empfohlener Männer in Finnmarken und fragte an, ob sie mir ein paar Berglappen verschaffen könnten, die geneigt seien mitzukommen. Ich fügte hinzu, daß es muthige Leute sein müßten, bekannt als besonders ausdauernd und geeignet, sich auf unbekanntem Terrain zurecht zu finden; auch müßten sie von vorneherein völlig über die gefahrvolle Natur des Vorhabens unterrichtet sein, es müsse ihnen eingeschärft werden, daß ebenso viel Aussicht vorhanden sei, daß sie nicht zurückkehrten, als daß sie ihre Heimath glücklich wieder erreichten, — ferner müßten es unverheirathete Leute in einem Alter zwischen 30 und 40 Jahren sein, da ich glaube, daß Körper wie Geist in dem Alter am widerstandfähigsten und geeignetsten für ein solches Unternehmen seien.
Es währte lange, ehe Antwort auf meine Vorfrage kam, — die Post gelangt nicht schnell zu den Bewohnern Finnmarkens, — nur alle vierzehn Tage kommt sie mittels einer Rennthierpost über das Gebirge zu ihnen. Endlich als die Zeit bereits drängte, erhielt ich die Antwort, ich könne zwei tüchtige Kerle aus Karasjok bekommen, wenn ich gut bezahlen wolle. Ich ging so ungefähr auf ihre Forderungen ein und telegraphirte, daß sie baldmöglichst kommen müßten. Dann erhielt ich die Nachricht, sie seien unterwegs und würden den und den Tag eintreffen, — ich war natürlich sehr gespannt darauf, sie zu sehen. An einem Sonnabend Abend wurden sie erwartet. Es waren Leute am Bahnhof, um sie in Empfang zu nehmen und sie in ihr Logis zu führen. Aber keine Lappen kamen. Auch am Sonntag kamen sie nicht. Niemand konnte begreifen, was aus ihnen geworden war; endlich am Montag hieß es, nun seien sie angekommen. Und wirklich, sie waren gekommen, — mit dem gemischten Güterzug statt mit dem Eilzug. Ich [S. 15] eilte nach ihrem Logis und kam in ihr Zimmer, — mitten in demselben stand ein junger, hübscher Mann mit einem beinahe mehr finnischen als lappländischen Aussehen, hinten in einer Ecke saß ein alter Mann mit langem, schwarzem Haar, das ihm über die Schultern hing; er war klein von Wuchs, sah aber noch kleiner aus, wie er da zusammengekrochen auf einer Kiste saß. Er hatte ein stärkeres lappländisches Aeußere als der Junge. Auf ihn paßte völlig die Beschreibung, die Peder Daß (1685) von den Lappen giebt:
Als ich eintrat, neigte er den Kopf und kreuzte die Arme auf morgenländische Weise, — der Junge grüßte auf ganz gewöhnliche Art. Der Alte konnte nur wenig Norwegisch, deshalb mußte ich mit dem Jungen sprechen. Ich fragte, ob sie sich wohl befänden, und weshalb sie mit dem langsamen Zuge gekommen seien. Ja, sie hätten es nicht besser gewußt, und dann sei es mit dem Zuge ein paar Kronen billiger gewesen.
„Wie alt seid Ihr denn?“ — „Ich bin 26 Jahre alt, und er dort, Ravna, ist 45 Jahre.“ Das war denn doch eine merkwürdige Geschichte! Ich hatte ausdrücklich betont, daß sie zwischen 30 und 40 Jahre alt sein sollten. „Ihr seid beide Berglappen?“ — „Nein, nur Ravna ist Berglappe, ich bin in Karasjok ansässig.“ — Noch schlimmer; ich hatte ausbedungen, daß es Berglappen sein sollten. „Aber seid Ihr denn gar nicht bange davor, die Reise zu unternehmen?“ — [S. 16] „Ja, wir ängstigen uns sehr, man hat uns unterwegs gesagt, die Expedition sei so gefährlich, daß wir wohl nicht lebendig wieder nach Hause kämen, und deshalb sind wir so bange geworden.“ — Aber das war denn doch zu arg! Sie waren nicht einmal von dem in Kenntniß gesetzt worden, worauf sie eingingen, die armen Menschen! Ich hatte die größte Lust, sie gleich wieder nach Hause zu schicken, aber jetzt war es zu spät, andere Leute zu verschreiben.
Ich mußte sie behalten, deshalb war es das Beste, sie zu trösten, so gut ich konnte und ihnen zu sagen, daß das, was die Leute redeten, Unsinn sei, — ihnen schon im voraus den Muth zu nehmen, hatte gar keinen Zweck, sie konnten ihn ohnedies schnell genug verlieren. Wenn sie auch nicht so stark und ausdauernd aussahen, wie ich es gewünscht hatte, so machten sie doch den Eindruck von herzensguten, zuverlässigen Menschen. Und daß sie das waren, haben sie in vollem Maße bewiesen, und in Hinsicht auf ihre Ausdauer ließen sie nichts zu wünschen übrig. Als Naturvolk betrachtet, hatte ich von ihnen übrigens bei weitem nicht den erwünschten Nutzen. So wurden sie beispielsweise zu Rekognoscirungen überall nicht verwendet.
In einer Schilderung, [4] welche Balto von der ganzen Fahrt gemacht hat, fährt er, nachdem er von seiner Reise von Finnmarken erzählt und wie ihnen die Leute unterwegs allen Muth genommen hätten, indem sie mich als einen ganz verrückten Menschen darstellten, folgendermaßen fort:
„Am 14. April reisten wir von Trondhjem und kamen [S. 17] am 16. April nach Kristiania. Nansen hatte einen Mann nach dem Bahnhofe geschickt, um uns in Empfang zu nehmen, nämlich Sverdrup; er kam zu uns und fragte: „Seid Ihr die beiden Männer, die mit Nansen wollen?“ — Wir antworteten, daß wir es seien. Sverdrup erzählte, daß auch er einer von denen sei, die mit Nansen wollten, und er erzählte, daß er ausgegangen sei, um uns zu empfangen. „Kommt jetzt mit mir!“ und wir gingen mit ihm, und er führte uns in ein Hotel, das in der Tolbodgade Nr. 30 liegt. Nach Verlauf einer Stunde kamen Nansen und Dietrichson, um uns zu begrüßen. Es war überaus herrlich und wunderbar, als wir diesen unsern fremden Herrn zu sehen bekamen, nämlich Nansen. Er war uns fremd, aber sein Antlitz schien uns entgegen, als sei es das Antlitz unserer zurückgebliebenen Eltern gewesen, so schön kam es mir vor, und so war auch sein an uns gerichteter Willkommgruß. Alle die fremden Leute in der Stadt waren sehr gut und freundschaftlich gegen uns Lappen während der ganzen Zeit, die wir in Kristiania waren; von der Zeit an wurden wir noch vergnügter, und das war sehr angenehm für uns.“
Da wir uns nun durch dies ganze Buch hindurch mit diesen fünf Menschen beschäftigen sollen, wäre es vielleicht ganz angebracht, sie einzeln vorzustellen. Wir wollen mit den Norwegern anfangen und sie dem Alter nach vorführen.
Otto Neumann Sverdrup wurde am 31. Oktober 1855 auf dem Hofe Haarstad in Bindalen auf Helgeland geboren. Sein Vater war der Wald- und Hofbesitzer Ulrik Sverdrup und seine Mutter war Petra Knoph .
In einer rauhen Natur geboren und von Kindheit an daran gewöhnt, sich in allen möglichen Beschäftigungen und in allem möglichen Wetter in Wäldern und auf Bergen umherzutreiben, [S. 18] lernte er früh für sich selbst sorgen und auf eigenen Füßen stehen. Er war noch ein kleiner Knabe, als er anfing auf Skischuhen zu laufen, und daß sich in einem so unkultivirten Distrikt wie in Bindalen die beste Gelegenheit findet, sich zu einem tüchtigen und unerschrockenen Skiläufer auszubilden, liegt auf der Hand. Mit zehn Jahren erhielt er eine Flinte, und von der Zeit an streifte er stets auf Jagdausflügen umher, im Winter auf Schneeschuhen, im Frühling auf der Auerhahn- und im Herbst auf der Bärenjagd. Er wurde nicht in die Stadt geschickt, um zur Schule zu gehen, sondern er hatte einen Hauslehrer. Eine besondere Vorliebe für Bücher scheint er jedoch niemals gehabt zu haben.
Mit 17 Jahren ging er zur See und reiste dann während vieler Jahre theils mit norwegischen, theils mit amerikanischen Schiffen.
Im Jahre 1878 machte er sein Steuermannsexamen in Kristiania und fuhr dann mehrere Jahre als Steuermann. Als solcher erlitt er vor einigen Jahren mit einem norwegischen Schoner an der Westküste von Schottland Schiffbruch. Bei dieser Gelegenheit zeigte er so recht, welcher Kern in ihm steckte, denn es ist hauptsächlich seiner Besonnenheit und Schneidigkeit zu verdanken, daß die Mannschaft gerettet wurde. Einen Schoner und ein Dampfschiff führte er als Kapitän, — ein Jahr lang lag er auch mit einem Fischkutter an der Nordlandsküste. Vor einer Reihe von Jahren geschah es, daß man in Göteborg einen Führer für Nordenfeldts unterseeisches Boot suchte, das über die Nordsee nach England geführt werden sollte. Man setzte eine Belohnung für Denjenigen aus, der dies gefahrvolle Amt übernehmen wolle, aber es fand sich Niemand, der es wagte. Da kam Sverdrup zufällig dorthin und erbot sich gleich dazu, [S. 21] er überredete einen Vetter, als Maschinist mitzugehen, und diese Beiden wollten es übernehmen, das unsichere Fahrzeug, das noch Niemand auf größere Entfernungen versucht hatte, nach England zu führen, ja, Sverdrup meinte, es sei ein wahrer Sport, aber dann, im letzten Augenblick, änderten die Unternehmer ihren Entschluß und ließen das Boot über die See bugsiren.
Während der letzten Jahre hat sich Otto Sverdrup größtentheils auf dem Gute seines Vaters aufgehalten, der vor ungefähr 11 Jahren seinen Besitz in Bindalen verkauft und sich weiter südwärts auf Trana bei Stenkjär angesiedelt hatte. Hier beschäftigte er sich bald mit dem Einen, bald mit dem Andern, bald stand er dem Forstwesen, bald dem Flößen des Holzes vor, bald war er Schmied, bald ging er auf Fischfang aus, und überall war er der Erste. Sein liebster Zeitvertreib war es, in stürmischem Wetter in einem Nordlandsboot auszusegeln, wenn das Boot mit vierfach gerefften Segeln die schäumende Brandung durchschnitt, ganz so, wie es bei Peder Daß heißt:
da gefiel Sverdrup das Dasein.
Daß ein solcher Mann für eine Expedition wie geschaffen war, ist selbstverständlich. Durch sein bewegtes, vielseitiges Leben hatte er gelernt, sich in allen schwierigen Lagen zurechtzufinden. Stets war er ruhig, immer wußte er Rath. —
Oluf Christian Dietrichson wurde am 31. Mai 1856 in Skogn bei Levanger geboren. Sein Vater war der Kreisarzt Peder Wilhelm Krejdahl Dietrichson und seine Mutter Canuta Pauline Ditlevine Due . Er genoß eine strenge Erziehung [S. 22] und wurde früh zu männlicher Thätigkeit angehalten und an das Leben in freier Luft gewöhnt. Sein Schulweg bis Levanger, wo er bis 1873 die Schule besuchte, betrug fast eine deutsche Meile, später kam er ein Jahr auf Trondhjems Lateinschule und von dort nach Kristiania auf die Maribogadens-Schule, wo er bis 1876 blieb. Dann nahm er ein Jahr lang Privatstunden und wurde 1877 Kadett, als solcher kam er in die mittelste (die sogen. zweite) Klasse der damals aus fünf Klassen bestehenden Kriegsschule. Im Jahre 1880 wurde er zum Offizier, im Februar 1882 zum Seconde-Lieutenant und im Sommer 1890 zum Kapitän in der Trondhjemschen Brigade ernannt.
1886 wurde er Premier-Lieutenant in derselben Brigade.
In den Wintersemestern 1882-84 machte er die Centralturnschule in Kristiania durch und bildete sich zum Lehrer in der Gymnastik und Waffenführung aus; im Jahre 1887 wurde er als Hülfslehrer bei dieser Schule angestellt.
Dietrichson hat sich sein Leben lang auf das eifrigste mit allen körperlichen Uebungen beschäftigt. Von Natur hat er einen starken, wohl proportionirten Körper, der durch gute Erziehung stets abgehärtet und entwickelt worden ist.
In den späteren Jahren hat er jeden Winter lange Schneeschuhtouren durch die verschiedenen norwegischen Berggegenden gemacht; er hat auf seinen Schneeschuhen fast alle Thäler zwischen Skien und Trondhjem durchwandert, und es giebt wohl kaum Jemand, der so viel von Norwegen zur Winterszeit gesehen hat, wie er.
Auf der Expedition gereichten uns die Kenntnisse, die er durch seine militärische Ausbildung erworben hatte, zu großem Nutzen. Er übernahm fast ausschließlich die Führung des meteorologischen Tagebuches, wie auch die ausgeführten Landmessungen und die angefertigten Karten sein Verdienst sind. [S. 25] Mit Selbstaufopferung und großem Eifer unterzog er sich dieser Arbeit, die um so anerkennenswerther ist, wenn man bedenkt, unter welchen Verhältnissen er arbeitete. Vollauf kann das wohl nur Derjenige verstehen, der es versucht hat, bei einer Temperatur von unter -30, seine Beobachtungen zu machen, und sein meteorologisches Tagebuch genau und pünktlich wie gewöhnlich zu führen, selbst wenn man todtmüde ist, und wenn von allen Seiten der Untergang droht, oder zu schreiben, wenn die Finger so von Frost angeschwollen sind, daß man kaum einen Bleistift halten kann. Ja, dazu gehört wahrlich mehr als das gewöhnliche Maß von Energie und Charakter! —
Kristian Kristiansen Trana war nicht mehr als 24 Jahre alt, als er sich der Expedition anschloß. Dies ist freilich ein bedeutend geringeres Alter, als wie ich es zu dergleichen Strapazen für zweckmäßig halte, aber er war muthig und stark und hatte eine ganz außerordentliche Lust zu dem Unternehmen. Auf Sverdrups Empfehlung hin besann ich mich deswegen nicht, ihn mitzunehmen. Ich sollte es auch nicht bereuen, obgleich er sein kräftigstes Alter sicher noch nicht erreicht hatte. Er wurde am 16. Februar 1865 in dem Oertchen Grinna geboren, ein wenig südlich von Trana, dem jetzigen Sverdrup schen Besitz. In seiner Heimath hat er sich hauptsächlich an Forstarbeiten betheiligt, außerdem ist er mehrmals zur See gewesen und hat infolgedessen ein wenig von der Welt gesehen. Er war ein tüchtiger, zuverlässiger Bursche, und wenn Kristian versprochen hatte, irgend etwas auszuführen, so wußte ich stets, daß es gethan wurde. —
Samuel Johannesen Balto ist ein in Karasjok ansässiger Lappe, er war 27 Jahre alt, als er sich auf die Expedition begab. Er war von mittlerer Größe und hatte eigentlich [S. 26] nichts ausgeprägt Lappländisches in seinem Aeußern. Er gehört zu den sogenannten Flußlappen, die gewöhnlich größer von Wuchs sind und stark mit Kvänen (Finnen) vermischt zu sein pflegen. Die meiste Zeit hatte er mit Forstarbeiten verbracht, mehrere Jahre hindurch war er aber auch mit auf Fischfang ausgezogen. Eine Zeitlang hatte er bei den Berglappen gedient und war beim Hüten der Rennthiere behülflich gewesen.
[S. 27]
So war er u. a. eine kurze Zeit hindurch Knecht bei Ravna gewesen. Er war ein lebhafter, aufgeweckter Bursche, eifrig bei allem, was er vornahm; er unterschied sich hierin wesentlich von seinem Kameraden Ravna . Dabei besaß er eine große Ausdauer und war stets bereit, bei allem zu helfen, wodurch er für uns von großem Nutzen wurde. Mit seiner fließenden Zunge und seinem gebrochenen Norwegisch war er auch im wesentlichen das erheiternde Element unserer Expedition. —
[S. 28]
Ole Nielsen Ravna ist ein Berglappe aus der Karasjokgegend und zählte 45 oder 46 Jahre, — er war dessen selber nicht ganz sicher. Sein ganzes Leben lang hat er als Nomade in seinem Zelt gelebt, mit seinen Rennthieren auf den finnmarkischen Feldern umherziehend. Seine Rennthierherde war vor seiner Reise nach Grönland nicht sonderlich groß, — sie zählte zwischen 200 und 300 Thiere. Er war der Einzige von der Expedition, der verheirathet war, — er verließ seine Frau und fünf Kinder. Wie bereits vorhin erwähnt, hatte ich keine Ahnung davon, — ich hatte als Bedingung aufgestellt, daß keiner der Theilnehmer verheirathet sein solle. Wie es die Berglappen in der Regel zu sein pflegen, war er bedeutend phlegmatischer als der jüngere Lappe, er sah es am liebsten, wenn wir uns nicht auf der Wanderschaft befanden, um mit gekreuzten Beinen still in einer Ecke des Zeltes sitzen zu können und nichts zu thun, nachdem er sich vorher gründlich vom Schnee gereinigt hatte. Selten sah man ihn etwas vornehmen, ohne daß er direkt dazu aufgefordert wurde. Er war sehr klein von Wuchs, aber überraschend stark und ausdauernd, obwohl er sich selbst und seine Kräfte stets zu schonen wußte. Er sprach, besonders zu Anfang der Reise, sehr wenig norwegisch, aber infolgedessen konnten seine Bemerkungen oft äußerst komisch klingen und große Heiterkeit hervorrufen. Er konnte nicht schreiben und hatte keinen Begriff von einer so modernen Einrichtung wie einer Uhr, lesen hingegen konnte er, und seine liebste Lektüre war das neue Testament in lappländischer Sprache, von dem er sich niemals trennen wollte.
Beide Lappen waren, wie sie selbst sagten, nur mitgegangen, um Geld zu verdienen, nicht aus Lust an dem Unternehmen oder an Abenteuern. Sie waren im Gegentheil äußerst bange [S. 29] vor dem Ganzen und ließen sich leicht einschüchtern, was ja kein Wunder ist, wenn man bedenkt, wie wenig sie von vorneherein über unsere Pläne unterrichtet waren. Daß sie nicht so unwissend zurückkehrten, kann man u. a. aus Baltos Aufzeichnungen ersehen, von denen auch späterhin einige mitgetheilt werden sollen.
Beide Lappen waren übrigens gutartige und liebenswürdige Menschen. Ihre Treue konnte oft etwas Rührendes haben, und ich habe sie mit der Zeit sehr lieb gewonnen.
[1] Am liebsten wollte ich bei dem unbekannten Scoresbyfjord weiter nordwärts landen. Dazu mußte man jedoch ein besonderes Fahrzeug miethen, und da es voraussichtlich Schwierigkeiten machen dürfte, die hierzu erforderlichen Geldmittel aufzutreiben, habe ich diesen Plan vorläufig aufgegeben.
[2] Als Beispiel kann angeführt werden, daß dort im Sommer 1884 sehr wenig Eis war und die Seehundsfänger die Klappmützen beinahe hart am Lande fingen.
[3] Diese „ Truger “ sind aus einem ovalen Holzrahmen gebildet und mit einem Weidengeflecht überspannt. Sie werden in Norwegen viel angewendet, selbst für Pferde.
[S. 30]
ei Expeditionen von einer Natur, wie die, von welcher hier die Rede ist, hängt selbstverständlich ein glücklicher Ausfall im wesentlichen von der Ausrüstung ab; ja in diesem besonderen Fall würde das Leben der Theilnehmer aufs Spiel gesetzt, wenn die Ausrüstung nicht so war, wie sie sein sollte. Ein Nagel oder eine Fuge, die ihren Zweck nicht erfüllen, können die ganze Expedition aufhalten, ja die allerernstlichsten Folgen nach sich ziehen. Jede noch so kleine Einzelheit muß gewissenhaft geprüft werden, und man darf weder Veränderungen noch Umstände scheuen, bis alles so vollkommen wie möglich ist. Das Ganze erfordert die bedachtsame Ueberlegung einer langen Reihe von Bagatellen, von deren Summe aber der Erfolg abhängig ist; es kann schwerlich zu viel Gewicht darauf gelegt werden. Viele der früheren Expeditionen sind meiner Ansicht nach zu leicht über diesen Punkt hinweggegangen.
Wie bereits erwähnt, war es ursprünglich meine Absicht, falls dies ausführbar sei, Hunde oder Rennthiere zum Ziehen zu benutzen. Der hierdurch entstehende Vortheil ist begreiflicherweise kein geringer, sobald man die Thiere erst glücklich an der Stelle hat, von wo aus die Schlittenfahrt ihren Anfang nehmen soll. Es ist von vielen erfahrenen Männern gesagt worden, [S. 31] daß sich Zugthiere nicht zu langen Schlittenexpeditionen eignen, da die Thiere — sowohl Hunde wie Rennthiere — nur Proviant für sich selber in einem bestimmten Zeitraum ziehen können. Ich verstehe indessen dies Raisonnement nicht, — kann man die Thiere nicht den ganzen Weg benutzen, so steht man sich immerhin gut dabei, sie so lange wie möglich zu benutzen und dann zu schlachten.
Hat man eine genügende Anzahl Thiere — Rennthiere oder Hunde — und nimmt man so viel Proviant für sie mit, wie sie neben der übrigen Ausrüstung der Expedition ziehen können, so kann man mit ihrer Hülfe schnell vorwärts kommen, ohne sich wesentlich anzustrengen. Gleichzeitig hat man den Vortheil, daß man — indem man die Thiere nach und nach schlachtet — sich beständig frisches Fleisch zu verschaffen in der Lage ist. Auf diese Weise bedarf man auch keines so umfangreichen Proviants für sich selber, wie dies sonst nothwendig sein würde. Wenn man dann endlich gezwungen ist, die letzten Thiere zu schlachten, muß man voraussichtlich ein gutes Stück vorwärts gekommen sein, ohne an seinen eigenen Kräften zu zehren; nebenbei hat man den Vortheil, sich die ganze Zeit hindurch an frischem Fleisch satt essen zu können, was von großer Bedeutung ist, da man die Reise nun mit ungeschwächten Kräften fortzusetzen vermag. Mancher wird einwenden, daß dies nicht der Fall sein kann, wenn es sich um Hunde handelt, darauf kann ich aber nur antworten, daß ich aus Erfahrung weiß, welch guter Koch der Hunger ist, und daß Hundefleisch durchaus nicht unschmackhaft ist, — die Eskimos halten es sogar für einen Leckerbissen, — und daß Derjenige, der es unter Umständen wie den hier obwaltenden, nicht zu essen imstande ist, sich nicht als Theilnehmer einer Expedition dieser Art eignet.
[S. 32]
Hätte ich gute Schlittenhunde auftreiben können, so würde ich sie unbedingt mitgenommen haben. Die Hunde haben nämlich den großen Vortheil vor den Rennthieren, daß sie bedeutend leichter zu transportiren und nicht schwer zu füttern sind, sie ernähren sich von demselben Proviant wie wir, während die Rennthiere ihren eigenen Proviant haben müssen, der im wesentlichen aus Rennthiermoos besteht, und umfangreich und schwer ist. Es war mir indessen nicht möglich, in der kurzen Zeit, die mir zugemessen war, brauchbare Hunde aufzutreiben, deswegen mußte ich den Gedanken aufgeben. Dann dachte ich an Rennthiere, schrieb deswegen nach Finnmarken, versah mich sogar in Röros mit Rennthiermoos. Aber dann stellte es sich heraus, daß mit ihrer Verfrachtung große Schwierigkeiten verbunden waren, und daß es noch größere Schwierigkeiten machen würde, sie in Grönland an Land zu schaffen. Ich gab deshalb auch die Rennthiere auf und hielt mich nun ausschließlich an die Menschen.
Wenn man jedes Stückchen Brot, welches man essen will, selbst ziehen muß, da ist es ganz natürlich, daß man alles so leicht wie möglich einzurichten sucht; der Proviant, die Geräthschaften, die Kleidung, alles muß auf das geringste Minimum reduzirt werden. Wenn man mit einer solchen Ausrüstung beschäftigt ist, so kommt man schließlich ganz unbewußt dazu, den Werth aller Dinge nach ihrem Mangel an Gewicht zu berechnen, ja selbst wenn es sich nur um ein Taschenmesser handelt, kommt es vor allem darauf an, daß es leicht ist. Man muß sich aber auch hüten, in der Jagd nach Leichtigkeit allzuweit zu gehen, — die Geräthschaften müssen stark sein, denn sie sollen manche harte Probe bestehen. Die Kleidung muß warm sein, Niemand weiß, wie kalt es wird, und der Proviant muß nahrhaft [S. 35] sein und aus verschiedenen Nahrungsmitteln in passendem Verhältniß bestehen, denn uns steht ein schweres Stück Arbeit bevor, weit schwerer als es sich wohl einer der Theilnehmer träumen läßt.
Das Wichtigste bei einer Schlittenexpedition ist natürlich der Schlitten . Da im Laufe der Zeiten, besonders von England aus, so viele Schlittenexpeditionen nach den arktischen Regionen veranstaltet sind, so sollte man annehmen, daß der Schlitten auf Grund der auf diese Weise gewonnenen Erfahrungen einen hohen Grad der Entwickelung angenommen haben müsse. Das ist nun freilich nicht der Fall, und man kann sich nicht genug wundern, daß Expeditionen so neuen Datums, wie z. B. die zweite deutsche Nordpolexpedition 1869-70 (nach der Ostküste von Grönland), die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition 1872-74 (nach dem Franz Josef-Land) oder selbst die große englische Nordpolexpedition unter Nares 1875-76 (nach dem Smith Sund) mit so großen, klotzigen, unzweckmäßigen Schlitten ausgerüstet wurden, wie dies der Fall war. Weit besser stand es in dieser Beziehung mit den beiden letzten amerikanischen Expeditionen (1881-84) und derjenigen, die im Jahre 1884 unter Schley und Soleys Leitung zu Greelys Entsatz ausgesandt wurde.
Der gewöhnliche Fehler bei den Schlitten der verschiedenen Expeditionen bestand darin, daß sie zu schwer und zu klotzig gebaut und viel zu groß waren. Wenn man dazu in Betracht zieht, daß sie gewöhnlich viel zu schmale Schienen hatten, so wird es leicht zu verstehen sein, daß sie tief in den Schnee einsanken und oft nur mit größter Schwierigkeit vorwärts zu bewegen waren. Einzelne Expeditionen gebrauchten wohl die in Amerika üblichen toboggans, die aus einem einzigen, vorn [S. 36] erhöhten Brett bestehen. Sie sind gewöhnlich aus Birkenholz oder dergl. und haben eine Länge von 2,5 m und eine Breite von 46 cm oder mehr.
Wir finden diese Schlitten schon im Anfange unsres Jahrhunderts zu Expeditionen benutzt, — beispielsweise führte Franklin solche auf seiner ersten Expedition mit sich. Der englische Reisende Dr. Rae und nach ihm Greely wandten ähnliche, auf beiden Seiten mit ganz schmalen und niedrigen Schienen versehene Schlitten an. Es ist ganz selbstverständlich, daß diese Schlitten sich bei losem Schnee gut auf der Oberfläche halten und sich zu einer solchen Bahn vorzüglich eignen, wenn aber der Schnee ein wenig härter ist, geben sie doch eine zu starke Reibung und sind dann schwer zu ziehen.
Auf den Gedanken, die Schlitten auf breite Schienen zu stellen, sind merkwürdigerweise nur sehr wenige Expeditionen gekommen.
Payer sagt freilich in seinem Buch über die österreichisch-ungarische Expedition, „daß breite Schlittenschienen den Marsch durch tiefen Schnee sehr erleichtern“. Er meint damit Schienen von 2¾ Zoll Breite, — was für uns Norweger etwas ganz Natürliches ist, da wir von alten Zeiten her an die „Skikjälker“ gewöhnt sind. Es sind dies kleine Schlitten, die auf breiten, den Schneeschuhen (Ski) ähnlichen Schienen ruhen und in vielen Gegenden Norwegens von den Schneeschuhläufern sowohl im Walde wie im Gebirge angewendet werden, um Lasten wie Heu, Holz und dergl. zu befördern. Sie werden an einem Seil gezogen, aber durch eine an der Seite befestigte Stange gelenkt, was sehr wichtig ist, um die „Kjälker“ zu verhindern, die Schneeschuhläufer zu überfahren, wenn es in sausender Fahrt den Berg hinabgeht. Die „Skikjälker“ [S. 37] sind über Schweden und Finnland bis nach Sibirien hin verbreitet. [5]
Dieser Kjälke schwebte mir bei der Konstruktion des Schlittens vor, der von uns zur Anwendung gelangte. Derselbe verband die Eigenschaften, die bei einem Schlitten als die wichtigsten betrachtet werden müssen, — er war stark, leicht, hielt sich gut auf der Oberfläche und glitt leicht über den Schnee hin, gleichviel wie derselbe beschaffen war. Außer den norwegischen „Kjälkern“ hatte mir auch der Schlitten vorgeschwebt, der in der Greely -Expedition beschrieben war und dessen sich die Expedition bediente, welche ausging, um Greely zu suchen. [6]
In dem Tischler Christiansen , jetzt in Naes in Telemarken ansässig, fand ich einen tüchtigen und gewissenhaften Mann für die Anfertigung der Schlitten. Er sparte nichts, um meinen Wünschen nachzukommen und das ausgesuchteste Material zu verschaffen. Erst nach zahllosen Aenderungen und Versuchen, — u. a. auf einer Reise über das Gebirge von Bergen nach Kristiania, — entschloß ich mich für die Form, welche wir dann später benutzten.
Alles Holzwerk mit Ausnahme der Schienen war von Eschenholz und aus so zähen Stücken wie nur möglich. Da auserlesenes Eschenholz bekanntlich ein außerordentlich starkes Material ist, konnte das Obergestell der Schlitten sehr leicht und dünn angefertigt werden, ohne doch schwach zu werden.
Die Schienen waren an einigen Schlitten aus Ulmenholz verfertigt, an anderen aus Ahorn, — welche beide Holzarten [S. 38] sich vorzüglich durch ihre Glätte auf dem Schnee auszeichnen. In der Beziehung war es freilich einerlei, woraus sie gemacht waren, denn die Schienen waren mit dünnen Stahlplatten beschlagen, die ich abzunehmen dachte, sobald wir auf losen Schnee kämen, die jedoch mit einer einzigen Ausnahme während des ganzes Weges benutzt wurden.
Folgende Zeichnung giebt wohl eine so anschauliche Vorstellung von dem Bau der Schlitten, daß jede weitere Beschreibung überflüssig ist. Es waren gar keine Nägel verwendet worden, alles Zusammenfügen war vermittelst Sorring bewerkstelligt, was den Schlitten elastischer macht, so daß er bei Stößen u. dergl. nachgiebt, wo Nägel in der Regel herausfallen. Die Folge hiervon war auch, daß auf der ganzen Reise nicht das Geringste zerbrochen wurde . Die Länge der Schlitten betrug ungefähr 2,90 m und die Breite etwa 0,50 m . Maß man die Schienen an der Unterseite von einer Spitze zur anderen, so betrug ihre Länge 2,89 m , während die Breite 9,5 cm betrug. Daß sie sowohl hinten wie vorne in die Höhe gebogen waren, gab dem Schlitten eine größere Stärke und Elasticität, und gewährte gleichzeitig den Vortheil, daß man ihn, falls das Vordertheil auf irgend eine Weise beschädigt [S. 39] werden sollte, umwenden und das hintere Ende als Vordertheil benutzen konnte. Die in die Höhe stehende Rücklehne, die man auf der Zeichnung erblickt, war aus einer gebogenen, dünnen Eschenstange gemacht. Sie erwies sich sehr praktisch zum Lenken und Schieben des Schlittens auf schwierigem Terrain, wo eine Person nicht ausreichte, um einen Schlitten vorwärts zu bewegen.
Das Gewicht eines jeden Schlittens ohne die Stahlschienen betrug ungefähr 11,5 kg ; mit den Stahlplatten unter den Schienen 13,75 kg . Außer diesen dünnen Stahlplatten war an der Mitte jeder Schiene auf der Innenseite eine schmale, viereckige Stahlstange angebracht, die als eine Art Kiel dienen und bei hart gefrorenem Boden die Schlitten steuern und sie am Schleudern verhindern sollte, welches Letzteres von großer Wichtigkeit ist, wenn man sich über Eisgletschern mit Spalten hinbewegt, wo ein Schlenkern des Schlittens leicht ein Verschwinden in der Tiefe zur Folge haben kann, — und in einem solchen Falle kann man froh sein, wenn man nicht mit in den Abgrund hinabgerissen wird.
Diese Stahlstangen leisteten uns, so lange sie festsaßen, vorzügliche Dienste, da sie aber bei den heftigen Bewegungen der Schlitten auf dem unebenen Terrain in der Nähe der Küste vielen Stößen ausgesetzt waren, wurden sie bald abgerissen, — besonders geschah letzteres, sobald wir in die Kälte hinaufkamen, wo der Stahl so zerbrechlich wurde wie Glas.
Bei künftigen Expeditionen wäre deshalb ein Kiel unter den Schienen, falls man einen solchen benutzen will, auf andere Weise anzubringen, als wir es gethan hatten. Am stärksten würden solche Kiele natürlich sein, wenn sie mit den Stahlplatten aus einem Stück gearbeitet wären, dadurch würden diese aber den Vorzug verlieren, den unsere hatten, nämlich daß sie [S. 40] abgenommen werden konnten, wenn man sich ihrer nicht bedienen wollte.
Wie es aus der Zeichnung hervorgeht, befand sich in der Mitte der Oberfläche der Schienen ein längslaufender Rücken, der ihnen, die des Gewichts halber natürlich dünn waren, die nöthige Steifigkeit und Elastizität gaben.
Die Schlitten waren darauf berechnet, je von einem Mann gezogen zu werden, da es aber bei schwierigem Terrain am richtigsten ist, einen Mann vorauszuschicken, um den besten Weg ausfindig zu machen, ohne daß die Expedition deswegen Halt zu machen braucht, und da es gleichzeitig am schwersten ist, im losen Schnee voranzugehen, so finde ich es am zweckmäßigsten, wenn der erste Schlitten von zwei Männern gezogen wird. Aus diesem Grunde hatten wir nur fünf Schlitten mitgenommen.
Welch ein Vortheil es ist, so viele kleinere Schlitten zu haben statt weniger großer, wie die meisten früheren Expeditionen, scheint mir auf der Hand zu liegen.
Bei schlechtem Terrain, wo man nur mühselig vorwärts kommt, ist es schwer, die großen Schlitten mit ihrer schweren Last zu handhaben, ja bei unserer Expedition würde es oft geradezu eine Unmöglichkeit gewesen sein, ohne sie abzuladen und die Bagage zu tragen, während wir, wenn wir zu Zweien oder Dreien den Transport eines unserer kleinen Schlitten übernahmen, überall hindurch kommen konnten, ohne umzupacken oder abzuladen. Zuweilen waren wir gezwungen sie ganz und gar, so wie sie waren, zu tragen.
Das Verwandeln unserer Schlitten in Segelschlitten, was mehrmals geschah, ging ohne weiteres vor sich, indem wir zwei oder drei Schlitten nebeneinander stellten und vermittelst einiger Schneeschuhe oder Stäbe zusammenbanden und festschnürten, dann [S. 41] errichteten wir einige eigens dazu mitgebrachte Bambusrohre als Masten. Als Segel benutzten wir unsern Zeltfußboden oder zwei Persenninge. Wenn wir die Schlitten dann mit einer vorn angebrachten Steuerstange — ähnlich einer Wagendeichsel — von Bambusrohr lenkten, so konnten wir auf diese Weise ganz gut segeln. Wenn man bei einer Ausrüstung speciell diesen Punkt ins Auge fassen würde, konnte man sich natürlich noch bedeutend praktischer und zweckmäßiger einrichten, als wir es gethan hatten. Meiner Ansicht nach muß dieser Art und Weise der Beförderung — die auf dem grönlandischen Inlandseis zuerst von dem Amerikaner Peary angewandt wurde — bei künftigen Expeditionen weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, als bisher. Besonders dürfte es für die Untersuchung des antarktischen Kontinents von Bedeutung werden.
Für eine Expedition wie die unsere ist selbstverständlich die Konstruktion der „ Ski “ von ebenso großer Wichtigkeit wie die der Schlitten. Da ich aber im nächsten Kapitel unsere Ski eingehender besprechen werde, so will ich vorläufig nur darauf hinweisen. Außer den „Skiern“ führten wir auch indianische Schneeschuhe und norwegische Truger mit uns.
Die indianischen Schneeschuhe bestehen bekanntlich aus einem Flechtwerk von Thiersehnen (am häufigsten vom amerikanischen Elenthier), die in einen Rahmen von zähem Holz (Eschenholz oder dergl.) gespannt werden. Unsere Schneeschuhe hatten eine Länge von 1,06 m und eine Breite von 39 cm .
Die norwegischen Schneeschuhe oder, wie wir sie nennen, „Truger“ waren aus Weidenflechtwerk angefertigt und hatten eine Form, wie aus umstehender Zeichnung ersichtbar ist. Sie waren klein und hatten nur eine Länge von ungefähr 89 cm und eine Breite von ca. 26 cm .
[S. 42]
Die Truger werden in einzelnen Gegenden Norwegens nicht selten im Winter wie im Frühling verwendet. Besonders sind sie bei Frühlingswetter besser zu gebrauchen, als die Ski. Die hauptsächliche Verwendung finden die Truger jedoch in vielen Gegenden des Landes für die Pferde. Diese Pferdetruger gleichen völlig den Menschentrugern, nur ist die Befestigung selbstverständlich ein wenig anders und der Form der Pferdehufe angepaßt. Unsere Fjordpferde lernen es sehr bald, auf Trugern zu gehen, und können infolgedessen mit großem Nutzen auf schneeigem Terrain verwendet werden, wo andere Pferde eine Unmöglichkeit sind. [7]
Schneeschuhe, sowohl indianische wie norwegische, stehen natürlich unter gewöhnlichen Verhältnissen weit hinter den Skiern zurück, d. h. falls ein Mann diese letzteren zu benutzen versteht. Wenn ich trotzdem Schneeschuhe mitnahm, so geschah das aus [S. 43] dem Grunde, weil ich glaubte, sie würden dort zweckmäßiger sein, wo es darauf ankam, die schweren Schlitten die Hügel hinauf zu ziehen. Hierzu wurden sie denn auch verwendet, — ich selber gab den indianischen den Vorzug, ebenso einzelne der anderen Norweger. Einer von ihnen konnte sich jedoch nicht mit ihnen aussöhnen. Es erfordert nämlich ein wenig Uebung, um sich ohne zu straucheln auf ihnen bewegen zu können. Er bediente sich dann der norwegischen Truger, mit denen er freilich bedeutend tiefer in den weichen Schnee hineinsank.
Lange fanden die Schneeschuhe überhaupt nicht Anwendung, bald schnallten wir die Ski an und fanden, daß diese, selbst wenn es bergan geht, vorzuziehen sind.
Einen Vorzug haben allerdings die Schneeschuhe vor den Skiern, falls unter diesen kein Fell ist, nämlich den, daß sie auch bei Thauwetter benutzt werden können, wenn der Schnee ballt und sich unter den Skiern festhängt. Ein zweiter Vorzug besteht darin, daß die Schneeschuhe bedeutend leichter zu tragen sind als die Skier.
Um ein zweckmäßiges Boot zu erhalten, das leicht genug war, um über das Meereis gezogen zu werden, und dabei doch stark genug, um die vielen Stöße aushalten zu können, denen es zwischen den launenhaften Treibeisschollen ausgesetzt sein würde, [S. 44] — ließ ich ein besonders für diesen Zweck berechnetes in Kristiania bauen.
Die ganze Länge des Bootes betrug 5,96 m , die größte Breite 1,88 m, die inwendige Tiefe 0,63 m . Die Vertäfelung des Bootes bestand aus einer doppelten Haut, von denen jede 10 mm dick war, und einer Zwischenlage von dünnem Segeltuch. Die innere Vertäfelung bestand aus Fichtenholz, die äußere aus norwegischem Eichenholz, beide auf das sorgfältigste zusammengefügt. Die Bänder oder Spanten waren aus gebogenem Eschenholz, 26 mm breit und 13 mm dick, mit einem Abstand von 15¹⁄₇ mm voneinander. Auf der unteren Seite befand sich zu beiden Seiten des Kieles je eine Schiene von Fichtenholz, die darauf berechnet waren, das Boot während des Transportes über das Eis zu stützen. Das Boot war sehr zweckmäßig gebaut, es war stark und dabei elastisch genug, um dem Druck der Eisschollen nachzugeben. Ich bin jedoch geneigt, eine einfache Vertäfelung der doppelten vorzuziehen, da das Boot dadurch leichter zu steuern ist und die doppelte Vertäfelung leicht Wasser aufnimmt und das Boot dadurch schwerer macht. Außerdem ist ein Boot ohne Schienen einerseits ebenso leicht über das Eis zu transportiren, während andrerseits bei einem Boot mit Schienen die letzteren leicht in die Klemme gerathen, wenn sich das Eis zusammenstaut, und dadurch das Boot zerstören.
Ein wichtiger Ausrüstungsgegenstand für alle arktischen Expeditionen ist der Schlafsack . Für eine Expedition wie die unsere war die Natur des Stoffes, aus welchem diese Säcke verfertigt werden sollten, natürlich von größter Wichtigkeit. Ein solcher Sack mußte so leicht wie möglich sein und dabei doch genügend Wärme gewähren. Auf früheren Expeditionen hat man theilweise Wolle oder Filz dazu verwendet, theilweise verschiedene Fellarten. [S. 45] Der wollene Stoff gewährt natürlich den Vortheil, den Schweiß besser hindurch zu lassen, als wie es bei Fellen der Fall ist; auf diese Weise kondensirt sich die Feuchtigkeit bei starker Kälte nicht in dem Grade, wie in einem aus Fellen bestehenden Sack, — auf der anderen Seite aber hat der Wollstoff den großen Fehler, daß er im Verhältniß zu seiner Wärme viel zu schwer ist. Ich ging eine Zeitlang mit dem Gedanken um, wollene Schlafsäcke zu versuchen, aber ich fand, daß sie zu wenig Wärme gaben, und ich fürchte, daß, wenn wir uns wirklich derselben bedient hätten, wir kaum die Westküste Grönlands lebendig erreicht haben würden.
Nach verschiedenen Versuchen entschied ich mich endlich für Schlafsäcke aus Rennthierfell, als das zweckmäßigste, was für den Augenblick aufzutreiben war. Das Rennthierfell ist im Verhältniß zu seinem Gewicht das wärmste aller mir bekannten Fellarten, besonders ist das Winterfell des Rennthierkalbes äußerst leicht und warm. Dies konnte ich jedoch leider nicht mehr rechtzeitig auftreiben, weshalb ich mich mit dem Fell von „Simlern“ (Rennthierkühen), das bedeutend schwerer ist, begnügen mußte. Eine Schattenseite bei den Rennthierfellen ist natürlich die, daß die Haare sich leicht abscheuern, wie es auch nicht viel Wasser [S. 46] verträgt, ohne daß die Haare ausfallen. In der Beziehung ist Hundefell weit besser und stärker, die Wärme des Rennthierfelles erreicht es freilich nicht. Noch besser als Hundefell ist Wolfsfell, das nur den einen Fehler hat, sehr kostbar zu sein. Das Fell unserer Schlafsäcke hielt während der ganzen Reise und auch den Winter auf der Westküste gut vor. Es war für unsern Zweck vom Kürschner Brandt in Bergen besonders präparirt und ich hatte allen Grund, damit zufrieden zu sein.
Wir hatten zwei Schlafsäcke, von denen jeder so eingerichtet war, daß er drei Mann fassen konnte. Dies ist sehr zweckmäßig, indem ein Sack für drei Mann natürlich bedeutend leichter ist, als drei „einschläfrige“ Säcke, und außerdem ist ein solcher viel wärmer, indem drei Männer in demselben Sack sich gegenseitig erwärmen.
Einen noch größeren Vortheil würde man in dieser Hinsicht durch einen Sack für die ganze Expedition erzielt haben. Dies mochte ich jedoch nicht wagen, denn wenn der Schlitten, auf welchem dieser eine Sack lag, in eine Eisspalte fiel, so würden wir ohne jeglichen Schutz gegen die Nachtfröste dastehen, während wir — falls einer der dreischläfrigen Säcke verloren ging — doch nicht rathlos waren, zur Noth konnten nämlich vier Mann in dem einen Sack schlafen; man hätte dann allerdings abwechseln müssen.
Nach oben zu waren die Säcke mit einem mützenartigen Deckel versehen, die vermittelst zweier Riemen zugezogen werden konnten. So lange die Kälte nicht allzu fühlbar war, pflegte es mit diesen geschlossenen Deckeln warm zu werden, sobald es aber kälter wurde, waren wir froh, soweit zuschnüren zu können, als die Riemen reichten.
Durch die Spalte, welche trotzdem blieb, hatten wir immerhin [S. 47] Ventilation genug. Von der kühlen Nachtluft, die in Grönlands Innerem weht, brauchte nicht viel in die Säcke zu dringen, um die Kälte empfindlich werden zu lassen. Um die Schlafsäcke gegen Feuchtigkeit zu schützen, hatte ich Bezüge aus dünnem Wachstuch anfertigen lassen, — sobald wir aber auf das Inlandseis kamen, wurden diese Bezüge kassirt.
Luftkissen aus Kautschuck als Unterlage für die Säcke hielt ich nicht für nothwendig, da die Säcke aus Rennthierfell waren; und da diese Luftkissen ziemlich schwer sind, ist es natürlich ein Vortheil, wenn man sie entbehren kann.
An Kleidungsstücken hatten wir, mit Ausnahme einiger Reservegegenstände, nicht viel mehr mit, als das, worin wir die ganze Zeit, seit wir Norwegen verlassen hatten, gingen und standen. Ausgenommen zwei „Päsker“ (Pelze) mit dazu gehörigen Beinkleidern aus Rennthierfell, welche die Lappen mithatten, und einer kleinen, mit Eichhornfell gefütterten Jacke, die ich mitnahm, freilich fast ohne Verwendung dafür zu haben, hatten wir keinerlei Pelzbekleidung mit, sondern waren von Kopf bis zu Fuß in Wolle gehüllt. Am bloßen Leibe trugen wir dünne, wollene Hemden und ebensolche Unterbeinkleider, dann kam eine dickere isländische wollene Unterjacke und darauf das Oberzeug, das aus einer Jacke für den Oberkörper, Kniebeinkleidern und Schneesocken für die Beine bestand und aus norwegischem Fries verfertigt war. Diese Bekleidung erwies sich als äußerst praktisch. Wollenes Zeug ist bei Strapazen, wie überall, das gesundeste, indem es der Transpiration freien Durchgang gewährt, wogegen Leinen, Baumwolle sowie Fellbekleidung dieselbe hemmen. Vor allen Dingen mußten wir es natürlich vermeiden zu schwitzen, da dies bei starker Kälte leicht eine Abkühlung mit nachfolgendem Erfrieren zur Folge haben kann. Wir mußten deshalb lieber allmählich, wenn wir [S. 48] warm wurden, von unsern Bekleidungsstücken ablegen, und so konnte es sich ereignen, daß die Mitglieder der Expedition bei einer Kälte von 20-30 Grad nur mit einer wollenen Unterjacke bekleidet waren und dabei schwitzten wie an einem Sommertage.
Bei Wind, sowie in Schnee- und Regenwetter pflegten wir über den wollenen Anzügen ein leichtes Kostüm von einer Art dünnem, braungefärbten Segeltuch oder ähnlichem Stoff zu tragen, das so imprägnirt sein sollte, daß es wasserdicht war, was übrigens keineswegs der Fall war. Bei Wind und in Schneewetter war dies Kostüm freilich ausgezeichnet, und wir benutzten es viel auf dem Inlandseise, es schützte vorzüglich gegen das feine Schneegestöber, das dem Staube gleicht und in alle Poren des wollenen Zeuges dringt, um es schließlich, wenn es schmilzt, völlig zu durchnässen.
An der Jacke dieses Segeltuch-Kostüms war eine Kapuze angebracht, die man über den Kopf ziehen konnte und die so groß war, daß man das ganze Gesicht damit bedecken und es auf diese Weise vortrefflich gegen den Wind schützen konnte, der bei der scharfen Kälte oft sehr beißend und durchaus nicht ungefährlich für Wangen und Nase war.
Als Fußbekleidung benutzten wir außer gewöhnlichen Schuhen („Pechdrahtschuhen“) auch die in Norwegen allgemein bekannten „Lauparsko“, die aus rohen Häuten oder — wie die unseren — aus gegerbtem Leder verfertigt sind. Die Sohlen bestehen aus einem Stück weichen Leders, das an den Seiten in die Höhe gebogen und mit einem Stück Oberleder auf der Oberfläche des Fußes zusammengenäht ist, ungefähr auf dieselbe Weise, wie die Lappen und Finnen mit ihren „Komagern“ und die Eskimos mit ihren „Kamikern“ verfahren. Etwas Aehnliches habe ich übrigens auch auf Island gesehen, obwohl die [S. 51] Schuhe hier häßlicher und klotziger gemacht waren, als bei uns. In diesen „Lauparschuhen“ trugen wir ein Paar dicke, gewalkte wollene Strümpfe, sowie ein Paar dicke Ueberstrümpfe von Ziegenhaar, das außer dem Vorzug, daß es warm hält, auch, gleich dem Queckgras ( carex vesicaria ) der Lappen, die Eigenschaft besitzt, alle Feuchtigkeit an sich zu ziehen und die Füße trocken zu halten.
Diese Lauparschuhe eignen sich vorzüglich als Fußbekleidung bei Benutzung von Ski und Truger. Sie sind stärker als „Hautschuhe“ (Hudsko [8] ) und „Finnenschuhe“, haben aber den Nachtheil, nicht so warm zu sein wie diese. So konnte es z. B. vorkommen, daß wir am Abend Mühe hatten, die Schuhe von den Füßen zu ziehen, indem Strümpfe, Ueberstrümpfe und Schuhe fest aneinander gefroren waren. Die beiden Lappen hatten jeder zwei Paar Finnenschuhe mit und noch eines außerdem, welches von dem jüngsten Lappen zum Geschenk für mich bestimmt war. Diese Finnenschuhe sind, wenn sie gut sein sollen, aus der Haut der Beine des Rennthierochsen gemacht; die Fellstücken werden mit [S. 52] den Haaren möglichst 24 Stunden in eine starke Borkenlauge (von Birkenrinde oder dergl.) gelegt, oder auch mit Theerwasser gegerbt. Das Fell der Hinterbeine wird zu den Sohlen und Seiten verwendet, während aus dem Fell der Vorderbeine die Oberstücke verfertigt werden. Diese Fellstücken werden so zusammengenäht, daß die Haare nach außen wenden. Aehnliche Schuhe verfertigt man auch aus dem Stirn- und Kopffell der Rennthiere. Diese Schuhe, die gewöhnlich „Skaller“ genannt werden, sind wärmer, als die vorhin erwähnten, aber nicht so haltbar.
Diese Finnenschuhe, bei denen also die Haare nach außen stehen, sind sehr warm und eignen sich vorzüglich zum Skilauf. Die Lappen füllen sie mit Queckgras ( carex vesicaria ) und stecken ihre Füße nackt ohne Strümpfe hinein. Der Grund, weshalb ich nicht selber solche für die Mitglieder der Expedition mitgebracht hatte, lag in meiner Befürchtung, daß sie der Nässe zu sehr ausgesetzt sein würden, was sie nicht vertragen können. Die Finnenschuhe müssen in der Beziehung sehr sorgfältig behandelt werden, wenn sie nicht sehr bald ruinirt werden sollen. Von Feuchtigkeit merkten wir freilich nicht viel. Die Finnenschuhe, die ich von Balto erhielt, zog ich einige Meilen von der Ostküste entfernt an und benutzte sie fast den ganzen Weg bis zur Westküste, dann trug ich sie während des Winters viel, und selbst als ich sie nach Norwegen mit zurückbrachte, waren sie nicht verschlissen. Das ist sehr viel, wenn man in Betracht zieht, daß sie nicht neu waren, als ich sie erhielt, — Balto hatte sie schon während des vorhergehenden Winters benutzt. Ich überzeugte mich auf diese Weise zur Genüge von der Zweckmäßigkeit der Finnenschuhe auf Reisen wie der unsern und kann sie für solche Zwecke auf das wärmste empfehlen. Sie [S. 53] wiegen ganz verschwindend wenig, so daß man, ohne es zu merken, ein oder zwei Paar als Reserve mitnehmen kann. Wie bereits erwähnt, müssen sie freilich, wenn sie halten sollen, gut behandelt werden, — sind sie naß geworden, so soll man sie am liebsten vor dem Schlafengehen umwenden, so daß die Haarseite nach innen kommt, sie dann anziehen und die Nacht über damit liegen. Auf diese Weise trocknet die Fellseite, und das ist das wichtigste, um das Ausfallen der Haare zu vermeiden.
An den Händen trugen wir große wollene Fausthandschuhe , sogen. „Lovanter“, über diese pflegten wir bei starker Kälte oder bei Wind große Fausthandschuhe aus Hundefell, mit der rauhen Seite nach außen gekehrt, zu tragen. Die Lappen benutzten gewöhnliche „Lappevanter“ aus Rennthierfell mit der Haarseite nach außen. Wenn man diese Handschuhe mit Queckgras füllt, wie die Finnenschuhe, so sind sie sehr warm. Für die Benutzung und Behandlung von Instrumenten und Zeichengeräthschaften brachte ich wollene Fingerhandschuhe mit.
Auf den Köpfen hatten wir Mützen aus wollenem Stoff, die zum Herunterklappen über Ohren und Nacken eingerichtet waren. Außerdem hatten wir Kapuzen von Fries und die bereits oben erwähnten Kapuzen an unsern Segeltuchjacken. Wenn wir dies alles aufhatten, so war unser Kopf gegen die schärfste Kälte, ja, gegen den beißendsten Wind wohlverwahrt.
Von großer Bedeutung für eine Schlittenexpedition sind Schneebrillen , um einer Schneeerblindung vorzubeugen. Was es zu bedeuten hat, wenn man eine solche Kleinigkeit vergißt, davon giebt Majsejews Expedition nach Novaja Semlja im Jahre 1839 ein deutliches Beispiel, indem der Mangel an Schneebrillen die Ausführung der ganzen Expedition verhinderte. Wir wandten Brillen aus dunklem, rauchfarbigem Glas an, [S. 54] theils ohne, theils mit Körben von Drahtgeflecht an den Seiten, um gegen das von unten und von den Seiten eindringende Licht zu schützen. Ich selber benutzte hauptsächlich eine Brille von letzterer Form, die ich von Nordenskjöld erhalten hatte und die ich vorzüglich fand.
Außer diesen Brillen mit dunklem Glas wurden auch Brillen von schwarzem Holz, die vor jedem Auge eine horizontale Spalte hatten, benutzt, ähnlich den Brillen, deren sich verschiedene Polarvölker bedienen. Diese Form von Brillen ist außerordentlich zweckmäßig und hat den Vorzug vor den anderen, daß sie keine Gläser haben, welche bei feuchter Luft beschlagen und den Augen hinderlich sind. Auf der anderen Seite dagegen haben sie den Nachtheil, daß sie den Gesichtskreis sehr beschränken. Besonders wenn man sich auf Schneeschuhen bewegt, hat es seine großen Schattenseiten, den Boden unter sich nicht sehen zu können. Diesem Uebelstande könnte vielleicht durch eine vertikale Spalte, die quer über die horizontale läuft, abgeholfen werden.
Unser Zelt , das Lieutenant Ryder in Kopenhagen mir [S. 55] freundlich verschafft hatte, ließ ich so einrichten, daß es in fünf Stücken voneinander genommen werden konnte, — es bestand aus zwei Seitenstücken, zwei Endstücken und dem Boden, der aus wasserdichtem Segeltuch verfertigt war. Bei dieser Einrichtung war ich darauf bedacht gewesen, alle Theile des Zeltes während einer Segelfahrt als Segel für unsere Schlitten benutzen zu können, aber die Seiten- und Endstücke des Zeltes waren von so dünnem, leichtem Baumwollstoff, daß ich fürchtete, der Wind könne sie zerreißen, und es würde, gelinde gesagt, unangenehm gewesen sein, auf die Weise das Zelt einzubüßen, obendrein bei einer solchen Kälte und einem solchen Schneegestöber, wie wir es hatten. Der Baumwollstoff, aus dem das Zelt bestand, leistete uns übrigens vorzügliche Dienste, sowohl gegen Regen als auch gegen Wind und Schnee, und da es nothwendig ist, daß das Zelt des Gewichtes halber aus so dünnem Stoff wie möglich angefertigt ist, so möchte ich künftigen Expeditionen den Rath geben, das ganze Zelt mit dem Fußboden, der freilich gleich dem unseren aus wasserdichtem Segeltuch bestehen muß, zu einem einzigen zusammenhängenden Stück zusammennähen zu lassen; dies erhält so die Form eines Sackes und hat nur eine einzige Oeffnung, nämlich die Zeltthür, und zwei Löcher im Boden für die Zeltstangen, welche durch diese hindurch in den Schnee festgerammt werden. Ist das Zelt auf diese Weise eingerichtet, so kann man den starken Segeltuchboden ebenso gut als Segel benutzen, indem man das übrige dünne Zelttuch zusammengebunden an der Vorderseite herabhängen läßt; hierdurch vermeidet man die Unannehmlichkeit, unter der wir litten, daß nämlich durch die Ritzen, welche infolge des Zusammenschnürens der verschiedenen Stücke entstehen, der Schnee ins Zelt hineindringt. Bei uns war das weniger praktisch eingerichtet, und es [S. 56] konnte bei Schneegestöber vorkommen, daß wir, wenn wir am Morgen die Köpfe aus den Schlafsäcken heraussteckten, diese vollständig mit Schnee bedeckt fanden. Der Raum in unserem Zelt war gerade groß genug, daß unsere beiden dreischläfrigen Schlafsäcke Platz auf dem Fußboden hatten, wenn sie so hingelegt wurden, daß die Oeffnung des einen nach derselben Richtung hin lag wie der Boden des anderen Sackes. Die Zeltstangen, drei an der Zahl, zwei aufrecht stehende und eine, welche längs des Firstes lag, waren aus Bambusrohr und erwiesen sich als sehr brauchbar, — die beiden kleineren wurden natürlich auch zu Skistäben verwendet. Die Pardunen wurden vermittels eiserner Haken befestigt, die eine breite blattförmige Klammer hatten, welche Widerstand gegen den Schnee leisten konnte. Das genaue Gewicht unseres Zeltes, nachdem ich es durch verschiedene Aenderungen bedeutend verringert hatte, ist mir leider entfallen. Ich entsinne mich jedoch, daß es mit Pardunen, Zelthaken und Stangen ein Gewicht von 8 Kilogramm nicht überstieg.
Es stand sehr fest im Schnee, bei stürmischem Wetter befürchteten wir freilich mehrfach, daß es springen würde, und ich möchte deswegen gute Sturmpardunen empfehlen, — wir hatten allerdings auch einige, aber ein paar davon sprangen oben beim Befestigungspunkt und waren nachher nicht wieder auszubessern.
Der Kochapparat spielt auf einer Schlittenexpedition eine äußerst wichtige Rolle, denn er soll uns, wenn alles gefroren ist, jeden Tropfen Trinkwasser liefern, den wir nicht vermittelst unserer Leibeswärme schmelzen können. Vor allen Dingen kommt es bei dem Kochapparat darauf an, daß er das Brennmaterial vollständig ausnützt, das heißt, daß es so vollständig wie möglich verbrennt und so die dadurch entwickelte Wärme [S. 57] bis aufs Aeußerste ausgenutzt wird. Das Gewicht eines der wichtigsten Theile der Bagage kann dadurch auf ein Minimum reducirt werden.
Als Brennmaterial steht zweifelsohne der reinste Spiritus unübertroffen da. Außer anderen Vorzügen wie Reinlichkeit etc. hat er den — wenigstens in der Praxis — im Verhältniß zu seinem Gewicht die größte Wärme zu geben. Zwei Schattenseiten sind jedoch damit verknüpft, einmal, daß er infolge seiner Eigenschaft als Flüssigkeit leicht verschüttet werden kann, was jedoch durch sichere Behälter und starke Hähne, sowie eine vorsichtige Behandlung zu vermeiden ist, — ferner daß er trinkbar ist und unter kritischen Verhältnissen zu einer großen Versuchung, selbst für den Besten werden kann. Dies läßt sich freilich verhindern, indem man ihn durch Zusatz von Methyl-Alkohol unschmackhaft macht, wie wir es thaten.
Die Idee zu unserem Kochapparat hatte ich ursprünglich demjenigen entnommen, der bei Greelys Expedition (s. seinen Bericht S. 207) angewandt wurde, und nach mehreren mit meinem Freund Kand. L. Schmelek in dessen chemischem Laboratorium angestellten Versuchen blieben wir bei dem in obenstehender Figur abgebildeten Apparat stehen. Die Einrichtung wird aus dieser Zeichnung hoffentlich leicht ersichtlich sein. Der unterste Raum enthält eine Spirituslampe mit sechs Dochten. Die Luft dringt durch im Boden befindliche Oeffnungen in solcher Menge ein, daß sie eine vollständige Verbrennung bewirkt, gleichzeitig muß sie durch die Flammen oder in der Nähe derselben passiren und wird auf diese [S. 58] Weise verbrannt oder erwärmt, so daß keine kalte Luft in den Apparat hinein kommen kann. Ist letzteres aber nothwendig, z. B. falls der Wärmeraum oder der Spiritusbehälter zu stark erhitzt wird, was leider oft bei uns der Fall war, so läßt sich durch Oeffnen von drei Löchern in den Seiten des Wärmeraums kalte Luft neben den Flammen zuführen. Das Kochgeschirr, das auf den Wärmeraum gesetzt wird, ist aus verzinntem Kupfer. Es ist hoch und cylinderförmig, durch die Mitte geht ein gleichfalls aus Kupfer bestehender Schornstein, durch den die erwärmte und verbrannte Luft aus dem Wärmeapparat bis unter den Boden eines breiten, flachen Kupfergeschirres aufsteigt, das auf dem Kochgeschirr steht und nur zum Schmelzen von Schnee dient. Nachdem die Luft jedenfalls einen großen Theil ihrer Wärme dem Schornstein im Kochapparat und dem Boden des Gefäßes, das darüber steht, mitgetheilt hat, entweicht sie dann wieder durch Löcher an den Seiten unter diesem Geschirr.
Der untere Kochtopf wie das obere Gefäß sind an den Seiten durch dicken Filz beschützt, das obere Gefäß ist außerdem mit einem Deckel bedeckt.
Bei Schnee von ungefähr -40° C. und einer Luft von ungefähr gleicher Temperatur bedurfte es etwa einer Stunde, bis ich das Kochgefäß mit kochender Schokolade und das obere Geschirr mit Wasser gefüllt hatte, dessen Temperatur ein wenig über dem Schmelzpunkt betrug. Ich hatte dann volle 5 Liter Schokolade und nicht ganz 4 Liter Wasser. Hierzu hatte ich, wenn ich vorsichtig war, ungefähr 0,35 Liter Spiritus oder ein wenig mehr verbraucht.
Bei einigen Versuchen, die von Professor Sophus Torup nach unserer Rückkehr auf dem physiologischen Laboratorium in Kristiania angestellt sind, hat es sich gezeigt, daß unser Kochapparat [S. 59] selbst unter günstigen Verhältnissen nur 52% von dem Brennwerth des verbrauchten Alkohols ausnutzt, — was eine sehr schlechte Ausnutzung des Brennmaterials bedeutet. Frühere Expeditionen sind doch in dieser Beziehung kaum günstiger gestellt gewesen. [9] Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Spiritusverbrauch durch fortgesetzte Verbesserungen in bedeutendem Grade verringert werden könnte.
Um auch die Körperwärme zum Schmelzen zu verwerthen, hatte jeder Mann eine Flasche von dünnem Eisenblech zum Füllen mit Schnee bei sich, die man infolge ihrer flachen, abgerundeten Form ohne alle Beschwerde auf der Brust tragen konnte.
Der Proviant einer Schlittenexpedition muß im wesentlichen aus getrockneten Nahrungsmitteln bestehen, da diese im Verhältniß zu ihrem Gewicht am nahrhaftesten sind. Hermetische Sachen sind zwar gesunder und leichter zu verdauen, haben aber ein zu großes Gewicht, so daß man sie nur in geringem Maßstabe verwenden kann.
Ich hatte im voraus berechnet, daß wir pro Tag ¼ kg oder etwas mehr gedörrtes Fleisch, ein eben solches Quantum Fett, sowie ein etwas größeres Quantum gedörrtes Brot gebrauchen würden, dazu kamen dann verschiedene andere Sachen wie Schokolade, Zucker, Fleischpepton, Erbsensuppe etc., so daß [S. 60] sich die Ration pro Kopf täglich auf ein Kilogramm oder ein wenig mehr feste Nahrung belaufen würde.
Unsere Tagesration pro Mann würde ungefähr folgendermaßen lauten: 200 gr Albuminstoff, 240 gr Fett, 230 gr Mehlstoff und Zucker. Nun berechnet man nach zahlreichen angestellten Versuchen, daß ein stark arbeitender Mann, z. B. ein preußischer Soldat bei strengem Dienst zu seiner Ernährung
191
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gr
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Albuminstoff,
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63
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gr
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Fett,
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607
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gr
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Mehlstoff und Zucker
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gebraucht.
Zieht man in Betracht, daß 100 gr Fett an Nährwerth 230 gr Mehlstoff oder Zucker entsprechen, so würde unsere Tagesration sich im Vergleich hiermit folgendermaßen gestellt haben:
200
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gr
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Albuminstoff,
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63
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gr
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Fett,
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637
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gr
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Mehlstoff und Zucker
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Da nun infolge der starken Kälte, der wir ausgesetzt waren, das Bedürfniß nach Kohlehydraten stieg, dürfte unbestritten bleiben, daß unsere Tagesrationen nicht als überreichlich angesehen werden können, doch glaube ich, daß sie trotzdem ausreichend gewesen wären, wenn wir nur die verschiedenen Stoffe in dem angegebenen Verhältniß gehabt hätten. Aber infolge eines Mißverständnisses schlich sich in unsere Verproviantirung ein Fehler in Form eines Mangels an Fettstoff ein, der uns auf höchst unangenehme Weise fühlbar werden sollte. Herr Beauvais in Kopenhagen, der uns unser Pemikan (gedörrtes Fleisch mit Fett vermischt) liefern sollte, hatte mir mitgetheilt, daß er Pemikan auf amerikanische Weise zubereite. Ich hatte keine Gelegenheit, mündlich mit ihm hierüber [S. 61] zu sprechen, da ich aber von der Voraussetzung ausging, daß sein Pemikan wie das gewöhnliche amerikanische zur Hälfte oder zum Dritttheil aus Fett und im übrigen aus gedörrtem Fleisch bestehe, so bestellte ich das berechnete Quantum bei ihm. Im letzten Augenblick auf der Durchreise durch Kopenhagen erfuhr ich indessen, daß sein Pemikan sorgfältig von allem Fett gesäubert sei. Dies war eine unangenehme Ueberraschung, da ich aber ein ziemliches Quantum Butter und Leberpastete mitgenommen hatte, so dachte ich, daß wir trotzdem fertig werden könnten. Das hielt jedoch ziemlich schwer, und so kam es denn, daß wir von einem förmlichen Heißhunger nach Fett verzehrt wurden, von dem sich Niemand, der es nicht durchgemacht hat, eine Vorstellung machen kann. Beauvais’ gedörrtes Fleisch war übrigens vorzüglich.
Auf Kapitän Hovgaards Rath machte ich einen Versuch mit Beauvais’ Leberpastete, die ich jedoch ganz unzweckmäßig für eine Schlittenreise fand, denn erstens ist sie im Verhältniß zu ihrem Nahrungswerth zu schwer, und zweitens enthält sie Wasser, welches friert und sie in der Kälte so hart macht, daß wir mehrere Messer daran zerbrachen und schließlich unsere Zuflucht zu der Axt nahmen, doch mußten wir dann herumlaufen, um die Stücken aufzusammeln, die weit über die Schneefläche hinsprangen.
Aeußerst zweckmäßig ist Rousseaus Fleischpulver-Schokolade , welche die beiden guten Eigenschaften, nahrhaft und schmackhaft zu sein, verbindet. Ich führte davon 20 Kilogramm mit mir, die bei dem Fabrikanten in Paris bestellt waren. Nach der angegebenen Analyse soll diese Schokolade nicht weniger als 20% Fleischpulver enthalten; wir verzehrten sie in kleinen Portionen während des Marsches, und sie wirkte außerordentlich [S. 62] belebend auf uns. Mit genügend Fett daneben müßte sie ausgezeichnet sein. Sie ist nach meiner Erfahrung sehr leicht verdaulich, was das Pemikan nicht ist. Dies hat sowohl seine Schattenseiten wie seine Vortheile. Ist ein Stoff zu leicht verdaulich, so wird er gleich in den Körper aufgenommen, und der Magen ist bald wieder leer, man hat das Gefühl wieder hungrig zu sein, deshalb muß man häufiger essen. Auf der anderen Seite ist ein Stoff wie das Pemikan sicher für manchen Magen zu schwer verdaulich, infolgedessen geht eine Menge Nahrung durch den Ernährungskanal, ohne ausgenutzt zu werden.
Im ganzen muß es als absoluter Vorzug für eine arktische Expedition betrachtet werden, daß die Nahrungsmittel so leicht verdaulich wie möglich sind, man muß daher bestrebt sein, sich solche in so ausgedehntem Maße wie möglich zu verschaffen. Der Nutzwerth der verdaulichen Stoffe ist im Verhältniß zu ihrem Gewicht weit größer als der von weniger leicht verdaulichen Stoffen.
Als Brot verwandten wir theils schwedisches „Knäkkebröd“, das sehr leicht ist und den Vorzug hat, nicht trocken zu schmecken und dadurch die Empfindung des Durstes zu erregen, theils Fleischkakes, die wir extra in England bestellen mußten, und die außer Mehl noch einen bestimmten Prozentsatz Fleischpulver enthalten. Diese Kakes sind wohlschmeckend und zugleich sehr nahrhaft.
Als warmes Getränk, was zwar keine Nothwendigkeit, aber doch eine große Annehmlichkeit ist, verwendeten wir des Morgens gewöhnlich Schokolade und des Abends Erbsensuppe. Die Schokolade wurde selbstverständlich nicht aus Fleischschokolade bereitet, die nur roh verzehrt wurde, sondern ausschließlich aus Vanilleschokolade. Zur Erbsensuppe benutzten wir die deutsche Erbswurst [S. 63] von A. Schörke & Co. in Görlitz. Auch Bohnenwurst und Linsenwurst benutzten wir. Diese Präparate enthalten außer gemahlenen Erbsen, Bohnen oder Linsen auch Speck und Schinken. Ich versuchte ein ähnliches Londoner Fabrikat, doch war es nicht wie das deutsche mit Fett gemischt, was dies so wohlschmeckend für uns machte.
Wir hatten ferner Kaffee und Thee mitgenommen, den ersteren in Form von Kaffeeextrakt in einem Quantum von ungefähr 1½ Liter. Nachdem wir uns desselben ein paarmal des Nachmittags und des Abends bedient und die Erfahrung gemacht hatten, daß man sich allerdings sehr wohl und neubelebt durch das Getränk fühlt, daß man aber die Nacht darauf desto schlechter oder garnicht schläft, [10] so beschränkte ich den Gebrauch des Kaffees auf einzelne Morgen, da er uns aber auch dann nicht sonderlich bekam, so wurde er zum Schreck und Kummer der Lappen völlig verbannt, bis wir in die Nähe der Westküste gekommen waren.
Thee ist nach meiner Erfahrung weit weniger schädlich als Kaffee, löscht außerdem den Durst bedeutend besser. Dünner Thee mit kondensirter Milch und Zucker wurde daher häufiger verwendet, besonders des Morgens, als unsere Schokolade verbraucht war.
Im ganzen geht meine Erfahrung völlig gegen den Gebrauch narkotischer Genußmittel, sei es Kaffee, Thee, Tabak oder spirituöser [S. 64] Getränke. Eine gesunde Lebensregel ist, daß man zu allen Zeiten so natürlich und einfach wie möglich leben soll, vor allem aber gilt dies, wo es sich um ein Leben mit starken Strapazen, besonders in einem kalten Klima handelt. Glaubt man etwas zu erreichen, indem man Körper und Seele durch künstliche Mittel stimulirt, so verräth man, meiner Meinung nach, außer einer Unkenntniß der einfachsten physiologischen Gesetze entweder einen Mangel an Erfahrung oder auch einen Mangel an Fähigkeit, seine Erfahrungen auszunutzen. Es scheint doch so einfach und selbstverständlich, daß man im Leben nichts erhält, ohne auf irgend eine Weise dafür bezahlen zu müssen, und daß infolgedessen künstliche Reizmittel, selbst wenn sie keine direkte schädliche Wirkung hätten, was zweifelsohne der Fall ist, doch keinen andern Zweck haben als ein zeitweiliges Aufflackern mit einer nachfolgenden Erschlaffung. Künstliche Reizmittel, mit Ausnahme von Schokolade, die nahrhaft und sanft stimulirend ist, führen dem Körper keine nennenswerthen Nährstoffe zu, und was man für den Augenblick an Kräften auf Vorschuß erhält, muß man im nächsten Moment mit entkräftender Erschlaffung bezahlen. Von Einzelnen wird sicher der Einwand erhoben werden, daß es Fälle giebt, wo es nur darauf ankommt, für einen kurzen Augenblick Kräfte zu haben; hierauf muß ich jedoch erwidern, daß ich nicht einsehen kann, auf welche Weise ein solcher Fall auf einer langen Schlittenexpedition eintreten sollte, wo es sich im Gegentheil um eine so regelmäßige und sichere Arbeit wie nur möglich handelt.
Dies Alles mag Vielen so selbstverständlich erscheinen, als bedürfe es der Erwähnung nicht, trotzdem aber sieht man bis in die neuesten Zeiten arktische Expeditionen, versehen mit großen Ladungen nicht allein von Tabak, sondern auch von schädlichen [S. 65] Reizmitteln wie spirituösen Getränken, ausziehen. Charakteristisch ist z. B. das Verzeichniß über die Getränke, welche die zweite deutsche Nordpolexpedition (siehe den Bericht derselben, Einleitung S. 44 und 46) auf den beiden Schiffen „Germania“ und „Hansa“ mit sich führte. Es ist traurig, wenn diese verkehrte Auffassungsweise solche Folgen nach sich zieht, wie dies bei der Greely -Expedition, der letzten großen Tragödie in der arktischen Entdeckungsgeschichte, der Fall war. Wenn man hier sieht, wie z. B. der kühne Sergeant Rice , ausgehungert, todtmüde und erfroren, sich durch ein Quantum Rum, dem er sogar noch Ammoniak, das Schlimmste, worauf er verfallen konnte, zufügt, retten zu können glaubt und wie er dann unmittelbar darauf in den Armen seines Freundes Friedericks stirbt, während sich dieser seiner Kleider bis auf das Hemd beraubt, um die erstarrenden Glieder seines Freundes zu erwärmen, — da kann man nicht umhin, sich eigenartig durch den Gedanken berührt zu fühlen, daß so viel Energie, so viel Muth und so viele edle Selbstaufopferung nutzlos verschwendet werden soll. Ich will nicht einmal der unheimlichen Bacchanale Erwähnung thun, welche die Theilnehmer jener Expedition in diesen ungastlichen Gegenden, vom Tode umringt, veranstalteten. Außer der erschlaffenden Wirkung, welche der Alkohol auf die Ausdauer ausübt, indem er durch ein Herabsetzen der Körpertemperatur und eine Verringerung der Verdauungsthätigkeit geradezu schädlich wirkt, — so schwächt er auch die Energie und die Unternehmungskraft, und zwar in erhöhtem Maße, wenn die Leute, wie es auf der Greely -Expedition der Fall war, ausgehungert und fast erfroren sind.
Was soll man aber sagen, wenn ein so erfahrener Polarreisender wie Julius Payer in seinem Buch über die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition (1872-74) sagt, daß eine [S. 66] tägliche geringe Ration Rum auf einer längeren Schlittenreise, besonders bei sehr niedriger Temperatur, fast unentbehrlich ist (s. S. 224), während doch Branntwein gerade bei einer niedrigen Temperatur am schädlichsten wirkt und bekanntlich eine Verringerung der Körperwärme statt eine Erhöhung derselben hervorbringt. Freilich sind sehr viele Menschen in diesem Irrthum befangen, weil sie nach dem Genuß von Branntwein fühlen, daß er „inwendig erwärmt“, und weil sie nach einem guten Mittag mit vielen starken Weinen warm werden.
Viele sind der Ansicht, daß man den Branntwein, selbst wenn man ihn nicht zu den täglichen Rationen benutzt, doch mitnehmen sollte, um ihn als Medizin zu verwenden. Ich würde dieser Auffassung beistimmen, wenn man mir einen einzigen Fall nachweisen könnte, wo der Genuß von Branntwein zweckmäßig ist, so lange dies aber nicht geschieht, beharre ich bei meiner Ansicht, daß selbst der Vorwand, Branntwein mitzunehmen, an und für sich schon verwerflich ist .
Es ist entschieden das Richtigste, den Alkohol als Getränk von den arktischen Expeditionen völlig auszuschließen. [11]
Weniger schädlich als spirituöse Getränke auf den Expeditionen ist der Tabak , aber auch er (sowohl der Rauch- wie der Kautabak) wirkt bei starken Anstrengungen in hohem Grade schädlich, selbstverständlich nicht am wenigsten auf Expeditionen, wo Speisen und Getränke nicht allzu reichlich vorhanden sind. Er hat nicht [S. 67] allein einen ungünstigen Einfluß auf das Verdauungssystem, sondern er erschlafft auch die Körperkräfte und verringert die Nervenkraft, die Ausdauer und Zähigkeit. Bei der völligen Ausschließung des Tabaks von den Expeditionen muß indessen ein Umstand in Betracht gezogen werden, der in Bezug auf den Alkohol wegfällt (da man wohl nicht in die Verlegenheit kommt, Trinker mitzunehmen), — nämlich der, daß die meisten Menschen so an den Tabak gewöhnt sind, daß sie ein völliges Entbehren desselben sehr schmerzlich empfinden würden. Aus diesem Grund ist es gewiß nicht rathsam, einen allzu krassen Uebergang zu machen, man soll lieber den Verbrauch des Tabaks successive vermindern. Auf der anderen Seite aber soll man es auch vermeiden, allzu starke Raucher oder Kauer mitzunehmen.
Vier von den Theilnehmern an unserer Expedition rauchten (der alte Lappe Ravna und ich selber waren Nichtraucher), aber unser Tabaksvorrath war nur klein. Auf der Wanderung durch Grönland wurde nur jeden Sonntag und außerdem bei feierlichen Veranlassungen eine Pfeife geleistet.
Außer dem oben erwähnten Proviant führten wir mit uns: Butter, gedörrte Scholle (Queite), die sehr fett ist und daher sehr geschätzt wurde, ein wenig Schweizerkäse, ein wenig „Myseost“, zwei Dosen Haferkakes, einige eingemachte Preißelbeeren, gedörrten Kerbel, ein wenig Fleischpepton, eine ganze Anzahl von Dosen mit kondensirter Milch etc.
Außerdem erhielten wir als Geschenk von der Hermetischen Fabrik in Stavanger eine ganze Reihe von Sachen, die mitgenommen wurden und uns während unseres Lebens im Treibeise und in den Böten an Grönlands Ostküste vorzüglich mundeten, und diesen extra hinzukommenden Leckerbissen hatten wir es zu verdanken, daß unser Proviant, der, wie aus meinem Plan [S. 68] (s. S. 10 ) ersichtlich ist, auf 2 Monate berechnet war, doch für die 2½ Monate ausreichte, die vergingen von dem Augenblick an, als wir den „Jason“ verließen, bis zu dem Tage, wo Sverdrup und ich Godthaab erreichten, — ja wir behielten sogar noch etwas Proviant, besonders gedörrtes Fleisch, übrig, wovon Mehrere von uns noch lange nachdem wir nach Godthaab gekommen waren, aßen. Selbst in der Weihnachtszeit verzehrten wir noch gedörrtes Fleisch, das die Reise über das Inlandseis gemacht hatte.
Als zu der Verproviantirung gehörig können auch zwei doppelläufige Gewehre mit Munition genannt werden. Jedes Gewehr hatte einen Büchsenlauf von 9 mm Durchmesser und einen Hagellauf (Kaliber 20).
Bei einem Kaliber von so geringer Dimension erzielt man, daß das Gewicht der erforderlichen Munition bedeutend reduzirt wird, und ich fand es völlig ausreichend, sowohl für Seehunde als für Seevögel. Sie genügen in den Händen eines sicheren Schützen auch für die Eisbärenjagd. Das Wichtigste ist hier wie überall das, was sich hinter dem Kolben befindet.
Der Zweck dieser Gewehre war ein doppelter — einmal wollten wir uns vermittelst derselben Proviant an der Ostküste verschaffen, besonders falls eine Ueberwinterung nothwendig sein sollte; aus dem Grunde beabsichtigte ich auch eine Büchse mit Munition an der Ostküste zu deponiren, — ferner wollten wir uns auf diese Weise mit frischem Proviant versehen, falls wir die Westküste erreichten, ohne gleich Menschen zu treffen, denn wenn man nur die Küste, eine Büchse und etwas Munition hat, so kann es nicht an Lebensmitteln fehlen.
An wissenschaftlichen Instrumenten führte die Expedition folgendes mit:
1 Theodolit , ein vorzügliches vom Instrumentenmacher [S. 69] Olsen in Kristiania angefertigtes Instrument. Es war jedoch ein wenig schwer (es wog ungefähr 3,2 kg ) und hatte ein nicht viel leichteres Stativ, dafür gab es aber ausgezeichnete Observationen, sowohl terrestrische als astronomische. Für künftige Expeditionen möchte ich allerdings empfehlen, sowohl dies Instrument, als auch andere aus Aluminium anfertigen zu lassen. Das Gewicht würde sich dadurch bedeutend verringern lassen.
1 Sextanten mit künstlichem Horizont. Es war dies ein kleiner Taschensextant von Perken, Son & Rayment in London, ein feines kleines Instrument, das uns vorzügliche Dienste leistete. Zum Horizont verwendeten wir Quecksilber, — um die Mittagsstunde war es niemals so kalt, daß dies fror. Da Quecksilber sehr schwer ist, glaube ich, daß z. B. Oel zweckmäßiger für den Horizont zu verwenden wäre.
1 Peilscheibe mit drei Bussolen (Kompassen) zur Messung der Abweichung, sowie zu trigonometrischen Messungen.
5 Taschenkompasse .
3 Aneroidbarometer von Perken, Son & Rayment in London.
1 Hypsometer oder Kochbarometer mit zwei dazu gehörigen feinen Thermometern. Das Prinzip dieses Barometers beruht auf einer genauen Bestimmung von dem Siedepunkt des reinen Wassers, der sich ja bekanntlich mit dem Luftdruck verändert und infolgedessen auch mit der Höhe. Ich fand dies Barometer sehr bequem, und infolge seines unbedeutenden Gewichts eignet es sich ganz vorzüglich für eine Expedition wie die unsere, wo ein Quecksilber-Barometer selbstverständlich zu schwer und zu umständlich zu transportiren ist.
6 Schwingethermometer . Diese sind darauf eingerichtet, an eine Schnur gebunden und mit großer Schnelligkeit in der [S. 70] Luft herum geschwungen zu werden. Hierdurch kommt die Thermometerkugel mit so viel Luft in Berührung, daß die Einwirkung der Sonnenstrahlen auf sie verhältnißmäßig gering wird, und man so mit Leichtigkeit selbst mitten im Sonnenschein die Temperatur der Luft messen kann.
Bindet man einen ganz dünnen Stoff wie Gaze oder dergl. über die Kugel eines Schwingthermometers, so hat man, indem man diesen Stoff anfeuchtet, ein gutes Mittel, den Feuchtigkeitsgrad der Luft durch Vergleichung mit einem andern Thermometer zu messen.
1 Minimumthermometer und
1 Spiritusthermometer .
4 Ankeruhren , sog. Halbchronometer; gewöhnliche Taschenchronometer eignen sich kaum für derartige Expeditionen, da sie in gewissen Stellungen leicht stehen bleiben. Wir hatten übrigens ein merkwürdiges Unglück mit unseren Uhren, indem eine infolge eines Falles stehen blieb, — eine zweite ging, wahrscheinlich aus demselben Grunde, ein wenig unzuverlässig, — eine dritte, nämlich eine ältere, mir gehörige Uhr, blieb wahrscheinlich infolge von Schmutz stehen, — nur die vierte hielt sich die ganze Zeit hindurch gut und erwies sich als vorzügliche Uhr.
Ich glaube, daß die Expedition in betreff der Instrumente besonders gut ausgerüstet war, und dies hatten wir im wesentlichen Herrn Professor H. Mohn , dem Direktor des meteorologischen Instituts in Kristiania, zu verdanken. Mit unermüdlichem Eifer nahm er sich unserer wissenschaftlichen Ausrüstung an, und wenn wir werthvolle Observationen zu machen im stande waren, so haben wir ihm dafür zu danken.
Infolge einer Aufforderung von Professor Petterson in Stockholm nahm ich die nothwendigen Instrumente mit, um für ihn auf der Reise Luftproben zu sammeln. Diese Proben [S. 71] werden in einer Menge mittelgroßer Glascylinder genommen, die sorgfältig von Luft gereinigt und zugeschmolzen sind. Sobald sie geöffnet wurden, füllten sie sich natürlich sogleich mit Luft, und wenn man sie dann sorgfältig zuschmilzt, was vermittelst einer Spirituslampe und eines eigens dazu eingerichteten Blaserohrs leicht geschehen kann, so enthalten sie Luft, die man nun so weit man will transportiren kann.
Ein unentbehrlicher Artikel auf allen modernen Entdeckungsreisen ist ein Photographir-Apparat. Ich hatte einen kleinen Apparat mit zwei Rollkassetten für Papierrollen mit empfänglicher Gelatinfilm mitgenommen. [12]
Es wäre zu schwer und unpraktisch gewesen, wenn ich hätte Glasplatten transportiren wollen. Um die Papierrollen zu wechseln, führte ich auch zwei rothe Laternen mit, eine aus Papier und eine aus Glas. Hierzu nahm ich fünf Stearinlichte mit.
An weiteren Instrumenten, Geräthschaften etc. führten wir mit uns: 2 Aluminium-Fernröhre, 2 Podometer, 1 Axt, diverses kleineres Werkzeug wie Messer, Feile, Pfriem, Pechdraht etc., Nähnadeln, Kneifzange, Schraubenzieher, kleine Schrauben für die Stahlplatten unter den Schlittenschienen etc. Außerdem Gewichte zum Auswägen des Proviants, sog. Steigeisen aus Tyrol, Zacken, die in die Stiefelsohlen geschroben werden, Manilla-Alpenseile, diverse Reserveleinen für Schlitten etc., Eispickel mit Schäften aus Bambusrohr — diese wurden auch zu Skistäben verwendet —, einen Stahlspaten, der auf einen der Stäbe geschraubt werden konnte und der zum Schneeschaufeln benutzt werden sollte, hauptsächlich, um einen guten Zeltplatz zu schaffen oder um Schneehütten zu bauen, falls das Zelt vernichtet würde, [S. 72] mehrere Bambusstangen zu Masten und Steuerstangen während der Segelfahrt mit Schlitten wie mit Böten; ein starkes Ziehtau, um Boot und Schlitten über schwierige Stellen hinwegzuziehen, Zeichengeräthschaften, Skizzenbücher und Notizbücher, Logarithmentabellen, Seekalender für d. J. 1888 und 1889 etc. Ein großes Brennglas, Feuerstein, Stahl und Lunte, Zündhölzer, die zum Theil in luftdicht verschlossenen Blechdosen an verschiedenen Stellen der Bagage aufbewahrt waren, damit wir selbst, wenn einige verloren gingen, doch genug hätten. Drei 10literhaltige Spiritusfässer, Persennings, theils aus wasserdichtem Segeltuch, theils aus Oeltuch über jeden Schlitten zu breiten, große Tragsäcke, die im wesentlichen bestimmt waren, um bei schwierigem Terrain, wo man nicht ziehen konnte, benutzt zu werden, die indessen als Mantelsäcke für unsere Privatgarderobe Verwendung fanden. Verschiedene Bootsgeräthschaften, wie lange Bootshaken (aus Bambusrohr), kurze Bootshaken mit breiten Blättern versehen, so daß sie gleichzeitig zum Wricken benutzt werden konnten, was in engem Fahrwasser zwischen Treibeis, wo andere Ruder zu lang sind, sehr zweckmäßig ist, — ferner gewöhnliche Ruder, Reservedollen, Handpumpen mit Schläuchen, um das Boot auszupumpen, wenn es belastet ist u. dergl. m. Ferner hatten wir eine kleine Apotheke mitgenommen, in der sich Schienen und Bandagen zum Verbinden bei Arm- und Beinbrüchen befanden, — Chloroform, Kokainauflösung zur Linderung von Schmerzen bei Schneeerblindungen, Zahntropfen, Magenpillen, Vaselin etc. etc. Es ist selbstverständlich, daß dies alles auf ein Minimum reduzirt war.
Im April unternahmen wir eine kleine Probeexpedition nach einem Wald in der Nähe von Kristiania. Die Mitglieder der Expedition waren damals mit Ausnahme eines Einzigen versammelt. Diesen Ausflug schildert Balto folgendermaßen:
[S. 73]
„Eines Abends zogen wir vor die Stadt in einen Wald, um dort die Nacht über zu bleiben und einen Versuch mit den Schlafsäcken zu machen, die aus Rennthierfell verfertigt waren. Am Abend, als wir in den Wald gelangten, wo wir die Nacht zubringen wollten, schlugen wir unser Zelt auf. Darauf mußten wir Kaffee mit einer Maschine kochen, die mit Spiritus kochen sollte. Der Maschinenkessel wurde mit Schnee gefüllt, und wir zündeten Feuer darunter an. Es brannte mehrere Stunden, kam aber nicht zum Kochen. Da mußten wir versuchen, von dem lauwarmen Wasser zu trinken, zu dem Kaffeeextrakt gegossen wurde. Es schmeckte aber nach nichts, denn es war fast kalt. Am Abend, als wir uns schlafen legen wollten, krochen die vier Norweger in Schlafsäcke. Nansen sagte, wir sollten uns auch in die Säcke legen, aber wir meinten, es würde uns zu heiß werden. Wir brauchten nicht in die Säcke zu kriechen, meinten wir, deshalb schliefen wir draußen. Am Morgen erwachte ich, als die Uhr wohl sechs war, und da sah ich, daß unsere Leute in ihren Säcken lagen und wie die Bären schliefen. Ich legte mich wieder hin und schlief bis um 9 Uhr. Da weckte ich sie, denn ich wußte, daß ein Wagen für uns um 10 Uhr bestellt war.“
Diese Schilderung bezeugt, daß einzelne Theile unserer Ausrüstung, wie z. B. der Kochapparat, noch nicht so gut waren, wie sie wohl sein konnten, aber wir hatten noch Zeit zu Verbesserungen. Diese wurden auch vorgenommen, und als wir endlich in den ersten Tagen des Mai auszogen, nachdem wir in der elften Stunde mehrere wichtige Dinge erhalten hatten, war wenigstens das Meiste in der erwünschten Ordnung, und was noch fehlte, das konnte während der Reise beschafft werden.
[5] Ueber die Skikjälker in Sibirien siehe u. a. Nicolaes Witsen „ Nord en ost Tartarye. “ Amsterdam 1705 (Seite 820).
[6] Lieutenant Greely. Three Years of Artic Service. London 1886. Vol. I. S. 199.
[7] Aus Xenophons Anabasis ersieht man übrigens, daß schon 400 Jahre v. Chr. die Bewohner der armenischen Gebirge die Sitte kannten, den Pferden Truger oder etwas ähnliches unter die Hufe zu binden.
[8] Schuhe aus roh gegerbten oder auch ganz rohen Ochsenhäuten mit Haaren darauf. Sie werden ebenso wie die Finnenschuhe der Lappen in Norwegen ganz allgemein zum Skilaufen verwendet.
[9] Die von Greely angegebenen Daten über den Kochapparat, der auf der von ihm geleiteten Expedition in Anwendung kam, lauten ein wenig sonderbar und die angeführten Zahlen müssen unkorrekt sein; denn danach müßte man bei diesem Kochapparat 95% von dem Brennwerth des verbrauchten Alkohols ausnützen können, was eine Unmöglichkeit ist. Noch sonderbarer sind die von Payer mitgetheilten Daten; denn nach diesen sollte man mit dem Kochapparat auf der Tegethof-Expedition mehr als 100% von dem Brennwerth des Alkohols ausgenützt haben.
[10] Die Wirkung war bei Allen, selbst bei den Lappen, ganz auffallend und ist sicher auf die empyreumatischen Oele, Kafëon, zurückzuführen, deren starke giftige Wirkung bekannt ist. Wahrscheinlich enthält der Kaffeeextrakt infolge seiner Zubereitungsweise diese Stoffe in weit höherem Maße als der auf gewöhnliche Weise bereitete Kaffee, während gleichzeitig der Mangel des als beruhigendes Mittel wirkenden Kafëin ebenfalls durch die Zubereitungsweise verringert wird.
[11] Eine Reihe von Versuchen, die mit englischen Soldaten vorgenommen wurden, sind in dieser Beziehung sehr bezeichnend. Eine Abtheilung Soldaten erhielt den Befehl, eine bestimmte Strecke in möglichst kurzer Frist zu marschiren; einigen von ihnen wurde Cognac in verschiedenen Quantitäten mitgegeben, während Andere nur Wasser erhielten. Es stellte sich dann heraus, daß, je mehr Alkohol während des Marsches genossen war, desto mehr Zeit gebraucht wurde.
[12] Ich verwendete die sog. Eastman’s American Stripping Films .
[S. 74]
ie Expedition, welche wir hier zu schildern gedenken, hat ihre Entstehung einzig und allein dem norwegischen Schneeschuhlaufen zu verdanken. Der Verfasser selber ist von seinem vierten Jahr an mit den Schneeschuhen vertraut gewesen, wie auch jeder einzelne Theilnehmer ein geübter Schneeschuhläufer war, und die Ausführung der ganzen Expedition war auf der Ueberlegenheit der Schneeschuhe über jedes andere auf Schneeflächen in Anwendung kommende Beförderungsmittel begründet.
Da liegt es denn sehr nahe, mit einer kurzen Schilderung der Schneeschuhe zu beginnen, um so mehr, als nur wenige Menschen außerhalb der vereinzelten Länder, in denen die Schneeschuhe benutzt werden, eine Ahnung davon haben, was Schneeschuhlaufen ist, und ohne eine solche Kenntniß Mancherlei in dieser Reisebeschreibung schwerlich zu verstehen sein würde.
Schon der Verfasser des Königsspiegels (Kongespeilet) hat vor ungefähr 640 Jahren darauf hingewiesen, daß es für Alle, die das Schneeschuhlaufen nicht gesehen haben, höchst wunderbar erscheinen muß, weil man auf zwei dazu eingerichteten Holzstücken so schnell über Schneefelder dahin gleiten kann. Er behandelt unter anderem die Frage über das Vorhandensein gezähmter [S. 76] Drachen in Indien und meint, daß dies freilich wunderbar genug klingen mag, daß es aber auch bei uns zu Lande Verhältnisse giebt, die den Völkern anderer Länder noch weit wunderbarer erscheinen müssen. Er sagt:
„Weit mehr Verwunderung aber wird das erzeugen, was von den Männern erzählt wird, die ein Holzstück oder dünne Bretter so zähmen können, daß ein Mann, der nicht schneller zu Fuß ist als Andere, wenn er nur Schuhe an den Füßen hat oder wenn er barfuß ist, — daß dieser Mann, sobald er 7-8 Ellen [13] lange dünne Bretter unter seine Füße bindet, Vögel im Fluge oder die schnellsten Windhunde und Rennthiere im Lauf überholt, welche letztere doch doppelt so schnell laufen wie ein Hirsch, denn es giebt eine ganze Anzahl von Männern, die ihre Schneeschuhe so gut zu gebrauchen wissen, daß sie im Lauf mit ihrem Spieß Rennthiere und noch mehr zu treffen vermögen. Nun wird diese Sache in allen den Ländern unglaublich, unwahrscheinlich und merkwürdig erscheinen, in denen man nicht weiß, mit welcher List oder Kunst es geschieht, daß dünne Bretter zu einer so großen Geschwindigkeit abgerichtet werden können, daß oben in den Bergen nichts, was sich auf der Erde bewegt, im schnellen Lauf dem Manne entgehen kann, der Bretter an den Füßen hat; sobald er diese aber abnimmt, ist er nicht geschwinder als andere Männer. In anderen Gegenden, wo die Leute nicht an so Etwas gewöhnt sind, wird sich kaum ein Mann finden, er mag noch so gewandt sein, der nicht alle Gewandtheit einbüßt, sobald solche Holzstücke an seine Füße gebunden werden. Wir verstehen diese Sache aus dem Grunde und haben im [S. 77] Winter, sobald Schnee liegt, Gelegenheit genug, Männer zu sehen, welche diese List oder Kunst verstehen.“ [14]
Die Schneeschuhe werden aus Holz angefertigt und sind in Norwegen in der Regel 3-4 Zoll breit und ungefähr 8 Fuß lang, zuweilen länger, zuweilen kürzer. Sie sind flach und glatt auf der Unterseite. Nach vorne zu sind sie mehr oder weniger in die Höhe gebogen, zuweilen auch am hinteren Ende ein wenig. Sie werden vermittelst eines Zehen-Riemens befestigt, der ungefähr in der Mitte des Schneeschuhs angebracht ist, und in den man die Fußspitzen steckt. Für alle guten Schneeschuhläufer kommt dann ein Fersenband hinzu, das, von dem Zehenriemen ausgehend, um die Ferse läuft.
Auf diesen Schneeschuhen kommt man durch eine eigene gleitende Bewegung der Beine und des Unterkörpers vorwärts. Die Anfangsgründe sind eigentlich nicht schwer zu erlernen, aber die Fertigkeit kann zu einem hohen Grad von Vollkommenheit entwickelt werden. Man darf die Schneeschuhe nicht aufheben und durch den Schnee stampfen, wie man es oft von Stümpern sieht, — sie gehen, als wenn sie barfuß durch ein Moor wanderten. Es kommt im Gegentheil darauf an, die Füße gleitend über den Schnee zu führen. Man hält sie immer ein wenig vorwärts, indem der Körper elastisch und leicht der Bewegung folgt. Die Schneeschuhe werden in paralleler Richtung so nahe wie möglich aneinander vorbeigeführt, also nicht nach den Seiten wie die Schlittschuhe, was gewiß Viele glauben, die das Schneeschuhlaufen nie gesehen haben. Folglich bilden [S. 78] die Spuren, die ein tüchtiger Schneeschuhläufer im Schnee hinterläßt, zwei parallele Linien. In der Hand hält man gewöhnlich einen Stab, mit dem man sich während des Laufens hilft, und der in einzelnen Gegenden eine ungewöhnliche Länge erreicht. Bei diesem Vorwärtsgleiten kann ein guter Schneeschuhläufer auf der Ebene eine große Geschwindigkeit erlangen.
Bergaufwärts geht es natürlich langsamer, aber auch hier wird ein tüchtiger Schneeschuhläufer jedem Anderen überlegen [S. 79] sein. Ist der Berg steil und hoch, so geht er nicht geradeaus, sondern nähert sich dem Gipfel Schritt für Schritt kreuzend, oder auch er erklimmt ihn seitwärts Schritt für Schritt und bildet so gleichsam eine Treppe im Schnee. Ist der Hügel niedriger, und sind die Schneeschuhe nicht zu lang, kann er auch auf die Weise, wie sie links auf umstehender Zeichnung ersichtbar ist, direkt bergauf gehen. Man wendet die Schneeschuhe auswärts, bis sie einen so großen Winkel gegeneinander bilden, wie es der Abfall des Berges erfordert, und führt sie so, daß das hintere Ende des einen in die Höhe gehoben und vor den anderen hingesetzt wird. Die Spur im Schnee hat viele Aehnlichkeit mit dem Hexenstich der Nähterinnen. Ein Hügel, den ein Schneeschuhläufer nicht erklimmen könnte, ohne die Schneeschuhe abzuschnallen, muß wunderbar aussehen. Schon Olaus Magni sagt i. J. 1555: „Es giebt keinen Berg, er mag noch so hoch sein, den er nicht auf listigen Umwegen zu erklimmen vermöchte.“
Bergabwärts geht es ganz von selber, denn die Schneeschuhe gleiten leicht über den Schnee dahin. Man muß sich nur auf denselben halten und die Herrschaft über sie bewahren, so daß man nicht gegen Bäume oder Steine läuft oder in einen Abgrund stürzt. Je steiler der Berg ist, desto geschwindere Fahrt hat man, und nicht ohne Grund heißt es im Königsspiegel, daß man auf Schneeschuhen den Vogel im Fluge überholt und nichts, was sich auf der Erde bewegt, dem Schneeschuhläufer entgehen kann.
Das Schneeschuhlaufen ist der nationalste aller nordischen Sports und ein herrlicher Sport ist es; — wenn irgend einer den Namen des Sports aller Sports verdient, so ist es dieser. Nichts stählt die Muskeln so sehr, nichts macht den Körper elastischer und geschmeidiger, nichts verleiht eine größere Umsicht [S. 80] und Gewandtheit, nichts stärkt den Willen mehr, nichts macht den Sinn so frisch wie das Schneeschuhlaufen. Kann man sich etwas Gesunderes oder Reineres denken, als an einem klaren Wintertag die Schneeschuhe unter die Füße zu schnallen und waldeinwärts zu laufen? Kann man sich etwas Feineres oder Edleres denken als unsere nordische Natur, wenn der Schnee ellenhoch über Wald und Berg liegt? Kann man sich etwas Frischeres, Belebenderes denken, als schnell wie der Vogel über die bewaldeten Abhänge dahinzugleiten, während die Winterluft und die Tannenzweige unsere Wangen streifen und Augen, Hirn und Muskeln sich anstrengen, bereit, jedem unbekannten Hinderniß auszuweichen, das sich uns jeden Augenblick in den Weg stellen kann? Ist es nicht, als wenn das ganze Kulturleben auf einmal aus unseren Gedanken verwischt wird und mit der Stadtluft weit hinter uns zurückbleibt, — man verwächst gleichsam mit den Schneeschuhen und der Natur. Es entwickelt dies nicht allein den Körper, sondern auch die Seele, und hat eine tiefere Bedeutung für ein Volk als die Meisten ahnen.
Wohl nirgends eignet sich die Natur besser für den Schneeschuhlauf als in Norwegen; Hügel giebt es dort zur Genüge, und auch der Schnee ist reichlich vorhanden. Von Kindesbeinen an werden wir an die Schneeschuhe gewöhnt — ein guter Haken krümmt sich bei Zeiten —, und die Natur selbst zwingt die Knaben, ja auch die Mädchen in manchen Gebirgsgegenden Norwegens, die Schneeschuhe zu gebrauchen, sobald sie gehen können. Tief und weich liegt der Schnee den ganzen Winter hindurch vor den Thüren der Häuser. Früh im Herbst kommt er, um erst spät im Frühling wieder zu verschwinden. Wege sind in manchen Gegenden nur sehr spärlich vorhanden, und Jeder — es sei Mann oder Frau —, der von einem Hof [S. 81] zum andern gelangen will, muß die Schneeschuhe anschnallen, denn ohne sie versinkt man bis über die Hüften im Schnee. Man wächst sozusagen mit den Schneeschuhen auf, — es ist nicht selten, daß man Mädchen und Knaben von 3-4 Jahren sich üben sieht. Von dem Alter an oder vielleicht ein wenig später, [S. 82] halten sich die Bauernknaben in steter Uebung. Berge haben sie in der Regel gerade vor dem Hause und überall zu beiden Seiten der engen Thäler, auf Schneeschuhen müssen sie ihren Schulweg zurücklegen und auf Schneeschuhen verbringen sie die freie Zeit zwischen den Unterrichtsstunden. Der Lehrer ist oft selbst mit dabei und stellt sich an die Spitze der kleinen Schar. Und dann des Sonntagsnachmittags, — welch ein Fest ist es nicht den ganzen Winter hindurch, wenn sich die ganze Dorfjugend, Kinder und Erwachsene, der Verabredung gemäß versammelt, um in edlem Wettstreit sich miteinander zu messen und sich zu amüsiren, solange das Tageslicht ausreicht. Und auch die Mädchen sind dabei, aber sie wollen den Burschen lieber zuschauen, obwohl auch sie die Schneeschuhe zu gebrauchen wissen und mancher gute Sport auf Schneeschuhen von norwegischen Mädchen betrieben wird, ohne daß viel Redens davon gemacht wird.
So gestaltet sich das Winterleben der Jugend in manchem norwegischen Dorf. Die Knaben zählen noch nicht viele Jahre, und sie wissen schon, welche Form ein guter Schneeschuh haben muß, wie das beste Holz für die Schneeschuhe aussieht und wie man eine Weide biegen muß, um sie zum Befestigen der Ski verwenden zu können; ein Jeder lernt es, ohne die Hülfe Anderer fertig zu werden, er wächst heran und wird ein Mann für sich selbst, wie sein Vater es war. — Möge sich dies erhalten, möge das Schneeschuhlaufen sich entwickeln und gedeihen, so lange es Männer und Frauen in den norwegischen Thälern giebt!
Eine absolute Nothwendigkeit sind die Schneeschuhe hier in Norwegen wie in ganz Nordeuropa und in Sibirien für die Winterjagd, auf der die tüchtigsten Schneeschuhläufer in den Gemeinden ihre Ausbildung erhalten haben.
[S. 83]
Früher war es in Skandinavien ganz allgemein, daß man im Winter die größeren Thiere, Elen- und Rennthiere, auf den Schneeschuhen verfolgte. Wenn der Schnee tief ist, pflegt es für einen tüchtigen Schneeschuhläufer nicht schwierig zu sein, das Wild einzuholen und zu fällen, da es einsinkt und nur mit Mühe vorwärts kommen kann. Es war eine spannende Jagd, die sowohl Stärke, wie Ausdauer und Gewandtheit in der Benutzung der Schneeschuhe erforderte. Der Art und Weise, wie man Rennthiere fällte, geschah schon in dem früher mitgetheilten Bruchstück aus dem „Königspiegel“ Erwähnung.
Jetzt, wo diese Thiere im Winter geschont werden, hat damit diese Jagd ein Ende; doch wird sie gewiß noch von Wilddieben in vielen Theilen Skandinaviens, besonders in den flachen Walddistrikten Schwedens, wo sie am leichtesten ist, betrieben.
Die Jagd, zu welcher der norwegische Bauer jetzt hauptsächlich die Schneeschuhe benutzt, ist das Schneehuhnschießen und der Dohnenfang im Gebirge. Diese Jagd ist friedlicher und weniger anstrengend, aber auch sie hat ihre eigene Anziehungskraft. Das Umherstreifen in den Bergen im Winter, wenn das Weidendickicht von der Schneelast tief herabgedrückt liegt, wenn die Schneehühner, die so weiß sind, daß man sie nur mit Mühe von ihrer Umgebung unterscheiden kann, im Birkengestrüpp umherflattern und gackern, da kann Einem wohl der Sinn frei und leicht werden, während das Auge über die weiße Fläche schweift. Und wenn man dann mit der Büchse und dem Jagdnetz auf dem Rücken in sausender Fahrt die langen, offenen Abhänge hinabgleitet, da braust das Blut weit schneller durch die Adern!
Es ist nicht ungewöhnlich, daß sich der norwegische Bauer [S. 84] auch auf der Hasenjagd der Schneeschuhe bedient, und es kommt auch wohl vor, daß er auf Schneeschuhen den Bären in seiner Höhle aufsucht, oder wenn der Schnee tief und lose ist, den Luchs, den Vielfraß oder einen einzelnen Bären verfolgt, der zufällig aufgeschreckt worden ist. Dem Lappen ist es etwas ganz Gewöhnliches, auf Schneeschuhen seinem ärgsten Feind, dem Wolf, nachzusetzen und ihn zu verfolgen, bis er ihn schießen oder mit dem Skistab todtschlagen kann. Die meisten sibirischen Völker betreiben ihre Winterjagd auf Schneeschuhen, und da der Winter den größten Theil des Jahres ausmacht, ist es sehr begreiflich, welche Nothwendigkeit, ja, man kann wohl sagen welche Lebensbedingung die Schneeschuhe für viele dieser Völker sind.
Das Schneeschuhlaufen ist alt in Norwegen, — wie alt ist nicht zu sagen, es geht weiter in die graue Urzeit zurück als unsere Aufzeichnungen reichen. In den Sagen von unserm Stammvater Nor heißt es sehr charakteristisch, daß er und seine Begleiter auf Schneeschuhen dahergezogen kamen. Sie warteten in Finnland, bis es gute Schneeschuhbahn wurde, und zogen dann gen Westen weiter um den Botnischen Meerbusen in das Land hinein. Diese Sagen sind jedoch verhältnißmäßig späten Datums.
Hauptsächlich durch Prof. Gustav Storm, der dieser Frage eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat, erhielt ich einzelne werthvolle Mittheilungen über die Geschichte der Schneeschuhe in Norwegen, und ich will einiges davon hier wiedergeben. „Soweit ich es beurtheilen kann,“ — sagt Prof. Storm in einem Schreiben an mich — „müssen die Norweger und Schweden das Schneeschuhlaufen von den Lappen erlernt haben.“ Die ältesten historischen Nachrichten sind jedenfalls auf diese Richtung zurückzuführen. In der Mitte des 6. Jahrhunderts gaben zwei [S. 85] südeuropäische Schriftsteller, der Grieche Prokop und der Gothe Jordanis den Lappen einen Namen, welcher die Auffassung unserer ältesten Vorfahren verräth. Beide erwähnen den Stamm der Normannen, welcher auf dem 67°-68° n. Br. lebt, also die Nordländer, und der seine nomadischen Nachbarn als Skridfinnen bezeichnet. Die Nordländer haben also den Finnen oder Lappen den Beinamen Skrid gegeben, weil sie fanden, daß das „ Skrida “ charakteristisch für sie war; aber dies „Skrida“ (gleiten) ist gerade in der alten Sprache der bezeichnende Ausdruck für das sich Fortbewegen auf Schneeschuhen („ skrida á skidum “, — „ Finnr skridr “.)
Der Name Skrid finnen wurde in Norwegen und Schweden bald vergessen; denn hier erlernte man gar bald die Kunst; der Name war aber südwärts gedrungen und wurde auch später von den Schriftstellern anderer germanischer Völker zur Bezeichnung der Lappen benutzt, so von Paulus Diaconus in seiner longobardischen Geschichte (ca. 790), vom englischen König Alfred (ca. 890), von Adam von Bremen (ca. 1070) und von Saxo Grammaticus (ca. 1200).
In ganz alten Zeiten betrachteten die Norweger und die Nordländer überhaupt die Lappen als die tüchtigsten Schneeschuhläufer und das Schneeschuhlaufen als für sie charakteristisch. So läßt Snorre Sturlassön die Königin Gunhild, die in Finnmarken von zwei Lappen (ca. 920) erzogen wurde, von diesen sagen, „daß sie so tüchtig auf Schneeschuhen sind, daß ihnen nichts entwischen kann, weder Mensch noch Thier, und worauf sie zielen, das treffen sie“. In Magnus Barfods Sage wird als altes Sprichwort angeführt: „Es sieht nach Schneewetter aus, Knaben, sagten die Finnen, sie hatten „ Aandrer “ zu verkaufen.“ Also pflegten die Norweger damals (1006) ihre [S. 86] Schneeschuhe bei den Lappen zu kaufen, die nach Stephanius (Kommentar zum Saxo) noch im 17. Jahrhundert Meister im Verfertigen von Schneeschuhen sind. Die Historia Norwegiae (von ca. 1200) schildert die Lappen als tüchtige Jäger, die in Fellzelten wohnen. Wenn sie umziehen, nehmen sie diese auf den Rücken, befestigen glatte, hölzerne Stangen, „welche sie Aandrer nennen“, unter die Füße und eilen schneller als Vögel über den Schnee und die Berge dahin. Der ungefähr gleichzeitige Saxo sagt ebenfalls von den Lappen, „daß sie während der Jagd auf krumm gebogenen Hölzern über die schneebedeckten Berge dahin eilen“, — und als er die Sage von König Harald und Toke erzählen will, läßt er den König sich seiner Tüchtigkeit in der Kunst rühmen, „vermittels welcher die Finnen (Lappen) über schneebedeckte Abhänge dahin eilen“. In der isländischen Sage „Graagaasen“ (ca. 1250) heißt es u. a., daß der Geächtete so weit fortgetrieben werden soll „wie der Lappe auf seinen Schneeschuhen läuft, wie die Fichte wächst, wie der Adler an einem Frühlingstag fliegt, wenn er den Wind unter beiden Flügeln mit sich hat.“ Dies ist ganz zweifelsohne eine alte norwegische Gesetzformel, die nach Island hinübergekommen ist.
Es könnte aus unseren Sagen noch mehr in Bezug auf das Schneeschuhlaufen der Lappen angeführt werden, doch glaube ich, daß das hier Erwähnte genügen wird, um zu beweisen, daß das Schneeschuhlaufen in Norwegen von den Lappen eingeführt worden ist.
Wir verdanken es Storm, daß wir mit Sicherheit sagen können, daß das Schneeschuhlaufen schon im 10. Jahrhundert in Norwegen betrieben wurde, jedenfalls im Nordlande und wahrscheinlich auch überall in den nördlichen Berggegenden, [S. 87] wahrscheinlich auch in den „Oplanden“. In einer Reihe von Skaldengesängen aus dem 10. Jahrhundert werden „Skid“ und „Oendurr“ (mit Fell bezogene Schneeschuhe) in poetischen Bildern benutzt, die das Segeln des Schiffes über das Meer mit dem Dahingleiten der Schneeschuhe vergleichen. Guthorm Sindre zu Haakon des Guten Zeit nennt beispielsweise das Schiff „Svanevangens Ski“ (der Schneeschuh des Meeres). Dies zeigt ganz deutlich, daß die Anwendung von Schneeschuhen ganz allgemein gewesen sein muß, denn sonst würde das Bild nicht zu verstehen gewesen sein. Noch wichtiger ist es, daß der Schneeschuhsport seine Repräsentanten unter den Göttern hatte. Der Nordländer Eyvind Skaldespilder (aus Helgeland) nennt in einem Gedicht aus dem Jahre 990 Thasses Tochter Skade „Oendur-dís“ (d. h. Schneeschuhgöttin), und der Isländer Einar Skaaleglam, der ungefähr im Jahre 980 einen Lobgesang auf Haakon Jarl auf Lade dichtete, giebt Ullr den Beinamen „Aanderguden“, (Oendur-jálkr, eigentlich Aandrernes Odin). Zu bemerken ist noch, daß Skade vom Jotun-Stamme ist; wenn man nun bedenkt, daß für die Norweger häufig Lappen und Kobold gleichbedeutend waren, so liegt die Annahme nicht fern, daß Eyvind sie sich als von lappländischer Abstammung gedacht hat. Von Ullr ist zu bemerken, daß er in Dänemark nicht der Gott des Schneeschuhlaufens, sondern der Gott des Schlittschuhlaufens ist, denn Saxo sagt von „Ollerus“, daß er statt sich eines Schiffes zu bedienen, auf einem Bein über das Meer zu setzen pflegte, über das er Hexengesänge gesungen hatte, d. h. er ging auf „Islegger“, welches diejenige Form von Schlittschuhen ist, die unsere Vorfahren anwendeten und die auch, wie aus zahlreichen archäologischen Funden nachzuweisen ist, in Deutschland schon in sehr frühem Zeitalter ganz allgemein gewesen sind. Sowohl [S. 88] in Norwegen, wie in Deutschland finden sie zum Theil noch heute Verwendung.
Also wahrscheinlich erst im nördlichen Norwegen ist Ullr zum Schneeschuhgott geworden, während das Schneeschuhlaufen wohl niemals bis nach Dänemark gelangt ist, wo ja auch die Naturverhältnisse nicht sehr dazu ermuntern. Die Sage von dem dänischen König Harald Blauzahn und Toke, die vor dem Vorgebirge Kullen in Schoonen auf Schneeschuhen stehen mußten, hat in dieser Beziehung keine weitere Bedeutung, da sie zweifelsohne aus Norwegen stammt, wo genau dasselbe von einem König Harald und „Hemingen den ungje“ erzählt wird.
In den historischen Sagen wird u. a. erzählt, daß als Egil Skallagrimsön eines Winters (ca. 950) im Auftrag des norwegischen Königs nach Vermland ziehen sollte, die Sendboten des Königs ihn westlich von Eidskogen verließen, ihre Schneeschuhe nahmen, sie anschnallten und Tag und Nacht liefen, bis sie an die Oplande und nördlich von Doorefjeld bei dem König anlangten (Egils-Saga Kap. 71). Daß Schneeschuhe auch schon früh auf Romerike benutzt wurden, erscheint sehr wahrscheinlich, wenn wir hören, daß Harald Haardraade, der von seinem 15. bis zum 31. Jahr (1030-46) im Süden war, schon in seiner Jugend auf Ringerike das Schneeschuhlaufen erlernt hat.
Aus seiner Zeit stammt auch der Stoff zu den über das ganze Land verbreiteten Heldengesängen von Heming , dessen wunderbares Schneeschuhlaufen im Nordlande auch im Flatöbuche (ca. 1390) erwähnt wird. Der Refrain lautet: „Hemingen das junge Blut auf Schneeschuhen lief gar gut“, und dem Umstand, daß er eine so große Tüchtigkeit in dem Lieblingssport des Volkes besaß, hat er es wahrscheinlich zu verdanken, daß sein Name noch heute im Volksliede weiterlebt.
[S. 89]
Später werden Schneeschuhe und Schneeschuhläufer an vielen Stellen in den nordischen Sagen erwähnt, und daraus ist deutlich zu ersehen, daß das Schneeschuhlaufen sich mit der Zeit zu einem allgemein in Norwegen betriebenen Sport entwickelte.
Es ist ganz selbstverständlich — sagt Storm —, daß das öffentliche Postwesen während des Winters, wenn keine Schlittenbahn war und man auch zu Pferd nicht durchzukommen vermochte, sich der Schneeschuhe bediente, — dies ist bereits aus Briefen von den Jahren 1525 und 1535 ersichtlich. Im letzteren heißt es, daß „der Bursche“ Anfang Dezember auf Schneeschuhen „über Doorefjeld und alle Wälder nördlich nach Throndhjem laufen mußte“.
Es liegt kein Grund vor zu der Annahme, daß die Norweger in früheren Zeiten eine größere Gewandtheit im Schneeschuhlaufen besessen haben, als dies jetzt der Fall ist, und wenn wir u. a. lesen, daß Arnljot Gelline (ca. 1000) zwei Männer hinter sich auf seinen Schneeschuhen stehen hatte und trotzdem so geschwind lief, als sei er los und ledig, da wird jeder Schneeschuhläufer wissen, daß dieser Bericht in das Reich der Phantasie zurückzuführen ist. Die Erzählung stammt von einem Isländer, Snorre, und ist eine isländische Tradition; wie wir später sehen werden, waren aber die Isländer durchaus nicht in der Kunst des Schneeschuhlaufens bewandert.
Heutzutage haben sich die Schneeschuhe in ganz Norwegen eingebürgert, vom Nordkap bis Lindesnäs, am wenigsten Verwendung hat man im Westlande für diesen Sport, da die Schneeverhältnisse an manchen Stellen nicht günstig dafür sind. Faßt man das ganze norwegische Volk zusammen, so giebt es wohl verhältnißmäßig wenig Männer oder Knaben, welche die Schneeschuhe nicht kennen und nicht auf ihren Gebrauch angewiesen [S. 90] sind. Auch ein nicht unwesentlicher Theil der weiblichen Bevölkerung versteht heutzutage die Führung der Schneeschuhe ebenso gut wie zu Olaus Magnis Zeiten (1555), „da man Frauen mit ebenso großer Gewandtheit — wenn nicht gar mit noch größerer — wie Männer auf Jagd gehen sah“. Zum Glück für die Nation ist der Schneeschuhlauf in steter Entwickelung begriffen.
Von Telemarken und Kristiania und Umgegend pflegen die tüchtigsten Schneeschuhläufer zu kommen, aber in Oesterdalen, in Oplandene, in Numedalen, Hallingdalen, Valders, Gudbrandsdalen, in der Gegend von Drontheim und in Nordland und Finnmarken findet man ebenfalls tüchtige Schneeschuhläufer.
In Schweden, wo die Schneeschuhe von den Lappen zwar zur selben Zeit wie in Norwegen eingeführt wurden, ist das Schneeschuhlaufen weit weniger entwickelt, — es ist ja auch ganz natürlich, daß Norwegen mit seinen zahlreichen Gebirgsdörfern bessere und zahlreichere Schneeschuhläufer hervorbringen mußte, als das weit flachere Schweden, wo die Schneeschuhe fast ausschließlich nur in den nördlichen Gegenden bis zu Helsingeland, Dalarne und dem nördlichen Vermland bekannt sind und benützt werden. Das Aufblühen dieses Sports in Norwegen während der letzten Jahre hat jedoch dazu beigetragen, daß man auch in südlicher gelegenen Städten mit Stockholm an der Spitze begonnen hat, den Schneeschuhsport einzuführen.
Von den Norwegern wurde das Schneeschuhlaufen schon in alten Zeiten in Island eingeführt, doch scheint es dort fast ganz wieder in Vergessenheit gerathen zu sein, denn nirgends wird es in den isländischen Sagen erwähnt, während die Isländer, die nach Norwegen kommen, häufig das Schneeschuhlaufen schildern. Im vorigen Jahrhundert war das Schneeschuhlaufen dort dermaßen in Verfall gerathen, daß eine königliche Resolution [S. 91] vom Jahr 1780 eine Prämie für einen einzigen norwegischen Mann, der die „Kunst besaß“, aussetzte, nämlich für den Handelsgehülfen Buch auf Husavik, damit er 3 andere darin unterweisen sollte. Das Schneeschuhlaufen wird dort oben jedoch niemals eine hohe Stufe erreichen, so z. B. pflegt man die Schneeschuhe dort nicht an den Füßen festzubinden, was ganz nothwendig ist, wenn man die volle Herrschaft über dieselben erlangen will. Man hat mir freilich gesagt, daß dort oben im Nordlande einzelne Isländer eine ziemliche Tüchtigkeit erlangt haben sollen, — ich möchte indessen nicht dafür einstehen, daß bei dieser Beurtheilung der norwegische Maßstab angelegt worden ist. Nach den Mittheilungen, die ich vom Kandidaten A. Hansen erhalten habe, der [S. 92] Island im Jahre 1882 bereiste, liegen in der Mitte der Insel Höfe, die den ganzen Winter von der Außenwelt abgeschnitten sind, weil die Leute die Benützung der Schneeschuhe nicht kennen.
In Grönland ist das Schneeschuhlaufen wahrscheinlich erst sehr spät von Norwegern eingeführt worden. Es scheint dort nirgends bekannt gewesen zu sein, als Egede im Jahre 1721 nach Grönland kam; aber seine gewandten Söhne, die ja aus dem Nordlande stammten, führten die Schneeschuhe bereits im Jahre 1722 ein. In Paul Egedes Tagebuch heißt es: „Die grönländische Jugend mochte uns gern zum Besten haben. Dagegen konnten wir uns rühmen, daß wir auf Schlittschuhen oder Schneeschuhen laufen konnten — — —“
Das Schneeschuhlaufen wird jetzt theils von den dort ansässigen Dänen, theils von den Eskimos betrieben, aber zu etwas besonderem hat es bis dahin Niemand gebracht. Die Schneeschuhe haben dort niemals festen Fuß gefaßt, sie werden mehr als Spielzeug zum Zeitvertreib in müßigen Stunden betrachtet. Nur selten werden sie während des Winters zur Jagd benutzt. Der Eskimo, der sich hauptsächlich auf der See aufhält, hat den großen Vortheil nicht begriffen, der ihm dadurch erwachsen kann, und es geschieht nur ganz ausnahmsweise, daß er ein Rennthier auf Schneeschuhen verfolgt; einigemale kam es allerdings vor, während ich mich in Grönland aufhielt.
In Amerika kannte man die Schneeschuhe ursprünglich nicht, in letzterer Zeit sind sie freilich von den Skandinaviern in mehreren Gegenden, besonders in den nördlichen, eingeführt worden. So erzählte mir der bekannte norwegische Reisende, Kapitän A. Jakobsen , daß „die Bevölkerung in einem Theil der Rocky-Mountains, wo im Winter viel Schnee fällt, und besonders die Bergleute, seit langer Zeit Schneeschuhe verwendet [S. 93] haben, hauptsächlich zur Beförderung der Post zwischen entlegenen Bergwerkscompagnien und Dörfern. Die meisten dieser Postboten sollen Skandinavier sein.“
In Wisconsin, Minnesota und den benachbarten Gegenden ist das Schneeschuhlaufen durch Norweger eingeführt, an manchen Orten werden sogar jährliche Wettrennen veranstaltet. In Kalifornien sind die Schneeschuhe jetzt ebenfalls bekannt und eingebürgert.
Auch für die Eisenbahnanlagen in den Cordilleras zwischen Argentinien und Chili suchte man vor kurzem norwegische Schneeschuhläufer. [15]
Im Kriege haben die Schneeschuhe in Skandinavien häufig Verwendung gefunden. Das ist ja auch ganz selbstverständlich, da die Schneeschuhe auf einem Winterfeldzug natürlich große Vortheile bieten müssen.
Olaus Magni stellt auf seiner berühmten Karte über den Norden aus dem Jahre 1539 die Finnen auf Schneeschuhen mit den Helsingern zu König Frodes Zeit kriegführend dar.
Der Erste, der sie bei der Kriegsführung verwandt hat, ist aller Wahrscheinlichkeit nach König Sverre , und es gereicht seinem Feldherrntalent sehr zur Ehre, daß er es verstanden hat, sie zu benutzen, ja daß er sogar unter den Bewohnern der Hochlande [S. 94] ein Schneeschuhläufercorps gebildet hat. In der Schlacht bei Oslo, im März 1200, befiehlt König Sverre bei der Musterung auf dem Eise Paul Belte und seiner Hochländerschar, ihre Schneeschuhe und Stäbe zu ergreifen, die Schneeschuhe zu besteigen und die Ryenberge hinaufzulaufen, um die Stärke des Feindes zu untersuchen. Aus den Worten geht deutlich hervor, daß diese Schar mit Schneeschuhen zum Kriegsgebrauch ausgerüstet gewesen ist. (Sverres-Saga Kap. 163.)
Seit jener Zeit sind die Schneeschuhe gewiß sehr häufig von den Skandinaviern während ihrer Kriegszüge benutzt worden. Aber auch hier tauchen die Lappen wieder auf; ich will nur an jenen Lappen aus Finnmarken erinnern, der vor ungefähr 400 Jahren — so lautet die Erzählung — gezwungen wurde, einer Abtheilung Russen als Wegweiser über das Gebirge zu dienen. Es war in der Nacht und er zog auf Schneeschuhen, die Fackel in der Hand, vor dem Feinde her, der in von Rennthieren gezogenen Schlitten hinter ihm her kam. In blitzschneller Fahrt eilte er in der Finsterniß der Nacht einem Abgrunde zu, die Rennthiere folgten ihm im vollen Galopp, und indem er selber voran ging und freiwillig den Todessprung that, zog er das ganze Gefolge nach sich in die Tiefe. Einer anderen Sage zufolge soll er am Rande des Abgrundes Halt gemacht und nur die Fackel hinab geworfen haben, worauf denn die Russen, die dem Fackelschein folgten, in der Tiefe verschwanden. Noch eine andere Sage berichtet, daß es keine Russen in Schlitten, sondern Schweden auf Schneeschuhen waren, die er in das Verderben führte. Diese Sage wird im Tysfjord in Nordland in die Zeit Friedrich III. (ca. 1650) verlegt, in Snaasen im Drontheimschen in die Kriege mit Karl XII. Auch aus Solör kennt man die Sage. Wie dem auch sein mag, — überall ist es ein Lappe [S. 95] auf Schneeschuhen, der in den verschiedenen Formen dieser Geschichte wiederkehrt.
Hieraus ist zu ersehen, daß die Lappen auch zu jener Zeit als Schneeschuhläufer großes Ansehen genossen.
In der Mitte des vorigen Jahrhunderts wurden in Norwegen besondere Schneeschuhläufer-Compagnien errichtet, die jeden Winter ihre Uebungen abhielten, und die Erzählung von der Oesterdalschen Schneeschuhläufer-Compagnie wird sicher jedem Norweger bekannt sein.
Außer in Skandinavien sind die Schneeschuhe in Finnland seit den ältesten Zeiten gebräuchlich gewesen. Dies geht ganz deutlich aus dem dreizehnten Gesang in der alten finnischen Dichtung Kalevala hervor, wo Lemminkäinens Jagd auf Schneeschuhen auf den Hiisihirsch in sehr poetischer Weise geschildert wird. Der Anfang lautet:
Sehr bezeichnend ist es auch, daß hier von „fellbekleideten Schneeschuhen“ (im Plural) die Rede ist und daß Lemminkäinen — wie im zweiten Vers geschildert wird — zu einem Lappen, „zu dem schönen Käuppi aus Lappland“ geht, um sich von ihm ein Paar gute Schneeschuhe anfertigen zu lassen. Hiernach scheint es also, daß auch die Finnen die Lappen zu Lehrmeistern gehabt haben.
Diese Dichtung ist in ihrer jetzigen Form von verhältnißmäßig spätem Datum, doch stammt sie möglicherweise schon aus dem 12. und 13. Jahrhundert.
In Rußland finden wir die Schneeschuhe außer bei den [S. 96] Großrussen, den Letten und einem Theil der Polen auch bei sämtlichen finnischen Völkern bis an die Wolga hinab. Bei den Permiern werden sie von Herbenstein im Jahre 1549 erwähnt ( Rerum moscov. commentaria ).
In Asien finden wir die Schneeschuhe über den ganzen nördlichen Theil, nördlich von dem großen Steppen- und Wüstenzug — bei sämtlichen Völkern. Nach den Mittheilungen, die mir Kapitän A. Jakobsen gemacht hat, werden sie bei den Golden, Giljaken und Ainos merkwürdigerweise hauptsächlich bei der Fahrt auf Hundeschlitten benutzt. [16] Der Kojure (Kutscher) sitzt quer über seinem schmalen Schlitten und stützt sich mit den Beinen, unter denen er Schneeschuhe hat.
Jakobsens Kutscher erzählte ihm, daß die Tungusen sich der Schneeschuhe zuweilen bedienen, daß sie sich, auf denselben stehend, von Rennthieren ziehen lassen, indem sie in der linken Hand einen Riemen halten, der an dem Rennthier befestigt ist, während sie mit der Rechten steuern. Etwas Aehnliches muß nach der japanischen Zeichnung, die Nordenskjöld in seiner Vega-Reise (II. Band, Seite 107) wiedergiebt, auch bei den Ainos Sitte sein. [17] Wie mir Professor Fries erzählt, sollen auch die Lappen die Rennthiere zuweilen auf diese Weise benutzen (er hat in seinem Buch „Laila“ eine Schilderung davon gegeben), doch kann — wie man ihm sagte, — dies Kunststück nur von den tüchtigsten und gewandtesten Schneeschuhläufern ausgeführt werden.
Wie man sieht, führen die Aufklärungen über das Schneeschuhlaufen, [S. 97] die wir in der Litteratur finden, nicht sehr weit zurück. Etwas weiter gelangt man, wenn man seine Zuflucht zu der vergleichenden sprachwissenschaftlichen Methode nimmt. Wenn sich derselbe Name für Schneeschuhe bei jetzt weit voneinander getrennt lebenden Völkerstämmen findet, muß eine Wahrscheinlichkeit vorhanden sein, daß diese Völkerstämme einmal nahe bei einander wohnten, oder sogar ein Volk gebildet haben.
Mein Freund, der Bibliotheksamanuensis Andr. M. Hansen , hat mir in dieser Hinsicht einen nicht zu unterschätzenden Beistand geleistet, er hat u. a. in sehr schwer zugänglichen Schriften nach den Namen geforscht, welche die Schneeschuhe in den Sprachen der verschiedenen nordasiatischen und nordeuropäischen Völker haben. Diese Untersuchungen haben durch bloßes Zusammenstellen der Namen zu sehr interessanten, wenn auch nicht entscheidenden Resultaten geführt, die ich gern in ihrer ganzen Ausdehnung hier wiedergeben möchte; das Thema ist aber von zu specieller Natur, deswegen will ich mich damit begnügen, das Wichtigste dieser Untersuchungen anzuführen.
Wir haben oben gesehen , wie unsere alten mythologischen Berichte und Sagen darauf schließen lassen, daß wir gleich anderen europäischen Völkern die Kunst des Schneeschuhlaufens wahrscheinlich von den Lappen erlernt haben. Untersuchen wir nun aber unsere Benennungen für Schneeschuhe, so können wir nichts Lappisches daran finden; Ski sowie Aander (schwedisch Skida und Andor ) müssen beide echt arischen Ursprungs sein, sie sind wahrscheinlich gleichzeitig mit der Einführung der Schneeschuhe von alten Wortstämmen abgeleitet worden.
Wenden wir uns anderen arischen Sprachen zu, so finden wir auf russisch lysja , auf polnisch lyzwa , auf lettisch lushes . Auch diese Wörter müssen arischen Ursprungs sein, wenngleich [S. 98] sie auch nichts mit den skandinavischen Benennungen gemein haben. In Bezug auf den skandinavischen Zusammenhang der Schneeschuhbenennungen kommen wir mit diesen arischen Sprachen kaum weiter als bis zu einem negativen Resultat.
Wir sehen uns da der schwierigen Aufgabe gegenübergestellt, die Schneeschuhe auf den unbekannten und unsicheren Wegen der finnisch-ugrischen und sibirischen Sprachen zu verfolgen.
Beginnen wir bei unseren Nachbarn, den Lappen , so finden wir bei ihnen die Worte savek (fellbekleideter Schneeschuh) und golas (längerer, unbekleideter Schneeschuh).
Die Finnen haben mehr Benennungen: hiiden und suksi für Schneeschuhe im allgemeinen; lyly und kalhu für die linken, sivakka und potasma für die rechten Schneeschuhe.
Hiervon ist lyly dasselbe Wort, was für Fichtenholz gebraucht wird, potasma bedeutet dasjenige, womit man ausschlägt, es sind dies also abgeleitete Worte und infolgedessen von wenig Bedeutung für unser Thema. Kalhu ist regelrecht aus dem lappischen golas umgebildet, das seinerseits wahrscheinlich dem russischen golysja entlehnt ist, da das Wort unbekleidete (golo) Schneeschuhe (lysja) bedeutet. Nach dieser Entlehnung zu urtheilen, könnte es den Anschein haben, als ob die Lappen die Benutzung der unbekleideten Schneeschuhe von den Russen erlernt hätten, aber dies ist doch wohl sehr zweifelhaft. Savek und sivakka gehören zweifelsohne zusammen und sind wahrscheinlich erweiterte Formen von suk(si), welches die einzige ursprüngliche finnische Benennung für Schneeschuhe ist .
Diese Annahme erhält eine Bestätigung, wenn wir uns südwärts zu den übrigen Zweigen der baltischen Finnen zwischen dem Ladoga und Lithauen wenden, zu den Voten , Vespen , [S. 99] Esthen und Liven , bei denen wir die Schneeschuhbenennungen suhsi , suksi , suks und soks finden.
Daß sich das Wort nach verschiedener Richtung hin erweitert hat, spricht dafür, daß es das gemeinsame Erbe aus einer Zeit ist, in welcher diese Finnen ein Volk bildeten, aber die Möglichkeit einer späteren Entlehnung ist doch nicht ganz ausgeschlossen.
Wenden wir uns indessen weiter nach Osten, so gelangen wir durch ungefähr 1000 Kilometer russischer Bevölkerung zu den nächsten Verwandten der Ostsee-Finnen, den Wolga-Bulgaren. Wenn wir hier bei den Mordwinen neben der Form tokh dasselbe soks wiedertreffen, so muß die Annahme berechtigt erscheinen, daß die Soks (Ski) bereits gebraucht wurden, als die Wolga-Bulgaren und die baltischen Finnen noch nicht getrennt waren.
Wir können auch ganz sicher annehmen, daß tokh dasselbe Wort ist wie soks , da s und t bekanntlich eine große Neigung haben, ineinander überzugehen. Wahrscheinlich ist es wohl auch, daß der Stamm kok in koklaske — der Name für Schneeschuhe bei den Tscheremissen , dem anderen Zweig der Wolga-Bulgaren, — den gleichen Stamm hat wie tokh. Diese Möglichkeit wird weiter unten bekräftigt werden.
Damit haben wir schon ein wahrscheinliches Alter von mindestens 1700 Jahren für die Schneeschuhe nachgewiesen, indem nämlich die gemeinsamen entlehnten Benennungen aus der Zeit, als diese Stämme zusammen waren, älter sein müssen, als altnordische und gothische. [18]
Mit völliger Bestimmtheit können wir jedoch die Möglichkeit [S. 100] einer in späterer Zeit geschehenen Entlehnung noch nicht zurückweisen. Die großrussische Bevölkerung, welche die Trennung bildet, besteht im wesentlichen aus Finnen, die erst in den letzten 600 Jahren slavisirt sind, und die Wolga war schon zu sehr früher Zeit ein stark befahrener Verkehrsweg. Verfolgen wir indessen den Stammbaum weiter aufwärts, so finden wir bei dem nächsten Seitenzweig, dem permischen oder bjarmischen , u. a. scheinbar isolirten Schneeschuhbenennungen bekannte Stämme in Namen wie artakh bei den Permiern , wo der Stamm takh ganz deutlich dasselbe ist wie die mordwinsche Zweigform tokh und kok bei den Syrjänern in dem Worte kört-kok . Dies kok ist dasselbe wie dasjenige, welches wir in koklaske bei den Tscheremissen fanden.
Hierdurch sind wir wieder eine bedeutende Strecke weiter hinauf in die Urzeit des finnischen Stammes gelangt; bedeutend weiter aber kommen wir, wenn wir tief im Innern Sibiriens bei den Ostjaken, die dem ugrischen Hauptzweig angehören, abermals auf das Wort tokh stoßen.
Hiernach mußten die Schneeschuhe also schon in Asien bekannt sein, ehe sich der asiatische Völkerstamm in Finnen [S. 101] und Ugrer getheilt hatte, — und dies muß lange vor unserer Zeitrechnung geschehen sein.
Weiter zurück können uns die Untersuchungen der finnisch-ugrischen Sprachen kaum führen. Wenn wir indessen unsere Wanderung östlich über Sibiriens Schneefelder fortsetzen, so stoßen wir auf viele fremdklingende Benennungen für die Schneeschuhe, bis wir plötzlich bei den beiden samojedischen Stämmen, den Karagassen und Sojoten im südlichen Sibirien, die Formen hok und kok wiederfinden. Gehen wir noch weiter östlich, so treffen wir bei den Tungusen im östlichsten Sibirien wohlbekannte Wortstämme in suksylta oder soksalta , bei den Golden , suksildä bei den Manikow-Tungusen und huksille bei den Kondogiri-Tungusen . In dem ersten Theil dieser Wörter: suk oder sok (das bei dem letztgenannten Völkerstamm in huk übergegangen ist), werden wir ja, wie Castrén bereits angedeutet hat, direkt auf suks zurückgeführt, auf das Wort, mit welchem wir unsere Wanderung bei den baltischen Finnen begannen. Hier, wenn nicht schon früher, erhalten wir die direkte Bekräftigung, daß suk dasselbe Wort sein kann wie kok , indem wir sehen, daß suk in suksildä, in huk, in huksille übergegangen ist; bei den Karagassen fanden wir außerdem die Form hok und bei den Sojoten kok, und damit ist ja der Uebergang gegeben, denn es unterliegt keinem Zweifel, daß diese Formen dieselben sind. [19]
Wie aber ist es zu erklären, daß so weitgetrennte Völkerstämme, wie die finnischen Stämme an der Ostsee und die tungusischen [S. 102] Stämme am Stillen Ocean, die durch ein Viertel des Umkreises der Erde getrennt sind, dieselbe Benennung für die Schneeschuhe haben?
So schwierig die Beantwortung dieser Frage auf den ersten Blick erscheinen mag, so liegt doch die Erklärung nahe genug, wenn man die Wanderungen dieser beiden Hauptstämme ins Auge faßt. Beide müssen nämlich, so weit wir wissen, aus der Gegend um Baikal und dem Altaigebirge gekommen sein. Aus dem Umstande, daß man bei den Quellen des Jenisei und des Ob eine ganze Reihe von Ortsnamen findet, die sich nur aus dem finnischen Wörterschatz erklären lassen, hat man geschlossen, daß die Finnen hier gewohnt haben müssen. Die Tungusen ihrerseits sind von den Jakuten und Mongolen östlich und nördlich von ihrem ursprünglichen Wohnsitz vertrieben worden.
Hierdurch werden wir also direkt in eine ferne Zeit zurückgeführt, in der die finnisch-ugrischen und die tungusischen Stämme in der Gegend des Altaigebirges und bei Baikal Nachbarn waren. Hier müssen wir deswegen aller Wahrscheinlichkeit nach den Ursprung von suks für Schneeschuh suchen, hier haben diese Völker jedenfalls die erste Anwendung derselben gelernt. Hier wohnen auch noch heutzutage Karagassen und Sojoten, deren Bezeichnungen für Schneeschuhe dem entsprechend sind.
Hiermit haben wir die größten der Hauptgruppen untersucht, auf welche die Benennungen der Schneeschuhe zurückgeführt werden können. Gehen wir indessen weiter und vergleichen wir die übrigen sibirischen Namen für Schneeschuhe, so werden wir noch zwei Gruppen finden, die uns beide auf denselben Ausgangspunkt zurückführen.
Die eine dieser Gruppen ist hauptsächlich bei den Samojeden am Ob in den Wörtern tolds , told , tolde und toldö repräsentirt, [20] [S. 103] dieselben Wörter finden wir in dem goldischen sok-solta oder suk-sylta und dadurch in dem tungusischen Wort suk-sildä und huk-sille , ja wahrscheinlich sogar in dem a-sil der Jenisei-Ostjaken wieder. Solta kann zu tolda verändert sein und dies wieder zu toldö , während sylta in sildä und weiter in sille und sil übergegangen ist.
Um uns zu erklären, wie die so weit voneinander getrennten Stämme der Ostjaksamojeden und Tungusen dieselbe Benennung für Schneeschuhe haben können, müssen wir uns wieder nach dem Altaigebirge und der Gegend um Baikal wenden, da man annimmt, daß alle Samojeden früher auf diesem Wege zu ihren jetzigen Aufenthaltsstätten gelangt sind.
Die dritte Hauptgruppe für Schneeschuhnamen bilden die Worte sana und hana bei den um den Baikalsee ansässigen Burjäten , sana bei den halbsamojedischen Koibalen an den sanischen Bergen und taña bei den Tassoo-Samojeden in der Nähe der Mündung des Ob. [21] Um eine Erklärung zu finden, wie diese gleichfalls fern voneinander lebenden Völker, die auch zwei ganz verschiedenen Völkerstämmen angehören, zu demselben Namen für Schneeschuhe gekommen sind, wenden wir uns zum drittenmale jener Gegend zu, wo die Burjäten noch heute wohnen.
Außer den bereits erwähnten Namen für Schneeschuhe giebt es bei den sibirischen Völkern noch einige wenige und, wie es scheint, isolirter dastehende Benennungen. Es ist nicht möglich [S. 104] gewesen, wenigstens nicht mit irgend welcher Sicherheit, dieselben auf einen gemeinsamen Ursprung zurückzuführen, und deshalb wollen wir hier nicht näher darauf eingehen; man wird sie alle auf der Karte sehen können. Zum größten Theil gehören diese Benennungen Völkern an, die in sprachlicher Hinsicht isolirt stehen, und von deren Stammverhältnissen und Wanderungen wir nichts oder doch nur wenig Bestimmtes wissen.
Wenn wir nun indessen, wie oben nachgewiesen ist, finden, daß die meisten Benennungen der Schneeschuhe in drei Hauptgruppen getheilt und auf einen von drei Urstämmen oder Wurzeln zurückgeführt werden können, wenn wir ferner, indem wir die Erklärung für die Ausbreitung dieser drei Hauptgruppen suchen, immer wieder in dieselbe Gegend zurückgeführt werden, aus der alle drei ursprünglich stammen müssen, da muß es uns scheinen, daß wir kaum irren können, wenn wir annehmen, daß die Völker, die sich jetzt dieser Wörter bedienen, sie ursprünglich gleichzeitig mit dem Gebrauch der Schneeschuhe kennen gelernt haben, und zwar ungefähr in derselben Gegend. Von hier aus haben sie die Schneeschuhe dann mit verschiedenen Wandlungen an ihre jetzigen Wohnorte geführt.
Aus der Geschichte ersehen wir ferner, daß die arischen Völker, der größte der Völkerstämme, deren Benennung für Schneeschuhe keiner der drei Hauptgruppen angehört, erst in verhältnißmäßig später Zeit die Kunst des Schneeschuhlaufens von den Lappen oder Finnen gelernt haben, die ihrerseits wieder einen Hauptzweig der Völker bilden, welche die ursprünglichen Wörter haben. Außerdem sahen wir, daß ihre Benennungen für die Schneeschuhe neue Wörter arischen Ursprungs sind. Da muß denn die Schlußfolgerung nahe liegen, daß die Schneeschuhe ihre jetzige Verbreitung über die Erde verschiedenen Völkern zu [S. 105] verdanken haben, welche die Benutzung in derselben Gegend erlernten, und die dann auf ihren Wanderungen nach verschiedenen Richtungen hin die Schneeschuhe mitgenommen und weiter verbreitet haben. Dieser gemeinsame Ausgangspunkt aber ist die Gegend um das Altaigebirge und von Baikal.
Daß eine Grenzgegend wie diese das Geburtsland der Schneeschuhe sein sollte, erscheint schon aus dem Grunde wahrscheinlich, weil die Völker, als sie von Süden nach Norden zogen, wahrscheinlich dort, wo der Winter anfängt, lang zu werden, und wo der Schnee tief liegt, Mittel erfanden, über die Schneefelder zu gelangen, um nicht auf ihrer Wanderung gehemmt oder während des Winters eingeschlossen zu werden.
Zu welcher Zeit die Schneeschuhe erfunden wurden, davon können wir uns nicht einmal annähernd eine Vorstellung machen, von den Sprachverhältnissen ist uns ebenfalls nichts bekannt, nur so viel wissen wir, daß es sehr lange her sein muß.
Schon im Anfang unserer Zeitrechnung wohnten nach Tacitus Finnen an der Ostsee. Es ist klar, daß die Wanderung des Stammes nach Westen zu sehr lange gewährt hat, während sich ein Zweig nach dem anderen abtrennte, und die Zeit, in der die finnisch-ugrischen Völker noch tief in der Mitte von Sibirien bei einander wohnten, ist sicher lange vor der historischen Zeitrechnung zu suchen.
Wir müssen aber noch viel weiter zurückgehen, wenn wir die Zeit suchen wollen, in der die verschiedenen Hauptstämme, der finnisch-ugrische, der samojedische, der echt mongolische, der tungusische (die gewöhnlich unter der gemeinsamen Bezeichnung mongolische Rasse zusammengefaßt werden), Nachbarvölker waren oder gar einen Stamm bildeten; hier kommen wir an einen Zeitraum, den auch nur annähernd zu messen uns jegliches [S. 106] Mittel fehlt. Aber bereits damals sollen also die Schneeschuhe bekannt gewesen sein.
Wir Norweger sind bis dahin sehr geneigt gewesen, unser eigenes Land als Wiege und Heim unseres liebsten Sports, des Schneeschuhlaufens, zu betrachten. Eine mehr wissenschaftliche Untersuchung des Themas, wie sie hier zum erstenmale in größerer Ausdehnung unternommen ist, zwingt uns indessen zu der Annahme der vielleicht nicht willkommenen Thatsache, daß wir zu den jüngeren der zahlreichen Stämme gehören, welche diesen Sport aufgenommen haben und ihn betreiben, und daß wir am äußersten Rande des unermeßlichen Striches liegen, auf welchem die Benutzung der Schneeschuhe sogar noch fast allgemeiner zu sein scheint als bei uns. Aber wenngleich wir das Schneeschuhlaufen erst spät erlernt haben, so können wir uns doch damit trösten, daß wir gelehrig gewesen sind, und um so besser ist es, daß wir diesen Sport zu einer Blüthe gebracht haben, wie kein anderes Volk es vermochte.
Wie aber sah denn der erste Schneeschuh aus? Diese Frage hat sich gewiß Mancher gestellt, hat sie aber von sich gewiesen, in der Meinung, daß sie nicht zu lösen sei, und wenn wir das ehrwürdige Alter der Schneeschuhe in Betracht ziehen, mag es gar hoffnungslos erscheinen, über die Beantwortung dieser Frage nachzugrübeln. Man kann nur die wenigen Spuren verfolgen, die zu entdecken sind.
Die Kulturgeschichte hat eine ganze Reihe von Beispielen aufzuweisen, daß sich Geräthschaften und dergl. nach Gesetzen entwickeln, die vollkommen denjenigen entsprechen, welche die Entwickelung im Thier- und Pflanzenreich beherrschen.
Nun ist es ein allgemein anerkanntes Gesetz in der Biologie, daß sich die vollkommensten lebenden Formen dort entwickelt haben, wo große, zusammenhängende Landstrecken den Kampf [S. 107] ums Dasein begünstigten, während einfachere, primitivere Formen sich in isolirten oder entlegeneren Gegenden erhalten oder selbständig entwickeln. Ein ähnliches Gesetz muß auch in der Entwickelung der Geräthschaften wiederzufinden sein; wir wollen versuchen, ob es sich nicht auch in den Entwickelungsverhältnissen der Schneeschuhe nachweisen läßt.
Das Bedürfniß, über tiefen und losen Schnee hinwegzukommen, hat die verschiedenen Einrichtungen ins Leben gerufen, die das Einsinken verhindern sollen. Dort, wo der Schnee am tiefsten und am längsten liegt, wird das Bedürfniß am fühlbarsten, wird man am eifrigsten um ein Hülfsmittel bemüht sein.
Die größte, zusammenhängende Landstrecke, in welcher ein langer Schneewinter herrscht, ist der nördliche Theil der alten Welt. Hier ist es denn auch, wo wir die vollkommenste Entwickelung der Geräthschaften finden, welche dazu dienen, über den Schnee hinwegzugleiten — nämlich der Schneeschuhe . Bei näherer Betrachtung finden wir, daß die Gegend, in welche wir aus anderen Gründen den Ursprung der Schneeschuhe verlegt haben, vollständig central in dieser Landstrecke liegt, die ziemlich genau von den Jahresisothermen +6° C. abgegrenzt wird. Wie wir früher gesehen haben, ist es nicht unmöglich, daß die Völker hier zuerst bei ihrer Verbreitung über die Erde auf Naturverhältnisse stießen, welche Mittel, um über die Schneeflächen zu gelangen, erforderlich machten.
Der entsprechende Strich in Nordamerika hat keine Schneeschuhe hervorgebracht. Dies sekundäre Entwickelungscentrum hat dagegen einen selbständigen Typus geschaffen oder vielmehr aus unvollständigeren aus der alten Welt stammenden Urformen entwickelt — nämlich den indianischen oder kanadischen Schneeschuh , der mit seinen eleganten, harmonischen Formen [S. 108] von vielen, wenngleich irrthümlich, unserem Schneeschuh (Ski) völlig gleichgestellt, ja sogar demselben oft vorgezogen wird.
Man wird wenig Aussicht auf Erfolg haben, wenn man nach Formen, welche den Urtypen des Ski oder Schneeschuhes gleichen, in den Gegenden sucht, wo diese entwickelt sind. Gleich dem Naturforscher muß man sich, um dergleichen Formen zu finden, weit lieber den isolirten Gebieten zuwenden. Wir müssen uns auf Gebirgszüge begeben, die außerhalb des Schneeschuhstriches liegen, die aber bis an die Temperaturgrenze des Schneeschuhes reichen. Hier finden wir verschiedene Arten von Trugern .
In der alten Welt kennt man diese Truger aus Tibet, aus Armenien, dem Kaukasus und verschiedenen Orten in Europa, und innerhalb des Schneeschuhstriches findet man diese primitive Form neben dem Ski u. a. in Skandinavien und bei den Tschukschenen und Ainos (siehe Seite 96 ).
Schon in der klassischen Litteratur werden primitive Formen von Trugern erwähnt. Im Jahre 400 v. Chr. lernte Xenophon (wie bereits in der Anmerkung S. 42 erwähnt), von den Eingeborenen in den armenischen Bergen, Säcke (σακιά) über die Beine der Pferde zu binden, „da diese sonst bis an den Bauch versanken“. Der Schnee lag klaftertief (Anabasis IV., 5). — Strabo erzählt ungefähr i. J. 20 v. Chr. (XI., 5), daß „die Bergbewohner am südlichen Abhang des Kaukasus sich Platten (πλατεῖα) gleich Tamburins von ungegerbtem Ochsenfell mit Nägeln versehen unter die Füße binden“. Das sollen sie auch noch jetzt thun. In Armenien werden (nach demselben Schriftsteller), auch „runde Scheiben (τροχίσκοι) von Holz mit Nägeln verwendet“. Nach Suidas soll Arrianos (ungefähr i. J. 140 n. Chr.) in einem jetzt verlorenen Werk erzählt haben, „daß Brutios [S. 109] während eines Marsches in den Bergen (Armenien?), wo der Schnee 17 Fuß tief lag, den Bewohnern der Gegend, die an einen Verkehr während des Winters gewöhnt waren, befahl, vor dem Heere herzugehen. Da banden sie runde Geräthe von Weiden (κύκλοι ἐκ λύγων) unter die Füße.“
In diesen Schilderungen von antiken Trugern haben wir bereits Andeutungen, die uns auf den Weg zu der Entwickelungsgeschichte der Schneeschuhe (Ski) führen können.
Es handelt sich darum, daß man sich oben auf dem Schnee hält, indem man die Sohle, mit der man auftritt, vergrößert. Das Umbinden der Beine mit Säcken wurde wohl, falls diese Stelle bei Xenophon richtig ist, jedenfalls doch nur bei Thieren angewendet; die Tungusen und andere Polarvölker pflegen das bei ihren Schlittenhunden zu thun, um sie gegen Verletzungen durch den harten Schnee zu schützen. Am nächsten scheint es zu liegen, daß man sich hölzerne Scheiben unter die Füße bindet. Um den Gang zu erleichtern, werden diese dann länglich gemacht.
Von dieser länglichen Form kann die Entwickelung zwei Richtungen einschlagen. Entweder geht man von der ganz aus Holz bestehenden Platte zu dem leichteren Weidengeflecht über, so wie Arrianos es schildert — und damit haben wir gleich die norwegischen Truger und wahrscheinlich den Ausgangspunkt, von welchem die Truger in ihrer Allgemeinheit sich entwickelt haben, wahrscheinlich auch die indianischen, wenn nicht ähnliche Einrichtungen selbständig für sich an verschiedenen Gegenden der Erde erfunden sind — oder — und das lag nahe in einer Zeit, in der man Thierhäute weit häufiger verwandte als heute, — man überzog die Platten mit Leder, um sie stärker zu machen. Dies mag dann zuweilen ungegerbte Ochsenhaut mit Eisnägeln gewesen sein, wie Strabo es aus dem Kaukasus [S. 110] berichtet; denn auf steilen Felsabhängen kam es sehr darauf an, daß man nicht ausglitt. Bei weniger steilen Abhängen und auf der Ebene hat es sich dann bald herausgestellt, daß es weit vortheilhafter war, die Truger zum Gleiten einzurichten; da lag es denn sehr nahe, sie von unterwärts mit Fell zu bekleiden, an dem die Haare noch festsaßen und, indem sie sich umlegten, eine Gleitfläche bildeten. Man liest oft in Reisebeschreibungen, daß die Naturvölker sich der Thierfelle bedienen, um bergab zu fahren. Strabo berichtet dies aus dem Kaukasus. Die Indianer pflegen z. B. Fell unter ihre Truger zu legen, wenn es bergab geht. Die Bezeichnung, welche die Eskimos für Schneeschuhe (Ski) haben, bedeutet wörtlich „Fell zum Gleiten“ (nach Kleinschmidt ). Ihre Ski sind fast immer mit Fell bekleidet.
Aber von dem Augenblick an, wo die Bewegung ins Gleiten übergeht, haben sich die Truger zu Ski entwickelt.
Um eine Stütze für die Annahme dieser Entwickelungsweise der Ski zu erhalten, müssen wir untersuchen, ob es möglicherweise noch Skiformen giebt, die durch ihre größere Breite und verhältnißmäßig geringe Länge an die Trugerform erinnern.
Wenden wir uns ostwärts nach Sibirien, so werden, wie Kapitän A. Jakobsen mittheilt, die Skiformen immer kürzer und breiter. Ganz im Osten, bei den Golden und Giljaken, sind sie nur 1,40-1,60 m lang und 16 cm breit. [22] Das Verhältniß zwischen der Länge und der Breite ist folglich 9 : 1. [S. 111] Der Sprung bis zu langen, fellbekleideten Trugern ist durchaus nicht groß, jedenfalls nicht größer als zum Beispiel bis zu Drontheimschen oder Österdalschen Ski mit einem Verhältniß bis zu 30 : 1.
Einen deutlichen Eindruck, wie klein der Sprung vom Truger bis zum Ski sein kann, erhält man, wenn man die Zeichnungen betrachtet, die Nordenskjöld in seiner Beschreibung der Vegareise (B. II., S. 106) von einem Truge und einem Ski der Tschukschen giebt. Der Uebergang in der Form von dem einen bis zum anderen ist nicht groß; man mache den Truge ganz von Holz und beziehe ihn mit Fell, und man hat einen Ski.
Geht man nach der amerikanischen Seite der Behringsstraße hinüber, so findet man auch bei den Alaschka-Indianern lange, schmale Truger, ähnlich denen der Tschukschen , die auffallend an die kurzen, kleinen Ski erinnern, die man bei vielen ostsibirischen Völkern findet. Ski findet man dagegen nicht bei den amerikanischen Völkern, falls sie nicht später eingeführt worden sind.
Wie dies Schmalerwerden und dies Verlängern nach der Skiform zu im westlichen Amerika zu erklären ist, und ob es irgend einer indirekten Verbindung mit den Ski oder einer Beeinflussung derselben zuzuschreiben ist, darüber wage ich mich im Augenblick nicht auszusprechen.
Im westlichen Sibirien gleichen die Ski in ihrer Form mehr den gewöhnlichen europäischen Ski. Im „Museum für Völkerkunde“ in Berlin hat man ein Paar Samojeden-Ski (mit Seehundsfell bezogen), die nach einer von Kapitän A. Jakobsen vorgenommenen Messung 2,20 m lang und 15 cm breit sind. [23]
[S. 112]
Die älteste zuverlässige Zeichnung [24] von norwegischen Ski, die wir besitzen, ist die von Stephanus in seiner Ausgabe des Saxo i. J. 1644. Diese Zeichnung, von der ich hier eine Kopie wiedergebe, ist äußerst interessant, weil sie in hohem Grade an die Abbildungen erinnert, die wir von tungusischen und ostsibirischen Ski haben. Sie stellt möglicherweise eine jetzt verschwundene Skiform dar, die der ursprünglichen bedeutend näher gestanden hat als die jetzige. Zuweilen kann man sogar jetzt noch, besonders in den entlegneren Gegenden Norwegens, eigenthümliche und scheinbar veraltete Formen antreffen.
Die fellbekleideten Ski scheinen demnach die ursprünglichste Form gewesen zu sein; sie ist auch über ganz Sibirien verbreitet und scheint dort die gebräuchlichste zu sein. In den ältesten norwegischen Sagen und Skaldengedichten bedient man sich, wie wir bereits gesehen haben, ursprünglich nur des Wortes Aander, [25] das jetzt zur Bezeichnung der kurzen, fellbekleideten Ski der Lappen und Nordländer verwendet wird.
[S. 113]
Nach dem russischen Ableitungswort golos zu urtheilen, könnte es, wie bereits bemerkt wurde, den Anschein haben, als ob die Lappen die Benutzung der Ski ohne Fell erst von den Russen erlernt hätten. Dies ist jedoch nicht wahrscheinlich, wenn wir sehen, daß solche Ski auch häufig ganz östlich in Sibirien, bei den Tungusen, benutzt werden. (Nach Mittheilung von Jakobsen .) Freilich haben sie hier dieselbe Form wie die fellbekleideten Ski und sind wohl häufig nur eine Folge von dem Mangel an Fellen.
Es hat überhaupt den Anschein, als wenn sie ihre hauptsächliche Entwickelung in Europa erhalten haben, wo man wohl auch weniger Vorrath an Fellen, dafür aber eine desto größere Auswahl von Holzsorten zum Verfertigen von guten, unbekleideten Ski hatte. [26]
Indem man die schwere Fellbekleidung fortließ, konnte man den Ski länger machen und ihm dadurch eine größere Tragfläche geben, so daß er weniger einsank und desto leichter über den Schnee dahinglitt. In Skandinavien und besonders in Norwegen hat diese Skiform ihre höchste Entwickelung erreicht, und wo das Dahingleiten über den Schnee und das Vorwärtskommen die Hauptsache sind, da muß diese Skiform wohl als die vollkommenste angesehen werden.
Um einen kurzen Ueberblick über die Entwicklungsgeschichte des Skis zu geben, so wie wir sie auf Grundlage des oben aufgestellten betrachten, mag folgender Stammbaum aufgestellt werden:
[S. 114]
Nicht mit Fell bekleidete Ski (27 : 1)
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Aandrer (18 : 1)
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tungusische Ski (9 : 1)
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indianische Schneeschuhe
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ovale, fellbekleidete Platten
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Weidenplatten, Truger
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runde Holzplatten.
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Ich habe es für nöthig erachtet, den Ski und ihrer Geschichte eine so ausführliche Behandlung zu geben, nicht allein weil es das erste Mal ist, daß sie in weiterer Ausdehnung im Dienste der Wissenschaft benutzt wurden, oder weil die ganze grönländische Expedition auf ihrer Grundlage geplant und ausgeführt wurde, sondern ich that es auch, weil dies kräftige Hülfsmittel im Kampf des Menschen mit dem Dasein bis dahin durchaus nicht den Platz in der Forschung der Kulturgeschichte erhalten hat, den es verdient. Es ist ein Geräth, das große, sonst kaum bewohnbare Strecken dem Menschen zugänglich gemacht und das gerade den Winter in diesen Gegenden zur Verkehrszeit umgewandelt hat, indem der Schnee über Berg und Thal, von einem Dorf zum anderen Brücken spannt, statt alle Wege und Stege zu verschließen.
Augenblicklich besitzen wir in Norwegen eine ganze Anzahl von Skiformen; einige sind lang und schmal, andere kurz und breit; unter einigen befindet sich ein großer hohler Rand, unter anderen ein kleinerer, wieder andere haben zwei oder noch mehr kleinere Ränder, während eine ganze Reihe von Formen gar keinen Rand haben und auf der Unterseite völlig glatt sind. Es ist der Zweck des Randes, die Ski fester zu machen, so daß sie, besonders auf harter Bahn, geradeaus gehen, ohne nach den Seiten zu schleudern. Soweit mir bekannt ist, werden Aandrer [S. 115] nur an ganz vereinzelten Stellen im Nordland benutzt. Diese verbinden mit ihren vielen Nachtheilen den einen Vortheil, daß sie auf einer bestimmten Schneeart glatter dahingleiten als gewöhnliche Ski, indem die Haare des Fells das Festhängen (Ballen) des Schnees verhindern, was bei Holz, besonders wenn er frisch oder feucht ist, sehr leicht der Fall sein kann. Ferner besitzen sie den Vorzug, daß sie nicht so leicht zurückgleiten, indem die Haare gegenhalten. Dies hat freilich für einen guten Skiläufer nicht viel zu bedeuten.
Es würde uns zu weit führen, wenn wir uns hier auf eine Beschreibung der zahlreichen verschiedenen Skiformen einlassen wollten, die in Norwegen gebräuchlich sind. Es ist freilich zu beklagen, daß dies noch nicht geschehen ist, wie es auch noch keine Sammlung unserer Skitypen giebt, um so mehr, als unsere merkwürdigsten Formen allmählich durch neue verdrängt werden und verschwinden.
Die Länge des Ski pflegt zwischen 2,2 m bis hinauf zu 3,1 m zu variiren. Das gewöhnliche Maß ist, daß der Mann, welcher sie benutzen soll, wenn sie lothrecht stehen, zur Noth die Spitze mit der ausgestreckten Hand erreichen kann.
Es ist nicht leicht zu sagen, welche Skiform die beste ist, denn dies richtet sich nach der Beschaffenheit des Schnees und des Bodens, auf welchem sie verwendet werden sollen. Will man schnell über Ebenen und offene Berggegenden hinweg gelangen, wo nicht viele Schwingungen zu machen sind, so thut man am besten, wenn man lange und schmale Ski benutzt, während es sich von selbst versteht, daß man z. B. in unwegsamen Waldgegenden kurze und breite Ski vorzieht, die leicht zu wenden sind. Bei schwerem, losem Schnee kann man ferner lange und breite Ski aus losem, leichtem Holz benutzen.
[S. 116]
Als Skimaterial wird in den verschiedenen Gegenden äußerst verschiedenes Holz benutzt. Außer Fichtenholz, was das gewöhnlichste ist, verwendet man das Holz der Tanne (auch Grantennar, doch kommt dies nur selten vor) der Esche, Ulme, Eiche, Erle, Espe, des Vogelbeerbaums und ausnahmsweise auch wohl das des Ahorns. Es läßt sich ebenfalls nicht leicht bestimmen, welche Holzart die beste ist, da die verschiedenen Holzsorten ihre Vorzüge zu haben pflegen. Einzelne sind glatter, besonders die Ulme ist hierfür bekannt, ja es wird sogar in manchen Gegenden als gefährlich betrachtet, sich der aus Ulmenholz verfertigten Ski zu bedienen, da man sich leicht darauf todtlaufen kann. Im Volksmunde heißt es, daß der Teufel selber hinten auf den Ulmen-Ski sitzt.
Nicht jeder Schnee ist gleich gut zum Schneeschuhlaufen. So ist feuchter Schnee sehr ungünstig, besonders für Ski, die nicht mit Fell bezogen sind. Er hängt daran fest und ballt sich zuweilen zu einer festen Schicht zusammen, die viele Zoll, ja oft sogar einen Fuß dick werden kann, und die das Vorwärtskommen sehr erschwert, was mancher Skiläufer hat empfinden müssen, wenn er meilenweit entfernt von bewohnten Stätten, und besonders auf dem losen Schnee in den Wäldern von Tauwetter überrascht wurde. Wenn der Schnee so fest hängt, sagt man, daß er „ballt“.
Hiergegen hat man verschiedene Mittel. Eins der gewöhnlichsten ist das Tränken der Ski mit Leinöl oder mit Theer, der zum Theil mit Talg versetzt ist; dies hilft ein wenig. Man reibt auch wohl die untere Fläche mit Talg, Wachs, Stearin oder dergl. ein. Stearin ist nach meiner Erfahrung das Beste, doch wird es ebenso wie die anderen Stoffe schnell abgenutzt und muß erneut werden. Am besten haftet das Stearin, wenn man [S. 117] es bei einem Feuer einreiben kann, über dem die untere Fläche des Skis vor dem Einreiben erwärmt wird. Ein anderes, häufig angewendetes Mittel besteht darin, die Ski mit einem Beutel mit Salz, der ein wenig angefeuchtet ist, einzureiben, oder auch mit einem gesalzenen Hering. Hierdurch kann man den Schnee eine kleine Weile fernhalten, worauf dieselbe Behandlung abermals vorgenommen werden muß.
Nicht bei allen Holzsorten ballt der Schnee gleich leicht; die fettigeren pflegen in dieser Beziehung die besten zu sein; so wird z. B. das Fichtenholz als vorzüglich angesehen. Am zweckmäßigsten auf Schnee, der die Neigung zum Ballen hat, sind und bleiben, wie bereits erwähnt, die Aandrer. Sie haben indessen den Nachtheil, daß das Fell bei Thauwetter die Nässe anzieht und sie schwerer macht.
Auch auf frischgefallenem Schnee gleitet es sich nicht leicht; er pflegt, selbst wenn er bei Kälte fällt, Neigung zum Hängenbleiben zu haben. Dasselbe ist auch der Fall beim Schneetreiben. Der Schnee wird gewöhnlich, nachdem er dem Winde eine Weile ausgesetzt war, fein wie Staub, er ballt sich fest zusammen und fühlt sich beim Gehen zäh wie Tuch an. Besonders ist dies der Fall, wenn der Schnee bei starker Kälte gefallen ist und seither keinem Thauwetter ausgesetzt war, denn er ist dann schon von vornherein sehr fein. Solchen Schnee, und zwar von der zähesten Art, hatten wir fast die ganze Zeit hindurch auf dem Inlandseis in Grönland.
Es ist selbstverständlich, daß der Schnee, wenn man leicht darüber hingleiten soll, nicht allein glatt, sondern auch einigermaßen fest sein muß, so daß die Ski nicht zu tief einsinken.
Als guter Schnee ist deswegen derjenige zu betrachten, der bei Thauwetter fällt, zusammensinkt und darauf scharfer Kälte [S. 118] ausgesetzt ist. Noch besser ist es, wenn der Schnee erst dem Thauwetter und dann der Kälte ausgesetzt war, so daß sich eine feste Kruste bilden konnte. Fällt dann eine ganz dünne, ungefähr einige Centimeter dicke Schicht losen, guten Schnees oder noch besser Reif, so wird es eine Skibahn ersten Ranges, die Ski gleiten ganz erstaunlich leicht und selbst bei der schwächsten Abschrägung geht es ganz von selber abwärts. Eine glatte, harte Kruste ohne Schnee darauf ist insofern gut, als es sich leicht darüber hingleiten läßt. Ist die Kruste aber zu hart, so haben die Ski keinen Halt und schleudern, falls sie nicht eigens für diesen Zweck eingerichtet sind, leicht hin und her. Bei unebenem Terrain ist es deswegen bei solcher Bahn schwer, das Gleichgewicht zu behalten, um so mehr, als man gewöhnlich in fliegender Fahrt dahinsaust.
Das Skilaufen ist nicht immer ohne Gefahr, und Derjenige, der sich z. B. bei mit glatter Kruste überzogenem Schnee über steile Abhänge, in unbekannten unebenen Gegenden dahinbewegt, muß die vollkommene Herrschaft über seine Ski haben; denn sonst könnte es ihm ergehen, wie es in einer alten Beschreibung heißt: „Falls er fällt, kann es ihm leicht passiren, daß er Arm und Beine bricht.“ [27] Es ist indessen zu bewundern, wie wenig Unglücksfälle sich im ganzen auf Ski ereignen, und insofern ist es ganz richtig, wenn es in derselben Beschreibung weiter heißt: „Zum Glück für den Burschen pflegt in solchem Fall ein geringeres Unglück einzutreten: seine Ski zerbrechen, was ebenso schnell geschieht, als wie ein Pfeifenrohr zerbricht. Ich bin oft Augenzeuge eines solchen Vorgangs gewesen.“
Völlig so oft, wie es hiernach erscheinen mag, zerbrechen [S. 120] die Ski nun freilich nicht. Für einen tüchtigen Skiläufer, der gute Ski hat, gehört es zu den Ausnahmen, daß so etwas geschieht. Ein zerbrochener Ski fern von Menschen auf tiefem Schnee kann übrigens unangenehm genug sein, obwohl man deswegen nicht rathlos ist. Eins der Stücke wird, so gut es eben geht, hergerichtet und an den Fuß geschnallt und dann geht es darauf weiter vorwärts. Daß ein kühner Schneeschuhläufer bei Ausübung seiner Kunst stets ein wenig wagt, das macht diesen Sport nur um so anziehender, es erhöht die Spannung und trägt dazu bei, den Willen zu stählen und die männliche Kraft zu entwickeln.
In den allerletzten Jahren hat das Schneeschuhlaufen in Norwegen einen gewaltigen Aufschwung genommen; es ist in der Beziehung ein ganz neuer Geist in das norwegische Volk gefahren. Dies haben wir im wesentlichen den öffentlichen Skiversammlungen zu verdanken, namentlich denen in Kristiania, wo die Telemarker sich einstellten und die jungen Städter durch ihre Ueberlegenheit in Erstaunen setzten, und wo diese ihnen ihre Kunstgriffe absahen und sie gar bald zu übertreffen lernten.
Derjenige, der diese mächtige Bewegung Schritt für Schritt mit durchgemacht hat, der sich erinnert, wie öde und leer es noch vor 12 Jahren auf den Skihügeln vor der Stadt war, und der sieht, wie es jetzt im Winter überall von jungen und alten, männlichen und weiblichen Schneeschuhläufern wimmelt, — kann sich nur über dies gesunde, frische Leben freuen.
Bis ganz vor kurzem war der Stab den Skiläufern fast ebenso unentbehrlich wie die Ski selber; auf ihm ritt er den Berg hinab, wenn die Geschwindigkeit zu groß wurde, zu ihm nahm er in jeder schwierigen Lage seine Zuflucht, er war sein einziger Tröster in jeglicher Noth. Dadurch erhielt freilich der [S. 121] Läufer eine gezwungene, hinten überliegende Stellung, ohne die eigentliche Herrschaft über die Ski zu erlangen oder sich auf seine eigenen Beine zu verlassen.
Dann aber entwickelte sich, besonders oben in Telemarken eine neue Richtung. Die jungen Burschen aus Telemarken zeigten uns, daß man, wenn man nur die gründliche Herrschaft über die Ski besitzt, weit größere Schwierigkeiten überwinden kann, ganz abgesehen davon, daß die Haltung sicher und frei wird, indem man den Körper anspannt und sich auf die Kraft der eigenen Beine statt auf den Stab verläßt.
Es sind noch nicht viele Jahre verflossen, seit diese neue Methode sich geltend machte, und doch hat sie schon eine ganze Umwälzung in unserer Skiwelt hervorgerufen. Gleichzeitig damit machte die Kunst des Luftsprunges ganz erstaunliche Fortschritte. Diese Kunst, die bei dem sportsmäßigen Skilaufen stets als Hauptsache betrachtet wurde, hat keine weitere praktische Bedeutung, denn Niemand sucht Schneeschanzen auf oder macht lange Luftreisen, wenn er weite Strecken zurückzulegen hat und seine Ski allen Ernstes gebraucht. Da sucht man dergleichen Schwierigkeiten zu umgehen. Diese Luftsprünge können völlig als Spiel betrachtet werden, aber sie sind ein nützliches Spiel, denn nichts verleiht dem Körper in dem Maße die Herrschaft über sich selbst, nichts giebt uns eine solche Sicherheit, einen solchen Muth und eine solche Herrschaft über die Ski als das Springen.
Will man den Luftsprung ausführen, so sucht man Schneeschanzen auf, die entweder von der Natur gebildet oder aus Schnee aufgeschaufelt sind, und über die hinweg man in sausender Fahrt längere oder kürzere Luftreisen machen kann. Man verlängert den Sprung häufig, indem man auf der Kante der Schneeschanze den Anlauf nimmt. Auf diese Weise kann man [S. 122] 20-25 m durch die Luft schweben, ja, es giebt Skiläufer, die noch viel weiter zu springen vermögen. Man erzählt von einem bekannten Skiläufer aus Telemarken, Sóndre Auersen Nordheim , daß er 30 m von einem Felsblock hinab sprang und auf beiden Füßen stehend unten ankam. Der lothrechte Fall ist bei solchen Luftsprüngen nicht unbedeutend; 8-12 m sind die durchschnittliche [S. 123] Höhe, also ungefähr gleichbedeutend mit einem Fall aus der dritten Etage eines gewöhnlichen Gebäudes. Während der Segelfahrt durch die Luft halten sich Einige gerade wie eine Kerze, während andere die Beine unter sich ziehen (siehe Seite 119 u. 122 ). Man pflegt, wenn man unten anlangt, das rechte Bein vor das Linke zu schieben, und sinkt einen Augenblick in das linke Knie, indem man mit fliegender Fahrt weitersaust. Gerade der Umstand, daß man die Fahrt so lange beibehält, macht im Verein mit der Weichheit des Schnees solche Sprünge möglich. Daß Viele nach der Luftreise fallen, ist kein Wunder, und wenn man sie die Hügel hinabrollen sieht, — Arme, Beine und Ski durcheinander wirbelnd, — in eine Wolke von Schnee gehüllt, da wird Jeder, der es nicht selbst versucht hat, fest überzeugt sein, daß der kühne Skiläufer mindestens Arm und Beine gebrochen hat. Und doch kommt ein wirklicher Unglücksfall nur äußerst selten vor.
Zu sehen, wie ein tüchtiger Skiläufer seine Luftsprünge ausführt, — das ist eins der stolzesten Schauspiele, welche diese Erde uns zu bieten vermag. Wenn man sieht, wie er frisch und keck den Berg hinabgesaust kommt, wie er sich wenige Schritte vor dem Sprung zusammenduckt, auf der Sprungkante den Anlauf nimmt und — hui! — wie eine Möve durch die Luft dahinschwebt, bis er 20-25 Meter weiter abwärts die Erde berührt und in einer Schneewolke weitersaust, — da durchzittert es den Körper vor Freude und Begeisterung. Und einen solchen Anblick kann man im Winter bei guter Skibahn täglich haben, in Sonderheit aber bei den großen Skiversammlungen. Schon Olaus Magni erwähnt, daß man im 16. Jahrhundert „des Sports wegen auf Ski läuft, wetteifernd wer der Erste sein wird, gleich wie die Läufer beim gewöhnlichen Wettlauf, die [S. 124] um Prämien laufen.“ Diese Wettrennen sind seit dem Jahre 1862 in den südlichen Gebirgsgegenden regelmäßig wieder eingeführt. Die tüchtigsten Skiläufer des Landes treffen hier zusammen und kämpfen um den ersten Preis. Der eine segelt noch eleganter durch die Luft dahin wie der andere, während die Zuschauer in athemloser Spannung warten, bis sie unten anlangen. Stehen sie auf ihren Füßen, so werden sie mit endlosem Jubel begrüßt, während der Unglückliche, welcher fällt, ein schallendes Hohngelächter über sich ergehen lassen muß. Wer ein solches Wettrennen auf dem Huseby-Berge bei Kristiania mitgemacht hat, der vergißt den Anblick nie wieder.
Um aber völlig Herr über seine Ski zu sein, muß man noch etwas mehr verstehen, als nur auf ihnen zu springen. Man muß im stande sein, sie, sobald es erforderlich ist, nach beiden Seiten zu schwingen, sie ganz quer hinzustellen und vor jedem unerwarteten Hinderniß Halt zu machen. Kann man das nicht, da ist man stets in Gefahr, gegen Bäume und Erhöhungen im Terrain anzurennen, ja in unbekannte Abgründe hinabzustürzen. Deswegen wird dies alles bei den jährlichen Zusammenkünften geübt, und auch hierin sind die Bewohner von Telemarken die Lehrmeister der neueren Zeit. Sie in voller Fahrt daherkommen, dann plötzlich die Ski mit einer schnellen Wendung quer werfen und Halt machen sehen, das ist vielleicht ein beinahe so stolzer Anblick, als wenn man sie durch die Luft dahinfliegen sieht.
Die Ski sind vor allen Dingen ein Mittel zum Vorwärtsgelangen, und deshalb ist und bleibt auch die Geschwindigkeit, mit welcher der Skiläufer seinen Weg über ein ungebahntes Feld nehmen kann, der wichtigste Theil des Skilaufens.
Obwohl der Sprung die größte Bewunderung bei den Zuschauern erregt, so wird mit Fug und Recht bei unseren [S. 125] jährlichen Skiversammlungen dem Fernlauf die größte Bedeutung beigelegt. Mancher glaubt, daß es nur darauf ankommt, Stärke und Widerstandskraft zu besitzen, um schnell lange Strecken auf Ski zurücklegen zu können, aber dies ist ein Irrthum. Es kommt in ebenso hohem Grade darauf an, daß man [S. 126] mit dem Gebrauch der Ski vertraut ist; am besten ist es, wenn man von Kindheit an Uebung im Laufen hat, so daß man mit so wenig Schwierigkeit wie möglich vorwärts gleitet. Durch lange Uebung, besonders in der Kindheit, werden auch die Muskeln und derjenige Theil des Nervensystems, der bei der Führung der Ski hauptsächlich in Anwendung gelangt, stärker entwickelt. Was die Gewohnheit macht, ist leicht zu verstehen, wenn man einen geübten und einen ungeübten Skiläufer nebeneinander sieht, — der Geübte gleitet dahin, als wenn das Ganze ein Kinderspiel wäre, während der Ungeübte mit dem ganzen Körper arbeitet und eine ganze Menge Muskelkraft vergeudet, um die nöthige Bewegung zu erzielen. Man wird aus dem Grunde äußerst selten sehen, daß Leute, die erst im späteren Alter die Benutzung der Ski erlernen, sichere und ausdauernde Skiläufer werden. Bei wenig Dingen trifft deswegen die Bedeutung des Sprichwortes: „Guter Haken krümmt sich früh“ mehr zu als bei diesem Sport; das ganze Körpersystem muß am liebsten damit aufwachsen. Man darf aber hieraus nicht schließen, daß das Skilaufen eine einseitige Ausbildung zur Folge hat, — im Gegentheil, wohl nichts entwickelt den Körper gesunder und harmonischer. Nicht allein die Beine, sondern auch der Oberkörper und die Arme werden in Mitleidenschaft gezogen. Die letzteren erhalten eine gesunde Bewegung durch die Benutzung des Stabes während des Laufes, besonders wenn man einen solchen in jeder Hand hat, so wie es in einigen Gegenden von Lappland Sitte ist, und wie es auch in letzter Zeit bei schnellem Laufen in Norwegen in Anwendung gelangte. Auf der Wanderung über das grönländische Inlandseis bedienten auch wir uns zweier Stäbe.
Es ist unmöglich, eine Norm für die Geschwindigkeit aufzustellen, [S. 127] zu der ein tüchtiger und ausdauernder Skiläufer es bringen kann, da dies hauptsächlich von dem Terrain und von der Beschaffenheit des Schnees abhängt. Auf guter Bahn und bei einigermaßen günstigem Terrain kann man jedoch annehmen, daß er täglich ungefähr 100 Kilometer zurückzulegen vermag.
Der längste Distancelauf, der in Norwegen abgehalten wurde, fand im Februar 1888 bei Kristiania statt. Die Bahn war 50 Kilometer lang und ging größtentheils über hügeliges, unebenes Waldterrain, — unterwegs waren viele Hindernisse verschiedenster Art aufgestellt, um die Tüchtigkeit der Skiläufer zu erproben. Der Sieger legte die Bahn in 4 Stunden 26 Minuten zurück.
Der längste Distancelauf auf Schneeschuhen, der überhaupt bekannt ist, wurde auf Veranlassung der Freiherren Dickson und Nordenskjöld am 3. und 4. April 1884 in Jokkmokk im nördlichen Schweden abgehalten. Den ersten Preis errang der Lappe Tuorda — 37 Jahre alt — der Nordenskjöld auf seiner Reise über das grönländische Inlandseis begleitet hatte. Er legte nach Angabe der Preisrichter 220 Kilometer in 21 Stunden 22 Minuten zurück, — der zweite, ebenfalls ein Lappe — 40 Jahre alt — kam 5 Minuten später an, und von den 6 Männern, von denen 5 Lappen waren, kam der letzte 46 Minuten später als der erste an. Die Bahn war beinahe eben und führte zum größten Theil über eisbedeckte Seen, — folglich muß sie sehr leicht gewesen sein, wie auch die Beschaffenheit des Schnees sehr günstig gewesen sein muß.
Bei früheren arktischen Expeditionen sind merkwürdigerweise die Ski nur selten oder gar nicht zur Anwendung gelangt. Auf dem grönländischen Inlandseis sind sie nur von sehr wenigen Expeditionen benutzt worden.
[S. 128]
Schon im Jahre 1728 wurde sonderbarerweise der Gedanke in Dänemark rege, daß, wenn das Innere Grönlands untersucht werden sollte, dies nur auf Schneeschuhen geschehen könne, „indem einige junge, kecke norwegische Leute, die daran gewöhnt waren, im Winter auf Ski in den Bergen zu jagen, einen guten Theil des Landes nach allen Richtungen hin erforschen konnten.“ Dieser Gedanke wurde jedoch von den Dänen niemals zur Ausführung gebracht.
In den „Nachrichten von Island, Grönland und Davisstraße“ von Johann Anderson (Hamburg 1746) wird u. a. erzählt, daß ein Schiffer es auf alle Weise versucht habe, in das grönländische Inlandseis einzudringen „sogar mit den langen Fußbrettern, deren sich bekanntlich die Lappen und Andere bei ihren Winterzügen bedienen, doch hat er nicht weit ins Land hinein gelangen können, und nachdem er einen seiner Begleiter verloren hatte, der sich zu weit vor wagte und vor ihren Augen versank, so daß sie wohl seine Schreie und Klagen hörten, ihm aber nicht zu Hülfe kommen konnten, hat er ohne diesen Menschen und ohne die Hoffnung, jemals weiter vordringen zu können, umkehren müssen“.
1878 nahm die dänische Expedition unter Kapitän Jensen Ski mit, benutzte sie aber nicht. Jensen berichtet, daß sie dagegen gute Dienste als Feuerungsmaterial thaten.
Ski wurden ferner von 2 Lappen benutzt, die Nordenskjöld im Jahre 1883 begleiteten, sowie von Peary und Maigaard im Jahre 1886.
Zum Schluß will ich hier noch die Schneeschuhe beschreiben, die wir auf unserer Expedition verwendeten. Sie gehörten eigentlich keiner bestimmten norwegischen Form an, sondern waren so gemacht, wie ich sie für Schneefelder von der Beschaffenheit, [S. 129] wie wir sie im Innern Grönlands vorzufinden glaubten, am passendsten hielt. Wir hatten im ganzen 9 Paar bei uns; 2 waren von Eichenholz, während die übrigen aus Birkenholz verfertigt waren. Die Eichenski hatten eine Länge von 2,30 m . Die Breite betrug vorn bei der Biegung 9,2 cm , von der Mitte bis nach hinten dagegen 8 cm . Auf der Oberfläche der Ski lief der Länge nach sowohl vor wie hinter der Fußplatte eine Leiste entlang, wodurch sie die nöthige Steifheit erhielten, ohne dadurch zu dick oder zu schwer zu werden. An den oberen Seitenrändern waren sie ein Stück vor und hinter dem Zehenriemen ein wenig eingeschnitten (siehe den Querschnitt ) so daß dieser nicht zu sehr vorstand und die Fahrt hinderte. Auf der unteren Fläche hatten sie drei schmale Längsrillen. Ungefähr dieselbe Form und dieselben Dimensionen hatten auch die 7 Paar Birkenski. Durch Unachtsamkeit des Verfertigers wurden sie indessen ein wenig schmäler in der Biegung, indem sie hier dieselbe Breite hatten, wie weiter nach hinten zu. Infolgedessen tragen die Vorderenden der Ski nicht so gut über den Schnee, wirken mehr wie ein Schneepflug und erschweren den Gang. Leider erhielten wir die Ski so kurz vor unserer Abreise, daß uns keine Zeit blieb, neue anfertigen zu lassen.
[S. 130]
Diese Birkenski waren auf der unteren Fläche mit ganz dünnen Stahlplatten belegt, die unter dem Fuße eine Oeffnung hatten (88 cm lang und 5,3 cm breit), in welche ein Stück Fell von einem Elenthierfuße eingefügt war. Ich hatte diese Stahlplatten an den Ski befestigen lassen, weil ich viel feuchten und körnigen Schnee zu finden erwartete, auf dem gewöhnliche hölzerne Ski nicht gleiten. Durch Einfügen des Felles wollte ich bewirken, daß die Ski trotz der glatten Stahlschienen nicht zurückglitten.
Wir trafen indes keinen solchen Schnee an und hätten uns diese Vorkehrung ersparen können.
Die beiden Paar Eichenski erwiesen sich als sehr zweckmäßig und für künftige Expeditionen glaube ich ausschließlich solche empfehlen zu können.
Die Befestigung der Ski war äußerst einfach und bestand nur aus einem Zehenband von dickem, steifem Leder und einem verhältnißmäßig breiten Fersenriemen, der zu beiden Seiten ganz unten am Ski an das Zehenband befestigt war. Eine steife Befestigung, etwa von Weiden oder spanischem Rohr, wie es in Norwegen allgemein gebräuchlich ist, um bergab zu fahren oder zu springen, eignet sich meiner Meinung zu langen Wanderungen [S. 131] durchaus nicht. Sie ist durchaus nicht erforderlich, um dem Träger die Herrschaft über die Ski zu verleihen, und sie ermüdet und hindert den Fuß weit mehr als eine weichere, geschmeidigere Befestigung durch Leder. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß man bei großen Entfernungen um so weniger ermüdet, je weniger man die Befestigung fühlt.
[13] Nach Professor Gustav Storm ist überall im „Königsspiegel“ von Ellen statt von Fuß die Rede.
[14] Prof. Gustav Storm , Kristiania, hat die hier angeführte Stelle gütigst übersetzt. (Königsspiegel, Kristiania-Ausgabe S. 19-20.) Der Königsspiegel wurde ungefähr im Jahre 1250 von einem Norweger geschrieben, der im nördlichen Namthal, entweder auf Vigten oder Naerö, wohnte. (Siehe „Archiv für nordische Philologie“, I. 205-9.)
[15] Aus dem „Jahrbuch des norwegischen Touristenvereins für das Jahr 1889“ ersehe ich, daß in einem Artikel über den größten Wasserfall der Erde von A. G. Guillemard mitgetheilt wird (S. 17), daß es in Australien keinen Schnee giebt, ausgenommen im Winter auf dem Berge Kosciusco und den umliegenden Hochlanden und den Gipfeln der südaustralischen Alpen, wo Schneeschuhe, die den norwegischen Ski sehr ähnlich sind, von fast allen Bauern in der Gebirgsgegend um Kiandra benutzt werden. Es verlautet nichts darüber, woher diese Schneeschuhe gekommen sind, aber es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß sie vor nicht gar langer Zeit von den Skandinaviern eingeführt worden sind.
[16] Bei Touren in den Wald werden dagegen vornehmlich Truger benutzt.
[17] Hierzu ist indessen zu bemerken, daß die Ainos keine zahmen Rennthiere haben, folglich muß hier eine Verwechselung mit einem anderen nordasiatischen Volk, das Rennthiere hält, vorliegen.
[18] O. Donner. Acta soc. fenn. T. II.
[19] In dem Worte suatakha , das bei den Mandschuren, dem südöstlichen Seitenzweig der Tungusen, Schneeschuhe bedeutet, finden wir möglicherweise denselben Stamm takh wie in der Form tokh bei den Mordwinen und Ostjaken und die Form artakh bei den Permiern wieder.
[20] Wie weit das samojedische Wort tudo und tuta dasselbe Wort ist, müssen wir dahingestellt sein lassen.
[21] In den Wörtern sana , hana und taña haben wir einen ganz ähnlichen Lautübergang wie in den Wörtern sok , hok und tokh , wodurch die Annahme, daß diese letzten Wörter Abweichungen von einem Worte sind nur bekräftigt wird.
[22] Ein Paar Ski von den Golden befinden sich im „Museum für Völkerkunde“ in Berlin. Diese sind nach Jakobsen 1,40 m lang und 16 cm breit. Sie sind aus Fichtenholz gemacht und mit Rennthierfell bezogen. Der Zehenriemen besteht aus breitem Seehundsfell mit einem breiten Fersenriemen. Sie sind vorn beträchtlich und hinten ganz schwach in die Höhe gebogen.
[23] Kapitän Jakobsen beschreibt in einem Brief an mich diese Ski folgendermaßen: „Sie sind mit Seehundsfell bezogen und dort, wo der Fuß ruht, mit Birkenrinde ein wenig vertieft; vor und hinter dieser Stelle läuft eine schwache Leiste an dem Ski entlang. Die Biegung nach vorne zu ist ziemlich stark.“
[24] Olaus Magnis Zeichnungen aus den Jahren 1539 und 1555 sind scheinbar unrichtig.
[25] Die Ableitung dieses Wortes läßt sich schwerlich bestimmen. In Smaalenen habe ich das Wort Andre zur Bezeichnung eines ähnlichen Begriffs, nämlich des Eisens unter einer Schlittenschiene, gefunden.
[26] Als Uebergangsform muß wohl die Skiart betrachtet werden, welche noch heute in Österdalen und den benachbarten Gegenden von Schweden, sowie auch wohl noch in Finnland benutzt wird, und von welcher der rechte Ski (Andor) kurz und oft fellbekleidet ist, während der linke lang und unbekleidet ist.
[27] Smith , Beschreibung über Trysild u. s. w. Kap. 9, Seite 13. Topograph. Journal für Norwegen. Bd. 6. Kristiania 1797-98.
[S. 132]
m nach Grönlands Ostküste zu gelangen, war es, wie bereits erwähnt, meine Absicht, einen norwegischen Seehundsfänger zu bewegen, daß er uns von Island abholen und uns hinüberbringen sollte.
Nachdem ich Unterhandlungen mit den Rhedereien mehrerer Seehundsfänger gepflogen, einigte ich mich schließlich mit dem Rheder des Seehundsfängers „Jason“ aus Sandefjord dahin, daß uns der „Jason“ von Island abholen und den Versuch machen solle, uns an der Ostküste von Grönland an Land zu setzen, wogegen ich mich verpflichtete, daß der „Jason“ dadurch keinen pekuniären Verlust erleiden dürfe, indem er z. B. seinen Fang oder dergl. vernachlässigte. „Jasons“ Kapitän, Mauritz Jacobsen , war ein ruhiger und erfahrener Eismeerschiffer. Meine Verabredung mit ihm ging darauf hinaus, daß er auf seinem Wege nach dem Fangfeld in der Dänemarksstraße, nachdem er im Frühling in der Gegend von Jan Mayen auf Fang ausgewesen war, uns Anfang Juni abholen sollte, entweder aus Isafjord , oder wenn hier Eisverhinderungen eintreten sollten, aus Dyrafjord auf Island.
Am 2. Mai verließ ich Kristiania, um mich über Kopenhagen [S. 133] und London nach Leith zu begeben, wo ich mit den übrigen Theilnehmern der Expedition zusammentreffen wollte. Diese verließen Kristiania einen Tag nach mir, um mit dem Dampfer über Kristianssand nach Schottland zu gehen. Sie hatten die ganze Ausrüstung der Expedition bei sich.
Viele vernünftige Leute schüttelten bedenklich die Köpfe und drückten uns wehmüthig die Hände, als wir reisten. Man dachte, wenn man es auch nicht aussprach: „Dies ist wohl das letzte Mal, daß wir uns sehen.“
Die Abreise schildert Balto folgendermaßen:
„Als wir die Stadt verließen und auf die Dampferbrücke gingen, waren da viele Frauen und Herren, die uns an den Dampfer begleiteten, um uns Glück wünschen zu können und Hurrah zu rufen. Diese Glückwünsche brachten uns die Leute in all’ den kleinen Städten dar, die zwischen Kristiania und Kristianssand liegen, denn sie glaubten, daß wir nie wieder zurückkehren würden. Es würde uns wohl so gehen wie Herrn Sinclar , der auf Raub nach Norwegen ausgezogen war.“
In Kopenhagen suchte ich Kapitän Holm , den Leiter der dänischen Frauenbootsexpedition nach Grönlands Ostküste, auf und erhielt von ihm allerlei werthvolle Auskünfte über die Eisverhältnisse in dem von ihm bereisten Theil der Ostküste. Hier traf ich ebenfalls den Handlungsgehülfen Maigaard , der in Gemeinschaft mit dem Amerikaner Peary eine Wanderung über das Inlandseis unternommen hatte (1886). Er war einer der äußerst Wenigen, die lichten Blickes in die Zukunft der Expedition schauten und nicht an der Möglichkeit einer Durchquerung Grönlands zweifelten.
In Leith traf ich dann, wie bereits gesagt, mit den übrigen Mitgliedern der Expedition zusammen, die sich scheinbar in [S. 134] bestem Wohlsein befanden und viele Freundlichkeiten von dort ansässigen Landsleuten empfangen hatten. Balto spricht in seinem Bericht von dem norwegischen Konsul wie von einem zweiten Vater, den er in Leith gefunden und der sie Alle ganz übermäßig traktirte. — Es scheint, als habe er an vielen Orten Väter gefunden!
Nachdem wir viele Beweise schottischer Gastfreundschaft in Empfang genommen hatten, begaben wir uns am Abend des 9. Mai an Bord des dänischen Dampfers „Thyra“, der in Granton (ein wenig nördlich von Leith) lag, und der uns nach Island führen sollte.
Die „Thyra“ gehört der Vereinigten Dampfschiffsgesellschaft in Kopenhagen und ist der eine der beiden Dampfer, welche eine feste Route zwischen Dänemark und Island bilden.
Um Mitternacht nahmen wir Abschied von den letzten Freunden, die uns auf die einsame Brücke das Geleit gegeben hatten, und steuerten ins Dunkle hinaus, um unsern Kurs nordwärts zu nehmen.
Fern in der Nordsee, umbraust von Meeresschlag und Wellenbrandung liegen einige kleine Inseln. Es sind die Faröer.
Vor mehr denn tausend Jahren entdeckten die Norweger sie und siedelten sich dort an, und seither gehörten die Inseln während langer Zeiten zu Norwegen, und norwegische Fahrzeuge kommen jahraus, jahrein dahin.
Die Zeiten sind längst entschwunden, nur ganz ausnahmsweise verirrt sich einmal ein Norweger nach diesen Inseln. Von aller Welt abgeschlossen führen die Bewohner dort draußen im Meer ein Leben für sich. Die Bevölkerung bildet einen kleinen abgesonderten und verschollenen Ueberrest einer längst entschwundenen Zeit, aber wenn wir Norweger zu ihnen kommen, werden [S. 135] wir trotzdem fühlen, daß wir aus einem Stamm entsprossen sind. Sie haben noch viel von dem alten norwegischen Volkscharakter und sprechen noch die alte norwegische Sprache, die wir selber längst vergessen haben.
Abgeschlossen in sich selbst, über den Erinnerungen nordischer Größe brütend, erhalten diese Leute ein seltsames Gepräge, das etwas ganz Eigenartiges hat, gleich wie die Inseln, auf denen sie wohnen.
Die Faröer sind durch vulkanische Thätigkeit entstanden und bestehen theils aus Basalt, der sich in geschmolzenem Zustand zu verschiedenen Zeiten in gewaltigen Strömen aus der Erde ergossen hat, wie die Lava heutzutage den Vulkanen entströmt. Diese Ströme sind gleichmäßig bis an alle Seiten geflossen und erstarrt, der eine über dem andern, und bilden jetzt eine Unzahl fast wagerechter Schichten, wie das überall an den Seiten der Felsen ersichtlich ist. Diese erhalten dadurch etwas eigenartig Gestreiftes und bilden häufig Absätze gleich mächtigen zum Gipfel aufsteigenden Stufen, der wagerecht abgeschnitten und oben flach ist.
Ursprünglich haben die Faröer wohl ein großes, zusammenhängendes Land gebildet, wie Island jetzt, aber der Basalt ist eine lose Steinart, die leicht verwittert. Im Laufe der Zeiten haben Regen, Frost, Eis, vor allem aber das Meer dazu beigetragen, das Land in diese Anzahl kleiner Inseln zu zerschneiden, die wir jetzt vorfinden.
Diese Ueberreste früheren Landes bieten aber einen unendlichen Reichthum an wilden, malerischen Formen dar. Besonders an der West- und der Nordküste, wo das Meer am gewaltsamsten eindringt und sich am stärksten einbohrt, sind sie am zerklüftetsten.
[S. 136]
Die dunklen Basaltwände stürzen sich oft in einer Höhe von mehreren hundert, ja tausend Fuß ins Meer, häufig aber ragen noch einzelne Felsstücke mit vielen wunderlichen Gestaltungen vor denselben auf. Die Wogen brechen sich dagegen und schleißen sie mehr und mehr ab, vermochten aber doch noch nicht, sie ganz zu entfernen.
Wenn das Meer mit seiner ganzen Gewalt auf die Insel steht, wenn diese dunklen, mächtigen Nordseewellen von weit her herangerollt kommen, ihre nassen Schwingen ausbreitend und einander in ununterbrochener Reihenfolge jagend, um sich dann mit donnerähnlichem Getöse in bestimmten Zwischenräumen in die Klüfte und Höhlen zu stürzen, die sie selber gegraben haben, wenn die Brandung tobt und sich weißschäumend an allen Ecken [S. 137] bricht, wenn der Gischt hoch über die Bergwände und bis ins Land hinein aufspritzt, da kann es wohl vorkommen, daß diese Inseln einen so stürmisch meeresfrischen Anblick gewähren, welchen zu schildern Worte nicht ausreichen.
Aber jahraus, jahrein bricht sich das Meer auf diese Weise an den Klippen. Unablässig wird das Vernichtungswerk, besonders von Westen her fortgesetzt, — die Inseln schwinden unmerklich hin.
Steine und weißer Gischt, — das sind die Hauptzüge einer faröerschen Landschaft; außerdem aber trägt das Vogelleben in nicht geringem Grade zu ihrer Eigenthümlichkeit bei. Die Basaltwände mit ihren zahllosen Absätzen bieten den Seevögeln aller Art einen vorzüglichen Schlupfwinkel dar. Sie sind denn auch in großer Reichhaltigkeit vertreten, es wimmelt im Wasser und auf den Felsen von Vögeln; in der Luft über dem Wasser schwebend, heben sie sich gegen die dunklen Basaltwände gleich einem lustigen Schneegestöber ab.
Nach diesen Inseln richteten wir unsern Kurs. Erst nach einer mehr als zweitägigen Reise bei schönstem Wetter langten wir bei Trangisvaag, einem kleinen Flecken auf der südlichsten Insel „Suderö“ an. Es liegt an einem kleinen Fjord oder Einschnitt, [S. 138] von verhältnißmäßig niedrigen Basaltfelsen umgeben, und bietet, soweit mir bekannt, kein besonderes Interesse dar.
Sobald das Schiff die Anker ausgeworfen hatte, stieß vom Lande ein Boot ab und näherte sich uns, es wurde von sechs jungen, muthigen Färingern gerudert, die ihr eigenthümliches Nationalkostüm trugen, bestehend aus einem Wams von dunkelbrauner oder kaffeebrauner Farbe, Kniebeinkleidern, einer eigenartigen Mütze, die Aehnlichkeit mit unseren norwegischen Zipfelmützen hat, die aber oben in Falten gelegt und gewöhnlich dunkelbraun, blau oder rothgestreift ist, auf den Füßen hatten sie sonderbare Lederschuhe, die sehr bequem zu sitzen schienen. Sie waren aus einem einzigen Stück Leder verfertigt, das in die Höhe gebogen und auf der Oberseite zusammengenäht war, und wurden ähnlich wie Sandalen an die Füße geschnallt.
Das Boot legte beim Schiffe an und der Distriktsarzt und der Ortsrichter kamen an Bord. Während das Boot dort lag, versuchte ich, der Sprache der Färinger zu lauschen und, wenn möglich, ein wenig davon zu verstehen. Ich wußte ja, daß sie von der alten norwegischen abstammte und hatte gehört, daß sie mit unserem ländlichen Dialekt Aehnlichkeit haben sollte, aber im Anfang bemühte ich mich vergebens, auch nur ein einziges Wort aufzuschnappen, und doch klang der Accent und der Tonfall genau so, als höre man daheim in der Gegend von Bergen die Fischer miteinander plaudern.
[S. 139]
Nach einem mehrstündigen Aufenthalt setzten wir unsere Fahrt fort.
Auf dem Wege nach Norden zu hatten wir eine frische Brise und ziemlich dichte Nebel. Wir konnten jedoch Klein-Dimon und Groß-Dimon , an welchen wir vorüberkamen, erkennen.
Es sind dies zwei kleine Basaltinseln, die fast lothrecht aus der See aufsteigen und im wesentlichen zahlreichen Seevögeln als Schlupfwinkel dienen.
Groß-Dimon hat einen einzigen Ansiedler, dessen Hof auf dem Gipfel der Südseite der Insel liegt. Waren u. dergl., was von hier herab soll, wird von der lothrechten Felswand an den Strand hinabgewunden. Die Leute selber gelangen mittelst eines zum Theil in den Felsen gehauenen Fußpfades hinauf und hinab. Da die Küste überall sehr steil ist, kann dort im Winter kein Boot aufbewahrt werden, es muß im Herbst von der Küste fortgenommen werden. Gebricht es den Bewohnern an irgend etwas, so müssen sie es durch ein Signal zu erkennen geben, dann kommen Leute zu ihnen, falls eine Annäherung möglich ist. Von Anfang November bis Ende März ist es freilich schwer genug, mit einem Boot an der Insel zu landen, da die See dann so heftig auf die Küste zu stehen pflegt.
In diesem Zeitraum pflegen die Inselbewohner fast ganz von der Außenwelt abgeschnitten zu sein. Man erzählte mir, [S. 140] daß ihnen vor einer Reihe von Jahren das Feuer ausgegangen sei. Es war Mitte November. Sie hatten keine Zündhölzer und mußten infolgedessen ein halbes Jahr von kalten Speisen leben, ohne Feuer im Ofen oder Licht an den langen Winterabenden.
Auf Groß-Dimon wurde, so weit wir wissen, der Norweger Sigmund Bresteson — der Nationalheld der Färinger — von seinem Feinde Trand überfallen und von hier aus soll er — als er verfolgt wurde — zusammen mit seinen Brüdern Thorer und Einar ins Wasser gesprungen und nach Suderö — eine Meile südwärts — geschwommen sein. Erzählt die Sage wahr, was mir sehr zweifelhaft erscheint, so ist diese Schwimmtour die größte Heldenthat gewesen, die jemals ausgeführt wurde, denn Sigmund mußte nicht nur schwimmen, sondern, als Einar völlig erschöpft war, mußte er ihn auf den Rücken nehmen und mit ihm schwimmen, bis er todt war, und als sie ein Viertel des Weges zurückgelegt hatten, nahm er Thorer auf den Rücken und schwamm mit ihm, bis er Suderö erreichte. Hier wurde Thorer von der Brandung fortgespült, während Sigmund die Küste erreichte. Dies soll sich zu Anfang des Winters zugetragen haben und in einem Fahrwasser mit starken Strömungen. Das wären tüchtige Burschen für eine Nordpolexpedition gewesen!
Gegen Nachmittag erreichten wir Torshavn , welches bekanntlich die Hauptstadt der Faröer ist. Es ist der Sitz des Amtmannes der Insel, sowie der übrigen Beamten. Es hat seine eigene Zeitung „Dimmalätting“ (Morgendämmerung), die in Färinger-Sprache gedruckt wird und jeden Sonnabend erscheint.
Der Ort hat ein kleines Fort mit drei und einer halben Erzkanone, und wie man mir sagte, eine Besatzung von ungefähr 12 Mann, Andere behaupteten freilich, es sei keine Spur von [S. 141] Besatzung vorhanden. Die Mauern waren so hoch, daß wir darüber hinweg springen konnten, als wir dort oben waren, um die Anlage zu besehen, und das Thor verschlossen fanden.
Die Stadt liegt an zwei Buchten in einem etwas unebenen Terrain, von kleineren Hügeln umgeben. Im Hintergrunde erheben sich höhere, jetzt mit Schnee bedeckte Felsen. Von der See gesehen, gleicht Torshavn in hohem Grade einem gewöhnlichen Küstenstädtchen im westlichen Norwegen.
Die Torshavner leben, wie die übrige Bevölkerung der Faröer, größtentheils von Fischen. Schafzucht wird freilich auch viel auf den Inseln betrieben, man sieht hier überall so viele Schafe, wie sonst kaum irgendwo. Auf jeden Menschen sollen achtzehn Schafe kommen. Da wir infolge von Sturm vom [S. 142] Sonnabend bis zum Montag in Torshavn bleiben mußten, hatten wir Gelegenheit, den Tanz der Färinger zu sehen, der dort jeden Sonntag Abend um 10 Uhr aufgeführt wird.
Dies war der sonderbarste Tanz, der mir jemals vorgekommen ist. Er bestand darin, daß alle Tanzenden, — hier mochten es wohl an Hundert sein — Männer und Frauen, ohne Ordnung und ohne Eintheilung, paarweise einander bei den Händen ergreifen und in einem einzigen großen Kreis oder einer langen Kette tanzen. Man bewegt sich in einer Art schleppendem Polkatritt zu dem Takt irgend eines Liedes, oft eines dänischen, meistens aber eines faröerischen, zumal sind alte Heldenlieder mit monotoner, schleppender Melodie sehr beliebt. Alle Theilnehmer singen auf eine äußerst natürliche, gellende Weise mit. Es schien darauf anzukommen, wer am besten mit seiner Stimme durchzudringen im stande sei.
So bewegt man sich ununterbrochen nach demselben Takt bis 1 oder 2 Uhr des Nachts im Kreise herum, bei besonders feierlichen Gelegenheiten dauert diese Lustbarkeit auch wohl noch länger. Bei dem ganzen Tanz giebt es keine andere Abwechselung, als daß man verschiedene Schwingungen mit der Kette macht.
Hat man Lust, sich zu betheiligen, so zerreißt man die Kette an einer beliebigen Stelle und reiht sich ein. Dies thaten sofort mehrere von den Mitgliedern der Expedition. Sie gaben natürlich acht, zwischen zwei schöne Mädchen zu kommen und widmeten sich dem Tanz mit einer Lebhaftigkeit und einer Ausdauer, die einer besseren Sache werth gewesen wäre.
Dieser Tanz schien die einzige Art und Weise zu tanzen zu sein, die man auf den Faröern kannte. Er ist sicher eine Ueberlieferung von den alten Norwegern. Ein ähnlicher hat sich bis [S. 143] zum vorigen Jahrhundert auf Island erhalten. Er hieß „Viki vaka“. In Norwegen ist er freilich schon seit langer Zeit verschwunden, und das kann uns nicht wunder nehmen. Worin das Vergnügen bei dieser Lustbarkeit besteht, ist mir nicht recht klar geworden.
Es ist doch etwas Eigenartiges mit diesen Ueberlieferungen aus der Vorzeit, es hat etwas Rührendes, daß diese Menschen hier jeden Sonntagabend zusammen kommen, um einen Tanz zu tanzen, der überall sonst längst verschwunden ist, und um Heldenlieder zu singen, deren Sinn sie selber kaum mehr verstehen. —
Am Montag Vormittag kamen wir zu dem kleinen Handelsort Klaksvig , dem nördlichsten Hafen, der auf den Faröern angelaufen wird. Er ist von hohen Basaltfelsen umringt, die eine selbst für die Faröer selten prononcirte Schichten- und Terrassenformation haben.
Hier halten wir uns zwei Stunden auf, dann geht die Fahrt nordwärts, und nachdem wir den Reichthum der wilden, zerrissenen Formen bewundert haben, welchen die Nordküste der [S. 144] Insel unserm Auge bietet, stechen wir wieder in See und nehmen unseren Kurs auf Island.
Jetzt wird es uns an der Temperatur fühlbar, daß wir uns in nördlichen Breitengraden befinden. Die Lappen in ihren Rennthierjacken froren natürlich nicht, aber Einzelne von uns Anderen, die kein Pelzwerk mit hatten, fanden die Luft doch ein wenig kühl. Dies veranlaßte Ravna zu ziemlich ernsten Betrachtungen und er vertraute sich Balto an, der sofort zu uns kam und berichtete: „Er, Ravna , sagt zu mir: was haben wir nur einmal gethan, daß wir mit diesen Menschen gegangen sind, die so wenig Zeug haben, ich sehe, sie frieren schon jetzt, sie werden in Grönland sterben, wo es so kalt ist, Sverdrup , Dietrichsen , Kristiansen und Nansen , und da müssen wir beiden Lappen auch sterben, denn wir kennen ja den Weg nicht.“ —
Ravna befand sich überhaupt weniger wohl an Bord. Im Anfang war er seekrank, was sich jedoch nach einigen Tagen gab; Balto meinte, weil er sich von ihm habe mit Seewasser taufen lassen; ganz vertraut mit der See und dem Schiffsleben wurde er aber niemals. So konnte er sich durchaus nicht daran gewöhnen, unter Deck zu schlafen, es war ihm zu beklommen dort, er steckte Kopf und Arme in seine Pelzjacke, kroch wie ein Hund in einem Winkel auf Deck zusammen und schlief sicher ebensogut wie wir. Balto , der schon früher Erfahrungen in Bezug auf die See gemacht hatte, fand sich dagegen gleich zurecht an Bord. Er stand auf gutem Fuß mit der Mannschaft und spielte dabei den großen Mann.
Auf der Seereise von Schottland nach Island, sowie auf dem Meere zwischen Island und Grönland nahm ich täglich Luftproben, hauptsächlich, um den Kohlensäuregehalt zu untersuchen. [S. 145] Die Luftproben werden auf die in der Einleitung angeführte Weise genommen. So brachte ich sogar Luft aus dem Innern Grönlands mit nach Hause.
Schon auf den Faröern verlauteten böse Nachrichten über die diesjährigen Eisverhältnisse auf Island. Das Eis sollte so tief südwärts liegen, wie es „seit Mannesgedenken“ nicht der Fall gewesen; die Ostküste sei völlig unzugänglich. Nur allzubald sollten wir die Wahrheit dieses Gerüchtes erfahren, indem wir schon nach 24stündiger Reise in einer Entfernung von etwa 30 Meilen von Islands Ostküste auf Eis stießen. Wir schlugen eine nördliche Richtung ein, um zu sehen, ob es weiter nordwärts möglich sei, das Land zu erreichen, — es war aber vergebliche Mühe. Wir trafen auch mehrere Segler, die berichteten, daß sich das Eis ganz hoch nach Norden hinauf erstreckte.
Am nächsten Tage, Mittwoch den 16. Mai, machten wir am Morgen noch einen Versuch, die Ostküste ganz im Süden am Berufjord zu erreichen, aber auch hier hemmte das Eis schon 20 Meilen vom Lande entfernt unsere Fahrt. Da war nun nichts anderes zu thun, wir mußten unseren Kurs südwärts nehmen, und mit günstigem Winde segelten wir nun an der bergigen, malerischen Südküste Islands entlang. Am Nachmittage und Abend passirten wir Islands höchsten Berg, den Oeräfajökull , der sich direkt vom Meeresufer bis zu einer Höhe von 1960 m erhob. Als die Sonne ins Meer versank und ihre letzten Strahlen auf seine schneebedeckten Seiten und den Wolkenschleier warf, der seinen Gipfel umhüllt, da bot der Felsen einen großartigen Anblick dar. Hin und wieder zertheilten sich die Wolken, und seine ganze Kegelform mit ihren weichen Konturen enthüllte sich unserem Auge.
[S. 146]
Der Oeräfajökull ist ein Theil des Vatnajökull , auf dessen südlicher Seite er liegt, dieser bedeutendsten Gletschermasse in Island, die nächst dem grönländischen Inlandseis die größte Gletschermasse der arktischen Gegenden ist.
Der Oeräfajökull ist ein alter Vulkan, der wohl nicht viele Ausbrüche gehabt hat, seit die Norweger sich zum erstenmal in Island ansiedelten, der aber trotzdem vielen Schaden angerichtet hat. Bei einem Ausbruch in der Mitte des 14. Jahrhunderts zerstörte er zwei Kirchspiele, und in Thorvaldur Thoroddsens „ Lysing Island “ (von Professor Amund Helland übersetzt) heißt es, daß ganz Litlaherad durch Jökulhlaup [28] zerstört wurde und an einem Morgen 40 Höfe mit allem, was darin war, ins Meer gefegt wurden, so daß nur wenige Menschen entkamen. Es stürzten so viele Steine, Kies und Sand herab, daß dort, wo früher eine Tiefe von 30 Klaftern gewesen war, sich fortan eine Sandfläche erstreckte. Der letzte Ausbruch des Oeräfajökulls fand im Jahre 1727 statt, es wurden viele Höfe zerstört und viel Vieh getödtet.
Westlich vom Oeräfajökull und weiter ins Land hinein im Varmàrdalur liegt Lakis Kraterreihe, wo im Jahr 1783 ein Ausbruch stattfand, der heftiger und entsetzlicher war als irgend ein anderer seit der Ansiedlung Islands. Thoroddsen sagt: Man weiß nicht, daß je auf der ganzen Welt auf einmal so [S. 147] viel Hraun (Lava) zum Vorschein gekommen ist, wie bei diesem Ausbruch. Es heißt, daß in dieser Lava ebensoviel Steine enthalten sind, wie in dem ganzen Mont Blanc. [29]
Ueberhaupt sind die mittleren und südwestlichen Theile Islands stark vulkanischer Natur. Man kann hier dieselben Kräfte in Wirksamkeit verfolgen, die sowohl Island, wie die Faröer gebildet haben. Die Lavaströme aus der historischen Zeit haben sich bis 900 ☐ km über älteren Tuft, Basalt oder präglacialer Lava ausgebreitet. Während die Faröer wie die todte Ruine eines ehemals mächtigen Gebäudes daliegen, ist derselbe Baumeister auf Island noch immer in Thätigkeit.
Die Hauptzüge in der Konstruktion sind an beiden Orten dieselben. Island ist gleichsam ein Stapel flacher Basaltschalen, die Faröer gleichen den Ueberbleibseln eines solchen Stapels, der nach Osten zu in schräger Richtung ins Meer verläuft.
Am nächsten Morgen — den 17. Mai — näherten wir uns den Vestmanna-Inseln (Vestmannaeyjar), die ungefähr in der Mitte von Islands Südküste einige Meilen ins Meer hinein liegen.
In dem herrlichsten Sonnenschein bei spiegelblanker See glitten wir zwischen diesen steilen, hohen Basaltinseln hindurch und warfen vor dem Hafeneingang auf Heimaey die Anker aus. Es ist dies die größte von den Inseln und gleichzeitig die einzige von der ganzen Gruppe, welche bewohnt ist. Hier blieben wir eine Zeit lang liegen, um ein Boot vom Lande her abzuwarten; so hatten wir Zeit, die Insel zu betrachten und sie, soweit die Brandung es zuließ, zu photographiren.
Auch auf den Vestmanna-Inseln frißt das Meer sich ein [S. 148] und untergräbt die Lavaschichten zu lothrechten Abstürzen mit gewaltigen Thoren und Grotten. Es lag ein gewisser südländischer Typus über dem Ganzen, unwillkürlich schweiften die Gedanken zu den Küsten von Capri hinab und verglichen, aber in Bezug auf die Form tragen die Vestermannsinseln sicher den Preis davon. Wir steuerten gerade unter diese hohen Basaltfelsen, wo die Brandung emporspritzte und wo die Seevögel uns schreiend in großen Schwärmen umkreisten. Es ist etwas wunderbar Ueberwältigendes in dieser Natur. Man denke sich einen herrlichen frischen Morgen mit dem strahlendsten Wetter, ein krystallklares, grünes Meer und gerade vor uns auf dem Festlande [S. 149] Islands zweithöchsten Berg, den Vulkan Eyafjallajökull , der sich in einem Kegel hart am Meeresstrande zu einer Höhe von 1706 m erhebt und mit seiner mächtigen, weißen Schneehaube im Sonnenschein glitzernd daliegt. Weiterhin erblickt man andere Jökler (Eisgletscher), am hervorragendsten ist der Hekla mit seiner jetzt schneeweißen Kuppelform.
Die Fahrt geht indessen weiter an der Küste entlang, und bald versinkt auch all diese Pracht ins Meer, nur der Hekla, der Tinnfjallajökull und der Eyafjallajökull sind noch lange am Horizont sichtbar.
Späterhin am Nachmittage passiren wir Reykjanäs mit Islands einzigem Leuchtthurm, der auf einer hohen, weit ins Meer hinausragenden Klippe liegt. Der Leuchtthurm ist in den letzten Jahren mehrfach von Erdbeben heimgesucht worden. Das letzte Mal barst der Thurm, während zugleich ein großes Stück des Felsens ins Meer stürzte. Man ist jetzt darauf gefaßt, [S. 150] daß das Ganze eines schönen Tages im Meere verschwinden wird. Der Leuchtthurm liegt übrigens auf sehr vulkanischem Boden und in den traurigsten Umgebungen, die man sich vorstellen kann. Fast das ganze Reykjanäs ist eine einzige große Lavaebene, die sich ins Meer erstreckt. Ich war hier vor sechs Jahren am Lande und kann wohl sagen, daß ich mich nicht erinnere, jemals eine traurigere Strecke Landes durchwandert zu haben; kaum ein Grashalm war zu erblicken, alles war kahle, schwarze Lava, die sich bis an den Horizont erstreckte ohne weitere Abwechselung, als daß sie hie und da eine mehr röthlichere oder gelblichere Farbe annahm. Außer dem Häuschen des Leuchtthurmwächters war keine menschliche Wohnung zu sehen, so weit das Auge reichte, kein lebendes Wesen, außer ein paar mageren, verhungernden Brachvögeln, die auf der Reise nach dem Norden auf einer Art Wiese vor dem Hause des Leuchtthurmwächters Rast machten, wo ein paar Schafe sich an einigen abgestorbenen Grasbüscheln delektirten.
Die einzige Abwechselung in dieser Einförmigkeit bildeten einige Dampfsäulen, die an mehreren Stellen aus den kochenden, schwefelhaltigen Quellen aufsteigen, deren es mehrere auf dieser [S. 151] Halbinsel giebt. In der Entfernung gesehen, sind sie rauchenden Kalköfen nicht unähnlich.
Vor Reykjanäs ragen mehrere Klippen und Felsen aus dem Meere empor. Die auffallendste dieser Formationen ist der sogenannte „Mehlsack“, der wahrscheinlich so genannt ist, weil er eine gewisse Aehnlichkeit mit einem mächtigen Sack hat, der aufrecht im Meere steht. Diese Klippen sind bekannt, weil dort einstmals viele Scharen des jetzt ausgestorbenen Geiervogels ( Alca impennis ) hausten.
Nachdem wir uns durch Wind und starken Seegang hindurchgekämpft hatten, welch letzterer „Thyras“ Fahrt auf ein fast negatives Resultat reduzirte, gelangten wir endlich in der Nacht nach Islands Hauptstadt Reykjavik .
Wir sollten uns hier nicht lange aufhalten, hatten aber doch am Morgen des nächsten Tages Gelegenheit, an Land zu gehen und die Stadt während einiger Stunden zu besehen.
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Reykjavik ist keine große Stadt, sie hat ungefähr 3-4000 Einwohner und besteht aus kleinen hölzernen Häusern, die über eine Ebene zerstreut liegen. Es sind dort nur zwei Steingebäude, — das Althingsgebäude, in welchem Islands Althing oder Reichstag tagt, und die Domkirche, — sie sind aus Lava gebaut, woran die Insel sehr reich ist, da die Lava fast den Hauptbestandtheil derselben bildet; man kann sich nur wundern, daß nicht mehr Häuser aus diesem Material erbaut werden, um so mehr als die Insel nicht einen einzigen Baum aufzuweisen hat und jedes Stückchen Holz von außen her, größtentheils aus Norwegen, eingeführt werden muß. Vor dem Althing liegt ein großer, grasbewachsener Platz, der Austarvöllur, auf dem eine Bildsäule aus Bronze von Thorwaldsen steht, dessen Eltern aus Island stammen sollen.
Reykjavik muß eine äußerst bureaukratische Stadt sein, denn, wie man sagt, wohnen nicht weniger als vierzig Beamte dort, so daß also mindestens ein Beamter auf je hundert Einwohner kommt. Die armen Menschen! Man sollte fast glauben, es müsse ein reiches Land sein, das so viele Standespersonen ernähren kann!
Späterhin am Tage verließen wir Reykjavik, nachdem wir die Offiziere an Bord des dänischen Kriegsschiffes „Fylla“ begrüßt hatten, das in den Hafen dampfte, als wir eben im Begriff waren, ihn zu verlassen.
Wir richten unsern Kurs auf Snefellsnäs, um dann zu unserm nördlich gelegenen Bestimmungsort Isafjord zu gelangen. Am Abend, gerade bei Sonnenuntergang passirten wir den Snefellsjökull, der ein alter, auf der Spitze des Vorgebirges gelegener Vulkan ist. Gleich einem Kegel steigt er steil auf zu einer Höhe von 1413 m . Er ist als vorzügliches Seezeichen [S. 153] wohl bekannt, und manches Schiff hat seine weiße Mütze sicher in den Hafen geleitet. Jetzt im Schein der untergehenden Sonne, wo die letzten Strahlen seinen weißen Gipfel mit röthlichem Schimmer färben, gewährt er einen zauberhaften Anblick.
Als wir am Morgen, den 19. Mai, auf Deck kamen, wurden wir von einer steifen nördlichen Brise mit Schnee und Regen begrüßt, die hohen Basaltfelsen an der Küste waren bis zum Fuß mit Schnee bedeckt, hier und da sah man einzelne Eisblöcke in der See schwimmen. Es waren Vorläufer, die meldeten, daß das Eis nicht mehr fern sei. Wir befanden uns nun in der Nähe des Oenundarfjords und da die Brise anfing sich zu einem Sturm mit einem dichter werdenden Schneegestöber zu steigern, suchten wir hier, in dem vorzüglichen Hafen eine Zufluchtstätte, um das Unwetter abzuwarten. Der Sturm nahm nun mit rasender Schnelligkeit zu, und wir bekamen einen kleinen Begriff [S. 154] davon, was ein Sturm in diesem nördlichen Fahrwasser zu bedeuten hat. Man wagte sich nicht unnöthig auf Deck; man konnte sich freilich auf den Beinen halten, aber der Sturm war doch derartig, daß man die Nase, sobald man sie herausgesteckt hatte, schleunigst wieder einzog. Wir lagen indessen sicher und gut im Hafen. Es war der Abend vor Pfingsten, weshalb sollten wir es uns da nicht innerhalb unserer vier Wände so gemüthlich wie möglich machen? Von der Landschaft ringsumher sahen wir nur sehr wenig, eigentlich nur den Fuß der wahrscheinlich sehr hohen Felsen, und oft auch den nicht einmal. Aus allem, was wir erkennen konnten, ging hervor, daß wir uns in einer ausgeprägten Basaltgegend befanden. Allmählich bedeckte indessen eine dichte Schneeschicht alles, und das einzige, was sich von der Landschaft sagen ließ, war, daß hier ein vollständiger Winter herrschte, und daß man, wenn der Schnee ein wenig trockener gewesen wäre, man sicher die vorzüglichste Skibahn gehabt hätte.
Als wir am nächsten Morgen erwachten, befanden wir uns in Isafjord, wo wir der Bestimmung nach an Land gehen sollten. War es in Oerundafjord Winter gewesen, so war das hier nicht minder der Fall. Soweit das Auge reichte, war alles mit Schnee bedeckt. Isafjord ist die zweitgrößte von Islands drei Städten, sie liegt an einem kleinen Fjord, zwischen hohen Felsen eingeklemmt.
In Isafjord sagte man mir, das Treibeis läge nicht weit nach Norden hinauf, es läge südlich vom Kap Nord. Bei starken nördlichen Strömungen könne es noch weiter südwärts treiben und den Eingang des Fjords versperren. Dies geschieht freilich nur äußerst selten, aber es war doch eine Möglichkeit vorhanden, daß der „ Jason “ Schwierigkeiten haben würde [S. 155] hereinzukommen und uns abzuholen. Um dies nicht zu riskiren, beschloß ich, nach dem südlich gelegenen Dyrafjord zu gehen, der nie durch Eis verschlossen wird, um dort den „ Jason “ abzuwarten. Dies stimmte mit der getroffenen Verabredung überein. Ich hinterließ einen Brief in Isafjord, in welchen ich den Kapitän des „ Jason “ benachrichtigte, daß wir in Dyrafjord zu finden seien, worauf wir, nachdem wir uns überzeugt hatten, wie weit nach Süden hin das Eis lag, eine südliche Richtung einschlugen.
Als wir am folgenden Morgen auf Deck kamen, segelten wir bei herrlichem Wetter in den Eingang des schönen Dryafjord ein. Der Winter hatte sich nun abermals zum Theil ins Gebirge zurückgezogen, und am Strande entlang lächelte uns ein Stück Frühling entgegen. Bald warfen wir in dem Hafen vor Thingeyre , dem Handelsplatz des Fjordes, unsere Anker aus. Hier nahmen wir Abschied von „Thyras“ Führer, Kapitän Sörensen , und der Mannschaft. Sie hatten vom ersten Augenblick an alles gethan, um uns den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, — beim Abschiede sandten sie uns einen donnernden Salut nach.
Auf Thingeyre wurden wir von dem Kaufmann Konsul [S. 156] Gram , unter dessen Dach wir die Wartezeit zubringen sollten, auf das herzlichste empfangen.
Der Handelsplatz, der seinen Namen dem Umstand verdankt, daß dort früher das Thing abgehalten wurde, liegt auf einer angeschwemmten Bank — isländisch „ eyre “ — oder Landzunge, die sich ins Meer erstreckt. Diese Landzunge ist eine Moräne, welche vor langen Zeiten, als Island mit Eis und Schnee bedeckt war, von dem Gletscher vorgeschoben worden, der den Fjord füllte und ihn — wenigstens theilweise vertieft und gebildet hat. Nach innen liegen mehrere solcher Moränen, eine vor der anderen, und sie erstrecken sich gleich flachen Rücken theils über, theils unter dem Wasser quer durch den Fjord; sie erschweren das Vordringen der Schiffe und Böte oft sehr.
Diese Moränen sind unwiderlegliche Zeugen aus der Eiszeit, und in ihnen sind unendliche Massen von Steinen und Sand fortgeschoben worden.
Dyrafjord ist zu beiden Seiten von steilen Basaltfelsen, ähnlich wie wir sie auf den Faröern sahen, umgeben und im Hintergrunde wird es von dem mächtigen Glamujökull abgeschlossen. Dieser ist freilich nicht sehr hoch — er mißt ungefähr 910 m —, aber er ist doch der höchste Berg des Westlandes, das im Grunde eine Insel für sich selbst bildet und nur durch eine 10 km breite Landenge mit dem Hauptlande verbunden ist.
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Der Glamujökull besteht wie die ganze Landschaft hier rings umher aus Basalt. Eines Tages bestiegen wir den Jökull. Wir nahmen Ski und Truger mit, da es so aussah, als wäre dort oben tiefer, weicher Schnee. Darin hatten wir uns jedoch geirrt, wir fanden sehr harten Schnee, auf dem man sehr wohl gehen konnte, der aber auch eine vorzügliche Skibahn darbot, ja eine allzugute, wie wir später zu unserem Kummer erfahren sollten.
Wir hatten das schönste, klare Wetter und eine vorzügliche Aussicht vom Gipfel herab. Es ist eine ganz eigenartige Landschaft, die man hier vor sich hat, eine schneebedeckte, auffallend flache und ausgedehnte Hochebene, die sich nach allen Seiten steil ins Meer stürzt. Im Hintergrunde nach Süden zu sieht man den Snefellsjökull am Horizont emporragen, leicht kenntlich an seiner kegelförmigen Gestalt.
Man erhält von hier oben gleichsam plötzlich einen deutlichen Ueberblick über die Entstehung des ganzen Landes, wie die Basaltströme, aus denen es gebildet ist, sich still und gleichmäßig nach allen Seiten ergossen und eine große, zusammenhängende Fläche gebildet haben. Dann ist das Meer und das Wetter mit Frost und Regen gekommen und während der Eiszeit kamen die Gletschermassen und zehrten an der Fläche, besonders an den Rändern, wo sich Fjorde und Thäler (Senkthäler) bildeten. Späterhin hat die Verwitterung die Erweiterung derselben fortgesetzt, sie haben jedoch nur am äußersten Rande einzudringen vermocht, während die Hochebene in ihrem Innern noch ebenso flach und unberührt daliegt, als da sie gebildet wurde.
Auf dem Heimwege liefen wir auf Ski die steile Felswand hinab, wo wir die schönsten langen Skihügel mit hartem Schnee fanden, auf denen unsere stahlbeschlagenen Ski wie Glas dahinflogen. In sausender Fahrt ging es über die Höhen [S. 158] dahin. Da ging Balto unvorsichtig zu Werke und wurde kopfüber einen kleinen Felsvorsprung hinabgeschleudert. Beim Fallen verletzte er sich das eine Knie so ernstlich, daß wir unsere liebe Noth hatten, ihn wieder nach Hause zu schaffen. Beim Aufsteigen war Balto sehr groß gewesen, er meinte: „Für uns Lappen ist es eine Kleinigkeit, wir stecken den Stab zwischen die Beine und dahin geht’s.“ Als er aber diese Kunstfertigkeit bei dem ersten steilen Abhang zeigen sollte, erging es ihm übel, und wir konnten uns ja trotz unseres Mitleids des Lachens nicht enthalten. Längere Zeit hindurch war er nun Invalide, und ich glaubte mich schon eines meiner Kameraden beraubt, ja ich machte mich schon mit dem Gedanken vertraut, einen Ersatzmann für ihn aus Island mitzunehmen, obwohl ich dort wohl schwerlich Jemanden gefunden haben würde, der sich darauf eingelassen hätte, mitzugehen. Bei täglicher Massage erholte er sich jedoch bald so weit, daß ich Hoffnung hatte, ihn mitnehmen zu können, er selber war sehr muthlos und fühlte sich äußerst unglücklich [S. 159] bei dem Gedanken, zurückbleiben zu müssen. Ebenso Ravna , der glaubte, daß er entweder gezwungen sein würde, allein mit uns zu gehen oder auch die Reise und damit den Verdienst aufzugeben.
Die Zeit wurde uns übrigens auf Thingeyre keineswegs lang. Bald bestiegen wir Berge, bald fuhren wir auf dem Fjord auf Jagd, bald ritten wir, besuchten Bauerhöfe etc. etc. Besonders die Ritte auf den kleinen, vorzüglichen isländischen Pferden waren äußerst amüsant.
Sitzt man quer über so einer kleinen Ratte und ist — wie der Schreiber dieses — von Natur nicht gerade klein, so nimmt man sich kaum zu seinem Vortheil aus, denn die Füße befinden sich in bedenklicher Nähe des Erdbodens. Man erhält ein unheimliches Gefühl der Unsicherheit, wie lange der Pferderücken wohl halten wird. Wenn es dann aber, was das Zeug halten will, im wildesten Galopp dahingeht, über unwegbare Stellen, wo die Steine unter den Pferdehufen rollen, durch Moore, wo das Pferd fast versinkt, über Bäche und Klüfte, an steilen Hügeln in die Höhe, an Felsabhängen und glatten Felsspalten entlang, kurz durch ein solches Terrain, in dem ein gewöhnliches Pferd bei den ersten Schritten die Beine brechen würde, und überall in derselben rasenden Eile, ohne daß das Pferd auch nur einen einzigen Fehltritt thut, — ja da erhält man Respekt vor diesem gewiß in der ganzen Welt unübertroffenen Gebirgspferd! Den höchsten Grad erreicht die Verwunderung aber, wenn man an einen Gebirgsfluß kommt und sieht, wie das Pferd entweder ohne weiteres durch den Strom watet, oder anfängt zu schwimmen, während man selber zusehen kann, wie man trocken bleibt. Ist der Fluß nicht sehr tief, so thut man am besten, die Beine auf den Hals des Thieres zu legen, wenn man da nicht bei einer unerwarteten Bewegung des Pferdes herunterrollt. [S. 160] Bekanntlich giebt es auf ganz Island weder Wege noch Brücken, auf dem Pferderücken oder zu Fuß aber kommt man überall durch.
Auf einem Bauerhof, in der Nähe von Dyrafjord, kaufte ich ein kleines Pferd, das ich für die Expedition mitzunehmen gedachte. „Dies Pferd“ — schrieb ich am 4. Juni in einem Brief nach Norwegen — „nehme ich mit, um es zum Ziehen des Bootes und der Bagage über die Eisschollen an Grönlands Ostküste zu verwenden, und — falls wir es so weit mitbekommen, — als Saumthier, um die Felsen an der Küste zu besteigen. Es ist ja zweifelhaft, ob wir viel Nutzen davon haben werden, aber jedenfalls bekommen wir, wenn wir es todtschießen, eine gute Mahlzeit frischen Fleisches.“
Leider sollten wir nicht viel Nutzen davon haben! Es ist nicht so leicht, im Frühling auf Island Futter aufzutreiben; so kam es denn, daß ich mit Mühe und Noth Futter für nur einen Monat zusammenkaufen konnte.
Es war ein prächtiges, kleines Thier und hatte die seltene Eigenschaft, daß es ans Ziehen gewöhnt war. Es war vor dem Pfluge gebraucht worden, und das ist eine große Seltenheit auf Island, wo die Pferde ja gewöhnlich nur mit Sattelzeug oder Saumsattel benutzt werden.
Eines Morgens während unseres Aufenthalts in Dyrafjord kam ein Dreimaster in den Fjord gedampft und ankerte im Hafen, es war das dänische Kriegsschiff „Fylla“. Dies war für uns natürlich eine Quelle großer Freude. Mehrere Tage hindurch genossen wir den Umgang der liebenswürdigen Offiziere und brachten manche gemüthliche Stunde an Bord zu.
Indessen näherte sich unsere Wartezeit nun ihrem Ende. Wir konnten jeden Tag gefaßt sein, den „Jason“ in den Fjord dampfen zu sehen, — und fingen bereits an, ein wenig ungeduldig zu werden.
[S. 161]
Da, an einem Sonntagvormittag — es war am 3. Juni — erblickten wir weit draußen in der Fjordmündung einen kleinen Dampfer, welcher sich keuchend näherte, — Niemand wußte, was für ein Schiff das sein könne, man kam aber bald zu dem Resultat, daß es eines von den kleinen norwegischen Walfischfängern in Isafjord sein müsse. Er fährt um die „Fylla“ herum, grüßt mit der norwegischen Flagge und geht im Hafen vor Anker, ein Boot wird herabgelassen und kommt an Land. Unsere Freude war groß, als wir in dem ersten Mann, der das Ufer betritt, Kapitän Jakobsen , den braven Führer des „Jason“ erkannten. Es giebt natürlich ein stürmisch bewegtes Wiedersehen, der Zusammenhang war mir bald klar. Der „Jason“ war nach Isafjord gekommen, hatte uns dort nicht gefunden und wollte deshalb nach Dyrafjord weiter gehen, aber der Wind war entgegen, und es würde ihm mit seinem schweren Segelzeug schwer geworden sein, gegen den Wind anzudampfen. Da war denn der Direktor der norwegischen Walfischfanggesellschaft in Isafjord, Herr Grossierer Amli aus Kristiania, so unbeschreiblich liebenswürdig gewesen, uns den „Isafold“, eins seiner Dampfböte, ohne Säumen nachzusenden, um uns zu holen. Ein neuer, von einem Landsmann ausgehender Beweis, mit welchem Wohlwollen die Expedition begleitet wurde.
Es entstand natürlich eine große Geschäftigkeit, alles [S. 162] in Ordnung zu bringen; es fehlte auch nicht an helfenden Händen, die unsere Bagage an Bord brachten. Allgemeines Interesse erregte es, daß das kleine isländische Pferd über die Landungsbrücke sollte. Armes Thier, es entschloß sich nur sehr widerwillig dazu, es mußte fast getragen werden, hätte es aber eine Ahnung gehabt, welchem Schicksal es entgegen ging, so glaube ich kaum, daß wir es aufs Schiff bekommen haben würden.
Als alles in Ordnung war und wir Abschied von Konsul Gram , von Faktor Wendel und den anderen in Dyrafjord gewonnenen Freunden genommen hatten, dampften wir zum Fjord hinaus und stachen mit nördlichem Kurs in See.
Die „Fylla“ sandte uns einen letzten Abschiedsgruß zu, indem die Musik den norwegischen Nationalgesang (Mens Nordhavet bruser) anstimmte. Lange noch hörten wir die Töne über das Meer hinschallen.
Schon am selben Abend warfen wir im Isafjordhafen unter kräftigen Salutschüssen vom „Isafold“ wie vom „Jason“ unsere Anker aus. Der „Jason“ war so reich mit Flaggen geschmückt, daß Balto meinte, „es sähe mit den vielen Flaggen aus wie ein Moor, das mit rothen Multebeeren bedeckt sei“.
Als wir den „Jason“ betraten, wurden wir mit einem donnernden Hurrah von der ganzen, aus nicht weniger als 63 Mann bestehenden Besatzung begrüßt.
Der „Jason“ hatte bis zu jenem Tage einen ziemlich guten Fang gehabt, er war in jenem Sommer eins der bevorzugtesten Schiffe von der ganzen Seehundsfängerflottille. Er hatte 500 junge und ungefähr 1100 alte Seehunde gefangen.
[28] Wenn ein Eisgletscher über einem Vulkan lagert, entströmt diesem in der Regel keine Lava, sondern die Lava verwandelt sich in Asche. Dagegen schmilzt etwas von dem Jökuleis, während anderes zerbricht und mit gewaltiger Kraft den Berg hinabstürzt. Dies nennt man „Jökulhlaup“. Da werden auf das Flachland Eis, große Steine, Kies und Schlamm hinabgeführt, und nichts, was diesem Strom in den Weg kommt, kann widerstehen. Es ist leicht zu verstehen, daß solche „Jökulhlaup“ weit gefährlicher sind als Lavaströme, weil sie mit einer so rasenden Schnelligkeit kommen, während die Lava nur langsam fortschreitet.
[29] Siehe A. Helland : Lakis kratere. Univ. program, Kra. 1886.
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m Abend des 4. Juni lichteten wir im herrlichsten Sonnenschein die Anker. Gerade als wir den Fjord verließen, warf die sinkende Sonne ihren letzten liebkosenden Schein auf die Basaltfelsen des Isafjords. Die Westseiten derselben lächelten in der Abendsonne, während kalte Schatten über allen Spalten der Abhänge in der Nähe der Gipfel und in allen Klüften lagerten, die das Wasser an den Seiten gegraben hat, die eigenthümlichen wagerechten Formationen schärfer hervorhebend.
Bald sandten wir diesem letzten Stück Europa unsern Abschiedsgruß zu, ließen es hinter uns liegen und stachen in See.
Während wir uns vom Lande entfernen, schließt sich uns eine nach Hunderten zählende Schar dreizehiger Möven ( Larus tridactylus ) an, uns lautschreiend gleich einer weißblauen Wolke umschwebend, bald sinkend, — mit ausgebreiteten Flügeln dicht über das Kielwasser des Schiffes dahinfliegend, — bald steigend, in ihrem leichten anmuthigen Lufttanz zu dem blauen Himmel aufflatternd.
Hier war Gelegenheit, die Geschicklichkeit im Vogelschießen zu üben, — sie im Fluge mit der Kugel zu treffen, ist nicht so ganz leicht; mit der Zimmerpistole und dem Revolver zielten wir auf sie. Die meisten Schüsse treffen nicht; der Vogel schüttelt [S. 164] nur die Schwingen und fliegt weiter, jetzt aber wird eine Möve getroffen, sie ist nicht ganz todt, sie schlägt mit den Flügeln und sinkt, — anmuthiges hülfloses Geschöpf! Das Schiff geht ruhig weiter, es läßt sich nicht durch einen klagenden Vogel in seinem Kurs stören, — aber man kann ihn lange sehen, weit, weit dort hinten, umkreist von seinen Kameraden mit ihrem kläglichen, vorwurfsvollen Geschrei, mit den kraftlosen Flügeln die Wasserfläche peitschend. Wie erbärmlich, ohne Zweck und Ziel einen glücklichen Vogel um eines zweifelhaften Vergnügens willen zu opfern.
An jenem Tage wurde keine Büchse mehr angerührt, — so etwas hinterläßt eine kurze Weile einen tiefen Eindruck, dann aber wird es vergessen.
Ehe wir das isländische Fischrevier verlassen, müssen wir versuchen, eines Gerichts frischen Fisches habhaft zu werden. Ungefähr eine Meile vom Lande entfernt machen wir also Halt und werfen die Leinen aus. Nun folgt eine Spannung von mehreren Minuten, während welcher Niemand ein Wort spricht, — an der einen Leine zuckt es, sie wird aufgezogen. Man lehnt sich über den Schiffsrand; dort ganz unten im Wasser erglänzt es weiß, ein großer, zappelnder Dorsch wird an Deck gezogen. Bald folgt ein Fisch dem andern. Es ist ein lebhafter Wettstreit, wer die meisten fängt. Es währt denn auch nicht lange, bis wir ein gutes Gericht Fisch für uns und für die ganze Schiffsmannschaft haben. Mit dem Dorsch ist es nun an und für sich ganz gut, aber es wäre ganz angenehm, wenn wir auch einige Hellflundern fangen könnten. Deshalb fahren wir weiter hinaus, dorthin, wo die Hellflunderbänke sein sollen. Wir machen einen Versuch, sind aber diesmal nicht so glücklich. Wir wechseln den Platz und suchen abermals, — dasselbe Resultat. Ja, dann [S. 165] können wir nicht mehr Zeit daran wenden, und wir richten unsern Kurs westwärts, auf das Eis zu.
Es ist eine herrliche nordische Nacht. Die Sonne ist in das Meer gesunken, — im Westen und im Norden glüht noch der Tag. Ueber uns der vielfarbige Himmel, — unter uns das spiegelblanke Meer, das sich in schwermüthigen Gedanken wiegt, — in weicheren, noch feineren Tönen giebt es einen Wiederschein von der gedämpften Farbenpracht des Himmels, — dazwischen der schwarze „Jason“, den seine Maschine keuchend und stöhnend westwärts trägt. Hinter uns verschwindet Islands Felsenküste in bläulich violettem Ton langsam im Meere, — hinter uns liegt die Heimath und das Leben, was aber liegt vor uns? Niemand weiß es, aber es muß wohl etwas Schönes sein: Es ist eine gute Vorbedeutung, die Fahrt unter einem solchen Himmel zu beginnen!
Solche Nächte sind doch das Schönste von allem Schönen auf Erden!
Was ist das Leben, — ist es mehr als Hoffnung und Erinnerung? Die Hoffnung, die gehört möglicherweise dem Morgen an, aber die Erinnerungen, alle die lieblichen Erinnerungen, sie gehören dem Abend und der Nacht.
Schon am folgenden Tage, Dienstag, den 5. Juni, erreichten wir das Eis, das sich sehr weit nach Süden hin erstreckt.
Der Eindruck, den der Anblick der Treibeismassen des Polarmeers auf den Seereisenden macht, wenn er das erste Mal mit ihm in Berührung kommt, ist ganz eigenthümlich. Was man erblickt, ist für die Meisten sicher sehr verschieden von dem, was man erwartet hat. Eine gaukelnde Traumwelt mit wilden, phantastischen Formen, die nach allen Richtungen hin über dem Horizont aufragt, stets wechselnd, immer neu, ein Reichthum [S. 166] von strahlenden Regenbogenfarben, — so ist das Phantasiegebilde, das gewöhnlich von jenen Gegenden gemalt wird. So aber sieht diese Eiswelt keineswegs aus; sie ist einförmig und einfach, und doch macht sie einen eigenartigen Eindruck auf das Gemüth. Im kleinen hat sie Formen, die bis in das Unendliche wechseln, und Farben, die in allen Schattirungen von Blau und Grün spielen und sich brechen, — im großen aber wirkt diese Natur gerade durch ihre einfachen Gegensätze. Das treibende Eis, das sich gleich einer mächtigen, weißen Fläche glänzend und schimmernd ausdehnt, so weit das Auge reicht, einen weißen Wiederschein auf Luft und Wolken werfend, — das dunkle Meer, das sich oft fast kohlschwarz von der weißen Fläche abhebt, — und über all dieser Einförmigkeit ein Himmel, bald weißblau an hellen Tagen, bald dunkel drohend, mit treibenden Wolken bedeckt oder in dichte Nebel gehüllt, bald erglühend im Sonnenauf- und Untergang, oder träumend in der lichten Sehnsucht der Nächte. Und dann die dunkle Jahreszeit mit den seltsamen Nächten, mit Sternenschimmer und Nordlicht über diesen weißen Flächen spielend, oder der Mond, der wehmuthsvoller als sonst auf Erden seine lautlose Bahn durch eine öde ausgestorbene Natur zieht. Der Himmel hat in diesen Gegenden eine größere Bedeutung als überall sonst, die Landschaft selber ist sich stets gleich, der Himmel aber giebt ihr Farbe und Stimmung.
Niemals werde ich den Eindruck vergessen, den der erste Anblick dieser Natur auf mich machte. Es war in einer finsteren Märznacht im Jahre 1882, als ich an Bord eines Seehundsfängers von Norwegen aus den Eismassen entgegenfuhr, und in der Gegend von Jan Mayen das erste Eis gemeldet wurde. Ich sprang auf Deck und starrte hinaus, aber alles rings umher war finstere Nacht; ich konnte nichts erblicken. Da plötzlich tauchte [S. 168] etwas Großes, Weißes aus dem Dunkel auf, es wuchs und wurde immer weißer, wunderbar weiß im Gegensatz zu der rabenschwarzen Meeresfläche. Das war die erste Eisscholle. Dann kamen mehrere; sie tauchten schon in der Ferne auf, mit einem plätschernden Geräusch glitten sie vorüber und verschwanden wieder. Da gewahrte ich plötzlich einen sonderbaren Schein am nördlichen Himmel; am stärksten war er unten am Horizont, erstreckte sich aber hoch gegen den Zenit. Gleichzeitig vernahm ich ein schwaches Brausen, das von Norden kam, dem Schall der Brandung gleich, wenn sie gegen eine Felsenküste schlägt. Es war das Treibeis, das vor uns im Norden lag. Das Licht war der Wiederschein, den die weiße Fläche desselben auf die nebelige Luft wirft, das Geräusch aber rührte von der See her, welche über die Eisschollen dahinbrauste, die rasselnd gegeneinander prallten. In stillen Nächten kann man das Getöse ganz weit hinaus im Meere hören.
Wir näherten uns mehr und mehr, das Geräusch wurde stärker, die treibenden Schollen um uns zahlreicher, — jetzt stieß das Schiff zuweilen gegen eine an. Unter schrecklichem Getöse wurde sie in die Höhe gehoben und von dem starken Bug bei Seite geschleudert. Manchmal waren die Stöße so heftig, daß das ganze Schiff bebte und man vornüber auf das Deck geworfen wurde. Man konnte wahrlich nicht mehr in Zweifel sein, daß man hier etwas Neuem, Unbekanntem entgegenfuhr. Wir nahmen unsern Kurs ein paar Tage hindurch am Eise entlang. Da zog eines Abends ein Unwetter herauf, wir waren des Seegangs müde und beschlossen, in das Eis hineinzugehen, um dort den Sturm abzuwarten. Ehe wir aber den Rand des Eises erreichten, brach der Sturm los. Die Segel wurden gerefft, schließlich hatten wir nur noch ganz verschwindend [S. 169] wenig Leinwand zurückbehalten, — trotzdem aber flogen wir in sausender Fahrt dahin. Das Schiff stieß gegen das Eis an, es wurde von einer Eisscholle gegen die andere geschleudert, aber es mußte vorwärts und bahnte sich seinen Weg durch die Finsterniß. Und nun kam das Schlimmste, nämlich der Seegang, der immer stärker wurde. Die Eisschollen thürmten sich auf, schlugen gegeneinander, es brauste und lärmte rings um uns her, aber die kräftigen Kommandorufe des Kapitäns vermochten das Brausen der Brandung zu übertönen. Pünktlich und schweigend gehorchten ihm die bleichen Männer, alle waren auf Deck, unter Deck war sich jetzt, wo das Schiff in allen Fugen krachte, Niemand seines Lebens mehr sicher.
Und weiter ging es in das Eis hinein, es schäumte und brauste vor dem Bug, die Eisschollen rollten heran, zerschellten, wurden untergedrückt oder bei Seite geschoben, — da war keine Rede von Widerstand. Dort vor uns im Dunkeln erhebt sich eine mächtige, weiße Eisscholle, sie droht die Davids und das Takelwerk an der einen Seite fortzufegen; das Steuer wird gewendet und unbeschädigt gleiten wir vorüber. Da rollt eine große Welle heran, sie bricht sich weiß schäumend an der Windseite, das Schiff erhält einen gewaltsamen Stoß, ein Krach erschallt, Holzsplitter sausen uns um die Ohren, das Schiff legt sich auf die Seite, ein neuer Krach ertönt, — auf beiden Seiten ist die Schanzbekleidung zertrümmert.
Aber je weiter wir in das Eis hinein kommen, desto ruhiger wird es. Der Seegang ist hier nicht so fühlbar, das Getöse wird schwächer, nur der Sturm saust stärker denn je über uns hin. Es war ein Wagniß, sich bei einem solchen Sturm auf das Eis zu begeben, aber wir gingen unbeschädigt daraus hervor und waren jetzt in sicherem Hafen. Als ich am nächsten [S. 170] Morgen auf Deck kam, war es bereits heller Tag, — rings um uns her lag das Eis weiß und friedlich, nur die zertrümmerten Schanzbekleidungen erinnerten an eine stürmische Nacht.
Ja, das war meine erste Begegnung mit dem Eise.
Wie ganz anders dagegen war es jetzt, — an einem sonnenhellen Tage erblickten wir es, blendend weiß lag es zitternd und bebend im Sonnenlichte da; leise und friedlich trieb das Meer seine Wogen gegen das kalte Gestade.
Man darf sich die Treibeismassen des Eismeeres nicht wie eine einzige, zusammenhängende Fläche vorstellen. Sie bestehen aus zusammengestauten Massen von größeren und kleineren Schollen, die eine Dicke von 6 m , ja 12-15 m und mehr haben können. Wie sie gebildet werden und woher sie kommen, weiß noch Niemand mit Sicherheit zu sagen, — dieser Prozeß muß irgendwo auf dem offenen Meer im höchsten Norden vor sich gehen, dort, wohin noch Niemand gelangt ist. Von dem Polarstrom wird dann das Eis südwärts an der Ostküste Grönlands entlang geführt. Hier werden von der See die großen, zusammenhängenden Flächen zertrümmert, und die kleineren Schollen treiben dann weiter nach Süden zu. Durch das Zusammenpressen und Zusammenstauen des Eises während eines starken Seeganges thürmen sich die Schollen oft aufeinander auf und bilden Eisberge, die 6-8 m über dem Meeresspiegel emporragen können.
Das auf diese Weise zerkleinerte Polareis trifft der Seehundsfänger in der Dänemarksstraße an, und zwischen diesen oft sehr gefährlichen Eisschollen bahnt er sich auf der Jagd nach Klappmützen seinen Weg mit seinem starkgebauten Fahrzeuge.
Mehrere Tage gehen wir nun südlich am Eise entlang. Am Mittwoch erblicken wir Staalbjerghuk , das nach unserer Berechnung 8 geographische Meilen von uns entfernt liegt.
[S. 171]
Am Donnerstag — den 7. Juni — kamen wir an eine von Schlampeis umgebene Eisspitze. Einzelne Klappmützen zeigen sich auf den Schollen. Es war ein gutes Zeichen, so früh schon in der ersten Eisbucht, zu der man kam, Seehunde zu sehen, und Bilder von Fangjahren, wie man sie in früheren Zeiten hier in Grönland gekannt hatte, stiegen in der lebhaften Phantasie der Seehundsfänger auf. Sie waren ja alle stark an dem Erfolg interessirt, da ihre Einnahme davon abhängig ist, und die Hoffnung hat bei vielen Menschen glücklicherweise die Angewohnheit, ihnen das vorzuspiegeln, was sie wünschen. Sie steigt leicht, um ebenso schnell wieder zu fallen.
Man erblickte mehrere Seehunde auf dem Eise, und der Kapitän entschloß sich, einen kleinen Versuch zu wagen und einige Böte auf den Fang auszusenden. Die Böte der einen Wacht, also die Hälfte sämtlicher Schiffsböte, wurden ausgeschickt. Kapitän Sverdrup und Lieutenant Dietrichson, die noch niemals an einem Fang theilgenommen hatten, brannten natürlich vor Eifer, diese Unmenge von Wild zu sehen und darauf zu schießen, sie waren deshalb nicht wenig erfreut, als es endlich von dannen ging; ihrer Unerfahrenheit wegen mußten sie diese erste Jagd jedoch unter Leitung eines erfahrenen Schützen unternehmen. Bald hörte man es rings umher aus allen Richtungen knallen, aber es war kein lebhaftes Feuer, bald hier, bald da ein Schuß, nicht als wenn es wie bei einer heißen Jagd von allen Ecken und Kanten kracht und blitzt. Es waren scheinbar einzelne, hauptsächlich kleinere Seehunde, die über das Eis zerstreut lagen. Als die Böte zurückgekommen waren, wurden am Nachmittage die Böte der anderen Wacht ausgesandt. Ich blieb den ganzen Tag an Bord und schoß einige Seehunde vom Hintertheil des Schiffes. Merkwürdigerweise kann man den [S. 172] Thieren in der Regel mit dem Schiffe näher kommen als mit den kleinen Böten, bei deren Anblick sie schon in großer Entfernung unter Wasser tauchen; mit einem Schiff dagegen kann man zuweilen gegen die Eisscholle stoßen, auf der sie sitzen, ohne daß sie sich vom Fleck bewegen.
Alles in allem hatten wir an diesem Tage 187 Seehunde gefangen, was nicht viel ist. Es waren meistens junge Thiere, — „Klappmützenferkel“.
An jenem Tage sahen wir westlich von uns im Eise mehrere Fangschiffe und, an dem folgenden Tage sprachen wir mit einigen derselben. Es war ganz selbstverständlich, daß sie alle gern mit dem „Jason“ reden wollten, der diese sonderbare Grönlandsexpedition an Bord hatte. Der Kapitän der „Magdalena“ aus Tönsberg kam an Bord und erhielt die Post für die anderen Fahrzeuge ausgeliefert, da wir ja nach der Ostküste von Grönland wollten und es unsicher war, ob wir den anderen Schiffen begegnen würden. Die Art und Weise, wie die Post auf dem Eismeer besorgt wird, ist höchst eigenthümlich. Wenn eins der Fahrzeuge um Island herumfährt, so erhält es die Post für alle anderen Schiffe. Nun wird man natürlich sagen, daß das Eismeer groß ist und daß es unsicher sein kann, ob man einander hier oben begegnet, aber das ist eine irrthümliche Ansicht. Das Fangterrain ist nicht größer, als daß man hier oben nicht ebenso genau übereinander unterrichtet sei, als daheim in einer kleinen Stadt über das Thun und Treiben seiner Mitmenschen. Man liegt gern nahe bei einander und entfernt sich nur ungern weit von den anderen Fahrzeugen, da man fürchtet, daß diese, während man fort ist, einen guten Fang machen könnten.
Späterhin am Nachmittag passirten wir den „Geysir“ aus Tönsberg. Der Kapitän kam an Bord, aß mit uns zu Abend [S. 173] und trank ein Glas Grog. Er war so munter und froh, daß Niemand es übers Herz bringen konnte, ihm die Mittheilung zu machen, daß er seit seiner Abreise aus der Heimath drei Kinder an der Diptheritis verloren habe. So kann man hier oben auf dem Eismeer leben, ohne zu ahnen, was in der Welt vor sich geht. Alle Freuden und Sorgen drehen sich um Seehunde und Seehundsfang, ganz Europa könnte zusammenstürzen, ohne daß man eine Ahnung davon hätte.
Während der Nacht passirten wir den „Morgen“, eines von Sven Foyns Schiffen. Es kam gerade aus dem Eise und hatte die Felle von drei frischgeschossenen Eisbären im Schlepptau, — man pflegt die Bärenfelle eine Zeitlang hinter dem Schiffe herzuschleppen, um sie zu reinigen. Dies ärgerte Dietrichson und Sverdrup sehr, denn es war ihr höchster Wunsch, Bären zu sehen und zu schießen.
Während der nächsten Tage nahmen wir einen westlichen Kurs, aber der Wind war ungünstig, so daß es nicht so schnell ging, wie wir erwartet hatten, besonders da wir uns bei jedem tieferen Einschnitt in das Eis nach Seehunden umsahen, freilich ohne ein nennenswerthes Resultat.
Häufiger dagegen trafen wir Walfische, besonders die kleinere Walfischart ( Hyperoodon diodon ) sahen wir viel. In Schaaren von 5, 6 oder auch mehreren kamen sie, wie das ihre Gewohnheit ist, dicht an die Seiten des Fahrzeuges heran und tummelten sich dort oder lagen zuweilen ganz still dicht vor dem Bug. Es sind ganz sonderbare Thiere, mit ihrem weichen, runden Fettpolster über der Stirn, das sie gewöhnlich aus dem Wasser herausstecken. Dies Fettpolster ist besonders bei dem Männchen sehr auffallend und sticht sehr gegen den langen schmalen Rüssel ab, zu dem sich die Kiefern verlängern und der fast niemals über dem Wasser erscheint.
[S. 174]
Der Rüsselwal muß zu den Zahnwalen gerechnet werden, obwohl er nur zwei kleine Zähne hat, die ganz vorn im Unterkiefer ziemlich lose sitzen und die bei den älteren Thieren sehr häufig ausfallen. Sie haben sichtbar keine Spur von Nutzen von diesen Zähnen, die nur ein letzter Ueberrest raubgieriger Vorfahren sind, die gleich den anderen Zahnwalen eine lange und kräftige Reihe spitzer, kegelförmiger Zähne besaßen. Eine veränderte Lebensweise hat die Zähne indessen unnütz gemacht, ganz allmählich sind sie verschwunden, und nur die beiden sind noch übrig geblieben. Der Rüsselwal hat übrigens, während er noch im Mutterleibe liegt, den Ansatz zu einem vollständigen Gebiß, dem Erbtheil seiner Väter. Jetzt lebt er von Oephalopoden und kleineren Thieren, die heil verschluckt werden können, weshalb die Zähne völlig nutzlos sind.
Wie wenig Verwendung die Thiere für diese beiden Zähne haben, die ihnen geblieben sind, davon erhielt ich vor einigen Jahren einen schlagenden Beweis, indem mir, — ich war damals am Museum in Bergen angestellt — der Zahn eines Rüsselwals zugesandt wurde, dessen Krone mit langen Rankenfüßen ( Cirripedia ) dicht besetzt war; es waren Junge und Alte, eine ganze Kolonie. Einzelne waren so groß, daß sie ganz aus dem Munde des Thieres herausgestanden haben müssen. Wäre dieser Zahn benutzt worden, so hätten diese Schmarotzer keinen Augenblick sitzen bleiben können, ohne abgerissen zu werden. Der Zahn wird noch im Museum zu Bergen aufbewahrt.
Dergleichen kleine Beobachtungen, wie unbedeutend sie auch erscheinen mögen, sind doch oft für den Naturforscher von großem Interesse, denn sie zeigen ihm auf wie unsicheren Füßen die anspruchsvolle aber doch so allgemein verbreitete Annahme steht, daß alles in der Natur einen Zweck hat.
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Zuweilen trafen wir auch die großen, gewaltigen Blauwale, Grönlandswale ( Balenoptera Sibaldii ), die Riesen der modernen Fauna. In weiter Entfernung kann man sie kommen und pusten hören und die verdichtete Dampfsäule ihren Nasenlöchern entsteigen sehen. Sie kommen näher und dann — vielleicht ehe man es ahnt — stecken sie erst den Kopf mit dem scharfen Kiel (am Nasenrücken entlang), dann den mächtigen Rücken — mit der kleinen Flosse — neben dem Schiff aus dem Wasser. Sie stoßen den Athem von sich, eine mächtige Dampfwolke steigt in die Luft, — es ist, als wenn man das Ventil an einem Dampfkessel öffnet, man fühlt die Luft förmlich vibriren. Dann krümmen sie den Rücken und verschwinden wieder.
Am Sonntag, den 10. Juni, haben wir neblige, bedeckte Luft. Mehrere Tage lang haben wir keine Observationen machen können und wissen nicht, wie weit wir gekommen sind, aber die Strömung, die hier sehr stark ist, muß uns sehr weit südwestwärts getrieben haben. Falls Aussicht vorhanden wäre, das Land jetzt zu erreichen, müßten wir uns nun an dem Punkte befinden, wo sich der Rand des Eises in westlicher oder nordwestlicher Richtung abbiegt, aber es ist kein Anzeichen vorhanden, was darauf schließen läßt. Dies sieht recht hoffnunglos aus. Die Fangzeit für die Klappmützen nähert sich stark, es kann lange währen, bis der „Jason“ wieder gegen den Strom nach Nordosten gelangt, um so mehr, als wir jetzt östlichen Wind haben. Die anderen Schiffe können währenddessen fangen, und ich hatte mich verpflichtet, den „Jason“ durch meine Expedition nicht vom Fang zurückzuhalten.
Am Vormittage wurde der Beschluß gefaßt, den Landungsversuch vorläufig aufzugeben und bessere Zeiten abzuwarten. Wir kehren in östlicher Richtung nach dem gewöhnlichen Fangterrain [S. 176] zurück, aber Wind und Strömung sind uns nun entgegen und wir müssen unsere Zuflucht zum Kreuzen nehmen.
Am folgenden Tage klärt es sich auf und wir bekommen Land in Sicht, — der erste lockende Anblick von Grönlands Ostküste, die in hohen, zackigen Felsen vor uns aufragt. Das muß zweifelsohne das Land nördlich von Kap Dan sein. Wir sind nicht so weit davon entfernt, wie wir annahmen, — wahrscheinlich nur 15 Meilen.
Eine tiefe, enge Bucht schneidet in der Richtung des Landes in das Eis ein. Sie scheint sich sehr weit zu erstrecken, — das Ende ist nicht zu erblicken, selbst nicht vom Mastkorb aus. Wir beschließen, den Versuch zu machen, wie weit wir hineindringen können.
Der Wind ist günstig, er führt uns schnell durch die Bucht. Bald schimmert uns jedoch Eis entgegen, ein Seehundfänger läßt den Muth aber nicht so leicht sinken. Wir zwängen uns hindurch, vor „Jasons“ starkem Bug müssen die Eisschollen weichen. Nun gelangen wir in ein großes, offenes, eisfreies Gewässer; in der Richtung nach dem Lande zu ist, soweit das Auge reicht, kein Eis zu erblicken. Das sieht sehr verheißend aus. Die Breiten- und Längengrade werden bestimmt, — um die Mittagszeit sind wir auf dem 65° 18′ N. B. und auf dem 34° 10′ W. L. — also noch über 13 Meilen vom Lande entfernt. Wir lassen jedoch die Hoffnung nicht sinken, vielleicht können wir es doch bald erreichen.
Nachdem wir aber noch einige Stunden mit guter Fahrt vorwärts gekommen sind, wird vom Mast aus abermals „Eis in Sicht“ gemeldet. Wir fahren eine Strecke hinein, es stellt sich aber bald heraus, daß es zu dicht liegt, um das Fahrzeug hindurch zu bringen. Wir sind nun 9-10 Meilen vom Lande entfernt, und da das Eis vor uns ziemlich uneben ist, halte ich [S. 177] es nicht für rathsam, hier schon jetzt einen Landgang zu versuchen. Es ist besser, bis zu einer späteren Jahreszeit zu warten, wo das Eis dünner geworden ist.
Es sieht freilich so aus, als ob wir weiter nach Norden uns dem Lande bedeutend mehr nähern könnten, aber der „Jason“ soll, wie bereits erwähnt, auf Seehundsfang, und wenn man sich dort mit aller Gewalt durch das Eis zwängen will, so kann man Gefahr laufen, stecken zu bleiben und so um die beste Fangzeit zu kommen. Deshalb wenden wir abermals und nehmen für diesmal Abschied von der Ostküste Grönlands. Bald verhüllen dichte Nebel das Land vor unserm Blick.
Ueber diesen unseren ersten Anblick von Grönland schreibt Balto: „Wir segelten mehrere Tage in der Richtung auf Grönland zu, bis wir das Land in Sicht bekamen. Aber es lag noch sehr weit von uns entfernt, ungefähr 15 Meilen hinter dem Eise. Der Theil von Grönlands Ostküste, den wir sahen, [S. 178] war nicht schön oder lieblich zu schauen, im Gegentheil war die Küste häßlich und unheimlich anzusehen, denn fürchterlich hohe Felsberge ragten wie Kirchthürme zu den Wolken des Himmels auf, die ihre Gipfel bedeckten.“
Am nächsten Tage erhielten wir einen guten Beweis von der Stärke der Strömung in diesem Fahrwasser. Die ganze Nacht hatten wir unter einem starken östlichen Wind in nordöstlicher Richtung gekreuzt. Am nächsten Vormittag bekamen wir wieder Land in Sicht, aber in ungefähr derselben Richtung wie am vorhergehenden Tage.
In den folgenden Tagen kreuzen wir nordöstlich an der Eiskante entlang, kommen aber nur wenig vorwärts, da der Wind und der Strom uns sehr entgegen sind. Auch jetzt erblicken wir viele Rüsselwale, sowie mehrere große Bartenwale, meistens wahrscheinlich Blauwale, die sich fast alle in westlicher Richtung bewegen, vielleicht gegen Grönland. Wahrscheinlich haben die Walfische ihre ganz bestimmten Wanderungen, aber wir wissen bis dahin nur sehr wenig Bestimmtes darüber. Hin und wieder erblickten wir eine kleinere Art des Bartenwales, — die Seehundsfänger nennen sie zuweilen Klappmützenwale, sie behaupten nämlich, daß sich diese Thiere in der Nähe des Klappmützenfanges aufhalten. Dem Anschein nach konnte es derselbe Wal sein, der an den Küsten von Finnmarken vorkommt und dort Seiwal ( Balenoptera borealis ) genannt wird. Ein paarmal sah ich den Speckhauer (Butzkopf) ( Orca gladiator ), diese kleine Walfischart, die so leicht an ihrer rechten Rückenflosse zu erkennen ist und die aus dem Grunde von den norwegischen Fischern Staurhynning, Staurhval genannt wird. Es ist ein selten kräftiger Schwimmer mit schnellen Bewegungen und einem gefährlichen Gebiß. Er ist der Schrecken sämtlicher großer Wale, [S. 179] — wo er sich zeigt, da fliehen sie über Hals und Kopf, und ein einziger der kleinen Gladiatoren genügt, um die großen Riesen vor sich her zu jagen, zuweilen sogar bis auf das Land. Die Angst, welche die großen Walfische vor ihnen haben, ist nicht so ganz ohne Grund, denn sie verfolgen sie und greifen sie von hinten an. Es pflegen ihrer mehrere zu sein, mit ihren schnellen Bewegungen fahren sie auf ihre Feinde ein und reißen ihnen große Stücke Speck aus den Seiten, — daher der Name. Von Schmerzen und Verzweiflung getrieben, peitschen die großen Wale das Wasser und schießen mit Blitzesschnelle davon, von den kleinen Ungeheuern verfolgt, die nicht nachlassen, bis die Feinde, ermattet von der Anstrengung und dem Blutverlust, sich ergeben müssen. Aber nicht Wale allein greifen die Butzköpfe an, auch die Seehunde sind Gegenstand ihrer Raublust. Die Eskimos haben mir erzählt, daß sie gesehen haben, daß diese Thiere (Ardluk, wie sie sie nennen) einen Seehund mit einem einzigen Biß verschlingen.
An unseren Küsten scheint der Butzkopf zum Theil ein friedlicheres Leben zu führen. Er wird viel von unseren Heringsfischern gesehen und scheint hier nur von Heringen und Seien zu leben. Er scheint keine Neigung zu haben, die großen Walfische anzugreifen, mit denen er fortwährend in Berührung kommt, und sie ihrerseits scheinen keine Angst vor ihm zu haben.
Was der Grund hierzu sein kann, ist noch nicht aufgeklärt. Vielleicht findet er hier genug Fischnahrung, so daß er sich nichts aus dem Speck der Wale macht, die Wahrscheinlichkeit aber spricht dafür, daß die großen Bartenwale, welche auf die Heringsbänke kommen, nämlich der Finnwal ( Balenoptera musculus ) und der Spitzenwalfisch ( Balenoptera rostrata ) nicht die Wale sind, welche er anzugreifen pflegt. Ich möchte zu der [S. 180] Annahme neigen, daß ihm diese zu schnell sind, weshalb er den größeren, aber weniger schnellen Blauwal und möglicherweise auch den Narwal ( Megaptera boops ) vorzieht.
Hin und wieder sah man die Seehunde im Wasser schlafen. Auf den Wellen auf- und niederschaukelnd, gleichen sie zum Verwechseln den Korkbojen, die auf dem Wasser schwimmen. Einzelne Seehunde lagen auch auf den zerstreut umhertreibenden Eisschollen. Dies konnte möglicherweise ein Zeichen sein, daß sich Seehunde im Eise vor uns befanden, aber die Luft war dick, und wir hatten keine Ruhe, auf so etwas zu achten. Wir sehnten uns danach, die anderen Fangschiffe wiederzusehen.
Endlich hatten wir ein wenig westlichen Wind, und eine zweitägige Fahrt brachte uns wieder mit den anderen Schiffen zusammen. Man seufzte an Bord des „Jason“ erleichtert auf, als es sich herausstellte, daß sie, seit wir sie verlassen, nichts gefangen hatten.
Bis lange über Johannis hinaus lagen wir da und trieben uns außerhalb des Eises in Nebel und schlechtem Wetter herum, von den Wellen hin und hergeschaukelt, — von Seehunden aber war keine Spur zu erblicken.
Nach Johannis würde es anders werden, meinte man, aber der St. Johannisabend und der St. Johannistag und noch viele andere Tage vergingen, ohne irgend welche Veränderung mit sich zu führen, — nur das Wetter war besser geworden, — wir hatten jetzt herrlichen, herzerquickenden Sonnenschein. Dies verschönerte uns das Dasein ganz bedeutend. So lange man die Sonne hat, darf man ja nicht klagen. Alle Fahrzeuge, die sich in der Dänemarksstraße befinden, ungefähr 14-15 Stück, sind jetzt hier versammelt. Die ganze Schar fährt hintereinander her in die Buchten hinein und wieder hinaus gleich einer Schafherde. [S. 181] Sobald eines der Schiffe sich in eine Bucht hinein begiebt, folgen ihm alle anderen, späht dann das erste Schiff nach Fang aus, so folgen alle anderen seinem Beispiel, — wendet es, so wenden auch die anderen und dann gehts wieder in die offene See hinaus. Und dies wiederholt sich Tag für Tag, Woche auf Woche.
Es wird vielleicht einzelne Leser interessiren, ein vollständigeres Bild von dem Leben, den Wanderungen und dem Fang der Klappmützen zu erhalten.
Da ich mehr Gelegenheit als die Meisten gehabt habe, Beobachtungen in dieser Richtung anzustellen, will ich es versuchen, in einem besonderen Kapitel eine kurzgefaßte Darstellung davon zu geben, soweit meine Erfahrungen mir das gestatten.
Vieles, besonders die Wanderungen der Klappmützen betreffend, ist noch in Dunkel gehüllt und bedarf deswegen einer gründlicheren Untersuchung.
[S. 182]
ie Klappmütze ( Cystophora cristata ) ist eine sehr große Seehundsart, die den See-Elephanten an der Westküste Amerikas und in den antarktischen Meeren am nächsten verwandt ist, — gleich diesen hat das Männchen eine Mütze über der Nase, wodurch es sich auffallend von allen anderen arktischen Seehunden unterscheidet. Das Weibchen hat keine solche Mütze zum Aufblasen, obwohl die Haut über der Nase auch bei ihm ein wenig lose und faltig ist. [30] Die Klappmütze kann eine beträchtliche Größe erreichen und ist nächst dem blauen Seehund die größte Seehundsart, die in unserem nordischen Fahrwasser vorkommt. Gleich, wenn sie zur Welt kommt, ist sie bereit, ins Wasser zu gehen und hat ein aus glatten Seehundshaaren bestehendes Fell, das am Bauche ziemlich hell, beinahe weiß, auf dem Rücken aber grau ist. Nach dem ersten Häuten ist es ein wenig gefleckt, und je mehr die Klappmütze heranwächst, je mehr steigert sich dies, bis es schließlich eine gräulich weiße Farbe mit zahlreichen größeren und kleineren unregelmäßigen, über den ganzen Körper verbreiteten Flecken hat. Am kleinsten sind die Flecken auf dem Kopf, aber sie sitzen hier so dicht, daß der Kopf fast [S. 183] schwarz zu sein scheint. Das Männchen kann seine Mütze zu ganz erstaunlichen Dimensionen aufblasen, wodurch der Kopf ein ganz eigenthümliches Aussehen erhält. Dies geschieht jedoch nur selten. Ich habe es nur gesehen, wenn es heftig gereizt wird, z. B. wenn es angeschossen war. Gewöhnlich hängt die Mütze schlaff herunter und ragt dann gleich einem ganz kurzen Rüssel über dem Rücken der Nase hervor. Welchen Zweck diese Mütze hat ist nicht leicht zu verstehen. Es könnte fast so aussehen, als wenn sie ein Vertheidigungsmittel zum Schutz ihres empfindlichsten Punktes, nämlich der Nase sein sollte; diese ist nämlich bei den Männchen im Laufe der Zeiten infolge ihres Kampfes um die Weibchen sehr entwickelt worden, indem die bestbeschützten siegreich aus diesem Kampfe hervorgegangen sind und Gelegenheit zur Vermehrung gehabt haben.
Diese Erklärung erscheint mir jedoch lange nicht überzeugend; freilich führen die Männchen in der Brunstzeit heftige Kämpfe miteinander, aber ich kann nicht einsehen, weshalb gerade die Nasen dabei so ausgesetzt sein sollten.
Die Klappmütze ist groß und ungewöhnlich stark. Sie ist [S. 184] auch muthig, und wenn sie sich zur Wehr setzt, was oft geschieht, ist nicht mit ihr zu spaßen, denn selbst auf dem Eise ist sie nicht so ganz unbehülflich und im Wasser ist sie geradezu gefährlich. Die Eskimos, welche sie von ihren schmalen Kajaken (Fellböten) aus fangen sollen, haben deshalb nicht ohne Grund Respekt vor ihnen; haben sie doch mehr als einem Eskimo das Leben geraubt! Im Jahre 1882 wurde mein Boot von einem verwundeten Männchen angegriffen, das sich auf den Bootsrand stürzte und mit den Zähnen auf mich loshieb, statt meiner aber den Bootsrand traf, wo es tiefe Spuren hinterließ.
Die Klappmütze ist ein ganz vorzüglicher Schwimmer und Taucher. Um ihre Nahrung zu holen, die hauptsächlich aus Fischen besteht, kann sie bis auf ganz erstaunliche Tiefen hinabtauchen, — wie tief, läßt sich nicht genau angeben. Einen ungefähren Begriff kann man sich jedoch daraus machen, daß ich etwa in der Mitte zwischen Spitzbergen und Jan Mayen in dem Magen einer Klappmütze einen Rothfisch ( Sebastes Norvegicus ) [S. 185] gefunden habe; derselbe ist ein Tiefwasserfisch und lebt in einer Tiefe zwischen 50 und 90 Klaftern. Wenn man bedenkt, welch starker Druck — wenigstens über 4 Atmosphären — in einer solchen Tiefe ist, so kann man verstehen, daß die Burschen kaum eine schwache Brust haben können. Als Beweis von der ungeheuren Kraft der Thiere kann auch angeführt werden, daß sie im stande sind, direkt auf den Rand einer Eisscholle hinaufzuspringen, die 6-8 Fuß über dem Wasser liegt.
Die Klappmütze ist eine fast vollständig pelagische Seehundsart, d. h. sie hält sich nicht zu den Küsten, sondern folgt im wesentlichen dem Treibeis auf ihren Wanderungen, und erscheint in dessen Gefolge überall im Eismeer und dem nördlichen Theil des atlantischen Ozeans zwischen Spitzbergen und Labrador und der Baffinsbucht. Ihre östliche Grenze scheint ungefähr bei Spitzbergen zu sein, denn bei Novaja-Semlja kommt sie nicht mehr vor.
Die Klappmütze ist sehr gesellig und unternimmt in größeren oder kleineren Scharen mehrmals im Jahr bestimmte Wanderungen, die jedoch nur noch wenig bekannt sind. An der Westküste von Grönland, wo die Eskimos den Fang betreiben, sieht man freilich, daß sie zu bestimmten Zeiten verschwinden; Niemand aber weiß mit Bestimmtheit zu sagen, wo sie in der Zwischenzeit gewesen sind. Ich halte es für wahrscheinlich, daß sie, wenn sie zum erstenmal im Winter oder im Frühling ganz verschwinden, fern von der Küste liegendes Treibeis aufsuchen, [31] um dort in Ruhe und Frieden ihre Jungen füttern zu können, die ungefähr Ende März geboren werden. Ende April oder Anfang Mai [S. 186] zeigen sie sich dann wieder an der Küste von Grönland. Wenn sie im Juni oder Anfang Juli abermals verschwinden, so geschieht dies ebenfalls, um das Treibeis aufzusuchen. Dann kommt nämlich die Zeit, wo sie ihr Haar wechseln, und während dieses Prozesses gehen sie ungern ins Wasser. Am liebsten liegen sie auf den Eisschollen und sonnen und wälzen sich. Man kann auf solchen Eisschollen oft ganze Haufen von Haar finden. In dieser Zeit fressen sie wenig und im Juli werden sie sehr mager.
Die Jagd pflegt im Juni zu beginnen, wenn die Fangschiffe nach der Dänemarksstraße kommen, nachdem sie in der Gegend von Jan Mayen Jagd auf eine andere Seehundsart, den sogenannten grönländischen Seehund ( Phoca grönlandica O. F. M. ) gemacht haben. Einige von ihnen sind auch vorher auf den Fang von Entenwalen, Bottlenose ( Hyperoodon diodon ) nordöstlich von Island gegangen.
Es handelt sich vor allen Dingen darum, den Seehund zu finden, und das ist oft schwierig genug, denn man darf sich nicht einbilden, daß er über dem ganzen Eis dort oben zerstreut liegt. Um ihn zu finden, müssen die Fahrzeuge oft wochenlang suchen. Sie gehen dann an dem äußeren Rande des Treibeises entlang, und überall, wo sich Buchten oder Oeffnungen im Eise befinden, dringen sie ein, — während die Eismassen nach allen Richtungen hin ununterbrochen mit dem Fernrohr von der auf dem Großmast angebrachten Ausgucktonne untersucht werden. Entdeckt man dann endlich nach längerem Spähen weiter ins Eis hinein Scharen von Seehunden, und ist dies Eis nicht allzu dicht zusammengestaut, so handelt es sich darum, die Maschinen so stark wie möglich zu heizen und auf das Eis zu gehen, um so schnell wie möglich zu den Seehunden zu gelangen, da man sonst Gefahr läuft, daß ein anderes Fangschiff [S. 187] Einem den Rang ablaufen kann, was selbstverständlich nicht geschehen darf.
Beim Kartenspiel hören alle verwandtschaftlichen Rücksichten auf, heißt es im Volksmunde, und dasselbe gilt in vollem Umfange auf dem Eismeer; denn hier sucht man einander nach besten Kräften zu übervortheilen. Liegen mehrere Schiffe in der Nähe, wenn man Seehunde erblickt, und sie noch nicht aufmerksam darauf geworden sind, so kommt es natürlich darauf an, sie durch List zu entfernen, so daß man den Fang für sich allein hat. Zu diesem Zweck werden die unglaublichsten Kunstgriffe angewandt; man dampft unter vollen Segeln nach einer ganz anderen Richtung ab und thut, als sähe oder erwarte man dort Seehunde, um auf diese Weise die Anderen mitzulocken, um dann, — sobald sie folgen und eine Strecke weit gekommen sind, zurückzuschleichen und allein die Seehunde aufzusuchen, — ja, das gehört zu den ganz gewöhnlichen Manövern dort oben.
Wenn man sich dann mit aller Macht durch das Eis Bahn bricht und es unter der Mannschaft auf Deck verlautet, daß man von der Tonne aus Seehunde sieht, da läßt sich an Bord ein merkwürdiges Leben verspüren. Alles kommt auf die Beine, Alle müssen auf das Vordertheil des Schiffes hinauf, um zu sehen, ob sie die Seehunde nicht schon von Deck aus erblicken können, — man hat alle Hände voll zu thun, die Böte in Stand zu setzen, zu untersuchen, ob im Bootskasten Brot und Speck, ob in den Biertonnen Bier und ob Patronen in der Patronentasche sind. Man sieht nach, ob die Büchsen auch ordentlich geputzt sind, denn jetzt muß man sich vergewissern, daß alles zum Fang in Ordnung ist, und wenn man weiter nichts zu thun hat, so schleift man sein Messer, damit es scharf genug ist, um allen Seehunden, die man fängt, das Fell abzuziehen. Dann geht’s [S. 188] abermals auf das Vordertheil des Schiffes hinauf, um nach den Seehunden auszuspähen. Bald schweift das Auge zur Masttonne hinauf, um zu sehen, nach welcher Richtung hin das lange Fernrohr zeigt, bald wieder über die Eisfläche hin in derselben Richtung wie das Fernrohr, und gewahrt man dann wirklich einen Seehund, so entsteht ein Leben, ein Zeigen, ein lautes Durcheinanderreden; — bald erblickt man mehrere, gleich schwarzen Punkten tauchen sie weit vor uns im Eise auf; jeder Seehund wird mit Jauchzen begrüßt.
Inzwischen arbeitet sich das Schiff ruhig und sicher durch das Eis. Aus der Tonne erschallen Kommandorufe, bald heißt es „hart Backbord“, bald „hart Steuerbord“ oder „ steady “; die Zwei, welche am Steuer stehen, arbeiten so, daß ihnen der Schweiß von der Stirn tropft und lassen das Steuerrad herumdrehen wie an einem Spinnrocken. Das Schiff prallt mit donnerähnlichem Getöse gegen die mächtigen Schollen an, so daß man oft alle Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten. Unten im Maschinenraum wird ununterbrochen nachgeheizt, während sich die Schraube am Kiel des Schiffes dreht und das Kielwasser bläulich aufwirbeln läßt, bis die Eismassen es wieder bedecken. Oben in der Tone sitzt der Kapitän und weidet sein Auge an den Seehundsmassen vor sich, wobei er seine Pläne macht und den Weg sucht, den das Schiff gehen soll. Eine solche Fahrt durch das Eis ist sehr spannend. Auf dem ganzen Schiffe herrscht Erwartung und Unruhe. Endlich fällt das erlösende Wort: „Macht die Böte klar!“
Ein Jubelgeheul tönt über das ganze Schiff, am schlimmsten ist es unten in den Mannschaftskojen, wo jetzt keiner mehr schlafen darf. Alle ziehen ihre Fangkleider an, und in der Schiffsküche wird gekocht und gebraten, damit die Mannschaft [S. 189] noch eine gute Mahlzeit zu sich nehmen kann, ehe sie in die Böte geht. Oft fährt man dann noch einen halben Tag ruhig weiter, bis man tiefer in das Lager der Seehunde hineingekommen ist und mehr und mehr Thiere auf den Eisschollen erblickt. Man macht erst Halt, nachdem man sich mitten im Herzen des Fanges befindet, dort, wo sie ganz dicht nebeneinander liegen. Jetzt endlich erschallt aus der Tonne das Kommando: „Fertig zum Fall!“, und alles stürzt in die Böte, die zu beiden Seiten des Schiffes in den Davids hängen. Dann erhält der Schütze jedes Bootes, — es befindet sich nur ein Schütze in jedem Boot, — der auch das Kommando übernimmt, seine Befehle, in welcher Richtung er vorgehen soll, und endlich heißt es: „Die Böte herab!“, und während das Schiff seine Fahrt mäßigt, werden die Böte in aller Eile ins Wasser gelassen. Man stößt ab und vertheilt sich nach der vorgeschriebenen Richtung hin. Es ist ein stolzer Anblick, wenn die zehn Böte eines Fangschiffes auf einmal vom Fahrzeuge abstoßen und jedes in seiner Richtung durch das Eis dahinrudert. Aufgerichtet und spähend steht der Schütze vorne in dem Boote, während der Steuermann hinten am Steuer steht und die übrigen drei bis vier Mann die Ruder nach besten Kräften führen. Dann kommt man in das Seehundslager hinein, und es beginnt ein Schießen und Knallen nach allen Richtungen hin, — es klingt oft, als würde eine ganze Schlacht geschlagen. An einem hellen Sonnentag, wenn Massen von Seehunden rings umher auf den Eisschollen liegen und sich sonnen, ruht oft ein zauberhafter Schimmer über diesem Leben, das Demjenigen, der es einmal mitgemacht hat, stets verlockend vor der Seele schweben wird. Es kommt natürlich für jeden Schützen darauf an, der erste zu sein, der mit beladenem Boot zum Schiffe zurückkehrt. Er [S. 190] sucht seine Leute zu demselben Ehrgeiz zu entflammen und treibt die Böte so schnell wie möglich vorwärts. Kommt man in die Nähe der Seehunde, so muß man sorgfältig vermeiden, hinter einen Eisblock zu kommen, so daß der Seehund das Boot aus dem Gesicht verliert, nachdem er es erst einmal erblickt hat. Man muß versuchen, so direkt wie möglich auf den Seehund loszurudern, damit er das Boot so lange wie möglich sehen kann. Wird er plötzlich überrascht, so verschwindet er gleich. Sobald er das Boot erblickt, erhebt er den Kopf, ist es aber noch weit entfernt, so legt er sich gewöhnlich wieder hin und liegt ruhig auf dem Eise. Inzwischen kommt das Boot heran, von vier kräftigen Rudern getrieben, abermals erhebt er den Kopf und sieht nun viel bedenklicher aus. Er schaut das Boot an, und er schaut ins Wasser hinab, er wird unruhig, wälzt sich ein wenig dichter an den Rand hin, reckt den Hals und macht sichtbare Anstalten zu verschwinden, da plötzlich bricht auf Kommando des Schützen die ganze Bootsmannschaft in ein fürchterliches [S. 191] Geheul aus; der Seehund stutzt, lauscht verwundert dem sonderbaren Geräusch, nimmt sich dann aber wieder zusammen, macht noch eine Bewegung auf den Rand der Eisscholle zu und will verschwinden. Da erhebt sich ein noch stärkeres, langgezogeneres, unheimlicheres Geheul als das erste; abermals reckt er den Hals, lauscht erstaunt und verwundert, indem er das Boot anstarrt, das jetzt mit großer Geschwindigkeit herangeflogen kommt, dann beugt er sich über den Rand, krümmt den Rücken und reckt den Hals nach dem Wasser aus. Trotz des teuflischsten Geheuls will er jetzt doch hineinspringen, und man hat die Schußweite noch nicht erreicht. Da ist nichts weiter zu thun, als daß der Schütze schnell die Flinte in die Höhe hebt und eine Kugel in den Eisrand gerade unterhalb des Thieres sendet, so daß ihm Schnee und Eisstücke an Brust und Nase fliegen. Das ist etwas Neues, — erschrocken zieht er sich auf die Eisscholle zurück und starrt auf den Rand des Eises. Während er noch über dies neue Räthsel grübelt, ist das Boot mit schneller Fahrt in Schußweite gelangt; die Ruder werden losgelassen und, in den Dollen hängend, gleiten sie an der Seite entlang, Alle müssen regungslos still sitzen, der Schütze erhebt die Flinte, ein Krach — und in die Stirn getroffen, fällt der Kopf des Seehundes wieder aufs Eis, diesmal, um sich nicht wieder zu erheben.
Liegen mehrere Seehunde auf derselben Eisscholle oder ringsumher, so kann man viele schießen, aber es gilt vor allen Dingen, die ersten Seehunde, auf die man schießt, gleich so zu treffen, daß sie todt wie ein Stein da liegen. Ich erinnere mich, im Jahre 1882 eine ganze Bootsladung an einer Stelle geschossen zu haben, und ich hätte noch mehrere Boote voll schießen können, wenn ich hätte fortfahren können, denn wenn man sich erst so in das Seehundslager eingeschossen hat, daß ringsumher an [S. 192] allen Ecken und Kanten todte Seehunde liegen, dann liegen die anderen auch ruhig. Sie starren ihre todten Kameraden an, die sie für lebendig halten und denken, können sie, denen der Unruhestifter so nahe ist, ruhig liegen, so dürfen wir es immerhin wagen.
Ist man dagegen so unglücklich, den ersten oder die ersten Seehunde nicht sofort auf eine tödtliche Stelle (z. B. den Kopf) zu treffen, so daß das Thier verwundet auf der Eisscholle umherspringt oder sich mit einem Geplätscher ins Wasser stürzt, dann kann man ziemlich sicher sein, daß die meisten anderen auch unruhig werden und seinem Beispiel folgen. Deshalb muß man lieber einen Fehlschuß thun, als daß man einen Seehund anschießt, und da liegt es denn auf der Hand, daß es von großer Wichtigkeit ist, tüchtige Schützen auf der Seehundsjagd zu haben.
Sobald der Seehund geschossen ist, wird ihm das Fell abgezogen; es handelt sich nun darum, den Thieren das Fell so schnell wie möglich abzuziehen, um weiterzukommen und von den anderen Booten nicht überholt zu werden. Deshalb kommt es auch sehr darauf an, daß der Schütze tüchtige und geschickte Leute in seinem Boot hat.
Ein geübter Mann kann einem Seehund in ganz unglaublich kurzer Zeit das Fell abziehen. Ich sah es oft in zwei Minuten ausführen. Erst wird ein langer Schnitt vom Kopf bis zum Schwanz am Bauch entlang gemacht, dann einige Schnitte an jeder Seite zwischen der Speckschicht und dem Fleisch, dann einige Schnitte oben vom Kopf herunter und einige unten beim Schwanz und den Hinterbeinen, und das Fell ist herunter! Darauf zieht man die Vorderbeine, die noch festsitzen, heraus und befreit sie mit ein paar Schnitten von der Haut, die jetzt ins Boot gebracht werden kann. Man verwendet nur das Fell und die unter demselben liegende dichte Speckschicht, die daran festhängt. [S. 194] Das Uebrige läßt man auf dem Eise liegen als Speise für die Möven.
Der Klappmützenfang ist noch nicht so sehr lange in der Dänemarksstraße betrieben worden. Man begann zuerst im Jahre 1876 damit, und während der ersten acht Jahre wurde er mit kolossalem Erfolg von vielen norwegischen [32] Fahrzeugen betrieben. Man fand überall Seehunde und schoß sie zu Tausenden nieder. In jenem Zeitraum wurden ungefähr 500000 Stück geschossen und wenigstens ebenso viele sind durch Kugeln getödtet, ohne daß man ihrer hat habhaft werden können. Dann trat jedoch ein Umschlag ein; in den nun folgenden Jahren wurden fast gar keine Klappmützen gefangen, beinahe alle Fahrzeuge sind Jahr für Jahr erfolglos gewesen. Was kann der Grund dazu sein? Seehundsfänger haben es auf den Wind, auf den Seegang, die ungünstigen Eisverhältnisse geschoben, aber in dem allen liegt doch keine beruhigende Erklärung, so daß man die Hoffnung auf bessere Fangjahre aufrecht erhalten könnte; die Verhältnisse können wohl ein, immerhin zwei Jahre ungünstig sein, tritt aber in einem Zeitraum von vier oder fünf Jahren keine Aenderung ein, da kann man die Eisverhältnisse nicht mehr als stichhaltigen Grund ansehen. In dem Maße können sich die Verhältnisse auf dem Eismeer nicht verändert haben.
Außerdem waren wir mit dem „Jason“ zweifelsohne mehrmals in ebensolches Eis hineingekommen, wie das, was wir in früheren Jahren als gutes Eis betrachteten, ohne daß wir jetzt auch nur einen einzigen Seehund erblickt hätten. Wenn wir Seehunde fanden, so lagen sie immer weiter hinein auf dem [S. 195] dicken Eis, wurde das Eis morsch, so zogen sie sich weiter zurück, dorthin, wo das Eis fest war.
Der Unparteiische kann nicht darüber in Zweifel sein, daß die Zahl der Klappmützen ganz bedeutend abgenommen hat und zwar infolge der hartnäckigen Verfolgung, deren Gegenstand sie gewesen sind. Für mich, der ich zu zwei verschiedenen Zeitpunkten Gelegenheit gehabt hatte, das Fangterrain hier oben zu besuchen, war der Unterschied zwischen früher und jetzt sehr auffallend. Hier oben, wo ich im Jahre 1882 überall Seehunde sah, sobald wir nur ein Stück ins Eis hineinkamen, — hier war im Jahre 1888 fast keine lebende Seele mehr zu erblicken. Anfangs hielt ich diese Verringerung der Seehunde jedoch noch für bedeutend größer, als sie in Wirklichkeit war.
Am 3. Juli sollte ich jedoch anderer Ansicht werden, denn — wie später ausführlicher erzählt werden wird, — erblickte ich an dem Tage tiefer ins Eis hinein so viele Klappmützen, wie ich mich kaum entsinne jemals gesehen zu haben. Sie lagen aber auf so dicht zusammengestautem Eis, wo man früher nicht nach ihnen gesucht hatte.
Was aber ist denn der Grund, daß der Klappmützenfang jahraus, jahrein so schlecht ist? Das ist ein Räthsel, über das man wieder und wieder grübeln kann, ohne doch zu einem sicheren Resultat zu kommen. Die Auffassung, zu der ich allmählich gelangt bin, geht dahin, daß einerseits der allzu starke Fang keine unwesentliche Rolle spielt, daß es aber noch einen anderen Grund von vielleicht ebenso großer Bedeutung giebt.
Dieser Grund kann doppelter Art sein. Er kann in einer Veränderung der Natur und der Gewohnheiten zu suchen sein, die entweder auf Erziehung oder auch auf direkte, natürliche Wahl im Kampf ums Dasein zurückzuführen ist.
[S. 196]
Viele Menschen sind der Ansicht, daß sich die Thiere nicht entwickeln können, daß sie keine Erfahrungen machen und daraus ihre Schlußfolgerungen ziehen können. Zu diesen Menschen gehöre ich nicht, — ich glaube, daß die Thiere, die wilden sowie die zahmen, Augen zum Sehen und Ohren zum Hören haben, sie sammeln ihre Erfahrungen und lernen so gut wie die Menschen, wenn auch nicht in so hohem Grade. Und ein gutes Beispiel hiervon geben uns vielleicht gerade die Klappmützen in der Dänemarkstraße. In früheren Zeiten lebten die Klappmützen ein herrliches Leben hier oben auf dem Eise. Sie aßen und schliefen, hatten ihre Liebesabenteuer und vermehrten sich. Nur einen einzigen wirklichen Feind kannten die Klappmützen in jenem goldenen [S. 197] Zeitalter, nämlich den Eisbären, und auch von ihm wurden sie nicht allzu häufig heimgesucht, denn der Bär zieht sich, da er kein besonderer Schwimmer ist, gern dahin zurück, wo das Eis fester ist; aus dem Grunde pflegten sich die Klappmützen mehr am Rande des Eises in dem offenen Eis aufzuhalten. Im Sommer des Jahres 1876 aber kam eine andere Art Eisbär aus dem Meere her in die Dänemarkstraße geschwommen, und der war raubgieriger und größer. Er war der norwegische Seehundsfänger „Eisbär“, der von dem Veteranen der norwegischen Seehundsfänger, Svend Foyn , in diese Gegend entsandt war. Dieser „Eisbär“ fand hier Unmassen von Seehunden und brachte das eine Mal mehrere Tausend mit nach Hause. Seit jenem Tage hatte das ruhige ungestörte Leben der Klappmützen hier oben ein Ende. Jeden Sommer kamen Ende Mai und Anfang Juni Scharen von norwegischen Seehundsfängern hier herauf, und da die Thiere zahm und leicht zu fangen waren, nahm man gleich große Mengen mit. Ja, in den ersten Jahren waren sie so zahm (sie ahnten ja nichts Böses), daß man nicht nöthig hatte, sie zu schießen, man konnte sie auf den Eisschollen todtschlagen, ja auf verschiedenen Schiffen ließ man die Leute gar keine Flinten in die Boote mitnehmen, sondern ließ die Seehunde einfach todtschlagen. Das goldene Zeitalter für die Seehundsfänger nahm jedoch bald ein Ende. Die Klappmützen hatten bis dahin nicht geahnt, welche Gefahr ihnen von diesen Fahrzeugen mit dem Ausguck auf dem Großmast drohte, die einen ganzen Schwarm von Booten gegen sie aussandten, aber sie machten bald ihre Erfahrungen, und es währte nicht lange, bis sie scheu wurden. Jetzt mußte man sie aus weiter Entfernung schießen. Das Merkwürdige dabei war, daß nicht allein die alten, erfahrenen Seehunde scheu wurden, [S. 198] sondern auch bei den ganz jungen machte sich dies in auffallender Weise bemerkbar. Entweder müssen also die alten Seehunde ihrem Nachwuchs die gemachten Erfahrungen auf irgend eine Weise mitgetheilt haben, oder auch müssen diese ihre Erfahrungen vermittelst Erbschaft erhalten haben. Wie sich die Sache nun auch verhalten mag, so ist es doch Thatsache, daß die Klappmützen, alte wie junge, mit jedem Jahr scheuer geworden sind, — sie haben es gelernt, sich vor einem Feind in acht zu nehmen, den sie früher nicht kannten, und zwar haben sie dies in dem kurzen Zeitraum von ungefähr zehn Jahren gelernt. Ich glaube aber, daß die Weisheit der Klappmützen weitergeht. Sie haben auch die Erfahrung gemacht, daß sie gerade dort, wo sie sich früher am sichersten fühlten, nämlich am Rande des Eises — jetzt am meisten gefährdet waren; sie haben gelernt, daß, wenn sie in der Zeit des Haarwechsels, wo sie gern auf dem Eise liegen, ungestört sein wollten, sie sich auf das dichte Eis weiter hinein zurückziehen müßten. Hier sind sie freilich den Angriffen des Eisbären ausgesetzt, entgehen aber den weit schlimmeren der norwegischen Seehundsfänger.
Wie einleuchtend diese Erklärung auch erscheinen mag, so kann man sich doch nicht verhehlen, daß es auch eine andere Erklärungsweise geben kann. Geht man davon aus, daß nicht alle Seehunde von Anfang an gleich scheu sind, was unleugbar der Fall ist, dann wird die Schlußfolgerung nahe liegen, daß wenn man mit der Jagd beginnt, naturgemäß die am wenigsten Scheuen, sowohl junge wie alte Seehunde, sich zuerst tödten lassen, während die Scheueren entfliehen und sich vermehren können.
Auf diese Weise muß ja die Scheuheit sich in immer stärkerem Grad auf das Geschlecht vererben. Hierdurch erhält man eine Erklärung, [S. 199] weshalb die Klappmützen scheuer werden, nicht aber, weshalb sie sich weiter auf das Eis zurückziehen als früher. Nimmt man indessen an, daß ebenso wie es Seehunde giebt, die scheuer sind, auch solche existiren, die sich mit Vorliebe draußen in dem offenen Eis aufhalten, während sich andere gern weiter zurückziehen, — so ist es ja ganz selbstverständlich, daß diejenigen, die sich dort aufhalten, wo die Fahrzeuge am leichtesten hinkommen, zuerst fortgeschossen werden, während die anderen verschont bleiben und das Geschlecht vermehren können, das dann mehr und mehr die erbliche Gewohnheit annimmt, sich weiter zurück auf dem dichten Eis zu halten.
Welcher von den hier angeführten Erklärungsgründen die größte Wahrscheinlichkeit für sich hat, ist nicht so ganz leicht zu entscheiden. Am wahrscheinlichsten ist die Annahme, daß sie alle beide ihre Berechtigung haben, daß nämlich sowohl Erziehung und Erfahrung als auch die natürliche Wahl im Kampf ums Dasein, mit anderen Worten das Ueberleben der am glücklichsten Ausgerüsteten, die Ursache sind, daß die Klappmützen, nachdem einmal Jagd auf sie gemacht wurde, ein furchtsameres Naturell erhalten und ihre Gewohnheiten verändert haben. Daß dies wirklich der Fall ist, wird Niemand bestreiten wollen, der Gelegenheit gehabt hat, dem Fange beizuwohnen.
[30] Wenn Robert Brown behauptet, daß auch das Weibchen bei den Klappmützen eine Mütze hat, so ist dies ein vollständiger Irrthum.
[31] Die westgrönländische Klappmütze begiebt sich wahrscheinlich zum Treibeise in die Gegend von Labrador, wo im Frühling viele gefangen werden.
[32] Ein paar englische und amerikanische Schiffe versuchten den Fang, nachdem die Norweger damit begonnen hatten, ebenfalls.
[S. 200]
nser Leben an Bord des „Jason“ verging ganz angenehm, ohne große Begebenheiten und Erlebnisse. Ueber die pekuniäre Seite des Seehundsfanges, sowie die Aussichten für dessen Zukunft ließen wir uns keine grauen Haare wachsen. Mit Ausnahme vereinzelter Fälle, wo der Schuß nicht ganz so gut traf, wie er es hätte thun können, gab es nicht viel dunkle Wolken an dem Horizont unseres Daseins.
Für die meisten Theilnehmer ist dies Leben ganz neu. Es giebt viel zu sehen und zu beobachten, sowohl im Eise, wie auf dem Meer, und wenn man Jäger ist, ermangelt man der Zerstreuung nicht. Hat man keine Seehunde zu schießen, so kann man Alke schießen, denn deren giebt es genug. In ganz kurzem [S. 201] Zeitraum kann man oft mehr als fünfzig dieser Thiere erlegen, und wenn man sie nur im Fluge schießen will, ist es ein guter Sport; wenigstens habe ich es häufig erlebt, daß Leute mehr als einen Fehlschuß thun. Will man sie auf dem Wasser mit Kugeln schießen, so ist auch das ein angenehmer Sport.
Der Hauptsport hier oben ist und bleibt jedoch die Seehundsjagd. Es ist eine ganz vorzügliche Uebung, die in ungewöhnlichem Maße dazu angethan ist, zum ruhigen und kaltblütigen Büchsenschützen auszubilden. In der Regel ist freilich der Abstand nicht sonderlich groß, — er beträgt gewöhnlich zwischen hundert und hundertundfünfzig Ellen, — aber das Ziel, auf das man schießt, ist nur klein. Es handelt sich [S. 202] nämlich darum, den Seehund in den Kopf oder zur Noth in den Hals zu treffen; trifft man ihn in den Körper, so springt er ins Wasser. Zuweilen, wenn die Seehunde scheu sind, kann die Entfernung eine ganz beträchtliche sein. Bedenkt man ferner, daß man von einem Boot aus schießen muß, das in Bewegung ist, und daß die Beleuchtung hier oben über dem glitzernden schneebedeckten Eise oft sehr störend wirkt, so wird man verstehen können, daß nicht so ganz wenig dazu gehört, um ein guter Seehundschütze zu werden. In der That giebt es deren auch nur sehr wenige. Ich habe Leute gesehen, die ihre Büchse vorzüglich zu führen wußten, wo es ein festes Ziel galt, die aber trotzdem, sobald es sich um Seehunde handelte, regelmäßig vorbeischossen. Die Seehundjagd ist auch nicht ohne Abwechselung, und ist man in der glücklichen Lage, Schütze eines Bootes zu sein, und sich einem guten Fang gegenüber zu befinden, glaube ich mit Bestimmtheit sagen zu können, daß die Meisten gleich mir die Augenblicke, die man hier oben in seinem kleinen Fahrzeug verbringt, dessen Schütze, Anführer und Alleinherrscher man ist, — zu den schönsten ihres Lebens zählen werden. Man ist von der herrlichsten, aus Eis, Himmel und Meer bestehenden Natur umgeben. Rings umher auf den Eisschollen liegen die Seehunde, und ihr Anblick läßt das Jägerblut schneller durch die Adern der meisten Menschen rollen, — oft vielleicht ohne daß sie es wissen. Das Auge wird geschärft, alle Kräfte werden angespannt und gleichsam auf das Gesicht und die Arme konzentrirt, die die Büchse und die Ruder führen sollen; der Sinn ist von dem einen Gedanken beseelt, Seehunde zu fangen und das Boot durch das Eis zu schaffen, so daß man so viele Thiere wie möglich fangen kann.
Möglicherweise tritt in einem solchen Augenblick die wilde [S. 203] Natur des Menschen in den Vordergrund. Es ist das Erbtheil unserer nomadischen, von Jagd und Fischfang lebenden Vorfahren; sei dem, wie ihm wolle, eins steht fest, es ist dies ein herrliches, freies Leben, das Geist und Körper erquickt.
Wenn wir aber nicht auf Jagd gehen können und uns an Meer, Himmel und Eis müde gesehen haben, so müssen wir uns irgend eine Abwechselung suchen, denn wie schön dies alles auch ist, und wie sehr man sich auch von Kindheit an die Ueberzeugung von der großartigen Schönheit des mächtigen, rollenden, stets wechselvollen Meeres eingeprägt, so läßt es sich doch nicht leugnen, daß man, wenn man es Wochen und Monate angestaunt hat, schließlich entdeckt, daß es doch ein wenig einförmig ist und man sich nach ein wenig Abwechselung sehnt.
Eine unserer größten Vergnügungen, die stets allgemeine Heiterkeit erregte, war das Lassowerfen. Von dem Bootsmann bekamen wir, wenn wir recht freundlich baten, eine dünne Leine, die ungefähr 10 bis 12 Klafter lang war. An dem Ende dieser Leine brachten wir eine Schlinge an und damit war unser Lasso fertig. Die Lappen waren natürlich Meister in der Benützung dieser Fangschnur, und von ihnen lernten wir es, — sie bedienen sich derselben ja täglich, um ihre Rennthiere einzufangen. Besonders der alte Ravna hatte es bis zu einer erstaunlichen Fertigkeit gebracht. Es war ein stolzer Anblick, ihn mit einer sicheren Miene, die keinen Zweifel an seinem Erfolg aufkommen ließ, die Leine in der rechten Hand aufrollen zu sehen. Dann beugte er den Kopf ein wenig vornüber, heftete das Auge scharf auf das unglückliche Opfer, machte ein paar Schritte über das Deck hin, leicht und geschmeidig wie eine Katze, dann eine schnelle Bewegung mit dem gespannten rechten Arm, — und blitzschnell rollt sich die Leine ab, und nie ihr Ziel verfehlend, fällt die [S. 204] Schnur um den Kopf der Beute, die, mit Armen und Beinen fechtend, sich von der beengenden Umarmung zu befreien sucht.
Balto ist als festansässiger Lappe natürlich weniger geübt in dem Gebrauch des Lassos, sein Stolz will dies aber nicht einräumen und es giebt stets Veranlassung zu großer Heiterkeit, wenn Einer von uns ihm die Schnur mit der Bemerkung fortnimmt, daß man sich besser darauf verstehe als er; trifft es sich dann gar, daß man ihn wirklich überwindet, so ist seine erstaunte und verdrießliche Miene ganz unbezahlbar.
Mancherlei Spiele und Kraftproben werden auch an Bord betrieben. Mit besonderer Leidenschaft betrieben wir ein Spiel, das darin bestand, Figuren und Vierecke auf das Deck zu zeichnen, welche letztere verschiedene Werthe repräsentiren und in welche man aus einer gewissen Entfernung mit flachgeschlagenen Bleistücken werfen muß, ohne jedoch eine Figur, den sogenannten „Narrenkopf“, zu berühren; geschieht dies doch, so büßt man alles ein, was man durch die anderen Würfe gewonnen hat. Oft bei gutem, stillem Wetter konnte man mehrere Partien dies Spiel auf verschiedenen Theilen des Deckes betreiben sehen. Der Einsatz war gewöhnlich ein Stück Kautabak.
Hatte dies Spiel seine Anziehungskraft verloren, so zogen wir uns wohl hinten in die Kajüte zurück und nahmen unsere Zuflucht zum Kartenspiel, und obwohl Einige von uns gar kein Interesse am Kartenspiel hatten, konnten wir doch oft den ganzen Nachmittag bis spät in die Nacht hinein spielen, — ja oft begannen wir sogar schon am Vormittage. Hauptsächlich spielten wir Whist; doch auch Treffknecht u. dergl.
Wir hatten nur ein einziges Spiel Karten, und das war zu Ende der Reise so schmutzig, daß man kaum unterscheiden konnte, woraus die Karten bestanden, aus Schmutz oder aus [S. 205] Papier. Wenn wir, was das gewöhnliche war, bis Mitternacht aufsaßen, da mußten wir um die Zeit der Hundewache nothwendigerweise etwas genießen. Dieser nächtliche Imbiß bestand entweder aus Kaffee oder „Dänge“, besonders das letztere Gericht, das aus aufgeweichtem, in Zucker und Butter gebräuntem Brot bestand, war sehr beliebt.
Um diese Zeit erhielt auch die Mannschaft Kaffee, und man konnte dann Nacht für Nacht den schönen Anblick genießen, Balto schlaftrunken und in äußerst leichter Toilette die Treppe, die zu seinem Schlafraum führte, heraufkommen zu sehen, um sich zu den Leuten zu begeben und seinen mitternächtlichen Kaffee zu holen. Als Lappe war er so versessen auf Kaffee, daß er unmöglich eine Gelegenheit vorübergehen lassen konnte, dies herrliche Getränk zu genießen, selbst wenn er schon längst in seine Koje gegangen war.
Lektüre war nur sehr wenig an Bord. Ich hatte nicht auf einen so langen Aufenthalt auf dem Schiffe gerechnet und deshalb für keine Reisebibliothek gesorgt. Dank einem Freunde der Expedition, Herrn Buchhändler Cammermeyer in Kristiania, waren wir doch mit einigen Büchern versehen. Diese waren indessen bald gelesen, und jetzt entstand ein geistiger Heißhunger an Bord, der geradezu bedrückend war. Man machte Jagd auf alles mögliche, selbst die schlechtesten Räuberromane und Indianererzählungen, die man bei der Mannschaft auftreiben konnte, wurden mit Begier verschlungen. Es waren solche wie „Der blutige Handschuh im Thale“, „Der rothe Hauptmann“, „Die schwarze Schlange“ u. dergl. Zuweilen unternahmen wir einen Kaperzug an Bord der anderen Fahrzeuge.
Eine Einladung an Bord der anderen Fahrzeuge war eine sehr willkommene Abwechselung, ebenso ein Besuch der fremden [S. 206] Kapitäne an Bord des „Jason“. Ein eigenartiges, ganz sommerliches Bild gewährte es zuweilen, diese Eismeerschiffer sich im Sonnenschein auf Deck gruppiren zu sehen. Da saßen sie und tranken ihren Kaffee oder Wein, rauchten ihre Pfeifen oder Cigarren und starrten auf das Meer hinaus oder auf die weißen Eisschollen, die im Sonnenschein schaukelnd dalagen, während die Zeit unter Lachen und Schwatzen schnell verstrich.
Zuweilen probirte man seine Schießkunst auch an den auf dem Wasser schwimmenden Eisstücken aus, und manch guter Schuß wurde da ausgeführt.
Der einzige, der sich nicht recht wohl an Bord zu fühlen schien, war unser alter Freund Ole Nielsen Ravna , der ältere der beiden Lappen. Er war daran gewöhnt, mit seinen Rennthierscharen auf den Hochebenen umherzustreifen, und das Leben an Bord auf dem engen, schaukelnden Schiff gefiel ihm nicht. Er sehnte sich danach, wieder Land unter den Füßen zu haben. Balto dagegen scheint sich völlig dem Seeleben acclimatisirt zu haben. Mit seinem munteren, aufgeweckten Sinne stets bereit, irgend einen Narrenstreich auszuführen, war er bald der Liebling der ganzen Besatzung geworden. Glücklicherweise war jetzt auch sein rechtes Knie wieder vollständig geheilt.
Das Pferd, das wir von Island mitgebracht hatten, war der allgemeine Liebling. Dies hatte indessen die unangenehme Folge, daß dem Thier trotz des strengsten Verbots mehr Futter gebracht wurde, als wir verantworten konnten, und eines Tages entdeckte ich zu meinem Schrecken, daß der größte Theil des Heues verbraucht war. Von nun an war das Pferd eine Quelle steter Sorge. Es mußte an allen Ecken und Kanten mit dem Futter gespart werden, und wir zerbrachen uns den Kopf, um ein Futtermittel zu finden. Wir gaben ihm rohes Seehundsfleisch, [S. 207] eine Weile fraß es das, dann war es aus damit. Wir versuchten es mit gedörrtem Fleisch, — es ging genau ebenso. Nun gaben wir ihm Alke, die mochte es im Anfang gern. Dann sammelten wir Tang, wovon eine Menge in der See trieb, — eine gewisse Tangart fraß es auch gern. So hielten wir es eine Weile hin. Es gedieh anscheinend ganz gut und wurde ein tüchtiger Seemann.
Der 9. Juli wurde indessen ein Tag der Trauer für die Expedition. Da hatten wir nichts mehr, was es fressen wollte, und wir mußten es erschießen. Es war, als verlören wir einen Freund. Der letzte Dienst, den es uns leistete, war, daß es uns ein gutes Beefsteak lieferte, und eine der Keulen nahmen wir später mit uns ins Boot, nachdem wir den „Jason“ verließen, um an der Ostküste zu landen.
Wie rein die Luft hier oben ist, ersieht man daraus, daß ein solches Stück Fleisch eine lange Zeit im Takelwerk hängen kann, ohne zu verderben. Hier giebt es keine Bacillen, und infolgedessen kann kein Verwesungsprozeß vor sich gehen, wenn er nicht durch den Schmutz an Bord, der von Hause mitgebracht ist, herbeigeführt wird.
Das Vorurtheil der Leute, gewisse Dinge zu essen, ist oft geradezu lächerlich. Davon erhielt ich bei dieser Gelegenheit einen guten Beweis. Als das Pferd erschossen und nach allen Regeln der Schlachtkunst zerlegt war, kam „Jank“ — wie er an Bord genannt wurde — ein norwegischer Amerikaner, und fragte, ob er etwas Fleisch bekommen könne. Er erhielt soviel er haben wollte und war sehr froh darüber. Er schnitt sich gleich einige Stücke ab, die er roh verzehrte, aber das Entsetzen und der Unwille, den diese ebenso unschuldige als natürliche Handlungsweise erregte, war geradezu lächerlich. Da viel [S. 208] mehr Fleisch vorhanden war, als die Expedition verwerthen konnte, bot ich den Leuten davon an, aber nicht ein einziger wollte es haben, weil es Pferdefleisch war. Später kam indessen einer von ihnen und fragte, ob er das Fleisch bekommen könne, was übrig bliebe, dann wolle er es einsalzen. Ich freute mich, doch einen vernünftigen Menschen zu finden, und fragte ihn, ob er nicht gleich etwas davon haben wolle, um es frisch zu essen, da sei es ja viel wohlschmeckender. Er erwiderte, das sei ja möglich, aber ich solle nur nicht glauben, daß er die Absicht habe, das Pferdefleisch als Menschennahrung zu verwenden, — nein, er wolle es als Schweinefutter gebrauchen.
Man ist oft wirklich nahe daran zu verzweifeln, wenn man sieht, wie dumm und halsstarrig die Menschen sein können. Hier befinden sich diese Leute an Bord eines Seehundsfängers, essen gesalzenes Fleisch und klagen über Druck vor der Brust, wie sie es nennen, d. h. sie haben Verdauungsbeschwerden infolge einer schlechten Ernährung, und lassen dabei täglich Unmassen von frischem Seehundsfleisch auf dem Eise liegen, das an der Küste von Grönland eine ganze Gemeinde beglücken würde. Es ist aber eine Unmöglichkeit, die Leute dazu zu bewegen, es zu essen, sie sterben lieber Hungers, als daß sie solche „unreinlichen“ Speisen essen. Ich vergesse ihr Entsetzen nicht, als ich einmal das Blut eines eben geschossenen Seehundes auffing und den Steward Schwarzsauer daraus machen ließ. Es hielt schwer, Jemanden zum probiren zu bewegen. Diejenigen, welche es schließlich thaten, mußten einräumen, daß es ganz vorzüglich schmeckte, und doch konnten sie nichts davon herunterbringen, weil sie wußten, daß es aus Seehundsblut bereitet war. Dafür aßen mehrere von den Mitgliedern der Expedition desto mehr davon, ja, es geschah einmal, daß Einer von uns, nachdem er sein gewöhnliches [S. 209] Abendbrot verzehrt hatte, wovon er eigentlich satt werden sollte, noch 18 — sage achtzehn! — Blutpfannkuchen aß. Da konnte freilich von keinem Vorurtheil die Rede sein!
In gewisser Hinsicht hatte ich an Bord mehr zu thun als mir eigentlich lieb war, — nämlich als Arzt. Der Grund hierzu war der unselige Umstand, daß sie mich „Doktor“ nannten, denn Doktor und Arzt ist ja für gewöhnliche Menschen dasselbe. Und natürlich waren sie jetzt, wo sie so leicht eines Doktors habhaft werden konnten, sämtlich krank. Ich behandelte nicht allein die 64 Mann des „Jason“, sondern auch von den anderen Fahrzeugen ringsumher kamen sie zu uns an Bord, um den Doktor zu konsultiren, der einen solchen Ruf hatte. Der Versuch, diesen Leuten klar zu machen, daß ein Doktor und ein Arzt nicht immer dasselbe ist, würde völlig zwecklos gewesen sein. Doktor war ich, und Doktor mußte ich sein, und wenn ich kein Doktor für sie sein wollte, so war es nur böser Wille. Hier war nichts zu thun, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und außerdem ist ja zu allen Zeiten soviel Humbug in der Heilwissenschaft betrieben, daß es ihrem Ansehen wohl kaum sonderlich schaden konnte, wenn ich ihr ein wenig ins Handwerk pfuschte, und außerdem heißt es ja so oft und sicher mit Recht, daß der wichtigste Einfluß, den ein Arzt auf seine Patienten besitzt, durch das Vertrauen bedingt ist, das seine Persönlichkeit erweckt, — und daran schien es in diesem Falle nicht zu fehlen. Es handelte sich nur darum, dies Vertrauen zu benutzen, eine ernste, wichtige Miene aufzusetzen und unverzagt ans Werk zu gehen.
Das Gewöhnlichste war, daß sie über Schmerzen „vor der Brust“ klagten und sich dabei den Magen hielten. Ob sie nicht auch eine Schwere im Kopfe fühlten? Ach ja, ganz frei davon wären sie [S. 210] nicht. Ob sie nicht eine schlechte Verdauung hätten und an Verstopfung litten? Ja, das käme wohl vor. Nun gut, das Unwohlsein wäre eine Folge der Lebensweise an Bord, sie führten ein viel zu faules Leben und äßen zu viel. Sie sollten dies unterlassen, sollten weniger essen und am besten frisches Fleisch, z. B. Seehundsfleisch, sie sollten sich mehr in der frischen Luft oben auf dem Deck bewegen, sich ein wenig mehr Bewegung verschaffen. Wenn das alles nicht helfen wollte, müßten sie wiederkommen, dann wollte ich ihnen eine Dosis englisches Salz oder Ricinusöl geben. Ich hörte nie wieder von ihnen.
Andere kamen und klagten, daß sie so entsetzliche Kopfschmerzen hätten, und daß sie zuweilen tiefe Schwermuth beschleiche. Dann fragte ich sie, wie es mit ihrem Magen stände, ob sie nicht an Verstopfung litten. Ja, mit der Verdauung wäre es nur schlecht bestellt. — Das sei ja ganz natürlich, bei dem faulen Leben und dem vielen Essen; mehr Arbeit und weniger Essen würde eine gute Wirkung haben, und im übrigen lautete das Rezept genau so wie oben . Zuweilen verordnete ich auch Magenmassage, — und sehe die Burschen noch vor mir, wie sie in ihren Kojen lagen und sich ihren Magen bearbeiteten.
Eines Tages kam ein Matrose von einem der anderen Fahrzeuge mit großer Beschwerde an Bord. Eine hektische Röthe, wie sie Schwindsüchtigen eigen ist, färbte seine Wangen. Er klagte über Lungenleiden. Es unterlag keinem Zweifel, er war schwindsüchtig. Ich konnte nichts machen, der Fall war hoffnungslos. Das einzige, was er thun konnte, war, so fett wie möglich zu leben. Er solle Speck essen und Thran trinken, das war der ganze Trost, den ich ihm geben konnte. Er hatte auch in der letzten Zeit Thran getrunken, aber das war Bottlenose-Thran, und der bekam ihm nicht. Der arme Kerl! Dieser Bottlenose-Thran [S. 211] hat einen starken Einfluß auf den Magen, indem er Diarrhoe verursacht, und damit hatte sich der Aermste in der letzten Zeit abgeplagt! Das verringerte das Uebel natürlich nicht.
Ein wenig Nutzen konnte ich doch schaffen, nämlich bei Behandlung von Wunden. Diese wurden im allgemeinen ganz unverantwortlich behandelt und verursachten oft schlimme Geschwülste. Erst wenn es ganz schlimm damit aussah, kamen sie, um sich Rath zu holen. Dann erhielten sie vor allen Dingen eine tüchtige Moralpredigt für ihre Unreinlichkeit, darauf wurde die Wunde von wochenaltem Schmutz gereinigt und mit antiseptischen Mitteln behandelt. In der Regel erholten sie sich dann bald. Einen ziemlich ernsten Fall hatten wir indes an Bord.
Eines Tages kam ein Mann von unserer Schiffsbesatzung und klagte, daß er sich durch und durch elend fühle. Er habe Schmerzen in allen Gliedern und Gelenken. Ich fragte ihn, wo er die meisten Schmerzen fühle, und er antwortete: im Rücken. Aergerlich über alle diese Menschen, die bald hier, bald da Schmerzen hatten, antwortete ich ihm, es würde wohl Rheumatismus sein, und dagegen sei nicht viel zu machen. Er solle sich warm anziehen und sich dem Wind nicht mehr aussetzen, als es geradezu nöthig sei. Ein paar Tage später aber kam der Mann wieder und sagte, nun müsse ich wirklich etwas für ihn thun, er könne es nicht mehr aushalten vor Schmerzen. Es habe sich auf den rechten Arm geschlagen, und der sei ganz geschwollen. Ich faßte sofort Verdacht und fragte ihn, ob er nicht eine Wunde an der rechten Hand gehabt hätte; er verneinte das jedoch. Das kam mir merkwürdig vor, da ich an dem einen Finger einen Lappen erblickte; ich fragte ihn also, was das zu bedeuten habe. Ach, das sei nichts — erwiderte er —, er habe sich vor einigen Tagen etwas Haut von dem einen Knöchel abgeschürft. [S. 212] Ich fragte, ob er ihm nicht ein wenig geschmerzt hätte? Ja, das könne wohl sein, meinte er. Ich erklärte ihm darauf, daß diese kleine Wunde die Veranlassung zu dem schlimmen Arm sei, und daß er selber die Schuld trage. Er sollte jetzt den Finger ordentlich waschen und den Arm entblößen, dann wollte ich kommen und ihn mir ansehen. Es stellte sich denn auch wirklich heraus, daß es eine stark entwickelte Blutvergiftung war. Der Arm war über dem Ellenbogen nicht unbedeutend geschwollen. Vorläufig konnte ich jedoch nichts thun, als den Arm in eine Binde legen und ihm strengste Ruhe einschärfen. Aber es verschlimmerte sich von Tag zu Tag. Der Arm schwoll auf und die Schmerzen nahmen zu; er mußte in seiner Koje bleiben. Zur Linderung der Schmerzen bekam er nasse Umschläge um den Arm. Er hatte heftiges Fieber und konnte wenig oder nichts genießen. Zuletzt hatte der Arm den Umfang eines gewöhnlichen Mannesschenkels. Nun war es an der Zeit, einen Schnitt zu machen; aber ich kann nicht leugnen, daß ich mich nur sehr ungern dazu entschloß. Alle meinten, er müsse sterben, und ich könne ihn mit der Operation verschonen. Ich war mehrmals täglich bei ihm. Nie werde ich diese Scene vergessen, — eine Mannschaftskajüte, in welcher sich ungefähr 60 Mann befinden, die alle durcheinander schreien und lärmen und allerlei Späße treiben, — nein, das ist keine gute Krankenstube. Hier lag der Kranke in einer engen, eingeschlossenen Koje, stöhnend und sich in seinen Schmerzen windend, so daß der ganze Raum von seinem Jammergeschrei wiederhallte. Dunkel und niedrig war es hier, ringsumher standen Schiffskisten, überall lag oder hing das Arbeitszeug der Leute, der Fußboden war glatt und schmutzig, und die Luft schlecht und beklommen. Von Zeit zu Zeit prallte das Schiff gegen das Eis an und erbebte in seinen Fugen. [S. 213] Der Kranke wurde von der einen Seite der Koje auf die andere geworfen, es durchzuckte ihn jedesmal schmerzhaft, und sein Schrei klang noch herzzerreißender als sonst.
In einer solchen Umgebung mußte ich die Operation vornehmen, — sie konnte nicht länger hinausgeschoben werden. Ein Federmesser, das auf einem rauhen, groben Schleifstein gewetzt wurde, war das einzige passende Instrument, was aufzutreiben war. Bei dem flackernden Schein einer kleinen elenden Laterne sollte die Operation vor sich gehen, aber es war eine ganz schwierige Sache, Jemanden zu finden, der mir die Laterne halten wollte; — Niemand wollte zusehen. Endlich waren jedoch alle Vorbereitungen getroffen. Der Stahl drang ins Fleisch und wurde vorwärts bewegt, um einen langen Schnitt zu bilden. Der Kranke schrie außer sich vor Schmerzen, ob ich ihn denn tödten wolle! — Dann kamen ein paar Tropfen Blut und nun floß der weiße Eiter in dicken Strömen aus der Wunde. Es war für Den, der zusah, gleichsam eine Erleichterung. Der Kranke aber lag stöhnend, halb betäubt da, nach wenigen Minuten begann er zu phantasiren. Er hatte das Bewußtsein verloren.
Während mehrerer Tage phantasirte er zeitweilig. Die Leute fürchteten sich fast, bei ihm in der Kajüte zu sein, sie glaubten, er läge im Sterben. Gleichzeitig war ein Anderer von der Schiffsbesatzung wahnsinnig geworden, — vor ihm fürchteten sie sich noch mehr. Viel kann man wohl im Grunde nicht dazu sagen. In einer engen Kajüte einen Kameraden zu haben, der wahnsinnig ist und einen zweiten, der in Fieberphantasien rast, das ist nicht gerade gemüthlich.
Noch einmal mußte ich meinen Patienten schneiden. Der Eiter, der ihm abging, hätte nach Litern bemessen werden können. Es zog sich mit ihm in die Länge, denn er war sehr entkräftet, [S. 214] als ich aber das Schiff im Juli an der Ostküste von Grönland verließ, hatte ich doch die Freude, ihn wieder außerhalb seiner Koje zu sehen. Seinen dankbaren Blick, als wir uns trennten, werde ich niemals vergessen.
Eine Wiedergabe meiner Tagebuchnotizen aus jener Zeit würde höchstens für die Eismeerfahrer von Interesse sein, denn sie drehen sich im wesentlichen nur darum, wie wir am Eise entlang und dann wieder aus demselben herausfuhren, wie das Eis bald dünn, bald dick war, wie wir bald mehr, bald weniger Seehunde auf dem Eise sahen und zuweilen sogar große Scharen weiter hinein in dem dichten Eis erblickten, — wie wir uns mit den anderen Fahrzeugen um die Wette durch das Eis arbeiteten, auf ganze Scharen von Seehunden zusteuernd, die jedoch im Wasser verschwanden, sobald wir in ihre Nähe kamen, etc. etc.
Am 28. Juni waren wir weit in das Eis hineingelangt und befanden uns ungefähr auf dem 66° 24′ N. B. und dem 29° 45′ W. L. Hier erblickten wir in nördlicher Richtung Land (N.-O. ¼ O nach dem Abweichungskompaß); besonders deutlich traten zwei Felsspitzen hervor. Ihre wirkliche Form konnte man indessen nicht sehen, da sie bei der diesen Eisfeldern eigenen Täuschung, welche durch die Strahlenbrechung in den verschiedenen warmen und kalten Luftschichten über dem Eise hervorgerufen wird, stark verändert waren und den quer abgeschnittenen Zacken einer mit Schießlöchern versehenen Mauerkante glichen. Es müssen die Felsspitzen an der Blosseville-Küste sein, aber sie lagen westlicher als die auf der Karte angegebenen Berge.
Ich sprach später mit Kapitän Iversen auf dem „Staerkodder“, der weiter nördlich in das Eis vorgedrungen war als wir. Er konnte dort ganz deutlich Land erkennen. Es sei ein [S. 215] äußerst gebirgiges Land, — sagte er — nicht flach wie weiter nach Süden zu an der Küste, wo er im Jahre 1884 gewesen war (das war wahrscheinlich etwas nördlich vom 67° N. B.). Diese Angaben stimmen auch mit den Berichten überein, die Kapitän Holm in Angmagsalik von den Eskimos erhielt, und wonach er seine Skizze von der nördlichen Ostküste entwarf. Diese Küste gehört, wie wir wissen, zu den unbekanntesten Theilen unseres Erdballes.
Am Abend des 28. Juni erblickten wir sehr viele Seehunde tiefer ins Eis hinein. Wir sahen sie nun täglich während längerer Zeit, ohne zu ihnen hingelangen zu können. Am 3. Juli kamen wir endlich weit ins Eis hinein, wo viele Seehunde waren, das Eis lag aber so dicht zusammengestaut, daß [S. 216] es nicht möglich war, die Böte hindurch zu bekommen, und daher konnte kein Fang vor sich gehen. In der Nacht, wenn die Sonne den Horizont erreicht, hat man einen weiten und scharfen Blick über die Schneeflächen hier oben. Ich stieg in die Ausgucktonne, um die Seehunde zu sehen. Ich hielt das Fernrohr vors Auge und richtete es auf das Eis, und nun erblickte ich, wie bereits früher erwähnt, solche Unmassen von Seehunden, wie ich nie früher auf einem Fleck versammelt sah. Sie lagen — wie der Steuermann sich ausdrückte — so dicht wie Kaffeebohnen über das Eis gestreut. Wohin der Blick auch schweifen mochte, überall hier auf dem Eise, von Nordosten bis Nordwesten, lagen die Seehunde dicht wie Sand bis an den Horizont hin und wahrscheinlich noch länger. Je weiter der Blick reichte, desto dichter schien die Schar zu werden.
Am nächsten Tag hatten wir Nebel und noch dichteres Eis. Auch die See war bewegt. Am Nachmittage verließen wir das Eis wieder.
Am 11. Juli machte sich eine starke Bewegung im Eise bemerkbar. Wir waren in heftige Strömungen gerathen. Einige von uns, darunter ich, saßen in der Messe, als der „Jason“ plötzlich von einer Eisscholle einen solchen Stoß gegen den Bug bekommt, daß er sich hinten über bäumt. Wir springen auf und erblicken nun quer vor dem Schiffe eine zweite große Eisscholle, die mit sausender Fahrt gerade auf „Jasons“ Hintertheil lossteuert. Und wirklich, sie prallt dagegen, das ganze Schiff erbebt und neigt sich auf die Seite, ein Krach ertönt, das Steuer war gebrochen, aber glücklicherweise geschah nichts Schlimmeres. Hätten wir die Eisscholle gegen die Seite bekommen, so hätte es schlimm um uns gestanden, denn die Seiten sind der schwache Punkt der Seehundsfänger.
[S. 217]
Der nächste Tag verging damit, das Reservesteuer, das man immer mitführt, einzusetzen. Damit war der Schaden kurirt.
Wir waren inzwischen so weit in den Sommer hineingekommen, daß nur wenig Aussicht vorhanden war, mehr Seehunde zu fangen. Am 13. Juli wurde deshalb zur allgemeinen Befriedigung der Entschluß gefaßt, aus dem Eise herauszugehen und den Kurs westwärts auf Grönland zu zu nehmen.
An jenem und dem darauf folgenden Tage wurden jedoch noch einige Seehunde gefangen, denen wir draußen am Rande des Eises begegneten. Alles in allem fingen wir ungefähr 100 Stück.
In der Nacht zwischen dem 14. und 15. Juli hatte der Steuermann Land gesehen, ebenso am Morgen, und zwar meinte er, es sei gar nicht so weit entfernt. Am Vormittag war es jedoch nebelig, und wir können nicht beurtheilen, wie nahe wir sind.
Unsere Bagage wird auf Deck getragen und alles zur Abreise bereit gehalten. Korrespondenzen, Briefe etc. werden geschrieben.
[S. 218]
Als ich gegen Mittag unten sitze und Briefe nach Europa schreibe, ertönt oben auf Deck das Zauberwort „Land!“ Ich springe auf. Welch ein Anblick! Vor mir unter der Nebelwölbung lag das sonnenbeschienene Grönland. Es war wiederum das Land bei Ingolfsberg.
Wir mochten ungefähr 8 Meilen vom Lande entfernt sein. Da wir vor uns Eis erblickten, nahmen wir einen südlicheren Kurs, indem wir uns der Küste mehr und mehr näherten.
Auf dem Wege nach Süden zu kamen wir an mehreren mächtigen Eisbergen vorüber. Auf einigen derselben erblickten wir einzelne Blöcke. Wenn man dieser Kolosse von weitem ansichtig wird, so sehen sie aus wie ganze Strecken Landes und es kam mehrmals vor, daß wir sie für Inseln hielten, die vor uns lägen. Weiter südlich von Kap Dan standen besonders viele dieser Eisriesen auf Grund.
Von dem Ans-Land-gehen wurde jedoch weder an diesem noch an den folgenden Tagen etwas; der Eisgürtel war zwischen 4 und 5 Meilen breit — da war es besser, die Verhältnisse weiter südwärts zu untersuchen.
Am 16. passirten wir Kap Dan, das mit seiner runden Kuppelform leicht zu erkennen war. Das Eis lag noch in ziemlicher Entfernung vom Lande ab, der Eisgürtel war noch ungefähr 4 Meilen breit. Weiter nach Westen zu hatte es jedoch, nach der blauen Luft über dem Eise zu urtheilen, den Anschein, als wenn eine Bucht tief in das Land hineinschneide. Wir setzten unsere Hoffnung darauf, steuerten in der Richtung und kamen im Laufe der Nacht auch wirklich in diese Bucht hinein.
Als ich am Morgen des 17. an Deck kam, sah ich ganz deutlich, daß die Landung an diesem Tage versucht werden müsse. Eine Tour in die Tonne hinauf konnte mich hierin [S. 219] nur bestärken. Die den Sermilikfjord umgebenden Felsen lagen verlockend vor mir. Weiter westwärts konnte man das Inlandseis, — das Ziel unserer Sehnsucht — erblicken, gleich einer unermeßlichen weißen Fläche wölbte es sich dort drüben.
Es konnte nicht viel über 2½ Meilen bis zum Lande sein. Die erste Strecke des Eises erschien einigermaßen passirbar, tiefer hinein war es anscheinend freilich dichter zusammengestaut, aber ich konnte doch hie und da einige kleinere offene Stellen erblicken, und außerdem schien mir das Eis nicht von der schlimmsten Art zu sein. Es waren viele kleine Schollen darunter, die freilich das Fortkommen erschweren, wenn man die Boote über das Eis ziehen soll; will man aber mit den Booten auf dem Wasserwege vordringen, so ist es weit besser, mit den kleinen Schollen zu thun zu haben als mit den großen, die sich nur schwer vom Fleck bewegen lassen. Von der Tonne aus konnte ich eine Luftspiegelung von offenem Wasser auf der Innenseite des Eises, zwischen diesem und dem Lande erblicken. Deswegen würde man wahrscheinlich, wenn man durch das Herz des Eisgürtels hindurchgedrungen war, abermals nach dem offenen Wasser auf der Innenseite zu weicheres Eis finden.
Für ein Fahrzeug wie der „Jason“ würde es zweifelsohne ein Leichtes gewesen sein, sich durch diese Kleinigkeit von Eis eine Bahn zu brechen; wie oft waren wir nicht schon durch weit stärkeres Eis vorgedrungen, — aber damals handelte es sich um Seehunde, um das eigene Interesse des Schiffes, hier stellte sich das Verhältniß anders. Hätte das Schiff mir gehört, würde ich mich keinen Augenblick besonnen haben, es durch das Eis zu führen, aber nun waren wir Gäste an Bord und das Schiff war nicht auf ein Anlaufen von Grönland versichert. Die Strömungs- und Tiefenverhältnisse in diesem Fahrwasser waren noch unbekannt. [S. 220] Verlor das Schiff seine Schraube im Eise, so war es aller Wahrscheinlichkeit nach rettungslos verloren, da dieselbe durch keine neue ersetzt werden konnte, und das Schlimmste war, daß wenn das Schiff hier verlassen werden sollte, es schwierig für die 64 Mann, aus denen die Besatzung bestand, sein würde, sich mit dem wenigen Proviant, den wir an Bord hatten zu behelfen, bis sie an bewohnte Stätten kamen. Da ich nun außerdem der Ansicht war, daß wir uns mit Leichtigkeit selber durchhelfen würden, so fiel es mir keinen Augenblick ein, den Kapitän zu ersuchen, uns weiter als bis an den Rand des Eises zu führen, so gab ich denn den Befehl, unsere Habseligkeiten in die Böte zu schaffen und diese klar zu machen.
Wie bereits erwähnt, hatte die Expedition ein eigens zu diesem Zweck in Kristiania angefertigtes Boot mitgebracht, da dies aber allein durch die recht umfangreiche Ausrüstung der Expedition so ziemlich belastet werden würde, nahm ich mit Dank das freundliche Anerbieten des Kapitäns an, uns eins von Jasons kleinsten Fangböten zu überlassen. Die beiden Böte wurden heruntergelassen und neben das Schiff gelegt, und nun entstand ein reges Leben und Treiben an Bord; wir öffneten unsere sämtlichen Kisten und packten den Inhalt in die Böte. Es ist schwer zu sagen, wer bei der Hülfeleistung am eifrigsten war, — die Mitglieder der Expedition oder die Schiffsmannschaft.
Wir legten die letzte Hand an unsere Korrespondenzen, an die Briefe in die Heimath etc. etc. Und wer einen Freund oder eine Freundin hatte, denen er ein letztes Lebewohl zu sagen wünschte, der that das jetzt, — man konnte ja nicht wissen, was die Zukunft uns bringen würde. Die Stimmung unter den Mitgliedern der Expedition schien indessen eine sehr heitere zu sein; man hatte von dieser kleinen Schar keineswegs den Eindruck, [S. 221] als bereite sie sich zu einem ernsten Strauß vor. Nach sechswöchentlichem Warten und Sehnen sollte nun endlich die Erlösungsstunde schlagen. Wir hatten ein erhebendes Gefühl, als begeben wir uns zu einem Tanz, wo wir die Geliebte treffen sollten. Nun ja, es wurde ja auch ein Tanz, wenngleich nicht auf so vielen Rosen, wie wir erwartet hatten, und die Auserwählte ließ gar lange auf sich warten.
An das norwegische „Morgenblatt“ schrieb ich vor unserer Abfahrt in aller Eile folgenden Brief:
An Bord des „Jason“, den 17. Juli 1888.
Am 15. wurde nichts aus der Landung, ebensowenig gestern. Zwischen uns und dem Lande lag ein 4-5 Meilen breiter Eisgürtel. Derselbe bestand zwar theilweise aus offenem Eise, durch das wir hindurchrudern konnten, aber wir wünschten weiter nach Westen zu am Kap Dan vorbei in der Gegend von Inigsalik westlich vom Sermilikfjord zu landen, wo die Küste weniger zerklüftet ist als im Osten. Das Land nördlich vom Kap Dan ist nämlich die wildeste, zerrissenste Felsgegend, die ich jemals gesehen habe, — die wildesten norwegischen Felspartien, ja selbst die Alpen können sich, was phantastische, himmelanstrebende Formen betrifft, nicht damit messen. Die Höhen sind freilich nicht so beträchtlich, — eine der höchsten Spitzen, der Ingolfsberg, mißt nur ungefähr 1885 m . Es ist ein scharfer, sehr hervortretender Felsen, den wir während unserer ganzen Fahrt an der Küste entlang bis gestern Abend nicht außer Sicht verloren. Es schien mir jedoch, als könne man weiter nach Norden zu und wahrscheinlich tiefer ins Land hinein, Berge sehen, die beträchtlich höher waren.
Das Land nördlich vom Kap Dan ist jedoch noch nicht untersucht und noch von keines Europäers Fuß betreten worden. [S. 222] Gestern passirten wir Kap Dan und in diesem Augenblick befinden wir uns nur noch 2 Meilen vom Lande entfernt, gerade vor dem Sermilikfjord, bereit, sobald alles in Ordnung ist, den „Jason“ zu verlassen, um, so viel wir sehen können, durch Schlampeis und offenes Eis an Land zu kommen. Links von uns liegt das Inigsalikland, und wir können hier hinter den Bergen zum erstenmal den Rand des Inlandseises sehen, dieser mystischen Eiswüste, die nun für die nächste Zeit aller Wahrscheinlichkeit nach für mehr als einen Monat unser Tummelplatz sein soll.
Das Inigsalikland scheint ein verhältnißmäßig ebenes Land zu sein, das zur Erklimmung des Eises geeignet sein wird. Kapitän Holm , der Führer der dänischen „Frauenbootsexpedition“, empfahl mir dies Land, und von hier aus macht es den Eindruck, als wenn meine Erwartungen nicht getäuscht werden sollten.
Aber unsere beiden Böte liegen schon zur Abreise bereit.
Da das Eis hier so dünn ist, habe ich außer dem Boot, das wir für die Expedition mitnahmen, eins von „Jasons“ Fangböten erhalten. Es ist nämlich weit bequemer, zwei Böte zu haben und außerdem ist es auch sicherer für den Fall, daß das eine von dem Eise zerschlagen werden sollte.
Und so bricht denn der Augenblick an, an dem wir „Jasons“ tapferem, braven Führer, Kapitän Jakobsen , und der ganzen braven Besatzung Lebewohl sagen sollen. Wir nehmen manch eine liebe Erinnerung an gute Freunde und angenehme Stunden mit uns. Wir besteigen unsere Böte mit der festen Zuversicht auf einen glücklichen Ausfall der bevorstehenden Reise. Ein griechischer Weiser hat irgendwo einmal gesagt, die Hoffnung sei der Traum der Wachenden! wohl an, Träume gehen auch zuweilen in Erfüllung und ich glaube, das wird mit diesem Traum der Fall sein.
[S. 223]
Ich hoffe, Kristianshaab erreichen zu können, bevor das letzte dänische Schiff im September fährt, da würden wir noch im Herbst wieder zu Hause sein; gelingt uns das nicht, dann kommen wir im nächsten Sommer. Auf Wiedersehn!
Ihr
Fridtjof Nansen
.
Ungefähr um 7 Uhr des Abends war alles zur Abreise bereit. Der Sermilikfjord lag nun gerade vor uns. Nach Berechnung durch Kreuzpeilung mußten wir uns 2½ geographische Meilen von der Mündung der Bucht befinden. Ich kletterte zum letztenmal in die Tonne, um zu sehen, welchen Kurs wir einzuschlagen hatten. Die Luftspiegelung des offenen Wassers an der Innenseite des Eises war jetzt noch deutlicher sichtbar als zuvor. In etwas westlicher Richtung von King Oskars Hafen schien das Eis am dünnsten zu sein, weshalb ich mich für den Kurs entschied.
Siegesgewisser denn je zuvor stieg ich wieder auf Deck hinab, und nun schlug die Abschiedsstunde. „Jasons“ ganze Mannschaft war auf Deck versammelt. Trotz der Freude über die Aussicht auf einen glücklichen Anfang unserer Fahrt bemächtigte sich unser aller doch ein wehmüthiges Gefühl, als wir Abschied von diesen derben Seeleuten nahmen, unter denen wir wohl Alle treue Freunde gewonnen hatten; jetzt setzten sie freilich eine etwas bedenkliche Miene auf oder wandten sich mit einem bezeichnenden Kopfschütteln ab. Man konnte sich wohl des Gedankens nicht erwehren, daß man sich zum letztenmale sah. Zu allerletzt drückten wir Kapitän Jakobsen die Hand zum Abschied, und nie werde ich die ruhige, einfache Art und Weise vergessen, mit der dieser Urtypus eines norwegischen Seemannes uns sein [S. 224] wohlgemeintes Lebewohl sagte und dem Wunsche Ausdruck gab, daß es uns gut ergehen möge.
Dann das Fallreb hinab und in die Böte. Während ich mich an das Steuer des Bootes setzte, das uns vom „Jason“ überlassen war, und in dem Dietrichson und Balto jeder ein Ruder führten, übernahm Sverdrup den Oberbefehl des zweiten Bootes mit Ravna und Kristiansen als Ruderer.
„Alle Mann an Platz? Stoßt ab!“ und indem die Böte unter den ersten kräftigen Ruderschlägen durch das dunkle Wasser dahinschießen, hallt die Luft wider von den drei kräftigen Hurrahrufen der 64 Mann, während zwei weiße Rauchsäulen aus „Jasons“ beiden Kanonen uns ihren letzten Gruß nachsenden. Dumpf rollt ihr Donner durch die dunkle, regenschwangere Luft und erstirbt. Die letzte Brücke hinter uns ist abgebrochen. — — Lebt wohl! Und unsere Böte gleiten unter den taktfesten Ruderschlägen durch das Eis, um die erste, kalte Umarmung der Natur zu empfangen, die uns nun für eine Zeit lang behausen soll. Wir hatten Alle das beste Zutrauen zu unserem guten Stern, — daß Anstrengungen und Gefahren unser harrten, wußten wir, aber waren überzeugt, daß wir sie zu überwinden im stande sein würden.
[S. 225]
achdem wir eine Strecke in das Eis eingedrungen waren, kam uns ein Boot mit 12 Mann von dem zweiten Steuermann geleitet nach. Es war von Kapitän Jakobsen ausgesandt worden, um uns wenn möglich das erste Stück durch das Eis hindurchzuhelfen durch Bahnbrechen oder Schleppen der Böte. Sie begleiteten uns eine Weile, als ich aber sah, daß sie uns nur wenig nützen konnten, dankte ich ihnen für ihre gute Absicht und sandte sie wieder zurück.
Wir fanden eine ganze Strecke Schlampeis, wehten dem Boote ein Lebewohl zu und steuerten direkt hinein.
Im Anfang ging es ganz gut mit uns. Das Eis lag so lose, daß wir fast immer zwischen den Schollen hindurchrudern konnten, sonst mußten Brechstangen und Aexte einen Weg bahnen. Nur an wenigen Stellen waren wir gezwungen, die Böte über kleinere Schollen zu ziehen. Schon ehe wir den „Jason“ verließen, hatte es angefangen, ein wenig zu regnen, jetzt nahm der Regen zu, während der Himmel sich verdunkelte und eine gewitterartige Stimmung annahm. Es war ein eigenthümlich wirkungsvoller Anblick, diese Männer in ihren dunkelbraunen Waterproofs, die spitzen Kapuzen gleich den Mönchen über den Kopf gezogen, sich sicher und schweigend in ihren beiden Böten, von denen das eine [S. 226] dem andern im Kielwasser folgte, durch die weißen, ruhigen Eisschollen hindurch arbeiten zu sehen, die einen starken Kontrast zu dem dunklen, gewitterschwangeren Nachthimmel bildeten. Ueber den zerrissenen Felsen am Sermilikfjord lagerten dunkle Wolkenbänke, — von Zeit zu Zeit zerriß dieser Wolkenvorhang und durch die Spalten schaute man in einen Himmel hinein, der in dem anhaltenden Strahlenglanz eines arktischen Sonnenunterganges glühte und einen milden Wiederschein auf die Ränder des dunklen Vorhanges warf. Es währte nicht lange und der Vorhang schloß sich, dunkler als je, während wir uns Schlag auf Schlag unverdrossen weiter arbeiteten und der Regen uns peitschend ins Gesicht schlug. War dies ein Vorzeichen unseres eigenen Schicksals? Nein, gewiß nicht, aber die Menschenseele ist schwach und abergläubisch, sie glaubt so leicht, daß sich die Elemente und das Universum um ihr großes Selbst — den Mittelpunkt des Ganzen — drehen.
Das Eis wurde ein wenig schwieriger, oft mußte man auf einen Eishügel hinauf, um den besten Weg auszukundschaften, und von dem Gipfel eines solchen Eishügels winkte ich dem „Jason“ mit der norwegischen Flagge unser letztes Lebewohl zu, und der „Jason“ antwortete, indem er die seine senkte. Dann ging es wieder vorwärts — ohne Aufenthalt, denn hier ist keine Zeit zu verlieren.
Wir hatten von Anfang an in westlicher Richtung einen großen Eisberg vor uns gehabt. Seit längerer Zeit hatten wir uns ihm jedoch in auffallender Weise genähert, obwohl wir uns nicht in der Richtung vorwärts bewegten. Unser Kurs war bedeutend östlicher. Die Strömung mußte uns westwärts führen. Und so verhielt es sich, — mit unwiderstehlicher Fahrt riß sie uns fort; es ward uns bald klar, daß keine Rede davon sein [S. 227] konnte, diesen Eisberg an der östlichen Seite zu umschiffen. Wir mußten uns in die Leeseite desselben begeben. Hier geriethen wir jedoch plötzlich in einen reißenden Malstrom, der die Eisschollen gegeneinander trieb, so daß sie sich krachend überschlugen und droheten, unsere beiden Böte zu zerschmettern. Sverdrup zog das seine auf eine Scholle hinauf und befand sich in Sicherheit. Wir arbeiteten uns zu einer eisfreien Stelle durch, schwebten aber in Gefahr, jeden Augenblick zwischen den Eisschollen zerschmettert zu werden. Da galt es aufmerksam zu sein, das Boot an allen gefährlichen Punkten klar zu halten, es auf den „Fuß“ oder in die „Bucht“ [33] eines Eisberges zu retten, wenn das Eis preßte; aber dies war keine leichte Aufgabe in den unwiderstehlichen Wirbeln. Mit vereinten Kräften gelang es uns indessen. Wir kamen in die große eisfreie Stelle, in den Schutz des Eisberges und waren vorläufig in Sicherheit. Nun handelte es sich um Sverdrup . Ich winkte ihm zu, daß er versuchen sollte uns zu folgen, er that es, und es gelang ihm, indem er sein Boot in ruhigerem Fahrwasser hielt als wir.
Jetzt fanden wir eine eisfreie Stelle nach der anderen. Nur ein paarmal verdichtete sich das Eis wieder, dies war besonders jedesmal der Fall, wenn der Strom uns an einen der zahlreichen Eisberge, die ringsum auf dem Grunde lagen, trieb, das Fahrwasser wurde aber regelmäßig freier, sobald wir an ihnen vorbei [S. 228] passirt waren. Unsere Aussichten waren Licht, unser Sinn war leicht. Der Regen hatte aufgehört und gerade jetzt stieg die Sonne über dem zackigen Hintergrund des Sermilikfjords empor, den noch wolkenbedeckten Himmel in Brand steckend und auf den Gipfeln und Zinnen Feuer entzündend.
Vor uns lagen lange, eisfreie Strecken, ich glaubte schon vom Boote aus das offene Wasser auf der Innenseite des Eises sehen zu können. Wir hatten uns dem Lande auf der Westseite des Fjords sehr genähert, ich konnte deutlich die Steine und die Unebenheiten der Klippen und Felsen sehen. Nichts schien uns jetzt aufhalten und unsere Landung verhindern zu können, wir sprachen schon davon, wo und wann wir den Kaffee an Land kochen wollten.
Da verdichtete sich das Eis wieder, wir sahen uns genöthigt, die Böte auf eine Scholle hinaufzuziehen. Mein Boot war in einer Enge in eine ungünstige Stellung gekommen, und als das Eis sich wieder mehr vertheilte und das Boot ausgesetzt werden sollte, schnitt eine scharfe Eiskante in eine Planke an der einen Seite ein. Das Boot konnte nicht schwimmen, da war nichts zu machen, als es abzuladen und zur Reparatur wieder auf die Eisscholle zu ziehen. Sverdrup mit Kristiansen als Assistent machten sich an die Arbeit und brachten mit den verhältnißmäßig schlechten Hülfsmitteln, die ihnen zur Verfügung standen, alles in verhältnißmäßig kurzer Zeit mit wahrer Meisterschaft wieder in Ordnung. Als Material benutzte er ein Tannenbrett, das auf dem Boden des Bootes gelegen hatte, einige große Nägel, eine Axt und eine Holzkeule.
Dies schadhafte Boot sollte indessen über unser Schicksal entscheiden. Während der Ausbesserung desselben verdichtete sich das Eis, der Himmel bedeckte sich mit Wolken, und der Regen [S. 229] stürzte in Strömen herab, alles ringsumher verhüllend. Da war denn nichts anderes zu machen, als das Zelt aufzuschlagen und zu warten. Wir schrieben den 18. Juli, und es war 10 Uhr des Vormittags. Das Beste, was wir thun konnten, war, in unsere Schlafsäcke zu kriechen und den Schlaf nachzuholen, der uns nach fünfzehnstündiger, anstrengender Arbeit im Eise nicht unerwünscht war.
Ehe wir uns zur Ruhe begaben, klärte es sich über dem Meere ein wenig auf, und wir gewahrten in weiter Entfernung den „Jason“, der gerade anheizte und eine Stunde später in See ging, wahrscheinlich im guten Glauben, daß wir längst wohl behalten am Lande angelangt seien. „Als Ravna das Schiff zum letztenmale sah,“ schreibt Balto in seiner Reisebeschreibung, „sagte er zu mir: „Ach, wie dumm sind wir gewesen, daß wir das Schiff verließen, um hier zu sterben. Es ist keine Aussicht, daß wir lebendig davonkommen. Das große Meer wird unser Grab werden.“ Ich antwortete ihm, daß es nicht richtig gewesen wäre, wenn wir beiden Lappen zurückgekehrt wären. Wir würden keine Bezahlung erhalten haben, und vielleicht hätte uns der norwegische Konsul auf Kosten der Armenkasse nach Karasjok zurückbefördern müssen. Das wäre doch eine große Schande gewesen.“
Während wir schliefen, mußte stets einer von uns Wache halten, um zu melden, falls sich das Eis öffne, daß wir weiter kommen könnten. Dietrichson erbot sich gleich, die erste Wache zu übernehmen. Aber der Zustand des Eises veränderte sich wenig oder gar nicht. Nur einmal hatte es den Anschein, als würde es ein wenig loser, gleich darauf aber schob es sich wieder mehr zusammen. Es war nicht daran zu denken, die Böte über dies Eis zu ziehen, — es war zu uneben und bestand aus zu kleinen Schollen. Solange der Regen anhielt, mußten wir warten [S. 230] und konnten voraussichtlich länger schlafen, als uns lieb war. Wir waren bereits in die verkehrte Strömung gerathen.
Mit reißender Geschwindigkeit führte uns die Strömung westwärts in den breiteren Eisgürtel auf der Westseite des Sermilikfjordes. Hier nahm sie eine südlichere Richtung und führte uns vom Lande fort und zwar schneller, als wir uns durch das Eis hindurcharbeiten konnten. Wären wir nicht durch das beschädigte Boot aufgehalten, so würden wir aller Wahrscheinlichkeit nach innerhalb des Gürtels gelangt sein, wo die Strömung am reißendsten war, und in das ruhigere Wasser unterhalb des Landes.
Die Schnelligkeit der Strömung, in die wir hier gerathen waren, zeigte sich bedeutend größer, als man bis dahin allgemein angenommen hatte. Daß hier starke Strömungen waren, wußte ich allerdings, und ich hatte das auch berechnet, hätte ich aber eine Ahnung von ihrer wirklichen Stärke gehabt, so wäre ich sicher ein wenig anders zu Werke gegangen. Ich hätte mich dann bedeutend östlicher gehalten, gerade vor Kap Dan; wir würden, indem wir uns quer durch die Strömung durchgearbeitet hätten, aller Wahrscheinlichkeit nach durch den Eisgürtel gelangt sein, ehe wir westlich an der Mündung der Sermilikbucht vorbei und in den breiteren Eisgürtel hineingerathen waren, wo die Strömung eine südliche Richtung nimmt. Wie die Sache jetzt lag, blieb uns nichts übrig als das tröstliche Bewußtsein, wie schön es hätte sein können. Eine Stunde bei günstigem Fahrwasser und wir wären hindurch. Aber die Pforten des Paradieses waren verschlossen und wir wurden gegen südlichere Breitengrade getrieben. —
Inzwischen hatten wir genug zu thun, das Regenwasser, das durch die Schnürlöcher in der unteren Zeltwand hineinsickerte, [S. 231] von dem Boden des Zeltes aufzuschöpfen. Nachdem wir ungefähr 24 Stunden wesentlich hiermit beschäftigt in unserm Zelt verbracht hatten, zertheilte sich das Eis so weit, daß wir mit neuem Muth und erneuten Kräften unsere Landungsversuche abermals beginnen konnten. Dies geschah am Morgen des 19. Juli ungefähr um 6 Uhr. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, und durch eine Lichtung in den Regenwolken konnten wir das Land am Sermilikfjord erkennen. Wir waren über doppelt soweit davon entfernt als im Anfang — ungefähr vier Meilen —, schauten aber voller Hoffnung vorwärts, denn wenn wir auch die Küste nicht bei Inigsalik (westlich vom Sermilikfjord) erreichten, so hatten wir doch alle Aussicht, südlich bei Pikiutdlek an Land zu gehen. Es galt jetzt nur, sich unverdrossen quer durch den Strom zu arbeiten, dann mußten wir das Ziel einmal erreichen. An Unverdrossenheit fehlte es uns freilich nicht, und wir arbeiteten mit Lust. Bald kamen wir in den Schutz eines mächtigen Eisberges, fanden lange eisfreie Stellen und gelangten ein gutes Stück vorwärts. Da verdichtete sich plötzlich das Eis wieder, und wir mußten uns abermals auf eine Eisscholle zurückziehen. Von Zeit zu Zeit brach die Sonne durch, wir zogen die Böte ganz auf das Eis herauf, schlugen unser Zelt auf und richteten uns so gemüthlich wie möglich ein, zogen zum Theil trockenes Zeug an und trockneten die durchnäßten Kleidungsstücke. Besonders für mich war dies letztere sehr wünschenswerth, da ich am Tage bei der Arbeit ins Wasser gefallen war. Ich wollte von der vorstehenden Kante einer Eisscholle in unser Boot springen, als das Eis brach. Derartige unfreiwillige Bäder gehörten übrigens zu den fast täglichen Begebenheiten auf unserer Expedition. Im Laufe des Tages brach die Sonne völlig durch, und wir labten uns recht gründlich an ihren milden Strahlen. [S. 232] Den Konserven, die uns Stavangers Hermetische Fabrik geschenkt hatte, ließen wir volle Gerechtigkeit widerfahren, auf den Eisschollen war vollauf des herrlichsten Trinkwassers zu haben und in dem Bierfaß, das zu dem Boot vom „Jason“ gehörte, war noch Bier übrig. In jedem Fangboot eines Seehundsfängers befindet sich nämlich ein Bierfaß und eine Brotkiste, die mit Brot und Speck gefüllt ist. Diese Behältnisse hatte der Kapitän uns wohlgefüllt und in bestem Zustande überlassen, und das kam uns jetzt zu gute.
Wir konnten draußen am Rande des Eises eine ziemlich starke Brandung vernehmen, aber wir legten kein weiteres Gewicht darauf. Dem Anschein nach trieben wir mehr und mehr vom Lande ab, die Berggipfel am Similikfjord wurden kleiner und kleiner.
Am Abend blieb ich noch lange, nachdem die Anderen in ihre Schlafsäcke gekrochen waren, auf, um Skizzen zu entwerfen. Es war ein herrlicher, nordischer Abend mit jenen wunderbar weichen Farbentönen, die sich gleichsam liebkosend an uns schmiegen, mit jener träumerischen, lichten Melancholie, die sich so wohlthuend über unser Gemüth senkt und die den nordischen Nächten so charakterisch ist. Die wilde, zerklüftete Landschaft im Norden am Sermilikfjord hebt ihre kühngeschwungenen Linien scharf gegen den glühenden Abendhimmel ab, während die mächtigen Flächen des Inlandseises den Horizont im fernen Westen begrenzen und sanft in den gelben Hintergrund mit seinen weichen Linien übergehen.
Es war alles so nahe, — ärgerlich, daß nur ein Stückchen Treibeis uns so hartnäckig von dem Ziel unserer Sehnsucht zu trennen vermochte!
Während ich so dasaß und zeichnete, vernahm ich plötzlich [S. 233] ein heftiges Dröhnen im Eise. Es ist der wachsende Seegang, der sich Bahn bricht. Ich schaue auf das Meer, der Himmel war da ein wenig dunkel. Mit dem Gedanken, daß da draußen wohl ein Unwetter heraufzieht, daß uns dies ja aber im Grunde nichts angeht, krieche ich endlich in den Schlafsack zu meinem schlummernden Kameraden.
Am nächsten Morgen (den 20. Juli) erwachte ich infolge einiger heftiger Stöße, welche unsere Eisscholle erhielt. Der Seegang mußte bedeutend zugenommen haben. Wir krochen aus unseren Säcken und sahen, daß unsere Eisscholle, in geringer Entfernung vom Zelte quer geborsten war, die Lappen, welche sofort auf den höchsten Punkt der Scholle geklettert waren, um sich umzusehen, riefen, daß sie das Meer erblicken können. Und so verhielt es sich auch wirklich. Glänzend im Schein der Morgensonne breitete sich das Meer in der Ferne aus; wir hatten es nicht gesehen, seit wir den „Jason“ verließen.
In meinen Tagebuchaufzeichnungen von diesem Tage und von den folgenden Tagen heißt es weiter:
„Der Seegang wächst, er bricht sich immer gewaltiger an unserer Scholle; Eisstücke und zu Schnee zerriebenes Eis thürmen sich am Rande der Scholle auf und bilden einen Wall, der dem ersten Anprall der Wellen Widerstand leistet. Das Schlimmste ist jedoch, daß wir uns dem Meere mit unheilverkündender Schnelligkeit nähern. Wir beladen unsere Schlitten und versuchen sie über das Eis zu ziehen, entdecken aber gar bald, daß die Schnelligkeit, mit der wir hinausgetrieben werden, uns zu stark ist. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als uns nach einer sichereren Eisscholle umzusehen, auf der wir unser Domizil aufschlagen können, denn diejenige, auf der wir uns jetzt befinden, erscheint uns ein wenig gebrechlich. Im Anfang war es eine [S. 234] runde Eisscholle von ungefähr 30 m Durchmesser, aber in der Nacht barst sie einmal und nun berstet sie abermals in anderer Richtung, so daß sie schließlich klein wird. Dicht neben uns befindet sich eine große, dicke Eisscholle, die noch unberührt ist, — auf diese ziehen wir hinüber.
„Inzwischen nähern wir uns der Brandung mehr und mehr, der Lärm wächst, die Wellen prallen gegen unsere Scholle an und treiben an allen Ecken und Kanten darüber hin. Die Situation fängt an, kritisch zu werden.
„Die armen Lappen sind nicht in der besten Laune. Am Vormittage waren sie gänzlich verschwunden, ich konnte nicht begreifen, wo sie geblieben waren, da es auf dieser kleinen Eisscholle gerade nicht allzuviele Stellen gab, an denen man sich voreinander verstecken konnte. Da fiel es mir auf, daß einige Persennings sorgfältig über das eine Boot gebreitet waren. Ich hob sie leise in die Höhe und sah die beiden Lappen auf dem Boden des Bootes liegen. Der Jüngere, Balto , las dem Aelteren auf Lappländisch aus dem neuen Testament vor. Ohne daß sie es bemerkten, deckte ich die kleine Kirche, die sie sich so eingerichtet hatten, leise wieder zu. Sie hatten das Leben aufgegeben und bereiteten sich zum Tode vor.“ — Wie mir Balto lange nachher einmal gestand, hatten sie einander dort unten im Boote ihre Herzen ausgeschüttet und ihre blutigen Thränen vergossen, sich selbst und Andere mit bitteren Vorwürfen überhäufend, daß sie je ihre Heimath verlassen hatten. Man kann sich nicht verwundern, daß sie ängstlich waren; es war ihnen ja alles so fremd. —
„Es ist das herrlichste Wetter mit sengendem Sonnenschein, so daß wir die Schneebrillen herausholen müssen. Wir benutzen die Sonne, um eine Ortsobservation vorzunehmen und durch Kreuzpeilung [S. 235] (des Landes) bestimmen wir, daß wir uns auf dem 65° 8′ N. B. u. dem 38° 20′ W. L. befinden, also 30 Minuten (7½ Meilen) von der Mündung des Sermilikfjordes und 23 bis 25 Minuten (ungefähr 6 Meilen) von dem nächstgelegenen Lande.
„Das Mittagsessen wird wie gewöhnlich zubereitet, nur, daß wir in Rücksicht auf die Verhältnisse Erbsensuppe kochen, — die Verschwendung hatten wir uns nämlich bis dahin nicht erlaubt, etwas zu kochen. Während wir hiermit beschäftigt waren, wird die Bewegung indessen stärker und stärker, so daß unser Kochapparat mehrmals fast umgeworfen wird.
„In tiefem Schweigen nehmen die Lappen das Mittagsessen ein, die anderen schwatzen und scherzen wie gewöhnlich und die heftigen Stöße der Wellen geben Veranlassung zu Witzen, die bei den Lappen freilich nicht auf dankbaren Boden fallen, sie sind scheinbar der Ansicht, daß Zeit und Ort nicht recht passend zum Scherzen seien.
„Von der höchsten Spitze unserer Eisscholle kann man ganz deutlich sehen, wie das Meer über die anderen Eisschollen dort draußen hinspült, während der aufspritzende Schaum gleich weißen Wolken hoch in die blaue Luft geschleudert wird, — dort kann sich wohl schwerlich ein lebendes Wesen auf dem Eise halten. Und es scheint unvermeidlich, daß auch wir da hinausgetrieben werden! Aber unsere Scholle ist dick, wir hoffen, daß sie eine Weile aushalten wird, und wir beabsichtigen nicht, sie zu verlassen, ehe wir dazu gezwungen sind; tritt aber der Fall ein, daß wir uns nicht mehr halten können, so müssen wir als letzten Ausweg versuchen, unsere Böte durch die Brandung zu bringen. Das wird ein feuchtes Vergnügen, aber unser Entschluß, den Kampf auf Tod und Leben zu kämpfen, steht unerschütterlich fest.
„Eins der beiden belasteten Böte bei der heftigen Sturzsee [S. 236] und den rollenden Eisschollen ins Wasser zu setzen, ohne daß es ganz gefüllt oder ganz zerschmettert wird, das ließe sich allenfalls bewerkstelligen, da wir ja die Besatzung der beiden Böte (alle 6 Mann) dazu verwenden können, — schwieriger dagegen wird es für die zurückbleibende Besatzung, das zweite Boot ins Wasser zu setzen. Wir überlegen, wie sich das am besten einrichten läßt, kommen aber zu dem Resultat, daß wir das Allernothwendigste in das eine Boot nehmen müssen, damit dies so leicht wie möglich wird, und daß wir dann im Nothfall nur an dies denken wollen, — im übrigen können wir nichts thun, als abwarten, wie sich die Verhältnisse gestalten, wenn wir in die Brandung hineingerathen.
„Wir haben jetzt kaum mehr als 300 m vor uns. Niemand von uns zweifelt daran, daß wir uns vor Ablauf von wenigen Stunden entweder in südlicher Richtung an dem Eise entlang auf dem Meere schaukeln oder im Begriff sind auf den Grund des Meeres zu versinken.
„Der arme Ravna verdient jedenfalls das größte Mitleid — er ist noch nicht an das Meer und an dessen Launen gewöhnt. Er geht schweigend umher, steht von Zeit zu Zeit oben auf den höchsten Spitzen der Eisscholle, starrt bekümmert in die Brandung hinaus, während die Gedanken sicher hinüberschweifen zu der Rennthierheerde und zu dem Zelt mit Frau und Kindern auf der finnmarkischen Hochebene, wo jetzt alles Sonne und Sommer ist.
Ach ja, Ravna , —
— — — — — — — — — — — — —
Es ist menschlich, in solchen Stunden die Erinnerung zu dem zurückschweifen zu lassen, was uns als das Schönste im [S. 237] Leben erschienen ist, und auf schönere Erinnerungen als auf die sonnigen Tage oben auf den Bergen kann wohl kaum Jemand zurückblicken.
„Aber auch hier scheint die Sonne und zwar ebenso milde und friedlich wie nur irgendwo, hier auf dem rollenden Meer und der tosenden Brandung, die uns umbraust. Die Abendsonne ist herrlich, — ebenso roth wie gestern geht die Sonne unter, den westlichen Himmel in Feuer tauchend und Land, Eis und Meer einen langen, glühenden Abschiedskuß zusendend, ehe sie hinter dem Rande des Inlandseises verschwindet, — kein Lüftchen regt sich, die Meeresfläche rollt uns gelb und blank wie ein Schild unter dem Abendhimmel entgegen. Unwillkürlich fallen mir die ersten Zeilen des alten bekannten Liedes ein:
„Ja, wahrlich, es ist ein erhebender Anblick, — sieh diese mächtigen, langen Wogen, wie sie uns gewaltsam entgegenrollen, als könne nichts sie anhalten, dann schlagen sie krachend gegen das weiße Eis, erheben ihre feuchten bläulich-grünen Schwingen, treiben Eisstücke und Schaum vor sich her über den weißen Schnee und schleudern sie hoch empor zu der blauen Luft. Der Gedanke an Untergang bei einem solchen Wetter erscheint uns fast unglaublich, — doch — einmal muß es ja sein, und eine schönere Abschiedsstunde kann man sich wohl kaum wünschen.
„Hier ist aber keine Zeit zu verlieren, wir nähern uns der Brandung mit Windeseile. Die See geht so hoch, daß wir unten im Wellenthal nichts von dem Eis um uns her erblicken, — wir sehen sonst nur den Himmel über uns, die Eisschollen prallen gegeneinander an, zerschellen und zerstieben rings um uns her, auch unsere Scholle ist geborsten. Wen wir binnen kurzem [S. 238] das Meer erreichen, werden wir alle unsere Kräfte nöthig haben, denn wir müssen voraussichtlich mehrere Tage und Nächte ununterbrochen rudern, um aus dem Bereiche des Eises zu gelangen. Deswegen werden alle Mann zum Schlafen ins Zelt geschickt, das noch nicht in die Böte gepackt wurde. Sverdrup soll als der Erfahrenste und Ruhigste die erste Wache übernehmen und uns im entscheidenden Augenblick wecken. Nach Verlauf von 2 Stunden soll Kristiansen ihn ablösen.
„Vergebens spähe ich bei meinen Kameraden nach einem einzigen Zug, der Furcht verrathen könnte, sie haben denselben ruhigen Ausdruck wie gewöhnlich und die Unterhaltung wird ebenso lebhaft geführt wie sonst. Nur die Lappen setzen bekümmerte Gesichter auf. Es scheint mir aber doch, als sei eine ruhige Resignation über sie gekommen, sie sind fest überzeugt, daß sie die Sonne zum letztenmale untergehen sahen. Trotz dem Getöse der Brandung liegen wir bald Alle in festem Schlaf, auch die Lappen sind bald eingeschlafen. Sie sind zu echte Naturkinder, als daß die Angst sie ihres Schlafes berauben könnte. Balto , dem das Zelt wohl nicht sicher genug erscheinen mochte, liegt oben auf dem einen Boot, er erwacht nicht einmal, als es von den Wellen beinahe fortgespült wird, so daß Sverdrup seine liebe Mühe hat, es zu halten. Nachdem ich eine Zeit lang geschlafen — wie lange es gewesen, vermag ich nicht zu sagen — erwache ich durch ein brausendes Geräusch dicht neben meinen Ohren an der äußeren Zeltwand. Die Eisscholle wogt fühlbar auf und ab gleich einem Fahrzeug, das sich in starkem Seegang befindet, und die Brandung donnert betäubender denn je gegen uns an. Ich erwartete, jeden Augenblick Sverdrups mahnenden Ruf zu vernehmen, oder das Zelt mit Wasser gefüllt zu sehen, aber nichts von alledem geschah. Deutlich hörte [S. 240] ich seinen wohlbekannten ruhigen Schritt auf der Scholle zwischen dem Zelt und den Böten auf und nieder gehen. Es war mir, als sähe ich seine kräftige Gestalt dort unbekümmert hin und her wandern, die beiden Hände in den Taschen, ein wenig vorübergebeugt, das nachdenkliche, unerschütterlich ruhige Gesicht auf die See gerichtet, von Zeit zu Zeit auf den Kautabak im Munde priemend, — — — dann verwirren sich meine Gedanken, — ich schlafe wieder ein.
„Erst gegen Morgen erwachte ich wieder und fuhr verwundert auf, — die Brandung war jetzt nur noch vernehmbar wie das ferne Geräusch des Donners. Als ich aus dem Zelte trat, sah ich, daß wir von dem offenen Meer weit entfernt waren, — wie aber sah unsere Eisscholle aus? Große wie kleine Eisstücke waren an allen Seiten aufgeschwemmt und hatten sich rings am Rande zu einem hohen Wall aufgethürmt. Nur die Erhöhung, auf welcher das Zelt und das eine Boot standen, hatte die See nicht erreicht.
„ Sverdrup erzählte, er sei im Laufe der Nacht mehrmals am Eingange des Zeltes gewesen, um uns zu wecken. Einmal habe er die eine Krampe schon in die Höhe gehoben, er besann sich aber wieder und begab sich zu den Böten, wo er ein wenig wartete und in die Brandung hinaus sah. Der Sicherheit halber hatte er aber die Zeltthür nicht wieder geschlossen. Wir befanden uns damals gerade an dem äußersten Eisrande, dicht neben uns schaukelten große Eishügel vorüber, die sich jeden Augenblick auf unsere Eisscholle zu stürzen drohten, — was gerade keine angenehme Ueberraschung für uns gewesen wäre. Die Brandung spülte an allen Ecken über unsere Scholle, aber der Wall von Eisstücken, der sich gebildet hatte, hielt sie wenigstens so weit ab, daß das Zelt und das eine Boot verschont [S. 241] blieben. Das zweite Boot, in dem Balto lag, war so von den Wellen umspült, daß Sverdrup es mehrmals festhalten mußte.
„Dann aber verschlimmerte sich die Situation. Er näherte sich abermals der Zeltthür, öffnete noch eine Krampe, besann sich jedoch. Er wollte die nächste Sturzsee abwarten.
„Mehr Krampen sollte er jedoch nicht öffnen, denn gerade als es am allerschlimmsten aussah, und unsere Eisscholle kurz davor war, in die stärkste Brandung hineingeschleudert zu werden, veränderte sie plötzlich ihren Kurs und steuerte mit ganz erstaunlicher Schnelligkeit dem Lande zu. Sverdrup sagte, es habe auf ihn den Eindruck gemacht, als würde sie von einer unsichtbaren Hand gelenkt.
„Jetzt, als ich aus dem Zelt trat, waren wir weit fortgetrieben und lagen in einem sicheren Hafen, nur das Brausen der Brandung, das man noch deutlich hören konnte, erinnerte an die Ereignisse der verflossenen Nacht. So brauchten wir denn diesmal unsere eigene Seetüchtigkeit und die unserer Böte nicht auf die Probe zu stellen.
„Der 21. Juli war ein stiller Tag nach sturmbewegter Nacht. Alles athmete Ruhe und Frieden, wir entfernten uns immer weiter vom Meere, die Sonne schien mild und warm, die Eisschollen lagen ruhig und einförmig rings um uns her, selbst die Lappen schienen sichtlich erleichtert.
„Nur ein Gedanke nagte an meiner Ruhe, — nämlich die Aussicht, daß die Expedition diesmal mißlingen und dadurch ein ganzes Jahr verloren gehen würde. Nun, wir müssen thun, was in unseren Kräften liegt und uns übrigens mit Geduld wappnen.
„Wir benutzen die Sonne, um die Längen- und Breitengrade zu bestimmen. Wir befinden uns auf dem 64° 39′ N. B. und dem 39° 15′ W. L., wir können noch die Gipfel des Sermilikfjordes [S. 242] sehen, das Inlandseis von Pikiudtlek nördlich bis Inigsalik breitet sich weiß und imponirend vor uns aus; mit seinem graden, wagerechten Horizont gleicht es einem einzigen, weißen unermeßlichen Meer; keine Nunatakker (d. h. Felsspitzen, die aus dem Inlandseise aufragen) sind zu erblicken, nur draußen, am Rande gewahren wir einzelne dunkle Gipfel und Klippen (am bemerkenswerthesten ist der Nunatak bei Pikiudtlek), die sich von der sonst ununterbrochenen weißen Fläche abheben.
„Die Landschaft hier unten hat einen ganz anderen Charakter wie die nördlichere bei Sermilik, Angmagsalik und Ingolfsfjeld. Dort oben steigt das Land hoch, zerklüftet und wild aus dem Meere auf, die ruhige Fläche des Inlandseises liegt verborgen hinter einer Reihe herrlicher, himmelanstrebender Bergzinnen, deren erhabene Schönheit unwillkürlich das Auge fesselt und über die das Eis niemals hinwegzuwachsen und ans Meer zu gelangen vermochte. Hier dagegen ist die Landschaft niedrig, das Inlandseis durfte seine grenzenlose, weiße Fläche bis ins Meer erstrecken, und die wenigen Formen, die hier hervortreten, sind niedrig und ruhig. Sie sind vom Eise abgeschliffen, — alles scheint von dem übermächtigen Eis ins Meer hineingedrängt zu sein. Auch diese Landschaft ist wild, aber es ist die öde Wildheit der Einförmigkeit.
„Da ist nichts, was das Auge fesseln kann, und deshalb schweift es willenlos über die lockende Eiswüste und verliert sich in der Ferne, wo der Horizont den Blick begrenzt. Leider liegt das alles weit, — weit von uns! Es ist wunderlich, dem Ziele so nahe gewesen zu sein und nun wieder draußen auf offenem Meere schaukeln zu müssen.
„Das Eis öffnet sich ein wenig, wir entdecken eine eisfreie Stelle und setzen das eine Boot aus, um zu versuchen, ob wir uns ein wenig durcharbeiten können, aber es ist vergebliche [S. 243] Mühe, das Schlampeis zwischen den Schollen (das sich durch das ununterbrochene Gegeneinanderreiben der Eisschollen während des Seeganges gebildet hat) ist so dick, daß wir mit den schwer belasteten Böten nicht vorzudringen vermögen. Wir müssen unser Vorhaben vorläufig aufgeben. Die Schlitten und Böte über die Eisschollen zu ziehen, ist ebenfalls eine Unmöglichkeit, da der Zwischenraum zwischen den einzelnen Schollen ein zu großer ist. Das Getöse der Brandung erschallt noch immer in der Ferne, — der Seegang hat nicht nachgelassen und hält das Eis nach wie vor zusammen.“
An diesem Tage, dem ersten an welchem wir Zeit hatten an etwas anderes als unser Vordringen durch das Eis oder ans Schlafen zu denken, fingen wir unser meteorologisches Tagebuch an. Es wurde im wesentlichen von Dietrichson geführt, der sich dessen stets, selbst unter den schwierigsten Verhältnissen, mit bewunderungswürdigem Eifer annahm. Hauptsächlich wurde die Temperatur, der Luftdruck, die Feuchtigkeit der Luft, die Stärke und die Richtung des Windes, sowie die Wolkendecke und die Form der Wolken verzeichnet. Die Observationen wurden so oft und so sorgfältig wie nur möglich gemacht. Natürlich werden bei einer Expedition wie der unsrigen, auf der man in der Regel von anstrengender Arbeit in Anspruch genommen ist viele Lücken in dem meteorologischen Tagebuch entstehen, besonders des Nachts, wo man von der anstrengenden Arbeit des Tages ausruhen soll. Trotzdem glaube ich aber, daß das Tagebuch, das wir mit nach Hause brachten, dank Lieutenant Dietrichsons unverdrossenem Eifer, ziemlich vollständig ist und manche werthvolle Beobachtungen enthält.
[33] Das Seewasser zehrt, besonders in der Nähe der Wasserfläche, an dem Eise; der Theil der Eisscholle, der sich dadurch unter dem Wasser vorstreckt, heißt „der Fuß“; er bildet einen guten Zufluchtsort, besonders wenn das Eis zusammenpreßt, indem er unter dem Wasser mit der nächsten Eisscholle in Berührung kommt und sie auf diese Weise fernhält, so daß eine offene Wasserfläche bleibt, auf der das Boot sicher liegen kann. Auf gleiche Weise bilden die Buchten in den Eisschollen Zufluchtsörter, indem die Ränder die anderen Schollen abhalten und der Boden frei bleibt.
[S. 244]
ie nun folgenden Tage, während welcher wir an der Küste entlang im Eise weitersegelten, waren ziemlich einförmig. Der eine Tag verging wie der andere. Wir gaben genau acht, in welcher Richtung wir uns vorwärts bewegten, jede Bewegung im Eise, die Farbe der Luft über dem Eise, [34] jeder Windhauch war von Bedeutung, — hofften wir doch, daß eine günstige Strömung uns bald an die Küste führen würde.
An dies Leben zwischen Hoffnungen und Enttäuschungen knüpfen sich trotzdem für einzelne der Theilnehmer manche lichte Erinnerungen. Da es möglicherweise — besonders für künftige Expeditionen — von Interesse sein könnte, will ich hier in aller Kürze einen Auszug aus meinen Tagebuchaufzeichnungen einschalten. Den meisten Lesern rathe ich freilich, dies Stück zu überspringen.
„Gegen Nachmittag (am 21. Juli) erblicken wir von einem hohen Eishügel eine tiefe aber sehr schmale Bucht, welche südlich [S. 245] von uns in das Eis einschneidet. Unserer Beurtheilung nach treiben wir an dieser Bucht entlang, dem Ende derselben zu. Unsere Hoffnung auf eine Veränderung und auf baldige Landung steigt natürlich gleich.
„22. Juli. In der Nacht senkt sich dichter Nebel herab und verbirgt alles unserm Blick, wir ahnen nicht, wohin wir treiben, hören aber die Brandung ebenso deutlich wie vorher. Als die Nacht vorrückt, wird das Getöse jedoch schwächer, und die Bewegung im Eise läßt ein wenig nach.
„Der Nebel und die Bewegung hält den ganzen Tag an, um Mittag klärt sich jedoch der Himmel im Zenith so weit auf, daß ich mit einer Wasserlache auf der Eisscholle als künstlichem Horizont eine Breitenobservation veranstalten kann. Wir befinden uns auf dem 64° 18′ N. B. — eine hübsche Fahrt südwärts: seit vorgestern Mittag haben wir 60 Minuten (5 Meilen) zurückgelegt.
„Da das Eis im Laufe des Vormittags ein wenig nachgelassen hat, versuchen wir, ein leeres Boot auf das Schlampeis zwischen die Eisschollen zu bringen. Wir können nur äußerst langsam vorwärtskommen, und es ist besser, die Kräfte jetzt zu schonen, wo man im Nebel doch nicht sehen kann, nach welcher Richtung hin wir uns durcharbeiten müssen. Möglicherweise wird sich bald eine gute Aussicht auf Landung melden und Beschlag auf alle Kräfte legen, die wir haben.
„Am Nachmittage klärt er sich auf, wir sind möglicherweise dem Lande ein wenig näher gekommen. Ein schwacher Luftzug, mißweisend Nord bis Ost, (rechtweisend ungefähr West bis Nord) macht sich bemerkbar. Wir hoffen, daß er zunehmen und das Eis zertheilen wird, aber die Bewegung in der See hält noch an. Wir bedürfen eines starken Sturmes vom Lande her. Derselbe würde die Bewegung, welche das Eis zusammenhält, [S. 246] dämpfen und es ins Meer hinausführen, so daß wir zwischen den Eisschollen hindurch kommen könnten.
„Jetzt sehen wir rings um uns her viele große Klappmützen auf den Eisschollen liegen, andere tauchen mit ihren großen, runden Köpfen dicht neben unserer Scholle aus dem Wasser auf, um verwundert die neuen Eisbewohner anzustarren, die hier angekommen sind, worauf sie dann mit einem gewaltigen Klatschen wieder verschwinden. Dies ereignet sich täglich. Wir könnten sie mit Leichtigkeit schießen, da wir ihrer aber noch nicht bedürfen, lassen wir sie in Frieden leben. Wir haben noch frisches Fleisch genug, — eine große Keule von dem erschossenen Pferd nahmen wir vom „Jason“ mit. Am Nachmittage hat sich das Eis wieder verdichtet.
„23. Juli. Ueber Nacht stellten wir Wachen aus, jeder Mann sollte zwei Stunden Wache halten. Ravna gab bei der Gelegenheit Veranlassung zu großer Heiterkeit. Er verstand sich nämlich nicht auf die Uhr und wußte infolgedessen nicht, wann seine zwei Stunden abgelaufen waren. Der Sicherheit halber patrouillirte er deswegen gewöhnlich vier oder fünf Stunden, ehe er seinen Nachfolger weckte um zu fragen, ob nun die zwei Stunden wohl um seien.
„Um 7½ Uhr des Morgens weckt Dietrichson uns mit der Meldung, daß das Eis sich zertheile. Zwischen den Eisschollen befindet sich zwar noch Schlampeis, aber es hat doch den Anschein, als ob wir hindurch kommen können. Nachdem wir die Böte beladen und wegen einer Verdichtung im Eise noch eine halbe Stunde gewartet haben, gelangen wir endlich an einige eisfreie Stellen. Nun geht es eine Weile schnell vorwärts. Ehe wir die Eisscholle mit unserem Nachtquartier verließen, flog eine Schar Trauerenten an uns vorüber, nach Norden zu, — es [S. 247] war gleichsam ein Gruß vom Lande her und genügte, um unsere Hoffnungen zu bestärken. Im übrigen ist es ganz auffallend, wie arm an Vögeln die Gegend hier ist, nicht einmal eine Möve läßt sich blicken.
„Wir treiben nun den ganzen Tag der Küste zu, warten geduldig, wenn das Eis sich verdichtet, arbeiten dafür desto angestrengter, sobald es sich vertheilt.
„Wir nähern uns dem Lande, unsere Hoffnung steigt. Von Südwesten her kommt ein Rabe und zieht in nördlicher Richtung über uns hin, ein neuer Gruß vom Lande.
„Mehrere große Seehunde — ausgewachsene Klappmützen — lassen sich rings um uns her auf den Eisschollen blicken. Die Versuchung wird zu groß für ein Jägerherz. Sverdrup und ich müssen hin und ein altes Klappmützenmännchen schießen, das ganz in unserer Nähe lagerte. Nachdem ich mich an das Thier herangeschlichen habe, schieße ich es auch. Als wir zu ihm herankommen, ist es nicht ganz todt, — in meinem zoologischen Eifer will ich die Gelegenheit benutzen, um Beobachtungen über die Farbe der Augen und die Form der Mütze bei einer lebendigen Klappmütze anzustellen, Dinge, die den Zoologen noch nicht hinreichend bekannt sind. Während ich ganz hiervon in Anspruch genommen bin, wälzt sich der Seehund an den Rand der Eisscholle, und ehe ich mir’s versah, gleitet er ins Wasser. Im selben Augenblick, als er fällt, treibe ich ihm einen Seehundshaken, den ich in der Hand halte, und Sverdrup den Bootshaken in den Leib. Nun entsteht ein heißer Kampf zwischen dem Thier und uns; — wir versuchen, seinen Schwanz und seinen Hinterkörper in die Höhe zu halten, so daß er damit nicht ins Wasser gelangen kann, denn in diesen Gliedern liegt seine Stärke. Eine Weile gelingt es uns auch, aber er war [S. 248] stark im Todeskampf. Als ich sehe, daß wir ihn schlecht gefaßt haben, rufe ich Sverdrup zu, er solle die Büchse nehmen und ihn erschießen; er meint aber, er hat ihn besser gefaßt als ich, ich solle ihn todtschießen. Im selben Augenblick aber entgleitet er uns, — macht einige kräftige Schläge mit dem Hinterkörper und verschwindet auf Nimmerwiedersehn. Ganz betroffen standen wir da und schauten einander in die langen Gesichter und dann in die dunkle Tiefe hinab, wo einzelne Luftblasen langsam aufstiegen, um an der Oberfläche zu zerspringen, — das war sein letzter Gruß. Obwohl wir gar keine Verwendung für das Thier hatten, wirkte es doch recht abkühlend auf uns, eine so große und stolze Beute auf so erbärmliche Weise einbüßen zu müssen. Sverdrup meinte, es sei der größte Seehund gewesen, den er je gesehen hätte. Für mitleidige Seelen sei es gesagt, daß er nicht lange mehr hat leiden müssen, — es waren nur die letzten Zuckungen im Todeskampf. Die Kugel war freilich nur von feinem Kaliber (9 mm ) aber sie hatte die richtige Stelle im Kopf getroffen.
„Gegen Abend stockt unsere Fahrt. Wir sind in eine ungewöhnlich unebene und dichte Anhäufung von Eisschollen gerathen, so daß an ein Vordringen mit den Böten nicht zu denken ist. Das Zelt wird auf dem Eise ausgebreitet, ohne ausgespannt zu werden, wir legen die Schlafsäcke oben auf, um gleich bei der Hand zu sein, sowie das Eis nachläßt. Wir stellen wie gewöhnlich eine Wache auf und kriechen in die Säcke. Aber das Eis zertheilt sich nicht. In der Nacht fällt starker Thau, so daß die Schlafsäcke am nächsten Morgen ganz naß sind.
„24. Juli. Am Morgen liegt das Eis noch immer ebenso fest. Wir entschließen uns, die Böte und Schlitten zu ziehen. Den größten Theil der Bagage laden wir auf die Schlitten, die [S. 249] dann, wo wir auf eisfreies Wasser stoßen, auf die Böte gesetzt werden können. Gerade als wir im Begriff sind, abzugehen, läßt das Eis nach, so daß wir uns eine gute Strecke durchstängeln können, — dann müssen wir ziehen. Das geht nur langsam, da das Eis nicht von bester Art ist, aber etwas ist besser als nichts, und dem Lande nähern wir uns beständig. Unser Muth steigt, — vor uns liegt das Land nördlich von Igdloluarsuk , wir fangen schon an zu berechnen, wie lange wir von hier bis nach Pikiudtlek gebrauchen werden, wo die Wanderung über das Inlandseis ihren Anfang nehmen könnte. Auch heute sehen wir mehrere Vögel, einen Raben und eine Schar von 8 kurzschwänzigen „Tyvejoer“. Es ist immerhin ein Trost, Vögel zu sehen, es macht das Leben freundlicher.
„Da das Eis ungünstig ist und die Sonne mitten am Tage warm scheint, machen wir Halt, schlagen unser Zelt auf, bereiten unser Mittagsmahl und richten es an. Es wird unter folgenden Verhältnissen bereitet. Von der Pferdekeule, die im Boote lag, schnitt ich so viel ab, wie ich für 6 Mann ausreichend hielt; ich hackte es auf einem Ruderblatt, schüttete es in den einen [S. 250] Absatz des Kochapparats, that Salz hinzu, öffnete dann ein paar Büchsen mit Marrofat-Erbsen, schüttete sie auf das Fleisch, rührte das Ganze tüchtig um, und das Mittagessen war fertig. Balto hatte während der ganzen Zeit neben mir gestanden und jede Bewegung aufmerksam verfolgt, er war mir sogar behülflich gewesen. Er war — wie er sagte — hungrig und freute sich auf ein gutes Mittagessen. Obwohl er wie alle Lappen und die meisten weniger aufgeklärten Menschen ein großes Vorurtheil gegen Pferdefleisch hatte, meinte er doch, als ich die Erbsen zu dem gehackten Fleisch schüttete, dies schiene ja „ganz herrlich“ zu werden.
„Als es fertig war, trug ich die Schüssel auf und setzte sie vor die Anderen, die vor der Zeltthür saßen, und sagte, sie sollten nur zulangen, — das Gesicht aber, das Balto da aufsetzte, wird wohl Niemand, der es gesehen, so leicht wieder vergessen. Anfangs drückte es den höchsten Grad fragender Verwunderung aus, und — als er entdeckte, daß es Ernst war — einen Abscheu und ein so grundkomisches Entsetzen, daß es uns unmöglich war, unsere Lachmuskeln im Zaum zu halten. Balto theilte nun Ravna auf Lappländisch mit, was hier vor sich ging, und dieser, der bis dahin ein uninteressirter Zuschauer gewesen war, wandte sich mit einem Ausdruck von noch größerem Abscheu ab.
„Ohne uns den Appetit dadurch stören zu lassen, langten wir übrigen vier in die Schüssel und nahmen gehörig von der kräftigen Kost zu uns, die uns Allen vorzüglich mundete. Die Lappen drückten eine stumme Verzweiflung darüber aus. Wäre es nicht aus anderm Grunde, hätten wir gern etwas Fleisch für sie kochen können; aber wir mußten sparsam mit dem Spiritus umgehen. Nur ganz ausnahmsweise während unserer Fahrt [S. 251] durch das Eis gestatteten wir uns den Luxus zu kochen, wir würden späterhin noch genügend Verwendung für den Spiritus haben. In der Regel waren unsere sämmtlichen Speisen kalt, und als Getränk benutzten wir entweder reines Wasser, wovon stets ausreichend in kleineren und größeren Lachen auf den Eisschollen vorhanden war, oder auch wir vermischten das Wasser mit kondensirter Milch, was ein sehr erquickendes Getränk abgab. — Diesmal erhielten die Lappen präservirtes Beef, was sie völlig für die erlittene Täuschung tröstete, denn das war, wie Balto sich ausdrückte „eine reinliche und kräftige Speise“.
Als sehr bezeichnend will ich eine Antwort anführen, die Balto gab, als er einmal nach unserer Rückkehr nach Norwegen gefragt wurde, welche Zeit auf der Reise ihm als die schlimmste erschienen sei.
„Am schlimmsten war es,“ — antwortete Balto , — „als wir im Treibeis lagen und im Begriff waren, in den atlantischen Ocean hinauszutreiben. Ich fragte Nansen, ob er glaube, daß wir an Land kommen würden, und er antwortete „Ja“. Und dann fragte ich ihn, was wir denn eigentlich thun sollten, und er antwortete, wir müßten nach Norden hin rudern, aber ich fragte, wovon wir leben sollten, wenn wir nicht nach der Westküste hinüber kämen, und er sagte, dann müßten wir Wild schießen. Da fragte ich, womit wir denn das Wild kochen wollten, und Nansen antwortete, das müßten wir roh essen, — da wurde Balto sehr betrübt.“
„Gegen Abend ziehen wir wieder weiter, da aber das Eis nicht ganz fest ist, die Bewegung stärker wird und das Wasser am Fuße der Schollen einen für die Böte unheimlichen saugenden Zug hat, beschließen wir bald, die Nacht über still zu [S. 252] liegen, um bessere Zeiten abzuwarten. Uns umhüllte ein dichter, feuchter Nebel, der unsere Kleider völlig durchnäßte, dazu wehte ein beißender Nordwestwind, der, wie ich hoffte, das Eis zertheilen würde.
„25. Juli. Am Morgen ungefähr um 4½ Uhr weckt mich der Ruf des wachthabenden Kristiansen , indem er in die Zeltthür hineinruft: „Nansen, da kommt ein Bär.“ Ich sage ihm, er soll eine Büchse aus dem Boot holen, fahre in meine Schuh und springe in ziemlich leichtem Kostüm heraus. Der Bär kommt in vollem Galopp direkt auf unser Zelt zu, als aber Kristiansen mit der Büchse naht, macht er plötzlich Halt, betrachtet uns einen Augenblick und ergreift die Flucht. Das war sehr ärgerlich, aber die Anderen bekamen doch einen Eisbären zu Gesicht, und danach hatten sie sich lange gesehnt.
„Nachdem wir unser Frühstück eingenommen hatten, begannen [S. 253] wir wieder, unsere Böte vorwärts zu ziehen, mußten es aber schon auf der nächsten Scholle aufgeben wegen der zunehmenden Bewegung im Wasser, die uns seit dem Tage, als wir uns draußen in der Brandung befanden, noch nie ganz verlassen hatte, und die das Eis dicht zusammenhielt, so daß wir nicht ans Land kommen konnten.
„Im Laufe des Tages zertheilte sich das Eis mehrmals ein wenig, schob sich aber immer gleich wieder zusammen. Ich will nicht versuchen, vorzudringen, weil sich zwischen den Eisschollen viel Schlampeis befindet und man bei dieser Bewegung keinen sicheren Hafen finden kann, wenn sich das Eis plötzlich mit so rasender Fahrt zusammenschiebt, wie das jetzt der Fall ist.
„Da wir nichts zu thun haben, beschließen wir, die Schlittenschienen vom Rost zu reinigen, so daß sie leichter übers Eis gleiten können. Als dies gethan ist, bereiten wir unser Mittagessen; — Bohnensuppe wird mit den Ueberresten von der rohen Fleischmahlzeit von gestern zusammen mit etwas frisch abgeschnittenem Fleisch gekocht. Währenddessen benutzen wir die Zeit, um die Breite zu nehmen, die 63° 18′ N. beträgt; die Länge, welche wir am Nachmittage bemessen, ist 40° 15′. Wir befinden uns also ungefähr 18 Minuten (4½ Meilen) vom Lande entfernt. Wir sind bedeutend weiter vom Lande abgetrieben als wir gestern waren, und unsere lichten Hoffnungen trüben sich wieder ein wenig. Ein Rabe bringt uns indessen auch heute ein wenig Trost.
„Endlich ist unser Mittagessen fertig; es wird in die wenigen Tassen, die wir haben, und in hermetische Blechbüchsen, die wir als Tassen benützen, gefüllt. Wir fangen an zu essen und finden Alle, — ja sogar die Lappen — daß es vorzüglich schmeckt. Da entdeckt Ravna zu seinem Schreck und Entsetzen, daß [S. 254] das Fleisch in der Suppe nicht ganz durchgekocht ist, er kann infolgedessen nichts mehr herunterbringen, sondern sitzt da und setzt eine klägliche Miene auf, die unsere allgemeine Heiterkeit erregt. Sein kleines, scheckiges Gesicht ist unter solchen Umständen ganz unbezahlbar komisch. Balto ergeht es nicht viel besser, er kann freilich die Suppe trinken, die er „vorzüglich“ findet, das Fleisch aber schüttet er heimlich in eine Wasserlache in der stillen Hoffnung, daß ich es nicht bemerken soll. Er behauptet, daß er mit dem Propheten Elias sagen kann: „Herr, was ich nicht gegessen habe, das kann ich auch nicht essen.“ Ich suchte ihm begreiflich zu machen, daß Elias sicher so etwas nicht gesagt habe, denn er aß, was Gott ihm sandte, daß aber ein Mann, den man den Apostel Petrus nennt, allerdings so etwas Aehnliches gesagt haben solle, daß dieser Ausspruch aber mit einem Gesicht, das er hatte, in Zusammenhang stand und figürlich zu verstehen sei. Er schüttelte den Kopf ungläubig und beharrte bei seiner Meinung, daß nur Heiden und Thiere rohes Fleisch äßen. Zum Trost erhalten die Lappen jeder einen Fleischbiskuit. Es kann nicht nützen, alte Hunde das Bellen lehren zu wollen.
„ Dietrichson und Kristiansen fühlen heute Stechen in den Augen, ich ermahne nun meine sämtlichen Gefährten, sorgfältig im Gebrauch der Schneebrillen zu sein.
„Am Nachmittage ist der Zustand des Eises noch immer unverändert, wir treiben mit schneller Fahrt südwärts. Während der letzten Nacht hatten wir uns mehr vom Lande entfernt, jetzt nähern wir uns scheinbar wieder mehr.
„Am Nachmittage befinden wir uns dem von Graahs Reise bekannten Skjoldungen gegenüber. Von Igdloluarsuk an haben wir wieder eine herrliche Alpenlandschaft vor uns mit [S. 255] hohen, scharfen Zinnen und zerrissenen Formen, die besonders am Abend bei glühendem Sonnenuntergang von zauberhafter Schönheit sind.
„Die Bewegung wird auffallend stärker, obwohl wir ziemlich weit von dem offenen Eisrande entfernt sind. Da draußen muß ein sehr heftiger Seegang sein.
„Die Nächte fangen an, kalt zu werden, — deshalb legen wir so viel wie möglich von den Persenningen, Regenkleidern etc. unter die Schlafsäcke. Man muß sich eben das Leben so angenehm wie möglich machen.
„Als die Anderen sich schlafen legen, übernehme ich die erste Nachtwache, um meine Skizzen vom Lande zu vollenden, was mit großen Schwierigkeiten verknüpft ist, da die Nächte hier weiter nach Süden zu schon anfangen, dunkel zu werden.
[S. 256]
„Ringsumher herrscht tiefe Stille, kein Windhauch rührt sich, selbst die wachsende Bewegung vermag den tiefen Frieden nicht zu brechen. Groß und rund mit eigenartig röthlichem Glanz ist der Mond über die Eisfläche im Osten aufgegangen, am nördlichen Horizont ist noch ein schmaler, goldigglühender Abendstreifen sichtbar. Unter dem Mond am äußersten Rande des Eises schimmert wie ein glänzendes Band das rollende Meer, sonst erblickt man ringsumher, wohin das Auge reicht, nichts als Eis und Schnee, und im Hintergrunde hebt sich die grönländische Alpenlandschaft mit ihren feenhaft schönen Berggipfeln von dem halbdunklen, träumerischen Himmel ab. Welch wunderbare Sommernacht, wie weit entfernt aber von allem, was man mit Mondschein und Sommerträumen zu verbinden pflegt.
„Dort vor mir auf dem Eise stehen die Böte, die Schlitten und [S. 257] das Zelt, in dem jetzt die müden Gefährten in tiefem Schlummer liegen. Dort in der Süßwasserlache neben mir spiegelt sich der Mond still und friedlich. Die Gegenwart und alles, was uns umgiebt, schwindet, das ganze Leben liegt gleichsam aus einer Perspektive gesehen vor uns, die Größe der Natur läßt es so klein erscheinen. Und was für ein Unglück ist denn geschehen, wenn man alles recht bedenkt? Sechs Menschen treiben in südlicher Richtung auf einer Eisscholle. — —
„Den 26. Juli. Keine Veränderung, außer daß wir dem Rande des Eises und dem offenen Meer näher gekommen sind. Die Bewegung scheint merklich abgenommen zu haben, trotz der Nähe des Meeres macht sie sich weniger bemerkbar als gestern.
„Wir treiben südwärts an der Küste entlang, scheinbar mit großer Schnelligkeit.
„Es ist vorläufig nichts zu machen, das Eis ist nicht fest genug, um die Böte und Schlitten darüber hinzuziehen, liegt aber zu dicht, als daß wir uns hindurch rudern oder stängeln können.
„Regenwetter hält uns im Zelt zurück.
„Wir müssen alles thun, um die Lappen zu ermuntern, die ihren Muth mehr und mehr sinken lassen, sie glauben, daß wir schließlich in den Atlantischen Ocean hinaustreiben. Eines Tages sprechen wir davon, wann wir wohl an Land gehen werden, und einigen uns darüber, daß es uns jedenfalls am Kap Farvel gelingen muß. Wir rechnen aus, wann dies spätestens geschehen kann, und kommen zu dem Resultat, daß uns dann noch Zeit genug bleibt, um uns an der Küste entlang nördlich emporzuarbeiten, um über das Eis zu gehen. Einige meinen, daß es, selbst wenn es dies Jahr zu spät werden sollte, doch am besten sei, gleich [S. 258] so weit wie möglich in nördlicher Richtung an der Ostküste vorzudringen, dort zu überwintern und das Leben so gut es geht zu fristen, um dann im Frühling die Reise nach der Westküste anzutreten. Ich bin der Ansicht, daß dies kein vernünftiger Plan ist, da es sehr schwer sein wird, den mitgebrachten Proviant, den wir während der Wanderung über das Eis nothwendigerweise haben müssen, unberührt zu lassen, aber Dietrichson meint, daß dies doch unser einziger Ausweg sei, und — wie er sich ausdrückt — „wir riskiren ja nichts weiter als das Leben dabei“. Während wir so verhandeln, sagt Balto : „Redet doch nicht über so etwas, Nansen , wir kommen doch niemals an Land, wir treiben in den Atlantischen Ocean hinaus; ich bitte meinen Gott nur, daß er mich als bußfertigen Sünder sterben läßt, so daß ich in den Himmel kommen kann. Ich habe so viel Böses im Leben gethan, aber jetzt bereue ich es bitterlich, denn ich habe eine solche Angst, daß ich nicht selig werde.“ Ich fragte Balto , ob er es nicht für nothwendig halte, seine Sünden zu bereuen, selbst wenn er nicht so bald sterben müsse. Ja, das könne wohl nicht schaden, meinte er, aber es habe dann nicht so große Eile damit. Doch wolle er, wenn er diesmal mit heiler Haut davon käme, versuchen, ein besseres Leben zu führen. Wahrlich, ein naives Bekenntniß, das von einem eigenthümlichen Christenthum zeugt, einem Christenthum, wie man es aber leider wohl nur zu oft treffen kann. Ich fragte ihn, ob er denn, wenn er gerettet würde, das Branntweintrinken unterlassen wolle. Ja, er glaube wohl, wenigstens würde er nur ganz wenig trinken. Der verdammte Branntwein wäre schuld daran, daß er auf diese Reise gegangen sei. Ich fragte, wie das zu verstehen wäre. Er sei betrunken gewesen, als er N. N. begegnete, der ihn fragte, ob er mit nach Grönland wolle. Er wäre [S. 259] damals so muthig gewesen und habe gemeint, das sei etwas Rechtes für ihn. Aber am nächsten Morgen, als er seinen Rausch ausgeschlafen hatte und sich erinnerte, worauf er eingegangen sei, bereute er es bitterlich, meinte aber, es sei zu spät, um die Sache zu ändern, jetzt würde er gern viel Geld geben, wenn er nie mitgekommen wäre.
„Im übrigen ist die Stimmung im Zelt ganz vorzüglich; — wir fühlen uns dort, wo wir sind, sehr gemüthlich. Einige lesen, Andere führen ihr Tagebuch, Balto flickt Schuhe und Ravna thut am liebsten — wie gewöhnlich — nichts. Nur die Aussicht, vielleicht wieder ins Meer hinausgetrieben zu werden, ist nicht geradezu erbaulich.
„Gegen Nachmittag klärt es sich ein wenig auf, der Regen läßt nach, und wir können Land sehen, das jetzt ebenso nahe wie früher vor uns liegt.
„Eine Stunde später fassen wir den Beschluß, uns durch das Schlampeis hindurch zu arbeiten. Es ist gefährlich, aber es muß versucht werden; wir nähern uns noch immer mit reißender Fahrt dem offenen Meere. Unter steter Gefahr für unsere Böte kommen wir eine ansehnliche Strecke vorwärts. Es gilt acht zu geben und die Böte glücklich in einen Hafen zu bugsiren, sobald sich das Eis zusammenschiebt. Einmal retten wir uns [S. 260] gerade im letzten Augenblick auf eine kleine niedrige Scholle, die später unter dem Druck des Eises in mehrere Stücke zerberstet, auf der wir aber doch sicher liegen.
„Als das Eis andauernd fest bleibt, fangen wir an, die Böte darüber hinweg zu ziehen, was keineswegs eine leichte Arbeit ist, da die Eisschollen infolge der Bewegung im Wasser bald getrennt, bald gegeneinander getrieben werden und bald zerschellen. Am schwierigsten ist es, die Schlitten von einer Eisscholle auf die andere überzuführen, ohne sie in die See fallen zu lassen. Oft müssen wir lange warten, ehe wir zurückkommen können, um den Rest der Schlitten oder die Böte von der Scholle abzuholen, auf der wir sie verließen. Bei angestrengter Aufmerksamkeit kommen wir doch einigermaßen schnell vorwärts. Aber was nützt das alles? Freilich machen wir uns eine gute Bewegung damit, und das ist eine wichtige Sache, einen andern Nutzen hat es aber nicht. Die See arbeitet schneller als wir, und es hat den Anschein, als sollten wir wieder in die Brandung hinausgetrieben werden. Wohlan, sei es, dann wollen wir uns aber bei Zeiten einen sichern „Segler“ aussuchen. Wir nehmen eine förmliche Inspektion aller Eisschollen in der Nähe vor, wir haben jetzt ein gutes Verständniß davon, wie eine solche Eisscholle beschaffen sein muß. Schließlich bestimmen wir uns für eine, die aus bläulichem, festem Eis besteht, dick, aber nicht groß ist und ungefähr die Form eines Fahrzeuges hat, so daß sie sich leicht auf den Wellen wiegen kann, ohne zu zerschellen. Sie hat einen so hohen Rand, daß die See nicht so leicht darüber hinwegspülen kann, auf einer Stelle aber ist eine Lücke, durch welche wir die Böte mit Leichtigkeit von dem Wasser aus heraufziehen können. Dies ist ohne Zweifel die beste Eisscholle, die wir gehabt haben, und auf dieser gedenken wir — falls wir gezwungen [S. 261] werden, sie zu benutzen — so lange zu bleiben, wie wir uns halten können, mag auch die Brandung toben und brausen.
„Natürlich hatten wir uns auch diesmal vergewissert, daß sich genügend Wasser auf der Scholle befand, ehe wir uns bestimmten, sie zu wählen. Wasser findet man übrigens fast auf allen Schollen, indem der auf denselben liegende Schnee schmilzt und das beste Trinkwasser liefert, das sich in kleineren und größeren Lachen ansammelt. Da machten wir denn lange Gesichter, als wir einmal Wasser in unseren Kochapparat gefüllt hatten und sich nun beim Probiren herausstellte, daß es salzhaltig war. Wir hatten nicht daran gedacht, daß fast aller Schnee hier abgeschmolzen war. Wir fanden endlich auf den höchsten Punkten der Scholle, wo noch Schnee lag, gutes Trinkwasser.
„Am Abend wurde ein vorzüglicher Kaffee servirt. Die Stimmung war sehr animirt. Hätte Jemand den Kopf durch die Thür unseres gemüthlichen Zeltes gesteckt und uns um unsere brodelnde Kaffeemaschine sitzen sehen, so würde es kaum den Eindruck gehabt haben, daß dies Menschen waren, die voraussichtlich binnen kurzem hinaus sollten, um einen Kampf mit Treibeis, Meer und Brandung aufzunehmen, dem es wohl nicht an Ernst fehlen konnte.
„Wir befinden uns nun gerade vor dem Tingmiarmiuts -Alpenland. Eine schöne Felspartie immer schöner als die andere wechselt an Grönlands großartiger Küste ab. Im Grunde ist es gar nicht so übel, hier durch das Eis zu treiben, wir bekommen mehr von der Küste zu sehen, als dies sonst der Fall gewesen wäre.
„Ueber Nacht ist das Wetter schön, still, kalt und heller Mondschein, — ganz so wie gestern.
„Es muß die Wirkung des Kaffees sein, daß ich Gefallen [S. 262] daran finde, hier draußen zu sitzen und zu schwatzen, anstatt in den Sack zu kriechen, um frische Kräfte für die Anstrengungen des morgenden Tages zu sammeln. Gute Nacht!
„Den 27. Juli. Ich ging über Nacht doch nicht zu Bett. Das machte der Kaffee, — eine reine Kaffeevergiftung!
„Ich ging auf und nieder und schwatzte mit Sverdrup , während er Wache hielt. Wir tauschten Erinnerungen aus unsern Knabenjahren aus. Die ganze Menschheit und das Leben nehmen sich von hier oben im Treibeise gesehen so wunderlich fern aus. Erst gegen Morgen krochen wir in unsern Sack und fielen in einen unruhigen Schlummer.
„28. Juli. Gestern lagen wir still, ebenso heute. Unsere Furcht, am äußeren Rande des Eises wieder in die Brandung zu gerathen, war nicht ganz unbegründet. Wir näherten uns ihr gestern auf kaum 300 m . Wir sehnten uns jetzt fast darnach, hinaus zu kommen, da dies Leben im Treibeis doch ein Ende haben mußte, sobald wir in das offene Meer gelangten. Der Seegang war nicht stark und der Wind günstig, wir mußten in 24 Stunden bei Kap Farvel sein, und dort konnten wir sicher durch das Eis dringen und die Küste erreichen.
„Aber wir sollten nicht dahin gelangen. Als wir eine Weile an der Eiskante entlang getrieben waren, geriethen wir abermals an eine Zunge aus Treibeis, die sich südlich von uns zu erstrecken schien. Das Eis ist hier sehr schmal. Durch Peilung verschiedener Punkte der Küste entdeckten wir, daß wir — die wir uns hart am Rande des Eises befanden — ungefähr 3¾ Meilen vom Lande bei Mogens Heinesensfjord befanden.
„Gestern hatten wir regnerisches, kaltes Winterwetter mit bedecktem Himmel, heute lacht die Sonne warm und sehnsuchtweckend auf uns herab. Das Inlandseis nördlich und südlich [S. 263] von Karra Akungnak liegt rein und weiß wie eine ebene, scheinbar leicht befahrbare Fläche da; im Innern wird es durch Reihen von Nunataks unterbrochen, — und zwar durch weit mehr als auf Holms Karte verzeichnet sind. Es lockt und zieht uns weit, weit hin nach dem unbekannten Innern. Nun wohl, einmal wird unsere Zeit schon kommen!“ —
Mit diesem hoffnungsvollen Ausruf, der vielleicht wunderbar erscheinen mag, wenn man so häufig getäuscht worden ist, schließen meine Tagebuchsaufzeichnungen aus dem Treibeis. Die nächsten Aufzeichnungen kommen vom 31. Juli und lauten folgendermaßen:
„Welch ein Unterschied zwischen der Scenerie, die mich jetzt umgiebt, und der, inmitten welcher ich zuletzt schrieb: Damals Eis, Einsamkeit und das Brausen des Meeres, jetzt heulende Hunde, Heiden in Unmassen, niedergerissene Zelte, kurz — Leben, Wirksamkeit und Sommer, vor allem aber Grönlands Felsengrund unter unsern Füßen.“
Diese Worte schrieb ich beim Aufbruch von dem ersten Eskimolager, auf das wir stießen, ehe ich aber mit den Mittheilungen aus meinem Tagebuche fortfahren kann, muß ich erst erzählen, wie wir hierher gelangten.
Am Abend des 28. Juli, nachdem ich meine obenangeführten Aufzeichnungen beendet hatte, trat ein starker Nebel ein, der das Land vor unsern Blicken verbarg. Im Laufe des Vormittages hatte sich das Eis mehrmals ein wenig zertheilt, was um so bemerkenswerther war, da wir uns ganz nahe an dem äußeren Eisrande befanden, wo der Seegang am stärksten war; man durfte wohl erwarten, daß er das Eis zusammenhalten würde. Die Veränderung im Zustand des Eises war jedoch nicht bedeutend genug gewesen, als daß wir uns bei dem starken Seegang [S. 264] mit unsern Böten hätten durcharbeiten können. Als aber Einige von uns den gewöhnlichen Abendspaziergang vor dem Schlafengehen machen, fällt es uns auf, in wie hohem Grade das Eis mehr und mehr nachläßt. Es hat den Anschein, als ob das Eis nach der See zu sich mehr und mehr zertheilt, und das sieht ganz sonderbar aus. Aber wir sind müde und haben keine rechte Lust, — aufrichtig gesprochen, sind wir der ewigen Enttäuschungen überdrüssig; ich ging mit dem Gedanken um, in See zu gehen. So krochen wir denn in unsere Säcke. Eine Wache hatten wir aber wie gewöhnlich ausgestellt, und der Wächter erhielt die Ordre, uns zu wecken, falls das Eis noch mehr nachlassen sollte. In der Nacht verdichtete sich der Nebel, so daß wir nichts von unserer Umgebung sehen konnten.
Gegen Morgen hielt Sverdrup Wache. Er ging im Nebel auf und nieder, — erzählte er später, — sah nach dem Kompaß und dachte, ob er denn wirklich verrückt geworden sei. Entweder mußte er oder der Kompaß es sein, denn er hörte die Brandung in der Richtung, wo nach seiner Berechnung Westen sein mußte und wo folglich das Land lag, während wir sie bis dahin stets von Osten her, wo sich das Meer gegen das Eis brach, gehört hatten. Dies konnte nicht mit rechten Dingen zusammenhängen. Später erklärte sich die Sache, wie wir sehen werden, auf andere Weise. — Er hatte die Brandung an der Küste gehört.
Am Morgen lag ich eine Weile wach im Schlafsack, Ravna hatte die Wache gehabt und seine zwei Stunden wie gewöhnlich auf vier ausgedehnt. Ich lag lange da und amüsirte mich über sein kleines rundes bärtiges Gesicht, das durch die Thürspalte ins Zelt hineinguckte. Ich dachte, er grübele wie gewöhnlich darüber nach, ob jetzt wohl seine zwei Stunden abgelaufen seien, so daß er Kristiansen wecken könne, der nach ihm die Wache übernehmen [S. 265] sollte. Allmählich fiel mir aber der eigenthümlich unruhige Ausdruck seines sonderbaren Gesichtes auf. Ich fragte schließlich: „Nun, Ravna, kannst Du Land sehen?“ Nie werde ich den Ton vergessen, in welchem er auf seine naive Art erwiderte: „Ja, ja, Land, allzu nahe!“ (Beide Lappen bedienten sich der Verstärkung „allzu“ statt sehr oder viel.) Ich fragte, ob das Eis lose sei. „Ja, Eis lose.“ Diese Worte trafen mich wie ein Blitz. Ich sprang aus dem Sack und eilte an die Zeltthür. Vor uns lag das Land, näher als es jemals gewesen war. Das Eis war ziemlich lose und an der Küste gewahrte ich offenes Wasser. Ravna hatte wahrlich recht, das Land war „allzu“ nah, als daß wir müßig in unseren Säcken liegen konnten. Ich weckte die Gefährten, und wir fuhren in unsere Kleider und verzehrten unser Frühstück in fliegender Eile. Die Böte wurden ins Wasser gesetzt und beladen. Es währte nicht lange, bis wir fertig waren. Ehe wir die Eisscholle verließen, die uns so wohl geführt hatte und die aller Wahrscheinlichkeit nach unsere letzte sein sollte, begab ich mich auf den höchsten Punkt derselben, um zu sehen, welchen Weg wir einzuschlagen hatten. Im Eise war eine ganz merkwürdige Veränderung vor sich gegangen. Die ganze Treibeismasse schien vom Lande ab in südwestlicher Richtung getrieben zu sein. Ich konnte nur nach der Seite hin Eis entdecken, und die Luft über uns war ganz weiß, wie über großen Eismassen. In südlicher Richtung an der Küste entlang schien dagegen ganz offenes Wasser zu sein. Wir befanden uns nicht sehr weit davon entfernt, es erstreckte sich in einem langen Keil an der Küste und endete ein wenig nördlich von uns, wo das Eis hart bis an das Land hinan zu liegen schien. Wir befanden uns auf der inneren Seite der Eismasse, das Meer an der Außenseite konnte ich nicht mit Gewißheit erkennen.
[S. 266]
Wunderbar, wie schnell sich das Rad des Schicksals dreht! Es war ganz klar, daß wir das Land in kurzer Frist erreichen mußten; hätte uns jemand das gestern gesagt, so würde niemand von uns an eine solche Möglichkeit geglaubt haben.
Wir stießen von unserer Eisscholle ab, und so schnell wie acht starke Arme uns vorwärts zu führen vermochten, ging es durch das offene Wasser zwischen den Eisschollen hindurch. Wir konnten fast den ganzen Weg rudern, nur an einzelnen Stellen mußten wir uns Bahn brechen.
Nach Verlauf von wenigen Stunden waren wir aus dem Eise heraus. Das Gefühl, das uns beseelte, als wir unsere Böte an der letzten Eisscholle vorübersteuerten und das offene, blanke Wasser sich bis an die Küste erstrecken sahen, läßt sich kaum mit Worten beschreiben. Wohl niemals hat ein Arm mit größerem Entzücken das Steuerruder geführt, als der meine in jenen Stunden. Es war, als seien wir aus einer langen, traurigen Gefangenschaft erlöst, als breite sich die Zukunft plötzlich hell und lockend vor uns aus. Und das Leben war jetzt auch licht. Kann es je lichter vor uns liegen, als wenn man Aussicht hat, das Ziel seiner Sehnsucht zu erreichen, als wenn man nach langer, langer Ungewißheit wieder in eine sichere Spur gleitet? Das ist die zitternde Freude des hereinbrechenden Tages, und ist der Tagesanbruch nicht stets schöner, wonniger als der klare Tag?
[34] Ist die Luft am Horizont über dem Eise dunkel, so ist dies ein Zeichen, daß sich an der Stelle Schlampeis oder helleres Eis befindet; die dunklere Wasserfläche giebt in der Luft oder in den Wolken einen dunklen Widerschein. Solche Luft pflegt man Wasserhimmel zu nennen.
[S. 267]
o hatten wir denn endlich die erste Schwierigkeit unserer Reise überwunden. Wir hatten, wenn auch spät und auf einem südlicheren Breitengrad als wir beabsichtigten, den Treibeisgürtel an der Ostküste von Grönland durchdrungen und dies Ufer erreicht, was so Viele vor uns vergebens versucht hatten.
Es ist nicht mehr als unsere Schuldigkeit, daß wir, bevor wir weiter gehen, einen Rückblick auf diese Vielen werfen, die mit mehr oder weniger Glück oder Unglück uns den Weg bahnten, wenn auch unser Angreifen der Aufgabe sehr weit verschieden von der ihren war.
Die grönländische Ostküste wird bekanntlich nur von Wenigen besucht. Der Grund hierzu ist wohl hauptsächlich der, daß alle Diejenigen, welche eine Landung versucht haben, im Vordringen von dem Treibeis gehemmt wurden, das der Polarstrom südwärts führt, und das den größten Theil des Jahres in einem breiteren oder schmäleren Gürtel zusammengedrängt an der Küste entlang liegt.
Diese schwierigen Eisverhältnisse waren den alten Norwegern sehr wohl bekannt, was deutlich aus den vielen Berichten von [S. 268] Grönlandsreisen und Schiffsunglücken im Treibeis an dieser Küste, von welchen die Sagen berichten, hervorgeht. [35]
Einzelne Norweger müssen indessen die Küste erreicht haben.
So enthält die Floamanna-Sage (die in einer Handschrift aus dem Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts erhalten ist) einen Bericht, daß der norwegische Isländer Thorgils Orrabeinsfostre schon vor 900 Jahren (998) auf einer Reise nach der Westküste Grönlands (zu Erik Raude in Østerbygden) von widrigen Winden zurückgehalten wurde und nach vielen Drangsalen Schiffbruch an der Ostküste von Grönland unterhalb der Eisgletscher in einer Bucht an einem sandigen Ufer erlitt, zu deren beiden Seiten große Eisgletscher ins Meer hinausragten. [36] Sehr bezeichnend ist es, daß sich dies im Herbst, Mitte Oktober zugetragen haben soll, in einer Jahreszeit, in der die Küste nach unseren jetzigen Erfahrungen am leichtesten zugänglich ist.
Die hier ans Land Geworfenen sollen aus Thorgils samt Frau und ganzem Hausstand, sowie einem anderen Mann, Jostein , ebenfalls mit Frau und Hausstand, bestanden haben. Die Sage beschreibt sehr eingehend, wie Thorgils vier Winter und vier Sommer hindurch sein Leben an dieser ungastlichen Küste fristet, vermittelst der spärlichen Hülfsmittel, die er sich dort verschaffen konnte und dem Wenigen, was aus dem Schiff geborgen war — ein Boot, ein paar Stück Kleinvieh und etwas Mehl.
[S. 269]
Zwei Winter und den dazwischen liegenden Sommer hielt sich Thorgils an dem Orte auf, wo er gestrandet war, indem er des Eises wegen nicht fortkommen konnte. [37]
Zu Anfang des ersten Winters gebar Thorgils Gattin, Thorey , einen Sohn. Im Laufe desselben Winters starb Jostein , seine Gattin und seine sämtlichen Hausgenossen infolge der Seuche. (Wahrscheinlich Skorbut.) Es geht aus der Sage hervor, daß Jostein es nicht verstanden hat, seine Mannen in der nöthigen Zucht zu halten. Im Frühling, der auf den zweiten Winter folgte, als Thorgils eines Tages mit einigen Begleitern oben auf die Gletscher hinaufgestiegen war, um zu sehen, wie es mit dem Treibeise stehe, wurde Thorey von seinem Verwalter und den Leibeigenen ermordet, worauf diese mit dem geretteten Boot und den eingesammelten Lebensmitteln gen Süden flüchteten. Als Thorgils heimkehrte, fand er sein Haus geplündert und seine Gattin todt auf dem Bette liegen, das Kind aber an der Brust der Leiche saugend. Dies war der härteste Schlag, der Thorgils widerfahren war, und die Sage berichtet, daß er das Leben des Kindes rettete, indem er einen Einschnitt in eine seiner Brustwarzen machte und es sein Blut saugen ließ; durch ein Wunder wurde das Blut später in Milch verwandelt. Um sich Nahrungsmittel zu verschaffen, mußten Thorgils und seine wenigen Begleiter wieder auf die Jagd gehen, und an Stelle des gestohlenen Bootes verfertigten sie sich ein Fahrzeug aus Fellen, das inwendig mit Holz oder Weidenzweigen steif gemacht wurde.
Dann löste sich der Eisgürtel und zwei ganze Sommer hindurch arbeiteten sie sich nun in südlicher Richtung am Lande entlang, [S. 270] bis sie — wahrscheinlich in der Nähe von Kap Farvel, einen Ort erreichen, wo ein landflüchtiger Mann, Rolf aus Østerbygden, sich angesiedelt und ein Haus gebaut hatte. [38] Bei ihm blieb Thorgils den Winter über und zog dann im nächsten Sommer südwärts weiter, an der Landspitze vorüber, bis er nach Østerbygden gelangte.
In dieser Sage ist viel Märchenhaftes enthalten, so z. B. daß Thorgils Besuch von Thor erhielt, und die oben erwähnte Geschichte , wie er das Kind säugte etc. Dies muß die Zuverlässigkeit des ganzen Berichts in Zweifel stellen.
Die Beschreibung des Landes, an welchem Thorgils entlang zog, sowie die der Naturverhältnisse, stimmt indessen so genau mit den wirklichen Verhältnissen an der Ostküste Grönlands überein, daß sie unmöglich ganz erdichtet sein kann, sondern von Leuten herstammen muß, welche diese Küste gesehen haben, ja die sogar sehr vertraut mit den dortigen Verhältnissen gewesen sein müssen. Wenn man z. B. liest, wie Thorgils im Frühling oder im Frühsommer auf die Gletscher hinaufstieg, um über das Meer zu schauen, ob sich das Eis schon gelöst habe, da muß Jeder, der die ostgrönländische Küste kennt, sich in Gedanken dorthin versetzt fühlen. Wenn ferner beschrieben wird, wie sie weiterziehen, vorüber an Eisgletschern und steilen Bergen, wie sie auf dem südlicheren Theil ihrer Fahrt an vielen Fjorden vorüberrudern, und wie das Eis während des größten Theils des Jahres bis hart an die Küste dicht zusammengestaut liegt, — da kann dies alles kaum auf andere Gegenden als auf die Ostküste Grönlands passen.
[S. 271]
So scheint es denn, daß, wenn auch die Erzählung von den sonderbaren Erlebnissen Thorgils mehr oder weniger erdichtet ist, der Verfasser oder die Verfasser dennoch dies Land sehr wohl gekannt haben müssen, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß die alten Norweger häufiger entweder im Treibeis oder an der Küste Schiffbruch gelitten und sich auf das Land gerettet haben. [39]
Daß unsere Vorfahren die ostgrönländischen Eisverhältnisse sehr wohl kannten, geht übrigens ganz deutlich aus dem „Kongespeilet“ (ca. 1250) hervor, dort heißt es: „Noch heute giebt es in demselben Meer gar viele Wunder, obwohl sie nicht zu den Ungeheuern zu rechnen sind, denn sobald man das Meiste des wilden Meeres hinter sich hat, befindet sich in der See eine solche Unmenge von Eis, wie man etwas Aehnliches nirgends in der ganzen Welt je gesehen hat. Einige von den Eisstücken sind so flach, als wären sie auf dem Meere selber gefroren, dabei sind sie 4 und 5 Ellen dick und liegen so weit vom Lande entfernt, daß man 4 Tage und länger über das Eis gehen kann, bis man das Land erreicht. Das Eis aber liegt mehr nach Nordosten oder nach Norden vor dem Lande als nach Süden oder Südwesten oder Westen, und deswegen muß Jeder, der das Land erreichen will, so weit segeln, bis er an allen diesen Stellen, wo Eis zu erwarten ist, vorübergekommen ist, und dann von dort bis an das Land segeln. Es ist aber den Seefahrern häufiger zugestoßen, daß sie das Land zu hastig gesucht haben, und dadurch in das Eis gerathen sind. Einige aber haben sich daraus gerettet, und von diesen haben wir Etliche gesehen und ihre Rede und ihren Bericht angehört. Aber Alle, die zu diesem [S. 272] Treibeis gelangt sind, haben sich des Mittels bedient, daß sie ihre Böte genommen und sie hinter sich her über das Eis gezogen und sich an Land begeben haben, das Seeschiff aber und all ihr Hab und Gut ist zurückgeblieben und verrottet. Einige haben sogar 4 oder 5 Tage, Andere noch länger auf dem Eise kampirt, ehe sie das Ufer erreichten.
Dies Eis ist sehr wunderbar in seiner Beschaffenheit, es liegt zuweilen so still, daß man annehmen könnte, verschiedene Waaken und große Fjorde vor sich zu haben; zuweilen aber bewegt es sich so schnell, daß ein Schiff, das guten Wind hat, nicht so schnell segeln kann, und dabei treibt das Eis ebenso häufig gegen den Wind an wie mit demselben. Es giebt in diesem Meere auch noch Eis von anderer Beschaffenheit, das die Grönländer Fald-Jokler ( Fall Jökla ) [40] nennen. Die Gestalt dieses Eises gleicht einem hohen Felsen, der aus dem Meere emporragt. Diese Eisberge vermischen sich nicht mit anderem Eis, sondern stehen ganz isolirt da.“
Diese Beschreibung ist so vorzüglich, daß sie noch heute vollkommen genügen würde. Es geht deutlich daraus hervor, daß die Eisverhältnisse im grönländischen Meer und in der Dänemarkstraße zu jener Zeit dieselben waren wie jetzt, und die Behauptung, daß man aus den Sagen schließen kann, sie seien damals anders gewesen, ist völlig unbegründet. [41]
Eine Zeit nachdem der „Kongespeilet“ geschrieben war, fing [S. 273] die Verbindung mit Grönland allmählich an aufzuhören, die norwegischen Kolonien verfielen und die erworbenen Kenntnisse von den grönländischen Verhältnissen geriethen in Vergessenheit.
Die Erinnerung an Grönland ist jedoch niemals geschwunden, und unter den dänisch-norwegischen Königen nach Schluß des Mittelalters ist oft die Rede davon, Leute auszusenden, um das verlorene „norwegische (Steuer-) Land“ wieder zu finden. So war unter Christian II. viel die Rede davon, indem der norwegische Erzbischof Valkendorf beschlossen hatte, Grönland wieder unter das Drontheimsche Bisthum zu bringen, aber sein Plan gelangte nicht zur Ausführung. Erst über die Mitte des Jahrhunderts hinaus dachte man ernstlicher daran, das Land zu suchen, und sandte wirklich eine Expedition zu diesem Zwecke aus.
Die ersten Expeditionen scheinen hauptsächlich nur den Zweck gehabt zu haben, das Land wiederzufinden, gleichgültig an welchem Punkt; da war es denn ganz natürlich, daß man in der Regel zuerst an die Ostküste kam, die am nächsten gelegen war, und hier zu landen suchte. Ich will in aller Kürze die wichtigsten dieser Versuche, die Ostküste zu erreichen, besprechen.
Im Jahre 1579 wurde der Engländer James Alday (oder Jakob Aldax oder Aldag , wie er in der norwegischen Urkunde, Bestallungsbrief, genannt wird) an die Spitze einer Expedition gestellt, [42] welche zwei Schiffe umfaßte, und erhielt [S. 274] den Befehl, „Grönland besuchen zu sollen, — auf daß selbiges Land wieder unter seine rechte Obrigkeit (d. i. die Krone Norwegens) komme — desgleichen, daß die sämtlichen Gemeinden dort zu Lande Gott dem Allmächtigen zu Lob und Ehren zum christlichen Glauben gebracht werden und die wahre Religion und Gottesdienst empfahen. [43] “
Ein an Bord dieses Schiffes, auf welchem sich Alday selber befand, geführtes Tagebuch, ist der einzige bekannte Bericht von dieser Reise. [44] Man ersieht daraus, daß die Expedition am 26. August, Morgens 6 Uhr, nachdem man 7 Tage vorher die Anker in Island gelichtet hatte, der Ostküste Grönlands ansichtig wurde. An welcher Stelle der Ostküste dies war, ist nicht leicht zu sagen. Es heißt nur, daß, als sie „westnordwest am Lande entlang gingen, auch war der Wind nördlich und waren wir damals oft 10 Seemeilen vom Lande entfernt“. Daraus, daß sie in westnordwestlicher (mißweisender) Richtung gingen, sowie aus dem bald darauf folgenden Passus: „Und sagte unser Kapitän, daß anderthalb hundert Seemeilen zwischen Island und Grönland lägen“, scheint mir hervorzugehen, daß sie sich eine gute Strecke nördlich vom Kap Dan befunden haben, was auch mit dem folgenden Bericht stimmt, in dem es von dem nächsten Tag (dem 27. August) u. a. heißt: „Als wir aber auf 4 Seemeilen nahe an das Land kamen, war da viel Eis dicht am Ufer, deswegen gingen wir den ganzen Tag in südwestlicher Richtung weiter und konnten doch nirgends eisfreies [S. 275] Land sehen. Außer dem Eis, das an der Küste lag, kamen uns große Stücke Eis, so groß wie Kirchen entgegen.“
Ueber das Land heißt es:
„Es waren eitel hohe und große Steinklippen, wie die Felsen in Norwegen und Island, und die vordersten Klippen waren so spitz wie nach oben zu die Thürme, und zwischen den Klippen und oben auf ihnen lag sehr viel Schnee.“
Dies ist eine gute Beschreibung von den Felsen um Ingolfsfjeld. Dann gelangte man weiter gen Süden, und am 29. August erblickte man einen großen und übermäßig hohen steinernen Felsen, der sich vom Lande aus in das Meer hinaus schob mit einer Landzunge (wahrscheinlich in der Nähe von Kap Dan) wo man zu landen gedachte, „denn wir sahen eine Bucht bei demselben Felsen“.
Eine halbe Meile vom Lande entfernt wurde man indessen am Vordringen gehindert „durch sehr viel Eis, das am Ufer lag, weshalb wir wieder in die See hinaus mußten, und wollte unser Kapitän an dem Tage westlich davon landen, denn das Eis verringerte sich mehr und mehr und das Land wurde hier auch flacher.“
Dies ist wahrscheinlich westlich vom Kap Dan gewesen, die Küste biegt hier nach Westen zu um, der Eisgürtel pflegt schmäler zu werden, oder doch jedenfalls im Westen vom Sermilikfjorde, und das Land um diesen Fjord herum und weiter nach Süden zu ist auffallend flacher als das nördlicher gelegene Land.
Nachdem sie ihren Kurs von der Küste entfernt gehalten hatten, wurden sie von einem Sturm überfallen und gezwungen, nach großen Gefahren heimzukehren, ohne das Land zum zweitenmal in Sicht bekommen zu haben.
[S. 276]
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß dieser Bericht ganz zuverlässig ist, und daß also diese erste Expedition, die eine halbe Meile vom Lande entfernt blieb, diejenige ist, die, soweit wir wissen, der Ostküste Grönlands bis zum Jahre 1883 von der Seeseite aus am nächsten gekommen ist. Ende August beginnt nämlich das Land bei Kap Dan in der Regel schon zugänglicher zu werden, schon vor Mitte dieses Monats fanden wir es eisfrei. [45]
Alday war indessen der Ansicht, daß der ungünstige Ausfall seiner Reise eine Folge der vorgerückten Jahreszeit sei. Für das nächste Jahr wurde deswegen eine neue Expedition unter seiner Leitung vorbereitet. Ob diese zur Ausführung gelangte, ist unsicher und erscheint nicht glaubhaft, da man nichts davon gehört hat.
Dagegen unternahm im Jahre 1581 „ein Bagge und Norsker Mand“, Mogens Heinessön [46] eine Reise auf eigene Kosten, um Grönland zu entdecken.
Er war übrigens im Besitz eines königlichen Schutzbriefes, auch war ihm für den Fall eines günstigen Ausganges eine königliche Belohnung zugesichert. Dieser „ dapffer Hane oc Styris Mand goed “ nahm den alten norwegischen Kurs nach Grönland und bekam Grönlands Ostküste in Sicht, ja soll sogar den alten Felsen „Hvidsärk“ gesehen haben.
[S. 277]
Diese ganze Beschreibung von Heinessöns Reise ist in der „Grönländischen Chronika“ [47] enthalten, aus welcher dies Citat entnommen wurde, das leider den einzigen Bericht bildet, den wir darüber haben. Wir erhalten jedoch den deutlichen Eindruck, daß der „ dapffre Hane “ die Eisverhältnisse an der Ostküste von Grönland eben so ungünstig gefunden hat, wie sie heutzutage sind.
Wir sehen, daß er sich von Island aus „nordwärts und dann gen West“ begeben hat, daß er den „Hvidsärk“ erblickte, aber erst später bekam er „allmählich das Land in Sicht“. Inwieweit dies dem Verfasser zur Last gelegt werden muß, und ob er dies hinzugedichtet hat, nach der damals allgemein herrschenden Ansicht, daß Hvidsärk in der Mitte zwischen Grönland und Island liegen sollte, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen, scheint aber sehr wahrscheinlich. Weniger annehmbar scheint mir die Auslegung, daß Mogens Heinessön einen großen Eisberg getroffen haben soll, was in diesem Fahrwasser freilich vorkommen kann; er hätte seinen Irrthum bald einsehen müssen, da ein solcher Eisberg ja ganz isolirt im Meere liegt.
Wenn es heißt, daß das Schiff durch einen in der Tiefe liegenden Magnet in seiner Fahrt gehemmt würde, so scheint mir die natürlichste Erklärung hierfür, daß dies entweder ein [S. 278] gänzlich aus der Luft gegriffener dichterischer Zusatz des Verfassers ist, der in Zusammenhang steht mit dem damals herrschenden Aberglauben an das magnetische Eismeer, und dies scheint mir das Natürlichste, — oder auch es ist hierunter die in südwestlicher Richtung gehende Meeresströmung zu verstehen, welche die in nordöstlicher Richtung segelnden Schiffe am Weiterkommen hindert. Kurz vor dieser Stelle steht, daß sie diesen Weg zogen.
Jeder, der es versucht hat, gegen diese Strömung anzukreuzen, weiß, was das sagen will, und daß man bei etwas Aberglauben gar leicht in Versuchung gerathen kann an „Magnete in der Tiefe“ zu glauben.
Die Expeditionen, welche von Dänemark im Jahre 1605 [49] unter Leitung des Schotten John Cunningham (als Chef der Expedition), des Engländers James Hall (als Prinzipal-Pilot ), des Dänen Godske Lindenow und des Engländers John Knight , sowie 1606 mit Godske Lindenow als Höchstkommandirendem unternommen wurden, machten, soweit man nach den spärlichen Berichten, die wir darüber haben, urtheilen kann, keinen Versuch an der Ostküste Grönlands zu landen. Die Behauptung, daß Godske Lindenow während [S. 279] der ersten Reise am südlichen Theil der Ostküste gelandet sein soll, scheint mir auf keiner haltbaren Basis zu beruhen.
Diese Expeditionen landeten an der Westküste von Grönland, da sie aber von dort keine Ausbeute heimbrachten, die nur einigermaßen mit den Erwartungen im Einklang stand, so glaubte man, daß dies die Folge davon sei, daß man das vermeintliche früher so reiche „Österbygd“ noch nicht gefunden habe.
Bereits im Jahre 1607 wurde eine neue Expedition unter Leitung des Holsteiners Karsten Richardsen mit dem Engländer James Hall als „Pilot“ von Christian IV. ausgesandt, um „Österbygden“ zu suchen. Man war des Erfolges so sicher, daß man Norweger und Isländer mitsandte, die als Dolmetscher dienen sollten, falls man Nachkommen der alten grönländischen Norweger treffen würde.
„Sie sollen,“ so heißt es in der Instruktion des Königs [50] an die Expedition, „mit Fleiß erforschen, ob sich die früher erwähnten Kirchen, Klöster, Felsen, Landzungen, Fjorde, Höfe u. a. noch dort befinden. Item ob dort ein Bischof, Pfarrer, Voigt ist, an den sie Abgaben entrichten, und dem sie Gehorsam beweisen.“
Daß man damals keine ganz verkehrte Vorstellung von der Lage von „Österbygden“ hatte, geht ganz deutlich aus derselben Instruktion hervor, indem Christian IV. darin sagt, daß der Eriksfjord — „der vornehmste Fjord in Österbygden — südwestlich auf dem Lande zwischen dem 60. und 61. Grade ungefährlich liegt, jedoch gegen die Ostseite des Landes.“
[S. 280]
Sie sollten auf diese südöstliche Landspitze zusteuern und nachdem Österbygden untersucht war, sollten sie sich gen Norden an der Ostküste entlang begeben, um dieselbe zu untersuchen.
Nach den Berichten in Lyschanders Grönländischer Chronica, bekamen sie Grönlands Ostküste am 28. Juni auf dem 59° N. Br. in Sicht. Sie nahmen ihren Kurs auf das Land zu, wurden aber von dem Treibeis am Landen verhindert.
Dann segelten sie nordwärts an der Ostküste entlang und müssen nach Lyschanders Beschreibung viele Versuche gemacht haben, durch das Eis zu dringen, bis sie am 1. Juli zwischen dem 63. und 64. Grad N. Br. den letzten verzweifelten Versuch wagten, der jedoch nicht glücklicher ausfiel als die vorhergehenden.
So mußten sie denn ihre Hoffnung aufgeben und wurden theils durch Sturm, theils durch Wassermangel gezwungen, heimzuwenden. Noch im Juli erreichten sie Kopenhagen.
In den Jahren 1652, 1653 und 1654 wurden von einem dänischen Privatmann, dem General-Zollverwalter Henrik Möller , welcher einen königlichen Freiheitsbrief zu dem Zweck erhalten hatte, drei verschiedene Entdeckungs-, Fang- und Handelsexpeditionen ausgesandt. Dieselben wurden von einem Ausländer, wahrscheinlich einem Holländer Namens David Danell (oder De Nelle ) geleitet.
Die erste dieser Reisen ist hauptsächlich für die Geschichte der grönländischen Ostküste von Interesse, indem verschiedene [S. 281] kräftige Versuche, sie zu erreichen, gemacht wurden. [51] Da die früheren Expeditionen an die Ostküste mißglückt waren, nahm Danell seinen Kurs weiter nördlich nach dem alten Seeweg, dem sog. „Eriksstevne“ zu. Er reiste nördlich um Island herum, steuerte dann in südwestlicher Richtung weiter und befand sich am 29. Mai auf dem 64° 19′ seiner Vermuthung nach 50 Meilen von Reykjanäs entfernt. Am 2. Juni bekamen sie Grönlands Ostküste in Sicht, vermuthlich bei Kap Dan, [52] konnten aber weder an diesem noch an einem der folgenden Tage landen, weil das Eis 4-7 Meilen vom Lande entfernt lag. [53]
[S. 282]
Am 9. Juni wollten sie einen Hafen suchen, wahrscheinlich südlich vom Kap Dan, „aber das Eis lag 2 Meilen breit im Hafen und vor dem Lande. Sie setzten nun ein Boot aus, um einen Versuch zu machen, über das Eis zu gehen, aber dies fing an zu brechen (?) und hätte sie fast alle ins Unglück gestürzt.“
Dann segelten sie südwärts an der Ostküste entlang und da sie dieselbe überall mit Eis versperrt fanden, gingen sie um die Mitte des Juni an Kap Farvel vorbei nach der Westküste.
Auf dem Rückwege machte Danell Ende Juli einen neuen Versuch, die Ostküste zu erreichen und ist scheinbar damals dem Lande sehr nahe gewesen; am 23. Juli will man sogar vor einem Fjord oder einer Bucht gewesen sein, die ganz eisfrei war, „und wenn die Nacht nicht so schnell hereingebrochen wäre, würde man in den Fjord hineingesegelt sein“.(?) Weiter nach Norden zu, auf dem 63° N. Br. will man bis auf 1 Meile an das Land hinangekommen sein, wo sie jedoch das feste (?) Eis in einer Ausdehnung von ½ Meile (?) liegen sahen u. s. w.
[S. 283]
Es geht aus Danells Reise deutlich hervor, daß die Eisverhältnisse an der Küste zu jener Zeit im Juni und im Juli genau dieselben gewesen sind wie heutzutage.
Im folgenden Jahre (1653) im Juni segelte Danell abermals an der Ostküste entlang bis zu Kap Farvel, wurde aber überall von dem Eise verhindert, sich dem Lande zu nähern. Am 19. Juni glaubte man auf dem 64° N. Br. das Herjolfsnäs der alten Norweger zu erblicken, wo das Eis sich fünf oder sechs Meilen vom Lande aus erstreckte. Dann besuchte man Grönlands Westküste.
Ob Danell auf der Rückreise zu Anfang August abermals einen Versuch machte, die Ostküste zu erreichen, ist nicht bekannt, im Bericht heißt es nur, daß er, als er die Ostküste durch Eis versperrt fand, den Entschluß faßte, nach Island zu gehen.
1654 treffen wir Danell abermals an Grönlands Ostküste, diesmal scheinbar weiter nach Süden zu, und er ist dort wahrscheinlich nur auf dem Wege nach der Westküste vorübergereist. Ueber die Reise selber weiß man nur sehr wenig, außer, daß sie vor Baals Revier (d. h. im Godthaabs-Fjord) „eine Seejungfrau mit aufgelöstem Haar und von großer Schönheit“ erblickten.
Im Jahre 1670 wurde ein Seekapitän, Namens Otto Axelsen , von dem dänischen König ausgesendet, um das alte Grönland aufzusuchen. Er kehrte noch im nämlichen Jahr zurück, aber es ist nichts über diese seine erste Reise bekannt.
Im darauffolgenden Jahre (1671) wurde er abermals ausgesandt, aber er kehrte niemals wieder heim. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sein Fahrzeug bei einem Versuch, an der Ostküste von Grönland zu landen, zerschellt ist.
Danell hatte ohne jeglichen Grund das „Herjolfsnäs“ der Alten — das in der Nähe von Österbygden liegen sollte — [S. 284] an die Ostküste verlegt (siehe oben ). Dies hat, verbunden mit dem Umstande, daß man die Nachkommen der alten Norweger an der Westküste noch nicht gefunden hatte, Theodor Thorlacius dazu verleitet, auf seiner Karte über Grönland (aus d. J. 1668 oder 1669) Österbygden an die Ostküste von Grönland zu verlegen, und dadurch war man für lange Zeiten in Bezug auf die Lage irregeführt worden. Es handelte sich daher für die Expeditionen, die an der Ostküste zu landen versuchten, nicht allein darum, Grönland zu erreichen, sondern auch Österbygden zu finden.
Im Anfang des 18. Jahrhunderts (1721) kam bekanntlich der Norweger Hans Egede nach Grönland; er gründete dort eine Kolonie, und später wurden dort mehrere gegründet. Egedes Hauptzweck war es gewesen, den Nachkommen der alten Norweger das Licht des Christenthums zu bringen, aber auch er konnte keine solchen finden. Er war indessen fest davon überzeugt, daß es deren an der Ostküste geben müsse.
Aus einem vom 29. August 1724 [54] datirten Bericht ersieht man, daß die Compagnie in Bergen, die Egede aussandte, einem seiner Schiffe (dem Hucker „Egte Sophia,“ Kap. Hans Faester ) den Befehl gegeben hatte, „die östliche Seite des Landes Grönland aufzusuchen und zu rekognosciren, da es aber überall vom 66½° bis zum 60° mit Eis bedeckt gewesen ist, so ist auch dieser Plan nicht so glücklich ausgefallen, wie man es gerne gesehen und gewünscht hätte“. Am 12. Mai erreichte das Schiff die Küste Grönlands und scheint drei Monate lang dem Eise entlang zwischen dem 66° 30′ N. Br. und dem 60° 28′ N. Br. gekreuzt zu haben in einer Entfernung von der Küste, [S. 285] welche „bisweilen 5, 10, 15, 20 und 25 Meilen betrug“ und „ohne einen Annäherungspunkt oder einen Zugang gefunden zu haben“.
Es scheint, als habe man nun für längere Zeit den Muth verloren, ein Landen an der Ostküste von der Seeseite aus zu versuchen. Erst im Jahre 1786 wurde auf Veranlassung des Bischofs Paul Egede , Hans Egedes Sohn, eine neue Expedition von zwei Schiffen ausgesandt, um Österbygden wiederzufinden. Die Expedition wurde unter die Leitung des Kapitänlieutenants Paul de Löwenörn gestellt.
Am 3. Juli bekamen sie zwischen dem 65° und dem 66° N. Br. ein hohes, bergiges Land in Sicht (nördlich von Kap Dan), das sie den ganzen Tag und den folgenden Morgen sahen; da scheint Löwenörn indessen durch das Treibeis abgeschreckt zu sein, wenigstens entfernte er sich wieder von „Grönlands eisumgürteter Ostküste“, um einige Tage später nach Island zurückzukehren, wo er längere Zeit im Dyrafjord vor Anker lag. Dies war das einzige Mal, daß er das Land in Sicht bekam. Am 23. Juli ging er freilich abermals aus, um einen Versuch zu machen; da er aber schon am folgenden Tage auf Treibeis stieß, scheint er die Hoffnung sehr schnell aufgegeben zu haben; kurz darauf kehrte er mit seinem größten Schiff nach Dänemark zurück. Obwohl dies ein früherer Walfischfänger war, und also ausschließlich für die Fahrt im Eismeere erbaut, sah er weniger von der Ostküste als die meisten seiner Vorgänger. Eine besondere Vorliebe für das Treibeis scheint er hiernach nicht gehabt zu haben. Es mag zu seiner Entschuldigung dienen, daß er als Marineoffizier keine Erfahrung in der Eismeerschiffahrt hatte.
Als er nach Hause reiste, hinterließ er sein kleineres Fahrzeug, [S. 286] die Yacht „Den nye Pröve“ unter dem Kommando von Sekondelieutenant Christian Thestrup Egede (einem Sohn des Bischof Paul Egede ), damit dieser weitere Versuche zur Auffindung von „Österbygden“ machen könne. Als Nächstkommandirender wurde auf seinen speciellen Wunsch der Sekondelieutenant C. A. Rothe angestellt.
Was Löwenörn an Muth und Unternehmungsgeist fehlte, scheint Egede in um so höherem Maße besessen zu haben, und mit der ganzen Begeisterung seiner Jugend setzte er alles daran, um den Traum seines Vaters: die Wiederentdeckung von Österbygden, zu verwirklichen. Schon am 8. August — am selben Tage, an dem Löwenörn heimsegelte — stach er mit seiner kleinen Yacht in See, um noch in diesem Jahr einen ernsten Versuch zur Erreichung der Küste zu machen.
Am 16. August bekamen sie das Land (wahrscheinlich nördlich von Kap Dan) in Sicht, konnten aber infolge des Eises, das sich 7 Meilen von der Küste erstreckte, nicht landen.
Am 20. August kamen sie weiter südlich vor der Mündung eines 1 Meile breiten Fjordes — zweifelsohne des Sermilik-Fjordes — dem Lande bis auf 2½ Meilen nahe; aber auch hier hemmte das Eis ihr Vordringen.
Eine Reihe von Stürmen, die sie schließlich zwangen, sich nach Island zurückzuziehen, verhinderte sie späterhin, in diesem Jahr dem Lande näher zu kommen.
Im Jahre 1787 machten Egede und Rothe nicht weniger als sechs Versuche [55] , von Island aus die Ostküste Grönlands zu [S. 287] erreichen, aber obwohl ihnen in diesem Jahr noch ein Fahrzeug — ein zweiter „Hucker“ — von Kopenhagen nachgesandt wurde, gelang es ihnen nur einmal, Land in Sicht zu bekommen. Dies geschah am 17. und 18. Mai, als sie in einer tiefen Bucht im Eise nördlich von Kap Dan dem Lande bis auf 6 oder 7 Meilen nahe kamen.
Der letzte Versuch wurde vom 11. bis zum 29. September gemacht. Bei der Kenntniß, die wir jetzt von den Eisverhältnissen an der Küste südlich von Kap Dan haben, muß es merkwürdig erscheinen, daß sie zu einer so späten Jahreszeit nicht landen konnten; der Grund hiervon war aber, daß sie sich zu weit nach Osten und Norden hin befanden und außerdem mit Stürmen und schlechtem Wetter zu kämpfen hatten.
Im Jahre 1833 [56] (am 28. und 29. Juli) erblickte der französische Marineoffizier, Lieutenant de Blosseville , einen Theil der Ostküste zwischen dem 68° und 69° N. Br., konnte aber des Eises wegen nicht landen. Infolge von Havarie sah er sich bald nachher gezwungen, nach Island zurückzukehren. Am 5. August zog er abermals aus, seither hat man aber nie wieder von ihm gehört.
Im Jahre 1859 kam der amerikanische Oberst Schaffner in dem Barkschiff „Wyman“ nach Grönland, um zu untersuchen, ob nicht ein Telegraphenkabel von Europa nach Amerika über Grönland gelegt werden könne. Am 10. Oktober ging er von Julianehaab südwärts an Kap Farvel vorüber und an der Ostküste entlang, ungefähr bis zu der Höhe des Lindenow-Fjords [S. 288] (auf dem 60° 25′ N. Br.). Er entdeckte „auch nicht eine Handbreit Treibeis“ an der Küste, was sehr wahrscheinlich ist, da sie zu einer so späten Jahreszeit eisfrei zu sein pflegt. Ein Nordsturm, der das Schiff seewärts trieb, hinderte ihn jedoch, an der Küste zu landen.
Am 18. Juli 1860 kam Mc. Clintock an Bord des „Bulldog“ bei Kap Wallö (60° 34′ N. Br.) unter die Küste, wurde aber durch Eis am Landen verhindert.
Darauf ging er nach der Westküste und später nach Amerika. Auf der Heimreise, nachdem er Julianehaab besucht hatte, näherte er sich der Ostküste Grönlands abermals und kam am 8. Oktober bei Prinz Christians-Sund (60° 2′ N. Br.) dem Lande bis auf eine geographische Meile nahe. Er stieß hier auf sehr wenig Treibeis, in der Nacht aber erhob sich ein heftiger Sturm, der drei Tage anhielt und den „Bulldog“ in die See zurücktrieb.
Im selben Jahr (1860) am 11. September kam abermals der Oberst Schaffner , diesmal an Bord des hölzernen Dampfers „Fox“, unter Leitung des englischen Polarfahrers Kapitän Allen Young bei Kap Bille der Ostküste Grönlands nahe (ungefähr auf dem 62° N. Br.). Der Zweck dieser Expedition wie derjenige der eben erwähnten „Bulldog“-Expedition war die Anstellung von Untersuchungen in Veranlassung der von Oberst Schaffner projektirten Telegraphenkabellegung über Grönland.
Bei Kap Bille fanden sie, wie mir Allen Young mitgetheilt hat, so wenig Eis, daß man mit Leichtigkeit hätte landen können. Man war freilich — wie es scheint — noch zwei Meilen vom Lande entfernt.
Am 12. September fanden sie auf dem 61° 54′ N. Br. das Eis bis an das Ufer dicht zusammengestaut.
Am 13. September dampften sie „gemächlich der Küste zu, [S. 289] bis ¾ Meilen vom Lande entfernt“, in der Gegend von Omenarsuk; das Eis lag hier aber zu dicht, als daß sie hätten landen können. Ein dunkler Wasserhimmel in der Nähe von Lindenows-Fjord ließ indessen Kapitän Young vermuthen, daß er möglicherweise einen Ankerplatz unterhalb der Küste finden könne. Als sich gegen Abend ein Sturm erhob, richtete er indessen seinen Kurs seewärts, um sich später der Ostküste Grönlands nicht wieder zu nähern.
Im Jahre 1863 wurde mit zwei eisernen Dampfschiffen „Baron Hambro“ und „Karoline“ der Versuch gemacht, für ein englisches Handelshaus, das von der dänischen Regierung die Erlaubniß dazu erhalten hatte, eine Handelskolonie an der Ostküste von Grönland zu gründen. Der Engländer Taylor war der Führer der Expedition. Man verließ Hamburg am 21. August, in der Hoffnung, die Küste zu so später Jahreszeit eisfrei zu finden, aber man hatte sich verrechnet! Sie war vollständig von Eis gesperrt, in das man sich mit diesen eisernen Schiffen nicht hinauswagte.
Im Jahre 1865 kehrte Taylor abermals zurück, diesmal mit dem starken, hölzernen Dampfer „Erik“, der eigens für die Eismeerfahrt gebaut war. Er fand abermals die Küste (ungefähr auf dem 63° N. Br.) mit Eis versperrt, das sich trotz zweier kräftiger Versuche nicht durchbrechen ließ.
Im Jahre 1879 fuhr der dänische Marineschoner „Ingolf“ [57] unter dem Kommando von Kapitän A. Mourier mit Lieutenant Wandel als Nächstkommandirendem vom 6. bis zum 10. Juli [S. 290] an der Ostküste von Grönland entlang, vom 69° N. Br. nach Süden zu bis in die Nähe von Kap Dan. Man kam in eine tiefe Eisbucht hinein und kam dem Lande beim Ingolfs-Berge bis auf 4-5 Meilen nahe, konnte aber des Eises wegen nirgends landen.
Kapitän Mourier hielt es nach dieser Expedition für ganz unmöglich, die Ostküste Grönlands von der Seeseite aus zu erreichen. Bereits vier Jahre später sollte die Unhaltbarkeit dieser Behauptung bewiesen werden.
Im Jahre 1882 war, wie bereits früher erwähnt, der Verfasser mit dem Seehundsfänger „ Viking “ auf Fang an der Ostküste von Grönland aus. Wir blieben am 25. Juli zwischen dem 66° und 67° N. Br. im Eise stecken und trieben mehrere Tage gerade auf die Küste zu, bis wir uns am 7. Juli auf dem 66° 50′ N. Br. und dem 32° 35′ W. L. in einer Entfernung von etwa sechs Meilen vom Lande zu befinden glaubten. Später trieben wir langsam in südwestlicher Richtung weiter, bis wir endlich am 17. Juli wieder frei kamen. [58]
Im Jahre 1883 machte Nordenskjöld mit dem eisernen Dampfer „Sophia“ zwei Versuche, die Ostküste Grönlands zu erreichen. Am 12. Juni erblickte man zum erstenmal Land bei Kap Dan, konnte aber des Eises wegen nicht landen, weshalb man abermals einen südlichen Kurs an der Küste entlang nahm. Dieses war indessen bis zum Kap Farvel, das man am 15. Juni passirte, versperrt. Dann besuchte Nordenskjöld die Westküste Grönlands, wo er seine Eiswanderung antrat, von der späterhin in diesem Buche die Rede sein wird.
[S. 291]
Am 30. August kam er abermals auf der Rückreise am Kap Farvel vorüber. Am 1. September stieß er südlich vom 62° N. Br. auf ein dichtes Treibeisfeld, das sich weit ins Meer hinaus (25-30 Minuten) „vom Eisgletscher bei Puisortok erstreckte. Aber südlich von dieser Eiszunge schien das Meer nach dem Lande zu ganz eisfrei zu sein“. Als man unter Land kam, stieß man dennoch auf einen Eisgürtel, „dessen Breite nicht mehr als sechs Minuten betrug“. Nordenskjöld meinte freilich, daß er sich ohne allzu große Schwierigkeiten hätte durchbrechen lassen, aber er versuchte es nicht, da die Küste dort unbewohnt sein sollte.
Es scheint, als ob die Eisverhältnisse, die Nordenskjöld hier antraf — die Eiszunge, die sich ins Meer hinaus erstreckte und der schmale Eisgürtel nach Süden zu an der Küste — auffallend viel Aehnlichkeit mit denjenigen hatten, die wir auf derselben Höhe oder vielmehr ein wenig tiefer zu überwinden hatten. Es scheint, als wenn hier an dieser Stelle, jedenfalls zeitweise, merkwürdige Unregelmäßigkeiten in den Stromverhältnissen herrschen müssen; doch hiervon später mehr.
Ein Stück nördlich vom 62. Breitengrad schnitt eine tiefe Bucht nach dem Lande zu in das Eis ein, am Ende derselben hemmte jedoch abermals ein schmaler Eisgürtel ihr Vordringen.
Da Nordenskjöld das Land ein wenig nördlicher zu erreichen wünschte, versuchte er nicht weiter, hier durch das Eis zu dringen, „was wohl kaum mit großen Schwierigkeiten verknüpft gewesen wäre“.
Endlich am 4. September sollte es Nordenskjöld gelingen das auszuführen, was so Viele vergebens erstrebt hatten: er kam mit dem eisernen Schiff „Sophia“ durch verhältnißmäßig zerstreut liegendes Eis im Westen von Kap Dan glücklich unter Land und ankerte in einer Bucht, die er „König Oskars [S. 292] Hamn (Hafen)“ nannte. Hier ging man an diesem Tage und am folgenden Morgen an Land und machte verschiedenartige wissenschaftliche Einsammlungen und Beobachtungen. Man fand auch zahlreiche, theils ganz frische Spuren von Eingeborenen, sah aber Niemand, und dies ist, nach den Erfahrungen, die wir an der Küste gemacht haben, äußerst merkwürdig, denn man war mitten in einem bewohnten Küstenstrich gelandet. Die Expedition war auch nicht von den Eskimos bemerkt worden, dagegen hatte sie als einziges sichtbares Zeichen ihrer Gegenwart eine leere Bierflasche aus der Karlsberger Brauerei hinterlassen, welche von den Eskimos gefunden und dem Kapitän Holm [59] im darauf folgenden Jahr als ein übernatürlicher Gegenstand vorgezeigt wurde; besonders schrieben sie der gelblichen Flüssigkeit, von der sich noch ein Tropfen darin befand, göttliche Kräfte zu.
Am 5. September, am Tage nach der Ankunft lichtete die „Sophia“ den Anker wieder und dampfte seewärts, um, wenn möglich, die Küste nördlich von Kap Dan zu erreichen. Dies gelang jedoch nicht, und man sah sich infolge von Kohlenmangel gezwungen, heimzukehren.
Im Jahre 1884 waren die Eisverhältnisse in der Dänemarksstraße sehr günstig für eine Landung an der Ostküste von Grönland, und mehrere von den norwegischen Seehundsfängern sind, wie ich aus zuverlässigen Quellen erfahren habe, in der ersten Hälfte des Juli ungefähr auf dem 67° N. Br. der Küste sehr nahe gewesen, einer von ihnen, Kapitän A. Krefting vom „Stärkodder“, fing hart am Lande Klappmützen, er hätte, „falls es im Interesse des Schiffes gewesen wäre“, das Ufer mit Leichtigkeit erreichen können.
[S. 293]
Den letzten der zahlreichen Versuche, das Treibeis an der Ostküste von Grönland zu durchdringen, kennt der Leser hoffentlich so genau aus der früheren Beschreibung in diesem Buch, daß es überflüssig ist, hier näher darauf einzugehen. [60]
Außer diesen Versuchen, die Ostküste Grönlands von der Seeseite zu erreichen, muß hier einiger Vorfälle im Treibeise unterhalb dieser Küste Erwähnung geschehen, um so mehr, als sie in gewisser Weise Vorgänger unserer Beschwerden im Eise sind, obwohl die Letzteren im Verhältniß zu dem, was sich auf der früheren Expedition ereignete, ein Kinderspiel zu nennen sind.
Das Jahr 1777 hat in der Erinnerung aller Derer, die sich mit der arktischen Entdeckungsgeschichte beschäftigen, einen unheimlichen Klang, denn wohl niemals sind die arktischen Regionen Zeugen so grenzenlosen Elends gewesen.
Es war dies ein sehr böses Eisjahr an den grönländischen Küsten und in den Tagen zwischen dem 24. und dem 28. Juni blieben 27 oder 28 Walfischfänger verschiedener Nationalitäten [61] zwischen dem 74° und 75° N. Br. unterhalb der Ostküste [62] im Eise stecken.
[S. 294]
Ein Theil dieser Schiffe kam im Laufe der folgenden Monate wieder frei, 12 aber blieben im Eise stecken [63] und trieben südwärts an der Küste entlang, wo sie allmählich zwischen den Eisschollen zertrümmert wurden. Die ersten Schiffbrüche fanden am 19. und 20. August statt, in diesen Tagen wurden 6 Schiffe ungefähr zwischen dem 67° und 68° N. Br. in einer Entfernung von 12-14 Meilen von der Küste zertrümmert. Die übrigen Fahrzeuge trieben in südlicher Richtung weiter an der Küste entlang, die man fast die ganze Zeit hindurch im Auge behielt, gewöhnlich nur 10 Meilen von derselben entfernt. Ende September befand man sich zwischen dem 64° und 65° N. Br. Das letzte Schiff wurde am 11. Oktober 5-6 Meilen vom Lande entfernt, ungefähr auf dem 61½° N. B. zertrümmert, also gerade vor Anoritok , wo unsere Eisfahrt endete. Die Strecke, die es, seit es zuerst im Juni im Eise stecken blieb, treibend in einem Zeitraum von 107 Tagen zurückgelegt hatte, betrug ungefähr 270 geogr. Meilen, — es kommen folglich im Durchschnitt ungefähr 2½ Meilen auf jeden Tag. Während der letzten Zeit dieser Eisfahrt war die Geschwindigkeit freilich bedeutend größer gewesen als zu Anfang. Bis zum 20. August muß sie hiernach durchschnittlich ungefähr zwei Meilen, von dieser Zeit bis Ende September ungefähr 2½ Meilen, dann aber etwa 4 Meilen betragen haben.
Die Besatzung der verunglückten Schiffe pflegte sich auf die noch nicht gesunkenen zu retten, viele nahmen auch ihre Zuflucht [S. 295] zu dem Eise und hielten sich darauf auf. [64] Unter immer zunehmendem Elend ging es südwärts und viele der Leute starben allmählich, Einige ertranken, Andere erfroren, die Meisten aber verhungerten, da in der Regel nur wenig Proviant von den sinkenden Schiffen geborgen wurde, — es war schon von vorn herein knapp genug damit bestellt.
Auf dem letzten Schiffe hatten sich allmählich 286 Menschen angesammelt, und zuletzt wurde die Noth sehr groß. Die tägliche Ration bestand schließlich nur noch aus 10 Eßlöffeln voll Erbsen oder Grütze pro Mann.
Anfang Oktober machten 12 Mann von diesem Schiff aus den Versuch, über das Eis an Land zu gehen (ungefähr auf dem 63° N. Br.). Sie erreichten auch eine Insel, als sie aber von hier aus nicht auf das Festland gelangen konnten, kehrten sie wieder auf das Schiff zurück. Dies sind also die ersten Male in neuerer Zeit, daß es unseres Wissens gelungen ist, die Ostküste Grönlands von der See aus zu erreichen. [65] Nach dem Schiffbruch hielt die Mehrzahl sich einige Tage bei einander auf dem Eise auf. Als sie indessen einsahen, daß es, falls sie in einer solchen Anzahl an bewohnte Stätten gelangten, unmöglich sein würde, für so viele Nahrung zu schaffen, theilten sie sich in mehrere Gruppen, von denen die eine das Land in nördlicher Richtung zu erreichen suchte, während eine andere, größere Gruppe, die Küste verließ, um quer durch das Land bis zur [S. 296] Westküste zu gelangen. Von diesen Allen hat man jedoch später nie wieder gehört. Eine dritte Gruppe von ungefähr 50 Mann ging südwärts an der Küste entlang und traf nördlich von Kap Farvel, wahrscheinlich bei Alluk, auf Eskimos, die sie freundlich aufnahmen, sie mit Proviant versahen und ihnen ihr Frauenboot überließen, in welchem sie später die dänischen Kolonien an der Westküste erreichten. Eine vierte Gruppe, ebenfalls aus ungefähr 50 Mann bestehend, suchte nicht an der Ostküste zu landen, sondern trieb mit dem Eise um Kap Farvel herum, um nach vielen Leiden und zahlreichen Verlusten an Menschenleben an der Westküste zu landen, theils bei Fredrikshaab, theils in der Nähe von Godthaab.
Von den übrigen Besatzungen, die sich nicht an Bord des zuletzt gescheiterten Schiffes befunden hatten, trieben verschiedene kleinere Abtheilungen mit dem Eise bis Kap Farvel und gelangten in ihren Böten bis zu den Kolonien an der Westküste, die Mehrzahl im Oktober oder November. Die merkwürdigste von diesen Gruppen bestand aus 6 Mann mit zwei Böten, die nördlich von Godthaab landeten. Diese 6 Mann hatten die beiden Böte und fast den ganzen Proviant ihres Schiffes gerettet, und statt sich wie ihre Kameraden auf ein anderes Schiff zu flüchten, blieben sie auf dem Eise. Später gingen sie in See, ruderten und segelten am Eise entlang, um Kap Farvel herum und weiter, bis sie endlich nach vielen Leiden eine kleine Klippe nördlich von Godthaab, ungefähr eine halbe Meile vom Festland entfernt, erreichten. Sie wußten nicht, wo sie sich befanden, beschlossen aber, hier zu überwintern. Sie lebten von dem geborgenen Proviant und erbauten sich aus Ruderstangen und Segeln eine Hütte, in der sie infolge von Kälte und Wassermangel große Qualen erlitten. Das Schlimmste war aber doch [S. 297] der Umstand, daß die Wellen bei Sturm über die Klippe hinwegschlugen und sie stets darauf gefaßt sein mußten zu ertrinken. Endlich, Ende März, fanden einige Grönländer die Unglücklichen und zeigten ihnen den Weg nach Godthaab. Diese 6 Mann müssen eine Entfernung von ungefähr 175 geogr. Meilen theils auf dem Eise, theils im offenen Boot zurückgelegt haben.
Von allen Denen, die im Jahre 1777 an der Ostküste Grönlands entlang trieben, sahen ungefähr 320 ihre Heimath nicht wieder während ungefähr 155 Grönlands Westküste erreichten und im folgenden Jahr nach Europa zurückbefördert wurden. Es ist wohl überflüssig zu erwähnen, daß sie sowohl von den Eskimos wie von den in Grönland ansässigen Dänen auf das gastfreundlichste empfangen wurden. [66]
Im Winter 1869-1870 machte die Mannschaft der „Hansa“ gleichfalls eine fast eben so merkwürdige, wenn auch nicht so ungemüthliche Reise auf dem Eise an der Ostküste Grönlands entlang.
Die „Hansa“ war das eine der beiden Schiffe, welche die sogen. zweite deutsche Nordpolexpedition an der nördlichen Ostküste Grönlands an Land setzen sollten.
[S. 298]
Bei dem Versuch, bis an die Küste vorzudringen, gelangte das eine Schiff „Germania“, das außer Segeln eine Dampfmaschine hatte, glücklich durch das Eis, während das Segelschiff „Hansa“ unter der Leitung von Kapitän Hegemann am 6. September auf dem 74° 6′ N. Br. und dem 16° 30′ W. L. [67] (ungefähr 10 geogr. Meilen vom Lande entfernt) vollständig im Eise stecken blieb. Dann trieb das Schiff beständig südwärts weiter in verhältnißmäßig geringer Entfernung vom Lande, bis es am 19. Oktober zerschellt wurde und ungefähr auf dem 70° 50′ N. Br. und dem 20° 30′ W. L. (einige Meilen von der sogen. Liverpool-Küste) sank. Die ganze Besatzung des Schiffes rettete sich indessen mit dem nöthigen Proviant auf das Eis, und nachdem sie sich darüber einig geworden waren, ruhig hier zu verharren statt einen Landungsversuch zu machen, erbauten sie aus den vom Schiff geborgenen Steinkohlen ein Haus auf einer der Eisschollen. Hier verbrachten sie den ersten Theil des Winters, während sie beständig in südlicher Richtung am Lande entlang trieben. Während eines Sturmes am 15. Januar (auf dem 66° N. Br.) barst die Eisscholle mitten unter dem Hause, und sie mußten ihre Zuflucht in den Böten suchen. Später wurde auf einer anderen in der Nähe gelegenen Eisscholle ein kleineres Haus gebaut. Unter häufigem Wechseln trieben sie südwärts weiter, bis sie am 7. Mai ungefähr auf dem 61° 12′ N. Br., wenige Meilen vom Lande entfernt (also nicht weit von Anoritok) die Eisscholle verlassen und in die Böte [68] gehen [S. 299] konnten, in denen sie die Küste zu erreichen suchten, was ihnen jedoch erst am 4. Juni gelang. Sie landeten auf der Insel Iluilek , die ungefähr auf dem 60° 53′ N. Br. liegt. Von hier aus gingen sie in südlicher Richtung weiter, und endlich am 13. Juni erreichten die 3 Böte mit der vollzähligen Besatzung der „Hansa“ glücklich die Herrnhuter Missionsstation Friedrichsthal westlich von Kap Farvel.
Die Strecke, welche die Mannschaft der „Hansa“ trieb, seit ihr Schiff in den ersten Tagen des September 1869 im Eise stecken blieb, bis sie am 7. Mai 1870 die Eisscholle verließen, beträgt zusammen ungefähr 1080 Viertelmeilen oder 270 geogr. Meilen, (also ungefähr dieselbe Entfernung wie die Eisfahrt d. J. 1777; siehe oben ). Diese Entfernung wurde in ungefähr 8 Monaten oder 246 Tagen zurückgelegt, was folglich eine durchschnittliche Geschwindigkeit von 1,1 geogr. Meilen per Tag ergiebt, weniger als die Hälfte der Geschwindigkeit, mit welcher man im Jahre 1777 trieb. Der Grund mag zum Theil darin zu suchen sein, daß die Strömung im Winter nicht so stark ist, zum Theil darin, daß die Mannschaft der „Hansa“ sich in geringerer Entfernung vom Lande befand. Im November trieben sie übrigens durchschnittlich am schnellsten, nämlich zwei geographische Meilen (7,8 Viertelmeilen); zu der Zeit befanden sie sich noch nördlich von Island.
Vergleicht man diese Durchschnitts-Geschwindigkeiten (also 2,5 Meilen im Jahre 1777 und 1,1 Meilen im Jahre 1869-70) [S. 300] mit derjenigen, die wir während unseres elftägigen Treibens hatten und die sich auf ungefähr 6 Meilen (5,8 Meilen) per Tag belief, da ist der Unterschied sehr beträchtlich; während der meisten Tage legten wir sogar 7 Meilen zurück. Wahrscheinlich ist der Grund zu diesem Unterschied darin zu suchen, daß die Strömung im Sommer eine bedeutend größere Kraft hat als zu anderen Zeiten des Jahres; ein anderer Grund läßt sich natürlich auch darin suchen, daß die Mannschaft der „Hansa“ sich tiefer in dem Eisgürtel befunden hat, während wir mehr am Rande waren. Die im Jahre 1777 Verunglückten trieben, wie bereits erwähnt, während des südlichsten Theils ihrer Fahrt mit bedeutend größerer Geschwindigkeit, indem sie südlich vom 64° N. Br. eine Fahrt von 4,5 geographischen Meilen per Tag hatten. [69]
Ich habe mehrmals Gelegenheit gehabt, eine Eigenthümlichkeit der Strömung auf dem 61-62° N. Br. zu berühren (vergl. Seite 264, 291 und 298). Es scheint, als ob hier häufig eine Unregelmäßigkeit in der Richtung und in der Schnelligkeit der Strömung stattfinden muß, die möglicherweise dadurch entstehen kann, daß der Arm einer nördlicher gehenden Strömung eine Veränderung im Eise bewirkt und Eiszungen in das Meer hinaus schiebt (vergl. unsere Erfahrung Seite 248 und Nordenskjölds Seite 291).
[S. 301]
Im ganzen scheint aus allem, was wir jetzt über Strömungen und Eisverhältnisse wissen, hervorzugehen, daß der Polarstrom an der Ostküste von Grönland südlich vom 69° N. Br. gewissen jährlichen Perioden unterworfen ist. Diese können möglicherweise wieder Veränderungen in nordwärts gehenden Strömungen ihren Ursprung zu verdanken haben.
Die bisher in diesem Kapitel besprochenen Reisen haben die Kenntniß der Ostküste Grönlands in keinem wesentlichen Grade gefördert.
Die Kenntniß, die wir von dem südlichen Theil der Küste haben, an der entlang zu reisen wir im Begriffe stehen, verdanken wir im wesentlichen zwei Expeditionen, und da es ohne diese, besonders die letzte derselben kaum für uns möglich gewesen sein würde, nach Norden vorzudringen, so liegt es sehr nahe, dieselbe mit einigen Worten zu erwähnen.
Da Danells oben besprochene Reisen scheinbar die Unmöglichkeit einer Landung an der Ostküste von Grönland nachgewiesen hatten, so liegt es sehr nahe, daß man bald auf den Gedanken kam, die Westküste zum Ausgangspunkt für Expeditionen am Lande entlang zu nehmen. Eine solche Anschauung finden wir bereits um das Jahr 1664 von P. H. Resen [70] und im Jahr 1703 von Arngrim Vidalin [70*] geäußert.
Wie bereits früher erwähnt, war Hans Egede , der Apostel Grönlands, der Ansicht, daß Österbygden an der Ostküste Grönlands liegen müsse. Schon im Jahr 1723 unternahm er eine Reise in südlicher Richtung von seinem Wohnort, nahe dem jetzigen Godthaab, um diese Kolonie in zwei Böten an der [S. 302] Küste entlang segelnd zu erreichen. Bei Nanortalik auf dem 60° 8′ N. Br. in der Nähe von Kap Farvel sah er sich indessen am 26. August infolge der späten Jahreszeit und unzureichenden Proviants zur Rückkehr gezwungen. Später äußerte er jedoch die Meinung, daß Österbygden an der Ostküste am leichtesten an der Küste entlang und zwar wenn möglich in Eskimo-Frauenböten zu erreichen sei.
Ein Versuch, von Godthaab aus an der Küste entlang Österbygden zu erreichen, der im Jahre 1733 von Mathias Jochimsen unternommen wurde, mißlang ebenfalls, indem man sich auf dem 61° N. Br. durch Eis am Vordringen gehemmt sah.
Erfolgreicher war der tüchtige Peder Olsen Wallöe , ein Bornholmer, der sich mehrere Jahre als Handelsmann auf Grönland aufhielt. Im August 1751 trat Wallöe seine Reise von Godthaab aus in einem Frauenboot mit einer Besatzung von 4 Grönländerinnen und 2 Europäern an. Im ersten Jahr erreichte er den Distrikt des jetzigen Julianehaab, wo er Untersuchungen anstellte und überwinterte. Im folgenden Jahr wurde die Reise fortgesetzt, an Kap Farvel vorbei eine Strecke an der Ostküste entlang, bis man auf dem 60° 56′ N. Br. an eine Insel gelangte, die er „Nenese“ nennt; dort sah er sich jedoch am 8. August zur Umkehr gezwungen. Dies ist der erste Europäer, von dem man mit Sicherheit weiß, daß er die südliche Ostküste Grönlands betreten hat. Er erhielt jedoch einen schlechten Lohn für seine verdienstvolle Reise und lebte seither in den kümmerlichsten Verhältnissen in Dänemark. Er starb im Jahr 1793 in einem Alter von 77 Jahren im Armenhospital zu Kopenhagen.
Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts wies Eggers deutlich in einer im Jahre 1792 erschienenen Schrift nach, daß [S. 303] Österbygden auf der südlichen Westküste gelegen habe; wenn man es nach der Ostküste verlegt habe, so sei dies ein Irrthum von den Gelehrten der Vorzeit, welche die alten norwegischen Berichte völlig verkehrt gedeutet hätten.
In den Jahren 1829-30 unternahm der Kapitänlieutenant in der dänischen Flotte W. A. Graah seine bedeutungsvolle Reise an der Ostküste entlang in einem zum größten Theil mit Grönländerinnen bemannten Frauenboot. [71]
Am 1. April erreichte man die Ostküste. Am 20. Juni auf dem 61° 47′ N. Br. faßte Graah den kühnen Entschluß, sich von seinen europäischen Genossen, die zurückkehrten, zu trennen und allein mit dem einen der beiden Frauenboote und mit 6 Grönländern weiter zu gehen.
Am 27. Juni auf dem 63° 37′ N. Br. verließ ihn auch sein grönländisches Gefolge bis auf drei junge Mädchen, die er endlich dazu vermochte, ihm als Ruderer weiter das Geleite zu geben. Am 23. Juli erreichte er seinen nördlichsten Zeltplatz, eine Insel, die er Vendom (Kehr um) nannte — auf dem 65° 13′ N. Br., und am 18. August erbaute er auf seinem nördlichsten Punkt, auf der nördlich davon gelegenen Dannebrogs Insel (65° 19′ N. Br.) eine Warte. Hier wurde er durch Eis am weiteren Vordringen gehindert.
Am 21. August trat er die Rückreise an, und am 1. Oktober bezog er bei einem Ort, den er Nukarbik nennt (jetzt Imarsivik auf dem 63° 22′ N. Br.) sein Winterquartier. Den Winter verbrachte er unter Krankheit und großen Entbehrungen. Als der Frühling kam, hatte er indessen den Muth nicht verloren, sondern machte am 5. April einen neuen Versuch, in [S. 304] nördlicher Richtung vorzudringen. Am 25. Juli mußte er jedoch nach den unglaublichsten Widerwärtigkeiten abermals umwenden, ohne so weit gelangt zu sein wie im vorhergehenden Jahre.
Am 16. Oktober langte er endlich in Frederikshaab an, nachdem er viel erduldet hatte.
Die Frucht dieser merkwürdigen Reise waren gute Aufklärungen über die Ostküste Grönlands bis an den 65. Breitengrad. Ueberreste von Nordländern oder Ruinen von ihren Häusern fand Graah dagegen auf der ganzen von ihm bereisten Strecke nicht, und damit schien die Unmöglichkeit nachgewiesen, daß Österbygden an der Ostküste gelegen haben könne. Das Einzige, was Graah an europäischen Ueberresten fand, war eine Kanone, die bei Koremiut im Uarket Fjord auf dem 61° 17′ N. Br. gefunden worden war. Diese muß wahrscheinlich von irgend einem Schiff herstammen, das im Eise gescheitert und an der Küste entlang getrieben ist.
Eine Nordländer-Ruine wurde indessen von dem Herrnhuter Missionär Brodbeck im Jahr 1881 bei Narsak auf der nördlichen Seite des Lindenow-Fjords oder Kangerdlugsuatsiak (auf dem 60° 30′ N. Br.) gefunden, wohin er in einem Frauenboot eine Reise unternahm, also die dritte uns bekannte Reise an der südlichen Ostküste von Grönland. Es ist dies die einzige Nordländer-Ruine, von der man an der Ostküste weiß. Uebrigens hatte Giesecke , der die Grönländer davon hatte erzählen hören, bereits im Anfang des Jahres darüber berichtet.
Die letzte Reise an dieser Küste entlang ist die dänische Frauenboot-Expedition unter Leitung von G. Holm , Kapitän in der dänischen Marine. Sie währte 3 Jahre, von 1883-85, und war ebenso wie Graahs Expedition vom dänischen Staat ausgesandt worden. Sie bildete einen Theil [S. 305] der seit 1876 fortgesetzten „geologischen und geographischen Untersuchungen in Grönland“.
Die Expedition, die außer dem Führer, aus den Dänen Marinelieutenant Garde , dem Nächstkommandirenden, Peter Eberlin , einem Botaniker und Geologen, dem norwegischen Geologen H. Knutsen , sowie zwei dänischen Grönländern, den Gebrüdern Petersen , die als Dolmetscher fungirten, bestand, wurde in Frauenbooten mit grönländischer, meist aus Frauen bestehender Besatzung unternommen. Infolge der früheren Expeditionen hatte sich allmählich die Ueberzeugung, daß dies die einzige Art und Weise sei, wie man die Ostküste Grönlands bereisen könne, bei den dänischen Grönlandsfahrern eingebürgert.
Im ersten Sommer erreichte die gesammte Expedition mit 4 Frauenböten und 10 Kajaks zu Anfang August Iluilek an der Ostküste (60° 52′ N. Br.). Hier wurde ein Depot für das folgende Jahr zurückgelassen, und am 10. August trat man abermals die Heimreise nach Nanortalik , westlich von Kap Farvel, dem Standquartier der Expedition an, wo überwintert wurde.
Im nächsten Jahr (1884) trat man die Reise an der Küste entlang mit 4 Frauenböten und 7 Kajaks an (im ganzen 31 Menschen außer den 6 Europäern). Ein Theil der Besatzung wurde am 18. Juli von Karra akungnak aus wieder nach Hause gesandt.
Am 28. Juli erreichte man Tingmiarmiut . Von hier aus kehrte die Hälfte der Theilnehmer der Expedition unter Leitung von Lieutenant Garde nach Nanortalik zurück, auf dem Wege Untersuchungen vornehmend.
Kapitän Holm mit dem übrigen Theil der Expedition, bestehend aus H. Knutsen und dem Dolmetscher Johan Petersen , [S. 306] sowie 2 Grönländern und 6 Grönländerinnen und in 2 Frauenböten vertheilt, verließ am 30. Juli Tingmiarmiut und zog gen Norden weiter, an der Küste entlang. Am 25. August kamen sie zu Graahs nördlichstem Punkt auf der Dannebrogs-Insel , also einen ganzen Monat später als dieser.
Am 1. September erreichten sie Angmagsalik bei Kap Dan , wo sie eine große bebaute Strecke mit ungefähr 400 Menschen fanden. Hier überwinterten sie.
Im nächsten Sommer (1885) zogen sie am 9. Juni abermals südwärts und stießen am 16. Juli bei Umanak ungefähr auf dem 63° N. Br. mit den übrigen Theilnehmern der Expedition, die von Süden kamen, zusammen. Am 18. August erreichte die ganze Expedition Nanortalik und kehrte bald darauf nach Dänemark zurück.
Die wissenschaftliche Ausbeute dieser Expedition war überraschend groß; die Ostküste bis zum 66° N. Br. ist dadurch in Bezug auf die Bevölkerung und die natürlichen Verhältnisse gründlich untersucht worden, und die genauen Karten, welche sie von der Küste geliefert hat, haben es uns im wesentlichen ermöglicht, unsern Weg mit Sicherheit an derselben entlang zu finden.
[35] Die alten norwegischen Kolonien in Grönland lagen bekanntlich an der Westküste. Eine derselben „Østerbygden“ (Ostkolonie) lag weit südwärts in dem jetzigen Kristianshaab-Distrikt; die andere „Vesterbygden“ lag nördlicher, tiefer in die Bucht hinein bei dem jetzigen Godthaab.
[36] Ich habe nicht ausfindig machen können, auf welche Stelle von Grönlands Ostküste diese Beschreibung am besten paßt, obwohl sie sehr charakteristisch für das Land genannt werden muß.
[37] Es ist undenkbar, daß das Eis den ganzen Sommer die Küste blockirt haben sollte!
[38] An der ganzen Ostküste ist nur eine Nordländer Ruine bekannt; dieselbe liegt bei Narsak im Lindenows-Fjord. Siehe den Bericht weiter unten in diesem Kapitel.
[39] In den Sagen sind verschiedene Berichte über Schiffe enthalten die im Treibeis verunglückt sind.
[40] Eisberge.
[41] Daß die Eisverhältnisse in der Dänemarkstraße im Mittelalter dieselben waren wie jetzt, geht übrigens ganz deutlich aus einer isländischen Sage hervor, in der berichtet wird, wie ein Isländer auf den Berg stieg, um zu sehen, ob sich das Eis vom Lande loslösen wolle. (Nach einer Mittheilung von Professor Storm an mich.) Das Eis reichte also bereits damals schon bis an die Küste von Island.
[42] Es ist nicht ganz sicher, ob dies die erste Expedition ist, welche zur Wiederentdeckung Grönlands ausgesandt wurde. Aus einer Proklamation von König Frederik II. an die Grönländer vom 12. April 1568 ersieht man, daß ein gewisser Kristiern Aalborg in diesem Jahr mit einem Schiff dorthin gehen sollte. Dagegen weiß man freilich nichts weiter von der Expedition. Von demselben König wurde später zu gleichem Zweck ebenfalls mit einem Russen, Paul Nichetz , verhandelt, welcher behauptete, daß er den Weg nach Grönland kenne (wahrscheinlich eine Verwechselung mit Spitzbergen oder Novaja Semlja), zu welchem Resultat aber die Unterhandlungen führten, weiß man nicht.
[43] Vergleiche: Norske Rigs-Registranter, Kristiania 1863 , Bd. II. S. 337.
[44] Gedruckt in: Grönlands historiske Mindesmærker ( Kopenhagen 1845 ) Bd. III. Seite 641-647.
[45] Aldays Expedition ist nicht die erste unter den uns bekannten, die nach dem Mittelalter Grönland in Sicht bekommen. Der Engländer Martin Frobisher hatte bereits auf seinen drei Reisen (1576-78) zur Entdeckung der Nordwest-Passage die Südküste in Sicht bekommen. Er hielt sie für das Frisland der Zenier und nannte das Land „Neu-England“.
[46] Mogens Heinessön war um die Zeit Bürger in Bergen; er war aber von norwegischen Eltern auf den Faröern geboren und gilt als zweiter faröerscher Nationalheld, der Erste war Sigmund Bresteson .
[47] Lyschander, Grönlands Chronica, Kjøbenhavn 1608.
[48] Möglicherweise ist hierunter der magnetische Osten zu verstehen, also ungefähr rechtweisend Nord-Ost.
[49] Vor diesen Expeditionen war die Ostküste von Grönland bereits gefunden und von dem Engländer John Davis betreten, der auf seinen drei Reisen 1585-87 das Land fand (er benannte es „ Land of desolation “) und die Küste von dem südlichsten Theil bis zum 72° n. Br. bereiste. Er ist folglich der erste Europäer, von dem man weiß, daß er nach dem Mittelalter das Land betreten hat.
[50] Dieselbe ist in Stenstrups Abhandlung: „Ueber Österbygden in den Mittheilungen von Grönland“, Kopenhagen 1889, Bd. 9, Seite 12-14, abgedruckt.
[51] Die einzige Mittheilung, die wir über diese Reise besitzen, ist ein Bericht an Friedrich III., von einem gewissen Christian Lund nach Danells Tagebüchern verfaßt und in den alten Manuskriptsammlungen der königlichen Bibliothek zu Kopenhagen aufbewahrt. Im Jahre 1787 wurde von John Eriksen ein Auszug dieses Berichts in Druck herausgegeben. Siehe übrigens auch: „Grönlands historische Denkmäler“, III., Seite 713-720.
[52] Ich habe nicht ausfindig machen können, woher Kapt. A. Mourier die Nachricht genommen hat, daß Danell „ein Vorgebirge auf dem 67° und eins auf dem 65½° N. Br.“ entdeckt haben soll. (Siehe seinen Artikel über „ Ingolfs Reise 1879“ in der „Geographischen Zeitschrift“, Kjöbenhavn Bd. 4, Seite 51, 1880.)
[53] Danell hat in seinen Tagebüchern eine Reihe von Inseln beschrieben, die z. T. 3-4 Meilen vom Lande südlich von Kap Dan liegen sollten, und von denen er der einen den Namen „Hvidsadlen“ und einer andern „Mastlös Skib“ gab. Es geht indessen deutlich aus der Beschreibung hervor, daß diese Inseln nur große Eisberge gewesen sind, deren es dort viele giebt und die Danell unbekannt waren. Ich habe es selber erlebt, daß alte Eismeerschiffer Eisberge und Land verwechselt haben. Von fünf Inseln, in deren Nähe sie sich am 6. Juni befanden, heißt es, „daß sie fast ganz mit Eis überzogen waren, mit Ausnahme einer einzigen, welche ein schwärzliches Aussehen hatte, sehr hoch war und ungefähr eine Meile (?) im Umfang maß“. Alles sehr bezeichnend für Eisberge. Daß der eine Eisberg schwärzlich aussah, läßt darauf schließen, daß er den Schlamm und den Kies und die Steine der Moräne mit sich geführt hat, was durchaus nicht selten vorkommt. Ich traf selber im Jahre 1882 einen solchen Eisberg an Grönlands Ostküste auf dem 66° 50′ N. Br. und hielt ihn anfänglich für eine Insel. (Vergl. meinen Artikel darüber im „Neuen Magazin für Naturwissenschaft“, Kristiania 1883.)
Wenn Graah im Jahre 1829 meinte, zwei oder drei von Danells Inseln wiedergefunden zu haben, so sind dies wahrscheinlich die Gipfel von Kap Dan gewesen, die er am Horizont erblickt hat, wenn es nicht auch Eisberge waren, obwohl es kaum anzunehmen ist, daß ein so erfahrener Mann wie Graah sich so irren sollte.
Ich kann mich Kapt. Holms Auffassung (siehe Mittheilungen über Grönland Bd. 9, S. 201) nicht anschließen, wenn er meint, daß Danells Insel Hvidsadlen der Felsgipfel oder Nunatak auf dem Inlandseise sein soll, den er so benennt. Ich habe selber diesen Nunatak in einer Entfernung von mehreren Meilen vom Treibeise aus gesehen, ich sah aber gleichzeitig das ganze Land mit dem Inlandseise, und es erscheint mir unmöglich, daß er für eine Insel gehalten werden kann, um so mehr, als Danell nur drei Meilen von seiner Insel Hvidsadlen entfernt gewesen sein will. Da der Name indessen auf den Nunatak paßt, den Holm ihm gegeben hat, sehe ich nicht ein, weshalb man ihn entfernen sollte.
[54] Gedruckt in den „Mittheilungen über Grönland“, Bd. 9. Kopenhagen 1889. Seite 28-29.
[55] Diese Versuche waren folgende: 1. Vom 1. bis zum 12. April. 2. Vom 8. bis 18. Mai (man erblickte Land). 3. Vom 8. Juni bis 3. Juli. 4. Vom 20. Juli bis 10. August. 5. Vom 26. bis 31. August. 6. Vom 11. bis 29. September.
[56] Da hier nur der südliche Theil der Ostküste Grönlands für uns von Interesse ist, erwähnen wir nicht weiter der verschiedenen Expeditionen, die den nördlichen Theil besucht haben, wie z. B. Scoresby , Sabine und Clavering im Jahre 1822 und 1823.
[57] Kapitän A. Mourier : Die Expedition des Marine-Schoners „Ingolf“ in der Dänemarksstraße im Jahre 1879. „Geographische Zeitschrift“, Bd. 4. Kopenhagen 1880. Seite 59.
Siehe auch über diese Expedition den Artikel Wandels in den „Mittheilungen über Grönland“, Bd. 6. 1883.
[58] Siehe hierüber: An der Ostküste Grönlands entlang. „Geographische Zeitschrift“, Bd. 7. Kopenhagen 1884. Seite 76-79. Ebenfalls in diesem Buche Seite 1.
[59] Ueber diese Expedition Näheres später in diesem Kapitel.
[60] Einem isländischen Bericht zufolge sollen einige Fischerfahrzeuge im Jahre 1756 an der Ostküste Grönlands nordwestlich von Vestfirdir auf Island geankert haben. Dies scheint jedoch nicht sehr wahrscheinlich zu sein (siehe hierüber „Geographische Zeitschrift“, Kopenhagen, Bd. 7, Seite 117 und 176).
Daß Mehrere von den im Jahre 1777 Verunglückten die Küste erreichten, wird später erwähnt werden.
[61] Diese bestanden wahrscheinlich aus: 9 Hamburgern, 8 Engländern, 7 Holländern, 2 Schweden, 1 Bremenser und 1 Dänen.
[62] Hier kam es übrigens häufiger vor, daß Schiffe im Eise stecken blieben, ohne daß es ihnen so schlimm erging wie den Unglücklichen im Jahre 1777. Als Beispiel unter den vielen Fällen mag erwähnt werden, daß im Jahre 1769 vier Schiffe Anfang Juli ungefähr auf dem 76° N. Br. im Eise stecken geblieben und bis zum 16. und 19. November auf den 69° N. Br. hinabgetrieben sein sollen; alsdann arbeiteten sich zwei aus dem Eise heraus, während über das Schicksal der anderen beiden nichts verlautet.
[63] Hiervon waren wahrscheinlich 6 Holländer und 6 Deutsche (Hamburger). Die Mannschaft bestand größtentheils aus Dänen von den Inseln an der Westküste von Jütland und Schleswig, sowie aus Holsteinern.
[64] Zwei Schiffsbesatzungen retteten sich auf zwei Schiffe, die später glücklich aus dem Eise heraus kamen.
[65] Von einer Abtheilung von 160 Mann, die schon am 30. September auf dem 64° N. Br. ihre Zuflucht zum Eise und zu den Böten nehmen mußten, sollen ungefähr 24 Mann etwa auf dem 63° N. B. den Versuch gemacht haben, die Ostküste Grönlands zu erreichen, man hat aber später nie wieder von ihnen gehört.
[66] Wenn Julius Payer in seiner übrigens sehr unkorrekten Notiz über diese Eisfahrt ( Payer : „Die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition in den Jahren 1872-1874 u. s. w.“, Wien 1876, Seite 481) glauben zu machen scheint, daß die geretteten Mannschaften (die er irrthümlich auf 12 schätzt) an der Westküste wie bei ihrer Heimkehr nach Europa schlecht aufgenommen und behandelt wurden, so entbehrt dies jeglicher Begründung und ist übrigens kräftig widerlegt und hoffentlich für immer niedergeschlagen durch Kapitän C. Normann in seinem eingehenden Artikel, der in der „Geographischen Zeitschrift“ Bd. 2, Kopenhagen 1878, Seite 49-63 gedruckt wurde, und in welchem er eine Zusammenstellung und einen Auszug aus den zahlreichen älteren, hiervon handelnden Berichten giebt. Das Meiste des hier Angeführten ist diesem Artikel entnommen.
[67] Also ungefähr auf derselben Stelle, wo die Walfischfänger im Jahre 1777 stecken blieben.
[68] Die Art und Weise, wie dies geschah, glich sehr dem von uns Erlebten (29. Juli). Am 6. Mai hatte man noch keine Ahnung davon, daß man die Eisscholle bald würde verlassen können, und war daher nicht wenig erstaunt, als man am folgenden Tage nach dem Lande zu offenes Wasser erblickte, auch war man seit dem vorhergehenden Tage 8 Minuten oder 2 geographische Meilen nordwärts getrieben. Es scheinen auch damals in dieser Höhe Unregelmäßigkeiten in der Strömung geherrscht zu haben. Wie man sich erinnern wird, trieben auch wir während der letzten Nacht, ehe wir aus dem Eise heraus kamen, nicht wesentlich südwärts.
[69] Es scheint, als wenn die Geschwindigkeit der Strömung eine Strecke nördlich von Kap Dan bedeutend geringer ist als in der Nähe und südlich davon. Es ist auch unter den norwegischen Seehundsfängern, die in der Dänemarkstraße auf Fang ausgehen, ganz allgemein bekannt, daß die Strömung an Gewalt zunimmt, je mehr man sich dem Kap Dan nähert. Mehrere norwegische Seehundsfänger sind auch kürzere oder längere Zeit unterhalb der Küste im Eise stecken geblieben, die Bewegung des Eises ist aber, soweit ich es habe erfahren können, nicht bedeutend gewesen (vergl. auch oben die Fahrt des „ Viking “ 1882).
[71] W. A. Graah : Entdeckungsreise an die Ostküste von Grönland 1828-31, Kopenhagen 1832.
[S. 307]
as Erste, was wir thaten, nachdem wir glücklich das Eis überwunden hatten, war dem Lande zuzustreben; wir mußten ja so bald wie möglich Grönlands Felsenboden unter unsern Füßen fühlen, und außerdem hatte ich schon vor längerer Zeit versprochen, an dem Tage, an dem wir unsern Fuß auf festen Grund setzen würden, eine Festmahlzeit mit Schokolade anzurichten.
Gerade vor uns und zunächst lag die Insel Kutdleck mit ihrer hohen, abgerundeten Kugelform. Dort konnten wir jedoch nicht landen, es würde uns zu weit von unserm Kurs abgeführt haben, der nordwärts ging. Wir steuerten deswegen lieber über das offene Wasser auf die nördlich gelegene Insel Kekertarsuak zu.
Auf dem Wege dahin kamen wir an einen mächtigen Eisberg, der hier in dem offenen Wasser bis auf den Grund reichte. Auf seinem weißen Rücken saßen Unmengen von Möven, die gleich dunklen Punkten darüber hingestreut waren. Indem wir vorüberfuhren, fiel ein kolossales Stück Eis mit großem Getöse ins Wasser, Scharen von Möven wurden aufgeschreckt und umflatterten uns mit ihrem einförmigen Geschrei. Dies war ein ganz neues Leben, und wir empfanden es als eine große Wohlthat, ungehindert im offenen Wasser vorwärts rudern zu können.
[S. 308]
Als wir eine Strecke weiter gekommen waren, entdeckten wir, daß doch noch allerlei Hindernisse zu überwinden seien, ehe wir das Land erreichten, denn wir stießen auf einen neuen Eisgürtel, der sich nach Süden zu am Ufer entlang erstreckte. Er war jedoch nicht breit und auch nicht sehr fest, so daß es uns nicht viel Mühe machte, ihn zu durchbrechen. Endlich glitten wir — die Böte mit norwegischer und dänischer Flagge geschmückt — unter eine steile Klippe, deren dunkle Wand sich in dem blanken Wasser spiegelte und dies fast kohlschwarz machte. Es gab einen Widerhall, wenn man sprach, — das war ein feierlicher Augenblick. Hinter dieser Klippe fanden wir einen Hafen, wo wir mit den Böten anlegen konnten. Wir wetteiferten förmlich, ans Land zu springen und Steine, wirkliche Steine unter den Füßen zu fühlen. Wir kletterten auf die Klippen hinauf, um Umschau zu halten. Wir waren wie die Kinder: ein Stückchen Moos, ein Grashalm, geschweige denn eine Blume erregte einen ganzen Sturm von Gefühlen in uns. Es war alles so neu, der Uebergang so kraß und so plötzlich. Die Lappen verschwanden augenblicklich zwischen den Felsklippen, und es währte eine ganze Zeit, ehe wir ihrer wieder ansichtig wurden.
Nachdem sich die erste stürmische Freude gelegt hatte, mußten wir unsere Gedanken auf etwas Prosaischeres richten — auf unsere Festmahlzeit. Der Kochapparat wurde auf eine Klippe unten beim Boot gestellt und in Wirksamkeit gebracht, um unsere Schokolade zu kochen. Es waren Hände genug da, die dies verrichten konnten, und da eine ganze Zeit darüber hingehen würde, so konnte ich ruhig dem Beispiel der Lappen folgen und eine kleine Gebirgstour unternehmen, um mich u. a. nach dem gen Norden führenden Wege umzusehen.
[S. 309]
So stieg ich denn bergan, anfangs über einige kahle Klippen, dann über ein kleines Schneefeld und endlich durch Moos und Heidekraut über eine kleine Ebene, auf der große erratische Blöcke zerstreut umherlagen. Wie sonderbar war es nicht, einmal wieder einen weiten Gesichtskreis zu haben, das Meer und das Eis weit unter sich erglänzen zu sehen, rings umher Reihen hoher Felsengipfel zu erblicken, die, von einem Nebelschleier umgeben, im Sonnenschein dalagen, und dahinter das Inlandseis, das kaum so hoch war, wie der eigene Standpunkt.
Im Süden lag die Insel Kutdleck und noch weiter südwärts das schöne Vorgebirge Kap Tordenskjold . Ich begrüßte es wie einen Landsmann, nicht nur der Name, sondern auch die Form war mir heimisch. Ich setzte mich auf einen Stein, um eine Skizze aufzunehmen und mich von der Sonne bescheinen zu lassen. Wie ich so da saß, mich meiner Umgebung und meines Lebens freuend, hörte ich etwas summend durch die Luft herannahen und bei meiner Hand Halt machen. Es war eine auffallende alte, wohlbekannte Musik, — ich sah nach, und richtig — eine Mücke, eine lebendige Mücke! Und der einen folgten bald mehrere. Ich ließ sie ruhig stechen, — es war mir eine wahre Wonne. Sie gaben mir fühlbare Beweise, daß ich mich auf festem Grund und Boden befand, diese lieben, kleinen Wesen, die dort saßen und sich rund und roth saugten, — es war sicher lange her, seit sie zuletzt Menschenblut gekostet hatten. Wie ich später erzählen werde, sollten wir freilich gar bald dieser Wonne überdrüssig werden.
Ich hatte eine ganze Weile dort oben gesessen, als ich ein Zwitschern vernahm und einen Schneesperling erblickte, der sich dicht neben mir auf einen Stein niederließ, den neu angekommenen Gast verwundert betrachtend, indem er das Köpfchen bald auf [S. 310] die eine, bald auf die andere Seite legte; dann zwitscherte er wieder, hüpfte auf den nächsten Stein, wo er noch eine Weile sitzen blieb, guckte mich abermals an und — weg war er. Es ist stets schön, dem Leben zu begegnen, nicht am wenigsten wo es in Form kleiner zwitschernder Vögel zu uns kommt, es erweckt einen Wiederklang der Vogelnatur in uns selber, besonders wenn man Frühling und Sommer so lange entbehrt hat.
Von hier oben herab konnte ich eine ganze Strecke nordwärts schauen. Es hatte den Anschein, als wenn wir auf der ersten Strecke Schlampeis haben würden, aber ein wenig nördlich von Inugsuit wurde das Eis scheinbar fester und möglicherweise würden wir dort Mühe haben, uns hindurch zu arbeiten.
Aber es war jetzt an der Zeit, sich wieder zu den Anderen hinabzubegeben, — jetzt mußte wohl die Schokolade fertig sein. Als ich unten anlangte, war jedoch die Schokolade keineswegs fertig, das Wasser kochte noch nicht einmal. Meine Begleiter hatten auf dem Treibeis keine allzugroße Uebung im Kochen gehabt. Ich benutzte die Wartezeit, um eine photographische Aufnahme von dieser Scene und von diesem Ort zu machen, der ja in der Geschichte unserer Entdeckungsreise einen hervorragenden Platz einnimmt.
Endlich war man fertig, und sechs begierige Kehlen konnten in langen Zügen den herrlichen, kochendheißen Göttertrank einsaugen. Außer reichlicheren Rationen als sonst wurden heute noch Extra-Rationen in Form von Hafercakes, Schweizerkäse, Mysekäse und eingemachten Preißelbeeren vertheilt. Das war wirklich eine königliche Mahlzeit, wie wir sie noch nicht abgehalten hatten, aber wir hatten sie auch verdient und wir genossen sie. Die Stimmung war sehr animirt.
Es wurde beschlossen, daß wir uns ausnahmsweise einmal [S. 311] Zeit lassen und das Leben in vollen Zügen genießen wollten, damit mußte es dann aber auch ein Ende haben. Von nun an lautete die Parole: So wenig Schlaf wie möglich, so wenig und so schnelles Essen wie möglich, so viel Arbeit wie möglich. Unsere Nahrung sollte im wesentlichen aus Wasser, Biskuits und gedörrtem Fleisch bestehen. Wir hatten wenig oder gar keine Zeit, um uns etwas zu kochen oder uns mit frischem Fleisch zu versehen, obwohl es Wild genug gab. Die beste Zeit war bereits verloren gegangen, es blieb nur noch wenig übrig von dem kurzen, grönländischen Sommer, aber noch mußten wir die Westküste erreichen können, wenn wir nur die Zeit gut ausnutzten. Es galt nur, energisch darauf loszugehen, — und das thaten wir.
Als wir um fünf Uhr des Nachmittags endlich fertig waren, gingen wir wieder in die Böte und zogen nordwärts an der Küste entlang.
Eine Strecke lang ging alles leicht und gut. Das Fahrwasser war glatt und offen. Gegen Abend aber verschlimmerte [S. 312] sich die Situation. Das Eis wurde dichter, wir konnten es oft nur mit Mühe durchbrechen. Zuweilen stießen wir freilich auf lange offene Stellen, wo wir schnell vorwärts rudern konnten. Blutroth versank die Sonne hinter den Bergen, die Nacht war still und sehnsuchtserweckend, der Tag lag hinter den Zinnen und Gipfeln und träumte. Die ganze Nacht hindurch arbeiteten wir uns in nördlicher Richtung durch das Eis. Um Mitternacht war es schwer zu sehen, wenn man aber genau acht gab, konnte man das Schlampeis und das Wasser von dem festen Eise durch den Wiederschein unterscheiden, den sie von dem gelblich rothen Nachthimmel gaben.
Ich strebte danach, nordwärts zu kommen, denn wir hatten nicht mehr weit bis zu dem berüchtigten Gletscher Puisortok , an dem Kapitän Holm auf seiner Reise längs der Küste i. J. 1884 von dem Eise volle 17 Tage zurückgehalten wurde. Ich hielt es für eine Möglichkeit, daß der Grund für den bösen Ruf, den dieser Ort hat, darin liegen könne, daß das Treibeis hier durch die Strömung besonders stark zusammengedrängt werde, und deshalb war es für mich von größter Wichtigkeit, diese gefährliche Stelle so früh wie möglich zu erreichen, um die erste günstige Gelegenheit, wo das Eis sich zertheilte, benutzen und vorbeikommen zu können.
Im Laufe der Nacht gelangten wir unter das Vorgebirge Kangek oder Kap Rantzau , hier wurde das Eis so fest, daß wir nicht mehr so rudern konnten, wie bisher, sondern uns hauptsächlich durchbrechen mußten. Unseren Aexten, Bootshaken und Brechstangen mußte das Eis indessen weichen, und wir kamen beständig vorwärts. Was die Sache noch erschwerte, war, daß sich auf dem Wasser zwischen den Schollen neues Eis bildete; dies nahm während der Nacht an Dicke zu und war [S. 313] unsern Böten sehr hinderlich. Es hielt sich bis hoch in den folgenden Tag hinein. Gegen Morgen fingen die Kräfte an zu erschlaffen, wir hatten lange gearbeitet, waren hungrig, denn seit unserer gestrigen Festmahlzeit hatten wir nichts genossen, und Einige von uns waren so müde, daß sie kaum die Augen mehr offen halten konnten. In unserem Streben, nordwärts zu gelangen, und in unserer Freude über dies neue Leben hatten wir die Bedürfnisse des Körpers ganz vergessen, — jetzt meldeten sie sich mit verdoppelter Macht. Wir legten deswegen an einer Eisscholle an, um ein wenig Rast zu halten und unser Frühstück einzunehmen, obwohl wir eigentlich das Gefühl hatten, daß jetzt keine Zeit zur Ruhe sei. Da kam der Tag, es wurde heller und heller, eine rothe Gluth entzündete sich dort unten im Nordosten am Horizont, — strahlend stieg die Feuerkugel über den [S. 314] Eisrand empor. Körper und Seele badeten sich in dem Lichtmeer, alle Müdigkeit war wie weggeblasen. Und von neuem ging’s an die Arbeit im Lichte des jungen Tages.
Das Eis aber war dichter denn je zuvor, — Zoll für Zoll, Fuß für Fuß mußten wir uns durchbrechen und kämpfen, um nordwärts zu gelangen. Oft sah es fast hoffnungslos aus aber — vorwärts mußten wir und vorwärts kamen wir.
Wir ruderten an Kap Rantzau vorüber, vorüber an Karra akungnak , bekannt von Holms und Gardes Reisen i. J. 1884, und kamen ans Kap Adelaer , hier aber wurde es schlimmer denn je; die großen, mächtigen Schollen lagen fest aufeinander gepreßt. Mit unseren langen Haken versuchten wir sie auseinander zu stoßen, aber es nützte nichts, — wir hieben alle sechs auf einmal zu, sie lagen unbeweglich da, — noch einmal versuchten wir es mit Aufbietung aller unserer Kräfte, — jetzt wichen sie einen Zoll voneinander, das machte uns Muth; noch einmal drauf los! sie gaben ein wenig nach; das half; nur nicht nachlassen! Bald haben wir sie soweit auseinandergetrieben, daß die Böte hindurchgleiten können, wenn man die vorstehenden Ränder mit der Axt abschlägt. Dann schiebt man die Böte bis zur nächsten Scholle hindurch; hier wiederholt sich dieselbe Geschichte. Mit vereinten Kräften, die wir bis zum äußersten anstrengen, zwingen wir uns vorwärts. Es erfordert eine nicht geringe Uebung, das Boot sicher durch dies gefährliche Fahrwasser zu führen. Man muß einen Blick dafür haben, wo die Eisschollen am besten anzugreifen sind, um sich einen Weg hindurch zu bahnen, man muß die Kräfte, die einem zur Verfügung stehen, aufs beste zu verwerthen wissen, und man muß die Gelegenheit gewandt benutzen, um die Böte glücklich durch die auseinandergeschobenen Eisschollen zu bringen, denn [S. 315] diese schließen sich augenblicklich wieder, und wenn die Böte dann nicht auf der anderen Seite angelangt sind, werden sie unbarmherzig zermalmt. Es geschah mehrmals, wenn wir nicht schnell genug waren, daß ich Sverdrups Boot, das dicht hinter dem unseren folgte, zwischen die Eisschollen eingeklemmt sah, so daß die Seiten ganz eingedrückt wurden, aber es war elastisch und wurde stets im letzten Augenblick hindurch gezwungen, ohne daß ein Unglück geschah.
Schließlich kamen wir auch an Kap Adelaer vorüber und arbeiteten uns fortwährend durch dichtes Eis hindurch am Lande entlang, bis zu dem nördlich gelegenen Vorgebirge, dem ich den Namen Kap Garde gegeben habe.
[S. 316]
Wir erreichten es endlich um die Mittagszeit und beschlossen, hier zu landen, um uns durch Nahrung und Schlaf zu erquicken; diese Ruhepause hatten wir nach fast vierundzwanzigstündiger Arbeit reichlich verdient. Wir hatten soeben unsere Böte mit großer Mühe an den steilen Klippen emporgezogen, unser Zelt aufgeschlagen und uns an das Abwägen unserer Mahlzeit gemacht, als sich etwas ganz Unerwartetes, uns fast unglaublich Erscheinendes ereignete.
Ich glaube, es wird von Interesse sein, wenn ich es mit denselben Worten wiedergebe, mit denen ich es am nächsten Morgen in meinem Tagebuch verzeichnete:
„Es war gestern (30. Juli) ungefähr um die Mittagszeit (11 Uhr?), als wir nach einer unglaublich mühseligen Fahrt durch das Eis bei — nun, nennen wir es vorläufig Kap .... auf der Nordseite von Karra akungnak angelegt hatten, um ein wenig Nahrung zu uns zu nehmen und endlich einige Stunden zu schlafen. Den vielgefürchteten Puisortok hatten wir vor uns, hofften ihn aber noch selbigen Tages passiren zu können. — — Während wir aßen, oder vielmehr während der Zubereitung unserer einfachen Mahlzeit, vernahm ich zwischen Mövengeschrei und anderem Geräusch Rufe, die eine fabelhafte Aehnlichkeit mit menschlichen Stimmen hatten. Ich machte meine Gefährten darauf aufmerksam, aber es war so wenig wahrscheinlich, in dieser Gegend Menschen anzutreffen, daß wir so lange wie möglich versuchten von Lumme ( Columbus ) und ähnlichen Vögeln zu sprechen, deren es hier freilich wohl ebensowenig giebt wie Menschen. Trotzdem beantworteten wir die Rufe ein paarmal. Sie kamen beständig näher. Gerade als wir mit den letzten Theilen unserer Mahlzeit beschäftigt sind, vernehmen wir einen Ruf, der so deutlich und so nahe klingt, daß die Meisten aufspringen [S. 317] und einer von uns darauf schwört, daß es keine Lumme gewesen ist; selbst die eifrigsten Anhänger der Lummentheorie werden zweifelhaft. Es währt auch nicht lange, bis Balto , der mit dem Fernrohr bewaffnet auf einen Felsblock geklettert ist, uns zuruft, daß er zwei menschliche Wesen sehen kann. Ich springe selbst zu ihm hinauf, und richte das Fernrohr auf zwei schwarze Punkte, die zwischen den Eisschollen bald zusammen fahren, bald wieder auseinanderschnellen. Sie scheinen nach einer Durchfahrt zu spähen, denn sie gehen mehrmals vorwärts und wieder zurück, — aber sieh, da kommen sie gerade auf uns zu, gleich Mühlenflügeln bewegen sich die Ruder in der Luft. Es sind zwei kleine Menschen in ihren Kajaks. Sie kommen näher und näher. Balto setzt eine halb verwunderte, halb ängstliche Miene auf und sagt, er fürchte sich fast vor diesen wunderlichen Wesen. Da kommen sie, der Eine beugt sich gleichsam zum Gruß in seinem Kajak vornüber (das war nun freilich nicht der Fall), der Andere thut nichts. Mit einem einzigen Ruderschlag legen sie an der Klippe an, kriechen aus ihren Kajaks, der Eine trägt das seinige hinauf, der Andere läßt das seine im Wasser liegen, — und dann stehen sie vor uns, die beiden ersten Repräsentanten dieser viel besprochenen Heiden (auf der Ostküste Grönlands). — War der erste Eindruck günstig? Ja, unbedingt, — zwei freilich etwas wilde, aber freundliche Gesichter lächeln uns an. Der Eine trug ein Seehundswams und Seehundsbeinkleider, die ein gutes Stück bloßen Leibes sehen ließen, sowie „Kamiken“ und als einzige Kopfbekleidung ein Perlenband. — — —“
Hier wurden meine Tagebuchaufzeichnungen über diese seltsame Begegnung unterbrochen, die Erinnerung daran steht indessen so lebendig vor meiner Seele, als habe es sich gestern zugetragen, [S. 318] und infolgedessen ist es nicht schwer, die Lücke auszufüllen. Der andere Grönländer trug zu unserer Verwunderung theilweise Kleider europäischen Ursprungs, indem der Oberkörper mit einem „Anorak“, ein jackenähnlichen Kleidungsstück aus blauem Baumwollzeug mit weißen Tupfen bedeckt war, — an den Beinen hatte auch er Beinkleider aus Seehundsfell und Kamiken (so wird die eigenthümliche Fußbekleidung der Grönländer genannt). In der Mitte des Leibes war ein gutes Stück völlig nackend wie bei seinem Kameraden.
Auf dem Kopfe hatte er eine sonderbare breite, flache Mütze mit einem Schirm, der aus einem mit blauem Baumwollstoff überspannten Tonnenreifen gebildet war. Ueber die ganze obere Fläche der Mütze erstreckte sich ein rothes und weißes Kreuz. Diese Art Mützen in verschiedenen starken Farben, in der Regel mit einem Kreuz verziert, sind sehr allgemein unter den Eskimos der Ostküste, sie benutzen sie auf ihren Fahrten in den Kajaks, theils weil sie nützlich sind, indem der Schirm sie gegen die Sonne schützt, theils weil sie dieselben für eine Zierde halten. Ich sah sie später voller Stolz ihre Mützen vorzeigen.
Diese Beiden waren kleine Menschen, scheinbar noch ganz jung, und der Eine, der nur ein Perlenband im Haar trug, war geradezu hübsch. Er hatte eine dunkle, fast kastanienbraune Hautfarbe und langes, rabenschwarzes Haar, das mit der Perlenschnur aus dem Gesicht gehalten wurde und tief über Nacken und Schulter herabfiel, — dazu ein breites, rundes Gesicht mit beinahe regelmäßigen, weichen Zügen, die eine beinahe weibliche Schönheit hatten, so ausgeprägt weiblich, daß wir lange in Zweifel waren, ob wir wirklich einen Mann vor uns hätten. Sie waren von leichtem, geschmeidigem Bau und graziösen Bewegungen.
[S. 319]
Bei uns angekommen, begannen sie zu lächeln, zu gestikuliren und durcheinander zu sprechen in einer Sprache, von der wir natürlich kein Wort verstanden. Sie zeigten gen Süden und zeigten gen Norden über das Eis hinüber und über das Land hinweg, dann zeigten sie auf uns, auf die Böte und auf sich selbst, und während der ganzen Zeit stand ihnen der Mund nicht still. Sie waren ganz ungewöhnlich beredt, aber nichtsdestoweniger verstanden wir kein Wort. Wir lächelten ihnen wieder zu und starrten sie mit einem dummen Gesicht an, während die Lappen sich nicht recht wohl dabei zu befinden schienen. Sie fürchteten sich ein wenig vor diesen „wilden Menschen“ und hielten sich in der Entfernung.
Dann suchte ich einige Papiere heraus, auf die ein Bekannter auf Grönländisch eine Reihe von Fragen geschrieben hatte, deren Beantwortung für mich von Interesse sein konnte. Ich versuchte nun hiernach, einige Fragen an sie zu richten, wie ich meinte auf gut Grönländisch, nun aber kam die Reihe dumm auszusehen an sie. Ich versuchte es nochmals, aber mit demselben Resultat, — sie verstanden kein Wort. Nach noch einigen Versuchen, warf ich verzweifelt die Papiere fort, und nahm meine Zuflucht zu Zeichen, das ging besser, und nun bekam ich heraus, daß sie ihrer Mehrere waren und daß sie auf der Nordseite von Puisortok wohnten oder sich dort in einem Lager befanden, daß man sich hart an den Gletscher halten müsse, um nordwärts zu gelangen. Dann zeigten sie auf Puisortok und machten eine Menge sonderbarer Gebärden, wobei sie eine ernste, bedenkliche Miene aufsetzten und eine Unmenge redeten, was wahrscheinlich bedeuten sollte, daß dieser Gletscher sehr gefährlich sei, daß man sich deswegen in acht nehmen müsse. Die Ostgrönländer haben nämlich eine Menge abergläubischer Begriffe [S. 320] von diesem Gletscher. Da versuchten wir ihnen denn begreiflich zu machen, daß wir nicht von Süden her am Land entlang gekommen seien, sondern über das Meer, was nur einen langen brummenden Laut zur Folge hatte, fast wie das Brüllen einer Kuh, und der wohl den höchsten Grad von Verwunderung bedeuten sollte. Sie betrachteten gleichzeitig uns und einander mit einer zweifelhaften Miene, sie glaubten natürlich kein Wort oder richtiger kein Zeichen davon, oder auch wir mußten übernatürliche Wesen sein. Und das letztere war ihnen wohl im Grunde nicht unwahrscheinlich.
Dann begannen sie, unsere Ausrüstung zu bewundern, — die Böte zogen vor allem ihre Aufmerksamkeit auf sich, besonders erregte der Eisenbeschlag ihre höchste Bewunderung.
Wir gaben Jedem ein Stück Fleischbiskuit, worüber sie sehr erfreut waren, sie aßen ein kleines Stück davon und hoben das Uebrige auf, das wollten sie augenscheinlich mit in das Lager nehmen. Die ganze Zeit hindurch standen sie da und zitterten und froren, was schließlich nicht so merkwürdig war, denn sie hatten nur wenig Zeug an und waren, wie gesagt, in der Mitte des Leibes nackend; auch war die Witterung nicht gerade mild. Sie machten einige bezeichnende Gebärden, daß sie hier auf der Klippe frören und wieder in ihre Kajaks zurückkehren wollten. Durch Zeichen befragten sie uns, ob wir nach Norden hin kämen, worauf wir eine bejahende Antwort gaben, dann zeigten sie noch einmal warnend auf den Puisortok und gingen an den Strand hinab. Hier zogen sie ihre Halbpelze an, legten die Kajaks zurecht und krochen dann behende und leicht wie Katzen hinein. Mit wenigen Ruderschlägen flogen sie leicht und lautlos über den Meeresspiegel dahin. Bald gingen die Ruder wie Mühlenflügel, während sie zwischen den Eisschollen [S. 321] dahin schossen, bald hielten sie an, um sich einen Weg zu bahnen und das Eis zur Seite zu schieben oder um eine Durchfahrt zu erspähen, bald erhob sich der Arm zum Wurf, er wurde gesenkt, hielt einen Moment still, während der Pfeil eingestellt wurde, und dann schnellte er vorwärts gleich einer Stahlfeder, indem der Pfeil vom Wurfgeschoß sauste. Und während alledem entfernten sie sich mehr und mehr, bald sahen wir sie nur noch als zwei schwarze Punkte zwischen dem Eise dort oben in der Nähe des Gletschers, dann bogen sie um einen Eisberg und verschwanden aus unserm Gesichtskreis. Und wir blieben zurück, über diese erste Begegnung mit den Eskimos der Ostküste grübelnd. Es war so sonderbar und so unerwartet, hier Menschen zu treffen, wo ja nach Holms und Gardes Erfahrungen keine wohnen sollten, daher schlossen wir, daß unsere neuen Bekannten sich auf der Reise befunden hatten, und nachdem wir zu diesem Resultat gekommen waren, begaben wir uns in unser Zelt und krochen in unsere Schlafsäcke. Es währte auch nicht lange, bis wir Alle in einen tiefen Schlaf gefallen waren.
Diese eben erzählte Begebenheit schildert Balto ein ganzes Jahr später und obwohl er niemals mein Tagebuch gelesen hatte, fast gleichlautend mit meinen Aufzeichnungen. Ich kann mir das Vergnügen nicht versagen, die betreffende Stelle hier wiederzugeben:
„Während wir aßen, hörten wir Laute, die wie Menschenstimmen klangen, wir glaubten aber, daß es ein Rabe sei, welcher krächzte. Nach einer kleinen Weile hörten wir dieselben Laute wieder; Einige von uns glaubten, daß es Wasservögel seien, welche schrien. Ich nahm das Fernrohr und lief auf einen Felsblock hinauf und spähte um mich. Da sah ich etwas Schwarzes, das sich auf eine Eisscholle zu bewegte. Ich rief: [S. 322] „Dort hinten kann man zwei Männer auf dem Eise sehen.“ Nansen kam sofort herbeigelaufen und sah durch das Fernrohr. Wir hörten sie nun ihre heidnischen Gesänge singen (?) und wir riefen sie an. Sie hörten uns gleich und ruderten auf uns zu, und es währte nicht lange, bis sie bei uns waren. Als sie sich uns näherten, verbeugte sich der eine tief mit dem ganzen Körper, und als sie an den Strand kamen, nahm jeder seinen Kajak in die Hand und ging auf das Land hinauf. Als sie an uns herankamen, riefen sie Beide im Chor: „iö, iö!“ was soviel heißen sollte, als daß sie sich wunderten, was für eine Art von Leuten wir wohl seien. Wir versuchten nun, mit ihnen zu reden, aber wir verstanden kein Wort von ihrer Sprache ...“
Am Nachmittag, ungefähr um 6 Uhr, erwachte ich und sprang aus dem Zelt, um nach dem Eis zu sehen. Es wehte ein frischer Wind vom Lande her, und das Eis hatte sich noch mehr zertheilt als vorhin. Es schien nach Norden zu gutes Fahrwasser zu sein, da weckte ich denn die Gefährten.
Bald waren wir in den Böten und richteten unsern Kurs auf den vielgefürchteten Puisortok. Wir hatten das herrlichste Fahrwasser von der Welt. Ich fürchtete indessen, daß es schlimmer werden würde, wenn wir weiter vorwärts gelangten, aber dies war keineswegs der Fall. Das Eis, das dort lag, bestand im wesentlichen nur aus größeren oder kleineren Stücken Gletschereises, und das ist in der Regel weit leichter als das Treibeis mit Holzböten zu passiren, die nicht wie Fellböte von dem Eis zerschnitten werden können. Am hinderlichsten war uns der Umstand, daß das Wasser an einzelnen Stellen zwischen den Eisschollen mit einer Unmenge von ganz kleinen Stücken Gletschereises angefüllt war. Ohne weitere Störungen kamen wir an dem Gletscher vorüber, mehrmals ganz dicht an seine lothrechte Eiswand hinanrudernd, die [S. 323] in allen blauen Gletscherfarben spielt, von dem tiefsten Blau drinnen in den Spalten und Schluchten bis zu dem hellsten Milchblau an den geraden Eiswänden und höher gelegenen Stellen, die noch zum Teil mit Schnee bedeckt sind.
Was diesen Gletscher eigentlich so gefürchtet gemacht hat, verstehe ich nicht, denn er hat nur eine ganz unbedeutende Bewegung, wirft infolgedessen nur wenig Eis ab, und wenn dies der Fall ist, sind es doch stets nur kleinere Stücke, die herunterfallen, denn es liegt nicht viel Eis in der Nähe.
Bereits Graah und sogar mehrere Schriftsteller vor ihm, berichten indessen von der übertriebenen Furcht der Eskimos vor diesem gefährlichen Gletscher, der stets bereit ist, herabzustürzen und die Vorüberfahrenden zu zerschmettern, und der selbst weit draußen im Meer plötzlich große Eismassen aus der Tiefe emporschleudere und Böte und Mannschaft vernichten kann. Der Name Puisortok deutet auch auf diese Annahme hin. Er bedeutet nämlich: der Ort, an dem etwas emporgeschnellt wird, und ist nicht ganz allein dastehend an der Ostküste. An mehreren Stellen trifft man denselben Namen in Verbindung mit dem Gletscher, — was dies eigentlich bedeuten soll, ist mir nicht ganz klar. Daß Holms und Gardes grönländische Mannschaft ebenfalls eine abergläubische Furcht vor diesem Gletscher hegte, davon erhält man einen deutlichen Eindruck, wenn man ihren interessanten Bericht ließt. Garde erzählt, daß die Bewohner der südlichen Westküste die Auffassung haben, daß man, indem man den Puisortok passirte, unter einer überhängenden Eiswand hinweg ruderte, die jeden Augenblick herabstürzen könne, sowie über Eismassen, die unter dem Wasser verborgen lägen und nur auf eine günstige Gelegenheit warteten, um emporzuschnellen und die vorüberziehenden Böte zu zertrümmern.
[S. 324]
Diese abergläubischen Vorstellungen haben die Bewohner der Westküste natürlich von den an der Ostküste ansässigen Heiden erhalten, mit denen sie zusammengetroffen sind. Diese besitzen sogar eine ganze Reihe von Vorschriften darüber, wie man sich bei dem Passiren des Puisortok zu verhalten hat, um mit heiler Haut davon zu kommen, — man darf nicht sprechen, nicht lachen, nicht essen, nicht rauchen, während man vorüberfährt, auch darf man den Gletscher nicht ansehen und vor allem das Wort Puisortok nicht aussprechen. Wenn man es thut, so stört man den Gletscher, und das bedeutet einen gewissen Untergang.
Sei dem, wie ihm wolle, — eins steht fest, der Puisortok verdient seinen üblen Ruf nicht. Wie ich später entdeckte, ist er wahrscheinlich ein verhältnißmäßig kleiner lokaler Gletscher, der auf einem Gebirgsrücken liegt, welcher auf der Innenseite durch ein Thal von dem eigentlichen Inlandseise getrennt wird. Dies ist auch der Grund für die äußerst geringe Bewegung, die Garde nachgewiesen hat. [72]
Das einzig Merkwürdige an diesem Gletscher ist, daß er mit einer so großen Fläche an die See stößt. Garde giebt seine Breite auf ¾ Meilen an, und das scheint mir durchaus zutreffend zu sein. Hierin muß, wie auch Garde annimmt, der Grund für die Furcht der Eskimos vor diesem Gletscher liegen; wenn sie an der Küste entlang fahren wollen, müssen sie hart an ihm vorüberrudern, da er direkt am Meer liegt ohne jegliche Scherenbildung. Die Eskimos fahren überhaupt nur ungern an Gletschern vorüber, was auch nicht so merkwürdig ist, da diese Gletscher oft Eis ins Wasser abschieben, oder auch kleinere [S. 325] Stücke von ihnen herabfallen, was leicht ein Unglück anrichten kann. Wenn sich ein Boot in einem solchen Augenblick vor einem Gletscher befindet, so ist es gewiß in den meisten Fällen rettungslos verloren, denn selbst wenn es nicht direkt von den herabstürzenden Eismassen getroffen wird, so geräth das Wasser doch in eine so heftige Bewegung, und die treibenden Eisstücke und Eisschollen werden so heftig gegeneinander geschleudert, daß ein Boot wohl nur schwer dem Untergang entrinnen würde.
Die meisten größeren Eisgletscher liegen unmittelbar an dem Ende enger Fjorde, die sie selber im Laufe der Zeiten vermittelst ihrer starken hinausschiebenden Bewegung, unter welcher sie Massen von Kies und Steinen mit sich ins Meer hinausführen, gebildet und ausgegraben haben. Bis an das Ende dieser Fjorde kommen die Eskimos selten, — deshalb ist es nicht nothwendig für sie, sich in der Nähe der gewaltigen Endwände dieser Gletscher zu bewegen, deren launenhafte Gefährlichkeit sie nur zu gut kennen.
Es ist daher kein Wunder, daß sie, wenn sie an einen so breiten Eisgletscher wie den Puisortok kommen, an dem sie nothgedrungen vorüber müssen, ängstlich sind, obwohl der Gletscher nur eine geringe Bewegung hat.
Wie bereits gesagt, kamen wir sicher und gut an dem Gletscher vorüber, und keine abergläubische Furcht hinderte uns, in vollen Zügen die gewaltige Schönheit dieser zerklüfteten Eismassen zu genießen.
Das Fahrwasser war auch fernerhin verhältnißmäßig gut, und wir kamen schnell vorwärts. Unser Muth war im Wachsen begriffen, und wir gewannen mehr und mehr die unerschütterliche Ueberzeugung, daß uns jetzt nichts mehr hindern könne und solle, unser Ziel glücklich zu erreichen.
[72] Lieutenant Garde berechnete eine Bewegung von zwei Fuß in 24 Stunden. Schon die Form des Eisgletschers wie seine Haltung beweisen, daß er völlig lokal ist.
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n der Nähe des nördlich vom Puisortok gelegenen Vorgebirge Kap Bille angelangt, vernahmen wir vom Lande her sonderbare Laute, gleichsam ein Gemisch von Menschenstimmen und Hundegeheul. Wir hielten Ausguck und erblickten nun einige dunkle Massen, in denen Bewegung zu sein schien, und als wir näher hinsahen, zeigte es sich, daß es Menschenschwärme waren, die an den Felsabsätzen hinauf zerstreut waren und lebhaft durcheinander sprachen, gestikulirten und auf uns zeigten, die wir uns ruhig durch das Eis hindurch arbeiteten. Wir entdeckten nun auch mehrere Fellzelte, die an die Felsen lehnten, und bemerkten einen sonderbaren Geruch von Thran oder dergl., den der Wind uns vom Lande her entgegentrug. Obwohl es noch nicht Abend war, konnten wir der Versuchung nicht widerstehen, diese merkwürdigen, uns unbekannten Menschen zu begrüßen. In demselben [S. 327] Augenblick, als wir die Böte dem Lande zuwandten, steigerte sich der Lärm dort erheblich. Man schrie und rief, man zeigte und eilte zum Strande hinab und auf die Felsklippen, um besser sehen zu können. Sobald wir bei einigen Eisschollen Halt machten, die uns den Weg versperrten und zu unseren langen Bootshaken von Bambusrohr griffen, um uns einen Weg zu bahnen, kannte der Lärm keine Grenzen mehr, — man schrie und lachte. Dicht am Ufer kamen uns einige Eskimos in ihren Kajaks entgegen. Unter ihnen erkannten wir auch unsere beiden Freunde vom Vormittage. Sie lächelten über das ganze Gesicht und waren äußerst freundlich, indem sie uns mit ihren kleinen Fahrzeugen umkreisten, uns den Weg zu zeigen suchten, den wir ebensogut allein finden konnten, und über unsere starken hölzernen Böte staunten, die ruhig dahinglitten, ohne sich durch die Eisstücke beirren zu lassen, die ihre Fellböte zweifelsohne zerschnitten haben würden.
Endlich glitten wir an den letzten Eisschollen vorüber, dem Lande zu, wo sich unserm Auge in dem jetzt eingetretenen Halbdunkel eine so phantastische Scene darbot, wie ich sie nie zuvor gesehen habe. Den ganzen Berg hinauf standen lange Reihen von Gruppen, die aus wunderlich wilden, zerlumpt aussehenden Menschen, Männern, Frauen und Kindern, gebildet wurden, alle ungefähr in derselben Tracht. Sie starrten uns an, zeigten auf uns und stießen dieselben brüllenden Laute aus, die wir am Vormittage gehört hatten; jetzt klang es geradezu täuschend wie eine große [S. 328] Kuhherde, die um die Wette brüllt, wenn man am Morgen die Stallthür öffnet, um ihnen Futter zu bringen. Unten am Strande erblickten wir eine ganze Anzahl von Männern, die eifrig mit den Armen in der Luft fochten, um uns einen guten Landungsplatz zu zeigen. [73] Oben auf dem Berge erhoben sich mehrere gelbbraune Fellzelte, während Kajaks, Frauenböte und verschiedene Gegenstände über den Strand zerstreut lagen. Ringsumher auf dem Wasser schwärmten die Kajakmänner, dazwischen die beiden mit uns Sechs bemannten Böte und als [S. 329] Staffage der gewaltige Gletscher, das Treibeis und der blutrothe Abendhimmel, — wahrlich ein Bild höchst eigener Art!
Da herrschte ein Leben und eine Bewegung, die in wohlthuendem Widerspruch zu dem öden Schweigen stand, das uns bisher umgeben hatte.
Es währte natürlich nicht lange, bis wir an Land gekommen waren, die Böte vertaut hatten und uns von den Heiden umringt sahen, die uns und die Böte erst verwundert betrachteten und uns dann Alle mit dem freundlichsten Lächeln begrüßten.
Die Sprache der Eskimos hat keinen Ausdruck für „Guten Tag“ oder „Willkommen“, — ein freundliches Lächeln ist ihr einziger Bewillkommnungsgruß.
Man sprach auf uns ein und rief uns in die Ohren, daß es klang wie das Brodeln eines Kessels, — und doch konnten wir keine Silbe von alledem verstehen.
Wir schauten ein wenig um uns, — sie schienen höchst gemüthlich zu leben mitten zwischen Eis und Schnee, unwillkürlich empfanden wir den Wunsch, länger bei ihnen verweilen zu dürfen.
Als wir vor dem größten Zelt stehen blieben, aus dem uns ein gemüthlicher Lichtschein entgegendrang, wurden wir sofort durch Zeichen aufgefordert, einzutreten. Wir folgten der Einladung und gelangten durch die äußere Zeltöffnung an einen dünnen, durchsichtigen Vorhang aus Darmhaut; die eine Ecke derselben wurde zurückgeschlagen, wir mußten die Köpfe der Niedrigkeit halber senken und traten dann in einen gemüthlichen Zeltraum ein.
Der Anblick und die Atmosphäre, die uns hier entgegendrang, mußte, wenigstens auf europäische Augen und Nasen, milde gesprochen, höchst fremdartig wirken. Ich hatte freilich [S. 330] gehört, daß die Eskimos an der Ostküste Grönlands in ihren Hütten nur mit einem Minimum von Kleidern angethan seien, sowie daß in ihren Wohnungen eine wenig angenehme Atmosphäre herrschen sollte, daß es aber so aussähe und so merkwürdig röche, hatte ich mir denn doch nicht vorgestellt. An dem Geruch allein hatte man schon genug. Es war eine ganz eigenthümliche Mischung von den verschiedenartigsten Ingredienzien. Am durchdringendsten war der Thrangeruch aus den Thranlampen, dazu aber kamen noch die verschiedensten Arten von menschlichen Ausdünstungen, sowie Dämpfe von stinkenden Flüssigkeiten, die in Gefäßen aufbewahrt wurden; — aus Rücksicht auf den Leser, will ich lieber mit der Beschreibung innehalten. Man kann sich jedoch bald daran gewöhnen und die Atmosphäre schließlich ganz angenehm finden; Allen erging es freilich nicht so, und zwei von den Gefährten verschwanden bald aus dem Zelt.
Ich selber fand mich verhältnißmäßig bald zurecht, wenigstens so weit, daß ich meine Augen gebrauchen und mich in der Wohnung umsehen konnte. Das Erste, was meine Aufmerksamkeit erregte, war die Unmenge nackter Körper, die ich rings umher im Zelt sitzen, liegen und stehen sah. Sie trugen alle ihr „ nâtit “ (Hausgewand), dies ist aber so klein, daß ein ungeübtes Auge nicht sonderlich daran hängen bleibt. Es besteht aus einem schmalen Band um die Lenden, das sich besonders bei den Frauen auf das allergeringste beschränkt. Von falscher Scham war hier nicht viel zu entdecken, und daß die Natürlichkeit, mit der man miteinander verkehrte, uns Europäern, die wir an europäische Sitten gewöhnt waren, ein wenig befremdend erschien, kann wohl nicht wunder nehmen. Daß sogar Einzelne von uns errötheten, als wir sahen, wie ein paar junge Mädchen und junge Burschen gleichzeitig mit uns ins Zelt kamen, sich [S. 331] ganz ungenirt entkleideten, diese Haustracht anlegten und Platz auf der Pritsche nahmen, ist wohl ganz erklärlich, wenn man bedenkt, wie lange wir jetzt ausschließlich mit Männern zwischen Meer und Eis verkehrt hatten. Besonders den Lappen schien dieser Anblick sehr anstößig zu sein. Einen eigenthümlichen Eindruck machte es, als eine junge Mutter sich ihrer Kleider entledigte und ohne weitere Umstände auf ihr Lager zu ihrem Kinde kroch, das dort ganz nackend lag, um ihm, auf allen Vieren über dem kleinen Wesen gebeugt, die Brust zu geben. Es war etwas so rührend Natürliches, so Mütterlich-Zärtliches in dieser Scene, daß es auf jeden Zuschauer, der nicht von einem verkehrten europäischen Anstandsgefühl befangen war, einen tiefen Eindruck machen mußte. Sie lag eine Weile völlig nackend da, dann schien es ihr ein wenig zu kalt zu werden, denn sie breitete schützend eine Decke aus Seehundsfell, die hübsch mit dem [S. 332] weißen Fell ungeborener junger Seehunde eingefaßt war, über sich und das Kind.
Allmählich kamen mehr und mehr Menschen ins Zelt, bis es fast ganz gefüllt war. Uns war gleich bei unserm Eintritt ein Platz auf einigen Kisten angewiesen worden, die an dem Darmvorhang an der Vorderseite des Zeltes entlang standen. Dies ist der Platz, den die Gäste einzunehmen pflegen, während die Bewohner des Zeltes auf der langen Pritsche oder der Bank liegen, die sich an der hinteren Wand des Zeltes hinzieht. Sie ist aus Brettern gemacht und so breit, daß man quer darauf liegen kann, während sich die Länge nach der Größe des Zeltes und der Zahl der Bewohner richtet. Sie ist mit mehreren Schichten von Seehundsfellen bedeckt und auf ihr verbringen die Eskimos ihr Leben in den vier Wänden, hier sitzen sie, die Weiber gern mit gekreuzten Beinen, hier arbeiten sie, hier essen, hier liegen, hier schlafen sie.
Die Zelte der Eskimos haben eine ganz eigenthümliche Form. Der Zeltpfosten besteht aus einem Holzbock, über den lange Stangen in einem Halbkreis gelegt werden, so daß die Spitzen einander berühren, über diese wird eine doppelte Schichte von Fellen gebreitet, nach innen zu Haarfelle, deren Haarseite nach innen wendet, und nach außen zu Wasserfelle; hierzu werden hauptsächlich alte Felle benutzt, die früher zu Frauenböten oder Kajaks gedient haben. Die Zeltöffnung befindet sich unter dem erwähnten Bock, von dem eine Darmhaut herabhängt, die den Vorhang des Zeltes bildet, wie das oben bereits geschrieben ist.
In dem Zelt, in welchem wir uns befanden, wohnten vier oder fünf verschiedene Familien, — jede dieser Familien hatte ihren durch einen Pfosten begrenzten „Stand“ auf der Schlafbank, [S. 334] und dort saßen Mann, Frau und Kinder auf einem Minimum von Platz. Ein 4 Fuß breiter Pritschenplatz kann beispielsweise breit genug für einen Mann mit 2 Frauen und 6 Kindern sein. Vor dem Pritschenplatz einer jeden Familie brannte eine Thranlampe mit breiter Flamme. Diese Lampen sind aus Stein gefertigt, haben eine halbrunde Form, sind flach und ausgehöhlt wie eine Schale und ziemlich groß, — oft einen ganzen Fuß lang. Der Docht besteht aus trocknem Moos, das flach an die eine Seite der Lampe gelegt und stets mit frischem Speck genährt wird, der bald zu Thran zerschmilzt. Es liegt den Frauen ob, diese Lampen in Ordnung zu halten, und mit einem eigens dazu eingerichteten Stäbchen den Docht zu putzen, so daß er nicht qualmt, aber auch nicht zu klein brennt. Ueber diesen Lampen kochen sie diejenigen Speisen, die sie nicht roh verzehren, in großen Steinkesseln, die von der Zeltdecke herabhängen. Merkwürdigerweise brennen sie keinen Torf, obwohl dies Feuerungsmaterial für sie ohne große Schwierigkeiten zu erlangen ist. In diesem Zelt waren viele Lampen angebracht, über einigen hingen auch große Kochtöpfe und brodelten. Die Lampen brennen Tag und Nacht. Sie sorgen für die Heizung und für die Beleuchtung am Abend und während der Nacht, — die Eskimos schlafen nämlich nicht im Dunkeln wie wir, — auch sorgen sie dafür, sich stets mit einem Aroma von Thran zu umgeben, das auf uns Europäer nicht absolut angenehm wirkt, an das wir uns aber doch sehr bald gewöhnen können.
Als wir so in einer Reihe auf diesen Kisten saßen und die fremden Umgebungen betrachteten, machten unsere Wirthe Versuche, uns zu unterhalten. Man erklärte uns den Zweck jedes Gegenstandes, den wir betrachteten, theils durch Worte, die wir nicht verstanden, theils durch Mienen und Bewegungen, [S. 335] aus denen wir uns besser vernehmen konnten. Auf diese Weise erfuhren wir, daß einige Holzlatten, die unter dem Zeltdach hingen, zum Trocknen der Kleider bestimmt waren, daß man in den Kesseln Seehundsfleisch kochte etc. etc. Dann zeigte man uns verschiedene Gegenstände, auf welche die Besitzer sehr stolz waren. U. a. öffneten einige alte Frauenzimmer einen Beutel und nahmen ein kleines Stück holländischen Rolltabaks heraus, ein Mann zeigte uns ein Messer mit einem langen Knochenschaft. Diese beiden Gegenstände waren wohl das Merkwürdigste in dem ganzen Zelt, denn sie wurden mit der größten Ehrfurcht betrachtet. Dann versuchte man, uns die Verwandtschaft der verschiedenen Zeltbewohner untereinander begreiflich zu machen. Ein Mann umarmte ein fettes Frauenzimmer, worauf Beide mit höchst zufriedener Miene auf einige jüngere Individuen zeigten, was so viel bedeuten sollte, als daß sie Mann und Frau und diese anderen ihre Kinder seien. Der Mann strich mit der Hand an dem Rücken der Frau herab und kniff sie in ihr Fett, damit wir sehen sollten, wie schön und prächtig sie sei, und wie stolz er auf sie war, was sie scheinbar sehr zu schätzen wußte. Merkwürdigerweise schien keiner der Männer in diesem Zelt mehr als eine Frau zu haben, sonst ist es an der Ostküste von Grönland allgemeine Sitte, daß jeder Mann, der ein so guter Fänger ist, daß ihm seine Mittel diesen Luxus gestatten, sich zwei Frauen hält, — niemals aber mehr.
Die Männer sind in der Regel sehr gut gegen ihre Frauen, und man kann sogar sehen, daß Eheleute einander küssen, was freilich nicht auf europäische Art geschieht, sondern indem die Betreffenden die Nasen aneinander reiben. Eheliche Streitigkeiten kommen übrigens auch vor, und da kann es oft böse hergehen; die Uneinigkeit wird in der Regel dadurch geschlichtet, [S. 336] daß die Frau eine Tracht Prügel oder einen Messerstich in den Arm oder das Bein erhält, worauf das Verhältniß ebenso zärtlich zu sein pflegt wie vorher, besonders wenn die Frau Kinder hat. Zuweilen freilich bekommt auch der Mann bei solchen Gelegenheiten Prügel; so erzählt Holm , daß ein Mann, der zwei Frauen hatte, sich auf eine Prügelei mit der einen einließ und von ihr gehörig durchgebläut wurde.
Im ganzen scheint das beste Verhältniß zwischen allen Bewohnern des Zeltes zu herrschen; gegen uns war man sehr freundlich, lächelte und lachte und redete ununterbrochen, obwohl man sich längst darüber klar war, daß wir keine Silbe verstanden. Einer der älteren Zeltbewohner, der scheinbar einen hervorragenden Platz einnahm, — wahrscheinlich ein Angekok, [74] mit einem sehr gewitzten Ausdruck und würdiger Miene — machte uns nach großen Anstrengungen durch Zeichen verständlich, daß Einige von ihnen aus dem Norden gekommen seien und gen Süden ziehen wollten, während Andere aus dem Süden kämen und nach Norden zögen, sie wären einander zufällig begegnet, und nun kämen wir, und das sei doch höchst amüsant. Nun wollte er aber gern wissen, woher wir kämen; das war weit schlimmer, wir zeigten über das Meer und das Treibeis hinweg und deuteten, so gut wir es vermochten, an, daß wir letzteres durchbrochen hätten, daß wir im Süden an das Land gekommen seien und nun gen Norden zögen. Bei diesem Bericht setzten unsere neuen Freunde sehr bedenkliche Mienen auf, und nun wiederholte sich der Chor brüllender Kühe, — sie betrachteten uns wohl kaum als natürliche Menschen. So wurde die Konversation fortgesetzt, und wir unterhielten uns den Umständen [S. 337] nach ganz gut mit ihnen, aber für einen Unbetheiligten würde die Pantomime, die von uns aufgeführt wurde, einen sehr ergötzlichen Anblick abgegeben haben.
Ich will nicht gerade behaupten, daß alle die speckglänzenden Gesichter, die uns hier umgaben, sehr reinlich waren. Von Natur hatten ja freilich die meisten eine ziemlich gelbliche oder bräunliche Farbe, wie viel von der Farbe in diesen auffallend dunklen Gesichtern aber echt war, ist mir nicht ganz klar geworden. In einzelnen Gesichtern — besonders in denen der Kinder — hatte sich der Schmutz so festgesetzt, daß er ganz schwarze Krusten bildete, die an einzelnen Stellen anfingen abzufallen, und hier sah man die echte Hautfarbe hindurchschimmern. Bei den Frauen, besonders den jungen, die selbstverständlich hier — wie überall — sehr eitel sind, soll das Waschen nicht zu den Seltenheiten gehören, ja Holm beschuldigt sie sogar, „sehr reinlich zu sein“. Ohne mich näher auf diese Wäsche einzulassen, glaube ich, daß es genügt, wenn ich sage, daß sie als Waschwasser Urin verwenden. Derselbe Stoff scheint auch ein sehr beliebtes Parfüm zu sein und wird ebenfalls als Haarwasser benutzt. Dies sind die Schönheitsmittel, mit denen die Damen sich in jenen Gegenden für die jungen Männer schmücken.
Weshalb der Urin sich eines so großen Ansehens bei den Eskimos erfreut, daß er zu verschiedenen Zwecken in Gefäßen aufbewahrt wird, hat wohl seinen Hauptgrund darin, daß er die Fähigkeit besitzt, Fett aufzulösen, besonders wenn er alt wird, und nur mit Hülfe dieses Mittels ist es ihnen möglich, ihre eingefetteten Gesichter und Hände, sowie ihre Kleider zu reinigen, denn Seife hat man hier selbstredend nicht. Auf Grund seiner fettauflösenden Fähigkeit wird auch alter Urin zum Zubereiten von Fellen benutzt.
[S. 338]
Hat man nichts Besseres zu thun, so giebt es keine beliebtere Beschäftigung, als sich mit den Händen auf dem Kopfe herumzufahren und sich bald hier, bald da in dem wahren Urwald von struppigem, rabenschwarzem Haar zu kraulen. Besonders bei den Männern ist der Haarwuchs sehr üppig und darf in der Regel wild wachsen, ohne beschnitten zu werden, — von Kämmen ist überall keine Rede. Zuweilen werden förmliche Jagden in diesen schwarzen Urwäldern veranstaltet, und die Jagdausbeute wird dann gewöhnlich sofort verzehrt. Nach Kapitän Holms Aussage soll es jedoch häufig geschehen, daß der Fang erst zur Besichtigung und Bewunderung herumgeschickt und von jedem Einzelnen der im Zelte Anwesenden besichtigt wird, worauf man ihn dem Eigenthümer zurückgiebt, der ihn mit sichtlicher Befriedigung verzehrt. Uns war es leider nicht vergönnt, Zeugen eines so interessanten Schauspiels zu sein. Uebrigens scheint es, als ob die meisten Menschen in jenen Gegenden ihre eigenen Koloniebewohner mit sich herumtragen. Als Eigenthümlichkeit ist zu erwähnen, daß Flöhe bei den eigentlichen Eskimos gar nicht vorkommen. Dies Ungeziefer können wir Europäer ihnen noch mitbringen, und auf der Westküste von Grönland ist dies auch der Fall gewesen, — dort nennt man die Flöhe europäische Läuse.
Es scheint beinahe, als ob die Eskimos bei diesen ihren Bewohnern ganz gut gedeihen, denn erstens gewährt ihnen die Jagd eine kleine Zerstreuung in müßigen Stunden, und dann scheinen ihnen die Thierchen ganz vorzüglich zu munden, ja sie werden sogar als Leckerbissen betrachtet.
Zuweilen sollen die Eskimos auch besondere Fangapparate für diese Thiere konstruirt haben. Sie bestehen aus Holzstöcken, an denen ein Büschel Hasenwolle befestigt ist, und die vom [S. 339] Halse herab zwischen die Kleider und die Haut gesteckt werden, wo sie eine Weile sitzen bleiben. Daß diese Thiere allmählich in diese feine, weiche Wolle hineinkriechen, ist nicht so unwahrscheinlich, und man soll auf diese Weise oft einen sehr guten Fang machen können.
Nach allem, was ich hier erzählt habe, muß man zu der Anschauung gelangen, daß diese Menschen einen äußerst abstoßenden Eindruck machen. Aber dies ist keineswegs der Fall; — hat man sich erst über ihre eigenthümliche äußere Erscheinung hinweggesetzt, beachtet man die Neigung der Hände, bald in die Nase, bald in die Ohren, bald in das Haar zu fahren, nicht mehr, vergißt man den Schmutz in ihrem Gesicht, — wozu, nebenbei bemerkt, wir Theilnehmer an der Expedition allen Grund hatten, — gewöhnt man sich an die Atmosphäre und betrachtet man ihre Wirthschaftsgegenstände nicht allzugenau, — so wirken diese Menschen durchaus anziehend. Man befindet sich sehr wohl in ihrer Gesellschaft, es ist etwas angenehm Berührendes, Natürliches und Echtes in ihrem Thun und Sein.
Ob sie hübsch sind? Das ist ja bekanntlich eine Frage, die sehr schwer zu beantworten ist, da die Auffassung in dieser Hinsicht eine äußerst verschiedene ist. Wenn wir ein bestimmtes Schönheitsideal, z. B. das griechische, nehmen, dann ist die Sache bald erledigt. Formen, die nach der Richtung hingehen, findet man an der Ostküste von Grönland wohl kaum. Können wir uns aber ein wenig von dem Schönheitstypus lossagen, den wir von unseren Vorfahren ererbt haben und anbeten und darüber einig werden, daß schön ist, was uns gefällt, — da wird die Frage weit schwieriger zu erledigen sein. Ich glaube, wenn man länger mit diesem Volk zusammengelebt und sich ein wenig an dasselbe gewöhnt hat, wird man einige [S. 340] sowohl schön als auch anziehend finden. Uebrigens giebt es auch Gesichter, die selbst nach europäischem Geschmack hübsch genannt werden können. So sah ich z. B. eine Frau, die mich lebhaft an eine gefeierte Schönheit erinnerte, und nicht mir allein fiel diese Aehnlichkeit auf, auch einer der Gefährten, der die betreffende Dame kannte, bemerkte sie. Ich bin fest überzeugt, daß die Herren diese Eskimodame umschwärmen, und sie nicht allein im höchsten Grade pikant, sondern auch außerordentlich hübsch finden würden, falls sie sich in eleganter Toilette in einem europäischen Salon zeigte.
In der Regel sind die Gesichter rund mit breiten, vorstehenden [S. 341] Backenknochen und besonders bei den Frauen sehr fett. Die Wangen stehen oft vollständig vor und strotzen von Fülle. Die Augen sind dunkel und liegen ein wenig schräg, die Nase ist flach, zwischen den Augen schmal und nach unten zu breit. Das ganze Gesicht macht oft den Eindruck, als sei es flach gedrückt und in die Breite gegangen. Bei den Frauen und besonders bei den Kindern ist es oft so flach, daß man sehr gut ein Lineal von der einen Wange zu der anderen legen kann, ohne in auffallender Weise mit der Nase in Kollision zu kommen, ja bei einigen Kindern bildet die Nase förmlich eine Art von Vertiefung mitten im Gesicht. Daraus wird man ersehen können, daß bei Vielen von einer eigentlichen Schönheit nach europäischen Begriffen nicht die Rede sein kann, aber das ist auch nicht die Art und Weise, auf welche die Eskimos anziehend erscheinen. Es liegt in ihren rundlichen, abgestumpften, fettglänzenden Zügen etwas so Freundliches, Zufriedenes und Gemüthliches, daß sie anziehend wirken müssen. Ihre Glieder, sowohl Hände und Füße, sind auffallend klein und wohlgestaltet; ihre Formen sind im ganzen rundlich, ebenso ihre Bewegungen, — man stößt sich an nichts Eckigem, und ebenso ist es mit ihrem Leben. Dem Eskimo sind seine eigenen Frauen die schönsten und zwar je fetter, desto schöner. Ich glaube daher kaum, daß die europäischen Schönheiten sich Hoffnung machen können, an der Ostküste Grönlands den Preis zu erringen. Es herrscht dort im übrigen auch kein Mangel an Damen.
Das Haar der Eskimos ist rabenschwarz. Bei den Männern wird es oft mit einer Perlenschnur aus der Stirn gehalten und fällt frei über die Schultern herab. Man hält es für gefährlich, etwas von seinem Haar zu verlieren. Bei Einzelnen, die keine Perlenschnur besitzen, wird es über den Augen oder um den [S. 342] ganzen Kopf herum mit den Kiefern eines Eishaies beschnitten, denn infolge ihres Aberglaubens darf Eisen unter keiner Bedingung mit dem Haar in Berührung kommen. Eigenthümlich ist die Sitte, welche erheischt, daß ein Mann, der in seiner Jugend sein Haar beschnitten hat, sein ganzes Leben lang damit fortfahren und dabei viele Formalitäten beobachten muß. Die Frauen binden das Haar am Hinterkopf in einem Knoten auf, der mit einem Stück Fell umwickelt wird und so steif wie möglich vom Kopf abstehen muß. Dies gilt natürlich besonders für die jungen, unvermählten Damen, und um es zu erreichen, ziehen sie das Haar so stramm aus der Stirn und den Schläfen, daß es zuletzt ausfällt und sie in sehr jungem Alter kahl werden — ein solcher Kopf ist keineswegs ein schöner Anblick —, aber dann sind sie meistens schon längst verheirathet und versorgt, und da hat es ja keine Noth mehr. Für eine Eskimodame, die zur guten Gesellschaft gehört, ist es ebenso nothwendig, das Haar aus der Stirn zu ziehen wie für eine europäische Weltdame, daß sie sich schnürt. Sie sind sich insofern gleich, nur ist die Neigung der Eskimos weit unschuldiger und bedeutend weniger schädlich, als die der europäischen Damenwelt.
In dem Zelt, in welchem wir uns befanden, hatten die Frauen durchgehends schönere, oder richtiger gesagt, weniger häßliche Gesichter als die Männer, die freilich auch gut und freundlich aussahen. Sie waren wie gewöhnlich bartlos mit Ausnahme eines Einzigen, der einen kleinen dünnen schwarzen Bart über der Oberlippe hatte.
Als wir eine Weile dagesessen hatten, erhob sich einer der Väter des Zeltes und ging hinaus. Nach einer Weile kehrte er wieder mit einem langen Fangriemen von Seehundshaut zurück, den er, auf der Pritsche sitzend, auseinander zu rollen [S. 343] begann. Ich betrachtete diese Anstalten ganz verwundert, da ich nicht begreifen konnte, was er damit wollte; dann aber zog er ein Messer hervor und schnitt ein großes Stück ab, das er einem von uns überreichte. Dann schnitt er ein ebenso großes Stück ab, das er einem Anderen von uns gab, und so weiter, bis wir alle Sechs unser Ende erhalten hatten. Als diese Arbeit beendet war, sah er uns lächelnd an, äußerst zufrieden mit sich und mit der ganzen Welt. Darauf erhob ein Anderer sich, ging hinaus und kam mit einem Stück Seehundsriemen zurück, das uns auf ähnliche Weise zertheilt wurde, ein Dritter, ein Vierter und ein Fünfter folgten seinem Beispiel, bis wir Alle eine ganze Anzahl von Seehundsfellriemen hatten. Die armen Menschen gaben uns das Beste, was sie hatten, in dem Glauben, daß wir Gebrauch davon machen könnten. Es waren Fangriemen, vermittelst welcher man die Fangblase an den Harpunenspitzen befestigt, da sie auffallend stark sind.
Nachdem diese Mildthätigkeit beendet war, saßen wir eine Weile schweigend da und sahen einander an. Ich wartete, daß sie ein Zeichen machen würden, um anzudeuten, daß sie Gegengeschenke von uns erwarteten. Nach einer Weile erhob sich auch der Erste und kam mit etwas zum Vorschein, das er augenscheinlich wie ein seltenes Kleinod bewahrte. Es war nichts Geringeres als eine alte, verrostete, schwerfällige Büchse mit dem merkwürdigsten Hahn, der mir je vor Augen gekommen ist. Er bestand aus einem großen Stück Eisen, in das ein Loch gebohrt war, wohinein man den Finger steckte, um den Hahn zu spannen. Wie ich später erfuhr, war dies die Form der Büchsen, die gewöhnlich auf Grönlands Westküste verwendet und die speciell zur Benutzung in den Kajaks angefertigt werden. Nachdem er uns das Kuriosum mit großem [S. 344] Stolz gezeigt hatte und nachdem wir pflichtschuldigst unserer Bewunderung Ausdruck gegeben hatten, machte er einige sehr bezeichnende Geberden, daß er nichts habe, was er dahinein thun könne. Ich that eine Weile, als verstehe ich seine Absicht nicht, als dies aber nicht länger anging, mußte ich ihm begreiflich machen, daß ich keine Munition für seine Büchse habe. Er setzte ein sehr enttäuschtes, trauriges Gesicht auf und verwahrte die Büchse wieder. Merkwürdigerweise äußerte keiner der Anderen den Wunsch, daß sie irgend eine Erstattung für das uns Geschenkte wünschten. Sie waren die personifizirte Gastfreundschaft und Liebenswürdigkeit, aber auch sie hatten sicher den Hintergedanken, daß sie Bezahlung für ihre Gaben erhalten würden, was auch selbstverständlich am nächsten Tage der Fall war.
Die Gastfreundschaft bei diesen Menschen an der öden Küste Ostgrönlands kennt übrigens keine Grenzen: selbst ihren ärgsten Feind können sie gut behandeln und mehrere Monate bei sich behalten, wenn die Verhältnisse ihn zu ihnen führen. Die Natur und ihr Nomadenleben hat sie gezwungen, Gastfreundschaft zu üben und anzunehmen, und diese Tugend ist bei ihnen ein Gesetz geworden.
Als wir uns so lange im Zelte aufgehalten hatten, wie wir wünschten, was in Bezug auf einige der Gefährten, wie bereits erwähnt, nicht allzu lange war, begaben wir uns wieder ins Freie.
Wir suchten uns einen Lagerplatz auf einer Fläche in der Nähe des Landungsplatzes aus und brachten unsere Habe ans Ufer. Sofort stürzte eine Schar von Eskimos auf die Böte, und unzählige Hände griffen diensteifrig zu, um unsere Kisten und Säcke den Berg hinauf zu tragen. Jeder Gegenstand [S. 345] wurde mit Ausrufen des Staunens betrachtet, man lachte und amüsirte sich königlich. Besondere Freude und Bewunderung erregten die großen, blanken Blechkasten, in denen wir zum Theil unsern Proviant aufbewahrten, sie gingen von Hand zu Hand, wurden genau untersucht und an allen Ecken und Kanten befühlt.
Bald waren die Böte leer, und wir wollten sie hinaufziehen, aber sofort griffen Alle zu. Man warf die Fangleine ans Land, und nun zogen wohl 20-30 Mann, die in einer langen Reihe an den Berg hinauf standen, um das leere Boot ans Ufer zu bringen. Das war ein Vergnügen! Und als einer von uns auf gewöhnliche Seemannsart anfing zu singen: „Alle Mann auf einmal hoi! o hoi!“ — da erreichte die Freude ihren Höhepunkt, man stimmte mit ein und lachte, Groß wie Klein, so daß man fast nicht mehr ziehen konnte. Wir waren ihrer Ansicht nach sicher höchst amüsante Geschöpfe. Bald waren die Böte oben, und wir konnten unser Zelt aufschlagen. Dies mußten sie sehen, denn nichts interessirt die Eskimos so wie das, was sich mit ihrer eigenen Lebensweise berührt, wie z. B. das Zelt, die Böte und dergl. Das Merkwürdige hierbei erscheint ihnen nämlich nicht überwältigend, das können sie begreifen, und so konnten sie zur Genüge die schnelle Art und Weise bewundern, mit der wir unser kleines Zelt aufschlugen, das so weit einfacher war wie ihre großen, komplizirten Fellzelte, dagegen jedoch lange nicht so warm.
Auch unser Anzug erregte natürlich ihr Staunen, besonders schien die Kleidung der Lappen ihren Beifall zu haben. Die hohen viereckigen Mützen mit den vier Hörnern und ihre weiten, hemdähnlichen Kittel mit rothen und gelben Kanten, — das war etwas ganz Merkwürdiges! — Wie stieg aber das Staunen, als sie sich am Abend in ihren Rennthierwämsern zeigten! Da [S. 346] mußten sie Alle hin und sie befühlen und an den Haaren dieses wunderlichen Felles zupfen, denn so etwas war ihnen noch niemals vorgekommen; dies war ja kein Seehundsfell, kein Bärenfell, auch kein Fuchsfell, — sollte es etwa Hundefell sein? Auf die heulenden Hunde zeigend, fragten sie mit Zeichen und Gebärden, ob es dergleichen sei, aber das war nicht der Fall, und damit war ihre Phantasie erschöpft. Balto redete und machte mit den Händen einige sehr bezeichnende Bewegungen über den Kopf, die das Geweih der Rennthiere vorstellen sollten, aber nein, — hier stand ihr Verstand still. Rennthiere hatten sie augenscheinlich niemals gesehen, diese kommen an dem Theil von Grönlands Ostküste, wo sie leben, nicht vor.
Wir vertheilten unsere Rationen und nahmen unsere Abendmahlzeit vor der Zeltthür ein, umgeben von einem großen Publikum. Dort standen Männer, Weiber und Kinder in dreifachem Kreise, aufmerksam beobachtend, wie jeder Bissen Biskuit zum Munde geführt wurde.
Wir konnten es nicht beachten, daß ihnen bei diesen Leckerbissen das Wasser im Munde zusammenlief, denn wir hatten nicht mehr Brot, als wir selber gebrauchten, und wenn wir an alle diese austheilen wollten, so hätten wir tief in den Brotkasten greifen müssen: angenehm war es freilich nicht zu essen, während so viele Blicke jeden Bissen trocknen Biskuits förmlich [S. 347] verschlangen. Als wir gegessen hatten, gingen wir ein wenig umher und sahen uns im Lager um.
Unten am Strande lag eine Anzahl Kajaks sowie ein paar Frauenböte, die für mich natürlich ein großes Interesse hatten. Besonders einer der Männer war sehr eifrig bemüht, mir alles zu zeigen. Jeder Gegenstand, auf den mein Auge fiel, wurde mir sofort durch Gebärden erklärt. Vor allen Dingen war ihm sehr daran gelegen, mir seinen Kajak zu zeigen, der schön mit Knochen verziert war, und alle seine Waffen, die sich in gutem Stand befanden und reich mit Knochenschnitzereien geschmückt waren. Sein größter Stolz war jedoch seine Harpune, die, wie er mir triumphirend zeigte, eine lange Spitze aus dem Zahn eines Narwals hatte. Er erklärte mir auch sehr anschaulich, wie das Wurfbrett benutzt wird, und wie die Harpune vermittelst derselben mit größerer Kraft geschleudert werden kann. Auf seine Waffen und seinen Kajak ist übrigens jeder Eskimo stolz und auf ihre Verzierung legt er großes Gewicht.
Inzwischen war die Sonne untergegangen, die Nacht war hereingebrochen und das wunderbar Märchenhafte dieser ganzen Scene und dieser Menschen, die an allen Ecken und Kanten von Eis und Schnee umgeben sind, trat jetzt nur noch mehr hervor.
Dunkle Gestalten bewegten sich auf dem Berge hin und her, am eigenthümlichsten nahm sich die Silhouette der Frauen aus, die ihre Kinder in den Amauten [75] trugen, sie sahen aus, als trugen sie große Buckel auf dem Rücken. Durch die dünnen Darmvorhänge drang aus jedem Zelt ein röthlicher [S. 348] Schimmer, welcher der Scenerie einen eigenartigen Anstrich von Gemüthlichkeit und Wärme verlieh, und der die Gedanken weit fortschweifen ließ. Er glich dem Schein von bunten Papierlaternen und erinnerte unwillkürlich an illuminirte Gärten und Sommerfeste in der Heimath. Aber hinter diesen Vorhängen lebte ein sorgloses, glückliches Volk, das vielleicht mindestens ebenso glücklich war, wie manche Völker jenseits des Oceans.
Es wurde allmählich Zeit, unsere Kojen aufzusuchen. Wir bedurften der Ruhe gar sehr, denn in den letzten vierundzwanzig Stunden hatten wir nur wenig Schlaf bekommen. Wir breiteten unsere Schlafsäcke auf den Boden des Zeltes und rüsteten uns zum Schlafengehen. Dieser Prozeß war abermals von größtem Interesse für die Eskimos, es sammelte sich sofort ein dichter Kreis von Zuschauern um unsere Zeltthür. Ich muß gestehen, es waren nicht Männer allein, — auch das schöne Geschlecht war sehr stark vertreten; es schien sie nicht im mindesten zu geniren, daß wir ein Kleidungsstück nach dem andern ablegten, bis wir schließlich fast ganz entblößt dastanden. Aber was sollten wir nur anfangen? Es würde nicht sehr höflich gewesen sein, wenn wir die Damen gebeten hätten zu verschwinden; und wenn wir ihnen hätten auseinandersetzen wollen, daß es nach unseren Begriffen sehr anstößig sei, wenn Damen beim Auskleiden der Herren zugegen sind, so würden wir, falls es uns überhaupt gelungen wäre, uns verständlich zu machen, sicher ihr Staunen und ihre Entrüstung hervorgerufen haben: auf der anderen Seite war es doch zuviel verlangt, daß wir aus diesem Grunde ganz auf unsere Nachtruhe [S. 349] verzichten sollten. Also gingen wir mit Todesverachtung an unser Werk.
Große Heiterkeit erregte es, als wir schließlich in unsere Schlafsäcke krochen und ein Körper nach dem andern verschwand, bis von der ganzen Expedition nichts als sechs Köpfe mehr sichtbar war; — dann wurde die Zeltthür zugezogen und gute Nacht gesagt!
Diese Nacht konnten wir ruhig und ohne Wache schlafen, und wir schliefen gut trotz Hundegeheul und Spektakel. Erst spät am Morgen erwachten wir und hörten die Eskimos, die sich draußen geschäftig hin- und herbewegten. Durch die Spalte in der Zeltthür konnten wir sie sehen, wie sie ungeduldig auf- und niedergingen, voller Erwartung, daß die Zeltthür sich öffnen würde, damit sie ihre Augen wieder an all dem Wunderbaren [S. 350] dadrinnen weiden könnten. Wir sahen, daß sie heute — wahrscheinlich uns zu Ehren — ihre besten Kleider angelegt hatten. Ihre reinen weißen Ueberziehjacken oder Hemden aus Darmhäuten leuchteten aus der Ferne wie weiße Leinewand, und sie wandelten auf und ab, sich an ihrer eigenen Pracht ergötzend. Bei unsern Böten stand eine ganze Versammlung, Einige von ihnen waren hinaufgeklettert, Andere von ihnen standen ringsumher, und jeder einzelne Gegenstand, jeder Eisenbeschlag wurde befühlt und untersucht; nichts aber wurden beschädigt. Dann wurde die Zeltthür geöffnet, und sofort scharten sich mehrere Kreise von Zuschauern um dieselbe, einer hinter dem anderen, man stellte sich auf die Zehen, sie standen Kopf an Kopf da, um zu sehen, wie wir in unsern Säcken lagen, wie wir herauskrochen, und wie jedes einzelne Kleidungsstück angelegt wurde. Das größte Staunen und die größte Verwunderung erregte ein bunter Gürtel, den Kristiansen trug, und der mit strahlend bunten Perlen geschmückt und mit einer großen Messingschnalle auf dem Magen geschlossen war. Diesen Gürtel mußten sie in die Hand nehmen, nach allen Richtungen hin befühlen, und dann fingen sie natürlich wieder an, zu brüllen wie Kühe. Nachdem er seine Jacke angezogen hatte und vor dem Zelte stand, kam sogar ein Mann auf ihn zu, hob die Jacke [S. 351] in die Höhe, um den Gürtel zu sehen. Dann wurde unser Frühstück, das aus Biskuits und Wasser bestand, in tiefem Schweigen vor ihren Augen verzehrt, geradeso wie am vorhergehenden Abend.
Nachdem wir gegessen hatten, machten wir einen Spaziergang ins Freie. Wir hatten uns vorgenommen, unser Leben an diesem Morgen ein wenig zu genießen und uns die Menschen genauer anzusehen, ehe wir weiter fuhren.
Ich versuchte, unbemerkt eine photographische Aufnahme von dem doppelten Zuschauerkreis, der unsere Zeltthür umringte, zu machen, als ich aber den Apparat auf sie richtete, wurden Einige von ihnen auf mein Thun aufmerksam, und nun stoben sie auseinander, als fürchteten sie, daß eine Gewehrsalve oder irgend eine andere Zauberei aus dem Apparat herausfahren werde. Gleich darauf machte ich einen Versuch, eine auf dem Berge sitzende Gruppe zu photographiren, aber mit demselben Resultat. Endlich wandte ich das Gesicht ab, that als beschäftige ich mich mit etwas ganz anderem, wodurch ich ihre Aufmerksamkeit theilweise ablenkte, und nun gelang es mir wirklich, einige Aufnahmen zu stande zu bringen.
Darauf machte ich einen Rundgang durch das Lager mit meinem photographischen Apparat. Vor einem kleinen Zelt, das abseits ganz für sich lag, traf ich eine ungemein freundliche Dame, die augenscheinlich die Hausfrau der Zeltfamilie war. Sie war verhältnißmäßig jung, hatte ein sympathisches Aeußeres, ein lächelndes Antlitz mit zwei schrägeliegenden schmeichelnden Augen, die sie auf eine höchst kokette, anziehende Weise zu benutzen wußte; ihre Kleidung war zwar nicht sehr elegant, was seinen Grund wohl darin hatte, daß sie bereits verheirathet und versorgt war. Auf dem Rücken in der Amaute trug sie [S. 352] ein kleines, schwarzes Kind, an dem sie große Freude zu haben schien; gleich vielen der anderen Mütter war sie eifrig bemüht, das Kind dazu zu bewegen, seine dunklen Guckäuglein aufzusperren und meine Wenigkeit anzuschauen. Dies war auch eine Art und Weise, sich beliebt zu machen; wir verkehrten überhaupt sehr gemüthlich miteinander, und es gelang mir, unbemerkt einige Bilder aufzunehmen. Dann kam der Hausherr aus dem Zelt und schien keineswegs überrascht zu sein, als er seine Gattin in einem tête à tête mit einem fremden Herrn antraf. Er hatte offenbar geschlafen, und da ihn das helle Tageslicht zu blenden schien, setzte er sich einen Schirm oder vielmehr eine große hölzerne Schneebrille über die Augen. Er war ein starkknochiger, treuherzig aussehender Mann; gegen mich war er sehr freundlich und zeigte mir viele seiner Sachen, besonders schien er sehr stolz auf seine Kajakmütze [S. 353] zu sein, die ich absolut aufsetzen mußte, während er ohne weiteres meine Mütze auf seinen Kopf setzte. Dies alles war mir sehr wenig angenehm. Ferner zeigte er mir sein Frauenboot und noch mancherlei anderes, bis ich weiterzog.
Wir blickten auch durch die Thüren verschiedener Zelte. In dem einen waren zwei junge Mädchen damit beschäftigt, eine große Möve aus einem Kochtopf zu ziehen und zu verzehren, indem sie Jede an einem Ende anbissen und vor lauter Wohlbehagen über das ganze Gesicht lachten. Der größte Theil der Federn saß noch an dem Vogel, aber das schien nichts zur Sache zu thun, sie spuckten sie wahrscheinlich wieder aus.
Einige Frauen hatten bemerkt, daß die Lappen Quickgras in ihren Komagen trugen, und nun kamen sie mit großen Vorräthen für Jeden von uns herbeigeschleppt, wobei sie sehr kokett lächelten. Wir dankten natürlich verbindlichst, indem wir unsererseits huldvoll lächelten. Da machten sie uns Zeichen, ob wir ihnen nicht dafür einige Nähnadeln schenken wollten. Dies hätte ich nun ganz gut thun können, da ich allerlei dergleichen mitgenommen hatte, in der Absicht, es als Tauschmittel zu verwenden, wohl wissend, daß man an der Ostküste von Grönland großen Werth auf so etwas legt. Es war jedoch meine Absicht, es für eine eventuelle Ueberwinterung aufzubewahren, wo es mir sehr zu statten kommen würde. Statt [S. 354] dessen schenkte ich ihnen aber einen Blechkasten, der hermetisch verschlossene Sachen enthalten hatte. Sie waren ganz außer sich vor Freude darüber, ihre Augen glänzten und sie sprangen im Kreise umher, um den Anderen ihren Schatz zu zeigen. Das Quickgras war uns sehr willkommen, denn das der Lappen ging bereits auf die Neige, und ohne Gras in ihren Schuhen fühlen diese Menschen sich unbehaglich. Im übrigen hatten sie allerlei an dem Quickgras der Eskimos auszusetzen; es war nicht zur rechten Jahreszeit gesammelt und nicht frisch geschnitten. Es nützte nicht, ihnen auseinanderzusetzen, daß die Eskimos in der Regel keine größeren Vorräthe einzusammeln pflegen, als nothwendig ist.
Aber nun wurde es bald Zeit für uns, aufzubrechen. Wir fingen allmählich an, unsere Vorbereitungen hierzu zu treffen. Da kam ein Mann und befragte uns durch Zeichen, ob wir nordwärts zu fahren gedächten. Als wir dies bejahten, klärte sein Antlitz sich plötzlich auf, denn auch er und seine ganze Sippschaft wollten gen Norden ziehen. Er lief sofort zurück, um diese Neuigkeit zu verkünden, und nun entstand ein reges Treiben in dem ganzen Lager; Europäer und Eskimos machen sich eifrig daran, ihre Zelte abzubrechen, die Böte ins Wasser zu setzen [S. 355] und sie zu beladen, während die Hunde um die Wette heulen. — Die Bewohner des Zeltes, in welchem wir am vorhergehenden Abend gewesen waren, wollten gen Süden ziehen, — ehe wir uns also trennten, erwiderten wir natürlich die Geschenke, die wir erhalten hatten. Mit einigen Blechdosen begab ich mich deswegen in das Zelt, wo ich einige der Männer halbnackt bei der Mahlzeit sitzend fand. Als Jeder von ihnen eine Blechdose erhalten hatte, waren sie sehr erfreut, und einige von ihnen zeigten uns, wie sie sie in Zukunft als Trinkgefäße benutzen wollten. Vor dem Zelt traf ich den Mann mit der Büchse, er drückte mir abermals seinen Wunsch aus, etwas Pulver zu erhalten, als ich aber eine Blechdose holte und ihm die gab, beruhigte er sich damit und freute sich scheinbar sehr.
Bald waren alle die großen Fellzelte abgebrochen und in die Böte geschafft. Es war erstaunlich, wie schnell die Eskimos sich zur Abreise rüsten konnten mit all ihrem irdischen Hab und Gut und ihrem ganzen Hausstand, aber da waren ja freilich auch viele Hände, die zugreifen konnten. Wir selber waren auch beinahe reisefertig, als einer unserer Säcke platzte und ein darin enthaltenes Gefäß mit Salz sich über einen großen Theil des Proviants ergoß. Dies mußte sofort wieder in Ordnung gebracht werden, weshalb unsere Abreise sich ein wenig verzögerte und wir von den Eskimos Abschied nahmen. Zwei Frauenböte gingen gen Süden, wo gutes Fahrwasser war, während zwei andere Frauenböte bald darauf in nördlicher Richtung hinter einer Landzunge verschwanden. Die Kajakmänner zögerten noch. Sie mußten noch etwas gründlicher und intimer Abschied voneinander nehmen, ehe sie sich — voraussichtlich auf mehrere Jahre — trennten, und nun wurden wir Zeugen der komischsten Scene, die mir in meinem ganzen Leben vorgekommen ist. Es waren [S. 356] wohl im ganzen zwölf Kajaks, die sich in schnurgerader Linie dicht nebeneinander legten, als marschirte eine Rotte Soldaten auf. Ich wurde auf dies sonderbare Manöver aufmerksam und war gespannt, was nun kommen würde. Aber ich sollte nicht lange in Ungewißheit bleiben, den nun wurden die Schnupftabakhörner herausgeholt und gingen von Mann zu Mann. War das ein Geschnupfe! Man öffnete das Horn und fuhr sich kräftig damit in die Nasen. Jedes Nasenloch wurde ganz voll Schnupftabak gepfropft. Es waren mehrere Hörner in Wirksamkeit, und jedes Horn machte zweimal die Runde. Man kann sich vorstellen, welche Quantitäten verbraucht wurden. Einige von ihnen niesten derartig, daß es mich wunder nahm, sie nicht mit ihren Kajaks kentern zu sehen. Ich wollte eine photographische Aufnahme von dieser Scene machen, da aber [S. 357] löste sich die Linie auf und ein Kajak nach dem anderen flog dahin durch das Eis. Es ist Sitte bei den Eskimos der Ostküste, sich gegenseitig mit Schnupftabak zu traktiren, — ungefähr wie die norwegischen Bauern sich gegenseitig in Schnaps zutrinken. In diesem Fall hatten nur Diejenigen, die aus dem Süden kamen und nach Norden gingen, etwas, womit sie traktiren konnten. Sie kamen scheinbar von den dänischen Kolonien am Kap Farvel, während die nach Süden Ziehenden sich offenbar auf der Reise dorthin befanden. Diese Geschäftsreisen unternehmen die Eskimos an dieser Küste leider häufig. Sie haben einen langen Weg bis zu dem Kaufmannsladen, um aus ihrer Heimath dorthin zu gelangen, gebrauchen Diejenigen, welche am nördlichsten wohnen, gewöhnlich ein paar Jahre.
Eine solche Geschäftsreise, hin und her, kann also vier Jahre währen, und man kann sich denken, daß die einzelnen Menschen in ihrem Leben nicht viele solcher Reisen machen können. Und doch geschieht es häufig genug, um einen schädlichen Einfluß zu haben. Nun sollte man annehmen, daß es das Bedürfniß nach einzelnen, ihnen nützlichen Dingen sei, welche die Eskimos zu diesen Reisen veranlaßte; das ist jedoch nicht zutreffend, denn die eigentliche Triebfeder ist ihre Sucht nach Tabak . Das Rauchen und Kauen des Tabaks kennt man an der Ostküste Grönlands nicht, dafür schnupft man aber stärker, als ich es je für möglich gehalten. Der Tabak wird gewöhnlich in Rollen gekauft, sog. Holländischer Rollentabak, zerschnitten und getrocknet — über der Lampe — und zwischen zwei flachen Steinen zerrieben. Man vermischt ihn mit feingestoßenem Kalkspat, mit Quarz oder dergl., um ihn zu verlängern, einige behaupten, daß dies geschieht, um ihn wirksamer zu machen (?).
[73] Indem die Eskimos den Ankommenden den Landungsplatz zeigen, ihre Sachen an Land tragen und das Boot auf den Strand ziehen, wie sie es mit uns thaten, zeigen sie, daß die Fremden ihnen willkommen sind. Ist dies nicht der Fall, so stehen sie still, ohne sich zu rühren. Vergl. „Mittheilungen aus Grönland“, 10. Heft, Kopenhagen 1888, Seite 171.
[74] So bezeichnen die heidnischen Eskimos ihre weisen Männer und Geisterbeschwörer.
[75] Die Amaute ist ein jackenähnlicher Kragen, der von den Frauen getragen wird, welche Säuglinge haben. Auf dem Rücken desselben befindet sich eine beutelähnliche Erweiterung, in der das Kind gut und warm ruht. Ein Riemen, der über der Hüfte um die Amaute gebunden wird, hindert das Kind, zu tief in den Beutel hinabzusinken; so kann es auf dem Rücken bei aller möglichen Arbeit mitgenommen werden, es geht mit der Mutter ins Gebirge, es begleitet sie beim Rudern etc. Eine Eskimo trennt sich nur selten von ihrem Säugling.
[S. 358]
ls wir endlich unsere Vorbereitungen zur Abreise getroffen hatten, waren alle Kajakmänner verschwunden bis auf einen einzigen, der so galant sein wollte, uns gen Norden zu begleiten. Die Scenerie war nun ebenso öde und leer, wie sie vor einer Stunde voller Leben und Bewegung gewesen war, — statt auf Zelte, Hunde und Menschen schien die Sonne jetzt auf Eis, Schnee und kahle Felsen herab.
Wir nahmen unsern Kurs nordwärts an der Küste entlang. Das Fahrwasser war anfangs offen, und wir holten tüchtig mit den Rudern aus, denn die Anderen hatten einen langen Vorsprung, und da wir uns einen großen Vortheil von ihrer Kenntniß des Fahrwassers und der Eisverhältnisse versprachen, so wollten wir die Reise gern in ihrer Gesellschaft fortsetzen. Es währte denn auch nicht lange, bis wir sie eingeholt hatten. Sie lagen im Schutz einer Landzunge und schienen unschlüssig zu sein. In dem einen Boot erhoben sich einige Frauen und winkten uns zu. Als wir näher kamen, forderten sie uns durch Zeichen auf, vorauszurudern und ihnen einen Weg zu bahnen, denn das Eis war ziemlich dicht. Dies war allerdings das Gegentheil von dem, was wir erwartet hatten, aber wir glitten ruhig an ihnen vorüber zwischen zwei mächtigen Eisschollen [S. 359] hindurch, die dicht nebeneinander lagen und die sich scheinbar nicht aus der Stelle rücken ließen. Sie hatten den Eskimos den Muth benommen. Als wir uns indessen, ohne anzuhalten, mit unserm ersten Boot dazwischen klemmten, und, theils das Boot als Keil benutzend, theils mit Hülfe unserer langen Bambusbootshaken, mit denen wir alle Sechs auf einmal ausholten, diese Ungeheuer wirklich auseinander trieben, — da kannte ihr Staunen keine Grenzen und ihr Gebrüll stand natürlich im Verhältniß dazu. Jetzt bahnten wir uns unsern Weg weiter durch das Eis, das einigermaßen passirbar war. Dann kamen die beiden Frauenböte der Eskimos und zu beiden Seiten folgten 4 Kajakmänner. Jede Bewegung, die wir machten, wurde von lebhaftem, anhaltendem „Gebrüll“ begleitet, — ich will nicht behaupten, daß es die schönste Musik war, die ich gehört habe.
Viel Vergnügen gewährte es uns zu beobachten, wie die Kajakmänner schnupften. Besonders einer von ihnen zeichnete sich in dieser Beziehung aus. Ich glaube, er hielt alle zehn Minuten an, um sein ungeheures Horn hervorzuholen und beide Nasenlöcher vollzustopfen, und dann nieste er, daß es mir unerklärlich war, wie er sich in seinem Kajak im Gleichgewicht halten konnte. Wenn er uns dann wieder ansah, während ihm Schnupftabak und noch sonst allerlei über die Oberlippe rann und ihm die Thränen die Backe hinabliefen, da war sein joviales Gesicht so unbezahlbar, daß wir ihn regelmäßig mit einem herzlichen Gelächter begrüßten, wozu er nickte und lächelte, als wenn er sehr damit einverstanden sei. Und dann wurde von beiden Seiten das einzige Wort gerufen, das wir behalten konnten, nämlich pitssak’ase . Wir meinten, daß es „schöne“ oder „herrliche Fahrt“ bedeute, denn es wurde uns bei jeder Gelegenheit zugerufen, sowohl wenn wir das Eis durchbrachen, als wenn wir [S. 360] durch das offene Wasser hindurchruderten. Als wir später an die Westküste kamen, erfuhren wir von den Eskimos dort, daß es so viel bedeutet als „Ihr seid geschickt“ oder auch: „Ihr seid gut, Ihr seid freundlich.“
Die großen Böte der Eskimos, die sog. Frauenböte (auf Eskimoisch heißen sie „Umiak“) werden bekanntlich nur von Frauen gerudert. Bei den unvermischten Eskimos gilt es als unter der Würde eines Mannes, in ihnen zu rudern. Ein Mann — gewöhnlich das Oberhaupt einer Familie — muß es dagegen steuern, und zwar ist es seine Pflicht, sich darin aufzuhalten, obwohl alle Seehundsfänger am liebsten in ihren Kajaks fahren. Diese Frauenböte sind ungefähr dreißig Fuß lang oder darüber, an der Ostküste Grönlands pflegen sie kürzer zu sein als an der Westküste, da hier stets so viel Treibeis ist, daß ein längeres Boot schwer zu handhaben wäre, — überall sind diese Böte im Treibeis schwer zu hantiren.
Die Frauen in den beiden Böten, die uns begleiteten, ruderten ohne regelmäßigen Takt und auf höchst eigenthümliche Art. Sie fingen mit einigermaßen schnellen Schlägen an, mit einem passenden Moderato, dann aber wurde der Takt schneller und schneller, die Ruderschläge kürzer und kürzer, sie hoben die Körper ganz von den Sitzen auf, so daß sie fast bei jedem Schlag in den Böten standen, wodurch das Ganze ein merkwürdig hüpfendes Aussehen bekam. Plötzlich, mitten im besten allegro vivace , hält man inne, man verpustet sich einen Augenblick, und dann beginnt dieselbe Geschichte wieder von neuem. Ein solcher Ruck währt immer nur wenige Ruderschläge, man fährt aber ununterbrochen damit fort. Die kurzen Ruder sind wohl zum Theil schuld an dem auffallend kurzen Takt. Auf diese eigenthümliche Weise kommen sie aber doch [S. 362] sehr schnell vorwärts. Im offenen Wasser nahmen sie es mit uns auf, was auch kein Wunder war, wenn man bedenkt, daß in unsern Böten nur 2 Mann an den Rudern saßen, während sich in jedem der ihren bis zu 7 rudernde Frauen befanden. Einmal gewannen sie einen kleinen Vorsprung vor uns. Als wir sie einholten, waren sie abermals von festem Eis aufgehalten, und einige der Frauen winkten uns zu, daß wir ihnen zu Hülfe kommen möchten. Wir kamen denn auch mit unsern langen Bootshaken herbei und mußten laut auflachen, als wir einen Eskimo dastehen und mit einem Stock auf eine Eisscholle losschlagen sahen. Es lag etwas so unendlich Macht- und Hoffnungsloses in der Art und Weise, wie er so allein dastand. Es fiel natürlich keiner von den Frauen in den Böten, keinem der Männer in den Kajaks ein, ihm zu Hülfe zu kommen. Wir griffen alle sechs Mann zu, und das Eis wich zurück, so daß unsere Böte hindurch kommen konnten. Wir ruderten weiter, während die Frauenböte infolge ihrer Länge in Verlegenheit kamen und große Beschwerde hatten, sich durchzuarbeiten. Es war übrigens oft der Fall, daß sie festsaßen, wo wir ihnen mit unsern kürzeren Böten schon den Weg gebahnt hatten; auf diese Weise hätten wir oft einen langen Vorsprung gewinnen können, wenn wir nicht gewartet hätten. Mit großem Staunen machte ich diese Erfahrungen, die in krassem Widerspruch zu dem Lob stehen, das in der Heimath von allen Seiten diesen Frauenböten gespendet wird. Sowohl Kapitän Holm als Kapitän Garde sagen, daß eine Reise an Grönlands Ostküste entlang ohne dieselben eine Unmöglichkeit ist. Dieser Ansicht sind die Dänen übrigens schon seit langer Zeit gewesen. Sie haben selbst keine oder doch nur wenig Erfahrung in der Führung eines Bootes durch das Treibeis gehabt und haben infolgedessen [S. 363] die Ueberlegenheit der Eskimos anerkannt; da diese jedoch nur Frauenböte haben, liegt es nahe, dieselben für die besten zu halten und auch die aus Eskimos bestehende Besatzung beizubehalten. Meiner Erfahrung nach verhält sich jedoch die Sache gerade umgekehrt. Europäische Böte mit einer tüchtigen europäischen Mannschaft, die an dies Leben gewöhnt ist, sind im Treibeis bei weitem vorzuziehen. Die Behauptung, daß ein europäisches Boot nicht genug tragen kann, ist völlig unbegründet.
Da der Tag zur Neige ging, mußten wir Europäer ein wenig Nahrung zu uns nehmen. Wir machten deswegen Halt, um unsere Rationen auszutheilen. Die Eskimos, die ein merkwürdiges Talent zum Fasten haben, zogen indessen weiter. Nur zwei Kajakmänner blieben bei uns zurück, um uns essen zu sehen. Zur Belohnung erhielten sie einige Stücke „Knäkkebrot“, worüber sie sich sehr freuten.
Bald hatten wir die Andern so weit wieder eingeholt, daß wir sie vor uns sehen konnten. Wir bemerkten, daß ein paar Kajakmänner an der Nordseite der Ruds-Insel ans Land gegangen waren und von einem Vorgebirge aus in nördlicher Richtung über das Eis und das Meer spähten. Das waren schlimme Zeichen! Wahrscheinlich war das Eis unpassirbar. Sie setzten ihren Weg jedoch fort, ehe wir sie erreichen konnten, und ruderten über den Fjord, der zwischen der Insel und dem Festlande liegt. Indessen hatte das Wetter sich verändert, dunkle Wolken zogen am Himmel herauf, und es fing an zu regnen. Wir zogen unsere braunen Regenkleider an und ruderten getrost weiter, waren aber noch nicht weit vom Lande entfernt, als wir die Eskimoböte auf uns zukommen sahen. Alle Frauen zeigten mit bekümmerten Mienen gen Himmel, auch die Männer machten uns Zeichen zu, daß das Eis vor uns dicht und schwierig [S. 364] sei, wir müßten Alle auf der Insel an Land gehen, um unsere Zelte aufzuschlagen und zu übernachten. Ich bedeutete ihnen indessen durch Zeichen, daß wir weiter wollten, aber sie erklärten, es sei ganz unmöglich, vorwärts zu kommen. Hierüber hatte ich nun meine Zweifel, aber ich wollte nicht weiter gehen, ehe ich an Land gewesen war, um die Verhältnisse von einem Felsen aus selbst in Augenschein zu nehmen. Infolgedessen ruderten wir Alle zurück, die Frauenböte richteten ihren Kurs auf die Innenseite der Insel, während wir auf die nächste Landzunge zusteuerten. Als einer der Kajakmänner dies sah, folgte er uns, um die ganze Ueberredungskunst anzuwenden, die er durch Zeichen zu entfalten vermochte. Es nützte ihm jedoch nichts, denn sobald ich das Land erreicht hatte, sprang ich auf einen Felsvorsprung und entdeckte nun, daß das Fahrwasser, so weit ich mit dem Fernrohr sehen konnte, einigermaßen gut aussah; damit war es denn bestimmt, daß wir weiter zogen. Als der Eskimo einsah, daß all seine Mühe vergeblich war, ruderte er tiefbetrübt von dannen. Zum Abschied schenkte ich ihm noch eine Blechdose, was seinen Kummer sehr zu mildern schien. Es war ganz klar, daß einzig und allein der Regen die Eskimos zur Umkehr bestimmt hatte. Sie wollten nicht gern naß werden, besonders die Frauen nicht, was man ihnen ja auch nicht verdenken konnte, um so weniger als einige von ihnen Säuglinge in ihren Amauten auf dem Rücken trugen. Daß sie ihr Möglichstes thaten, um uns ebenfalls zur Umkehr zu bewegen, war auch nicht zu verwundern, — wir waren so merkwürdige Menschen, daß sie gern noch eine Weile mit uns zusammen bleiben mochten, außerdem konnte vielleicht das eine oder das andere für sie dabei abfallen.
So zogen wir denn weiter, ganz stolz auf unsern Muth, [S. 365] während die Eingeborenen, die doch das Fahrwasser kannten, zurückblieben. Eine ganze Weile ging auch alles gut, und unser Muth wuchs mehr und mehr; in der Mitte des Fjords angelangt, sollten wir jedoch empfinden, daß es kein Kinderspiel war, auf das wir uns eingelassen hatten. Das Eis lag hier ziemlich dicht, und eine reißende Malströmung wirbelte die großen Schollen derartig herum, daß es nicht mehr angenehm war. Bald prallten diese Kolosse gegeneinander, bald wichen sie zurück, und man mußte noch vorsichtiger als gewöhnlich sein, wenn man unbeschädigt mit den Böten hindurchkommen wollte. Und je weiter wir kamen, desto schlimmer wurde die Situation. Einmal waren wir zwischen zwei lange Schollen gerathen, die plötzlich, von anderen Schollen getrieben, mit gewaltiger Macht gegeneinander gestoßen wurden. Durch einen schnellen Rückzug [S. 366] entgingen wir noch im letzten Augenblick dem sichern Verderben. Gegen Abend, als es bereits dunkelte, erreichten wir glücklich die andere Seite des Fjords, hier war das Ufer jedoch sehr steil, und es fiel infolgedessen nicht leicht, einen Zeltplatz zu finden. Es gelang uns, die Böte — nachdem wir sie entleert hatten — vermittelst eines starken Takels in eine Felsschlucht hinaufzuziehen. Ein wenig aufwärts von dieser Schlucht fanden wir einen Felsabsatz, der groß genug war, um unser Zelt aufzunehmen. Das Ganze hatte eine große Aehnlichkeit mit einem Adlernest, das an einem Felsen hängt, deshalb tauften wir den Ort „Adlershorst“ (auf Eskimoisch heißt es übrigens Ingerkajarfik und liegt auf dem 62° 10′ N. Br. und dem 42° 12′ W. L. auf dem Festlande).
Der Felsabsatz, der den Boden des Zeltes bildete, gab nicht gerade den angenehmsten Schlafplatz ab, der mir vorgekommen ist. Er war so abschüssig, daß wir uns am Morgen, als wir nach einem erquicklichen Schlummer erwachten, an der einen Ecke des Zeltes übereinanderliegend fanden.
Am nächsten Tage schien die Sonne wieder, es war das herrlichste Wetter. Gerade vor uns, im Süden, fiel ein mächtiger Eisgletscher steil ins Meer hinab; seine wilden zerrissenen Klüfte spielten im Sonnenlicht in den märchenhaftesten Farben.
Wir nahmen unser Frühstück in aller Eile ein und ließen die Böte hinab, beluden sie und zogen, nachdem wir eine photographische Aufnahme von der südlichen Landschaft gemacht hatten, durch leidliches Fahrwasser weiter. Ueberall stießen wir auf Treibeis, aber es war doch so weit offen, daß wir in der Regel mit ziemlicher Leichtigkeit hindurchkommen konnten.
Etwas über die Mittagszeit hinaus erreichten wir eine kleine Insel, die vor dem Mogens Heinesens Fjord lag, dort [S. 367] legten wir in einem vorzüglichen Hafen an um unser Mittagessen einzunehmen. Diese Insel schien uns der schönste Fleck zu sein, den wir auf der Oberfläche dieser Erde gesehen hatten. Sie war grün bewachsen mit Gras, Heidekraut, Säuregras, Blumen in verschiedenen Farben etc. Oben auf der Höhe fanden wir zwei Ruinen von Eskimobehausungen, und dort war die Vegetation besonders üppig, und wir empfanden ein ungeheures Wohlbehagen, als wir uns in dem hohen Gras ausstrecken und von der brennendheißen Sonne bescheinen lassen konnten. Wir genossen diese süße Ruhe eine kurze Weile, dann pflückten wir uns einige Blumensträuße zur Erinnerung an dies kleine grönländische Idyll, bestiegen unsere Böte und setzten die Reise gen Norden fort.
Die Küste, an der wir bis dahin entlang gefahren waren, zeichnet sich eigentlich nicht durch besonders schöne Formationen aus. Sie ist niedrig, einförmig und kahl. An den meisten Stellen gehen der Schnee und die Gletscher bis hart an die See hinab, und wie man auch aus der Karte ersehen kann, ragen nur verhältnißmäßig wenige graue Felsen aus dem Schnee empor. Nachdem wir an jenem Nachmittag den Eingang zu Mogens Heinesens Fjord passirt hatten, der von einer schönen Reihe wilder Bergzinnen umgeben ist, kamen wir an eine ganz neue Landschaft. Hier reichen nirgends Schneefelder und Eisgletscher bis an das Meer, überall ist das Land frei, die Felsen ragen oft in bedeutender Höhe empor, und nach dem Lande zu — besonders im Norden — trifft man überall die herrlichsten Gebirgslandschaften, in denen sich wilde Gipfel und Zinnen dicht nebeneinander erheben. Alles hier in der Welt ist relativ, und dies gilt wohl nicht im geringsten hier, wo es uns vorkam, als wenn wir in fruchtbare Gegenden gelangt seien. Sommergedanken [S. 368] und Sommerstimmungen bemächtigten sich unserer Seele mitten zwischen dem Treibeis, als wir jetzt an der Küste statt des ewigen Eises und Schnees kahle Felswände erblickten. Der Uebergang hätte kaum fühlbarer sein können, wenn wir jetzt plötzlich in die fruchtbarste Gegend gekommen wären. Im Norden winkte und lockte die blauende Bergreihe des Tingmiarmiuts-Landes, als sei dort das gelobte Land.
Je nördlicher wir gelangten, desto häufiger wurden die großen Eisberge, die hier an der Küste zum Theil bis an den Grund reichten. Gegen Abend erblickten wir östlich von Nagtoralik einige weiße Spitzen, die über den Horizont hinausragten. Sie hatten eine so eigenthümliche Form, daß ich mir lange [S. 369] nicht darüber klar werden konnte, bis ich endlich entdeckte, daß es die Zinnen eines kolossalen Eisberges waren, der eine so phantastische Form hatte, wie ich sie noch niemals gesehen. Ich machte eine photographische Aufnahme davon, die Entfernung war jedoch so beträchtlich, daß das Bild bei weitem nicht den überwältigenden Eindruck wiedergiebt, den der Eisberg auf uns machte, als wir in seine Nähe kamen. Zu oberst ragten zwei Spitzen gleich schlanken Kirchthürmen hoch in die Luft empor. Oben an der hohen, lothrechten Wand quer durch das Feld befand sich ein großes Loch, und unten hatte die See so große Grotten ausgehöhlt, daß ein kleines Schiff bequem unter das Eisdach gehen konnte. In diesen Grotten sahen wir ein wunderbares Farbenspiel von Blau bis zu dem tiefsten Ultramarin. Es sah aus wie ein schwimmender, aus Saphiren gebauter Feenpalast, und ringsumher rieselten Bäche und bildeten kleine Wasserfälle, die sich an den Seiten herabstürzten, während aus den Grotten unaufhörlich der Laut tropfenden Wassers zu uns heraufdrang. Es war Schönheit, aber von einer fremden Natur, sie machte die Gedanken zu den geheimnißvollen Märchenlanden der Kindheit zurückschweifen.
Nachdem wir in der Dunkelheit eine Weile nach einem Lagerplatz gesucht hatten, legten wir gegen Abend an einer Insel an, die auf dem 62° 25′ N. Br., 42° 5′ W. L. liegt.
Wie gewöhnlich wurden die Böte geleert und dann ans Land gezogen. Dies war vielleicht derselbe Platz, der einer ostgrönländischen Sage zufolge der Schauplatz eines Kampfes zwischen einem Europäer und einem Grönländer gewesen sein soll. [76]
Am nächsten Morgen — den 2. August — ruderten wir [S. 370] weiter und wollten gerade über den Fjord, nördlich von der Insel Uvdlorsiutit setzen, kamen aber sehr bald in dichtes, undurchdringliches Eis hinein. Wir mußten abermals umwenden, um auf das Land zuzusteuern und uns an der Küste des Fjords entlang fortzuarbeiten. Da das Eis noch immer sehr dicht zu sein schien, überlegten wir, ob es nicht besser sei, durch den Sund, zwischen dem Festland und der eben erwähnten Insel, zu gehen, als wir auf deren Südspitze Eskimozelte entdeckten. Wir landeten, um uns nach dem nördlichen Fahrwasser zu erkundigen, waren aber nicht wenig überrascht, als wir am Strande von einer Schar Frauen und fast völlig nackter Kinder empfangen wurden, die wir als unsere Freunde vom Kap Bille wiedererkannten. Sie lachten aus vollem Halse und erzählten, sie seien an uns vorübergefahren, während wir schliefen, — wahrscheinlich am vorhergehenden Morgen. Sie hatten ihre Zelte auf einem gemüthlichen kleinen mit Gras und Heidekraut bewachsenen Platz aufgeschlagen. Nur ein Mann war zu erblicken, er stand eben bei dem einen Zelt und besserte seinen zerbrochenen Kajak aus. Alle anderen Männer und Kajaks waren verschwunden, — wahrscheinlich waren sie auf Jagd aus, um sich Nahrung zu schaffen.
Wir fragten nach dem Fahrwasser auf der Innenseite der Insel, aber sie bedeuteten uns, daß wir auf der Außenseite bleiben müßten, ja man wollte uns sogar weismachen, daß die Straße so schmal sei, daß man unmöglich hindurchfahren könne. Dies war indessen eine Lüge, da Holms Expedition mehrmals diesen Weg genommen hatte. Der Sicherheit halber ruderten wir jedoch um die Insel herum und kamen in ziemlich gutes Fahrwasser. Das Eis lag freilich in der Nähe der Landzungen überall recht dicht, aber wir drangen hindurch und schlüpften am Lande entlang fort.
[S. 371]
Nach Mittag erreichten wir die Nordseite der Insel Uvdlorsiutit , wo wir eine ganz merkwürdige Grotte fanden, die tief in den Felsen hineinging.
Am Abend, als wir die Insel Ansivit passirten an der nördlichen Seite des Tingmiarmiut-Fjords, vernahmen wir in der Ferne vom Lande her einen Chor heulender Hunde, woraus wir schlossen, daß sich ein Eskimolager in der Nähe befinden müsse. Wir hatten aber keine Zeit, Besuche zu machen, und zogen deshalb weiter, bis wir am Abend an einer Insel bei Nunarsuak (62° 43′ N. Br.; 41° 49′ W. L.) gelangten.
Am Morgen des folgenden Tages (den 3. August) wehte ein so frischer Wind vom Lande her, daß wir beschlossen, unsere Segel aufzuspannen, die in aller Eile aus dem Zeltboden für das eine Boot und aus zwei zusammengenähten Persennings für das andere Boot hergestellt wurden. Im Anfang ging es schnell nordwärts; es war eine reine Lust, wenn das Boot sich auf die Seite neigte, mit dem Winde dahinzusausen durch das enge Fahrwasser zwischen den Eisschollen, wo man genau acht geben mußte, um nicht anzustoßen. Wir hatten jedoch noch nicht lange gesegelt, als das Vergnügen anfing, ein recht zweifelhaftes zu werden. Die Windstöße wurden heftiger und gingen in eine nördliche Richtung über. Bald hatten wir den Wind uns derartig entgegen, daß wir die Segel nicht mehr führen konnten.
Wir ruderten nun eine Weile und gelangten an die hohe, steile Insel Umanarsuak, von deren Bergen der Wind mit einer solchen Heftigkeit herabstürmte, daß wir unsere liebe Noth hatten, das Boot vorwärts zu zwingen. Es wurde schlimmer und schlimmer, zuweilen mußten wir das Boot an den Eisschollen entlang ziehen, um es nur vorwärts zu bekommen, und einmal waren wir nahe daran, in dem vom Sturm heftig erregten Eis [S. 372] zerschellt zu werden. Die beiden Böte hatten sich bis dahin einigermaßen zusammengehalten, nun aber nahm die Sache einen ernsteren Charakter an. Niemand hatte mehr Zeit, auf den Andern zu achten, Jeder mußte sich helfen, so gut er konnte. Gerade als es am schlimmsten aussieht, holt einer der Leute in meinem Boot so kräftig aus, daß sein Ruder am Schaft abbricht. Wir haben keine Reserveruder mehr im Boot, sie sind alle im Eis zerbrochen. Hier ist aber keine Zeit zu verlieren; wir mußten mit dem halben Ruder weiterarbeiten und nur um so kräftiger zugreifen. Zuweilen fallen die Windstöße jedoch so heftig über uns her, daß wir trotz aller unserer Kraftanstrengungen zurückgedrängt werden. Da springt eine Dolle! Das war weit schlimmer als das erste Mißgeschick, denn das Ruder hängt in einer Strippe, die nur an einer Dolle befestigt ist, [S. 373] und alle anderen Ruderplätze sind belästigt. So schnell es sich machen läßt, wird der Schaden reparirt, und wir entgehen auch diesmal glücklich der Gefahr. Langsam aber mit ziemlicher Sicherheit schrammen wir mit Aufbietung aller unserer Kräfte am Lande entlang. Da kommen wir an eine Eisscholle; die Fangleine in der Hand, springt Dietrichson hinauf, um das Boot daran entlang zu ziehen. In seinem Eifer bemerkt er jedoch nicht, daß er auf eine hohle, vorstehende Eiskante springt, die mit ihm zusammenbricht, so daß er kopfüber ins Wasser fällt. Dies war nun freilich nichts Ungewöhnliches für uns, aber zu einem ungelegeneren Zeitpunkt konnte es kaum geschehen. Gewandt und voller Geistesgegenwart wie er ist, kommt er jedoch gleich wieder hinauf, und wie gewöhnlich ohne sich zu ergeben, ergreift er abermals die Fangleine und zieht nun das Boot vorwärts; — — die Arbeit hielt ihn warm, sonst wäre es wohl kaum zu ertragen gewesen in diesen triefend nassen Kleidern und bei dem schneidenden Wind. So etwas focht Dietrichson jedoch niemals an.
Auch an dieser Eisscholle kamen wir glücklich vorüber, aber der Wind hatte so zugenommen, daß wir nur noch mit der größten Anstrengung vorwärts kommen konnten; die beiden Ruderer arbeiteten jedoch meisterhaft mit den Ruderstummeln, die uns noch geblieben waren. Als Dietrichson das Boot mit einem Bootshaken von einer Eisscholle abstoßen wollte, sprang der Haken, und es fehlte nur wenig, so wäre er abermals über Bord gefallen. Wir hatten heute merkwürdig viel Unglück.
Endlich kamen wir jedoch in ruhigeres Fahrwasser unterhalb der Felsen und erreichten bald das Land, wo Sverdrups Boot kurz vor uns angelangt war. Hier nahmen wir unsere Mittagsmahlzeit ein und machten eine kleine Ruhepause, die [S. 374] wir wohl verdient hatten. Dann wurde die Reise wieder fortgesetzt, aber der Wind war beinahe noch ebenso stark, und als wir hinter der Südspitze von Umanuarsuak in ziemlich eisfreies Fahrwasser kamen, rollte uns von dem nordwärts belegenen Fjord ein recht unangenehmer Seegang entgegen. Obwohl es unserer Gewohnheit nach noch ziemlich früh am Tage war, gingen wir deswegen, sobald wir Umanak erreicht hatten, ans Land. Hier hatten wir — es war das einzige Mal auf der ganzen Reise an der Küste entlang — Zeit, uns einen Zeltplatz auszuwählen und genossen das Behagen, auf einem Rasen zu liegen, statt wie gewöhnlich auf dem harten Felsboden oder auf dem Eise. Darüber wollen wir uns indes nicht beklagen; wir schliefen immer ausgezeichnet, wenn wir nur stets genug Schlaf bekommen hätten.
Sobald wir ans Land gekommen waren und alles in Ordnung gebracht hatten, beschlossen wir, Brennmaterial zu sammeln (was in Form von Wachholderbüschen, Heidekraut u. dergl. reichlich vorhanden war), und uns eine Kerbelsuppe zu kochen. Hierzu waren Alle bereit, es wurde ein großartiger Eifer entfaltet, so daß bald ein gewaltiges Feuer zwischen einigen großen Steinen aufflammte, über denen wir in einer leeren Kakesdose das herrlichste Essen kochten, das man sich nur denken kann. Schwerlich wird einer von Denjenigen, die an jenem Abend um das Feuer herumsaßen und in Ruhe und Frieden das einzige warme Gericht verzehrten, das sie während der ganzen Bootsreise an der Küste entlang erhielten, den Zeltplatz auf Umanak oder der Griffenfelds-Insel vergessen. Daß wir indessen nicht die Ersten waren, die das Leben an dieser Stelle genossen, sahen wir u. a. an den Ruinen einiger Eskimohäuser, die ganz in unserer Nähe lagen; und daß [S. 375] auch Scenen weniger angenehmer Natur hier vorgefallen waren, davon zeugten deutlich verschiedentliche Menschenknochen, die zwischen den Häusern zerstreut lagen; besonders ungemüthlich grinste uns der Schädel eines alten Eskimos an. Es ist wohl nicht unwahrscheinlich, daß die Bewohner dieser Häuser an Hungersnoth starben, und daß die verlassenen Wohnungen dann im Laufe der Zeiten zusammenstürzten.
Am nächsten Tage — den 4. August — hatte sich der Wind zum Theil gelegt, und wir konnten unsere Reise fortsetzen. Aber das Eis war oft dicht, besonders schlimm sah es an der Mündung des Schesteds-Fjords aus. Hier mußten wir weit hinaus, um einen Durchgang zu finden, und nur mit Hülfe von Axt und Bootshaken konnten wir uns unsern Weg bahnen. Um 9 Uhr des Abends kamen wir an einem herrlichen Lagerplatz vorüber, da es aber unserer Ansicht nach noch zu früh war, um Rast zu machen, ruderten wir in nördlicher Richtung weiter. Dafür mußten wir nun aber bis 1½ Uhr arbeiten, ehe wir auf der Ostseite der Insel Uvivak eine kleine Insel fanden, wo wir unsere Böte ans Land ziehen konnten (63° 3′ N. Br., 41° 18′ W. L.). An dem Tage hatten wir eine siebenzehnstündige schwere Arbeit im Eise gehabt, nur durch eine halbstündige Mittagsrast unterbrochen.
Am 5. August gings mit Hülfe von Axt und Bootshaken weiter durch dicht zusammengepacktes Eis, das auf dem Wege nach Norden am ganzen Strande entlang lag. Viele mächtige Eisberge lagen hier an der Küste. Als wir gegen Nachmittag das Vorgebirge Kutsigsormiut passirten und an einer kleinen Insel anlegten, um eine Aussicht über das Fahrwasser zu haben, sahen wir wenige hundert Ellen von uns entfernt plötzlich ein großes Eisstück sich loslösen und von einem dieser [S. 376] Kolosse herabfallen, der dadurch das Gleichgewicht verlor und mit einem ohrenzerreißenden Getöse kopfüber stürzte. Das Meer gerieth in eine gewaltige Erregung, rings umher wurden die Treibeisschollen gegen einander geschmettert, und eine kleine Insel, die vor uns lag, war plötzlich völlig überspült von schäumenden Wogen. Hätten wir unsern Weg fortgesetzt, wie wir anfangs beabsichtigten, so wären unsere Böte wahrscheinlich an den Felsen zerschellt.
Nach fast unglaublichen Anstrengungen erreichten wir spät am Abend eine Insel mitten in der Mündung des Inugsuarmiut-Fjordes. Hier wollten wir unser Lager aufschlagen, müde und erschöpft wie wir waren, zu unserer Verwunderung aber kamen wir aus dem dichten Eis plötzlich in offenes Fahrwasser hinein. Gerade bis gegen Skjoldungen lag der Fjord beinahe blank da. Es war sehr verlockend, diese Gelegenheit zu benützen, und nach einer Extraration Fleischpulver-Schokolade setzten wir unsere Fahrt fort und erreichten einen guten Lagerplatz auf einer Schere unterhalb des Landes auf der anderen Seite (63° 12′ N. Br., 41° 8′ W. L.).
An der Ostküste von Grönland giebt es eine ziemlich starke Ebbe und Fluth. Wir hatten in diesen Tagen das Unglück, einen niedrigen Wasserstand zu treffen, gerade wenn wir des Abends die Böte an den Strand ziehen mußten; infolgedessen mußten wir sie ein gutes Stück hinauf ziehen, um sicher vor der Fluth zu sein. Auch in dieser Nacht hatten wir Bagage wie Böte eine tüchtige Strecke aufs Land hinauf gebracht, waren aber nicht wenig verwundert, als am nächsten Morgen unser Bierfaß und ein Brett, womit wir die Böte gestützt hatten, verschwunden waren. Die See hatte nicht allein die Böte erreicht, sondern auch einen Theil der Proviantkasten [S. 377] unter Wasser gesetzt. Diese waren jedoch dicht, und so hatte nichts gelitten; wir mußten uns freuen, so billigen Kaufes davongekommen zu sein. Den Verlust unseres Bierfasses, das wir zugleich mit dem Boot vom „Jason“ bekommen hatten, beklagten wir alle sehr; nicht etwa, weil noch Bier darin gewesen wäre — das hatten wir längst ausgetrunken —, sondern weil wir die Tonne mit Wasser zu füllen pflegten. Wenn wir das Wasser aus dem Spundloch tranken und an der Tonne rochen, die noch einen gewissen Biergeruch an sich hatte, so bildeten wir uns ein, daß wir eine Art Bier tränken.
Seit jenem Tage wurden die Böte stets sehr sorglich in acht genommen.
Uebrigens wurden wir an jenem Morgen von einem weniger willkommenen Gast geweckt. Ich erwachte von einem heftigen Jucken über dem ganzen Gesicht und fand das Zelt mit Mücken angefüllt. Hatten wir im Anfang die Mücken voller Freude begrüßt, so wurden wir an diesem Morgen von dieser Neigung geheilt, und wenn ein Morgen in gräßlicher Erinnerung steht, so ist es dieser. Es war ein Wunder, daß wir unsern Verstand nicht verloren. Nachdem ich völlig wach geworden, fuhr ich schnell in meine Kleider und stürzte ins Freie hinaus, um diesen schlimmen Gästen zu entgehen, aber da kam ich aus dem Regen in die Traufe! Hier stürzten sich ganze Scharen dieses Teufelsungeziefers auf mein Gesicht und meine Hände.
Am schlimmsten wurde es, als wir unser Frühstück verzehren wollten, denn wenn man nicht einmal einen Bissen zu Munde führen kann, ohne daß er mit einer dicken Schicht Mücken belegt wird, so wird Einem die Sache denn doch zu toll! Wir flüchteten auf die höchsten Felsspitzen in der Nähe, wo etwas Wind war, in der Hoffnung, hier unser Frühstück in [S. 378] Ruhe verzehren zu können, — war das doch der einzige Genuß, den wir noch kannten. Wir sprangen von einer Felsklippe zur anderen, wir hängten uns Taschentücher vor das Gesicht, zogen unsere Mützen über Hals und Nacken, fochten und schlugen wie Rasende mit den Armen in der Luft herum, lieferten wie gesagt die verzweifeltste Schlacht dieser Uebermacht von Ungeheuern gegenüber, aber alles war vergebens. Wo wir standen, gingen oder liefen, führten wir — wie die Sonne ihre Planeten — unsere kleine Privatwelt von Freunden mit uns, bis wir uns schließlich voller Verzweiflung dem Feind ergaben, uns an der ersten besten Stelle niederwarfen und uns martern ließen, während wir in fliegender Eile unser mit Mücken belegtes Frühstück verzehrten. Dann machten wir unsere Böte klar und flohen auf das Meer, aber selbst hierher verfolgten diese Scheusale uns. Schließlich schlugen wir in wilder Verzweiflung mit Persennings, Jacken und was wir sonst finden konnten, um uns, und als wir den Wind zum Bundesgenossen bekamen, übermannten wir endlich den Feind. Der Blutverlust auf unserer Seite war aber doch ganz beträchtlich.
[76] Siehe „Mittheilungen über Grönland“, Bd. 9, Seite 187. Kopenhagen 1889.
[S. 379]
urch dicht gepacktes Eis fuhren wir an jenem Tage (6. August) um Skjoldungen herum, an dessen Nordseite wir wegen der Eisverhältnisse ein gutes Stück in den Fjord hineinrudern mußten, an einem Lande entlang, das in wilder Schönheit nicht hinter dem zurückstand, was wir bisher gesehen hatten. Ueberall fielen die Gletscher mit ihren lothrecht abgeschnittenen Wänden, in denen sich häufig tiefe, dunkelblaue Grotten befanden, steil in das Meer ab. Es ist nicht ganz ohne Gefahr, nahe an diese Eiswände heran zu rudern. Es geschah auch an jenem Tage mehrmals, daß nicht weit von uns große Stücke von den Gletschern ins Meer hinabstürzten, die ein vorüberfahrendes Boot ohne Zweifel zu Staub zermalmt haben würden.
Als wir, andauernd unter schlechten Eisverhältnissen, über den Akorninapkangerdlua (Fjord) gerudert waren, vernahmen wir plötzlich in der Nähe einer Insel bei Singiartnarfik Rufe von Menschenstimmen und verspürten gleichzeitig einen durchdringenden Thrangeruch. Wir richteten unsere Blicke dem Lande zu und sahen nun ein Zelt und viele Menschen, die sich in auffallend lebhafter Bewegung befanden. Da es kein weiterer Umweg für uns war, steuerten wir auf sie zu, jetzt aber verwandelte [S. 380] sich ihre Bewegung in eine wilde Flucht. Mit allem, was man an Kostbarkeiten besaß, mit Fellen, Kleidern etc. beladen, verschwand Einer nach dem Andern auf die Berge hinauf. In einer langen Linie, die sich an den Felsabsätzen hinaufschlängelte, konnten wir sie laufen sehen, was das Zeug halten wollte. Es schienen fast ausschließlich Frauen und Kinder zu sein. Zuletzt sahen wir eine Frau in die Thür des einzigen Zeltes, das wir erblicken konnten, verschwinden, aber sie kam bald darauf mit einem Bündel Felle in den Armen zurück und eilte dann, so schnell ihre Füße sie tragen konnten, den Anderen nach, ins Gebirge hinauf. Mehr und mehr verschwanden sie zwischen den Bergen, und das Letzte, was wir sahen, waren einige Frauen, die auf einem Felsenkamm neugierig stehen blieben und uns nachschauten. Wir ruderten indessen auf das Zelt zu; das einzige lebende Wesen aber, was wir dort erblickten, war ein Hund, der vor der Zeltthür lag und merkwürdigerweise nicht heulte. Obwohl wir nichts mit diesen Menschen zu schaffen hatten, so war es uns doch ärgerlich, daß wir so fortreisen sollten, ohne sie von unseren friedlichen Absichten überzeugt zu haben. Wir machten ihnen Zeichen zu, wir riefen die wenigen grönländischen Worte, die wir kannten, aber alles war vergebens; — sie standen regungslos da und glotzten uns an. Endlich schien eine der Frauen unseren einladenden Winken nicht länger wiederstehen zu können, sie näherte sich langsam und bedächtig, eine zweite folgte ihr in einiger Entfernung. Allmählich kamen wir uns so nahe, das wir das Sprechen hören konnten, was uns ja nicht viel nützen konnte, da wir ihnen nur wenig zu sagen hatten, aber jedenfalls konnten sie doch unsere freundlichen Gesichter und unsere beruhigenden Mienen und Gebärden erkennen. Wir zeigten ihnen einige Blechdosen, [S. 381] die wir ihnen schenken wollten. Dies schien ihnen freilich sehr verlockend. Sie setzten äußerst verlegene Gesichter auf, die übrigens nicht so aussahen, daß sie ihrer Schönheit wegen hätten besorgt zu sein brauchen. Da zeigte sich plötzlich ein Mann auf der Bildfläche, und nun bekamen sie Muth; sie begaben sich beinahe ganz an den Strand hinab und blieben hier stehen, während wir in unseren Böten lagen. Wir sahen einander an, während sie mit dem Manne als Vorsänger ihr gewöhnliches Verwunderungsgebrüll anstimmten. Der Mann sah übrigens aus wie ein wüthender Ochse, während er so dastand, obwohl er im Innern gewiß die friedlichsten Gedanken hegte. Er trug auf dem Oberkörper einen Anorak von Baumwollenzeug, und auf dem Kopf hatte er eine Kajakmütze von der gewöhnlichen, breiten, flachen Form, aus einem Tonnenreifen mit darüber gespanntem Baumwollstoff bestehend, mit einem roth und weißen Kreuz verziert, — alles unverkennbare Beweise von Verbindung mit den westgrönländischen Handelsplätzen.
Wir näherten uns allmählich dem Strande, Einer von uns sprang ans Land, aber wie von einer Tarantel gestochen, fuhren die Eskimos zurück, um doch einen Zwischenraum von einigen Schritten zwischen sich und uns zu schaffen; als sie sahen, daß wir auch jetzt keine Zeichen zu feindlichen Tendenzen machten, gewannen sie wieder Muth und näherten sich uns. Als wir ihnen gar das großartige Geschenk einer Blechdose machten, war das gute Verhältniß besiegelt, und ihre Gesichter glänzten vor Freude und Verwunderung über diese freigebigen Menschen. Allmählich gesellten sich mehrere Eskimos zu uns; es schien, als wenn die Männer in ihren Kajaks auf dem Wasser gewesen und durch das Geschrei der Frauen herbeigelockt seien.
[S. 382]
Allen wurde die kostbare Gabe gezeigt und hinzugefügt, daß wir durchaus friedliche Individuen seien. Die merkwürdigste Erscheinung war ein kleiner buckeliger Zwerg mit einem angenehmen, ältlichen Gesicht; — er zeichnete sich übrigens durch einen ungewöhnlich guten Anzug aus. Wir vertauten unsere Böte und machten einen Spaziergang ans Land. Wie staunten wir jedoch, als wir hinter dem einen Zelt ein ganzes Zeltlager fanden, das durch eine kleine Höhe unsern Blicken entzogen gewesen war. Unser Staunen wuchs, als wir einen Dannebrog von einer kleinen Stange wehen sahen, die neben dem einen Zelt aufgepflanzt war.
Diese Flagge mußte Einer von ihnen wahrscheinlich vor einigen Jahren von Kapitän Holm bekommen haben, denn er berichtet, daß er einigen Eskimos Flaggen geschenkt habe. Merkwürdig war es, daß sie sich so vor uns fürchteten, obwohl sie also früher mit Europäern in Berührung gekommen sein mußten. Wir mußten wohl sehr unheimlich ausgesehen haben, als wir so in unsern eigenen Böten und ganz allein angerudert kamen, während Kapitän Holm Böte wie die ihren mit einer Eskimobesatzung hatte. Unmöglich ist es auch nicht, daß die Sagen, die von der Westküste zu ihnen gedrungen sind, und welche erzählen, wie ihre Vorfahren die Kavdlunaker, d. h. die Europäer, vernichtet haben, sie mit der Furcht erfüllten, daß die Besiegten eines Tages in Schiffen über das Meer heranziehen und Rache nehmen würden.
In einer kleinen Bucht unterhalb des Lagers lag ein Frauenboot, das offenbar ins Wasser herabgelassen war, um zur Flucht bereit zu sein. Da ich gern gedörrtes Seehundsfleisch probiren wollte und außerdem dachte, daß es möglicherweise praktisch sein könne, unsern Proviant ein wenig zu ergänzen, [S. 383] fragte ich vermittelst eines grönländischen Wortes, das ich in meinem Wörterbuch gefunden hatte, danach; wie gewöhnlich wollte es mir jedoch nicht gelingen, mich verständlich zu machen. Als ich aber hinging und ein Stück Fleisch anfaßte, das vor einem der Zelte zum Trocknen hing, verstanden sie mich sofort und kamen mit einigen Rippenstücken herbei, — hierfür gab ich ihnen eine große Stopfnadel. Als sie diese kolossale Bezahlung erblickten, kamen sie mit einem großen Stück Fleisch nach dem andern herbei, um mehr Nadeln zu bekommen. Wir erhielten jeder unsere Geschenke an Seehundsfleisch, wofür wir ihnen außer den Nadeln noch einige leere Blechdosen gaben. Nur Ravna wollte keine Geschenke annehmen und war trotz aller Ueberredungen nicht dazu zu bewegen. Später erfuhr ich, daß er der Ansicht gewesen sei, die armen Menschen würden wohl selber Verwendung für ihr Fleisch haben, und eine Nähnadel sei doch eine zu geringe Bezahlung.
Diese Begegnung mit den Eskimos schildert Balto folgendermaßen:
„— — Als wir über eine Fjordmündung gerudert waren, rochen wir wieder den Geruch von ranzigem Seehundsfett, aber die Heiden hatten uns gesehen und mit Frauen und Kindern die Flucht ins Gebirge ergriffen, weit fort von den Zelten. Als wir in die Bucht kamen, wo die Zelte standen, machten wir Halt und sahen diesen Aermsten nach, die die Flucht ergriffen. Dann rief Nansen ihnen zu: „ Nogut piteagag “, — was dasselbe ist wie: „Wir sind Freunde“ (furchtbar verkehrtes Grönländisch), — aber sie kehrten sich nicht daran, sondern winkten uns mit der Hand zu, als wollten sie sagen: „Zieht fort! Zieht fort!“ Da kamen zwei Männer hinter einem Berg hervor, sie kamen an den Strand herab, und als [S. 384] sie sich näherten, brüllten sie wie andere Heiden ihr: „ iö, iö, iö! “ Der eine Mann sah aus, als wenn er nicht höher als ein Meter sei. Dann landeten wir und baten sie um etwas gedörrtes Fleisch, das wir vor ihren Zelten hängen sahen, denn wir hatten in Kapitän Holms Buch gelesen, daß gedörrtes Seehundsfleisch sehr gut zu essen sei. Wir gaben ihnen einige Nadeln für das Fleisch und zogen dann weiter.“
Wie Balto berichtet, stiegen wir bald wieder in unsere Böte und waren noch nicht weit gekommen, als einige der Männer uns in ihren Kajaks folgten, große Stücke gedörrten Seehundfleisches mit sich schleppend, das sie uns gegen Nadeln vertauschen wollten. Als wir in die Böte stiegen, sahen wir in weiter Ferne den obenerwähnten Zwerg ein großes Stück Fleisch herbeischleppen, auch er wollte seinen Antheil haben, aber er erreichte uns nicht mehr. Nicht wenig staunten wir, als wir eine Weile später einen kleinen Kerl in einem Kajak weit hinten in unserm Kielwasser heranrudern sahen und in ihm den Zwerg erkannten, der unleugbar eine höchst komische Figur abgab, wie er so mit seinem krummen Rücken aus der Oeffnung des Kajaks hervorragte. Er strengte sich scheinbar sehr an, um uns wieder einzuholen, wir sollten sein Fleisch haben! Aber trotz aller seiner Bemühungen erreichte er uns doch nicht und mußte sein Vorhaben schließlich aufgeben, — der Aermste!
Je nördlicher wir kamen, desto mehr Kajakmännern begegneten wir; sie gaben uns Alle das Geleite und waren Alle äußerst freundlich und mittheilsam. Schließlich hatten wir eine Eskorte von 7 Mann um uns versammelt, die uns an allen Seiten umkreisten und die größte Verwunderung über uns und unsere Böte an den Tag legten.
Als sie uns eine lange Strecke begleitet hatten und es zu dunkeln [S. 385] begann, verminderten sie Einer nach dem Andern die Schnelligkeit ihrer Fahrt und lagen dann noch eine Weile still, um uns nachzusehen, ehe sie den Heimweg antraten. Gerade als uns die vier Letzten verlassen hatten und noch still lagen, erblickte ich einen Seehund auf einer Eisscholle. Obwohl das frische Fleisch ein großer Leckerbissen für uns gewesen wäre, konnte ich es nicht unterlassen, den vier Kajaks zuzuwinken, denn wir hatten alle die größte Lust zu sehen, wie die Eskimos auf Seehundsjagd gingen. Sie kamen sofort zu uns, konnten aber gar nicht begreifen, was wir wollten, denn von ihren niedrigen Kajaks aus konnten sie den Seehund nicht auf dem Eise sehen. Ich zeigte auf das Thier, sie spähten und spähten, bis sie seiner plötzlich ansichtig wurden, und nun kam Bewegung in die Kajaks; die Ruder arbeiteten unverdrossen, während sich die Eskimos vornüberbeugten, um unbemerkt im Schutze des Eises vorwärts zu kommen. Zwei von ihnen gewannen einen Vorsprung vor den Anderen und kamen in fliegender Eile näher und näher. Jetzt fing der Seehund jedoch an, unruhig zu werden, aber jedes Mal, wenn er den Kopf erhob und in der Richtung nach ihnen blickte, lagen sie still, ohne auch nur ein Glied zu rühren, bis er sich wieder beruhigt hatte, dann ruderten sie abermals kräftig darauf los, lagen dann wieder still u. s. w. Auf diese Weise kamen sie so nahe an ihre Beute heran, daß wir jeden Augenblick erwarteten, sie würden die Harpune auswerfen, — da springt der Seehund plötzlich ins Wasser. Sie lagen nun eine Weile still, zum Wurf bereit für den Fall, daß er sich wieder zeigen würde, aber kein Seehund erscheint, und sie zogen niedergeschlagen heimwärts, während wir ein wenig ärgerlich unsern Weg gen Norden in gutem Fahrwasser fortsetzten. Wir übernachteten auf einer kleinen Insel in einer Bucht an der Ostseite einer größeren Insel [S. 386] (63° 20′ N. B., 49° W. L.). Diese ist aus früheren Zeiten dadurch bekannt, daß Graah dort auf der Westseite bei Imarsivik i. J. 1829-30 überwinterte.
Am nächsten Tage (den 7. August) traten uns abermals schlimme Eishindernisse in den Weg, wir kämpften uns aber muthig hindurch und gelangten noch am selben Tage weiter nördlich an offeneres Fahrwasser. Bis dahin hatten wir uns ganz vorzüglich aus Holms und Gardes Karten über die Küste orientiren können, hier aber verloren wir den Faden. Es schienen hier viele kleinere und größere Inseln und Fjorde zu sein, die entweder falsch oder auch gar nicht auf der Karte angegeben waren, — schließlich wurde die Sache so bunt, daß ich mich entschloß, nach meinem eigenen Kopf zu gehen, und das half. Wie es sich mit der Karte auf dieser Strecke von Savsivik bis zum Kap Mösting verhielt, war mir ein Räthsel, bis ich später von Holm erfuhr, daß er nicht dazu gekommen war, diesen Theil in der kurzen Zeit, die ihm zu Gebote stand, zu vermessen, er habe deswegen Graahs Karte benutzen müssen, in der Voraussetzung, daß sie zuverlässig sei, da er die Gegend von seinem Winteraufenthalt her doch gründlich kennen sollte.
Die nördliche Küste war sehr reich an Seevögeln. Da waren u. a. mehrere Vogelberge, und wir schossen an Blaumöven ( larus glaucus ) und Grüllummen ( uria grylle ), was uns in den Weg kam. Wir krochen auf einen Felsen hinauf, wo Unmengen von Lummenjungen nisteten, um auf Junge zu fahnden, aber unsere Beute beschränkte sich auf zwei. In der Regel legen die Grüllummen ihre Eier an ganz unzugängliche Orte, so daß unbeflügelte Wesen nur mit der größten Lebensgefahr dahin gelangen können. Die jungen Grüllummen sind übrigens sehr fett und schmeckten ganz delikat.
[S. 387]
Als wir vor einem Vogelberg auf der Nordseite von Kap Moltke lagen und auf Blaumöven und Grüllummen schossen, vernahmen wir plötzlich ein Sausen in der Luft und sahen eine Schar Eidergänse an uns vorüberfliegen. Wir hatten gerade noch Zeit genug, in die Böte zu springen, zu den Büchsen zu greifen und ihnen einen Schuß nachzusenden, auf welchen zwei Vögel fielen. Es war dies das erste Mal, daß wir Eidergänse an der Küste erblickten. Als es bereits dunkelte, zog abermals ein Schwarm über uns hinweg nach Norden zu. Ich hörte Sverdrup im Boote hinter mir „Gebt Acht!“ rufen und vernahm auch das Sausen ihres Flügelschlags, doch war es zu dunkel, um zu schießen, ich konnte nur gegen den dunklen Hintergrund, den das Land bildete, unterscheiden, daß sich etwas bewegte.
Indessen gelangen wir immer nördlicher, und die Angst der Lappen wird mit jedem Tage sichtbarer und giebt sich in immer lauteren Tönen zu erkennen. Balto , der das Wort führt, hat mir mehrmals anvertraut, daß sie ruhiger geworden seien, seit wir den Eskimos begegnet waren und gesehen hatten, daß dies gutartige Geschöpfe sind, die keine Menschen fressen, wie man sich in Finnmarken erzählt habe, und daß man im Nothfall bei ihnen überwintern kann. Seit wir aber, ihrer Ansicht nach, die letzten Eskimos verlassen hatten und noch immer in nördlicher Richtung weiter zogen, waren sie ängstlich geworden, klagten über die schwere Arbeit, die karge Kost, jammerten, daß wir uns so weit vom Kap Farvel entfernten und doch keine Stelle fanden, wo wir auf das Eis gehen konnten. Ich tröstete ihn stets damit, daß das Land höher hinauf bei Umivik oder nördlich davon besser sei, er müsse das ja selber gesehen haben, als er im Eise trieb; aber er hatte nichts gesehen, und schließlich wurden seine Klagen so laut, daß mir die Sache über [S. 388] ward und ich ihm, statt ihn zu trösten, eine tüchtige Portion Schelte für seine elende Feigheit zukommen ließ. Da aber brach das Unwetter los! Er wollte mir nur lieber gleich sagen, was er in diesen Tagen alles in sich hineingefressen habe: in Kristiania habe ich ihnen versprochen, daß sie jeden Tag Kaffee haben sollten, und daß sie so viel zu essen bekommen würden, wie sie nur wollten, aber in all’ diesen drei Wochen hätten sie nur ein einziges Mal Kaffee bekommen, und wie sah es mit dem Essen aus? Sie erhielten eine elende Portion ausgetheilt, die sie noch dazu ausloosen müßten, — er wollte es mir nur verrathen, daß keiner von ihnen Allen auch nur ein einziges Mal satt geworden sei, seit sie an die Küste gekommen waren. Hungern müßten sie und würden obendrein wie die Hunde behandelt, es werde mit ihnen herumkommandirt, sie müßten den ganzen Tag vom frühen Morgen bis zum späten Abend arbeiten, schlimmer als Thiere, — nein, das wäre nicht zum Aushalten. Er für seinen Theil würde gern viele tausend Kronen bezahlen, wenn er wieder in der Heimath sein könne!
Ich erwiderte ihm, Kaffee hätten sie nicht bekommen, weil ihnen einerseits nichts versprochen wäre, und weil wir andererseits keine Zeit zum Kochen gehabt hätten. Ferner stellte ich ihm vor, was daraus werden würde, wenn wir Alle nach Herzenslust essen wollten, dann würden unsere Vorräthe wohl ungefähr bis zur Mitte von Grönland ausreichen, und dann sei es sicher zu spät, das Geschehene zu bereuen. Wir müßten redlich theilen wie Brüder, und was das Kommandiren anbeträfe, so müsse er doch wohl einsehen können, daß auf einer solchen Expedition nur ein einziger Wille herrschen könne.
Nein, er konnte nichts einsehen, er war und blieb untröstlich, daß ihn das Schicksal mit Menschen zusammengeführt habe, [S. 389] die so „fremde Sitten und Gebräuche hätten“, wie er sich ausdrückte. Was sich hier geltend machte, waren die nomadischen Gewohnheiten der Lappen und ihre Unfähigkeit, sich unterzuordnen, und dies kam trotz Baltos liebenswürdigen Charakters wieder und wieder, worüber man sich ja nicht wundern kann. Aber je länger wir zusammen waren, desto weniger blieb davon zurück.
Es läßt sich übrigens nicht leugnen, daß es niederdrückend war, gleich im Anfang auf so schwere Arbeit zu stoßen, wie wir sie an der Ostküste hatten, und von so kärglichen Rationen gedörrter Nahrungsmittel leben zu müssen. Unsere Mägen waren daran gewöhnt, gefüllt zu werden, und konnten sich schwer in diese zwar kräftige, aber wenig umfangreiche Kost finden. Mit der Zeit gewöhnten wir uns daran, und dann ging es besser. „Es war das Bewußtsein, daß es genug war, was uns half,“ sagte Kristiansen , als er später in der Heimath gefragt wurde, ob er unterwegs satt geworden sei. Nein, satt sei er niemals gewesen. — „Das müsse aber doch ein unangenehmes Gefühl sein?“ — „Ach ja, besonders im Anfang, als wir nicht daran gewöhnt waren, aber dann versicherte uns Nansen , daß das Essen, das wir bekämen, ausreichend sei, und das half uns. Und wie Sie sehen können, hatte er vollständig Recht.“
Die Küste fing jetzt an, weniger steil zu werden, die Felsformationen waren abgerundeter. Wir kamen nun in die Gegenden, wo wir an ein Aufsteigen denken konnten, und nach denen ich mich so sehr gesehnt hatte, denn selbst wenn uns hier ein Unglück zustoßen sollte, das unser Vordringen an der Küste verhinderte, so konnten wir doch von hier aus unsere Wanderung über das Inlandseis antreten. Die Hoffnung steigerte sich fast bis zum Uebermuth. Das vorzügliche Fahrwasser, das wir an jenem Abend hatten, und das herrliche Wetter trugen nicht wenig [S. 390] zur Erhöhung der Stimmung bei. Ebenso wie am vorhergehenden Abend stand am südlichen Himmel ein glänzendes Nordlicht; in langen, wogenden Bändern rollten die Strahlenbündel hin und her. Es flimmerte und brannte unruhig jagend, es war, als kämpften Schaaren mit glühenden Spießen, bald wichen sie zurück, bald stürmten sie wieder vorwärts, und plötzlich wie auf ein gegebenes Zeichen fuhren mächtige Strahlenbündel flammend und wechselnd durcheinander. Es war, als dringe ein ganzer Regen von glühenden Spießen auf einen bestimmten Punkt, die Krone, nahe am Zenith ein, dann erlosch abermals alles, damit das ganze, wechselnde Spiel wieder von vorne beginnen konnte. Die Eskimos knüpfen einen schönen Aberglauben an das Nordlicht, — sie glauben, daß es die Seelen der verstorbenen Kinder sind, die Ball im Himmel spielen.
In der Nacht schlugen wir unser Lager auf der Innenseite der Insel Kekertarsuak auf. Kaum hatten wir unser Zelt ausgespannt, als uns ein gewaltiges Getöse im Süden, in der Richtung vom Kap Moltke, aufschreckte. Es war, als könnten wir die Erde unter uns zittern vernehmen. Wir sprangen auf den nächsten Felsblock hinauf und schauten gen Süden, konnten aber nichts entdecken, — es war zu weit entfernt. Das Getöse hielt ungefähr zehn Minuten an, und es klang, als stürze eine ganze Felsmasse in die See hinab und verursache eine gewaltige Bewegung, so daß die Wellen bis zu uns hinauf gelangten und sich an Klippen und Riffen brachen. Das Wahrscheinlichste ist wohl, daß es ein kolossaler Eisberg war, der zusammenstürzte oder seine Lage veränderte, obwohl auch die Möglichkeit eines Bergrutsches nicht ausgeschlossen ist.
Am folgenden Tage (8. August) versuchten wir in offenem Fahrwasser und bei herrlichstem Wetter auf der Innenseite der [S. 391] Insel bei Igdloluarsuk vorzudringen und über Kangerdlugsuak oder den Bernstorffs-Fjord zu gelangen, wurden aber nicht wenig überrascht, als wir das Wasser hier vollständig mit Gletschereis und anderem Eis angefüllt fanden, das bis hart an die Küste heran lag und jegliches Vordringen hemmte. Nachdem ich das der Küste zunächst liegende Vorgebirge der Insel Sagliarusek bestiegen und mich von hier aus vergewissert hatte, daß das Fahrwasser unpassirbar war, mußten wir wieder zurückrudern, um die Insel von außen zu umschiffen. [77] An der Südseite der Insel fielen uns im Innern der Bucht [S. 392] einige Steine auf, die nebeneinander aufgerichtet waren. Wir ruderten dorthin, um zu sehen, was das sei, und entdeckten nun den lieblichsten Fleck, den wir überhaupt bis dahin in Grönland gesehen hatten, eine kleine flache, grüne Wiese mit einem großen Süßwasserteich, in dem kleine Fische schwammen (es war mir nicht möglich, die Art zu bestimmen). Auf der einen Seite der Wiese lagen die Ruinen von Eskimohäusern, eine derselben war auffallend größer als die anderen. In und vor dem großen Hause fanden wir zahlreiche Menschenknochen, darunter den sehr wohl konservirten Schädel eines Eskimos, den wir mitnahmen. Diese Menschenknochen deuteten darauf hin, daß auch diese Ansiedelungen durch Hungersnoth zerstört waren. Wir beschlossen, an diesem Orte unser Leben ein wenig zu genießen, und obwohl es zu früh war, um unsere Mittagsmahlzeit zu verzehren, ein wenig zu rasten, uns in dem üppigen Gras auszustrecken und uns von der Sonne braten zu lassen. Die Eskimos hatten wohl gewußt, was sie thaten, als sie sich hier an diesem Ort niederließen, denn hier war ein vorzüglicher, wohlbeschützter Hafen mit einem guten Strand, auf den man die Fellböte mit Leichtigkeit hinaufziehen konnte, und dann vor allen Dingen diese lächelnde Natur! Die fünf flachen Steine, die am Strande aufgerichtet waren, und die zuerst meine Aufmerksamkeit erregten, blieben mir lange ein Räthsel; seit ich jedoch mit Kapitän Holm darüber gesprochen habe, scheint es mir annehmbar, daß es Frauenbootsstützen gewesen sind, d. h. Stützen, auf welche die Frauenböte zum Trocknen gelegt werden, und an die man sie während des Winters festbindet.
Uebrigens findet man auf diesen Inseln [78] viele Spuren [S. 393] menschlichen Wirkens. So fand ich auf mehreren Landzungen Warten oder, — wie ich glaube, — Ueberreste von Fuchsfallen.
Bei der äußersten Insel am Igdloluarsuk angelangt, fanden wir die Mündung des Fjordes so voll von gewaltigen Eisbergen, daß wir ins Meer hinausrudern mußten, um zu versuchen, ob das Fahrwasser dort besser sei. Eine Strecke dringen wir glücklich zwischen den Eisbergen hindurch, müssen aber bald innehalten. Von einer rasenden Strömung zwischen diesen Kolossen eingeklemmt, lagen die Eisschollen so fest, daß sie nicht aus der Stelle zu bewegen waren. Wir mußten wieder umkehren und noch weiter ins Meer hinausrudern.
Als wir an einen leicht zugänglichen Eisberg kamen, machten wir sofort den Versuch, ihn zu erklimmen, um eine Aussicht über das Fahrwasser zu erhalten. Diese schwimmenden Kolosse nehmen sich von unten gesehen ganz imponirend aus, aber das ist doch nichts im Vergleich mit dem Eindruck von Größe, den man erhält, wenn man sich auf ihrem Gipfel befindet. Der Eisberg, den wir bestiegen, war verhältnißmäßig flach und bildete förmlich eine Hochebene von beträchtlichem Umfang. Dietrichsen sagt in seinem Tagebuch, daß man beinahe eine Viertelstunde braucht, um sie an der schmalsten Stelle zu durchqueren. Dort oben war der Schnee hart und das Terrain hügelig, ganz ungewöhnlich geeignet zum Schneeschuhlaufen. Der Eisberg war an dem höchsten Punkt sicher mehr als 70 m über dem Meeresspiegel. Bedenkt man nun, daß sich 6 bis 7 Mal so viel Eis unter dem Wasser befindet, so hat ein solcher Berg also eine Höhe von mindestens 400 m . Fügt man hierzu eine Breite von 1000 m oder mehr, so kann man sich eine ungefähre Vorstellung davon machen, welcher Art diese schwimmenden Eisklumpen sind, — und deren giebt es an der Küste entlang [S. 394] Hunderte und Tausende. Von dem Gipfel des Eisberges herab hatten wir eine herrliche Aussicht. Die Gegend um uns her glich einer Alpenlandschaft in Eis. Zwischen jedem Eisberg waren Schluchten, auf deren Grunde man die See sehen konnte. Gerade unter uns schlängelte sie sich wie ein schmales, dunkelblaues Band durch eine enge Rinne, die von zwei lothrechten, mehrere hundert Fuß hohen Eiswänden gebildet wurde.
Die Eisberge pflegen in zwei Formen zu erscheinen. Es hatte den Anschein, als seien sie auf zwei ganz verschiedene Weisen entstanden. Einzelne Berge sind an der Oberfläche wild zerklüftet, sind reich an Spalten, Rissen und Schluchten. Ihre Oberfläche gleicht derjenigen der Eisgletscher, die ins Meer hinausgedrängt werden. An ihrem bläulichen Aussehen und ihren unregelmäßigen Formen, kann man sie schon von weitem erkennen. Ihr Ursprung liegt klar auf der Hand —, sie stammen direkt von den obenerwähnten Gletschern . Dann aber hat man eine andere, weit prosaischere Form, und zu dieser gehörte der Eisberg, auf dem wir uns befanden. Diese Form wird durch kolossale Eisblöcke ohne jene zahlreichen blauen Schluchten und mit verhältnißmäßig glattpolirter Oberfläche und quer abgeschnittenen, lothrechten Seiten gebildet. Sie haben eine mehr weißlichblaue Färbung als die andere Art und machen einen weit solideren Eindruck. Man kann ruhiger an sie heranrudern, als an die anderen, denn es geschieht weit seltener, daß sich Stücke von ihnen ablösen und den Vorüberfahrenden auf den Kopf fallen. Obwohl sie mit ihrer ebenen Oberfläche völlig verschieden sind von den Gletschern, die ins Meer hinabstürzen, so finden sie sich doch ohne Frage am zahlreichsten vor. Man kann rechnen, daß man auf je einen der anderen Art fünf von diesen trifft.
Woher aber stammen diese Eisberge? Oder wie haben sie [S. 395] sich gebildet? Daß die Gletscher jemals so still und ruhig in die See hinabgleiten, ohne zahlreiche Risse und Spalten an der Oberfläche zu bilden, ist eine Unmöglichkeit. Auf der anderen Seite liegen ja diese Eisberge in den Fjorden direkt vor den Gletschern mit ihrer ziemlich zerklüfteten Oberfläche und müssen daher, eben so wohl als die Eisberge der anderen Art von ihnen herstammen.
Die einzig annehmbare Erklärung dieser Erscheinung ist meiner Ansicht nach der Umstand, daß beim Hinausgleiten die Oberfläche der Gletscher bei den einen nach oben gekommen ist, während die anderen sich entweder gleich beim Herabstürzen oder auch später gewendet haben, so daß sie mit dem abpolirten Fuß oder einer der ziemlich ebenen Bruchflächen in die Höhe ragen.
Zu unserer Freude bemerkten wir, daß sich hinter den Eisbergen offenes Fahrwasser befand, scheinbar so weit das Auge reichte, und nachdem wir uns über den Kurs geeinigt hatten, der uns sicher zu diesem Fahrwasser führen mußte, stimmten wir einen Siegesgesang an, und kehrten wieder in unsere Böte zurück, um mit voller Kraft an die Arbeit zu gehen und das verlockende Fahrwasser zu erreichen, ehe das Eis sich verdichtete, was bei den wechselnden Strömungen, die hier herrschen, schnell geschehen kann. Wir hatten wenig Lust, die Nacht zwischen diesen launenhaften Eiskolossen zu verbringen.
So schnell unsere Ruder uns befördern konnten, gings gen Norden durch die engen Rinnen, wo wir nichts als das tiefblaue Wasser mit einzelnen Eisschollen unter uns, hohe Eiswände zu beiden Seiten und einen kleinen Streifen blauen Himmels über uns erblickten.
Obwohl mächtige Eisberge mehrmals um uns her zusammenstürzten oder kenterten, das Wasser wild aufpeitschend und die Luft mit ihrem gewaltigen Getöse erschütternd, so kamen [S. 396] wir doch unbeschädigt durch die großen Eismassen, die weit nach Norden hinauf vor der Fjordmündung lagen. An einer Stelle mußten wir, um vorwärts zu kommen, durch einen Hohlweg gehen, der quer durch einen großen Berg führte und wo das schmelzende Wasser unaufhörlich auf uns herabrieselte. Ob diese große Menge von Eisbergen aus dem Bernstorffsfjord herrührte, war nicht zu entscheiden und ist auch kaum anzunehmen, obwohl aus diesem Fjord die größten der an der Ostküste befindlichen Eismassen stammen.
Nachdem wir wohlbehalten am Kap Mösting vorüber und durch die schlimmste Eisberggegend hindurch gekommen waren, übernachteten wir auf einer kleinen Schere (63° 44′ N. Br., 40° 32′ W. L.). Da wir dort keinen so großen, flachen Platz fanden, daß wir unser Zelt aufschlagen konnten, legten wir uns in unseren Schlafsäcken auf den Felsen. Gerade gegenüber auf dem Festlande befand sich ein Vogelberg mit Blaumöven, die während der ganzen Nacht einen solchen Lärm machten, daß wir es im Schlafe hörten und sie sich in unsere Träume hineindrängten. Zur Strafe dafür machte ich am nächsten Morgen eine Visite drüben, die mehreren von ihnen das Leben kostete und uns einen guten Proviant für die Küche lieferte, in der wir jetzt allerlei noch nicht verwendetes Wild hatten. Besonders die jungen Blaumöven, die eben flügge waren, sind eine vorzügliche Speise.
Wir waren jetzt in eine Gegend gekommen, wo wir fast überall mit ziemlicher Leichtigkeit auf das Inlandseis hinaufgelangen konnten. Dort waren nach innen zu viele Nunataks (d. h. Berggipfel oder Felsmassen, die über die Oberfläche des Eises emporragen). Der allgemeinen Annahme der Grönlandsreisenden zufolge soll das Eis um diese Felszacken herum uneben und zerklüftet sein. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn die Nunataks aus Gletschereis hervorragen, das sich in starker [S. 397] Bewegung befindet, in diesem Falle bieten sie dem Eise einen Widerstand, gegen den es gedrängt und gepreßt wird. An anderen Stellen dagegen — glaube ich — machen die Nunataks das Eis eher eben, indem sie es gleichsam festhalten und die gleitende Bewegung desselben, die diese Unebenheiten und Risse verursacht, verhindern. Es lag jedoch für uns kein Grund vor, das Inlandeis schon hier in Angriff zu nehmen, da das Fahrwasser bis nach Umivik hinauf offen zu sein schien, und von hier aus war die Entfernung bis nach Kristianshaab bedeutend geringer.
In immer mehr offenem Wasser setzten wir die Reise gen Norden fort, während rings um uns her an allen Ecken und Kanten Eisstücke herabstürzten, bald von den Gletschern, bald von den Eisbergen.
Gegen Abend hatten wir ein merkwürdiges Erlebniß. Gerade als wir zwischen einigen Eisbergen beschäftigt sind, zwei Eisschollen auseinander zu sprengen, ertönt ein furchtbares Getöse, und ein großes Stück des an der Backbordseite gelegenen Eisberges stürzt herab und zertrümmert zum Theil die eine Eisscholle, [S. 398] auf der wir stehen, wühlt einige mächtige Wogen auf und schafft uns das beste Fahrwasser, das wir nur wünschen können. Hätten wir ein paar Minuten früher den Weg eingeschlagen, den wir ursprünglich beabsichtigten, so wären wir wohl zertrümmert worden. Dies war das dritte Mal, daß uns dies begegnete.
Auf einer kleinen Insel Kekertarsuatsiak vor dem Krumpensfjord , wo wir unser Mittagsessen verzehrten, begab ich mich auf den Gipfel, der sehr hoch war und von wo ich eine köstliche Aussicht über das nördliche Fahrwasser hatte, das offen und fast ganz frei von Treibeis zu sein schien , wenigstens so weit das Auge reichte, bis nach Umivik. Gletschereis und Eisberge waren ziemlich zahlreich vorhanden, besonders vor dem Gyldenlöves-Fjord und der Kolberger-Heide schienen viele Eisberge zu liegen. Die hohen Berge bei Umivik, besonders [S. 399] der kegelförmige Kiatak , der unser Ziel war, schienen ganz nahe zu liegen, doch mußte die Entfernung nach der Karte noch sieben Meilen betragen. Dies verschwieg ich den Gefährten, welche glaubten, daß wir noch vor Hereinbruch der Nacht dorthin gelangen könnten, weswegen sie aus Leibeskräften ruderten.
Am Abend gelangten wir an eine Landzunge, Kangerajuk an der Kolberger-Heide, wo sich zwischen zwei mächtigen Gletschern ein wenig freies Land befand (64° 4′ N. Br., 40° 34′ W. L.). Hier konnten wir unsere Böte heraufziehen, einen Platz für unser Zelt fanden wir jedoch nicht, weswegen wir uns wie in der vorhergehenden Nacht in unseren Schlafsäcken an zwei Stellen hinlegten, wo wir gerade genügende Fläche fanden, um liegen zu können. Da während der Nacht starker Thau fiel, war unser Schlaf von ziemlich feuchter Beschaffenheit, — von [S. 400] den Gletschern herab und von den vielen Eisbergen rings um uns her ertönte ein ununterbrochenes Getöse, das durch Hinausgleiten und Zusammenstürzen des Eises hervorgerufen wurde.
Früh am nächsten Morgen — den 10. August — wurde ich durch einen Raben geweckt, der mir von einem Bergkamm gerade über uns einen Morgengruß zusandte, und da der herrliche Sonnenschein zu verlockend war, schleiche ich ganz unbemerkt aus dem Sack und mache eine photographische Aufnahme von der Landschaft, einen mächtigen vorspringenden Arm des Gletschers auf der Kolberger-Heide im Hintergrunde und meine beiden Schlafgenossen, Sverdrup und Dietrichson , noch in tiefem Schlummer im Vordergrunde. Ich hoffe, sie werden es mir verzeihen, daß sie auf diese Weise, ohne es zu wissen, auf ihrem keuschen Lager liegend dargestellt werden. In der Ferne erblickt man auf dem Bilde den kegelförmigen Kiatak .
Wir hatten das herrlichste Wetter und ganz eisfreies Fahrwasser, das beste, das uns bis dahin vorgekommen war; mit schneller Fahrt ging es nun unserem Ziel entgegen. Unser Mittagsmahl nahmen wir auf höchst angenehme Weise ein, indem von Süden her eine schwache Brise wehte, so daß wir unsere Segel aufsetzten und uns Muße zum Essen lassen konnten. Ich bin niemals auf einen Felsen zugerudert, der mir so hartnäckig vorgekommen ist, wie dieser Kiatak — 800 m hoch. Wir hatten ihn nun zwei Tage lang gesehen und doch schien er uns noch immer gleich fern zu liegen. Mit Hülfe von Rudern und Segeln schienen wir ihn jedoch endlich bewältigen zu sollen, aber da kam der Seenebel. Ehe alles um uns her verhüllt war, waren wir aber so nahe herangekommen, daß wir sehen konnten, wo wir landen mußten, und unser Peilen mit dem Kompaß aufnahmen.
[77] Oben auf dem Gipfel dieses Vorgebirges fand ich ein niedergerissenes Bauwerk, aus einigen quer übereinanderliegenden Steinen bestehend, die einen länglichen Raum bildeten. Obwohl die Fuchsfallen der Eskimos in der Regel nicht ganz in dieser Weise gebaut werden, glaube ich doch, daß dies die Trümmer einer solchen waren.
[78] Die große Insel, die auf Holms Karte angeführt ist, ist nicht eine einzige Insel, sondern eine schmale Meerenge theilt sie in zwei Inseln, von denen die äußere die kleinere ist.